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German Pages [825]
Table of contents :
Einleitung in das Neue Testament
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abbildungen und Schemata im Text
Abkürzungen
1 Hinführung
2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
3 Das Neue Testament als Kanon
4 Der Text des Neuen Testaments
5 Die paulinischen Briefe
6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte
7 Die johanneischen Schriften
8 Die Schriften des Paulinismus (einschließlich Jakobusbrief)
9 Schlussbetrachtung: Gemeinsames und Unterschiede in den neutestamentlichen Schriften
10 Zeittafeln
11 Glossar (Erklärung von Fachausdrücken)
12 Quellenausgaben, Nachschlagwerke und Kommentarreihen
13 Register
UTB 2798
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Beltz Verlag Weinheim · Basel Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien Wilhelm Fink Verlag München A. Francke Verlag Tübingen und Basel Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck Tübingen C. F. Müller Verlag Heidelberg Ernst Reinhardt Verlag München und Basel Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen Verlag Recht und Wirtschaft Frankfurt am Main VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden WUV Facultas Wien
Petr Pokorný / Ulrich Heckel
Einleitung in das Neue Testament Seine Literatur und Theologie im Überblick
Mohr Siebeck
Petr Pokorný; geboren 1933 in Brno (Brünn); Theologie- und Altphilologiestudium in Prag; Professor emeritus an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Prag; Direktor des Zentrums der biblischen Studien der Akademie der Wissenschaften und der Karlsuniversität. Ulrich Heckel; geboren 1958; Studium der ev. Theologie in Tübingen, Edinburgh und Göttingen; 1992 Promotion; 2002 Habilitation; Pfarrer an der Reuschkirche in Göppingen und Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen.
ISBN 978-3-8252-2798-2 (UTB) ISBN 978-3-16-148011-9 (Mohr Siebeck) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Times-Antiqua gesetzt und auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Illustrissimo ordini theologorum Universitatis Fredericae Guilelminae Bonnensis atque illustrissimo ordini theologorum Universitatis Reformatae Budapestinae de Casparo Carolio nominatae ab utroque magno theologiae doctoris honore ornatus hunc libellum grato animo dedicat P. P.
Vorwort
a) Zur Entstehung: Dieses Buch habe ich ursprünglich als eine ausgesprochen literarische und theologische Einleitung in das Neue Testament geschrieben. Als der Verlag im Jahr 2003 den Wunsch äußerte, das vorgelegte Manuskript sprachlich und stilistisch noch einmal zu überarbeiten, ist vor drei Jahren mein jüngerer Kollege Ulrich Heckel hinzugetreten. Bald hat sich gezeigt, dass dies eine glückliche Wahl war. Herr Heckel hat nicht nur meinen deutschen Sprachstil verbessert, wofür ich ihm besonders dankbar bin, er hat nicht nur das Manuskript zu einem wirklichen Lehrbuch gemacht durch Summarien, Tabellen, graphische Übersichten usw., sondern er hat sich vor allem als Co-Autor bewährt. Er hat viele Informationen zur Zeitgeschichte eingeschoben, die er meistens selbst geschrieben hat. Vor allem hat er, was ich besonders schätze, mehrere theologische Exkurse, thematische Längsschnitte und manche Ergänzungen vorgeschlagen und auch selber formuliert. In den paulinischen Schriften einschließlich der Deuteropaulinen hat er die Interpretation erheblich mitbeeinflusst. Mehrere Textabschnitte haben wir nach einer Diskussion neu bearbeitet. Viele, besonders für die Praktische Theologie bedeutende exegetische Beobachtungen und Folgerungen hat er hinzugefügt. So ist der ursprüngliche Text um gut ein Drittel gewachsen. Zunächst dachte ich, dass die Erweiterungen meinen Duktus der Gedanken stören können, aber das ist, soweit ich es jetzt beurteilen kann, nicht der Fall. Die Informationen zur Zeitgeschichte sind meist graphisch deutlich unterschieden, vor allem aber ist die exegetische Praxis und das theologische Denken von Herrn Heckel dem meinen so ähnlich, dass er sich mit meiner Argumentation weitgehend identifizieren konnte und ich von ihm in der Paulusexegese viel gelernt habe. Die größte Kunst beim Verfassen akademischer Lehrbücher ist es, das Werk übersichtlich zu gestalten. Dabei hat ein Lehrbuch einerseits die Funktion, sich als wissenschaftlicher Entwurf zu bewähren und Zusammenhänge zu bedenken, welche den Horizont monographischer Einzeluntersuchungen überschreiten. Andrerseits muss ein didaktisch gestaltetes Lehrbuch die exegetischen Probleme in einem offenen Diskurs zugespitzt darstellen, da ihre Geringschätzung, besonders eine „pastorale“ Harmonisierung, der neutestamentlichen Wissenschaft und der theologischen Erkenntnis bisher nie geholfen hat. Wie uns dies gelungen ist, werden die Leserinnen und Leser beurteilen. Für die sprachliche Korrektur der ersten Fassung des Manuskripts danke ich Herrn Dr. Wolf B. Oerter (Karlsuniversität Prag). Den ganzen Text, besonders das Kapitel über die Textgeschichte, hat mein Kollege Pro f. Dr. Hans-Gebhard Bethge (Humboldt-Universität Berlin) mit seiner Mitarbeiterin Imke Schletterer durchgese-
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Vorwort
hen. Das erste Kapitel habe ich mit Dr. Jakub Čapek (Karlsuniversität Prag) besprochen, was allerdings nicht bedeutet, dass er sich mit dem Wortlaut identifizieren muss. Bei der Vorbereitung des Manuskripts hat mir bereitwillig und qualifiziert die Theologin und Altphilologin Lucie Kopecká (Zentrum der biblischen Studien Prag) geholfen. Außerdem hat sich Herr Tilman Knödler sehr um das Deutsch bemüht. Dankbar sind wir für die Durchsicht einiger Abschnitte und mancherlei Hinweise von Pro f. Dr. Christfried Böttrich, PD Dr. Roland Deines, Pro f. Dr. Reinhard Feldmeier, Pfr. Dr. Michael Gese, Pro f. Dr. Jörg Frey, PD Dr. Ulrike Mittmann-Richert, Pfr. Dr. Richard Mössinger und Pro f. Dr. Ruben Zimmermann. Außerdem dankt Herr Heckel den Studierenden in Tübingen für vielfältige Rückfragen und Anregungen, seinen Schwiegereltern Lieselotte und Dr. Gerhard Schoebe für die intensive kritische Lektüre sowie seiner Mutter Dr. Gisela Heckel und Pro f. Dr. Wilfrid Werbeck für das umsichtige Korrekturlesen. Ihnen allen gehört mein besonderer Dank. Hilfreich wären natürlich auch Hinweise und Anregungen von Leserinnen und Lesern, um die wir herzlich bitten und die wir bei einer eventuellen Neuauflage gerne berücksichtigen. Last but not least danke ich dem Verleger, Herrn Dr. h. c. Georg Siebeck, für den an mich gerichteten Vorschlag, ein solches Lehrbuch zu schreiben, und für die Aufnahme dieses Buchs in die Reihe der Universitäts-Taschenbücher. Herrn Dr. Henning Ziebritzki, dem Cheflektor, danke ich für die Organisation der Arbeit und für die Empfehlung der Zusammenarbeit mit Herrn Heckel, die sich aus meiner Sicht, wie schon erwähnt, bewährt hat. b) Zur Gestaltung: Im Aufbau orientiert sich dieses Lehrbuch an den Einleitungen in das Neue Testament, aber durch die konsequente Einbeziehung der Theologie der einzelnen Schriften umfasst es weit mehr als die bisherigen Werke dieser Art, die sich im Wesentlichen auf die Einleitungsfragen beschränken, wer, wann, wo, für wen und mit welcher Absicht diese Schriftstücke verfasst hat. In der Konzeption wollen wir die Einleitungswissenschaft sehr viel enger mit den Fragen einer Theologie des Neuen Testaments verbinden, als es bisher üblich war. Deshalb soll dieses Lehrbuch einen zuverlässigen Überblick über alle unentbehrlichen Informationen zum literarischen Aufbau, den Entstehungsverhältnissen und vor allem der Theologie der jeweiligen Schriften bieten. Dabei geht es uns bewusst auch um einen Gesamtentwurf, der von beiden Autoren durchgehend gemeinsam verantwortet wird, einige Zusammenhänge neu interpretiert und selbst einen eigenständigen Beitrag zur Forschung leistet. Inzwischen ist es in der neutestamentlichen Exegese zwar weithin üblich geworden, die Bibelkunde mit ihren Übersichten zu Gliederung und Inhalt der einzelnen Bücher, die Einleitungswissenschaft mit der Frage nach dem Autor und der Abfassungssituation sowie die Theologie des Neuen Testaments mit dem Interesse an seiner Botschaft jeweils in eigenen Publikationen gesondert darzustellen. Aber der Sa-
Vorwort
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che nach sind alle drei Aspekte unlösbar verbunden: Mit den Entstehungsverhältnissen hängen die Theologie und die literarische Gestalt dieser Schriften zusammen. Gliederung und Inhalt werden deshalb stets auch in tabellarischen Übersichten dargeboten, um die unverzichtbare eigenständige Arbeit am Text und die Orientierung innerhalb der neutestamentlichen Bücher zu erleichtern. Mehrere Exkurse mit thematischen Längs- und Querschnitten helfen, den jeweiligen Sachverhalt über den unmittelbaren literarischen Kontext hinaus historisch und theologisch einzuordnen. Aus den vorliegenden Texten die Entstehungssituation nüchtern zu rekonstruieren, die theologische Absicht der frühchristlichen Autoren präzise nachzuzeichnen und ein exegetisch reflektiertes Gesamtverständnis der neutestamentlichen Schriften darzulegen, ist die eigentliche Absicht dieser Einleitung. Vor allem sollen die Texte selbst in ihrem Zusammenhang zum Sprechen gebracht werden. Statt des Referats von Sekundärliteratur im Haupttext bieten die Fußnoten Hinweise auf andere Forschungsmeinungen, knappe Übersichtsartikel und monographische Veröffentlichungen zur weiteren Vertiefung für Referate, Seminararbeiten oder Schwerpunkte bei der Examensvorbereitung. Analoges gilt für Interessierte aus benachbarten akademischen Disziplinen, aber auch für diejenigen, die in der kirchlichen Praxis und Ausbildung, bei Predigten und Bibelarbeiten in der Gemeinde, im Religionsunterricht oder in der Erwachsenenbildung mit biblischen Texten zu tun haben und sich über den gegenwärtigen Forschungsstand der neutestamentlichen Exegese informieren wollen. Das Lehrbuch beginnt mit einer allgemeinen Einleitung zur Geschichte der Disziplin und den hermeneutischen Grundfragen (§ 1). Nach einem Überblick über die historischen, kulturellen und religiösen Voraussetzungen der Entstehung des Neuen Testaments (§ 2) behandelt dieser Eingangsteil auch die Geschichte der Kanonbildung (§ 3) und der handschriftlichen Überlieferung (§ 4). Daran schließen sich die speziellen Einleitungen zum Inhalt, der Entstehungssituation und der Theologie der einzelnen Schriften an. Dieser Hauptteil beginnt mit den Briefen des Paulus (§ 5), weil diese die ältesten schriftlich überlieferten Texteinheiten des Neuen Testaments sind. Die Evangelien enthalten zwar Material, dessen Teile mit dem vorösterlichen, irdischen Jesus verbunden sind. Doch müssen wir mit den Traditionen anfangen, die bereits Paulus als älteres Gut aus der Überlieferung übernommen hat (§ 5.5–6). Diese Anordnung ist auch deshalb erforderlich, weil bei der Untersuchung anderer Traditionen, die in das narrative Gerippe der Evangelien integriert wurden (§ 6), die von Paulus stammenden Briefe als eine damals schon in mehreren Gebieten der entstehenden Kirche bekannte Literatur vorauszusetzen sind. Dementsprechend müssen die Briefe des Apostels als eine lebendige, weiter entfaltete oder umstrittene theologische Tradition auch bei den Evangelien berücksichtigt werden. Wie alle Einleitungen bietet dieses Lehrbuch Informationen über die wichtigsten Kommentare, Monographien und Aufsätze zu den Schriften, von denen in den ein-
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Vorwort
zelnen Kapiteln die Rede ist. Die Literatur ist am Anfang der Abschnitte zusammengestellt, um das kontinuierliche Lesen nicht zu stören. Zu jeder Schrift wird in der ersten Anmerkung auf einen hilfreichen Kommentar hingewiesen. Im Literaturverzeichnis am Ende werden nur die gängigen Quellenausgaben, Nachschlagwerke und Kommentarreihen mit einer Kurzcharakteristik aufgeführt. Die Fußnoten nennen grundlegende oder weiterführende Literatur, teilweise auch Titel zu Einzelfragen, die im Literaturverzeichnis nicht wiederholt werden. Die Auswahl der Sekundärliteratur kann aus der unübersehbaren Menge an Publikationen wirklich nur einige Werke bieten. Wir machen auch auf wichtige Publikationen aufmerksam, die außerhalb des deutschen Sprachraums entstanden sind und beachtet zu werden verdienen. Der Gebrauch der Abkürzungen für Zeitschriften und Bücher- bzw. Kommentarreihen folgt S. M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (Berlin / New York 21992), die antiken Texte sind nach dem im Handwörterbuch „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (4. Auflage) benutzten System zitiert. Der RGG4 entsprechen auch die anderen Abkürzungen (s. u.) sowie die Umschrift griechischer und hebräischer Worte. Nur das Abkürzungsverzeichnis der Kommentarreihen bieten wir im vollen Umfang, da die Kommentare nach den Reihen zitiert sind, also nicht mit vollen Titeln. Bibelzitate sind meist der revidierten Lutherbibel (1984) entnommen (gelegentlich mit kleineren Abweichungen). Petit gesetzte Abschnitte enthalten weiterführende Angaben, die über den fortlaufenden Gedankengang hinausgehen, für das Verständnis aber nützlich sind, z. B. detailliertere Begründungen, historische Hintergrundinformationen, Positionen der Forschungsgeschichte oder Ausblicke auf verwandte Gedanken und Neuakzentuierungen in anderen Schriften des Neuen Testaments. Prag, den 13. 11. 2006
Petr Pokorný
Inhaltsübersicht
1 Hinführung 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Zur Geschichte der Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur gegenwärtigen Bedeutung der Einleitungswissenschaft. . . . Hermeneutische Vorüberlegungen: Die Funktion der Sprache . . Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wesen der Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 11 12 18 28
2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments 2.1 Die jüdische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die hellenistische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 52
3 Das Neue Testament als Kanon 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die theologischen Voraussetzungen des christlichen Kanons. . . Die Idee des christlichen Kanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons . . . . . . . . . . . . . Die Abgrenzung des Kanons und die Beziehung zur jüdischen Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Reihenfolge und Bezeichnung der einzelnen Bücher(gruppen) .
63 65 69 74 78 83
4 Der Text des Neuen Testaments 4.1 Das Schreiben in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der Urtext des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 1: Zur Kapitel- und Verseinteilung des neutestamentlichen Texts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88 91 104 111
5 Die paulinischen Briefe 5.1 Der Brief als Ersatz für die persönliche Anwesenheit des Apostels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Ausrichtung auf die Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Das Vorlesen im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die Briefe als Kommunikationsmedium der Kirche (zur Ekklesiologie). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116 117 117 118
XII
Inhaltsübersicht
5.5 Die Intertextualität der Briefe (Voraussetzungen christlicher Theologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln) . . . . . . Exkurs 2: Stellvertretung, Sühne, Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Briefgattungen und Briefformular . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Die authentischen Paulusbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9 Das paulinische Briefkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10 Der 1. Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.11 Der Galaterbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12 Der 1. Korintherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.13 Der 2. Korintherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14 Der Philipperbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.15 Der Philemonbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.16 Der Römerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121 124 160 171 178 194 196 207 230 253 272 288 292
6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte 6.1 Die synoptische Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 3: Die Traditionskritik der formgeschichtlichen Schule . . . . . Exkurs 4: Die Redaktionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Das Markusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 5: Die vormarkinische Passionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 6: Wunder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 7: Gleichnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Das Matthäusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte . . . . . . . . . . .
321 324 337 363 378 383 395 429 479
7 Die johanneischen Schriften 7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Johannesoffenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 8: Die Apokalyptik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 9: Der Kaiserkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
535 587 595 610
8 Die Schriften des Paulinismus (einschließlich Jakobusbrief) 8.1 Die Paulusschulen und ihre Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 10: Das Problem der Pseudepigraphie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Der Kolosser- und der Epheserbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 11: Die Haustafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Der 2. Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Die Pastoralbriefe (1. und 2. Timotheusbrief, Titusbrief) . . . . . . Exkurs 12: Die Kirche und ihre Ämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
616 619 623 635 648 654 667
Inhaltsübersicht
XIII
Der Hebräerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der 1. Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Judasbrief und der 2. Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Jakobusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
672 689 705 715
9 Schlussbetrachtung: Gemeinsames und Unterschiede in den neutestamentlichen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
729
10 Zeittafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
745
11 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
752
12 Quellenausgaben, Nachschlagwerke und Kommentarreihen . . . . .
763
13 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
769
8.5 8.6 8.7 8.8
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI
Abbildungen und Schemata im Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XXV
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVII 1 Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.1 Zur Geschichte der Disziplin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zur gegenwärtigen Bedeutung der Einleitungswissenschaft . . . 1.3 Hermeneutische Vorüberlegungen: Die Funktion der Sprache . . 1.3.1 Die Sprache als Organisation der Erfahrung . . . . . . . . . . 1.3.2 Sprache als Weltgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Der metaphorische Charakter religiöser Rede . . . . . . . . . 1.3.4 Metapher und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Die literarische Eigenart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Die Faktoren der Textlektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Der Text als Zeugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Die Authentizität des Zeugnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.5 Die theologische Funktion der historischen Kritik . . . . . 1.4.6 Das Vorverständnis des Lesers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Das Wesen der Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 11 12 12 14 15 17 18 18 19 21 23 24 27 28
2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments . . . . . . .
32
2.1 Die jüdische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Bibel der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Bibel und Talmud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Das Alte und das Neue Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Die Septuaginta und die Sprache des Neuen Testaments 2.1.5 Der alttestamentliche Kanon und das Problem der Biblischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die hellenistische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Jüdische Apokalyptik und hellenistische Kultur . . . . . . . 2.2.2 Urchristentum und Hellenismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Griechische Sammlungen von Sentenzen . . . . . . . . . . . .
32 33 36 40 44 49 52 52 56 58
XVI
Inhaltsverzeichnis
2.2.4 Biographie und Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Dramatische Elemente im Neuen Testament . . . . . . . . . . 2.2.6 Rhetorik und Epistolographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59 60 61
3 Das Neue Testament als Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die theologischen Voraussetzungen des christlichen Kanons. . . Die Idee des christlichen Kanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons . . . . . . . . . . . . Die Abgrenzung des Kanons und die Beziehung zur jüdischen Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Reihenfolge und Bezeichnung der einzelnen Bücher(gruppen) .
63 65 69 74
4 Der Text des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
4.1 Das Schreiben in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der Urtext des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Handschriften auf Papyrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die Majuskelhandschriften auf Pergament . . . . . . . . . . . 4.2.3 Die Minuskelhandschriften und Lektionare . . . . . . . . . . 4.2.4 Zitate in der altchristlichen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Alte Übersetzungen des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . 4.2.5.1 Lateinische Übersetzungen I: Vetus Latina . . . 4.2.5.2 Lateinische Übersetzungen II: Vulgata . . . . . . . 4.2.5.3 Syrische, koptische und andere alte Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Die Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Der gegenwärtige Stand der Erforschung des biblischen Texts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Die bekanntesten Textabweichungen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Die neuzeitlichen Editionen des griechischen Texts . . . . Exkurs 1: Zur Kapitel- und Verseinteilung des neutestamentlichen Texts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Das theologische Problem der Textrekonstruktion . . . . .
88 91 93 95 98 99 99 100 101
5 Die paulinischen Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
5.1 Der Brief als Ersatz für die persönliche Anwesenheit des Apostels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Ausrichtung auf die Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Das Vorlesen im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116 117 117
78 83
102 104 104 106 110 110 111 113
Inhaltsverzeichnis
5.4 Die Briefe als Kommunikationsmedium der Kirche (zur Ekklesiologie). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die Intertextualität der Briefe (Voraussetzungen christlicher Theologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Schriftzitate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1.1 Die Septuaginta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1.2 Griechische (hellenistische) Literatur . . . . . . . . 5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln) . . . . . . 5.6.1 Die christologischen Hoheitstitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.1 Christus – Messias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.2 Sohn Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.3 Herr – Kyrios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.4 Menschensohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.5 Die Bedeutung der christologischen Titel . . . . . 5.6.2 Traditionsformen der Liturgie, Mission und Katechese . 5.6.2.1 Die Pistisformel in 1Kor 15,3b–5: Tod und Auferstehung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2.2 Die Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2.3 Das Herrnmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 2: Stellvertretung, Sühne, Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2.4 Christushymnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2.5 Die Überlieferung von Worten und Taten Jesu . 5.7 Briefgattungen und Briefformular . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Die authentischen Paulusbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8.1 Das Problem der paulinischen Chronologie . . . . . . . . . . 5.8.2 Die Biographie des Paulus und ihr Verhältnis zu seiner Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9 Das paulinische Briefkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10 Der 1. Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10.2 Die Todesfälle in Thessalonich und ihre theologische Bewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10.3 Die Apokalyptik und das paulinische Evangelium . . . . . 5.10.4 Zeit und Ort der Abfassung, Adressaten und Integrität . . 5.11 Der Galaterbrief. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.11.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.11.2 Rhetorische Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.11.3 Die Theologie: Die Gegner und die Rechtfer tigungslehre 5.11.4 Die ekklesiologische Bedeutung der Rechtfertigungslehre 5.11.5 Abfassungszeit, Entstehungsort und Adressaten . . . . . . . 5.12 Der 1. Korintherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XVII
118 121 121 122 123 124 124 125 128 131 132 133 134 134 137 152 160 168 169 171 178 178 181 194 196 197 199 201 206 207 208 213 214 221 228 230
XVIII
Inhaltsverzeichnis
5.12.1 Anlass, Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12.2 Die Frage der literarischen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12.3 Verfasser, Entstehungszeit und die Gemeinde in Korinth 5.12.4 Gruppierungen in der korinthischen Gemeinde. . . . . . . . 5.12.5 Kreuzestheologie, Leib Christi, Auferstehungshoffnung Der 2. Korintherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.13.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.13.2 Integrität, Anlass, Zeit und Ort(e) der Abfassung . . . . . . 5.13.3 Theologie und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.13.3.1 Zu 2Kor 1–9: Herrlichkeit, Leiden, Versöhnung 5.13.3.2 Zu 2Kor 10–13: Kraft in Schwachheit . . . . . . . . Der Philipperbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14.2 Verfasser, Adressaten und literarische Integrität . . . . . . 5.14.3 Die Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14.4 Das theologische Anliegen: Leben im Angesicht des Heils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14.5 Der Christushymnus in Phil 2,6–11 . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14.6 Die Brücke zu den Deuteropaulinen . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14.7 Ort und Zeit der Abfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Philemonbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.15.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.15.2 Ort und Umstände der Abfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.15.3 Ein Testfall theologischer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Römerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.16.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.16.2 Die Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.16.3 Text, Integrität, Abfassungsort und -zeit . . . . . . . . . . . . . 5.16.4 Anlass und Zweck des Schreibens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.16.5 Die Theologie: Rechtfertigungslehre, Anthropologie, Israel, staatliche Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
230 237 239 240 244 253 255 259 262 262 269 272 272 275 277
6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte . . . . . . . .
321
6.1 Die synoptische Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Die Entdeckung der mündlichen Tradition . . . . . . . . . . . Exkurs 3: Die Traditionskritik der formgeschichtlichen Schule . . . . . 6.1.3 Die Fragmenten- und Urevangeliumshypothese . . . . . . . 6.1.4 Benutzungshypothesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321 321 322 324 329 330
5.13
5.14
5.15
5.16
279 281 286 287 288 289 289 290 292 293 300 302 303 306
Inhaltsverzeichnis
6.1.4.1 Literarische Abhängigkeit I: Die GriesbachHypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4.2 Literarische Abhängigkeit II: Die Zweiquellentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 4: Die Redaktionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5 Die Logienquelle (Q) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5.1 Eine Übersicht über den rekonstruierten Inhalt . 6.1.5.2 Die Charakteristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5.3 Die Theologie der Logienquelle (und ihre Etappen?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5.4 Die Logienquelle und das Markusevangelium . . 6.1.6 Die anderen Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6.1 Das Thomasevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6.2 Das Petrusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6.3 Das Geheime Markusevangelium . . . . . . . . . . . 6.1.6.4 Papyrus Egerton 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6.5 Andere apokryphe Evangelien . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Das Markusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Verfasser, Entstehungsort, Datierung und intendierter Leserkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Ältere Traditionen und Vorstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 5: Die vormarkinische Passionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Sprache und Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.6 Gattung und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 6: Wunder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 7: Gleichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.6.1 Das „Evangelium“ als Überschrift . . . . . . . . . . . 6.2.7 Die Christologie des Markus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7.1 Sohn Davids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7.2 Menschensohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7.3 Sohn Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7.4 Das Messiasgeheimnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7.5 Die markinische Kreuzestheologie . . . . . . . . . . 6.2.8 Jüngerschaft als Nachfolge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.9 Das Liebesgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.10 Der offene Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Das Matthäusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Sprache, Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIX
330 333 337 339 340 342 345 348 351 352 357 358 359 361 363 365 372 374 377 378 381 382 383 395 399 404 405 407 409 412 415 417 425 428 429 430 439
XX
Inhaltsverzeichnis
6.3.3 Die Theologie des Matthäus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.1 Die Überschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.2 Die fünf Reden Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.3 Die Erfüllungszitate und die matthäische Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.4 Die Bedeutung des Anfangs und des Schlusses . 6.3.4 Der Abfassungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4.1 Die Auseinandersetzung mit den Pharisäern und den Paulinisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4.2 Die Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4.3 Die Ekklesiologie (einschließlich Vaterunser) . . 6.3.5 Verfasser, Zeit und Ort der Entstehung . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . 6.4.1 Das lukanische Doppelwerk, seine Absicht und seine Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Sprache und Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3.1 Das Lukasevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3.2 Die Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.4 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5 Die Theologie des Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5.1 Das Zeitverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5.2 Das Volk Gottes (Ekklesiologie und Pneumatologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5.3 Christologie und Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5.4 Die Sozialethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.6 Widmung, Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung . . . . . . 7 Die johanneischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1
Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.1 Das Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.2 Die Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Die Beziehung zu den Synoptikern . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Quellen und religionsgeschichtlicher Hintergrund . . . . . 7.1.5 Die Theologie des Johannesevangeliums . . . . . . . . . . . . 7.1.5.1 Das (fleischgewordene) Wort: Christologie und Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.5.2 Pneumatologie und Eschatologie . . . . . . . . . . . .
439 440 441 444 449 452 453 465 469 477 479 481 486 488 488 494 498 499 499 503 514 527 530 535 535 537 537 543 544 546 550 555 555 566
Inhaltsverzeichnis
XXI
7.1.5.3 Ekklesiologie und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.6 Johanneische Schule, Verfasser und Entstehungszeit . . . 7.1.7 Zur Theologie der Johannesbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Johannesoffenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Text, Sprache und literarische Gattung . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 8: Die Apokalyptik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Auslegungstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Eschatologie und Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.5 Die Soteriologie und das paulinische Erbe . . . . . . . . . . . 7.2.6 Die himmlische Liturgie, die Kirche und ihre Ethik . . . . Exkurs 9: Der Kaiserkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.7 Verfasser, Ort, Zeit, Anlass und Zweck der Abfassung . .
569 576 585 587 588 592 595 599 600 605 608 610 612
8 Die Schriften des Paulinismus (einschließlich Jakobusbrief) . . . . .
616
8.1 Die Paulusschulen und ihre Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 10: Das Problem der Pseudepigraphie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Der Kolosser- und der Epheserbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1.1 Der Kolosserbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1.2 Der Epheserbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Die Textgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Die Stellung des Kolosser- und des Epheserbriefs im Corpus Paulinum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4 Die gemeinsamen ekklesiologischen Tendenzen . . . . . . Exkurs 11: Die Haustafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.5 Die christologische These des Kolosserbriefs . . . . . . . . . 8.2.6 Literarische Form, Adressaten, Abfassungszeit und -ort des Kolosserbriefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.7 Die ekklesiologische Herausforderung im Epheserbrief . 8.2.8 Adressaten, Verfasser, Entstehungszeit und -ort des Epheserbriefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Der 2. Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Gliederung, Inhalt und die Beziehung zum 1. Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Das Anliegen: Wider die Faulheit bei der Parusieerwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung. . . . . . . . . . . . . . . 8.3.4 Wirkungsgeschichte und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Die Pastoralbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
616 619 623 625 625 627 629 630 633 635 637 641 642 646 648 649 650 653 654 654
XXII
Inhaltsverzeichnis
8.4.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1.1 Der 1. Timotheusbrief. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1.2 Der Titusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1.3 Der 2. Timotheusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Bezeugung, Intention, Entstehung und Verfasser . . . . . . Exkurs 12: Die Kirche und ihre Ämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Die Stellung in der Geschichte des Paulinismus . . . . . . . 8.5 Der Hebräerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Text, literarischer Charakter und verarbeitete Traditionen 8.5.3 Die Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.4 Adressaten, Verfasser, Ort und Zeit der Entstehung . . . . 8.5.5 Die Stellung im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Der 1. Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.2 Text, Adressaten, Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.3 Die theologische Bewältigung der sozialen und politischen Bedrohungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.4 Verfasser, Ort und Zeit der Entstehung . . . . . . . . . . . . . . 8.7 Der Judasbrief und der 2. Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7.1.1 Der Judasbrief. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7.1.2 Der 2. Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7.2 Die Auseinandersetzung mit der Häresie. . . . . . . . . . . . . 8.7.3 Verfasser, Abhängigkeit, Adressaten, Zeit und Ort der Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8 Der Jakobusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8.1 Inhalt, Gattung und Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8.2 Theologische Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8.3 Autor, Ort und Zeit der Abfassung, Rezeptionsgeschichte
655 656 659 660 661 667 669 672 673 676 679 687 689 689 690 692 694 702 705 706 706 706 708 712 715 716 719 725
9 Schlussbetrachtung: Gemeinsames und Unterschiede in den neutestamentlichen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
729
10 Zeittafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
745
10.1 Chronologische Übersicht zur neutestamentlichen Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Geographische Übersicht zur Geschichte des Urchristentums . .
745 750
11 Glossar (Erklärung von Fachausdrücken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
752
Inhaltsverzeichnis
12 Quellenausgaben, Nachschlagwerke und Kommentarreihen . . . . 12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6 12.7
XXIII
763
Bibelausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apokryphen, Pseudepigraphen und jüdische Texte. . . . . . . . . . . Christliche Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nag Hammadi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textsammlungen zur Umwelt des Neuen Testaments . . . . . . . . Nachschlagwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Kommentarreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
763 764 766 766 766 767 768
13 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
769
13.1 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
769 782
Abbildungen und Schemata im Text
1. Ein semantisches Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Faktoren der Textlektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Großbuchstaben (sog. Majuskeln) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Papyrus Bodmer XVII (p74; Apg 15,23–28), 7. Jh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Codex Sinaiticus (a, 01; Ende des Lukasevangeliums), 4. Jh. . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Codex Vaticanus (B, 03; Joh 1,1-13), 4. Jh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die „Königin der Minuskeln“ (33; Schluss des Römerbriefs), 9. Jh. . . . . . . . . . . . 8. Stammbaum der Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die neutestamentliche Herrnmahlsüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Die christologische Neuinterpretation apokalyptischer Erwartungen bei Paulus . 11. Die Stellung der Tora im Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Christus und die Tora bei Paulus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Verheißung, Tora und Evangelium nach Gal 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Der Christushymnus in Phil 2,6-11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Synopse der ersten drei Evangelien (Synopsis Quattuor Evangeliorum, hg. v. Kurt Aland, 15., revidierte Auflage, © 1996 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart) 16. Die Griesbach-Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Die Annahme der Markusprioriät durch Karl Lachmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Die Zweiquellentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Erweiterungen der Zweiquellentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Der Umfang der verarbeiteten Quellen bei den Synoptikern . . . . . . . . . . . . . . . . . 21. Datierungsübersicht zu den Evangelien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22. Synopse von Texten der Logienquelle mit Parallelen aus den Evangelien, Apokryphen und Kirchenvätern (Synopsis Quattuor Evangeliorum, hg. v. Kurt Aland, 15., revidierte Auflage, © 1996 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart) . . . 23. Das Verhältnis des Thomasevangeliums zur synoptischen Tradition. . . . . . . . . . . 24. Die unterschiedliche Akzentuierung des Liebesgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. Der Fixpunkt des Matthäusevangeliums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26. Rylands-Papyrus (p52; Joh 18,31–33.37 f.), um 125 n. Chr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27. Der Verfasser des Johannesevangeliums und der Johannesbriefe . . . . . . . . . . . . . 28. Die Beziehungen zwischen den paulinischen und deuteropaulinischen Briefen . . 29. Die Beziehungen des Judas- und 2. Petrusbriefs zum Corpus Paulinum . . . . . . . .
13 20 90 94 96 97 98 105 154 204 215 216 225 283 322 331 334 334 335 335 337
341 355 427 452 545 584 633 709
Abkürzungen
Abkürzungen biblischer Bücher und anderer Quellen AT: Gen, Ex, Lev, Num, Lev, Dtn, Jos, Ri, Rut, 1Sam, 2Sam, 1Kön, 2Kön, 1Chr, 2Chr, Esr, Neh, Est, Hiob, Ps, Spr, Prd, Hld, Jes, Jer, Ez, Dan, Hos, Joel, Am, Ob, Jona, Mi, Nah, Hab, Zeph, Hag, Sach, Mal Apokryphen: Jud, SapSal, Tob, Sir, Bar, 1Makk, 2Makk NT: Mt, Mk, Lk, Joh, Apg, Röm, 1Kor, 2Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1Thess, 2Thess, 1Tim, 2Tim, Tit, Phlm, Hebr, Jak, 1Petr, 2Petr, 1Joh, 2Joh, 3Joh, Jud, Apk Past: Pastoralbriefe (1-2Tim, Tit)
Alttestamentliche Apokryphen und Pseudepigraphen, jüdische Schriften ApkAbr AssMos 2Bar 3Bar 1Hen 2Hen JosAs Jub OdSal PsSal Sib TestXII TestHiob
Apokalypse Abrahams Assumptio (auch: Testament) des Mose 2. (syrischer) Baruch 3. (griechischer) Baruch 1. (äthiopischer) Henoch 2. (slawischer) Henoch Joseph und Aseneth Jubiläenbuch Oden Salomos Psalmen Salomos Sibyllinen Testamente der zwölf Patriarchen Testament Hiobs
Apostolische Väter Barn 1Clem 2Clem Did Herm IgnEph usw. Polyk
Barnabasbrief 1. Clemensbrief 2. Clemensbrief Didache Hirt des Hermas Briefe des Ignatius an die Epheser, Magnesier, Traller, Römer, Philadelphier, Smyrnäer, Polykarp Brief des Polykarp von Smyrna an die Philipper
XXVIII
Abkürzungen
Neutestamentliche Apokryphen ApkJak ApkPetr EvThom
Jakobusapokalypse Petrusapokalypse Thomasevangelium
Antike Autoren Eus. h.e. Iust. Tacit. Tert.
Euseb, historia ecclesiastica (Kirchengeschichte) Justin Tacitus Tertullian
Abkürzungen der Kommentarreihen AncB ANTC BECNT BNTC CNT EKK Hermeneia HNT HTA HThK Interp ICC NBC KEK NCBC NCeB NEB NIBC NIC NIGTC NTD ÖTK RNT Sacra pagina SKK.NT
Anchor Bible, Garden City, NY Abingdon New Testament Commentaries, Nashville, TN Baker Exegetical Commentary on the New Testament, Grand Rapids, MI Black’s New Testament Commentaries, London Commentaire du Nouveau Testament, Neuchâtel Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Neukirchen / Zürich Hermeneia. A Critical and Historical Commentary on the Bible, Philadelphia, PA Handbuch zum Neuen Testament, Tübingen HistorischTheologische Auslegung, Wuppertal / Giessen Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Freiburg, Br. Interpretation. A Bible Commentary for Teaching and Preaching, Louisville, KT International Critical Commentary (of the Holy Scriptures …), Edinburgh New Bible Commentary, Cambridge Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, Göttingen The New Century Bible Commentary, Grand Rapids, MI New Century Bible, London Neue Echter Bibel, Würzburg New International Biblical Commentary, Peabody, MS New International Commentary on the New Testament, Grand Rapids, MI New International Greek Testament Commentary, Exeter Das Neue Testament Deutsch. Neues Göttinger Bibelwerk, Göttingen Ökumenischer Taschenbuch-Kommentar zum Neuen Testament, Gütersloh / Würzburg Regensburger Neues Testament, Regensburg Sacra pagina, Collegeville Stuttgarter kleiner Kommentar. Neues Testament, Stuttgart
Abkürzungen ThHK ThKNT WBC ZBK
XXIX
Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, Leipzig (Berlin 1948–1992) Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Stuttgart World Biblical Commentary, Dallas, TX Zürcher Bibelkommentare, Zürich
Sonstige Abkürzungen apol. aram. BSLK DH di ff. dt. DÜ EG EKD ep. FS griech. inscr. hebr. kopt. KS lat. LkS MtS ND NHC NTApo par. Pers. PG Pl. Q QLk QMT röm. Sg. sog. z.St. v.l.
(griech. apologia) Apologie, Verteidigung aramäisch Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 1930; 101986 Heinrich Denzinger / Peter Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg u. a. 402005 differierend, verschieden, voneinander abweichend deutsch Deutsche Übersetzung Evangelisches Gesangbuch Evangelische Kirche in Deutschland (lat. epistula) Brief Festschrift griechisch (lat. inscriptio) Überschrift hebräisch koptisch Kleine Schriften lateinisch Sondergut des Lukasevangeliums Sondergut des Matthäusevangeliums Nachdruck Nag Hammadi Codex Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen I-II, Tübingen 61990–1997 parallel Person Patrologia Graeca, hg. v. Jacques-Paul Migne, Paris 1857ff. Plural Logienquelle Lukasfassung der Logienquelle Matthäusfassung der Logienquelle römisch Singular sogenannt zur genannten (Bibel-)Stelle (lat. varia lectio) abweichende Lesart
1
Hinführung
Neuere Lehrbücher der Einleitung: Alfred Wikenhauser / Josef Schmid, Einleitung in das Neue Testament, Freiburg i. Br. 61972; Werner Georg Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 211983; Willi Marxsen, Einleitung in das Neue Testament, Gütersloh 41978; Eduard Lohse, Die Entstehung des Neuen Testaments (ThW 4), Stuttgart 51991; Norman Perrin, The New Testament. An Introduction, New York 1974; Hans-Martin Schenke / Karl M. Fischer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments I–II, Berlin 1978–1979; Helmut Köster, Einführung in das Neue Testament, Berlin / New York 1980; Robert F. Collins, Introduction to the New Testament, Garden City, NY 1983; Brevard S. Childs, The New Testament as Canon. An Introduction, New York 1984; Eduard Schweizer, Theologische Einleitung in das Neue Testament (NTD.E 2), Göttingen 1989; Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB), Göttingen 52005; Jürgen Roloff, Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 1995; Raymond E. Brown, An Introduction to the New Testament, New York / London etc. 1997; Ingo Broer, Einleitung in das Neue Testament (NEB), 2 Bde., Würzburg 1998–2001; Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.), Grundinformation Neues Testament, Göttingen 2000, 22003; Paul J. Achtemeier / Joel B. Green / Marianne Meye Thompson, Introducing the New Testament. Its Literature and Theology, Grand Rapids, MI / Cambridge, UK 2001; Carl R. Holladay, A Critical Introduction to the New Testament, Nashville 2005. Zur neutestamentlichen Theologie: Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984; Werner Georg Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen (GNT 3), Göttingen 1969 (mehrere Neudrucke); Leonhard Goppelt, Theologie des Neuen Testaments (UTB), Göttingen 31980 (urspr. 2Bde. Berlin 1975/76); Eduard Schweizer, Theologische Einleitung (s.o.); Alfons Weiser, Theologie des Neuen Testaments I–II, Stuttgart 1993; Raymond E. Brown, An Introduction to New Testament Christology, Mahwah, NJ 1994; Klaus Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums (UTB), Tübingen, Basel 21995; Hans Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments I–III, Göttingen 1990, 1993, 1995; Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments I–II, Göttingen 1992, 1999; Georg Strecker (/ Wilhelm Horn), Theologie des Neuen Testaments, Berlin / New York 1996; Ulrich Wilckens, Theologie des Neuen Testaments, I,1 ff., Neukirchen-Vluyn 2002 ff.; Ferdinand Hahn, Theologie des Neuen Testaments I–II, Tübingen 2003.
1.1
Zur Geschichte der Disziplin
Werner Georg Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, Freiburg, München 21970; ders., Das Neue Testament im 20. Jahrhundert (SBS 50), Stuttgart 1970; John K. Riches, A Century of New Testament Study, Cambridge 1993.
Unsere Darstellung des Neuen Testaments steht in der Tradition der Einleitungen, beschränkt sich aber nicht auf die Frage nach den Entstehungsverhältnissen der ein-
2
1 Hinführung
zelnen Schriften, sondern soll vor allem einen Beitrag zum Verständnis ihrer Theologie leisten. Deshalb beginnen wir mit einem knappen Überblick über die Geschichte der Einleitungen und der Theologien des Neuen Testaments. a) Die Entstehung der Einleitungswissenschaft: Die Einleitungswissenschaft, in diesem Fall die „Einleitung in das Neue Testament“, hat sich in der Neuzeit als historische Disziplin durchgesetzt. Ihr Ziel ist es, die Entstehungssituation eines Texts zu erhellen. Deshalb gehört sie zur umfassenden Aufgabe der Textinterpretation. Die Vorgeschichte dieser Disziplin reicht bis in die Alte Kirche zurück, die seit Origenes († 254) Studien zum ursprünglichen Wortlaut des Bibeltexts (Textkritik oder Textologie) durchführte. In der Zeit der Kanonbildung beschäftigten sich die christlichen Lehrer auch mit der Entstehung einzelner neutestamentlicher Schriften (Papias, Kanon Muratori usw.; § 3). Zu einer Disziplin des Universitätsstudiums wurde die Einleitungswissenschaft erst in der Neuzeit. Ermöglicht wurde die Entfaltung der protestantischen Bibelwissenschaft im 18. und 19. Jh. wahrscheinlich nicht so sehr durch die reformatorische Lehre nach dem Prinzip „sola scriptura“, sondern eher durch den Geist der Aufklärung mit der kritischen Infragestellung der Autorität des kirchlichen Amts und der dogmatischen Tradition. Ein wirklicher Vorläufer der Einleitungswissenschaft war der französische Oratorianer Richard Simon. Er verfasste im Jahr 1678 als erste umfassende Studie dieser Art eine „Kritische Geschichte des Alten Testaments“, in der er mit der Analyse des Texts und der Sprache auch historisch-kritische Beobachtungen verband. So formulierte er z. B. die Einsicht, dass die Evangelienüberschriften nicht von den Evangelisten stammen. Die ersten neutestamentlichen Einleitungen schrieben der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis (Einleitung in die göttlichen Schriften des Neuen Bundes, 1750) und der Hallenser Theologe Johann Salomo Semler (Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, 1771–1775). Die inneren Voraussetzungen ihres Vorhabens formulierten sie unterschiedlich: Michaelis prüfte mit historischen Mitteln die Apostolizität der einzelnen biblischen Schriften, d. h. die Frage, ob sie wirklich von einem Apostel verfasst sind und die apostolische Autorität zu Recht beanspruchen konnten. Semler dagegen begann, die Gleichsetzung von „Heiliger Schrift“ und „Wort Gottes“ aufzulösen und zwischen dem Text als einer historischen Größe und der „christlichen wahren Religion“ mit ihrer Moral zu unterscheiden. Ihre „Gegenstände“ (z. B. die Rechtfertigung) müssen demnach historisch richtig erkannt werden, um von ihnen in einer verständlichen Weise reden zu können. Erst dann kann die Wirkung Gottes erwartet werden. Damit handelte es sich bei Semler um eine Neuinterpretation der Lehre von der Inspiration der Schrift, durch die er die Grundlagen der historisch-kritischen Exegese formulierte und zugleich die Hauptaufgaben der Disziplin umriss: Zum einen wurden die Texte als von Menschen verfasste Schriften
1.1 Zur Geschichte der Disziplin
3
angesehen, für deren Verständnis die Entstehungsbedingungen historisch erhellt werden müssen, zum anderen wurde das geistliche Verstehen vor allem als ein inneres Geschehen aufgefasst.1 Nach Meinung einiger Forscher des 18. Jh.s stand dieses innere Verstehen mit der Bekenntnistradition der Kirche in Einklang, andere sahen darin allein eine Angelegenheit des individuellen Gewissens. Diese beiden Grundlinien gehören zu jeder Auslegung, die eine historische und eine systematisch reflektierende, hermeneutische Dimension hat. Semler argumentierte gegen die kritischen Überlegungen, die Gotthold Ephraim Lessing in den Jahren 1774–1778 als Fragmente eines anonymen Autors publizierte. Der Name des Anonymus lautete, wie später bekannt wurde, Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Dieser zog im Sinn des englischen Deismus eine scharfe Trennungslinie zwischen Jesus als Propheten einer natürlichen, ethisch orientierten Religion und der in den Evangelien vertretenen Lehre von Jesus als einem göttlichen leidenden Erlöser. So einseitig Reimarus in seiner radikalen Kritik am Offenbarungscharakter der biblischen Schriften und in seiner historischen Rekonstruktion der natürlichen, ethischen Religion vorging, so einseitig war Semler in seiner Vorordnung des innerlich vernommenen, geistigen Sinns der Schrift vor den historischen Befund.2 An diesen Beispielen lassen sich die methodischen Probleme der Deutung gut illustrieren, die sowohl den geschichtlichen Abstand zur Entstehungssituation als auch den theologischen Aussagegehalt der Texte ernst zu nehmen hat. Den gesamten hermeneutischen Prozess zu analysieren, ist eine der großen Aufgaben jeder Theologie bzw. Philosophie. b) Die Geschichte der Einleitungswissenschaft: Die Geschichte der Disziplin können wir uns nur durch eine kurze Charakterisierung der Hauptprobleme und ihrer Lösungen vergegenwärtigen. Ausgangspunkt für die Einleitungswissenschaft war die Unterscheidung, die Johann Philipp Gabler 1787 in seiner Antrittsvorlesung forderte zwischen der biblischen Theologie als einer historischen Disziplin, die den Schriftsinn zu erheben hat, und der dogmatischen Theologie als einer didaktischen Aufgabe, die die göttlichen Dinge in zeitgemäßer Weise lehren soll. In der Folgezeit war die historische Arbeit vielfach durch eine dogmenkritische Tendenz motiviert. Als Begründer der modernen alt- (und neu-)testamentlichen Einleitungswissenschaft gilt Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827). Dieser führte auch den Begriff des Mythos als Ausdruck für die „Sagen der alten Welt in der damaligen sinnlichen Denkart und Sprache“ in die Bibelwissenschaft ein. Die im 19. Jh. entstandenen Einleitungen sind geprägt von der rationalistischen Kritik am Mythos als einem die 1 Vgl. J. S. Semler, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik ..., (1760), zitiert bei W. G. Kümmel, Das Neue Testament, 78 f. 2 Vgl. W. G. Kümmel, Das Neue Testament, 106; ders., Art. Einleitungswissenschaft II, TRE 9, 469–482.
4
1 Hinführung
ganze Welt umfassenden vorwissenschaftlichen Wirklichkeitsverständnis. Einige Autoren untersuchten die Dogmen nicht nur mit einer historisch-kritischen Skepsis, sondern verbanden deren Analyse mit einer spiritualisierenden Neuinterpretation. Diese geistliche Deutung der Glaubensaussagen konnte mit der christlichen Lehre einigermaßen versöhnt werden (Wilhelm Martin Leberecht de Wette 1780–1849). Der entscheidende Ansporn kam von der „Tübinger Schule“, deren Hauptgestalt Ferdinand Christian Baur (1792–1860) war, der bedeutendste Kirchengeschichtler des 19. Jh.s. Er schrieb keine Einleitung im heutigen Sinn, doch in seiner „Untersuchung zur ältesten Kirchengeschichte“ und in anderen Arbeiten unterzog er die Verfasserangaben der neutestamentlichen Schriften einer konsequenten historischen Kritik, in der er z. B. die Abfassung der Pastoralbriefe durch den Apostel Paulus bestritt. Außerdem stellte er die historische Untersuchung der biblischen Schriften in den umfassenden Horizont einer dialektischen Geschichtsphilosophie, die von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1807; Kap. VI) geprägt war: Das Christentum, das sein ursprünglich jüdisches Milieu verlassen hat, wurde nach dieser Sicht in der hellenistischen Umwelt durch die Gnosis als seiner Antithese neu gedeutet und fand im sog. Frühkatholizismus durch die Institutionalisierung des Amtes in der Kirche seine synthetische und lebensfähige Gestalt. Bei Baurs These handelt es sich nicht mehr um eine historische Kritik der Dogmen, wie sie schon 1787 Johann Philipp Gabler durch seine Unterscheidung zwischen der biblischen und der dogmatischen Theologie eingeführt hatte. Bei Baur ging es vielmehr um eine dialektische Interpretation der ganzen Geschichte. Eine solche Deutung ermöglichte es einerseits, die einzelnen Daten zu einem umfassenderen Gesamtbild zusammenzufügen. Andererseits prägte die „Tübinger Schule“ durch ihre Geschichtsphilosophie ein ideologisiertes Bild der Geschichte, das den tatsächlichen Gegebenheiten in vieler Hinsicht deutlich widersprach. Schließlich gab Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910) der Einleitungswissenschaft eine Gestalt, die bis heute aktuell ist. Er legte als erster in seinem „Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament“ (1885) das Material der Disziplin in zwei Teilen dar. Der erste Teil enthielt die allgemeine Einleitung, d. h. die Probleme der Geschichte der Kanonbildung und der Textüberlieferung, im zweiten folgte die spezielle Einleitung in die einzelnen Bücher des Neuen Testaments. Bei der Behandlung des Kanons klammerte er die dogmatischen Fragen absichtlich aus und beschränkte sich ganz auf die historische Aufgabe, die Entstehung der neutestamentlichen Schriftensammlung darzustellen. Dieses Vorgehen ermöglichte es ihm, die kanonischen Schriften als ein Ganzes zu sehen, als Texte, die als Gruppe überliefert wurden, ohne ihre Einheit theologisch begründen zu müssen. Als 1864 die siebte, verbesserte Auflage der „Enzyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften“ des Basler Professors Karl R. Hagenbach (1801–1874) erschien, konnte ihr Verfasser schon 26 monographische Bearbeitungen der Einleitung in das Neue Testament nennen.
1.1 Zur Geschichte der Disziplin
5
Bevor wir uns den seither erschienenen Einleitungen zuwenden, müssen einige Entscheidungen des Lehramtes der römisch-katholischen Kirche erwähnt werden. Nachdem die tiefgreifenden wissenschaftlichen Untersuchungen des französischen Dominikaners Joseph-Marie Lagrange (1855–1938) und anderer Forscher den Widerstand einiger konservativer Repräsentanten der Kirche geweckt hatten, gewannen für die Entfaltung der Einleitungswissenschaft als einer eigenständigen Disziplin die lehramtlichen Äußerungen eine entscheidende Bedeutung. Sie stellten nämlich fest, dass mehrere literarische Gattungen, die die biblischen Schriftsteller benutzen, von den Wahrheiten des Glaubens indirekt, metaphorisch und analog sprechen. Es handelt sich um die Enzyklika „Divino afflante Spiritu“, die Papst Pius XII. im Jahr 1943 veröffentlichte (DH 3825–3831), und um die 1965 erschienene dogmatische Konstitution des II. Vatikanischen Konzils „Dei Verbum“ (DH 4201–4235). Diese Entwicklung gipfelte in dem Dokument der Päpstlichen Bibelkommission „Die Auslegung der Bibel in der Kirche“ aus dem Jahre 1993, das schon die postmoderne Pluralität der Methoden theologisch reflektiert.3 Die theologische Bewertung der gesamten kritischen Bibelwissenschaft ist erst ein Ergebnis der ökumenischen Diskussion des 20. Jh.s. Unter den neueren Einleitungen erschien 1952 erstmalig die „Einleitung in das Neue Testament“ des katholischen Autors Alfred Wikenhauser, deren spätere Ausgaben (ab 1972) Josef Schmid neu bearbeitete. Sie nutzt die durch die römisch-katholische Kirche eröffneten Möglichkeiten zur historischen Kritik und behandelt relativ ausführlich die Textgeschichte. In der Art der historischen Kritik und in der Beschränkung auf die kanonischen Schriften ähnelt dem eben genannten Werk auch die Einleitung von Werner Georg Kümmel, die zuerst 1963 als Neubearbeitung des Lehrbuchs von Paul Feine und Johannes Behm erschien und nach einer gründlichen Neubearbeitung im Jahr 1972 ihre endgültige Gestalt gewann. Kümmel legt den Kanon zugrunde, den er allerdings nur in seiner Bedeutung für die Kirche reflektiert. Die hermeneutischen Voraussetzungen einer Auseinandersetzung mit der geistigen Umwelt, d. h. eine Interpretation des Offenbarungsbegriffs, werden nur ansatzweise erörtert. Eine relativ kurze Einleitung schrieb 1963 Willi Marxsen. Er ging vom kerygmatischen Inhalt der neutestamentlichen Schriften aus, der ihn aber nicht an der konsequent kritischen historischen Arbeit hinderte. Bei seinem existenzbezogenen Vorverständnis war er jedoch nicht bereit, die theologischen Implikationen der Abgrenzung bei der Kanonbildung zu bearbeiten. Einen anderen Weg schlug Philipp Vielhauer in seinem Lehrbuch der „Geschichte der urchristlichen Literatur“ (1975) ein, in dem er auch außerkanonische Schriften der ersten hundert Jahre des Christentums darstellt und die vorliterarischen Traditionen behandelt, die am Anfang der verschiedenen 3
Vgl. zu diesen Dokumenten H.-J. Klauck, Religion und Gesellschaft im frühen Christentum (WUNT 152), Tübingen 2003, 360–393.394–420.
6
1 Hinführung
christlichen Theologien stehen. Die Kanongeschichte fehlt völlig in der zweibändigen Einleitung von Hans-Martin Schenke und Karl Martin Fischer (1978–1979) und wird nur kurz erwähnt in der zuverlässigen Einleitung von Udo Schnelle (1994), die inzwischen als Standardwerk gilt (52005). Die vier zuletzt genannten Werke verzichten auf die Darstellung der Textgeschichte des Neuen Testaments. Ein umfassendes repräsentatives Werk mit ausführlichen Informationen ist die Einleitung (Introduction to the New Testament) des Amerikaners Raymond E. Brown (1997). In jüngerer Zeit hat Gerd Theißen (2000) die Geistes- und Sozialgeschichte des Urchristentums beschrieben und in seiner Konzeption die christliche Religion – wie jede Religion – als ein Zeichensystem dargestellt. Diese Betrachtungsweise versucht die Grundzeugnisse des christlichen Glaubens im Blick auf die innere Logik ihrer Reflexion und Applikation zu erforschen. Denn das Zeichensystem beruft sich auf die Grundaussagen des Glaubens, stellt deren indirekte liturgische Umsetzung dar, spiegelt sich in der sozialen Realität wider und kann sich nicht in direktem Widerspruch zu den Glaubensinhalten entfalten.4 c) Die Theologie des Neuen Testaments: Da unser Überblick über die einzelnen Bücher des Neuen Testaments einen Schwer punkt auf deren Theologie legt, steht dieses Lehrbuch auch in der Tradition der neueren Theologien des Neuen Testaments, wie sie im 20. Jh. Rudolf Bultmann begründete. Seine Theologie des Neuen Testaments5 erschien 1948–1953 in drei Lieferungen. Sie wirkt in der Darstellung der Grundprobleme der neutestamentlichen Theologie und in der Interpretation der Texte bis heute inspirierend. Auf der einen Seite setzt Bultmann sich von den älteren Arbeiten mit ihren immanenten humanistischen Voraussetzungen ab. Auf der anderen Seite schwächt er die Bedeutung des Osterumbruchs ab, den die vorpaulinischen Bekenntnisse hervorheben. Bultmann vertritt die Auffassung, dass die Erscheinungen des Auferstandenen nach Ostern nicht als Mirakel zu verstehen sind, sondern dass es sich um Ereignisse handelt, die den Sieg Jesu über die verdorbene Welt offenbaren (Bultmann sagt: „veranschaulichen“).6 Dass das Kreuz Christi verkündigt wird, d. h. positiv verstanden werden kann, ist ein anderer Ausdruck für die eschatologische Wirklichkeit, mit der die Menschen in der Gestalt Jesu vor und nach Ostern konfrontiert sind. In diesem Sinn ist Bultmann keineswegs ein Vertreter liberaler Kritik an der religiösen Überlieferung. Unter den theologischen Entwürfen wählt er Paulus und Johannes aus. Paulus hat die ältere Auffassung des Todes Jesu als Sühnopfer übernommen und durch seine Deutung die Verkündigung des Gekreuzigten als Weg zur Rechtfertigung des sündigen Menschen vor dem Gericht Gottes neu interpretiert. Die Gnade Gottes versteht 4 5 6
Vgl. G. Theißen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh 2000, 19 f. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984. Ebd. 409.
1.1 Zur Geschichte der Disziplin
7
Bultmann als Mittel, um ein rechtes Verhältnis der Menschen zu Gott herzustellen, das eine Beziehung gläubigen Vertrauens ist. Die von einer starken Endzeiterwartung geprägte paulinische Eschatologie begreift er in einem johanneisch anmutenden Sinn überwiegend präsentisch als Heilserfahrung, die die gegenwärtige Existenz bestimmt. Umgekehrt arbeitet er bei der Interpretation des johanneischen Konzepts der Geschichte Jesu als des offenbarenden Wortes Gottes die Abhängigkeit von der Gnade Gottes in einer Weise heraus, die für die paulinische Theologie charakteristisch ist. Durch diese leichte Verschränkung johanneischer und paulinischer Züge gewinnt Bultmanns Deutung der neutestamentlichen Theologien ihren gemeinsamen Grundton. Sein Werk hat auch Kritik hervorgerufen, vor allem, weil Bultmann die Weltbilder der neutestamentlichen Autoren als mythisch bezeichnete. Dieser Vorwurf beruht auf einem Missverständnis, denn „Mythos“ bedeutet in Bultmanns Begrifflichkeit ein zeitgebundenes Wirklichkeitsverständnis, das der heutigen Erfahrung nicht mehr entspricht und neu interpretiert werden muss. Die Forderung, den Mythos wörtlich zu nehmen, d. h. als eine noch heute angemessene Weise der Wirklichkeitserfassung anzusehen, stellt Bultmann auf die gleiche Stufe mit der Beschneidungsforderung, die von den Gegnern des Paulus zur Bedingung für das Erlangen des Heils erklärt wurde. Bultmann hat einen Weg der Interpretation entworfen, der legitim und keineswegs falsch ist. Aber aus heutiger Sicht handelt es sich um eine verkürzte Deutung, die vor allem die historische und soziale Dimension des Lebens und des Heils unterschätzt. Der Mythos dient der Orientierung des Menschen in der Welt, die sich nicht nur in einem neuen Selbstverständnis auswirkt und also nicht allein existenziell ausgelegt werden darf, sondern auch ethische und soziale Konsequenzen hat. Die orientierende Bedeutung für die Gegenwart muss mit Hilfe von Analogieschlüssen erarbeitet werden. Im Gegensatz zu Bultmann enthält die „Neutestamentliche Theologie“ von Joachim Jeremias (1971) eine ausführliche Rekonstruktion der Lehre Jesu.7 Fast die ganze nachösterliche Christologie ist nach Jeremias’ Urteil in der Lehre Jesu und in seinem Selbstbewusstsein schon in nuce enthalten. Irreversibel ist die Entdeckung, dass das Christentum aus jüdischen Wurzeln entstand – ein Thema, dem später, gegen Ende des 20. Jh.s, mehrere Arbeiten gewidmet wurden.8 Dass Jesus als Jude auch unter hellenistischem Einfluss stand, in der Vorstadt des hellenistischen Zentrums des südlichen Galiläa (Sepphoris) aufwuchs und wahrscheinlich auch griechisch kommunizierte, wird nicht hervorgehoben. Die These, dass die Christologie in der Lehre und im Selbstverständnis Jesu vorweggenommen wurde, führt paradoxerweise – wie bei 7
J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie. 1. Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh
1971. 8
Vgl. z. B. die Diskussion der Neuen Paulusperspektive (§ 5.8.2i).
8
1 Hinführung
Bultmann – zur Abschwächung des Einschnitts, den das Ostergeschehen bedeutet. Nach der Publikation des ersten Bands ist dem Verfasser offensichtlich klar geworden, dass es auf einem solchen Fundament schwierig wäre, die verschiedenen Theologien der neutestamentlichen Autoren als eigenständige Entwürfe darzustellen. Der zweite Band ist nicht erschienen. Ähnlich wie Jeremias hat auch Leonhard Goppelt seine Theologie des Neuen Testaments (1976) konzipiert:9 Der erste Teil ist eine Rekonstruktion des Wirkens Jesu, der zweite Teil behandelt die paulinische Lehre und schließlich das Denken der einzelnen Evangelisten und anderer Bücher des Neuen Testaments. Das Werk gipfelt in einer Darstellung der johanneischen Schriften. Bei aller Kürze, die es dem Verfasser nicht erlaubt, die Theologie der einzelnen Evangelisten umfassender zu entfalten, bietet Goppelt eine Menge sachlicher Beobachtungen. Er versucht die theologischen Schultraditionen räumlich (territorial) zu verorten. Peter Stuhlmacher schrieb eine zweibändige „Biblische Theologie das Neuen Testaments“ (1992, 1999),10 die materialreich in harmonisierender Gestalt viele nützliche Informationen enthält, und zwar unter ständiger Berücksichtigung der jüdischen Bibel. Um eine Biblische Theologie kann es sich bei diesem Werk allerdings nur in einem begrenzten Sinn handeln.11 Denn die Bibel bietet mehrere Theologien, deren Grundaussagen zwar in vieler Hinsicht konvergieren, deren gemeinsame Züge aber nur durch eine systematisch-theologische Reflexion zu erreichen sind (§ 2.1.5; 9a–g). Dessen war sich Hans Hübner in seinem gleichnamigen dreibändigen Werk bewusst (1990–1995).12 Im ersten Band (Prolegomena) stellte er die Grundlinien des möglichen theologischen Diskurses dar. Hier bewegen wir uns schon auf der Grenze zwischen einer Theologie des Neuen Testaments und der systematischen Theologie. Eine solche Gesamtperspektive, die in systematisch-theologischen Überlegungen gipfelt, eröffnet das zweiteilige Werk von Ferdinand Hahn (2002):13 Der erste Band enthält eine „Theologiegeschichte des Urchristentums“, die bei der Botschaft Jesu einsetzt und sich an der Vielfalt der einzelnen Schriften und Überlieferungskomplexe orientiert. Der zweite Band bietet als die eigentliche theologische Leistung eine systematische Zusammenschau der „Einheit des Neuen Testaments“ anhand zentraler Themen. Er würdigt die Entstehung des Kanons als grundlegende Entscheidung der Alten Kirche, appliziert den Begriff der Offenbarung auf die Geschichte Jesu, beschreibt die Entstehung der Kirche, die christliche Ethik und die Eschatologie. 9 10
L. Goppelt, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 1975/76 (31980). P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments 1–2, Göttingen 1992,
1999. 11 Siehe P. Pokorný, Probleme biblischer Theologie (1979), zuletzt in: ders. / J. B. Souček, Bibelauslegung (Lit. § 2.1.3), 109–119. 12 H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments I–III, Göttingen 1990, 1993, 1995. 13 F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments I–II, Tübingen 2002.
1.1 Zur Geschichte der Disziplin
9
Behutsam in den Formulierungen, genau in den exegetischen Schlussfolgerungen und in der theologischen Reflexion, ist sein Werk auf die tragenden Linien konzentriert. Ein Gespräch mit den gegenwärtigen Denkströmungen wagt er zwar nicht, aber die innerkirchlich-theologische Leistung ist so imposant, dass der Leser kein Defizit empfindet. Im Blick auf die Beziehung zwischen Neuem und Altem Testament ist Georg Strecker in seiner Theologie des Neuen Testaments (1996) viel zurückhaltender als die anderen Autoren. Er würde es nicht wagen, eine Biblische Theologie zu schreiben, weil er sachlich von einer Diskontinuität zwischen den beiden Teilen der christlichen Bibel ausgeht und in der Tradition der religionsgeschichtlichen Schule das Urchristentum für ein synkretistisches Phänomen hält, das stark von seiner hellenistischen Umwelt beeinflusst ist.14 Er bietet eine Übersicht über das Material, vermeidet allerdings eine systematische Interpretation. Eine hermeneutisch anregende Christologie des Neuen Testaments hat Martin Karrer (1998) geschrieben.15 Er geht jedoch nur nach Themenkreisen geordnet von den gemeinsamen Grundtendenzen der neutestamentlichen Schriften aus und differenziert zu wenig zwischen den Ansätzen der einzelnen Autoren. Einen neuen christologischen Gesamtentwurf legte Larry W. Hurtado (2003)16 vor, der nach den Einflüssen der religionsgeschichtlichen Schule im 20. Jh. wieder die jüdische Verwurzelung Jesu und der frühen Christenheit ernster nimmt. Für die weitere Forschung grundlegend entfaltet er die Christologie der einzelnen Überlieferungskomplexe (Paulus, Evangelien, johanneische Schriften usw.) in ihren historischen und theologischen Zusammenhängen. Eine umfassende theologische Einführung in die Ekklesiologie des Neuen Testaments schrieb Jürgen Roloff (1993).17 Wegen der liturgischen Funktion der Glaubens- und Bekenntnisformeln bildet für ihn die Christologie den Ausgangspunkt seiner ekklesiologischen Überlegungen zu den einzelnen neutestamentlichen Schriften. Außerdem reflektiert er das Verhältnis zu Israel als eine wichtige, bisher weithin vernachlässigte Fragestellung. Diese Beobachtungen geben einen kleinen Einblick in die komplizierte Aufgabe einer Theologie des Neuen Testaments, deren systematisierendes Interesse nicht selten zu einer Anpassung des theologischen Profils der einzelnen Entwürfe führt. Nachdem die Redaktionsgeschichte gezeigt hat, dass die neutestamentlichen Zeugen selbstständige schöpferische Theologen sind (Exkurs 4), erscheint es uns angemes14
G. Strecker (/ F. W. Horn), Theologie des Neuen Testaments, Berlin / New York 1996, bes. 4–9.22 f.55 ff. u. ö. 15 M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament (NTD.E 11), Göttingen 1998. 16 L. W. Hurtado, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids MI / Cambridge 2003. 17 J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament (NTD.E 10), Göttingen 1993.
10
1 Hinführung
sen, ihre theologischen Konzeptionen im Zusammenhang mit dem literarischen und historischen Ort ihrer Schriften darzustellen. d) Daraus folgt für die Konzeption dieses Lehrbuchs: Das vorliegende Werk ist als Handbuch gedacht, das in einem einzigen Band die notwendigen Informationen für das Verständnis der Schriften des Neuen Testaments darbieten soll. Deswegen müssen wir in einer allgemeinen Einleitung (§ 1–4) zunächst die hermeneutischen Voraussetzungen für die Interpretation der neutestamentlichen Texte zumindest kurz erwähnen (§ 1.2 ff.). Praktisch werden wir die bedeutsamsten Einsichten der Sprachwissenschaft (Linguistik) vorstellen und die möglichen Wege zur Lösung einiger Grundfragen der Hermeneutik andeuten. Gleichzeitig ist diese hermeneutische Vorbesinnung eine schöpferische Arbeit: Die Überprüfung unreflektierter Voraussetzungen der eigenen Interpretation kann für die exegetische Arbeit inspirierend wirken. Für ein angemessenes Verständnis ist auch ein Überblick erforderlich über die historischen Voraussetzungen der jüdischen Tradition und der hellenistischen Kultur mit ihren Einflüssen auf die neutestamentlichen Autoren (§ 2), eine Reflexion der Bedeutung des Kanons (§ 3) sowie eine Einführung in die Geschichte und theologische Relevanz der Textkritik (§ 4). Zeitlich erfolgte die Kanonisierung der Bücher des Neuen Testaments zwar erst, nachdem diese schon ihre literarische Gestalt gewonnen und sich in der Kirche durchgesetzt hatten, und die Probleme der handschriftlichen Überlieferung gehören in eine noch spätere Zeit. Doch dürfte es hilfreich sein, zunächst eine Übersicht über die Entstehung der Sammlung der Bücher zu bieten, die den Kanon des Neuen Testaments bilden. Außerdem halten wir es für sinnvoll, die Textgeschichte vorzuziehen, da die textliche Basis der einzelnen Schriften in den entsprechenden Kapiteln berücksichtigt wird. Nach diesen Vorüberlegungen werden in der speziellen Einleitung (§ 5–8) die einzelnen Schriften ihrer historischen Entstehungsreihenfolge nach behandelt: Wir beginnen mit den sieben authentischen Paulusbriefen (§ 5) als den ältesten neutestamentlichen Schriften aus den 50-er Jahren des 1. Jh.s, konkret mit den sie prägenden Traditionen (Septuaginta, Hoheitstitel, Bekenntnisformeln, liturgische Elemente, Taufe, Herrnmahl, Jesusworte, Briefformular und Lebensgeschichte des Paulus). Dann folgen nach einer Einführung in die synoptische Frage (§ 6.1) Markus (§ 6.2), dessen Evangelium um 70 n. Chr. entstand und den anderen als Vorlage diente, sowie Matthäus (§ 6.3) und Lukas mit der Apostelgeschichte (§ 6.4). An die Synoptiker schließen sich in ihrer Mischung von gattungsmäßiger Verwandtschaft und theologischer Eigenständigkeit die johanneischen Schriften (§ 7) mit dem Johannesevangelium, den Johannesbriefen und der Apokalypse des Johannes an. Der letzte Hauptteil ist den Deuteropaulinen und den katholischen Briefen gewidmet, die großenteils im ausgehenden 1. Jh. entstanden sind und sich in unterschiedlicher Weise mit der paulinischen Tradition auseinandersetzen (§ 8). Am Ende steht als Resümee eine kurze
1.2 Zur gegenwärtigen Bedeutung der Einleitungswissenschaft
11
Schlussbetrachtung (§ 9), die die übereinstimmenden Züge, aber auch die bleibenden Unterschiede zwischen den Schriften des Neuen Testaments festhält. Der Anhang umfasst Zeittafeln (§ 10), ein Glossar zur Erklärung der Fachausdrücke (§ 11), ein Literaturverzeichnis der Quellenausgaben, Nachschlagwerke und Kommentarreihen (§ 12) sowie Stellen- und Sachregister (§ 13).
1.2
Zur gegenwärtigen Bedeutung der Einleitungswissenschaft
Am Beispiel der „Tübinger Schule“ wurde ein Grundpfeiler jeder Textdeutung sichtbar: die Einordnung des Texts in ein größeres Ganzes, in einen Traditionsstrom, der noch in der Gegenwart bedeutend ist, der die Situation des heutigen Menschen beeinflusst und der es ihm ermöglicht, seinen eigenen Ort in der Geschichte zu bestimmen. Eine solche Gesamtinter pretation der neutestamentlichen Schriften und ihrer Sammlung im Kanon ist notwendig als Pendant zur detaillierten Einzelexegese. Ihr dient auch die Einleitungswissenschaft. Früher übten die christlichen Dogmen die Funktion jenes umfassend interpretierenden Paradigmas aus. Später übernahm diese Aufgabe z. B. die hegelsche Sicht der Geschichte. Heute fehlt uns ein solcher integrierender Deutungsrahmen. Wir müssen neu über die Art menschlicher Orientierung in der Geschichte nachdenken, um das Gemeinsame der biblischen Textwelt und unserer erlebten Welt zu entdecken. Deswegen beginnen wir unsere Darstellung mit einer kurzen Erörterung der Grundprobleme der Hermeneutik – der Theorie der Deutung schriftlich fixierter Texte. Die Hermeneutik der biblischen Bücher muss sich mit ihrer Sprachform befassen18 und den Anspruch jener Texte dem Leser gegenüber deutlich machen.19 Schon seit einigen Jahren ist die Bedeutung der Hermeneutik anerkannt, aber sie hat bisher noch keinen festen Platz in der neutestamentlichen Wissenschaft gefunden.
18
Vgl. E. Fuchs, Hermeneutik (Lit. § 1.3) III. In diesem Zusammenhang weise ich auf die Diskussion hin, die durch folgende These von H. Räisänen hervorgerufen wurde. Seiner Meinung nach sollte die Bibel unvoreingenommen untersucht werden, und die Theologie des Neuen Testaments sollte nur innerkirchlich betrieben werden, weil die einzelnen Schriften des Neuen Testaments theologisch nicht einheitlich seien und nur aus der Sicht der Kirche eine Einheit bilden würden (Beyond New Testament Theology: A Story and a Programme, Philadelphia, PA 1990, xviii). Dies ist eine Sicht, die die Rolle der Wirkungsgeschichte nicht wahrnimmt, zu der im Fall der neutestamentlichen Schriften ihre gemeinsame Kanonisierung gehört. Die Kanonisierung bildet das Vorverständnis, das auch nichtchristliche Forscher motiviert, sich für die biblischen Texte zu interessieren. In der Diskussion relativierte P. Balla die These von Räisänen durch den Nachweis der Konvergenz der neutestamentlichen Schriften (Challenges to the New Testament Theology [WUNT II/95], Tübingen 1995, bes. 251–254). 19
12
1 Hinführung
1.3
Hermeneutische Vorüberlegungen: Die Funktion der Sprache
Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (DÜ), Berlin 2 1967; Ernst Fuchs, Hermeneutik, Bad Cannstatt 1954, Tübingen 41970; ders., Marburger Hermeneutik (HUTh 9), Tübingen 1968; Hans W. Frei, The Eclipse of Biblical Narrative, New Haven, CT 1974; Peter Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments (GNT 6), Göttingen 21986; Klaus Berger, Hermeneutik des Neuen Testaments, Gütersloh 1988; Wilhelm Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament, Freiburg u. a. 31993; Günther Figal, Vom Schweigen der Texte, in: ders., Für eine Philosophie von Freiheit und Streit, Tübingen 1994; Jean Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991; Roman Jacobson, Poetik (STW 262), Frankfurt/M. 31993; Robert Morgan / John Barton, Biblical Interpretation, Oxford 21989, Kap. 7; Daniel Patte, Structural Exegesis for New Testament Critics, Valley Forge, PA 1990; Jean Pépin / Karl Hoheisel, Art. Hermeneutik, RAC XIV; Martin Pöttner, Sprachwissenschaft und neutestamentliche Exegese, ThLZ 123 (1998) (Sammelbericht); Paul Ricoeur, Biblical Hermeneutics, Semeia 4 (1975), 27–148; W. Randolph Tate, Biblical Interpretation, Peabody, MA 1991, Unit II; Hans Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986; Vernon Robbins, The Tapestry of Early Christian Discourse, London / New York 1996; Oswald Bayer, Hermeneutical Theology, in: P. Pokorný / J. Roskovec (Hg.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 103–120.
1.3.1
Die Sprache als Organisation der Erfahrung
Unter dem Einfluss des Positivismus wurden literarische Texte im 19. Jh. als Berichte verstanden. Man wusste zwar, dass sie auch eine kommentierende Dimension haben, indem sie das Berichtete deuten und in dem Geschehen einen Sinn entdecken. Doch das Betonen der Treue zum Berichteten war bei ihrer Auswertung entscheidend. Eine neue Sicht der exegetischen Aufgabe brachten die linguistischen Untersuchungen, die seit Beginn des 20. Jh.s die Philosophie beeinflussten und seit drei Jahrzehnten in der Exegese an Bedeutung zunahmen. Die Wende kam durch die Neuentdeckung der bereits in der Antike und im Mittelalter untersuchten Funktion der Sprache. Es war vor allem Ferdinand de Saussure, der in seiner Theorie der Linguistik (Cours de linguistique générale; 1916) die soziale Funktion der Sprache beschrieb: Als ein System von Zeichen (Codes) ermöglicht die Sprache (franz. langue, im Unterschied zum Sprechakt = franz. parole) nicht nur die Kommunikation, sondern zugleich das Denken und die Orientierung des Menschen in der Welt.20 Im Unterschied zu de Saussure wird heute die elementarste Voraussetzung betont: Die Sprache ist schöpferisch. Indem sie die Welt organisiert, „macht“ sie aus dem Ganzen der Erfahrung durch seine Strukturierung und Unterscheidung der Einzeler-
20
Vgl. F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Kap. II/4, § 1.
1.3 Hermeneutische Vorüberlegungen: Die Funktion der Sprache
13
scheinungen21 die menschliche Lebenswelt. Diese umfassende Erfahrung wird im Prolog des Johannesevangeliums (1,1) theologisch gedeutet. Die schöpferische Tätigkeit Gottes wird metaphorisch als „Wort“ (lógos) bezeichnet. Eigentlich handelt es sich um eine Beschreibung, die das Sein Gottes als Schöpfer überhaupt charakterisiert.22 Lexikalische Codes sind daher relativ stabile Zeichen für die Phänomene, die erst durch die Sprache sichtbar werden. Um die Vielfalt der ganzheitlichen Erfahrung zu erfassen, muss die Sprache die einzelnen Wörter als Verallgemeinerung mehrerer Einzelerscheinungen konzipieren. Der Wortschatz stellt eine funktionelle Reduktion der unbegrenzten bunten Wirklichkeit auf die begrenzte Anzahl der Worte dar. In der Sprache wird unsere Erfahrung sortiert und interpretiert.23 Da die Wörter in jeder Sprache anders gestaltet sind, besteht ein Teil der biblischen Exegese in der Untersuchung der Semantik der Ausdrücke, um ihre semantische Reichweite richtig erfassen und übersetzen zu können. Die Unterschiede im semantischen Bereich der einzelnen Wörter lassen sich den Wörterbüchern entnehmen, die für jeden biblischen Ausdruck mehrere Äquivalente in der modernen Sprache anführen. Jede dieser Übersetzungen deckt nur einen Teil des Bedeutungsumfangs eines Worts in der Ursprache ab, hat darüber hinaus aber meistens noch andere Bedeutungen, die außerhalb des Bedeutungsumfangs des Wortes in der Ursprache liegen. Jedes dieser Äquivalente ist also nur ein Teiläquivalent, wie das folgende Beispiel zeigt:
Einseitige Verfügung
Willenskundgabe Gottes
diathē´kē
Altes / Neues Testament
Bund Vertrag
Abb. 1: Ein semantisches Feld (vgl. § 2.1.3b)
21 Vgl. J. Peregrin, Is Language a Code?, in: From the Logical Point of View, Nr. 2 (1993), 73–79. 22 O. Bayer, Hermeneutical Theology, in: P. Pokorný / J. Roskovec (Hg.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 104–120, hier 110. 23 Vgl. P. Ricoeur, Die lebendige Metapher (Lit. § 1.3.3), 74–82.
14
1 Hinführung
Die Grundeinheit der Sprache, d. h. der eigentliche Träger der Bedeutung, ist aber nicht das einzelne Wort, sondern der Satz, in den diese Worte eingebunden sind. Die Gefahr bei der Arbeit mit den exegetischen Lexika besteht in der Versuchung, die dort genannten Bedeutungen von ihrer Funktion im Kontext zu isolieren, dessen Struktur für das Entdecken ihrer konkreten Bedeutung entscheidend ist. 1.3.2
Sprache als Weltgestaltung
Mit der Einbindung der Worte in einen Satz gelangen wir zur Funktion der Grammatik. Die Sprachwelt ist nicht nur ein Mittel zur Erfassung der „realen“ Welt, sie ist selbst eine ihrer Dimensionen. Wir leben in Sprachprojekten, in denen das grammatische „Ich“ die relative Mitte ist. Die anderen „Personen“ repräsentieren seine Bezugspunkte – sein soziales Feld. Dieses besteht zwar auch aus „Ichs“, wird aus der Sicht des Sprecher-Ichs aber als Du, Er, Sie usw. definiert. Vor allem gibt es in der Sprachwelt einen Aspekt, der durch die grammatischen Tempora ausgedrückt wird. Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft treten ins Blickfeld – und ihre Relationen: ein Perfekt z. B. verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart. Durch die Tempora wird nicht nur eine Orientierung in der Zeit ermöglicht, sondern die Welt noch tiefer mitgestaltet, als es durch den Wortschatz geschieht: In die grammatische Vergangenheit situieren wir die schon erlebten Ereignisse, die dadurch anderen vermittelt werden können. Im Futur sprechen wir von dem, was wir erwarten. Durch diese zeitliche Differenzierung wird das Geschehen, das unser Jetzt umgibt, in eine Welt der Geschichte eingebunden, die sich in der grammatisch organisierten Zeit erstreckt, die wir uns als Raum, d. h. „quasispatial“, vorstellen. Diese Analyse der Erinnerung ist schon von Augustin (354–430) beschrieben und im X. und XI. Buch seiner Bekenntnisse als Thema theologischer und philosophischer Reflexion entfaltet worden. Die Vergangenheit ist durch die Erinnerung präsent, und die Erinnerung „lebt“ in der Sprache (nach Augustin „in den Worten“; conf. X, 20). Die Sprache bringt also ein kommunizierbares, intersubjektives Modell der Wirklichkeit hervor, in dem wir uns bewegen und das wir nicht verlassen können. Der konsequente Konstruktivismus hält dieses Modell für realer als die sog. objektive Welt, die wir nur durch die Brille jener Projekte erfassen. Diese konstruktivistische Sicht ist jedoch eine verfehlte Schlussfolgerung, denn es gehört zu den größten Leistungen der Sprache, dass sie fähig ist, sich selbst zu relativieren, d. h. anzudeuten, dass das, worauf sie sich bezieht, die Sprachwelt transzendiert. Sie spricht „über etwas“.24 Dieses „Etwas“ ist zwar nur durch die Sprache erreichbar, doch kann grammatisch signalisiert werden, dass die Realität sich nicht in der Sprachwelt erschöpft.
24
Dies ist das Hauptargument von Paul Ricoeur gegen den konsequenten Strukturalismus (Konstruktivismus).
1.3 Hermeneutische Vorüberlegungen: Die Funktion der Sprache
15
Über etwas zu sprechen, ist die Grundgestalt der Interpretation, der Kommentierung. Die Sprache übt auch eine referentielle Funktion aus, sie hat teil an den Beziehungen zur Umwelt. Das Verhältnis der Texte zu ihrer Umgebung ist ein Thema, zu dessen Bewältigung eine literarische Einführung einen entscheidenden Beitrag leistet. Daraus folgt, dass die exegetischen Methoden zwischen den Texten und der in ihnen bezeugten Wirklichkeit differenzieren müssen. Wer beides identifiziert, d. h. den biblischen Text als solchen schon für die direkte Offenbarung Gottes hält und keine Rückfrage stellt, entspricht nicht dem Charakter dieser Texte als einer konkreten Gestalt der Sprache. Die biblischen Texte sind nicht das Wort Gottes, aber sie enthalten und bezeugen die göttliche Offenbarung in dieser Welt. Bei den biblischen Texten geschieht die Rückfrage nach dem Inhalt der Offenbarung meist durch eine historische Annäherung. Diese Kritik betrifft sowohl fundamentalistische Interpretationen der Schrift, die den Wortlaut der Texte mit dem in ihnen bezeugten Wort Gottes gleichsetzen, als auch konsequent strukturalistische (konstruktivistische) Deutungen, die dem Zeugnischarakter des Textes nicht gerecht werden. 1.3.3
Der metaphorische Charakter religiöser Rede
Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher (La métaphore vive, 1975) (Übergänge 12), München 1986 (DÜ); Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 52004.
Für einen antiken Menschen bot der Mythos (§ 1.1a.c) mit seinen Sagen der Urzeit einen Erzählrahmen, der die Welt als Ganzes umfasste und die verschiedenen Beziehungen des menschlichen Lebens und der Geschichte verband. Er war mit der Sprache ko-extensiv, d. h. er betraf den ganzen Raum der Sprache. Diesen umfassenden Bezugsrahmen kann die Sprache aber auch auf andere Weise andeuten. In unserer säkularisierten Welt können wir das äußerlich nicht konkret Vorstellbare – die Geschichte als Ganzes sowie die bisher unbekannten neuen Erscheinungen – nicht direkt erfassen. In diesen nicht gegenständlichen Bereich gehören die meisten religiösen Phänomene. Durch eine unmittelbare Anwendung eines lexikalischen Zeichenvorrats können sie kaum verbalisiert werden. Zum Wesen der Kodierung gehört nämlich, dass die Bedeutung des Kodes beiden Seiten, dem Redenden und den Angeredeten, dem Autor und dem Leser, dem Sender und den Adressaten als gemeinsamer Zeichenvorrat bekannt ist. Kodes können nur das schon Bekannte mitteilen. Um etwas nicht allgemein Erfahrbares zur Sprache zu bringen, muss die Sprache die schon bekannten Kodes in einen neuen, unerwarteten Zusam-
16
1 Hinführung
menhang stellen, sodass die Zeichen eine neue Funktion gewinnen. Durch diese neue Verwendung werden die Zeichen „innoviert“.25 Die extreme, man könnte auch sagen paradoxe Gestalt einer solchen neuen Kombination, die das Suchen neuer Bedeutungszusammenhänge ausdrückt, ist die Metapher. Das metaphorisch gebrauchte Wort gewinnt in einem solchen Satzkontext eine neue Bedeutung, in der immer auch etwas von seinen Grundbedeutungen mitklingt. Zum Beispiel ist das „Reich Gottes“ ohne Zweifel kein Reich mit einem gegenständlich sichtbaren Territorium, Beamten und einer Armee. Es ist wirklich etwas Neues, das in der gegenständlichen Welt noch nicht da ist. Es ist das Reich „Gottes“. Und doch ist es ein Reich in dem Sinne, dass es Menschen und ihre Beziehungen betrifft. Die Metapher, die „wörtlich“ genommen nicht verifizierbar ist, kann als Modell für etwas dienen, das noch nicht da ist und als solches doch verständlich wird. Natürlich ist nicht jede paradoxe Verbindung mehrerer Zeichen eine Metapher. Eine Metapher entsteht, wenn eine solche Wortverbindung beim Hören wirklich zum Begreifen einer Sache hilft, d. h., wenn die Metapher weiter benutzt wird.26 Aristoteles definierte die Metapher vor allem in ihrer ästhetischen Funktion als rednerische Ausschmückung (poet. 21–22 [1457b–1458b]). Eine Strömung der jüngeren Linguistik hat die kognitive, zu neuer Erkenntnis führende Bedeutung der Metapher neu ans Licht gebracht. In der Hermeneutik hat aus dieser Erkenntnis Paul Ricoeur27 Konsequenzen gezogen: Die Aussage einer authentischen Metapher kann durch ihre rationale Deutung nie völlig ausgeschöpft werden. Wir können zwar beschreiben, was etwa eine Metapher sagen möchte, aber ihre Prägnanz und ihre wirksame Poetik geht dadurch verloren. In einem solchen Fall kann sie nur durch eine andere Metapher oder durch eine Art analoger Rede interpretiert werden. So kann Jesus die Metapher „Reich Gottes“ erklären, indem er sagt: Das Reich Gottes ist „wie“ – und es folgt ein Gleichnis (Exkurs 7). Die Metapher kann als Grundelement eines alternativen, neuen Weltprojekts verstanden werden, als ein Signal der neuen Wirklichkeit. In diesem Sinn lässt sich die Metapher als säkularisierte Form des Mythos charakterisieren. „Mythisch“ sind sol25
Vgl. P. Ricoeur, Temps et récit I, Paris 1983, 229 f. Er spricht von der teleologischen Intention, die es uns ermöglicht, die einzelnen Erfahrungen in eine metaphorisch gestaltete umfassende Struktur einzuordnen. 26 Mehrere Linguisten behaupten deswegen, dass es nur gute Metaphern gibt. Von der Metapher unterscheiden sich das Gleichnis und die Allegorie, indem sie (meistens durch ein „wie“ oder durch den Kontext) ihren Übertragungsvorgang in ein analoges Modell der Welt offen ankündigen (Exkurs 7). 27 Vgl. P. Ricoeur, Die lebendige Metapher, 77 ff., 188–193; (P. Ricoeur /) E. Jüngel, Metapher (B.EvTh), München 1974, 117 ff. Die kognitive Funktion der Metapher stellte vor allem D. Davidson, What Metaphors Mean, in: On Metaphor, Chicago 1978, in Frage. Zur gegenwärtigen Diskussion über die Metapher s. J. Stern, Metaphor in Context, Cambridge, MA / London 2000, 39–66.
1.3 Hermeneutische Vorüberlegungen: Die Funktion der Sprache
17
che Ausdrücke, weil sie die Möglichkeit einer alternativen Welt andeuten und weil einige Metaphern wie „Himmel“, „Rettung, Heil“ oder „Auferstehung“ den ganzen Horizont der menschlichen Welt betreffen (sie sind mit der Sprachwelt ko-extensiv). „Säkularisiert“ sind die Metaphern in dem Sinne, dass wir uns bei ihrer Anwendung ihrer möglichen Ersetzbarkeit durch andere Ausdrücke unserer Sprachwelt bewusst sind. Die Metaphern gehören zur religiösen Rede, und auch in der Bibel haben sie eine Schlüsselfunktion: Reich Gottes, Auferstehung, Sohn Gottes. Die metaphorische Dimension dieser Metaphern kennen alle Gläubigen: Sie wussten und wissen auch heute, dass die Auferstehung (Auferweckung) kein übliches Aufstehen aus dem Bett ist und dass Jesus kein Sohn Gottes im physischen Sinn sein kann (§ 5.6.1.2), dass es sich also um eine neue, überraschende und zugleich intensivere Bedeutung der bekannten Ausdrücke handeln muss. Innerhalb einer Gruppe, die gemeinsame, in der Umwelt nicht übliche Erfahrungen gemacht hat, können die Metaphern als exklusive Kodes funktionieren, sodass ihr metaphorischer Charakter mitunter nicht wahrgenommen wird. So wird im kirchlichen Bereich z. B. das Wort „Heil“ als umfassender Ausdruck für die Errettung und Befreiung aus allem Leid gebraucht. Wenn sich die Christen nicht isolieren und in ein Ghetto abdrängen lassen wollen, müssen sie sich des metaphorischen Charakters der christlichen Sprache neu bewusst werden. Nur so werden sie fähig, von ihrer vertrauten Ausdrucksweise methodisch Abstand zu nehmen, um sie auch mit anderen Worten zu interpretieren und neu zu entfalten. 1.3.4
Metapher und Wirklichkeit
Jede Metapher enthält ein rudimentäres Projekt einer alternativen Welt. Anschaulich wird diese Eigenart in der paulinischen Interpretation der christlichen Taufe, die Paulus in Röm 6,1–14 vorlegt (§ 5.6.2.2d). Dort bezeichnet er die Taufe (wahrscheinlich in einer schon übernommenen christlichen Tradition) als das Sterben mit Christus, das auch die Hoffnung auf die Auferstehung garantiert. Die Taufe ist also ein liturgischer Eintritt in die Welt dieser Grundmetapher des christlichen Bekenntnisses und sie hat Folgen für die Orientierung im Leben: Sie ergibt eine neue Hierarchie der Werte. Selbstverständlich ist die Quelle des neuen Lebens nicht die Metapher selbst, sondern die Wirklichkeit, die die Metapher und das liturgische Geschehen repräsentieren. Aber es geht um eine Wirklichkeit, die vor allem durch eine metaphorische Ausdrucksweise,28 durch symbolische Gesten und liturgische Rituale dargestellt
28 Dass das Gleichnis der Metapher ähnlich ist, zeigen N. Goodman, Languages of Art, Indianapolis 1976, 21977, oder H. Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern (FRLANT 120), Göttingen 21980, 59 f.
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1 Hinführung
wird. Es handelt sich daher nicht nur um eine metaphorische Vergegenwärtigung, sondern um die unersetzliche metaphorische Vergegenwärtigung dieser neuen Wirklichkeit. Es sind eben nicht „bloß“ Bilder, Symbole und Riten, sondern zugleich Erfahrungen einer anderen Wirklichkeit, die darin bis ins körperliche Erleben hinein anschaulich und spürbar nahegebracht werden. Dieses Verständnis ist ein möglicher Ansatz zur Deutung der Sakramente (§ 5.6.2.2–3).
1.4
Der Text
Wird ein Sprachprojekt schriftlich fixiert, so handelt es sich um einen Text. 1.4.1
Die literarische Eigenart
Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946) (DALP 90), München 61977; Amos N. Wilder, Early Christian Rhetoric, Cambridge, MS 21971; Jean Calloud, L’Analyse structurale du récit, Lyon 1973; George A. Kennedy, New Testament Interpretation through Rhetorical Criticism, Chapel Hill / London 1984; Peter V. Zima, Literarische Ästhetik (UTB), Tübingen 1991; Georg Strecker, Literaturgeschichte des Neuen Testaments (UTB), Göttingen 1992; Detlev Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte, Darmstadt 1993; J. David Hester Amador, Academic Constraints in Rhetorical Criticism of the New Testament (JSNT SS 174), Sheffield 1999.
Wenn wir einen alten literarischen Text lesen, erfahren wir sehr konkret, dass wir in eine andere Welt versetzt werden. Grundsätzlich gilt diese Erfahrung für alle literarischen Texte, und zwar schon deswegen, weil ihre Welt fixiert ist, während die Welt der Leser sich ständig bewegt. Die im Text beschriebene Welt unterscheidet sich von unserer eigenen Lebenswelt dadurch, dass die in ihnen dargestellte „Sache“ aus einem spezifischen Blickwinkel gesehen wird. Der Zugang zur Sache, um die es im Text geht, wird uns durch den Text vermittelt. Der schriftlich fixierte und literarisch bearbeitete Text stellt eine Welt (Textwelt) innerhalb der Sprachwelt dar. Der geschriebene Text wird dadurch potentiell zum universalen Gut, weil er allgemein zugänglich ist. Ähnlich wie die grammatikalischen Regeln den Satzbau bestimmen, prägen auch die literarischen Gattungen, jede mit ihren syntaktischen, semantischen und pragmatischen Grundmerkmalen, die Produktion neuer Texte.29 Die Gattungen (Genres) der literarischen Texte (Evangelien, Briefe) und z. T. auch die Gattungen der mündlichen Überlieferung (Wundererzählungen, Gleichnisse, Jesusworte, Bekenntnisformeln) sind eine Tradition, vor deren Hintergrund Neues artikuliert werden kann. Da 29
Vgl. P. Ricoeur, Biblical Hermeneutics, 69 (Lit. § 1.3).
1.4 Der Text
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jede Gattung sich durch bekannte Elemente auszeichnet, haben die Gattungen eine stabilisierende Wirkung auf die Kommunikation. Nach dem zweiten Weltkrieg hoben Erich Auerbach und Amos N. Wilder die literarische Dimension des Neuen Testaments neu hervor. Sie fanden Widerhall, weil ihre Analysen die Texte vor allem als Makrostrukturen untersuchen, die durch die Autoren bewusst gestaltet wurden. Die Gesamtkomposition ist für das Verständnis eines Texts besonders aufschlussreich. Denn im Blick auf die Pragmatik (das Verhältnis zum Zeichen- bzw. Wortbenutzer) haben die unbewusst entstandenen Dimensionen eine geringere Bedeutung.30 1.4.2
Die Faktoren der Textlektüre
Schriftlich fi xierte Texte haben auch ihre Schattenseite: Sie enthalten Erinnerungen oder sie äußern sich zu einer bedeutenden Sache, aber sie schweigen, wenn sie gefragt werden (Plato, Phaidr. 274e–275a). Sie sprechen uns an und ziehen unser Interesse auf sich. Aber sie sind nicht dialogisch. Sie reden zu uns aus einer anderen Zeit, in die von uns her kein direkter Weg führt. Insbesondere die Lektüre alter Texte bedarf mancherlei Erklärung, um ihren Sinn besser verstehen zu können. Die Auslegung, zu der die Erörterung der Einleitungsfragen und des theologischen Profils der einzelnen literarischen Texte gehört, soll daher einen direkten Dialog mit dem Text eröffnen, der uns aufgrund des zeitlichen und räumlichen Abstands auf unmittelbare Weise nicht mehr möglich ist. Diese Lücke zwischen den Fragen der Leser und dem Schweigen der Texte zu überbrücken, ist eine Aufgabe der Exegese. Das Neue Testament ist demnach eine Sammlung literarischer Texte,31 die der Vermittlung in Gestalt eines Metatexts (Kommentars, Predigt usw.) besonders intensiv bedürfen. „Besonders intensiv“ muss diese Auseinandersetzung erfolgen, weil es sich um Texte handelt, die einerseits die Grundfragen des Lebens und der menschlichen Hoffnung betreffen, andererseits jedoch alt sind und einem fremden Milieu entstammen. Äußere Zeichen des Abstandes, der uns von der Entstehungssituation trennt, sind z. B. die Personen- und Ortsnamen, die sich gegen eine direkte Übertragung sperren.32
30 Z. B. kann die Lektüre des fachlich gut gestalteten Buchs „L’analyse rhétorique“ von R. Meynet (Paris 1989) den Leser leicht von den Hauptproblemen der Exegese ablenken. 31 Wenn auch einige Bücher des Neuen Testaments nicht für Literatur im engen Sinn gehalten werden können, ist das Ganze des Kanons (§ 3) ohne Zweifel eine Sammlung literarischer Texte. 32 Auf die Unterdrückung der referentiellen Funktion der Sprache hat E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese I, Olten – Freiburg/Br. 31985, seine Theorie der Exegese gebaut; zur Kritik s. G. Lohfink / R. Pesch, Tiefenpsychologie und keine Exegese (SBS 129),
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1 Hinführung
Schon jetzt sehen wir, dass das Lesen eines Texts ein komplexer Vorgang ist: Der Leser (mit seiner Welt) führt eine Begegnung mit dem Text und seiner Welt herbei, der sich auf eine Sache beruft, die wieder ihre eigene Welt hat. Diese Sachwelt begegnet uns zwar durch den Text, aber beansprucht ihre relative Autonomie, eine „intentionelle Exteriorität“.33 Der vierte Teilnehmer des Lektüreprozesses, der vielfach hinter dem Text versteckt bleibt, ist der Autor (die Autoren). Oft ist seine Welt der Textwelt so ähnlich, dass er hinter dem Text „schläft“, aber an manchen Stellen greift er in den Text als Person ein. In den Paulusbriefen z. B. stellen Grüße, apostolischer Segen oder Warnungen (1Kor 16,22–24) einen deutlichen Umbruch in der argumentierenden oder ermahnenden Textgestalt des Briefkorpus dar. In anderer Weise ist auch die Ich-Form der Erzählung in fiktiven Erzähltexten wie z. B. der Johannesapokalypse ein Versuch, etwas von der Wucht der direkten Beziehung des Autors zur „Sache“ den Lesern weiterzuvermitteln (§ 7.2.2). Meistens wird daher mit vier Faktoren gerechnet, die die Lektüre und Auslegung von Texten bestimmen. Sie ergeben ein kommunikatives Viereck, das es hermeneutisch zu bedenken gilt: Sache
Autor
Leser
Text Abb. 2: Faktoren der Textlektüre
Nach diesem Viereck werden manchmal auch die Methoden gegliedert, die bei der Auslegung benutzt werden: Sie beginnen erstens mit der linguistisch-strukturalistischen Analyse als Methode, die die Textwelt selber betrifft. Sie fahren fort zweitens mit der rezeptionsästhetischen Untersuchung der Pragmatik, die nach der tatsächlichen oder intendierten Wirkung des Texts auf die Leserinnen bzw. Hörer fragt. Es folgen drittens die Darstellung des philosophischen oder theologischen Hintergrunds als Methodenschritte, die sich auf die im Text behandelte Sache beziehen (meist Traditions-, Motiv- oder Begriffsgeschichte genannt). Hinzukommen viertens die Fragen der speziellen Einleitung zu den einzelnen Schriften, die die Welt des Autors Stuttgart 1987; J. Frey, Eugen Drewermann und die biblische Exegese (WUNT II/71), Tübingen 1995. 33 P. Ricoeur, The Canon between the Text and the Community, in: P. Pokorný / J. Roskovec (Hg.), Philosophical Hermeneutics (s. Anm. 22), 7–26, hier 9.
1.4 Der Text
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(und der ursprünglichen Adressaten) untersuchen.34 Das Schema darf freilich nur als Hinweis auf die Grundrichtungen verstanden werden, in denen die einzelnen Auslegungsmethoden wirken. Die Funktion der einzelnen Methoden muss bei der Arbeit mit jedem Text bewusst gemacht werden. Darüber hinaus kann die Anzahl der Faktoren, die bei der Auslegung im Spiel sind, noch erweitert werden. Der wirkliche Autor unterscheidet sich manchmal vom literarischen. Diesem Phänomen werden wir z. B. bei den pseudepigraphischen Schriften begegnen, bei denen ein uns unbekannter Autor seine Schrift unter dem Namen einer anerkannten Autorität veröffentlicht (Exkurs 10). Ähnliches gilt für die Unterscheidung zwischen den literarischen Adressaten (z. B. Theophilus in Lk 1,3; Apg 1,1), den wirklichen Adressaten (die Öffentlichkeit, für die Lukas geschrieben hat) und – selbstverständlich – den heutigen Leserinnen und Lesern. Außerdem will bedacht sein, dass die neutestamentlichen Texte ursprünglich nicht primär zur privaten Bibellektüre aufgeschrieben wurden, die in breiterem Ausmaß erst durch das Anwachsen der allgemeinen Volksbildung und seit dem 19. Jh. durch die stark verbilligten Druckausgaben der Bibelanstalten ermöglicht wurde. Bestimmt waren die neutestamentlichen Schriften vor allem für das Vorlesen und Hören im Gottesdienst: Der Glaube kommt in der frühen Christenheit normalerweise nicht aus der Lektüre eines schriftlich vorliegenden Texts, sondern aus dem Vorlesen der neutestamentlichen Schriften35 und „aus dem Hören“ der Predigt (Röm 10,17; Gal 3,2.5).36 Eigene Schriftrollen konnten sich nur ganze Gemeinden oder einzelne Reiche wie der äthiopische Finanzminister in Apg 8,26 ff. leisten, nicht aber einfache Gemeindeglieder wie die Sklaven, Freigelassenen und Handwerker in Korinth.37 So sehr die Faktoren jeder Textlektüre auch bei biblischen Texten zu beachten sind, haben diese doch die Eigenart, dass sie als Sache, die sie behandeln, eine Botschaft von Gott, das Wort Gottes, eine Offenbarung zum Inhalt haben. Insofern kommt ihnen in besonderer Weise der Charakter eines Zeugnisses zu. 1.4.3
Der Text als Zeugnis
Jean Griesch, Témoignage et l’attestation, Philosophie 16 (1995), 305–326; Paul Ricoeur, The Hermeneutics of Testimony (1972), zuletzt in: ders., Essays on Biblical Interpretation, Philadelphia 1980, 119–154.
34
Die Abbildung ist eine Vereinfachung der Graphik bei M. Oeming, Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 1998, 5; zu den Auslegungsmethoden s. a.a.O., S. 31 ff. 35 1Thess 5,27 (§ 5.3); Kol 4,16; 1Tim 4,13 (Exkurs 12); Apk 1,3 (§ 7.2.6); Mk 13,14; Justin apol. I,67,3 (§ 6.2.3d). 36 Vgl. am Ende der Sendschreiben in Apk 2,7 u. ö.: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“ (§ 7.2.6). 37 1Kor 1,26 ff.; 7,21 f.; 12,13; Apg 18,2 f. (§ 5.12.3).
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1 Hinführung
Eine spezifische Funktion üben Texte aus, die ein persönliches Zeugnis enthalten, das die im Text vertretene Sache unterstützt. In diesem Fall tritt nicht nur der Autor hinter der Sache zurück, sondern auch die „Sache“ gewinnt als autonome Größe eine eigenständige Bedeutung, die von der Textstruktur abgehoben wird. Anders gesagt: Das Zeugnis ist der rhetorisch spezifische Ausdruck einer Beziehung, in der der Autor mit seiner eigenen Existenz eine Sache hervorhebt, um die es im Text geht. Dieses persönliche Zeugnis ist uns nur durch den Text zugänglich, doch handelt es sich um einen Ausdruck, der die Struktur des Texts beeinflusst, und zwar unabhängig davon, ob es ein narrativer oder ein diskursiver Text ist. In der jüdisch-christlichen Tradition hat das Zeugnis eine theologische Funktion: Einige Ereignisse werden als Offenbarungen Gottes betrachtet. Der Text ist nicht die direkte Offenbarung, wohl aber ein fixiertes Zeugnis von dieser Offenbarung, z. B. die Berichte von den Berufungsvisionen des Mose (Ex 3), der Propheten (Jes 6; Jer 1 u. ö.) oder des Apostels Paulus, in der ihm Christus erschien, als Sohn Gottes und Inhalt des Evangeliums offenbart wurde.38 Üblicherweise enthält ein Bericht eine Mitteilung. Es gibt allerdings Mitteilungen, die zur Entscheidung aufrufen. So funktionieren auch die biblischen Erzählungen, in denen konkrete Ereignisse als Geschehen dargestellt werden, durch das Gott sich mitteilen will. Ohne diese Tradition einzelner Offenbarungen Gottes, die wir aus der jüdischen Bibel (aus dem christlichen Alten Testament) kennen, wäre es nicht möglich, Jesus als die endgültige, eschatologische Offenbarung Gottes zu charakterisieren. In Joh 1,18 wird die Geschichte Jesu als eine göttliche Erzählung, als „Exegese“ Gottes, bezeichnet (exēgḗsato = er hat erzählt). Als Offenbarung wird ein konkretes Ereignis der Geschichte bezeichnet, in dem Gott „menschlich“ und in diesem Sinn indirekt erkannt wird.39 Der Zeuge kann sich nur auf seine existenzielle Betroffenheit berufen. Die Wahrheit seines Zeugnisses ist nicht nachprüfbar und es gibt keine andere Verbürgung als das Zeugnis selbst. Der Zeuge sagt in diesem Fall: Das, was ich bezeuge, kann zwar nicht durch Verallgemeinerung oder den Hinweis auf ein wiederholtes Vorkommen als wahr erwiesen werden. Es handelt sich also nicht um ein Beispiel. Aber meine Erfahrung mit diesem einmaligen Ereignis, das seinen Ort und seine Zeit hat (also kein Symbol ist), führte 38 Vgl. Gal 1,12.16 f.; 1Kor 15,8; Apg 9,3–15. Dadurch unterscheidet sich die mit dem Zeugnis rechnende Hermeneutik, in der die Interpretation dem Bezeugten verantwortlich ist, von der Auffassung der Interaktion zwischen dem Leser und dem Verfasser, wie sie z. B. die Konstanzer Schule versteht (W. Iser, Der Akt des Lesens, München 1976, 125 u. ö.; die Linguistik ist geneigt, die Sprachwelt für autonom zu halten [z. B. N. Goodman]). Der Beitrag der Konstanzer Schule, die die Rolle des Lesers hervorhob, ist kaum zu leugnen. Doch muss gleichzeitig betont werden, dass die Mitarbeit an der Sinnproduktion beim Lesen einiger Texte ihre durch den Text gegebenen festen Grenzen hat. 39 Etwas anderes ist eine Epiphanie, die einen mirakulösen Eingriff des Göttlichen in die irdische Welt darstellt.
1.4 Der Text
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zur Entdeckung einer Wirklichkeit, die nicht auf die Zeit und den Ort dieser Offenbarung begrenzt ist. Auf diese Weise entdecken Christen in der Geschichte Jesu den Charakter Gottes, wie er immer war und wie er in der Zukunft allgemein zugänglich sein wird (Apk 1,8; 21,6; 22,13). Die Wucht der geschichtlichen Einmaligkeit, die das Bezeugte vom Beispiel oder Symbol unterscheidet, verleiht dem Zeugnis seine besondere Kraft. Dieser außerordentliche Charakter ist aber zugleich auch eine Belastung, da die Auswertung und Interpretation des Bezeugten, die jedes Zeugnis enthält, nur indirekt verifizierbar ist. Deswegen wurde das Betrachten von Zeugnissen oft als unwissenschaftlich angesehen, aber in Wirklichkeit können die Humanwissenschaften ohne Zeugnis nicht auskommen. Die Bedeutung des Zeugnisses in der Hermeneutik der christlichen Texte hat ihre Analogien in der Geschichtsschreibung und in der Rechtswissenschaft, die zwar andere Quellen haben, aber ebenfalls auf Zeugnisse angewiesen sind. Auf der Analogie zum Zeugnis in der Rechtswissenschaft hat Paul Ricoeur seine Hermeneutik des Zeugnisses aufgebaut.40 1.4.4
Die Authentizität des Zeugnisses
Da die Wahrheit und Glaubwürdigkeit eines Zeugnisses nicht direkt verifiziert werden kann, ist es nötig, Kennzeichen eines authentischen Zeugnisses zu nennen. a) Für die Authentizität des Zeugnisses ist die Wehrlosigkeit des Zeugen von entscheidender Bedeutung. Die Aufnahme des Zeugnisses kann nicht erzwungen werden. Der Apostel Paulus hat die Kraft seines Zeugnisses programmatisch durch seine äußere Schwäche und durch seine Bereitschaft zum Leiden (1Kor 2,3; 2Kor 11,30) verstärkt. Später ist in der christlichen Kirche der „Zeuge“ (mártys) zum Synonym für den Märtyrer geworden. b) Die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses wird durch seine Übereinstimmung mit anderen unabhängigen Zeugnissen in derselben Sache gestärkt (§ 1.4.3). c) Ein authentisches Zeugnis stimmt mit anderen Aussagen über dieselbe Sache überein oder widerspricht zumindest nicht dem, was wir von diesem „Fall“ aus anderen Quellen wissen. Auffällig sind z. B. mehrere gemeinsame Züge der Worte Jesu aus der Logienquelle (Q) und der im Markusevangelium erhaltenen narrativen Tradition über Jesus, besonders seine Zuwendung zu den Armen. d) Authentisches Zeugnis setzt die Prüfung der darin enthaltenen Angaben voraus. Durch Rückfragen wird nicht die Bedeutung des Bezeugten bestätigt. Aber das Zeugnis geht von Gegebenheiten aus, die auf ihre Authentizität hin überprüft werden können. Die Berufung auf das Kreuz Jesu (1Kor 1,23) bzw. auf seine irdische Gestalt (1Joh 4,1–6) sind Zeichen dieser Tendenz zur Rückbesinnung und Vergewisserung. 40
P. Ricoeur, The Hermeneutics of Testimony, 124 f.
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1 Hinführung
Ein solches Vorgehen hat in der Gestaltung der jüdischen Bibel ihre Vorgeschichte, die wir als Zeugnis von der Offenbarung Gottes charakterisieren (§ 1.4.3). Die Wirkung des Zeugnisses soll der Funktion (der Pragmatik) der bezeugten Geschichten nicht widersprechen, d. h. im Neuen Testament dem Wirken Jesu. Wenn ein Zeugnis alle eben genannten Kriterien erfüllt, sind diese Kennzeichen noch kein Beweis für die Wahrhaftigkeit des Bezeugten. Aber wie die übereinstimmenden und verifizierbaren Zeugnisse vor Gericht dem Richter seine Entscheidung und Verkündung des Urteils nicht abnehmen, so sind auch die Zeugnisse der christlichen Autoren für ihre Adressaten (die Umwelt der Kirche) noch kein Beweis des christlichen Glaubens. Gleichwohl verlangen sie eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der bezeugten Wahrheit. Diese Einsicht hat die Konsequenz, dass solche Zeugnisse von nichtchristlichen Adressaten, wenn sie rational denken, historisch beachtet und ernst genommen werden müssen. e) Die Leser werden sich ohne Zweifel an viele Ereignisse erinnern, die das christliche Zeugnis kompromittierten (Kreuzzüge, Hexenverfolgungen usw.). Und sie werden es begreifen, wenn die Umwelt aufgrund solcher Erfahrungen ihre Zeugnisse nicht ernst nimmt. Eine Übersicht über das Neue Testament kann jedoch einige Züge aufzeigen, die für die verschiedenen urchristlichen Theologien neutestamentlicher Schriften als Handlungsmaximen wesentlich sind wie das Liebesgebot oder die Parteinahme für die Schwachen. Wenn das Versagen an diesen Maßstäben eingestanden wird, kann das Zeugnis durch Kritik und Buße zumindest indirekt bestätigt werden. Die Darstellung solcher gemeinsamer Beurteilungskriterien kann zur Entdeckung der inneren Kontinuität des Zeugnisses beitragen, das durch die Sünden in der Geschichte der Kirche nie völlig verdeckt wurde. So kann das Eingeständnis von Verfehlungen durch den Zeugen, der sich an den Grundsätzen des Bezeugten messen lässt, als letztes Zeichen der Authentizität dieses Zeugnisses betrachtet werden. 1.4.5
Die theologische Funktion der historischen Kritik
Bernard C. Lategan / Willem S. Voster, Text and Reality: Aspects of Reference in Biblical Texts, Philadelphia 1985.
Die referentielle Funktion der Sprache setzt voraus, dass der Mensch sich in seiner Welt mit Hilfe der sprachlich vermittelten Informationen und Zeugnisse orientiert. In denjenigen biblischen Texten, die die Grundorientierung des Menschen betreffen, geht es meistens um bezeugte einmalige Ereignisse, die für das menschliche Leben maßgeblich sind und die äußerste Zukunft des Menschen angehen (§ 1.4.3). Wenn sich ein Text auf ein einmaliges Ereignis bezieht, sind auch seine Datierung, die Entstehungsverhältnisse und sein geistiger Standort von Interesse. In den biblischen Texten wird die Verbindung mit der einmaligen Geschichte an einigen
1.4 Der Text
25
Stellen theologisch begründet. Als besondere Ereignisse gelten im Alten Testament die Berufung Abrahams (Gen 12,1–9), der Auszug aus Ägypten (Ex 1–15), die Gesetzgebung am Sinai (Ex 19,1–24,14) und das Auftreten der Propheten (Jesaja, Jeremia usw.). Die Bedeutung dieser Ereignisse wird von den biblischen Autoren hoch geschätzt und in den Texten direkt oder indirekt als Offenbarung Gottes bezeugt.41 Als Zeugen nehmen die Schriftsteller diese Ereignisse aus der Gesamtheit des Geschehens heraus und benutzen sie als Orientierungspunkte für den Glauben Israels, das von JHWH erwählte Volk zu sein und von ihm durch die Geschichte geführt zu werden. Im Neuen Testament wird die Geschichte Jesu von den christlichen Autoren als endgültige Offenbarung Gottes betrachtet. Damit üben die neutestamentlichen Zeugnisse zugleich die Funktion eines Bekenntnisses zur Offenbarung Gottes in der Person und dem Leben Jesu aus. Diese Bekenntnisart, die sich mit der theologischen Reflexion über die fortdauernde Bedeutung Jesu verband, setzte sich in der christlichen Kirche schon am Anfang des 2. Jh.s gegen die enthusiastischen Strömungen durch, die primär am Wirken des Geistes interessiert waren, weniger an den gemeinsamen Grundlagen der Glaubensüberlieferung. Dieses Bekenntnis zur Person Jesu ist zur Voraussetzung für die Idee des christlichen Kanons geworden (§ 3.2–3).42 Dass Gott sich im Auftreten Jesu offenbart hat und die neutestamentlichen Autoren von dieser Geschichte Zeugnis ablegen, bewirkte schon in neutestamentlicher Zeit eine enge Rückbindung der Texte an die Person Jesu, die die christliche Tradition vor unkontrollierbaren Neuschöpfungen schützte. Einzelne Spuren jenes geistigen Kampfes können wir an mehreren Stellen verfolgen. Unverkennbar ist vor allem bei Paulus die Tendenz, den Enthusiasten das Kreuz Jesu entgegenzuhalten (1Kor 1,18; § 5.12.5e). In dieselbe Richtung weist in den Johannesbriefen die programmatische Bindung der christlichen Prophetie an das Bekenntnis zu dem im Fleisch gekommenen Jesus Christus (1Joh 4,1–3; 2Joh 7; § 7.1.7). Eine Rückbindung an das Wirken Gottes in der Geschichte Jesu beabsichtigt vor allem die (Sub-)Gattung Evangelium, die im Osterbekenntnis oder den Ostererzählungen gipfelt, aber ihrem narrativen Grundgehalt nach eine Biographie Jesu ist (§ 6.2.6; 6.2.6.1). Die historische Kritik, die in der neuzeitlichen Exegese als Auslegungsmethode dominiert, wurde in ihrer Entfaltung nur indirekt durch theologische Gründe beeinflusst. Das aus dem Humanismus übernommene Prinzip „ad fontes“ (zu den Quellen), die Hegelsche Auffassung der Dialektik der Geschichte und das positivistische 41 P. Ricoeur hat die Bedeutung des Zeugnisses für den gegenwärtigen Diskurs (neu) entdeckt. Er ist der Kategorie Offenbarung gegenüber sehr misstrauisch (La critique et la conviction, Paris 1995, 225), solange die Offenbarung nicht durch Zeugen bezeugt ist, die durch ihre Existenz das Gewicht des Bezeugten demonstrieren (Toward a Hermeneutic of the Idea of Revelation, in: ders., Essays on Biblical Interpretation, Philadelphia 1980, 73–118). 42 Zur Philosophie der sozialen Funktion der biblischen Zeugnisse s. P. Ricoeur, The Canon between the Text and the Community, in: P. Pokorný / J. Roskovec (Hg.), Philosophical Hermeneutics (s. Anm. 22), 7–26.
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1 Hinführung
Verständnis der Wahrheit als Summe der Informationen beeinflussten die Entwicklung der historisch-kritischen Methoden. Allerdings fehlte die theologische Begründung nicht völlig, da es immer auch um das Verständnis der Botschaft Jesu ging. Die Exegese ist insofern kritisch (von griech. krínein = unterscheiden, beurteilen), als sie im Anschluss an Johann Salomo Semler (§ 1.1a) zwischen „Heiliger Schrift“ und „Wort Gottes“ unterscheidet, die biblischen Texte als geschichtlich entstandene, von Menschen verfasste Schriften betrachtet und zu deren Interpretation die allgemein zugänglichen, vernünftigen Methoden der Textauslegung einsetzt, die auch für jeden anderen profanen Text zur Verfügung stehen. Der heute übliche Kanon von Methodenschritten wurde erst nach und nach entwickelt: Die Textkritik versucht in der frühen Neuzeit und verstärkt seit dem 18. Jh. den ursprünglichen Wortlaut der neutestamentlichen Schriften zu rekonstruieren (§ 4). Traditionskritik und Formgeschichte analysieren seit dem 18. Jh. den Überlieferungsprozess der in den Evangelien enthaltenen Stoffe. Im 19. Jh. fragen ihre Vertreter nach den literarischen Abhängigkeiten zwischen den synoptischen Evangelien sowie in der Leben-Jesu-Forschung nach dem historischen Jesus (§ 6.1.2; Exkurs 3). Seit dem ersten Weltkrieg untersuchen sie auch die in den paulinischen Briefen enthaltenen Formeln, Bekenntnisse, Hymnen oder ethischen Stücke43 (§ 5.6.2). Nach dem zweiten Weltkrieg beginnt die Redaktionskritik, die Bedeutung der Evangelisten als Schriftsteller und Theologen zu entdecken und ihre spezifische Eigenart herauszuarbeiten, die in der literarischen Darstellung weit über das bloße Sammeln des Stoffs hinausgeht (Exkurs 4). Da mit der Aufklärung die Bedeutung des Kanons geschwächt wurde (§ 1.1a–b), setzte bereits im 19. Jh. ein neues Interesse an der Geschichte der Kanonbildung ein (§ 3). Zu ergänzen sind noch zeit- und religionsgeschichtliche Untersuchungen, die seit dem ausgehenden 19. Jh. den jüdischen und hellenistischen Hintergrund erhellen und in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s durch die Quellenfunde in Qumran am Toten Meer (1947) und in Nag Hammadi in Oberägypten (1945) neue Impulse erhielten.44 Weitere Anstöße bieten sozialgeschichtliche Studien, die seit den 60-er Jahren die sozialen Verhältnisse der frühen Christen erforschen.45 Nach dem zweiten Weltkrieg kamen neue sprach- und literaturwissenschaftliche Ansätze hinzu, die die Funktion der Sprache bedenken (§ 1.3), die Texte als Teil eines Kommunikationsprozesses zwischen Autor und Rezipienten begreifen 43 Vgl. die Tugend- und Lasterkataloge (§ 5.11.1 zu Gal 5,19–13; § 8.2.4) oder die Haustafeln (Exkurs 11). 44 Vgl. zur jüdischen Tradition § 2.1 (E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes, 1901– 1911) und zur hellenistischen Kultur § 2.2; 5.5.1.2, den Einfluss der religionsgeschichtlichen Schule bei der Deutung der Taufe (§ 5.6.2.2a), bei den Hypothesen zur Gnosis in Korinth (§ 5.12.4) oder im Johannesevangelium (§ 7.1.4d) sowie zur theologischen Bewertung die Überlegungen zu den Auslegungstypen der Johannesapokalypse (§ 7.2.3). 45 Vgl. z. B. die Wandermissionare (§ 6.1.5.3e; 6.2.8a) oder die Zusammensetzung der Gemeinden (§ 5.12.3).
1.4 Der Text
27
und durch narrative bzw. rhetorische Analysen rezeptionsästhetisch nach der intendierten oder tatsächlichen Wirkung beim Vollzug des Lesens und Hörens fragen (§ 1.4.1; 2.2.6).46 Als Christen müssen wir die theologische Relevanz der historischen Bibelwissenschaft mit allen ihren Methoden bestimmen: Ihre theologische Bedeutung liegt in ihrem Beitrag zur Erinnerung an Jesus, der den heutigen Möglichkeiten entspricht. Sie ist das Instrument der Rückbindung des Glaubens an die Person Jesu und zugleich ein Instrument zur Kontrolle seines Bekenntnisses. Die profane Forschung muss sich dessen bewusst werden, dass die historische Erforschung der Bibel mit dem geschichtlichen Charakter ihres Inhalts, der Offenbarung Gottes in der Geschichte Jesu Christi, zusammenhängt. Weil das Auftreten Jesu ein einmaliges geschichtliches Ereignis war, sind die Methoden der historischen Bibelwissenschaft nicht zufällig oder sachfremd, sondern ein angemessenes Mittel zur Interpretation seiner Botschaft. Nicht zuletzt die zentralen Verkündigungsinhalte in den einzelnen Schriften nachzuzeichnen, ist eine Kernaufgabe exegetischer Arbeit. Das Neue Testament ist nicht nur die wichtigste historische Quelle für die Erforschung der Geschichte der Jesusbewegung, sondern auch die entscheidende Basis für die kirchliche Verkündigung und den christlichen Glauben. Daher ist die Bibel nicht nur als Grundlage zur Rekonstruktion der Vergangenheit von Interesse, sondern auch für die Sinnbildung und Lebensorientierung in der Gegenwart. Die Aufgabe der Exegese als einer historischen Disziplin bleibt es, die ursprüngliche Bedeutung der biblischen Texte zu rekonstruieren, ihre Funktion im Entstehungszusammenhang darzustellen und ihren Sinngehalt verständlich zu machen. Davon zu unterscheiden ist die kirchliche Vermittlungsaufgabe, die von der exegetischen Erschließung der biblischen Texte profitiert, für die konkrete Umsetzung aber natürlich noch weiterer hermeneutischer, systematisch- und praktisch-theologischer Reflexion bedarf. 1.4.6
Das Vorverständnis des Lesers
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 41975; Ulrich H. J. Körtner, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hemeneutik, Göttingen 1994; Anthony C. Thiselton, New Horizons in Hermeneutics, Exeter 1985.
Gerade die Tragweite der biblischen Texte, die bei den Gottesdiensten gelesen werden und in denen Jesus als Schlüsselperson der menschlichen Hoffnung (Herr, Sohn Gottes, Heiland) bezeichnet wird, erweckt das Interesse an der Bibel.
46 3
1993.
Vgl. zur Einführung W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament, Freiburg u. a.
28
1 Hinführung
Doch muss betont werden, dass die Theorie des Verstehens keine spezifisch biblische oder theologische Hermeneutik kennt. Zu jedem Text gehört ein Vorverständnis. Jeder Text wird mit einer pragmatischen Absicht konzipiert und aufgeschrieben. Am Anfang jedes Texts steht die Überzeugung, dass das Textgewordene „der Rede (bzw. des Lesens) wert ist“. Ein Unterschied besteht nur in der Intensität, Tragweite und Bedeutung des Aufgeschriebenen und des Vorverständnisses, mit dem sich die Leser für die verschiedenen Texte interessieren.47 Existenziell kann der Unterschied zwischen biblischen und anderen Texten qualitativ sein, doch ist die Struktur der Interpretation in beiden Fällen ähnlich. Prinzipiell gibt es nur eine Hermeneutik, sonst wäre die Hermeneutik keine Theorie der Kommunikation.48 Für Rudolf Bultmann ist das Interesse an der Bibel ein Spezialfall des existenziellen Vorverständnisses.49 Wir müssen jedoch hinzufügen, dass es sich um ein Vorverständnis handelt, das zwar existenziell aufgenommen, aber sozial tradiert und artikuliert wird.50
1.5
Das Wesen der Deutung
Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik (1950), zuletzt in: ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 1952, 211–235; Paul Ricoeur, Biblical Hermeneutics, in: Semeia 4 (1975), Missoula, MT 1975, 27–148; ders., De l’interpretation (1983), in: ders., Du texte à l’action. Essays d’herméneutique, Paris 1986, 11–35.
Die Interpretation ist bestrebt, den Abstand zwischen dem Text und dem Leser durch einen Metatext zu überbrücken. Mit ihrer Arbeit versucht die Exegese, die zeitliche 47
Vgl. die höchst aufschlussreichen autobiographischen Essays zahlreicher bekannter Neutestamentlerinnen und Neutestamentler bei E.-M. Becker (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft (UTB), Tübingen 2003. 48 Dies gilt als Kritik u. a. für die in vielerlei Hinsicht berechtigte kanonische Deutung der Bibel (canonical approach) bei B. S. Childs, The New Testament as Canon (Lit. § 1), 34 ff., und für die Hervorhebung der Endgestalt des Texts bei H. W. Frei, Types of Christian Theology, New Haven 1992, 15. Sie unterschätzen die referentielle Dimension des Texts, d. h. seine Rückbindung, die ihn mit der Geschichte Jesu verbindet (§ 1.4.5). Wenn die kritische Interpretation die Grenzen des Kanons nicht prinzipiell angreift, bedeutet dies nicht, dass die Exegeten die Kanonizität respektieren müssten, sondern dass die kanonischen Texte wirklich etwas Gemeinsames haben, das der kritischen Untersuchung ihrer Gemeinsamkeiten standhält (§ 9). 49 Vgl. R. Bultmann, Ist voraussetzungslose Exegese möglich?, zuletzt in: ders., Glauben und Verstehen III, Tübingen 31965, 142–150, hier 149. 50 Zur Auslegungsgeschichte der einzelnen biblischen Bücher hat W. Werbeck in den einschlägigen Artikeln der RGG3 die Quellen aus der ganzen Kirchengeschichte einschließlich Sekundärliteratur zusammengestellt (vgl. ergänzend die Literaturverzeichnisse der neueren Kommentare, z. B. KEK oder EKK).
1.5 Das Wesen der Deutung
29
Distanz durch die Rekonstruktion der ursprünglichen Textwelt (Remythisierung), durch die Untersuchung der Auswirkungen jener Welt auf die Welt des ursprünglichen Lesers (authorial reader) und durch die Konfrontation der Textwelt mit der Welt des heutigen Lesers zu überwinden. Dadurch soll der Leser erkennen können, wie der Text seinem Selbstverständnis und seiner Orientierung in der (Sprach-)Welt dient.51 Die Produktion des Metatexts (in Form einer Meditation, literarischen Einführung, Predigt, eines Fachkommentars oder Essays) ist aber nicht das eigentliche Ziel, sondern sie soll nur der Rückkehr zum Text dienen – dem besseren Verständnis des Texts selbst, dem neuen Lesen in einer kritisch geläuterten „zweiten Naivität“.52 Ohne diese unmittelbare Begegnung mit dem Text wäre seine Wirkung geschwächt. Der Zweck der Deutung besteht also darin, dass der Leser mit Hilfe des Kommentars einen neuen Zugang zum Text und dadurch zu sich selbst findet. Im Grunde handelt es sich beim Prozess der Deutung eines alten oder fremden Texts um die Konfrontation verschiedener Weltprojekte – der Textwelt und der Welt des Lesers: a) Rudolf Bultmann definiert als Voraussetzung des Verstehens „das Lebensverhältnis des Interpreten zu der Sache ...“, die im Text – direkt oder indirekt – zu Wort kommt.53 Der elementarste Ausdruck dieses Verhältnisses ist die Frage. Der heutige Leser konfrontiert den Text mit seinen Problemen, er erwartet von ihm trotz der Differenz der Zeiten eine Hilfe für die Orientierung in seiner gegenwärtigen Welt. b) Da der Leser in einer von der Textwelt unterschiedlichen Welt lebt, ist HansGeorg Gadamer einen Schritt weiter gegangen. Er definierte die Auslegung als die bewusste Annäherung und Verschmelzung der Horizonte des Verfassers des Texts und des heutigen Lesers.54 Die Spannung zwischen der Bewegung des Texts zu sich selbst und seiner Wendung nach außen ruft das Gespräch zwischen dem Leser und dem Text hervor, das auch als hermeneutischer Zirkel bezeichnet wird.55 Die Deutung ist nie definitiv, nie vollendet. Sie kann allerdings die Richtung des authentischen Verstehens zeigen, die nicht nur in der Erkenntnis besteht, sondern auch mit einer Entscheidung verbunden ist. 51
Siehe besonders M. Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Gesamtausgabe Bd. 63, Frankfurt / M. 1988, 80; ähnlich P. Ricoeur, Soi-même comme un autre (Lit. § 1.5), 168 ff. 345 ff.; E. Lévinas, Totalité et Infini, Den Haag 61993 , Kap. I,B,7. 52 Der Begriff wurde geprägt von P. Ricoeur, Philosophie de la volonté II. La symbolique du mal, Paris 1960, und monographisch bearbeitet bei M. I. Wallace, The Second Naiveté (SABH 6), Macon, GA 21995. 53 Vgl. R. Bultmannn, Das Problem der Hermeneutik, 217 (Hervorhebung P.P. / U.H.). 54 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (Lit. § 1.5.5), 286–289. Zur Kritik U. H. J. Körtner, Der inspirierte Leser (Lit. § 1.5.5), 14 ff.; K. Berger, Hermeneutik (Lit. § 1.3), 217 f. 55 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (Lit. § 1.5.5), 275 f.; P. Ricoeur, De l’interprétation, 27 f.
30
1 Hinführung
c) Eben dieser Gedanke wurde von Gadamer selbst noch weiter entfaltet:56 Die Distanz zwischen den verschiedenen zeitlich, räumlich oder sozial getrennten Weltprojekten ist nur in gewisser Hinsicht aufhebbar.57 Die Verschmelzung der Horizonte kann nicht durch eine Anpassung der Weltprojekte erreicht werden. Der erste Schritt wäre dann eine Erweiterung der Welt des Lesers durch die Welt des interpretierten Texts. Der Leser erkennt nicht nur, wie der Text damals fungierte. Er muss auch lernen, die Textwelt zu respektieren, d. h. anzuerkennen, dass er der Textwelt gegenüber nicht überlegen ist, wenn er ein anderes, „späteres“ Weltbild hat und mit heutigen Kategorien arbeitet.58 Seine Welt erstreckt sich weiter in Zeit und Raum, aber sie wird auch durch eine andere, aus dem Text übernommene Gestaltung der menschlichen Erfahrung bereichert. Sein Horizont wird um die vergangene und fremde Situation erweitert, aus welcher er den Text begreifen kann. Das Ziel besteht darin, dass die durch den Interpreten (Exegeten) angebotene erweiterte Welt sowohl für die ursprünglichen Adressaten des Texts als auch für den gegenwärtigen Leser bewohnbar ist.59 Eine solche Prüfung ist bei theologisch geprägten Texten vor allem eine Aufgabe theologischer Reflexion. d) Das Ziel der Interpretation ist allerdings nicht nur die Erweiterung der Welt des Lesers um die Welt des Texts bzw. aller einzelnen Texte, die er liest und verstehen möchte. Das eigentliche Ziel ist die grundsätzliche „Öffnung“ seiner Welt – die Entdeckung seiner eigenen Situiertheit, die endgültige Entideologisierung seines Weltprojekts, die Einsicht in die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins überhaupt. Für die biblischen Texte gilt aber auch, sogar noch intensiver: Die Inkarnation Gottes betrifft die Geschichte, ihre Deutung ist an keines der einzelnen Weltprojekte gebunden. Eine solche Abhängigkeit untersagt schon das erste Gebot des Dekalogs (Ex 20,3).
56
Ebd. 285 f. In diesem Sinn wurde Gadamer kritisiert von Harold Bloom, The Anxiety of Influence, New York 1973, 93. Ähnlich wie einige Repräsentanten der Konstanzer Schule und der Dekonstruktivisten (bes. J. Derrida) betont auch H. Bloom die mögliche negative, bremsende Rolle der Tradition. Dies bestätigt allerdings nur, dass das Neue nur in (eventuell auch polemischer) Auseinandersetzung mit der Tradition sagbar ist. 58 Dies ist schon bei der Übersetzung der Bibel zu beachten. Die Wirkung der Übersetzung auf die heutigen Leser kann und darf nicht dieselbe sein wie die Wirkung des Urtexts auf die ursprünglichen Leser (so wird die gute Übersetzung definiert bei E. A. Nida / Ch. R. Taber, Theorie und Praxis des Übersetzens unter besonderer Berücksichtigung der Bibelübersetzung, London 1969). Er weiß nämlich, dass der Text alt ist, er interessiert sich für ihn, weil er alt ist, und weiß, dass er bei seinem Lesen eine Deutung braucht. Die Übersetzung kann sie nicht ersetzen, weil eine gute Übersetzung die Unterschiede der Welten (Weltprojekte) respektieren muss. Sonst wäre sie keine Übersetzung. 59 Vgl. P. Ricoeur, De l’interprétation, 32. 57
1.5 Das Wesen der Deutung
31
e) Wenn ein alter Text, den wir aus seiner Situation in der Vergangenheit begreifen müssen, wirklich bedeutend ist, kann er sich immer auf die Zukunft beziehen. Metaphorisch könnte er daher als „Erinnerung an die Zukunft“ verstanden werden. Der Weg zurück zum Text ist dann ein Weg in die Zukunft. Es gibt Texte, die sich auf die letzte, eschatologische Zukunft beziehen. Ihrem Selbstanspruch nach gilt dies von den meisten Texten des Neuen Testaments. Wie jemand sich mit diesem Anspruch auseinandersetzt, hängt von der persönlicher Entscheidung jedes einzelnen Menschen ab. Alle bisherigen Überlegungen bringen keine umwälzende Änderung für die Gestaltung der literarischen und theologischen Einführung mit sich. Wir versuchen nur, die bekannten Informationen, Methoden und theologischen Interpretationen in einen umfassenden hermeneutischen Rahmen zu stellen, damit wir besser wissen, was eine Darstellung der Literatur und Theologie der neutestamentlichen Schriften leisten kann.
2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
Das Neue (§ 1.3.3) wird erst im Verhältnis zu den Traditionen sichtbar, die vorgegeben sind und im Folgenden erwähnt werden sollen. Fast alle Schriften des Neuen Testaments sind von Juden verfasst, also Sympathisanten, die zum Umkreis der Synagogen gehörten. Auch Jesus war Jude, weshalb beispielsweise das Vaterunser (§ 6.3.4.3b) aus dem besten Erbe des Judentums erwächst und grundsätzlich auch von Juden gebetet werden könnte. Um die Theologie der neutestamentlichen Schriften sowie ihre literarische Gestalt und ihre gegenseitigen Beziehungen deuten zu können, sind Grundkenntnisse der Geschichte Israels und der jüdischen Traditionen unerlässlich.1
2.1 Die jüdische Tradition Samuel Amsler, L’Ancien Testament dans l’Église, Neuchâtel 1960; Wilhelm Bousset (/ H. Greßmann, E. Lohse), Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter (HbNT 21), Tübingen 41966; Earl E. Ellis, The Old Testament in Early Christianity (WUNT 54), Tübingen 1991; Hans Hübner, Biblische Theologie I (Lit. § 1); George Foot Moore, Judaism in the First Century of the Christian Era I–III, Cambridge, MS 1927–1930 (Nachdruck 1966); Emil Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi I–III, (1901–1911), Hildesheim 1964 (Nachdr.), engl. Neubearb. (I–V) hg. v. Géza Vermes / Matthew Black, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C – A.D. 135), Bd. I–III,2, Edinburgh 1973–87; Jahrbuch für Biblische Theologie 3 (Zum Problem des biblischen Kanons), Neukirchen 1988 (Sammelband); Johann Maier, Zwischen den Testamenten (NEB. AT.E 3), Würzburg 1990; Julio Trebolle Barrera, The Jewish Bible and the Christian Bible. An Introduction to the History of the Bible, Leiden u. a. 1998; vgl. auch § 3 (Kanon).
1 Zur Geschichte und Religion in der Zeit des zweiten Tempels vgl. als gut lesbare Einführung Johann Maier, Zwischen den Testamenten (NEB.AT.E 3), Würzburg 1990 (dort weitere Lit.) sowie als Standardwerk E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C – A.D. 135), ed. G. Vermes et al., Bd. I–III,2, Edinburgh 1973–1987 (zur Würdigung dieser Neubearbeitung des großartigen, ursprünglich 1901–1911 erschienenen Werks vgl. M. Hengel, Der alte und der neue „Schürer“, JSSt 35 [1990], 19–72, jetzt ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. KS II [WUNT 109], Tübingen 1999, 157–199). Zur neueren Literatur vgl. R. Deines, Die jüdische Mitwelt, in: H.-W. Neudorfer / E. J. Schnabel, Studium des Neuen Testaments. Einführung in die Methoden der Exegese, Wuppertal / Giessen 2006, 101–140.
2.1 Die jüdische Tradition
2.1.1
33
Die Bibel der Juden
Die Bibel war die Schrift, die alle Juden miteinander verband, einschließlich derjenigen, die in der Diaspora lebten, d. h. in der „Zerstreuung“ außerhalb Palästinas. Selbst die Mysterienkulte, deren Teilnehmer sich in der ganzen damaligen Welt durchsetzten und sich seit der hellenistischen Epoche durch eine bewusste Entscheidung an ihre Gottheiten banden, haben als Grundlage ihres Kultes keine heiligen Schriften. Allein das Judentum knüpfte seinen Glauben in besonderer Weise an ein Buch, die Bibel. Der Bezug auf die jüdische Bibel und die Argumentation, die auf ihrem Text aufbaut, sind eine Gemeinsamkeit aller Schriften und Schichten des Neuen Testaments. Dieser durchgehende Rückbezug durch Zitate und Anspielungen ist der spezifische Zug der neutestamentlichen Intertextualität (vgl. § 5.5). Der deutsche Ausdruck „Bibel“2 geht über lat. „biblia“ auf das griechische Wort „tá biblía“ (die Bücher) bzw. das Diminutiv „biblíon“ (Büchlein) zurück. Das Wort bezeichnete zunächst den Bast der ägyptischen Papyrusstaude, dann das daraus hergestellte Schreibmaterial und schließlich das Schriftstück, den Brief, das Buch. Im Neuen Testament dient das Wort zur Bezeichnung für Einzelschriften.3 Als umfassender Oberbegriff für das Alte und Neue Testament wird „tá biblía“ seit Johannes Chrysostomus (349–407) gebraucht.4 Von den einzelnen Büchern der Bibel (unserem Alten Testament) sprachen die ersten Christen im Anschluss an die frühjüdische Terminologie als „Schriften“ (griech. graphaí) oder – singularisch zu einer einheitlichen Größe zusammenfassend – als „Schrift“ (graphḗ).5 Sie konnten auch vom „Gesetz“ (nómos), d. h. der Tora, reden (mal für den Pentateuch, mal für die ganze Schrift)6 oder in einer Doppelwendung vom Gesetz und den Propheten.7 In 1Tim 5,18 wird die „Schrift“ als Autorität angeführt. Inhaltlich bezieht sich der Terminus auf zwei durch „und“ verbundene Zitate aus Dtn 25,4 („Einem dreschenden Ochsen sollst du das Maul nicht 2 Vgl. M. Luther, Biblia: das ist: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545, hg. v. H. Volz, München / Herrsching o.J. (1972). 3 Vgl. „bíblos“ für das Buch des Mose (= die Tora; Mk 12,26) oder des Propheten Jesaja (Lk 3,4), das Buch der Propheten (Apg 7,42) und der Psalmen (Lk 20,42; Apg 1,20) sowie „biblíon“ für Jesaja (Lk 4,17) und das Johannesevangelium (Joh 20,30). 4 Johannes Chrysostomus, hom. in Col. 9,1 (PG 62,361). 5 Vgl. für die Schriften insgesamt im Plural (Mt 26,54; Lk 24,27; Joh 5,39; Apg 17,2.11; 18,24.28; Röm 15,4; 1Kor 15,3 f.) oder Singular (Joh 2,22; 10,35; Röm 11,2; Gal 3,8.22; Jak 4,5; 1Petr 2,6; 2Petr 1,20), für ganze Schriftteile (Mt 26,56: Propheten) sowie für einzelne Schriftstellen (Mk 12,10; Lk 4,21; Joh 19,37); vgl. auch Zitationsfor meln wie z. B. „es steht geschrieben“ (gégraptai; Mt 4,4.6.7.10; Mk 7,6; Röm 1,17 u. ö.). 6 Vgl. das „Gesetz“ (nómos) für den Pentateuch (Mt 12,5; Lk 2,23.24; Joh 8,5.17; 1Kor 9,9; Gal 3,10) oder die ganze Schrift (Mt 5,18; Lk 16,17; Joh 10,34; 12,34; 15,25; Röm 3,19; 1Kor 9,8; 14,21; 14,34; Gal 4,21b), ferner die Rede vom Gesetz und den Propheten (s. Anm. 7). 7 Vgl. am Anfang und Ende der Bergpredigt (Mt 5,17; 7,12) sowie bei der Frage nach dem wichtigsten Gebot (Mt 22,40), im Zeugnis Jesu über Johannes den Täufer (Lk 16,16 Q: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis Johannes“); vgl. weiter Apg 13,15; 24,14; 28,23; Röm 3,21, aber auch Joh 1,45 (Berufung der ersten Jünger).
34
2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
zubinden“) und einem wohl schriftlich vorliegenden Jesuslogion aus Lk 10,7 („Der Arbeiter ist seines Lohnes wert“). In 2Petr 3,16 werden neben den Briefen des Paulus „die übrigen Schriften“ erwähnt, mit denen das Alte Testament gemeint ist (1,20).
Traditionell war der Tempel auf dem Berg Zion in Jerusalem das Symbol der jüdischen Einheit. Der Tempel galt als Wohnort und Thronsitz Gottes. Er bildete das Zentrum des Kults, der mit seinen Opfern die Aufhebung von Schuld ermöglichte, den Zugang zu Gott eröffnete und eine erneuerte Gemeinschaft mit ihm gewährte. Seit der Entstehung des salomonischen Tempels (vor 926 v. Chr.) setzte sich allmählich das Prinzip eines einzigen kultischen Zentrums in Israel durch. Nach seiner Zerstörung bei der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier (587 v. Chr.) und nach dem Exil wurde er 520–515 v. Chr. als der sog. zweite Tempel wieder aufgebaut. Unter Herodes d.G. (37–4 v. Chr.) wurde er umfassend erneuert. Zur Zeit Jesu gab es nur noch einen anderen JHWH-Tempel in Ägypten in Leontopolis (ca. 160 v. Chr. – 73 n. Chr.). Da die Mehrheit der Juden (etwa zwei Drittel bis drei Viertel) in der Diaspora außerhalb Palästinas lebte, spielte sich ihr geistiges Leben vor allem in den Synagogen ab, die als Orte des Gebets, der Toralesung und der Unterweisung über die ganze damals bekannte Welt verstreut waren.8 Eine einheitliche architektonische Gestalt der Synagoge hatte sich zur Zeit Jesu noch nicht herausgebildet, doch war ihre religiöse, liturgische und kulturelle Funktion klar erkennbar. Die Synagoge (griech. synagōgḗ = Versammlung) diente als Ort des Gottesdienstes, doch fehlten die Opfer, die dem Tempelkult in Jerusalem vorbehalten waren. Mit ihrem opferlosen Wortgottesdienst schuf die Synagoge eine wesentliche Voraussetzung nicht nur für die Neuformierung des Judentums nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr., sondern auch für den urchristlichen Gottesdienst (§ 5.3). Im Vordergrund stand im synagogalen Gottesdienst neben den Gebeten und dem Psalmengesang vor allem die Lektüre und Auslegung des Gesetzes, der Tora (hebr. tôrāh = Weisung, Gesetz). Sie umfasst die ersten fünf Bücher der Schrift und wird deshalb auch „Pentateuch“ (griech. pentáteuchos [bíblos] = Fünfrollenbuch) genannt (Gen, Ex, Lev, Num, Dtn). Der gottesdienstlichen Lesung dienten außerdem Bücher aus der Sammlung der „Propheten“ (hebr. nebî’îm), die in die „vorderen“ und „hinteren“ Propheten unterteilt werden. Die „hinteren“ Propheten umfassen die Bücher der Schriftpropheten, 8
Die Entstehung der Synagoge ist ungeklärt. Die ältesten Belege stammen in Ägypten aus dem 3. Jh. v. Chr., die frühesten archäologischen Funde in Israel aus dem 1. Jh. v. Chr. Das Neue Testament erwähnt mehrfach Synagogen in Kapernaum (Mk 1,21 u. ö.), Nazareth (Mk 6,2 par. Lk 4,16), Jerusalem (Apg 6,9; 24,12), Damaskus (Apg 9,2.20), Zypern (13,5), Kleinasien (Apg 13,14.43; 14,1) mit seiner Metropole Ephesus (Apg 18,19.26; 19,8) und Griechenland mit Philippi (Apg 16,13: proseuchḗ = Gebetsstätte), Thessalonich (17,1), Athen (17,17), Korinth (18,4).
2.1 Die jüdische Tradition
35
die den prophetischen Gestalten zugeschrieben werden, nämlich die „großen“ Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel9 sowie die zwölf „kleinen“ Propheten. Letztere werden auch als „Dodekapropheton“ (Zwölfprophetenbuch) bezeichnet und erstrecken sich von Hosea bis Maleachi. Die „vorderen“ Propheten enthalten die meisten der im christlichen Kanon als Geschichtsbücher charakterisierten Schriften (außer 1–2Chr), d. h. Josua bis 2. Könige. Als Propheten gelten diese, weil sie zwar auch von Propheten oder geistbegabten Menschen wie z. B. Samuel (1Sam 19,20), Elia (1Kön 19,10), Elisa (2Kön 2–9) u. a. berichten, vor allem aber das Zeitgeschehen in prophetischer Weise von der Geschichte JHWHs mit seinem Volk her deuten. Das Gesetz und die (vorderen und hinteren) Propheten bildeten schon im 2. Jh. v. Chr. eine Sammlung von Büchern, aus denen im Gottesdienst vorgelesen wurde. Im Prolog zum Buch Jesus Sirach begegnet „das Gesetz und die Propheten“ (s. Anm. 7) um 132 v. Chr. erstmals als feststehende Bezeichnung für eine allseits anerkannte Schriftensammlung. Im synagogalen Gottesdienst war ihre Lesung meistens mit einer Auslegung der vorgetragenen Abschnitte verbunden. So hat nach Lk 4,16 ff. Jesus in der Synagoge von Nazareth Jes 61 dahingehend gedeutet, dass durch seine Sendung die Worte vom „Gnadenjahr des Herrn“ erfüllt sind. Nach Apg 13,15 wurde auch Paulus in einer Synagoge „nach der Lesung des Gesetzes und der Propheten“ zu einer Predigt aufgefordert. Der letzte Teil enthält den Rest des Alten Testaments, der seit dem 2. Jh. n. Chr. als „Schriften“ (hebr. ketûbîm) bezeichnet wurde, auch griech. „Hagiographen“ (heilige Schriften) genannt. Dazu gehören die Psalmen, Hiob, die Sprüche und die fünf Megillot, d. h. die Buchrollen, die zu den jüdischen Hauptfesten gelesen wurden (Hoheslied, Ruth, Klagelieder, Prediger und Esther). Den Schluss bilden Daniel und die beiden Chronikbücher sowie Esra und Nehemia. Dieser Teil war in neutestamentlicher Zeit noch nicht ganz abgeschlossen, Gesetz und Propheten als Grundbestand jedoch unangefochten. Darauf könnte die dreigliedrige Rede vom Gesetz des Mose, den Propheten und Psalmen in Lk 24,44 hinweisen.10 Eine solche Dreiteilung der biblischen Schriften ist erstmalig im Prolog des Jesus Sirach belegt, den der Enkel des Verfassers um 132 v. Chr. seiner Übersetzung des hebräischen Originals ins Griechische voranstellte und in dem er vom Gesetz, den Propheten und den anderen, den übrigen Büchern spricht, die hier offensichtlich noch keinen festen Namen haben.11
9
Daniel folgt erst im dritten Teil. Möglich ist auch, dass Lukas den Psalter hier nicht stellvertretend für den dritten Teil nennen, sondern nur wegen seiner besonderen Bedeutung für den christologischen Schriftbeweis hervorheben wollte; vgl. stets redaktionell in Lk 20,42 (Ps 110,1); 24,44; Apg 1,20 (Ps 69,26); 13,33 (Ps 2,7). 11 Vgl. in 4Q397 14–21 10 das Buch Moses, die Bücher der Propheten und Davids (sc. Psalmen). Selbst Philo (VitCont 25) spricht noch unbestimmt von Gesetz, Propheten, Hymnen und anderen Schriften. 10
36
2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
Als Ganzes ist die Schrift, das christliche Alte Testament, eine Schriftensammlung, die von der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel erzählt und in ihrer Grundstruktur einen narrativen Charakter hat. Diese Darstellungsweise hängt mit der Auffassung der Offenbarung zusammen, dass Gott Israel zu seinem Volk erwählt, es durch die Geschichte geführt und ihm seinen Willen kundgetan hat. Von dieser Geschichte gibt die Schrift Zeugnis (§ 1.5.2). Seit dem Mittelalter wurde die dreiteilige jüdische Bibel nach den Anfangsbuchstaben der einzelnen Teile (tôrāh, nebî’îm, ketûbîm) im Judentum auch mit einem Kunstwort Tanakh genannt. 2.1.2
Bibel und Talmud
(H. L. Strack /) Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 6 Bde., München 1926–1961 (seither mehrere Auflagen); Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 81992 (wichtige Einführung); Hyam Maccoby, Early Rabbinic Writings, Cambridge 1988.
Die thematischen, an Sachfragen orientierten Auslegungen des Gesetzes (der Tora), die bedeutende jüdische Lehrer etwa seit dem Ende des 1. Jh.s v. Chr. vortrugen, wurden mündlich tradiert und später unter der Bezeichnung Mischna gesammelt.12 Das Wort heißt „Wiederholung“ (von hebr. šnh = wiederholen), meint das Einprägen der Lehre durch Wiederholung und bezeichnet die tradierte Gesetzeslehre im Unterschied zum geschriebenen Gesetz, der Tora des Mose. Als gegen Ende des 1. Jh.s n. Chr. die hebräische Bibel – bestehend aus Gesetz, Propheten und Schriften (hebr. tôrāh, nebî’îm und ketûbîm) – abgeschlossen wurde, trat die Mischna mit einem autoritativen Anspruch als „mündliche Tora“ neben die Mikra (miqrā’), d. h. die (Schrift)Texte, die im synagogalen Gottesdienst vorgelesen wurden. Lehrer dieser mündlichen Tora waren die Rabbinen (von hebr. rabbi = mein Meister, Lehrer), d. h. Schriftgelehrte, die sich den Fragen der Gesetzesauslegung widmeten und an das Erbe der Pharisäer (§ 6.3.4.1) anknüpften.13 Als die mündliche Überlieferung der Rabbinen im 2. Jh. n. Chr. anwuchs, wurden die Lehrsätze schriftlich fi xiert. Durchgesetzt hat sich die Sammlung, die Jehuda haNasi zugeschrieben wurde (Jehuda I., „der Fürst, Patriarch“ oder einfach „Rabbi“ genannt; ca. 175–217 n. Chr.). Kodifiziert wurde sie in den ersten Jahren des 3. Jh.s n. Chr. Die Mischna ist das Werk der Tannaiten („Lehrer“ von hebr. šnh = wiederholen, lehren, lernen), d. h. der Rabbinen nach der Tempelzerstörung in den Jahren 70 bis 200 n. Chr. Sie besteht aus sechs „Ordnungen“ (hebr. sedarim) mit einer wech12
Vgl. zum Folgenden G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München
8
1992. 13
Im Deutschen bezeichnet der Titel „Rabbiner“ einen ordinierten und von einer jüdischen Gemeinde angestellten Gelehrten und Seelsorger.
2.1 Die jüdische Tradition
37
selnden Zahl von insgesamt 63 „Traktaten“ (hebr. massekhtot).14 Nach dem Verlust des Tempels brachte die Mischna wie kein anderes Werk das Selbst- und Weltverständnis des rabbinischen Judentums zum Ausdruck und prägte dessen weitere Entwicklung. Die späteren Deutungen ähnlicher Art sind das Werk der Amoräer („Sprecher“ von hebr. ’mr = sagen; 3.–5. Jh.), d. h. der Kommentatoren der tannaitischen Lehren. Sie knüpfen thematisch an die Mischnatraktate an und sind in der Gemara („Vervollständigung“) gesammelt, die als „Vollendung“ der schriftlichen Tora betrachtet wird. Die Gemara bildet zusammen mit der Mischna den Talmud („Studium, Belehrung, Lehre“ von hebr. lmd = lernen bzw. limmad = lehren). Da zwei Fassungen der Gemara existieren, die palästinische (abgeschlossen um 400 n. Chr.) und die babylonische (5. Jh.), gibt es auch zwei Versionen des Talmuds, den umfassenderen Talmud Bavli15 und den Talmud Jerushalmi.16 Die Midraschim (Sg. Midrasch = „Lehrvortrag“ von hebr. drš = suchen, fragen, erforschen) sind Auslegungen der biblischen Bücher. Als solche haben sie nicht dieselbe Autorität wie der Talmud erreicht, wenn auch einige von ihnen schon aus tannaitischer Zeit stammen. Ähnliches kann über die meisten Targumim („Übersetzungen“) gesagt werden, bei denen es sich um freier paraphrasierende Übertragungen (Interpretationen) der hebräischen Bibel in die aramäische Alltagssprache handelt. Diese Hintergründe sind für das Verständnis des Neuen Testaments aus drei Gründen von Bedeutung: Erstens gehören die Anfänge der später schriftlich fixierten jüdischen Tradition in die neutestamentliche Zeit. Sie bilden eine wichtige Quelle für die Darstellung der Religion und Kultur des damaligen Judentums. Wenn wir sie zur theologischen Deutung des Neuen Testaments heranziehen, müssen wir uns allerdings vor einer anachronistischen Anwendung hüten. Im Judentum der neutestamentlichen Zeit waren die Repräsentanten der tannaitischen Tradition eine einflussreiche Gruppierung, die das Erbe der Pharisäer (§ 6.3.4.1) weiterführte und bei der Neuformierung des Juden14
Text: G. Beer / O. Holtzmann u. a. (Hg.), Die Mischna, Gießen / Berlin 1912 ff. („Gießener Mischna“; zu den kritischen Editionen s. G. Stemberger, Einleitung [s. Anm. 12], 141 f.); Übersetzungen: L. Goldschmidt (s. Anm. 15); H. Danby, The Mishnah, London 1933 (zahlreiche Nachdrucke); J. Neusner, The Mishnah, New Haven – London 1988. 15 Text: Talmud Bavli, Ausgabe Romm, Wilna 1880–1886 (zahlreiche Nachdrucke), Übersetzung: L. Goldschmidt, Der babylonische Talmud, 12 Bde., Berlin 1929–1936 (mehrfache Nachdrucke); I. Epstein (Hg.), The Babylonian Talmud. Translated into English with Notes, Glossary and Indices, 35 Bde., London u. a. 1935–1952; ders., Hebrew-English Edition of the Babylonian Talmud, 36 Bde., London u. a. 1960–1990. 16 Verbreitetste Textausgabe: Talmud Yerushalmi, Krotoschin 1866 (mehrere Nachdrukke); Übersetzung des Talmud Yerushalmi (ÜTY), hg. v. M. Hengel / P. Schäfer u. a., Tübingen 1975 ff.; J. Neusner, The Talmud of the Land of Israel, 35 Bde., Chicago 1982–1994.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
tums nach der Katastrophe der Tempelzerstörung (70 n. Chr.) zur beherrschenden Kraft wurde. Die Vorläufer der Tannaiten waren in neutestamentlicher Zeit aber keinesfalls die einzige bedeutende geistige Strömung. Nicht alle Entscheidungen der jüdischen Behörden und nicht alle Sitten der Juden zur Zeit von Jesus und Paulus sind daher aus ihren später kodifizierten Lehren rekonstruierbar. Neben den Pharisäern gab es auch die Sadduzäer, die Essener von Qumran und die Zeloten.17 Noch wichtiger ist allerdings der Umstand, dass der Stoff des Talmuds erst in nachneutestamentlicher Zeit fortlaufend fi xiert wurde, dass zwischen Jehuda I. und der neutestamentlichen Zeit der Jüdische Krieg mit dem Ende des Tempelkults in Jerusalem (66–70 n. Chr.) stattfand und dass die Pharisäer danach ihren Einfluss auf das ganze Judentum – einschließlich der Diaspora – in einem enormen Ausmaß steigern konnten. Diese Ereignisse prägten die geistige Situation des Judentums. Außerdem konnte nur ein Teil der Bestimmungen der Mischna mit einigen Aussagen der Baraita oder Tosefta schon zur Zeit des Neuen Testaments anerkannt gewesen sein. Die neutestamentliche Exegese muss deshalb beachten, dass nur ein Teil dessen, was im Talmud steht, schon zur Zeit Jesu galt, und dass die Grenze schwer zu finden ist. Die Tosefta („Hinzufügung, Ergänzung“) und die Baraita (die „draußen befindliche“ Lehre) sind zwei zusätzliche Sammlungen von Deutungen des Gesetzes, der Tora, die die Lehren der Mischna ergänzen und ebenfalls der tannaitischen Zeit zugerechnet werden. Einige Teile der Baraita werden auch in den beiden Versionen der Gemara zitiert. Dieser Sachverhalt darf z. B. bei der Arbeit mit dem bekannten Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch von (H. L. Strack /) Paul Billerbeck nicht vergessen werden, der durch seine umfangreiche Zusammenstellung von Paralleltexten wesentlich zur Erschließung des jüdischen Hintergrunds beigetragen hat.18
17 Zu den Pharisäern und Sadduzäern s. § 6.3.4.1 (Petit). Die Essener von Qumran trennten sich zu Beginn der Regierungszeit der Hasmonäer (um 152 v. Chr.) vom Jerusalemer Tempelkult, lebten als eine priesterlich orientierte Gemeinschaft mit strengen Regeln für das Gemeinschaftsleben und gingen mit der Zerstörung ihrer Siedlung am Toten Meer durch die Römer 68 n. Chr. unter (vgl. als gut lesbare Einführung H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg u. a. 71998; für einen ersten Überblick H. Lichtenberger / A. Lange, Art. Qumran, TRE 28, 45–79 oder A. Lange, Art. Qumran, RGG4 6, 1873– 1896). Die Zeloten (von griech. zḗlos = Eifer) waren eine religiös motivierte antirömische Aufstandsbewegung, die im Eifer für Gottes Recht und Reich gegen die nichtjüdische Herrschaft über das Heilige Land kämpfte und im Jüdischen Krieg (66–70 n. Chr.) zur Zerstörung Jerusalems führte (vgl. R. Deines, Art. Zeloten, TRE 36, 626–630). 18 (H. L. Strack /) P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch (Lit. § 12). Das Werk wird heute nur unter dem Namen Billerbeck (Bill.) zitiert, da „Strack (sc. als Herausgeber) mit keinem Wort eine Mitwirkung des Werks für sich in Anspruch genommen hat“ (Vorwort Bd. IV, S.V).
2.1 Die jüdische Tradition
39
Zweitens ist die Mischna für das Neue Testament wegen ihrer literarischen Gestaltung bedeutend: Zunächst muss ein Unterschied betont werden: Der Stoff der Mischna wurde als meistens sehr indirekte Deutung der verschiedenen Bestimmungen des Gesetzes tradiert (Halakha = „Lebenswandel“ von hebr. hlk = gehen, wandeln) und thematisch geordnet nach Traktaten, die in sechs Ordnungen gesammelt sind. Die Evangelien dagegen sind narrative Texte, deren Stoff als fortlaufende Geschichte dargeboten wird. Solche Erzählungen haben in der jüdischen Tradition nur indirekte Analogien in der Haggada („Erzählung“, auch aramäisch als Aggada bezeichnet, von hebr. ngd = erzählen).19 In den Evangelien gibt es zwar auch thematische Sammlungen von Sprüchen, z. B. über das Eigentum in Lk 16,1–13. Doch sind diese in den Evangelien völlig in den erzählenden Rahmen eingegliedert, während in der rabbinischen Tradition umgekehrt die haggadischen (erzählenden) Texte in die halakhischen Ausführungen zur Tora integriert sind. Doch gibt es auch Analogien: Die halakhischen Texte bestehen zu weiten Teilen aus Diskussionen, da die einzelnen Deutungen des Gesetzes sich im Streit herauskristallisierten. Die Tannaiten und ihre Nachfolger waren also keine konservativen Heuchler, wie es die neutestamentliche Polemik gegen die Pharisäer nahelegen könnte, sondern Repräsentanten einer jüdischen Reformbewegung. Eine Parallele zu den halakhischen Diskussionen finden wir in den zahlreichen Disputationen (Streitgesprächen) zwischen Jesus und den Pharisäern, die aus den synoptischen Evangelien bekannt sind, z. B. über die Vollmacht Jesu, die Tischgemeinschaft mit Sündern und den Sabbat (Mk 2,1–3,6) oder über die Steuer, die Auferstehung und das höchste Gebot (Mk 12,13–34). Gattungsmäßig handelt es sich bei diesen Streitgesprächen um eine indirekte Analogie, die in der Art und Weise manche Gemeinsamkeit mit den halakhischen Diskussionen aufweisen. Auch historisch gesehen sind sie ein Beleg für die gegenseitige Beeinflussung zwischen der Jesusbewegung und ihren jüdischen Kontrahenten. Erst nachträglich, nach der Vertreibung der Christen aus der Synagoge in den 70-er Jahren,20 wurden die Streitgespräche mit einer negativen Einschätzung der jüdischen Opponenten verbunden und vor allem von Matthäus in einer scharfen Polemik gegen die Pharisäer zugespitzt (§ 6.3.4.1a). Drittens sehen wir, dass aus jüdischer Sicht die christliche Deutung der Schrift nicht die einzig mögliche ist. Es war die Ostererfahrung, dass der Messias auferstanden ist, aus der heraus die ersten Christen die jüdische Bibel als Vorgeschichte und Vorhersage des Kommens Jesu Christi deuteten und ihren Glauben legitimierten. Der Talmud leugnet die alttestamentliche Auffassung der Offenbarung Gottes (§ 1.5.2; 1.5.4) nicht, dass Gott in der Tora seinen Willen mitgeteilt hat. Er schwächt 19
Die haggadischen Texte enthalten kurze Erzählungen, Anekdoten, Rätsel und ähnli-
ches. 20
S. § 6.3.4; 6.3.4.1; 6.4.5.2a; 7.1.5.3.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
sie jedoch durch die Überzeugung, dass nicht nur der hebräische Textbestand der Bibel ein gewisses Element der Heiligkeit besitzt, sondern auch der Talmud implizit schon in der Offenbarung Gottes auf dem Sinai enthalten ist, bei der Mose die Zehn Gebote empfing. Die ersten Christen deuteten zwar ebenfalls den Wortsinn einiger Texte der Bibel mit rabbinischen Auslegungsmethoden, d. h. bisweilen ohne Rücksicht auf den unmittelbaren literarischen Kontext (§ 2.1.3). Die Funktion des Neuen Testaments ist jedoch in der christlichen Kirche eine andere als die des Talmuds im Judentum. Die neutestamentlichen Schriften wurden nicht verfasst, um die Tora auszulegen, sondern um das Evangelium von Jesus Christus weiterzugeben. Der Stoff und die Idee des zweiteiligen christlichen Kanons, bestehend aus dem Alten und dem Neuen Testament, musste sich unter den Christen erst gegen die tannaitischen Vorstellungen durchsetzen. Dieser Unterschied zum Talmud ist für die Kanongeschichte (§ 3) und für das ganze Verständnis des Neuen Testaments von Bedeutung. 2.1.3
Das Alte und das Neue Testament
Samuel Amsler, L’Ancien Testament dans l’Église, Neuchâtel 1960; Hartmut Gese, Erwägungen zur Einheit der biblischen Theologie (1970), zuletzt in ders., Vom Sinai zum Zion (BEvTh 64), München 1974, 11–30; Hans Hübner, Biblische Theologie I (Lit. § 1); ders., Vetus Testamentum in Novo 2, Göttingen 1997; Josef B. Souček, Israel und die Kirche im Denken des Apostel Paulus (1971), zuletzt in: Petr Pokorný / ders., Bibelauslegung als Theologie (WUNT 100), Tübingen 1997, 171–182; Günter Stemberger, Jabne und der Kanon, in: Jahrbuch für biblische Theologie 3, Neukirchen 1988, 163–174; Hans Peter Rüger, Das Werden des christlichen Alten Testaments, ebd. 175–189; Peter Stuhlmacher, Theologie 1–2 (Lit. § 1).
a) Christus und die Schrift: Von Anfang an betonten die Christen den inneren Zusammenhang zwischen ihrem Glauben und der Schrift (s. Anm. 5 ff.). Deren Zeugnis lasen sie jedoch im Unterschied zu den Juden kaum als Tora, sondern – trotz mancher Unterschiede im Detail – primär als prophetische Verheißung.21 Die christliche Besonderheit bestand vor allem darin, dass die verschiedenen endzeitlichen und messianischen Erwartungen der jüdischen Bibel (des Alten Testaments) nun auf Jesus bezogen wurden.22 Diese christologische Deutung war nur aufgrund der neuen und endgültigen Offenbarung Gottes möglich, die im Ostergeschehen einen Schlüssel zum Verständnis der Geschichte Jesu bot. Theologisch ist die enge innere Verbindung des Alten und des Neuen Testaments nur im Rückblick vom Neuen Testament 21 Vgl. bes. Gal 3 (§ 5.11.4b); Mt (§ 6.3.3.3a); Lk (§ 6.4.5.2a); Hebr (§ 8.5.3b–c); 1Petr 1,10 f. (§ 8.6.2). 22 Zu den Texten und der urchristlichen Schriftauslegung vgl. F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 93–98.111–142.
2.1 Die jüdische Tradition
41
her zu erkennen und aus einer im Bekenntnis der Kirche verankerten Sicht zu begreifen. Aus dem Alten Testament ist dieser Zusammenhang nicht von vornherein zwingend zu begründen. Besonders Paulus betonte einen wichtigen Zug des Glaubens, den die frühen christlichen Texte sonst nur in Andeutungen enthielten: Er hob das Bewusstsein hervor, dass die Existenz des Volkes Gottes ständig von der freien Entscheidung Gottes abhängt, die von Gnade und Vergebung geprägt ist. Paulus belegte diese göttliche Gnadenwahl vor allem im Römerbrief mit alttestamentlichen Schriftstellen.23 Solche für das Alte Testament typischen Aussagen entsprachen der Grunderfahrung der Christen, die die Offenbarung Gottes in Jesus Christus bekannten. Wenn wir nach der grundlegenden Gemeinsamkeit aller 27 literarischen Einheiten (Bücher) des Neuen Testaments fragen, sind trotz aller Verschiedenheit und z. T. auch Widersprüchlichkeit drei auffällige Merkmale gemeinsam: Erstens ist Jesus die (zumindest vorausgesetzte) Schlüsselgestalt. Zweitens wird seine Bedeutung als eschatologische betrachtet, d. h. aus einer endzeitlichen Perspektive als für das Leben jedes Menschen und für die Vollendung der Geschichte entscheidend. Drittens fehlt nie ein Hinweis auf das Alte Testament und seinen Inhalt.24 Der Ausgangspunkt aller neutestamentlichen Ausführungen ist immer Jesus, es gibt keine einfache Fortsetzung, keine direkte Kontinuität des Erbes der jüdischen Schrift. Die Diskontinuität wird oft ausdrücklich benannt: „Ihr habt gehört ..., ich aber sage euch ...“ (Mt 5,21 ff., bes. 38 f.; vgl. Lk 16,16), oder: „Christus ist des Gesetzes Ende ...“ (Röm 10,4). Und doch wird gerade aus der Sicht des christlichen Glaubens erklärt, dass das Neue eine radikal tiefere und endgültige Offenbarung des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs ist,25 den die jüdische Bibel bezeugt. Anknüpfung und Widerspruch bleiben unauflöslich aneinander gebunden. b) Das „Alte“ und das „Neue Testament“: Diese spannungsvolle Bezugnahme auf die jüdische Bibel bildete eine wesentliche Voraussetzung für die spätere Entstehung einer Gesamtkonzeption des Alten und Neuen Testaments. Die Bezeichnung26 „Altes Testament“ geht auf die lat. Übersetzung „vetus testamentum“ für das griech. „palaiá diathḗkē“ (alter Bund) in 2Kor 3,14 zurück. Dort ist mit diesem Ausdruck jedoch weder der „Alte Bund“ (Bundesschluss vom Sinai) noch eine Schriftensammlung (unser „Altes Testament“) gemeint, sondern die Tora des Mose, d. h. die Tora vom 23 Vgl. die Zitate in Röm 9,27.29; 11,3 f. aus Jes 1,9; 10,22; 1Kön 19,10–18 oder in Röm 11,8 aus Jes 29,10; vgl. J. B. Souček, Israel und die Kirche, 178 f. 24 Vgl. Paulus (§ 5.5.1; 5.11.4b Petit); Mk (Exkurs 5); Mt (§ 6.3.3.3a); Lk (§ 6.4.5.2a); Joh (§ 7.1.5.1); Apk (§ 7.2.2); Hebr (§ 8.5.2–3); 1Petr (§ 8.6.2); 2Petr (§ 8.7.2); Jak (§ 8.8.2c), und weiter die mehrbändige Zusammenstellung von H. Hübner, Vetus Testamentum in novo, Göttingen 1997 ff. 25 Vgl. Mk 12,26 par.; Apg 3,13; 7,32. 26 Vgl. W. Schneemelcher, Art. Bibel III, TRE 6, 22 ff.; ders., NTApo6 I, 4 f.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
Sinai, die im Pentateuch enthalten ist und im jüdischen Synagogengottesdienst vorgelesen wird. Als Benennung für das christliche Alte Testament taucht der Ausdruck erstmals um 170 n. Chr. bei Bischof Melito von Sardes auf, der das Gesetz und die Propheten als „die Bücher des Alten Bundes“ (tá tḗs palaiás diathḗkēs biblía) einzeln auflistet (Eus. h.e. 4,26,13 f.). Im Gegenzug legte sich eine entsprechende Bezeichnung für die neuen Schriften nahe (vgl. 2Kor 3,6), die um 192 im Kampf gegen den Propheten Montanus erstmals belegt ist (Eus. h.e. 5,16,3): „das Wort des Evangeliums des neuen Bundes“ (hó tḗs toú euaggelíou kainḗs diathḗkēs lógos). Bei Tertullian (ca. 160–220), Clemens von Alexandrien (ca. 150–215) und Origenes (ca. 185–254)27 war dieser Sprachgebrauch schon üblich. In den Beschlüssen der Synode von Laodicea (Mitte 4. Jh.) wurde er als Bezeichnung festgeschrieben (Kanon 59). Damit hat die biblische Ausdrucksweise zwar den Anstoß gegeben, doch erfolgte die terminologische Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament im Sinn einer Schriftensammlung erst in der Alten Kirche. Dabei ist zu bedenken, dass das Wort „Testament“ als lateinische Übersetzung für den „Bund“ (hebr. berît, griech. diathḗkē) benutzt wurde (§ 1.3.1 Abb.1). In der jüdischen Tradition ist dieser Ausdruck nicht im Sinn eines wechselseitigen Vertrags oder Bündnisses auf gleicher Augenhöhe gemeint, sondern einer einseitigen heilvollen Anordnung, Verfügung, Setzung oder Willenserklärung, bei der Gott als der eine Partner das Leben des anderen, schwächeren, d. h. des Gottesvolks, schützt (1Kor 11,24 f.; vgl. Jer 31,31–34). Dieser ursprüngliche Wortsinn ist mit der lateinischen Übersetzung weithin zurückgetreten, sodass sich eine problematische Bedeutungsverschiebung vom „Bund“ zum „Testament“ als einer (letztwilligen) Verfügung ergab. Außerdem ist bei den beiden Adjektiven zu beachten, dass das Attribut „neu“ das Alte Testament nicht als veraltet abwertet, sondern an die prophetischen Ankündigungen eines neuen Bundes anknüpft (Jer 31,31 ff.) und die endgültige, eschatologisch entscheidende Erneuerung der göttlichen Heilssetzung im Christuszeugnis des Neuen Testaments hervorheben soll. Um jeglichen Verdacht einer Abwertung zu vermeiden, wird von manchen heute die Bezeichnung „Hebräische Bibel“ bevorzugt. Doch ist dieser Name nicht unproblematisch, da er keine jüdische Bezeichnung ist und auch die wechselseitige Bezogenheit von Altem und Neuem Testament nicht mehr anklingen lässt, die für das christliche Verständnis konstitutiv ist. Außerdem macht er mit dem Hebräischen statt der Religion die Sprache zum Unterscheidungsmerkmal, obwohl Teile von Daniel und Esra auf Aramäisch abgefasst sind und in neutestamentlicher Zeit viele Juden ihre Bibel auf Hebräisch gar nicht mehr verstehen konnten. Sie waren auf eine griechische Übersetzung angewiesen und benutzten die Septuaginta (§ 2.1.4). Nicht zuletzt ist die Rede von der „Hebräischen Bibel“ im Blick auf die ersten Christen auch 27
4,1,1).
Vgl. Clemens von Alexandrien (str. 1,5; 5,85); Origenes (comm. in Joh 10,28; princ.
2.1 Die jüdische Tradition
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historisch irreführend, da diese ihre jüdische Bibel ganz überwiegend in der Gestalt der Septuaginta lasen, deren Wortschatz und Vorstellungswelt die neutestamentliche Sprache und christologische Reflexion beeinflusst hat.28 Dies gilt auch für die Teile der Septuaginta, die als deuterokanonische Schriften (s. Anm. 45) bezeichnet werden, weil sie im hebräischen Kanon keine Entsprechung haben.29 Jedenfalls können wir festhalten, dass das Neue Testament nicht einfach die Fortsetzung des Alten, sondern sein komplementäres Gegenüber ist. Gerade die Polarität bleibt eine ständige hermeneutische Herausforderung für die Kirche. Diese Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität wird durch die kontrastierende Zweiteilung in Altes und Neues Testament nicht nur in der Sache anerkannt, sondern durch den zugleich verbindenden wie unterscheidenden Namen auch terminologisch dauerhaft wach gehalten (§ 3.5). c) Die christliche Rezeption des Alten Testaments: In der christlichen Bibel übt das Alte Testament eine zweifache Funktion aus: Zunächst werden einzelne Aussagen des Alten Testaments zur Unterstützung der christlichen Bekenntnisse und Traditionen herangezogen, manchmal in einer – rabbinischen Auslegungsmethoden entsprechenden – Ausdeutung des Wortlauts gegen den Wortsinn, den die Stelle in ihrem ursprünglichen Kontext hat (z. B. der eine Same Abrahams in Gal 3,16; § 5.11.4b). In solchen Fällen wird das Alte Testament verwendet, um einzelne christliche Aussagen in den Augen von Juden und Judenchristen zu legitimieren. Darüber hinaus wurde die jüdische Bibel aber auch als Ganzes schon zur Zeit der Entstehung des Neuen Testaments als Buch der Vorgeschichte Jesu Christi aufgefasst (vgl. Röm 1,1–4; § 5.6.1.2). Diese Betrachtungsweise ist nicht nur eine Folge der geschichtlichen Entstehung des Christentums aus dem Judentum. Sie liegt auch in einer bewussten theologischen Entscheidung der Kirche begründet, die nicht ohne innere Kämpfe gefällt und durchgesetzt wurde, besonders in der Mitte des 2. Jh.s gegen Markion (§ 3.3b). Die Beibehaltung der jüdischen Bibel im christlichen Gottesdienst und später im christlichen Kanon legitimiert ihre Bedeutung als Vorgeschichte des christlichen Glaubens. 28 Nur durch den Wortlaut der Septuaginta erklärbar sind nach F. Siegert, Einführung 2 (s. Anm. 31), 353, z. B. das Passiv der Segensaussage in Gen 12,3 („eneulogēthḗsontai“; Apg 3,25; Gal 3,8), Dtn 21,23: „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt“ (Gal 3,13), Ps 110,1 (die Gottesbezeichnung „kyrios“ = „Herr“ als Christustitel; § 5.6.1.3), Jes 7,14 („par thénos“ = „Jungfrau“ statt hebr. „’almāh“ = „junge Frau“; Mt 1,23; § 6.3.3.3d), Jes 52,13–53,12 (vier tes Gottesknechtslied; § 5.6.2.1) und Jer 31,31–34 (Ankündigung eines neuen Bundes); vgl. auch die Bedeutung der Präexistenzaussagen über die Weisheit (SapSal 9,1 f.; Sir 24) für die christologische Reflexion (§ 5.6.2.4). 29 Vgl. z. B. Mk 10,19 (Sir 4,1); Jak 1,19 (Sir 5,11) und weiter die Liste der Zitate und Anspielungen im Anhang der Textausgabe von Nestle / Aland.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
Für die Exegese des Neuen Testaments hat diese christliche Rezeption der jüdischen Bibel zur Folge, dass das Alte Testament nicht nur als Korrelat ständig berücksichtigt, sondern gleichzeitig auch in seiner relativen Eigenständigkeit und Autonomie respektiert werden muss. Es gibt auch eine nicht-christliche Auslegung der jüdischen Bibel. 2.1.4
Die Septuaginta und die Sprache des Neuen Testaments
Literatur zur Septuaginta: Robert Hanhart, Septuaginta, in: Werner H. Schmidt u. a., Altes Testament (UB 421), Stuttgart 1989, 179–196; Mario Cimosa, Guida allo Studio della Bibbia Graeca (LXX), Rom 1995; Gilles Dorival / Marguerite Harl / Olivier Munnich, La Bible Grecque des Septante, Paris 1988; Martin Hengel / Anna Maria Schwemer (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum (WUNT 72), Tübingen 1994; ders., Die Septuaginta als von den Christen beanspruchte Schriftensammlung bei Justin und den Vätern vor Origenes, zuletzt in: ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. KS II (WUNT 109), Tübingen 1999, 335–380; Evangelia G. Dafni, Theologie der Sprache der Septuaginta, ThZ 58 (2002), 315–328; Folker Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Septuaginta (MJSt 9), Münster 2001; ders., Register zur „Einführung in die Septuaginta“. Mit einem Kapitel zur Wirkungsgeschichte (MJSt 13), 2003; Kristin De Troyer, Die Septuaginta und die Endgestalt des Alten Testaments (UTB), Göttingen 2005; Michael Tilly, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005. Zur Sprache des Neuen Testaments: Gerard Mussies, The Morphology of Koine Greek, Leiden 1971; James K. Elliott, The Language and Style of the Gospel of Mark. An Edition of C. H. Turners „Notes in Marcan Usage“. Together with Other Comparable Studies (NT.S 71), Leiden u. a. 1993; Stanley E. Porter (Hg.), Language of the Greek New Testament (JSNTS 60), Sheffield 1991; Marius Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments (UTB), Paderborn u. a. 2001; s. auch Lit. § 6.2.5.
a) Die Entstehung der Septuaginta: Viele Juden und ihre Sympathisanten zur Zeit Jesu haben – selbst im palästinischen Mutterland – die hebräische Sprache immer weniger verstanden. Sie haben das Alte Testament in griechischer Übersetzung gelesen. Diese Übersetzung wird „Septuaginta“ (wörtlich „Siebzig“) genannt, d. h. die Übersetzung der siebzig Männer, die nach der Legende an ihrer Entstehung beteiligt waren (lat. inter pretatio septuaginta virorum; abgekürzt: LXX).30 Das Griechische war seit den Eroberungszügen Alexanders des Großen (356–323 v. Chr.) mit der hellenistischen Kultur die vorherrschende Sprache im ganzen Mittelmeerraum geworden (§ 2.2.1). Als erste Über tragung der Schriften der hebräischen Bibel in die grie30 Vgl. als Handausgabe A. Rahlfs, Septuaginta, Stuttgart 1935, verbesserte Neuauflage hg. v. R. Hanhart, Stuttgart 2006 (elektronische Ausgabe: CD-Rom Bibel Edition, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart), als kritische Edition: Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum. Auctoritate Academiae Scientiarum Gottingensis editum, Göttingen 1931 ff., sowie die deutsche Übersetzung von W. Kraus / M. Karrer (Hg.), Die Septuaginta Deutsch, Stuttgart 2007.
2.1 Die jüdische Tradition
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chische Weltsprache ist die Septuaginta eine einzigartige Leistung, für die es in der Antike keine Parallele gibt.31 Als Übersetzung ist sie der älteste Kommentar zur hebräischen Bibel. Nach einer Legende aus der jüdisch-hellenistischen Diaspora wurden die fünf Bücher der Tora (der Pentateuch) von 72 jüdischen Gelehrten, d. h. sechs aus jedem der zwölf Stämme Israels, in 72 Tagen übersetzt. Der Auftrag kam vom ägyptischen König Ptolemaios II. Philadelphos (285–246 v. Chr.). Diese Legende wurde von dem unbekannten Verfasser des (Pseudo-)Aristeasbriefs (wahrscheinlich Ende 2. Jh. v. Chr.) überliefert. Spätere Erzähler und Schriftsteller haben sie weiter entfaltet (Philo, Josephus u. a.).32 Indem im Aristeasbrief (310 f.) jeder Überarbeitung oder Veränderung dieser Übersetzung in Anlehnung an Dtn 4,2; 13,1; 29,19.26 der göttliche Fluch angedroht wird, beansprucht der Verfasser auch für die Septuaginta den Rang einer heiligen Schrift (wie es ähnlich in Apk 22,18 f. geschieht; § 7.2.6). Der jüdische Historiker Josephus (37–100 n. Chr.)33 spricht neben den 72 auch von 70 Übersetzern (Ant. 12,57) – vielleicht nicht nur eine Kurzformel, sondern schon eine Angleichung an die älteren biblischen Erzählungen von den 70 Ältesten (Ex 24,1–11; Num 11,10– 25) und ein erster Hinweis auf die später im kirchlichen Sprachgebrauch üblich gewordene Bezeichnung „Septuaginta“ (LXX). Allein Philo von Alexandrien, der einflussreiche jüdische Philosoph und Exeget (etwa 20/10 v. Chr. – 45 n. Chr.), betont den wunderhaften Charakter der Übersetzung „auf prophetische Weise wie unter göttlicher Ergriffenheit“ (VitMos 2,32: katháper enthousiṓntes prophḗteuon). Indem Philo nicht nur den ursprünglichen Text, sondern auch die Übersetzung auf die göttliche Inspiration zurückführt, trug er indirekt zur späteren christlichen Hochschätzung der Septuaginta bei. Seit Justin, dem christlichen Apologeten (um 150 n. Chr.), und seit Irenäus (um 180 n. Chr.)34 wurde die Entstehungslegende und Inspirationstheorie, die sich ursprünglich nur auf den griechischen Pentateuch bezog, von den Christen auch auf die Propheten ausgeweitet, ja auf alle Bücher des Alten Testaments.35 Doch ist es von dieser grundsätzlichen Aus31 Eine hervorragende Gesamtdarstellung bietet M. Hengel, Die Septuaginta als „christliche Schriftensammlung“, ihre Vorgeschichte und das Problem des Kanons, 182–284, eine handbuchartige Einführung mit ihren neutestamentlichen Bezügen F. Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament; ders., Register zur „Einführung in die Septuaginta“. Mit einem Kapitel zur Wirkungsgeschichte (2 Bde.). 32 Arist 301–316; Übersetzungen bei C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte zur Umwelt (Lit. § 12), 330–337. 33 Josephus Ant. 12,11–118; vgl. 1,10 ff.; Contra Apionem 2,45 ff. 34 Justin apol. I,31,2–5; Irenäus, haer. 3,21,2 (= Eus. h.e. 5,8,14): kat’ epípnoian toú theoú = nach göttlicher Inspiration (Einhauchung); vgl. 2Tim 3,16: theópneustos = von Gott eingehaucht, eingegeben, inspiriert; 2Petr 1,20 f. 35 Vgl. M. Hengel, Septuaginta (s. Anm. 31), 187–203 und F. Siegert, Einführung (s. Anm. 31), 30; vgl. auch F. Siegert, Die Inspiration der Heiligen Schriften. Ein philonisches
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2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
sage über die göttliche Herkunft und Autorität der heiligen Schrift noch ein weiter Weg bis zur Lehre der altprotestantischen Orthodoxie von der Verbalinspiration, die in manchen Formen eines neuzeitlichen Biblizismus fortlebt.36 Jedenfalls spiegelt diese Legende die Tatsache wider, dass die Septuaginta im Bereich des ägyptischen Judentums entstand, schon in hellenistischer Zeit weltweit verbreitet war und in der jüdischen Diaspora eine große Autorität besaß. Durch die Septuaginta wurden sowohl die jüdische Gruppenidentität als auch der Prozess der kulturellen Anpassung an die hellenistische Zivilisation unterstützt, wie dem Aristeasbrief entnommen werden kann.37 In Wirklichkeit entstand die Übersetzung historisch zwischen dem 3. und 1. Jh. v. Chr., und zwar überwiegend in Ägypten in Alexandrien, teilweise aber auch in Palästina oder unter Einflüssen aus Judäa. Die Legende beschränkte sich bei Aristeas ausschließlich auf die Übersetzung des Pentateuchs als des jüdischen Gesetzes, von den Propheten ist dort nicht die Rede. Tatsächlich folgten erst allmählich auch die Übersetzungen der Geschichtsbücher, der Propheten und der Hagiographen in einem Prozess, der sich über 300 Jahre hinzog und zahlreiche Übersetzer aus sehr verschiedenen Zeiten erforderte (Pentateuch 3. Jh., Propheten und Psalmen 2. Jh., die übrigen Bücher bis ins 1. Jh. n. Chr., zuletzt Hoheslied und Prediger [Qohelet oder Ecclesiastes]).38 In ihrer Heterogenität ist die Septuaginta deshalb bei weitem nicht mit der Geschlossenheit der Vulgata des Hieronymus (ca. 347–419) zu vergleichen (§ 4.2.5.2). Während dieses Zeitraums wurden auch verschiedene handschriftliche Fassungen vereinheitlicht. Zudem wurden einzelne Schriften der Septuaginta nicht als Übersetzung angefertigt, sondern bereits auf Griechisch abgefasst (SapSal; 2– 4Makk). Einige Forscher gehen davon aus, dass manche Teile der Septuaginta im ägyptischen Leontopolis entstanden, wo der Hohepriester Onias IV. um 160 v. Chr. in der Zeit des Makkabäeraufstands einen Ersatztempel bauen ließ. Andere vermuten sogar die Entstehung einer Konkurrenzübersetzung ins Griechische.39 Ein solches Konkurrenzunternehmen kann jedoch nicht
Votum zu 2Tim 3,16, in: R. Deines / K.-W. Niebuhr (Hg.), Philo und das Neue Testament (WUNT 172), Tübingen 2004, 205–222. 36 Die Behauptung einer Inspiration der hebräischen Vokalzeichen ist schon deshalb problematisch, weil deren Entwicklung historisch erst ab dem 7. Jh. n. Chr. einzusetzen beginnt. Zur hermeneutischen Reflexion des Schriftprinzips vgl. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens I, Tübingen 1979, 24–42. 37 Vgl. R. Feldmeier, Weise hinter „eisernen Mauern“. Tora und jüdisches Selbstverständnis zwischen Ak kulturation und Absonderung im Aristeasbrief, in: M. Hengel / A. M. Schwemer, Septuaginta, 20–37. 38 Vgl. F. Siegert, Einführung I (s. Anm. 31), 34–43 mit Übersichtstafel (42). 39 Vgl. A. J. F. Klijn, The Letter of Aristeas and the Greek Translation of the Pentateuch in Egypt, NTS 11 (1964–65), 154–158.
2.1 Die jüdische Tradition
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nachgewiesen werden. Da es sich in Leontopolis um einen Ersatz für den Jerusalemer Tempel handelte, war dort sehr wahrscheinlich der hebräische Text in Gebrauch.40
b) Die Rezeption der Septuaginta: Einige Septuaginta-Rollen wurden in Qumran (s. Anm. 17) gefunden. Sie zeigen, dass diese Übersetzung auch von den Essenern geschätzt wurde. Die Septuaginta wurde auch zur Bibel der ersten Christen. Darum benutzten die neutestamentlichen Autoren meist die griechische Version und wurden von deren Vokabular beeinflusst. Sie verstanden die Schrift als prophetisches Buch, dessen Verheißungen in Christus erfüllt sind (s. Anm. 21). So ist es bezeichnend, dass im Neuen Testament vor allem Zitate aus dem Psalter und dem Jesajabuch herangezogen werden – statt aus dem Pentateuch, wie es für Philo als Juden typisch ist. Allein die von den ersten Christen gebrauchte Septuaginta ermöglichte es der Kirche, trotz ihrer Kritik an Beschneidung, Opferkult usw. am Alten Testament festzuhalten. Andererseits beeinträchtigte die christliche Rezeption das Ansehen dieser Übersetzung bei den Juden. Nachdem die Christen gegen Ende des 1. Jh.s die Synagogen hatten verlassen müssen (s. Anm. 20), geriet die Septuaginta unter Juden als kompromittierte Textfassung in Verruf und wurde im 2. Jh. durch wörtlichere Übersetzungen ersetzt (Theodotion, Aquila, Symmachus). So ist die Septuaginta im Judentum nie kanonisiert worden, sondern nur die hebräische Bibel (ohne die deuterokanonischen Schriften bzw. Apokryphen; s. Anm. 41ff.). Außerdem verwendete das frührabbinische Judentum (§ 2.1.2) die Rollenform, die Christen die Buchform (Kodex; § 4.1). c) Der Umfang der Septuaginta: In ihr sind auch einige Bücher enthalten, die gegen Ende des 1. Jh.s n. Chr. vom Judentum nicht in die hebräische Bibel aufgenommen wurden.41 Es handelt sich dabei um das Buch Judith, das Buch Tobit (Tobias), die vier Makkabäerbücher,42 die griechischen Ergänzungen zum Buch Esther und das sog. erste (in der Vulgata das dritte) Buch Esra, das einen Auszug aus mehreren hebräischen Texten des Alten Testaments bietet. Diese Schriften sind narrative Texte. Weiter enthält die Septuaginta Zusätze zum Buch Daniel, von denen drei narrativen Charakter haben (die Geschichten von Susanna, von Bel und vom Drachen zu Babel), während das Gebet Asarjas und der Gesang der drei Männer im Feuerofen im Stil der Psalmen abgefasst sind. Zu den Liedern und Gebeten gehören der 151. Psalm und einige Hymnen des Neuen Testaments (Magnificat, Benedictus, Nunc dimittis aus Lk 1,46–55.68–79; 2,29–32), die in 40
Vgl. G. Dorival, La Bible Grecque, 78 f. Vgl. zu den einzelnen Schriften jeweils die kurzen Einführungen in der Stuttgarter Erklärungsbibel oder auch der Neuen Jerusalemer Bibel und detaillierter E. Schürer, History III,1 (s. Anm. 1). 42 4Makk fehlt in einigen bedeutenden Handschriften (Vaticanus) der Septuaginta und in der Vulgata. 41
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2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
manchen Handschriften der Septuaginta unter den Oden aufgeführt werden, die an den Psalter angehängt sind. Sie unterstreichen, dass die Septuaginta – auch als Sammlung jüdischer Schriften – ein christliches Buch ist. Teil dieser Sammlung ist das Gebet Manasses, das eine Rekonstruktion der in 2Chr 33,18 erwähnten Gebete darstellt. Die Weisheit Salomos (Sapientia Salomonis), die die theologische Gestaltung der synoptischen Passionsgeschichte beeinflusst haben kann,43 und Jesus Sirach (ben Sira, Siracides, Ecclesiasticus) sind Weisheitsbücher. Zu ihnen gehört auch das Buch Baruch (mit dem Brief Jeremias), das in seiner Grundaussage ein Lob der Weisheit ist. Bei allen diesen Schriften handelt es sich um Bücher, die man in einer griechischen Fassung in die Septuaginta aufgenommen hat. Doch ist ein Teil von ihnen zunächst in hebräischer (1Esr, 1Makk, Sir, Jdt) oder aramäischer (Teile von Tob oder 2Makk) Sprache verfasst worden. Die ursprünglich hebräischen Psalmen Salomos (1. Jh. v. Chr.) sind zwar in der Handausgabe von Alfred Rahlfs abgedruckt, finden sich aber bis zum 10. Jh. nicht in den Handschriften der Septuaginta und gehören auch nicht zum Kanon (der Codex Alexandrinus [A = 02; 5. Jh.] erwähnt sie im Inhaltsverzeichnis erst nach dem Neuen Testament und den Clemensbriefen). PsSal 17 und 18 sind nicht nur für die frühjüdische Messiaserwartung, sondern auch für die Christologie von größter Bedeutung (§ 5.6.1.1).
d) Die christliche Verwendung: Auf die christliche Kirche übten mehrere dieser Schriften der Septuaginta, die nicht in der hebräischen Bibel enthalten sind, als Apokryphen Einfluss aus. Als Bezeichnung für die deuterokanonischen Schriften44 (Spätschriften der Septuaginta) geht der Terminus „Apokryphen“ auf Hieronymus (ca. 347–419) zurück.45 Die Zitate aus der Septuaginta sind in den neutestamentlichen Schriften selten ganz wörtlich, wenn wir sie mit den heutigen kritischen Rekonstruktionen des Urtexts der Septuaginta vergleichen. Dies hängt nicht nur mit der in neutestamentlicher Zeit auffälligen Uneinheitlichkeit der Texttradition zusammen, sondern auch mit den noch nicht so peniblen Zitierkonventionen, dem Anführen aus dem Gedächtnis und dem Einfluss verschiedener Kommentatoren. So heißt es z. B. in Eph 4,8: „Er stieg hinauf zur Höhe, er führte Gefangene mit, er gab den Menschen Gaben.“46 In der Septuaginta steht dieser Satz in Ps 67,19 (Ps 68,19 der hebr. Bibel), wo eine abweichende Lesart vorliegt: „Du hast vom Menschen47 Gaben empfangen“ (nicht: ihnen gegeben). Diese „paulinische“ Lesart ist in der alten armenischen und syrischen Übersetzung der Psalmen belegt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Textfassung dieser Übersetzungen schon in neutestamentlicher Zeit bekannt war und wahrscheinlich auf Mose bezogen wurde, dem Gott die Zehn Gebote als Gabe (für die Menschen) geschenkt hat, wie es in der 43
Vgl. Mk 15,32 mit SapSal 2,12–20; 5,1–5. Diese Bezeichnung ist erstmals bei Sixtus von Siena (1520–1569) belegt. 45 Prologus in libro regum, Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem, ed. R. Weber u. a., Stuttgart 41994, 365. 46 Übersetzung P. P. 47 Codex Sinaiticus im Plural: „unter den Menschen“ oder „für die Menschen“. 44
2.1 Die jüdische Tradition
49
später fixierten Tradition belegt ist (Aboth Rab. Nathan 2 [Targ. Ps. 68,19]). Die mündliche Tradition kann also einige Texte deutend überliefert haben. Es muss sich nicht um eine andere Fassung handeln, die von der Septuaginta als ganzer zu unterscheiden ist.
e) Fazit: Im Blick auf die Septuaginta bleibt festzuhalten, dass diese – nicht der hebräische Kanon, der Tanakh (§ 2.1.1) – von Anfang an die Bibel der frühchristlichen Kirche war:48 Aus der Septuaginta übernahmen die Autoren der neutestamentlichen Schriften erstens ihren religiösen Wortschatz des Glaubens und der Hoffnung. Dies gilt schon für die Bezeichnung des erwarteten Heilands als „Messias“ = „Christós“ (Gesalbter), die auf Jesus übertragen wurde (§ 5.6.1.1). Ähnlich verhält es sich bei dem spezifischen Wort für die Liebe: „agápē“ bzw. „agapán“. Im klassischen Griechisch ist diese Wortfamilie selten und literarisch kaum belegt, doch in der Septuaginta wird sie zur Übersetzung der hebräischen Wurzel „’hb“ herangezogen und bezeichnet nun u. a. die Liebe Gottes zu seinem Volk (z. B. Hos 11,1).49 Vor allem war es jedoch zweitens der Charakter der Koinḗ, d. h. der „gemeinsamen“ Sprache der hellenistischen Welt, die eine im strengen Sinn nicht-literarische Sprache war und die von den neutestamentlichen Autoren übernommen wurde (§ 6.2.5). Der entscheidende Grund für die Wahl dieser Sprachebene war vermutlich die gewünschte Verständlichkeit für die Hörer und Leser, die überwiegend einfacheren Bevölkerungsschichten zuzurechnen sind. Drittens fanden in der Septuaginta die christlichen Autoren der neutestamentlichen Bücher, besonders der Evangelien und der Apostelgeschichte, auch die Grundmodelle für die schriftliche Bearbeitung der narrativen Stoffe und Hymnen. 2.1.5
Der alttestamentliche Kanon und das Problem der Biblischen Theologie
In den Synagogen setzte sich am Anfang des 2. Jh.s v. Chr. der hebräische Kanon durch (§ 2.1.4b), der die – nach unserer Zählung – 39 Bücher der jüdischen Bibel (des christlichen Alten Testaments) enthält. Von größerer Bedeutung war die Diskussion, die gegen Ende des 1. Jh.s n. Chr. in der rabbinischen Schule in Jabne (Jamnia, unweit von Jaffa) stattfand und vor allem zwei kleine Schriften betraf: Prediger (Qohelet oder Ecclesiastes) und Hoheslied. Bei der dort verhandelten Streitfrage, ob diese Texte die Hände verunreinigen, wurde implizit vorausgesetzt, dass die beiden
48 Bis heute wirkt die Septuaginta in der Liturgie nach z. B. im „Kyrie eleison“ (Herr, erbarme dich) oder in den Bibelübersetzungen bei der Umschreibung des Gottesnamens durch „kýrios“ = „HERR“ (§ 5.6.1.3). Zur Rezeption im Christentum vgl. Anm. 28 und F. Siegert, Einführung II (s. Anm. 31), 351–358. 49 Weiteres zum Problem s. bei N. Turner, Christian Words, Edinburgh, o. J. (vor 1982).
50
2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
Schriften als heilige Bücher eine spezifische Behandlung erfordern.50 Diese Diskussion besagt nicht, dass dort der Kanon der jüdischen Bibel definiert wurde.51 Eine Art Kanonisierung spiegelt sich eher im Prozess der Ablehnung der Septuaginta in den griechisch sprechenden Synagogen wider, in denen sie im Lauf des 2. Jh.s durch wörtlichere Übersetzungen verdrängt wurde (Aquila, Theodotion, Symmachos; § 2.1.4b). Damit blieb die jüdische Bibel im nachneutestamentlichen Judentum auf den Tanakh ohne die deuterokanonischen Schriften der Apokryphen (s. Anm. 41 ff.) beschränkt. Zur Zeit des Neuen Testaments erkannten die Juden nur „das Gesetz und die (früheren und späteren) Propheten“ als eine de facto kanonische Sammlung an, zu der gelegentlich noch die Psalmen gerechnet wurden (Lk 24,44; s. Anm. 10). Erst später setzte sich die ganze Gruppe der „Schriften“ (hebr. ketûbîm) als dritter Teil des Kanons durch (s. Anm. 10). Für das Neue Testament ist die Entwicklung des jüdischen Kanons in dreifacher Hinsicht bedeutsam: Von besonderem Interesse ist erstens die Tatsache, dass neben der Tora auch die Sammlung der prophetischen Bücher im Judentum der neutestamentlichen Zeit schon abgeschlossen war. Selbst wenn einige Texte erst später in die Sammlung der Schrift aufgenommen wurden (die Klagelieder Jeremias, Daniel), handelt es sich dabei um Bücher, die sich in der literarischen Darstellung in derselben Zeit bewegten wie die schon kanonisierten (liturgisch gelesenen) Bücher anderer angeblich prophetischer Autoren (Jesaja, Jeremia usw.). Die durch pharisäische Vorstellungen beeinflussten Rabbinen prägten die Idee, dass die Periode der direkten Wirkung des prophetischen Geistes in Israel nach dem Exil mit Esra, Nehemia, Haggai, Sacharja und Maleachi abgeschlossen war (bSanh 11a) – eine Idee, die schon in den späteren Psalmen angelegt ist.52 Die neue prophetische Gabe wurde erst für die eschatologische Zukunft erwartet (Joel 3,1–5).53 An die Stelle des Geistes trat die deutende Tradition der Rabbinen (Tannaiten), die auch als „Himmelsstimme“ (hebr. bat-qôl) bezeichnet wurde (§ 2.1.2). Um eine kontinuierliche Fortsetzung der Schrift handelt es sich bei der Mischna also nicht.
50
Vgl. G. Stemberger, Jabne und der Kanon, 163–174 (Lit. § 2.1.3). Auch im Neuen Testament sind die Grenzen des Kanons noch unscharf, wie die Zitate in Jud 9.14 f. aus der Assumptio Mosis und 1. Henoch 1,9 zeigen, die bei der Rezeption des Judasbriefs in 2Petr 2,11.17 f. nicht mehr als Autoritäten angeführt werden (§ 8.7.2); vgl. auch das Zitat in 1Kor 2,9 aus der Apokalypse des Elia sowie die Zitate unbekannter Herkunft in Lk 11,49; Joh 7,38; 1Kor 9,10; Jak 4,5. 52 Ps 74,9; vgl. 1Makk 9,27. 53 Vgl. 1Makk 4,46; 14,41; auf Joel 3,1–5 beruft sich die Pfingstpredigt des Petrus in Apg 2,17–21 (§ 6.4.5.2a). 51
2.1 Die jüdische Tradition
51
Nur einige jüdische Randgruppen wie die Täufersekten einschließlich der Anhänger Johannes des Täufers (§ 5.6.2.2a) oder die Essener in Qumran (s. Anm. 17) nahmen an, dass der Geist Gottes unter ihnen weiter – oder schon wieder – wirkt.54 Ihre Repräsentanten zählten sich zu den Propheten, wie es u. a. in Lk 16,16 Q zum Ausdruck kommt: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis Johannes.“ Doch nahmen die Schriften dieser Propheten weder in der jüdischen Öffentlichkeit noch in ihren eigenen Kreisen eine mit den alten „Propheten“ vergleichbare Position ein. Die Qumranleute benutzten z. B. einen Kommentar zu Habakuk (1QpHab), der für sie bedeutend war. Die Autorität dieses Kommentars leiteten aber auch sie vom Buch Habakuk selber ab, da die Zitate durch „’āmar“ („es heißt“) eingeführt werden. Solche Kommentare sind ein indirektes Zeugnis, dass die essenischen Geistträger im Vergleich zu den kanonischen „späteren Propheten“ nur eine nachgeordnete Autorität besaßen. Zweitens rezipierten in neutestamentlicher Zeit die Christen „das Gesetz und die Propheten“ (s. Anm. 7), und zwar – unter dem Vorzeichen endzeitlicher Erfüllung – als „Schrift“ (s. Anm. 5).55 Da das Urchristentum die Schriften von Anfang als endzeitlich-messianische Verheißungen verstand, die in Christus erfüllt sind (s. Anm. 21), konnte vor allem Lukas (§ 6.4.5.2a) unter den „Propheten“ die ganze Schrift subsumieren.56 Doch gewannen einige Teile der Tradition Jesu (z. B. aus der Logienquelle der Grundgehalt der Bergpredigt in Mt 5–7) schon bald nach Ostern eine ähnliche Autorität wie das Gesetz. Diese Entwicklung legt den Schluss nahe, dass die jüdische „Schrift“ indirekt auch die Bildung des christlichen Kanons beeinflusste (§ 3). Schließlich hat die Entstehung des jüdischen Kanons drittens Konsequenzen für die „Biblische Theologie“.57 Begriff und Sache sind umstritten. Während Johann Philipp Gabler (1787) den Terminus zur Unterscheidung der historischen Bibelwissenschaft von der dogmatischen Theologie benutzte (§ 1.1b), geht es heute um die Frage nach der Einheit der zweigeteilten christlichen Bibel (§ 1.1c). Der Ausdruck ist historisch berechtigt, da die Christen die jüdische Bibel als Teil ihrer eigenen Vergangenheit rezipierten (§ 2.1.3–4). Die Rede von der „Biblischen Theologie“ impliziert vor allem, dass die christliche Kanonisierung der jüdischen Schrift einen bedeutenden Teil der jüdischen Tradition in ein neues Ganzes eingefügt hat. Diese Einbeziehung bestimmt von Anfang an das Verständnis des Neuen Testaments und 54
Z. B. 1QH XIV,13 ff.; Mk 6,14 f. u. a. Matthäus verwendet ausschließlich den Plural (graphaí), Johannes mit einer Ausnahme (Joh 5,39) den Singular (graphḗ), Lukas und Paulus haben beide Formen. Nur Paulus spricht in Röm 1,2 von „heiligen Schriften“ (ohne Artikel), in denen Gott sein Evangelium zuvor durch die Propheten angekündigt hat (graphaí hagíai; vgl. 2Tim 3,15: hierá grámmata). 56 Vgl. Lk 1,70; 13,28; 24,25 (vgl. V.27); Apg 3,18–24; 10,43; 13,27; 26,27 (vgl. V.22); Röm 1,2 (§ 5.11.4b Petit); Hebr 1,1 (§ 8.5.3b). 57 Zur Einführung in die vielschichtige Thematik s. B. Janowski, Art. Biblische Theologie, RGG4 1, 1544–1549. 55
52
2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
hat die christliche Auffassung des Alten Testaments mitgeprägt. Die Kanonisierung war keine willkürliche Entscheidung. Sie machte aber deutlich, dass die jüdische Bibel dem Verständnis der christlichen Tradition und Literatur besser als andere (auch andere jüdische) Traditionen diente.58 Mit der hermeneutischen Frage nach dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament bzw. der Einheit der Schrift steht die Biblische Theologie schon am Übergang zur systematischen Theologie. Deshalb kann sie auch als eigenständiger Forschungsbereich begriffen werden.
2.2
Die hellenistische Kultur
Klaus Berger, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, in: ANRW II,25,2, Berlin 1984, 1031–1432. 1831–1885; Detlev Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte, Darmstadt 1993; Johann Gustav Droysen, Geschichte des Hellenismus I–III, Tübingen 1962 (Nachdr. der 2. Aufl.); Ithamar Gruenwald, Jewish Apocalyptic Literature, in: ANRW II,19,1, Berlin 1979, 89–118; Martin Hengel, Judentum und Hellenismus (WUNT 10), Tübingen 1969, 31988; ders., Juden, Griechen und Barbaren (SBS 76), Stuttgart 1976; Helmut Köster, Einführung in das Neue Testament (GLB), Berlin / New York 1980; Johann M. Schmidt, Die jüdische Apokalyptik, Neukirchen 1968; Georg Strecker / Johann Maier, Neues Testament – Antikes Judentum (UTB), Stuttgart 1989; William W. Tarn, Hellenistic Civilisation, London 31959; Martin Hengel / Christoph Markschies, Das Problem der Hellenisierung Judäas im 1. Jahrhundert nach Christus, in: ders., Judaica et Hellenistica. KS I (WUNT 141), Tübingen 1996, 1–90; Hans-Josef Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums I– II, Stuttgart u. a. 1995–1996 (gut lesbares Studienbuch); Kurt Erlemann u. a. (Hg.), Neues Testament und antike Kultur (NTAK), Neukirchen-Vluyn 2004ff. (auf fünf Bände angelegt).
2.2.1 Jüdische Apokalyptik und hellenistische Kultur a) Die Juden und die griechische Sprache: Alle Autoren der neutestamentlichen Schriften waren Juden oder mit den Juden sympathisierende Gottesfürchtige. Dennoch sprachen und schrieben sie alle in griechischer Sprache. Vermutungen, dass einige Bücher des Neuen Testaments oder zumindest manche Teile ursprünglich in aramäischer Sprache verfasst wurden, hielten der kritischen Prüfung nicht stand (§ 6.1.2). Die Semitismen der griechischen Sprache, die uns im Neuen Testament begegnen, verdanken sich nicht nur der aramäischen Tradition und sind auch nicht 58 Vgl. H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments I (Lit. § 1), § 1. Das Konzept einer Biblischen Theologie wird programmatisch vertreten von P. Stuhlmacher, Theologie (Lit. § 1), aber abgelehnt von G. Strecker, Theologie (Lit. § 1), 4 ff. Zum „Alten Testament“ als „Bibel des Urchristentums“ vgl. F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 37–142. Zur Diskussion dieser Entwürfe s.o. § 1.1c.
2.2 Die hellenistische Kultur
53
ausschließlich mit dem Einfluss der Septuaginta zu erklären. Vielleicht sind sie primär ein Zeichen der semitischen Färbung der ganzen griechischen Sprache des östlichen Mittelmeerraums, auch dort, wo sie von Heiden gesprochen wurde.59 Nur manche mündlich überlieferte Einheiten sind aus dem Aramäischen ins Griechische übertragen. Direkt übersetzt wurden vor allem einige kurze Formeln z. B. in der Botschaft von der Auferstehung Jesu, in deren Zusammenhang im Griechischen sowohl „egeírein“ (auferwecken)60 als auch „anistánai“ (auferstehen)61 vorkommt. Es handelt sich wahrscheinlich um zwei mögliche Übersetzungen der hebräischen und aramäischen Wurzel „qwm“, da bei der Tochter des Jairus in Mk 5,41f. das griechisch transskribierte Wort „koum“ („steh’ auf!“) durch die entsprechenden Formen sowohl von „egeírein“ als auch von „anistánai“ wieder aufgenommen wird. Mit dem Hinweis auf die Verbreitung der Semitismen behaupten wir nicht, dass es keine christlich-aramäischen Texte gegeben hätte. Aber die Autoren der neutestamentlichen Schriften trafen die Semitismen, soweit wir es beurteilen können, schon in griechischer Übersetzung an. Dies gilt bereits für die Logienquelle (§ 6.1.5). b) Die Juden in der hellenistischen Gesellschaft: Die gläubigen Juden waren innerhalb der hellenistischen Gesellschaft eine Minderheit. Sie unterschieden sich von der hellenistischen Umgebung hinsichtlich der religiösen und ethischen Lebensorientierung,62 aber beide Gruppen lebten innerhalb derselben Territorien, desselben Reichs und derselben hellenistisch-römischen Zivilisation nebeneinander. Es gab Spannungen, die sich manchmal zu Konflikten ausweiteten, aber im allgemeinen gehörte die jüdische Minderheit zur Gesellschaft. Von ihrer Umgebung wurden die Juden weitgehend akzeptiert mit Privilegien wie dem Versammlungsrecht für eigene Gottesdienste oder einer Lebenspraxis gemäß ihren religiösen Vorschriften (z. B. Speiseund Sabbatgebote). Die jüdische Bevölkerung bildete eine Subkultur mit alternativen Strukturen. Dazu gehörten die unabhängige Selbstverwaltung der Synagogengemeinden mit eigenen Leitungsgremien und Amtsträgern (Älteste, Synagogenvorsteher), die Erlaubnis, eigene Steuern für den Jerusalemer Tempel einzutreiben, eine eigene Gerichtsbarkeit, die Befreiung vom Militärdienst sowie die Beachtung der Sabbatruhe z. B. bei Gerichtsterminen oder der Ausgabe von Getreiderationen.63
59 Vgl. M. Reiser, Syntax und Stil des Markusevangeliums (WUNT II/11), Tübingen 1984, 164 ff.; M. Reiser, Sprache (Lit. § 2.1.4), 3–14.29–49. 60 1Kor 15,4.12; Mk 16,6. 61 Vgl. 1Thess 4,14 (intransitiv) oder Apg 2,24 (transitiv, Gott als Subjekt). 62 Vgl. z. B. die vom hellenistischen Judentum übernommenen Lasterkataloge in Mk 7,21 f. par.; Lk 18,11; Röm 1,29–31; 1Kor 5,10 f.; 6,9 f.; Gal 5,19–21; Kol 3,5–8; Eph 5,3–5 u. ö. (§ 5.11.1; 5.12.5e; 8.2.4). 63 Vgl. zur rechtlichen Stellung E. Schürer, History III/1, 87–137, bes. 91 f.118–121.124 f.; M. Pucci Ben Zeev, Jewish Rights in the Roman World (TSAJ 74), Tübingen 1998.
54
2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
Umgekehrt verstanden sich die Juden nicht als Kontra-Kultur, die die politische Macht hätte ergreifen wollen.64 c) Judentum und Hellenismus: Die früher übliche Unterscheidung zwischen dem hellenistischen und dem jüdischen Hintergrund des Urchristentums ist nur in sehr begrenztem Maße hilfreich. Nach Ferdinand Christian Baur (1792–1860), dem führenden Kopf der „Jüngeren Tübinger Schule“ (§ 1.1b), gab es zwischen Judentum und Hellenismus gerade im sozialen Bereich einen Streit um die Tora, der sich auch unter den Christen der ersten Generation zwischen Petrus und Paulus als Protagonisten der judenchristlich bzw. heidenchristlich geprägten Gruppe widerspiegelte.65 Das aus 2Makk 4,13 entlehnte Wort „Hellenismus“66 dient hier nicht nur als Epochenbezeichnung, sondern zugleich als Ausdruck für eine ganze Kultur und Lebenseinstellung, die vor allem durch die griechische Sprache,67 aber auch umfassender durch die Bildung, (Popular-)Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Religiosität der hellenistischen Zivilisation geprägt war. Seit Alexander dem Großen (356–323 v. Chr.) und seinen Nachfolgestaaten (Diadochen: Seleukiden und Ptolemäer) hatte sich die hellenistische Kultur im ganzen östlichen Mittelmeerraum ausgebreitet. Die Entstehung des Christentums interpretierte Baur als Ergebnis dieses Streits zwischen Judentum und Hellenismus um die Bedeutung des Gesetzes im täglichen Leben. In Wirklichkeit gingen die Grenzen quer durch das Judentum, betraf der hellenistische Einfluss nicht nur die jüdische Diaspora, sondern auch das palästinische Mutterland, wie selbst die korinthischen und ionischen Säulen im Neubau des Jerusalemer Tempels durch Herodes den Großen (37–4 v. Chr.), die Theaterbauten (§ 2.2.5), Hippodrome und Bäder im ganzen Land verraten.68 d) Die Apokalyptik: Das Neue, das das Christentum darstellt, lässt sich auf diese Weise nicht erklären. Eher ist zu fragen, in welcher Weise die im hellenistischen Milieu entstandenen jüdischen Traditionen (§ 2.1.4b.e) von Anfang an zur Formulierung der christlichen Bekenntnisse beigetragen haben. Die Christen sprachen nach Ostern über ihre neue Erfahrung mit Jesus vorwiegend mit Hilfe der jüdischen Er64
Zur soziologischen Klassifizierung s. D. Arnold (Hg.), Subcultures, Berkeley 1970, und V. Robbins, The Tapestry of Early Christian Discourse, London / New York 1996, Kap. 5. 65 Vgl. F. C. Baur, Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde (1831), Auswahl bei W. G. Kümmel, Das Neue Testament (Lit. § 1.1), 158–161. 66 Als Bezeichnung für die Zeit von Alexander d.Gr. (356–323 v. Chr.) bis Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.) geht der Begriff zurück auf Johann Gustav Droysen (1808–1884), Geschichte des Hellenismus, 1836–1842. 67 Vgl. hellēnízein = die griechische Sprache einwandfrei beherrschen. 68 Vgl. wegweisend M. Hengel, Judentum und Hellenismus (WUNT 10), Tübingen 31988, 191 ff.; ders. / Ch. Markschies, Das Problem der Hellenisierung Judäas im 1. Jahrhundert nach Christus, in: ders., Judaica et Hellenistica. KS I (WUNT 141), Tübingen 1996, 1–90.
2.2 Die hellenistische Kultur
55
wartung des Umbruchs der Äonen, d. h. des Endes dieser gegenwärtigen Zeit und der Ankunft des neuen Weltalters (griech. aiṓn méllōn; hebr. ‘ôlām habba’). Die erwartete Wende ist durch Gottes Gericht und die nachfolgende Auferstehung (Auferweckung) der Toten bestimmt (§ 5.10.3). In manchen apokalyptischen Schriften des Frühjudentums taucht auch die Gestalt des „Messias“ (§ 5.6.1.1) auf, die gelegentlich mit dem „Menschensohn“ identisch oder verwandt ist (§ 6.2.7.2). Belege für eine solche messianische Figur finden sich im äthiopischen Henoch (1Hen) und 4. Esra, aber auch in einigen Qumrantexten und PsSal 17 f. Die endzeitlichen Bilder der Apokalyptik ermöglichten durch ihren kosmisch-mythischen Rahmen, die individuelle persönliche Hoffnung des Menschen und die universale Perspektive der Geschichte („dieses Äons“) von einem (endzeitlichen) Fluchtpunkt her als ein Ganzes zu erfassen (§ 5.10.3). Schon allein deshalb wurden die apokalyptischen Bilder in geistiggeistlicher Hinsicht zu einem einflussreichen Phänomen. Vorstufen finden sich in der Prophetie Israels (vor allem Jes 24 – 27; Dan) und in der jüdischen Tradition, die in einigen Schriften der alttestamentlichen Pseudepigraphie69 schriftlich fixiert wurde (vgl. Exkurs 8: Die Apokalyptik). Erst zu Beginn des hellenistischen Zeitalters wurden solche Erwartungen zu einer geistig prägenden Strömung (1–2Henoch, 2–3Baruch, 4Esra, ApkAbr), deren Elemente auch von den Pharisäern (§ 6.3.4.1) und den Essenern in Qumran (s. Anm. 17) übernommen wurden. Doch bevor wir uns mit der Bedeutung der apokalyptischen Erwartungen im entstehenden Christentum befassen, sollen auch die anderen Merkmale der Apokalyptik erwähnt werden, wie sie uns besonders in der Johannesapokalypse (§ 7.2) begegnen. Es sind vor allem kosmische Spekulationen über die Zeichen der Endzeit, die einerseits mit Symbolen und Visionen der Jenseitshoffnung auf eine heilvoll erneuerte Welt blicken, andererseits Katastrophen wie Krieg, Hunger, Pest, Hagel, Feuer, Wasser, Erdbeben und Sonnenfinsternis schildern (vgl. § 5.10.3; Exkurs 8). Viele dieser Vorstellungen sind auch in den Mysterienreligionen, im hellenistischen Volksglauben (Grabinschriften), im populären Platonismus und im (Neu-)Pythagoreismus zu finden und hängen mit dem geistigen Klima des Späthellenismus zusammen.70 69
Vgl. als maßgebliche deutsche Textausgabe: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit (JSHRZ), hg. v. W. G. Kümmel / H. Lichtenberger, 5 Bde., Gütersloh 1973 ff., aber auch: Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, hg. v. P. Rießler, Augsburg 1928 (Nachdrucke; veraltete, nicht mehr zitierfähige einbändige Handausgabe); The Old Testament Pseudepigrapha (OTP), ed. J. H. Charlesworth, 2 Bde., New York 1984–1985 (mit historischtheologischer Einführung zu jeder Schrift), und zu den Einleitungsfragen E. Schürer, History III,1 (s. Anm. 1); J. J. Collins, The Apocalyptic Imagination. An Introduction to Jewish Apocalyptic Literature, Grand Rapids, MI 21998, sowie umfassend A.-M. Denis, Introduction à la littérature religieuse judéo-hellénistique, Turnhout 2000. 70 Vgl. M. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion (HAW V/2.1–2), München 1941–1951; 31967–1976, und jetzt die empfehlenswerte Gesamtdarstellung von H.-J. Klauck, Umwelt I–II (Lit. § 2.2).
56
2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
2.2.2
Urchristentum und Hellenismus
a) Hellenistische Einflüsse: Ebenso wie im Frühjudentum haben wir auch bei den ersten Christen mit dem Einfluss der hellenistischen Kultur zu rechnen, die großenteils durch das Judentum vermittelt wurde. Diese hellenistische Beeinflussung kann weder durch den Hinweis auf die Existenz der radikalen jüdischen Bewegungen, z. B. der Zeloten (s. Anm. 17), noch auf die Wirkung der apokalyptischen Literatur (§ 2.2.1d) in Frage gestellt werden. Vielmehr stehen alle diese Bewegungen im Zusammenhang mit der Renaissance der einheimischen Religionen und Kulturen in Ägypten, Phönizien, Babylonien und auch im Judentum seit dem 2. Jh. v. Chr. Hellenistisch war diese Tendenz in mehrfachem Sinne: Erstens entsprach sie der hellenistischen Neigung, im Osten eine durch die Zivilisation noch nicht verdorbene Religion zu suchen. Zweitens wurden mehrere bekannte Werke dieser Art in griechischer Sprache verfasst, wie sie Alexander Polyhistor (80–40 v. Chr.) in seiner Schrift „Über die Juden“ aus Exzerpten nicht-jüdischer Autoren zusammengestellt hat. Schließlich tauchen drittens auch in jüdischen Texten griechische Motive auf, beispielsweise die Idee Hesiods vom Verfall der Geschichte, die Auffassung des Mysteriums (Geheimnis) aus den Mysterienkulten und der mythologisch narrative Rahmen der Sibyllinischen Orakel. In der hellenistisch-jüdischen Literatur begegnen wir sogar Legenden über die Verwandtschaft zwischen Mose und Orpheus71 und über die gemeinsame Abstammung der Juden und der Spartaner (1Makk 12,6–23 u. a.). b) Apokalyptische Einflüsse: Mehrere alte christliche Glaubensaussagen knüpfen an apokalyptische Vorstellungen an. Ernst Käsemann hob hervor, dass „die Apokalyptik ... die Mutter aller christlichen Theologie gewesen“ sei.72 Damit behauptete Käsemann nicht, dass die Apokalyptik die Mutter des Glaubens sei, sondern nur, dass mit ihr das Nachdenken über den Glauben begann. Er meinte nicht, dass alle christliche Theologie apokalyptisch sei. Aber er machte deutlich, dass wir das urchristliche Denken ohne Kenntnis der Apokalyptik nicht begreifen können. Dieser apokalyptische Einfluss zeigt sich in der Verbindung Jesu mit dem Menschensohn (§ 6.2.7.2), z. T. auch in seiner Identifizierung mit dem Messias (§ 5.6.1.4) und vor allem in der Verkündigung seiner Auferweckung durch Gott (§ 5.6.2.1). Das Christentum transformierte die apokalyptische Auferstehungserwartung, um die umfassende Bedeutung der nachösterlichen Präsenz Jesu auszudrücken: In seiner Auferstehung ist diese Hoffnung schon zur Wirklichkeit geworden, allerdings nur in der Person Jesu. Dieser ist der Repräsentant des neuen Äons in unserer geschicht71
Artapanus (Frgm.3) nach Euseb, Praeparatio evangelica 9,27,4. E. Käsemann, Die Anfänge christlicher Theologie (1960), in: ders., Exegetische Versuche II (Lit. § 5.6.2.3), 82–104, hier 100. 72
2.2 Die hellenistische Kultur
57
lichen Zeit und seine Auferweckung offenbart den universalen Horizont seiner persönlichen Geschichte. Die Auferstehungsverkündigung ist deswegen zur Achse der späteren christlichen theologischen und dogmatischen Entwicklung geworden, weil sie die vorgegebene Tradition weitgehend modifizierte und die Ostererfahrung besonders gut zum Ausdruck brachte. Der apokalyptische Hintergrund ist klar zu erkennen: Bei Paulus wird die Auferstehung Jesu mit dem Jüngsten Gericht verbunden (1Thess 1,10) und als Vorwegnahme der allgemeinen Auferstehung gedeutet (1Thess 4,13–18; § 5.10.2). Diese ursprüngliche Konnotation ist noch in der Apostelgeschichte bezeugt, z. B. in der Areopagrede (Apg 17,31). Die enthusiastischen Äußerungen der urchristlichen Frömmigkeit, die vor allem in Korinth aufbrachen (§ 5.12.4), unterstützen diese Auffassung vom hohen Stellenwert der Auferstehung. Das hellenistische Milieu ermöglichte es schon bald, die Auferstehung als Erhöhung und Rehabilitierung Jesu durch Gott zu begreifen, wie sie besonders in den lukanischen Schriften oft dargestellt wird (§ 6.4.5.3c). c) Die jüdische Vermittlung hellenistischer Einflüsse: Der jüdische Hintergrund des entstehenden Christentums und der sich formierenden Kirche kann vom hellenistischen Milieu nicht getrennt werden: Jesus muss mit beiden Sprachen vertraut gewesen sein, Andreas und Philippus sind Jünger, von denen nur ein griechischer Name bekannt ist, schon in Palästina gab es im Kreis um Stephanus ein hellenistisches Christentum (Apg 6 f.), alle erhaltenen Schriften des Urchristentums wurden griechisch verfasst und die christliche Theologie entfaltete sich mit Hilfe der griechischen Sprache. Andererseits hielten die ersten Christen ihre Verkündigung samt der Botschaft Jesu für die Vollendung des jüdischen Erbes und bereicherten ihre Theologie durch das Studium der jüdischen Bibel. Die Beschränkung auf die hebräische Textgestalt wurde seit Hieronymus (347–419) und in der Reformation programmatisch verfochten (§ 3.5). Doch hat weltweit nur derjenige Teil der hebräischen Tradition fortgewirkt, der durch die Septuaginta ins Griechische übersetzt war. Zu diesem Erbe gehören vor allem der ethische Monotheismus und der opferlose Wortgottesdienst, wie er in den Synagogen mit Schriftlesung, Auslegung und Gebet gefeiert wurde. Wie jede Übertragung waren auch das griechische Evangelium und seine theologischen Entfaltungen mit einer gewissen Veränderung der griechischen Sprache und Kultur verbunden. Doch mussten die Innovationen im Rahmen des Verständlichen bleiben (§ 1.3.4). Die Septuaginta (§ 2.1.4) verkörpert die Brücke, die aus der jüdischen Welt in ihre hellenistische Umgebung führt, indem sie die ursprünglich hebräischen Aussagen innerhalb der Koordinaten der griechischen Kultur interpretiert. Z. B. lesen wir in Jes 43,21, dass das Volk Gottes den „Ruhm (tehillāh) Gottes verkünden“ soll. Es handelt sich um geschichtliche Ereignisse, in denen Israel die Offenbarung des Willens Gottes erkannt hat. In der Septuaginta wird hier über die „aretaí“ Gottes geredet. Dieses
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2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
Wort bezeichnet im Griechischen die Tugenden, aber auch die Intensität des Wirkens. In diesem Sinn wird Jes 43,21 vom Verfasser des 1. Petrusbriefs verstanden und als Ausdruck göttlicher „Wohltaten“ zitiert (1Petr 2,9). Daher kann das Studium der hebräischen Bibel nützlich sein, um für die Deutung des Neuen Testaments weitere Konnotationen des griechischen Texts zu entdecken. In einigen Fällen trägt es zur Erkenntnis der ursprünglichen Absicht der neutestamentlichen Autoren bei, z. B. beim „Bund“ (hebr. berît, griech. diathḗkē; § 2.1.3b) oder der „Herrlichkeit“ (griech. dóxa, hebr. kabod; § 5.13.3.1a). 2.2.3
Griechische Sammlungen von Sentenzen
Die eben beschriebenen Zusammenhänge deuten bereits an, dass die literarischen Gattungen der hellenistischen Zeit die Entstehung des Neuen Testaments beeinflusst haben. Wenn wir z. B. die Sammlung „Q“, die Logienquelle (§ 6.1.5), in den Zusammenhang der jüdischen Literatur stellen, gehört sie in die Gruppe der weisheitlichen (sapientialen) Literatur wie das Buch der Sprüche, der Prediger (Qohelet oder Ecclesiastes), Jesus Sirach (Ecclesiasticus) oder im nachbiblischen Judentum die Sprüche der Väter (hebr. Pirqê ̉Abôth). Da die Logienquelle in griechischer Sprache aufgeschrieben und den literarischen Bedürfnissen der christlichen Gemeinden angepasst wurde, müssen wir sie auch im Kontext der hellenistischen Literatur sehen, in der die Sprüche der Weisen tradiert, literarisch fixiert und zu Sammlungen gruppiert wurden. Da in der frühen christlichen Literatur auch das Thomasevangelium (NHC II,2; § 6.1.6.1) und andere Texte zu den Spruchsammlungen gehören (§ 6.2.6), haben wir mit einer kontinuierlichen Tradition der frühchristlichen Logiensammlungen zu rechnen. Gleichzeitig werden wir uns die Frage stellen müssen, warum ihnen in der Gestaltung des neutestamentlichen Kanons als eines Ganzen nur noch eine auffällig untergeordnete Bedeutung zugemessen wird (§ 6.1.5.4). Hellenistischer Tradition entsprach auch die Aufbewahrung und Erarbeitung der Sprüche in Gestalt von Chriën oder Sentenzen (griech. „gnṓmē“ = Erkenntnis, kurzer Sinnspruch). Eine Chrië (griech. „chreía“ = Anwendung, Gebrauch) ist ein Spruch, der in einer rhetorisch pointiert formulierten Anekdote von einer historischen Persönlichkeit mit lehrhafter Tendenz „gebraucht“ wird.73 Solche Chriën sollten das Erlernen der Sprüche erleichtern und den Wortlaut wirkungsvoll einrahmen, damit seine wirkliche oder mögliche Bedeutung noch besser erkennbar wird. Die Sprüche wurden so gestaltet, dass sie einen Überblick über die Lehre einer Person oder einer Schule bieten konnten. Das für die Formulierung der Chriën ty-
73 Das Abfassen solcher Chriën war eine Stilübung, die zur rhetorischen Ausbildung gehörte. Die klassisch gewordene Sammlung ist in Alexandrien von dem Dichter Machon im 3. Jh. v. Chr. zusammengestellt worden.
2.2 Die hellenistische Kultur
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pische Verfahren beeinflusste die redaktionelle Arbeit der Evangelisten und z. T. schon die Träger der von ihnen übernommenen Traditionen. Normalerweise wurde in der Chrië die sprechende bzw. handelnde Person (der literarische Held) kurz charakterisiert, damit deutlich wurde, wann und wo sie so sprach, wie es überliefert wurde. So lesen wir z. B. bei Markus: „Nachdem aber Johannes gefangengesetzt war, kam Jesus nach Galiläa und predigte das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nahe gekommen.74 Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,14 f.). Im Epheserbrief stoßen wir auf einen Satz, der direkt auf die Chriën bezogen werden kann: „Kein faules Wort komme aus eurem Mund hervor, vielmehr ein gutes, das zu einer ‚Chrië‘ gehört, welche erbaut“ (Eph 4,29, eine der möglichen Übersetzungen). Die Kunst der Chrië zu erlernen, war damals Bestandteil aller Ausbildungen. Und das Einüben in diese Kunst blieb bis ins 19. Jh. ein Teil der humanistischen Bildung. 2.2.4
Biographie und Geschichtsschreibung
Für die Deutung der Evangelien und der Apostelgeschichte sind vor allem die narrativen Formen des Alten Testaments von Bedeutung, deren hellenistisches Pendant die Geschichtsschreibung und die Biographie bilden. Der Einfluss der jüdischen Bibel wurde durch die Septuaginta (§ 2.1.4) vermittelt. Wie schon im Alten Testament die Offenbarungen Gottes bezeugt und mit ihren geschichtlichen Folgen beschrieben werden, stellen auch die Evangelien die Geschichte Jesu als göttliche Offenbarung dar. Diese Auswirkungen der Gottesbegegnung gehören zur Grunderfahrung Israels, an der später auch das hellenistische Judentum und die frühe Christenheit festhielten (§ 1.5.2). Da das christliche Zeugnis die Geschichte Jesu als die endgültige Offenbarung Gottes betrachtete, hat sich die Biographie als diejenige Gattung erwiesen, die für ihre literarische Bearbeitung am besten geeignet schien, da sie das Leben, die Tätigkeit und den Charakter eines einzelnen Menschen, z. B. eines Philosophen oder Dichters, als vorbildlich darstellt. Wie wir sehen werden, sind die Evangelien durch ihren Verkündigungsinhalt zu einer spezifischen Form der Biographie geworden, sodass man sogar von einer Untergattung „Evangelium“ sprechen kann (§ 6.2.6). Ohne Kenntnis der literarischen Form der Biographie können die Evangelien nicht sachgerecht gedeutet werden, z. B. in der Funktion der Vorgeschichten bei Matthäus und Lukas.75 Als eine Biographie, die für uns in diesem Zusammenhang bedeutend ist, 74
Die Lutherübersetzung (Rev. 1984) hat hier „... herbeigekommen“. Gelegentlich hat man auch die Biographien der modellhaften Personen, die den umfassenden Sinn der Geschichte, die Hoffnungen und ethischen Prinzipien verkörpern, Aretalogie genannt. Vgl. M. Hadas / M. Smith, Heroes and Gods. Spiritual Biographies in Antiquity, New 75
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2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
kann beispielsweise das Leben des Apollonius von Tyana (Ende 1. Jh.) genannt werden, eines neupythagoreischen Wundertäters, der ein asketisches Wanderleben führte, das von Philostratus Flavius (Anfang 3. Jh.) geschildert wurde und gerne im Blick auf die Wunder Jesu zum Vergleich herangezogen wird (Exkurs 6a).76 Ein weiteres wichtiges Beispiel einer Biographie ist das Leben des Mose (De vita Mosis), das der jüdische Religionsphilosoph Philo von Alexandrien (ca. 20/10 v. Chr. – 45 n. Chr.) beschrieben hat, um Mose für gebildete heidnische Leser als von Gott berufenen, höchsten Gesetzesgeber für alle Völker darzustellen. Auch die Prologe der lukanischen Schriften (Lk 1,1–4; Apg 1,1–3) haben ihre Analogien in der antiken Literatur (§ 6.1.2). 2.2.5
Dramatische Elemente im Neuen Testament
Wenig selbstverständlich scheint dagegen der Zusammenhang zwischen Neuem Testament und Theater zu sein, da sowohl die Juden als auch die Christen die dramatische Kunst mit tiefem Misstrauen betrachteten. Und doch können einige Einflüsse nicht geleugnet werden. Das Theater war ein beinahe allgegenwärtiger Bestandteil der hellenistischen und römischen Kultur. Das Theater gehört zu den bis heute gut erkennbaren architektonischen Resten der griechischen und römischen Städte und Siedlungen. In der Kaiserzeit hatte es eine ähnliche Bedeutung wie bei uns heute das Fernsehen. Dort erreichte die globale Kultur des Imperiums ihre Konsumenten. Präsentiert wurde die bunte Kultur einer relativ liberalen Gesellschaft, deren staatsideologischen Rahmen der Kaiserkult bildete. Dieser wurde mitunter formal, im 1. Jh. unter einigen Kaisern wie Caligula (37–41 n. Chr.), Nero (54–68) und Domitian (81–96) aber mit totalitärer Konsequenz verstanden und praktiziert (Exkurs 9). Aufgeführt wurden in den Theatern nicht nur die klassischen Tragödien und Komödien (manchmal in Auszügen), sondern auch neue, zumeist nicht erhaltene Spiele oder einzelne komische Szenen. Auch dramatische und musikalische Wettbewerbe wurden ausgerichtet und verschiedene andere Zusammenkünfte zu gesellschaftlichen Zwecken veranstaltet. Das Theater war die Kultur, die der Mehrheit der damaligen Gesellschaft zugänglich war, die nicht lesen konnte. In Apg 19,29 wird z. B. eine spontane Versammlung des Volks im Theater erwähnt, die gegen den Apostel Paulus gerichtet war. Es ist also davon auszugehen, dass die dramatischen Formen die ganze Kultur beeinflussten. Selbst Paulus benutzt die Theatermetaphorik in 1Kor 4,9 zur Charakterisierung seiner persönlichen Rolle: „Wir sind zum Schauspiel geworden für die York 21970, XIII ff. Sachlicher ist es allerdings, bei der exakter definierbaren Bezeichnung „Biographie“ zu bleiben. 76 Philostratus, Das Leben des Apollonios von Tyana, griech.-dt. hg. v. V. Mumprecht, München 1983.
2.2 Die hellenistische Kultur
61
Welt.“77 Das Markusevangelium ist als die älteste christliche Schrift ihrer Art beispielsweise durch das Auftreten eines Boten am Anfang (Johannes der Täufer) und am Ende (Jüngling am Grabe) gekennzeichnet. Beide charakterisieren den Protagonisten und heben seine Bedeutung hervor, wie es auch in den Dramen der Fall war. Überhaupt strebt die ganze Erzählung nach der Exposition und den ersten Konflikten (den sog. Peripetien) einem tragischen Ende entgegen. Der Wendepunkt erfolgt nach dem Bekenntnis des Petrus in Mk 8,31. Seitdem bewegt sich die Erzählung auf das Ende und ihren Gipfel zu: die Katastrophe des Helden, die durch den Eingriff einer höheren Macht umgedeutet und in eine große Verheißung verwandelt wird. Auch in den vormarkinischen Überlieferungseinheiten, besonders den Wundergeschichten, sind dramatische Elemente wie der kommentierende Chorschluss zu finden (z. B. Mk 1,27 par.; Exkurs 6). In den Evangelien sind noch weitere dramatische Mittel auszumachen, z. B. bei Markus die Anagnorisis (§ 6.2.7.3). Allerdings muss gesagt werden, dass die Evangelien keine Dramen sind.78 Sie enthalten nur in dem Maße dramatische Elemente, wie jene in der damaligen Kultur präsent waren. Das Evangelium unterscheidet sich von den Tragödien aufgrund seiner anti-fatalen Botschaft79 und ist auch literarisch anders gestaltet. Es handelt sich nicht um eine schöpferische Nachahmung (griech. mímēsis) eines in mythischer Vergangenheit liegenden Urbildes, wie es nach Aristoteles in der griechischen Tragödie der Fall war (po. 1450b), sondern um ein Zeugnis, das in der Gestalt Jesu eine einmalige Geschichte betraf, die zeitlich nicht weit zurück lag (§ 6.2.6; 6.2.6.1). 2.2.6
Rhetorik und Epistolographie
Auf einige Formen der griechischen Literatur wird erst bei den einzelnen Schriften des Neuen Testaments eingegangen.80 An dieser Stelle sind noch die Rhetorik und die Epistolographie zu erwähnen, da sie einige Berührungspunkte mit dem Neuen
77 In der Narrenrede in 2Kor 11,1–12,13 spielt Paulus nicht die Rolle des Komödianten, sondern polemisiert im Sinne jüdischer Weisheitsliteratur gegen die Torheit der Gegner, die sich gegen den Herrn vergehen (11,17 f.). 78 Mehrere Forscher haben versucht, eine dramatische Struktur des Markusevangeliums nachzuweisen. Die auffallend unterschiedlichen Ergebnisse ihrer Arbeit deuten die Strittigkeit eines solchen Verfahrens an. Wir erwähnen davon nur B. H. Standaert, L’Évangile selon Marc. Composition et genre littéraire, Zevenkerken – Brugge 1978 (Diss.) und F. G. Lang, Kompositionsanalyse des Markusevangeliums, ZThK 74 (1977), 1–24. 79 Von der Anti-Fatalität des Evangeliums spricht M. Balabán, Glaube oder Fatum (tschechisch mit deutscher Zusam menfassung), in: The State and Perspectives of Religious Studies in Czechoslovakia, Brno 1990, 17–23. 80 Vgl. die Briefform (§ 5.7), die Peristasen- bzw. Leidens- (§ 5.13), Laster- und Tugendkataloge (§ 5.11.1; 8.2.4) sowie die Haustafeln (Exkurs 11).
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2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
Testament haben. Die Rhetorik bildete in der demokratischen Kultur Griechenlands die Grundlage jeder Bildung. Sie wurde nicht nur in den Gymnasien der griechischen Städte unterrichtet und geübt, sondern auch von den wandernden Lehrern der Beredsamkeit breiteren Schichten der Bevölkerung nahe gebracht. In der hellenistischen und römischen Zeit hatte sie ihre Bedeutung in der Lokalpolitik der Polis (Stadt) und in der juristischen Praxis vor Gericht beibehalten (§ 5.7a). In Apg 24,1 ff. wird die Anklage gegen Paulus (literarisch) wiedergegeben, die der Rhetor Tertullus als der rechtliche Vertreter des Jerusalemer Hohepriesters vorträgt (V.2b-8). Eine vorbildliche Verteidigungsrede (Apologie) des Paulus folgt in V.10b-21. Grundprinzipien der griechischen Rhetorik fassten in der römischen Zeit Cicero und im 1. Jh. n. Chr. Quintilian (institutio oratoria)81 zusammen. 1975 unternahm Hans Dieter Betz mit Hilfe der Rhetorik den Versuch, den Galaterbrief konsequent als eine rhetorisch gegliederte Schrift zu erklären.82 Sein Versuch führte zu Diskussionen, ob und inwiefern Einsichten aus der Rhetorik auf die Epistolographie (§ 5.7) übertragbar sind (§ 5.11.2). Strittig ist insbesondere, inwieweit das Ganze des Briefs durch eine bewusste rhetorische Strategie bestimmt ist und welche rhetorischen Gattungen überwiegen. Allgemein ist allerdings anerkannt, dass noch heute und um so mehr damals die literarischen Äußerungen durch rhetorische Formen beeinflusst sind und waren. Die literarische Analyse, die die Linguistik im umfassenden Sinn berücksichtigt, wird seit dem Ende der 60-er Jahre des 20. Jh.s auch als „rhetorische Kritik“ bezeichnet.83
81
Quintilian, Ausbildung des Redners. 12 Bücher. Lateinisch und deutsch, hg. v. H. Rahn, Darmstadt 1988. 82 Vgl. H.-D. Betz, The Literary Composition and Function of Paul’s Letter to the Galatians, NTS 21 (1975), 353–379. 83 Als Fachausdruck durch J. Muilembourg geprägt; s. R. Meynet, L’analyse rhétorique, Paris 1989, 15.
3 Das Neue Testament als Kanon
Frühchristliche Texte: Erwin Preuschen (Hg.), Analecta 8/II, Tübingen 1910; Übersetzung: W. Schneemelcher, NTApo I (Lit. § 12c), 1–40. Literatur: Theodor Zahn, Geschichte des neutestamentlichen Kanons I–II, Erlangen, 1888–1889, 1890–1892; Adolf von Harnack, Die Entstehung des Neuen Testaments und die wichtigsten Folgen der neuen Schöpfung, Leipzig 1914; Edgar J. Goodspeed, The Formation of the New Testament, Chicago 1937; Wilhelm Schneemelcher, NTApo I, 1–40; Ernst Käsemann (Hg.), Das Neue Testament als Kanon, Göttingen 1970; Hans von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel, Tübingen 1968; Peter Stuhlmacher (Hg.), Das Evangelium und die Evangelien (WUNT 28), Tübingen 1983; Martin Hengel, Die Evangelienüberschriften (SHAW.PH 1984/3), Heidelberg 1984; Roger Beckwith, The Old Testament Canon in the New Testament Church, London 1985; Earl E. Ellis, The Old Testament in Early Christianity (WUNT 54), Tübingen 1991; Geoffrey M. Hahneman, The Muratorian Fragment and the Development of the Canon, Oxford 1992; Bruce M. Metzger, Der Kanon des Neuen Testaments, Düsseldorf 1993; Lee M. MacDonald, The Formation of the Christian Biblical Canon, Peabody, MA 1995; Graham N. Stanton, The Fourfold Gospel, NTS 43 (1997), 317–346; Detlev Dormeyer, Die Bibel: Entstehung und Zusammenstellung eines Textcorpus, in: L. J. Engels / H. Hofman (Hg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft IV, Wiesbaden 1997, 89–119; Julio Trebolle Barrera, The Jewish Bible and the Christian Bible. An Introduction to the History of the Bible, Leiden 1998; Theo K. Heckel, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (WUNT 120), Tübingen 1999; Martin Hengel, The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ, Harrisburg, PA / London 2000; Stephen C. Carlson, Clement of Alexandria on the Order of the Gospels, NTS 47 (2001), 118–125; Hermann von Lips, Der neutestamentliche Kanon, Zürich 2004.
3.1
Das Problem
Der Kanon ist eine Sammlung von Schriften, die ein differenziertes Ganzes mit verschiedenen theologischen Akzenten darstellt. Die Zusammenstellung ist keineswegs selbstverständlich. Sie hat sich in einem komplexen Prozess herauskristallisiert und in der Kirche ohne äußere Gewalt durchgesetzt. Das Problem der Auswahl der hier besprochenen urchristlichen Texte ist das Problem des christlichen Kanons.1 1
Vgl. immer noch als Klassiker Th. Zahn, Geschichte des neutestamentlichen Kanons (1888–1892), und A. v. Harnack, Die Entstehung des Neuen Testaments (1914); vgl. weiter zu den unterschiedlichen Fragestellungen H. v. Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel (1968); B. M. Metzger, Der Kanon des Neuen Testaments (1993); J. Trebolle Barrera, The Jewish Bible and the Christian Bible. An Introduction to the History of the Bible (1998); Th. K. Heckel, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (1999); M. Hen-
64
3 Das Neue Testament als Kanon
Die Begrenzung dieser Einleitung auf die kanonisierten Schriften scheint einseitig und traditionell zu sein. Die Vermeidung solcher Einseitigkeit führte in ähnlichen Lehrbüchern zur Ausweitung des besprochenen literarischen Bereichs auf die gesamte urchristliche Literatur. Schon seit mehr als drei Jahrzehnten ist diese Tendenz sichtbar.2 Das bedeutendste Phänomen, das mit einem entscheidenden Teil der urchristlichen Literatur verbunden ist, bleibt dabei aber unberücksichtigt, nämlich die Kanonisierung. Denn dass diese Schriften zum Kanon wurden, ist die wichtigste Dimension ihrer Wirkung und einer der Hauptgründe für das heutige Interesse an jenen Texten. Wer den Prozess der Kanonbildung nicht bedenkt, verspielt zugleich die hermeneutische Chance, die Bedeutung der urchristlichen Texte vor dem Hintergrund ihrer Kanonizität zu bestimmen. Es ist also berechtigt, die Schriften des Neuen Testaments als ein Ganzes zu untersuchen. Die Kanonisierung darf allerdings nicht als Garantie für die theologische Kongruenz der kanonisierten Schriften verstanden werden. Was die neutestamentlichen Bücher verbindet, ist die Konzentrierung auf Jesus als die Schlüsselgestalt menschlicher Hoffnung und auf die Argumente aus der jüdischen Bibel, die als prophetische Hinweise auf seine fundamentale Bedeutung aufgefasst wurden (§ 2.1.3). Beide Momente erschließen sich erst und allein durch das Christuszeugnis des Neuen Testaments. Die Gemeinsamkeiten – d. h. die theologischen Gründe, die zur Kanonisierung geführt haben – können nur durch eine systematische Metareflexion entdeckt werden. Betrachten wir die einzelnen Schriften des Neuen Testaments, so müssen wir mit einer Pluralität der Theologien rechnen, zumal die Kanonisierung erst nach der Abfassung der Texte einsetzte. Als ein späterer Vorgang kann und darf die Kanonisierung die Auslegung der neutestamentlichen Texte also nur indirekt beeinflussen. Da diese Schriften zunächst als Aussagen für ihre konkrete Zeit und Umwelt zu verstehen sind, kann als Norm ihrer Deutung nur der Text dieser Schriften selber gelten.3 Bei der Untersuchung der kanonisierten Schriften ist methodisch Vorsicht geboten. Da die Untersuchung kritisch sein muss, werden selbstverständlich auch außerkanonische Texte wie z. B. die nachneutestamentliche Sammlung der Apostolischen Väter, das Thomasevangelium (§ 6.1.6.1) oder die bedeutenden alten Textvarianten (§ 4.3.3) mitberücksichtigt. Dabei werden wir im Rahmen unserer Einleitung, z. B. bei der Pistisformel in 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.5d) oder bei Markus (§ 6.2.6.1d), auf einige Schnittpunkte der urchristlichen mündlichen und literarischen Tradition aufgel, The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ (2000), zur Forschungsgeschichte Th. K. Heckel, Neuere Arbeiten zum Neutestamentlichen Kanon I–II, ThR 68 (2003), 286– 313.441–459, sowie zur Einführung P. Stuhlmacher, Theologie 2 (Lit. § 1), 287–349. 2 Vgl. Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975, 3 ff.; K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums (Lit. § 1); W. Schmithals, Theologiegeschichte des Urchristentums, Stuttgart u. a. 1994. 3 G. Sellin, Zwischen Deskription und Reduktion. Aporien und Möglichkeiten einer Theologie des Neuen Testaments, EvTh 64 (2004), 172–186, hier 175 f.
3.2 Die theologischen Voraussetzungen des christlichen Kanons
65
merksam machen, die als Voraussetzungen für die spätere Kanonbildung von Bedeutung waren.
3.2 Die theologischen Voraussetzungen des christlichen Kanons Die Entstehung des christlichen Kanons war keine natürliche Fortsetzung des Prozesses der Kanongestaltung der jüdischen Bibel (§ 2.1.3). Die ersten Christen rechneten nicht mit einer zweiteiligen Bibel, denn die Osterverkündigung war mit apokalyptischen Vorstellungen verbunden, die die Erwartung des nahe bevorstehenden Weltendes mit der Wiederkunft Christi einschloss (sog. Naherwartung; § 5.6.2.1; 5.10.3). Als die Parusie jedoch immer länger ausblieb, kam es zu Erschütterungen, die zwar nicht die innere Identität des Glaubens zerstörten. Aber sie hatten zur Folge, dass die zweite und die späteren christlichen Generationen der vorkonstantinischen Zeit sich nicht mehr auf die jüdische Bibel beschränken konnten, sondern neue Wege suchen mussten: a) Christus und die Schrift: In der ersten Generation nach dem Tod Jesu war die Norm der Verkündigung und das Rückgrat ihrer von den Lehrern gepflegten Tradition der Herr (kýrios), d. h. Jesus Christus mit seiner ganzen Geschichte, besonders als der wiederauferstandene und erhöhte Erlöser. Auch die Worte Jesu wurden primär als Logien des lebendigen, auferstandenen Herrn tradiert (1Thess 4,13 ff.), denen die apostolischen Lehrer, auch Paulus, ihre eigenen Aussagen unterordneten (1Kor 7,10.12.25). Ebenso bildeten die Worte Jesu beim letzten Mahl in 1Kor 11,23 ff. als Weisung des Kyrios, d. h. des erhöhten Herrn, den Maßstab für die Kritik an der Feier des Herrnmahls in Korinth (§ 5.6.2.3a). Wo von der Schrift (§ 2.1.1) die Rede ist, handelt es sich um die jüdische Bibel, d. h. um das Alte Testament der christlichen Bibel. Der Herr und die Schrift waren die beiden autoritativen Quellen, die im christlichen Gottesdienst des 1. Jh.s eine konstituierende Funktion übernahmen.4 Durch Zitate aus der Schrift, d. h. der jüdischen Bibel (§ 2.1.1–5; 5.5.1), legitimierte sich die christliche Verkündigung als Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen (bes. 1Kor 15,3.4: katá tás graphás = nach den Schriften; § 5.6.2.1). Die Berührungen zwischen der Geschichte Jesu und der Schrift waren zunächst entweder allgemeiner Art oder wurden in rabbinischer Weise durch stichwortartige Parallelen begründet, wie wir sie auch bei Paulus finden (z. B. bei der Nachkommenschaft Abrahams in Gal 3,16). Derselbe Paulus stellte jedoch den Schriftbeweis (§ 5.11.4b) auf eine theologische Basis, indem er das Zeugnis der Schrift als prophetische Verheißung interpretierte, auf Christus bezog und als Argument für ein Konzept des Volkes Gottes anführte, das aus der Gnade Gottes und 4
So auch 1Kor 9,9.13 f.; vgl. 1Tim 5,18.
66
3 Das Neue Testament als Kanon
nicht kraft eigener Qualitäten lebt (vgl. bes. Röm 9 – 11).5 Doch bei aller Verwendung der Schrift blieb die theologisch entscheidende Autorität stets Christus als der auferstandene und lebendige Herr. Als die Kirche – noch zur Zeit der ersten Generation – heidnischen Boden betrat, veränderte der Ausdruck „nach den Schriften“ (katá tás graphás; 1Kor 15,3 f.) seine Funktion. Während die Schrift bisher im jüdischen Milieu herangezogen wurde, um die Autorität des verkündigten Jesus zu legitimieren, verhalf jetzt umgekehrt das Christuszeugnis zur Anerkennung der jüdischen Bibel bei den Heidenchristen. Die Schrift wurde als indirektes Zeugnis aufgefasst, in dem Jesus Christus in Verheißung und Erwartung verhüllt war (2Tim 3,15 ff.). b) Evangelien und Briefe: Die Entstehung des christlichen Kanons wurde durch das Vorlesen der apostolischen Briefe in den gottesdienstlichen Versammlungen (§ 5.3) sowie durch die schriftliche Gestaltung der Überlieferung der Worte und Taten Jesu in den Evangelien vorbereitet (§ 6.2.4).6 Die schriftliche Fixierung erfolgte bereits zur Zeit der zweiten Generation, d. h. im letzten Drittel des 1. Jh.s. So führte der Verfasser des Markusevangeliums die Sprüche Jesu, die ursprünglich als aktuelle Aussagen des auferstandenen, lebendigen Herrn tradiert wurden, wieder in den Rahmen seines irdischen Lebens zurück (§ 6.2.6). Sie wurden dadurch zu Worten Jesu Christi, die er während seines irdischen Lebens gesagt hatte. Aus Texten, die anfänglich als unmittelbare Äußerung des göttlichen Willens durch Christus verstanden worden waren, wurden Texte, die im Gottesdienst vorgelesen und von frühchristlichen Lehrern oder Propheten in die Gegenwart übersetzt, kommentiert und appliziert wurden. Noch längst vor der Entstehung des Kanons wurden diese Schriftstücke zu einer literarischen Norm der lebendigen Verkündigung und Ermahnung (Paränese). Zugleich inspirierten sie, da sie in einer veränderten Situation als Texte selber wieder der Aktualisierung und Auslegung bedurften, die Produktion neuer Metatexte (Deutung, Predigt), wie wir es z. B. bei der Brotrede in Joh 6 als Interpretation der Speisung der Fünftausend beobachten können. Die Briefe des Neuen Testaments erlangten als apostolische Schreiben eine ähnliche Stellung, weil ihre Autoren als frühe Zeugen für die dritte und die weiteren christlichen Generationen eine Autorität besaßen, die der Autorität Jesu nahekam.7 Schon in den ersten christlichen Texten außerhalb des Neuen Testaments wurden die Apostel gleich nach Gott, dem Vater, und Jesus Christus genannt (1Clem 42,1; IgnMagn 13,1). Das Sammeln dieser Überlieferungen gehört allerdings nur zu den Voraussetzungen, die erst mehr als eine Generation später in der Mitte des 2. Jh.s zur Entste5 6 7
Vgl. J. B. Souček, Israel und die Kirche (Lit. § 2.1.3), 171–182. Vgl. Ch. Markschies, Zwischen den Welten wandern, Frankfurt / M. 1997, 100–110. Vgl. Lk 10,16: „Wer euch hört, der hört mich“; Apg 1,21 f.; 2Petr 3,2.
3.2 Die theologischen Voraussetzungen des christlichen Kanons
67
hung der Idee des christlichen Kanons führten. Bis weit ins 2. Jh. hinein blieb die mündliche Überlieferung über Jesus Christus die entscheidende Autorität in der Kirche. Es gab zu jener Zeit noch immer die Möglichkeit, dass die christliche Verkündigung und Lehre weiterhin einfach als Deutung der Schrift (des Alten Testaments) innerhalb der christlichen Gemeinden dargeboten wurde (z. B. im Barnabasbrief). Die schon erwähnten Voraussetzungen prädestinierten die Entwicklung, an deren Ende die Entstehung des Kanons stand, noch nicht. c) Rezeptionsmöglichkeiten von jüdischer Bibel und christlicher Überlieferung: Denkbar wären auch andere Entscheidungen gewesen. Eine reale Möglichkeit der Gestaltung des christlichen liturgischen Lesens hätte erstens in der Ersetzung der jüdischen Bibel (§ 2.1.1) durch eine Sammlung christlicher Texte bestanden. Dieser Versuch wurde in der Mitte des 2. Jh.s von Markion (ca. 85–160; § 3.3b) unternommen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Eine andere Möglichkeit wäre zweitens die direkte Einordnung des christlichen Zeugnisses und der christlichen Texte in die jüdische Bibel gewesen – die Evangelien in die früheren Propheten (die historischen Bücher der christlichen Bibel, d. h. Josua – 2. Könige; § 2.1.1), die Episteln in die späteren Propheten (die Prophetenbücher) oder in die Schriften (ketûbîm). Die christliche Bibel wäre dann eine erweiterte jüdische Schrift (graphḗ) geworden. Für beide Lösungen gab es im 1. Jh. Voraussetzungen. Beide hätte man als folgerichtige Entfaltungen älterer Ansätze betrachten können. Die Lösung Markions wurde von einem Teil der Kirche auch wirklich ausprobiert. Es hätte aber auch eine dritte Möglichkeit bestanden: die enthusiastische Ablehnung der älteren Jesusüberlieferung oder der Bekenntnisformeln als Norm, die für die Verkündigung und theologische Reflexion verbindlich war, und der Anspruch prophetischer Eingebung, der unmittelbar vom erhöhten Herrn abgeleitet worden wäre. Dieser enthusiastische Ansatz hätte eventuell mit dem Erhalt der jüdischen Bibel kombiniert werden können, zumal die Übergänge zwischen prophetisch inspirierter Rede und der lehrhaften Weitergabe traditioneller Jesusüberlieferungen in den Anfängen der Kirche noch recht fließend waren (Apg 13,1 f.; Did 11–13). Sammlungen von Schriftzitaten, die man als Verheißungen auf Jesus als den Messias bezog,8 hätten als Testimonien zur typischen literarischen Gattung des Christentums werden können. Eine solche Gattung ist in Qumran durch 4QTestimonium und 4QFlorilegium belegt. Diese Möglichkeit hätte eine weitere Alternative zu der historisch erfolgreichen Lösung der Großkirche dargestellt, aber sie konnte sich nicht durchsetzen. Nur einige Gruppen in den paulinischen Gemeinden haben diesen Weg gewählt. Elemente dieser judaistisch-enthusiastischen Lösung tauchten in charisma8
Vgl. etwa die Reflexionszitate im Matthäusevangelium (§ 6.3.3) oder die Florilegien zum Steinmotiv in Mt 21,42 parr.; Apg 4,11; Röm 9,33; Eph 2,20; 1Petr 2,4.6–8.
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3 Das Neue Testament als Kanon
tischen Gemeindegruppierungen (1Kor 12–14; § 5.12.1) und bei anderen enthusiastischen Personenkreisen auf (Phil 3,2 ff.; § 5.14.3). d) Die Eigenständigkeit des neutestamentlichen Kanons: Alle diese eben beschriebenen Möglichkeiten müssen zumindest erwähnt werden, um zu zeigen, dass die Entstehung des christlichen Kanons eine bedeutende Weichenstellung war. Die jüdische Bibel (§ 2.1.1) und die Sammlung der christlichen Schriften bilden in diesem Kanon zwei Einheiten. Das Neue Testament9 ist nicht einfach eine Fortführung der jüdischen Bibel (§ 3.2), sondern deren polares Gegenüber, weil es das Zeugnis von der Offenbarung eines neuen Bundes enthält, den Gott durch die Propheten verheißen (Jer 31,31–34) und in Christus geschlossen hat (§ 2.1.3). Der Prozess der Kanonisierung verlief auf mehreren Ebenen. Es handelt sich zwar nur um einen Teil der Dogmengeschichte, doch gipfelte die theologische Reflexion der christlichen Grundbekenntnisse in der Entstehung des Kanons. Denn Bekenntnisformulierungen wie 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.1) bieten eine knappe Zusammenfassung wesentlicher Glaubensaussagen, aber sie bleiben auf eine ausführlichere Schilderung angewiesen, wie es zum Tod Jesu gekommen war und wie die Jünger durch die Erscheinungen des Auferstandenen seine lebendige Gegenwart erfahren haben. Die größte Herausforderung war die Aufrechterhaltung der doppelten Eschatologie: Der Messias ist schon bekannt, das messianische Reich aber noch nicht da. Diese Aufspaltung stellte etwas Neues in der jüdischen Geschichte dar und brachte das Spezifische der Ostererfahrung, dass Jesus auferstanden ist und lebt, am besten zum Ausdruck (§ 5.10.3). Die zweifache Eschatologie verband mehrere Gruppen der Anhänger Jesu. Sie bereitete einerseits der ultraapokalyptischen Naherwartung ein Ende, die nicht fähig war, eine Vision für mehrere christliche Generationen zu entwerfen. Andererseits hatte sie die Aufhebung der vorbehaltlos präsentischen Eschatologie zur Folge, die selbstständig nur in einer enthusiastischen oder spiritualisierenden Gestalt weiterleben konnte. Der Kanon ist ein Produkt des Bewusstseins, dass wir in einer Zwischenzeit leben, die später als die Geschichte nach Christus definiert wurde. Kompromisslose Verfechter der Naherwartung hätten ihre Glaubensinhalte nicht in Büchern für spätere Generationen festgehalten. Und geistbegabte Enthusiasten hätten den schriftlich fixierten Text immer mit Misstrauen betrachtet. Die einzelnen Etappen der Entstehung des Kanons sind zwar zeitlich ineinander verschachtelt, geschahen idealtypisch jedoch in folgender Reihenfolge: 1. Die Entstehung des Textmaterials, d. h. der Schriften des Neuen Testaments, evtl. ihrer einzelnen Schichten, 2. die Entstehung der Idee des Neuen Testaments und 3. die Begren-
Griech. diathḗkē und hebr. berît – (Neuer, Alter) Bund – stammen als Bezeichnungen für die beiden Teile der christlichen Bibel aus dem 2. Jh. n. Chr. (§ 2.1.3). 9
3.3 Die Idee des christlichen Kanons
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zung des Kanons.10 Die erste Etappe wird in den späteren Kapiteln dieser Einleitung besprochen (§ 5–8). Auf die Voraussetzungen, die zur Entstehung des zweiteiligen Kanons führten, beziehen sich speziell die Ausführungen in § 5.6.2 (verwendete Traditionen in den Paulusbriefen); § 6.2.6 (Gattung und Theologie der Evangelien); § 8.7.3b (zur integrierenden Funktion des 2. Petrusbriefs) und Exkurs 10 (Das Problem der Pseudepigraphie). Doch soll an dieser Stelle noch auf die Idee des christlichen Kanons eingegangen werden.
3.3
Die Idee des christlichen Kanons
Das griechische Wort „kanṓn“ bedeutet wörtlich „Schilfrohrstange“. Im übertragenen Sinn meint es „Messlatte, Maßstab, Lineal, Richtschnur“ und auf einer höheren Stufe der Übertragung „Regel, Norm“ (Gal 6,16). Als Bezeichnung für die maßgebliche Sammlung der Schriften wird der Begriff in der Kirche erst seit dem 4. Jh. verwendet. a) Die Idee des neutestamentlichen Kanons: Hier lassen sich drei Elemente unterscheiden. Außer dem Vorhandensein der einzelnen Schriften des Neuen Testaments sind es erstens ihre Sammlung, die ähnlich wie beim Kanon der jüdischen Bibel durchgeführt wurde, d. h. als eine begrenzte Gruppe von Schriften, deren literarisches Rückgrat die narrativen Texte bilden. Zu beachten ist zweitens die relative Selbstständigkeit der christlich kanonisierten Schriften, die neben der jüdischen Bibel stehen. Am Ende steht drittens die Verbindung beider Sammlungen zu einer gemeinsamen Bibel, die Altes und Neues Testament umfasst. Die Idee des neutestamentlichen Kanons entstand spätestens in den sechziger Jahren des 2. Jh.s und fand überraschend schnell eine relativ feste Gestalt. Schon gegen Ende des 2. Jh.s begründete Irenäus von Lyon (um 180 n. Chr.), der bedeutendste Theologe des 2. Jh.s, mit theologischen und philosophisch-spekulativen Argumenten (haer. 3,11,8) die Grundgestalt des neutestamentlichen Kanons mit vier Evangelien. Gelegentlich sprach er auch vom Neuen Testament schon als der „Schrift“ (griech. graphḗ; lat. scriptura). Diese Vorstellung von der Zusammengehörigkeit aller christlichen Schriften muss eine überraschende Entwicklung gewesen sein, denn etwa dreißig Jahre zuvor war von der Idee des Kanons noch nichts zu hören. Die Apostolischen Väter, eine Zusammenstellung der ältesten christlichen Schriften außerhalb des Neuen Testaments, übernahmen zwar mit wenigen Ausnahmen (Didache; Hirt des Hermas) die Form der Epistel, die sich im paulinischen Korpus bewährt hatte (vor allem der 1. Clemens10
So J. B. Souček, Zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons (tschechisch), Studientext, Prag 1946, hier 7.
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3 Das Neue Testament als Kanon
brief und die Briefe des Ignatius). Aber ausdrückliche Hinweise auf eine mit der Schrift (der jüdischen Bibel) vergleichbare Sammlung christlicher Schriften finden wir bei ihnen nicht. Justin (Iustinus Martyr, † 165 in Rom) spricht nach 150, nachdem vom Evangelium bisher immer nur im Singular die Rede war (§ 6.2.6.1), als erster von den Evangelien in der Mehrzahl und zitiert einige von ihnen. Das Matthäusevangelium erwähnt er manchmal sogar wörtlich. Auch er schätzt den Stoff der Evangelien, aber noch nicht wegen ihrer kanonischen Autorität, sondern nur als „Erinnerungen der Apostel“ (griech. apomnēmoneúmata tṓn apostólōn).11 Besonderen Abstand hält er zu Paulus, vielleicht unter dem Einfluss von Markion (§ 3.3b), der die Theologie des Apostels zur Norm seiner häretischen Lehre gemacht hatte. Auch wenn er die Frage der künftigen Auferstehung der Christen oder die Beziehung zur irdischen Obrigkeit bespricht, beruft sich Justin nicht auf die bekannten paulinischen Texte. Es war schließlich die innere Autorität der Evangelien, die die Entstehung der Idee des Kanons förderte. Einzelne Evangelien wurden zur Abfassungszeit im 1. Jh. regelmäßig im Gottesdienst vorgelesen12 und begannen, im 2. Jh. als liturgische Schriftlesung neben die alttestamentlichen Schriften zu treten (Justin apol. I,67,3).13 Zu diesem Zweck wurden die neutestamentlichen Schriften von den Gemeinden abgeschrieben und über viele Gebiete verteilt. Ähnlich verhält es sich bei den Briefen. Schon in der letzten Dekade des 1. Jh.s zitiert der 1. Clemensbrief den 1. Korintherbrief des Paulus.14 Zwanzig Jahre später erinnert Ignatius die Christen in Ephesus an den Apostel Paulus, der an sie in allen seinen Briefen gedacht habe (IgnEph 12,2). In 2Petr 3,15 f. wird in den ersten Jahrzehnten des 2. Jh.s (§ 8.7.3b) schon die Existenz der paulinischen Briefe („alle“) als eines gesammelten Korpus vorausgesetzt. b) Markion: Adolf von Harnack (1851–1930) dachte, dass der christliche Kanon unter dem direkten Einfluss von Markion aus Sinope (ca. 85–160) entstanden sei, der im Jahr 144 aus Kleinasien nach Rom gekommen war. Markion begann – ähnlich wie die Gnostiker – den von Paulus geprägten Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium neu zu interpretieren, indem er Gott, den Schöpfer dieser Welt, als eine niedrige und eifersüchtige Gottheit beschrieb. Nachdem ihn die Kirche abgelehnt hatte, gründete Markion eigene christliche Gemeinden, für die er eine neue liturgische Schriftensammlung zusammenstellte. Sie umfasste das Lukasevangelium und zehn paulinische Briefe (ohne Past). Seine außerordentliche geistige Leistung bestand darin, in 11
Justin, dial. 101,3; 104,1 u. a. Dieser Terminus entstand vielleicht in Anlehnung an Xenophons († nach 355 v. Chr.) „Erinnerungen an Sokrates“. 12 Vgl. Mk 13,14; Justin apol. I,66,3; 67,4 (§ 6.2.3d). 13 Vgl. J. Salzmann, Lehren und Ermahnen (WUNT II/59), Tübingen 1994, 246–249. 14 Vgl. 1Clem 34,8 (vgl. 35,5; 37,5; 47,1–3; 49,5) mit 1Kor 2,9 (vgl. 1,10–13; 12,21 f.; 13,4– 7; Röm 1,29–32); vgl. auch Hebr 1,3 f. in 1Clem 36,2–5 (§ 8.5.4b.d).
3.3 Die Idee des christlichen Kanons
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der Zeit eines zunehmenden christlichen Moralismus (z. B. 2Clem 17,1–19,3)15 die paulinische Theologie neu entdeckt zu haben. Leider beseitigte er aus den von ihm kanonisierten Schriften die seiner Meinung nach unechten judaisierenden Passagen. So ließ er z. B. einen großen Teil der ersten vier Kapitel des Lukasevangeliums aus, weil in ihnen von der jüdischen Herkunft Jesu und von seiner Menschlichkeit die Rede ist. Genauso verfuhr er mit Lk 5,39: „Der alte (Wein) ist besser“ und Röm 1,16: „Das Evangelium ist die Kraft Gottes, die selig macht ... die Juden zuerst und ebenso die Griechen.“ Im Unterschied zu den Gnostikern, die das Alte Testament neu interpretierten, lehnte er die jüdische Bibel grundsätzlich ab. Trotz des guten Willens, das Anliegen des Apostels zu vertreten, interpretierte er seinen Meister ohne Rücksicht auf den Kontext der paulinischen Aussagen.16 Heute wird die Harnacksche These distanziert beurteilt. Denn der Prozess der Kanonbildung dürfte kaum durch Markion ausgelöst, wohl aber beschleunigt worden sein. Markion war in der Tat der erste, der zwei Teile des neutestamentlichen Kanons eindeutig definierte: die Evangelien, deren indirekter Verfasser Jesus selbst sein musste, und den apostolischen Teil, dessen Grundgehalt aus den paulinischen Briefen besteht. Doch hatte Markion damit nur ausdrücklich benannt, was sich als Prozess schon länger abgezeichnet hatte. Die zwei Größen „euaggélion“ und „apóstolos“ unterschied man schon früher (IgnMagn 13,1), wobei das „euaggélion“ eine höhere Autorität besaß. Ob der begüterte Markion der Sammler der Rollen oder Bücher (Kodizes) mit den Abschriften paulinischer Briefe war, von dem in 2Petr 3,15 f. die Rede ist, können wir nicht entscheiden. Jedenfalls setzte sich in der Mitte des 2. Jh.s der zweiteilige christliche Kanon durch, an dessen Anfang die vier Evangelien standen, die schon früher Bestandteil der gottesdienstlichen Lesung in verschiedenen Bereichen der Kirche waren (s. Anm. 12). Ihre Anerkennung wurde dadurch erschwert, dass die Handschriften damals zu teuer waren, um allen Gemeinden zugänglich zu sein.17 Umso bemerkenswerter ist der schnell errungene Sieg des christlichen zweiteiligen Kanons mit den Evangelien und den apostolischen Briefen und noch erstaunlicher seine rasche Emanzipation von der anders orientierten christlichen Literatur des 2. und 3. Jh.s. Aus dem lebendigen Christuszeugnis des ursprünglich mündlich verkündigten Evangeliums ist eine zweiteilige Schrift geworden. c) Integrative und selektive Tendenzen: Um die Idee des christlichen Kanons in ihrem Wesen zu begreifen, müssen wir sehen, dass die Tendenz zur Sammlung der 15 Vgl. K. P. Donfried, The Setting of Second Clement in Early Christianity (NT.S 38), Leiden 1974, 181. 16 Vgl. H. v. Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel, 193 ff. 17 Schon bald (von Anfang an?) benutzte die Kirche den Kodex als billigere Form des Buchs (§ 4.1).
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3 Das Neue Testament als Kanon
Schriften zwei Seiten hatte. Zum einen öffnete sie die theologisch allzu einseitigen liturgischen Konzepte der einzelnen Gemeinden und wirkte dadurch ökumenisch integrierend. Zunächst hatten die Evangelisten versucht, durch die Verarbeitung der mündlich oder schriftlich überlieferten Stoffe ihre älteren Vorlagen zu ersetzen, Matthäus und Lukas das Markusevangelium und die Logienquelle (§ 6.3.4; 6.4.1a), Johannes die synoptischen Evangelien (§ 7.1.3). Trotz dieser ursprünglichen Absicht der Verfasser vermochte jedoch keines der Evangelien die anderen zu verdrängen. Am Ende setzte sich der Vierevangelienkanon durch, in dem die vier ältesten Evangelien einfach nebeneinander gestellt wurden, ohne dass irgendein Ausgleich zwischen ihren Unterschieden versucht worden wäre.18 Die Entwicklung des Vierevangelienkanons richtete sich nicht nur gegen die Absicht der beiden längeren synoptischen Evangelien Matthäus und Lukas, ältere (Text-)Überlieferungen überflüssig zu machen, sondern bedeutete auch die Ablehnung des syrischen Diatessarons (griech. diá tessárōn = durch [die] vier [sc. Evangelien]). Bei dieser Schrift handelt es sich um eine Evangelienharmonie, die Tatian von Syrien (ca. 120–180), ein Schüler Justins, eine Generation später, etwa um 170 n. Chr., zusammenstellte, indem er den gesamten Evangelienstoff in den narrativen Rahmen des Johannesevangeliums als eine fortlaufende Erzählung einfügte. Durch das Streichen von Doppelüberlieferungen und Glätten von Widersprüchen wollte er die Einheitlichkeit der Darstellung der Jesusgeschichte garantieren und die vier Evangelien überflüssig machen. In Syrien setzte sich diese Art des Kanons für drei Jahrhunderte durch, bis sie im 5. Jh. zugunsten der vier Evangelien abgelehnt und durch die verbreitete Übersetzung, die Peschitta (§ 4.2.5.3a), verdrängt wurde. Weder Markions radikale Reduktion noch Tatians harmonisierende Synthese konnten sich also gegen die vierfache Evangelienüberlieferung durchsetzen. Damit kommen wir zur zweiten Seite dieser sammelnden Tendenz der Idee des Kanons, nämlich der restriktiven und selektiven: Es ging auch um die Ablehnung einiger Textsor ten und Texte, die zu liturgischer Anwendung konzipiert waren. Dieser Ausscheidungsprozess betrifft nicht nur die Gattung der Logiensammlungen (§ 6.1.5), die allein im narrativen Rahmen der kanonischen Evangelien ihren Weg in den Kanon gefunden haben. Ausgesondert wurden auch die Didache, eine frühchristliche Gemeindeordnung mit alten Überlieferungen (Ende 1. Jh.), und die Apokalypsen, von denen nach dem Bericht des Kanon Muratori (§ 3.3.1a)19 gegen Ende des 2. Jh.s in der römischen christlichen Gemeinde noch drei gelesen wurden: die Johannesapokalypse, die Petrusapokalypse und der Hirt des Hermas (auch im Kodex Sinaiticus enthalten; § 4.2.2). Dass man zuletzt nur eine Apokalypse, die Offenbarung des Johannes, kanonisierte, ist bezeichnend (Exkurs 8). Der Kanon sollte vor allem das Normative repräsentieren, das an die Zeit der Inkarnation, d. h. an das irdische 18 19
Vgl. Th. K. Heckel, Evangelium, bes. 207–218; M. Hengel, The Four Gospels, 34 ff. Deutsche Übersetzung bei W. Schneemelcher, NTApo6 I, 27–29.
3.3 Die Idee des christlichen Kanons
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Leben Jesu, gebunden ist. Obwohl die neuen Offenbarungen beanspruchten, durch den Geist inspiriert zu sein,20 wurden sie mit Misstrauen als Entwertung jener endgültigen Offenbarung in der Person Jesu betrachtet. Die Autorität des Geistes wurde nicht bestritten, die einflussreichen Gruppen banden ihn allerdings an den konziliaren Konsens, wie es sich schon beim Apostelkonvent in Apg 15,28 abzeichnet. Offenbarungen gegenüber Einzelpersonen konnten nur sehr schwer von Täuschung oder bewusstem Betrug unterschieden werden. Seine restriktive Funktion erhielt der Kanon schon in der Mitte des 2. Jh.s in der Zeit seiner Entstehung und Abgrenzung gegen Markion und dessen Kanon, gegen die Montanisten21 und deren Naherwartung sowie gegen die Gnostiker und deren Schriften.22 Die Gnostiker stellten die gefährlichste Alternative dar, weil sie die Inkarnation Gottes im irdischen Jesus in Frage stellten und seine für die Kanonisierung normative Bedeutung nicht anerkannten. Der neben Markion andere große Interpret des paulinischen Erbes war Valentinus, der als Lehrer etwa 140–160 n. Chr. ebenfalls in Rom wirkte und den Weg zur Gnosis bereitete, selber aber noch nicht ging.23 d) Der „apostolische“ Anspruch: Die theologische Begründung des Kanons geht prinzipiell von der Einmaligkeit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus aus (§ 1.4.3; 1.4.5). Dadurch ist die zeitliche Begrenzung der kanonisierten Texte gegeben. Es sind Schriften der Erstzeugen – der Apostel. Dieser Authentizitätsanspruch gilt sowohl für die Evangelien, deren Verfasser vor allem das Material der Jesustradition weitergaben, als auch für den zweiten Teil mit den Briefen, der deswegen „apóstolos“ genannt wurde. Doch bezeichnet der Begriff „apostolisch“ in diesem Kontext nicht nur das Urzeugnis in seiner zeitlichen Bedeutung, sondern zugleich das authentische Zeugnis im Sinn der apostolischen Lehre, die in diesen Schriften enthalten ist. Diese inhaltliche Komponente der Apostolizität geht auf die ältesten, in der apostolischen Zeit wurzelnden Bekenntnisse zurück, vor allem auf diejenigen, die den Glauben an die Auferstehung Jesu und die stellvertretende Bedeutung seines Todes artikulierten. Ein solches Bekenntnis hat bereits Paulus in 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.1) als eine alle Apostel verbindende gemeinsame Grundlage aus der Tradition übernommen und in die Pistis-Formel eingebunden (V.5–11). Die Formulierung des Ostergeschehens, bei dem sich die apokalyptische Erwartung einer allgemeinen Auferstehung der Toten in 20
Apk 1,1–3.11; 2,1; 22,18 f. u. a. Der Prophet Montanus und die Prophetinnen Maximilla und Prisca wirkten in den Jahren 160–170 n. Chr. in Phrygien in Kleinasien. 22 Vgl. H.-J. Klauck, Umwelt II (Lit. § 12), 145–198; Ch. Markschies, Die Gnosis, München 2001 (vgl. ders., Art. Gnosis II, RGG4 3, 1045–1053). 23 Vgl. Ch. Markschies, Valentinus Gnosticus? (WUNT 65), Tübingen 1992. 21
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3 Das Neue Testament als Kanon
der Gestalt Jesu in einem konkreten Menschen ereignet hatte, wurde als geeigneter Ausdruck der christlichen Glaubenserfahrung angesehen, der auch für andere Christen als tragfähig erachtet wurde. Das Bekenntnis zur Auferstehung Jesu erwies auch bezüglich anderer christologischer Entwürfe eine integrierende Kraft. Von den zwei Koordinaten – dem Alter und der „dogmatischen Korrektheit“ – war das Alter unter damaligen Bedingungen nur schwer bestimmbar. Bei Schriften, die der Bekenntnistradition der Großkirche entsprachen, wurde die Geschichte ihrer Entstehung nicht näher untersucht. Man begnügte sich mit den traditionellen Angaben über ihre zumindest indirekte apostolische Herkunft, nach der Markus als Dolmetscher des Petrus (§ 6.2.3a), Lukas als Begleiter des Paulus (§ 6.4.6b) galt. Dagegen wurden die dogmatisch strittigen Texte wie der Hebräerbrief (§ 8.5.5) und die Johannesoffenbarung (§ 7.2.7a) auch hinsichtlich ihrer Entstehungsgeschichte kritischer betrachtet. Damit kam die Zuordnung einer Schrift in die Zeit der Apostel bei der Kanonbildung faktisch der historischen Anerkennung ihrer dogmatischen Korrektheit gleich.24 Mit dem theologischen Problem der Christen, die das Element des Betrugs kennen, dass einige Verfasser ihre Schriften unter dem Namen eines Apostels veröffentlichten, werden wir uns später beschäftigen (Exkurs 10: Das Problem der Pseudepigraphie). e) Fazit: Aus dem Abstand von fast zweitausend Jahren müssen wir den christlichen Teil des Kanons als eine Sammlung der ältesten Texte begreifen, die der Glaubensnorm entsprachen und schon bald als integrierend erkannt wurden. Der Kanon ist vor allem das Ergebnis einer „zweiten“ Bewegung, die auf das Stadium des anfänglichen Enthusiasmus folgte. Der Prozess der Kanonbildung war eine Etappe der Rückbindung an die Person Jesu, die nicht mehr der Begründung des Glaubens, sondern eher seiner weiteren Orientierung in der Geschichte diente.
3.4
Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons
a) Der Grundbestand und die Ränder: 1740 entdeckte der Bibliothekar Ludovico A. Muratori in der Bibliothek des Ambrosius von Mailand (333–397) das Fragment eines lateinischen Manuskripts aus dem 8. Jh., das ein Verzeichnis der Bücher enthielt, die für die gottesdienstliche Lesung empfohlen werden. Der Kanon Muratori ist vermutlich in Rom entstanden und in griechischer Sprache verfasst. Sein Text wird in die Zeit um das Jahr 200 datiert.25 Der Kanon Muratori bestätigt die Exis24
Vgl. J. B. Souček, Zur Geschichte (s. Anm. 10), 6. Textausgabe: H. Lietzmann, Kleine Texte I, Berlin 21933 oder im Anhang von K. Aland (Hg.), Synopsis Quattuor Evangeliorum; Übersetzung W. Schneemelcher, NTApo6 I, 27–29. 25
3.4 Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons
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tenz einzelner Gruppen von Schriften, deren Autorität gegen Ende des 2. Jh.s anerkannt war und aus den christlichen Quellen belegt werden kann: Vier Evangelien (der Anfang des Kanons, in dem vermutlich vom Matthäus- und Markusevangelium die Rede war, ist nicht erhalten), Apostelgeschichte, Episteln und Offenbarungen. Die Episteln werden in folgender Reihenfolge angeführt: Die Briefe des Paulus an die sieben Gemeinden (1–2Kor – Eph – Phil – Kol – Gal – 1–2Thess – Röm), denen die sieben Sendschreiben in Apk 2 f. zur Seite gestellt werden, vier Briefe an Einzelpersonen (Phlm – Tit – 1–2Tim) und die katholischen Briefe (Jud – 1–2Joh), unter denen seltsamerweise die Weisheit Salomos eingereiht wird. Überraschend ist das Fehlen des 1. Petrusbriefs, verständlicher das Schweigen bezüglich der noch länger strittigen Briefe des Jakobus (§ 8.8.3) und an die Hebräer (§ 8.5.5). Von den Apokalypsen werden die Johannesoffenbarung und die Petrusapokalypse übernommen – letztere allerdings mit der Einschränkung, dass einige sie ablehnen. Bedeutend sind die restriktiven Aussagen: Die Briefe des Paulus nach Laodizea und nach Alexandrien werden als unecht bezeichnet und abgelehnt. Der Hirt des Hermas (eine Apokalypse) wird zur gottesdienstlichen Lektüre nicht empfohlen. Und ausdrücklich gewarnt wird vor den Schriften des Arsinous, Valentinus, Miltiades und Markion. Wenn wir diese Aufstellung des Kanon Muratori mit anderen Berichten der christlichen Schriftsteller an der Wende vom 2. zum 3. Jh. wie Irenäus, Tertullian, Clemens von Alexandrien und Hippolyt von Rom vergleichen, ergibt sich aus jener Zeit schon ein bemerkenswerter Konsens hinsichtlich der Gestalt des Kanons: vier Evangelien, mindestens zwölf paulinische Episteln, Apostelgeschichte, 1. Petrusbrief (nicht enthalten im Kanon Muratori), 1. Johannesbrief und die Johannesoffenbarung. Der Hebräerbrief blieb im Westen wegen seiner Äußerungen zur Unmöglichkeit der zweiten Buße bis fast zum Ende des 4. Jh.s außerhalb des Kanons (§ 8.5.5). Damit war der neutestamentliche Kanon zwar noch nicht fixiert, in seinem Grundbestand aber faktisch weitgehend anerkannt und nur in der unscharfen Abgrenzung an den Rändern noch offen. Es gibt noch weitere Verzeichnisse der kanonischen Schriften des Neuen Testaments, die aus dem 3. Jh. stammen und in den Handschriften des Neuen Testaments überliefert sind. So enthält z. B. der Codex Claromontanus (D) ein Kanonverzeichnis, das aus dem 3. Jh. stammt.26 Dort sind schon alle später kanonisierten Schriften außer dem Hebräerbrief aufgelistet. Darüber hinaus werden hier am Ende als Be-
Mitunter wird eine Spätdatierung angenommen, die jedoch voraussetzt, dass wir das lateinische „nuperrime“ (vor kurzem), das sich im Text auf die Entstehung des Hirt des Hermas bezieht, auf Jahrzehnte ausdehnen. So z. B. A. C. Sundberg, Canon Muratori: A Fourth Century List, HTR 66 (1973), 1–41; ähnlich G. H. Hahneman, The Muratorian Fragment; beide unterschätzen die anderen zeitgenössischen Verzeichnisse. Vgl. dagegen G. Stanton, The Fourfold Gospel, 322 ff. 26 Übersetzung bei W. Schneemelcher, NTApo6 I, 30.
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3 Das Neue Testament als Kanon
standteil des Neuen Testaments noch der Hirt des Hermas, die Paulusakten und unter Vorbehalt auch die Petrusapokalypse erwähnt. Vom Anfang des 4. Jh.s stammt der Kanon des Euseb (ca. 265–339 n. Chr.; h.e. 3,25.26),27 in dem von den katholischen Briefen nur der 1. Johannes- und der 1. Petrusbrief akzeptiert, die anderen aber als Antilegomena bezeichnet werden, d. h. als Schriften, deren Anerkennung auf Widerspruch stößt und umstritten ist. Die Johannesoffenbarung wird mit dem Vorbehalt „wenn man will“ versehen. Euseb (h.e. 6,25,3 ff.) unterteilte – nach dem Vorbild des Origenes († 254) – die christlichen Schriften aus gottesdienstlicher Sicht in 1. „homologúmena“ (unbestrittene, „übereinstimmend“ allgemein anerkannte Schriften), 2. strittige Schriften, und zwar a) „antilegómena“ (Schriften, denen „widersprochen“ wird), auch „amphiballómena“ („angezweifelte“ Schriften) genannt (z. B. Jak, Jud, 2Petr, 2–3Joh), oder b) „nótha“ („unechte, gefälschte“ Schriften; z. B. Herm, ApkPetr u. a.) sowie 3. „dyssebḗ“ („unfromme“, eindeutig häretische Schriften, die abzulehnen sind; etwa EvPetr). In dieser Kategorisierung werden die Kriterien für die Aufnahme in den Kanon sichtbar: Apostolizität, dogmatische Korrektheit und Anerkennung in der Kirche. Der Kanon setzte sich in der christlichen Kirche nur schrittweise durch. Der im 3. Jh. entstandene Kodex, der die Papyri Bodmer VII/VIII (p72) enthält, bietet auch Abschriften des 3. Korintherbriefs und der 11. Ode Salomos. Aus diesem Befund darf man nicht folgern, dass jene Schriften noch Bestandteil der liturgischen Lesung waren.28 Er zeigt jedoch, dass die Idee des Kanons als eines Ganzen mit exklusiver Wirkung in Ägypten noch nicht stark genug war, um die Bildung solcher gemischten Anthologien zu verhindern. Die Verbreitung des Kanons wurde auch durch praktische Gründe beeinträchtigt. Von den etwa 3000 erhaltenen Handschriften, die Texte des Neuen Testaments enthalten (§ 4.2.1 ff.), waren nur etwa sechzig als Wiedergabe des ganzen Neuen Testaments mit seinen nach unserer Zählung 27 Büchern konzipiert.29 b) Der Vierevangelienkanon: Von einigen Gruppen in der Kirche wurde die Kanonisierung der vier Evangelien kritisiert. Denn die Wahl nur eines einzigen Evangeliums entsprach der anfänglichen Praxis der meisten Lokalgemeinden, der Absicht der Evangelisten und dem Kanon des Markion. Die Zusammenstellung der vier Evange27
Übersetzung bei W. Schneemelcher, NTApo6 I, 38. Vgl. W. Wiefel, Kanongeschichtliche Erwägungen zu Papyrus Bodmer VII/VIII (p72), Archiv für Papyrusforschung 23 (1973), 289–303. 29 Vgl. J. K. Elliott, Manuscripts, the Codex and the Canon, JSNT 63 (1996), 105–123, hier 110. 28
3.4 Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons
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lien hingegen wurde durch ökumenische Interessen motiviert, die unterschiedliche Traditionen zu vereinen versuchten. Im Hintergrund stand das Bewusstsein, dass sich die Evangelien auf ein Geschehen beziehen, das nur schwer in Worte gefasst werden kann. Deswegen schien eine mehrfache Darstellung berechtigt. Diese Einsicht ist vielleicht der wichtigste Grund für die schon erwähnten Auseinandersetzungen bei Irenäus (§ 3.3a). Nur ein Evangelium wählte Tatian (§ 3.3c) in Syrien (2. Jh.), indem er in seinem Diatessaron (diá tessárōn = durch [die] vier [Evangelien]) den Stoff der vier Evangelien zu einer einzigen Erzählung zusammenfügte, Doppelüberlieferungen tilgte und Widersprüche harmonisierte. Nach Euseb (h.e. 4,29,6) verbreitete dieses Diatessaron sich über Syrien hinaus und beeinflusste den Text einiger späterer Abschriften der vier Evangelien. Der Text ist nicht erhalten, bekannt ist nur ein kleiner Teil der Passionsgeschichte auf einem Pergamentfragment aus Dura Europos im südöstlichen Syrien am oberen Euphrat, ein armenischer Kommentar des Syrers Ephraem (um 306–373) zum Diatessaron aus dem 4. Jh. sowie eine spätere arabische und eine mittelpersische Übersetzung. Ein verlässlicher Text kann aus diesen Zeugnissen und den Zitaten der Kirchenväter kaum erstellt werden, wenn auch das Anliegen dieses Unternehmens – ein einheitliches Evangelienbuch zu haben – verständlich ist. Vielleicht benutzte Tatian die Tradition der „Erinnerungen der Apostel“ (s. Anm. 11), die Justin zitiert.30 Aber auch diese Hypothese ist bis heute offen. Schließlich wurde das Diatessaron am Anfang des 5. Jh.s selbst in Syrien abgelehnt und durch die Peschitta (§ 4.2.5.3a) abgelöst. Die Ablehnung von Tatians Evangelienharmonie war eine der bedeutendsten restriktiven Entscheidungen, die die Gefahr vermied, eine vereinheitlichte Fassung der Jesusüberlieferung als formale Norm einzuführen. Schon durch die äußere Gestalt mit vier Evangelien verrät der neutestamentliche Kanon, dass er sich in der Geschichte Jesu auf ein und dasselbe Geschehen bezieht, das in unterschiedlicher Weise als Offenbarung Gottes dargestellt wird. Durch die vierfache Parallelüberlieferung wurde auch die historische Forschung mit ihrem Interesse an der spezifischen Eigenart der einzelnen Evangelien als eine Dimension der Exegese legitimiert (§ 1.4.5). Theologisch wird mit dem Kanon die Schlüsselrolle Jesu Christi anerkannt, „der im Fleisch gekommen ist “ (1Joh 4,2). c) Weitere Einflüsse: Der zu Beginn des 2. Jh.s abgeschlossene Kanon der hebräischen Bibel (§ 2.1.1) beeinflusste ohne Zweifel den neutestamentlichen Kanon als Modell entscheidend – die Doppelüberlieferungen in 1–2Kön und 1–2Chr stellen eine gewisse Analogie zur Mehrzahl der Evangelien dar. Dagegen wurde die Kodifizierung der jüdischen Tradition in der Mischna und später im Talmud (§ 2.1.2) nicht 30
Vgl. W. L. Petersen, Textual Evidence of Tatians Dependence upon Justins Apomnemoneumata, NTS 36 (1990), 289–303.
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3 Das Neue Testament als Kanon
zu einem vorbildhaften Modell. Eher wurde die Kanonbildung in einer späteren Etappe indirekt durch die Standardausgaben mit Sammlungen von Werken griechischer Klassiker (Lyriker, Tragiker, Redner) beeinflusst, die in hellenistischer Zeit entstanden und den genauen Umfang der einzelnen Texte angeben.31 Grundsätzlich führte die Idee des Kanons zu einer Festlegung, die paradoxerweise den Weg für eine neue Welle christlicher Literatur bahnte, die sich bereits auf den Kanon bezog.
3.5
Die Abgrenzung des Kanons und die Beziehung zur jüdischen Bibel
a) Die Abgrenzung des neutestamentlichen Kanons: Unsere 27 Bücher des Neuen Testaments sind als abgeschlossene Größe zum ersten Mal im 39. Osterbrief des Bischofs Athanasius von Alexandrien aus dem Jahr 367 n. Chr. aufgeführt.32 Dabei handelt es sich zwar um eine Anweisung, die nur für eine Diözese gültig war und sich vor allem im Osten durchsetzte. Doch wurde im Westen derselbe Kanon nur einige Jahre später (382) unter Papst Damasus aufgenommen. In Nordafrika wurde der Kanon mit 27 Büchern auf den Synoden in Hippo Regius (393) und Karthago (39733 und 419) bestätigt. Er wurde von der überwiegenden Mehrheit der Kirche rezipiert, wenn auch der Streit um die Johannesoffenbarung wegen der chiliastischen Naherwartung im Osten bis ins Mittelalter fortdauerte (§ 7.2.7a). In der syrischen Kirche werden der 2. und 3. Johannesbrief, der 2. Petrusbrief, der Judasbrief und die Johannesoffenbarung bis heute als strittige Texte betrachtet. In der armenischen Kirche wird der 3. Korintherbrief und in der koptischen Kirche werden die beiden Clemensbriefe im Gottesdienst benutzt. Das Decretum Gelasianum de libris recipiendis et non recipiendis, das nach Papst Gelasius I. benannt wurde (492–496),34 enthält ein später im 6. Jh. redigiertes Bücherverzeichnis, das vielleicht römische Traditionen widerspiegelt, die bis ins 4. Jh. (Synode im Jahr 382) zurückreichen können. Im zweiten Teil bietet es eine Aufzählung aller 27 Bücher des Neuen Testaments und davon deutlich abgesetzt im fünften Teil eine Aufstellung der apokryphen Schriften, die zu verwerfen sind.
31 So ein syrisches Kanonverzeichnis vom Anfang des 5. Jh.s (E. Preuschen, Analecta, 66–68). 32 Übersetzung bei W. Schneemelcher, NTApo6 I, 39 f. Dort werden außer den Büchern der hebräischen Bibel noch Schriften aus der Septuaginta erwähnt, „die zwar nicht kanonisiert sind, aber von den Vätern als Lektüre“ empfohlen werden wie SapSal, Sir, Esth, Judith, Tob (sowie Did und Herm aus den Apostolischen Vätern). 33 Hier wurden auch die Schriften der Septuaginta erstmals als Teil des christlichen Kanons aufgezählt (DH 186). 34 Vgl. W. Schneemelcher, NTApo6 I, 30–33.
3.5 Die Abgrenzung des Kanons und die Beziehung zur jüdischen Bibel
79
b) Die Verwendung des Alten Testaments: Das Gesetz, die Propheten und die Psalmen, also das spätere Alte Testament, wurden von Anfang als gottesdienstliche Lesung verwendet, weil die ersten Anhänger Jesu Juden waren (§ 2.1.1; 2.1.3–5). Ebenso verfuhren die Christen, weil sie sich selbst zunächst als eine innerjüdische messianische Bewegung betrachteten. Erst als Markion (§ 3.3b) seinen Kanon zusammengestellt hatte und die Heidenchristen in der Kirche die Oberhand gewannen, wurde das Festhalten am Alten Testament zu einer bewussten Entscheidung. Jede neue Bewegung muss sich in der Geschichte orientieren und ihre Vorgeschichte suchen, wenn sie eine stabile Lehre und soziale Struktur entwickeln will. Die Kirche entschied sich für die Geschichte Israels als ihre Vorgeschichte (Röm 1,2 f.; Hebr 1,1 f.) und für das Alte Testament als Dokument ihrer eigenen Vergangenheit (§ 2.1.3). Der zweiteilige Kanon hat also den Charakter eines Bekenntnisses.35 Die Bezeichnung Alter Bund bzw. Altes Testament (seit dem Ende des 2. Jh.s; § 2.1.3) deutet an, dass es sich um eine zwar unentbehrliche, aber doch um eine Vorgeschichte handelt, die aus der Sicht des Neuen kanonisiert wurde. Der Grund für die Aufnahme der jüdischen Bibel in den christlichen Kanon war ihre neue Bedeutung, in der sie als Altes Testament mit dem Neuen ebenso verbunden wie von ihm unterschieden wurde. Die Interpretation des Alten Testaments findet in der christlichen Kirche auf zwei Ebenen statt: Die Zitate und Anspielungen auf das Alte Testament müssen bei den urchristlichen Autoren aus der Sicht des konkreten neutestamentlichen Kontexts interpretiert werden, die von der Bedeutung der entsprechenden Texte in der jüdischen Bibel manchmal deutlich abweicht.36 Da die jüdische Bibel als Ganzes kanonisiert wurde, ist es aber auch sachlich und theologisch begründet, jene Texte als eine relativ autonome Größe zu interpretieren und dadurch ständig die Berechtigung und den Charakter der frühchristlichen Deutung des Alten Testaments kritisch zu prüfen. Die Divergenzen zwischen diesen beiden Arten der alttestamentlichen Exegese sind auffällig, aber die Ergebnisse weisen auch manche Gemeinsamkeiten auf, wie einige Einzelstudien37 und die Analysen des Offenbarungsverständnisses des Alten Testaments nachgewiesen haben.38 In den alttestamentlichen Geschichten entdeckten die Christen dasselbe Geschehen, das ihrer Erfahrung nach in Jesus Christus gipfelt und den Weg zum letzten Horizont des Mensch-Seins öffnet – zur Gemeinschaft mit Gott. 35 36
Vgl. K. Barth, Kirchliche Dogmatik I/2, Zollikon 41948, 532. Betont z. B. von H. Braun, Das Alte Testament im Neuen Testament, ZThK 59 (1962),
16–31. 37
Vgl. J. B. Souček, Israel und die Kirche im Denken des Apostel Paulus (Lit. § 2.1.3). Vgl. H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments I, Göttingen 1990, 15.33 f.210.213; P. Stuhlmacher, Theologie 1 (Lit. § 1), 1–39; Bd. 2, 287–349. 38
80
3 Das Neue Testament als Kanon
c) Septuaginta oder hebräischer Kanon? Die Kirche übernahm das Alte Testament überwiegend in der griechischen Übersetzung der Septuaginta (§ 2.1.4), bei der noch lange nicht feststand, welche Schriften zu ihr gehörten. Der Wunsch, einen deutlich umrissenen Kanon zu haben,39 wirkte auch bei der Entstehung der einheitlichen lateinischen Übersetzung, der Vulgata (§ 4.2.5.2), mit. Hieronymus (ca. 347– 419) versuchte als Übersetzer, den engeren hebräischen Kanon der Juden (§ 2.1.1) durchzusetzen. Seine (nach unserer Zählung) 39 Bücher wurden gegen Ende des 1. Jh.s in den Synagogen gelesen, nachdem die Schule in Jabne (Jamnia, bei Jaffa) nach 70 n. Chr. nach längeren Diskussionen auch einige strittige Bücher (z. B. Hoheslied, Prediger) zur gottesdienstlichen Lesung zugelassen hatte. Diese Rückkehr zum Ursprung, die Hieronymus als erster mit dem Terminus „hebraica veritas“ (hebräische Wahrheit) programmatisch vertrat,40 gelang letztlich jedoch nicht. Schließlich wurden in die lateinische Übersetzung die meisten griechisch verfassten Bücher aus der Septuaginta aufgenommen, auch wenn Hieronymus sie nicht übersetzt hatte. In der römisch-katholischen Kirche wurde dieser umfassendere Kanon auf dem Konzil von Trient durch das „Decretum de canonicis Scripturis“ 1546 bestätigt (DH 1502). Die Kirchen der Reformation akzeptierten als vollwertigen Bestandteil des alttestamentlichen Kanons hingegen nur die Bücher der hebräischen Bibel, nicht der Septuaginta. Der Grund war die neuentdeckte Bedeutung des Hebräischen als Ursprache des Alten Testaments im Rahmen des Humanismus und seiner Bewegung „zu den Quellen“ (lat. ad fontes). Dieses Interesse am Urtext verband sich mit dem Studium der Schrift. Doch müssen wir sogleich hinzufügen, dass die Reformation die deuterokanonischen Bücher (Apokryphen) nicht gänzlich ablehnte. Luther bezeichnete sie – der altkirchlichen Praxis vor allem im Westen folgend – in seiner Bibelübersetzung als „Bücher, so der heiligen Schrift nicht gleich gehalten und doch nützlich und gut zu lesen sind“.41 Die böhmische Reformation (15. Jh.) benutzte die apokryphen Bücher. Noch in der Kralitzer Bibel – der dritten Generation der Bibelübersetzungen ins Tschechische –, die unter Mitwirkung jüdischer Gelehrter übersetzt und mit einem Kommentar versehen wurde (Ende 16. Jh.), sind die deuterokanonischen Bücher der Vulgata unter der Bezeichnung Apokrypha als 5. Band enthalten. In den Kirchen der deutschen Reformation blieben die „Apokryphen“ im lutherischen Zweig als gottesdienstliche Lesung erhalten, in der EKD aber nicht als Predigtperikope (Luther pre-
39
So R. Beckwith, The Old Testament Canon in the New Testament Church, London 1985, 144 ff. 383 ff. 40 Vgl. Ch. Markschies, Hieronymus und die „Hebraica Veritas“, in: M. Hengel / A. M. Schwemer, Septuaginta (Lit. § 2.1.4), 131–181, hier 147 f. 41 So in der Überschrift zu den Apokryphen vor der Vorrede auf das Buch Judith in: M. Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545, hg. v. H. Volz, München / Herrsching o.J. (1972), Bd.2, 1674.
3.5 Die Abgrenzung des Kanons und die Beziehung zur jüdischen Bibel
81
digte nur über zwei Stellen aus Sirach). Durch das Auffinden zahlreicher hebräischer Textfragmente vor allem aus dem Sirachbuch ist „das Formalargument der hebraica veritas freilich ... brüchig geworden,“42 da auch einige der in der Septuaginta griechisch überlieferten Schriften hebräische Vorstufen haben und damit die Sprache kein geeignetes Abgrenzungskriterium mehr bietet. Entsprechendes gilt für die von manchen propagierte Rede von der „Hebräischen Bibel“ (§ 2.1.3b). Die östliche, orthodoxe Kirche verwirft nicht den engeren Kanon, aber faktisch benutzt sie den Kanon der Septuaginta. Da es auch noch zwischen der orthodoxen Kirche und der koptischen, armenischen und äthiopischen Kirche Unterschiede hinsichtlich des Umfangs des alttestamentlichen Kanons gibt, lässt die Gestalt des ersten Teils des Kanons auf Unterschiede zwischen den Konfessionen schließen. d) Die Komplementarität von Altem und Neuem Testament: Das Neue Testament ist keineswegs eine einfache Fortsetzung des Alten, sondern ein komplementäres Gegenüber, das zwar viele alttestamentliche Gedanken aufnimmt, das Christusgeschehen aber als die neue, endgültige Offenbarung Gottes darstellt (§ 2.1.3; 3.2). In der eschatologischen Erwartung gibt es im Alten Testament im Blick auf die Endzeit unterschiedliche Vorstellungen. Dies gilt auch für die Hoffnungen, in denen der Messias eine Schlüsselfunktion ausübt. Die entscheidenden Verheißungen betreffen den neuen Äon. Ihre Erfüllung steht aber noch aus. Literarisch gibt es mehrere Textgruppen, die an die jüdische Bibel anknüpfen (Talmud, Midraschim, Qumrantexte; vgl. § 2.1.3). Das Neue Testament stellt unter ihnen die am wenigsten erwartete Möglichkeit der Anknüpfung dar. Das Kommen des Messias ohne das messianische Reich kann dem Alten Testament nur sehr indirekt entnommen werden. Im Neuen Testament verkündigt Jesus das Reich Gottes als eine universale Größe, die den Rahmen der Hoffnung vieler jüdischer Zeitgenossen auf eine religiös-nationale Wiederherstellung Israels sprengt. Im Blick auf dieses Reich des Messias gibt es manche Entsprechungen zwischen Altem und Neuem Testament – nicht nur wegen der ähnlichen Begrifflichkeit, die das Verstehen des Neuen Testaments ohne die Kenntnis des Alten so schwer macht. Mit dem Alten ist das Neue Testament auch nicht allein aufgrund des ähnlichen Existenzverständnisses oder des gemeinsamen narrativen Rahmens verbunden, der sich auf konkrete Geschichten bezieht (§ 1.4.3; 1.4.5) und für die jüdisch-christliche Tradition typisch ist. Das Neue Testament gilt vor allem des-
42
O. H. Steck, Der Kanon des hebräischen Alten Testaments, in: W. Pannenberg / Th. Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis I. Kanon – Schrift – Zeugnis, Freiburg u. a. 1992, 11–33, hier 31; vgl. 31 f.: „Anders als zur Reformationszeit wissen wir heute, daß nicht wenige der evangelischerseits sogenannten Apokryphen sicher oder mit großer Wahrscheinlichkeit ursprünglich hebräische oder aramäische Schriften waren oder auf derartige Vorstufen zurückgehen (Tobit, Judith (?), Sirach, Baruch (?), Brief Jeremias (?), Zusätze zu Daniel, 1Makk, Gebet Manasses (?), 3. Esra (teilweise), 4. Esra, Ps 151; auch Psalmen Salomos).“
82
3 Das Neue Testament als Kanon
halb als komplementäres Gegenstück, weil das Alte Testament Gott als denjenigen entdeckte, der Neues schafft und der sich dementsprechend auf neue Weise den Menschen zuneigen kann. Damit konnten die neutestamentlichen Autoren einerseits in großer Kontinuität alttestamentliches Gedankengut aufgreifen, andererseits das Auftreten Christi mit einem klaren Bewusstsein der Diskontinuität aber zugleich als ein völlig neues, bisher noch nicht da gewesenes Ereignis präsentieren. Nach dem christlichen Zeugnis ist die Geschichte Jesu die entscheidende Zuwendung Gottes zu den Menschen, seine endgültige Offenbarung. Ihre Bezeugung ist das Zentrum der christlichen Bibel. e) Die Mitte der Schrift: Dass der Kanon selbst noch ein inhaltliches Zentrum hat, ist kaum zu leugnen. Nach Martin Luther ist das Entscheidende für die Beurteilung der heiligen Schriften, „... ob sie Christum treiben oder nicht“.43 Dieses Kriterium besagt nicht, dass das, was außerhalb der Christusbotschaft liegt, entbehrlich ist. Es bedeutet nur, dass es nicht ohne Rücksicht auf Christus als die inhaltliche Mitte interpretiert werden darf. Dieses christologisch bestimmte Zentrum muss auch jede wissenschaftliche Forschung, die sich mit der Bibel kritisch befasst, ernst nehmen, falls sie die Schriften kennen lernen und den Grund der gemeinsamen Kanonisierung begreifen will. Der Kanon verhindert mit seiner eindeutigen Mitte in der Botschaft von Christus jede willkürliche Manipulation durch den Anspruch neuer Offenbarungen oder die Berufung auf das unmittelbare freie Wirken des Heiligen Geistes. Im Unterschied zu den christlichen Bekenntnissen44 deutet er gleichzeitig die Breite der Möglichkeiten an, die das biblische Grundzeugnis für das Denken und Handeln eröffnet. Einige Texte, die den heutigen Menschen nicht ansprechen, können zu anderer Zeit plötzlich aktuell werden. Da im Kanon verschiedene theologische und soziale Entwürfe ihren Platz fanden, konnte Ernst Käsemann die These formulieren, dass der Kanon durch seine ganze Struktur nicht die Einheit der Kirche (im Sinn der Einheitlichkeit), sondern ihre ökumenische Vielfalt begründet.45 Die neutestamentlichen Zeugen polemisieren manchmal gegeneinander, z. B. Matthäus (§ 6.3.4.1c) und der Jakobusbrief (§ 8.8.2c) gegen eine einseitige Paulusdeutung. Doch streiten sie dabei um die Deutung der Offenbarung jenes Gottes, dessen Reich Jesus verkündigte. Diese gute Bot-
43 So in der Vorrede auf den Jakobus- und Judasbrief im Septembertestament von 1522 (WA DB 7, 384; Luthers Vorreden zur Bibel, hg. v. H. Bornkamm, Bielefeld 31989, 216). Deshalb haben die lutherischen Bekenntnisschriften den Kanon auch nicht durch eine Aufzählung seiner Schriften festgelegt. 44 Von den kurzen neutestamentlichen Formeln über das Nicäno-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis bis hin zu den Bekenntnisschriften der einzelnen Konfessionen. 45 Vgl. E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? In: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 41965, 214–223, bes. 221.
3.6 Reihenfolge und Bezeichnung der einzelnen Bücher(gruppen)
83
schaft bildet die gemeinsame Grundlage, die die einzelnen Traditionen und Theologien des Neuen Testaments über alle Differenzen hinweg verbindet (§ 9). Damit gewinnt der Kanon im Grundgehalt seiner Christusbotschaft eine normative Funktion für den christlichen Glauben. Aber die äußeren Grenzen des Kanons zu definieren und den Umfang seiner Schriften festzulegen, ist eine theologische Entscheidung, die in der Hand der Konfessionen liegt. Die theologische Unbestimmtheit bei der äußeren Kanongrenze geht nicht von der Erwartung aus, dass eine neue, höhere Offenbarung kommt, wohl aber, dass neuentdeckte alte Texte einen besseren Zugang zu Jesus ermöglichen könnten. Diese prinzipielle Offenheit ist nur die Kehrseite der eindeutigen Eingrenzung des christlichen Kanons auf die Geschichte Jesu und der ersten Zeugnisse, die dieses Geschehen widerspiegeln. Der Unterschied zu den anderen Heiligen Büchern der Weltreligionen besteht beim christlichen Kanon besonders in der indirekten Autorität des Texts. Seine Autorität ist insofern eine indirekte, als der Text sich – als ein Zeugnis der Offenbarung Gottes – auf ein Geschehen bezieht, das zu einer konkreten Zeit an konkreten Orten stattgefunden hat (§ 1.4.3; 1.4.5). Diese indirekt abgeleitete Autorität mit ihrem Zeugnischarakter unterscheidet die Bibel vom Koran mit seinem Anspruch, Mitteilungen aus einem in seiner Urschrift im Himmel bewahrten Heiligen Buch (kitāb) zu enthalten. Die geschichtliche Dimension hebt die Bibel von den heiligen Texten des Hinduismus und Buddhismus ab.
3.6
Reihenfolge und Bezeichnung der einzelnen Bücher(gruppen)
Die Reihenfolge der Bücher des Neuen Testaments wurde durch die jüdische Schrift beeinflusst. Im Unterschied zum Alten Testament stabilisierte sich die Reihenfolge schneller, da in der Zeit, als die Idee des Kanons entstand, die neutestamentlichen Schriften schon als Kodizes (§ 4.1) existierten und nicht mehr wie die Bücher der jüdischen Bibel in einzelnen Rollen aufbewahrt wurden. Da ein Kodex mehrere Bücher enthalten kann, war es einfacher, mit seiner Hilfe eine mehr oder weniger einheitliche Reihenfolge durchzusetzen. Die Evangelien stehen am Anfang, weil sie von Jesus berichten, seine Aussagen enthalten und er somit indirekt als der eigentliche Urheber ihres Inhalts betrachtet werden kann. Ihre grundlegende Bedeutung bestätigen auch die Überschriften „Das Evangelium nach Markus“ (KATA MARKON), „... nach Lukas“ usw. (§ 6.2.3a), die in der antiken Literatur nicht ihresgleichen haben.46 Die Bezeichnung „Evangelium“ ist von einem älteren Begriff abgeleitet, der im urchristlichen Kontext die „gute Nachricht“ bedeutete, konkret für die Osterbotschaft gebraucht wurde (1Kor 15,1; § 5.6.2.1) 46
Vgl. M. Hengel, Die Evangelienüberschriften (SHAW.PH 1984/3), Heidelberg 1984, 11 ff.; ders., The Four Gospels (Lit. § 3), 48–55.126 f.
84
3 Das Neue Testament als Kanon
und in diesem Sinn noch in Mk 1,1 benutzt ist (§ 6.2.6.1). Die Überschrift des Markusevangeliums in Mk 1,1 wirkte so inspirierend, dass das Wort „Evangelium“ zur Bezeichnung für die Untergattung der kerygmatischen Biographien Jesu wurde (§ 6.2.6). Die Evangelien wurden zunächst anonym abgefasst und von den Autoren durch zusammenfassende Überschriften am Anfang der Texte charakterisiert (Mk 1,1: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“; Mt 1,1: „Buch der Geschichte von Jesus Christus“). Da die Bezeichnung der Evangelien nach den Autoren seit der ersten Hälfte des 2. Jh.s bezeugt ist,47 erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Namen der Evangelisten Markus (§ 6.2.3a) und Lukas (§ 6.4.6b) authentisch sind. Ihre Identifizierung mit den aus dem Neuen Testament bekannten Personen ist naheliegend, aber nicht beweisbar. Auf der anderen Seite spricht die Einheitlichkeit der Überschriften für ihre gemeinsame Einführung bereits zu einer Zeit, in der in mehreren christlichen Gemeinden mindestens zwei Evangelienschriften in Besitz waren und im Schriftenschrank sowie im Gottesdienst von einander unterschieden werden mussten. Die Reihenfolge wurde erstens durch die Vorstellungen vom Alter der einzelnen Evangelien, zweitens durch ihren Umfang und drittens durch Ähnlichkeiten mit den Büchern des Alten Testaments beeinflusst. Alle diese Gesichtspunkte führten zu der prominenten Anfangsstellung des Matthäusevangeliums, das mit den Worten „Bíblos genéseōs Iēsoú Christoú“ (Buch der Geschichte Jesu Christi) beginnt (§ 6.3.3.1), das umfangreichste ist und ohne Zweifel alte Überlieferungen (Q) enthält (§ 6.3.1).48 Das Johannesevangelium ahmt zwar absichtlich den ersten Vers des Buchs Genesis nach („Am Anfang ...“; § 7.1.5.1a). Aber andere Gründe, wie der Missbrauch durch die Montanisten, die sich für ihre ekstatische Prophetie auf den Parakleten (Heiligen Geist) im Johannesevangelium beriefen, oder die Angst vor doketischen Tendenzen, die die Inkarnation leugneten, veranlassten seine Einrahmung durch das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte. Denn diese beiden Theophilus gewidmeten Schriften ordnen das Auftreten Jesu historisch in den Horizont der Weltgeschichte ein. Folglich blieb für das Markusevangelium die zweite Stelle übrig. Damit war die meistverbreitete Reihenfolge der Evangelien gegeben: Mt – Mk – Lk – Joh. Den Kern des zweiten Teils bildete das Corpus Paulinum (§ 5), bei dem die Reihenfolge der Briefe wieder mehr oder weniger durch Alter, Länge und Bedeutung bestimmt wurde. Der zeitlich gesehen jüngste Brief des Paulus, der Römerbrief (§ 5.8.2; 5.16.3), rückte erst in den mittelalterlichen Handschriften an die erste Stelle. Früher standen am Anfang meist die Korintherbriefe (Kanon Muratori; § 3.3.1a). Eine spezifische Gruppe bildeten immer die drei Pastoralbriefe (1–2Tim; Tit; § 8.4) und manchmal die Gefangenschaftsbriefe (Eph, Phil, Kol, Phlm). Schließlich traten 47 M. Hengel, Evangelienüberschriften (s. Anm. 46), 8 ff. 14 ff., hat gezeigt, dass jene Bezeichnungen schon seit dem Anfang des 2. Jh. bekannt gewesen sind. 48 Vgl. M. Hengel, Evangelienüberschriften (s. Anm. 46), 10 ff.; ders., The Four Gospels (Lit. § 3), 34–47.
3.6 Reihenfolge und Bezeichnung der einzelnen Bücher(gruppen)
85
die Schreiben an Gemeinden (Röm – 1Thess) vor die Briefe an Einzelpersonen (1Tim – Phlm). Der Hebräerbrief kam trotz seines Umfangs an die letzte Stelle, weil er erst spät den paulinischen Briefen zugerechnet wurde (§ 8.5.2). Im Corpus Paulinum wurden die Briefe nach ihren Adressatengemeinden bezeichnet im Unterschied zu den katholischen Briefen, die mit Petrus, Jakobus usw. den Verfassernamen im Titel tragen. Als Ganzes fanden die Paulusbriefe ihren Ort hinter der Apostelgeschichte, welche den apostolischen Teil eröffnet. Eine dem paulinischen Korpus gegenüber eigenständige Gruppe bildeten die sieben katholischen Briefe (Jak; 1–2Petr; 1–3Joh; Jud; § 8.6–8). Die Bezeichnung ist spätestens seit Euseb (ca. 265–339 n. Chr.) ein feststehender Begriff (h.e. 2,23,25; 6,14,1) und charakterisiert diese Briefe als „allgemeine“, d. h. an die gesamte Christenheit gerichtete Schreiben. Die Briefeingänge wahren durch das Präskript die Form des Briefs (außer 1Joh). Anders als in den paulinischen Briefen können am Ende jedoch Grüße und Schlusssegen fehlen (Jak; 1Joh) oder durch eine Doxologie (Jud; 2Petr) ersetzt werden, die auf die gottesdienstliche Lesung als Sitz im Leben der Gemeinden schließen lässt. Die kanonische Anordnung entsprach der Aufzählung der drei „Säulen“ Jakobus, Kephas (Petrus) und Johannes in Gal 2,9. Neben den Paulusbriefen bildeten die katholischen Briefe die zweite Briefsammlung im neutestamentlichen Kanon, doch werden die Johannesbriefe heute meist bei den johanneischen Schriften behandelt (§ 7.1). Dabei schien die Sieben als Symbolzahl für die Vollkommenheit wichtig zu sein, da die sieben katholischen Briefe neben den vierzehn (= 2 x 7) Paulusbriefen (einschl. Hebr) und den sieben Sendschreiben in Apk 2 f. stehen (§ 7.2.1). Im Kanon Muratori (§ 3.3.1a) ist bereits die später vorherrschende Anordnung Apg – Corpus Paulinum – katholische Briefe (nur Judas und zwei Johannesbriefe) belegt. In einigen Verzeichnissen steht das paulinische Korpus am Anfang des apostolischen Teils und erst dann folgen die Apostelgeschichte und die katholischen Briefe (so in den Verzeichnissen des Codex Sinaiticus und Alexandrinus). Die Johannesoffenbarung bildete mit ihrem visionären Ausblick auf die eschatologische Neuschöpfung der Welt (im Grunde logisch) den Schluss.49 Hinsichtlich der Reihenfolge der biblischen Bücher gab es keine erwähnenswerten Probleme. Sie wurde durch lokale Traditionen beeinflusst, und erst die Erfindung des Buchdrucks führte zu dem Versuch der Vereinheitlichung, die jedoch bis heute nicht
49 Unter den Ausnahmen ist vor allem die Reihenfolge des Kanon Mommsen zu nennen (aus Nordafrika, 4. Jh.), der in zwei Handschriften belegt ist, von denen eine aus dem 10. Jh. stammt und von dem deutschen Historiker Th. Mommsen in der Bibliothek in Cheltenham (England) entdeckt wurde. Die Reihenfolge ist dort: Mt – Mk – Joh – Lk – Corpus Paulinum – Apg – Apk – Katholische Briefe.
86
3 Das Neue Testament als Kanon
durchgängig vorhanden ist.50 So sind z. B. in der Lutherbibel der Hebräer- (§ 8.5.3c) und der Jakobusbrief (§ 8.8.3) aufgrund theologischer Vorbehalte ans Ende der katholischen Briefe umgestellt.
50
Vgl. H. P. Rüger, The Extent of the Old Testament Canon, BiTr 40 (1989), 301–308; J. K. Elliott, Manuscripts, the Codex, and the Canon (s. Anm. 29), 105–123.
4 Der Text des Neuen Testaments
Textausgaben (vgl. Lit. § 12a): Constantin von Tischendorf, Novum Testamentum Graece ... Editio octava critica maior I–II, Leipzig 1869/1872, Bd. III. Prolegomena (von Caspar R. Gregory geschrieben), Leipzig 1894; Brooke F. Westcott / Fenton J. A. Hort, The New Testament in the Original Greek I–II (1881), 2. rev. Ausg., Cambridge / London 1890/1896 (zu den anderen älteren kritischen Ausgaben s. K. Aland / B. Aland, Der Text des Neuen Testaments [s.u.] 21–56); International Greek New Testament Project, Oxford, seit 1983 (beginnend mit Lk); Novum Testamentum Graecum. Editio Critica Maior, Stuttgart, seit 1997 (beginnend mit den katholischen Briefen); Eberhard et Erwin Nestle und Barbara Aland et Kurt Aland, Johannes Karavidopoulos, Carlo M. Martini, Bruce M. Metzger (Hg.) (Nestle-Aland), Novum Testamentum Graece 1898–1998 (Jubiläumsausgabe [= ergänzte 27. Ausg. aus dem Jahr 1993]), Stuttgart 1998 (gängige Handausgabe); dieselben / Bruce M. Metzger, Allen Wikgren (Mitarbeiter früherer Ausgaben), The Greek New Testament, Stuttgart 1993 (bes. für Bibelübersetzer geeignet: weniger Abweichungen notiert; diejenigen, die sich in der Übersetzung widerspiegeln, sind allerdings besser belegt); Augustinus Merk, Novum Testamentum Graece et Latine, Rom 1964; Albert Huck / Heinrich Greeven, Synopse der drei ersten Evangelien, Tübingen 131981; Kurt Aland (Hg.), Synopsis Quattuor Evangeliorum, Stuttgart 1963, 152001 (3. korrigierter Druck). Literatur: Caspar R. Gregory, Textkritik des Neuen Testaments, Leipzig 1909; Heinrich J. Vogels, Handbuch der Textkritik des Neuen Testaments, Bonn 1953; Bruce M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 31975; Kurt Aland / Barbara Aland, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 1982; Martin Hengel, Die Evangelienüberschriften (SHAW 1984/3), Heidelberg 1984; Eldon J. Epp / Gordon D. Fee, Studies in the Theory and Method of New Testament Textual Criticism, Grand Rapids, MI 1993; Barbara Aland / Joël Delobel (Hg.), New Testament Textual Criticism. Exegesis and Early Church History (CBET 7), Kampen 1994; Bruce Metzger, The Text of the New Testament in Contemporary Research: Essays on the Status Questionis, Grand Rapids, MI 1995; Günther Zuntz, Lukian von Antiochien und der Text der Evangelien (AHAW.PH 1995/2), Heidelberg 1995; James K. Elliott, A Bibliography of Greek New Testament Manuscripts (SNTSMS 109), Cambridge 1989. Von den Einleitungen (§ 1.1) bietet die ausführlichste Einführung in die Textkritik Afred Wikenhauser / Josef Schmid (S. 65–202).
Vor der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg in Mainz um 1450 musste jedes Exemplar eines Texts von Hand abgeschrieben werden. Die rasche Ausbreitung des Christentums machte durch die vielen Gemeindegründungen eine große Anzahl von Kopien der neutestamentlichen Schriften erforderlich, die zunächst durch private Abschriften und seit dem 3. Jh. in werkstattartig organisierten Schreibstuben (Skriptorien) immer wieder neu abgeschrieben und vervielfältigt wurden. Dabei haben sich im Lauf der Zeit Abweichungen, Schreibfehler und vermeintliche Verbesserungen ergeben, sodass der Text an einzelnen Stellen in mehreren Lesarten
88
4 Der Text des Neuen Testaments
(Varianten) vorliegt. Aufgabe der Textkritik (Textologie) ist es, die unterschiedlichen Lesarten zusammenzustellen und aus ihnen mit Hilfe methodisch nachvollziehbarer Kriterien den ursprünglichen Wortlaut herauszufinden, den sog. Urtext. Deshalb sollen zunächst die Beschreibstoffe und Schreibgewohnheiten in der Spätantike (§ 4.1), dann die wichtigsten erhaltenen Handschriften (§ 4.2) und schließlich (§ 4.3) die Methoden, Editionen und Ergebnisse der modernen Textkritik vorgestellt werden, die den ursprünglichen Text des Neuen Testaments zu rekonstruierten versucht.1
4.1
Das Schreiben in der Spätantike
a) Die Beschreibstoffe: In neutestamentlicher Zeit wurde vor allem auf Papyrus geschrieben (vgl. 2Joh 12), der aus dem Mark der Papyrusstaude (lat. cyperus papyrus) hergestellt wurde. Die Stängel wurden mit scharfen Werkzeugen in hauchdünne Streifen geschnitten. Diese wurden eng nebeneinander gelegt, dann folgte im rechten Winkel eine zweite Schicht. Mit dem im Mark enthaltenen Saft wurden beide Lagen gepresst und zusammengeklebt. Auf der Vorder- bzw. Innenseite (lat. recto) verliefen die Fasern horizontal, d. h. parallel zur Schrift, auf der Rück- oder Außenseite (lat. verso) vertikal. Ein Papyrusbogen war etwa 30 cm breit. Er wurde in mehreren Längen hergestellt, aber auch die größeren Bögen reichten nur für einen Privatbrief oder eine kürzere Epistel (§ 5.1–4). Für längere Texte, besonders für literarische Werke, wurden zwanzig bis vierzig Bögen aneinandergeklebt, sodass Streifen in einer Länge von sechs bis zwölf Metern entstanden, die von links nach rechts in Kolumnen (Spalten) beschrieben und aufgerollt wurden. Längere Rollen waren schwer handhabbar. Meistens wurde nur eine Seite beschrieben. Eine Rolle bildete ein „Buch“. Aus diesem Grund bestehen so viele Werke der antiken Literatur aus mehreren Büchern. Im Neuen Testament bilden nur das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte ein literarisches Werk, das aus zwei Büchern besteht, die beide Theophilus gewidmet sind (Lk 1,3; Apg 1,1).2 Die begrenzte Länge einer Rolle war vielleicht einer der Gründe, weshalb der Text des Markusevangeliums durch Matthäus und besonders durch Lukas gekürzt wurde, um den Stoff aus weiteren Quellen unterbringen zu können (§ 6.1.4.1–2). Geschrieben wurde mit Hilfe eines zurechtgeschnittenen Schreibrohrs mit Tinte aus Ruß und organischen Farbstoffen (3Makk 4,20; 3Joh 13).
1 Vgl. zum Ganzen K. u. B. Aland, Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben und in die Theorie wie Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 21989; B. Aland, Art. Textkritik der Bibel II. Neues Testament, RGG4 8, 201–207. 2 In Apg 1,1 wird auf das Lukasevangelium als den ersten Bericht (lógos) zurückverwiesen.
4.1 Das Schreiben in der Spätantike
89
Schon in hellenistischer Zeit war auch das Pergament bekannt, das nach der kleinasiatischen Stadt Pergamon benannt ist. Es wurde aus Schaf- oder Ziegenfellen hergestellt, die enthaart, mit Bimsstein und Kreide geglättet und zurechtgeschnitten wurden. Die Juden schrieben ihre Rollen zumeist auf Pergament, das teurer war als Papyrus (vgl. 2Tim 4,13). Deswegen wurden mitunter schon benutzte Rollen, deren Text nicht mehr benötigt wurde oder nur noch schwer zu lesen war, erneut beschrieben, nachdem der ältere Text zuvor weggeschabt worden war. Solche Rollen werden Palimpseste genannt (von griech. „palin“ = „wiederum“ und „psestos“ = „abgeschabt“). Die erste, getilgte Schrift kann mit UV-Licht wieder lesbar gemacht werden. Die ältesten erhaltenen Textzeugen des Neuen Testaments sind Papyri. Sie stammen aus Ägypten (bes. Oberägypten), wo Regen sehr selten ist und unter dem Sand Papyrus über Jahrhunderte erhalten bleibt. In Ägypten wurden biblische Texte bis ins 8. Jh. auf Papyrus geschrieben. Die ältesten Pergamenthandschriften des Neuen Testaments stammen erst aus dem 4. Jh. Nur ein Diatessaron-Fragment (§ 3.3) aus dem 2. Jh. aus Dura Europos am oberen Euphrat dokumentiert, dass die Christen vereinzelt auch früher Pergament benutzten. b) Der Kodex: Neben der Pergament- oder Papyrusrolle wurde seit dem 3. Jh. der Kodex verwendet, der in seiner äußeren Gestaltung schon ein direkter Vorgänger unseres Buchs ist. Bereits in vorneutestamentlicher Zeit gebrauchte man Wachstafeln, die aufeinander gelegt und mit einer Schnur heftartig verbunden wurden, als Notizbücher. Da solche gestapelten Wachstafeln mit Rahmen und Unterlage aus Metall oder Holz dicker als unsere Bücher waren, wurden sie im Lateinischen spöttisch „caudex“ (Baumstamm, Holzklotz, Brett) genannt, später „codex“, Kodex. Sie wurden für Notizen genutzt, die man mit einem Stichel schreiben und später durch das Glätten der Fläche ausradieren konnte. Einzelne aufeinander gestapelte Papyrusblätter wurden für die Buchhaltung verwendet, seit dem 1. Jh. v. Chr. auch in der römischen Staatsverwaltung.3 Vom 4. Jh. an war es üblich, zwei bis vier Bögen aufeinander zu legen und in der Mitte zu falten. Bald setzten sich vier Doppelblätter, d. h. 16 Schreibseiten, als Grundeinheit eines Papyruskodex durch. Mehrere solcher Doppelblätter konnten zu größeren Kodices aneinandergefügt werden. Die praktische Handhabung und die Einsparmöglichkeit beim Schreibmaterial, das auf beiden Seiten beschrieben werden konnte,4 führten gegen Ende des Altertums zur endgültigen Durchsetzung des Kodex gegenüber der Rolle. Ein weiterer Faktor wird die Verwendung des langlebigeren Pergaments gewesen sein. Durch das Binden der Quaternien 3
Zur Entstehung des Kodex s. weiter M. Hengel, Evangelienüberschriften (Lit. § 3),
40 ff. 4
Ein Nachteil bestand allerdings darin, dass der Text manchmal auf der Gegenseite Spuren hinterließ.
90
4 Der Text des Neuen Testaments
(4 Doppelblätter = 8 Blätter = 16 Seiten) ist das Buch in seiner heutigen Gestalt entstanden. Die ältesten Handschriften des Neuen Testaments waren fast alle5 Kodizes, so auch die kleinen Fragmente wie z. B. der älteste Zeuge eines neutestamentlichen Texts, der Rylands-Papyrus (p52) mit einem kleinen Abschnitt aus dem Johannesevangelium vom Anfang des 2. Jh.s (Abb. s. § 7.1.2). Er ist auf beiden Seiten beschrieben und gehörte offensichtlich zu einem Kodex. Die Christen waren diejenige Gruppe in der spätantiken Gesellschaft, die die Vorteile des Kodex hoch schätzte und es wagte, auch ihre wertvollsten Texte auf diese Art zu kopieren. Somit haben die Christen auf entscheidende Weise zur Verbreitung des Kodexes als der äußeren Gestalt literarischer Werke beigetragen. Dass sie den Kodex von Anfang an benutzten, ist nicht ausgeschlossen.6 Das Verhältnis von Höhe zu Breite war bei den Kodizes meistens 3:2. Üblicherweise betrugen die Maße etwa 26 x 17 cm. Später gab es allerdings sowohl Miniaturkodizes als auch gigantische Bücher, z. B. den lateinischen Kodex Gigas liber (gig 51) aus dem 13. Jh., in dem jede Seite 49 x 89,5 cm maß. Er entstand im Kloster Podlažice bei Chrudim (Böhmen) und wird heute in Stockholm aufbewahrt. c) Die Schreibweise: Als griechische Buchschrift dienten die heutigen Großbuchstaben (Majuskeln; Abb.3), meistens quadratischer, z. T. aber auch kreisförmiger oder ellipsoider Art. Die Schreibweise, die damals in jeder Schreibergeneration ein wenig anders ausfiel, ist das verlässlichste Mittel für die Datierung der einzelnen Manuskripte.7
Abb.3: Großbuchstaben (sog. Majuskeln)
5
Eine Ausnahme bilden die Papyri p12, p13, p18 und p22 aus dem 3. und 4. Jh. und wenige spätere Pergament-Handschriften. 6 Die schon erwähnte Notiz aus Apg 1,1 (prṓtos lógos = erstes Buch) ist in dieser Hinsicht doppeldeutig. Die Tatsache, dass keine der anderen Schriften des Neuen Testaments den Umfang einer Rolle überschreitet, könnte ein Argument für die ursprüngliche Verwendung der Rolle auch bei den Christen sein. Diese räumliche Begrenzung könnte aber auch die Nachwirkung einer alten Gepflogenheit sein, die in der Zeit des Kodex noch beibehalten wurde. Daher können auch die ersten christlichen Schreiber ihre Texte durchaus schon auf Codices statt wie sonst zunächst noch allgemein üblich auf Rollen geschrieben haben. 7 Bis heute können handgeschriebene Dokumente aufgrund ihrer Schreibweise verschiedenen Zeitperioden zugeordnet werden, weil die Gestaltung der Buchstaben in jeder Generation mit Abweichungen unterrichtet wird.
4.2 Der Urtext des Neuen Testaments
91
Zu den Schreibgewohnheiten der christlichen Schreiber (z. B. Tertius in Röm 16,22)8 gehörte auch die Abkürzung der heiligen Namen (lat. nomina sacra) wie Gott, Jesus, Herr, Vater (Gottvater), Sohn (Gottessohn) oder der Geist. Findet sich z. B. in einer griechischen Handschrift die Kurzform ΘN statt „theon“ (Gott; s. Abb.6 Ende 2. Zeile), KS statt „kyrios“, CS statt „christos“, so handelt es sich um einen christlichen Text. Bis zum Ende des Altertums wurden die Texte kontinuierlich, ohne Trennung von Sätzen und Worten geschrieben (lat. scriptio continua). Ein solcher Text konnte durch lautes Vorlesen besser verstanden werden. Vor diesem Hintergrund wird auch die Geschichte von dem äthiopischen Finanzminister in Apg 8 gut nachvollziehbar, der unterwegs eine Rolle mit dem Text aus Jes 53 las, sodass Philippus ihn hören und fragen konnte: „Verstehst du auch, was du liest?“ (Apg 8,30). Neben den Majuskeln gab es die Kursivschrift, in der die einzelnen Buchstaben durch Ligaturen verbunden waren (Geschäftsschrift). Sie wurde vor allem für private Nachrichten und Notizen benutzt. Doch ist nicht ausgeschlossen, dass auch Texte des Neuen Testaments ursprünglich auf diese Weise wiedergegeben wurden. Mit Hilfe der Großbuchstaben konnten die Anfänge von Sätzen und Worten bezeichnet werden, und aus dieser Schrift haben sich die heutigen griechischen Schrifttypen entwickelt. Erst seit dem 9. Jh. ist die Kursivschrift allgemein zum Schreiben von Büchern, einschließlich der Bibel, benutzt worden (sog. Minuskeln). In den Text sind später Zeichen für die griechischen Akzente und die Interpunktion eingedrungen, manchmal auch Angaben, die beim Lesen die Orientierung erleichtern sollten. d) Der Titel des Buchs: Der Buchtitel, der nicht immer vom Verfasser selber stammen musste, stand am Ende. Allerdings war der erste Satz oft so formuliert, dass er nicht nur als Einleitung des ersten Teils, sondern auch als Zusammenfassung des ganzen Werks dienen konnte (Mk 1,1: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“; Mt 1,1: „Buch der Geschichte von Jesus Christus“; Apk 1,1: „Offenbarung Jesu Christi“). In den Handschriften des 4. Jh.s taucht der Titel des Buchs nicht nur am Ende, sondern oft auch zu Beginn des Texts auf.
4.2
Der Urtext des Neuen Testaments
Vorbemerkung: Die neutestamentliche Textkritik (Textologie) hat sich seit den 60-er Jahren des 20. Jh.s durch neue Textfunde, durch die Koordinierung der Arbeit, durch die Möglichkeiten der elektronischen Aufbereitung der zur Verfügung stehenden 8 Auch gebildete Autoren waren auf ihre Dienste angewiesen; Paulus als Handwerker hatte trotz seiner Bildung eine schwere Hand: „Seht mit wie großen Buchstaben ich euch schreibe mit eigener Hand!“ (Gal 6,11 ff.).
92
4 Der Text des Neuen Testaments
Texte und durch die Ausbildung spezialisierter Fachleute derart entfaltet, dass sie heute – ähnlich wie z. B. die Archäologie des östlichen Mittelmeerraums – einen in vieler Hinsicht selbstständigen Forschungsbereich bildet, den ein Bibelwissenschaftler nur um den Preis erheblicher Vereinfachungen darstellen kann. Dennoch wollen wir den Versuch einer Skizze wagen, um das theologische Problem der Textkritik anzudeuten und auf die Kommunikation mit den Textforschern aufmerksam zu machen. Dieser Gedankenaustausch beruht vor allem auf einer qualifizierten Arbeit mit den Textausgaben. Es wäre ein Zeitverlust, wenn jede Auslegung die Ergebnisse auf eigene Faust verifizieren würde. Auf der anderen Seite sollten alle, die sich mit der neutestamentlichen Exegese befassen, in der Lage sein, mit dem umfangreicheren textkritisch relevanten Material der großen wissenschaftlichen Editionen und dem textkritischen Apparat der kleinen Handausgaben zu arbeiten. Denn letzteres lädt zur kritischen Prüfung der Rekonstruktion des Urtexts ein, wie sie die Herausgeber anbieten. Kein Satz des Neuen Testaments ist in der Urschrift erhalten, sondern nur in Abschriften, bei denen an manchen Stellen mehrere Lesarten (Varianten) vorliegen. Deshalb muss die Textkritik versuchen, aus den überlieferten Handschriften den Urtext herauszufinden. Bei den meisten Schriften der Antike ist der Abstand zwischen der vorausgesetzten Entstehungszeit und den ersten erhaltenen Abschriften wesentlich größer,9 als dies bei den Schriften des Neuen Testaments der Fall ist. Die Textforscher gehen davon aus, dass der ursprüngliche Wortlaut der neutestamentlichen Schriften mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit rekonstruiert werden kann. Dass in einer kritischen Edition wie der heute üblichen von Nestle / Aland am Fuß jeder Textseite im Variantenapparat unterschiedliche Lesarten aus den einzelnen überlieferten Handschriften verzeichnet sind, ist kein Argument gegen die Verlässlichkeit des rekonstruierten Urtexts. Ein Teil der Varianten sind stilistische Verbesserungen, ein großer Teil kann sachlich als Fehler der Schreiber erklärt werden, die durch mangelnde Aufmerksamkeit, durch Versehen beim Abschreiben, durch Hörfehler beim Diktieren in den Schreibwerkstätten oder durch den Einfluss der mündlichen Tradition bzw. paralleler Abschnitte z. B. aus einem anderen Evangelium verursacht wurden. Durch das Auflisten der verschiedenen Lesarten soll die textkritische Entscheidung für den im fortlaufenden Text abgedruckten Wortlaut nachprüfbar und nachvollziehbar gemacht werden. Nur eine geringe Zahl von Lesarten oder Varianten betrifft Unterschiede, die theologisch bedeutsam sein können. Davon müssen allerdings diejenigen ausgeschlossen werden, deren Entstehung eindeutig als spätere Änderung erklärbar ist, sodass sie zur Rekonstruktion des Urtexts nicht gebraucht werden können. So ersetzen einige Handschriften in Lk 2,41 die Worte „seine (Jesu) Eltern“ durch „Joseph und Maria“. Oder in Lk 2,27 lässt eine 9
Im Durchschnitt mehr als ein halbes Jahrtausend.
4.2 Der Urtext des Neuen Testaments
93
Kursivhandschrift dieselben Worte aus – zwei Beispiele für die Tendenz, den Text durch eine Änderung des Wortlauts beim Anfertigen einer Abschrift der inzwischen aufgekommenen Lehre von der Jungfrauengeburt Jesu (§ 6.3.3.3d; 6.4.5.3a) anzupassen.10 Die relative Einheitlichkeit im Wortlaut des biblischen Texts war nicht selbstverständlich. Bereits in der Antike versuchte die Kirche, diese Einheitlichkeit des Texts planmäßig zu fördern (§ 4.2.5.2). Und obgleich sie mit Mitteln arbeitete, die den Maßstäben der heutigen Textkritik nicht standhalten können, wurden die gröbsten Textverderbnisse bereits im Altertum beseitigt. Die Textkritik war die erste Disziplin der kritischen Erforschung des Neuen Testaments, die schon in der Alten Kirche entwickelt wurde, insbesondere durch Origenes (ca. 185–254) und Hieronymus (ca. 347–419). Die Quellen für die Rekonstruktion des Originaltexts des Neuen Testaments sind vor allem die erhaltenen griechischen Handschriften (§ 4.2.1–3), die Zitate in der frühchristlichen Literatur (§ 4.2.4) und die ältesten Übersetzungen (§ 4.2.5). Auf die Arbeit an der Rekonstruktion des griechischen Urtexts konzentriert sich das Institut für neutestamentliche Textforschung in Münster. 4.2.1
Die Handschriften auf Papyrus
Die älteste Gruppe der griechischen Handschriften sind die auf Papyrus geschriebenen Texte. Bis auf wenige Ausnahmen gehören diese Handschriften – bisher sind mehr als 100 bekannt – zu den sog. Majuskeln, die in Großbuchstaben geschrieben sind (s. Abb.3). Sie enthalten neutestamentliche Schriften, die z. T. beschädigt sind, oder es handelt sich um kleine Fragmente. Die meisten von ihnen stammen aus Ägypten (2.–8. Jh.) und wurden erst gegen Ende des 19. oder im 20. Jh. gefunden sowie wissenschaftlich publiziert. Trotz des lückenhaften Zustands vermitteln diese Zeugnisse insgesamt einen guten Eindruck vom Text des Neuen Testaments, wie er in Ägypten vor der Entstehung der ältesten erhaltenen Pergamenthandschriften in Gebrauch war. Sie werden mit p + hochgestellter Ordnungsnummer bezeichnet. Zu den bedeutendsten Papyrushandschriften gehören die Bodmer-Papyri II, XIV und XV (p66 und p75), die aus der Zeit der Wende vom 2. zum 3. Jh. stammen und große Teile des Johannesevangeliums enthalten; p75 bietet zudem größere Partien des Lukasevangeliums. Sie wurden erst in den 50-er Jahren des 20. Jh.s bekannt und sind in der nach ihrem Erwerber benannten Bodmer-Bibliothek in Cologny bei Genf aufbewahrt, genauso wie der größere Teil des p72 (Bodmer-Papyrus VII und VIII) vom Ende des 3. Jh.s. Er umfasst die Petrusbriefe und den Judasbrief sowie einige alttestamentliche und außerkanonische Texte (§ 3.3). Aus dem 7. Jh. stammt der Papyrus Bodmer XVII (p74; s. Abb.4) mit Fragmenten der Apostelgeschichte und der katholischen Briefe. 10
Zum Problem s. B. D. Ehrman, The Orthodox Corruption of Scripture, Oxford 1993.
94
4 Der Text des Neuen Testaments
Abb.4: Papyrus Bodmer XVII (p74; Apg 15,23–28), 7. Jh.
4.2 Der Urtext des Neuen Testaments
95
Eine bedeutende Sammlung stellen die ebenfalls nach ihrem Erwerber benannten ChesterBeatty-Papyri (p45, p46 und p47) dar, deren größter Teil sich in Dublin befindet. Sie enthalten Paulusbriefe aus der Zeit um das Jahr 200 (p46), Fragmente der Evangelien und der Apostelgeschichte (p45) sowie der Johannesoffenbarung (p47) aus dem 3. Jh. Bei p45 handelt es sich um die älteste Handschrift, die alle vier Evangelien und die Apostelgeschichte enthält.11 Das älteste Fragment eines Texts aus dem Neuen Testament (Joh 18,31–33.37 f.) ist der Papyrus Rylands p52 (Manchester), der vor der Mitte des 2. Jh.s entstanden ist (Abb. s. § 7.1.2).
4.2.2
Die Majuskelhandschriften auf Pergament
Noch am Anfang des 20. Jh.s bildeten die auf Pergament geschriebenen Majuskelhandschriften das bedeutendste Material für die Rekonstruktion des Texts des Neuen Testaments. Dieser Bestand umfasst wenig mehr als 300 Handschriften. Die meisten von ihnen sind Fragmente. Bloß wenige umfassen das ganze Neue Testament. Sie reichen bis ins 10. Jh., aber die ältesten von ihnen sind nur wenig jünger als die Handschriften auf Papyrus (Bruchstücke schon aus dem 2./3. Jh.).12 In der Textkritik werden die Handschriften dieses Bestandes mit Großbuchstaben (A, B, C usw.) und (genauer) mit Nummern, die mit 0 anfangen, bezeichnet (01, 02, 03 usw.). Die Handschriften dieses Bestands lieferten im 19. und frühen 20. Jh. das Grundmaterial für die moderne Rekonstruktion des neutestamentlichen Texts, ehe im 20. Jh. die Papyri besonderes Ansehen erlangten. Es sind vor allem der Codex Sinaiticus (a, 01) und der Codex Vaticanus (B, 03), aber auch der Codex Alexandrinus (A, 02) und der Codex Bezae Cantabrigiensis (D, 05), die aus dem 4. und 5. Jh. stammen. Der Codex Sinaiticus (a, 01; s. Abb.5) wurde von Konstantin von Tischendorf (1815–1874), einem der bedeutendsten Textkritiker, in der Mitte des 19. Jh.s im Kloster der heiligen Katharina auf der Halbinsel Sinai gefunden und zur Grundlage seiner großen Textausgabe des Neuen Testaments gemacht. Er ist im 4. Jh. in Palästina oder Ägypten entstanden und wurde danach dreimal korrigiert. Tischendorf brachte den Kodex nach Russland, wo er ihn dem Zaren Alexander II. übergab als Dank für die Finanzierung seiner Reise. Dort wurde er 1934 für die Bibliothek des British Museum in London gekauft, wo er heute ist. Der Codex Vaticanus (B, 03; Abb.6), nach der Bibliothek benannt, in der er seit dem 15. Jh. aufbewahrt wird, stellt die älteste, im 4. Jh. wahrscheinlich in Oberägypten entstandene
11
Ähnlich war der noch ältere Kodex konzipiert, der als p4 (Fragmente Lk) und p64.67 (Fragmente Mt) bekannt ist: T. C. Skeat, The Oldest Manuscript of the Four Gospels, NTS 43 (1997), 1–34. 12 Es sind dies z. B. die Handschrift 0189 (Berlin), die ein Fragment mit dem Text von Apg 5,3–21 darstellt, oder 0212 (New Haven, CT) mit einem kleinen aus Dura Europos stammenden Teil des Diatessarons Tatians. Zu den Vermutungen über die frühere Datierung einiger Handschriften s. § 6.3.2.
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4 Der Text des Neuen Testaments
Abb.5: Codex Sinaiticus (a, 01; Ende des Lukasevangeliums), 4. Jh. Handschrift der ganzen christlichen Bibel dar. Sie ist die mit Abstand bedeutendste Majuskel. Vom Neuen Testament fehlt nur der letzte Teil (Hebr 9,14 – 13,25; 1–2Tim; Tit; Phlm; Apk). Neben dem Codex Alexandrinus (A, 02; British Museum, London) soll noch der Codex Ephraemi Syri rescriptus (C, 04, heute in Paris) erwähnt werden. Bei ihm handelt es sich um ein Palimpsest aus dem 5. Jh., das aus Spuren rekonstruiert wurde, die unter den Traktaten von Ephraem dem Syrer (ca. 306–373) gefunden werden konnten, mit denen die Handschrift im 12. Jh. überschrieben wurde. Die Rekonstruktion wurde in letzter Zeit mit Hilfe der Computer-Technologie vervollständigt. Im Besitz des französischen Reformators Theodor Beza befand sich eine der beiden Handschriften, die heute in Cambridge (05) und in Clermont bei Beauvais in Frankreich (06) zu
4.2 Der Urtext des Neuen Testaments
97
Abb.6: Codex Vaticanus (B, 03; Joh 1,1–13), 4. Jh. sehen sind (gemeinsam als D bezeichnet). Zusammen mit der erheblich jüngeren (9. Jh.) Bilingua (zweisprachiger Text), dem Codex Boernerianus (012, gemeinsam mit 011 als G bezeichnet, heute in Dresden), sind sie mit dem westlichen Texttypus (§ 4.3.2) verwandt, zu dem die Vorlagen der ältesten lateinischen Übersetzungen gehören (§ 4.2.5.1). Ein direkter Vorgänger dieser Textart, wie es lange Zeit die vorherrschende Meinung war, ist der in beiden Teilen des Kodex D vertretene Text jedoch nicht.13
13
Vgl. J. K. Elliott, Codex Bezae and the Earliest Greek Papyri, in: D. C. Parker / C.-B. Amphoux (Hg.), Codex Bezae, Leiden 1996, 161–182.
98
4 Der Text des Neuen Testaments
Unter dem Buchstaben W (032) ist die Freer-Handschrift (auch Washingtonianus genannt) vom Ende des 4. oder Anfang des 5. Jh.s zu finden, die die vier Evangelien enthält (Reihenfolge Mt – Joh – Lk – Mk). In Mk 16,14 bietet sie einen Zusatz, das sog. Freer-Logion (§ 6.2.2), den schon Hieronymus (ca. 347–419) kannte. Eine besondere Gruppe bilden Codex Koridethi (038; – in Tiflis deponiert), p46, p75, W und die Minuskelgruppen φ1 und φ13 (Ferrar-Gruppe). Burnett H. Streeter bezeichnete sie als Cäsarea-Text. Eigentlich handelt es sich um einen Text, der aus Alexandrien stammt und dem ägyptischen Text (§ 4.3.2) zuzurechnen ist, der jedoch relativ früh in andere Textformen überging.
4.2.3
Die Minuskelhandschriften und Lektionare
Mehr als 2500 Minuskelhandschriften sind erhalten, die in der Zeit vom 9. Jh.14 bis zur Verbreitung des Buchdrucks im 15. Jh. entstanden. Sie werden einfach mit
Abb.7: Die „Königin der Minuskeln“ (33; Schluss des Römerbriefs), 9. Jh. 14
Aus dem 9. Jh. stammen die Handschriften Nr. 33, 1080, 1862 und 2500.
4.2 Der Urtext des Neuen Testaments
99
fortlaufenden Nummern (1, 2, 3 usw.) gekennzeichnet. Auch diese Handschriften enthalten in ihrer Mehrheit nur Teile des neutestamentlichen Texts oder es handelt sich um Fragmente. Unter ihnen gibt es auch Gruppen, die höchstwahrscheinlich von einer spezifischen älteren Textart abhängig sind. Zu diesen werden die Handschriften Nr. 13, 69, 124, 346, 543 und andere (f13) gerechnet – die sog. Ferrar-Gruppe (φ) – sowie die Handschriften Nr. 1, 118, 131, 209 und andere (f1) – früher als Lake-Gruppe (λ) bezeichnet. Gelegentlich sind für die Textkritik auch Lektionare nützlich, die einzelne Abschnitte des biblischen Texts für die Lesung im Gottesdienst enthalten. Mehr als 2000 Lektionare sind bekannt, die in den kritischen Ausgaben des neutestamentlichen Texts mit kursiv gesetztem l + Nummer bezeichnet werden (l 1, l 2, l 3 usw.). 4.2.4
Zitate in der altchristlichen Literatur
Eine weitere bedeutende Quelle für die Rekonstruktion des Urtexts sind die Zitate des Neuen Testaments in der ältesten christlichen Literatur, d. h. zumeist bei den Kirchenvätern. Schon seit Ignatius von Antiochien (110–114 n. Chr.) begegnen uns Anspielungen auf den Text des Neuen Testaments, bei denen manchmal schwer zu entscheiden ist, ob sie durch den Text selber oder nur durch die mündliche Tradition inspiriert wurden. Bereits gegen Ende des 2. Jh.s finden wir ausdrückliche Zitate. Sie sind bedeutend, weil die Schriften der Kirchenväter nicht so weit verbreitet waren und das Risiko von Fehlern beim Abschreiben geringer war. Besonders die Autoren der kontinuierlichen Auslegungen (Homilien) zitieren zunächst einen Abschnitt des Neuen Testaments, um ihn dann auszulegen. Solche Textzeugnisse sind höchstwahrscheinlich einer fortlaufenden Handschrift entnommen. Bereits Origenes (ca. 185– 254) und Hieronymus (ca. 347–419) untersuchten theologisch bedeutsame Abweichungen einzelner ihnen zugänglicher Handschriften, um ihre Entstehung zu erklären. Das relative Alter solcher Zeugnisse ist ihr Vorteil, ein Nachteil besteht in ihrem bruchstückhaften Charakter. In den kritischen Ausgaben werden die Kirchenväter – nach den Belegen aus den griechischen Texthandschriften – im Griechischen oder in anderen Übersetzungen angeführt und durch die Abkürzung des Namens des Autors bezeichnet, der die betreffende Stelle zitiert, z. B. Orig = Origenes. 4.2.5
Alte Übersetzungen des Neuen Testaments
Für die Rekonstruktion des Urtexts sind auch die alten Übersetzungen des Neuen Testaments wichtig. Eine Übersetzung reproduziert zwar die Vorlage nur indirekt und ist eigentlich ein zweifach abgeleiteter Zeuge, da durch das Abschreiben der Übersetzungen möglicherweise ebenso neue Fehler entstehen können, wie dies auch
100
4 Der Text des Neuen Testaments
schon beim Kopieren des griechischen Texts der Fall war. Wenn jedoch eine Übersetzung bei mehreren voneinander nicht abhängigen Zeugen an einer Stelle sichtbare Eigentümlichkeiten aufweist (z. B. die Auslassung eines Wortes oder den veränderten Sinn eines Satzes), ist diese Lesart der zugrundeliegenden Handschrift wahrscheinlich mindestens so alt wie die ältesten Übersetzungen. 4.2.5.1
Lateinische Übersetzungen I: Vetus Latina
Textausgaben: Vetus Latina: Die Reste der altlateinischen Bibel nach Petrus Sabatier neu gesammelt und herausgegeben von der Erzabtei Beuron, Freiburg i. Br. seit 1949; die weiteren bibliographischen Angaben siehe bei Aland / Aland, Text (Lit. § 4), 195 f.
Es gibt verschiedene Übersetzungen ins Lateinische. Die ältesten Handschriften des lateinischen Neuen Testaments stammen vom Ende des 4. Jh.s. Dabei handelt es sich jedoch um Kopien von Übersetzungen, die viel früher entstanden sind. Im Wortlaut lassen diese Abschriften gemeinsame Züge erkennen, aber auch Spuren von Korrekturen sowie Harmonisierungen divergierender Stellen. Da sie in den weiten, kaum hellenisierten Teilen Italiens verbreitet wurden, bezeichnet man diese lateinischen Übersetzungen als Itala. Die ältesten lateinischen Übersetzungen sind jedoch noch älter als die eben erwähnten Handschriften. Sie sind in Nordafrika entstanden, das seit dem 2. Jh. v. Chr. zum römischen Reich gehörte. Die nordafrikanische Küste war im Mittelmeerraum das größte Gebiet, das von der Hellenisierung kaum berührt wurde. Deshalb war hier nach dem Auftreten des Christentums der Wunsch nach einer lateinischen Übersetzung besonders ausgeprägt. Dort entstanden die ältesten lateinischen Bibelübersetzungen, denen vermutlich Handschriften derselben griechischen Handschriftenfamilie zugrunde liegen. Durch das hohe Alter der verarbeiteten Handschriften sind die Übersetzungen für die Textkritik wertvoll. Heute wird diese älteste Welle der lateinischen Übersetzungen Vetus Latina (die „alte lateinische“ Übersetzung) genannt. Die Übersetzer besaßen keine hohe Bildung, sodass Augustin (354–430) und Hieronymus (ca. 347–419) die schlechte Qualität der Übersetzung kritisierten. Allerdings sind Kopien der Vetus Latina noch im 13. Jh. belegt. Der erwähnte Gigas liber (§ 4.1) enthält in der Apostelgeschichte und der Johannesoffenbarung Lesarten, die aus der Vetus Latina stammen. Die lateinischen Handschriften werden durch kleine lateinische (ausnahmsweise griechische) Buchstaben angegeben (a, b, c usw.), gelegentlich auch durch Abkürzungen ihrer Bezeichnungen (gig = Gigas liber). Parallel wurde die numerische Bezeichnung (1, 2, 3 usw.) eingeführt (Bonifatius Fischer; vgl. den Anhang I.B von Nestle / Aland27). Auf die wissenschaftliche Erforschung der lateinischen Handschriften aus der Zeit vor der Vulgata konzentriert sich das Institut der Erzabtei Beuron im Donautal bei Sigmaringen.
4.2 Der Urtext des Neuen Testaments
4.2.5.2
101
Lateinische Übersetzungen II: Vulgata
Textausgaben: Johannes Wordsworth / Henricus I. White / H. D. F. Sparks, Novum Testamentum Domini nostri Jesu Christi latine secundum editionen Sancti Hieronymi I–III, Oxford 1898–1954 (editio minor: Wordsworth / White, London, o. J. [1982]; Robert Weber mit Bonifatius Fischer / Jean Gribomont / H. D. F. Sparks / Walter Thiele (Hg.), Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem I–III, Stuttgart 1969; Nova vulgata bibliorum sacrorum editio, Vatikan 1979.
Da die älteren lateinischen Übersetzungen von so schlechter Qualität waren und durch Verbesserungen große Unterschiede im lateinischen Text entstanden sind, wurde Hieronymus (ca. 347–419), ein Gelehrter, der Griechisch und Hebräisch gut beherrschte, von Papst Damasus (366–384) mit einer neuen Übersetzung ins Lateinische beauftragt. Diese Übersetzung sollte sich auf die griechischen Handschriften stützen und durch ihre Verbreitung die liturgische Lesung des biblischen Texts vereinheitlichen. Hieronymus übersetzte daraufhin das Alte Testament aus dem Hebräischen, nur bei den deuterokanonischen Büchern (§ 2.1.4d) benutzte er ältere lateinische Übersetzungen. Die Übersetzung des Neuen Testaments entstand als sorgfältige Revision der älteren lateinischen Fassungen anhand des griechischen Originals. Hieronymus standen als griechische Vorlage die frühen Zeugen des byzantinischen Texttyps (§ 4.3.2) zur Verfügung. Die Arbeit an den Evangelien schloss er im Jahr 383 ab. Die neue Fassung der Briefe taucht erst am Anfang des 5. Jh.s auf, sodass allgemein angenommen wird, dass sie von einem unbekannten Schüler des Hieronymus angefertigt wurde. Jedenfalls ist es ein wissenschaftlich sorgfältiges Werk. Auf diese Weise entstand die „vulgata versio“, d. h. die „allgemeine Fassung“ der lateinischen Übersetzung, wie sie seit dem 7. Jh. in der lateinischen Kirche verbreitet ist. Etwa 8000 Handschriften der Vulgata sind erhalten, von denen einige dem Urtext des Hieronymus zeitlich sehr nahe stehen, z. B. der Codex Sangallensis (n–16), der in St. Gallen aufbewahrt wird, Fragmente der Evangelien enthält und schon vom Anfang des 5. Jh.s stammt. Da die Vulgata (die „allgemeine“ Ausgabe) sich im Gebrauch nur durch Kompromisse mit älteren Fassungen durchsetzte, beschloss das Konzil von Trient 1546, eine authentische Ausgabe der Übersetzung vorzubereiten. Unter Papst Sixtus V. erschien die Neuausgabe 1590 (Vulgata Sixtina), doch enthielt sie so viele Fehler, dass bereits zwei Jahre später (1592) Papst Clemens VIII. sie erneut bearbeiten ließ. Diese Fassung (Clementina) wurde in ihrer 3. Auflage aus dem Jahr 1598 zum offiziellen Bibeltext der römisch-katholischen Kirche. Die Vulgata war von großer Bedeutung für die Durchsetzung des Bibeltexts, der dem griechischen Urtext relativ nahe steht. In der katholischen Kirche wurde sie 1979 offiziell durch die Neo-Vulgata (Nova Vulgata Bibliorum sacrorum editio) ersetzt, die eine verlässliche lateinische Übersetzung der neuesten Rekonstruktion des
102
4 Der Text des Neuen Testaments
griechischen Urtexts darstellt. Eine zuverlässige Rekonstruktion des ursprünglichen Texts der Übersetzung des Hieronymus wird im Benediktinerkloster San Girolamo (Hieronymus) in Rom vorbereitet. Die englische kritische Ausgabe stammt von J. Wordsworth, H. J. White und H. F. D. Sparks (1889–1954). 1969 erschien die vollständige kritische Handausgabe der Vulgata bei der Württembergischen Bibelgesellschaft in Stuttgart, 1994 deren 4. verbesserte Auflage.15 4.2.5.3
Syrische, koptische und andere alte Übersetzungen
Textausgaben bei Aland / Aland, Text (Lit. § 4), 199–221. Literatur: Tjitze Baarda, Essays on the Diatessaron (Contributions to Biblical Exegesis and Theology 11), Kampen 1994; William L. Petersen, Tatian’s Diatessaron (SVigChr 25), Leiden 1994.
Neben den lateinischen Übersetzungen, die die Sprache und Theologie der westlichen Kirche prägten, gab es noch weitere alte Übersetzungen, die für die Textkritik von Interesse sind (§ 2.1.4d). Sie stammen vor allem aus Syrien und aus Ägypten, wo man koptisch sprach. a) Syrische Übersetzungen: In der Mitte des 2. Jh.s stellte Tatian (ca. 120–180) das Diatessaron (griech. diá tessárōn = durch [die] vier [sc. Evangelien]), zusammen (§ 3.3c), eine syrische Evangelienharmonie, die den Stoff der vier Evangelien in einer durchgehenden Erzählung bündelte, in der syrischen Kirche verbreitet war und für eine authentische Form des Evangeliums Jesu gehalten wurde. Zu Beginn des 3. Jh.s entstand eine Übersetzung der einzelnen Evangelien (Vetus Syra), die durch Handschriften aus dem 4. und 5. Jh. bezeugt ist, nämlich durch den Syrus Curetonianus (syrc), der nach seinem Entdecker benannt wurde, und durch den Syrus Sinaiticus (syrs), der auf dem Sinai entdeckt wurde. Die Vetus Syra wurde durch das damals vorherrschende Diatessaron beeinflusst, ist handschriftlich aber nicht einheitlich überliefert. Indirekt ist sie durch einige Zitate bezeugt. Erst im 5. Jh. entstand die Peschitta (die Einfache).16 Dabei handelt es sich um eine offizielle syrische Übersetzung des in der Mehrheit der Kirche inzwischen schon kanonisierten Texts. Der Tradition nach wurde sie durch Bischof Rabbula von Edessa (411–435) angeregt und setzte sich bald in den beiden großen Gruppen des syrischen Christentums durch – bei den Monophysiten und den Nestorianern. Sie gewann in Syrien eine ähnliche Stellung wie die Vulgata im lateinischen Sprachraum. Die späteren Übersetzungen sind Revisionsversuche. Die erste von ihnen ist die Philoxeniana, die im Auftrag des monophysitischen Bischofs Philoxenus ein gewisser Polykarp 507– 508 anfertigte und die bisher nur fragmentarisch rekonstruiert wurde. Die zweite ist die Harklensis, die Bischof Thomas von Harqel unter Berücksichtigung einiger griechischer
15 Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem, ed. R. Weber u. a., Stuttgart 41994 (elektronische Ausgabe: CD-Rom Bibel Edition, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart). 16 Sie ist „die Einfache“ im Vergleich zu der mit zahlreichen Anmerkungen versehenen Übersetzung des Thomas von Harqel. Die Bezeichnung stammt aus dem 10. Jh.
4.2 Der Urtext des Neuen Testaments
103
Handschriften 616 als Revision der Philoxeniana zusammenstellte. Es handelt sich um eine sklavische Übersetzung mit einem komplizierten und nicht ganz durchsichtigen kritischen Apparat. Seit dem 5. Jh. ist die Existenz einer Übersetzung ins palästinische Syrisch belegt – einer Sprache, die dem von Jesus gesprochenen Aramäisch nahe stand. Dieser Text ist ebenfalls durch das Diatessaron beeinflusst. b) Koptische Übersetzungen: In Ägypten begannen die Christen in der Umgangssprache jener Zeit, dem Koptischen, zu schreiben. Unter der griechischsprechenden Intelligenz war das Christentum vielleicht schon in der zweiten Hälfte des 1. Jh.s bekannt. Jedenfalls ist bereits gegen Ende des 2. Jh.s eine beachtenswerte christliche Minderheit bezeugt. Da gleichzeitig alle Berichte über die einflussreiche jüdische Minderheit verschwinden, ist es wahrscheinlich, dass viele Juden Christen wurden. Über die Anfänge der christlichen Mission in Ägypten gibt es Legenden, die bei Markus oder Apollos (Apg 18,24 f.) einsetzen. Vor allem existieren Papyrusfragmente der neutestamentlichen Schriften, die aus Ägypten stammen und schon im 2. Jh. entstanden sind (§ 4.2.1). Nicht viel später musste das Christentum unter den koptischsprechenden Ureinwohnern Fuß gefasst haben. Seit dem 3. Jh. entstanden Übersetzungen in den im Süden (Oberägypten) gesprochenen sahidisch-koptischen Dialekt (sa), bald danach auch in den im Norden gesprochenen bohairisch-koptischen (bo) Dialekt. Einige Teile des Neuen Testaments wurden noch in andere Dialekte übersetzt, z. B. achmimisch (ac), lykopolitanisch (L),17 faijumisch (f), mittelägyptisch (mae). In allen koptischen Übersetzungen (co) sind gemeinsame Züge zu beobachten. Die ältesten koptischen Handschriften stammen vom Ende des 3. Jh.s. Besonders bedeutend sind der Crosby-Schøyen-Codex (Ms. 193; ca. 3. Jh.) mit dem Text u. a. des (1.) Petrusbriefs sowie der Codex Schøyen (Ms. 2650; 5. Jh.), in dem vermutlich eine spezifische Version des Matthäusevangeliums als Vorlage diente.18 Im Vergleich mit dem kanonischen Matthäusevangelium kann es als Paraphrase charakterisiert werden (vgl. § 6.4.4 zum Kodex D). c) Von den anderen alten Übersetzungen, die zumindest indirekt bei der Rekonstruktion des Urtexts gebraucht werden können, soll noch die armenische (arm + Abkürzungen für die einzelnen Handschriften) erwähnt werden. Sie entstand im 4. Jh. unter starkem Einfluss der syrischen Übersetzungen und wurde später unter Berücksichtigung griechischer Handschriften revidiert. Aus den armenischen und syrischen Vorlagen wurden sekundäre Übersetzungen ins Georgische (geo) angefertigt, erst die zweite Fassung der Übersetzung aus dem 7. Jh. verwendete griechische Handschriften. Direkt aus dem Griechischen (frühbyzantinische Handschriften) übersetzte im 4. Jh. Bischof Wulfila die Bibel für die zu der Zeit im Donauraum siedelnden Goten ins Gotische. Leider ist die Übersetzung nur unvollständig erhalten. Bekannt ist der Codex argenteus – die „Silberbibel“ aus dem 6. Jh., so genannt wegen der Prachtausstattung, heute in der Universitätsbibliothek in Uppsala. Ins Alt(kirchen)slawische wurden zunächst die Evangelien übersetzt und bald danach der 17
Früher „subachmimisch“ (ac2) genannt. Vgl. die Editionen von J. E. Goehring (CSCO 521 Sub 85, Louvain 1990), sowie die von H.-M. Schenke, Coptic Papyri I (MSC vol. II) Oslo 2001 (mit hypothetischer griechischer Rückübersetzung). 18
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4 Der Text des Neuen Testaments
apostolische Teil des Lektionars aus den Briefen des Neuen Testaments. Diese Übertragung geschah im Zuge der byzantinischen Mission der griechischen Gelehrten Konstantin (Kyrillus) und Methodius, die 863 auf Einladung des Herrschers Rostislav ins Mährische Reich kamen, um dem Volk das Christentum zu vermitteln. Nach dem Tod des Konstantin übersetzte Methodius in acht Monaten die ganze Bibel, die er zwei Schnellschreibern diktierte. Da die beiden Brüder das Südslawische beherrschten, bereicherten sie die Sprache um biblische Begriffe. Dadurch führten sie das Alt(kirchen)slawische ein, das für die Bevölkerung in dem Bereich verständlich war, zu dem Mähren, Ostböhmen, die Westslowakei und ein Teil Schlesiens gehörten. Nachdem sich die herrschende Dynastie für die westliche lateinische Liturgie entschieden hatte und Bischof Methodius 885 starb, verbreiteten seine Mitarbeiter die altslawische Bibel in Bulgarien. Über Bulgarien erreichte diese Bibel Russland und Kroatien.19
4.3 4.3.1
Methoden und Ergebnisse der Textkritik Die Methoden
Ziel der Textkritik ist es, den ursprünglichen Wortlaut festzustellen. Deshalb muss an jeder Stelle mit mehreren Lesarten gefragt werden, welche Variante die ursprüngliche ist, aus der alle anderen Varianten entstanden sind. Zu diesem Zweck hat die Textkritik eine eigene Methodik entwickelt, die in der Kombination von zwei Arten der Textanalyse besteht: Zum einen werden nach den sog. äußeren Kriterien das Alter und die Qualität der Zeugen in der Handschriftenüberlieferung untersucht, zum anderen nach den sog. inneren Kriterien die sprachliche, stilistische und inhaltliche Eigenart jeder Textvariante. Zunächst handelt es sich um ein heuristisches (Aussuchen der Texte) und chronologisches Vorgehen, dessen Ziel es ist, nach den äußeren Kriterien die Genealogie der Handschriften und anderer Zeugnisse einer bestimmten Texteinheit zu rekonstruieren. Das relative Alter und die Abhängigkeit der Texte untereinander lässt sich graphisch durch das Erstellen eines Baums von Zeugnissen (lat. stemma codicorum) sichtbar machen. In der älteren Textforschung wurden Genealogien als Stammbaum ganzer Handschriften erstellt (sog. Gesamtstemma) und zu einzelnen Gruppen gebündelt (sog. Texttypen), in der neueren Textforschung hingegen wird seit dem zweiten Weltkrieg die Genealogie der Lesarten jeder einzelnen Textstelle untersucht, aus der sich dann auch Rückschlüsse für das Verhältnis der Zeugen untereinander und deren Qualität ziehen lassen (sog. lokalgenealogische Methode).
19
1995.
Zum altslawischen Text s. A. A. Alekseev, Textgeschichte der slawischen Bibel, Köln
4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik
105
(Urtext)
Zeuge 1 Lesart a
Zeuge 4 Lesarten a + d
Zeuge 5 Lesarten a + e
Zeuge 2 Lesart b
Zeuge 6 Lesarten a + f
Zeuge 3 Lesart c
Zeuge 7 Lesarten b + g
Abb.8: Stammbaum der Zeugen
Durch diese Vorgehensweise können Handschriften bei der Rekonstruktion ausgeschieden werden, die von einem älteren Texttyp abhängen und deren abweichende Lesarten sekundär sind (Mütter und Töchter). Wenn eine Handschrift eine ältere Fassung eines Texts repräsentiert als andere, muss diese ältere Fassung jedoch noch keineswegs ursprünglicher sein. Deshalb kann eine gut bearbeitete Genealogie nicht mechanisch interpretiert werden. Die Textkritik kann z. B. feststellen, dass einige zeitlich spätere Handschriften gemeinsame Züge aufweisen, die nicht als Textkorruptionen zu erklären sind und die daher von einer unbekannten älteren Handschrift abhängig sein können. Die meisten alten Handschriften des Neuen Testaments enthalten nur Bruchstücke des Texts. Auch die unterschiedlichen Texttypen, d. h. Gruppen von Texten mit verwandten Lesarten, reichen nur bis in die ältesten für seine Rekonstruktion brauchbaren Handschriften zurück, die von der Entstehungszeit immer noch mindestens hundert Jahre entfernt sind. Aus diesen Gründen kann die genealogische Methode allein nicht zum Ziel führen. Sie muss durch die Sachkritik mit der Beurteilung der einzelnen Textvarianten nach inneren Kriterien ergänzt werden. Eine solche Kritik fängt mit der Untersuchung allgemein üblicher Schreibfehler an. Es handelt sich um die Verwechslung ähnlicher Wörter, um die Auslassung eines Teils des Texts, wenn an zwei voneinander nicht weit entfernten Stellen Worte mit einer ähnlichen Endung vorkommen (Homoioteleuton), um die Wiederholung von Wörtern oder Zeilen sowie um Fehler, die aufgrund einer ähnlichen Aussprache verschiedener Wörter bei der Niederschrift nach Diktat entstehen. Hinzu kommen vor allem in den Evangelien Abweichungen, die durch den Paralleltext aus einem anderen Evangelium verursacht werden. Die Varianten können aber auch durch die Kenntnis einer leicht unterschiedlichen Fassung des betreffenden Texts aus der mündlichen Tradition bedingt sein, durch die bewusste oder unbewusste Tendenz des Schreibers, den Text verständlicher zu machen oder zu glätten, sowie – in wenigen Fällen – auch durch dogmatische Motive. Mit Vorbehalten gilt bis heute die alte Regel: lectio difficilior = lectio potior (schwierigere Lesart = bessere Lesart). Nach diesem Prinzip hat die weniger ver-
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4 Der Text des Neuen Testaments
ständliche Lesart vor den genealogisch gleich gewichtigen, inhaltlich aber besser verständlichen Lesarten Vorrang, weil die Schreiber den Text oft sekundär stilistisch verbesserten. Dieser Grundsatz gilt allerdings nicht absolut, besonders wenn der überlieferte Text, die lectio difficilior, keinen Sinn ergibt und – selbstverständlich – wenn sie aus einer Beschädigung der Handschrift erklärt werden kann. Weiter werden diejenigen Abweichungen für wenig bedeutend gehalten, die in einer Handschrift vorkommen, welche zu einer Textgruppe mit profilierten gemeinsamen Zügen gehört. Revisionsbedürftig war auch die andere alte textkritische Regel, nach der die kürzere Fassung meistens die ursprünglichere ist (lat. lectio brevior = lectio potior). Nähere Untersuchungen zur Textüberlieferung zeigten nämlich, dass gerade in den frühen Papyri die Tendenz zur Anreicherung des Texts nur wenig ausgeprägter ist als die Neigung zur Kürzung. Von der richtigen Kombination dieser beiden methodischen Vorgehensweisen hängt die Qualität der textkritischen Arbeit ab. Nur die Lesart kann als ursprünglicher bezeichnet werden, die nach den inneren Kriterien durch die Sachanalyse der Abweichungen erreicht wurde und nach den äußeren Kriterien genealogisch gut positioniert ist. Eine hypothetische Lesart dagegen, wie plausibel sie auch sachlich sein mag, darf ohne solche Stützen, d. h. als Konjektur, bei der Rekonstruktion des Urtexts nicht berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite ist die Lesart der ältesten erhaltenen Handschriften nicht automatisch die älteste Textform. Die bedeutendsten Textvarianten sind schon in der Zeit vor der Entstehung der ältesten erhaltenen Handschriften entstanden. Auch die ältesten Lesarten können sekundär sein und müssen mit Hilfe der Sachkritik beurteilt werden.20 4.3.2
Der gegenwärtige Stand der Erforschung des biblischen Texts
Als Brooke F. Westcott und Fenton J. A. Hort 1881 ihre bahnbrechende Arbeit über die Geschichte des neutestamentlichen Texts herausgaben, waren die bedeutendsten Papyrushandschriften noch unbekannt. Doch stellte ihre Auswertung der bis dahin wenig beachteten Majuskelhandschriften den bislang vorherrschenden byzantinischen Texttyp (sie nannten ihn „syrisch“) in Frage. Ein Texttyp ist eine Gruppe von Handschriften, die sich durch charakteristische Lesarten auszeichnen, die von möglichst allen Gruppenmitgliedern gelesen werden. Der byzantinische Texttyp hat sich seit dem 4. Jh. im griechischsprechenden Osten des römischen Reichs rasch immer weiter ausgebreitet und ist durch seine überaus zahlreichen Abschriften zum Normaltext der byzantinischen Kirche geworden. Quantitativ gesehen bilden die byzantinischen Handschriften die absolute Mehrheit
20
Zwölf Grundregeln für die textkritische Arbeit nennen K. u. B. Aland, Der Text des Neuen Testaments, 282 f.
4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik
107
aller griechischen Textzeugen, weil in Griechenland bzw. im griechischen Sprachraum die griechische Bibel bis zur Erfindung des Buchdrucks ständig neu abgeschrieben wurde. Allerdings handelt es sich aus demselben Grund – die beschädigten alten Handschriften mussten immer durch neue ersetzt werden – um Handschriften späteren Datums (die ältesten stammen aus dem 8. Jh.). In den neuen Ausgaben wird dieser Texttypus durch das Sammelsigel M (Mehrheitstext) bezeichnet.21 Als in der Zeit des Humanismus das Interesse am griechischen Urtext des Neuen Testaments neu geweckt wurde, dienten einige Texte dieses byzantinischen Typus als Grundlage für die reformatorischen Bibelübersetzungen. Erasmus von Rotterdam (1466–1536) benutzte einige Handschriften des byzantinischen Texttyps, als er 1516 in Basel eilig seine Erstausgabe des Texts des Neuen Testaments veröffentlichte, die später mit wenigen Abweichungen als „textus (ab omnibus) receptus“ („der von allen übernommene Text“) verbreitet wurde. Der Textus receptus stellt also in etwa die gedruckte Gestalt der byzantinischen Texttradition dar (§ 4.3.4). Der Autoritätsverlust, den dieser Text (auch Koine-Text genannt) durch Westcott und Hort erfuhr, erregte Aufsehen, da auf dessen Wortlaut mehrere protestantische Gruppen die Theorie der Verbalinspiration (§ 2.1.4a) bezogen. Lange Zeit vermutete man, dass der byzantinische Text das Ergebnis einer Rezension (berichtigende Durchsicht) durch den Presbyter Lukian († 311) sei. Eine solche Rezension ist allerdings – zumindest für das Neue Testament – nicht nachweisbar.22 Der byzantinische Text ist das Ergebnis einer längeren Entwicklung. Es handelt sich um einen Texttyp, der als Ganzes dem Urtext nicht allzu nahestand, die älteren Texte sprachlich glättete und einige Textvarianten einfach kombinierte.23 In den Evangelien sind für diese Textgruppe Angleichungen an die Parallelstellen in anderen Evangelien vorgenommen worden (in den kritischen Ausgaben meistens durch p gekennzeichnet). Da die Bearbeitung der byzantinischen Textform jedoch auf der Basis alter Texttraditionen gemacht wurde, kann diese Textart trotz ihrer Inkonsequenzen und späteren Korruptionen einige wertvolle Elemente des Urtexts bewahrt haben. Eine totale Ablehnung dieses byzantinischen Texts ist demnach nicht berechtigt. Westcott und Hort definierten mehrere Textgruppen, die sie von lokalen Traditionen ableiteten. Wir sprachen bereits von der in Cäsarea entstandenen Textgruppe (§ 4.2.2 Ende). Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Hypothese von den lokalen Textgestalten, wie inspirierend sie
21 S. das Verzeichnis der Handschriften bei Nestle / Aland, Novum Testamentum Graece, 27. Aufl., 713. 22 Vgl. G. Zuntz, Lukian von Antiochien, 25. 23 So lesen z. B. in Röm 6,12 die Handschriften a, A, B u. a. „taís epithymíais autoú“ (so lasst die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, sodass ihr seinen Begierden gehorcht!), p46, D, G u. a. lesen „autḗ“ (… sodass ihr ihr gehorcht!) und die byzantinische Gruppe (K, P und mehrere Minuskeln) liest „autḗ en taís epithymíais autoú“ (… sodass ihr ihr nicht gehorcht in seinen [des Leibes] Begierden!).
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4 Der Text des Neuen Testaments
gewesen sein mag und wie richtig sie im Prinzip auch war, sich nicht bewährt. Denn die Handschriften wurden relativ häufig transportiert und die Textvarianten verbreiteten sich schnell, sodass eine Lokalisierung nicht möglich ist und wenig nützen würde. Wir werden uns deswegen nur auf die drei markantesten Textgruppen konzentrieren.
Neben dem byzantinischen Texttyp die zweite bedeutende Gruppe ist der sog. westliche Text, der wahrscheinlich in Syrien entstand, aber im Westen verbreitet wurde. Belegt ist er durch alte lateinische Übersetzungen, durch Zitate bei den Kirchenvätern (Justin, Irenäus, Tertullian), durch griechische Minuskeltexte und durch den Codex Bezae (D; § 4.2.2). Es handelt sich um einen Texttyp, der Spuren einer gewissen Harmonisierung aufweist. An manchen Stellen bietet er Erweiterungen, aber auch dort, wo er eine kürzere Lesart hat (nach Westcott und Hort die „western non interpolations“), muss er nicht dem Urtext näher sein. Doch weist dieser Texttyp Lesarten auf, die schon durch Papyrushandschriften bezeugt sind. Für die Textkritik am bedeutendsten ist ohne Zweifel die dritte Gruppe der Handschriften, deren Mitglieder den ägyptischen oder „neutralen“ Text bieten. Seine Hauptvertreter sind der Codex Vaticanus (B) und der Codex Sinaiticus (a), die alexandrinischen Kirchenväter, besonders Clemens von Alexandrien (ca. 150–215 n. Chr.), einige Minuskelhandschriften (33 u. a.) und in weniger eindeutiger Gestalt auch andere bedeutende Majuskelhandschriften wie A, C, L und die koptischen Übersetzungen. Die Verlässlichkeit dieser Hauptzeugen schwankt von einem Teil des Neuen Testaments zum anderen. Der Vaticanus (B) z. B. steht in den Paulusbriefen und in den katholischen Briefen der Verlässlichkeit seines Zeugnisses nach an erster Stelle, während er die Johannesoffenbarung nicht enthält und in der Apostelgeschichte Sinaiticus (a) und Alexandrinus (A) bevorzugt werden. In ähnlicher Weise müssen auch bei anderen Textgruppen die Hauptzeugen für die einzelnen Teile des Neuen Testaments näher bestimmt werden. Vor allem gilt es bei der textkritischen Untersuchung jeder Bibelstelle zu wissen, welche Zeugen überhaupt vorhanden sind. Zu dieser Frage bietet der Anhang (Appendix I) in der Textausgabe von Nestle / Aland eine gute erste Information. „Neutral“ wurde der ägyptische Text von Westcott und Hort genannt, weil er nach damaligen Vorstellungen durch die lokalen Abweichungen nicht verändert war. Diese Einschätzung stellte sich, wie wir jetzt wissen, jedoch als ungenau heraus. Auch hier handelt es sich um einen Texttyp, der schon früh belegt ist. Lange wurde dieser Texttyp auch als „Rezension von Hesychius“ († um 305)24 bezeichnet, da Hieronymus von dessen Rezension der griechischen Bibel berichtet.25 Eine solche Rezension ist jedoch durch die Untersuchung der Handschriften nicht nachweisbar, und die Notizen
24 Es handelt sich um einen sonst unbekannten Bischof. Die Datierung seines Lebens wird von der Notiz über den Märtyrer Hesychius abgeleitet (Eus. h.e. 8,13,7), wobei es nur eine Hypothese ist, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. 25 Praef. in Paral.; Apol. adv. Ruf. II,27; Praef. in Evang.
4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik
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des Hieronymus beziehen sich wahrscheinlich nur auf den Text der Septuaginta. Vor allem vertreten die später entdeckten Bodmer-Papyri (p66, p72 und p75) eine ähnliche Texttradition, obwohl sie etwa hundert Jahre vor Hesychius geschrieben wurden.26 Es kann also nur gesagt werden, dass Hesychius vielleicht eine ältere Texttradition in einem Teil der Bibel neu revidierte. Ihre charakteristischen Züge gewann jene Tradition schon vor Hesychius.
Aus diesem Befund der allmählichen Herausbildung von Texttypen können folgende Konsequenzen gezogen werden: Die entscheidenden Korruptionen des Urtexts einzelner Bücher des Neuen Testaments entstanden vor seiner Kanonisierung, konkret in der Zeit zwischen der Entstehung der einzelnen Schriften und etwa der Mitte des 2. Jh.s, als die mündliche Tradition den geschriebenen Text noch direkt beeinflusste und die Handschriften noch getrennt je für sich abgeschrieben wurden. Nicht ganz ausgeschlossen ist, dass einzelne Schriften von ihren Autoren noch selbst revidiert und einige Bücher sehr wahrscheinlich sogar durch Schüler neu bearbeitet wurden, wie das Johannesevangelium erkennen lässt (§ 7.1.4c). Ebenso können aus Teilen der paulinischen Korrespondenz einzelne „Briefe“ entstanden sein (z. B. 2Kor [§ 5.13.2], möglicherweise auch Phil [§ 5.14.2]). Durch die redaktionelle Bearbeitung der Schriften kam es selbstverständlich auch zu Änderungen im Wortlaut. Gegen Ende jener Periode wurden die überlieferten Texte in Gruppen gesammelt (Corpus Paulinum, die vier Evangelien usw.). Daraus ergibt sich bei jeder Kopie der einzelnen Schriften die Frage, ob sie schon zu einer solchen Gruppe von gemeinsam weitergegebenen Texten gehörte. Bereits in der zweiten Hälfte des 3. Jh.s müssen wir die ersten Rezensionen des Texts vermuten, wie man die berichtigende Durchsicht nennt. Jede Rezension beseitigte viele grobe Fehler, aber gleichzeitig konservierte und verbreitete sie einige fehlerhafte Korrekturen, weil die Gelehrten nur begrenztes Vergleichsmaterial zur Verfügung hatten. Solche Abweichungen können wir nur vermutungsweise annehmen. In jener Zeit sind auch die eben beschriebenen großen Textgruppen (Texttypen) entstanden. Anfänglich gab es offensichtlich mehrere lokale Rezensionen, wie Westcott und Hort richtig angenommen haben. Die letzte Art der Abweichungen kam nach der Entstehung der Idee des Kanons (§ 3.3) zustande, als man begann, das Neue Testament als Ganzes zu sammeln. In der Mitte des 3. Jh.s überwog im Westen schon die lateinische Sprache und der griechische Text wurde nur noch selten neu abgeschrieben. In anderen Gebieten wie Ägypten und dem östlichen Mittelmeerraum wurde schon am Anfang des 4. Jh.s die Notwendigkeit eines einheitlichen Texts spürbar. Durch die Ausdehnung der Kirche und die rege Kopiertätigkeit traten die Unterschiede in den einzelnen Handschriften so deutlich zutage, dass die liturgische Einheit der Kirche bedroht wurde. Die Bischöfe beauftragten christliche Gelehrte mit der Suche nach älteren verlässlichen 26
Vgl. G. D. Fee, p75, p66 and Origen: The Myth of Early Textual Recension in Alexandria, zuletzt in: E. J. Epp / G. D. Fee, Studies, 247–273.
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4 Der Text des Neuen Testaments
Archetypen des Texts. Von diesen Revisionen gilt in verstärktem Maße, was wir eben von den früheren Textrezensionen gesagt haben. Der Unterschied besteht nur darin, dass diese Etappe der Rezensionen schon z. T. rekonstruierbar ist. 4.3.3
Die bekanntesten Textabweichungen
Die meisten Textabweichungen vom rekonstruierten Urtext des Neuen Testaments fallen kaum ins Gewicht, da es sich um Schreibversehen oder stilistische Glättungen handelt, die den Sinn nicht verändern. Zu den wenigen auffälligen Textabweichungen gehören: a) der Wortlaut des Vaterunsers nach Mt 6,9b–13, da die byzantinische Texttradition am Ende eine offensichtlich sekundäre (durch 1Chr 29,11–13 inspirierte) dreigliedrige Doxologie enthält, welche die evangelischen Kirchen übernahmen,27 b) der spätere längere Zusatz des Markusevangeliums (§ 6.2.2), da in den ältesten Zeugen des ägyptischen Texts Mk 16,9–20 fehlt, c) die Abweichung (Kürzung) in der Stiftung des Herrnmahls nach Lk 22,19–20 gemäß dem Codex Bezae (D), die wahrscheinlich den Widerspruch zum Aposteldekret nach Apg 15,20 (Trinken des Bluts) vermeiden sollte, und d) die trinitarische Formel in 1Joh 5,7b–8, das Comma Johanneum („Textabschnitt des Johannes“), das vermutlich im 3./4. Jh. entstanden ist.28 4.3.4
Die neuzeitlichen Editionen des griechischen Texts
Kritische Editionen sind die Ergebnisse textkritischer Arbeit. Schon die hellenistischen Gelehrten bereiteten in Alexandrien kritische Textausgaben griechischer Klassiker vor. Vom Neuen Testament wurde die erste kritische Ausgabe erst in der Neuzeit ediert: die komplutensische Polyglotte (Polyglotta Complutensis), deren neutestamentlicher Teil in Spanien in Complutum (Alcalá) im Jahr 1514 publiziert wurde. Veranlasst wurde das große gelehrte Unternehmen durch Franziscus Kardinal Ximenes († 1517), der es auch finanzierte. Allerdings erteilte Papst Leo X. erst 1520 die Erlaubnis zur Veröffentlichung. Diese Ausgabe wird Polyglotta (Mehrsprachige) genannt, weil sie neben dem griechischen auch den lateinischen Text bietet. Der grie-
27
§ 6.3.4.3b; vgl. Lk 11,2–4 (§ 6.4.4); in der Didache und einigen koptischen Übersetzungen begegnen wir einer zweigliedrigen Doxologie (ohne „das Reich“). 28 Andere bedeutende Abweichungen finden sich in Mk 1,1 (Sohn Gottes); Lk 2,14 (bei den Menschen seines Wohlgefallens); 23,34 (Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!); Apg 15,20–29 (Aposteldekret); Mt 21,44; Joh 7,53–8,11 (Jesus und die Ehebrecherin; § 7.1.2). Der Wortlaut der wichtigsten Textvarianten ist in den Anmerkungen der Jerusalemer Bibel wiedergegeben.
4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik
111
chische Text stützte sich auf mehrere für uns nicht greifbare byzantinische Handschriften, die sorgfältig verglichen wurden. Bevor sich die europäische Öffentlichkeit mit diesem imposanten Werk vertraut machen konnte, veröffentlichte im Jahr 1516 der Basler Buchdrucker Johann Froben (Frobenius) den griechischen Text des Neuen Testaments, den der bekannte Humanist Erasmus von Rotterdam (1466–1536) vorbereitet hatte. Leider gab dieser eine übereilte Arbeit ab, da er den spanischen Gelehrten durch eine frühere Veröffentlichung zuvorkommen wollte. Auch Erasmus verwendete byzantinische Handschriften (§ 4.3.2) als Grundlage. Für jeden Teil des Neuen Testaments nahm er eine solche Minuskelhandschrift, trug seine Korrekturzeichen ein, und die Drucker setzten den Text direkt aus dieser Vorlage. Für das Buch der Offenbarung lieh er von seinem Freund Johannes Reuchlin (1455–1522) ein Exemplar aus, in dem das Ende (Apk 22,16–21) fehlte. Diesen Abschnitt übersetzte er mit einigen grammatikalischen Fehlern aus dem Lateinischen ins Griechische. So entstand die Textausgabe, die in der Reformationszeit als Vorlage für die Übersetzungen in mehrere Nationalsprachen diente. Auf der Grundlage der 2. Auflage (1519) übersetzte auch Martin Luther das Neue Testament. Sein Werk erschien im Jahr 1522. Den Text der Polyglotta hatte Luther noch nicht zu Verfügung. Erasmus fügte eine lateinische Übersetzung hinzu, die später auch getrennt erschien. Die weiteren Ausgaben, die in Paris bei dem Buchdrucker Robert Stephanus (Estienne) (1503–1559) erschienen, korrigierte man anhand der spanischen Ausgabe.
Exkurs 1: Zur Kapitel- und Verseinteilung des neutestamentlichen Texts Die vierte Ausgabe des korrigierten Erasmustexts, die Robert Stephanus im Jahr 1551 publizierte, enthielt erstmals eine Gliederung in Verse, die sich seitdem eingebürgert hat. Schon früher war der Text des Neuen Testaments in verschiedenen Handschriften unterschiedlich gegliedert worden. In den meisten Manuskripten setzte sich die Gliederung in Kephalaia (Kapitel) durch, die in der Ausgabe von Nestle / Aland am inneren Rand durch kursiv gesetzte Zahlen angegeben sind (1 2 3 4 usw.). Die heute übliche Einteilung in Kapitel wurde 1203 im Rahmen der Vulgata eingeführt und geht auf Stephan Langton, den späteren Erzbischof von Canterbury, zurück. Sie wurde von Robert Stephanus (Estienne) übernommen und 1551 in der lateinisch-griechischen Ausgabe des Neuen Testaments (mit dem verbesserten Erasmustext) durch die Nummerierung der Verse ergänzt, die sich rasch durchsetzte. Die Überschriften zwischen den einzelnen Abschnitten in den heutigen Bibelausgaben stammen nicht von den biblischen Verfassern, sondern wurden von den Herausgebern und Übersetzern ergänzt. Dadurch erklärt sich auch die Unterschiedlichkeit der Überschriften.
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4 Der Text des Neuen Testaments
*** An den Text von Erasmus knüpften auch andere Ausgaben an, u. a. die des Reformators Theodor Beza (1519–1605), des Freundes und Nachfolgers Calvins in Genf, der die wertvolle Handschrift des westlichen Texts (Codex Bezae Cantabrigiensis, heute D) besaß. Für die Textausgabe nutzte er jedoch diese viel frühere Handschrift nicht. Heute wissen wir, dass dieses Versäumnis paradoxerweise ein Glück war, denn deren Paraphrase der Apostelgeschichte unterscheidet sich auffällig von allen anderen Handschriften und hätte später schwere Folgen hinsichtlich der ökumenischen Autorität der Bibel nach sich ziehen können. Die auf byzantinischen Handschriften basierende Ausgabe des Erasmus und seiner Nachfolger erhielt im Vorwort die als Empfehlung gedachte Benennung Textus receptus, als sie 1633 im Verlagshaus der Familie Elzevier in Leiden zum zweiten Mal erschien (§ 4.3.2). Schon im 18. Jh. begannen einige Gelehrte, auch Varianten aus anderen Gruppen als dem byzantinischen Texttyp zu beachten und das gegenseitige Verhältnis der ihnen zugänglichen Handschriften zu untersuchen (Johann Albrecht Bengel, Johann J. Wettstein, Johann J. Griesbach u. a.). Die wichtigsten, bis heute gültigen Grundsätze der Textkritik sind bereits von Bengel formuliert worden. Es war jedoch erst Karl Lachmann, der bei der Rekonstruktion des griechischen Texts 1831 konsequent den Textus receptus verließ. Auf der Grundlage des Codex Sinaiticus erarbeitete Konstantin von Tischendorf (1815–1874) in den Jahren 1869–1872 seine große Ausgabe des griechischen Texts (Lit. § 4).29 Die erste moderne Ausgabe, die auf dem Vergleichen mehrerer Handschriften aus verschiedenen Gruppen gründet, stammt von Westcott und Hort aus den Jahren 1881–1882 (§ 4.3.2). Von den weiteren Bibelwissenschaftlern, die neue Ausgaben des griechischen Texts des Neuen Testaments publiziert haben, sollen noch Hermann von Soden (1852–1914), Augustinus Merk (Textausgabe von 1933, 9. Aufl. 1964) und Eberhard Nestle genannt werden. Diese kritischen Ausgaben haben den Textus receptus auch aus der Theologenausbildung und der kirchlichen Praxis verdrängt. Besonders wichtig wurde die Textausgabe Novum Testamentum Graece von Eberhard Nestle (1898), der frühere kritische Ausgaben heranzog und den Ertrag der textkritischen Arbeit des 19. Jh.s zusammenfasste. Im Jahr 1927 fügte Nestles Sohn Erwin Nestle den textkritischen Apparat hinzu, der alle wichtigen Varianten mit der sie bezeugenden Handschrift notiert (früher bezeichnete man die Abweichungen nur mit den Namen der sie bevorzugenden Herausgeber). Seit der 21. Auflage 1952 war Kurt Aland Mitherausgeber dieser Ausgabe, deren textkritischer Apparat stetig er29 Eine Ausgabe des Texts von Stephanus aus dem Jahr 1550, die auch den Text späterer Ausgaben (Elzevier, Griesbach, Lachmann, Tischendorf, Tregelles, Alford, Wordsworth) notiert, ist die schöne griechisch-englische Taschenausgabe The Englishman’s Greek New Testament (London 1877), die mehr mals neu gedruckt wurde.
4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik
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weitert wurde. 1966 erschien die neue Ausgabe des Greek New Testament, für die ein Herausgeberkomitee mit folgenden Gelehrten verantwortlich war: Kurt Aland, Matthew Black, Bruce M. Metzger, Allen Wikgren, Arthur Vööbus, später Carlo M. Martini, Barbara Aland und Johannes Karavidopoulos. Eine völlig neu bearbeitete Ausgabe des Novum Testamentum Graece erschien 1979 (Nestle / Aland26), gemeinsam herausgegeben von Kurt Aland, Matthew Black, Carlo M. Martini, Bruce M. Metzger und Allen Wikgren. Der Text der Edition war gleichlautend mit der 3. Auflage des Greek New Testament. Beide Editionen sind interkonfessionell erarbeitet und verantwortet, was von erheblicher Bedeutung ist. Sie liegen allen neueren Übersetzungen zugrunde. Die 27. Auflage erschien 1993 mit unverändertem Text, nur der textkritische Apparat wird seither mit jedem Neudruck aktualisiert.30 Die zentrale Koordination der Arbeit an der Rekonstruktion des Urtexts brachte viel Gutes mit sich und ist zu begrüßen. Das Institut in Münster versucht durch die Zusammenarbeit mit dem Herausgeberkomitee die Gefahr einer einseitigen Monopolisierung zu vermeiden. Doch ist es nützlich, wenn auch an anderen Stellen kritische Ausgaben des neutestamentlichen Texts erscheinen. Eine solche Ausgabe ist z. B. diejenige der synoptischen Evangelien in der durch Heinrich Greeven bearbeiteten Synopse der drei ersten Evangelien von Albert Huck, die besonders die patristischen Zeugnisse berücksichtigt.31 Inzwischen sind die gängigen Textausgaben auch elektronisch zugänglich32 und für die Arbeit am Computer aufbereitet worden durch BibleWorks oder durch die Stuttgarter Elektronische Studienbibel (SESB).33 4.3.5
Das theologische Problem der Textrekonstruktion
Die Rekonstruktionen des Urtexts, die nicht mehr nur mit einer alten und verlässlichen Handschrift arbeiten, produzieren einen neuen Text, der als Grundlage für die
30
Auch als elektronische Ausgabe erhältlich: CD-Rom Bibel Edition, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 31 A. Huck / H. Greeven, Synopse der drei ersten Evangelien. Mit Beigabe der johanneischen Parallelstellen, Tübingen 131981. 32 Vgl. (ohne textkritischen Apparat): CD-Rom Bibel Edition, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart: Biblia Hebraica Stuttgartensia, Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland, 27. Aufl.), Septuaginta und Vulgata. 33 Vgl. als Textausgaben mit Suchfunktionen: BibleWorks für Windows 7.0 oder die Stuttgarter Elektronische Studienbibel (SESB), hg. v. Ch. Hardmeier u. a., Stuttgart 2004 (inzwischen 2., erweiterte Auflage, vgl. detailliertere Informationen unter www.bibleworks.com und www.bibelgesellschaft.de). Einen Vergleich beider Editionen bietet J. Woyke, Die Stuttgarter Elektronische Studienbibel (SESB), ThBeitr 36 (2005), 272–276.
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4 Der Text des Neuen Testaments
meisten Bibelübersetzungen dient. Auf diese Weise beeinflusst die textkritische Arbeit unmittelbar das Leben der Gemeinden. Die Kirchen, die die Existenz einer allgemeinen (katholischen) Kirche im Apostolischen Bekenntnis oder im Nizänischen Bekenntnis anerkennen, sehen die Schrift als Norm ihres Glaubens und Lebens an. Nur die Abgrenzung, welche Schriften zum Kanon gehören, liegt in der Verantwortung der Konfessionen und kann neu formuliert werden (§ 3.3; 3.5). Die neuen Textausgaben, wie geringfügig ihre Unterschiede auch sein mögen, stellen prinzipiell jedoch eine Änderung im Bestand des Kanons dar, der in der Kirche normative Geltung erlangt hat (§ 3.3). Und es ist ein großer geschichtlicher und theologischer Erfolg der kritischen Wissenschaft, dass dieses so bedeutende Ergebnis von den meisten Christen anerkannt und in den Bibelausgaben akzeptiert wird, die die Kirchen zur Lektüre empfehlen. Diese durchgängige Rezeption ist der ökumenische Beitrag der Textkritik. Im Ergebnis führt die textkritische Arbeit zu einem künstlichen Text, der jedoch dem Urtext am nächsten kommt. In praktischer Hinsicht wäre es vielleicht einfacher, auf die Suche nach dem Urtext zu verzichten und in den großen wissenschaftlichen Ausgaben eine alte Handschrift als Grundlage zu nehmen, deren Abweichungen sich übersichtlicher in einzelne Gruppen gliedern ließen. Die Grundlage wäre dann ein Text, der in der Liturgie schon einmal für Schriftlesung und Predigt benutzt wurde. Und doch wäre dieses Vorgehen ein Verzicht auf den Weg zu den Quellen, der auch zu praktischen Ergebnissen führen soll. Die Rekonstruktion des Urtexts, die mit dem ursprünglichen Wortlaut wahrscheinlich nicht identisch ist, ihm aber doch nahekommt, ist ein Wagnis. Und sie ist immer noch nicht abgeschlossen, da die Textrekonstruktionen mit der Entdeckung und Bearbeitung weiterer Handschriften wechseln. Gerade in der Offenheit des Weges, der ohne Zweifel mehrere Etappen haben wird, ist diese Rekonstruktion des ursprünglichen Texts ein faszinierendes Geschehen.
5 Die paulinischen Briefe
Zu Paulus und seiner Theologie: Béda Rigaux, Saint Paul, Paris 1956; Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984; Karl H. Rengstorf (Hg.), Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung (WdF 24), Darmstadt 1964, 31982; Ulrich Luz, Das Geschichtsverständnis des Paulus (BEvTh 49), München 1968; Victor P. Furnish, Theology and Ethics in Paul, Nashville / New York 1968; Günther Bornkamm, Paulus (1969), Stuttgart 71993; Joachim Gnilka, Paulus von Tarsus (HThK S VI), Freiburg 1966; Georg Eichholz, Die Theologie des Paulus im Umriss, Neukirchen 1972; Ed P. Sanders, Paulus und das palästinische Judentum (1977), deutsch Göttingen 1985; Ralph P. Martin, Reconciliation. A Study of Paul’s Theology, Atlanta, GA 1980; Leander E. Keck, Paul and His Letters, Philadelphia, PA 21988; Daniel Patte, Paul’s Faith and the Power of the Gospel. A Structural Introduction to the Pauline Letters, Philadelphia 1983; J. Chris Beker, Paul the Apostle, Philadelphia (Edinburgh) 2 1984; Alberto Vanhoye (Hg.), L’Apôtre Paul, Louvain 1986; Hans Hübner, Paulusforschung seit 1945, ANRW II,25,4, Berlin 1987, 2649–2840; Karl H. Schelkle, Paulus, Darmstadt 21988; Samuel Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung (FRLANT 147), Göttingen 1989; Otfried Hofius, Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 1989, 21994; Martin Hengel / Ulrich Heckel, Paulus und das antike Judentum (WUNT 58), Tübingen 1991; Jürgen Becker, Paulus, Tübingen 2 1992; Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie I (Lit. § 1); Hans Hübner, Biblische Theologie II (Lit. § 1); Charles K. Barrett, Paul, Louisville, KT 1994; Georg Strecker (hg. v. F. W. Horn), Theologie des Neuen Testaments, Berlin / New York 1996, 11–229; Eduard Lohse, Paulus, München 1996; James D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids, MI (Edinburgh) 1998; Martin Hengel, Paulus und Jakobus. KS III (WUNT 141), Tübingen 2002; Otfried Hofius, Paulusstudien II (WUNT 143), Tübingen 2002; Ferdinand Hahn, Theologie (Lit. § 1); Udo Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin 2003; James D. G. Dunn (Hg.), The Cambridge Companion to St. Paul, Cambridge 2003; Dieter Sänger / Ulrich Mell (Hg.), Paulus und Johannes (WUNT 198), Tübingen 2006; Oda Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe (UTB), Tübingen / Basel 2006. Literatur zur Briefform: Adolf Deißmann, Licht vom Osten, Tübingen 41923; John L. White, New Testament Epistolary Literature in the Framework of Ancient Epistolography, in: ANRW II, 23,2, Berlin / New York 1984, 1730–1756; Stanley K. Stowers, Letter Writing in Graeco-Roman Antiquity (LEC 5), Philadelphia 1986; Hermann Probst, Paulus und der Brief (WUNT II/45), Tübingen 1991; M. Luther Stirewalt Jr., Studies in Ancient Greek Epistolography (SBL.RBS 27), Atlanta, GA 1993; Hans-Josef Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament (UTB), Paderborn u. a. 1998.
Von den insgesamt 21 Briefen des Neuen Testaments sind 13 unter dem Namen des Paulus überliefert. Als authentische Paulusbriefe gelten heute die folgenden sieben Schreiben (in der kanonischen Reihenfolge): Röm – 1Kor – 2Kor – Gal – Phil – 1Thess – Phlm (§ 5.10–16). Schülern des Apostels hingegen werden meist zugeschrie-
116
5 Die paulinischen Briefe
ben: Eph – Kol – 2Thess – Past (1–2Tim; Tit; § 8.1–4) und in einem weiteren Sinn auch der Hebräerbrief (§ 8.5). Wir beginnen mit den Briefen, deren paulinische Autorschaft unumstritten ist. Sie sind die ältesten christlichen Zeugnisse überhaupt und von prägender Bedeutung für die frühe Christenheit. Doch bevor wir uns den einzelnen Paulusbriefen zuwenden können (§ 5.10 ff.), sind einige Überlegungen zu den Voraussetzungen erforderlich, d. h. zur Bedeutung der Briefe für die frühe Kirche (§ 5.1–4), zu den von Paulus verwendeten Traditionen, nämlich „der Schrift“ (d. h. unser Altes Testament), den Hoheitstiteln und den älteren christologischen Formeln (§ 5.5–6), dem Briefformular (§ 5.7), der Biographie des Paulus (§ 5.8.1–2) sowie der Sammlung der paulinischen Briefe zu einem eigenen Briefkorpus (§ 5.9).1
5.1
Der Brief als Ersatz für die persönliche Anwesenheit des Apostels
In hellenistischer Zeit wurde der Brief (epistolḗ) zu einer verbreiteten Form der persönlichen Kommunikation,2 die trotz der räumlichen Entfernung der Korrespondierenden die persönliche Präsenz (parousía) des Absenders vermitteln sollte und konnte.3 Der Brief ist ein halbiertes Gespräch, er gibt nur die eine Seite wieder, die andere muss rekonstruiert werden. Er vertrat den Verfasser in seiner ganzen Persönlichkeit. So schrieb Basilius der Große (329–379), Bischof von Cäsarea, im 4. Jh. an Iovinus: „In deinem Brief habe ich deine Seele gesehen“ (ep. 2,419 f.).4 Die persönliche Dimension nutzten einige Philosophen und Schriftsteller wie auch die christlichen Apostel für Mitteilungen mit überindividueller Geltung. Paulus schrieb seine Briefe als Apostel,5 sie vergegenwärtigten seine apostolische Autorität. Manchmal versah er sein Schreiben mit einer eigenhändigen Unterschrift und bekräftigte seinen Autoritätsanspruch noch durch einen ausdrücklichen Hinweis auf Christus: „Mein, des Paulus, eigenhändiger Gruß. Wer den Herrn nicht liebt, der sei verflucht. Maranatha!“ (1Kor 16,21 f.; vgl. Gal 6,11 f.14). 1
Vgl. insgesamt U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5; mit umfangreicher Literatur), zur paulinischen Theologie die systematische Darstellung von J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), oder ebenso wissenschaftlich wie allgemeinverständlich die Biographie von E. Lohse, Paulus (Lit. § 5), aber auch die neutestamentlichen Theologien von P. Stuhlmacher (Lit. § 1), Bd. 1, 221– 392, und F. Hahn (Lit. § 1), Bd. I, 180–329. 2 Vgl. insgesamt H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament (UTB), Paderborn u. a. 1998. 3 Vgl. griech. „apṓn“ für die Abwesenheit in 1Kor 5,3; 2Kor 10,1.(11); 13,2.10; Phil 1,27; (Kol 2,5) und griech. „parṓn“ für die Anwesenheit in 1Kor 5,3; 2Kor 10,2.(11); 13,2.10; Gal 4,18. 4 S. K. Stowers, Letter Writing, 67 f. 5 Vgl. z. B. die Absenderangaben in Röm 1,1; 1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Gal 1,1.
5.2 Die Ausrichtung auf die Gemeinden
5.2
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Die Ausrichtung auf die Gemeinden
Trotz mancher persönlicher Elemente sind die kanonisierten Episteln keine Privatbriefe,6 sondern Schreiben, die mit einem apostolischen Anspruch verfasst und als Mittel urchristlicher Missionsarbeit eingesetzt wurden. Immer richtet Paulus seine Paulusbriefe an eine konkrete Gruppe, an eine Gemeinde: „Ich beschwöre euch bei dem Herrn, diesen Brief vor allen Brüdern vorzulesen“ (1Thess 5,27; vgl. Kol 4,16). Manchmal sind sie sogar für mehrere Gemeinden einer Gegend bestimmt,7 im Philemonbrief zumindest für eine Hausgemeinde (Phlm 2).8 Erst in nachpaulinischer Zeit wurden Briefe nicht mehr nur an namentlich erwähnte Einzelgemeinden adressiert, sondern auch ohne direkten örtlichen Bezug allgemeiner als Botschaft und Ermahnung für eine größere Gruppe von Gläubigen oder für alle Christen geschrieben.9 Selbst die Pastoralbriefe sind zwar in Gestalt von Timotheus und Titus an Einzelpersonen adressiert, in Wirklichkeit aber als Instruktionen für die kirchlichen Funktionsträger der dritten christlichen Generation konzipiert und damit auf die Gestaltung des Gemeindelebens ausgerichtet (§ 8.4.2).
5.3
Das Vorlesen im Gottesdienst
Die Briefe der Apostel wurden innerhalb der gottesdienstlichen Versammlungen vorgelesen10 und auch mit den Nachbargemeinden ausgetauscht. Sie wurden also über ihren aktuellen Anlass hinaus aufbewahrt, abgeschrieben und gesammelt. In 2Petr 3,16 ist bereits von „allen“ Briefen des Paulus die Rede, sodass damals (Anfang des 2. Jh.s) schon ein Korpus seiner Schreiben bestanden haben muss. Die frühchristliche Praxis spiegelt sich auch in Kol 4,16 wider: „Und wenn dieser Brief bei euch vorgelesen ist, richtet es ein (poieíte),11 dass er auch in der Gemeinde von Laodizea vorgelesen wird und dass ihr auch den von Laodizea lest.“
6 7
Eine Ausnahme bildet der 3. Johannesbrief (§ 7.1.1). Gal; 2Kor: Korinth und ganz Achaia; 1Petr: Pontus, Galatien, Kappadozien, Asia, Bithy-
nien. 8 Vgl. Röm 16,5; 1Kor 16,19; Kol 4,15; vgl. H.-J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS 103), Stuttgart 1981; R. W. Gehring, Hausgemeinde und Mission (BWM 9), Gießen 2000, 220–384, bes. 380 ff. 9 Vgl. Jak 1,1: „an die Zwölf Stämme in der Zerstreuung“ (§ 8.8.1); Jud 1: „an die Berufenen“; 2Petr 1,1: „an alle, die mit uns den gleichen kostbaren Glauben erlangt haben“; Eph 1,1: „an die Heiligen, die auch gläubig sind in Christus Jesus“ (§ 8.2.2). 10 1Thess 5,27; Kol 4,16; Eph 3,3 f.; 1Tim 4,13 (Exkurs 12); Apk 1,3 (§ 7.2.6); Justin apol. I,67,3. 11 Das griech. „poieín“ kann hier auch die Anfertigung der Kopien bedeuten.
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5 Die paulinischen Briefe
Das Lesen der Briefe in den Versammlungen diente der Unterweisung der Gemeinde, aber auch der Mitteilung von Grüßen, von Dank- und Fürbittgebeten sowie von Segenswünschen. Dadurch machten sie nicht nur den inneren Zusammenhalt der Kirche und ihre Einheit mit Gott sichtbar, sondern erlangten auch eine große Bedeutung für die christlichen Gottesdienste.12 Im Kanon des Neuen Testaments, dessen Umrisse schon in der Mitte des 2. Jh.s deutlich waren (§ 3.4a), bilden die Briefe den zweiten Teil mit 21 der insgesamt 27 Schriften (ohne Evangelien, Apostelgeschichte und Apokalypse; § 3.5). Allerdings weisen einige Briefe nur mit Einschränkungen die für diese Gattung typischen Züge auf.13
5.4 Die Briefe als Kommunikationsmedium der Kirche (zur Ekklesiologie) Es gehört zu den großen kirchengeschichtlichen Leistungen des Paulus, dass er die Möglichkeiten des Briefs als kommunikatives Mittel zur inneren Gestaltung der zerstreuten christlichen Gruppen erkannt und seiner Begabung gemäß genutzt hat. In Korinth sagte man, seine Briefe seien „wuchtig und stark“, sein persönliches Auftreten aber „schwach“ und „verachtenswert“ (2Kor 10,10). In dieser Bemerkung wird ein direkter Bezug auf eine konkrete Situation erkennbar, der uns heute nach 2000 Jahren Kirchengeschichte oft viel zu wenig bewusst ist, sodass die Briefe allzu leicht als dogmatische Lehrschreiben aufgefasst werden. Gerade die paulinischen Briefe wollen aber keine systematische Gesamtdarstellung entfalten, sondern zuallererst auf bedrängende Fragestellungen aus den jeweiligen Gemeinden antworten, theologisch-seelsorgerliche Orientierung vermitteln und praktische Wegweisung geben. Je
12
Aufschlussreich sind bei Paulus vor allem 1Kor 10 – 14; 16,22 (§ 5.12.4–5), Bekenntnisformeln (§ 5.6.2) und Hymnen (§ 5.6.2.4) sowie Taufe (§ 5.6.2.2) und Herrnmahl (§ 5.6.2.3), außerdem das Interesse an der liturgischen Praxis bei Matthäus (§ 6.3.4.3) und am Gemeindeleben in der Apostelgeschichte (§ 6.4.5.2b), die johanneische Ekklesiologie (§ 7.1.5.3), die Ämter in den Pastoralbriefen (Exkurs 12) sowie die (himmlische) Liturgie in der Johannesapokalypse (§ 7.2.6). Zum urchristlichen Gottesdienst vgl. F. Hahn, Der urchristliche Gottesdienst (SBS 41), Stuttgart 1970; ders., Art. Gottesdienst III, TRE 14, 28–39; J. Salzmann, Lehren und Ermahnen (WUNT II/59), Tübingen 1994; P. Wick, Die urchristlichen Gottesdienste (BWANT 150), Stuttgart 22003, zur Entstehung aus dem jüdischen Synagogengottesdienst J. Salzmann, Lehren, 450–459 im Anschluss an I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Frankfurt 21924; P. Billerbeck, Kommentar IV,1 (Lit. § 12e), 115–249; P. Billerbeck, Ein Synagogengottesdienst in Jesu Tagen, ZNW 55 (1964), 143–161; P. Schäfer, Der synagogale Gottesdienst, in: Literatur und Religion des Frühjudentums, hg. v. J. Maier / J. Schreiner, Würzburg 1973, 391–413. 13 Vgl. 1Joh (§ 7.1.1.2); Jak 1,1 (§ 8.8.1); Hebr 13,20–25 (§ 8.5.2), aber auch Apk 1,4 f. (§ 7.2.1; 7.2.6), ferner Apg 15,23–29; 23,26–30.
5.4 Die Briefe als Kommunikationsmedium der Kirche (zur Ekklesiologie)
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klarer wir diese Entstehungssituation erkennen, desto besser werden wir die Argumentation des Apostels nachvollziehen können. Die Briefe trugen auf entscheidende Weise zur Einheit der Kirche bei, die in der ganzen „oikouménē“, d. h. der „bewohnten“ Welt, verbreitet war und deren Gemeinden „in der Diaspora (Zerstreuung)“ lebten (Jak 1,1; vgl. 1Petr 1,1). Die Briefe haben das Bewusstsein für die Zusammengehörigkeit gestärkt und die Einheit bekundet. Diese ökumenische Funktion der Briefe war nicht so selbstverständlich, wie es uns heute erscheinen mag. Die Anhänger Jesu verbreiteten sich schon bald in unterschiedlichen Gebieten. Die Vorstellung eines einzigen idealen Anfangs des Christentums leitet sich von den lukanischen Schriften ab (§ 6.4.5.2) und entspricht der Wirklichkeit nur in einem Punkt: Die meisten Gruppen erlebten nach der Hinrichtung Jesu einen Neubeginn, den sie auf verschiedene Weisen artikulierten. Dazu müssen wir uns die Ausgangssituation der Gemeinden vergegenwärtigen, die auch den Hintergrund der paulinischen Briefe bildet. Ihrer religiösen Herkunft nach gehörten die Christen selbstverständlich zum Judentum. Sie waren eine jüdische Reformbewegung und nutzten das Netz der Synagogengemeinden mit ihren Organisationsstrukturen. Erst die paulinische Mission emanzipierte sich von manchen jüdischen Einflüssen, indem die christlichen Gruppen begannen, ihr Leben außerhalb der Synagogen zu gestalten (z. B. Apg 18,1 ff.). Mehrere Synagogen drängten die Jesusleute aus ihrer Mitte hinaus (vgl. 2Kor 11,24). Dieser Prozess fand seinen Höhepunkt nach dem Fall Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. und spiegelt sich bei Matthäus in der Auseinandersetzung mit den Pharisäern wider (Mt 23; § 6.3.4.1). Damals verloren die Christen den Kampf um die Reform Israels. Die Vertreibung aus den Synagogen (Joh 9,22; § 7.1.5.3c) beschleunigte die missionarische Expansion der Kirche. Im äußeren Erscheinungsbild ähnelte die entstehende Kirche den Gemeinschaften der Mysterienkulte, die gemeinsame Kultmahlzeiten abhielten. Einzelne konnten sich in die religiösen Geheimnisse, Glückserwartung, Erlösungsglauben und Jenseitshoffnung einweihen lassen, durften diese Mysteriengeheimnisse aber nicht an Außenstehende weitergeben (s. Anm. 100). Zugleich unterschied die Kirche sich von solchen religiösen Gruppen durch ihre öffentliche Verkündigung und ihren universalen Zuspruch und Anspruch. Diese Eigenart spiegelte sich in ihrer Selbstbezeichnung als ekklēsía wider, die Paulus von Anfang an in der Anschrift an die Gemeinden gebrauchte.14 Die Mysteriengemeinschaften bezeichneten sich als „éranos“ oder „thíasos“ (private Vereine zur Ausrichtung von Festmahlzeiten).15 Das griechische Wort „ekklēsía“ diente in 14
1Thess 1,1; Gal 1,2; 1Kor 1,2; 2Kor 1,1. Vgl. H.-J. Klauck, Umwelt I (Lit. § 2.2), 49–58 und exemplarisch E. Ebel, Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden. Die Gemeinde von Korinth im Spiegel griechisch-römischer Vereine (WUNT II/178), Tübingen 2004. 15
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5 Die paulinischen Briefe
der Septuaginta (§ 2.1.4) als Übersetzung des hebräischen „qāhāl“ (Versammlung, Gemeinde Israels, in Qumran das endzeitliche Aufgebot Gottes). In der hellenistischen Welt war „ekklēsía“ der Terminus für jede öffentliche Versammlung, besonders für die Versammlung der freien Bürger einer Polis, d. h. einer Stadt mit ihrem Einzugsbereich. Für die frühen Christen wurde „ekklēsía“ neben der konkreten gottesdienstlichen Versammlung (1Kor 11,17 f.20; 14,23), der Orts- oder Hausgemeinde (s. Anm. 7 f.) bald auch zur Bezeichnung für die Gesamtheit der christlichen Gemeinden (1Kor 15,9; Kol 1,18.24)16 – aber noch nicht für Kirchengebäude, die sich erst seit dem 3. Jh. nachweisen lassen. Die Christen unterschieden sich daher sowohl von der jüdischen Synagoge als auch von der heidnischen religiösen Umwelt. Darüber hinaus wurde noch ein weiterer Unterschied zwischen der christlichen Gemeinde und der politischen Ekklesia deutlich. Eine Ekklesia, zu der auch Frauen und Sklaven gehörten (1Kor 12,13; Gal 3,28), musste einerseits auf die damalige Umwelt provozierend wirken, machte andererseits gerade für diese Gruppen der Gesellschaft aber auch die Attraktivität der christlichen Gemeinden aus (vgl. § 5.15.3 zum Philemonbrief). Die starken Unterschiede in der religiösen und sozialen Herkunft der Gläubigen verursachten in einigen Gemeinden erhebliche Probleme im Zusammenleben. Darauf reagierte Paulus vor allem in zwei Schreiben mit der Entfaltung einer Ekklesiologie: Im Galaterbrief ringt er um die volle soteriologische Gleichberechtigung der Heidenchristen, die durch die judenchristliche Beschneidungsforderung in Frage gestellt wird (§ 5.11.4a), im 1. Korintherbrief geht er auf diverse Missstände ein, von denen er aus der dortigen Gemeinde erfahren hat (§ 5.12.4). Der universale Anspruch, der in der geglaubten Einheit mit Christus gründete, führte schon bei Paulus zu einer für damalige Verhältnisse außerordentlichen Reisetätigkeit17 und zur Entfaltung einer intensiven schriftlichen Kommunikation. Die Christen wurden bald zu einer korrespondierenden Weltgemeinschaft. Die Briefe hatten bei der Gestaltung einer universalen Kirche eine ähnliche Funktion wie die durch kaiserliche Militärpost beförderten Botschaften bei der Verwaltung des römischen Reichs. Da es ein öffentliches Postwesen noch nicht gab, wurden die Briefe vor allem durch Boten überbracht, die die Schreiben erläutern und neue Nachrichten in Erfahrung bringen konnten. Aus der Antike sind mehr als 9000 von Christen geschriebene Briefe erhalten. Offensichtlich war das Korrespondieren für die Christen so bezeichnend wie für keine andere Gruppierung. Selbstverständlich handelte es sich meistens nicht um Briefe, die für die gottesdienstliche Lesung geschrieben wa16 Vgl. P. Ellingworth, hē ekklēsía, hai ekklēsíai in the Pauline Corpus, in: J. Mrázek (Hg.), EPITOAYTO II (FS P. Pokorný), Praha 1998, 121–129, zur Ekklesiologie J. Roloff, Kirche (Lit. § 6.2.8), 86–143 (Gesamtüberblick), hier 83 f.96–99; J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 533–564, monographisch W. Kraus, Volk Gottes (Lit. § 5.11), 111 ff. 17 Vgl. R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 273–282.
5.5 Die Intertextualität der Briefe (Voraussetzungen christlicher Theologie)
121
ren. Doch wird auch hier die alte Erfahrung bestätigt, dass in der Liturgie die bedeutendsten Funktionen des Alltags rituell aufgenommen und neu gestaltet werden: Gespräch, gemeinsames Essen, Geschenke, Reinigung und auch Korrespondenz. Die Verkündigung geschah im hellenistischen Griechisch, der Koinḗ, d. h. der „gemeinsamen“ Sprache, die im Mittelmeerraum die allgemein verständliche Weltsprache war (wie heute Englisch). Zusammen mit der Verkündigung musste die intensive Korrespondenz in der christlicher Kommunikation einerseits die Schreibkundigkeit der Christen fördern, andererseits zur Durchsetzung einer adressatenbezogenen einfachen, „niedrigeren“ Sprache (lat. sermo humilis) in der Literatur und Liturgie führen (vgl. § 6.2.5 zum Markusevangelium). Zu Beginn des 20. Jh.s versuchte Adolf Deißmann (1866–1937) das ursprünglich griechische Wort Epistel als Terminus für diejenigen Briefe zu prägen, die eine „literarische Kunstform“ repräsentieren, d. h. für nicht persönliche Briefe.18 Da sich die ältesten christlichen Briefe von den Lehrbriefen Epikurs oder stoischer Philosophen wie Seneca, aber auch von den fiktiven Kunstbriefen (z. B. Ovids „Liebesbriefe der Heroinen“) ebenso unterscheiden wie von rein privaten Schreiben, setzte sich diese Differenzierung in der frühchristlichen Epistolographie nicht durch. In der Antike wurde das Wort „epistolḗ“ (bzw. „grámmata“) sowohl für literarische als auch für persönliche Briefgattungen benutzt. Auch wir gebrauchen die beiden Ausdrücke synonym.
5.5 Die Intertextualität der Briefe (Voraussetzungen christlicher Theologie) Unter Intertextualität versteht man den gegenseitigen Bezug verschiedener Texte aufeinander. Dieses Phänomen wird besonders in wörtlichen Zitaten und indirekten Anspielungen sichtbar, die einen älteren Text in später entstandenen Texteinheiten wieder aufnehmen, das Verständnis erleichtern sollen oder selbst durch den späteren Text neu interpretiert werden.19 5.5.1
Schriftzitate
Charles H. Dodd, According to the Scriptures, London 1952; Samuel Amsler, L’Ancien Testament dans l’Église, Neuchâtel 1960; Hans Hübner, Biblische Theologie I (Lit. § 1), bes. 62 ff.
Vor allem die jüdische Literatur, besonders „die Schrift“ (unser Altes Testament, § 2.1.1–5), wurde von Paulus in neuer Weise auf Jesus als den Messias (Christus) 18 19
Vgl. A. Deißmann, Licht vom Osten, Tübingen 41923, 116 ff.194. Vgl. H. Hübner, Biblische Theologie I, 28 ff.
122
5 Die paulinischen Briefe
bezogen (§ 5.11.4b) und in dieser christologischen Deutung zur liturgischen Lektüre der Christen. Die Argumente aus der Schrift unterstützen das Zeugnis von Christus und steigern seine Bedeutung.20 Ein herausragendes Beispiel ist Ps 110,1: „Der Herr (Gott) sprach zu meinem Herrn (König): Setze dich zu meiner Rechten“ – mit 21 Belegen der am häufigsten zitierte bzw. assoziierte alttestamentliche Text im Neuen Testament, der die Bedeutung Jesu Christi aus der jüdischen Schrift bestätigen sollte.21 Paulus argumentierte mit der Schrift22 primär in der Absicht, den christlichen Inhalt seiner Verkündigung zu verdeutlichen (vgl. Abraham in Gal 3 und Röm 4).23 Schriftworte, die geeignet schienen, wurden zusammengestellt (z. B. Röm 3,10–18). Die Verzeichnisse der Schriftzitate, die wir in den kritischen Ausgaben des griechischen Neuen Testaments finden,24 verraten, welche alttestamentlichen Texte in der christlichen Lehre und in Streitgesprächen die beliebtesten waren, bei Paulus vor allem Jesaja (21-mal) und die Psalmen (16-mal). Ähnliche Sammlungen messianischer Texte sind aus Qumran bekannt (4QTest; 4QFlor). Damit wuchs den Schriftzitaten und Anspielungen bei den Christen von der zweiten Generation an noch eine weitere Aufgabe zu: Sie dienten nicht mehr nur der Unterstützung der christlichen Verkündigung, sondern begründeten im außerjüdischen Milieu gleichzeitig die Bedeutung der (alttestamentlichen) Schrift für den christlichen Glauben. 5.5.1.1
Die Septuaginta
Die Septuaginta ist die griechische Übersetzung der jüdischen Bibel, die den Wortschatz und die Vorstellungswelt der ersten Christen geprägt hat (§ 2.1.4). Die Kennt20 Vgl. 1Kor 15,3b–5 („nach den Schriften“); 15,27 (Ps 8,7); Röm 15,3 (Ps 69,10); Ps 15,12 (Jes 11,10). 21 Vgl. Mk 12,36 parr.; 14,62 parr.; Apg 2,34 f.; Röm 8,34; 1Kor 15,25; Kol 3,1; Eph 1,20; Hebr 1,3.13; 8,1; 10,12 f.; 12,2 u. ö.; vgl. M. Hengel, „Setze dich zu meiner Rechten!“ Die Inthronisation Christi zur Rechten Gottes und Psalm 110,1, in: ders., Christologie (Lit. § 5.6.1), 281–367, und zur messianischen Deutung der Psalmen J. Schaper, Eschatology in the Greek Psalter (WUNT II/76), Tübingen 1995. 22 Vgl. U. Heckel, Jer 9,22 f. als Schlüssel für 2.Kor 10–13. Ein Beispiel für die methodischen Probleme in der gegenwär tigen Diskussion über den Schriftgebrauch bei Paulus, in: M. Hengel / H. Löhr (Hg.), Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum (WUNT 73), Tübingen 1994, 206–225, sowie zum Ganzen monographisch D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums (BHTh 69), Tübingen 1986; F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998; F. Watson, Paul and the Hermeneutics of Faith, London 2004. 23 S. § 5.11.1; 5.11.4b; 5.16.5a; zur Rezeption der Abrahamsverheißung als der wichtigsten argumentativ entfalteten Kontinuitätsachse zum Alten Testament in Gal 3 vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 112–159.238–241.350 f. 24 Vgl. die Zusammenstellung bei Nestle / Aland27 im Appendix IV.
5.5 Die Intertextualität der Briefe (Voraussetzungen christlicher Theologie)
123
nis ihrer Schlüsseltexte ist im Neuen Testament vorausgesetzt. Da die Septuaginta mehr Schriften als die hebräische Bibel umfasst, müssen wir auch mit der Kenntnis jener ursprünglich griechisch verfassten Texte rechnen, die in den hebräischen Kanon nicht aufgenommen wurden und aus heutiger Sicht zu den deuterokanonischen (apokryphen) Schriften zählen (z. B. SapSal 3,8 in 1Kor 6,2). Die enge Verbindung mit der jüdischen Bibel ist zu einem konstanten Merkmal der Kirche geworden. Die Septuaginta, d. h. die griechische, nicht die hebräische Version der Schrift, war „die Bibel“ der frühen Christenheit (§ 2.1.4b). In der nachneutestamentlichen Zeit wurde sie zum Alten Testament (§ 2.1.5). Die Kirche brachte die jüdische Bibel im Rahmen ihrer Mission in die ganze damals bekannte Welt, sodass ihre Expansion zugleich indirekt zur Verbreitung der jüdischen Kultur beitrug, für die der ethische Monotheismus und der opferlose Wortgottesdienst in den Synagogen mit Schriftlesung, Auslegung und Gebet typisch waren (§ 2.2.2c). Selbst wenn die ersten Christen aus jüdischer Sicht als Häretiker galten, müssen wir uns ständig vor Augen halten, dass das Christentum eine radikale Neuinterpretation der jüdischen Tradition darstellt.25 5.5.1.2
Griechische (hellenistische) Literatur
Da das hellenistische Judentum an einige Traditionen seiner Umwelt anknüpfte, lässt sich in manchen Fällen offensichtlicher oder vermuteter Intertextualität nur schwer entscheiden, ob ein Zitat bzw. eine Anspielung dem griechischsprechenden Judentum oder der zeitgenössischen griechischen Literatur entnommen ist (§ 2.2). Dies trifft z. B. auf das „Hohelied der Liebe“ (1Kor 13) zu, zu dessen Formulierung Paulus vermutlich durch eine uns unbekannte hellenistisch-jüdische Quelle angeregt wurde (§ 5.12.2). Auch Laster-26 und Tugendkataloge27 können die christlichen Autoren aus der hellenistisch-jüdischen Literatur gekannt haben (z. B. SapSal 8,7), die von hellenistischen Philosophien (z. B. Diog.Laert. 7,110–114) beeinflusst waren (§ 5.11.1; 8.2.4).28 Aus der jüdischen Bibel schöpften die Christen zwar die Grundbegriffe ihrer christologischen Sprache wie z. B. den Christus- oder den Kyrios-Titel (§ 5.6.1.1; 5.6.1.3). Doch beeinflusste die hellenistische Kultur in den späteren Schriften des Neuen Testaments (Lukas, Johannes) auch die Soteriologie und die Gotteslehre, z. B. durch den Titel „sōtḗr“ (Heiland; s. Anm. 77). 25 Dass das Christentum als eine liberale Strömung aus dem Judenchristentum hervorgegangen ist, betont J. Daniélou, Théologie de judéo-christianisme, Paris 1958, 20 etc. 26 Gal 5,19–21 (§ 5.11.1); 1Kor 5,10 f.; 6,9 f. (§ 5.12.5e); 2Kor 12,20 f.; Röm 1,29–31; Kol 3,5; Eph 4,31; 5,3–5 (§ 8.2.4); 1Tim 1,9 f.; 3,2–5; Tit 3,3; 1Petr 2,1; 4,3.15 (§ 8.6.3b); vgl. Mk 7,21 f. par.; Lk 18,11; Apk 9,21; 21,8; 22,15. 27 Gal 5,22 f. (§ 5.11.1); 2Kor 6,6; Phil 4,8; Kol 3,12; Eph 4,2 f.32; 5,12 (§ 8.2.4); 1Tim 4,12; 6,11; 2Tim 2,22; 3,10; 2Petr 1,5–7 (§ 8.6.3b). 28 Vgl. H. D. Betz, Art. Lasterkataloge / Tugendkataloge, RGG4 5, 89–91 (Lit.).
124
5 Die paulinischen Briefe
Bereits Paulus war z. T. mit hellenistischer Literatur vertraut. Vereinzelt zitiert er auch außerbiblische Texte, von denen wir nicht sagen können, ob es sich dabei um ein Zitat aus der Literatur oder um ein literarisch bearbeitetes Sprichwort handelt, das Teil der mündlichen Kultur war. Dies gilt z. B. für die Sentenz „schlechter Umgang verdirbt gute Sitten“ (1Kor 15,33), die der griechische Dichter Menander (342–292 v. Chr.) in einer Komödie (Thais 218) verwendet.29 Solche Dimensionen der Intertextualität zu entdecken, d. h. das Corpus Hellenisticum Novi Testamenti zu rekonstruieren, stellt eine Aufgabe dar, die bisher nur zu einem Teil erfüllt wurde.30
5.6
Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
Die paulinischen Briefe sind zwar die ältesten Repräsentanten christlicher Literatur, aber ihre Lektüre zeigt, dass es zur Zeit ihrer Abfassung schon weit entfaltete mündliche Traditionen gab. Dabei handelt es sich insbesondere um christologische Hoheitstitel, Bekenntnisformeln, Elemente des Gottesdienstes und Jesusworte, die in der Liturgie, Verkündigung und Mission christlicher Gemeinden ihren „Sitz im Leben“ (Exkurs 3) fanden. 5.6.1
Die christologischen Hoheitstitel
Oscar Cullmann, Christologie des Neuen Testaments (1957), Tübingen 71975; Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitstitel (FRLANT 83), Göttingen 1963; Werner Kramer, Christos Kyrios Gottessohn (AThANT 44), Zürich 1973; Johannes Zimmermann, Messianische Texte aus Qumran. Königliche, priesterliche und prophetische Messiasvorstellungen in den Schriftfunden von Qumran (WUNT II/104), Tübingen 1998; Udo Schnelle / Thomas Söding (Hg.), Paulinische Christologie (FS H. Hübner), Göttingen 2000; William Horbury, Messianism among Jews and Christians, London / New York 2003; Larry W. Hurtado, Lord Jesus Christ, Grand Rapids, MI / Cambridge 2003; Dieter Sänger (Hg.) Gottessohn und Menschensohn (BThSt 67), Neukirchen-Vluyn 2004; Martin Hengel, Studien zur Christologie. KS IV (WUNT 201), Tübingen 2006.
Die Hoheitstitel „Christus“, „Sohn Gottes“ und „Kyrios“ (Herr) enthalten zentrale Aussagen über die Person Jesu. Die Kenntnis dieser bereits aus der mündlichen Überlieferung stammenden Würdeprädikate ist eine unerlässliche Voraussetzung für das Verständnis der Paulusbriefe und der anderen Schriften des Neuen Testaments. 29 Vgl. W. A. Beardslee, Uses of the Proverb in the Synoptic Gospels, Interp. 23 (1970), 61–73; P. Pokorný, Griechische Sprichwörter im Neuen Testament (1994), in: ders. / J. B. Souček, Bibelauslegung (Lit. § 2.1.3), 147–154. 30 Vgl. Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus, hg. von G. Strecker / U. Schnelle, Berlin u. a. 1996 ff.
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
125
Deshalb stellen wir ihre Herkunft und Bedeutung nun für alle weiteren Ausführungen zusammenhängend dar und weisen in den Petit gesetzten Abschnitten auch schon auf die Veränderungen bei den nachpaulinischen Autoren hin. 5.6.1.1
Christus – Messias
James H. Charlesworth, The Concept of the Messiah in the Pseudepigrapha, ANRW II 19,1, Berlin / New York 1979, 188–218; Martin Karrer, Der Gesalbte (FRLANT 151), Göttingen 1990; Gerbern S. Oegema, Der Gesalbte und sein Volk (SIJD 2), Göttingen 1994; John J. Collins, Jesus and the Messiahs of Israel, in: Geschichte – Tradition – Reflexion (FS M. Hengel) III, Tübingen 1996, 287–302; Martin Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament (GNT 11), Göttingen 1998; Stefan Schreiber, Gesalbter und König (BZNW 105), Berlin u. a. 2000; Martin Hengel / Anna Maria Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie (WUNT 138), Tübingen 2001; Martin Hengel, Erwägungen zum Sprachgebrauch von Christós bei Paulus und in der „vorpaulinischen“ Überlieferung, sowie: Präexistenz bei Paulus?, in: Paulus und Jakobus. KS III (WUNT 141), Tübingen 2002, 240– 261.262–301.
Die mündlich tradierten liturgischen Formeln bestanden vor allem in messianischen Hoheitstiteln, denen eine besondere Bedeutung zukommt.31 „Der Messias“ (hebr. hammāšîach; aram. mešîchā’), griech. Christós, d. h. der Gesalbte, ist der mit Abstand am häufigsten gebrauchte Titel (531-mal, davon 270-mal in den authentischen Paulusbriefen). In ihm kommen die Hoffnungen zum Ausdruck, die mit Jesus wahrscheinlich schon während seines irdischen Lebens verbunden waren, z. B. im Petrusbekenntnis: „Du bist der Christus!“ (Mk 8,29 parr.; vgl. 14,61 f.). Die Bezeichnung leitet sich her vom Salbungsritual mit duftendem heiligem Öl, das den heiligen Geist symbolisiert. Durch die Salbung wird eine Person als der Gesalbte JHWHs für einen besonderen Auftrag auserwählt und unter seinen Schutz gestellt (1Sam 24,7.11). Gesalbt wurden im Alten Testament ursprünglich die Könige,32 nach dem Zusammenbruch des Königtums seit der Exilszeit der Hohepriester,33 gelegentlich auch Propheten34 .35 31
Vgl. die Übersicht von U. Schnelle, Heilsgegenwart. Christologische Hoheitstitel bei Paulus, in: U. Schnelle / Th. Söding (Hg.), Paulinische Christologie, 178–193, die paulinische Gesamtdarstellung von J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 163–315, und für die Christologie jetzt grundlegend L. W. Hurtado, Lord Jesus Christ, hier bes. 98–134. 32 Vgl. Saul (1Sam 9,16; 10,1; 15,1.17), David (1Sam 16,6.12 f.; 24,7.11) und Salomo (1Chr 29,22) sowie Ps 2,2; 18,51 u. ö. Darüber hinaus wird sonst nur der Perserkönig Kyros in Jes 45,1 als Gesalbter bezeichnet. 33 Lev 4,3.5.16; 6,15; 1Chr 29,22; vgl. die beiden „Ölsöhne“ in Sach 4,12.14. 34 Vgl. Elia (1Kön 19,15 f.), aber auch Jes 61,1 (§ 6.4.5.3b). 35 Diese drei Ämter wurden in der altprotestantischen Orthodoxie (16. Jh.) in der Lehre vom dreifachen Amt Christi systematisiert; vgl. A. M. Schwemer, Jesus Christus als Prophet, König und Priester. Das munus triplex und die frühe Christologie, in: M. Hengel / dies., Der
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5 Die paulinischen Briefe
Ein messianischer König wurde von den Schriftpropheten in großartigen Verheißungen angekündigt, die dessen Herrschaft als ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit in Aussicht stellen.36 Der „Friede“ (šalôm) bezeichnet nicht nur die Abwesenheit von Gewalt und Krieg, sondern ist ein Ausdruck der Ganzheit, der Unversehrtheit, des Wohlergehens, des Heilseins. Dieser Friede schließt Recht und Gerechtigkeit für alle Bewohner des Landes ein. Die Hoffnung auf einen messianischen Heilsbringer konnte auch ohne den Gesalbtentitel ausgedrückt werden (s. Anm. 36). Da der Messias nach den prophetischen Verheißungen aus der Dynastie Davids stammen sollte37 und für den Thron Davids bestimmt war,38 galt die Davidssohnschaft, d. h. die Herkunft aus dem Geschlecht Davids, als wichtiges Erkennungsmerkmal.39 Nach dem Exil richtete sich die messianische Hoffnung immer mehr auf den „Gesalbten des Herrn“ (PsSal 17,32) als eine künftige Heilsgestalt, die das Reich Davids wiederherstellen und die religiöse und nationale Integrität Israels erneuern sollte. Die jüngere Forschung hat gezeigt, dass in neutestamentlicher Zeit keine einheitliche jüdische Messiaserwartung (Messiasdogmatik) existierte, sondern es nur eine breite Vielfalt eschatologischer und messianischer Hoffnungen gab, wie sie vor allem in PsSal 17 f. (1. Jh. v. Chr.)40 und mehreren Qumrantexten erhalten sind.41 messianische Anspruch, 165–230, weiter K. Bornkamm, Christus – König und Priester. Das Amt Christi bei Luther im Verhältnis zur Vor- und Nachgeschichte (BHTh 106), Tübingen 1998. 36 Vgl. Jes 9,1–6 (Verheißung des Friedefürsten, der durch Recht und Gerechtigkeit regiert); 11,1–10 (Vision des Friedensreichs); Mich 5,1–5 (Friedensherrscher aus Bethlehem); Sach 9,9 f. („Tochter Zion ... dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer ... auf einem Esel“); Jer 23,5 (Verheißung eines gerechten Königs), aber auch Gen 49,10 (Zepter, Stab, Held aus Juda); Num 24,17 (Stern aus Jakob); 2Sam 7 (Verheißung für David und sein Königtum durch den Propheten Nathan); Am 9,11 (Prophezeiung der Wiederherstellung der zerfallenen Hütte Davids). 37 Vgl. Jes 11,1.10 (ein Reis aus Davids Stamm); Jer 23,5 (Spross Davids); Mi 5,1 (Bethlehem als Herkunftsort der Sippe Davids), aber auch die Verheißung eines Nachkommen für David durch Nathan (2Sam 7,12 f.). 38 Vgl. Jes 9,6 (Thron Davids); Jer 23,5 (Spross Davids als König); Hes 34,23 f.; 37,24 (Verheißung eines einzigen Hirten als Knecht Davids); Mi 5,1 (Herrscher in Israel aus Bethlehem) sowie das Nathansorakel (2Sam 7,11–16). 39 Röm 1,3 („aus der Nachkommenschaft Davids nach dem Fleisch“); Mk 10,47 (Heilung des blinden Bartimäus); 12,35–37 (Jerusalemer Streitgespräch; § 6.2.7.1). 40 Dieser für die Messianologie wichtige Text ist, obwohl er nicht zur Septuaginta gehört (§ 2.1.4c), abgedruckt in der Ausgabe von A. Rahlfs, Bd.2, 486 ff.; zur Übersetzung vgl. S. Holm-Nielsen, JSHRZ 4, 1977, 97 ff.; J. H. Charlesworth, OTP 2 (Lit. § 12b), 665 ff., in Auszügen auch C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte (Lit. § 12e), 380–382. 41 1QSb 5,24–28; 4Q161; 4Q285 5; 4Q174 III 10–13; 4Q252 1 V; 4Q246 II; 4Q375; 4Q376; 11QMelch (11Q13); 4Q521 2 II; 4Q175 u. a.; vgl. grundlegend J. Zimmermann, Messianische Texte aus Qumran, bzw. zur Einführung ders., Messiaserwartungen in den Schriftfunden von Qumran, ThBeitr 31 (2000), 125–144, ferner G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 462–470,
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
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Ob und inwieweit Jesus selber einen messianischen Anspruch oder ein messianisches Bewusstsein vertreten hat, ist in der Exegese des 20. Jh.s besonders seit Rudolf Bultmann (1884–1976) sehr umstritten. Der Messiastitel fehlt zwar in der Logienquelle, was auf seine geringe Bedeutung in der ersten Zeit hindeuten könnte (§ 6.1.5.3). Aber die Kreuzesinschrift zeigt, dass Jesus als „der König der Juden“, d. h. als messianischer Aufrührer, hingerichtet wurde (Mk 15,26; § 6.2.7.1).42 Nach Ostern erhielt der Christus-Titel durch das Bekenntnis „Jesus ist der Messias“ einen formelhaften Charakter (Apg 9,22; 1Joh 5,1). Diese Würdebezeichnung wurde in den paulinischen Gemeinden schon bald zum bloßen Eigennamen,43 obwohl Paulus auch noch auf die ursprüngliche Bedeutung des Salbens anspielen konnte (chríein; 2Kor 1,21 f.).44 Jesus selber stand dem machtpolitisch apokalyptisch-übernatürlich geprägten Titel (PsSal 17,32; 4Esr 7,26)45 während seines irdischen Lebens zurückhaltend gegenüber,46 doch gewann die Bezeichnung „Christus“ durch die Verbindung mit seinem Leiden47 eine neue Bedeutung (§ 1.3.3). Angesichts der sehnsüchtigen Erwartung auf eine machtvolle Heilsgestalt wie in PsSal 17 f. musste der „gekreuzigte Messias“ für Juden zum höchsten Ärgernis werden (1Kor 1,23; Gal 5,11). In den synoptischen Evangelien kann das Geheimnis der Messianität Jesu bei Markus erst vom Kreuzestod und dem Auferstehungszeugnis her in seiner ganzen Tragweite erkannt werden (§ 6.2.7.4–5). Lukas charakterisiert Jesus in seiner programmatischen Antrittspredigt (Lk 4,18) durch das Zitieren der Aussage über die Geistsalbung aus Jes 61,1 f. als messianischen Propheten der Endzeit (§ 6.4.5.3b). Matthäus arbeitet vor allem die gewaltlos friedlichen und barmherzig heilenden Züge dieses messianischen Davidssohns heraus (§ 6.3.3.1). Johannes ist der einzige neutestamentliche Autor, der den hebräischen Messiastitel in griechischer Umschrift („Messías“) als Übersetzungsvorlage für das Christusprädikat erwähnt (Joh 1,41; 4,25). Er knüpft bei den alttestamentlich-jüdisch geprägten messianischen Erwartungen an den „König Israels“ an,48 distanziert sich aber von den politisch-militärischen Zügen irdischer Herrschaft. Durch die Dreisprachigkeit der Kreuzesinschrift (19,20; § 6.2.7.1) hebt Johannes die Universalität des Königtums Jesu hervor, das nicht von dieser Welt ist und den informativen Gesamtüberblick von W. Horbury, Messianism in the Old Testament Apocrypha and Pseudepigrapha, in: ders., Messianism, 35–64. 42 Vgl. zur Forschungsgeschichte M. Hengel / A. M. Schwemer, Der messianische Anspruch, IX–XIV.17–37.166–170, zur Kreuzigung 45–63.76 f.133–163, zum Diskussionsstand und zur Quellenlage W. Horbury, Messianism, 1–21. 43 Dies betont M. Hengel, Erwägungen zum Sprachgebrauch von Christós bei Paulus, 240–261 (Lit.). 44 Die Salbung der Könige und Priester sowie die messianische Bedeutung Jesu bilden auch den Hintergrund, wenn die Glaubenden in 1Petr 2,9; Apk 1,6 auf ihre königlich-priesterliche Würde angesprochen werden. 45 Vgl. J. H. Charlesworth, The Messiah, 216–218. 46 Vgl. z. B. die Frage nach der kaiserlichen Steuer (Mk 12,13–17). 47 Gal 2,21; vgl. Mk 8,29–33; 14,61 f. 48 Joh 1,49; 6,15; 12,13; 18,33 ff. (§ 6.2.7.1).
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5 Die paulinischen Briefe
(18,36; § 7.1.5.1e). Das messianische Königtum Jesu besteht nicht in irdischer Macht (wie für zelotische Zeitgenossen mit ihren Aufständen), sondern im Offenbarungshandeln, das die göttliche Wahrheit für diese Welt bezeugt (18,37; vgl. 14,6).
Eine zentrale Bedeutung erhielt der Christus-Titel durch die für Paulus typischen Wendungen „mit Christus“ (sýn Christṓ) und „in Christus“ (en Christṓ). Der erste Ausdruck (sýn Christṓ) bezeichnet die Gemeinschaft und Verbundenheit „mit Christus“, die im ewigen Leben bevorsteht, aber schon im gegenwärtigen Leiden mit ihm erfahren und durch die Taufe auf seinen Namen eröffnet wird.49 Die zweite Formulierung (en Christṓ) besagt, dass ein Mensch zu Christus gehört, im Herrschaftsbereich Christi lebt und in seiner ganzen Existenz durch das Christusgeschehen bestimmt ist.50 Beide Wendungen gebraucht Paulus, um die Identität und Komplexität der christlichen Existenz im Zeichen des durch Christus geschenkten Heils auszudrücken. Der Würdetitel „Christus“ musste schon zum Eigennamen geworden sein, als die Sympathisanten der jungen messianischen Gemeinde in Antiochien „Christianer“ (Christianoí) genannt wurden (Apg 11,26)51 – analog zu der latinisierenden Namensform für personengebundene politische Parteien wie die Caesariani, Pompeiani oder im Neuen Testament die Herodianer (Hērōdianoí).52 In den Johannesbriefen ist dieser Eigenname bereits zum Programm geworden, da die Irrlehrer als „Antichristen“ bezeichnet werden, d. h. als Gegner des Messias, weil sie die Messianität Jesu leugnen (1Joh 2,18.22) und seine Inkarnation bestreiten (1Joh 4,2 f.; 2Joh 7; § 7.1.7). 5.6.1.2
Sohn Gottes
Petr Pokorný, Der Gottessohn (ThSt 109), Zürich 1971; Martin Hengel, Der Sohn Gottes, in: ders., Christologie (Lit. § 5.6.1), 74–145 (urspr. Tübingen 1975; 21977).
49 P. Siber, Mit Christus leben (AThANT 61), Zürich 1971, bes. 94–97.188–190.247– 249.251–258, differenziert zwischen den futurischen Aussagen über die künftige Gemeinschaft des ewigen Lebens und Seins mit Christus (1Thess 4,14.17; 5,10; 2Kor 4,14; 13,4; vgl. 1Kor 6,14; Röm 8,11; Phil 1,23), den präsentischen Ausdrücken der gegenwärtigen Leidensgemeinschaft und Auferstehungshoffnung mit Christus (Phil 3,10 f.20 f.; Röm 8,17; vgl. 2Kor 13,4) und den Vergangenheitsaussagen, nach denen die Glaubenden durch den Herrschaftswechsel bei der Taufe (§ 5.6.2.2d) mit Christus den Unheilsmächten der Sünde und des Todes abgestorben sind (Röm 6). 50 Vgl. z. B. Röm 8,1; 1Kor 1,30; 15,22; 2Kor 5,17; Gal 3,26–29 (vgl. auch Joh 6,56; 14,20; 15,4 ff.; 17,23; 1Joh 3,6.24); s. Anm. 129 ff.; vgl. F. Neugebauer, In Christus, Berlin 1961, bes. 147–149. 51 Vgl. Apg 26,28; 1Petr 4,16. 52 Mk 3,6; 12,13 par. Mt 22,16; vgl. M. Hengel, Christós (s. Anm. 43), 240–261; M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 311 f.340–351.
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
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In mehreren Bekenntnissen findet sich anstelle des Messiasprädikats (§ 5.6.1.1) der Titel „Sohn Gottes“.53 Auch dieser Titel hat alttestamentliche Wurzeln,54 doch war er ebenso im heidnischen Milieu verständlich. Im Vergleich mit anderen Christus-Prädikaten begegnet der Sohn-Gottes-Titel im Neuen Testament nicht sehr häufig, dafür an zentralen Stellen (15-mal bei Paulus; insgesamt 105-mal). Paulus erwähnt ihn schon bei seiner Berufungsvision (Gal 1,16). Einen Schwer punkt hat dieser Würdetitel im Römer- (7-mal) und Galaterbrief (4mal) innerhalb der Sendungs-55 und Hingabeformeln.56 Die Sendungsformel bringt die göttliche Sendung zum Ausdruck, setzt die Präexistenz Christi als Gottessohn bereits vor der Inkarnation bzw. vor aller Zeit voraus57 und stellt die Geschichte Jesu in einen kosmischen Rahmen. Sie deutet an, dass es sich um ein Geschehen handelt, das der umfassenden Absicht Gottes entspricht. In der Hingabeformel wurde die Gottessohnschaft schon früh mit der Hingabe Jesu in seinem Tod und mit dessen stellvertretender Bedeutung „für uns“ verknüpft.58 Außerdem wird Christus als der Sohn Gottes bei seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten erwartet (1Thess 1,10; vgl. 1Kor 15,28). Nach Röm 1,3 f. wurde Jesus als „Nachkomme Davids nach dem Fleisch“, d. h. als messianischer Davidide (§ 6.2.7.1), geboren59 und durch die Auferstehung zum „Sohn Gottes“ eingesetzt. Die Ausdrucksweise erinnert an die Verheißung eines Nachkommen für David, der nach der Ankündigung des Propheten Nathan Gottes „Sohn“ sein soll (2Sam 7,12–14), sowie an die Inthronisation des gesalbten Königs in Ps 2,7.60 In Röm 1,3 f. ist es in der Forschung weitgehend anerkannt, dass es sich um eine alte Formel handelt, die wegen ihres für Paulus untypischen Wortgebrauchs schon aus der vorpaulinischen Tradition übernommen wurde.61 Sie stellt den Anfang des Nachdenkens über die Ostererfahrung dar, die den himmlischen Messias („Sohn Gottes in 53
Röm 1,3 f.; 1Thess 1,9 f.; vgl. Mt 16,16; Mk 14,61 par.: „Sohn des Hochgelobten“ (§ 6.2.7.3). 54 Vgl. besonders die Nathansverheißung eines Nachkommen für David in 2Sam 7,14 (zitiert in 4Q174 III 10–13) sowie die Inthronisation in Ps 2,6–8; 4Q246 II 1; vgl. auch Ps 89,27. 55 Röm 8,3; Gal 4,4; Joh 3,16 f.; 1Joh 4,9 f. 56 Röm 8,32; Gal 2,20; Joh 3,16 (s. Anm. 89); vgl. darüber hinaus die Identifikationsaussagen in Apg 9,20 (Bekehrung des Paulus); Mt 16,16 (Petrusbekenntnis); Mk 1,11 parr. (Taufe Jesu; s. Anm. 103; § 6.2.7.3). 57 Vgl. auch Phil 2,6 (§ 5.14.5); 1Kor 8,6; 2Kor 8,9. 58 Röm 8,3 f.32; Gal 2,20; vgl. 4,4 f.; Joh 3,16 f. (s. Anm. 87). 59 Vgl. in Röm 15,12 das Zitat aus Jes 11,10: „der Spross aus der Wurzel Isais“, des Vaters Davids. 60 Die Formel in Röm 1,3 f. sollte nicht adoptianisch genannt werden, weil diese aus der späteren Dogmengeschichte stammende Charakterisierung ein Anachronismus wäre; es gab damals keine bessere, theologisch konsequenter reflektierte und in den meisten christlichen Gruppen bekannte Formulierung, um die Bedeutung Jesu zu kennzeichnen. 61 Vgl. E. Lohse, KEK 4, 64.
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5 Die paulinischen Briefe
Macht“) mit dem gekreuzigten Jesus („Nachkomme Davids nach dem Fleisch“) identifizierte (§ 5.6.2.1). Der irdische Davidssohn war kein anderer als der auferstandene Gottessohn. Daher wird der „Sohn Gottes“ im Neuen Testament zum wichtigsten Jesustitel.62 In der narrativen Tradition der Evangelien wurde die Gottessohnschaft später zum zentralen christologischen Titel. Dass Jesus der Sohn Gottes ist, wird im Markusevangelium am Anfang bei der Taufe durch die Himmelsstimme kundgetan (Mk 1,9–11; § 5.6.2.2c) und am Ende durch den heidnischen Hauptmann am Kreuz bekenntnisartig ausgesprochen (Mk 15,39; § 6.2.7.3). Einen wesentlichen Ausgangspunkt bildete die aramäische Gottesanrede „Abba“ (Vater), mit der Jesus sich in seinem einzigartigen Gottesverhältnis in Gethsemane an den himmlischen Vater gewandt hat (Mk 14,36 [§ 6.2.7.5]; vgl. das Vaterunser Lk 11,2 Q [§ 6.3.4.3b]). Dieses aramäische Fremdwort übernahm Paulus für die griechischsprechenden Missionsgemeinden als geistgewirktes Zeichen, dass der Sohn durch diesen Gebetsruf auch die Glaubenden zu Söhnen bzw. Kindern Gottes macht (Röm 8,3.14–21; Gal 4,4–7).63 Bei Johannes wird der Sohn Gottes zum entscheidenden christologischen Hoheitstitel, der die Einzigartigkeit Jesu beschreibt (Joh 3,18; vgl. 1,14.18). Die Gottessohnschaft übertrifft die messianischen Erwartungen an Jesus als den wahren König Israels.64 Inhaltlich wird die Vorstellung vom Sohn Gottes mit dem Gedanken der Sendung durch Gott (3,16 f.) verbunden, der die Präexistenz einschließt (s. Anm. 55). Der Gottessohntitel demonstriert die vollkom mene Handlungs-, Offenbarungs- und Wesenseinheit mit dem göttlichen Vater (10,30; 17,11.21–23; § 7.1.5.1e). Der Hebräerbrief (1,5) setzt gleich zu Beginn in seiner christologischen Grundlegung mit der Gottessohnschaft Jesu ein und begründet diese mit den Zitaten von der Inthronisation in Ps 2,7 und der Nathansverheißung in 2Sam 7,14, um die einmalige Bedeutung Jesu allen anderen Engelsgestalten gegenüber hervorzuheben (Hebr 1,2.8; 2,5–3,6). Als Sohn Gottes ist Jesus der wahre Hohepriester, der durch seine Erniedrigung die Erfahrung der Versuchung im Leiden mit allen Glaubenden geteilt hat. Nur deshalb vermag er die Menschen durch sein Opfer ein für alle Mal zum himmlischen Heiligtum zu führen (2,14–18; 3,6; 5,8; 7,28; § 8.5.3b).65
In allen diesen Texten meint die Gottessohnschaft nicht in einem physischen Sinn die göttliche Abstammung Jesu, sondern seine intensivierte Zuordnung durch eine „sohnhafte“ Bindung an Gott als Vater. Erst bei Lukas und Matthäus wird in einem leiblichen Sinn die Gottessohnschaft durch die Jungfrauengeburt verkündet (§ 6.3.3.3d; 6.4.5.3a). Im Johannesevangelium (§ 7.1.5.1e) wird sie in der Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft (§ 5.6.2.4) schon vor der Erschaffung der Welt voraus62
Vgl. M. Hengel, Sohn Gottes, 78–83.118–125; A. Labahn / M. Labahn, Jesus als Sohn Gottes bei Paulus, in: U. Schnelle / Th. Söding (Hg.), Paulinische Christologie, 97–120. 63 Vgl. immer noch J. Jeremias, Abba, Göttingen 1966; vgl. M. Hengel, Abba, Maranatha, Hosanna und die Anfänge der Christologie, in: ders., Christologie (Lit. § 5.6.1), 496–534. 64 Joh 1,34.49; 10,24–30; 11,27; 20,31 u. ö. (vgl. Anm. 48). 65 Vgl. K. Backhaus, Gott als Psalmist. Psalm 2 im Hebräerbrief, in: D. Sänger (Hg.), Gottessohn, 198–231.
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
131
gesetzt. Die zentrale Bedeutung der Gottessohnschaft hat Konsequenzen für die christliche Gotteslehre: Denn wenn (z. B. im interreligiösen Dialog) nach dem Gottesbild gefragt wird, so ist nach dem Zeugnis des Neuen Testaments die Theo-logie (im engeren Wortsinn) nicht von der Christologie zu trennen. Nicht nur Jesus ist mit Gott verbunden wie ein „Sohn“ mit seinem Vater. Auch Gott wird zum „Vater“ erst durch den Sohn. 5.6.1.3
Herr – Kyrios
Wilhelm Bousset, Kyrios Christos, Göttingen 51965; Gottfried Quell / Werner Foerster, Art. kýrios, ThWNT III, 1038–1098; Martin Rösel, Adonaj – Warum Gott „Herr“ genannt wird (FAT 29), Tübingen 1999.
Der Titel „Herr“ (griech. kýrios; hebr. ’ādôn; aram. māre’) war ursprünglich das Wort, das man in den griechischsprechenden Synagogen seit dem 3. Jh. v. Chr. bei der Schriftlesung anstelle des Tetragramms „JHWH“, d. h. des Namens Gottes, aussprach (hebr. qere’ = „das zu Lesende“ statt ketīb = „das Geschriebene“).66 Durch diesen spezifischen Wortgebrauch erhielt der Kyriostitel dieselbe Funktion wie der Name Gottes, der „der Name über alle Namen“ ist (Phil 2,9–11; § 5.14.5). Seine Übertragung auf Jesus67 war für Juden unerhört, für Christen aber durch seine Verwendung in Ps 110,1 legitimiert, da dort der von JHWH beauftragte messianische König Israels als „Herr“ (kýrios) bezeichnet wird (s. Anm. 21). Der Kyriostitel erscheint im Neuen Testament (719-mal, davon 189-mal bei Paulus) noch häufiger als der Christustitel. Im Unterschied zum Christusprädikat wird er aber nicht zum Eigennamen (s. Anm. 43), sondern bleibt eine Würdebezeichnung (468-mal für Jesus und – vor allem im Kontext von Schriftzitaten – 156-mal für Gott). In den christlichen Gemeinden wurde der Titel „Herr“ für Christus schon sehr früh im aramäischen Milieu verwendet. Im apokalyptisch ausgerichteten Gebetsruf „Marana tha“ (Unser Herr, komm!; 1Kor 16,22; Did 10,6)68 hat er beim Herrnmahl (s. Anm. 183) seinen ursprünglichen Sitz im Leben, wie der Abschluss der Abendmahlsüberlieferung in 1Kor 11,26 „bis er kommt“ und die griechische Übersetzung in Apk 22,20b zeigen: „érchou kýrie Iēsoú“ (Komm, Herr Jesu!).69 Dieser aramäische Aufruf war den griechischsprechenden Adressaten in Korinth ohne Überset66
Vgl. M. Rösel, Adonaj – Warum Gott „Herr“ genannt wird, bes. 1–15.222–230. Vgl. z. B. auch Joël 3,5 in Röm 10,12 f. oder Jer 9,22 f. in 1Kor 1,30 f.; 2Kor 10,17 und Ps 24,1 in 1Kor 10,26. 68 Zum Problem der Worttrennung vgl. M. Hengel, Abba, Maranatha (s. Anm. 63), 499.501.512–522, im Anschluss an J. A. Fitzmyer, New Testament Kyrios and Maranatha and their Aramaic Background, in: To Advance the Gospel, New York 1981, 218–236 (223 ff.). 69 Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 220–223. 67
132
5 Die paulinischen Briefe
zung vertraut. Mit diesem Gebet wandte sich die Gemeinde bei ihrer Mahlfeier an Jesus als den erhöhten Herrn und wünschte seine baldige endzeitliche Wiederkunft herbei.70 Die Tatsache, dass Jesus durch das Maranatha in einem Gebetsruf selber als Kyrios angesprochen wurde, bezeugt indirekt den tiefen Einschnitt, den das Ostergeschehen darstellte. Im Judentum wäre diese Anrede noch undenkbar gewesen. Damit ist der Titel, der bisher Gott selber vorbehalten war, schon in den ältesten vorpaulinischen Formeln zum Inhalt des christlichen Bekenntnisses geworden, das den auferstandenen und erhöhten Jesus Christus als „Herrn“ anruft (Phil 2,11; Röm 10,9; 1Kor 12,3). Diese völlig neuartige Verwendung des Kyriostitels wird durch das Bekenntnis zu dem „einen Gott, dem Vater, ... und dem einen Herrn, Jesus Christus,“ in 1Kor 8,6 bestätigt. Mit dieser Bekenntnisformel wird das „Šema‘ Jśrāel“ („Höre Israel“), das jüdische Grundbekenntnis aus Dtn 6,4 zur Einzigkeit JHWHs, christologisch modifiziert.71 Auch in einem stärker hellenistischen Milieu fand der Titel „kýrios“ seinen Platz in der gottesdienstlichen Akklamation (1Kor 12,3; Röm 10,9).72 Neben dem erhöhten Christus konnte Paulus auch den irdischen Jesus als „Kyrios“ bezeichnen, wenn er Jesuslogien als „Wort des Herrn“ einführt.73 Diese Redeweise zeigt, dass das, was der irdische Jesus gesagt hat, jetzt die Autorität des erhöhten Herrn beansprucht. Zudem beeinflusste der Kyriostitel das Selbstverständnis des Paulus: Durch diesen Herrn begriff er seine apostolische Existenz als die eines „Knechts Christi“ (Gal 1,10; Röm 1,1 u. ö.). 5.6.1.4
Menschensohn
Wahrscheinlich kannte Paulus auch die apokalyptische Bezeichnung „Menschensohn“ (§ 6.2.7.2). Sie kommt in der synoptischen Überlieferung als Titel Jesu vor (z. B. Lk 12,8 Q), war in der griechischsprechenden Welt aber unverständlich. Paulus verwendete diese Bezeichnung nicht, kann sie jedoch neu interpretiert haben durch den Vergleich Jesu (Mk 14,61 f.) mit dem zweiten, neuen, letzten Adam, der vom
70
Apk 22,20b; vgl. 1Kor 11,26; 1Thess 1,10. Vgl. Eph 4,5; Joh 20,28 (§ 7.1.5.1e); vgl. zu 1Kor 8,6 den Exkurs bei Ch. Wolff, ThHK 7, 172–176, sowie O. Hofius, Paulusstudien II (Lit. § 5), 167–180.181–192. 72 Vgl. W. Kramer, Christos Kyrios Gottessohn, 99. Gegen die Annahme, dass es sich um zwei unabhängige Wurzeln des Kyrios-Titels handelt – eine aramäisch-apokalyptische und eine griechisch-präsentische (so F. Hahn, Hoheitstitel, 109 f.) –, spricht die Tatsache, dass auch in dem aramäischen Bittruf Maranatha die präsentische Erhöhung Jesu vorausgesetzt ist: Er ist zum Adressaten der Gebete geworden, er ist durch das Gebet erreichbar. 73 1Thess 4,15; 1Kor 7,10.12.25; 9,14; 11,23 (§ 5.6.5.2b). 71
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
133
Himmel gekommen ist (1Kor 15,45–47; Röm 5,14 f.).74 Der hier vermutete Zusammenhang mit dem Menschensohntitel bleibt allerdings hypothetisch.75 5.6.1.5
Die Bedeutung der christologischen Titel
Die christologischen Titel sind die elementarsten Ausdrücke der Bedeutung Jesu, die man in unterschiedlichen theologischen Entwürfen benutzte. Da sie alle dem jüdischen Milieu entstammen, waren einige der heidnischen Umwelt unverständlich. Dies gilt neben der Bezeichnung Menschensohn vor allem für den Christustitel, der jedoch schon bald wie ein Eigenname verwendet wurde (s. Anm. 43). Als Funktionsbezeichnungen durchgesetzt haben sich die Titel „Sohn Gottes“ und „Herr“, die auch im heidnischen Milieu eine positive Bedeutung hatten. Hinzugekommen ist in der zweiten und dritten Generation noch ein weiterer Titel: „Heiland, Retter“ (sōtḗr). Dieser besitzt zwar ebenfalls einen hebräischen Hintergrund (ješû‘āh = Hilfe, Heil, Rettung),76 war aber erst recht aus der heidnischen Religion und der politischen Ideologie bekannt. Mit diesem Titel wollten Lukas und der Verfasser der Pastoralbriefe in einer hellenistischen Umgebung die soteriologische Bedeutung Jesu verständlich machen.77 Johannes hebt seine universale Gültigkeit hervor: Jesus ist „der Retter der Welt“ (ho sōtḗr toú kósmou).78 Die Hoheitstitel sind die auffälligste Gemeinsamkeit zwischen dem narrativen Teil des neutestamentlichen Kanons (den Evangelien) und den Briefen. Sie bringen die Bedeutung Jesu in drei unterschiedlichen Relationen zum Ausdruck, die bei allem Eigengewicht jedoch nicht auseinander gerissen werden dürfen, wie die massive Häufung in Röm 1,1–7 zeigt: – Als „Christus“ ist er der von Gott Gesalbte, der alttestamentlich verheißen war und als Messiasprätendent gekreuzigt wurde. Deshalb ist er ebenso Inhalt des Evangeliums (Gal 1,7; Röm 15,19 u. ö.) wie Gegenstand des Glaubens (Gal 2,16 u. ö.). – Als „Sohn Gottes“ ist er durch seine unverwechselbare Relation zum göttlichen Vater bestimmt. Daraus wird in den Sendungs- und Hingabeformeln (s. Anm. 55 ff.) seine einmalige Legitimation und Heilsmittlerschaft abgeleitet. – Als „Herr“ (kýrios) ist er durch seine göttliche Stellung und Vollmacht in einzigartiger Weise den Menschen übergeordnet, doch kann dieses Würdeprädikat (ähnlich wie später der „Heiland“) durch die Verbindung mit einem Possessivpro-
74
Vgl. auch 1Thess 1,10; 4,16; Phil 3,20 mit Dan 7,13 f. sowie 1Tim 2,5 f. mit Mk 10,45. Vgl. O. Cullmann, Christologie, Teil II,2; P. Stuhlmacher, Theologie 1 (Lit. § 1), 293. 76 Vgl. bei der Geburt Jesu Lk 2,11 mit Mt 1,21 (§ 6.3.3.4). 77 Vgl. Lk 2,11 (Weihnachtsgeschichte); Apg 5,31; 13,23 und 2Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6, aber auch schon Phil 3,20 und Eph 5,23 (§ 6.4.5.3c). 78 Joh 4,42; 1Joh 4,14; vgl. Joh 3,16 f. (§ 7.1.5.1a). 75
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5 Die paulinischen Briefe
nomen eine persönliche Färbung erhalten: mein Herr, unser Herr (z. B. Phil 3,8; 1Thess 1,3 u. ö.). 5.6.2
Traditionsformen der Liturgie, Mission und Katechese
Martin Rese, Formeln und Lieder im Neuen Testament, VF 2 (1970), 75–95; Klaus Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums (StNT 5), Gütersloh 1972; Klaus Berger, Formen und Gattungen (UTB), Tübingen u. a. 2005; Detlef Häußer, Christusbekenntnis und Jesusüberlieferung bei Paulus (WUNT II/210), Tübingen 2006.
Ebenso wie die Hoheitstitel gehören auch die formelhaften Überlieferungen, die in Gottesdienst und Unterweisung verwendet wurden, zu den Voraussetzungen, ohne deren Darlegung sich die Paulusbriefe und die übrigen neutestamentlichen Schriften nicht behandeln lassen. Eine weitreichende theologische Reflexion setzen die liturgischen Formeln voraus: Bekenntnisse wie die Pistisformel (1Kor 15,3b–5; § 5.6.2.1) oder die Sohnesformel (Röm 1,3 f.; s. Anm. 59), Akklamationen, d. h. bekenntnishafte Anrufungen wie „Jesus der Herr“ (1Kor 12,3b; § 5.6.1.3), Hymnen (§ 5.6.2.4),79 Eingangsgruß und Schlusssegen des Briefformulars (§ 5.7b), Fluchformeln (1Kor 16,22: Anathema) sowie kurze Gebete (z. B. Maranatha; s. Anm. 68). 5.6.2.1
Die Pistisformel in 1Kor 15,3b–5: Tod und Auferstehung Jesu
Die messianischen Titel, die dem gekreuzigten Jesus verliehen wurden, drücken das einmalige Phänomen der christlichen Endzeiterwartung aus, nämlich die Verdoppelung bzw. Spaltung der Eschatologie, die zwischen dem bereits erfolgten Anbruch der Endzeit und der noch ausstehenden Vollendung differenziert (§ 5.10.3). Die eschatologischen Erwartungen, die die Christen aus der jüdischen Tradition übernommen hatten, waren zwar nicht in Erfüllung gegangen, das Ende der Zeiten war noch nicht gekommen und das von den Propheten verheißene messianische Reich noch nicht angebrochen (s. Anm. 36 ff.). Aber die Christen sahen in Jesus von Nazareth den Messias, mit dessen Auftreten der neue Äon bereits begonnen hat.80 Dieses relativ komplizierte Bild des Heilsgeschehens setzte sich in der Kirche gegen andere Entwürfe durch (geistige Gegenwart des Heils, Naherwartung), weil es am besten geeignet war, als gemeinsames Fundament für die unterschiedlichen Ostererfahrungen der Schüler Jesu zu dienen. In den Erscheinungen des Auferstandenen hatten 79
Phil 2,6–11 (§ 5.14.5), vgl. ferner 1Tim 3,16 (§ 6.4.5.3f); Kol 1,15–20 (§ 8.2.5); Joh 1,1– 18 (§ 7.1.5.1a). 80 Dieses Phänomen, das heute als teleskopische Eschatologie charakterisiert wird, hat der Prager Neutestamentler J. B. Souček aufgewiesen. Belege bei P. Pokorný, In Honor of Josef B. Souček (1992), zuletzt in: ders. / J. B. Souček, Bibelauslegung (Lit. § 2.1.3), 13–23, hier 13 f.; vgl. auch O. Cullmann, Christologie, Kap. II,1,3.
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
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sie erfahren, dass Jesus nicht mehr tot war, sondern lebt und ihnen weiterhin verbunden ist.81 Diese grundlegenden Gemeinsamkeiten wurden durch Formeln ausgedrückt, die sich rasch verfestigten. Weit verbreitet war schon vor Abfassung der Paulusbriefe die Pistisformel, die die für den christlichen Glauben konstitutiven Aussagen bündelte. Die Pistisformel aus 1Kor 15,3b–5 muss jedem Leser des 1. Korintherbriefs auffallen, weil sie von Paulus ausdrücklich als älteres Gut eingeführt wird und ihre Überlieferung in V.1–3a über drei Etappen der mündlichen Tradition zurückverfolgt werden kann: „... was ich empfangen (habe) ... habe ich euch weitergegeben (verkündigt) ..., das ihr angenommen habt.“ Diese – vermutlich auf die Jerusalemer Urgemeinde zurückgehenden – Glaubensaussagen haben als ökumenische Basis mehrerer christlicher Gruppen in 1Kor 15,1–11 eine weitreichende Bedeutung: „Es seien nun ich oder jene, so verkündigen wir (alle), und so habt ihr geglaubt“ (V.11; § 5.12.5a). Die Pistisformel aus 1Kor 15,3b-5 enthält zwei Aussagen über die Bedeutung Jesu, die zunächst unabhängig voneinander überliefert wurden, in der Sache aber unlösbar zusammengehören: 82 Das eine Element ist die Auferstehungsverkündigung, „dass Christus von den Toten auferweckt worden ist“ (1Kor 15,12). Diese Botschaft erscheint bei Paulus bereits als feststehende Redewendung, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat.83 Die Auferstehungsbotschaft hatte ihre Heimat in der Mission und in der „Verkündigung“ (kḗrygma; 1Kor 15,14). Sie wird kundgetan vor dem Hintergrund der umgestalteten apokalyptischen und pharisäischen Erwartung einer endzeitlichen allgemeinen Auferstehung (Mk 12,23 f.),84 die durch das Ostergeschehen in Christus freilich eine völlig neue Bedeutung erlangt hat.85 Die Auferstehungsverkündigung scheint der ge81
Vgl. 1Kor 15,3–11, aber auch Mk 16,1 ff. parr. Vgl. Ch. Wolff, ThHK 7, 355–370; W. Schrage, EKK VII/4, 18–25.31–53. 83 Vgl. als vorpaulinische Glaubensformel, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat (Röm 10,9; 1Thess 1,10; vgl. 4,14), weiter die Auferweckungsaussagen in 1Kor 6,14; 15,15.20 und besonders das partizipiale Gottesprädikat „der Jesus auferweckt hat“ in Röm 4,24; 8,11; 2Kor (1,9); 4,14; Gal 1,1 sowie Kol 2,12; Eph 1,20; 1Petr 1,21. 84 Im Alten Testament erscheint die Auferstehung erst spät Jes 26,19 (im Kontext der Apokalypse Kap. 24–27), metaphorisch bei der Wiederbelebung der Totengebeine in Ez 37,1– 14 (vgl. 4Q386) und eindeutig in Dan 12,2 f. (vgl. weiter 2Makk 7; 1Hen 51,1; 4Esr 7,32; syrBar 50 f.; 4Q521). In neutestamentlicher Zeit wird sie nach Apg 23,8; 26,5–8 von den Pharisäern (§ 6.3.4.1 Petit) vertreten, während sie von den Sadduzäern (§ 6.3.4.1 Petit) abgelehnt wird (Mk 12,18–27 parr.). Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass in Dan 12,2 f. die Auferstehung entweder zum ewigen Leben oder zu ewiger Schmach geschieht, d. h. die Scheidung in Erlöste und Verdammte durch das Gericht Gottes noch aussteht, während bei Paulus die Auferstehung allein zum ewigen Leben erfolgt und bereits Teil des Heilsgeschehens ist. Vgl. M. Hengel, Das Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe, in: ders., Christologie (Lit. § 5.6.1), 368–450 (hier 417–439 zur Auferstehung im Judentum). 85 E. Käsemann hat in diesem Zusammenhang von der Apokalyptik als der Mutter der 82
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5 Die paulinischen Briefe
meinsame Ausgangspunkt mehrerer Aussagen zu sein, die als „Evangelium“ (euaggélion = gute Nachricht; § 6.2.6.1) bezeichnet werden: in 1Kor 15,1 bezüglich der Pistisformel in V.3b-5, in Röm 1,1 bezüglich der Einsetzung Jesu zum Sohn Gottes in V.3 f. (s. Anm. 59 ff.) und in 1Thess 1,5 für die Errettung der Glaubenden aus dem Zorngericht in 1,10. Damit stand die endzeitliche Vollendung zwar immer noch aus, aber die aus dem Judentum übernommene eschatologische Hoffnung war durch das Ostergeschehen modifiziert worden: Die bereits erfolgte Auferstehung Jesu bestärkte die Gläubigen in der Hoffnung auf ihre eigene Auferweckung, sodass sie ihre gegenwärtige Existenz schon ganz aus dieser endzeitlichen Perspektive als ein heilvoll erneuertes Leben begriffen. Umso notwendiger wurde es zu erklären, welche Bedeutung der Tod Jesu hat. Nicht nur der Auferstehung, auch dem Tod Jesu wurde eine heilbringende Wirkung zugemessen: Er geschah „für unsre Sünden“ (1Kor 15,3). Durch diese Wendung wird der alttestamentliche Gedanke der stellvertretenden Lebenshingabe aufgenommen, in der jemand sein Leben zur Rettung für andere einsetzt. Der Zusatz „nach den Schriften“ besagt, dass die von Schuld befreiende Wirkung des Todes Jesu dem Willen Gottes entspricht, wie er in den Schriften des Alten Testaments bezeugt ist (§ 5.5.1). Durch den Hinweis auf die Schrift wird der Tod Jesu indirekt auf Gottes Handeln zurückgeführt und zugleich als eschatologische Erfüllung gedeutet, mit der die einst verheißene Heilszeit begonnen hat.86 Eine konkrete Stelle wird nicht genannt, doch ist vor allem an das vierte Gottesknechtslied in Jes 53,5 f.8 f.12 zu denken, in dem eine geheimnisvolle Gestalt, der Knecht Gottes, im göttlichen Auftrag stellvertretend für die Sünden anderer leidet und wie ein Opferlamm stirbt, um den Vielen Gerechtigkeit zu verschaffen. Die Stellvertretungsaussagen aus Jes 53 wurden von den frühen Christen auf Jesus bezogen und in die Liturgie des Herrnmahls aufgenommen (s. Anm. 167 ff.).87 In der Feier dieses Mahls soll die Heilsbedeutung des Todes Jesu vergegenwärtigt werden (s. Anm. 179).88 Der Herrnmahlstradition entstammen auch die Hingabe-,89 die Sterbe-90 und die Leidensformeln (1Petr 2,21; 3,18), die an die Passion Jesu erinnern. Aus diesen Formeln entfaltet Paulus im Galaterbrief seine Rechtfertigungslehre. Bei dieser Lehre handelt es sich um eine Kernchristlichen Theologie gesprochen (§ 2.2.2b); vgl. M. Hengel, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 302–417; zur Apokalyptik s.u. § 5.10.3, zur Auferstehungshoffnung § 5.10.2–3; 5.12.1; 5.12.5c. 86 Vgl. § 5.11.4b Petit zum Schriftverständnis. 87 Bei Paulus in der Brotformel (1Kor 11,24b), in Mk 14,24 (ebenso wie Mt 26,28) erst beim Kelch, bei Lukas sowohl beim Brot- als auch beim Kelchwort (Lk 22,19 f.). 88 Vgl. W. Zager, Jesus und die frühchristliche Verkündigung, Neukirchen 1999, 35 ff. 89 Vgl. die Hingabe durch Gott (Röm 8,32; Joh 3,16 [§ 7.1.5.1a]; vgl. auch das Passivum divinum in Röm 4,25) sowie die Selbsthingabe Jesu (Gal 1,4; 2,20 und Eph 5,2.25; 1Tim 2,5 f.; Tit 2,14; vgl. Mk 10,45). 90 1Thess 5,10; 2Kor 5,14 f.; Röm 5,6.8; 14,15.
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
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aussage der paulinischen Theologie, nach der Gott gerecht ist und gerecht macht: Er erweist seine Gerechtigkeit, indem er durch den stellvertretenden Tod Jesu die Sünder allein aus Gnade rechtfertigt, d. h. aus dem Jüngsten Gericht errettet, für gerecht erklärt und freispricht (§ 5.8.2i; 5.11.3c). Im Römerbrief bringt er die Rechtfertigungslehre in der Rede von der „Gerechtigkeit Gottes“ programmatisch auf den Begriff (§ 5.16.5a). Die beiden Aussagen über den stellvertretenden Tod und die Auferstehung Jesu waren ursprünglich autosemantisch, d. h. sie hatten als Ausdruck der Bedeutung Jesu jeweils einen eigenen Gültigkeitsanspruch. Die Erkenntnis dieser beiden Stränge zeigt, dass das christliche Bekenntnis und die mit ihm verbundene Theologie nicht als eine religiöse Theorie entstanden sind. Wir müssen das in den ältesten Glaubensaussagen enthaltene Zeugnis ernstnehmen. In beiden Bekenntnisaussagen wird auf verschiedene Weise eine Wirklichkeit reflektiert, die die Zeugen der Erscheinungen des Auferstandenen nach Ostern als heilvolle Erfahrung in Worte gefasst haben (§ 1.3.3; 1.4.3). Die beiden Teile der Pistisformel besagen zum einen, dass Jesus Christus durch die Auferstehung der Heiland ist trotz seines Kreuzestodes, zum anderen, dass er wegen seines Todes so bedeutend ist, weil er für die Sünder (für andere, für viele) starb. Beide Aussagen haben ihre eigenständige Bedeutung, doch ist eine Tendenz zu ihrer Verbindung schon seit den ältesten Glaubenszeugnissen sichtbar.91 Das stellvertretende Sterben Jesu hatte eine sühnende Wirkung (s. Anm. 167 ff.), konnte einen neuen Zugang zu Gott eröffnen und dadurch Vergebung, Rettung, Heil und ewiges Leben für alle Menschen erschließen. Seit der Entstehung der Pistisformel wirkten beide Bekenntnisaussagen gemeinsam, auch wenn in der Mission diejenige über die Auferstehung in den Vordergrund trat. Paulus betonte allerdings den Kreuzestod (vor allem den Enthusiasten in Korinth gegenüber; 1Kor 1,18 ff.; § 5.12.5). Nach einer alten, in Röm 6,3 f. verarbeiteten Überlieferung fand das Bekenntnis zum gestorbenen und auferstandenen Christus schon bald in der Taufe einen festen liturgischen Platz (§ 5.6.2.2d). 5.6.2.2
Die Taufe
Gerhard Barth, Die Taufe in frühchristlicher Zeit (BThSt 4), Neukirchen-Vluyn 1981; Udo Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie (GThA 24), Göttingen 21986; Lars Hartman, „Into the Name of the Lord Jesus“, Edinburgh 1997; Helmut Umbach, In Christus getauft – von der Sünde befreit (FRLANT 181) Göttingen 1999; Karl-Heinrich Ostmeyer, Taufe und Typos (WUNT II/118), Tübingen 2000; Friedrich Avemarie, Die Tauferzählungen der Apostelgeschichte. Theologie und Geschichte (WUNT 139), Tübingen 2002.
91
Vgl. als Doppelformel vom Sterben und Auferstehen 1Thess 4,14; Röm 8,34; 14,9 und weiter mit Stellvertretungsaussagen in Röm 4,25; 1Kor 15,3b–5; 2Kor 5,15, ferner 13,4.
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5 Die paulinischen Briefe
Taufe und Abendmahl sind die beiden wichtigsten liturgischen Feiern der frühen Christenheit (s. Anm. 12.15 f.). Sie haben einen völlig anderen Charakter als die Hoheitstitel (§ 5.6.1.1–5) und die Pistisformel (§ 5.6.2.1). Aber auch sie waren durch die mündliche Überlieferung für die ersten christlichen Gemeinden schon so sehr zur Selbstverständlichkeit geworden, dass bereits Paulus ihre Praxis und Bedeutung nicht mehr vorzustellen brauchte, sondern als bekannt voraussetzte. Da er ebenso wie die anderen neutestamentlichen Autoren Taufe und Abendmahl nirgends um ihrer selbst willen thematisiert, sondern aus gegebenem Anlass jeweils nur einzelne Aspekte hervorhebt, erscheint es auch hier sinnvoll, zunächst einen Gesamtüberblick zu bieten. Taufe und Herrnmahl werden seit Tertullian (ca. 150–220 n. Chr.) unter dem Oberbegriff „Sakrament“ zusammengefasst (Tert. Marc. 4,34). Dieser lateinische Terminus stammt nicht aus dem Neuen Testament, sondern wurde von Tertullian aus der römischen Militärsprache übernommen und meint dort den Fahneneid eines Soldaten. Der Ausdruck wurde im kirchlichen Sprachgebrauch zunächst in einem weiteren Sinn als Übersetzung für das griechische Wort „mystḗrion“ (Geheimnis) gebraucht, in der abendländischen Theologie aber seit Augustin (354–430 n. Chr.) immer enger mit Taufe und Eucharistie verbunden. Seither gilt der Terminus „Sakrament“ als Bezeichnung für gottesdienstliche Handlungen, die an dem von Christus gestifteten Heil als einer neuen Wirklichkeit Anteil geben (§ 1.3.4). In 1Kor 10,1–4 wurden Taufe und Abendmahl erstmals in einer Typologie (V.6: týpos; V.11: typikṓs) gemeinsam92 den Exoduserfahrungen Israels beim Durchzug durch das Schilfmeer und bei der Mannaspeisung93 als geistliche, d. h. durch den Geist vermittelte Gabe gegenüberstellt.94 Die Taufe ist ein einmaliger Initiationsakt, mit dem die Christen in die heilvolle Gemeinschaft mit Christus aufgenommen werden.95 Dagegen ist das Herrnmahl die regelmäßig wiederholte Feier der ganzen Gemeinde, die der Aktualisierung dieser Gemeinschaft mit Christus und der Gemeinschaft untereinander dient. Religionsgeschichtlich weist die Entstehung dieser neuen Riten auf einen Prozess der Verselbstständigung der frühen Christenheit gegenüber ihren jüdischen Wurzeln 92
Auch in Joh 19,34 sind Wasser und Blut eine Anspielung auf Taufe und Eucharistie (§ 7.1.5.3). 93 Vgl. die Anspielungen auf das Manna und die Eucharistie in Joh 6,31–35.38.41.48– 51.53–58 (§ 7.1.5.1c; 7.1.5.3). 94 Vgl. K.-H. Ostmeyer, Taufe und Typos, 137–145, sowie zu Taufe und Herrnmahl B. Kollmann, Mahlfeier (Lit. § 5.6.2.3), 62–65; F. Hahn, Theologie I (Lit. § 1), 285 f. 95 In der heutigen volkskirchlichen Kasualpraxis ist diese ekklesiologische Bedeutung des Initiationsritus allerdings vielfach durch ein primär biographisches Verständnis als erster Passageritus zu Beginn des Lebens überlagert; vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 71–74.363–369; ders., Kasualien als Segenshandlungen. Eine theologische Grundlegung der kirchlichen Passageriten, US 58 (2003), 188–204.319 (Korrekturnachtrag der Redaktion).
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139
hin. Die Verbreitung dieser beiden Sakramente ist ein untrügliches Zeichen für die Neukonstitution der christlichen Gemeinden als eigenständige Religionsgemeinschaft, zu deren innerer Identitätsbildung (als „identity marker“) und äußerer Abgrenzung (als „boundary marker“) sie durch den rituellen Vollzug wesentlich beitrugen.96 Die praktische Entscheidung der Einzelnen, ob jemand sich zur Taufe bzw. zur Teilnahme an der Herrnmahlsfeier entschließt, kann in den Konsequenzen für das religiöse Leben eines Menschen kaum überschätzt werden. Zugleich hat es deutliche Folgen für das Entstehen einer neuen Glaubensrichtung oder Religion. Dabei müssen wir gerade in den Briefen die situationsbedingten Zufälligkeiten bedenken, durch die das jeweilige Schreiben konkret veranlasst ist. So darf z. B. aus der Nichterwähnung des Herrnmahls nicht kurzschlüssig die Folgerung gezogen werden, die Gemeinde habe diese Feier nicht gekannt. Nur den Missständen in der korinthischen Gemeinde ist es zu verdanken, dass Paulus die Einsetzungsworte erwähnt (1Kor 11,23–25). So ist der 1. Korintherbrief ein gutes Beispiel dafür, dass Taufe und Herrnmahl nur deshalb thematisiert werden, weil sie in der Gemeinde Probleme bereiteten (§ 5.12.4). Die liturgischen Texte für das Herrnmahl werden in 1Kor 11,23b–25 (vgl. Mk 14,22-25 parr.) zitiert, während die Texte zur Taufe nur im Rahmen theologischer Argumentation indirekt wiedergegeben werden (Röm 6,3-11; Gal 3,27; Kol 2,12). Sie bezeugen, dass die Deutung des Todes Jesu als stellvertretendes Sühnopfer in der Liturgie einerseits bei der Feier des Herrnmahls ihren Sitz im Leben gewann,97 andererseits eng mit der Taufe verknüpft war, die „auf seinen Tod“ erfolgte und an der heilvollen Wirkung seines Todes und seiner Auferstehung Anteil gab (Röm 6,3 f.; vgl. Kol 2,12). Die Verbreitung der Taufe und die Akzeptanz der Auferstehungschristologie sind eng miteinander verflochten. Sie gehören zum Grundzeugnis des christlichen Glaubens und hatten eine theologisch und liturgisch integrierende Wirkung. Daraus bezog die paulinische Theologie als eine soteriologisch tiefer durchdachte Neuinterpretation des Herrnmahls und z. T. auch des Auferstehungskerygmas in der Taufe ihre Überzeugungskraft (Röm 6; s. Anm. 126 ff.). Wir beginnen mit der Entstehung und Bedeutung der Taufe. Zunächst werden wir a–c) die Entwicklung von Johannes dem Täufer über die Taufe Jesu zur frühchristlichen Taufpraxis darstellen, dann d) auf das paulinische Taufverständnis, e) auf die Bedeutung des Taufbefehls in Mt 28,16–20 und f) auf die Kindertaufe eingehen, um schließlich g) die Tauftheologie in den neutestamentlichen Briefen weiterzuverfolgen und h) ein Fazit zu ziehen.
96 97
Vgl. W. A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur, Gütersloh 1993, 187–191.307–329. Mk 14,24; Mt 26,28; Lk 22,19.20; 1Kor 11,24; s. Anm. 165 ff.
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a) Die Herkunft: Der Terminus „báptisma“ (Taufe)98 ist eine Ableitung von „báptein“ / „baptízein“ (eintauchen, untertauchen).99 Aus diesem Verb ist – durch das gotische „daupjan“ vermittelt – das deutsche Wort „taufen“ entstanden. Die Taufe ist eine kultische Waschung, die in mehreren spätantiken Religionen bekannt war. Auch in der Schrift (dem Alten Testament) sind Reinigungsvorschriften enthalten (Lev 12–16; Num 19). In Qumran gab es rituelle Waschungen, die als äußere Bestätigung der vorangegangenen inneren Umkehr angesehen wurden (1QS II,25–III,12). Über die Waschungen bei den Essenern berichtet Josephus (Bell. II,7,12 f.). Im 20. Jh. versuchte die religionsgeschichtliche Schule die Taufe aufgrund motivischer Parallelen aus den Einweihungspraktiken der Mysterienreligionen (§ 5.4) herzuleiten, doch werden diese Erklärungsversuche in der heutigen Forschung kritischer betrachtet.100 Inzwischen ist weitgehend anerkannt, dass die Jesusbewegung die Gestalt der Taufe mit dem Untertauchen im fließenden Wasser als einem nicht wiederholbaren Akt von Johannes dem Täufer101 übernahm. Dieser galt als apokalyptischer Endzeitprophet, Umkehrprediger und Wegbereiter Jesu. Er war die bekannteste Gestalt einer breiteren Täuferbewegung (Sib 4,165 f.) in der frühkaiserlichen Zeit.102 Jesus gehörte eine Zeit lang zu seinen Anhängern und wurde nach Markus in einer Offenbarungsszene mit einer Himmelsstimme von ihm getauft (Mk 1,9–11).103 Von anderen religiösen Waschungen unterscheidet sich die Johannestaufe erstens dadurch, dass sie keine Selbstwaschung ist, sondern passiv als Fremdtaufe durch Jo-
98
Vgl. insgesamt U. Schnelle, Art. Taufe, TRE 32, 663–674 (Lit.); F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 507–532; F. Avemarie, Art. Taufe II, RGG4 6, 52–59. 99 Für nichtchristliche Taufen wird im Griechischen auch das Verb „loúein“ (waschen, baden) benutzt. 10 0 „Analogy is not genealogy“ erklärt J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 445 f., im Anschluss an A. J. M. Wedderburn, Baptism and Resurrection (WUNT 44), Tübingen 1987; vgl. P. Pokorný, ThHK 10,I (Lit. § 8.2), 95–101; M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 261–263.416–418.444 f., die Quellen zu den Mysterienreligionen bei M. W. Meyer (Hg.), The Ancient Mysteries, San Francisco 1987, in Auswahl bei C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte (Lit. § 12e), 151–163, zur Einführung H.-J. Klauck, Umwelt I (Lit. § 2.2), 77–128, sowie grundlengend W. Burkert, Antike Mysterien, München 21991. Nach U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5), 364 f., zeigen die Mysterientexte „keine Genealogie oder Analogie“ zu Röm 6,3 f., wohl aber „das geistige Umfeld“. 101 Zu Johannes dem Täufer vgl. G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 184–198, ausführlicher U. B. Müller, Johannes der Täufer (BG 6), Leipzig 2002 (zur Taufe bes. 38–44.52– 56.93–100), und zu dessen Verhältnis zu Jesus Ch. Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,1 (Lit. § 7.1), 42 f.46–50.52 f. 102 Vgl. H. Lichtenberger, Täufergemeinden und frühchristliche Täuferpolemik im letzten Drittel des 1. Jahrhunderts, ZThK 84 (1987), 36–57. 103 So U. B. Müller, Johannes der Täufer (s. Anm. 101), 52–56.
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hannes vollzogen wurde, was ihm den Beinamen „der Täufer“ eintrug.104 Als eschatologische Zeichenhandlung erfolgte sie zweitens in Anbetracht des nahen Weltendes bei jeder Person nur ein einziges Mal. Sie war drittens mit einer Aufforderung zur Umkehr verbunden (Mk 1,4; Lk 3,8 Q) angesichts des unmittelbar bevorstehenden Zorngerichts Gottes (Lk 3,7.17 Q) und versprach viertens die Vergebung der Sünden durch Gott beim kommenden Gericht (Mk 1,4; Lk 3,3). Johannes taufte „jenseits des Jordans“ (Joh 1,28; 10,40) an der Stelle, wo Josua durch den Jordan gezogen war (Jos 3 f.) und der Prophet Elia das Schilfmeerwunder wiederholt hatte (2Kön 2,1–18; vgl. Ex 14,22). Damit steht die Johannestaufe in der Tradition des Durchzugs durch das Rote Meer. Ihre Bedeutung lag darin, dass die Taufe das Gericht Gottes vorwegnahm. Wer sich taufen ließ, erfuhr die Rettung aus der Katastrophe des nahe bevorstehenden Untergangs. Nur bei der Taufe Jesu wurde – wegen seiner implizit vorausgesetzten Sündlosigkeit – das Motiv der Sündenvergebung zunehmend als Problem empfunden. Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie die Evangelien den Vorgang darstellen und bewerten: Schon bei Markus (1,9– 11) ist von der Vergebung keine Rede mehr, sondern bloß noch vom Herabsteigen des Geistes und der Himmelsstimme. Nach Matthäus weigerte sich Johannes, die Taufe Jesu zu vollziehen, da er doch eher selber getauft werden müsste. Statt als Sünder Vergebung zu erfahren, wurde Jesus nach der matthäischen Darstellung vielmehr getauft, um die Gerechtigkeit zu erfüllen, d. h. um sich als Gerechter zu erweisen, der den Willen Gottes vollständig verwirklicht (Mt 3,14 f.).105 Bei Lukas (3,21 f.; § 6.4.5.5) befand sich Johannes längst im Gefängnis (3,20), sodass die Taufe Jesu nicht mehr geschildert wird (wie noch in Mk 1,9). Sie diente nur noch als äußerer Anlass für das Gebet Jesu („als er getauft worden war und betete“), bei dem sich der Himmel „öffnete“ und der heilige Geist „in leiblicher Gestalt wie eine Taube“ herabstieg (dem im lukanischen Doppelwerk eine große Bedeutung zukommt; § 6.4.5.2b; 6.4.5.3b). Im Johannesevangelium wird die Taufe Jesu überhaupt nicht mehr erwähnt (Joh 1,29–34). Auch ist Johannes hier nicht mehr der Täufer (der Titel fehlt), sondern nur der erste große Zeuge (1,15.19).106 Dafür identifiziert Johannes der Täufer Jesus in seiner besonderen Würde, indem er ihn erstens als Lamm Gottes bezeichnet, das – statt durch eigene Sünden belastet zu sein – die Sünde der Welt wegnimmt (Joh 1,29; vgl. Jes 53,4.7.11), zweitens im Anschluss an die synoptische Tradition als Geistträger beschreibt (Joh 1,32 f.) und drittens als Gottessohn vorstellt (Joh 1,34; § 7.1.3).
Jesus knüpfte mit seiner Verkündigung bei der Botschaft des Johannes an, verlagerte aber den Schwerpunkt, indem er nicht nur den herannahenden Zorn Gottes (Lk 3,7 Q), sondern vor allem das Evangelium von der unmittelbar bevorstehenden Gottesherrschaft ansagte (Mk 1,14 f.). Ob Jesus selber die Wassertaufe praktiziert hat, ist 104
Josephus Ant. XVIII,116 (vgl. C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte [Lit. § 12e], 313– 315); Mk 6,25; Mt 3,1 u. ö. 105 Matthäus verlagert die Sündenvergebung von der Taufe (Mk 1,4) zum Abendmahl (Mt 26,28; § 6.3.3.3c). 106 Vgl. Joh 3,30 zum Verhältnis zwischen Jesus und Johannes d.T.: „Jener muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“
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wegen der widersprüchlichen Angaben in Joh 3,22 („er taufte“; vgl. 3,26; 4,1) und 4,2 („Jesus selbst taufte nicht“) historisch umstritten.107 Unter Berufung auf Joh 4,2 wird eine Tauftätigkeit Jesu jedoch meist abgelehnt, da auch die Synoptiker von einer Taufpraxis Jesu nichts berichten und diese bei der Jüngeraussendung nicht erwähnt wird (Mk 6,7–13; Mt 10,1 ff. Q). Joh 3,22 wird dann meist als spätere Rückprojektion beurteilt, durch die die kirchliche Taufpraxis im Leben Jesu verankert und legitimiert werden sollte. Außerdem war die erste kurze Zeit nach Ostern unter den Anhängern Jesu durch einen Geistenthusiasmus gekennzeichnet, der das Bewusstsein dieser entscheidenden Wende widerspiegelt. In der synoptischen Tradition wird dieser Neuanfang metaphorisch Geisttaufe genannt (Mk 1,8 parr.). Bald hat sich die von Johannes dem Täufer übernommene Wassertaufe – mit einigen deutlichen Akzentverschiebungen – als Aufnahmeritus der Christen durchgesetzt. b) Die urchristliche Taufpraxis: In den christlichen Gemeinden muss die Taufe rasch verbreitet und schon sehr früh mit großer Selbstverständlichkeit praktiziert worden sein. Dies belegen die Tauferzählungen der Apostelgeschichte – nicht zuletzt von Paulus bereits Anfang der 30-er Jahre (Apg 9,17 f.; 22,16; 1Kor 12,13: „wir alle sind getauft“).108 Auch sonst wird es sich in aller Regel um die Bekehrungstaufe von Erwachsenen gehandelt haben. Dabei verrät die Unterschiedlichkeit der lukanischen Berichte und der paulinischen Ausführungen, dass die Art des Vollzugs zunächst noch situationsbedingt vielfältig war und eine feste Taufliturgie sich erst in späterer Zeit entwickelte. Dennoch ist gut erkennbar, dass im Wesentlichen vier Merkmale von der Johannestaufe übernommen wurden: Auch die christliche Taufe war erstens keine Selbstwaschung, sondern wurde durch eine andere Person als Täufer vollzogen.109 Sie geschah zweitens als eschatologische Zeichenhandlung in einem einmaligen, nicht wiederholbaren rituellen Akt.110 Sie erfolgte drittens mit einem Wasserbad111 – soweit möglich durch Untertauchen in einem fließenden Gewässer (Apg 8,38), nach Did 7,1 ff. nur ausnahmsweise durch dreimaliges Übergießen des Kopfes.
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Vgl. U. B. Müller, Johannes der Täufer (s. Anm. 101), 54–56.93 f. Vgl. Krispus (Apg 18,8; 1Kor 1,14–16), Lydia und den Gefängniswärter in Philippi (Apg 16,15.33), aber auch Simon Magus (8,13), ferner Kornelius (10,1 – 11,18) und den äthiopischen Finanzminister (8,26–40), vielleicht auch schon die Pfingsterzählung (2,38.41); vgl. F. Avemarie, Tauferzählungen, 441–443 u. ö. 109 Apg 8,38; 10,48; Did 7,4. In 1Kor 1,14.16 wird dieser Aspekt polemisch heruntergespielt, denn entscheidend ist nicht die Person des Täufers, sondern allein Christus und der Glaube. 110 Zur Einmaligkeit der Taufe vgl. vor allem Röm 6,3 f.10 (§ 5.6.2.2d) und Hebr 6,1–6 (§ 8.5.3). Deshalb wird nirgends eine Wiederholung oder zweite Taufe (Wiedertaufe) erwähnt. 111 Apg 8,38; 1Kor 6,11; vgl. Apg 22,16; Eph 5,26; Tit 3,5; Hebr 10,22. 108
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Und sie vermittelte viertens die Vergebung der Sünden (Apg 2,38; 22,16).112 Wie die Bußtaufe des Johannes war auch die christliche Taufe zunächst nur ein Element einer innerjüdischen Erneuerungsbewegung, die eher reformativ als separativ ausgerichtet war. Erst durch die missionarische Ausweitung des Taufens auf Heiden, d. h. Nichtisraeliten, wurde die Taufe zum entscheidenden und unterscheidenden Initiationsritus der christlichen Heilsgemeinde. Wie die Taufpraxis des Johannes wahrscheinlich von der Schilfmeertradition geprägt war, so symbolisiert das rituelle Untertauchen auch bei Paulus in Röm 6,3 f. nicht einfach die reinigende Wirkung des Abwaschens, sondern sehr viel radikaler den Untergang, das Ertränken der Sünden. Der Symbolbegriff meint hier nicht eine zeichenhafte Bedeutung, die auf ein anderes Geschehen hinweist, sondern die Verbindung der göttlichen mit der irdisch erfahrbaren Wirklichkeit. Das Untertauchen bewirkt das Absterben alles Gottfeindlichen des „alten Menschen“ (Röm 6,6), dem das Auftauchen, das allerdings nicht erwähnt wird, als Ritus der Neuschöpfung aus dem Tod korrespondiert.113 Auch in 1Kor 10,1 f. interpretiert Paulus es als eine typologische Vorausdarstellung114 des Taufgeschehens, dass die Israeliten unter der Führung des Mose aus der Sklaverei in Ägypten befreit und durch die tötenden Schilfmeerfluten hindurch errettet wurden (Ex 14,16.22.29; Ps 78,13), während das ägyptische Heer unterging (Ex 14,24–30). Ebenso versteht der Verfasser des 1. Petrusbriefs die Taufe aufgrund des stellvertretenden Todes und der Auferstehung Jesu als ein heilbringendes Geschehen. In einer typologischen Anspielung („antítypos“) auf die Sintflut deutet er das Eintauchen als Gericht und das Auftauchen als Errettung (1Petr 3,18–22). Auch hier sind die Getauften Abbilder und Nachfolger der aus der Sintflut Geretteten. Ihre Taufe symbolisiert nicht nur ein äußeres Abwaschen des schmutzigen Körpers, sondern sehr viel radikaler eine innere Reinigung, die ein „gutes Gewissen“ bewirkt und die „aufgrund der Auferstehung Jesu Christi“ geschieht (3,21). In dieser Begründung durch die Auferstehung entspricht die Taufe der Neuzeugung bzw. Wiedergeburt des Menschen in der Eingangseulogie (1,3).115
Im Unterschied zu Johannes wurde die christliche Taufpraxis modifiziert: Schon für Paulus erfolgte die Taufe „auf Christus“ (eis Christón; Röm 6,3; Gal 3,27; vgl. 1Kor 10,2), d. h. auf seinen Namen (vgl. 1Kor 1,13–15; 6,11). Nach der Apostelgeschichte wurde sie „in“ oder „auf“ den Namen Jesu vollzogen,116 um die christliche Taufe von der Johannestaufe abzuheben: Indem der Täufling den Namen Jesu anruft (Apg 112 Vgl. F. Avemarie, Tauferzählungen, 104–128, bes. 118.127 f.; vgl. auch Joh 20,21 f. und dazu U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik (Lit. § 7.1), 24 f. 113 Vgl. auch die Neu- oder Wiedergeburt in Tit 3,5; Joh 3,3–5; 1Petr 1,3.23. 114 Vgl. 1Kor 10,6: týpos; V.11: typikṓs. 115 Zu 1Kor 10 und 1Petr 3 vgl. K.-H. Ostmeyer, Taufe und Typos, 137–161; R. Feldmeier, ThHK 15/1, 138 f. 116 Vgl. „in“ (Apg 2,38: epí bzw. 10,48: en) oder „auf“ (eis; 8,16; 19,5) den Namen Jesu (vgl. Mt 28,19; Did 7,1.3, aber auch Jak 2,7 [§ 8.8.2b]).
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22,16), wird die Taufe christologisch an die Person Jesu gebunden und soteriologisch durch die heilvolle Wirkung seiner Vergebung qualifiziert.117 Dies hatte in sozialer Hinsicht zur Folge, dass die Täuflinge in die Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger eingefügt wurden (Apg 2,41). Als auf Christus Getaufte erhielten die Anhänger Jesu zuerst in Antiochien den Namen „Christen“ (Apg 11,26; s. Anm. 52). Diese Benennung brachte nicht nur ihre Bindung an Christus zum Ausdruck, sondern ebenso ihre Eigenständigkeit als neue Gruppierung, und zwar sowohl Juden als auch Heiden gegenüber. Schließlich wurde die von Johannes angekündigte Feuertaufe nicht mehr als Gericht (Lk 3,16 f. Q), sondern als Ausgießung des heiligen Geistes verstanden, mit der das für die Endzeit verheißene Heil anbricht.118 c) Die Taufe Jesu als Modell für die christliche Taufe: In der Taufpraxis orientierten sich die ersten Christen an der Taufe Jesu (Mk 1,9–11 parr.) als Vor- und Urbild. Damit erhielt die Schilderung seiner Taufe eine legitimierende Funktion für den rituellen Vollzug und das theologische Verständnis in den Gemeinden. In den Evangelien wird die Erzählung der Taufe Jesu zwar nicht explizit als Kultätiologie stilisiert, da im Unterschied zum Einsetzungsbericht des Abendmahls eine Wiederholungsaufforderung (s. Anm. 179) fehlt und der Taufbefehl erst von Matthäus redaktionell formuliert wurde (Mt 28,16–20; s. Anm. 132 ff.). Dennoch wurde die Taufe Jesu in dreifacher Hinsicht zum Modell für die christliche Taufe: auch diese wird erstens mit Wasser vollzogen (s. Anm. 111), ist zweitens mit dem Herabsteigen bzw. der Gabe des Geistes verbunden119 und hat drittens die Gotteskindschaft der Getauften zur Folge: Zu 1. und 2.: Die Geisttaufe konnte unabhängig von der Wassertaufe erfolgen (Apg 2,1–4; 10,44–48) und mag einige Zeit mit ihr konkurriert haben. Doch hat sich schon bald die Auffassung von 1Kor 12,13 durchgesetzt, dass die Geisttaufe mit der Wassertaufe verbunden ist.120 Bereits bei Paulus wird die Wirkung der Taufe auf das Wirken des heiligen Geistes zurückgeführt (1Kor 6,11; 12,13), indem sie die Mitteilung und den Empfang des Geistes mit sich bringt (s. Anm. 119) bzw. einen ersten Anteil des Geistes gewährt.121 Nun wohnt Gottes Geist (Röm 8,9.11) in den Getauften, sodass sie in Christus leben (Röm 8,1 f.) und er in ihnen
117
So F. Avemarie, Tauferzählungen, 26–43, im Anschluss an L. Hartman, Auf den Namen des Herrn Jesus (SBS 148), Stuttgart 1992, 40 f., gegen die früher verbreitete, aus dem hellenistischen Zahlungsverkehr übernommene Vorstellung von der Übereignung des Täuflings an Christus durch W. Heitmüller, „Im Namen Jesu“, Göttingen 1903, 99–109.115–122, und H. Bietenhard, Art. ónoma, ThWNT V, 275, oder der Zueignung des Heils an den Täufling durch G. Delling, Die Zueignung des Heils in der Taufe, Berlin 1961, 70 f.74–76.80.90. 118 Mk 1,8 parr.; Joh 1,33; Apg 1,5; 11,16; vgl. das Pfingstgeschehen in Apg 2,3 f.38. 119 Vgl. 1Kor 12,13; Gal 3,26–29 (vgl. 3,2–5.14; 4,6), aber auch 1Kor 6,11; 2Kor 1,21 f. und weiter Apg 2,38; 8,15–17; (9,17 f.); 10,45.47 f.; 19,2–6 sowie Joh 3,5 und Tit 3,5. 120 Vgl. Mk 1,10 sowie 1Kor 6,11; Tit 3,5; Joh 3,5. 121 2Kor 1,22; 5,5: „Anzahlung“ (arrabṓn); Röm 8,23: „Erstlingsgabe“ (aparchḗ).
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(Gal 2,20). Eine Anspielung auf die Taufe ist die Versiegelung122 und Salbung durch den heiligen Geist, die am messianischen Gesalbtsein Christi (§ 5.6.1.1) Anteil gibt (2Kor 1,21 f.).123 Weil die Gemeindeglieder in der Taufe durch den Geist geheiligt sind (1Kor 6,11), werden sie als „Geheiligte“ (hēgiasménoi; 1Kor 1,2) oder – häufiger – einfach als „Heilige“ (hágioi; Röm 1,7; 1Kor 1,2 u. ö.) angesprochen. Die innere Einheit von Wassertaufe und Geisttaufe (nicht die Unabhängigkeit der Geisttaufe) begründen einige Erzählungen der Apostelgeschichte, in denen sich exemplarisch die Taufpraxis der frühen Kirche widerspiegelt (vgl. Anm. 108 ff.; § 6.4.5.2b). So sehr der Geistempfang mit der Taufe verknüpft war, wurde er doch nicht auf den Taufvollzug beschränkt. Zu 3.: Die Gotteskindschaft wird in den synoptischen Evangelien bei der Taufe Jesu durch die Himmelsstimme offenbart,124 bei den Christen jedoch in einer abgestuften Analogie zu dem einzigartigen Gottessohn Jesus (§ 5.6.1.2) als Adoption interpretiert (Gal 3,26 f.; 4,5 f.). Das für die Adoption gebrauchte griechische Wort „hyiothesía“ (Annahme an Sohnes statt) ist eigentlich – wie bei uns heute – ein juristischer Fachterminus, den Paulus aber nur im religiösen Sinn für die Gottesbeziehung verwendet. Damit wird die Gotteskindschaft der Christen im Neuen Testament durch die Taufe begründet.125 Existenziell erfahrbar wird sie im geistgewirkten Gebet mit dem Abbaruf (Gal 4,5 f.; Röm 8,15–17; s. Anm. 63) und der Gottesanrede im Vaterunser (Lk 11,2 Q; § 6.3.4.3b).
d) Das paulinische Taufverständnis: Grundlegend für das christliche Verständnis der Taufe sind die Ausführungen des Paulus.126 Dabei ist jedoch zu beachten, dass der Apostel die Taufe nirgends als solche zum Hauptthema macht, sondern nur beiläufig auf sie zu sprechen kommt weshalb die einzelnen Hinweise im Folgenden schon vorweg im Zusammenhang dargestellt werden.127 So zielen auch die Aussagen in Röm 6,3–11 eigentlich auf die nachfolgende Paränese. Die Taufe wird von Paulus lediglich en passant in Erinnerung gerufen, ihre Bedeutung bei den Adressaten schon als bekannt vorausgesetzt (V.3 „wisst ihr nicht?“): Durch die Taufe wird die Zugehörigkeit eines Menschen zu Christus begründet. Wer „auf Christus“, d. h. auf seinen Namen, getauft ist (s. Anm. 116), hat Gemeinschaft „mit ihm“ (Röm 6,4 f.). Als Getaufter erhält er – in Anlehnung an das alte Be-
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2Kor 1,22; Eph 1,13 f.; 4,30. 2Kor 1,21 f.; 1Joh 2,20.27; vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 344–346. 124 Vgl. das Täuferzeugnis in Joh 1,34 (s. Anm. 106). 125 Durch diesen Bezug zur Taufe unterscheidet sich die Gotteskindschaft im Neuen Testament von der schöpfungstheologisch begründeten Vorstellung, dass alle Menschen Kinder Gottes sind (vgl. Dtn 32,6; Jes 45,11; 64,7). 126 Zur paulinischen Tauftheologie vgl. J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 442–459, oder monographisch U. Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart; H. Umbach, In Christus getauft. 127 Zu Röm 6 als locus classicus kirchlicher Tauflehre vgl. U. Wilckens, EKK VI/2, 22– 33. 123
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kenntnis in 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.1) – Anteil am Tod128 und an der Auferstehung Jesu. Durch die Taufe hat er nach Gal 3,26–29 „Christus angezogen“ und ist nun „in Christus“ (en Christṓ). Er wird von der Heilsmacht Christi eingehüllt wie von einem neuen Kleid, das jetzt unablöslich zu seiner Person gehört und sein Leben dauerhaft mit einer heilvollen Wirklichkeit umschließt.129 In Röm 6 führt Paulus dann weiter aus, was es bedeutet, dass ein Mensch nach seiner Taufe „in Christus“ (6,11.23) lebt, d. h. in die Schicksalsgemeinschaft des Todes und der Auferweckung Jesu hineingenommen ist: Mit dem Eintauchen stirbt der alte Mensch, er wird mit Christus „mitgekreuzigt“ (Röm 6,6). Der alte Adam wird in seiner Sünden- und Todesverfallenheit mit Christus „mitbegraben“ (6,4). Weil Christus „pro nobis“ gekreuzigt wurde (vgl. 1Kor 1,13), erhält der Täufling, indem er mit Christus mitgekreuzigt und mitbegraben wird, selber Anteil an der „extra nos“ begründeten Vergebung der Sünden, Gerechtmachung und Versöhnung mit Gott, die der stellvertretende Tod Jesu „für uns“ gebracht hat (Röm 5,6–11). Durch die Taufe kommt das Heil, das durch Christus „für uns“ universal geschehen ist, einer einzelnen Person individuell zugute. Ihr wird die Gemeinschaft „mit Christus“ eröffnet (sýn Christṓ). So geschieht durch die Taufe nichts, was nicht im Christusereignis seinen Grund hat. Aber was Christus am Kreuz für alle Menschen (5,12 ff.) getan hat, wird in der Taufe einem Individuum persönlich zugeeignet (6,3 ff.). Aus dieser Errettung vor dem göttlichen Zorngericht (Röm 5,9 f.) ergibt sich in Röm 6 die ebenfalls „extra nos“ verankerte Hoffnung, dass der Getaufte durch das Wirken des Geistes mit Christus schon jetzt an der eschatologisch erneuerten Wirklichkeit partizipiert (V.11). Dieser Neubeginn ist mit der Auferstehung Jesu angebrochen und wird durch den – bei Paulus jedoch nicht thematisierten – Ritus des Auftauchens symbolisch nachvollzogen.130 Wer aus der Taufe steigt, für den beginnt „mit Christus“ ein neues Leben. Nun ist er „mit ihm zusammengewachsen“ (sýmphytos), wird für immer mit ihm verbunden sein. Als Getaufter wird er ihm nicht nur im Tod, sondern durch die Auferweckung auch im ewigen Leben gleich werden (6,4 f.). Dabei bezeichnet das Wort „Gleichheit“ (homoíōma) die Identität und die Differenz in einem, dass die auf Christus Getauften mit seinem Tod mitgekreuzigt werden, selbst jedoch nicht sterben, sondern leben, „tot sind für die Sünde, aber leben für Gott“ (6,11). Mit dieser theologischen Deutung verschiebt Paulus im Taufritus die Betonung weg vom Untertauchen des alten Adam, der symbolischen Vorwegnahme der
128
Nach Mk 10,38 f. hat schon Jesus von seinem Tod metaphorisch als „Taufe“ gesprochen, ohne einen Bezug zum Wasserritus herzustellen. 129 Daraus entwickelte sich die christliche Sitte des Taufgewands. Vgl. die paränetische Verwendung des „Anziehens“ in Röm 13,14 und dazu den Exkurs von M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 438–451. 130 Vgl. das Heraussteigen bei der Taufe Jesu (Mk 3,9 f. par. Mt 3,16) und des Kämmerers (Apg 8,39).
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
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Todesstrafe, hin zum Aufsteigen aus dem Wasser und zum Beginn einer neuen Existenz. Jetzt liegt der Schwerpunkt auf der antizipatorischen Vergegenwärtigung der absoluten Hoffnung, die vom Geist bewirkt wird, untrennbar mit dem Geschick Jesu verbunden ist und in der verheißenen Erweckung von den Toten gründet. Damit werden die Getauften zwar noch von ihrem irdischen Leben Abschied nehmen müssen, aber sie werden nicht für immer im Tod bleiben, sondern auferstehen und mit Christus leben in Ewigkeit. Durch die Gemeinschaft mit Christus bewirkt die Taufe nicht nur wie bei Johannes dem Täufer die Vergebung für begangene (Einzel-)Sünden, sondern sehr viel grundsätzlicher die Befreiung aus der abgrundtiefen Sündenverfallenheit und Todesohnmacht des Menschen, die Paulus zuvor in der Adam-Christus-Typologie in Röm 5,12 ff. (§ 5.16.5b) ausgeführt hatte. Es handelt sich um einen Akt der Neuschöpfung, weil „unser alter Mensch“ von diesem Zeitpunkt an „in Christus“ als „neue Kreatur“ (2Kor 5,17; Gal 6,15) existiert (s. Anm. 113). Nun wird er durch den Geist Gottes „in der Neuheit des Lebens“ wandeln (Röm 6,4; vgl. 7,6), die durch den heiligen Geist schon ganz im Zeichen der eschatologischen Vollendung steht (8,1 ff.18 ff.). In der Taufe geschieht nach Paulus ein Herrschaftswechsel (Röm 6,9.12). Der Getaufte ist – in den sozialen Kategorien von Sklaverei und Freiheit ausgedrückt – nicht mehr unter der tödlichen Herrschaft der Sünde versklavt (vgl. 5,14.17.21; 6,6.9.14– 23), sondern durch den stellvertretenden Sühnetod Jesu (s.u. Anm. 167 ff.) aus dieser Abhängigkeit befreit (3,25 f.; 6,18.22; 8,2). Nun „herrscht“ über ihn nicht mehr die Sünde, sondern die Gnade (5,21; 6,14). Er lebt nicht mehr „unter dem Gesetz“, sondern „unter der Gnade“ (6,14). Christus ist der „Herr“ seines Lebens, der ihn von der Macht der Sünde frei gemacht hat und ihm Gerechtigkeit und ewiges Leben schenkt (10,9–13). Durch die Taufe wird er in den Wirkungsbereich Christi aufgenommen und effektiv gerecht gemacht (2Kor 5,21; vgl. 1Kor 6,11; 1,30). Die fremde Gerechtigkeit (§ 5.16.5a), die die Taufe vermittelt, wird „durch den Glauben“ empfangen (Gal 3,25 f.) und erkannt (Röm 6,6.9). Damit ist die Macht der Sünde „ein für alle Mal“ (ephápax) gebrochen (Röm 6,10), auch wenn ihre vollständige Vernichtung noch auf sich warten lässt. Wegen dieser Spannung zwischen „schon“ und „noch nicht“ bedürfen die Getauften weiterhin der Paränese (6,12 ff.). Aber der Einzigartigkeit des Sühnetods Jesu entspricht die Einmaligkeit der Taufe. In ihr wird die Gerechtmachung, die durch den Tod Jesu universal für alle geschehen ist, einem Menschen individuell zuteil und zu einer wesentlichen Grundlage seiner Persönlichkeitsund Identitätsbildung. Die durch die Taufe neu geschaffene Existenz hat ethische Konsequenzen: Der Getaufte lebt nicht mehr als Sklave der Sünde, sondern als Gerechtfertigter, der von Gott freigesprochen und gerecht gemacht ist (Röm 6,7). Deshalb gehorcht er nicht mehr wie ein Sklave der Sünde (6,6.16 f.19 f.), sondern ist befreit von deren Herrschaft. In der Gemeinschaft mit Christus führt er ein eschatologisch erneuertes Leben (V.4) und
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dient der göttlichen Gerechtigkeit durch ein entsprechendes moralisches Verhalten (V.16.18 f.; vgl. V.22). Die neue Präsenz Christi eröffnet den Weg in den neuen Äon (hebr. ‘ôlām, griech. aiṓn; § 5.10.3) und wird in den paränetischen Aussagen von Röm 6 und 8 für die Lebensgestaltung der Christen ethisch fruchtbar gemacht. Auf die Distanzierung von den fortdauernden Versuchungen der Sünde zielt die Paränese etwa nach dem Motto „Werde, der du bist!“ bzw. „Lebt, was ihr seid!“ So spricht Paulus in 1Kor 6,11 die Gläubigen in Aoristformen auf ihre Taufe an, damit sie die bereits erfolgte Lebenswende von der heidnischen Vergangenheit zu ihrer christlichen Existenz in ihrem ethischen Verhalten bewähren: „Aber ihr seid reingewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerecht geworden im Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes“ (vgl. 1Kor 1,30). Taufe, Gerechtmachung und die Auswirkungen dieser Heiligung in der sittlichen Lebenspraxis gehören untrennbar zusammen, weil das Leben der Getauften durch den Geist geheiligt ist und dementsprechend eine Lebensführung verlangt, die die Laster des alten Menschen hinter sich lässt.131 Da die Heilswirkung der Taufe durch den Tod und die Auferstehung Jesu begründet ist, hat sie eine ekklesiale Dimension: Die Taufe „auf Christus“ (eis Christón; s. Anm. 116) ist ein Aufnahmeakt, der die Eingliederung „in den einen Leib“ bewirkt (eis hén sṓma; 1Kor 12,13), d. h. die Einverleibung als neues Mitglied in den Einflussbereich Christi, der in der christlichen Gemeinde als Lebensgemeinschaft seine konkrete geschichtliche Gestalt hat. Wer „auf Christus getauft“ wurde, ist nun „in Christus“ (en Christṓ) inkorporiert, d. h. in den vorgegebenen Leib Christi, die christliche Gemeinde, aufgenommen (Gal 3,27 f.). Daraus leitet Paulus die soteriologische Gleichberechtigung aller Getauften ab, die ethische Konsequenzen hat. So hält er den innergemeindlichen Aufspaltungstendenzen in Korinth entgegen, dass die Gläubigen alle durch die Taufe zusammengehören wie die Glieder eines Leibes (1Kor 12,12 f.; § 5.12.4–5). Ebenso erinnert er die Galater angesichts der religiösen Spannungen zwischen Juden- und Heidenchristen daran, dass sie alle „einer“ sind „in Christus Jesus“ (Gal 3,28 § 5.11.3–4). Denn durch dessen Heilstat sind die alten ethnischen bzw. sozialen Gegensätze zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Männern und Frauen eigentlich überwunden, sodass sie im Zusammenleben der Gemeinde keine trennende Wirkung mehr haben dürfen (1Kor 12,13; Gal 3,28; vgl. Kol 3,11). Da die Taufe als einmaliger Akt das Leben der Täuflinge mit dem Geschick Jesu verbindet, gewann die Auferstehungschristologie (s. Anm. 83 ff.) durch den Bezug zur Taufe einen Vorsprung gegenüber anderen christologischen Konzeptionen. Dafür sprachen mehrere Gründe: Erstens ist die Auferstehungschristologie ein klarer Ausdruck der Ostererfahrung, dass Christus lebt und seine Auferweckung für das Leben der Christen von zentraler Bedeutung ist, weil sie sowohl die endzeitliche Hoffnung als auch die gegenwärtige Lebensführung bestimmt. Außerdem war sie zweitens in 131
S. Anm. 119 ff.; vgl. Röm 6,19–22; 1Kor 6,9 f.; 1Thess 4,3 ff.
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der heidnischen Umwelt verständlich, denn die Auferstehung ist mit der Erhöhung verbunden (vgl. Phil 2,9–11), die allgemein verständlich eine begehrte Position „oben“ zum Ausdruck bringt. Nicht zuletzt fand sie drittens im Taufritus eine eindrucksvolle liturgische Darstellung, die durch das Ein- und Auftauchen von großer Symbolkraft für die christliche Existenz ist. e) Der Taufbefehl in Mt 28,16–20: Der Taufbefehl, der in allen christlichen Kirchen liturgisch benutzt wird, stammt aus der von Matthäus redaktionell gestalteten Schlussperikope des Evangeliums. In Mt 28,16–20 wird er vom erhöhten Christus erteilt und in den Missionsauftrag eingebettet.132 Die triadische Taufformel verbindet die Taufe auf den Namen Jesu (s. Anm. 116) mit der bereits von Paulus geläufigen Nebeneinanderstellung von Vater, Sohn und Geist.133 Durch diese Aufforderung wurde die Taufe als Initiationsritus zum christlichen Äquivalent und Ersatz für die Beschneidung – ein deutliches Signal für die Neukonstitution einer eigenen Religionsgemeinschaft durch die frühen Christen (§ 6.3.4.2b; vgl. Kol 2,11 f.). Im Kontext des Matthäusevangeliums wird der Vollzug der Taufe durch Jesu Ruf in die Nachfolge (§ 6.2.8a.f) begründet („machet zu Jüngern“), nicht durch den Entschluss bzw. die Entscheidung des Menschen. Verlangt wird nicht nur das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn (vgl. Mt 7,21), sondern das Kennenlernen und Befolgen seiner ganzen Lehre, die Matthäus in den fünf großen Reden dargestellt hat (Mt 28,20a; § 6.3.3.2; 6.3.3.4). Die Taufe begründet die Gegenwart und Beihilfe des auferstandenen Jesus, die in der Verkündigung und Versammlung der Gemeinde, der Mission und Ethik konkrete Gestalt annimmt: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage“ (Mt 28,20b; § 6.3.4.3). Eine spätere Paralleltradition bietet der sekundäre Markusschluss [Mk 16,15 f.], der die Heilsnotwendigkeit der Taufe betont: „Wer glaubt und getauft ist, wird gerettet werden. ...“
132
Die redaktionelle Formulierung wurde für die protestantische Theologie zum Problem, da nach reformatorischem Urteil für ein Sakrament die Einsetzung durch Christus konstitutiv ist. Die Problematik verschärfte sich angesichts der neuzeitlichen Rückfrage nach dem historischen Jesus (Exkurs 3) noch dadurch, dass der Taufbefehl – anders als die Einsetzung des Abendmahls – nicht auf den irdischen Jesus zurückgeführt wird, sondern eine nachösterliche Formulierung wiedergibt. Doch gilt es zum einen zu bedenken, dass gerade bei Matthäus die Lehre des Erhöhten keine andere als die des irdischen Jesus in seinen Reden ist (§ 6.3.3.2; 6.3.3.4; vgl. zum Problem auch § 5.6.2.5; 6.2.6.1). Zum anderen begründen neuere protestantische Entwürfe ihre Sakramentenlehre nicht mehr formal („biblizistisch“) mit der Einsetzung durch Christus (bzw. den „historischen“ Jesus), sondern bekräftigen die Verbindung mit der Person Jesu in seiner Taufe sowie seiner vor- und nachösterlichen Mahlgemeinschaft mit den Jüngern; vgl. z. B. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens III, Tübingen 1979, 315 ff.; W. Pannenberg, Systematische Theologie 3, Göttingen 1993, 373 ff.; W. Härle, Dogmatik, Berlin u. a. 22000, 532 ff. 133 Vgl. die trinitarische Tendenz in 1Kor 12,4–6 (§ 5.12.1); 2Kor 13,13 (§ 5.13.1); (Phil 2,1); Gal 4,4–6 (§ 5.11.1).
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5 Die paulinischen Briefe
Nach Lukas (§ 6.4.5.2b) gibt Jesus keinen Taufbefehl, kündigt seinen Jüngern aber bei der Himmelfahrt die Taufe mit dem heiligen Geist für Pfingsten an (Apg 1,5). Dafür bietet die Aufforderung zur Taufe in der Pfingstpredigt des Petrus eine Kurzform des lukanischen Taufverständnisses (2,38), das die Bekehrung (s. Anm. 108), die Anrufung des Jesusnamens (s. Anm. 117), die Sündenvergebung (s. Anm. 112), den Geistempfang (s. Anm. 119) sowie die Eingliederung in die Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger (2,41) umfasst. Johannes (§ 7.1.5.3) überliefert ebenfalls keinen Taufbefehl, thematisiert die Taufe aber in Joh 3,3–5 durch die neue Geburt „aus Wasser und Geist“, die zur Bedingung für den Einlass in das Reich Gottes wird. Die nachösterliche Taufpraxis wird bei Johannes indirekt legitimiert durch den Hinweis, dass in der Zeit seines irdischen Wirkens „Jesus selber nicht taufte“, wohl aber „seine Jünger“ (4,2; vgl. 3,22; s. Anm. 107).
f) Die Kindertaufe: Da in der theologischen Deutung der Taufe die Zusage überwiegt, setzte sich die Kindertaufe durch. In der ersten Hälfte des 3. Jh.s wurde sie in der Kirche bereits allgemein praktiziert und rief keinen grundsätzlichen Widerspruch hervor.134 Im Neuen Testament wurde die Kindertaufe noch nicht als aktuelles Problem diskutiert. Denn im Urchristentum war zur Zeit der ersten Generation die Taufe eines Erwachsenen unmittelbar nach seiner Bekehrung der Normalfall. Es waren Erwachsene, die zum Glauben kamen und in die sich bildenden christlichen Gemeinden aufgenommen wurden, wie die Tauferzählungen der Apostelgeschichte zeigen (s. Anm. 108). Doch wenn jemand sein „Haus“ mittaufen ließ,135 dürften die unmündigen Kinder einer Großfamilie eher einbezogen als ausgeschlossen gewesen sein (Exkurs 11). Ein weiteres Argument für die Kindertaufe war die Einladung der Kinder durch Jesus (Mk 10,14).136 Ein Element stellvertretender Verantwor tung wird auch in 1Kor 15,29 sichtbar: Ohne eine ausdrückliche Antwort im Bekenntnis des Getauften hat man in Korinth nämlich die uns nicht näher bekannte Vikariatstaufe für die Toten praktiziert (daher auch Totentaufe genannt). Bei dieser Form der Taufe ließen sich Christen stellvertretend für Verstorbene taufen, um diese selbst nach dem Tod noch in das Heilsgeschehen einzubeziehen (1Kor 15,29). Auch die Taufe als Besprengung (statt Untertauchen), die aus der Taufe der Kranken (lat. baptisma clinicorum) entstand, ist erst in nachneutestamentlicher Zeit belegt (Did 7). Die Zusage des Heils förderte nicht nur die Verbreitung der Kindertaufe, sondern wurde auch zum Anlass, in der Verkündigung immer wieder an die grundlegende Bedeutung der Taufe für die christliche Existenz zu erinnern. So wurde die Taufe in 134
Zur Säuglings- und Erwachsenentaufe vgl. O. Hofius, Glaube und Taufe nach dem Zeugnis des Neuen Testaments, in: ders., Neutestamentliche Studien (WUNT 132), Tübingen 2000, 253–275. 135 1Kor 1,16 (Stephanas); Apg 10,24.27; 11,14 (Kornelius); 16,15 (Lydia); 16,31–33 (Kerkermeister); 18,8 (Krispus); vgl. § 6.4.5.2b. 136 Seit dem frühen Mittelalter fand die Kindersegnung durch Jesus als Schriftlesung in den Gottesdienstordnungen für die Säuglingstaufe Eingang (§ 6.2.1).
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mehreren neutestamentlichen Briefen zum Ausgangspunkt, um die Christen auf ihr Getauftsein anzusprechen und sie ihrer Taufe zu vergewissern.137 Daraus folgt in der postbaptismalen Paränese die Aufforderung zu einem Leben „mit Christus“ (sýn Christṓ), das dem Vorbild Jesu in ethischer Hinsicht entspricht und der Gerechtigkeit dient (Röm 6,1 ff.; Kol 3,1 ff.).138 Diese fortdauernde Paränese für alle Getauften war eine weiteres Motiv, weshalb die Kindertaufe sich ohne den bei Erwachsenen sonst üblichen Taufvorbereitungsunterricht in der Kirche ohne größeren Widerstand durchsetzen konnte. g) Die Taufe in den nachpaulinischen Briefen: Im deuteropaulinischen Kolosserbrief (2,12) nimmt ein Schüler des Apostels Wendungen aus Röm 6,4 auf, formuliert die paulinischen Aussagen über das künftige, eschatologisch erneuerte Leben nach der Auferstehung (Futur) aber in Vergangenheitsaussagen um (Aorist). Nun liegt der Ton nicht mehr auf der durch die Taufe eröffneten Hoffnung auf die noch bevorstehende Auferstehung, sondern ganz auf der bereits gemachten Heilserfahrung, die den Glaubenden in der Taufe zuteil geworden ist. In einer veränderten Situation reagiert der Verfasser damit auf die Irrlehre vom Einfluss himmlischer Mächte („Weltelemente“) auf das menschliche Leben (Kol 2,8) und hält ihr die gegenwärtige Realität des Heils entgegen, die auf der Vergebung und dem Auslöschen des Schuldbriefs durch Christus beruht (2,13 f.). Weil die Glaubenden in der Taufe die Wirkung der heilvollen göttlichen Auferweckungskraft bereits erfahren haben, können sie allen Mächten dieser Welt gegenüber auch ihre derzeitige Existenz schon als eschatologisch erneuerte Wirklichkeit begreifen (2,12; § 8.2.5). Daran knüpft im Kolosser- und Epheserbrief die Paränese für die Getauften an, auch ethisch in der alltäglichen Praxis einen Lebenswandel zu führen, der dieser Existenz als neue Menschen angemessen ist (§ 8.2.4; 8.2.7). Nach Eph 4,5 wird die Einheit der Kirche biographisch in der einen Taufe verwirklicht, die alle Gläubigen in den weit verstreuten Gemeinden verbindet (§ 8.2.7). Auf die Taufe beziehen sich auch die Aussagen über das Wasserbad (Eph 5,25–27; s. Anm. 111) und über die Versiegelung (s. Anm. 123) durch den heiligen Geist, die als Angeld für das heilvolle Erbe (1,13 f.) am Tag der Erlösung gilt (4,30). In den Pastoralbriefen spielt ein Paulusschüler beim „Bad der Wiedergeburt und Erneuerung durch den heiligen Geist“ in Tit 3,5 auf die Taufpraxis des Untertauchens (s. Anm. 111) an, dessen rechtfertigende, Vergebung schaffende Wirkung Paulus beim Abwaschen in 1Kor 6,11 auf den Geist zurückgeführt hatte. Im Kontext von Tit 3 wird die Taufe als eine vom Geist gewirkte, neue, zweite Geburt verstanden,139 durch die der alte Mensch (Röm 6,6) die Befreiung von der Sünde und die eschatologische Neuschöpfung (Röm 6,4; 2Kor 5,17) seiner Existenz erfährt. Der 1. Petrusbrief ist eine Getauftenparänese, die die Gläubigen angesichts der befremdlichen Anfeindungserfahrungen schon in der Eingangseulogie auf ihre Wiedergeburt (1,3 ff.) 137
Röm 6,3 ff.; Gal 3,26–29; 1Kor 12,13 u. ö.; Kol 2,12 ff.; Eph 4,5; Hebr 6,2; 1Petr
3,21 f. 138 S. Anm. 50 und M. Ryšková, „Jetzt gibt es keine Verurteilung mehr für die, welche in Christus Jesus sind“ (MSS 19), St. Ottilien 1994, 274 ff. 139 Vgl. das Motiv der Wiedergeburt in Joh 3,3–5 (§ 7.1.5.3); 1Petr 1,3.23 (§ 8.6.3a); Jak 1,18 (§ 8.8.2c).
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anspricht und später die rettende und reinigende Wirkung ihrer Taufe (3,20 f.; s. Anm. 115) aufgreift, um sie in ihrer christlichen Identität zu stärken und zu einem entsprechenden Verhalten zu ermutigen (§ 8.6.3a). Der Hebräerbrief (5,11 – 6,8) erinnert an die Grundlagen der Taufkatechese. Der Verfasser weist auf die Einmaligkeit der Erleuchtung durch den Geist (6,4 f.; vgl. 3,14) in der Taufe (6,2) hin, um vor der Unmöglichkeit einer zweiten Bekehrung, der „zweiten Buße“, zu warnen (vgl. Hebr 10,10.26; § 8.5.3c). Die Taufe befreit nicht nur vom bösen Gewissen, sondern reinigt auch den Leib und dient – analog zu den Reinigungsriten im Tempelkult – der Vorbereitung auf den Eintritt in das himmlische Heiligtum (10,19.22: „gewaschen mit reinem Wasser“; § 8.5.3c).
h) Fazit: Erstaunlich früh hat sich die Taufe als christlicher Initiationsritus durchgesetzt, der nur ein einziges Mal für das ganze Leben vollzogen wird. Durch die Taufe auf den Namen Jesu Christi werden die Gläubigen mit seinem Geschick in Tod und Auferstehung verbunden und in die Gemeinde aufgenommen. Durch den rituellen Vollzug wird einem Menschen individuell zugeeignet, was Christus mit seinem Sterben stellvertretend für alle auf sich genommen hat. Urbild ist die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer. Dementsprechend begründet die Taufe die Gotteskindschaft der Christen, gewährt die Vergebung, die Christus gebracht hat, und vermittelt den Geist Gottes. Die Taufe ist kein Selbstreinigungsritus, sondern beruht auf dem göttlichen Heilshandeln. Deshalb ist es von großer symbolischer Bedeutung, dass sie durch eine andere Person als Täufer vollzogen wird. Bei den Heidenchristen tritt die Taufe als Aufnahmeritus an die Stelle der Beschneidung im Judentum. In den neutestamentlichen Briefen werden die Adressaten als Getaufte angesprochen, ihrer Verbundenheit mit Christus vergewissert und dazu ermahnt, dem heilvollen Willen Gottes in ihrer ethischen Lebensführung zu entsprechen. 5.6.2.3
Das Herrnmahl
Ernst Käsemann, Anliegen und Eigenart paulinischer Abendmahlslehre (1948), zuletzt in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 61970 (Bd. II, 31970), 11–34; Joachim Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 41966; Hans-Josef Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult (NTA.NF 15), Münster 21982; Otfried Hofius, Herrenmahl und Herrenmahlpraxis. Erwägungen zu 1Kor 11,23b–25, in: ders., Paulusstudien (Lit. § 5), 203– 240; Bernd Kollmann, Ursprung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier (GThA 43), Göttingen 1990; Thomas Söding, Das Mahl des Herrn, in: Vorgeschmack, FS Th. Schneider hg. v. B. J. Hilberath, Mainz 1995, 134–163; Matthias Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft (TANZ 13), Tübingen u. a. 1996; Jörg Frey / Jens Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament (WUNT 181), Tübingen 2005; Jens Schröter, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart (SBS 210), Stuttgart 2006.
Die unter Protestanten übliche Bezeichnung „Abendmahl“ geht auf die Lutherübersetzung von 1Kor 11,23 zurück: „... in der Nacht, da er verraten ward ...“ Sie betont den Bezug zum letzten Mahl Jesu. Paulus redet vom „Herrnmahl“ (kyriakón deíp-
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non; 1Kor 11,20), weil Christus selber der Gastgeber ist (10,21; 11,23 ff.). Oder er spricht – im Gegensatz zum Altar heidnischer Kultmahle – vom „Tisch des Herrn“ (1Kor 10,21). Lukas nimmt das „Brotbrechen“, das für eine jüdische Mahlzeit typisch ist, aus dem Einsetzungsbericht (Mk 14,22; 1Kor 11,24) auf und gebraucht es als umfassenden Terminus für das eucharistische Mahl.140 „Eucharistie“ ist ein Ableitung von „eucharisteín“ (danken), verengte sich aber schon bald vom Tischgebet vor einer Mahlzeit (Mk 8,6; Apg 27,35) – so im Einsetzungsbericht141 – zu einer speziellen Bezeichnung für die eucharistische Mahlfeier (Did 9,1–5; vgl. 1Kor 10,16 v.l.). Im 2. Jh. wird der Begriff „Eucharistie“ zur vorherrschenden Bezeichnung. Ähnlich wie bei der Taufe (s. Anm. 100) hat die religionsgeschichtliche Schule auch das Herrnmahl aus den hellenistischen Mysterienreligionen zu erklären versucht. Doch ist nach gegenwärtigem Forschungsstand nicht anzunehmen, dass der Brauch eines gottesdienstlichen Mahls aus den Mysterienkulten übernommen wurde. Als Ausgangspunkt der Überlegungen zum Herrnmahl dient heute wieder die frühchristliche Mahlüberlieferung.142 Wir beginnen deshalb a) mit einem Vergleich der verschiedenen Einsetzungsberichte und den Beobachtungen zum äußeren Verlauf des Mahls Jesu mit den Jüngern. Dann wenden wir uns b) der symbolischen Bedeutung der Gabeworte Jesu zu und gehen c) der liturgischen Feierpraxis in der Gemeinde sowie d) der mit ihr verbundenen eschatologischen Heilserwartung nach. Am Ende verfolgen wir e) die Bedeutung des Herrnmahls in den einzelnen Schriften des Neuen Testaments weiter, bevor wir f) mit einer Zusammenfassung schließen. a) Die Entstehung: Historisch gehen die Texte von der Stiftung des Herrnmahls auf die Ereignisse der letzten Tage Jesu zurück, in denen er sich mit dem Risiko seines Leidens und mit dem Sinn seines Todes vor der Ankunft des Reiches Gottes auseinandersetzen musste. Der Einsetzungsbericht begegnet im Neuen Testament insgesamt 4-mal, wobei jeweils zwei Texte einander näher stehen: einerseits Mk 14,22–25 und Mt 26,26–29, andererseits Lk 22,15–20143 und 1Kor 11,23–25144 (zu Johannes s.u.).145 Paulus hat 140
Lk 22,19; 24,30.35; Apg 2,42.46; 20,7; vgl. 1Kor 10,16. Vgl. Kelch- (Mk 14,23 par. Mt 26,27) und Brotwort (Lk 22,19 par. 1Kor 11,24). Das synonym gebrauchte, alttestamentlich-jüdische „eulogeín“ (loben; Mk 14,22 par. Mt 26,26) weist auf die Form der Berakha als Tischeulogie hin: „Gepriesen sei ...“; vgl. P. Billerbeck, Kommentar I (Lit. § 12e), 685–687; U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 33–39. 142 J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 601–606; zur Forschungsgeschichte vgl. H.-J. Klauck, Herrenmahl, 8 ff. 143 Die lukanische Textüberlieferung wurde stark bearbeitet, doch ist textkritisch die Langfassung ursprünglich. 144 Vgl. zu 1Kor 11,23b–25 O. Hofius, Herrenmahl, 203–240; Ch. Wolff, ThHK 7, 265– 273; J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 599–623. 145 Vgl. die tabellarischen Übersichten bei G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 359– 141
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die Einsetzungsworte „vom Herrn empfangen“ (1Kor 11,23), d. h. aus einer in der Gemeinde mündlich tradierten Jesusüberlieferung übernommen.146 Da Lukas die markinische Vorlage mit Aussagen der paulinischen Fassung kombiniert, repräsentieren Markus und Paulus jeweils die ältere Überlieferungsstufe. Mk
Mt
1Kor 11,23–25
Lk
Abb.9: Die neutestamentliche Herrnmahlsüberlieferung
Die weitergehende Frage, ob die markinische147 oder die paulinische Fassung148 bzw. welche Einzelwendungen149 dem ursprünglichen Wortlaut der Spendeworte Jesu am nächsten kommen, wird in der Literatur breit diskutiert, lässt sich auf der vorhandenen Textgrundlage aber kaum entscheiden und muss offen bleiben.150 Eine Synopse der Einsetzungsworte (s. S. 155) zeigt, dass Brot- und Kelchwort bei den Aussagen über den Leib, das Blut und den Bund durchgehende Gemeinsam keiten (unterstrichen) aufweisen, die Erklärungen zur stellvertretenden Bedeutung des Todes Jesu „für viele“ bzw. „für euch“ (kursiv) aber unterschiedlich formuliert und zugeordnet sind. Außerdem wird der Sinn des Kelchworts bei Matthäus durch den Zusatz „zur Vergebung des Sünden“ erläutert (fett). Lukas und Paulus erwähnen einen Wiederholungsbefehl, den Paulus nach dem Kelchwort in einer erweiterten Form ein zweites Mal anführt (fett). Lukas und Paulus sprechen vom „neuen“ Bund (fett). Eine Tendenz zur Angleichung von Brot- und Kelchwort zeigt sich in der parallelen Formulierung bei Markus und Matthäus („Dies ist ...“) sowie in der Gedächtnisaufforderung bei Paulus.
386, die biblischen Bezüge bei P. Stuhlmacher, Theologie 1 (Lit. § 1), 130–142, die detaillierte forschungsgeschichtliche Textanalyse bei Th. Söding, Mahl, 134–163, sowie die theologische Zusammenschau von F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 533–564. 146 Indem Paulus die Situationsangabe in der Nacht des Verrats mit dem Kyriostitel (§ 5.6.1.3) verknüpft, macht er deutlich, dass der Gekreuzigte mit dem auferstandenen Herrn identisch und in der Mahlfeier der Gemeinde als der himmlische und wiederkommende Gastgeber präsent ist (§ 5.6.2.5). 147 P. Stuhlmacher, Th. Söding. 148 Ch. Wolff, G. Theißen / A. Merz. 149 H.-J. Klauck. 150 O. Hofius, J. Schröter.
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln) Mt 26,26.27 f. Nehmt, esst, dies ist mein Leib.
Mk 14,22.24 Nehmt, dies ist mein Leib.
Trinkt alle aus ihm, denn dies ist Dies ist mein Blut des Bundes, mein Blut des Bundes, das für viele vergossen das für viele vergoswird sen wird. zur Vergebung der Sünden.
Lk 22,19.20
1Kor 11,24.25
Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Dies tut zu meinem Gedächtnis.
Dies ist mein Leib für euch.
Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.
Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut.
155
Dies tut zu meinem Gedächtnis.
Dies tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis. unterstrichen Gemeinsamkeiten fett Besonderheiten
kursiv Stellvertretungsaussagen
Nicht übersehen werden darf die unterschiedliche Funktion der Einsetzungsberichte. Bei den Synoptikern ist das letzte Mahl Jesu mit den Jüngern ein Teil der Passionserzählung. Paulus hingegen zitiert ein liturgisches Formular aus dem Gemeindegottesdienst, das die Einsetzung der eucharistischen Mahlfeier für die christliche Gemeinde in Erinnerung ruft. Damit geht es bei diesen Mahltexten nicht nur um das letzte Mahl Jesu, sondern auch um die erste Abendmahlsfeier der Gemeinde. Die Erzählung vom Abschiedsmahl Jesu hat also zugleich die Funktion einer Kultätiologie, welche die Mahlfeier der Gemeinde von der ursprünglichen Intention ihres Stifters her erklären, begründen und normieren soll151 – und zugleich deren Praxis widerspiegelt.152 151
Vgl. die praktisch-theologischen Folgerungen von O. Hofius, „Für euch gegeben zur Vergebung der Sünden“. Vom Sinn des Heiligen Abendmahls, in: ders., Neutestamentliche Studien (s. Anm. 134), 276–300. 152 Auch wenn Markus vom letzten Mahl Jesu als einem einmaligen Geschehen erzählt, dürfte seine Erzählung – zumindest unausgesprochen – schon eine implizite ätiologische Bedeutung haben, die die Mahlfeier der christlichen Gemeinde legitimieren soll. Deshalb werden die Aufforderung: „Nehmt!“ und der Vollzug „sie tranken alle daraus“ aus Mk 14,22 f. von Matthäus (26,26 f.) redaktionell noch stärker auf die hörende Gemeinde zugespitzt, die für ihr Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit seliggepriesen wird (5,6) und in der eucharistischen Mahlfeier durch die Vergebung der Sünden Sättigung erfährt (26,28): „Nehmt, esst ... trinkt alle daraus!“ In der paulinischen Herrnmahlsüberlieferung deuten die direkte Anrede („für euch“) und der Wiederholungsbefehl („das tut ...“) als Spuren des liturgischen Gebrauchs
156
5 Die paulinischen Briefe
Verschieden wird die zeitliche Abfolge der einzelnen Teile dieser Mahlfeier geschildert:153 Nach Mk 14,22 par. Mt 26,26 geschah die Brot- und Kelchhandlung nach der Mahlzeit („als sie gegessen hatten“), und Jesus beendete die Feier mit dem eschatologischen Ausblick auf das neuerliche Weintrinken im Reich Gottes (Mk 14,25 par. Mt 26,29). Damit bildeten Brot- und Kelchwort bei Markus und Matthäus den Abschluss der Sättigungsmahlzeit. Nach Paulus und Lukas hingegen wurde bereits vor der Sättigungsmahlzeit das Brotwort gesprochen und das Kelchwort folgte erst „nach dem Essen“ (Lk 22,20 par. 1Kor 11,25), sodass das Hauptmahl – wie jede jüdische Mahlzeit – von Tischgebet und Lobpreisbecher eingerahmt war. Die Trennung von gemeinschaftlichem Sättigungsmahl (später „Agape“ genannt) und sakramentaler Feier (später als „Eucharistie“ bezeichnet) ist erst in größeren Gemeinden um 150 n. Chr. belegt (Justin apol. I,65.67),154 könnte aber schon bei Markus und Matthäus angedeutet sein (was für die paulinische Version als die ursprünglichere Fassung spräche).155 Mk / Mt
Lk / Pls
Mahlzeit Brotwort Kelchwort
Brotwort Mahlzeit Kelchwort
Umstritten ist die Frage, ob das letzte Mahl mit den Jüngern ein Passamahl war, wie Joachim Jeremias annahm.156 Für seine Vermutung spricht der Erzählkontext mit den Vorbereitungen zum Passafest (Mk 14,12–17 parr.) und vor allem die lukanische Schilderung der Mahlszene (Lk 22,15). Trifft diese Annahme zu, so hätte Jesus zunächst das herkömmliche Passaritual mit der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten vollzogen (vgl. Ex 12,1–28; 13,3–10), dann aber beim Tischgebet vor dem Sättigungsmahl das Brot und danach beim dritten Becher –
auf ein späteres Entwicklungsstadium hin, doch könnte das Fehlen solcher Hinweise bei Markus auch gattungsbedingt durch den erzählenden Charakter der Passionsgeschichte erklärt werden. Welche dieser beiden Möglichkeiten dem ursprünglichen Wortlaut bei Jesus näher kommt, ist kaum noch rekonstruierbar. 153 Vgl. O. Hofius, Herrenmahl, 207–223, der „prolambánein“ in 1Kor 11,21 nicht als Vorwegnahme der Mahlzeit versteht, sondern ohne Betonung des zeitlichen Aspekts übersetzt (218): „Ein jeder nimmt beim Essen seine eigene Mahlzeit ein.“ Damit widerspricht er dem gängigen Verständnis, dass die reicheren Gemeindeglieder mit dem sättigenden Teil der Mahlzeit früher begannen und betrunken waren, wenn die Ärmeren später von der Arbeit kamen. 154 Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen I. Alte Kirche, hg. v. A. M. Ritter, Neukirchen-Vluyn 72002, 37–39. 155 Jesus nahm nach der lukanischen Darstellung an der Passamahlfeier nicht teil, verwies aber auf das künftige Essen und Trinken vom Weinstock im Reich Gottes mit der Erwähnung eines weiteren Kelchs (Lk 22,15–18). 156 Vgl. J. Jeremias, Abendmahlsworte, 35 ff., sowie das Plädoyer für ein Passamahl von P. Stuhlmacher, Theologie 1 (Lit. § 1), 54–57.130–135.141 f.207–210, und M. Hengel, Das Mahl in der Nacht, „in der Jesus ausgeliefert wurde“ (1 Kor 11,23), in: ders., Christologie (Lit. § 5.6.1), 451–495, bes. 462 f.472–492, mit den Einwänden bei G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 365.367 f.373–376.
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
157
dem sog. „Segens-“ oder treffender „Lobpreisbecher“ (vgl. 1Kor 10,16)157 – den Kelch mit einer neuen Deutung versehen. Gegen diese Interpretation wird eingewandt, dass die Einsetzungsworte selber explizit keinerlei Bezug zum Passamahl herstellen (außer vielleicht der Gedächtnisaufforderung; s. Anm. 179). Doch darf dieses Schweigen als argumentum e silentio nicht überstrapaziert werden. Denn auch wenn es ein Passamahl war, musste die Deutung Jesu keineswegs zwingend beim Passaritual anknüpfen. Zudem waren die Erzähler – statt an der Überlieferung des heute aufschlussreichen, damals aber selbstverständlichen Festrahmens – primär an der tiefgreifenden Neuinterpretation von Brot und Wein durch Jesus und am Modellcharakter für die urchristliche Eucharistiefeier interessiert. Als weiteres Gegenargument wird die Datierung des Todestags Jesu angeführt: Nach der übereinstimmenden Darstellung aller vier Evangelien muss die Hinrichtung Jesu am Rüsttag für den Sabbat,158 d. h. an einem Freitag, stattgefunden haben. Nun ergibt sich das Problem, dass nach den Angaben der Synoptiker die Kreuzigung nach dem nächtlichen Passamahl am ersten Tag des Passafestes (15. Nisan) erfolgte, nach der johanneischen Chronologie dagegen schon einen Tag früher (14. Nisan) am „Rüsstag für das Passafest“ (Joh 19,14 ff.42) zu einem Zeitpunkt, als die Passalämmer erst nachmittags geschlachtet wurden (vgl. 1Kor 5,7).159 Diese johanneische Datierung auf den 14. Nisan (7. April 30) wird von vielen Forschern für historisch eher zutreffend gehalten (§ 7.1.4), weil an Feiertagen wie dem Passafest keine Prozesse durchgeführt wurden. Da Jesus nach Johannes am Passaabend bereits verstorben ist, weist das Abschiedsmahl Jesu mit der Fußwaschung in Joh 13 keinen Bezug zum Passafest auf. Der historische Wert der johanneischen Datierung auf den Rüsttag wird jedoch auch angezweifelt wegen der theologischen Tendenz des vierten Evangelisten, nach der Jesus als das wahre Passalamm starb, um das Heil zu bringen (Joh 1,29.36; 18,28; 19,36).160 Mit der Datierung des Todes Jesu bleibt daher auch weiterhin die Frage umstritten, ob es sich bei der Einsetzung des Herrnmahls durch Jesus ursprünglich um ein Passamahl oder um eine gewöhnliche Mahlzeit handelte.
b) Die Gabeworte: Jesu Abschiedsmahl ist nach den erhaltenen Texten eine Symboloder Zeichenhandlung, in der Jesus Brot und Wein zeichenhaft mit einer neuen Interpretation versah. Der Symbolbegriff besagt in diesem Fall, dass das Essen und Trinken der angebotenen Gaben das Gute repräsentiert, das den Menschen durch den bevorstehenden Tod Jesu zuteil wird. Zur Deutung werden drei Motive verwendet, die – bei allen Unterschieden in der Formulierung – in der Sache im Wesentlichen
157
Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 35 f. Mk 15,42; Mt 27,62; Lk 23,54; Joh 19,31.42. 159 Vgl. R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 31–52, bes. 43 ff.; G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 152–154. 160 Zur Bedeutung des Pesachfestes vgl. Ch. Schlund, „Kein Knochen soll gebrochen werden“ (WMANT 107), Neukirchen-Vluyn 2005, oder zusammenfassend dies., Deutungen des Todes Jesu im Rahmen der Pesach-Tradition, in: J. Frey / J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu, 397–411. 158
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5 Die paulinischen Briefe
übereinstimmen: erstens die freiwillige Selbsthingabe, zweitens die Stellver tretung bzw. Sühne und drittens der Bundesschluss.161 Der Gedanke der Selbsthingabe ist bereits im Brot- und Kelchwort impliziert. Die kürzeste (deshalb auch ursprüngliche?) Fassung des Brotworts finden wir bei Markus (14,22): „Dies ist mein Leib.“ Nach dieser Aussage identifizierte Jesus sich mit dem gebrochenen Brot. Der Leib meint hier nicht nur den Körper, sondern die gesamte leibliche Existenz, die den Tod Jesu einschließt (vgl. Röm 7,4). Dadurch erhielt das rituelle Zerbrechen des Brots (éklasen), wie es bei jüdischen Mahlzeiten üblich war, eine tiefere symbolische Bedeutung, die auf das Gewaltsame seiner Hinrichtung hinweist. Das zerbrochene Brot wird zum Zeichen des drohenden Todes. Dass dieser Tod anderen Menschen zugute kommt, kann bei Markus als Ausdruck der Proexistenz162 und Selbsthingabe Jesu aufgefasst werden. Denn indem Jesus das Brot austeilte, gab er (édōken) – durch das Gabewort „nehmt“ (lábete) verstärkt – Anteil an dem Heil, das durch die rettende Hingabe seines Lebens („Leib“) am Kreuz herbeigeführt wird (vgl. Mk 10,45).163 Das Kelchwort heißt bei Markus und Matthäus: „Dies ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird.“ Damit setzen Markus (und Matthäus) beim Brot- und Kelchwort (wie später Justin apol. I,66,3)164 streng parallel ein (was auf eine sekundäre Angleichung hindeuten könnte): „Dies ist mein Leib / Dies ist mein Blut ...“ Paulus und Lukas hingegen formulieren beide Sätze asymmetrisch (was beim Kelchwort dann gegebenenfalls die ursprünglichere Fassung wäre): „Dieser Kelch ist der neue Bund, (der) durch mein Blut (geschlossen wurde).“ Der Kelch (potḗrion) steht metonymisch für den im Gefäß befindlichen Wein und wird – in der Sache ebenso wie bei Markus und Matthäus – durch eine kühne Neuinterpretation auf das Blut Jesu bezogen. Daraus ergeben sich zwei Aspekte: Zum einen gilt das Blut als Träger des Lebens (Lev 17,11). Nur in der von Markus abhängigen synoptischen Überlieferung wird gesagt, dass dieses Blut „vergossen“ wird (ekchynnómenon; bei Paulus fehlt eine entsprechende Angabe). Das Blutvergießen spielt auf die gewaltsame Tötung Jesu an, schließt den Gedanken der freiwilligen Selbsthingabe ein und wird bei den Synoptikern in seiner soteriologischen Bedeutung durch eine Stellvertretungsaussage („für viele / euch“) expliziert. 161 Stellvertretung und Bundesstiftung sind bei Markus (und Matthäus) mit der Kelchhandlung verbunden, bei Paulus (und Lukas) zwischen Brot- und Kelchwort aufgeteilt. 162 Der Begriff wurde geprägt von H. Schürmann, „Pro-Existenz“ als christologischer Grundbegriff, in: ders., Jesus – Gestalt und Geheimnis, Paderborn 1994, 286–315. 163 Auf diese soteriologische Bedeutung greift Paulus zurück, wenn er das Herrnmahl in 1Kor 10,16 als Teilhabe am Leib und Blut Christi interpretiert, d. h. als Partizipation an der heilvollen Gemeinschaft (koinōnía) mit Gott, die durch den Tod Jesu gestiftet ist und durch die Teilnahme am Mahl empfangen wird (metéchomen = wir haben teil). 164 Zitiert bei K. Aland, Synopsis, zu Mk 14,22–25.
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
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Zum anderen wird der Kelch durch die Ankündigung Jesu, er werde vom Wein erst wieder bei der erneuerten Mahlgemeinschaft in der vollendeten Gottesherrschaft trinken (Mk 14,25), im eschatologischen Sinn zu einem Becher der Verheißung, zum „Kelch des Heils“ (Ps 116,13). Aus ihm zu trinken, nimmt das endzeitliche Festmahl symbolisch vorweg, wie es Jesus in seiner ganzen Verkündigung vom Reich Gottes dargelegt hat (s.u. Anm. 181). In allen vier Fassungen der Gabeworte begegnen Stellvertretungsaussagen, die jedoch unterschiedlich formuliert und eingebunden sind. Das Brotwort wird allein bei Paulus (und Lukas) noch verdeutlicht durch den Zusatz „für euch (gegeben)“ (hypér hymṓn).165 Beim Kelchwort überliefern alle drei Synoptiker eine Stellvertretungsaussage, nur Paulus nicht, der sie schon beim Brotwort platziert hatte (s. Anm. 165 ff.). Die Stellvertretungsformel „für viele“ (hypér pollṓn) erinnert bei Markus (14,24) an das Lösegeldwort in Mk 10,45, nach dem der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als „Lösegeld für viele“ (lýtron antí pollṓn; vgl. 1Tim 2,6).166 „Viele“ meint im hebräischen Sprachgebrauch eine unzählbar große Menge, sodass die Wirkung dieses Todes eigentlich „allen“ Menschen zugute kommen soll. In Joh 6,51 wird die Stellvertretungsaussage durch den eucharistischen Bezug der Brotrede universal interpretiert: „für das Leben der Welt“ (§ 7.1.5.1a). Durch die Stellvertretungsaussagen wird nur explizit benannt, was im Brot- und Kelchwort der Sache nach schon ausgedrückt war: Jesu Selbstidentifizierung mit dem gebrochenen Brot und dem vergossenen Blut wird weiter ausgeführt durch das Motiv der stellvertretenden Sühne.167 Diese Vorstellung ist für viele Zeitgenossen heute nur schwer nachvollziehbar und darum auch in der exegetischen Diskussion
165
Diese Ergänzung könnte möglicherweise durch eine sekundär parallelisierende Angleichung an das nachfolgende Kelchwort entstanden sein, bei der das Verb aus Jes 53,6.10.12 übernommen wurde. 166 Vgl. parallel auch Mt 26,28 (perí pollṓn) mit 20,28 (antí pollṓn); bei Lukas (§ 6.4.5.3d) ist die Stellvertretungsformel in eine direkte Anrede umgesetzt: „für euch“ (vgl. ebenso die paulinisch-lukanische Fassung des Brotworts). 167 Zu den biblischen Sühneaussagen vgl. P. Stuhlmacher, Theologie 1 (Lit. § 1), 137–141; O. Hofius, Art. Sühne IV, TRE 32, 342–347; F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 381–398, und jetzt umfassend den Sammelband von J. Frey / J. Schröter (s. Anm. 160), die mit ihren beiden gerade in ihrer Unterschiedlichkeit aufschlussreichen Einführungen den gegenwärtigen Diskussionsstand wiedergeben; vgl. weiter B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen (WMANT 55), Neukirchen-Vluyn 1982, 22000; ders., Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff (SBS 165), Stuttgart 1997; Th. Knöppler, Sühne im Neuen Testament (WMANT 88), Neukirchen-Vluyn 2001, fer ner G. Röhser, Stellvertretung im Neuen Testament (SBS 195), Stuttgart 2002, und zur Begriffsgeschichte S. Schaede, Stellvertretung (BHTh 126), Tübingen 2004; ders., Art. Stellvertretung IV–V, RGG4 5, 1710–1713.
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5 Die paulinischen Briefe
strittig. Umso sorgfältiger sollte beim Abendmahl differenziert werden zwischen einerseits der historischen Frage nach dem ursprünglichen Verständnis der neutestamentlichen Texte und andererseits der systematisch zu reflektierenden Problematik gegenwärtiger Vermittlungsmöglichkeiten. Deshalb schieben wir einen Exkurs zur Stellvertretung und Sühne ein, um dann wieder zur Heilsbedeutung der Gabeworte zurückzukehren.
Exkurs 2: Stellvertretung, Sühne, Versöhnung Die Wortfamilie „Sühne“ (hilasmós) kommt im Neuen Testament zwar nur selten vor (bei Paulus bloß Röm 3,25),168 doch kann die sühnende Wirkung des Todes Jesu auch durch einen Ausdruck der Stellvertretung umschrieben werden. Der Terminus „Stellvertretung“ ist ein erst in der Neuzeit (18. Jh.) gebildetes Abstraktum, für das es kein direktes biblisches Äquivalent gibt. Auch begegnet uns für den Stellvertretungsgedanken im Neuen Testament keine einheitliche Ausdrucksweise, sondern nur eine Reihe von unterschiedlich formulierten präpositionalen Wendungen.169 Die Sühne hat ihr Zentrum im Opferkult. Den Höhepunkt bildete in der alttestamentlich geprägten Tradition der große Versöhnungstag im Heiligtum (Lev 16).170 An diesem Tag betrat der Hohepriester einmal im Jahr das Allerheiligste und besprengte mit dem Blut der Opfertiere den Gnadenthron, um Sühne zu schaffen für die Sünden der Israeliten. Dieses Sühnegeschehen hatte stets stellvertretenden Charakter. Daneben findet sich der Gedanke einer stellvertretenden Lebenshingabe auch im vierten Gottesknechtslied (Jes 53; s. Anm. 87), hier allerdings außerhalb des Sühnopferkults. Darüber hinaus begegnet eine Stellvertretungsaussage nur im hellenistischen Judentum im Zusammenhang mit dem Märtyrertod (2Makk 7,37 f.; 4Makk 6,29; 17,21 f.). Dieser differenzierte Befund zur Stellvertretung und zur Sühne spricht zunächst gegen eine durchgehende Identifizierung beider Vorstellungen, so häufig diese Motive auch zusammen auftreten bzw. ineinander übergehen. Sühne hat immer einen stellvertretenden Charakter. Aber nicht jede Stellvertretungsaussage entstammt der kultischen Sühneopfertradition. Daher sollte in der exegetischen Diskussion präziser 168 Vgl. hiláskesthai = sühnen Lk 18,13 (§ 6.4.5.3d); Hebr 2,17 (§ 8.5.3), hilasmós = Sühne 1Joh 2,2; 4,10 (§ 7.1.5.1a); hilastḗrion = Deckplatte der Bundeslade Röm 3,25 (§ 5.16.1); Hebr 9,5. 169 Vgl. die unterschiedlichen präpositionalen Formulierungen mit hypér (vgl. die Abendmahlsüberlieferung Mk 14,24; Lk 22,19.20; 1Kor 1,13; 11,24; Joh 6,51, die Pistis-Formel 1Kor 15,3 [§ 5.6.2.1] sowie Röm 5,6.8; 8,32; 14,15; 2Kor 5,14 f.21 [§ 5.13.3.1c]; Gal 1,4; 2,20; 3,13; 1Thess 5,10 und weiter Eph 5,2.25; 1Tim 2,6; Tit 2,14; Hebr 2,9; 6,20; 1Petr 2,21; Joh 10,11.15; 15,13; 17,19; 1Joh 3,16 [§ 7.1.5.1a]), perí (Mt 26,28; Röm 8,3; 1Petr 3,18; Hebr 5,3), antí (Mk 10,45; Mt 20,28), diá (Röm 4,25; 1Kor 8,11; vgl. Jes 53,5.12). 170 Der Yom Kippur müsste im Wortsinn eigentlich „Sühnetag“ heißen.
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
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unterschieden werden erstens zwischen den wechselnden quellensprachlichen Ausdrücken für Sühne und für Stellvertretung, zweitens zwischen der traditionsgeschichtlichen Frage ihrer Herleitung aus dem Judentum oder aus der hellenistischen Umwelt und drittens zwischen der metasprachlichen Rede von der Sühnetheologie oder dem Stellvertretungsgedanken als einer hermeneutisch systematisierenden Leitkategorie. In der Abendmahlsüberlieferung greifen die Stellvertretungsaussagen die hypérFormel auf, die als Abkürzung der Wendung „für (wegen) unsere Sünden“ einer alten Bekenntnistradition entstammt (1Kor 15,3 [§ 5.6.2.1]; vgl. Gal 1,4; Röm 4,25). „Nach den Schriften“ muss sie auf Jes 53,5 f.8 f.12 zurückgehen. Von Paulus wird sie vielfach zur Umschreibung der Heilsbedeutung des Todes Jesu verwendet: „für uns“, d. h. an unserer Stelle, uns zugute, zu unseren Gunsten (s. Anm. 169). Den Hintergrund bildet der alttestamentlich-jüdische Gedanke einer sühnenden, d. h. Vergebung schaffenden Wirkung des Leidens, das im vier ten Gottesknechtslied – hier freilich außerhalb des Opferkults – durch die stellvertretende Lebenshingabe des Gottesknechts anderen zugute kommt (Jes 53,10–12; s. Anm. 87).171 So kommt auch der Tod Jesu anderen zugute, indem er sie aus der Sünde errettet. Diesen Befund müssen wir respektieren, auch wenn der Gedanke der sühnenden Stellvertretung für heutige Menschen teilweise schwer nachzuvollziehen ist.172 Um den Gedanken stellvertretender Sühne besser verstehen zu können, müssen wir ihn in den Zusammenhang der paulinischen Theologie einordnen. Für Paulus ist die Sünde eine destruktive Macht, die dem Menschen zum Verhängnis wurde und ihn unentrinnbar dem Tod ausliefert (1Kor 15,21 f.56; vgl. Röm 5,12 ff.). Sie besteht in der Feindschaft gegen Gott, d. h. in der Rebellion, die sich dem Gesetz Gottes widersetzt und allen voran gegen das erste Gebot verstößt. Durch die Sünde steht der Mensch im Widerspruch zu seiner Daseinsbestimmung, für Gott und den Nächsten zu leben. Deshalb scheitert er gerade in seinen gut gemeinten Bestrebungen durch die Herrschaft der Sünde (vgl. Röm 7,7 ff.), die sich an der von Gott gesetzten Gerechtigkeitsordnung vergeht, die im Gesetz umrissen ist. Die Sünde zerstört so in verhängnisvoller Weise die Gottesbeziehung des Menschen, trennt ihn von Gott als Quelle seines Lebens, macht ihn gottlos und führt am Ende unumgänglich in den (sc. ewigen) Tod (vgl. Röm 8,6–8 mit 5,6–10; § 5.16.5). Aus dieser fatalen Sünden- und Todesverfallenheit hat Gott den Menschen durch seine Heilstat in Christus befreit. Stets ist im Sühnegeschehen Gott das handelnde
171
Vgl. B. Janowski / P. Stuhlmacher (Hg.), Der leidende Gottesknecht. Jesaja 53 und seine Wirkungsgeschichte (FAT 14), Tübingen 1996. 172 Den Diskussionsstand fasst F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 386, so zusammen: „Auch wenn die Sterbefor meln auf griechische Formulierungstradition hinweisen, steht im Hintergrund die hebräische Denkweise, für die stellvertretendes Handeln und Sühne eine hohe Bedeutung haben. Wo immer es um Vergebung der Sünde und um Auf hebung der Trennung von Gott geht, liegt deshalb der Sühnegedanke bzw. der Gedanke stellvertretender Sühne vor.“
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5 Die paulinischen Briefe
Subjekt, nicht Adressat oder Objekt. Gott (!) hat durch die Sendung und den Tod Jesu den Menschen der Macht der Sünde entrissen, die widergöttliche Opposition des Menschen überwunden, Frieden gestiftet und das Leben erneuert (Röm 8,3–8). Die Heilsbedeutung des Todes Jesu kann Paulus in Röm 5,8–11 noch durch eine weitere Kategorie interpretieren: die Versöhnung (katallagé). Diese Wortfamilie wird sonst im zwischenmenschlichen Bereich gebraucht, bei Paulus für die Aussöhnung zwischen Eheleuten (1Kor 7,11), im paganen Griechisch für die diplomatischen Beziehungen zwischen (Stadt-)Staaten. Auch wenn „Sühne“ (hilasmós) und „Versöhnung“ (katallagé) auf unterschiedlichen Vorstellungen beruhen und im biblischen Sprachgebrauch – anders als im Deutschen – keine verwandten Wortfamilien sind,173 ergänzen sich beide Deutungen darin, dass sie stets die stellvertretend heilschaffende Wirkung des Todes Jesu beschreiben. Dabei wird die göttliche Heilstat in Christus durch die Sühneterminologie in Röm 3,25 in kultischen Kategorien gedeutet (s. Anm. 170.177 f.), beim Versöhnungsgedanken in 2Kor 5,18–20; Röm 5,10 f. hingegen durch die soziale Vorstellung von der Aussöhnung zwischen Feinden ausgedrückt.174 Auch der Versöhnungsgedanke ist mit Stellvertretungsaussagen verbunden (Röm 5,6.8; 2Kor 5,14 f.21). Durchgehend ist es Gott, der aus Liebe Sühne und Versöhnung gnädig gewährt, die Feindschaft zwischen Gott und Mensch überwindet und die Aufhebung der Schuld bewirkt. In einem umfassenden Schöpfungsakt macht Gott den Menschen „in Christus“ zu einer „neuen Kreatur“ (2Kor 5,17). Die Sünde wird ihm nicht mehr angerechnet, er wird durch den Glauben gerecht gemacht, bekommt Anteil an Gottes Gerechtigkeit und wird aus dem göttlichen Zorngericht errettet.175 Für das Verständnis der Sühne ist entscheidend, dass diese nicht wie bei Anselm von Canterbury (1033–1109) eine menschliche Gabe von satisfaktorischer Bedeutung ist im Sinn einer Genugtuung, als ob Jesus durch seinen Tod stellvertretend eine menschliche Ersatzleistung zur Wiedergutmachung für die Schuld erbracht hätte.176 Im biblischen Sinn stellt die Sühne eine einzigartige, souveräne und bedingungslose Stiftung Gottes dar. Sie ist ein einseitiges göttliches Gnadenhandeln, das durch den Tod Jesu die Sünde aufgehoben und in Christus für die Menschen eine neue Gemeinschaft mit Gott begründet hat. Dieses göttliche Geschenk können Menschen nur empfangen und im Glauben annehmen, indem sie sich versöhnen lassen (2Kor 5,20). Soweit Paulus.
*** 173
Dies betont zu Recht C. Breytenbach, Versöhnung (Lit. § 5.13); ders., Art. Sühne; Art. Versöhnung, ThBLNT2 2, 1685–1691.1777–1780 (Lit.). 174 Vgl. noch Röm 8,7, aber auch Kol 1,20–22. 175 2Kor 5,14–21; Röm 5,1.8–11 (§ 8.5.2i; 5.13.3.1c; 5.16.5a). 176 Unüberholt bleibt aus Anselms Schrift „Cur deus homo?“ freilich die Mahnung zu bedenken, welches Gewicht die Sünde hat: nondum considerasti, quanti ponderis sit peccatum (I,21).
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
163
Kehren wir nach dem Exkurs zum Herrnmahl zurück, so bekommen die Glaubenden in dessen Feier die Errungenschaften des stellvertretenden Todes Jesu bzw. der göttlichen Sühnetat in Christus wirksam zugeeignet. Hier erfahren sie die neu gewonnene Gemeinschaft mit Gott bzw. dem Herrn. Deshalb ist die sonst in der 1. Person formulierte Wendung „für uns“ – dem liturgischen Sitz im Leben entsprechend – in der paulinisch(-lukanischen) Version zu einer Anrede in der 2. Person umformuliert: „für euch (gegeben bzw. vergossen)“. Bei diesem Wechsel zur direkten Anrede handelt es sich also um eine Anpassung für den Gebrauch im Gottesdienst. Matthäus ergänzt beim Kelchwort sachgemäß die Wendung „zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28), die an sich nur die heilschaffende Bedeutung des Blutvergießens „für viele“ expliziert, aber auch in anderen Zusammenhängen ein besonderes Anliegen des Evangelisten erkennen lässt (s.u.). Von zentraler Bedeutung ist beim Herrnmahl die Vorstellung vom Bund,177 die an zwei unterschiedliche Traditionen anknüpft: Zum einen erinnert das Spendewort bei Markus und Matthäus an „das Blut des Bundes“ in Ex 24,8, das den Tod Jesu typologisch mit dem Opferblut in Beziehung setzt, das beim Bundesschluss am Sinai versprengt wurde (vgl. Hebr 9,20; § 8.5.3b). Zum andern verweisen Lukas und Paulus durch das Attribut „neu“ auf den neuen Bund, den nach Jer 31,31–34 JHWH Israel und Juda – ohne kultische Verankerung – zur vollkommenen eschatologischen Erneuerung der Gottesgemeinschaft und Vergebung der Schuld versprochen hat (vgl. 2Kor 3,6; Hebr 8,8–13; 9,15). Welche dieser beiden Versionen ursprünglich sein mag, lässt sich aufgrund des vorliegenden Textbefunds kaum entscheiden. Aber in beiden Fassungen handelt es sich bei diesem Bund um eine von Gott gesetzte Heilsordnung, die Vergebung der Sünden gewähren und die heilvolle Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott eröffnen soll. Zudem wird der Bund in allen Überlieferungen durch das Blut Jesu geschlossen, d. h. durch seine Lebenshingabe am Kreuz. Dabei kann das Blut neben dem Versprengen beim Bundesschluss (Ex 24,8) auch an die Sühne am großen Versöhnungstag erinnern (Lev 17,11). Doch bleibt zu beachten, dass die Opferterminologie im Blick auf den Tod Jesu stets metaphorisch gebraucht ist, da dieser auf Golgatha außerhalb des Opferkults starb. Jesus wurde nicht im wörtlichen Sinne auf einem Altar geopfert, sondern nur sein Tod mit Hilfe kultischer Vorstellungen als Opfer interpretiert. Hier liegt der Ausgangspunkt für die Loslösung der Christen vom Opferkult im Jerusalemer Tempel (§ 7.1.5.1a). Aufs Ganze gesehen hat Gott nach den Gabeworten der Abendmahlsüberlieferung durch den Tod Jesu nicht nur Sühne für vergangene Sünden gestiftet (s. Anm. 167 ff.), 177
Vgl. H. Lichtenberger, „Bund“ in der Abendmahlsüberlieferung, in: F. Avemarie / H. Lichtenberger (Hg.), Bund und Tora (WUNT 92), Tübingen 1996, 217–228.
164
5 Die paulinischen Briefe
sondern zugleich nach vorne blickend einen Bund von eschatologischer Bedeutung konstituiert. Zur Gemeinschaft mit Gott, die durch die Sünde zerbrochen war, ist durch den im Tod Jesu besiegelten Bund ein neuer zukunftsträchtiger Zugang eröffnet, der zum ewigen Leben führt. c) Die liturgische Praxis: Spuren gottesdienstlicher Verwendung verrät neben der korinthischen Herrnmahlsparadosis (s. Anm. 151 f.) auch der lukanische Einsetzungsbericht mit dem Wiederholungsbefehl beim Brotwort: „Dies tut zu meinem Gedächtnis“ (von Paulus nach dem Kelchwort wiederholt und ergänzt durch die Wendung „sooft ihr [davon] trinkt“; 1Kor 11,25).178 Diese explizite Anweisung begründet die Mahlfeier der christlichen Gemeinde durch das Vorbild Jesu: Was beim letzten Mahl Jesu geschah, soll sich bei jeder Abendmahlsfeier wiederholen. Durch diese Aufforderung wird die Mahlfeier für die nachösterliche Gemeinde institutionalisiert. Der Gedächtnisbefehl appelliert nicht an das intellektuelle Erinnerungsvermögen bezüglich eines Ereignisses in der Vergangenheit und hat auch nichts mit hellenistischen Totengedächtnismahlen179 zu tun. Vielmehr meint die Erinnerung hier im Sinn der hebräischen Wurzel „zkr“ das vergegenwärtigende Gedenken an JHWHs Heilshandeln (Ps 77,12; 105,5), wie es auch bei der Passafeier der Fall ist (Ex 12,14; 13,3.9). Im eucharistischen Mahl wird die Gedächtnisaufforderung durch die Verkündigung verwirklicht, die den Tod des Herrn in Erinnerung ruft und dessen Heilsbedeutung präsent werden lässt (1Kor 11,26). Diese Vergegenwärtigung geschieht nicht durch das Vorlesen der Einsetzungsworte oder die Predigt (wie im evangelischen Gottesdienst), sondern analog zu den Psalmen im hymnischen Lobpreis Gottes und seines Heilshandelns durch die Eucharistiegebete, die über Brot und Kelch gesprochen werden.180 Indem die Gemeinde vom Brot isst und aus dem Kelch trinkt, erhält sie Anteil an dem Heil, das durch den Tod Jesu erschlossen wurde. Brot und Wein sind keine „gewöhnliche“ Nahrung (Justin apol. I,66,2; s. Anm. 154), sondern „geistliche Speise“ und „geistlicher Trank“ (1Kor 10,3 f.), d. h. Gaben von geistgewirkter, überirdischer, himmlischer Herkunft und Art. Ihre geistliche, heilmachende Qualität erhalten sie durch das Tischgebet vor und nach der sakramentalen Mahlzeit (vgl. 1Kor 10,16). d) Die eschatologische Perspektive: Durch den unmittelbaren Kontext der Gabeworte ist die Mahlfeier mit einer endzeitlichen Heilserwartung verbunden. Nach dem 178 Diese Aufforderung fehlt bei Markus und Matthäus, doch dürfte deren Bericht ebenfalls die Funktion einer Kultätiologie haben (s. Anm. 151). 179 So wieder H.-J. Klauck, Herrenmahl, 83 f f.314–318. 180 O. Hofius, Herrenmahl, 224–230; vgl. Justin apol. I 65,5; 66,2 (s. Anm. 154) und 1Kor 11,24c.25c.26.
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
165
Bericht des Markus hat Jesus mit den Jüngern zwar sein letztes Mahl gefeiert, aber er tat es mit einem Ausblick auf die eschatologische Vollendung, die er mit dem neuerlichen Trinken von der Frucht des Weinstocks im Reich Gottes ankündigte (Mk 14,25 parr.).181 Dann werden nach der lukanischen Darstellung auch die Jünger als Repräsentanten des neuen Gottesvolks in der Gottesherrschaft wieder mit ihm an seinem Tisch essen und trinken (Lk 22,29 f.). Dieses endzeitliche Freudenmahl entsprach prophetischer Verheißung (Jes 25,6 f.). Jesus beschrieb es im Gleichnis vom großen Festmahl (Lk 14,15–24 Q) oder dem Logion vom Zu-Tisch-Sitzen im Reich Gottes (Lk 13,29 Q). Außerdem nahm er es in seinen Mahlgemeinschaften mit Sündern wie den Zöllnern Levi oder Zachäus182 und den Speisungswundern (Exkurs 6b) zeichenhaft vorweg. Durch die festlichen Anklänge erweist sich der Wein als Symbol der Vorfreude auf die endzeitliche Vollendung (Jes 25,6), während das Brot als Grundnahrungsmittel erscheint wie im Vaterunser (Mt 6,11). In diesem eschatologisch ausgerichteten Jubel hielt die erste Gemeinde in Jerusalem ihre eucharistischen Mahlfeiern ab (Apg 2,46). Aus derselben Parusiehoffnung ergänzte Paulus am Ende der Herrnmahlsparadosis durchaus sachgemäß: „bis (es so weit ist, dass) er kommt“ (1Kor 11,26). Damit wird der Herr in der Mahlfeier nicht nur als der Gekreuzigte und Auferstandene gegenwärtig, sondern auch als der endzeitlich Wiederkommende erwartet. Auf die Parusie zielte in den urchristlichen Gemeinden der aramäische Gebetsruf „Marana tha“ (1Kor 16,22; Did 10,6), der aus der Herrnmahlsfeier stammt und in Apk 22,20 ins Griechische übersetzt wird: „Komm, Herr Jesu!“ (s. Anm. 68 f.). Dass dieser ursprünglich eschatologische Ruf in 1Kor 16,22 und Apk 22,20 am Ende des Schreibens steht, erlaubt die Folgerung, dass nach dem Sprechen der eucharistischen Gebete bzw. dem Vorlesen des Briefs zur Feier des Herrnmahls übergeleitet wurde (vgl. Justin apol. I,66,3). Die Vorstellung von der Präsenz des Herrn in den Mahlfeiern der christlichen Gemeinde dürfte auch unterstützt worden sein durch die Berichte von den Erscheinungsmahlen des Auferstandenen mit den Jüngern, die vor allem bei Lukas, aber auch Johannes überliefert sind.183 e) Die Bedeutung des Herrnmahls in den neutestamentlichen Schriften: Wie wir bereits bei den Einsetzungsberichten sehen konnten, nehmen die einzelnen Autoren unterschiedliche Akzentuierungen vor: Matthäus (§ 6.3.3.3c) hebt redaktionell beim Kelchwort hervor, dass das Mahl „zur Vergebung der Sünden“ geschieht (Mt 26,28). Schon zu Beginn verknüpft er das Vergebungsmotiv
181
Bei Markus und Matthäus im Anschluss, bei Lukas vor Beginn des Mahles. Vgl. Mk 2,13–17 (Berufung des Levi); LkS 19,5.7.9 (Zachäus; § 6.4.5.2b); 15,1 f. 183 Lk 24,28–32.36–43; Joh 21,12 f.; Apg 10,41; vgl. A. M. Schwemer, Das Problem der Mahlgemeinschaft mit dem Auferstandenen, in: Ch. Grappe (Hg.), Le Repas de Dieu (s. Anm. 156), 187–226, bes. 208 ff. 182
166
5 Die paulinischen Briefe
mit dem Namen Jesu, der sein Volk von seinen Sünden erretten wird (Mt 1,21; vgl. 9,2.5 f.; § 6.3.3.4). Vor allem löst er die Vergebung von der Taufe, um sie mit dem Abendmahl zu verbinden (s. Anm. 105). So ist die Sündenvergebung nach matthäischem Verständnis durch den Tod Jesu ein für allemal gestiftet, aber sie wird nicht mehr einmalig in der Taufe empfangen, sondern bedarf einer immer wieder neuen Aktualisierung durch die Eucharistiefeier. Durch die Teilnahme am Mahl (26,26 f. durch die beiden Imperative redaktionell hervorgehoben: „esst“, „trinkt“) geht die Seligpreisung derer in Erfüllung, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten (5,6) und durch den Empfang von Brot und Wein, d. h. des Leibes und Blutes Christi, die Vergebung ihrer Sünden erfahren. Außerdem wird die Vergebung von Matthäus auffällig eng mit der ständigen ethischen Bewährung im Zusammenleben der Gemeinde verknüpft, das noch von dem frischen Bruch mit der Synagoge gezeichnet ist, daraus besondere Verletzungen zu verkraften hat und ein verstärktes Appellieren an die Versöhnungsbereitschaft verständlich macht (5,23–26; 6,12.14 f.; 18,21–35; § 6.3.4.3b). Lukas (§ 6.4.5.2b) betont als einziger Synoptiker beim Einsetzungsbericht einerseits durch den Erzählrahmen die Kontinuität zum jüdischen Passafest (22,15–18; s. Anm. 156), andererseits durch den Wiederholungsbefehl: „Dies tut zu meinem Gedächtnis“ (22,19) den ätiologischen Charakter, der die urchristliche Mahlpraxis begründet. Dementsprechend ist in der Apostelgeschichte nicht mehr von einer Passafeier, sondern nur von der eucharistischen Praxis der Christen die Rede.184 Die Gegenwart des erhöhten Herrn beim Mahl wird durch Anspielungen erzählerisch umgesetzt, indem der Auferstandene von den Emmausjüngern am Brotbrechen erkannt wird (Lk 24,30 f.; vgl. die Bitte V.29: „bleibe bei uns“) oder Jesus zu Zachäus nach dem Essen sagt: „Heute ist diesem Haus Heil wider fahren“ (Lk 19,9; vgl. V.5). Nach der Apostelgeschichte feierten die Christen das eucharistische Mahl in den Häusern, die als Versammlungsort dienten und als gottesdienstlicher Raum Tempel und Synagoge ablösten.185 Der Zeitpunkt war in der Jerusalmer Urgemeinde „täglich“ (Apg 2,46), sonst „am ersten Tag der Woche“ (Apg 20,7; vgl. 1Kor 16,2), dem Tag der Auferstehung Jesu (Mk 16,2), d. h. am Sonntag statt am jüdischen Sabbat – ein Hinweis auf die rituelle Verselbstständigung der frühen Christen gegenüber dem Judentum. Die Mahlfeier fand am Abend statt (Apg 20,7; vgl. 1Kor 11,21 f.), wie es für die Hauptmahlzeit und damit auch für kultische Feiern üblich war. Das Johannesevangelium berichtet nirgends von der Einsetzung des Abendmahls, erzählt aber an der entsprechenden Stelle im Evangelienaufriss (d. h. zwischen dem Einzug in Jerusalem und der Bezeichnung des Verräters) von der Fußwaschung beim letzten Mahl Jesu mit den Jüngern (Joh 13,1–20). Damit hat der Evangelist die Erzählung von der Einsetzung des Abendmahls zu Beginn der Passionsgeschichte ausgelassen und dafür die Fußwaschungserzählung eingefügt. Dennoch ist die Eucharistie im Blick, wenn die Brotrede in Kap. 6 das Speisungswunder mit dem ersten Ich-bin-Wort als das wahre Lebensbrot deutet (Exkurs 6c; § 7.1.5.3). Der Kontrast zwischen den eucharistischen Anspielungen in Joh 6 und der distanzierenden Rede vom „Passa“ als dem „Fest der Juden“ (6,4; vgl. 2,13; 11,55) legen wie bei Lukas den Schluss nahe, dass die johanneische Gemeinde das Passa nicht mehr mitgefeiert, sondern durch eine eigene eucharistische Feier ersetzt hat. Außerdem enthalten Blut und Wasser, die aus der Seite des Gekreuzigten fließen (19,34; vgl. 1Joh 5,6–8), eine Anspielung auf die Eucharistie und die Taufe. Auf die eucharistische Praxis der Gemeinde bezieht sich auch die 184
Apg 2,42.46; 20,7–12; 27,35 (§ 5.6.2.3a.c). Apg 2,46; 5,42; 20,7–12; vgl. zu den Häusern auch Röm 16,5; 1Kor 16,19; Kol 4,15; Phlm 2 (zur Lit. s. Anm. 8). 185
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
167
Einladung zum Mahl durch den Auferstandenen im Nachtragskapitel (21,12 f.; vgl. Lk 24,30 f.). Paulus thematisiert das Herrnmahl in seinen Briefen nur in 1Kor 10,3 f. (s. Anm. 92), 10,16 f.21 f. und 11,17–34 mit den Einsetzungsworten in 11,23–25 (s. Anm. 144). Dort erörtert er zum einen die Frage, ob ein Christ, der zum Herrnmahl geht, auch an Mahlzeiten teilnehmen kann, bei denen Fleisch von Tieren verzehrt wird, die möglicherweise im Zusammenhang mit Opfern für heidnische Götter („Götzen“) geschlachtet wurden (Kap. 8 – 10; § 5.12.1). Zum anderen hat er von einer Aufspaltung zwischen Reichen und Armen bei der Mahlfeier erfahren, dass bei dem sättigenden Teil dieser Mahlzeit nicht alle in gleicher Weise teilnehmen können (11,17–34; s. Anm. 153). Angesichts dieser Missstände zitiert der Apostel in 11,23–25 den Einsetzungsbericht als Kultätiologie, um aus der soteriologischen Bedeutung, die Jesus dem Mahl beigelegt hat, ekklesiologische Folgerungen für die Gemeindeglieder zu ziehen (§ 5.12.4–5). Daher kritisiert er zum einen die Teilnahme an Götzenopfermahlzeiten, weil diese nicht mit der Gemeinschaft mit Christus im Herrnmahl zu vereinbaren sind (Kap. 8 – 10, bes. 10,16 f.). Zum anderen darf die Einheit der Gemeinde als „Kirche Gottes“ (11,22) nicht durch die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich beeinträchtigt werden. Deshalb verbindet Paulus die in den Einsetzungsworten verkündete Heilsbedeutung des Todes Jesu und der Gegenwart des wiederkommenden Herrn in 11,27–29 paränetisch mit dem drohenden Gericht für diejenigen, die das Mahl in unangemessener Weise einnehmen. Dass jemand „unwürdig“ (anaxíōs) davon isst und trinkt, zielt deshalb nicht (wie in Teilen der späteren Wirkungsgeschichte) auf die persönliche Würdigkeit der Teilnehmenden, sondern auf den stiftungsgemäßen Vollzug der Feier durch die Gemeinde. In den deuteropaulinischen und katholischen Briefen (§ 8) wird das Herrnmahl nicht erwähnt – wie auch in den übrigen Paulusbriefen vermutlich nicht aus Unkenntnis, sondern weil es kein Konfliktgegenstand war und deshalb nicht erörtert zu werden brauchte. Nur Hebr 13,10 enthält eine Anspielung in dem Hinweis auf das Essen vom „Altar“ (§ 8.5.3). Nach Did 9,5 ist die Taufe die Voraussetzung für die Teilnahme an der Eucharistie.
f) Summa: Das Abendmahl geht auf eine Handlung Jesu bei seiner letzten Mahlfeier mit den Jüngern kurz vor seinem Tod in Jerusalem zurück, die entweder beim Passamahl (Lk) oder am Vorbereitungstag zum Passafest (Joh; vgl. 1Kor 5,7) stattfand, als die Passalämmer geschlachtet wurden. Die Gaben von Brot und Wein interpretierte Jesus im Sinn seiner Lebenshingabe für andere als Sühnegeschehen und mit Hilfe des Bundesmotivs als von Gott gestiftete Heilsordnung von eschatologischer Tragweite. Das Herrnmahl wird seit urchristlicher Zeit in den Gemeinden am Herrntag, dem Tag der Auferstehung Jesu, gefeiert, d. h. am Sonntag, nicht am Sabbat der Juden, und wöchentlich statt einmal im Jahr wie das jüdische Passafest. Dieser Zeitpunkt der Mahlfeier ist bemerkenswert, weil er schon früh eine Tendenz zur Eigenständigkeit der christlichen Gemeinden erkennen lässt und später den Prozess der Ablösung von den jüdischen Wurzeln verstärken wird. Durch das Essen und Trinken erhalten die Glaubenden Anteil am Heil, das Christus gebracht hat. Durch die Teilnahme an der Mahlfeier erfahren sie die befreiende Wirkung seines Todes und die symbolisch-rituelle Vorwegnahme des endzeitlichen Freudenmahls, bis Christus bei der Parusie selber wiederkommen wird.
168 5.6.2.4
5 Die paulinischen Briefe
Christushymnen
Ein Hymnus (griech. hýmnos) ist ein „Lobgesang“ oder „Festlied“. In der Exegese wird der Terminus in einem spezielleren Sinn für „Loblieder (sc. auf Gott)“ gebraucht.186 Die Besonderheit der Christushymnen besteht darin, dass sie nicht wie sonst üblich die Taten und Eigenschaften Gottes rühmen (z. B. Röm 11,33–36), sondern Christus preisen. Es handelt sich um liturgische Stücke, die im Gottesdienst ihren Sitz im Leben der Gemeinde hatten (Kol 3,16 f.; Eph 5,19 f.). Von dort wurden sie von den neutestamentlichen Autoren übernommen. Zu den Christushymnen gehören der Philipperhymnus (Phil 2,6–11), der Kolosserhymnus (Kol 1,15–20), der Anfang des Hebräerbriefs (Hebr 1,1–4) und der Johannesprolog (Joh 1,1–18). Diese Hymnen sind nicht nur Ausdruck einer göttlichen Verehrung für Christus,187 sondern zugleich das Ergebnis eines intensiven theologischen Nachdenkens mit einer hoch entwickelten Christologie. Sie sind aus älteren Bekenntnis- und Glaubensformeln entstanden (§ 5.6.2) und stellen deren Aussagen über Christus in einen weiteren Horizont. Sie setzen die Präexistenz Jesu vor der Inkarnation bzw. vor aller Zeit188 voraus und schließen seine Schöpfungsmittlerschaft ein, d. h. seine Mitwirkung bei der Erschaffung der Welt.189 Wie die Sendungsformeln190 machen sie deutlich, dass die Geschichte Jesu Teil eines von Gott gewollten umfassenden Geschehens ist, das den Willen Gottes verwirklicht und einen kosmischen Rahmen besitzt. Sie verbinden mehrere christologisch-soteriologische Entwürfe zu einer erzählerischen Sequenz (für uns gestorben, von Gott auferweckt) und bieten eine weitere Entfaltung der Aussagen über den Weg Jesu (s. Anm. 75 und zur Pistisformel in 1Kor 15,3b–5 § 5.6.2.1). In der erhaltenen Gestalt sind die Hymnen, die Jesus als den präexistenten Schöpfungsmittler besingen, meist nachpaulinisch. Aber erste Ansätze finden sich bereits bei Paulus. Dieser hatte die Schöpfungsmittlerschaft Christi erstmals in einer kurzen Bekenntnisformel in 1Kor 8,6 erwähnt, aber nicht weiter entfaltet, sondern nur vom Kyrios gesprochen, „durch den alle Dinge sind und wir durch ihn“. Außerdem kann186 Vgl. grundlegend R. Deichgräber, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit (StUNT 5), Göttingen 1967, hier 21 f., außerdem die beiden Aufsätze von M. Hengel, Hymnus und Christologie, sowie: Das Christuslied im frühen Gottesdienst, in: ders., Christologie (Lit. § 5.6.1), 185–204.205–258. 187 Nach dem Bericht des römischen Statthalters Plinius d.J. (111 n. Chr.) haben die Christen Kleinasiens bei ihren Gottesdiensten „Christus als ihrem Gott (Christo quasi deo) im Wechsel Lob gesungen“ (ep. 10,96,7; Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen I. Alte Kirche, hg. v. A. M. Ritter, Neukirchen-Vluyn 72002, 15). 188 Phil 2,6–11 (§ 5.14.5); vgl. 1Kor 8,6; 2Kor 8,9. 189 Kol 1,15–20 (§ 8.2.5); Hebr 1,1–4 (§ 8.5.2); Joh 1,1–18 (§ 7.1.5.1a); OdSal 7,15–23; 41,11–16; vgl. H. Hegermann, Die Vorstellung vom Schöpfungsmittler im hellenistischen Judentum und Urchristentum (TU 82), Berlin 1961. 190 Gal 4,4; Röm 8,3; Joh 3,17; 1Joh 4,9 f. (s. Anm. 55).
5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)
169
te er den Gedanken der Präexistenz, der im Philipperhymnus anklingt (Phil 2,6; § 5.14.5; vgl. 2Kor 8,9) und in den Sendungsformeln impliziert ist (Gal 4,4; Röm 8,3). Den gemeinsamen Hintergrund dieser Aussagen über Christus bildete die jüdische Vorstellung von der Präexistenz der göttlichen Weisheit (Spr 8,22 ff.; SapSal 9,1 f.; Sir 24). 5.6.2.5
Die Überlieferung von Worten und Taten Jesu
a) Christologische Formeln: An älteren Traditionen über das Leben Jesu können wir den Paulusbriefen nur das Formelgut über seinen Kreuzestod entnehmen, das mit dem Zeugnis der Auferstehung und Erhöhung Jesu verbunden ist (1Kor 15,3b–5; § 5.6.2.1; vgl. auch den Hymnus in Phil 2,6–11; § 8.2.5). b) Worte des irdischen Jesus: Paulus muss einige Herrnworte gekannt haben, d. h. mündlich überlieferte Äußerungen des irdischen Jesus, die auch als „Logien“ bezeichnet werden. Ausdrücklich zitiert er solche Herrnworte im Zusammenhang mit der Ehescheidung (1Kor 7,10 f.) und dem Unterhaltsrecht der Apostel (1Kor 9,14), die möglicherweise ihre Parallelen in den Worten Jesu zur Ehescheidung (Mk 10,12) und zum Lohn missionarischer Arbeit (Lk 10,7) haben.191 Auch die Aussagen über die Parusie des Herrn (1Thess 4,15 ff.; § 5.10.2) werden auf ein „Wort des Herrn“ zurückgeführt, sodass der Abschnitt zumindest dem Sinn nach einer Paulus bekannten Jesustradition entsprechen kann (etwa Mk 14,62 parr.; Mt 24,30 f.). Die Schwierigkeit beim Verständnis der Herrnworte besteht darin, dass Paulus die Autorität Jesu von der Vollmacht des auferstandenen, lebendigen Herrn ableitete. Deshalb betrachtete er die Herrnworte, die die Tradition vom irdischen Jesus überlieferte, als Worte des nachösterlich erhöhten Herrn. Aus demselben Grund verband er die Einsetzung des Herrnmahls in 1Kor 11,23–25 (s. Anm. 146) mit dem KyriosTitel (§ 5.6.1.3). Die Zuschreibung dieser Logien an den Erhöhten bedeutet nicht, dass Paulus die irdische Menschlichkeit Jesu gering geschätzt hätte. Auch die Aussage, dass wir Christus nicht mehr „nach dem Fleisch“ kennen (2Kor 5,16), meint keine Herabsetzung der Leiblichkeit Jesu, weil sich die Worte „nach dem Fleisch“ (katá sárka) auf die Art der Erkenntnis, nicht auf die irdische Existenzweise Jesu beziehen. Daraus folgt, dass die Christen den irdischen Jesus als den auferstandenen Herrn betrachten, nicht als einen gescheiterten Menschen. Was der irdische Jesus gesagt hat, wird mit der Autorität des erhöhten Kyrios zitiert. Das Herr-Sein schließt die Leiblichkeit Jesu ein. Sonst könnte Paulus Jakobus nicht als „Bruder des Herrn“ bezeichnen (Gal 1,19). Dass Paulus Jesustraditionen kannte, bestätigt seine Notiz
191 Vgl. N. Walter, Paulus und die urchristliche Tradition, NTS 31 (1985), 498–522; T. Holtz, Jesus-Überlieferung und Briefliteratur (1985), in: Geschichte und Theologie des Urchristentums (WUNT 57), Tübingen 1991, 31–44.
170
5 Die paulinischen Briefe
über das Treffen mit Petrus (Kephas), von dem er sich informieren ließ (Gal 1,18: „historeín“ im Aorist). Da es um Überlieferungen ging, die Paulus in Damaskus und Antiochien nicht zugänglich waren, muss es sich auch um Worte und Ereignisse aus dem Leben Jesu gehandelt haben. Daraus ergibt sich die Frage, warum Paulus solche Jesusüberlieferungen nicht häufiger anführt. An einigen Stellen wird deutlich, weshalb Paulus solche ursprünglich mündlich überlieferten Herrnworte nicht erwähnt: Er hält sie in paränetischem Zusammenhang für einseitig oder sogar gefährlich. Das gilt z. B. für das Wort vom Berge versetzenden Glauben in 1Kor 13,2 (vgl. Mk 11,23 par.; Mt 17,20). Auch die antienthusiastischen Bemerkungen in 1Kor 4,6–13 (V 8: „Ihr seid schon satt geworden?“) sind offensichtlich polemisch gegen eine Deutung der Seligpreisungen Jesu gerichtet (Mt 5,6 Q), die von den Gegnern des Paulus als Ausdruck ihrer Heilsgewissheit (Heilsperfektionismus) benutzt wurden.192 Bei den Jesuslogien stoßen wir auf offene Fragen, bei deren Beantwortung wir uns immer die leitenden Gedanken der paulinischen Theologie vor Augen halten müssen: Das Interesse des Apostels an den mündlichen Überlieferungen aus dem Leben Jesu ist ganz und gar von der Autorität Jesu Christi als des lebendigen Herrn abhängig. Diese Autorität hat er bei seiner Bekehrung vor Damaskus erfahren, als durch den Geist inspirierte Glaubensgewissheit erlebt und zur Grundlage seiner Theologie gemacht. Wenn Paulus z. B. das aramäische „Abba“ als Anrede Gottes zitiert (Gal 4,6; Röm 8,15; s. Anm. 63), begründet er dieses Privileg der Christen nicht mit einem Herrnwort oder dem Vaterunser (Lk 11,2 Q; § 6.3.4.3b). Vielmehr führt er diese Anrede auf die Wirkung des Geistes zurück, der den Christen Mut zu solchem Gebet macht. c) Erzählungen über die Taten Jesu: Zu den narrativen mündlichen Überlieferungen über Jesus können wir nur sagen, dass Paulus wahrscheinlich eine Vorstufe der Passionsgeschichte kannte, da er die Einsetzung des Herrnmahls in 1Kor 11,23 mit der Notiz über den Verrat Jesu einleitet, der in derselben Nacht stattfand. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass der Apostel aus der Tradition einige Erzählungen von den Wundern Jesu kannte. Er erwähnte sie jedoch nicht, weil er eine Entwertung der Botschaft von der Heilsbedeutung des Kreuzestodes fürchtete: „Denn die Juden fordern Zeichen ..., wir aber verkündigen den gekreuzigten Christus“ (1Kor 1,22–23a; Exkurs 6c). d) Die Beziehung zu anderen urchristlichen Überlieferungen: Dieser Befund in den paulinischen Briefen spiegelt nicht die ganze Breite der urchristlichen Tradition und Theologie wider. Zum einem hatte Paulus geographisch mit einigen Gebieten, in die 192
Vgl. J. M. Robinson, Kerygma und Geschichte im Neuen Testament, in: H. Köster / ders., Entwicklungslinien (Lit. § 6.1.5), 20–66, 40 ff.
5.7 Briefgattungen und Briefformular
171
die christliche Mission bereits vorgedrungen war (z. B. Ägypten, bes. Alexandrien), kaum Kontakt. Zum anderen hatten die Briefe durch ihren direkten Situationsbezug als Genre eine andere Funktion als die Evangelientexte, die die Überlieferung über Leben und Worte Jesu festhalten sollten. Deshalb wäre es methodisch verfehlt, aus den spärlichen Anspielungen auf die narrativen Stoffe auf eine Unkenntnis weiterer Traditionen schließen zu wollen. Wären uns z. B. nur die johanneischen Briefe erhalten geblieben und das Johannesevangelium verloren gegangen, würden wahrscheinlich viele meinen, dass der johanneische Kreis an den Traditionen über Jesus völlig uninteressiert gewesen wäre. Außerdem wurde Paulus von einflussreichen Gruppen seiner Zeit wegen seiner theologischen Positionen für gefährlich gehalten: Die einen verurteilten die paulinische Distanzierung vom Gesetz als Heilsweg (besonders der Beschneidung als Heilsbedingung; Gal 1,7 ff.; 3,1 ff.; Phil 3,2 ff. u. a.), andere unterstützten enthusiastische Tendenzen (Gal 5,13 ff.; 1Kor 4,6–13; 15,12 ff.). Das Problem der Identifizierung der Gegner in den einzelnen Briefen werden wir detaillierter in den jeweiligen Teilabschnitten behandeln. Schon jetzt ist allerdings festzuhalten, dass Paulus in seinem gesamten Werk einen Kampf an mehreren Fronten führt, d. h. vor allem gegen Judaisten und gegen Enthusiasten, auch wenn ein solcher Zwei-Fronten-Kampf nicht in jedem einzelnen Schreiben nachweisbar ist.193 Für die weitere Entwicklung war die Pistisformel (1Kor 15,3b–5) durch ihre konsensbildende Wirkung von großer ökumenischer Bedeutung (§ 5.6.2.1). Von mehreren christlichen Gruppen wurde sie als gemeinsamer Ausdruck der Ostererfahrung (15,6–8) aufgenommen, dass der Auferstandene lebt und in veränderter Weise weiterhin gegenwärtig ist. Später wurde sie im Markusevangelium rezipiert und zur Integration der Jesustraditionen und der nachösterlichen Theologien genutzt (§ 6.2.6.1). Die Pistisformel repräsentierte zwar nur einen Teil der entstehenden Christenheit, aber bei den in 1Kor 15,5 ff. erwähnten Personen Petrus, den Zwölf, dem Herrnbruder Jakobus u. a. handelte es sich um eine einflussreiche Gruppierung, durch die die Überlieferung in 1Kor 15,3b–5 zum Ausgangspunkt der späteren Entwicklung des Kanons, der Bekenntnisse und des Dogmas wurde. Die Pistisformel muss sich schon bald mit dem Ritus der Taufe verbunden und aufgrund ihrer Überzeugungskraft durchgesetzt haben (s. Anm. 126 ff.).
5.7
Briefgattungen und Briefformular
Der kleine Pauly (1979): Art. „Epistolographie“ (Peter L. Schmidt) und „Rhetorik“ (Hildebrecht Hommel / Konrat Ziegler); George A. Kennedy, New Testament Interpretation 193
Vgl. W. Lütgert, Gesetz und Geist. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte des Galaterbriefes (BFTh 22,6), Gütersloh 1919.
172
5 Die paulinischen Briefe
through Rhetorical Criticism, Chapel Hill 1984; Franz Schnider / Werner Stenger, Studien zum neutestamentlichen Briefformular (NTTS 11), Leiden 1987; Detlev Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte, Darmstadt 1993, 190–198; Udo Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 51–60; Stanley E. Porter, Handbook of Classical Rhetoric in the Hellenistic Period 330 B.C. – A.D. 400, Leiden 1997; Ulrich Heckel, Der Segen im Neuen Testament. Begriff, Formeln, Gesten. Mit einem praktisch-theologischen Ausblick (WUNT 150), Tübingen 2002; vgl. Lit. § 5.
Durch das Vorlesen im Gottesdienst erlangten die Briefe für die frühe Christenheit eine große liturgische und ekklesiologische Bedeutung (§ 5.1–4). Die paulinischen Briefe begründeten das Ansehen der Epistel als Element christlicher Liturgie. Dieser Sitz im Leben der Gemeinde hatte Auswirkungen auf die Gattung und das Formular der Briefe. a) Briefgattungen: Im Vergleich mit den damals bekannten Briefgattungen sind die Briefe des Paulus als eine Mischung zwischen Freundschaftsbriefen und theoretischen (philosophischen) Briefen zu betrachten, wobei z. B. im Philemonbrief die freundschaftlichen Elemente, im Römerbrief die lehrhaften Züge überwiegen. In den Freundschaftsbriefen steht – außer dem Ausdruck der Freundschaft (philophrónēsis) und den Grüßen – eine Botschaft (homilía) in der Gestalt von Mitteilungen und Instruktionen im Vordergrund. Die philosophischen Briefe, z. B. von Plato oder Epikur, sind deutlich argumentativer (diskursiver) gestaltet. Ein solches argumentatives Vorgehen ist auch bei Paulus anzutreffen. Dementsprechend verwendet er – wie schon die antiken Philosophen – rhetorische Mittel. Diese hat Hans Dieter Betz am Beispiel des Galaterbriefs aufgezeigt (§ 5.11.2). Dabei werden – mit Variationen – insbesondere die vier Teile einer Gerichtsrede (§ 2.2.6) gerne zur Gliederung herangezogen: 1. exordium (Vorrede), 2. narratio (Schilderung des Sachverhalts), 3. argumentatio (Beweisführung) und 4. peroratio (wirkungsvoller Redeabschluss). Einer solchen Grunddisposition bedienten sich auch die offiziellen Briefe der Administration des römischen Reichs. Allerdings sind die Analogien aus der Rhetorik bei der Interpretation paulinischer Briefe nur in begrenztem Maß anwendbar. Diese Einschränkung gilt nicht nur deshalb, weil der schriftlich zugestellte Brief sich als Textsorte von der mündlichen Rede unterscheidet.194 Bereits das Vorlesen im Gottesdienst (§ 5.3) hat einen anderen Sitz im Leben als die typischen Situationen der klassischen Schulrhetorik vor Ge-
194 Vgl. die zur Vorsicht mahnenden Einschränkungen des klassischen Philologen C. J. Classen, Paulus und die antike Rhetorik, ZNW 82 (1991), 1–33, hier 6; vgl. zu den Möglichkeiten und Grenzen rhetorischer Kritik C. J. Classen, Rhetorical Criticism of the New Testament (WUNT 128), Tübingen 2000; J. S. Vos, Die Kunst der Argumentation bei Paulus (WUNT 149), Tübingen 2002.
5.7 Briefgattungen und Briefformular
173
richt oder in einer Volksversammlung.195 Neben rhetorischen Gesichtspunkten haben die epistolaren Gepflogenheiten wie z. B. das Briefformular und die Zweckbestimmung für das Vorlesen im Gottesdienst die formale Gestaltung beeinflusst. Außerdem musste der Apostel oft auf konkrete Probleme in den Gemeinden eingehen oder etliche Fragen beantworten.196 Deshalb durchzieht vielfach nicht ein einziger Argumentationsgang den ganzen Brief, sondern Paulus setzt bisweilen mehrmals erneut ein (1–2Kor, Phil).197 Wenn er Fragen aufgreift, handelt es sich nicht nur um rhetorische Fragen oder einen rhetorisch inszenierten Dialog mit theoretisch denkbaren Meinungen wie in der Diatribe, d. h. den Vorträgen kynischer und stoischer Philosophen (§ 5.16.5), sondern um Antworten auf Fragen, die ihm aus den Gemeinden wirklich gestellt worden waren. Weil die Briefe des Paulus stets auf die Situation der Adressatengemeinden bezogen waren, haben sie ihre Autorität gewonnen. Als Missionar und Apostel fühlte er sich für die von ihm gegründeten Gemeinden verantwortlich.198 Daher beeinflussten die Schreiben des Apostels auch die Gestalt der später geschriebenen kanonischen Briefe. b) Briefformular: Die neutestamentlichen Briefe sind meist ähnlich aufgebaut. Nur wenige unterscheiden sich erheblich von dem nachfolgend beschriebenen Modell:199
195 Im Anschluss an Aristoteles unterschied die Schulrhetorik modellhaft drei Genera nach ihrer unterschiedlichen Funktion: a) die dikanische, auch forensische oder apologetische Rede, die vor Gericht zur Anklage oder Verteidigung vorgetragen wird (lat. genus iudiciale), b) die symbuleutische Rede, die vor der Volksversammlung bei einer anstehenden Entscheidung (z. B. eine Kriegserklärung) zu- oder abzuraten versucht (lat. genus deliberativum), und c) die epideiktische Rede, die z. B. zum Lob (oder auch als Tadel) auf eine zu feiernde Person gehalten wird (lat. genus demonstrativum). 196 1Kor 7,1.25; 8,1.4; 12,1; 16,1.12; 1Thess 4,(9).13; 5,1. 197 Vgl. grundlegend F. Siegert, Argumentation bei Paulus. Gezeigt an Röm 9 – 11 (WUNT 34), Tübingen 1985. 198 Vgl. U. Heckel, Paulus als „Visitator“ und die heutige Visitationspraxis, KuD 41 (1995), 252–291. 199 Der 1. Johannesbrief z. B. hat aus der Briefform nur die Anrede in der 2. Person übernommen.
174
5 Die paulinischen Briefe
Briefeingang A. Präskript – Absender (superscriptio im Nominativ) – Adresse (adscriptio im Dativ) – Eingangsgruß (salutatio) B. Proömium mit Dankgebet (exordium) Briefkorpus – Darstellung des Problems (narratio) – These (propositio) – Durchführung des Beweises (argumentatio mit probatio und refutatio) Briefschluss A. Paränese (exhortatio) B. Postskript (conclusio, peroratio) – Grüße (Grußaufträge, Grußausrichtungen, Aufforderung zum heiligen Kuss) – Eschatokoll mit Gnadenwunsch (analog zum Eingangsgruß)
Am Anfang des Briefs steht ein dreigliedriges Präskript, in dem nach griechischem Brauch auf den Namen des Absenders (lat. superscriptio = Überschrift) der Name des Adressaten (lat. adscriptio = Anschrift) folgt und sich dann der Eingangsgruß anschließt (lat. salutatio): „chaírein“ (sich freuen), d. h. „freut euch“200 (Jak 1,1; Apg 15,23; 23,26). Die erhaltenen Präskripte entsprechen dem heutigen Briefkopf und der Adresse, die sich am Anfang eines Schreibens befinden (und nicht mit dem Absender und der Anschrift auf dem Umschlag verwechselt werden dürfen). Die äußere Adresse wurde dagegen auf die Außenseite der Papyrusrolle geschrieben. Sie ist bei den kanonischen Briefen nicht erhalten, weil ihre Urschriften (Autographen) verloren gingen. Die paulinischen Präskripte enthalten die erwähnten Briefelemente, die aber dem hebräischen bzw. asiatischen Brauch folgend ausladender formuliert sind (meistens in zwei Sätzen). Auf den Namen folgt im Präskript eine Angabe über die Apostolizität oder ein anderer Beiname, der als Ehrenprädikat dient, z. B. „Knecht Jesu Christi“ (Röm 1,1). Manchmal ist eine kurze Zusammenfassung des apostolischen Auftrags angefügt (z. B. Röm 1,1–6). Oft wird ein Mitabsender erwähnt,201 der die Funktion eines Zeugen besitzt. Ob es sich dabei tatsächlich um einen Mitverfasser handelt, lässt sich nicht nachweisen. Die Adressaten werden vielfach als „Gemeinde“ (Gottes), „ekklēsía“, bezeichnet202 bzw. als die „Heiligen“ (hágioi), d. h. die durch den heiligen Geist Geheiligten, deren Leben vom Geist Gottes bestimmt ist.203 20 0
Vgl. den Imperativ „freu dich“ / „freut euch“ als mündlichen Gruß in Mk 15,18 parr.; Mt 26,49; 28,9; Lk 1,28. 201 1Thess: Silvanus und Timotheus; Gal: „alle Brüder“; 1Kor: Sosthenes; 2Kor; Phil; Phlm. 202 1Kor 1,2; 2Kor 1,1; Gal 1,2 (§ 5.4). 203 Vgl. Röm 1,7 u. ö. mit 1Kor 1,2; 6,11.
5.7 Briefgattungen und Briefformular
175
Diese Erweiterungen des Präskripts sind in den paulinischen Briefen so auffällig, dass sich die Funktion dieses Briefteils verändert hat. Das Präskript signalisiert bereits das theologische Anliegen, das im Brief zum Ausdruck kommt. Der Verfasser versteht sich als bevollmächtigter Zeuge und Träger des Evangeliums. Die Grundgestalt der Kommunikation ist der Weg: Evangelium – Apostel – Adressat (Röm 1,1– 7).204 Der auffälligste Unterschied zu den antiken Briefen besteht darin, dass der Eingangsgruß (lat. salutatio) im griechischen Formular „chaírein“ lautete, diese Freudenäußerung von Paulus jedoch durch einen anderen Gruß ersetzt wurde. Dieser lehnt sich etymologisch und klanglich zwar an die griechische Grußform an, wird inhaltlich aber völlig neu gefüllt: „Gnade sei mit euch (cháris hymín) und Friede“. In dieser Doppelwendung nimmt der Apostel den jüdischen Schalomgruß auf (vgl. Lk 10,5f.), stellt aber die „cháris“ als den für die paulinische Theologie typischen Inbegriff der „Gnade“ Christi voran. Beide Begriffe führt Paulus (bis auf 1Thess) stets auf den Vater Jesu Christi als den eigentlichen Segensspender zurück (Röm 1,7 u. ö.).205 Ein Beispiel für ein solches Präskript lautet: „Paulus, durch den Willen Gottes Apostel Christi Jesu, und Bruder Timotheus, an die Gemeinde Gottes in Korinth mit allen Heiligen in ganz Achaia! Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!“ (2Kor 1,1f.).206 Dem Eingangsgruß korrespondiert am Ende ein Segenswunsch, mit dem die Briefe abgeschlossen werden.207 Durch diese Rahmung steht das ganze Schreiben im 204
Dies ist auch für die (z. T. kanonisierte) christliche Pseudepigraphie typisch (Exkurs
10). 205
Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 250–255.281–298. Diese Form des Briefanfangs fand über die Paulusschule hinaus Nachahmer (Polyc Phil inscr.), setzte sich aber nicht gleich durch. So behalten z. B. noch die Präskripte des Ignatius von Antiochien (111–114 n. Chr.) den hellenistischen Freudengruß (chaírein) bei (IgnEph inscr. u. ö.). Dafür werden die Adressaten als diejenigen bezeichnet, die durch den Willen Gottes und Jesu Christi erwählt sind, was schon die Kenntnis der Grundaussagen des christlichen Glaubens in der angeredeten Gemeinde voraussetzt (IgnEph inscr.; IgnTrall 1,1 inscr.). 207 Die Wunschform zeichnet sich – analog zum aaronitischen Segen in Num 6,24–26 – durch den indirekten Appell an Gott in der 3. Person, die direkte Adressatenanrede in der 2. Person und beim Verbum – sofern es nicht ausgelassen wird – einen jussivischen oder optativischen Aussagemodus aus. Der Segen ist jedoch kein „frommer Wunsch“, sondern eine performative (vollziehende) Rede, hinter der Gottes Erfüllungszusage (Num 6,27) bzw. Treuespruch (1Thess 5,23f.; vgl. 2Thess 3,3) steht. Damit unterscheidet sich der Segenswunsch von der Fürbitte, die Gott direkt in der 2. Person anredet (JosAs 8,9: „Du Herr, segne diese Jungfrau“). Eine Zusage hat eine indikativische Verbform (ohne Zeitaspekt), begegnet aber nur bei göttlichem Subjekt (Mt 28,20; Joh 14,27; Gen 26,24). Eine Verheißung ist mit einer Futurform im zeitlichen, die Gegenwart ausschließenden Sinn verbunden, da z. B. bei Abraham die Nachkommenschaft noch aussteht (vgl. Gen 12,3b u. ö. in Apg 3,25; Gal 3,8 sowie Hebr 6,14 [Gen 22,17]). Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 261–280.352–354. 206
176
5 Die paulinischen Briefe
Zeichen des apostolischen Segens, der den Adressaten zugesprochen wird. Ein Friedenswunsch erscheint öfters am Übergang von der Paränese zu den Grüßen.208 Am Schluss des Briefs folgt der Gnadenwunsch, der – anders als in der Salutatio! – mit einer Präposition gebildet ist und den Charakter einer Beistandsformel hat: „die Gnade des Herrn Jesus (sei) mit euch (meth’ hymṓn)“ (1Kor 16,23). Dieser Schlusssegen leitet nach dem Vorlesen des Briefs mit dem Maranatharuf („Unser Herr, komm!“) schon zum anschließenden Herrnmahl über, bei dessen Feier die Gegenwart des Kyrios durch diesen aramäischen Gebetsruf (1Kor 16,22f.) oder seine griechische Übersetzung (Apk 22,20) herbeigefleht wird (§ 5.6.2.3d). Was im dreigliedrigen Segen in 2Kor 13,13 durch die Erwähnung der Gnade des Herrn, der Liebe Gottes und der Gemeinschaft des heiligen Geistes theologisch besonders steil klingt, erweist sich durch den Briefkontext als äußerst situationsbezogen, da der Friede und die Gemeinschaft in der korinthischen Gemeinde durch Auseinandersetzungen sehr bedroht sind (§ 5.12.4; 5.13). 209 Im Anschluss an das Präskript folgt als eigentliche Brieferöffnung das Proömium, das mit einem Eingangsgebet in Form einer Danksagung an Gott210 oder einer Eulogie (Lobpreis Gottes)211 verbunden ist. Der Apostel dankt Gott für den Glauben (für die Treue) der Adressaten. Außerdem weist er auf die gemeinsame Beziehung zu Gott hin, den Vater Jesu Christi. Zugleich bereitet er die Basis für seine theologische Argumentation.212 Damit übt das Proömium eine ähnliche Funktion aus wie in der Rhetorik das exordium (Vorrede). Das Korpus des Briefs beginnt meist mit einer direkten Anrede an die Adressaten, „Brüder“ genannt (z. B. 1Thess 2,1; Phil 1,12), und thematisiert bald den Abfassungsgrund des Schreibens. Oft wird nach einem kurzen Übergang (lat. transitus), der das gegenseitige Vertrauen stärken soll und manchmal eine Selbstempfehlung des Apostels enthält (Gal 1,6–10; Röm 1,13–15), das Problem dargestellt (lat. narratio = Erzählung, Schilderung des Sachverhalts; z. B. Gal 1,11–2,14). Dann wird die Grundthese (lat. propositio = Vorstellung des Beweisziels) formuliert (Röm 1,16f.; 1Kor 1,18; vgl. Gal 2,15f.), die in einem argumentierenden Hauptteil (lat. argumentatio = Beweisführung) begründet wird (lat. probatio = Beweis). Sie ist oft mit einer Widerlegung von Meinungen der Gegner verbunden (lat. refutatio). Der Schlussteil ist mitunter umfangreich und ersetzt gelegentlich den argumentativen Hauptteil (1Thess). Zu ihm gehört die Paränese (lat. exhortatio = Aufmunte-
208
Röm 15,33; 16,20; 2Kor 13,11 u. ö. Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 299–306. 210 Vgl. „eucharistṓ tṓ theṓ mou“ (ich danke meinem Gott) in Röm 1,8; 1Kor 1,4; Phil 1,3; Phlm 4; 1Thess 1,2 (wir). 211 Vgl. „eulogētós ho theós“ (gelobt sei Gott) in 2Kor 1,3; vgl. Eph 1,3; 1Petr 1,3. 212 In manchen neueren Arbeiten zum Briefformular wird das Proömium deshalb dem Briefkorpus zugeordnet. 209
5.7 Briefgattungen und Briefformular
177
rung, Ermahnung; z. B. 1Kor 16,1–18). Diese wird vielfach mit dem Verbum „parakalṓ“ (ich ermahne) eingeleitet,213 knüpft im Römerbrief durch den Hinweis auf „die Barmherzigkeit Gottes“ an die bereits früher dargelegte Rechtfertigungslehre an (Röm 12,1; § 5.16.5c) und kann auch argumentative Abschnitte enthalten, z. B. Röm 13,1b–5 zur Staatsmacht. Die Ermahnung wird gerne als Schlussfolgerung der These konzipiert (Gal 5,3f.; § 5.11.4c). Sie kann durch die (wiederholte) Hervorhebung der apostolischen Autorität unterstützt werden (1Kor 16,5–13). Das Postskript (lat. conclusio = Schlussfolgerung, peroratio = Schlussrede) bildet in mancher Hinsicht das Pendant zum Präskript. Es enthält Grüße, die der Verfasser den Adressaten entweder an einzelne Personen aufträgt (Röm 16,3–15), die ihm besonders wichtig sind („Grußauftrag“), oder von anderen weitergibt („Grußausrichtung“ z. B. Röm 16,21–23; 1Kor 16,19f.). Manchmal werden die Grüße mit einer Aufforderung zum „heiligen Kuss“ verbunden, den die Gemeindeglieder miteinander austauschen sollen. Der heilige Kuss gilt also nicht den Adressaten („ich grüße euch ...“) und auch nicht Dritten („grüßt die anderen von mir ...“). Er ist ein Zeichen für die Gemeinschaft der Heiligen, für das Wirken des heiligen Geistes und für die Liebe der Gläubigen untereinander.214 Ganz am Ende (griech. Eschatokoll = das an den Schluss Geklebte) steht der Gruß des Absenders, der im antiken Brief die persönliche Unterschrift ersetzt und manchmal mit einem Eigenhändigkeitsvermerk versehen ist.215 Dann folgt noch der Schlusssegen, der als Gnadenwunsch die Gestalt eines christologischen (1Kor 16,23) oder fast trinitarischen (2Kor 13,13) Segens haben kann und an die Stelle des sonst üblichen Schlussgrußes tritt (griech. érrōso / érrōsthe = sei[d] stark, leb[t] wohl; lat. vale / valete). Stets ist zu beachten, dass die rhetorischen Regeln nicht starr anzuwenden waren. Veränderungen einzelner Strukturelemente und Übergänge zwischen Textsegmenten (lat. transitus) stellen ein Zeichen sowohl der Kunst als auch der inneren Freiheit der Verfasser dar. c) Briefschreiber und -boten: Obwohl Männer – und wenige Frauen – in der Schreibkunst geschult waren, überließ man die Niederschrift längerer Briefe vielfach professionellen Schreibern, oft speziell ausgebildeten Sklaven (Röm 16,22), die manchmal den Wortlaut stilistisch beeinflussten.216 Es ist allerdings wenig wahrscheinlich, dass sie auch für den Inhalt der Briefe mitverantwortlich waren, wie es Otto Roller217 213 Röm 12,1 (§ 5.16.5c); 1Kor 1,10 (§ 5.12.1); 4,16; 16,15; Phil 4,2; (1Thess 4,1.10 Pl.); Phlm 9f.; Eph 4,1 u. ö. 214 Vgl. Röm 16,16a; 1Kor 16,20b; 2Kor 13,12a; 1Thess 5,26; 1Petr 5,14a. 215 1Kor 16,21; Gal 6,11; Phlm 19 sowie Kol 4,18; 2Thess 3,17 (vgl. Exkurs 10). 216 Im christlichen Milieu des 1. Jh.s waren es wohl professionelle Schreiber, die, wie Tertius in Röm 16,22, die diktierten Briefe in ihrer freien Zeit niederschrieben. 217 Vgl. O. Roller, Das Formular der paulinischen Briefe (BWANT 58), Stuttgart 1933 334 ff.
178
5 Die paulinischen Briefe
aufgrund der Untersuchung diplomatischer Schreiben für die paulinischen Briefe annahm. Die Briefe wurden durch Boten geschickt, die in die Gegend der Adressaten reisten (§ 5.4).218 Die Adresse, die auf die Rolle oder auf ihre Schutzhülle geschrieben war, ermöglichte es, den Brief zumindest auf einem Teil des Weges fremden Personen anzuvertrauen. Von dieser Möglichkeit wurde bei der Versendung der christlichen Briefe aber wenig Gebrauch gemacht wegen der rechtlich unsicheren Lage der christlichen Gemeinden. Wie wir Röm 16,1f. entnehmen können, überreichte die Überbringerin (Phöbe) den Brief persönlich.
5.8
Die authentischen Paulusbriefe
Die Darstellung der paulinischen Theologie muss sich auf die Briefe konzentrieren, die unbestritten Paulus selber zugerechnet werden (sog. Homologumena; § 3.4a; 5). Dabei ist auch die chronologische Reihenfolge wichtig. Unsere Absicht ist es nicht, grundlegende Wandlungen in der paulinischen Theologie zu demonstrieren – etwa eine Entwicklungshypothese in der Naherwartung oder der Rechtfertigungslehre –, wenn auch gewisse Verschiebungen seiner Ansichten belegbar sind. Vielmehr liegt uns daran, seine theologischen Argumente aus der Unterschiedlichkeit ihrer Entstehungssituation und im Nacheinander ihrer Abfassung besser verständlich zu machen. Dabei zeigt sich, dass Paulus seine Theologie als Reflexion über den Glauben in konkreten Situationen entfaltet, aus diesen Anlässen aber zu Einsichten kommt, deren Relevanz über die Ausgangslage weit hinausgehen kann. Dieser direkte Situationsbezug ist für das Verständnis der Paulusbriefe von entscheidender Bedeutung. 5.8.1
Das Problem der paulinischen Chronologie
Alfred Suhl, Paulus und seine Briefe (StNT 11), Gütersloh 1975; Gerd Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel I (FRLANT 123), Göttingen 1980; Robert Jewett, Paulus-Chronologie, München 1982 (Ü); Nils Hyldahl, Die paulinische Chronologie (AThD 19), Leiden 1986; Martin Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: ders., Paulus und Jakobus. KS III (WUNT 141), Tübingen 2002, 68–192; Hans Hübner, Biblische Theologie II (Lit. § 1), § 2.2.2; Rainer Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus (WUNT 71), Tübingen 1994; Eduard Lohse, Paulus, München 1996, III,4; Martin Hengel / Anna Maria Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (WUNT 108), Tübingen 1998; Udo Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 31–45; Klaus Haacker, Paul´s Life, in: James D. G. Dunn (Hg.), The Cambridge Companion to St. Paul, Cambridge 2003, 19–33; Ruth Schäfer, Paulus bis zum Apostelkonzil (WUNT II/179), Tübin-
218
27–36.
Vgl. U. Heckel, Paulus als „Visitator“ (s. Anm. 198), 256f.; ders., Hirtenamt (Lit. § 7.1),
5.8 Die authentischen Paulusbriefe
179
gen 2004; Paul Trebilco, The Early Christians in Ephesus from Paul to Ignatius (WUNT 166), Tübingen 2004.
Die Frage nach der Reihenfolge der Briefe des Paulus ist eng mit dem Problem der Chronologie seines Lebens verbunden. Den Lebenslauf des Apostels darzustellen, ist jedoch kompliziert, da seine Briefe innerhalb weniger Jahre zwischen 50 und 56 (bzw. 60) n. Chr. entstanden sind und er darin nur selten, nämlich aus konkretem Anlass und mit direktem Situationsbezug, biographische Angaben einfließen lässt. Diese Hinweise sind aber zu punktuell, um daraus eine Gesamtchronologie rekonstruieren zu können. Deshalb sind wir nach dem brieflichen Selbstzeugnis des Apostels – methodisch in einem zweiten Schritt – auf die Berichte der Apostelgeschichte angewiesen, die mit den Aussagen der Paulusbriefe manchmal nicht übereinstimmen. Außerdem wird die Rekonstruktion dadurch erschwert, dass wir bei vielen Daten zwar eine zeitliche Reihenfolge (relative Chronologie) feststellen, aber keine exakten Zeitangaben in Jahreszahlen (absolute Chronologie) machen können. Daraus erklären sich die Schwankungen bei den Jahresangaben in der Literatur. Da der Lebenslauf des Paulus stark von seiner Reisetätigkeit geprägt war, erleichtert es die chronologische Einordnung, wenn die diversen Einzelangaben nicht nur im literarischen Kontext gelesen, sondern mit einem Blick auf die Landkarte219 verbunden werden.220 Die bedeutendste Hilfe bei der Datierung seines Lebens sind die Fragmente einer Inschrift. Sie enthält den Erlass des Kaisers Claudius (41–54 n. Chr.), in dem dieser den neuen Bewohnern von Delphi, der ehemals kultisch und politisch bedeutenden und durch Verwüstung bedrohten Stadt, Bürgerrechte garantiert.221 Dort wird Gallio (griech. Gallíōn), der Bruder des Philosophen und Nero-Erziehers Seneca sowie Onkel des Dichters Lucanus, erwähnt, vor dem nach Apg 18,12 ff. Paulus als Angeklagter stand. Gallio war Prokonsul, d. h. der vom römischen Senat ernannte Verwalter der Provinz Achaia (des Kerns von Griechenland). Das Dokument ist auf die Zeit nach der 26. Ausrufung des Claudius zum Imperator und im 12. Jahr seines Tribunats „datiert“. Wann die 26. Akklamation stattfand, wissen wir nicht. Die 27. geschah spätestens im August des Jahres 52 (Einweihungs-Inschrift des Anio Novus und der Aqua Claudia; terminus ante quem). Da der Anfang des 12. Jahres seines Tribunats etwa zu Beginn des Jahres 52 lag (terminus post quem), können wir die
219
Vgl. die Landkarten zu den Paulusreisen in den gängigen Bibelausgaben. Zu den Datierungsproblemen vgl. U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5), 29–40, sowie monographisch R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), und M. Hengel / M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), bes. 373–475 (Zeittafel). 221 Übersetzung bei C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte zur Umwelt (Lit. § 12), 58–60; eine ausführliche Diskussion bietet R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 180–184. 220
180
5 Die paulinischen Briefe
Inschrift und den Erlass auf das Jahr 52 datieren. Da die Amtsperiode der Prokonsuln ein Jahr dauerte und mit der Eröffnung der Schifffahrt nach den Frühlingsstürmen begann, bekleidete Gallio das Amt des Provinzverwalters in Achaia wahrscheinlich von Sommer 51 bis Sommer 52. Dieser Zeitraum entspricht den Angaben der Apostelgeschichte, die vermutlich wirkliche Ereignisse aus der Zeit des paulinischen Wirkens in Korinth wiedergibt. Demnach muss Paulus die anderthalb Jahre (Apg 18,11) in der Zeitspanne zwischen Herbst 50 und Frühling 53 in Korinth verbracht haben, vermutlich 50–51 n. Chr. Die in Apg 18,12–16 geschilderte Szene vor Gallio wird sich vermutlich nicht allzu lange nach dessen Ankunft in Korinth im Jahr 51 ereignet haben. Diese chronologische Einordnung des paulinischen Aufenthalts in Korinth wird auch durch die Datierung der Vertreibung der Juden aus Rom unter Kaiser Claudius (41–54 n. Chr.) gestützt, die in Apg 18,2 erwähnt ist. Der römische Schriftsteller Suëton (Anfang 2. Jh.) berichtet in seinem Werk über die Leben der Kaiser (Cl 25,4), dass Claudius die Juden aus Rom vertrieb, weil sie – „von einem Chrestus aufgehetzt“ (lat. impulsore Chresto) – Unruhe stifteten (§ 5.16.2).222 Im 5. Jh. hat der Geschichtsschreiber Orosius, ein Vertrauter Augustins, dieses Ereignis in das 9. Regierungsjahr des Claudius datiert, d. h. in das Jahr 49 n. Chr. Diese Zeitangabe entspricht dem Bericht von Apg 18,1–17, nach dem Aquila und Priszilla (in den Paulusbriefen Priska genannt) durch das Claudiusedikt aus Rom vertrieben wurden und in Korinth einige Zeit vor Paulus eingetroffen waren. Die Datierung des Orosius kann jedoch von der Apostelgeschichte her konstruiert sein, sodass die Gallio-Inschrift der einzige verlässliche Anhaltspunkt bleibt, von dem die relative Chronologie ausgehen kann. Die Amtszeit der Statthalter (Prokuratoren) von Judäa und Samarien, Felix (besonders das Ende seiner Amtsperiode) und Festus (Apg 23–26), lässt sich leider nicht genau bestimmen. Da Festus spätestens im Jahre 58 sein Amt antrat, muss die Eskortierung des Apostels nach Rom etwa im Jahre 59 stattgefunden haben.223 In jüngerer Zeit wurde manchmal die Datierung des sog. Apostelkonvents224 (Gal 2,1–10; Apg 15,1–35) als Anhaltspunkt der absoluten Chronologie erwähnt. Gal 2,9 ist zu entnehmen, dass bei jener Zusammenkunft die Missionsfelder aufgeteilt wurden und durch den Beschluss einer Geldsammlung die Solidarität mit der Jerusalemer Gemeinde bestätigt wurde. Beides geschah, um Konflikte zwischen Paulus und den ursprünglichen Jüngern Jesu zu vermeiden. An jenem Konvent nahm auch der Zebedaide Johannes (Gal 2,9) teil. Da nach Apg 12,2 sein Bru222
Vgl. C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte (Lit. § 12), 14–16, und dazu R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 139–180 (auch zu anderen Datierungsversuchen, bes. von G. Lüdemann). 223 Nach A. Suhl, Paulus und seine Briefe, 344, ereignete sie sich um drei bis vier Jahre früher. 224 Die ebenfalls verbreitete Bezeichnung „Apostelkonzil“ ist anachronistisch, weil sie bei diesem bilateralen Treffen von Gemeindevertretern schon zu sehr an die späteren Bischofssynoden denken lässt.
5.8 Die authentischen Paulusbriefe
181
der Jakobus durch Herodes Agrippa I. (41–44 n. Chr.) hingerichtet wurde und da in Mk 10,38f. der Märtyrertod der beiden Zebedäussöhne Jakobus und Johannes in einem Satz angedeutet wird, kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Konvent noch zu Lebzeiten des Herodes stattfand, also im Jahr 43 oder 44.225 Die Datierung mehrerer Paulusbriefe würde dann in eine erheblich frühere Zeit rücken. Doch bleibt diese frühe Ansetzung des Apostelkonvents eine Hypothese, die mit der relativen Chronologie konfrontiert werden muss. Die relative Chronologie spricht aber eher für eine Datierung in das Jahr 48 n. Chr. Denn nach Gal 2,1 fand der Apostelkonvent vierzehn Jahre, d. h. nach unserer Zählung mit ganzen Jahren dreizehn Jahre „danach“ statt (épeita diá dekatessárōn etṓn). Die Zeitangabe „danach“ könnte sich theoretisch noch auf die Berufung des Paulus (1,15f.) beziehen, hängt aber mit dem unmittelbar vorher erwähnten ersten Besuch des Paulus in Jerusalem zusammen, der drei Jahre nach seiner Bekehrung stattfand (1,18).226 Von diesem Besuch an müssen wir die vierzehn Jahre zählen. In diesem Fall ist die Frühdatierung des Apostelkonvents ausgeschlossen.
5.8.2
Die Biographie des Paulus und ihr Verhältnis zu seiner Theologie
Literatur s. § 5.8.1
Zu Herkunft und Werdegang erwähnt Paulus in seinen Briefen nur wenige biographische Einzelheiten, am detailliertesten in Gal 1,13 ff. Aus den dortigen Angaben lässt sich in groben Zügen die Frühzeit des Apostels rekonstruieren. Das einschneidendste Ereignis seines Lebens war für Paulus ohne Zweifel die Bekehrung vom Christenverfolger zum Apostel Jesu Christi, die ihm durch eine Erscheinung des Auferstandenen zuteil wurde (Gal 1,15 f.).227 Die Lebenswende ereignete sich bei Damaskus (Gal 1,17) und dürfte schon recht bald nach der Hinrichtung Jesu (sehr wahrscheinlich im Jahr 30)228 und nach der ersten Verkündigung der Osterbotschaft etwa um 33 n.Chr. geschehen sein. Im Unterschied zu den drei ausführlichen, literarisch gestalteten Schilderungen in der Apostelgeschichte (Apg 9; 22;
225
So F. Hahn, Das Verständnis der Mission im Neuen Testament (WMANT 13), Neukirchen 1963, 77f.; A. Suhl, Paulus und seine Briefe, 316 ff. In meinen früheren tschechischen Veröffentlichungen habe ich diese Datierung vertreten (P. P.). R. Schäfer, Paulus bis zum Apostelkonzil, 487f., folgert aus der gewagten Identifizierung von Gal 2,1–10 mit der Überbringung der antiochenischen Kollekte (Apg 11,27–30; 12,25) die ungewöhnliche Frühdatierung 40 n. Chr. 226 Für die erste Möglichkeit plädiert vor allem A. Suhl, Paulus und seine Briefe, 46f.; zum Problem s. U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 37f. 227 Vgl. Ch. Dietzfelbinger, Die Berufung des Paulus als Ursprung seiner Theologie (WMANT 58), Neukirchen-Vluyn 21989. 228 Vgl. R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 31–52; G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 147–155.
182
5 Die paulinischen Briefe
26)229 spricht Paulus selber nur von einer Begegnung mit dem auferstandenen Christus als dem Herrn, der ihm in einer Vision erschien (1Kor 15,8 ff.; 9,1; vgl. 2Kor 4,4–6). Aus dem pharisäisch230 gebildeten Handwerker (Apg 18,3: „Zeltmacher“) und eifrigen Christenverfolger231 wurde durch das Damaskuserlebnis ein leidenschaftlicher Apostel, Missionar und Theologe. Erst drei Jahre nach seiner Bekehrung besuchte er wieder Jerusalem, um mit Petrus und dem Herrnbruder Jakobus Kontakt aufzunehmen (Gal 1,18). Für das Verständnis der paulinischen Theologie sind die Äußerungen des Apostels über seine Bekehrung von großer Bedeutung. Sie ermöglichen erste Schlussfolgerungen: a) Paulus betrachtete seine Begegnung mit Christus als eine – vermutlich schon die letzte – Ostererscheinung, die die Reihe der Christophanien abschloss (1Kor 15,8; § 5.12.5a). b) Er begriff seine Lebenswende als direkten apostolischen Auftrag, der der Berufung eines Jüngers Jesu, z. B. des Petrus, gleichwertig ist. Diesen Anspruch haben offensichtlich nicht alle Glieder der in 1Kor 15,5–7 genannten Gruppen als legitim empfunden und anerkannt (vgl. § 5.6.2.1), da besonders beim Herrnbruder Jakobus Vorbehalte zu vermuten sind (vgl. Gal 2,12). Die Berufung durch den Auferstandenen war für den ganzen Apostolat des Paulus konstitutiv: Aus ihr leitet er in Gal 1,11 f.15 f. die Autorität des von ihm verkündigten Evangeliums ab, und zwar unabhängig von den Führern der Jerusalemer Urgemeinde, die er erst drei Jahre später aufsuchte (1,18). In 2Kor 5,20 spricht er seine Adressaten als „Botschafter“ oder „Gesandter an Christi Statt“ an. In Röm 1,1 stellt er sich als „berufener Apostel“ vor, „der das Evangelium Gottes zu verkündigen“ ausgesondert ist.232 Aus der Anfangszeit nach seiner Berufung berichtet er, dass er „vierzehn Jahre“ in Syrien und Kilikien weilte (Gal 1,21). Bei diesem Gebiet handelt es sich um die Umgebung seiner Heimatstadt Tarsus, einer bedeutenden hellenistischen Metropole in Kilikien an der Südküste der heutigen Türkei, in der er nach den Angaben der Apostelgeschichte aufgewachsen ist (Apg 9,30). Nach seinem Selbstzeugnis in den Briefen stammt er aus einer streng jüdischen Familie pharisäischer Prägung.233 Nach 229
Apg 9,1–19; 22,3–16; 26,4–18; vgl. Ch. Burchard, Der dreizehnte Zeuge (Lit. § 6.4),
51 ff. 230
Phil 3,5; Apg 23,6; 26,5. Gal 1,13.23; 1Kor 15,9; Phil 3,6; Apg 8,3; 9,1.21 u. ö. 232 Zugleich beschrieb er seinen Apostolat in der Tradition alttestamentlicher Propheten, bes. Jeremias und des deuterojesajanischen Gottesknechts: „ausgesondert von Mutterleib an“ (Gal 1,15; Röm 1,1; Jes 49,1.5; Jer 1,5), „berufen“ (Gal 1,15; Röm 1,1; Jes 49,1), Auftrag für die „(Heiden-)Völker“ (Gal 1,16; Röm 1,5; Jes 49,6; Jer 1,5); vgl. K. O. Sandnes, Paul – One of the Prophets (WUNT II/43), Tübingen 1991. 233 Gal 1,13 f.; Phil 3,5 f.; 2Kor 11,22; Röm 11,1; Apg 23,6; 26,4 f.; vgl. die instruktive Einführung von J. Frey, Das Judentum des Paulus, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus (Lit. § 5), 5– 231
5.8 Die authentischen Paulusbriefe
183
Lukas besaß er das römische Bürgerrecht234 und kam zur pharisäischen Ausbildung nach Jerusalem.235 Anschließend an den syrisch-kilikischen Aufenthalt (Gal 1,21) lebte er ein ganzes Jahr (Apg 11,26) in der hellenistisch-judenchristlichen Gemeinde in Antiochien am Orontes, das ein bedeutendes Zentrum der jüdischen Diaspora war und sich zur Basis der christlichen Mission entwickelte.236 In die dortige christliche Gemeinde wurde Paulus von Barnabas aus Zypern, einem ihrer Hauptrepräsentanten, eingeführt. In Antiochien begann man nach Apg 11,26 die Anhänger Jesu abschätzig als „Christianer“ (Christianoí), d. h. Christusleute, zu bezeichnen (§ 5.6.1.1). Nach Apg 13,1–14,28 unternahm Paulus mit Barnabas von Antiochien aus eine (sog. erste) Missionsreise237 nach Zypern und in den südlichen Bereich von Kleinasien (etwa Mitte der vierziger Jahre?).238 Die Angaben in Apg 15 über den Apostelkonvent in Jerusalem (vgl. Gal 2,1–10) entstanden durch eine falsche239 Identifizierung, bei der Lukas dieses Treffen (48 n. Chr.; s. Anm. 225 f.) mit jener Zusammenkunft verwechselte, bei der Petrus, Barnabas und die antiochenischen Judenchristen das (wohl spätere) Aposteldekret beschlossen haben (Apg 15,20.29). Die in diesem Schreiben festgehaltenen Beschlüsse betrafen grundsätzlich vereinfachte Bedingungen der Gesetzesobservanz für die Heidenchristen, die das Essen von rituell geschlachtetem Fleisch (koscher) verlangten, die Abkehr vom Götzendienst, den Verzicht auf den Genuss von Blut und Ersticktem sowie die Vermeidung von Eheschließungen innerhalb der Blutsver-
43, ausführlicher zur jüdischen Identität des Paulus K.-W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel (WUNT 62), Tübingen 1992. 234 Apg 16,37 f.; 22,25.29; 23,27. 235 Apg 21,39–22,3; zu den Pharisäern s. § 6.3.4.1 Petit, zur Herkunft und Ausbildung M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 68–192. Ein niedrigerer Status des Paulus wird vorausgesetzt von E. W. Stegemann / W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, Stuttgart 1995, 258 ff. 236 Zur Bedeutung Antiochiens vgl. M. Hengel / M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 274– 461. 237 Die Zählung der Missionsreisen orientiert sich an der Darstellung der Apostelgeschichte, nach der jeweils Antiochien (13,1; 15,35; 18,22) den Ausgangspunkt bildete (13 f.; 15,36–18,22; 18,23–19,20; § 6.4.3.2). Die Zählung ist aber insofern irreführend, als Paulus sich seit seiner Berufung eigentlich ständig auf Reisen befand, die nur durch längere Aufenthalte in Antiochien (11,25 f.), Korinth (18,1–17) und Ephesus (18,23–19,20) unterbrochen waren. Außerdem kehrte er bei der dritten Reise nicht mehr nach Antiochien zurück, sondern das Ziel war Ephesus, um von dort über Griechenland nach Jerusalem und Rom weiterzureisen (19,21). 238 Vgl. G. Lüdemann, Paulus, 146. 239 Im Gegensatz zum Aposteldekret in Apg 15,29 betont Paulus, dass ihm „nichts auferlegt“ wurde (Gal 2,6b).
184
5 Die paulinischen Briefe
wandtschaft nach Lev 17 f. (§ 6.4.5.2a).240 Aus dem Selbstzeugnis in Gal 2,2.6 können wir schließen, dass Paulus bei der Entstehung dieses Dekrets nicht anwesend war und die dort formulierten Bedingungen auch nicht gebilligt hätte (§ 5.11.4a). Dem entspricht der Bericht in Apg 21,25, nach dem Paulus den Text des Aposteldekrets erst kurz vor seiner Verhaftung kennen lernte. Der Konvent befasste sich mit der Aufteilung der Missionsgebiete, um Konflikte zu vermeiden (Gal 2,3–9), und beschloss die Sammlung für die Armen in Jerusalem (Gal 2,10).241 Wie Paulus vor dem Apostelkonvent seine „gesetzesfreie“ Mission (§ 5.11.4c) bei den Heiden ohne die Vorschriften der jüdischen Tora theologisch begründete, wissen wir nicht. Er könnte seine Reise nach Zypern unerwähnt gelassen haben, weil er sie mit Barnabas unternahm, der den Standpunkt des Dekrets vertrat und mit dem er vermutlich aus diesem theologischen Grund die Zusammenarbeit abbrach.242 In Apg 15,37–39 ist der Konflikt nur aus persönlichen Problemen abgeleitet, damit das lukanische Bild einer einheitlichen Urkirche nicht gestört wird. Wir wissen also nur, dass Paulus Zypern und den Süden Kleinasiens besucht hat, und zwar vor der sog. zweiten Missionsreise. Daraus folgen weitere Konsequenzen für das Verständnis der paulinischen Theologie: c) Wahrscheinlich hat Paulus die Pistisformel (1Kor 15,3b–5), die vermutlich auf die Jerusalemer Urgemeinde zurückgeht (§ 5.6.2.1), als die für seine Verkündigung maßgebliche Gestalt des Evangeliums anerkannt (Gal 2,2–10; 1Kor 15,11; § 5.12.5a). d) Das (offensichtlich spätere) Aposteldekret (Apg 15,20.29) stellt aus paulinischer Sicht ein Dokument dar, das ein grundsätzliches Problem im Umgang von Judenund Heidenchristen in den Gemeinden wahrnahm, es aber auf eine inkonsequente Weise löste: Durch die Beschränkung auf einige Gebote, die die Juden vor der rituellen Verunreinigung bewahren sollten (s. Anm. 240), bedeutete das Aposteldekret eine Erleichterung für die Heidenchristen, erhärtete aber leider zugleich ihre zweitrangige Stellung im Volk Gottes. Außerdem schränkte es die Wahrheit des Evangeliums (Gal 2,5) ein, weil der Glaube an Christus nicht als das allein entscheidende Kriterium anerkannt, sondern mit weiteren Auflagen verbunden wurde. Paulus war überzeugt, dass solch ein Dokument der Einheit der Kirche nicht dient (§ 5.11.4). e) Von entscheidender Bedeutung für das Leben und für die Theologie des Paulus muss der Zwischenfall in Antiochien gewesen sein (Gal 2,11–14). Dort hatte Petrus sich dem Druck der um den Herrnbruder Jakobus versammelten Jerusalemer Christen gebeugt und aufgehört, mit unbeschnittenen (aber doch wohl getauften) Heiden240 Vgl. zum Aposteldekret J. Wehnert, Die Reinheit des „christlichen Gottesvolkes“ aus Juden und Heiden (WMANT 173), Göttingen 1997. 241 Vgl. 1Kor 16,1; 2Kor 8 f.; Röm 15,25–31; Apg 11,29; 12,25; 24,17. 242 Vgl. M. Öhler, Barnabas (WUNT 156), Tübingen 2003, 85 f.484 f.; ders., Barnabas (BG 12), Leipzig 2005.
5.8 Die authentischen Paulusbriefe
185
(christen) zu essen. Petrus brach im persönlichen Kontakt die Tischgemeinschaft mit Heidenchristen ab und feierte auch das Herrnmahl nicht mehr mit ihnen. Diese Spaltung belastete die Einheit der Gemeinde. f) Der Argumentation im Galaterbrief (§ 5.11.3) können wir entnehmen, dass es gerade dieser antiochenische Zwischenfall war, der Paulus später zur Ausformulierung seiner Rechtfertigungslehre inspirierte. Den Anlass bot nur indirekt die Frage nach dem Heil (Soteriologie), im Vordergrund stand die Frage nach der Einheit und dem Wesen des Volkes Gottes – die Ekklesiologie (§ 5.11.4a).243 Paulus wandte sich dagegen, dass das messianische Volk bloß aus Juden als den Nachkommen Abrahams und aus solchen Menschen bestehen sollte, die die Beschneidung vollzogen hatten und dadurch als Juden im Vollsinne galten. Seiner Meinung nach sind all diejenigen Kinder Abrahams, die wie Abraham an Gott glauben und im Glauben den Verheißungen Gottes vertrauen, die in Christus erfüllt sind (Gal 2,15–4,7). Bei der Deutung der paulinischen Theologie müssen wir uns diese ek klesiologische Ausgangsproblematik ständig vor Augen halten. Die Rechtfertigungslehre sollte die Einheit aller Christen begründen. Selbst die Einschränkung der Freiheit vom Gesetz, die mit Rücksicht auf die Schwachen in Röm 14 zum Ausdruck kommt, ist nichts anderes als eine Konsequenz der Rechtfertigung allein aus Gnade (§ 5.16.5c). Das so erworbene Heil kann anderen Menschen nicht abgesprochen werden. Über ihren Glauben kann von außen nicht entschieden werden. Eine genaue Datierung des antiochenischen Zwischenfalls ist nicht möglich. Paulus verbindet ihn sachlich eng mit seiner Bewertung des Apostelkonvents (Gal 2). Eine zeitliche Nähe ist wahrscheinlich, aber nicht beweisbar, sodass wir einen Zeitpunkt zwischen 48 und 50 n. Chr. annehmen.244 Die sog. zweite Missionsreise (Apg 15,40–18,22) unternahm Paulus mit Silas (lat. Silvanus), später schloss sich Timotheus an. Sie reisten – man vergleiche die Karte – durch das kleinasiatische Binnenland, u. a. durch Galatien (Apg 16,6). Nach Gal 4,13 f. erkrankte245 Paulus in Galatien, weshalb er längere Zeit bleiben musste. Welchen Teil von Galatien der Apostel besuchte, ist umstritten, da im Brief diesbezügliche Angaben fehlen (§ 5.11.5).246 Anschließend kam Paulus durch Troas nach Philippi in Makedonien, wo er die erste christliche Gemeinde auf europäischem Boden 243
Vgl. W. Kraus, Volk Gottes (Lit. § 5.11), bes. 202–254 (zum Galaterbrief). M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 247 f.330 f. sehen in dem „heftigen Streit“ in Apg 15,39 einen Hinweis auf den antiochenischen Zwischenfall und datieren diesen erst 2 ½ Jahre später ca. 52 n. Chr. (vgl. Apg 18,22 f.). 245 Vgl. U. Heckel, Der Dorn im Fleisch. Die Krankheit des Paulus in 2Kor 12,7 und Gal 4,13 f., ZNW 84 (1993), 65–92. 246 Daher ist auch fraglich, ob der in Gal 4,13 f. erwähnte Aufenthalt tatsächlich mit der Reise in Apg 16,16 zusammenfällt. Wenn es sich bei den Adressaten des Galaterbriefs um Hausgemeinden im südlichen Teil der römischen Provinz Galatia handelt (statt in der weiter nördlich gelegenen Landschaft Galatien; § 5.11.5), dürfte der durch die Krankheit in Gal 4,13 f. 244
186
5 Die paulinischen Briefe
gründete (Apg 16,11 ff.). Dann wirkte er in Thessalonich (Thessaloniki; Apg 17,1 ff.), von wo aus er Beröa und Athen erreichte. Athen war damals zwar nicht die Hauptstadt der Provinz Achaia (das war Korinth), bildete aber nach wie vor das kulturelle Zentrum Griechenlands. Paulus schickte Timotheus zurück nach Thessalonich, damit jener sein begonnenes Werk fortsetzt (1Thess 3,1 ff.). Er selbst zog weiter nach Korinth, wo er anderthalb Jahre (Apg 18,11) blieb, etwa 50–51 n. Chr. Dort verfasste er den ersten uns erhaltenen Brief, den 1. Thessalonicherbrief (§ 5.10.4). Zunächst verdiente er seinen Lebensunterhalt durch die Ausübung seines Handwerks (Anfertigung von Zelten aus Leder).247 Später erhielt er Unterstützung aus Makedonien, d. h. der Gemeinde in Philippi (Phil 4,15), sodass er sich stärker auf seine Missionsarbeit konzentrieren konnte (2Kor 11,9). Aus Korinth reiste Paulus Apg 18,18–22 zufolge über Ephesus und Cäsarea nach Jerusalem. So muss man den Satz über sein „Aufsteigen“ begreifen, das unter Juden ein technischer Ausdruck für eine Jerusalemreise war. Paulus selber erwähnt diesen Besuch in Jerusalem jedoch nicht und auch nach Apg 18,18.22 war das Reiseziel Antiochien. Deshalb wird jene Jerusalemreise meist als ein literarisches Mittel, also eine Fiktion, des Lukas angesehen, um die Einheit der Urkirche zu betonen, die durch die Nennung Jerusalems symbolisiert wird. In zeitlicher Nähe zu der Antiochienreise, von der die Apostelgeschichte berichtet, weilte Paulus noch ein zweites Mal in Galatien (Apg 18,23; vgl. 16,6).248 Bald darauf kam er (etwa im Jahr 53) nach Ephesus,249 wo er mehr als zwei Jahre verbrachte (ca. 53–55 n. Chr.; Apg 19,8.10; 20,31). Das war die sog. dritte Missionsreise (Apg 18,23– 19,20). Sehr wahrscheinlich schrieb er von dort aus etwa 54 n. Chr. den Galaterbrief (Frühdatierung),250 als er erfuhr, dass die Gemeinden in Galatien unter den Einfluss christlicher Judaisten gerieten (§ 5.11.5). Von Ephesus aus kor respondierte er auch mit der korinthischen Gemeinde. Damals entstanden der verlorene Vorbrief (1Kor
erzwungene (Gründungs)-Aufenthalt sich schon auf der sog. ersten Missionsreise (Apg 13 f.) ereignet haben. 247 Apg 18,3; vgl. 1Kor 4,12; 9,6–18; 1Thess 2,9. 248 Dass Paulus nach Apg 16,6 und 18,23 zwei Mal in Galatien weilte, könnte auch aus der Wendung „tó próteron“ in Gal 4,13 f. gefolgert werden. Diese Kombination setzt jedoch die Landschaftshypothese voraus, die heute zunehmend abgelehnt wird (§ 5.11.5). Sie ist auch sprachlich nicht zwingend, da im hellenistischen Griechisch „das erste von beiden Malen“ in der Regel „prṓtos“ heißt, während das in Gal 4,13 gebrauchte „tó próteron“ meist nur noch „früher“ bzw. „das einzige frühere Mal“ meint. Demnach müssen „die Gemeinden in Galatien“ (Gal 1,2) auf der sog. ersten Missionsreise gegründet worden sein (vgl. R. Riesner, Frühzeit [Lit. § 5.8.1], 258). 249 Vgl. P. Trebilco, The Early Christians in Ephesus, 53–196. 250 Größerenteils wird jedoch eine Spätdatierung des Galaterbriefs auf der Reise durch Makedonien und Griechenland (Apg 20,1 f.) kurz vor der Abfassung des Römerbriefs vertreten.
5.8 Die authentischen Paulusbriefe
187
5,9) und der 1. Korintherbrief (§ 5.13.2). Vermutlich von Ephesus aus schrieb er – wenn die Annahme einer ephesinischen Gefangenschaft zutrifft – als Gefangener ebenso den Brief an Philemon (§ 5.15.2) und vor seiner erwarteten Freilassung den Brief an die Philipper (§ 5.14.7).251 Da Paulus sich in Phlm 9 als „alten Mann“ (presbýtēs) bezeichnet, d. h. als etwa 60-Jährigen, muss er um die Zeitenwende geboren sein. Von einem Gefängnisaufenthalt in Ephesus berichten zwar weder die Apostelgeschichte noch das paulinische Selbstzeugnis, aber mindestens eine seiner Verhaftungen, die in 2Kor 6,5; 11,23 erwähnt sind, dürfte mit Ephesus in Zusammenhang stehen (§ 5.14.7). Vor der Abfassung des 2. Korintherbriefs (§ 5.13.2) muss Paulus etwa 55 n. Chr. noch einmal über Makedonien (1Kor 16,5; Apg 19,21) und Illyrien (Röm 15,19?) zu einem zweiten Besuch nach Korinth gereist sein (2Kor 2,1 ff.; vgl. 12,14; 13,1 f.).252 Während dieses turbulenten Aufenthalts bewältigte er die dortige Situation nicht – der sog. Zwischenbesuch verlief „betrüblich“ (2Kor 2,1: en lýpē). Deshalb verfasste er nach seiner Rückkehr nach Ephesus „unter vielen Tränen“ einen (nicht erhaltenen) Brief, den sog. Tränenbrief (2Kor 2,4). Nur wenig später beschloss er, nach Jerusalem zu gehen, um die Kollekte für die Armen zu übergeben (Apg 19,21). Von Ephesus brach er jedoch nicht direkt nach Jerusalem auf, sondern reiste zunächst nach Makedonien (Philippi) und stand durch Titus mit der korinthischen Gemeinde in Verbindung (2Kor 2,12 f.; 7,6.13 f.). Nachdem Paulus von ihm gute Nachrichten aus Korinth empfangen hatte, schrieb er einen versöhnenden Brief (2Kor 1 – 9 oder 1 – 7). Als er im darauffolgenden Jahr wieder beunruhigende Berichte erhielt, schickte er einen Kampfbrief nach Korinth (2Kor 10 – 13) und besuchte relativ bald die dortigen Christen zum dritten und letzten Mal (2Kor 12,14; 13,1; Apg 20,3:253 „drei Monate“). Das Verhältnis zwischen Paulus und der Gemeinde besserte sich, und die Korinther beteiligten sich an der Kollekte für Jerusalem (Röm 15,26). Während dieses dritten Korinthaufenthalts schrieb Paulus 56 n. Chr. den Römerbrief (Röm 16,1; § 5.16.3). In der Apostelgeschichte lesen wir von seiner Reise über Troas, Milet und Cäsarea nach Jerusalem (Apg 20,1 ff.). Weitere Nachrichten gibt es von dieser Reise nicht. Doch wird in dieser Zeit vielfach die Abfassung des Galaterbriefs angenommen (Spätdatierung; § 5.11.5). In Jerusalem wurde Paulus mit Verlegenheit aufgenommen, wie sogar aus dem harmonisierenden Bericht der Apostelgeschichte hervorgeht
251
Die beiden Gefängnisbriefe wurden nach einigen byzantinischen Handschriften mit der Gefangenschaft in Rom oder nach einer mittelalterlichen Überlieferung auch in Cäsarea in Verbindung gebracht (§ 5.14.7; 5.15.2). 252 Nach M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 475, und U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 43.45, fand diese Reise im Jahr 56 oder 55 statt. 253 So die Zuordnung von Apg 20,3 bei C. K. Barrett, ICC, 946.
188
5 Die paulinischen Briefe
(„Was nun?“; Apg 21,22a).254 Nach seiner Verhaftung wurde er nach Cäsarea eskortiert und dort während der langen Haft mehrmals verhört.255 Die Apostelgeschichte begründet seine Entsendung nach Rom damit, dass er als römischer Bürger (s. Anm. 234 f.) das kaiserliche Gericht anrufen konnte (Apg 25,11.25; 26,32). Apg 28,30 berichtet von seiner zweijährigen Gefangenschaft in Rom, während der er „ungehindert“ seine Verkündigung fortsetzen konnte. Was danach geschah, wissen wir nicht. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass Paulus im Zuge der Christenverfolgung durch Nero (54–68 n. Chr.) etwa im Jahr (62 oder) 64 n. Chr. ums Leben kam (1Clem 5,5– 7).256 Der 1. Clemensbrief (ca. 96–100 n. Chr.) setzt voraus, dass Paulus während seines Aufenthalts in Rom für einige Zeit aus der Haft entlassen wurde und als Missionar „die Grenze des Westens“ erreichte (1Clem 5,7). Es handelt sich dabei allerdings um einen Hinweis, der von den Worten des Paulus in Röm 15,28 über seine geplante Spanienreise abgeleitet sein könnte. Aus der Abschiedsrede des Paulus in Apg 20,24.37 f. geht hervor, dass Lukas vom Tod des Paulus in Rom wusste. Eine Unterbrechung der römischen Haftzeit würde einen Zeitraum für die Einordnung der Briefe öffnen, die wir in den bisher bekannten Abschnitten seines Lebens kaum unterbringen können und die theologisch anders gestaltet sind (bes. die Pastoralbriefe). Dabei handelt es sich allerdings nur um Vermutungen, welche die kirchliche Tradition der paulinischen Verfasserschaft unterstützen sollen (§ 8.4.2). Daraus ergibt sich die folgende chronologische Übersicht zur Biographie des Paulus, bei der alle Datierungen auf Schätzungen beruhen und mit Schwankungen von etwa zwei bis drei Jahren zu rechnen ist. Kursiv markiert ist die Abfassung der einzelnen Paulusbriefe (s. S. 189). Für das Verständnis der paulinischen Theologie sind aus der Biographie des Paulus noch zwei weitere Umstände von Bedeutung: g) Paulus war überzeugt, dass er durch seine universale missionarische Tätigkeit am Heilsplan Gottes teilnimmt. Diese Tätigkeit betrachtete er als die nachösterliche Gestalt der alttestamentlichen Erwartung einer Völkerwallfahrt nach Jerusalem zum Berg Zion.257 Er verstand sich als „Diener Christi Jesu für die Heiden“ (Röm 15,16; vgl. 11,13), bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt (11,25). Seine Sendung zu den Heiden258 leitete er von seiner Bekehrung ab, von der er stets als seiner Berufung 254
K. Haacker, The Theology of Paul’s Letter to the Romans, 12 f. Einer mittelalterlichen Tradition zufolge, die in den Nachworten mehrerer byzantinischer Handschriften erhalten ist, schrieb er in Cäsarea die Gefangenschaftsbriefe an die Philipper und an Philemon. Für Cäsarea als Abfassungsort zumindest des Philemonbriefs plädiert C.-J. Thornton, Zeuge des Zeugen (Lit. § 6.4), 201–207.212. 256 Vgl. F. W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus (BZNW 106), Berlin u. a. 2001. 257 Jes 2,2–4; 11,10; 60,11–14; Sach 8,20–22; 14,16 f. u. ö. 258 Gal 1,15 f.; 2,8; Röm 15,18 f.; vgl. Röm 1,5. 255
5.8 Die authentischen Paulusbriefe
189
um die Zeitenwende Geburt in Tarsus in Kilikien (Apg 9,11; 21,39; 22,3) mit römischem Bürgerrecht (Apg 16,37f.; 22,25.29; 23,27) in einer streng jüdischen Familie (Röm 11,1; Phil 3,5f.; Apg 23,6; 26,4f.) Ausbildung als Pharisäer (Phil 3,5f.; Apg 23,6) in Jerusalem (Apg 26,4f.) 30 n. Chr. Kreuzigung Jesu Verfolger der Gemeinde (1Kor 15,9; Gal 1,13.23; Phil 3,6; Apg 8,3; 9,1 u. ö.) ca. 33 Bekehrung bei Damaskus (Gal 1,11–17; 1Kor 9,1; 15,8–10; Apg 9 u. ö.) ca. 33–36 Arabien (Gal 1,17) ca. 36 Kurzbesuch bei Petrus in Jerusalem (3 Jahre nach der Bekehrung; Gal 1,18– 20; Apg 9,26–30) ca. 36–39 Mission in Syrien und Kilikien (Gal 1,21; Apg 9,30) ca. 40–41 Antiochien (ein volles Jahr mit Barnabas; Apg 11,25f.) ca. 41–48 Kollegialmission mit Barnabas u. a. in Syrien, Phönizien und Kilikien ca. 46–47 sog. 1. Missionsreise nach Zypern, Kilikien und Südgalatien (Apg 13–14) 48 Apostelkonvent in Jerusalem (Gal 2,1–10 [14 Jahre nach dem Kurzbesuch]; Apg 15,1–35) ca. 48–50 Zwischenfall in Antiochien bei Frühdatierung (?) (Gal 2,11–14) 49 Claudiusedikt (Aquila und Priszilla nach Korinth; Apg 18,2) 49–51 2. Missionsreise nach Kleinasien (Galatien) und Griechenland mit Silas und Timotheus, beginnend mit der Trennung von Barnabas (Apg 15,36 – 18,22) Herbst 50–51 Korinth (Gründung, eineinhalb Jahre; Apg 18,1–17): 1Thess 52
Gallio-Inschrift (vgl. Gallio 51 n. Chr. in Apg 18,12ff.)
ca. 52 53–55
(Antiochenischer Zwischenfall bei Spätdatierung?; Gal 2,11–14) 3. Missionsreise mit zweijährigem Aufenthalt in Ephesus (Apg 18,23– 19,20 bzw. 21,14): Gal bei Frühdatierung (?); 1Kor; Phlm; Phil (?) 2. „betrüblicher“ (Zwischen-)Besuch in Korinth (2Kor 2,1: „en lýpē“) und Rückkehr nach Ephesus: 2Kor Makedonienreise – (Gal bei Spätdatierung?) – mit 3. Korinthbesuch (2Kor 12,14; 13,1; Apg 20,2f.: drei Monate): Röm Verhaftung in Jerusalem und Gefangenschaft in Cäsarea (Apg 21–26) Überführung nach Rom (Apg 27f.): (Phil?) Spanienreise? (Röm 15,24.28; 1Clem 5,7) Tod in den Christenverfolgungen durch Nero (Apg 20,24f.37f.; 1Clem 5,5– 7)
55 56 57 59 62 (62 oder) 64
redet.259 Die Sammlung des Volkes Gottes ist nach paulinischer Auffassung jedoch nicht israelzentrisch auf den Berg Zion ausgerichtet, sondern geschieht überall dort, wo der lebendige Herr (kýrios) präsent ist, d. h. in der ganzen bewohnten Welt. Dennoch ist die paulinische Mission nicht als eine allumfassende Werbung zu begreifen. Sie zielt auf die Bildung stabiler Gemeinden, in denen der erhöhte Herr durch alle
259
Vgl. die Wortfamilie „kaleín“ (Gal 1,15; vgl. Röm 1,1; 1Kor 1,1).
190
5 Die paulinischen Briefe
seine Gnadengaben wirksam ist. Die Gründung solcher Gemeinden betrieb der Apostel vor allem in den Provinzhauptstädten (Antiochien, Ephesus) und vergleichbaren Zentren (Korinth) bis hin zur Hauptstadt des römischen Reichs.260 Deswegen konnte Paulus sagen, dass er in dem ganzen Bereich von Jerusalem bis Illyrien das Evangelium voll ausgerichtet habe (Röm 15,19), obwohl er nur eine begrenzte Anzahl an Gemeinden gründen konnte.261 Der Aufbau von Hausgemeinden und das Zeugnis von Person zu Person ist Sache der einzelnen Christen. Der Apostel war allerdings bemüht, lebensfähige Gemeinden zu gründen, die die Einheit des Glaubens leben. Sie sollten die Hoffnung der Christen auf die Vollendung der Gemeinschaft mit Christus durch das Feiern des Herrnmahls (1Kor 11,17–34; § 5.6.2.3d) vorwegnehmen, aber auch durch ihr ganzes Leben vor der Mitwelt demonstrieren. h) Paulus schrieb seine Briefe in rascher Abfolge zwischen 50 und 56 (bzw. 60)262 n. Chr. Alle entstanden nach dem Apostelkonvent (48 n. Chr.) und dem Zwischenfall in Antiochien, alle behandelten die dadurch entstandenen Probleme. Nur der erste Thessalonicherbrief wurde vor der Ausformulierung der paulinischen Rechtfertigungslehre geschrieben, die erst im Galaterbrief erfolgte. Die meisten Briefe, die unbestritten Paulus zugeschrieben werden (sog. Homologumena), sind relativ leicht in seine Biographie einzuordnen. Ihrer Entstehung nach geordnet, ergibt sich mit kleinen Unterschieden nachstehende Reihenfolge: entweder: 1Thess – Gal (?) – 1-2Kor (ursprünglich mehrere Briefe) – Röm oder auch: 1Thess – 1-2Kor – (Gal?) – Röm
Dagegen sind der Philipperbrief (vielleicht eine Briefsammlung; § 5.14.2) und der Brief an Philemon schwer zu datieren (§ 5.14.7; 5.15.2). Auch wenn die Briefe meist konkrete Fragen behandeln und nur der Römerbrief einen Gesamtüberblick über die paulinische Theologie bieten soll, ist davon auszugehen, dass alle Äußerungen von einer in sich konsistenten theologischen Grundeinstellung abgeleitet sind. Von einem tiefen Meinungswechsel etwa in den eschatologischen Vorstellungen oder der Rechtfertigungslehre ist im Denken des Paulus nichts zu beobachten, wenn er auch einige Gedanken mit der Zeit weiter entfaltet hat. i) Die These vom Heil des Menschen, das aus der Gnade Gottes resultiert und in Christus endgültig offenbart wurde, bildet das Zentrum der paulinischen Theologie, den Kern seiner Rechtfertigungslehre. In der heutigen Alltagssprache wird mit dem Begriff der „Rechtfertigung“ meist assoziiert, dass jemand sich für ein (Fehl-)Verhalten rechtfertigen will oder muss. Bis ins 17. Jh. bezeichnete das Wort einen gerichtlichen Prozess, aber auch die Verteidi260 261 262
Vgl. § 5.14.2; 5.16.2; 5.16.4. Vgl. M. Hengel, Die Ursprünge der christlichen Mission, NTS 18 (1971/72), 15–38. So, falls der Philipperbrief in Rom verfasst sein sollte (s. Anm. 251).
5.8 Die authentischen Paulusbriefe
191
gung, die Verurteilung oder den Freispruch. Daher dient der Begriff seit Martin Luthers reformatorischer Entdeckung in einem theologisch qualifizierten Sinn als Bezeichnung für die Rechtfertigung des Gottlosen, d. h. für die Gerechterklärung des Sünders im göttlichen Gericht: Allein aus Gnade wird der Mensch vor dem zu erwartenden eschatologischen Gericht Gottes freigesprochen („gerechtfertigt“). Durch die Gnade Gottes ist er ein Gerechtfertigter, kann er im Gericht bestehen und wird vor Gott für gerecht befunden. In dieser konkreten Bedeutung wird der Terminus Rechtfertigung auch in der Literatur zur paulinischen Theologie für die Gerechterklärung des Sünders durch die göttliche Gnade gebraucht. Die „Gnade“ (cháris) erklärt Paulus zum theologischen Leitmotiv und eigentlichen Beweggrund für das göttliche Heilshandeln in Christus (Röm 3,24; 5,12–21). Der Glaube beruht auf der aus Gnade gewährten Zueignung des Todes Jesu, der als universales Opfer für alle Menschen interpretiert wird (Röm 3,25; 5,8).263 Durch die Rechtfertigung hat der Sünder Frieden mit Gott und einen neuen Zugang zur Gemeinschaft mit ihm (Röm 5,1 ff.). Die Rechtfertigung hat nicht nur eine forensische (gerichtliche), die Gerechtigkeit zurechnende, gerechtsprechende Bedeutung, sondern auch eine effektive, gerechtmachende Wirkung (§ 5.16.5a.b). In der Taufe wird das in Christus gestiftete Heil mit dem Leben eines Einzelnen unlöslich verbunden (Röm 6; § 5.6.2.2d) und in der Gemeinde durch jede Feier des Herrnmahls (§ 5.6.2.3) mit dem Evangelium von der Auferstehung neu vergegenwärtigt, bis der erhöhte Herr am Ende der Zeiten wiederkommt (1Kor 10,16 f.; 11,23–26). Erstmals entfaltet hat Paulus seine Rechtfertigungslehre im Galaterbrief (§ 5.11.3– 4). Später hat er sie im Römerbrief in der Rede von der „Gerechtigkeit Gottes“ (Röm 1,17; 3,21–26) umfassend auf den Begriff gebracht: Durch das Heilshandeln in Christus hat Gott seine Gerechtigkeit erwiesen, dass er selbst gerecht ist und den gerecht macht, der aus dem Glauben an Jesus lebt (§ 5.16.5a). Die Bedeutung der „Gerechtigkeit Gottes“ und den Sinn der Rechtfertigungslehre werden wir im Zusammenhang des Galater- und des Römerbriefs ausführlicher darlegen. Bei der Rechtfertigungslehre handelt es sich keineswegs um einen „Nebenkrater“ der paulinischen Theologie, der in einer besonderen Kampfsituation entstanden sei, wie es William Wrede (1904) und nach ihm auch Albert Schweitzer (1930) behauptet haben.264 Eine neue Kontroverse zur Rechtfertigungslehre lösten in jüngerer Zeit Ed P. Sanders 263 Zu Röm 3,25 s. W. Kraus, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe (WMANT 66), Neukirchen-Vluyn 1991. 264 Vgl. W. Wrede, Paulus (1904), zuletzt in: K. H. Rengstorf (Hg.), Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung (WdF 24), Darmstadt 1964, 1–98, dort 92, und ähnlich A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930, 220 (Rechtfertigungslehre als Nebenkrater). Wrede erkennt zwar die Bedeutung des antiochenischen Konflikts (67 ff.), er unterschätzt allerdings die Tragweite der Konsequenzen, die Paulus daraus abgeleitet hat. Vgl. kritisch z. B. E. Jüngel, Paulus und Jesus (HUTh 2), Tübingen 1962, 17 ff.; H. Hübner, Das Gesetz bei Paulus (FRLANT 119), Göttingen 1978.
192
5 Die paulinischen Briefe
(1977) und Heikki Räisänen (1983; 21987) als Vertreter einer „New Perspective on Paul“ aus.265 Diese kritisierten die von Luthers Rechtfertigungsverständnis geprägte reformatorische Auslegungstradition. Dafür fragten sie – in einer berechtigten und seit dem Holocaust erst recht überfälligen Kritik an den antijudaistischen Tendenzen älterer Darstellungen – neu nach den jüdischen Voraussetzungen im Verständnis des Gesetzes und sahen die maßgebliche Struktur im Bundesnomismus (covenantal nomism).266 Nach diesem Ansatz dürfen die Fragen von Gesetz und Gehorsam nicht polemisch als „Gesetzlichkeit“ oder „Werkgerechtigkeit“ und Leistungsreligion abgetan werden, durch die der Mensch sich sein Heil „verdient“. Vielmehr wird die Tora jüdischem Selbstverständnis entsprechend betrachtet und innerhalb des Bundes Gottes mit Israel begriffen, d. h. unter dem Vorzeichen der göttlichen Erwählung, Gnade und Barmherzigkeit, die auch die Sühnemittel für die Übertretungen des Menschen einschließt. Nach dieser neuen Einsicht soll der Mensch sich durch seine Werke nicht die Gerechtigkeit verdienen, sondern den von Gott zuvor gestifteten Bund bewahren, indem er die göttlichen Gebote hält. Demnach hätte auch Paulus eine innerhalb des Judentums annehmbare Position vertreten. Da nur relativ wenige Juden Christen geworden sind, müssen wir jedoch damit rechnen, dass seine Christusverkündigung einem tieferen Umbruch bedeutete, als die Vertreter der „New Perspective“ annehmen. Dennoch bleibt als Ertrag dieser Kontroverse festzuhalten, dass angesichts der unterschiedlichen Frontstellung sehr viel sorgfältiger differenziert werden muss zwischen der reformatorischen Polemik gegen jede Art von menschlicher Werkgerechtigkeit und der paulinischen Kritik an der Heilsnotwendigkeit von Werken wie der Beschneidung, die die Tora zu tun verlangt. Das Judentum als Religion der „Werkgerechtigkeit“ und das Gesetz als „Heilsweg“ zu bezeichnen, hat sich als Zerrbild erwiesen, das nicht mehr aufrecht zu erhalten ist, weil es dem jüdischen Selbstverständnis nicht entsprach.267 Außerdem gilt es terminologisch zu bedenken, dass das Wort „Gesetz“ im Deutschen an265
Der Begriff stammt von J. D. G. Dunn, The New Perspective on Paul, BJRL 65 (1983), 95–122; ders., The New Perspective on Paul (WUNT 185), Tübingen 2005; zur Sache vgl. E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, London / Philadelphia, PA 1977, bes. 438 (DÜ: Paulus und das antike Judentum [StUNT 17], Göttingen 1985); H. Räisänen, Paul and the Law (WUNT 29), Tübingen 21987, 266 ff., aber auch die ganz unterschiedliche Kritik von H. Hübner, ThLZ 110 (1985), 894–895; T. E. van Spanje, Inconsistency in Paul? A Critique of the Work of Heikki Räisänen (WUNT II/110), Tübingen 1999; L. Thurén, Derhetorizing Paul. A Dynamic Perspective on Pauline Theology and the Law (WUNT 124), Tübingen 2000. 266 Zur Angemessenheit des Begriffs „Bundesnomismus“ vgl. F. Avemarie, Bund als Gabe und Recht, in: ders. / H. Lichtenberger (Hg.), Bund und Tora (WUNT 92), Tübingen 1996, 163–216, sowie zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur grundlegend F. Avemarie, Tora und Leben (TSAJ 55), Tübingen 1996. 267 Vgl. die Diskussion bei E. Lohse, KEK 4, 140–145, oder J. Frey, Das Judentum des Paulus, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus (Lit. § 5), 35–42; Vgl. auch Anm. 264 sowie ausführlicher D. A. Carson u. a. (Hg.), Justification and Variegated Nomism II. The Paradoxes of Paul (WUNT II/181), Tübingen 2004, die theologie- und forschungsgeschichtlich umfassende Gesamtdarstellung von S. Westerholm, Perspectives Old and New on Paul. The “Lutheran“ Paul and His Critics, Grand Rapids, MI 2004, zur gegenwärtigen Diskussion M. Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive (WUNT 182), Tübingen 2005; W. Härle, Paulus und Luther. Ein kritischer Blick auf die „New Perspective“, ZThK 103 (2006), 362–393.
5.8 Die authentischen Paulusbriefe
193
dere Assoziationen weckt als die jüdische Rede von der „Tora“ (Unterweisung). Paulus verwendet den Begriff „nómos“ in unterschiedlicher Weise, und zwar meist für die Tora, die Mose mit dem Dekalog268 auf dem Sinai von Gott empfangen hat (Ex 20),269 aber auch für die jüdische Schrift (das Alte Testament) als ganze,270 für den Pentateuch271 oder in einem allgemeinen Sinn von „Gesetzmäßigkeit, Ordnung, Regel, Norm“.272
Aufs Ganze gesehen hat die Diskussion um die Neue Paulusperspektive (s. Anm. 265) durch das intensivierte Fragen nach der Bedeutung von Bund und Tora ohne Zweifel zu einem besseren Verständnis des jüdischen Hintergrunds beigetragen. Dennoch vermochte die Kritik an der paulinischen Rechtfertigungstheologie aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen. Vor allem bei den von Paulus herangezogenen Zitaten, Redewendungen und Vorstellungen ist feiner zu differenzieren zwischen dem jüdischen Verständnis und der paulinischen Rezeption. Beim Galaterbrief werden wir sehen (§ 5.11.1; 5.11.3–4), dass z. B. die Bedeutung der Tora in den alttestamentlichen Schriften und der jüdischen Auslegung zur Zeit des Neuen Testaments rekonstruiert werden muss, bevor wir sie – in einem zweiten Schritt – mit dem paulinischen Gesetzesverständnis vergleichen und seine christologisch begründete Kritik nachvollziehen können. Deshalb muss die neutestamentliche Exegese nicht nur nach dem jüdischen Selbstverständnis fragen, sondern auch dem Argumentationsgefälle der paulinischen Briefe gerecht werden. Außerdem darf die exegetische Rekonstruktion des von Paulus intendierten Textsinns nicht unreflektiert mit den heute notwendigen Aufgaben des jüdisch-christlichen Dialogs vermengt werden, der noch weitere Überlegungen erfordert. Die bedeutendsten geistesgeschichtlichen Entdeckungen entstehen meist in Auseinandersetzungen – im Streit um Konkretes, wie es bei Paulus der antiochenische Zwischenfall (Gal 2,11–14) mit sich brachte. Dort erlebte der Apostel eine ungeeignete Art des Zusammenlebens von getauften Juden und getauften Heiden, die die Einheit der Kirche bedrohte. Der Zwischenfall in Antiochien bildete die negative Voraussetzung zur späteren Ausformulierung der Rechtfertigungslehre. Diese ist keine Spätfrucht des Paulus, sondern die konsequente Entfaltung seines theologischen Denkens. Ihre grundlegende Bedeutung bezeugt die Erzählung von jenem Zwischenfall, die im Galaterbrief erst aus einem größeren zeitlichen Abstand erfolgt und die Darlegung der Rechtfertigungslehre einleitet. Nachdem Paulus vor der Abfassung des Galaterbriefs neue Nachrichten über die Judaisten bekommen hatte, zog 268
Vgl. Röm 2,21 f.; 7,7–12 (begehren); 13,8–10. Röm 2,12 ff.25; 3,20 f.28; 4,13 f.15b; 5,13.20; 6,14f.; 7,1.8 f.; Gal 3,17.19 u. ö.; vgl. Röm 9,4 (nomothesía). 270 Röm 3,19 (Abschluss der Zitatensammlung); 3,31; 1Kor 9,8; 14,21 (Zitat Jes 28,11 f.); 14,34 (vgl. Gen 3,16); Gal 4,21b (Abrahamsgeschichte); vgl. Joh 10,34; 12,34; 15,25 (§ 2.1.1). 271 1Kor 9,9 („Gesetz des Mose“ mit Zitat Dtn 25,4); Gal 3,10b („Buch des Gesetzes“); vgl. neben den Propheten Röm 3,21 (§ 2.1.1). 272 Röm 3,27; 7,21.23.25; 8,2. 269
194
5 Die paulinischen Briefe
er aufgrund der Erfahrung aus dem antiochenischen Konflikt neue, radikale Folgerungen im Sinn der Rechtfertigung allein durch den Glauben. Er formulierte theologische Gedanken, die über seine Zeit hinaus von großer Relevanz sind. Die Rechtfertigungslehre wird in 2Kor 5–6 als Versöhnung neu interpretiert (§ 5.13.3.1c) und bildet bei den Starken und Schwachen in 1Kor 8 (§ 5.12.1) oder Röm 14 (§ 5.16.5a.c) die theologische Basis für die Paränese, in der gerade die in Christus geschenkte Freiheit Kompromisse erlaubt. Deshalb können Streit und Ärgernis innerhalb der christlichen Gemeinde vermieden werden.
5.9
Das paulinische Briefkorpus
Literatur s. § 8.1
Das Problem der Sammlung und Kanonisierung der paulinischen Briefe gehört eigentlich in das Kapitel über die deuteropaulinischen Schriften (§ 8.1) und die Kanongeschichte (§ 3.4).273 Da mit ihm jedoch auch Konsequenzen für die Frage der Integrität der paulinischen Briefe verbunden sind, ist es sinnvoll, einige Bemerkungen an dieser Stelle der Behandlung der paulinischen Briefe vorauszuschicken. Erst in der Zeit nach dem Fall Jerusalems (70 n. Chr.) gewann die paulinische Theologie Anerkennung in breiteren Kreisen der Christenheit.274 Damals beherrschten die Pharisäer die Synagogen und versuchten, die Christen aus ihrer Gemeinschaft herauszudrängen (§ 5.4; 6.3.4.1). Zwischen der Zerstörung Jerusalems und dem Wirken des Apostels lag der Jüdische Krieg (66–70 n. Chr.). Als die große Katastrophe des jüdischen Volks hatte er Folgen, die auch das Leben der Synagogen in der Diaspora veränderten. Wir wissen nicht, wie dicht vor dem Fall Jerusalems das Netz der paulinischen Gemeinden bzw. der Paulusschüler in den christlichen Gemeinden war. Jedenfalls waren sie die ersten, die die Synagogen verlassen mussten. In der Zeit nach 70 wuchs der Einfluss der Paulusschüler in den christlichen Gemeinden. Ihre zunehmende Bedeutung in der Kirche muss mit der Sammlung der Briefe des Paulus verbunden gewesen sein. Paulus selbst besaß aufgrund seiner vielen Reisen kaum ein Archiv seiner Korrespondenz, und in den bewegten Zeiten gingen sicher auch einige seiner Schreiben verloren. In 1Kor 5,9 (sog. Vorbrief) und 2Kor 2,4 (sog. Tränenbrief) werden zwei Briefe erwähnt, die nicht erhalten sind. Bei der Zusammenstellung des Corpus Paulinum standen den Redaktoren von einigen Briefen wahrscheinlich nur Kopien zur Verfügung. Von manchen Briefen mögen sogar bloß Fragmente erhalten geblieben sein, für die es jedoch keine Belege gibt. Wir 273
Vgl. zur Einführung den Exkurs bei U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 395–410 (Lit.). Paulus selber war in seinen Gemeinden durchaus umstritten und hatte insbesondere in Galatien (§ 5.11.3), Korinth (§ 5.12.4; 5.13) und Philippi (§ 15.4.3) auch starke Gegner. 274
5.9 Das paulinische Briefkorpus
195
müssen also damit rechnen, dass die Paulusschüler der zweiten und dritten Generation versuchten, die Methoden der Redaktion der Korrespondenz bekannter Autoren ihrer Zeit nachzuahmen. Auch Philosophenschüler haben die Briefe ihrer Lehrer gesammelt.275 Leider sind nicht viele solcher Sammlungen mit dem Corpus Paulinum vergleichbar. Entweder handelt es sich um Sammlungen, die mehrere Generationen nach dem Tode der Verfasser entstanden (Plato), oder um Ausgaben, die die Autoren mitgestalteten (Cicero), oder um verlorene und uns nicht mehr zugängliche Editionen (Epikur). Die Eingriffe der Redaktoren sind durch didaktische, literarische, philosophische und unter den Christen selbstverständlich durch theologische und liturgische Interessen motiviert. Gesichtspunkte, die den heutigen Kriterien einer historisch-kritischen Textausgabe entsprechen und mit deren Hilfe die Authentizität bzw. Ursprünglichkeit einer Schrift beurteilt werden soll, fallen kaum ins Gewicht. Für eine redaktionelle Arbeit an den paulinischen Briefen spricht vor allem die Tatsache, dass mit Ausnahme der zwei Korinther- und Thessalonicherbriefe an jeden Ort jeweils nur ein Brief adressiert ist. Beim 2. Thessalonicherbrief handelt es sich wahrscheinlich um ein späteres Werk eines Schülers (§ 8.3.3). Der 2. Korintherbrief ist ein gutes Beispiel für eine aus mehreren Brieffragmenten bestehende literarische Einheit (§ 5.13.2). Spuren redaktioneller Arbeit weist möglicherweise der Philipperbrief auf (§ 5.14.2). Zur redaktionellen Arbeit gehörte vermutlich auch die Zusammenstellung von Sammlungen, die eine symbolische Zahl an Briefen (bes. 3 oder 7) enthielten.276 Die deuteropaulinischen Briefe (die zum Kanon gehörenden paulinischen Pseudepigraphen) sind fast zeitgleich mit den authentischen Paulusbriefen in Form von Zitaten und Anspielungen in der frühchristlichen Literatur nachweisbar, besonders bei Ignatius (110–114 n. Chr.).277 Diese Tatsache bezeugt, dass die Deuteropaulinen bereits am Anfang des 2. Jh.s zu den Sammlungen der Paulusbriefe gehörten, aus denen das heutige Corpus Paulinum entstand. Die Arbeit der Redaktoren trug also zur Anerkennung und späteren Kanonisierung der deuteropaulinischen Schriften bei. Mit den Problemen der kanonisierten Pseudepigraphie werden wir uns unter literarischen und theologischen Gesichtspunkten befassen (Exkurs 10). Im Einzelnen sind die Probleme der möglichen redaktionellen Arbeit am sinnvollsten im Zusammenhang mit den jeweiligen Briefen zu besprechen. Schon jetzt müssen wir allerdings darauf aufmerksam machen, dass die Grenzen zwischen re275
Vgl. M. L. Stirewalt, Studies, 34 ff. (Lit. § 5). Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Gruppe der paulinischen Briefe, die sich später als Kern des Korpus durchsetzte, sieben Briefe enthielt (1–2Kor, Gal, Phil, 1–2Thess, Röm). Genauso enthielt die Johannesoffenbarung sieben Briefe an die Gemeinden (Apk 2–3), und später gab es sieben Briefe des Ignatius. Die drei Pastoralbriefe bildeten eine selbstständige Einheit, ähnlich die drei Johannesbriefe. 277 Vgl. das Verzeichnis bei A. Lindemann / H. Paulsen, Die Apostolischen Väter (Lit. § 12c), 568. 276
196
5 Die paulinischen Briefe
daktionellen Nähten und rhetorischem Stilwechsel oft fließend sind. Methodisch ist bis zum Erweis des Gegenteils von der Einheitlichkeit und Ursprünglichkeit des gegebenen Texts auszugehen. Die Vermutung muss zunächst immer für die Gültigkeit des vorliegenden Texts sprechen. Zu der Annahme eines redaktionellen Eingriffs sind wir nur dann berechtigt, wenn andere Möglichkeiten der Deutung unverständlicher Stellen ausgeschöpft sind. Anders gesagt: Die Annahme einer redaktionellen Operation darf nie zur Erleichterung der exegetischen Arbeit oder zur Einebnung theologischer Probleme dienen. Nur dort, wo der untersuchte Text widersprüchlich ist und wo eine vorgeschlagene Konjektur wirklich hilfreich wäre, darf sie ernsthaft erwogen werden.278 Jede andere mutmaßliche Textverbesserung kann das Missverständnis noch steigern. Die Grenzen unserer Rekonstruktionsmöglichkeiten anzuerkennen, ist immer weniger gefährlich, als sich auf hypothetische Konstruktionen einzulassen (§ 1.4).279
5.10
Der 1. Thessalonicherbrief
Kommentare: Martin Dibelius, HNT 11, 31937; Christian Masson, CNT, 1957; Willi Marxsen, ZBK 11.1, 1979; Traugott Holtz, EKK 13, 21990; I. Howard Marshall, NCBC, 1983; Charles A. Wanamaker, NIGTC, 1990; Eckart Reinmuth, NTD 8,2, 1998; Abraham J. Malherbe, AncB 32B, 2000. Monographien und Aufsätze: Wolfgang Harnisch, Eschatologische Existenz (FRLANT 97), Göttingen 1973; Abraham J. Malherbe, Exhortation in First Thessalonians, NovT 255 (1983), 238–256; Udo Schnelle, Der erste Thessalonicherbrief und die Entstehung der paulinischen Anthropologie, NTS 32 (1986), 207–224; Robert Jewett, The Thessalonian Correspondence, Philadelphia 1986; Raymond F. Collins (Hg.), The Thessalonian Correspondence (BEThL 87), Leuven 1990; Hans Hübner, Biblische Theologie II (Lit. § 1), 42–56; Karl P. Donfried / I. Howard Marshall (Hg.), The Theology of the Shorter Pauline Letters (NT Theology), Cambridge 1993; Rainer Riesner, Frühzeit (§ 5.8.1); Rudolf Hoppe, Der erste Thessalonicherbrief und die antike Rhetorik, BZ 41 (1997), 229–237; Karl P. Donfried / Johannes Beutler (Hg.) The Thessalonians Debate, Grand Rapids, MI / Cambridge UK 2000; Christoph vom Brocke, Thessaloniki – Stadt der Kassander und Gemeinde des Paulus (WUNT II/125), Tübingen 2001. 278
Vgl. U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 91 ff. Eine Ausnahme bilden die Textsegmente, in denen der textkritische Befund (die handschriftlichen Unterschiede in den erhaltenen Kopien) für die Annahme einer redaktionellen Arbeit eine greifbare Grundlage bietet, wie es z. B. in einigen Teilen von Röm 16 der Fall ist (§ 5.16.3). Solche Stellen sind allerdings nur Ausnahmen, die eine sekundäre, mit der letzten Etappe der Kanonbildung verbundene Redaktion bezeugen. Es handelt sich also nicht um die Redaktion, die mit der Sammlung paulinischer Korrespondenz beschäftigt war. Die ältesten erhaltenen Handschriften paulinischer Episteln, vor allem der Chester-Beatty-Papyrus (p46), der in Dublin aufbewahrt ist und schon aus der Zeit um 200 stammt, bieten die paulinischen Briefe in einer relativ einheitlichen Gestalt. 279
5.10 Der 1. Thessalonicherbrief
197
Der 1. Thessalonicherbrief ist der früheste Paulusbrief und damit zugleich das älteste schriftliche Dokument des Neuen Testaments überhaupt.280 Das hier verhandelte Kernproblem sind Fragen der christlichen Hoffnung, die durch einige Todesfälle ausgelöst wurden. 5.10.1
Gliederung und Inhalt
Das Korpus des Briefes ist zweiteilig. Nach seiner Eröffnung beschreibt der erste Teil (2,1–3,13) die Beziehungen zwischen dem Apostel und den Christen in Thessalonich (Thessaloniki). Der bedeutendste Teil, der die Fragen der Adressaten zur Hoffnung angesichts des Todes beantwortet (4,13–18 und 5,1–11), gehört schon zur Paränese und enthält wichtige Elemente theologischer Argumentation.281 1,1–10 1,1 1,2–10
Briefeingang Präskript Proömium mit Dankgebet und Fürbitte für die Gemeinde
2,1 – 3,13 2,1–12 2,13–16 2,17 – 3,8 3,9–13
Erster Teil: Besuchswünsche und Botensendung Korpuseröffnung: Selbstempfehlung des Apostels Erneutes Dankgebet für die Gemeinde Besuchswunsch und Entsendung des Timotheus Dank- und Bittgebet für die Gemeinde
4,1 – 5,22 4,1–12 4,13 – 5,11 4,13–18 5,1–11 5,12–22
Zweiter, paränetischer Teil (Hauptteil): Leben angesichts des Endes Ermahnung zu einem gottgefälligen Lebenswandel („Heiligung“) Die beiden Fragen der Adressaten: Der Tod einiger Christen Die Hoffnung auf die Auferstehung und das Sein bei Christus Die Wachsamkeit im Blick auf den Tag des Herrn Korpusabschluss: Mahnungen für das Gemeindeleben
5,23–28 5,23–28
Briefschluss Postskript mit Friedenswunsch und Treuespruch, Fürbitteaufforderung, heiligem Kuss, Vorleseanweisung und Gnadenwunsch als Schlusssegen Inclusio (Rahmung)
1,1–10 Briefeingang Das Schreiben beginnt mit einem kurzen Präskript und einem Proömium (exordium), in dem Paulus Gott für den Glauben und die Liebe der Gemeinde dankt (1,2– 10). Das Proömium bietet eine Zusammenfassung der Missionspredigt, welche die
280 Vgl. zu den einzelnen Briefen jeweils U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5; mit umfangreicher Literatur), als Kommentar zum 1. Thessalonicherbrief bes. T. Holtz, EKK XIII. 281 Vgl. H.-J. Klauck, Briefliteratur (Lit. § 5), 267–281.284–291.
198
5 Die paulinischen Briefe
Adressaten einst zur Bekehrung veranlasste. Das Evangelium wird mit seiner Kernaussage wiedergegeben, dass der Auferstandene vor dem zukünftigen Zorn (dem Jüngsten Gericht) rettet. 2,1–3,13 Erster Teil: Besuchswünsche und Botensendung Wegen der Gebete wird dieser Teil manchmal noch dem Proömium zugeordnet, doch beginnt mit dem Rückblick auf das Wirken des Apostels in Thessalonich das Briefkorpus (2,1–12). Der Abschnitt fungiert als Selbstempfehlung (§ 5.7b) und Apologie, mit der Paulus Einwände gegen sein Verhalten entkräften und den Boden für die Paränese bereiten will.282 Nach einem erneuten Dankgebet (2,13–16) äußert er den Wunsch, die Adressaten wiederzusehen (2,17–3,8). Er erklärt, warum er Timotheus geschickt hat und weshalb er selbst nicht kommen kann: der Satan habe ihn gehindert (2,18). Der erste Teil endet mit einem Dank- und Bittgebet, das wieder vom Gericht Gottes und der Wiederkunft Jesu spricht (3,9–13). 4,1–5,22 Zweiter Teil: Leben angesichts des Endes Der thematische Hauptteil des Briefs besitzt einen paränetischen Rahmen. Die Ermahnung zur „Heiligung“ des Lebens durch die Bruderliebe und das Meiden der Unzucht (4,1–12) bildet nur die Einleitung zu dem konkreten Problem, das die Thessalonicher quälte: Was geschieht mit den Christen, die vor der Wiederkunft Christi und dem Eintreffen des neuen Äons (s. Anm. 298) gestorben sind? In 4,13–18 erklärt Paulus, dass die Auferstehung Jesu Christi die Verwirklichung der guten Absicht Gottes garantiert, und zwar sowohl universal in der Geschichte als auch individuell im Leben der einzelnen Menschen. Auch für die bereits Gestorbenen gilt die apokalyptische Hoffnung, dass sie bei der Wiederkunft Christi auferstehen, auf den Wolken in die Luft entrückt werden, dem Herrn begegnen und allezeit bei ihm sein werden (4,17). Diese endzeitliche Gemeinschaft mit Christus ist das Ziel der Wege Gottes mit den Menschen. Wegen der seelsorgerlichen Bedeutung dieser Frage für die Thessalonicher bettet Paulus seine Überlegungen über das Schicksal der Verstorbenen in eine Paraklese, d. h. Aufforderung zum Trösten, ein (vgl. 4,18 mit 5,1–11). Es folgen Aufforderungen zur Wachsamkeit vor dem kommenden „Tag“, wenn Christus zur Parusie erscheinen wird (5,1–11). Das Briefkorpus endet paränetisch mit Ermahnungen für das Leben der Gemeinde (5,12–22).
282 Vgl. H. Hübner, Theologie II (Lit. § 1), 42. Der Abschnitt kann als Widerlegung (refutatio) der (möglichen) Einwände betrachtet werden. Konkret handelt es sich schon um eine Beschreibung der Lage, sodass er auch als „narratio“ bezeichnet werden könnte (vgl. außer C. A. Wanamaker und R. Hoppe bes. K. P. Donfried / I. H. Marshall, The Theology of the Shorter Pauline Letters, 6).
5.10 Der 1. Thessalonicherbrief
199
5,23–28 Postskript Es folgen ein ausführlicher Friedenswunsch mit Treuespruch (5,23f.), die Bitte um Fürbitte, eine Aufforderung zum „heiligen Kuss“ (§ 5.7b), die Leseanweisung für den Gottesdienst „vor allen Brüdern“ und ein Gnadenwunsch als Schlusssegen (5,28). 5.10.2
Die Todesfälle in Thessalonich und ihre theologische Bewältigung
Der Brief wurde von Paulus bald nach seiner Ankunft in Korinth geschrieben. Er reagiert auf die guten Nachrichten, die Timotheus aus Thessalonich mitbrachte (3,1f.6): Die Thessalonicher bewähren ihre Treue Christus gegenüber auch im Leiden (2,14; 3,7f.). Die christliche Gemeinde in Thessalonich283 war erst kurz zuvor von Paulus gegründet worden. Sie bestand zumeist aus ehemaligen Heiden, die sich bekehrt hatten (1,9; 2,14). Die Verurteilung der Juden (2,15f.) hat ihren Grund in der Vertreibung der Christen aus der Synagoge (2,14), die in Apg 17,1 bezeugt wird. Die Kritik an den jüdischen Verfolgern bestätigt den Bericht in Apg 17,1–9, nach dem Paulus seine Mission unter den Juden begann (§ 6.4.6b). Das konkrete Problem der Gemeinde in Thessalonich bestand im Tod einiger Christen. Er trat für die Thessalonicher überraschend ein, da sie aus der Auferstehung Jesu die persönliche Hoffnung auf einen direkten Übergang ins ewige Leben abgeleitet und mit der jüdisch-apokalyptischen Erwartung eines neuen Äons verbunden hatten (§ 2.2.1d). Mit diesem apokalyptisch geprägten universalen Endzeitglauben sahen sie der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi (parousía)284 und dem göttlichen Gericht für alle Menschen entgegen.285 Deshalb hofften sie, nicht mehr sterben zu müssen, sondern noch zu ihren Lebzeiten bei der Parusie ihre eigene Entrückung ins ewige Leben bei Christus zu erfahren. In dieser Erwartung gingen sie davon aus, dass es nach der Auferstehung des Herrn keinen Tod mehr gäbe. Eben diese Hoffnung ist aber durch einige Todesfälle in der Gemeinde schwer erschüttert worden. In 1Thess 4,14–18286 gibt Paulus eine grundsätzliche Antwort: Die Auferstehung Jesu Christi nimmt nicht nur den neuen Äon vorweg, sie garantiert zugleich die Voll-
283
Vgl. R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 297–349; Ch. vom Brocke, Thessaloniki, pas-
sim. 284
1Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,23. Neben dieser universalen Perspektive kannte Paulus aufgrund seiner pharisäischen Vergangenheit (§ 5.8.1) auch die Vorstellung einer individuellen Auferstehung als Hoffnung eines Menschen im Tode (§ 5.6.2.1). 286 Vgl. dazu P. Hoffmann, Die Toten in Christus (NTA.NF 2), Münster 31978; T. Holtz, EKK XIII, z.St. 285
200
5 Die paulinischen Briefe
endung der menschlichen Lebensgeschichten, die durch den Tod begrenzt sind.287 Paulus setzt sich hier mit dem Problem der zweifachen Eschatologie auseinander, nach der die Endzeit aus einer gegenwärtigen und einer zukünftigen Phase besteht (§ 5.6.2.1; 5.10.3). Dabei beruft er sich auf die Autorität des erhöhten Kyrios (4,15), indem er ein „Wort des Herrn“ (§ 5.6.2.5b) über die Parusie zitiert. Der Umfang dieses Logions ist nicht sicher abgrenzbar, doch dürfte es sich um eine Jesusüberlieferung handeln,288 die an das Bild Jesu als des Menschensohns aus Dan 7,13 ff. (§ 6.2.7.2) anknüpft, der beim Erschallen der Posaune vom Himmel herabkommt. Es ist der erste christliche Beleg für eine persönliche Hoffnung im Tode.289 Oberflächlich betrachtet scheint die Überwindung des Todes eine Neufassung der pharisäischen Auferstehungshoffnung (§ 5.6.2.1) zu sein, doch in Wirklichkeit stoßen wir auf einen völlig neuen Gedanken, da diese Erwartung bei Paulus ihren Grund in der schon geschehenen Auferweckung Jesu hat.290 Der 1. Thessalonicherbrief ist der erste Beleg für das theologische Denken des Paulus. Grundlegend ist die Osterverkündigung von der Auferstehung Jesu (1,10), die aus der urchristlichen Überlieferung übernommen und mit Hilfe apokalyptischer Vorstellungen ausgedrückt wird. Schon hier dient der Terminus „Evangelium“ (1,5; vgl. 2,2.4.8f.; 3,2) als Inbegriff der Heilsbotschaft, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat und die Menschen aus dem kommenden Zorngericht errettet (1,9f.; § 5.6.2.1). Der Brief ist nicht nur durch die Apokalyptik beeinflusst. Besonders der Abschnitt 4,1–12 enthält mehrere Anspielungen auf das Alte Testament291 und verrät die Kenntnis der christlichen Überlieferung von Jesus als Lehrer, der Gebote gibt (4,2; vgl. Mt 28,20a; § 6.3.3.2). Jene Tradition ist im 1. Thessalonicherbrief in einen paränetischen Zusammenhang gestellt, für den die Gabe des Geistes als Aktualisierung alttestamentlicher Prophetie gedeutet wird (4,8; vgl. Ez 36,27; 37,14). Dass von der Religion direkte ethische Folgen ausgingen, war in der hellenistischen Gesellschaft unüblich. Der 1. Thessalonicherbrief begründete damit eine neue
287 Vgl. K. P. Donfried / I. H. Marshall, The Theology of the Shorter Pauline Letters, 33 ff.; zum zeitgeschichtlichen Hintergrund s. H. C. Cavallin, Life after Death (CB NT 7,1), Lund 1974, 197 ff. 288 Vgl. 1Thess 4,16f. mit Mk 14,62 und Mt 24,30f. (§ 5.6.2.4). 289 Sie stellt die These von L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841), krit. Ausg. Leipzig 1904, Kap. 19 über das Christentum als einen ins Jenseits gesteigerten Egoismus in Frage. Paulus musste die christlichen Adressaten mit Mühe von ihrer persönlichen Hoffnung im Tode überzeugen. 290 1Thess 1,10; 4,14; Gal 1,1; Röm 10,9 u. ö.; vgl. Christus als Erstling der Auferstandenen in 1Kor 15,20.23 (aparchḗ; vgl. prōtótokos Röm 8,29; Kol 1,18; Apk 1,5, prṓtos Apg 26,23, archēgós Apg 3,15; Hebr 2,10); vgl. die Parallelisierung der Auferstehung bei Christus und den Christen in 1Kor 6,14; 2Kor 4,14; 13,4; Röm 8,11. 291 Vgl. die Stellenhinweise am äußeren Rand bei Nestle / Aland27.
5.10 Der 1. Thessalonicherbrief
201
paränetische Tradition,292 die zwar aus dem Judentum geläufig war, allerdings erst mit der Verbreitung der paulinischen Briefe ihren Weg in die europäische Gesellschaft antrat. 5.10.3
Die Apokalyptik und das paulinische Evangelium
Im 1. Thessalonicherbrief geht es um die Frage, was angesichts des Auferstehungsgeschehens mit den verstorbenen Christen geschieht. In seiner Antwort greift Paulus endzeitliche Vorstellungen auf, die auf die große geistesgeschichtliche Bedeutung der Apokalyptik (§ 2.2.1d) hinweisen. Der Terminus „Apokalyptik“ ist ein neuzeitliches Kunstwort.293 Er wird zur Bezeichnung einer Gruppe von Texten gebraucht,294 deren gemeinsame Züge in der exegetischen Literatur auf unterschiedliche Weise definiert wurden. Überwiegend wird der Ausdruck als historische Kategorie verwendet, um eine endzeitliche Grundstimmung und Heilserwar tung zu beschreiben.295 Daneben gibt es auch Versuche einer stärker formalen Eingrenzung auf die literarische Gattung von göttlichen Offenbarungen, die Apokalypsen (Exkurs 8), die durch einen Zeugen berichtet werden296 und sich meist auf die Endzeit (Eschaton) beziehen. Diese formale Eingrenzung ist jedoch allzu formalistisch. Denn es gibt auch apokalyptische Texte, die ganz andere Offenbarungsformen enthalten. Die Bandbreite reicht von Entrückungen und Himmelsreisen (2Kor 12,1–4) über Visionen und
292
Vgl. A. J. Malherbe, Exhortation, 251 ff.; K.-W. Niebuhr, Gesetz und Paränese (WUNT II/28), Tübingen 1987. 293 1832 eingeführt von Friedrich Lücke, einem Schüler Friedrich Schleiermachers, im Anschluss an Karl Immanuel Nitzsch (1822); vgl. A. Christophersen, Friedrich Lücke Teil 1, Berlin 1999, 368–381. 294 Vgl. die Textauswahl bei C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte (Lit. § 12e), 356–386. 295 Vgl. M. Hengel, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 302–417, der die gängige Unterscheidung zwischen Apokalyptik (Endzeiterwartung) und Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) als falsche Alternative problematisiert, theologiegeschichtlich auf die Aversion des 19. Jh.s gegenüber aller apokalyptisch-zukünftigen Erwartung zurückführt und daraus im Gegenzug die Faszination für die präsentische Eschatologie des Johannesevangeliums erklärt; vor allem beschreibt er die „apokalyptische Grundstimmung“ der neutestamentlichen Zeit und stellt die wichtigsten Parusietexte vor: 1Thess 4,13 – 5,11 (bes. 343–359); 1Kor 15; 2Kor 4,16 – 5,10; (Phil 3,20f.); Röm 8,18–25; Mk 13,24–27.28–37; Lk 17,22–35 par. 296 So M. Wolter, Apokalyptik als Redeform im Neuen Testament, NTS 51 (2005), 171– 191, der von einer Endoffenbarung in der 1. Person ausgeht (sodass selbst Mk 13 und 1Kor 15,20–28 als apokalyptische Texte ausscheiden) und sich damit abgrenzt gegenüber der weithin akzeptierten Definition von J. Collins und A. Yarbro Collins s. A. Yarbro Collins, Cosmology and Eschatology in Jewish Christian Apocalypticism, Leiden 1996, 7.
202
5 Die paulinischen Briefe
Auditionen (Apk 1,9 ff.; 4,1 ff.) bis hin zu Formen prophetisch inspirierter Schriftauslegung (Apk 1,1.3 u. ö.; § 7.2.2; Exkurs 8).297 Jedenfalls sind es Texte, die zwei große Aspekte der Enderwartung integrieren, nämlich zum einen die universalgeschichtliche Hoffnung auf den neuen Äon,298 zum anderen die individuelle Aussicht auf die Auferstehung, das Endgericht und ein ewiges Leben.299 Im Lauf der Zeit gelang es selten, diese beiden Dimensionen der Hoffnung miteinander zu verbinden. Zunächst zur universalen Hoffnung: Diese schließt in der Apokalyptik die Erwartung des Jüngsten Gerichts ein. Durch das endzeitliche Gericht Gottes erhält das menschliche Leben einen letzten Zielpunkt, der die Arbeit, das ethische Verhalten und eventuell auch das Leiden oder Martyrium eines Menschen sinnvoll machen kann. In dieser generalisierenden Sicht sind mehrere zeitgebundene Züge apokalyptischer Texte noch unberücksichtigt wie z. B. Spekulationen über das Jenseits, der Dualismus zwischen guten und satanischen Mächten, Schwarzweißmalerei, Ideologisierung der Religion usw. Auch die Probleme einer gegenständlichen Geschichtsauffassung, die mit Hilfe apokalyptischer Motive die Zeichen der Zeit in der Gegenwart auszudeuten versucht, sind nur vorläufig registriert. Sie werden im Zusammenhang mit der Johannesoffenbarung ausführlicher behandelt (Exkurs 8; § 7.2.3). Nun zur individuellen Hoffnung: Hier wird durch die universale Vollendungserwartung das Problem der Zwischenzeit aufgeworfen, d. h. die Frage, was mit einem Menschen in der Zeit zwischen dem Eintreten seines Todes und der Auferstehung am Ende der Zeiten geschieht. Diese Zwischenzeit kann entweder durch eine Art Schlaf überbrückt werden (Dan 12,2). Oder die Verstorbenen werden gleich nach dem Tod vorläufig sortiert, um einerseits ins Paradies, andererseits in die Unterwelt zu gelangen (Lk 16,19–31; 23,43). Bei Paulus könnte die stereotype Rede von den Entschlafenen300 auf die zuerst genannte Vorstellung eines vor übergehenden Schlafzustands hindeuten, doch verwendet er diesen Ausdruck nur als eine euphemistische Umschreibung für die Toten.301 Wahrscheinlicher ist deshalb die zweite Möglichkeit einer vorläufigen himmlischen Zwischenexistenz, da Paulus selber das Paradies er297
Die nicht-eschatologischen Jakobus-Apokalypsen aus Nag Hammadi (NHC V,3; V,4) werden wegen anderer Apokalypsen als „Apokalypsen“ bezeichnet, ähnlich wie das Philippusevangelium „Evangelium“ genannt wird. 298 Paulus spricht nur von „diesem Äon“ (Röm 12,2; 1Kor 1,20; 2,6.8; 3,18; 2Kor 4,4) oder der gegenwärtigen bösen Weltzeit (Gal 1,4), nicht jedoch von der zukünftigen, kommenden Welt wie im apokalyptischen Zwei-Äonen-Schema (vgl. erst deuteropaulinisch Eph 1,21; 2,7), stattdessen aber von der Gottesherrschaft (1Thess 2,12; 1Kor 4,20; Röm 14,17 und 1Kor 6,9f.; 15,50; Gal 5,21) und dem ewigen Leben (Röm 2,7; 5,21; 6,22f.; Gal 6,8). 299 1Hen 51f.; vgl. syrBar 14,12f.; 24,1; 4Esr 7,33–35; Apk 14,13. 30 0 1Thess 4,13–15; 1Kor 15,18.20; vgl. 7,39; 11,30; 15,6.51. 301 Auch die These eines leiblosen Zwischenzustands ist damit nicht zu begründen (§ 5.13.3.1b zu 2Kor 5,3f.).
5.10 Der 1. Thessalonicherbrief
203
wähnt (2Kor 12,4), das als Aufenthaltsort der verstorbenen Gerechten gilt (Lk 23,43). Letztlich misst Paulus der Frage des Zwischenzustands aber nur eine nachrangige Bedeutung zu. Entscheidend ist für ihn die Hoffnung, nach dem Tod bei Christus zu sein und „mit (sýn) ihm“ zu leben.302 Auch das Eintreten des Todes vor der Parusie kann nicht von Christus trennen. Die Hoffnung, die „in Christus“ begründet ist, bedeutet keineswegs die Verlängerung des irdischen Lebens, als ob es sich im Rahmen des bisherigen, diesseitigen Äons weiter bewegen würde. Vielmehr handelt es sich um eine tiefgreifende Wende, die mit der endzeitlichen Wiederkunft Christi eintritt (1Thess 1,10; 4,14f.). Es geht um die Hoffnung, dass der Mensch als Person in seiner Einmaligkeit und Konkretheit das Ziel der Fürsorge Gottes ist, also kein Mittel zum Erreichen eines anderen, „höheren“ Zieles sein kann. Diese Vorstellung ist schon in dem alttestamentlichen Gedanken des Jüngsten Gerichts enthalten, aber nach Paulus hat sie im Tod Jesu zugunsten der anderen Menschen ihren eigentlichen Grund (5,9f.) und wird in der erwarteten Begegnung mit Christus303 in der Endzeit verwirklicht werden (4,17). Mit dieser bevorstehenden Wende begründet Paulus die Appelle zur Besserung der Lebensführung (5,11). Das ethische Verhalten der Christen soll aus dem neuen eschatologischen Bewusstsein heraus schon jetzt der endzeitlichen Gemeinschaft mit Christus entsprechen (5,10), untadelig sein (3,13; 5,23) und sich am göttlichen Willen zur Heiligung orientieren (4,1 ff.). Angesichts der konkreten Ausgangsfrage konzentriert sich Paulus im 1. Thessalonicherbrief aber auf die Auferstehung Christi als Vorwegnahme des Endgeschehens.304 Das Problem des Zeitpunkts, an dem der neue Äon kommt („Wann?“), wird durch die Art seines Eintreffens („Wie“?) entschärft. Indem Paulus mit einer apokalyptischen Tradition sagt, dass der Tag des Herrn kommen wird „wie ein Dieb in der Nacht“ (1Thess 5,2),305 überträgt er die alttestamentliche Vorstellung vom „Tag JHWHs“ auf die Wiederkunft Christi.306 Aus der unmittelbaren Naherwartung der Christen wird eine eschatologische Existenz, die das eigene Leben von der Parusie Christi her begreift, wann auch immer sie eintritt. Indem Paulus die Hoffnung in Christus mit dem Aufruf zur Wachsamkeit verbindet, beginnt er das Problem zu bewältigen, dass die als unmittelbar bevorstehend erwartete Parusie immer noch nicht eingetreten ist. Die tiefere, theologisch tragfähige Lösung bestand in der „zweifachen“ Eschatologie (§ 5.6.2.1), mit deren Hilfe 302
1Thess 4,14.17; 5,10; 2Kor 5,8; Röm 6,8; Phil 1,23; vgl. auch Röm 8,38f.; 14,7–9. Vgl. auch die Mit-Christus-Formulierungen in 2Kor 4,14 (vgl. 13,4); Röm 6,8; 8,17.29; Phil 3,10f.; vgl. P. Siber, Mit Christus leben (AThANT 61), Zürich 1972, zu 1Thess 4,13; 5,10 bes. 35–67. 304 Vgl. J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 265. 305 Vgl. Mt 24,43 par.; 2Petr 3,10; Apk 3,3; 16,15. 306 Vgl. außer 1Thess 5,2.4f.8 auch 1Kor 1,8; 5,5; 2Kor 1,14 und den Tag Christi in Phil 1,6.10; 2,16. 303
204
5 Die paulinischen Briefe
Paulus die Existenz der Kirche in die Periode „zwischen den Zeiten“ einordnete, d. h. in den Zeitraum zwischen dem Anbruch des neuen Äons, der mit dem Tod und der Auferstehung Jesu begonnen hat, und der Parusie, bei der der Sohn Gottes vom Himmel kommen wird.307 Aus dieser neuen Sicht ergibt sich die Spannung zwischen dem „schon“ und „noch nicht“: Die eschatologische Erneuerung hat mit der Heilstat Christi bereits endgültig eingesetzt, bleibt aber noch an den eschatologischen Vorbehalt geknüpft, dass ihre umfassende Verwirklichung in der Vollendung der Gottesherrschaft bei der Wiederkunft Christi erst bevorsteht (§ 5.12.1; 5.12.5c). Dieser Gedanke konnte nicht unmittelbar aus der jüdischen Apokalyptik abgeleitet werden. Ohne die grundlegende christologische Besinnung des Paulus wäre das Kirchenverständnis als eschatologische Heilsgemeinde zwischen den Zeiten und auch die Idee des christlichen Kanons als Zeugnis von der Offenbarung Gottes im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi (§ 3.3) nicht möglich gewesen. Stark vereinfacht lässt sich dieses Überlappen der Zeiten graphisch so darstellen: alter Äon
neuer Äon
Ende der Zeit Zeitachse
Weltvollendung Tod und Auferstehung Jesu
Parusie Christi Endgericht
ewiges Leben mit Christus
Christsein und Kirche „zwischen den Zeiten“ Abb. 10: Die christologische Neuinterpretation apokalyptischer Erwartungen bei Paulus
Bei der Frage, ob Paulus das endzeitliche Wiederkommen Christi noch zu seinen Lebzeiten erwartete, finden sich in seinen Briefen unterschiedliche Aussagen. Während der Apostel später im Philipperbrief mit seinem vorzeitigen Tod vor der Parusie rechnete (Phil 1,20–23; § 5.14.4), ging er im 1. Thessalonicherbrief noch davon aus, dass er die Wiederkunft Christi bereits während seines irdischen Lebens erfahren werde (4,15.17).308 Diese Sicht ist schon ein Resultat seiner Neufassung der apoka307
Vgl. 1Thess 1,10; 2,19; 3,13; 4,13f.15; 5,2.9f.23. Eine Akzentverschiebung in der eschatologischen Erwartung bei Paulus vermuten W. Wiefel, Die Hauptrichtung des Wandels im eschatologischen Denken des Paulus, ThZ 30 308
5.10 Der 1. Thessalonicherbrief
205
lyptischen Vorstellungen, die sowohl das Schicksal der Menschen (Phil 1,21 ff.) als auch die ganze Schöpfung (Röm 8,18 ff.) einschließt. Deshalb beschäftigt sich der Apostel nicht näher mit dem Problem des Zwischenzustands. Seine Antwort bleibt von grundsätzlicher Bedeutung, weil jenseits des Todes unabhängig vom Zeitpunkt der Parusie das Sein bei Christus entscheidend ist. Mit dieser christologischen Modifikation apokalyptischer Hoffnungen bezeugt der 1. Thessalonicherbrief ein frühes Stadium der paulinischen Theologie.309 Der Brief widerspricht theologisch zwar nicht den anderen Paulusbriefen. Dennoch darf dieses Schreiben nicht einfach im Licht der späteren Rechtfertigungslehre310 ausgelegt werden. Die Lehre vom göttlichen Freispruch des Sünders allein aus Gnade finden wir im 1. Thessalonicherbrief noch nicht,311 obwohl dieser vermutlich erst nach dem Zwischenfall in Antiochien (Gal 2,11–14) abgefasst wurde. Die Errettung aus dem Jüngsten Gericht durch Christus (1Thess 1,10), die Betonung des Glaubens als Weg zum Heil (4,14) und die Freude über die überraschende Bekehrung vieler Heiden (1,6–10) sind jedoch Aussagen, die der These von der Rechtfertigung aus dem Glauben, die im Galaterbrief erst ausformuliert wird, nahestehen und zu ihrer unmittelbaren Vorgeschichte gehören. Die Entfaltung der Rechtfertigungsaussagen wäre allerdings ohne die theologischen Ausführungen im 1. Thessalonicherbrief unverständlich. Denn die Rechtfertigung ist für Paulus die Rechtfertigung vor dem Jüngsten Gericht, dem Gericht Gottes. Diese eschatologische Perspektive eines endzeitlichen Gerichts kann gut vor dem Hintergrund des „Evangeliums“ verstanden werden, dass Jesus die Glaubenden dem kommenden Zorn Gottes entreißt (1Thess 1,10). Die Soteriologie wird hier – wegen der aktuellen Todesfälle (4,13 ff.) – zwar stärker von der Auferstehung Jesu her entwickelt. Aber auch im 1. Thessalonicherbrief wird sein stellvertretender Tod (§ 5.6.2.1) ebenso erwähnt (5,9f.) wie in den übrigen paulinischen Briefen. Insofern ist der Kern der Rechtfertigungslehre schon angelegt.
(1974), 65–81, und G. Haufe, Individuelle Eschatologie des Neuen Testaments, ZThK 83 (1986), 436–463, bes. 454. Doch sollte das unmittelbare Verlangen bei Christus zu sein (Phil 1,23) angesichts der Haftsituation nicht gegen die Naherwartung ausgespielt werden, wie der eindringliche Ruf in Phil 4,5: „Der Herr ist nahe“ und die Hinweise auf den Tag (1,6.10; 2,16) bzw. die Parusie Christi (3,20f.) zeigen (vgl. auch Röm 13,11f.). 309 Vgl. G. Strecker, Theologie (Lit. § 1), 147 ff.; U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5), 197–200, ders., Gerechtigkeit (Lit. § 5.6.2.2); K. P. Donfried, 1 Thessalonians, Acts and the Early Paul, in: R. F. Collins (Hg.), The Thessalonian Cor respondence (BEThL 87), Leuwen 1990, 3–26, kritischer R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 349–358. 310 Siehe § 5.8.2i; 5.11.3–4; 5.16.5a. 311 Es fehlen Begriffe wie „hamartía“, „nómos“, „staurós“, „stauroún“ und der Stamm „dik-„, der im Zusammenhang mit der Glaubensgerechtigkeit in den späteren paulinischen Briefen von besonderer Bedeutung ist.
206
5 Die paulinischen Briefe
5.10.4
Zeit und Ort der Abfassung, Adressaten und Integrität
Paulus verfasste den 1. Thessalonicherbrief in Korinth im Jahr 50 oder im Frühjahr 51 n. Chr., nicht lange nach seinem allzu kurzen Gründungsaufenthalt in Thessalonich, den er fluchtartig abbrechen musste (vgl. Apg 17,1–10a).312 Diese Stadt war damals ein bedeutendes Handelszentrum der römischen Provinz Makedonien. In ihr gab es mehrere Kulte, die mit Ekstase und sexueller Unzucht verbunden waren (Isis, Dionysos, Kabiren). Deren Einfluss bildet möglicherweise den Hintergrund der Paränese zur Heiligung und zum Meiden der Unzucht in 1Thess 4f.313 Paulus schrieb den Brief bald nach der Rückkehr des Timotheus.314 Dass Paulus der Verfasser des 1. Thessalonicherbriefs ist, steht außer Zweifel. Als Mitabsender sind Silvanus und Timotheus angegeben (1,1), offensichtlich Zeugen der Botschaft, aber keine Mitverfasser. Timotheus wird vor allem deswegen erwähnt, weil der Brief auf die von ihm übermittelten Nachrichten reagiert (3,2.6). Hinsichtlich der Integrität des Briefes haben mehrere Forscher Zweifel an der literarischen Einheitlichkeit angemeldet (F. C. Baur, W. Schmithals, Ch. Demke315). Doch konnte sich keiner von ihnen mit seiner Meinung durchsetzen. Sie begründen ihre Bedenken vor allem mit dem – literarisch betrachtet – echten Briefschluss in 3,11–14. Ihre schwerwiegendsten Einwände sind die antijüdischen Aussagen in 2,15f., die der späteren christlichen Judenpolemik ähneln und die mit den paulinischen Aussagen aus Röm 9 – 11 (bes. 11,31; § 5.16.5d) kaum vereinbar sind.316 Diese Einwürfe lassen sich allerdings nur dann aufrechterhalten, wenn man die paulinischen Aussagen ohne ihren konkreten geschichtlichen Zusammenhang interpretiert.317
Der 2. Thessalonicherbrief, der aller Wahrscheinlichkeit nach deuteropaulinisch ist,318 belegt die Wirkung des 1. Thessalonicherbriefs in der Zeit nach dem Tod des Paulus (§ 8.3).
312 Zu Datierung, Gemeindesituation und religiösem Hintergrund vgl. die Anm. 283 genannte Literatur. 313 So R. Jewett, K. P. Donfried. 314 K. P. Donfried, The Theology of 1Thessalonians, in: K. P. Donfried / I.H. Marshall, The Theology of the Shorter Pauline Letters, 1–79, hier 10f., schlägt die erste Hälfte der 40-er Jahre vor, doch setzt diese Frühdatierung voraus, dass Paulus Thessalonich und Korinth schon in Verbindung mit seinem Aufenthalt in Syrien und Kilikien besucht hätte (§ 5.8.2). Für eine solche Annahme gibt es allerdings keine Hinweise. 315 Theologie und Literarkritik im 1. Thessalonicherbrief, in: FS E. Fuchs hg. v. G. Ebeling, Tübingen 1973, 103–124. 316 Vgl. B. A. Pearson, 1 Thessalonians 2:13–16: A Deutero-Pauline Interpolation, HThR 64 (1971), 79–94. 317 Zur Integrität s. bes. T. Holtz, EKK, 25 ff.; U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 65f. 318 Argumente für seine Authentizität enthält der Kommentar von Malherbe.
5.11 Der Galaterbrief
207
5.11 Der Galaterbrief Kommentare: Albrecht Oepke, ThHK 9, 51984; Heinrich Schlier, KEK, 51971; Franz Mußner, HThK 9, 41981; Pierre Bonnard, CNT 9, 1972; Hans D. Betz, Hermeneia, 1979, deutsch: Der Galaterbrief, München 1988; Dieter Lührmann, ZBK 7, 1978; Udo Borse, RNT, 1984; Joachim Rohde, ThHK 9, 1989; Richard N. Longenecker, WBC 41, 1990; Louis Martyn, AncB, 1997; Jürgen Becker, NTD 8/1, 1998; François Vouga, HNT 10, 1998. Monographien und Aufsätze: Wilhelm Lütgert, Gesetz und Geist (BFChTh 6), Gütersloh 1919; Josef B. Souček, Israel und die Kirche im Denken des Apostel Paulus (1971), zuletzt in: Petr Pokorný / ders., Bibelauslegung als Theologie (Lit. § 2.1.3), 171–182; Ferdinand Hahn, Das Gesetzesverständnis im Römer- und Galaterbrief, ZNW 67 (1976), 29–63; Udo Borse, Der Standort des Galaterbriefes (BBB 41), Köln 1972; Hans Hübner, Das Gesetz bei Paulus (FRLANT 119), Göttingen 31982; Walter Schmithals, Judaisten in Galatien?, ZNW 74 (1983), 27–58; Heikki Räisänen, Paul and the Law (WUNT 29), Tübingen 1983; Karl Kertelge, Gesetz und Freiheit im Galaterbrief, NTS 30 (1984), 382–394; Alfred Suhl, Der Galaterbrief – Situation und Argumentation, ANRW II,25,4, Berlin 1987, 3067–3164; ders., Die Galater und der Geist, in: Jesu Rede von Gott (FS W. Marxsen), Gütersloh 1989, 267–296; Heinz Schürmann, Studien zur neutestamentlichen Ethik, Stuttgart 1990; Michael Bachmann, Sünder oder Übertreter. Studien zur Argumentation in Gal 2,15 ff. (WUNT 5), Tübingen 1992; James D. G. Dunn, The Theology of Paul’s Letter to the Galatians, Cambridge 21994; Friedrich Lang, Paulus und seine Gegner in Korinth und in Galatien, in: Geschichte – Tradition – Reflexion (FS M. Hengel), Tübingen 1996, 417–434; Cilliers Breytenbach, Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien (AGJU 38), Leiden 1996; Wolfgang Kraus, Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie des Paulus (WUNT 85), Tübingen 1996; Hans-Joachim Eckstein, Verheißung und Gesetz (WUNT 86), Tübingen 1996; Philip H. Kern, Rhetorics and Galatians, Cambridge 1998; Ruth Schäfer, Paulus bis zum Apostelkonzil (Lit. § 5.1.8).
Der Galaterbrief ist die am stärksten polemische Epistel im Corpus Paulinum, in der für den Apostel seine ganze Evangeliumsverkündigung auf dem Spiel steht. In den galatischen Gemeinden waren einige Judenchristen aufgetreten, die mit großer Vehemenz verlangten, dass die Beschneidung und andere Gebote der Tora auch von Heidenchristen zu erfüllen sind. Durch diese Forderung war die gleichberechtigte Stellung der Heidenchristen in der Kirche bedroht und das Zusammenleben zwischen juden- und heidenchristlichen Gemeindegliedern gefährdet. In seiner Reaktion macht Paulus deutlich, dass das Heil, d. h. Gerechtigkeit und ewiges Leben bei Gott, nicht durch die Erfüllung der Beschneidungsforderung, sondern allein durch den Glauben an Christus erlangt wird. Es handelt sich um den Kern der paulinischen Rechtfertigungslehre, die der Apostel hier zum ersten Mal entfaltet. Deshalb ist der Galaterbrief für das Verständnis der paulinischen Theologie besonders aufschlussreich.
208
5 Die paulinischen Briefe
5.11.1
Gliederung und Inhalt
Nach dem Briefeingang gliedert sich das Korpus in eine biographisch rückblickende Hinführung (1,11 – 2,21) und den theologisch argumentierenden Hauptteil (3,1– 5,12). 1,1–10 1,1–5 1,6–10
Briefeingang Präskript Proömium: Verwunderung über die Abkehr zu einem anderen Evangelium (verfremdete Selbstempfehlung statt Dankgebet für die Gemeinde)
1,11 – 2,21 1,11–24 2,1–10 2,11–14 2,15–21
Erster, narrativer Teil: Rückblick mit Schilderung der Streitfrage A) Die Berufung des Paulus zum Apostel (vgl. Apg 9) B) Der Apostelkonvent in Jerusalem (vgl. Apg 15) C) Der Zwischenfall in Antiochien Die Verteidigung des Evangeliums im antiochenischen Konflikt
3,1 – 5,12 3,1–5
Zweiter, lehrhafter Teil: Die theologische Begründung Die Streitfrage in Galatien: Glaube oder Werke, Geist oder Fleisch
3,6 – 4,7 Schriftbegründung I: Abraham 3,6–9 Rechtfertigung und Segensverheißung für Abraham 3,10–12 Der Fluch der Tora 3,13 f. Stellvertretende Fluchübernahme und Erfüllung der Segensverheißung in Christus 3,15–18 Gesetz und Verheißung 3,19–25 Die begrenzte Bedeutung des Gesetzes 3,26–4,7 Die Gläubigen in Christus als Kinder Gottes, Nachkommen Abrahams und Erben der Verheißung 4,8–20 4,21–31 5,1–12 5,13 – 6,18 5,13–6,10 6,11–18
Warnung vor Rückfall in die Knechtschaft Schriftbegründung II: Hagar-Sara-Typologie Aufruf zur Freiheit (vgl. 5,7–12 mit 1,6–10) Briefschluss Schlussparänese: Nächstenliebe als Toraerfüllung und Frucht des Geistes Postskript – ohne Grüße – mit Rekapitulation (Kreuz Christi und neue Schöpfung) sowie Friedenswunsch für „das Israel Gottes“
Schriftbegründung
Wiederaufnahme der Abrahamsverheißung
1,1–10 Briefeingang Das Präskript (1,1–5) betont im Blick auf das krisenhafte Verhältnis zwischen Paulus und den galatischen Gemeinden seine apostolische Würde: „nicht von Menschen,
5.11 Der Galaterbrief
209
auch nicht durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus“ (1,1). Außerdem erwähnt es die stellvertretende Selbsthingabe Jesu für die Sünden (1,4) und mündet in eine Doxologie (1,5). Im Proömium (1,6–10) bringt Paulus – statt des Dankgebets für die Gemeinde (§ 5.7b) – in einer verfremdeten Selbstempfehlung sein Erstaunen („ich wundre mich“) zum Ausdruck, dass die galatischen Gemeinden sich vom „Evangelium Christi“, das sie von Paulus angenommen hatten, zu einem „anderen Evangelium“ verführen ließen, das nach dem Urteil des Apostels in Wahrheit gar kein Evangelium ist. 1,11 – 2,21 Erster, narrativer Teil: Rückblick mit Schilderung der Streitfrage Um anschließend (ab 3,1) seine Position im galatischen Konflikt verständlich machen zu können, setzt Paulus mit einer autobiographischen Rückblende in drei Schritten ein: A) Zunächst erinnert er an seine jüdische Vergangenheit und seine Berufung durch Jesus Christus, die ihm das Evangelium vermittelt hat: „nicht von einem Menschen empfangen oder gelernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi“ (1,12; vgl. V.1.16). Diese Berufung begründet seine Autorität als Apostel, sie geschah unabhängig von den Jerusalemer Aposteln (1,10–17). Diesen ist Paulus erst drei Jahre später in Jerusalem begegnet (1,18 ff.). B) Sodann erwähnt er seinen nächsten Jerusalem-Besuch (2,1–10) vierzehn Jahre später beim Apostelkonvent (vgl. Apg 15), bei dem „sein Evangelium“ anerkannt wurde. Paulus benennt die eigentliche, schon dem galatischen Konflikt vergleichbare Streitfrage, ob Heidenchristen – um in der heilvollen Gemeinschaft mit Gott leben zu können – die Gebote des jüdischen Gesetzes, der Tora,319 erfüllen müssen. Es geht vor allem um die Forderung nach der Beschneidung (2,3; vgl. 5,2 f.6.11; 6,12 f.15), aber auch um das Einhalten von Speisegesetzen (2,11 ff.) und Festzeiten (4,10). Paulus hat die Erfüllung dieser Gebote nicht verlangt und auch von den Jerusalemer Autoritäten nicht auferlegt bekommen (2,6). Das Ergebnis des Streits bestand in der Aufteilung der Missionsgebiete durch einen Handschlag, der Ebenbürtigkeit signalisiert (statt durch Handauflegung, die eine legitimierende Funktion gehabt und eine Abhängigkeit sichtbar gemacht hätte): Petrus soll das Evangelium den Juden verkündigen, Paulus den Heiden (2,7–9). Darüber hinaus wurde nur noch die Kollekte für die Armen in Jerusalem vereinbart (2,10). Von weiteren Verabredungen, die das Aposteldekret (Apg 15,29) erwähnt, sagt Paulus jedoch nichts. C) Schließlich schildert der Apostel die Ereignisse bei seinem Besuch in Antiochien (2,11–14), bei dem Petrus inkonsequent handelte (sog. antiochenischer Zwischenfall). Dort hatte Petrus zunächst nach paulinischem Vorbild mit getauften Heiden zusammen an einem Tisch gegessen und wahrscheinlich auch das Herrnmahl gefeiert. Doch als Anhänger des Herrnbruders Jakobus auftraten, kehrte er unter 319
Zum Verständnis von „Tora“ und „Gesetz“ s. § 5.8.2i zur New Perspective.
210
5 Die paulinischen Briefe
deren Druck wieder zur jüdischen Praxis zurück und verließ zusammen mit anderen Judenchristen die (sc. auch eucharistische) Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen, um nicht durch den Kontakt mit Nicht-Juden unrein zu werden. Daraufhin (2,15–21) verteidigte Paulus dort in Antiochien gegenüber Petrus mit allem Nachdruck das Evangelium von der Rechtfertigung durch den Glauben an Christus: Das Gesetz, die Tora, ist gut, aber die „Werke des Gesetzes“ führen nicht zum Ziel: „Wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz (d. h. durch die Erfüllung seiner Vorschriften) kommt, so ist Christus vergeblich gestorben“ (2,21b). Mit diesen Worten bekräftigt Paulus im Galaterbrief seinen in Antiochien vertretenen Standpunkt, dass bei der Frage der Tischgemeinschaft (einschließlich des Herrnmahls) mit Heidenchristen die jüdischen Speisegebote keine Gültigkeit mehr besitzen, sondern allein der Glaube an Christus entscheidend ist. Nicht anders verhält es sich nach dem Urteil des Apostels auch mit der Beschneidungsforderung in den galatischen Gemeinden. In beiden Fällen geht es im Grunde um dieselbe Problematik, ob die Tora für Christen noch verbindlich ist. Deshalb fällt der Unterschied sachlich kaum ins Gewicht, dass der Konflikt in Antiochien sich an den Speisevorschriften entzündete, der Streit in Galatien hingegen durch die Beschneidungsforderung ausgelöst wurde. 3,1–5,12 Zweiter, lehrhafter Hauptteil: Die theologische Begründung Mit einem Neueinsatz durch die direkte Adressatenanrede („O ihr unverständigen Galater! Wer hat euch behext ...?“) wendet sich Paulus dem aktuellen Konflikt um die Gültigkeit der Tora zu. Dazu ruft er in Erinnerung, dass der Geist Gottes in den Gemeinden Galatiens doch durch den Glauben, nicht durch die Werke des Gesetzes zu wirken begonnen hat (3,1–5). Es folgt in 3,6 – 4,7 eine längere theologische Argumentation, die die Lage der Galater durch die Vergleichspartikel „kathṓs“ („gleichwie“) mit der Situation Abrahams verknüpft.320 Paulus akzeptiert die Voraussetzung, dass die Kirche als Volk Gottes zur Nachkommenschaft Abrahams gehört. Er verbindet die Abrahamkindschaft allerdings mit einer Verschiebung auf eine andere, geistige Ebene, indem er betont, dass Abraham deswegen gesegnet wurde, weil er Gott geglaubt hat.321 D. h. es werden zwei Arten von Nachkommenschaft unterschieden: die herkömmliche im Sinn der jüdischen Herkunft322 und die geistgewirkte, durch den heiligen Geist empfangene Nachkommenschaft „aus dem Glauben“ (Gal 3,7; vgl. 3,2–5; 4,29). Die Gläubigen, d. h. die an Christus glauben, sind seine wahren Nachkommen – sein Volk. Diese neue Sichtweise begründet Paulus mit der Schrift: In einer überaus dicht 320
Zur Gedankenführung vgl. die sorgfältige Exegese von H.-J. Eckstein, Verheißung und Gesetz (WUNT 86), Tübingen 1996, sowie zu Segen und Fluch U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 112–159.238–247.350 f. 321 Vgl. auch die Beschneidung des Herzens außer Röm 2,29 in Jer 4,4; Dtn 10,16; 30,6; 1QpHab XI,13; Jub 1,23. 322 Vgl. Röm 4,1: „unser Stammvater nach dem Fleisch“ (vgl. Röm 9,3.5).
5.11 Der Galaterbrief
211
gedrängten Gedankenführung parallelisiert er in Gal 3,6–9 unter Berufung auf Abraham zunächst das Zurechnen der Gerechtigkeit (Gen 15,6 LXX) mit der Segensverheißung (Gen 12,3b LXX u. ö.). Dieser Verheißung des Segens wird dann der Fluch des Gesetzes gegenübergestellt (Gal 3,10–12), das jeden verflucht, der nicht alle Vorschriften aus dem Buch des Gesetzes befolgt (Dtn 27,26 u. ö.). Die Tora verspricht zwar das Leben demjenigen, der sie hält (Lev 18,5 LXX Heiligkeitsgesetz). Da der Mensch in seiner Sündenverfallenheit die Weisungen der Tora aber nicht erfüllt, verkehrt sich die Verheißung des Lebens de facto in ein Todesurteil: „(Nur) wer sie (die Gebote) tut, wird durch sie leben“. Doch indem Christus als Verfluchter am Kreuz hing und damit das an sich gerechte Todesurteil für die Übertreter des Gesetzes (Dtn 21,23) stellvertretend auf sich nahm, ist der Fluch der Tora aufgehoben und die Segensverheißung für Abraham in Christus in Erfüllung gegangen. Daher bekommen die Gläubigen in Christus den Segen der Rechtfertigung unabhängig von der Tora ganz frei aus Gnade geschenkt (Gal 3,13 f.15–18), und zwar durch die Predigt und den heiligen Geist (3,2–5.14). Der Mensch, der dieses Versprechen im Vertrauen zu Gott ernst nimmt, kann vor dem Gericht Gottes „durch den Glauben gerechtfertigt“, d. h. gerechterklärt und freigesprochen, werden (3,24). In 3,15–25 erweist Paulus die heilsgeschichtliche Bedeutung der Tora als ein Intermezzo,323 das 430 Jahre nach der Bundesschließung mit Abraham begann,324 von der Segensverheißung an Abraham und ihrer Erfüllung in Christus eingerahmt ist und sich auf die Zeit zwischen der Offenbarung der Tora auf dem Berg Sinai und dem Kommen Christi beschränkt. Da Jesus Christus der eine verheißene „Nachkomme“ (spérma = Same) ist, sind nach 3,26–4,7 „in ihm“ – so des Paulus pointiert individuelle christologische Deutung des ursprünglich kollektiven Worts für die Nachkommenschaft – auch alle, die an Christus glauben, Nachkommen Abrahams und damit Erben des ihm verheißenen Segens. „In Christus Jesus“, der als der eine verheißene Nachkomme den Fluch des Gesetzes stellvertretend für alle auf sich genommen hat, werden der Verheißung entsprechend alle Glaubenden mit dem gläubigen Abraham gesegnet und ebenso wie jener durch das Evangelium gerechtfertigt (vgl. 3,26–29 mit 3,6–14). Da „in Christus Jesus“ der Unterschied zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien,325 Mann und Frau nicht mehr ins Gewicht fällt (3,28), haben auch die Heiden(-Christen) durch ihre Taufe auf Christus (3,27) vollen Anteil an der Verheißung des ewigen Lebens.326 Zugleich erfahren sie durch den Glauben, d. h. ohne die Beschneidungsforderung der 323
Vgl. Röm 5, 20: „es kam außerdem noch hinzu“. Die Zeitangabe folgt einer alten jüdischen Tradition (Ex 12,40 LXX); vgl. P. Billerbeck, Kommentar II (Lit. § 12e), 668 f. 325 Vgl. § 5.15.3 zum Philemonbrief. 326 Vgl. das Zitat aus Hab 2,4 in Gal 3,11; Röm 1,17: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ 324
212
5 Die paulinischen Briefe
Tora erfüllen zu müssen, die soteriologische Gleichberechtigung mit den Judenchristen, die sich auf ihre Abstammung von Abraham berufen. Die Christen sind freie Menschen, die sich durch den heiligen Geist mit dem Abba-Ruf an Gott als ihren Vater wenden dürfen (4,6 f.; vgl. Röm 8,15 f.). Indem die Sendung Christi durch Gott und die Sendung des Geistes durch Gott parallelisiert werden, zeichnet sich ein trinitarisches Gefälle im paulinischen Denken ab.327 Sofern die Galater die Vorschriften für die Festzeiten einhalten, kehren sie – jedenfalls nach dem Vorwurf von 4,8 ff. – wieder in den unmündigen Zustand zurück, der in Christus überwunden ist. So ähneln sie den Kindern von Hagar, der Sklavin Abrahams (4,21–31). Der argumentative Hauptteil gipfelt in einem Aufruf zur Freiheit (5,1–12), der von einigen Auslegern schon der nachfolgenden, allgemeiner werdenden Paränese zugeordnet wird, in seiner Zuspitzung aber das Resümee der Beweisführung darstellt: Die Galater sollen sich nicht durch die Beschneidungsforderung des Gesetzes versklaven lassen, denn „in Christus“ gilt nicht die Beschneidung, sondern „der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (5,6). 5,13 – 6,18 Briefschluss 5,13 – 6,10 Paränese: Die wahre Freiheit ist allerdings mit Selbstzucht verbunden und darf nicht zu Streit missbraucht werden. Sie besteht in der Nächstenliebe, die die wahre Erfüllung der Tora ist (5,13 f.; vgl. Lev 19,18; Röm 13,8–10). Es folgen Laster(5,19–21)328 und Tugendkataloge (5,22–23a),329 in denen die aufgeführten Verhaltensweisen nicht als moralische Tugenden, sondern als Gaben des Geistes verstanden werden: „Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung.“ Hinzu kommen Regeln für den Umgang miteinander: Alles soll der höchsten Norm – dem „Gesetz Christi“ – entsprechen (6,2; vgl. 1Kor 9,21), d. h. dem Liebesgebot (5,14; vgl. V.6). 6,11–18 Postskript: In einem eigenhändigen Eschatokoll (§ 5.7b) bekräftigt Paulus seine Stellung als Apostel, der das Evangelium von Christus selber empfangen hat. Angesichts der dramatischen Situation wiederholt er – das Fehlen jeglicher Grüße bestätigt die kritische Lage – die Warnung vor den falschen Lehrern mit Worten über die Beschneidung, das Kreuz und die Neuschöpfung des Menschen („neue Kreatur“) in Christus (vgl. 2Kor 5,17). Das Eschatokoll gipfelt in einem Friedenswunsch für „das Israel Gottes“, d. h. für Judenchristen und Heidenchristen, die beide durch den 327
Vgl. 1Kor 12,4–6 (§ 5.12.1); 2Kor 13,13 (§ 5.13.1); (Phil 2,1), aber auch Eph 4,4–6 und Mt 28,19 (§ 5.6.2.2e). 328 Vgl. Röm 1,29–31; 13,13; 1Kor 5,10 f.; 6,9 f. (§ 5.12.5e); 2Kor 12,20 f. sowie Eph 5,3–5; Kol 3,5–8 (§ 8.2.4), aber auch Mk 7,21 f. par.; Lk 18,11; Apk 9,21; 21,8; 22,15. 329 Vgl. 1Kor 13,4–7; 2Kor 6,6 f.; Phil 4,8 sowie Eph 4,2; 5,9; Kol 3,12 (§ 8.2.4); zu dem durch das hellenistische Judentum vermittelten popularphilosophischen Hintergrund vgl. H. D. Betz, Art. Lasterkataloge / Tugendkataloge, RGG4 5, 89–91 (Lit.).
5.11 Der Galaterbrief
213
Glauben an Christus Erben von Abrahams Segen sind (3,6 ff.). Dieser verheißene Segen ist es, den Paulus den Gemeinden im Evangelium (vgl. 3,8) verkündigt hat330 und von dem die Galater nicht abfallen sollen (vgl. 1,6–9). 5.11.2
Rhetorische Gestalt
Die Gliederung des Galaterbriefs ist von der klassischen Gliederung einer Rede beeinflusst, die zum Grundbestand der antiken Bildung gehört (§ 2.2.6; 5.7). Als umfangreiches Lehrbuch bietet die Rhetorik von Quintilian (ca. 35–96 n. Chr.), einem in Rom lebenden, etwas jüngeren Zeitgenossen des Paulus, eine nützliche Darstellung des rhetorischen Aufbaus der Argumentation und z. T. auch der diskursiven Gestaltung von Schriften. Hans Dieter Betz führte eine solche Gliederung des Galaterbriefs nach rhetorischen Gesichtspunkten durch.331 Der Vergleich mit einigen Regeln der damaligen Rhetorik kann die oben dargelegte epistolographische Analyse nicht ersetzen, da Brief- und Redegattungen nicht unerheblich auseinandergehen (vgl. § 5.7). Aber er hilft, den Aufbau der paulinischen Argumentation und die Funktion einzelner Teilabschnitte klarer zu erkennen: Das Proömium des Briefs hat die Funktion des exordium, d. h. der kunstgerechten Einleitung einer Rede. Die beiden Teile des Briefkorpus entsprechen dem Hauptteil der Rede. Der Rückblick auf die Berufung, den Apostelkonvent und den Zwischenfall in Antiochien (1,12–2,14) dient nach diesem rhetorischen Gliederungsvorschlag als narratio, d. h. als Schilderung der Streitfrage. Die Verteidigung des Evangeliums in Antiochien (2,15–21), die den paulinischen Standpunkt für den Konflikt in Galatien bekräftigt, übt die Funktion der propositio aus, d. h. der Vorstellung des Beweisziels. Die theologische Argumentation mit der Schriftbegründung (3,1–4,31) gilt als probatio, d. h. Beweisführung. Der abschließende Aufruf zur Freiheit wird zusammen mit der Schlussparänese als exhortatio, d. h. Ermahnung, aufgefasst. Das Postskript bildet die conclusio, d. h. den Abschluss, der noch einmal die wesentlichen Aspekte bündelt.
330 Nach Gal 3,8 ist es das Evangelium, das schon dem Abraham in der Segensverheißung als Evangelium vor dem Evangelium im Voraus verkündigt wurde: „proeuēggelísato“. 331 In der durch H. D. Betz in seinem Kommentar (1979) hervorgerufenen Diskussion über die Struktur und über das Anliegen der Epistel oszillieren die Meinungen zwischen einer juristisch gestalteten Argumentation (Ph. H. Kern) und einer Gelegenheitsrede (epideiktische Rede), z. B. A. Pitta, Dispozisione e message della Lettera ai Galati, Rom 1992. Die epistolographisch-rhetorische Analyse von D. Kremendahl, Die Botschaft der Form (NTOA 46), Göttingen 2000, bekräftigt die apologetische Gattungszuordnung. Zur Forschungsgeschichte vgl. D. F. Tolmie, Persuading the Galatians (WUNT II/190), Tübingen 2005, 1–19.(20–23).
214
5 Die paulinischen Briefe
1,1–5
Präskript
1,6–11
exordium (Einleitung)
1,12–2,14 narratio (Schilderung der Streitfrage) 2,15–21 propositio (Vorstellung des Beweisziels) 3,1–4,31 probatio (Beweisführung) 5,1 – 6,10
exhortatio (Ermahnung)
6,11–18
conclusio (Abschluss)
5.11.3
Die Theologie: Die Gegner und die Rechtfertigungslehre
Das Verständnis des Galaterbriefs wird erleichtert, wenn man sich die Personenkonstellation vergegenwärtigt: Paulus ringt aufgrund der räumlichen Trennung mit einem Brief aus der Ferne werbend um die Galater, da diese durch das Auftreten anderer Lehrer in ihren Gemeinden in der Gefahr stehen, vom Evangelium abzufallen. Seine Gegner, die unter den Galatern wirken, redet der Apostel nicht direkt an und stellt auch ihre Position nicht dar. Deren Standpunkt ist uns nicht überliefert, sondern muss indirekt aus der paulinischen Polemik rekonstruiert werden. In der Theologie des Paulus ist immer wieder ein Kampf an zwei Fronten zu beobachten (§ 5.6.2.5d): gegen Enthusiasten einerseits und gegen christliche Judaisten andererseits. Im Galaterbrief können wir allerdings nur eine Front entdecken: Bei den attackierten Gegnern handelt es sich um Judenchristen, die in den paulinischen Gemeinden die Einhaltung des Gesetzes forderten, besonders die Ausführung der Beschneidung (5,3; 6,12 ff.). Auf diese Weise schoben sie einen Keil zwischen Paulus und die Galater (4,13–15). Die Beschneidung wurde bei Juden durch das Abtrennen der Vorhaut am männlichen Glied vollzogen.332 Sie galt seit dem Exil als Zeichen des Bundes (Gen 17) und wurde am achten Tag nach der Geburt durchgeführt (Phil 3,5).333 Sie bildete die Voraussetzung für die Teilnahme am Passamahl (Ex 12,48 f.) und war das entscheidende Kriterium für die Kultfähigkeit (Lev 12,3; vgl. V.1–8). Nur wer beschnitten war, konnte im Vollsinn Jude sein.334 Daher verrät die Forderung nach der Beschneidung in Galatien einen judenchristlichen Ursprung.
332
Mädchen wurden und werden bei Juden nicht beschnitten. Vgl. Gen 17,10–12 (Abraham); Lev 12,3 (Beschneidungsgebot); Lk 1,59 (Johannes der Täufer); 2,21 (Jesus). 334 Vgl. A. Blaschke, Beschneidung (TANZ 28), Tübingen 1998, bes. die Zusammenfassungen 318–322.360.487–490, als Überblick auch O. Betz, Art. Beschneidung II, TRE 5, 716–722. 333
5.11 Der Galaterbrief
215
Hinter dem Streit um die Beschneidung verbirgt sich die prinzipielle, für die Mission unter Nicht-Israeliten entscheidende Streitfrage, ob ein getaufter (Heiden-)Christ jüdischen Geboten verpflichtet ist, d. h. konkret, ob er die für einen Juden erforderliche Beschneidung vollziehen, also Jude werden muss, um Christ sein zu können. Aus diesen weitreichenden Konsequenzen der Beschneidungsforderung erklärt sich die Schärfe der paulinischen Reaktion. Denn nun stellt sich das grundsätzliche Problem, welche Bedeutung die Tora für das Gottesverhältnis der (Heiden-)Christen und auch für die Tischgemeinschaft der Judenchristen mit den Heidenchristen noch hat, nachdem Christus durch seine stellvertretende Selbsthingabe schon die Rettung aus dem gegenwärtigen Äon gebracht hat (Gal 1,3 f.; 2,20; 3,13 f.). Im Kern spitzt sich die Auseinandersetzung auf die Frage zu, ob sich Gerechtigkeit (2,21; 3,6.21; 5,5) bzw. Rechtfertigung (2,16 f.; 3,8.11.24) und ewiges Leben (3,11 f.21) allein Christus verdanken oder ob auch der Tora noch eine soteriologische Bedeutung zukommt. Diese Alternative bildet das eigentliche Zentrum des Konflikts. Wird die Beschneidungsforderung nämlich als weitere Zusatzbedingung für (Heiden-)Christen aufrechterhalten, wie die judenchristlichen Gegner in Galatien verlangen, so behält das Gesetz eine soteriologische Funktion. Geben die Galater dem Drängen jener Lehrer nach, können Rechtfertigung und Leben nicht allein auf Christus zurückgeführt werden, was seine fundamentale Heilsbedeutung mindert, dem paulinischen Evangelium widerspricht und den energischen Protest des Apostels hervorruft. Umstritten ist im Blick auf die Tora daher lediglich ihre soteriologische Bedeutung für das Gottesverhältnis einschließlich der kultischen Verpflichtungen mit ihren Festzeiten und Reinheitsgeboten. Nicht umstritten sind die Ansprüche der Tora für das ethische Verhalten der Menschen. In der Paränese bleibt das alttestamentlich-jüdische Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) auch für die (Heiden-)Christen als Erfüllung der Tora ohne Abstriche verpflichtend (Gal 5,6.13 f.; vgl. Röm 13,8–10). Gehorsam verlangt das Liebesgebot nun freilich nicht mehr als Tora vom Sinai, sondern nur als „Gesetz Christi“ wird die Liebe zur alles bestimmenden Mitte der christlichen Ethik (Gal 6,2; s. Anm. 367). Im ganzen Konflikt geht es letztlich um die Frage, ob die Gottesbeziehung durch Christus oder durch die Tora bestimmt wird. Diese Grundalternative lässt sie sich stark vereinfacht in zwei Graphiken verdeutlichen:
Gott
Tora
Mensch – Tora – Mitmensch Abb. 11: Die Stellung der Tora im Judentum
216
5 Die paulinischen Briefe
Gott
Christus
Mensch – Liebesgebot als Erfüllung der Tora / Gesetz Christi – Mitmensch Abb. 12: Christus und die Tora bei Paulus
Das Verhältnis zu Gott entscheidet sich für Paulus allein an der Beziehung zu Christus. Die Gottesbeziehung der Christen wird nicht mehr durch die Tora geregelt. Was sich von ihren Geboten auf den Umgang mit anderen Menschen bezieht, ist im Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18; Gal 5,14) als „Gesetz Christi“ (6,2) gebündelt (s. Anm. 365 ff.). Nach der prinzipiellen Bedeutung des Streits sind nun einige Einzelfragen zu klären: a) Die Gegner in Galatien: Dass es sich bei den Widersachern um Judenchristen handelte, bestätigt neben dem Beschneidungsverlangen auch die Aufforderung zur Einhaltung einer kultischen Zeitordnung, d. h. des jüdischen Festkalenders (Gal 4,9 f.). Diese Forderung ist von einigen jüdischen Gruppen jener Zeit bekannt (z. B. 1QS 9,26 – 10,8; vgl. Jub 2,9). Ebenso sind die „Werke des Gesetzes“ (érga nómou)335 ein jüdischer Ausdruck (ma‘aśê hattôrah), der auch in einem Qumrantext vorkommt (4QMMT C 27 = 4Q398 14 ii 3). Er meint die Werke, die das Gesetz zu tun verlangt, d. h. das Halten der Tora durch die Erfüllung ihrer Gebote.336 Der Verfasser jenes Textes, der manchmal mit dem „Lehrer der Gerechtigkeit“
335 Gal 2,16a.b.c; 3,2.5.10; Röm 3,20.28; vgl. auch die Kurzform „Werke“ in Röm 4,2; 9,12.32; 11,6 sowie 4,6. 336 Die Wendung bezieht sich also nicht nur wie bei J. D. G. Dunn auf die Befolgung bestimmter Einzelgebote wie der Beschneidungs-, Speise- und Sabbatvorschriften als „boundary markers“, d. h. als Bestimmungen zur ethnisch-sozialen Abgrenzung (die dann immer noch ein Testfall für das Halten des „ganzen Gesetzes“ wären; Gal 5,3). Abzulehnen ist auch die Deutung dieser Werke auf jede Form von Werkgerechtigkeit und Leistungsreligion bzw. Selbstrechtfertigung des Menschen vor Gott. Hier geht die lutherische bzw. reformatorische Polemik gegen die katholische Rechtfertigungslehre von einer völlig anderen Situation aus als Paulus, der im Galaterbrief nicht die guten Werke thematisiert, die jemand zur Legitimation vor Gott tut, sondern die Regelungen für die Beschneidung, das Essen und den Sabbat, die von der Tora gefordert werden (und ethisch natürlich auch befolgt sein wollen). Zur Bedeutung der guten Werke s. zum Jakobusbrief § 8.8.2c.
5.11 Der Galaterbrief
217
identifiziert wird, ist bestrebt, sich von dem unreinen Volk zu trennen (4Q397). Ein ähnliches Verhalten fordern die Gegner des Paulus.337 Auch in 4QMMT tritt die eschatologische Perspektive deutlich hervor. Diese Analogie besagt nicht, dass es sich bei den Opponenten in Galatien um Juden handelte – es waren Christen.338 Aber Paulus beurteilt ihr Auftreten ähnlich wie das Verhalten der Anhänger des Jakobus, die sich in Antiochien durch die Ablehnung der Tischgemeinschaft mit Heidenchristen ebenfalls von den Unreinen distanziert hatten (Gal 2,11–14). Die Parallele aus Qumran bestätigt den streng judenchristlichen Einfluss: Die Gegner des Paulus vertraten in Galatien eine ähnliche Position als jüdische ethische Rigoristen wie der Verfasser von 4QMMT im Rahmen des Judentums seiner Zeit. Dass es sich bei den Gegnern um jüdische Gnostiker handelte, wird gelegentlich mit dem Hinweis auf die (Welt-)Elemente (stoicheía toú kósmou) in Gal 4,3.9 behauptet (W. Schmithals). Die Stoicheia waren in der Orphik, bei den Pythagoräern und in der Gnosis von unterschiedlicher Bedeutung, übten aber stets eine Mittlerfunktion zwischen der menschlichen und der göttlichen Welt aus. Deshalb spricht Paulus von den Weltelementen wahrscheinlich in metaphorischer Weise, um auch das Gesetz in seiner Mittlerfunktion mit ihnen zu vergleichen. Der Sohn Gottes ist als Mittler aber sowohl dem Gesetz als auch den Weltelementen übergeordnet (3,24 f.; 4,3–5).339
Wenn Paulus seine Gegner mit Jakobus in Verbindung bringt (Gal 2,12), so muss dies nicht bedeuten, dass der Herrnbruder selber solche Leute unterstützt hat. Eher könnten die Widersacher mit den „falschen Brüdern“ (2,4) identisch sein, die sich auf dem Apostelkonvent gegen die Vereinbarung des Paulus mit den Jerusalemer „Säulen“ (2,9) wandten und die Beschneidung des Griechen Titus forderten.340 Jedenfalls waren die Gegner der Überzeugung, dass der Glaube an Jesus als den Messias (Christus) die wahre Gestalt des Judentums ist und dass dessen jüdischer Rahmen nicht verlassen werden darf. Indem Paulus deren Beschneidungsforderung zurückweist und die Identität des Glaubens allein auf das von Christus gestiftete Heil gründet, macht er im Gegenzug der Tora jegliche soteriologische Relevanz streitig, was in der Konsequenz zum Bruch mit der Synagoge führen muss. Indem die judenchristlichen Opponenten Christusglauben und Toratreue, Taufe und Beschneidung auch für die Heidenchristen verlangen, unterschätzen sie nicht nur die Heilstat Jesu, sondern fallen aus der Sicht des Paulus auch hinter die Vereinbarungen des Apostel337
Gal 2,16; 3,2.5.10; vgl. Röm 3,20.28; vgl. J. D. G. Dunn, 4QMMT and Galatians, NTS 43 (1997), 147–153; ders., Theology (Lit. § 5), § 14.4; M. Bachmann, Keil oder Mikroskop? Zur jüngeren Diskussion um den Ausdruck „‚Werke‘ des Gesetzes“, in: ders. (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive (WUNT 182), Tübingen 2005, 69–134 (vgl. § 5.8.2i); O. Hofius, „Werke des Gesetzes“. Untersuchungen zu der paulinischen Rede von den érga nómou, in: D. Sänger / U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes (Lit. § 5), 271–310. 338 So aber N. Walter, Paulus und die Gegner des Christusevangeliums in Galatien, in: A. Vanhoye (Hg.), L’Apôtre Paul (BEThL 73), Leuven 1986, 351–356. 339 Zu den Weltelementen s. P. Pokorný, ThHK 10/1, 95 f.123 ff.; H.-J. Eckstein, Verheißung (Lit. § 5.11), 229–233. 340 So A. Oepke, ThHK 9, 212 f.
218
5 Die paulinischen Briefe
konvents zurück. Denn dort war nichts anderes festgelegt worden als die Aufteilung der Missionsgebiete und die Jerusalemkollekte (so nach Gal 2,6–10 im Gegensatz zum Aposteldekret in Apg 15,29; § 5.8.2; 6.4.5.2a). b) Die Reaktion des Paulus: Wenn der Apostel im Galaterbrief gegen die Beschneidung und andere Werke des Gesetzes als Bedingungen des Heils polemisiert, beabsichtigt er nicht, die Tora herabzusetzen. Seine Kritik am Gesetz als Heilsweg bedeutet keineswegs, dass das Befolgen des Gesetzes als Werk- oder Selbstgerechtigkeit abzulehnen ist, wie es einige Paulusinterpreten behaupten (s. Anm. 336). Das Gesetz ist für ihn ein „paidagōgós“ (Gal 3,24), ein Pädagoge im antiken Sinn eines Aufsehers, der auf Reliefs mit einem Stock in der Hand abgebildet ist. Aus paulinischer Sicht handelt es sich beim Gesetz um einen Damm, der die menschliche Sünde in Grenzen halten soll, der jedoch an sich nicht zum Heil, d. h. zur Gemeinschaft mit Gott, führen kann. Der Nutzen des Gesetzes ist sachlich und zeitlich begrenzt. Die Zeit der Tora endete341 mit dem Anfang des neuen Äons, der mit dem Glauben (pístis) anbricht, der sich auf Jesus als Christus (Messias; § 5.6.1.1) bezieht.342 Gott bekannte sich durch die Auferweckung Jesu von den Toten zu dem ans Kreuz Genagelten (1,1.4) und somit zu einem, der einen Tod starb, der durch das Gesetz verflucht ist (Dtn 27,26; 21,23; Gal 3,10.13). Die verurteilende Macht der Tora ist durch den Tod Jesu343 gebrochen, den dieser stellvertretend erlitt (3,13 f.; 4,4 f.). Sein Tod brachte die Befreiung vom Fluch des Gesetzes, die in einer sozialen Ausdrucksweise durch das Bild vom Loskaufen (exagorázein) eines Sklaven aus seiner Abhängigkeit (Knechtschaft) beschrieben wird (3,13; 4,5).344 Damit begann der neue Äon345 – die Zeit des Geistes und einer intensivierten Beziehung zu Gott im Glauben (2,16; 3,3.25), die den Menschen in Christus durch einen göttlichen Schöpfungsakt zu einer „neuen Kreatur“ macht (6,15), einen neuen Status der Gotteskindschaft eröffnet und Gott durch die Anrede „Abba“ als Vater anzurufen ermöglicht (4,5 f.). In Christus leben die Glaubenden „nicht mehr“ (oukéti; 2,20; 3,25 f.) in einer versklavten Existenz „unter dem Fluch (sc. des Gesetzes)“ (3,10) bzw. „unter dem Gesetz“ (3,23), „unter dem Zuchtmeister“ (3,25), „unter Vormündern und Hausverwaltern“ (4,2) und „unter den Elementen des Kosmos“ (4,3) – insofern ist Christus auch im Galaterbrief „des Gesetzes Ende,“ wie Paulus in Röm 10,4 sagen wird. Das Erfüllen der Be341
Beachte den pointierten Wechsel von den Vergangenheitsaussagen zum Präsens in
V.26. 342
Vgl. Christus als Objekt des Glaubens in Gal 2,16.20; 3,22 ff., aber auch Röm 3,22.26; Phil 3,9; Phlm 5. 343 Zum Stellvertretungsgedanken s. § 5.6.2.3b; Exkurs 2. 344 Vgl. dasselbe Verbum ohne Vorsilbe (agorázein) im Kontext der Sklaverei in 1Kor 6,20; 7,23. 345 Vgl. die Befreiung aus der gegenwärtigen bösen Welt (Gal 1,4) mit der „neuen Schöpfung“ (6,15) durch die stellvertretende Selbsthingabe Jesu für die Sünden (1,4; 2,20).
5.11 Der Galaterbrief
219
schneidungsforderung bedeutet für Paulus eine Rückkehr unter das Gesetz und stellt ein absurdes Verhalten dar – die Zurückweisung der Gnade Gottes (2,21). In der Paulusexegese wurde die Ablehnung des Gesetzes als Heilsweg, die Erfüllung seiner Verheißungen in Christus und die Bestätigung seiner Bedeutung als Erzieher oft als Widerspruch verstanden.346 Wir haben allerdings gesehen, dass Paulus den Glauben als den alleinigen Heilsweg definierte.347 Nur die soteriologische Funktion des Gesetzes wurde durch Christus aufgehoben, doch haben einzelne Dimensionen wie das Liebesgebot als Summe der Tora in der Paränese weiterhin Bestand in einem neuen Kontext (s. Anm. 367).348 Nach Paulus weist das Gesetz nicht den Weg zum Heil, sondern dient der Orientierung in der Welt.
c) Die Entfaltung der Rechtfertigungslehre: Im Galaterbrief geht Paulus von den älteren christlichen Glaubensaussagen aus, die den Tod Jesu Christi für andere (Gal 1,4; 2,20; 3,13) und seine Auferstehung (Gal 1,1) zum Inhalt haben (1Kor 15,3b–5). Beide Aussagen sind grundsätzlich unabhängig voneinander aus sich selbst heraus verständlich (§ 5.6.2.1). Aber in dem akuten Streit um das wahre Volk Gottes wagt es Paulus, beide zu kombinieren und neu zu interpretieren: Auch die Christen sind das Volk Gottes, weil sie in Christus durch ihren Glauben und durch die Taufe zu Erben349 der göttlichen Verheißung an Abraham werden (Gal 3,26–29). Im stellvertretenden Tod Christi ist schon der feste Grund gegeben, der die Menschen aus der Macht des Gesetzes befreit („ich bin dem Gesetz gestorben“; 2,19) und ihnen die Teilnahme am neuen Äon erschlossen hat: „Christus lebt in mir“ durch den Glauben (2,20; 3,13 f.). Die Gegenwart wird zu einer Zeit, in der sich die beiden Äonen überlappen (die zweifache Eschatologie; § 5.10.3). Diese Verschränkung der Zeiten kommt im Galaterbrief auch in mehreren Antinomien zum Ausdruck, die von apokalyptisch-eschatologischer Tragweite sind: Gesetz – Geist (4,1–7), Hagar – Sara (4,21– 31), Werke des Gesetzes – Glaube an Christus (2,15 ff.), Sünde – Rechtfertigung (2,16 f.), Fleisch – Geist (3,2–4; 5,16 f.), Verheißung des Segens – Fluch des Gesetzes (3,6–14), Sklave (bzw. unmündiges Kind) – Freier (Erbe) (3,19–4,7) usw. Um die Tiefe des Bruchs zu verdeutlichen, an dem der Christ durch den Glauben an den auferstandenen Christus als Herrn beteiligt wird, schildert Paulus, wie sein „Ich“ 346
Das betont vor allem H. Räisänen, Paul and the Law, bes. Kap. 2 (zur Kritik vgl. § 5.8.2i). 347 Zur Sicht der „New Perspective“ (§ 5.8.2i) vgl. J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 150–155.360–362.373–375, der zu Recht das jüdische Selbstverständnis der zitierten Gesetzeskorpora im Sinn des Bundesnomismus (covenantal nomism) nachzeichnet, in der Argumentation des Galaterbriefs aber die Parallelisierungen und Antinomien des Apostels zu wenig beachtet und damit der paulinischen Theologie nicht gerecht wird. 348 H. Hübner, Pauli Theologiae Proprium (1980), zuletzt in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik, Göttingen 1995, 40–68, bes. 45 ff. 349 Das Motiv des Erbens knüpft traditionsgeschichtlich an die Landverheißung an (Gen 15,7; vgl. Apg 7,5).
220
5 Die paulinischen Briefe
stirbt und er sich im Glauben mit Christus identifiziert: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (2,19–21). Diese rhetorisch wirksame Darstellung wird später in Röm 6,3 ff. durch die Rede vom Sterben des „alten Menschen“ und der eschatologisch begründeten Erneuerung seines Lebens durch die Taufe ersetzt und weiter ausgeführt (§ 5.6.2.2d). Das Evangelium von der Auferweckung Jesu, das im 1. Thessalonicherbrief so wichtig war (§ 5.10.3) und im 1. Korintherbrief entfaltet wird (§ 5.12.5c), erscheint im Galaterbrief nur im Präskript durch den Hinweis auf Gott, „der ihn auferweckt hat von den Toten“ (1,1). Doch erhält dieses Evangelium im Galaterbrief eine fundamentale Bedeutung, weil es von der Angst vor dem Zorn des gerechten Gottes befreit. Wenn Paulus das von ihm verkündigte Evangelium betont (1,11), handelt es sich also um eine Deutung der Auferstehungsbotschaft. Dieses Kerygma stellt er jenem „anderen Evangelium“ (1,6) gegenüber, in dem seine judenchristlichen Opponenten die Heilsbotschaft mit der Einhaltung des Gesetzes kombinieren. Deren Lehre ist nach paulinischem Urteil aber in Wahrheit gar kein Evangelium (1,7a), weil sie die Vollkommenheit der Heilsgabe in Christus in Frage stellt und damit dem Evangelium widerspricht, dem Paulus sich als Apostel durch seine Berufung verpflichtet weiß (1,1.11f.). ‚Sein Evangelium‘ (vgl. 2,11) ist die Rechtfertigungslehre. In ihr wird die Auferstehung als die Auferweckung des Gekreuzigten proklamiert, dessen stellvertretender Fluchtod am Kreuz das Heil für alle Menschen gestiftet hat.350 Durch diese Deutung wird das Ostergeschehen auf eine neue Art zum Ausdruck gebracht. Die künftige universale apokalyptische Erfüllung wird in die eschatologische Existenz jedes einzelnen Menschen hereingeholt. Paulus interpretiert die tradierte Formel des Evangeliums von der Auferstehung Christi, indem er die kultische Metaphorik vom Opfertod Jesu (§ 5.6.2.3b; Exkurs 2) in einzigartiger Weise mit der juristischen Begrifflichkeit der Rechtfertigung kombiniert und darin den Freispruch vor dem Gericht Gottes einschließt. Provozierend wirkt dabei sowohl im Galaterbrief als auch in den Korintherbriefen die Botschaft vom Kreuz Christi:351 Nicht nur in den politischen Messiasvorstellungen (§ 5.6.1.1), auch in den Traditionen vom leidenden Gerechten (Exkurs 5) wäre die Kreuzigung einer positiven Gestalt kaum denkbar. Für Paulus ist jedoch gerade die Auferweckung des Gekreuzigten ein Argument für die heilschaffende Macht Gottes, die die soteriologische Funktion des Gesetzes aufhebt (Gal 3,13). Im Galaterbrief entfaltet Paulus zum ersten Mal seine Rechtfertigungslehre als Explikation des Evangeliums von der heilbringenden Bedeutung Jesu (§ 5.6.2.1). Um sie zu verstehen, müssen wir beachten, dass sie eine Neuinterpretation des Evangeli350 Vgl. das Kreuz (Gal 3,1; 5,11; 6,12.14; § 5.12.5e) mit den Stellvertretungsaussagen (1,4; 2,20; 3,13; § 5.6.2.1). 351 Gal 5,11; 6,12.14; 1Kor 1,23; 2,2 f.; 2Kor 13,4 (§ 5.12.5e).
5.11 Der Galaterbrief
221
ums für diejenigen ist, die das (Jüngste) Gericht als die eigentliche Grenze zwischen diesem und dem künftigen Äon voraussetzen, d. h. für die religiös interessierten Juden, einschließlich der Judenchristen. Es mutet paradox an, dass Paulus die Rechtfertigungslehre im Galaterbrief gerade im Gespräch mit ehemaligen Heiden (4,8; 5,2 f.; 6,12 f.) formulierte. Diese Paradoxie ist jedoch dadurch veranlasst, dass die Heidenchristen sich durch Judenchristen haben beeinflussen lassen. Das Paradox löst sich auf, wenn man bedenkt, dass die paulinische Argumentation sich eigentlich an die Judenchristen in Galatien wendet. Für die hellenistisch geprägten Heidenchristen seiner Zeit interpretierte Paulus das Evangelium in 2Kor 5,11–6,10 wieder anders, nämlich als Versöhnungslehre (§ 5.13.3c). Wenn Paulus „rechtfertigen“ (dikaioústhai) sagt, meint er das Bestehen vor dem Gericht Gottes (Gal 2,16 f.; 3,8.11.24). Wenn er von der „Gerechtigkeit“ (dikaiosýnē) spricht, dann handelt es sich nicht um die distributive Gerechtigkeit, die Lohn und Strafe zuteilt, sondern um die rettende Heilsmacht Gottes. Die Gerechtigkeit Gottes schafft ein heiles Verhältnis zwischen Mensch und Gott, das in Christi Tod begründet liegt. Diese von Gott gestiftete Gerechtigkeit gewährt dem Menschen das ewige Leben (3,21), die Restitution seiner durch die Sünde gestörten Gotteskindschaft (4,5–7) und durch den heiligen Geist die Kraft zu einem neuen Leben auf der Erde (5,5; vgl. 3,5; 4,6 ff.). Der Mensch wird zu einer „neuen Kreatur“ (6,15). Eine solche Gerechtigkeit kann nur durch die Gnade Gottes erreicht werden (3,18; 5,4 ff.). Diese Gerechtigkeit wird durch das Evangelium verkündigt und im Glauben empfangen. Erst im Römerbrief wird Paulus dieses ganze Geschehen in der Rede von der „Gerechtigkeit Gottes“ auf den Begriff bringen (Röm 3,5.25 ff.), und zwar in einer so umfassenden Bedeutung, dass er die gerechtsprechende und die schöpferische Dimension der Gerechtigkeit im Sinn eines neuen göttlichen Schöpfungsakts vereinigt (§ 5.8.2i; 5.16.5a). 5.11.4
Die ekklesiologische Bedeutung der Rechtfertigungslehre
Die These von der Gerechtsprechung aus der Gnade Gottes stellt eine weitreichende Neuinterpretation der Formel vom stellvertretenden Tod Jesu (Exkurs 2) vor dem apokalyptischen Hintergrund einer erwarteten Äonenwende dar (§ 5.10.3). Sie ist mit der Auferstehungsverkündigung verbunden und schon in der alten Pistisformel in 1Kor 15,3b–5 enthalten (§ 5.6.2.1). Ihre Radikalität als Innovation (§ 1.3.2–3) kann kaum überschätzt werden. a) Die ekklesiologische Ausgangsfrage: Paulus hat die Rechtfertigungslehre vor allem aus ekklesiologischen Gründen entwickelt.352 Der Konflikt zwischen Paulus
352
Vgl. W. Kraus, Gottes Gerechtigkeit und Gottes Volk, in: M. Bachmann, Paulusperspektive (s. Anm. 337), 329–347.
222
5 Die paulinischen Briefe
und Petrus in Antiochien (Gal 2,11–14) wurde zum entscheidenden Anlass, um den Gedanken der Rechtfertigung zu entfalten. Petrus hatte unter dem Druck von Anhängern des Jakobus die Tischgemeinschaft, d. h. das Feiern des Herrnmahls, mit den Heidenchristen beendet. Dieser Abbruch der Mahlgemeinschaft bedeutete die Spaltung der Kirche. Die Argumentation der Paulusgegner in Galatien griff auf das Alte Testament zurück: Wenn Jesus der Messias (Christus) ist, dann müssen diejenigen, die ihn als Christus bekennen, das messianische Volk sein. Das messianische Volk aber ist Israel – die Nachkommen Abrahams, deren Bundeszeichen die Beschneidung ist (Gen 17; s. Anm. 333 f.). Die Folge war, dass nach diesem judenchristlichen Verständnis auch die Nicht-Israeliten, die sich zu Jesus als dem Christus bekennen und am neuen Äon teilnehmen wollten, zuvor durch die Beschneidung Juden werden mussten. Die nichtjüdischen Christen, die Heidenchristen, sollten in der Kirche also nur eine zweitrangige Stellung innehaben, wie sie etwa die unbeschnittenen Gottesfürchtigen in der Synagoge hatten, die mit dem jüdischen Glauben sympathisierten, ohne die Beschneidung aber nicht als Juden im Vollsinne akzeptiert wurden (Gal 2,11 ff.; Apg 15,1; § 6.4.5.2a). Dass ehemalige Heiden auch ohne Beschneidung allein aufgrund der Taufe als vollwertige Mitglieder der Gemeinde anerkannt werden sollten, war ein absolutes Novum. Damit hat Paulus erreicht, was für Sympathisanten und Gottesfürchtige in jüdischen Kreisen noch völlig undenkbar war und selbst über das Aposteldekret weit hinausging.353 b) Die Neuinterpretation der Abrahamsverheißung: Ebenso wie die Gegner geht auch Paulus im Galaterbrief von der Voraussetzung aus, dass das messianische Volk die wahre Nachkommenschaft Abrahams ist,354 allerdings in einer der jüdischen Tradition gegenüber umwerfend kühnen Neuinterpretation: Für den Apostel war Abrahams Glaube ausschlaggebend, mit dem er der Segensverheißung und Zuwendung Gottes vertraute (Gen 12,3 = Gal 3,8) und für den er die Gerechtigkeit zugerechnet bekam (Gen 15,6 LXX = Gal 3,6; vgl. Röm 4,3), noch ehe er beschnitten war (Gen 17).355 Daher kann Paulus sagen, dass dem Abraham – unabhängig von der Beschneidungsforderung – in der Segensverheißung schon das Evangelium von der Rechtfertigung allein aus Glauben im Voraus verkündigt wurde (Gal 3,8: proeuēggelísato). 353 Vgl. zum historischen Hintergrund den Forschungsbericht von B. Wander, Auseinandersetzungen zwischen antikem Judentum und frühem Christentum, VuF 48 (2003), 29–44. 354 Zur ekklesiologischen Bedeutung und dem Verhältnis zu Israel vgl. W. Kraus, Volk Gottes, 202–254. 355 Vgl. die Explikation in Röm 4,9–12; § 5.16.5a. Damit hebt sich Paulus grundlegend von der jüdischen Tradition ab, in der Abrahams Gerechtigkeit vor allem aus seinem Gehorsam bei der Opferung Isaaks (Gen 22,1–18) abgeleitet wurde (Sir 44,19–21; 1Makk 2,50–52; vgl. ebenso Hebr 11,17; Jak 2,21; § 8.8.2c). Zum Abrahambild im Frühjudentum und Neuen Testament vgl. K. Berger, Art. Abraham II, TRE 1, 372–382, monographisch F. E. Wieser, Die Abrahamvorstellungen im Neuen Testament, Bern u. a. 1987, hier 40–50.56–67, zu Gal 3 und Röm 4.
5.11 Der Galaterbrief
223
Die Verheißung an Abraham erscheint als Prototyp des Evangeliums. Denn Segensverheißung und Evangelium werden beide aus lauter Gnade zugesprochen und allein durch den Glauben aufgenommen. Analog gilt Abraham als Prototyp aller Glaubenden, d. h. als erster in der Gemeinschaft der Gläubigen. Die Abrahamsverheißung ist für den Apostel auch deshalb entscheidend, weil sie sich nach der innerbiblischen Chronologie 430 Jahre vor der Proklamation des Gesetzes auf dem Berg Sinai ereignete. Damit empfing Abraham die Verheißung bereits zu einer Zeit, als es die Tora noch gar nicht gab. Die Verheißung ist also älter, sie ist Gottes erstes Wort, das Gesetz hingegen erst Gottes zweite Willensäußerung. Deshalb ist das Evangelium vom Heil in Christus nach paulinischem Verständnis nicht Gottes Reaktion auf das Gesetz, sondern Gottes ursprünglicher Wille, der dem Abraham bereits im Voraus kundgetan wurde. Auch zeitlich gesehen hat die Gnade Priorität (Gal 3,15–18). Die Abrahamsverheißung ist derjenige Text, an dem sich das paulinische Schriftverständnis (§ 5.5.1) exemplarisch verdeutlichen lässt – und zugleich von anderen neutestamentlichen Verhältnisbestimmungen von Neuem und Altem Testament abhebt (§ 2.1.3). Die Schrift enthält die Tora, ist mit dieser aber nicht identisch. Das Alte Testament bleibt im Galater- und Römerbrief (§ 5.16.2) als theologischer Bezugsrahmen unverzichtbar, aber im Blick auf das Heil bei Gott ist Christus „das Ende des Gesetzes für jeden, der glaubt“ (Röm 10,4). Den hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der Schrift (Altes Testament) bietet die Kategorie der „Verheißung“ (epaggelía).356 Doch denkt der Apostel nicht im Schema von Verheißung und Erfüllung (wie Matthäus; § 6.3.3.3a) und versteht auch die Heilsgeschichte nicht als Kontinuum (wie Lukas; § 6.4.5.2a). Vielmehr betont er die Einmaligkeit und Endgültigkeit der Heilstat Gottes in Christus, der durch seine stellvertretende Selbsthingabe für die Sünden der Menschen die Äonenwende herbeigeführt hat (Gal 1,4; vgl. 3,13). Die gute Nachricht von diesem Heilsereignis (§ 6.2.6.1) hat „die Schrift“ (graph¯´e) in der Verheißung an Abraham „vorhergesehen“ (proideín) und „im Voraus zugesagt“ (proeuaggelízesthai; Gal 3,8). In analoger Weise charakterisiert Paulus in Röm 1,1 f. das „Evangelium Gottes“ durch das Verbum „proepaggelízesthai“ (vorherverheißen) mit der Vorsilbe „pro-“ noch sehr viel grundsätzlicher als bei der Abrahamverheißung als diejenige frohe Botschaft, die Gott durch das gesamte prophetische Zeugnis der biblischen Schriften (des Alten Testaments) zuvor versprochen hat. Auch das Christusbekenntnis in 1Kor 15,3.4 geschieht „nach den Schriften“, und die Gerechtigkeit Gottes wurde nach Röm 3,21 schon vor ihrer endgültigen Offenbarung in Christus „bezeugt vom Gesetz und den Propheten“ (§ 2.1.1). Damit wird die ganze Schrift als prophetisches Zeugnis verstanden, das Christus angekündigt hat (Röm 15,8–12; vgl. § 5.6.1.1–2; 6.2.7.1). Dementsprechend sind „in Christus“ Gottes Verheißungen Wirklichkeit geworden, er verkörpert das „Ja“ der göttlichen Zusagen (2Kor 1,19 f.). So begreift Paulus die ganze Schrift von ihren Heilszusagen her unter dem Vorzeichen der „Verheißung“ (epaggelía). Doch argumentiert er nicht im heilsgeschichtlichen Schema von Weissagung und Erfüllung, vielmehr spricht er vom Bestätigen (Röm 15,8) bzw. Festwerden (Röm 4,16), das die Zuverlässigkeit und Gültigkeit der göttlichen Verheißung(en) bekräftigt. Die Pointe liegt darin, dass Gott den Segen, 356
Vgl. G. Sass, Leben aus den Verheißungen (FRLANT 164), Göttingen 1995; ders., Art. Verheißung, ThBLNT2 2, 1743–1751.
224
5 Die paulinischen Briefe
den er dem gläubigen Abraham im Voraus zugesagt hat, in seiner Verheißungstreue durch denselben Glauben auch in den Christen verwirklicht.
Außerdem sind in den Segen Abrahams bereits die Völker, d. h. die Heiden, eingeschlossen (3,8; vgl. Gen 12,3; 18,18 u. ö.).357 Auch der gläubige Heidenchrist kann nach dem Vorbild und in der Gemeinschaft „mit dem gläubigen Abraham“ (Gal 3,9) vor dem Gericht Gottes bestehen, denn als Glaubender gehört er ebenso vollwertig zum Volk Gottes wie ein Judenchrist.358 Damit ist Abraham als Präzedenzfall der Gerechtigkeit aus Glauben zum legitimierenden Modell für die Völkermission geworden, in der nun nicht mehr lediglich Juden-, sondern auch Heidenchristen gleichwertig eingeschlossen sind (Gal 3,29; vgl. Röm 4,16 f.).359 Die Zugehörigkeit der Heidenchristen zur Nachkommenschaft Abrahams hat bei Paulus nicht nur eine metaphorische Bedeutung als Ehrentitel, sie bezeichnet eine reale Beziehung: die Analogie des Glaubens. Abraham hat einen bleibenden Rang inne als Erstling in der Gemeinschaft der Glaubenden (vgl. auch Röm 4; § 5.16.5a). Nicht zuletzt war für Paulus bereits die Verheißung an Abraham selber schon mit Jesus Christus verbunden, da dort vom „Samen“ im Singular die Rede ist (Gal 3,16).360 Diesen „Samen“ bezieht Paulus nicht wie sonst üblich im kollektiven Sinn auf Isaak und die weitere Nachkommenschaft (Apg 7,5–8), sondern in einem bewusst – und bei abwägender Betrachtung gewaltsam – wörtlich genommenen individuellen Verständnis auf die Person Jesu361 als den einen, den eigentlich verheißenen Nachkommen schlechthin. Durch den Glauben an Christus werden mit dem gläubigen Abraham auch alle Glaubenden mit ihrer Taufe in einem kollektiven Sinn zur Nachkommenschaft Abrahams und Erben seiner Segensverheißung (Gal 3,6–9.26– 29). Damit ergeben die Segensverheißung an Abraham und ihre Erfüllung in Christus eine große Klammer, die die Offenbarung der Tora am Sinai einrahmt und zu einem Intermezzo werden lässt, das in Christus überholt ist:
357 Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 112–159.238–247.350 f.; ders., Art. Segen, ThBLNT2 2, 1637 f. 358 In frühjüdischen Texten wird die Segensverheißung für alle Völker aus Gen 12 mit Abrahams Gehorsam bei der Opferung Isaaks (Gen 22,1–18) und dem Bundesgedanken verknüpft (Sir 44,19–21) sowie an die Beschneidung und den Toragehorsam gebunden, der hier die Warnung vor Verunreinigung durch die Tischgemeinschaft mit Heiden und das Mischehenverbot einschließt (Jub 12,22 f.; 18,16; 22,16.20). 359 Anders akzentuiert ist die Bedeutung Abrahams bei der Segensverheißung in Apg 3,25 f. als erster Bundespartner Gottes (§ 6.4.5.2a) und im Hebräerbrief als Paradigma der Geduld im Festhalten an der Verheißung (§ 8.5.3c); vgl. Abraham – ohne Erwähnung der Segensverheißung – als ersten Proselyten in Mt 1,1 f. (§ 6.3.3.1). 360 Hebr. zæra‘, griech. spérma; vgl. Gen 13,15; 17,8; 24,7 u. ö. (vgl. 12,7; 15,18) sowie 12,3: „in dir“ (Gal 3,8). 361 Vgl. ebenso die Petruspredigt in Apg 3,25 f. (§ 6.4.5.2a).
5.11 Der Galaterbrief Abraham
225
Christen
Verheißung des Segens (Gen 12,3) Glaube Abrahams (Gen 15,6) Nachkommenschaft („in dir“)
„die aus Glauben“ = „Söhne Abrahams“ (Gal 3,7) Neuinterpretation
Christus als der eine verheißene Nachkomme (individuell) (Gal 3,16)
Vorausverkündigung des Evangeliums (Gal 3,8):
Tora vom Sinai 430 Jahre später (Gal 3,17–25):
– Gerechtigkeit (Gen 15,6) – Segen (Gen 12,3)
– Verheißung des Lebens – Gerechtmachung (Gal 3,8) (Lev 18,5) wird zum – Loskauf, d. h. Befreiung Todesur teil für die vom Fluch des Gesetzes Übertreter (Dtn 27–30 (Gal 3,13) in Gal 3,10.12) – (ewiges) Leben (Hab 2,4 in Gal 3,11) – Segen für die Heiden (Gal 3,14a) – Geistempfang (3,14b) – Gotteskindschaft in Christus (3,26; 4,5 f.) – Neuschöpfung des Menschen in Christus (6,15)
für alle Völker (Gen 12,3)
Verkündigung des Evangeliums (Gal 1,6 f.11; 2,5 ff.):
Juden und Griechen „in Christus“ durch Glauben und Taufe Nachkommen Abrahams (kollektiv) und „nach der Verheißung Erben“ (Gal 3,26–29) => Soteriologische Gleichberechtigung der Heidenchristen
Abb. 13: Verheißung, Tora und Evangelium nach Gal 3 In den dargelegten Bahnen bewegt sich auch die Hagar-Sara-Typologie (Gal 4,21–31). In ihr ist der Vergleich mit Hagar, der Magd Abrahams, in 4,24 f. nicht als eine Herabsetzung Israels zu verstehen. Denn die Zweiteilung zwischen den beiden Frauen gilt – vor dem Hintergrund prophetischer Verheißungen (vgl. Jes 54,1 in Gal 4,27) – den Kindern von Abrahams Ehefrau
226
5 Die paulinischen Briefe
Sara, der Freien. Sie stellt ein Sinnbild für die neugetauften Heiden dar, die aus der Verheißung geboren sind (V.23) und ihre Freiheit nicht aufgeben sollen.362
Paulus entdeckte also die soteriologische Dimension des ekklesiologischen Streits und bot eine christologische Lösung an.363 Dadurch begründete er nicht nur die synchrone Einheit der Juden und Heiden in der Kirche, sondern auch die diachrone Einheit der Kirche mit der Nachkommenschaft Abrahams. Als Stammvater Israels und Verheißungsträger für alle Völker wird Abraham zur idealen Integrationsfigur, mit der sich sowohl Judenchristen als auch Heidenchristen identifizieren können (Gal 3,6–9.13 f.26–29; vgl. Röm 4,1 ff.).364 Durch ihre integrierende Kraft wurde die paulinische Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben in der Krise nach dem Fall Jerusalems (70 n. Chr.) für die Kirche attraktiv (§ 8.1). c) Das Liebesgebot: Aus dem Evangelium von Jesus Christus als der Offenbarung der Gnade Gottes ergibt sich die Motivation für ein neues Verständnis der Liebe zu Gott und zum Mitmenschen (Gal 5,6). Die Aufforderungen zur Gestaltung des neuen Lebens eines Christen – viel später lat. „nova lex“ genannt – sind ein Zug paulinischer Theologie, der häufig unterschätzt wurde. Die Aufforderungen sind nicht allein vom alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe abzuleiten.365 In der paulinischen Paränese (§ 5.7b) ist die Liebe eine unverzichtbare Dimension der im Glauben geschenkten Freiheit366 (5,13). Sie ist eine Gabe („Frucht“) des heiligen Geistes (5,22) und führt als „Gesetz Christi“ zur gegenseitigen Solidarität im Leben (6,2; vgl. 1Kor 9,21).367 Daher ist es irreführend, die Heidenmission als „gesetzesfrei“ zu bezeichnen. Denn nachdem die Beschneidungsforderung verworfen wurde, ist die Heidenmission zwar in der Tat nicht mehr dem jüdischen Gesetz verpflichtet. Aber sie ist bei aller paulinischen Kritik an der Heilsfunktion der Tora nicht „ohne (sc. jegliches) Gesetz“. Als „Gesetz des Christus“ (6,2) ergibt sich die Aufforderung zur Liebe freilich nicht mehr aus der Tora und auch nicht als deren Quintessenz aus dem Liebesgebot in Lev 19,18, sondern bleibt ganz an die Person Jesu gebunden, der sich selber aus Liebe hingegeben hat (1,4; 2,20) und dafür von den Toten auferweckt wurde (1,1). Glaube und Liebe gehören zusammen, das Ja zu Gott schließt das Ja zum 362
Vgl. J. L. Martyn, The Covenants of Hagar and Sarah, in: Faith and History (FS W. Meyer), Atlanta GA 1991, 159–192. 363 Vgl. J. B. Souček, Israel und die Kirche, 178 ff. 364 Vgl. U. Heckel, Das Bild der Heiden und die Identität der Christen bei Paulus, in: R. Feldmeier / U. Heckel (Hg.), Die Heiden (WUNT 70), Tübingen 1994, 269–296, bes. 281 f. 365 Gal 5,13 f.; Röm 13,8–10; Mk 12,31 par.; vgl. Lev 19,18 und zum Liebesgebot § 6.2.9. 366 Vgl. S. Vollenweider, Freiheit (Lit. § 5), 285–321; ders., Art. Freiheit, ThBLNT2 1, 504. 367 Vgl. Th. Söding, Das Liebesgebot bei Paulus (NTA 26), Münster 1995, bes. 187– 226.265–267; ders. u. a., Art. Liebe, ThBLNT2 2, 1318–1334, zur Ethik W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments (GNT 4), Göttingen 21989.
5.11 Der Galaterbrief
227
Nächsten ein. Durch Christus hat die christliche Existenz ihre eigene Norm.368 Diese ist – durch Salutatio und Schlusssegen gerahmt – von der Gnade des Herrn umschlossen (1,3; 6,18) und erhält in der Liebe eine richtungsweisende ethische Funktion, mit der nun aber kein soteriologischer Anspruch mehr verbunden ist (vgl. 1Kor 8 und 1Kor 13).369 d) Die Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die paulinische Theologie: Bereits das Dargestellte erweist die These von der Rechtfertigungslehre als „Nebenkrater“ apokalyptischer Erwartung bei Paulus (so Albert Schweitzer) als fragwürdig (§ 5.8.2i). Dasselbe gilt von der Behauptung, dass es sich bei der Rechtfertigungslehre um eine sekundäre, zweitrangige Begründung der missionarischen Strategie des Apostels handle. Paulus kann dieselben Sachverhalte auch auf andere Weise ausdrücken, z. B. durch die Rede von der Versöhnung in 2Kor 5,10–6,10 (§ 5.13.3.1). Wenn Paulus die Heilsbedeutung des Todes Jesu einmal als Gerechtmachung und an anderer Stelle als Versöhnung entfaltet, so darf keine dieser beiden Deutungen isoliert und verabsolutiert werden. Stets drängt sich der Eindruck auf, dass Paulus diese Erklärungsversuche als alternative Interpretationen seiner theologisch tiefen Lösung des ekklesiologischen Problems der Urkirche skizziert, das beim antiochenischen Zwischenfall eklatant zum Ausbruch gekommen ist. In den anderen Briefen legt Paulus die Rechtfertigungslehre zwar nicht explizit dar, aber er setzt deren Kenntnis voraus, wenn er an einigen Stellen verwandte Motive als Argument anführt.370 Dies gilt z. B. für den Hinweis auf den stellvertretenden Tod Jesu, mit dem Paulus in 1Kor 8,11 seine Aufforderung zur Rücksicht auf das Gewissen371 der Schwachen begründet (§ 5.12.5e). Nicht anders verhält es sich bei der Warnung in Röm 14,15, den Bruder nicht ins Verderben zu stürzen, für den Christus gestorben ist (§ 5.16.5c). In beiden Fällen handelt es sich um ekklesiologische und ethische Konsequenzen aus der Gerechtmachung allein aus Gnade. e) Datierung: Die Entfaltung der Rechtfertigungslehre kann als Argument für die Datierung des Galaterbriefs vor dem 1. Korintherbrief betrachtet werden, da hier Aussagen der Rechtfertigung nur vereinzelt anklingen (1Kor 15,56), in der Entfaltung der Kreuzestheologie aber sachlich vorausgesetzt sind (§ 5.12.5e). Allerdings ist 368 Vgl. Röm 15,7 (vgl. V 5: katá [gemäß] Christón Iēsoýn): „Nehmt einander an, wie (kathṓs) auch Christus euch angenommen hat“ (vgl. Kol 3,13 analog vom Vergeben und Eph 5,2 von der Liebe), den Christushymnus als Begründung für die Paränese in Phil 1,27–2,18 oder das Armwerden Christi in der Kollektenbitte von 2Kor 8,9. 369 Th. Söding, Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Paulus (SBS 150), Stuttgart 1992. 370 So z. B. in 1Kor 4,3–7; 9,19–23; 12,13; 15,56 f. oder Phil 3,8–11. 371 Vgl. 1Kor 8,7–12; 10,25–29; vgl. H.–J. Eckstein, Der Begriff Syneidesis bei Paulus (WUNT II/10), Tübingen 1983 oder zusammenfassend ders., Der aus Glauben Gerechte wird leben (BVB 5), Münster 2003, 73–77.226 f.
228
5 Die paulinischen Briefe
davon auszugehen, dass die Rechtfertigungslehre, die Paulus nach unserer Quellenlage im Galaterbrief zum ersten Mal schriftlich ausformuliert, in ihren Grundzügen schon früher Gegenstand seiner Lehre war (§ 5.10.3). Am Ende darf nicht verschwiegen werden, dass Paulus in dem Konflikt in Antiochien offensichtlich der Verlierer war. Er erwähnt nicht, dass Petrus seine Einwände anerkannte. Außerdem ist bezeichnend, dass Paulus später die Missionsgebiete der Antiochener mied und die Schwerpunkte seines Wirkens nach Kleinasien, Griechenland und Rom verlagerte. 5.11.5
Abfassungszeit, Entstehungsort und Adressaten
Der Notiz in Gal 4,13 ist zu entnehmen, dass Paulus bereits in „Galatien“ war (zu „tó próteron“ s. § 5.8.2). Dass Paulus von einem früheren Besuch in Galatien spricht, könnte auf eine Abfassung nach dem Galatienaufenthalt auf der dritten Missionsreise (Apg 18,23) von Ephesus aus hindeuten.372 Und da Paulus während dieses Aufenthalts in Ephesus auch den 1. Korintherbrief verfasste, könnten die Instruktionen für die Galater zur Jerusalemkollekte in 1Kor 16,1 darauf schließen lassen, dass der Konflikt in Galatien zur Entstehungszeit des 1. Korintherbriefs schon beigelegt war. Der Galaterbrief wurde demnach etwa im Jahr 54 n. Chr. geschrieben. Wenn wir uns vor Augen führen, dass Paulus nicht nur durch seine Briefe, sondern auch durch seine theologische Lehrtätigkeit wirkte, ist die Frage nach der zeitlichen Reihenfolge dieser beiden Schreiben allerdings nicht so bedeutend. Beide entstanden in enger Abfolge. Allerdings ist bloß der Galaterbrief aus sich selbst verständlich, während der 1. Korintherbrief mehrfach lediglich auf einige, beiden Seiten bekannte Thesen hinweist (z. B. die gleichwertige Berufung der Juden und Heiden nach 1Kor 7,17–19; 12,13). Deshalb ist bei der Deutung der Korintherbriefe die paulinische Rechtfertigungslehre (vgl. 1Kor 1,30; 6,11; 15,56) zumindest in ihren ekklesiologischen Hauptzügen als bekannt vorauszusetzen. Mehrere Forscher bevorzugen die Datierung des Galaterbriefs auf einen späteren Zeitpunkt, etwa 56 n. Chr., und nehmen als Abfassungsort Makedonien an (Apg 20,1 f.).373 Durch diese spätere Ansetzung ergibt sich eine zeitliche Nähe zum Römerbrief, der hinsichtlich der Rechtfertigungslehre und der Gesetzesthematik Ähnlichkeiten aufweist. Beim gegenwärtigen Kenntnisstand der paulinischen Biographie ist die Frage nach der Abfassungszeit nicht endgültig zu beantworten. Am wahrscheinlichsten ist die Entstehung während des Aufenthaltes in Ephesus. Bei der Auslegung des Galaterbriefs fällt diese Frage jedoch kaum ins Gewicht.
372 So z. B. W. G. Kümmel, Einleitung (Lit. § 1), 265 f.; D. Lührmann, ZBK 10 (nach 1Kor); H.-M. Schenke / K. M. Fischer, Einleitung (Lit. § 1), 79. 373 Zur Diskussion vgl. U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 112–114; vgl. auch J. Becker, NTD, 16.
5.11 Der Galaterbrief
229
Ein Problem stellen die Adressaten dar, für deren Lokalisierung eine Karte der Paulusreisen hilfreich ist. Es ist umstritten, ob es sich bei ihnen um Bewohner der nördlich gelegenen Landschaft Galatien (nordgalatische bzw. Landschafts-Hypothese) oder – wohl eher – des Südteils der römischen Provinz Galatia (südgalatische bzw. Provinz-Hypothese) handelt.374 Die Galater, eine, wie ihr Name besagt („Galater“ = „Kelten“), ursprünglich keltische Bevölkerungsgruppe, besiedelten im 3. Jh. v. Chr. einen Teil des nördlichen Kleinasien (die phrygische Hochebene, die Gegend um die heutige türkische Hauptstadt Ankara). Die Griechen besiegten sie und gründeten das Pergamenische Reich (Attalidenreich). Auf dem Pergamonaltar,375 der im 2. Jh. v. Chr. unter Eumenes II. gebaut wurde (heute in Berlin im Pergamonmuseum), sind die Galater als Titanen abgebildet, die gegen die olympischen Götter rebellieren. Bei dem Teil der Landschaft Galatiens, den Paulus während seiner zweiten Missionsreise besuchte (Apg 16,6), müsste es sich um die Umgebung der Stadt Pessinus handeln. Dort sind der sog. Landschaftshypothese zufolge die Adressaten des Schreibens zu suchen, die Paulus als Galater (3,1) anredet. Das Problem dieser Hypothese besteht jedoch darin, dass Lukas Galatien in Apg 16,6 und 18,23 auf der zweiten und dritten Missionsreise jeweils nur kurz erwähnt, dort aber nirgends von einer Gemeindegründung durch Paulus berichtet und auch in der Delegation der Überbringer der Kollekte für Jerusalem in 20,4 keine Repräsentanten jener Landschaft nennt. Andererseits spricht Lukas in der Apostelgeschichte von der Tätigkeit des Paulus in Lykaonien und den benachbarten Gebieten während seiner ersten Missionsreise (13,13–14,27), die seit 25 v. Chr. – über die nordgalatische Landschaft hinaus – ebenfalls zu der römischen Provinz Galatia gehörten. Nach der Provinzhypothese ist der Galaterbrief für die südgalatischen Gemeinden bestimmt, die Paulus auf der ersten Missionsreise gegründet hat. Während in der nordgalatischen Landschaft altkirchliche Zeugnisse von Christen aus vorkonstantinischer Zeit ebenso fehlen wie Belege für die vorchristliche Präsenz von Juden (obwohl im Galaterbrief Judenchristen ihren Einfluss geltend machen), gab es in den südlichen Teilen der Provinz Galatia jüdische Synagogen (Apg 13,14; 14,1; 16,3) und Christen wie z. B. Timotheus (1Kor 4,17; Apg 16,1) oder Gaius (Apg 20,4). Außerdem verwendet Paulus vielfach Provinznamen (vgl. z. B. Makedonien, Achaia, Asia in 1Kor 16,5.15.19 mit Galatia in V.1). Ein Nachteil der Provinzhypothese besteht darin, dass sie sich allein auf die Angaben der Apostelgeschichte stützen kann und Paulus in seinen Briefen nirgends auf die sog. erste Missionsreise (Apg 13 f.) zu sprechen kommt. Deshalb wurde in der deutschsprachigen Exegese lange Zeit der Landschaftshypothese der Vorzug gegeben. Doch mehren sich in letzter Zeit die Verfechter der Provinzhypothese, die in der englischsprachigen Literatur – auch unter Berücksichtigung althistorischer Arbeiten – seit dem 19. Jh. durchgehend vertreten wurde.376 374 Vgl. U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 114–116; ders., Paulus (Lit. § 5), 287–290, der für die Landschaftshypothese plädiert und die Gemeindegründung in Apg 18,23 auf der dritten Missionsreise 52 n. Chr. annimmt. 375 In Apk 2,13 wird der Pergamonaltar als Satansstuhl bezeichnet. 376 Vgl. P. Stuhlmacher, Theologie I (Lit. § 1), 226; R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 254–259; C. Breytenbach, Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien (AGJU 38), Leiden 1996, 113–119 (die Argumente zugunsten dieser Hypothese sind gesammelt in der Besprechung von Ch. Stenschke, Communio Viatorum 41 [1999], 65–91); M. Hengel / M. Schwemer,
230
5.12
5 Die paulinischen Briefe
Der 1. Korintherbrief
Kommentare: Hans Conzelmann, KEK 5, 21981; Erich Fascher, ThHK 7/1 (1. Teil), Berlin 2 1980; Christian Senft, CNT 7, 1979; Christian Wolff, ThHK 7, 1996; Hans-Josef Klauck, NEB 7, 1984; Friedrich Lang, NTD 7 (1–2Kor), 1986; August Strobel, ZBK 6,1, 1989; Helmut Merklein, ÖTK 7,1, 1992; 7,2 1994; Wolfgang Schrage, EKK 7,1–4, 1991. 1995. 1999. 2001; Anthony C. Thiselton, NIGTC, 2001; Andreas Lindemann, HNT 9, 2000. Monographien und Aufsätze: Wilhelm Lütgert, Freiheitspredigt und Schwarmgeist in Korinth (BFChTh 12,3), Gütersloh 1908; Walter Schmithals, Die Gnosis in Korinth (FRLANT 3 66), Göttingen 1969; Ulrich Wilckens, Weisheit und Torheit (BHTh 26), Tübingen 1959; Hans-Josef Klauck, Herrenmahl (Lit. § 5.6.2.3); Gerhard Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten (FRLANT 138), Göttingen 1986; ders., Hauptprobleme des ersten Korintherbriefes (ein Forschungsbericht), ANRW II,25,4, Berlin / New York 1987, 2940–3044; Peter Marshall, Enmity in Corinth (WUNT II/23), Tübingen 1987; Helmut Merklein, Die Einheitlichkeit des ersten Korintherbriefes, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 345–375; Gerd Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 1987; Margaret M. Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconcialition (HUTh 28), Tübingen 1991; Reimund Bieringer (Hg.), The Corinthian Correspondence (BEThL 125), Leuven 1996; Margaret Thrall (Hg.), Paul and Corinthians, Leiden 2003.
Der 1. Korintherbrief ist diejenige paulinische Epistel, die den tiefsten Einblick in das Leben, das Sozialgefüge und die Gottesdienste einer frühchristlichen Gemeinde gibt, da Paulus durchgehend auf konkrete Fragen antwortet und diverse Missstände kritisiert. Umso lehrreicher ist es zu sehen, wie der Apostel eine praktische Ekklesiologie entwickelt. Stets setzt er bei Christus ein, um von ihm her seine Gedanken auf das aktuelle Problem zuzuspitzen.377 5.12.1
Anlass, Gliederung und Inhalt
Die Gliederung ist durch die Existenz des sog. Vorbriefs beeinflusst, den Paulus vor diesem Brief geschrieben hatte (1Kor 5,9). Bestimmend sind vor allem diverse Fragen, die die Korinther an Paulus gerichtet hatten und deren Beantwortung er durch „perí“ („bezüglich“) einleitet378 – dem „Betreff“ eines heutigen Briefs vergleichbar: „Was aber das betrifft, wovon ihr geschrieben habt ...“ (7,1). Drei Delegierte hatten diesen Brief dem Apostel überbracht (16,17). Weitere Nachrichten übermittelten ihm Paulus (Lit. § 5.8.1), 395 Anm. 1634: „Die alte Streitfrage scheint mir mit den letztgenannten gründlichen Untersuchungen endgültig erledigt zu sein.“ Th. Witulski, Die Adressaten des Galaterbriefs (FRLANT 193), Göttingen 2000. 377 Vgl. zum 1. Korintherbrief insgesamt U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5), 201–250, als Kommentare F. Lang, NTD 7 (1–2Kor; gute Exkurse), detaillierter Ch. Wolff, ThHK 7 (Lit.!), sehr ausführlich W. Schrage, EKK VII/1–4. 378 1Kor 7,1.25; 8,1.4; 12,1; 16,1.12.
5.12 Der 1. Korintherbrief
231
die Christen (wahrscheinlich Sklaven), die zur Familie der begüterten Frau Chloë gehörten (1,11; vgl. 5,1; 11,18). Als Hauptproblem des 1. Korintherbriefs thematisiert Paulus Spaltungen in der Gemeinde, die durch das Überlegenheitsbewusstsein einiger Gemeindeglieder aufgrund spezieller Vorstellungen von theologischer Erkenntnis („Weisheit“), pneumatischen Erlebnissen oder materiellem Reichtum veranlasst sind. So vielfältig diese Faktoren sind, haben sie doch immer dieselbe fatale Wirkung, dass sie zu Gruppenbildungen führen. Umso energischer setzt sich Paulus für die Einheit der Gemeinde ein. Daraus erklärt sich der paränetische Charakter des ganzen Briefs (1,10: parakalṓ = ich ermahne; § 5.7b). Er kann nach den Regeln der Rhetorik auch als deliberative Rede (§ 5.7a Anm. 195) betrachtet werden, weil er den gemeinschaftlichen Nutzen (lat. utilitas) sucht (bes. 6,12; 10,23).379 Die Zukunft der Gemeinschaft ist hier allerdings eschatologisch bestimmt. Tabellarische Übersicht s. S. 232. 1,1–9 Briefeingang Nach dem Präskript setzt das Proömium (1,4–9) mit einem ausführlichen Dankgebet ein, das mit dem Reichtum der Erkenntnis und der Gnadengaben (Charismen) sowie dem Hinweis auf die Parusie schon die Fragestellungen der Kap. 12–14 und 15 anklingen lässt. 1,10 – 4,21 Erster Teil: Spaltungen in der Gemeinde In der korinthischen Gemeinde waren Gruppen entstanden, die sich auf ihre nicht mehr anwesenden Protagonisten, einerseits Paulus, andererseits Apollos, beriefen, die ihre Taufe vollzogen, ihnen den Geist vermittelt und die Weisheit gelehrt hatten. Daher entwickelten diese Gruppen ein übersteigertes Selbstwertgefühl aufgrund ihrer spezifischen Auffassung von theologischer Weisheit und aufgrund von spirituellen Offenbarungserlebnissen. Paulus unterstreicht diesem Überlegenheitsbewusstsein gegenüber grundlegend für den ganzen Brief die Bedeutung des Kreuzes Christi. Die Botschaft vom Kreuz erscheint den Ungläubigen als skandalöse Torheit, hat in Wahrheit aber der Menschheit („Juden und Griechen“) über alle religiösen, ethnischen und kulturellen Gegensätze hinweg das Heil gebracht. Der Satz über das Wort vom Kreuz (1,18) hat – ähnlich wie Röm 1,16 – die Funktion einer Kernthese (propositio), die den gesamten Brief bestimmt, zunächst in 1,18–2,5 ausgeführt (probatio) und mit der Pistisformel in 15,3b–5 als Inhalt des Evangeliums wieder aufgenommen wird. Dadurch ergibt sich eine Inclusio (Rahmung) des ganzen Schreibens. Gott unterstützt den Menschen nicht in seiner äußeren Macht, sondern er kommt zu ihm in seiner Schwäche, indem er 379
Vgl. M. Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconciliation, 24 u. a.; W. Schrage, EKK VII/1, 71–94.
232
5 Die paulinischen Briefe
1,1–9 1,1–3 1,4–9
Briefeingang Präskript Proömium mit Dankgebet für den Reichtum der Gaben in der Gemeinde
1,10–4,21 1,10–17 1,18–2,16 1,18–25 1,26–31 2,1–5 2,6–16 3,1–4,21
Erster Teil: Spaltungen in der Gemeinde Gruppenbildungen in der korinthischen Gemeinde Das Wort vom Kreuz: Gottes Weisheit als Torheit in der Welt a) Gottes Weisheit und Kraft im Skandalon des Kreuzes b) Die Erwählung des Törichten und Schwachen in der Gemeinde c) Die Verkündigung des Gekreuzigten durch den schwachen Apostel d) Die Offenbarung der Weisheit durch den Geist Gottes Die Lehrer der Gemeinde als Mitarbeiter am Werk Gottes
5,1–6,20 5,1–13 6,1–11 6,12–20
Zweiter Teil: Ethische Missstände bei einzelnen Gemeindegliedern Inzest mit der Stiefmutter (Gemeindeausschluss) Streit vor weltlichen Gerichten Prostitution (die Verantwortung christlicher Freiheit)
7,1–11,1 7,1–40 8,1–11,1 9,1–27
Dritter Teil: Fragen christlichen Lebens in heidnischer Umgebung Ehe, Ehescheidung, Ehelosigkeit Götzenopferfleisch (Rücksicht auf die „Schwachen“; vgl. Röm 14 f.) Die Freiheit des Apostels als Beispiel
11,2–14,40 11,2–16 11,17–34 12–14 12,1–3 12,4–11
Vierter Teil: Probleme des christlichen Gottesdiensts Frauen im Gottesdienst (vgl. 14,34–35) Herrnmahl (11,23–25 Einsetzungsbericht) Geistesgaben (Charismen) Das Bekenntnis „Jesus ist der Herr“ als Beurteilungskriterium Viele Gaben – ein Geist 12,12–31 Ein Leib – viele Glieder (vgl. Röm 12) 13 Das Hohelied der Liebe Glossolalie (Zungenrede) und Gemeinde
14 15,1–58 15,1–11 15,12–34 15,35–58
Fünfter Teil: Gegen die Leugnung der Auferstehung Tod und Auferstehung Christi als gemeinsame Glaubensgrundlage Die noch ausstehende Auferstehung der Christen (das „Dass“) Die Verwandlung des Leibes (das „Wie“ der Auferstehung)
16,1–23 16,1–18 16,19–24
Briefschluss Kollektenaufruf, Reisepläne und Schlussparänese Postskript mit Grüßen, heiligem Kuss, Maranatha-Ruf und Schlusssegen
a) durch seine göttliche Weisheit und Kraft in der Auferweckung des Gekreuzigten die Macht des Todes überwand (1,18–25), b) als Erfahrungsbeweis für die Korinther in ihrer eigenen Gemeinde gerade das vor der Welt Törichte und Schwache erwählte (1,26–31),
5.12 Der 1. Korintherbrief
233
c) in der Verkündigung des Gekreuzigten durch den schwachen Apostel den Beweis des Geistes und der Kraft erbrachte (2,1–5) und d) durch den Geist den Sinn für die Weisheit Gottes erschließt, die im Kreuzestod verborgen ist (2,6–16). Aus diesen a) christologischen, b) ekklesiologischen, c) apostolisch-kerygmatischen und d) pneumatologischen Überlegungen ergeben sich Konsequenzen für die korinthische Gemeinde: Die einzelnen christlichen Lehrer wie Apollos, Paulus usw. sind nur Mitarbeiter am Werk Gottes, das als Bau ein einziges Fundament hat, nämlich Jesus Christus (3,11). Vor dem Gericht Gottes wird nur das bestehen, was auf dieser Grundlage aufbaut (3,1–15). Deswegen sollen die Korinther die anderen Mitarbeiter Gottes nicht richten (4,1–5) und die Schwachheit des Apostels um Christi willen nicht mit geistlichem Hochmut verachten, sondern in seiner Verkündigung die Kraft des Reiches Gottes erkennen (4,6–21). 5,1–6,20 Zweiter Teil: Ethische Missstände bei einzelnen Gemeindegliedern Das Gemeindeglied, das sich des Inzests mit der Stiefmutter schuldig gemacht hat, soll von der christlichen Gemeinde in Korinth ausgeschlossen werden (Kap. 5). Die Christen sollen ihre Konflikte nicht vor heidnische Gerichte bringen, sondern intern regeln (6,1–11). Ihr ganzes Leben gehört Christus, auch ihr Leib. Deswegen sollen sie sich nicht an der Prostitution beteiligen (6,12–20). Paulus bekräftigt die christliche Freiheit (6,12: „Alles ist mir erlaubt“), bindet sie aber an die Verantwortung gegenüber Christus, dem Herrn. Auch die leibliche Existenz soll mit allen Körperteilen der Ehre Gottes dienen. Zur Sexualität gibt es in der korinthischen Gemeinde nicht nur eine libertinistische Fehldeutung der christlichen Freiheit, sondern auch asketische Missverständnisse, weshalb Paulus in Kap. 7 auf die Ehe eingeht. 7,1–11,1 Dritter Teil: Fragen christlichen Lebens in heidnischer Umgebung380 Die Nähe des neuen Äons bedeutet, dass der Christ sein ganzes Leben hindurch in der Situation, in der er sich gerade befindet, Christus bezeugen soll: in der Ehe (7,1 ff.; gegen asketische Tendenzen), als Judenchrist mit Beschneidung, als Heidenchrist ohne Beschneidung, als unverheirateter Mensch, als Sklave (7,17–24; vgl. Phlm; § 5.15.3). Eine Veränderung der äußeren Lage soll nicht die erste Sorge des Christen sein. Er soll seiner persönlichen Situation gegenüber innerlich Abstand halten, er soll „haben, als hätte er nicht“ (7,29–31). Anschließend wird die Frage des Essens von Götzenopferfleisch (8,1–11,1) erörtert, d. h. des Fleischs von Tieren, die auf dem Markt verkauft werden und möglicherweise mit heidnischen Opferriten geschlachtet sind.381 Die Antwort des Paulus enthält zwei Gesichtspunkte: Einerseits handelt es sich bei den Gottheiten, die die Hei-
380 381
1Kor 7,1.25; 8,1 nehmen Bezug auf gestellte Fragen (s. Anm. 378). Zum antiken Opferwesen vgl. H.-J. Klauck, Umwelt I (Lit. § 2.2), 27–49.
234
5 Die paulinischen Briefe
den verehren, nicht um wirkliche Götter, sondern um Götzen.382 Deshalb ist der Verzehr des ihnen geopferten Fleischs keine Sünde.383 Sollte dieses Essen andererseits für jemanden, der in seinem Glauben noch nicht zur Erkenntnis solcher Freiheit gekommen ist, zum Anstoß werden, soll ein Christ nach dem Urteil des Apostels auf den Genuss von Opferfleisch verzichten. Er soll das schwache Gewissen des Mitchristen nicht verletzen, für den Christus gestorben ist (8,11; vgl. Röm 14,15).384 Die Aufforderung zur Rücksichtnahme auf das Gewissen anderer kann einen freiwilligen Verzicht einschließen, den Paulus in Kap. 9 am Beispiel seines eigenen Umgangs mit der christlichen Freiheit385 verdeutlicht: An und für sich hätte er als Apostel das Recht, seinen Lebensunterhalt von der Gemeinde zu bekommen. Aber er nimmt dieses Recht nicht in Anspruch, sondern versucht als Missionar seine Hörer für das Evangelium zu gewinnen, indem er sich freiwillig zum Knecht aller macht (9,19–23: „den Juden ein Jude ...“).386 Die wahre christliche Freiheit bleibt dem Evangelium verpflichtet, dessen gewinnende Kraft auf andere anziehend wirken soll und nicht durch das praktische Verhalten in Verruf geraten darf. Die durch das Evangelium begründete Freiheit kommt verständlicherweise dort an ihre Grenze, wo ein Christ an heidnischen Kultmahlen teilnimmt. Denn dadurch verbindet er sich mit den Götzen, was mit der Teilnahme am Herrnmahl unvereinbar ist und den Eifer des einen Herrn herausfordert (10,1–22; vgl. 8,6). 11,2–14,40 Vierter Teil: Probleme des christlichen Gottesdiensts Paulus setzt voraus, dass sich Frauen durch Gebete und prophetische Rede aktiv am Gottesdienst beteiligen. Er warnt nur vor einem Benehmen, das im auffälligen Widerspruch zum Ethos der damaligen Gesellschaft steht (11,2–16). Das Mahl des Herrn (11,17–34) soll mit Rücksicht auf alle Teilnehmer gefeiert werden, einschließlich derer, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse nicht genug Nahrungsmittel mitbringen können. Paulus weist auf die Gemeinschaft mit dem auferstandenen, wiederkommenden Herrn in der Mahlfeier hin. Er begründet
382
Vgl. J. Woyke, Götter, ‚Götzen‘, Götterbilder (BZNW 132), Berlin u. a. 2005, bes. 211– 214.251–257.445–458. 383 Vgl. die andere Einstellung des Aposteldekrets nach Apg 15,20.29; 21,25 (§ 5.8.2); s. auch Apk 2,20. 384 1Kor 8,7–13 (V.11!); 10,23–33; vgl. analog Röm 14,1–15,13, bes. 14,15; vgl. V. Gäckle, Die Starken und die Schwachen in Korinth und in Rom (WUNT II/200), Tübingen 2005, hier 110–291. 385 Vgl. S. Vollenweider, Freiheit (Lit. § 5), 199–246; ders., Art. Freiheit, ThBLNT2 1, 502 f. 386 Dieser Abschnitt bildet – neben Röm 13,8 – den Ausgangspunkt für die Hauptthese der Reformationsschrift von M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520, WA 7, 21
5.12 Der 1. Korintherbrief
235
seine Kritik mit dem Bericht von der Einsetzung dieses Mahls durch den Herrn (11,23–25; vgl. Mk 14,22–24 parr.; § 5.6.2.3). Die Gaben des Geistes (12–14)387 sollen danach beurteilt werden, ob sie dem christlichen Bekenntnis „Jesus ist der Herr“ entsprechen (12,3; § 5.6.1.3) und ob sie die christliche Gemeinde verbinden, statt sie zu spalten. Zur Spaltung führt, dass einige Christen die Gaben, die sie selber empfangen haben, höher schätzen als die Begabungen der anderen. Diesem angemaßten pneumatischen Überlegenheitsgefühl entzieht Paulus die Grundlage auf zweifache Weise: Zum einen bezeichnet er die „Geistesgaben“ (12,1: pneumatiká) mit einem von ihm neu geprägten Ausdruck als „Gnadengaben“ (charísmata; vgl. Röm 12,3–8), d. h. als unverdiente Geschenke göttlicher Gnade, sodass es keinerlei Grund für irgendeine Form von Überheblichkeit und Selbstruhm gibt.388 Zum anderen führt er sämtliche aufsehenerregenden und weniger sensationellen Charismen auf denselben Geist zurück. Indem Paulus die verschiedenen Gaben von demselben Geist, demselben Herrn und demselben Gott herleitet (1Kor 12,4–6), werden erste Ansätze zu einem trinitarischen Denken sichtbar.389 Träger des göttlichen Geistes im vollen Sinn sind nicht einzelne Menschen, sondern nur die Gemeinde in der Gesamtheit der ihr gegebenen Gaben. In der Gemeinde sind alle Gläubigen mit ihren Charismen aufeinander angewiesen wie ein Leib mit vielen Gliedern (Kap. 12, bes. V.26: „Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit“). Höher als die anderen Geistesgaben steht nur die Liebe (Kap. 13), die als wichtigste Gabe die Einstellung zu allen anderen Charismen bestimmen soll. Sie verbindet die Menschen mit dem künftigen Äon, weil sie bestehen bleibt, wenn alles andere Stückwerk aufhört. So gipfelt das Hohelied der Liebe in der Trias Glaube, Hoffnung, Liebe mit der Agape (Liebe) als der größten Gabe.390 In Kap. 14 kommt Paulus auf die Frage der einzelnen Gaben (Charismen) zurück. Er warnt vor der Überschätzung der Glossolalie (Zungenrede)391 und fordert die Übersetzung solcher Äußerungen, damit sie der ganzen Gemeinde dienen. Den Vor387
1Kor 12,1 setzt wieder eine Anfrage der Adressaten voraus (s. Anm. 378). Vgl. 1Kor 4,7 analog bei der Rivalität zwischen Mitarbeitern: „Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dann, als hättest du es nicht empfangen?“ 389 Vgl. 2Kor 13,13 (§ 5.13.1); (Phil 2,1) und Gal 4,4–6 (§ 5.11.1), aber auch Eph 4,4–6 und Mt 28,19 (§ 5.6.2.2e). 390 Vgl. Th. Söding, Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Paulus (SBS 150), Stuttgart 1992. 391 Das „Reden in Zungen“ (1Kor 12,30; 14,5 f. u. ö.), d. h. in „Sprachen“, klingt so unverständlich wie die Sprache eines anderen Volks (1Kor 14,21 f.; Jes 28,11 f.), wird von einigen Gemeindegliedern in Korinth aber als unverfügbare, geistgewirkte Sprache der Engel aufgefasst (vgl. 1Kor 13,1: „mit Engelszungen“; 2Kor 12,4: „unsagbare Worte“) und eschatologisch als Zeichen für den Anbruch der Endzeit interpretiert. 388
236
5 Die paulinischen Briefe
zug gibt er aber eigentlich der christlichen Prophetie als einer unmittelbar verständlichen Rede (bes. 14,1–5.19.22.39)392 sowie den Gaben der Wortverkündigung durch Apostel, Propheten und Lehrer (12,28). Damit unterscheidet Paulus zwischen einzelnen Geistesgaben, die z. B. bei einer Krankenheilung spontan wirksam werden, und den personengebundenen Ämtern der Apostel, Propheten und Lehrer, die durch die Evangeliumsverkündigung für die Existenz der christlichen Gemeinde unverzichtbar sind. Zum Schluss werden die Frauen – im Widerspruch zu 11,1–16 – zum Schweigen in der christlichen Versammlung aufgefordert (14,34–35). Auf die Kritik am überhöhten Selbstbewusstsein der Pneumatiker, die durch ihre spirituellen Erlebnisse schon die Erfahrungen der Endzeit vorwegzunehmen meinen, folgt in Kap. 15 die Auseinandersetzung mit einem weiteren eschatologischen Missverständnis. 15,1–58 Fünfter Teil: Gegen die Leugnung der Auferstehung Wenn einige Christen in Korinth sagen: „Es gibt keine Auferstehung der Toten“ (15,12), werden sie nicht die Auferweckung generell in Frage gestellt haben, denn eine solche Behauptung hätte den Abfall vom Glauben bedeutet. Aber aus einem geistigen Vollendungsbewusstsein heraus dürften sie bestritten haben, dass die Auferstehung erstens noch aussteht und zweitens leiblich geschehen wird. Darum bekräftigt Paulus in Kap. 15 in zwei Schritten zuerst das „Dass“ der Auferstehung, um sich ab V.35 der Frage nach dem „Wie“ zuzuwenden: „Wie werden die Toten auferweckt? Mit was für einem Leib kommen sie?“ In einem ersten Gedankengang erinnert Paulus zunächst (V.1–11) an die alte Pistisformel vom Tod und der Auferweckung Christi, die als gemeinsame Glaubensgrundlage die wichtigsten christlichen Gruppen verbindet (V.3b–5: „gestorben ... begraben ... auferstanden ... erschienen ...“; § 5.6.2.1). Von diesem Bekenntnis ausgehend hebt er die konstitutive Bedeutung der Auferstehung Jesu hervor (V.12–19) und weist die korinthischen Enthusiasten auf die geordnete Abfolge der Endereignisse hin, nach der die Auferstehung auch für die Pneumatiker in Korinth noch aussteht: zunächst (an Ostern) als Erstling Christus, danach bei seiner Parusie die Christen und schließlich die ganze Welt durch die Vollendung der Gottesherrschaft (basileía), dass „Gott sei alles in allem“ (V.20–34). Die Gemeinschaft mit Christus eröffnet den Gläubigen die Teilhabe am Reich Gottes und garantiert ihnen die persönliche Hoffnung im Tod (vgl. 1Thess 4,13–18; § 5.10.2–3). Zu dieser Erwartung gehört die Auferstehung des Leibes, die Paulus im zweiten Argumentationsgang entfaltet (V.35–58). Die körperliche Auferweckung bedeutet keine Wiederbelebung des Leichnams und auch nicht die Rückkehr in die irdische Materialität, sondern das Empfangen eines neuen Körpers, der es dem Menschen ermöglicht, dem kommenden Christus zu begegnen und mit ihm zu kommunizieren.
392
nicht!“
Vgl. auch 1Thess 5,19 f.: „Den Geist dämpft nicht. Prophetische Rede verachtet
5.12 Der 1. Korintherbrief
237
Dabei geschieht eine Verwandlung393 in ein anderes Leben mit einem neuen, durch den göttlichen Geist „regierten“ Leib, der unsterblich sein und nicht mehr vergehen wird. Das Kapitel gipfelt in einer hymnischen Proklamation des Sieges über den Tod (vgl. Röm 8,37 ff.) mit einem Doppelzitat aus Jes 25,8 und Hos 13,14. 16,1–23 Briefschluss Im Schlussteil (16,1–18)394 ruft Paulus noch zur Sammlung für die Jerusalemer Gemeinde auf,395 informiert über Reisepläne und resümiert frühere Mahnungen zur Wachsamkeit im Glauben und zur Liebe (16,13 f.; vgl. Kap. 8; 13; 15). Das Postskript (16,19–24) enthält Grüße, die Aufforderung zum „heiligen Kuss“ untereinander (§ 5.7b) und eine durch das Bittgebet „Maranatha“ abgeschlossene apostolische Warnung (V.22), die zur Feier des Herrnmahls überleitet (vgl. 11,26; § 5.6.2.3c). 5.12.2
Die Frage der literarischen Integrität
Die thematische Zersplitterung des Briefs ruft Bedenken hinsichtlich seiner literarischen Einheitlichkeit hervor. Da schon ein Brief vorangegangen war (5,9), versuchte man in der Exegese oft, die beiden erhaltenen Briefe an die korinthische Gemeinde in mehrere Teile zu zerlegen und daraus verschiedene Stadien der Korintherkorrespondenz zu rekonstruieren.396 Beim 1. Korintherbrief wird von einer relativen Selbstständigkeit des 16. Kapitels, einigen Wiederholungen, zwei Gruppen in Korinth, die an verschiedenen Stellen genannt werden (16,17 und 1,11), und von dem in 5,9 erwähnten Vorbrief ausgegangen, dessen Text in verschiedenen Abschnitten der kanonischen Korintherbriefe gesucht wird. Dagegen wird die Einheitlichkeit von 1,10–4,21 allgemein anerkannt. Die ökumenische Erweiterung der Adresse in 1,2b an „alle, die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen an jedem Orte, ihrem und unserem“, die manche für einen Einschub halten,397 drückt möglicherweise schon die Tendenz aus, die Briefe nicht nur für eine einzelne „Gemeinde“, sondern für die ganze „Kirche“ (beides „ekklēsía“; § 5.4) geltend zu machen (vgl. die erweiterte Adresse in 2Kor 1,1b: „mit allen Christen in ganz Achaia“). Die Beweislast aller Teilungshypothesen liegt auf der Seite derer, die die Integrität bezweifeln. Die Teilungsvorschläge zum 1. Korintherbrief vermögen in ihrer Unterschiedlichkeit kaum zu überzeugen, da die angeblichen literarischen „Brüche“ sich gut durch die Verschie393
1Kor 15,51 f.; Phil 3,21; Röm 8,29; 2Kor 3,18. Fragen klingen an in 1Kor 16,1.12 (s. Anm. 378). 395 Vgl. Gal 2,10 (Apostelkonvent); 2Kor 8 f. (Kollektenaufruf); Röm 15,25–31. 396 W. Schenk, Der 1. Korintherbrief als Briefsammlung, ZNW 60 (1969), 219–243 (vgl. ders., Art. Korintherbriefe, TRE 19, 622–624), rekonstruierte vier Briefe aus dem Text des 1Kor; vgl. die Übersicht bei U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 80–83. 397 Nach A. v. Harnack, Die Briefsammlung des Apostels Paulus, Leipzig 1926, 9, galt diese Adresse dem ganzen Corpus Paulinum. 394
238
5 Die paulinischen Briefe
denheit der Einzelfragen erklären lassen, die Paulus beantworten musste.398 Beispielsweise wird das Problem der kultisch suspekten Speisen (brṓma, brṓsis) in 6,12–20 durch den Hinweis auf den Leib als Tempel des heiligen Geistes grundsätzlich gelöst und in Kap. 8 auf das konkrete Problem des Götzenopferfleischs bezogen. Die Speisethematik betrifft zwei Gruppen der Gemeinde und wird an unterschiedlichen Stellen erwähnt, weil es sich um verschiedene Fragen handelt. Nur der Gegensatz zwischen den Aussagen über die Teilnahme der Frauen am Gottesdienst (11,2–16 und 14,34 f.) kann nicht mit der literarischen Absicht des Apostels erklärt werden. Er kann mit großer Wahrscheinlichkeit durch die Annahme gelöst werden, dass 14,34 f. einen späteren Einschub darstellt. Ein schwerwiegendes Argument für diese Vermutung ist die unsichere Stellung der beiden Verse 14,34 f. in der handschriftlichen Überlieferung. Die sog. westliche Überlieferung (§ 4.3.2) verschiebt sie nach V.40 und verrät dadurch, dass man sich schon im Altertum ihrer Inkongruenz mit dem Kontext bewusst war.399 Die Hypothese, dass mehrere Einschübe vorliegen,400 lässt sich nicht verifizieren. Auch das Hohelied der Liebe in 1Kor 13401 scheint den Zusammenhang zwischen Kap. 12 und 14 zu unterbrechen. Außerdem ist das 13. Kapitel – für sich gelesen – nicht eindeutig als christlich zu identifizieren. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass an dieser Stelle ein älterer Text bearbeitet wurde. Seine Stellung im Kontext ist allerdings trotz der eben erwähnten Spannung gut erklärbar. 1Kor 13 fällt unter das Kriterium der „größeren Gaben“ (12,31).402 Der zweite Vers (13,2) entschärft das Jesuswort vom Berge versetzenden Glauben aus Mk 11,23 par. sowie Lk 17,6 Q. Er richtet sich wahrscheinlich gegen diejenigen, die mit Hilfe der Jesusworte aus der Bergpredigt403 ihre geistige Überlegenheit begründen wollten (§ 5.12.3).
Ergebnis: Solange nicht neue Argumente für eine Teilung vorliegen, ist davon auszugehen, dass der 1. Korintherbrief – bis auf die genannte Ausnahme vom Schweigen der Frauen in Gottesdienst (14,34 f.) – eine literarisch einheitliche Größe bildet.
398
Siehe Anm. 378; vgl. Ch. Wolff, ThHK 7, 6 f., und die dort genannte Literatur. Oft wird der Gegensatz zur paulinischen Maxime „hier ist nicht Mann noch Frau“ (Gal 3,28) erwähnt. Da es sich hier nicht um die Rettung oder Verwerfung vor Gott handelt, bleibt diese Parallele nur ein indirektes Argument. Theoretisch könnte der Satz „Ist denn das Wort von euch ausgegangen? Oder ist es nur zu euch gekommen?“ (1Kor 14,36) auch als ironische Umdeutung der Aussage von 14,34–35 interpretiert werden; vgl. R. W. Allison, Let Women Be Silent in the Churches (1Cor 14.33b–36), JSNT 32 (1988), 27–60. 40 0 Vgl. J. Murphy-O’Connor, Interpolations in I Corinthians, CBQ 48 (1986), 81–94. 401 Vgl. zu Kap. 13 Anm. 390 und insgesamt O. Wischmeyer, Der höchste Weg (StNT 13), Gütersloh 1981. 402 Vgl. Ch. Wolff, ThHK 7, 310 f.; W. Schrage, EKK VII,3, 276. 403 Vgl. auch die Frage: „Ihr seid schon satt geworden?“ (4,8) mit der Seligpreisung in Mt 5,6. 399
5.12 Der 1. Korintherbrief
5.12.3
239
Verfasser, Entstehungszeit und die Gemeinde in Korinth
Die Authentizität des Briefs ist unstrittig. Er stammt von Paulus. Als weiterer Absender wird Sosthenes (1,1) angeführt, der mit dem in Apg 18,17 genannten ehemaligen Synagogenvorsteher identisch sein könnte. Verfasst wurde der Brief in Ephesus (16,8). In 4,17–19 schreibt Paulus, dass er die Korinther bald besuchen wird, zunächst aber Timotheus schickt.404 Der Brief sollte seine Ankunft vorbereiten. Da der Apostel schon vorher nach Korinth geschrieben hatte (5,9), wurde dieser Brief wahrscheinlich während der zweiten Hälfte seines Aufenthaltes in Ephesus, aber vor dem Jahr 55 abgefasst (§ 5.8.2). Die Adressaten des Briefs sind die Christen in Korinth. Dort hatte Paulus eine christliche Gemeinde gegründet (Apg 18,1–22).405 Korinth (nicht Athen) war damals die Hauptstadt der Provinz Achaia, die seit 27 v. Chr. einen großen Teil des griechischen Kernlandes umfasste. Als Hafenstadt mit Zugang zu zwei Meeren wurde Korinth während der Römerzeit zu einem Zentrum nicht nur des Handels, sondern auch des religiösen Lebens. Dort befanden sich mehrere Heiligtümer unterschiedlicher Kulte, die aus dem Mittelmeerraum und dem Nahen Osten stammten (Poseidon, Dionysos, Asklepios, Isis und Serapis). Dazu ist auch der Aphrodite-Kult in Akrokorinth zu zählen, der mit kultischer Prostitution verbunden war. Eine spezifische Gruppe waren die Juden, unter denen Paulus nach Apg 18,4 seine Mission begonnen hat. Die Existenz einer Synagoge (Apg 18,4) ist archäologisch belegt. Zur christlichen Gemeinde gehörten – in sozialer Hinsicht typisch für das frühe Christentum406 – vor allem Angehörige der unteren sozialen Schichten mit Sklaven, Freigelassenen, Hafenarbeitern, Handwerkern.407 Es gab aber auch besser gestellte Mitglieder (1,26) wie den ehemaligen Synagogenvorsteher Krispus (Apg 18,8; 1Kor 1,14) und Hausbesitzer (11,22.34) wie Stephanas oder das Ehepaar Aquila und Priska (1,16; 16,15.19).408 Die Gemeindegröße lässt sich auf etwa 50–100 Personen schätzen. Denn einerseits legen die 17 in den paulinischen Briefen erwähnten Einzelpersonen in Korinth mit den Ehefrauen und den Angehörigen der Häuser von Krispus (Apg 18,8) und Stephanas (1Kor 1,16; 16,15 f.) die Zahl 50 als untere Grenze nahe. Andererseits dürfte die Gemeinde kaum mehr als 100 Personen umfassen, wenn sich im Haus des Gaius noch die „ganze Gemeinde“ zum Gottesdienst versammeln konnte (Röm 16,23; 1Kor 14,23). 404
So ist das „épempsa“ wohl zu verstehen. Vgl. die Selbstaussagen des Apostels in 1Kor 3,6: „ich habe gepflanzt“; 3,10: „den Grundstein gelegt“; 4,15: „euch durch das Evangelium gezeugt“. 406 Vgl. § 5.16.2 (Röm); § 6.1.5.3 (Q); § 6.4.5.4b (Lukas); Exkurs 11 (Haustafeln); § 8.4.2 (Pastoralbriefe); 8.8.2b (Jakobusbrief); vgl. G. Theißen, Jesusbewegung (Lit § 6.2.8). 407 1Kor 1,27 f.; 7,21 f.; 12,13; Apg 18,2 f. 408 Vgl. auch die Hinweise in dem von Korinth aus geschriebenen Römerbrief (§ 5.16.3) auf den Stadtkämmerer Erastus und Gaius als Gastgeber „der ganzen Gemeinde“ (Röm 16,23). 405
240
5 Die paulinischen Briefe
Paulus verzichtete in Korinth auf die Unterstützung durch die dortigen Christen und verdiente seinen Lebensunterhalt mit seinem Handwerk als Zeltmacher.409 Später lebte er von der Unterstützung, die er aus Makedonien (Philippi) erhielt (2Kor 11,8 f.). Die Gründe können nur vermutet werden. Ohne Zweifel war die hohe Anzahl armer Gemeindeglieder in Korinth bedeutsam (1Kor 1,26; 11,21 f.). Im 2. Korintherbrief wollte sich Paulus durch die Nichtinanspruchnahme seines apostolischen Unterhaltsrechts von den „falschen Aposteln“ unterscheiden, die nach Abfassung des 1. Korintherbriefs nach Korinth gekommen waren (§ 5.13) und sich von der Gemeinde versorgen ließen (2Kor 11,13.20; vgl. 2,17). In Korinth hatte Paulus sowohl Juden als auch Heiden missioniert (Apg 18,4; 1Kor 1,24; 12,13). Die dortige christliche Gemeinde bestand überwiegend aus bekehrten Heiden, wie der Rückblick auf die heidnische Vergangenheit (12,2), die Probleme mit den Prozessen vor heidnischen Richtern (6,1–11), mit der (sakralen) Prostitution (6,12–20) und mit der Teilnahme an Götteropfermahlzeiten (8,1–11,1) verraten. Es gehörten aber auch Judenchristen zu ihr, wie außer einigen Andeutungen (7,18: „Beschnittener“; 9,20: „den Juden ein Jude“) auch die Petrusgruppe (1,12), die „Gottesfürchtigen“, die mit der jüdischen Religion sympathisierten (Apg 18,7; § 6.4.5.2a), der bekehrte Synagogenvorsteher Krispus (Apg 18,8; 1Kor 1,14) oder das Ehepaar Aquila und Priska (1Kor 16,19; Apg 18,2: Priszilla) zeigen, das aufgrund des Judenedikts von Kaiser Claudius 49 n. Chr. nach Korinth gekommen war (§ 5.8.1). Nach Apg 18,12–17 klagten die Juden Paulus an, aber der Prokonsul Gallio (Bruder des Philosophen Seneca; § 5.8.1) lehnte es ab, ihre Anklage zu behandeln, weil sie ihm als innerreligiöse Streitigkeit belanglos erschien. Er griff nicht einmal ein, als das offensichtlich antijüdisch eingestellte Volk den Synagogenvorsteher vor seinem Richterstuhl verprügelte. Zum Wachstum der korinthischen christlichen Gemeinde trug nach Aussage des Paulus Apollos bei (1Kor 3,5 f.), der Apg 18,24 ff. zufolge erst nach Paulus in Korinth eingetroffen ist (vgl. 1Kor 3,6). Er war ein philosophisch gebildeter und rhetorisch begabter Jude aus Alexandrien und kannte Johannes den Täufer. Später berief sich eine der streitenden Parteien auf ihn.410 Damit sollte offensichtlich Druck auf Paulus ausgeübt werden (1Kor 1,12). 5.12.4 Gruppierungen in der korinthischen Gemeinde Mit der Zeit gab es in der korinthischen Gemeinde mehrere christliche „Parteien“. In 1Kor 1,12 erwähnt Paulus vier Gruppen, in 3,4 zwei und in 3,22 drei. Am stärksten
409 Vgl. Apg 18,3; 20,34 f. und 1Kor 4,12; 9,1.4–18; 2Kor 11,7–11.20 f.; 12,13 f.; 1Thess 2,9 sowie zum Unterhaltsrecht Lk 10,7 f.; 1Tim 5,18 (Exkurs 12). 410 1Kor 1,12; 3,4–6.22; 4,6; 16,12.
5.12 Der 1. Korintherbrief
241
war die Spannung zwischen den Anhängern von Paulus411 und Apollos (3,4–6; 4,6). Der Name des Apollos wird am häufigsten genannt (s. Anm. 410) und lässt darauf schließen, dass Paulus dessen Anhängerschaft für die einflussreichste Gruppierung in der korinthischen Gemeinde hielt. Die rhetorisch-philosophische Bildung des Apollos (Apg 18,24) passt zu den glänzenden Reden und der vermeintlich hohen Weisheit, die Paulus ablehnt (1,17; 2,1.4.13). Als falsche Weisheit kritisiert der Apostel eine theologische Erkenntnis, die zwar teilweise von richtigen Einsichten ausgehen mag, in ihren Konsequenzen aber die Weisheit Gottes in der Botschaft vom Gekreuzigten zu wenig bedenkt. Wegen der wiederholten Bezugnahme auf die Weisheit gilt die Apollosgruppe meist als Hauptadressat des ersten Briefteils (1,10–4,21). Vielleicht gehören zu ihr auch die „Starken“ (Kap. 8–10) wegen der Erkenntnis, die aufbläht, wie im Blick auf die Apollosgruppe (4,6) und zur Eröffnung der Götzenopferthematik erklärt wird (8,1), und wegen des Gegensatzes „schwach / stark“, der in diesen beiden Briefteilen (1–4 und 8 f.) gehäuft vorkommt.412 Da Weisheit und Erkenntnis als besondere Gaben des Geistes geschätzt werden (2,6–16; 12,8; vgl. 1,5.7), ergeben sich auch Verbindungen zu den Pneumatikern in Kap. 12–14 (s.u.). Außerdem verrät nach der Erwähnung des Apollos in 4,6 die übersteigert präsentische Eschatologie in 4,8 (2-mal: ḗdē = schon jetzt) eine Nähe zu den Leugnern der Auferstehung in Kap. 15 (s.u.). Eine Animosität scheint zwischen Paulus und Apollos aber noch nicht bestanden, sondern sich erst ohne deren Zutun zwischen den Anhängern entwickelt zu haben. Paulus hielt Apollos nicht für seinen Gegner, sondern schätzte ihn als einen Diener und Mitarbeiter Gottes, der die Arbeit des Apostels weiterführt.413 Weniger bedeutsam war dagegen die Petrusgruppe (1,12; 3,22), die sonst in Korinth nicht weiter hervortritt. Paulus spricht zwar von den Reisen des Petrus mit seiner Ehefrau (9,5). Von einem Aufenthalt des Petrus in Korinth ist aber nichts bekannt.414 Bei den Petrusleuten dürfte es sich um Personen handeln, die die Autorität des Petrus schätzen, vielleicht auch aus dem Missionsgebiet des Petrus (Kephas), d. h. aus Syrien, nach Korinth gekommen sind. Dies muss nach der Aufteilung der Missionsbereiche auf dem Apostelkonvent (48 n. Chr.) und nach dem Antiochienaufenthalt des Petrus geschehen sein (Gal 2,7–9.11–14). Unklar bleibt die Aussage über die vierte Gruppe, die sagt: „Ich (gehöre) zu Christus“ (1Kor 1,12). Theoretisch könnte eine „Christuspartei“ rekonstruiert werden 411
1Kor 1,12; 3,4–6.22. 1Kor 1,26 f.; 4,10; 8,7–13 (5-mal); 9,22 (3-mal); vgl. V. Gäckle, Die Starken (s. Anm. 384), 200–205.216 f.451 f. 413 1Kor 16,12; vgl. 3,5 f.9; 4,1.6. 414 Vgl. anders M. Hengel, Der unterschätzte Petrus, Tübingen 2006, 106–118.149–151, der die seltenere Erwähnung des Petrus mit den Spannungen nach dem antiochenischen Konflikt (Gal 2,11–14) erklärt und die Gegner im 2. Korintherbrief (§ 5.13) für Abgesandte der Petrusmission hält. 412
242
5 Die paulinischen Briefe
(vielleicht eine protognostische Gruppe).415 Doch wird diese These kaum mehr vertreten.416 Vielleicht hat Paulus selber dieses Schlagwort eingebracht, um die Gruppenbildung ad absurdum zu führen.417 Da Paulus in 1Kor 1,13 fragt: „Seid ihr auf den Namen des Paulus getauft?“, könnten die Korinther die Taufe als ein magisches Geschehen begriffen haben, in dem sie durch den taufenden Missionar den heiligen Geist empfangen (vgl. 1,14– 16).418 Daher wird auch verständlich, dass Paulus im 1. Korintherbrief immer wieder auf die Bedeutung der Taufe zu sprechen kommt.419 Die Entstehung der Parteien innerhalb der korinthischen Gemeinde lässt sich dann so erklären, dass die Beziehung zum Täufer verabsolutiert wurde gegenüber dem Heil, das in der Taufe (§ 5.6.2.2) gewährt wird, in der Proexistenz Christi („für euch“; 1,13) begründet liegt und alle Gläubigen „in Christus“ verbindet. Wenn nun noch weitere Personenkreise genannt werden, so dürfen diese – schon angesichts der Gemeindegröße (s. Anm. 408) – nicht einfach zu den bisherigen Gruppierungen addiert werden, von denen explizit allein im ersten Briefteil die Rede ist (1,12; 3,4.22). Denn nach der allgemeinen Situationsanalyse und theologischen Grundlegung behandelt Paulus in den späteren Kapiteln nicht weitere Parteien, sondern unterschiedliche Positionen, die zu Spaltungen geführt haben und sich in mancherlei Hinsicht mit den eingangs dargelegten Auffassungen der Apollosgruppe berühren (s. Anm. 413). Die Atmosphäre der Hafenstadt, die durch mehrere hellenistische Kulte mit ekstatischen Zügen geprägt war, beeinflusste auch eine beträchtliche Anzahl von Christen, die vom Wirken des Geistes erfüllt waren und als Pneumatiker bezeichnet werden. In ihrer Frömmigkeit gab es die Tendenz, die Erfahrung des Heils in ekstatischen Erlebnissen des Geistes wie Glossolalie (s. Anm. 391), in besonderen Offenbarungen der Weisheit und Erkenntnis sowie in Wunderheilungen (12,8–10.28–30) zu sehen. Für das verstärkte Interesse an solchen Phänomenen gibt es unterschiedliche Erklärungsversuche: Die pneumatischen Erfahrungen erinnern manche Exe-
415
Vgl. W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, 188.191. Einige Exegeten wie z. B. schon Johannes Chrysostomus (349–407 n. Chr.) halten diesen Vers für eine paulinische (oder spätere) Glosse (vgl. 3,23), da über diese Gruppierung sonst keine Information vorliegt. Die Überlieferung der Handschriften bietet jedoch keinen Anhaltspunkt für eine solche Hypothese. 417 So vor allem W. Schrage, EKK VII/1, 148. 418 F. W. Horn, Das Angeld des Geistes (FRLANT 154), Göttingen 1992, 248, vertritt die Herkunft des korinthischen Enthusiasmus aus dem Verständnis der Taufe als Ort der Geistverleihung, in der der Geist substanzhaft übermittelt und der Täufling dadurch zum Pneumatiker gemacht wird. 419 Vgl. 1Kor 1,13 f.30; 6,11; 10,1 f.; 12,13; 15,29 (§ 5.6.2.2d). 416
5.12 Der 1. Korintherbrief
243
geten an die spiritualistischen Züge späterer gnostischer Gruppen.420 Da einige Korinther die Weisheit als besondere Gabe des Geistes geschätzt haben (2,6–14; 12,8; vgl. 1,5.7), vermuten andere Ausleger eher eine hellenistisch-jüdische Weisheitslehre als Hintergrund,421 die Apollos aus Alexandrien mitgebracht haben könnte (s. Anm. 410). Nur durch den Einfluss des jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandrien (ca. 20/10 v. Chr.–45 n. Chr.) sind solche Züge aber nicht zu erklären, denn in Alexandrien lösten ähnliche Tendenzen422 keine spiritualistische Bewegung aus.423 Jedenfalls ist in Korinth mit unterschiedlichen Einflüssen aus der jüdischhellenistischen Theologie sowie aus den religiösen und philosophischen Vorstellungen der Umwelt zu rechnen. Nach seiner Kritik am Überlegenheitsgefühl der Pneumatiker in Kap. 12–14 lässt Paulus den Brief im heutigen Kap. 15 als Höhepunkt kulminieren. Bei den Bestreitern der Auferstehung der Menschen (15,12) könnte es sich theoretisch um Ultraapokalyptiker handeln, die ähnlich wie die erste Generation der Christen in Thessalonich unmittelbar das Gericht Gottes und die Ankunft des neuen Äons erwarteten (1Thess 4,13–18; § 5.10.2–3).424 Im Zusammenhang mit der paulinischen Argumentation im 1. Korintherbrief ist eine solche Auslegung jedoch kaum haltbar. In 1Kor 4,6–13 ist – nach dem Hinweis auf die Apollosgruppe (V.6 f.) – von korinthischen Christen die Rede, die sich bereits für reich, klug und satt hielten (V.8). Aufgrund eines allzu einseitigen Verständnisses der Sakramente setzten sie voraus, sie befänden sich durch den Empfang der Taufe und die Teilnahme am Herrnmahl425 tatsächlich schon als Mitregenten Christi im Reich Gottes („symbasileúein“) und dürften die anderen richten. Sie meinten, sie besäßen die Weisheit (1,22 ff.)426 und seien besser als die anderen,427 da sie sich um die geistigen Gaben bemühen (14,12; vgl. 1,7; 12 – 14). Daraus resultierte nicht nur ihre – sei es libertinistische oder asketische (Kap. 5 f.7) – Abwertung des Leibes als einer irdisch-vergänglichen Größe, wie schon in der griechischen Tradition der Leib als Gefängnis oder Grab der Seele verachtet wurde. Aus derselben Haltung heraus waren sie auch der Meinung, die Überwindung des Todes erfolge nicht erst bei der Parusie Christi, sondern sei schon mit der Geistverleihung durch die Taufe geschehen. 420
W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, 158 u. a., spricht von der Gnosis. Historisch ist dies nicht nachweisbar, vgl. die Kritik von Ch. Markschies, Art. Gnosis, RGG4 3, 1048. 421 Ch. Wolff, ThHK 7, 9 f. 422 Hervorgehoben bei G. Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten (FRLANT 138), Göttingen 1986, 67 ff. 423 Philo selbst war gegen die Dualisten (migr. I,450). 424 Vgl. B. Spörlein, Die Leugnung der Auferstehung, Regensburg 1971, 191 ff. 425 Vgl. 1Kor 1,13 ff.; 10 f.; 12,13; 15,29 (§ 5.6.2.2–3). 426 „Sophía“ und „sophós“ sind im 1. Korintherbrief häufig verwendete Worte (1Kor 1,17 – 2,16; 3,18–20; 12,8). 427 Vgl. „physioún“ (aufgeblasen sein) in 1Kor 4,6.18 f.; 5,2; 8,1; 13,4.
244
5 Die paulinischen Briefe
Ein solches Selbstbewusstsein wurde später in 2Tim 2,18 kritisiert durch die Warnung vor Häretikern, die behaupten, die Auferstehung sei schon geschehen. Justin berichtet über Christen (Gnostiker), die zu Beginn des 2. Jh.s sagten, dass sie bereits mit Gott verbunden seien und dass ihre Seele nach dem Tode nur den Leib verlassen und direkt in den Himmel kommen werde (Iust. dial. 80; um 160 n. Chr.). Für den Gnostiker Kerinth war es die Taufe, die jenen Zugang in die Unsterblichkeit eröffnet (Iren. haer. 1,23,5). Später sind solche Vorstellungen häufiger bezeugt (EvPhil, NHC II,3 56,15–20). Auch innerhalb der paulinischen Schule ist in Eph 2,6 zu lesen, dass Gott die Christen „mit auferweckt“ hat in Jesus Christus (§ 8.2.5; vgl. auch Joh 5,24; § 7.1.5.2b).
Darüber hinaus klingt im 1. Korintherbrief bereits die Abwehr einer Polemik gegen den paulinischen Apostolat an, die ihm rhetorische Defizite und seine Schwachheit zum Vorwurf macht (2,1–5; 4,6–13), mit der Berufungsvision und dem Unterhaltsrecht (s. Anm. 409) auch seine Legitimität in Frage stellt (9,1–3) und von den Gegnern des Paulus im 2. Korintherbrief drastisch verschärft wird. Anders als bei den Widersachern in Galatien wird von ihnen nicht gesagt, dass sie die Beschneidung der Heidenchristen forderten. Die bunte Front der Opponenten des Völkerapostels war offensichtlich vielfältiger, als es die kanonische Geltung der Paulusbriefe in den späteren Jahrhunderten nahelegt.428 Aber was die Widersacher über alle Unterschiede hinweg verband, waren Vorbehalte gegen die Person des Apostels. Die nach Meinung des Paulus falschen Apostel (2Kor 11,13) setzten in der korinthischen Gemeinde ihr Recht auf materielle Unterstützung durch,429 das sie mit ihrer apostolischen Würde begründeten.430 Wie sie ihren Apostolat verstanden, wissen wir nicht, und ebenso wenig, um welchen Personenkreis es sich dabei handelte. Es ist möglich, dass sie zur ersten Generation der Zeugen Christi gehörten (1Kor 15,7). Sie könnten aber auch im Auftrag der Jerusalemer Apostel gearbeitet (s. Anm. 414) oder ihren Anspruch auf eine spezifische geistige Erfahrung und Wundertätigkeit gestützt haben.431 Jedenfalls ist gut vorstellbar, dass die durch Paulus kritisierten enthusiastischen Christen von diesen Aposteln beeinflusst waren. Und selbst wenn es nicht so war, könnten die gegnerischen Apostel die Spannung zwischen Paulus und den enthusiastischen Christen zur Schwächung seiner Position ausgenutzt haben. 5.12.5
Kreuzestheologie, Leib Christi, Auferstehungshoffnung
Die Missstände in der korinthischen Gemeinde, die Angriffe auf den Apostolat des Paulus und die Leugnung der Auferstehung bilden den Hintergrund, vor dem der 428
Vgl. G. Sellin, Hauptprobleme, 3011 ff.; U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 85 f. 1Kor 9,12; vgl. 2Kor 2,17; 11,20. 430 2Kor 11,5.13; 12,11; nach P. Marshall, Enmity in Corinth, wurde die Spannung zwischen Paulus und den Korinthern durch soziale Probleme verursacht. 431 Vgl. 2Kor 12,12 f. (Exkurs 6c Ende). 429
5.12 Der 1. Korintherbrief
245
Apostel seine Argumentation entfaltet. Selbst wenn der 1. Korintherbrief eine Komposition aus mehreren Briefen wäre, würde das 15. Kapitel den Gipfel der theologischen Aussagen bilden, die einen großen Bogen von der Kreuzestheologie (1,18– 2,5) zur Auferstehungshoffnung (Kap. 15) schlagen und innerhalb dieses Rahmens (Inclusio) alle anstehenden Fragen behandeln. a) Die Pistisformel als gemeinsame Grundlage: Der Apostel zitiert in 1Kor 15,3b–5 das Evangelium, dass Jesus für die Sünden der Menschen gestorben und am dritten Tag auferstanden ist nach den Schriften (dem Alten Testament), wie er es den Korinthern verkündigt und in der Pistisformel selber schon aus einer älteren – vermutlich Jerusalemer – Bekenntnisüberlieferung übernommen hat (§ 5.6.2.1). Das 15. Kapitel bietet eine Entfaltung dieser Botschaft von Christus, die bereits im Briefeingang als „Wort vom Kreuz“ vorgestellt wurde (1,2.6.17 f.; s. Anm. 451 ff.). Zunächst erwähnt Paulus mit Kephas (Petrus), den Zwölf, den 500 Brüdern, Jakobus und allen Aposteln mehrere bedeutende Erstzeugen (15,5–9), die die Glaubensformel als geeignete Formulierung der Ostererfahrung weitergegeben haben, dass Jesus lebt und ihnen in einer visionären Erscheinung begegnet ist (15,11). Damit konnte Paulus als Gegenstück zur Aufzählung der streitenden Parteien in Kap. 1 demonstrieren, dass die Gruppenbildung in Korinth der gemeinsamen Ausgangsbasis widerspricht. Die Parteiungen stellen nicht nur seine Autorität als Apostel, sondern die Grundlage des Glaubens selber in Frage. Wenn Paulus sich als den „letzten von allen“ Erstzeugen (éschaton pántōn; 15,8) und als „Fehlgeburt“432 bezeichnet, wählt er einen Ausdruck der Bescheidenheit. Eine Fehlgeburt setzt vorzeitig ein, doch Paulus ist der letzte Empfänger einer direkten Offenbarung des Auferstandenen, sodass er eigentlich von einer Spätgeburt reden müsste. Gerade nach seiner Kritik am Enthusiasmus der Korinther möchte der Apostel es aber vermeiden, seine Offenbarungserlebnisse in den Vordergrund zu stellen. Dennoch reiht er sich unter die ersten Zeugen ein, weil zuletzt auch ihm mit der Offenbarung des Auferstandenen der apostolische Auftrag zuteil wurde (vgl. Gal 1,15 f.; § 5.8.2). Deshalb gehört auch er zu den hier genannten Erstzeugen, die offensichtlich eine Föderation aus verschiedenen Gruppen der Anhänger Jesu darstellten und durch das gemeinsame Bekenntnis, die überlieferte Glaubensformel in 15,3b–5, miteinander verbunden waren. Sie bildeten den Kern der Kirche als einer religiösen Weltbewegung. In den Korintherbriefen hat diese Aufzählung der Zeugen die Funktion, allen Spaltungen gegenüber die Einheit der Kirche anschaulich vor Augen zu halten. Sie baut auf der Konvergenz der Glaubensaussagen einiger wichtiger Erstzeugen auf: „Ob nun ich (es bin) oder jene, so verkündigen wir (alle), und so habt ihr geglaubt“ (15,11).
432
Vielleicht handelt es sich um ein Schimpfwort, das seine Gegner benutzten.
246
5 Die paulinischen Briefe
b) Geistesgaben und Leib Christi: Dass der auferstandene Christus Paulus als „letztem von allen“ (15,8) erschien, impliziert eine deutliche Ablehnung der Ansprüche der Gegner, die in der Glossolalie (s. Anm. 391) eine Quelle neuerer, höherer Offenbarungen durch den auferstandenen Christus sahen und sich dadurch anderen in der Gemeinde überlegen fühlten. Paulus weist dieses religiöse Überlegenheitsbewusstsein in 1Kor 12–14 als unberechtigt zurück433 und bringt in 15,5–8 die Reihe der Offenbarungsempfänger mit sich selbst als dem letzten Erstzeugen zum Abschluss. Denn seiner Überzeugung nach ist die Glossolalie bloß eine von den vielen Geistesgaben, die ihre Entstehung allesamt demselben göttlichen Geist verdanken (12,4–11; vgl. 1Thess 5,19–22). Der Geist Gottes wirkt nur im Zusammenspiel seiner Gaben, die sich in der christlichen Gemeinde zum Nutzen und zur Erbauung aller ergänzen wie die unterschiedlichen Glieder des Körpers (1Kor 12,4–31). Von zentraler Bedeutung für die paulinische Ekklesiologie (vgl. § 5.4) ist das Bild vom Leib434 (1Kor 12,12–27; vgl. Röm 12,3–8), das in der Antike als Metapher weit verbreitet war. Ein bekanntes Beispiel ist die Fabel vom Aufstand der Glieder gegen den Bauch, mit der Menenius Agrippa die ausgezogenen Römer 494 v. Chr. zur Rückkehr in die Stadt bewogen haben soll (Livius, Ab urbe condita II,32 f.). Paulus geht es beim Gebrauch dieser Metapher nicht nur um ein anschauliches Bild für die Gemeinde, sondern um den Leib Christi (1Kor 10,16; 11,27). Dieser wird im Unterschied zum Organismusgedanken435 nicht durch den menschlichen Zusammenschluss und das Selbstverständnis seiner (Mit-)Glieder konstituiert, sondern Ausgangspunkt der paulinischen Überlegungen ist Christus als „Herr“ (1Kor 12,3; § 5.6.3.1), zu dem sich die Gemeinde bekennt. Der Kyrios schenkt nicht nur die Vielfalt der Geistesgaben (12,5), er begründet auch die Einheit des Leibes über alle kulturellen und sozialen Unterschiede zwischen Juden und Griechen oder Sklaven und Freien hinweg.436 Das Bekenntnis zum Herrn (12,3) und die Taufe (12,13) sind diejenigen Gaben, durch die der Geist das Christsein erst in der Gemeinde verwirklicht. Durch die Taufe (§ 5.6.2.2) werden die Glaubenden zu Gliedern dieses Leibes (12,12 f.; vgl. Gal 3,27 f.). Ihre Zugehörigkeit zum Leib Christi erfahren sie jedes Mal neu in der Teilnahme am Herrnmahl, das eine Einheit stiftende Funktion hat und das eschatologische Mahl vorwegnimmt.437 Der Gottesdienst (§ 5.3) ist der primäre Ort der „Erbauung“ (oikodomḗ).438 In allen seinen Teilen soll er dem inneren und äußeren „Aufbau“ der 433 Vgl. zu den Geistesgaben U. Heckel, Paulus und die Charismatiker, ThBeitr 23 (1992), 117–138. 434 Vgl. J. Roloff, Kirche (Lit. § 6.2.8), 100–110; Ch. Wolff, ThHK 7, 301–305. 435 Auch heute wird die Leibmetaphorik ganz unterschiedlich gebraucht im gesellschaftlich-politischen Bereich, für Organisationen, in der Ökumene, der Ortsgemeinde oder im Blick auf die aktive Mitarbeiterschaft. 436 1Kor 12,13; vgl. Gal 3,27 f. (§ 5.11.4b). 437 1Kor 10,16 f.; vgl. 11,17–33; Mk 14,24 (§ 5.6.2.3). 438 Zur Wortfamilie als ekklesiologisch bedeutsamem Begriff vgl. 1Kor 3,9; 8,1.10; 10,23;
5.12 Der 1. Korintherbrief
247
Gemeinde dienen (14,5 f.12) nach dem Grundsatz: „Alles geschehe zur Auferbauung!“439 Der Nutzen für die Gemeinschaft ist – zusammen mit der Liebe440 – das theologisch entscheidende Kriterium zur Beurteilung der einzelnen Geistesgaben. In Umkehrung der in Korinth verbreiteten Wertskala sind deshalb die prophetische Rede und alle anderen Charismen der Wortverkündigung (vgl. die Ämter in 12,28),441 die Verständlichkeit des Gebets (14,13–19) und die Eindeutigkeit des Christusbekenntnisses in den Hymnen (§ 5.6.2.4) höher zu schätzen als die Glossolalie, die erst der Übersetzung bedarf, um für die Gemeinschaft nützlich zu sein. c) Das Reich Gottes und die Auferstehung: Die Auseinandersetzung um das Kommen der göttlichen Herrschaft (15,20–28) und der Hinweis auf das Jüngste Gericht (3,13b) erklären auch die Warnung vor dem vorzeitigen Richten (4,1–13). Paulus rechnet mit der endgültigen Überwindung des Todes als des letzten Feindes erst am Ende dieses Äons (15,26). Die Aussage, dass Gott zuletzt „alles in allem“ sein wird, ist nicht pantheistisch zu verstehen, sondern eine Umschreibung für die abschließende Vollendung der göttlichen Weltherrschaft (basileía) – einer der wenigen Belege dieses Zentralbegriffs der Verkündigung Jesu außerhalb der Synoptiker.442 Das Verb „hypotássein“ (sich unterordnen), das in 15,27–28 sechsmal verwendet wird, gehört zur sozialen Begrifflichkeit (vgl. 14,32; Röm 13,1) und bezieht sich auf die von Gott gewollte vollkommene Gemeinschaft am Ende der Geschichte. Die Aussagen, mit denen Paulus die ältere Verkündigung vom Reich Gottes neu interpretiert (1Kor 15,20–28), enthalten zugleich ein Modell für das Leben der christlichen Gemeinde, in deren Existenz und Gemeinschaft mit Gott die Verheißung für die Endzeit zeichenhaft vorweggenommen ist. Andererseits betont der Apostel gegenüber allem übersteigerten Enthusiasmus in Korinth den eschatologischen Vorbehalt, dass die endgültige Unterwerfung aller lebensfeindlichen widergöttlichen Mächte erst bei der Parusie erfolgen wird, also immer noch aussteht.
14,3–5.12.17.26; 2Kor 10,8; 12,19; 13,10; 1Thess 5,11; Röm 14,19; 15,2; Bildspender ist der Tempel als Haus Gottes (1Kor 3,16 f.; vgl. 6,19); vgl. J. Roloff, Kirche (Lit. § 6.2.8), 110–117. 439 1Kor 14,26; vgl. 10,23; Röm 14,19. Durch Ph. J. Spener (1635–1705) wurde die „Erbauung“ im Pietismus zu einem programmatischen Schlüsselbegriff für die geistliche Stärkung der Gläubigen, der durch den inflationären Gebrauch jedoch vielfach entleert oder allzu individualistisch auf die Pflege des religiösen Innenlebens verengt wurde. Wenn stattdessen heute eher vom „Gemeindeaufbau“ gesprochen wird, so ist auch dieser Ausdruck nicht ganz unproblematisch, da er zu wenig deutlich macht, wer hier eigentlich wen aufbaut. 440 1Kor 13,1–13; 16,14; 8,1 ff. 441 Vgl. U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik (Lit. § 7.1), 60.69–71. 442 Bei Paulus nur 7-mal (vgl. 1Thess 2,12; 1Kor 4,20; Röm 14,17, aber auch das Erben der Gottesherrschaft in 1Kor 6,9 f.; 15,50; Gal 5,21, das vom Motiv der Landverheißung geprägt ist; vgl. Gen 15,7; Apg 7,5).
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5 Die paulinischen Briefe
Den Enthusiasten in Korinth hält Paulus die Auferstehung als „leibliche“ Wirklichkeit entgegen,443 selbst wenn ein „geistiger“ Leib auferstehen wird (15,44). Nun geht es um den Leib im Sinne des menschlichen Körpers. Der Leib ist für Paulus nicht wie in der griechischen Anthropologie ein Bestandteil neben der Seele oder neben dem Geist, sondern ein umfassender Ausdruck für die ganze Person. Die Überwindung des Todes und das neue Leben in der Gottesherrschaft (15,22–28) kann Paulus sich nur in leiblicher Form vorstellen,444 die auch Jesus bei der Frage nach der Auferstehung der Toten beschreibt: „wie die Engel im Himmel“ bzw. „engelgleich“ (Mk 12,25 par. Lk 20,36). Die Auferstehung bewirkt nicht die Befreiung der Seele vom Körper, wie es der griechischen Tradition entsprochen hätte, sondern ergibt durch einen schöpferischen Akt Gottes die radikale Metamorphose des irdischen Körpers. Durch die Leiblichkeit wird die Kontinuität zwischen der irdischen und der himmlischen Existenzweise gewahrt. Der Leib wird nicht von der Seele wie ein Kleid abgestreift, sondern der ganze Mensch wird in eine völlig neue eschatologische Wirklichkeit transformiert.445 Wer auferstanden ist, steht nicht nackt da, sondern bekommt das Kleid der Herrlichkeit als himmlisches Gewand übergezogen und damit Anteil an der Unverweslichkeit und Unsterblichkeit des ewigen Lebens (15,53 f.).446 Der Wechsel des Gewands verändert die Person: man „ist“, was man „trägt“ (15,49). Die Leiblichkeit ist ein unverzichtbarer Wesenszug jedes Lebens, auch nach der Auferstehung. Ohne Leib kann kein Mensch existieren, gibt es weder ein irdisches noch ein himmlisches Dasein (Phil 3,21). Oder mit der bekannten Formulierung von Rudolf Bultmann ausgedrückt: „der Mensch hat nicht ein sṓma, sondern er ist sṓma.“447 Wenn Paulus den Auferstehungsleib als „geistig“ charakterisiert, impliziert er nicht den Gegensatz zur Sphäre des Materiellen, sondern zur Macht der Sünde (15,17.34.56). Der neue Leib zeichnet sich durch eine total veränderte pneumatische Existenz aus. Sein ganzes Wesen und Handeln ist – statt fleischlich, d. h. sündig, zu sein (15,56; Röm 7,5.7–25; § 5.16.5b) – durch und durch vom Geist, d. h. der Kraft und dem Willen Gottes, beherrscht (wie bei den Engeln). Im Blick auf die paulinische Anthropologie können wir festhalten: Der Apostel vertritt eine ganzheitliche Sicht des Menschen. Auch die trichotomisch klingende Rede von Leib, Seele und Geist (1Thess 5,23) meint nicht drei Bestandteile des Men443 Nach Ch. Wolff, ThHK 7, 349 ff., will Paulus in Kap. 15 die Leiblichkeit der Auferstehung deutlich machen. 444 Vgl. den instruktiven Aufsatz von Ch. Burchard, 1 Korinther 15,39–41, ZNW 75 (1984), 233–258. 445 1Kor 15,51 ff.; Phil 3,21; Röm 8,29; 2Kor 3,18; vgl. F. Back, Verwandlung durch Offenbarung bei Paulus (WUNT II/153), Tübingen 2002, 160–198. 446 Zur Nacktheit s. § 5.13.3.1b zu 2Kor 5,3 f.; vgl. F. Lang, NTD 7, 284–293 (bes. zu 2Kor 5), und insgesamt M. Hengel, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 359–382. 447 R. Bultmann, Theologie (Lit. § 1), 195.
5.12 Der 1. Korintherbrief
249
schen, sondern drei Dimensionen des Menschseins, nämlich den „Leib“ (sṓma) als Ausdruck für die Identität der Person in ihrer Geschöpflichkeit und Christuszugehörigkeit (1Kor 6,12 ff.), die „Seele“ (psychḗ) als Ausdruck für den von Gott eingehauchten Lebensatem, d. h. die Vitalität, das Leben (vgl. Gen 2,7 LXX in 1Kor 15,45), und den „Geist“ (pneū́ma) als Ausdruck für das Bestimmtsein durch den Geist als einer Macht Gottes (Röm 8,1 ff.; § 5.16.5b). In der Auferstehung wird nicht die Seele vom Körper befreit, sondern die irdisch-leibliche Existenz des Menschen in eine neue geistige Wirklichkeit verwandelt. Enthusiastischen Tendenzen gegenüber betont Paulus den eschatologischen Vorbehalt, dass die Vollendung des Lebens noch aussteht und erst bei der Parusie Christi kommen wird. Die Leiblichkeit betrifft nicht nur das Verhältnis zum eigenen Körper, sondern auch die Beziehung zu anderen Personen: d) Das Zusammenleben und die Ordnung der Gemeinde: Die Leiblichkeit ist für Paulus deswegen so bedeutend, weil das ewige Leben sich nach dem Tod in der „basileía“, d. h. dem „Reich“, der „Herrschaft“ Christi, vollzieht (15,24). Es geschieht wirklich in einer Gemeinschaft und schließt soziale Beziehungen ein (15,24 ff.). Der „Leib“ steht nicht nur für das Personsein des Menschen, der ein Verhältnis zu seinem eigenen Körper und zu sich selbst hat,448 sondern ist auch Träger der Kommunikation mit anderen Menschen. Augen, Ohren (12,14 ff.), das Gesicht, die Stimme (13,1.12), die Berührung – sie alle sind nicht nur Zeichen der persönlichen Identität, sondern auch Mittler des sozialen Lebens in allen Bereichen. Diese gemeinschaftliche Dimension des neuen Lebens unterschätzten die Enthusiasten in Korinth. Paulus sah darin nicht nur die Wurzel der Parteienbildung, sondern auch eine Gefahr für die Spaltungen, die zu den Problemen bei der Feier des Herrnmahls führten (11,17–22). Die Leiblichkeit hat auch eine ekklesiale Dimension. Deshalb betont der Apostel den Gemeinschaftscharakter und die Einheit der Gemeinde als „Leib Christi“ mit vielen Gliedern (10,16 f.; 12,12 ff.; § 5.6.2.3e Ende). Darum geht es Paulus bei dem Streit vor heidnischen Gerichten (6,1–11) und bei dem Inzestfall (5,1–13) auch um Entscheidungen, die die innere Ordnung der Gemeinde und ihre Sendung in die Welt betreffen. Der Apostel kommt auf dieses Problem zu sprechen bei der Kritik an den Gegnern, die vorzeitig über das Heil oder Unheil der Menschen richten (4,5a). Außerdem erklärt er, dass die letzte Entscheidung über das ewige Heil nur Gott selbst zusteht (4,5b; 5,13). Vor diesem Hintergrund muss die christliche Gemeinde weise Menschen finden, die die Rechtssachen zwischen Gemeindegliedern entscheiden, damit die Christen ihre Streitigkeiten nicht vor einem weltlichen Gericht austragen müssen. Dieses Forum wäre schon allein wegen des schlechten Eindrucks nachteilig, der von der Gemeinde Christi in den Augen der Nichtgläubigen entstünde. Damit solche rechtlichen Konflikte nicht in der Öffentlich448
So R. Bultmann, Theologie (Lit. § 1), 196 f.
250
5 Die paulinischen Briefe
keit verhandelt werden, erlaubt Paulus das Richten, er fordert sogar dringend dazu auf, und zwar durch angesehene Mitglieder der Gemeinde. Dieser Vorschlag scheint im Widerspruch zum vorherigen und anschließenden Kontext zu stehen, der das Richten verbietet bzw. der Entscheidung Gottes zuschreibt. Aber Paulus schützt ein solches Verfahren vor Missbrauch, indem er erneut betont, dass das endgültige Urteil über das Heil eines Menschen Gott selber vorbehalten bleibt (5,13a). Die gegenwärtigen Entscheidungen, die bei dem Inzestfall die kirchliche Disziplin betreffen, sind nicht mit dem Urteil über das eschatologische Heil oder Unheil identisch, selbst wenn sie hart sein sollten (5,5). Außerdem unterstreicht Paulus, dass die Gemeinde solche Entscheidungen gemeinsam treffen muss und seine apostolische Weisung berücksichtigen soll. Wenn die Gemeindeglieder sich dementsprechend im Gebet versammeln, handeln sie in der Kraft des Herrn, der unter ihnen wirksam ist (5,1–5). e) Die Kreuzestheologie: Trotz einzelner Sprünge in der Argumentation, die z. T. in der Unterschiedlichkeit der anstehenden Probleme begründet sind, ist in der Kreuzestheologie ein einheitliches theologisches Anliegen erkennbar, das den vorgegebenen apokalyptischen Rahmen (§ 5.10.3) transformiert449 und für die Beantwortung der konkreten Fragen maßgeblich ist. Die verschiedenen Einzelprobleme in Korinth machen es nicht erforderlich, dass der Apostel seine These von der Rechtfertigung (Gerechterklärung) aus Glauben entfaltet. Seine Argumentation gegen die Leugner der Auferstehung gipfelt jedoch in dem feierlichen Ausruf, dass der Tod besiegt ist und mit der Sünde zusammenhängt, die ihre Macht aus dem Gesetz gewinnt (1Kor 15,55 f.). Bei diesen Worten handelt es sich um eine knappe Zusammenfassung dessen, was im Galater- und Römerbrief ausgeführt ist (§ 5.11.3–4; 5.16.5a). Gleichzeitig passt dieser Abschluss gut zum Gedankengang des Briefs.450 Gegen die Hypothesen, nach denen V.56 mit den Aussagen über die Sünde und das Gesetz eine Glosse seien, spricht nicht nur der textkritische Befund, sondern auch der theologische Zusammenhang mit 1,18–2,5. Dort bildet das Kreuz Jesu451 die alleinige Grundlage der paulinischen Verkündigung,452 wie es sich schon im Galaterbrief abzeichnete (§ 5.11.4d). Denn als der Gekreuzigte 449
Z. B. wird in 1Kor 11,29 oder 16,22 das Endgericht vorweggenommen. Vgl. Ch. Wolff, ThHK 7, 417 f. 451 Zum historischen Hintergrund vgl. umfassend M. Hengel, Crucifixion in the Ancient World and the Folly of the Message of the Cross, London 1977; H.-W. Kuhn, Art. Kreuz, TRE 19, 713–725. 452 Vgl. H. Weder, Das Kreuz Jesu bei Paulus (FRLANT 125), Göttingen 1981, 137 ff.; H.-Ch. Kammler, Kreuz und Weisheit (WUNT 159), Tübingen 2003. Zu den Schlüsselstellen des Paulinismus der Rechtfertigungslehre zählt diese Stelle F. W. Horn, 1Kor 15,56 – ein exegetischer Stachel, ZNW 82 (1991), 88–105, der den Vers jedoch für eine spätere Glosse hält; nach Th. Söding, „Die Kraft der Sünde ist das Gesetz“ (1Kor 15,56), ZNW 83 (1992), 74–84, handelt es sich um eine Vorstufe der Rechtfertigungslehre. 450
5.12 Der 1. Korintherbrief
251
(Gal 3,1) hat Christus stellvertretend (Gal 1,4; 2,20; 3,13) den Tod eines von Gott verfluchten Verbrechers auf sich genommen (Gal 3,10.13; Dtn 27,26; 21,23), um die Menschen vom Fluch des Gesetzes zu befreien und ihnen den Segen der Gerechtigkeit, des ewigen Lebens, des Geistempfangs und der Gotteskindschaft zu bringen (Gal 3,6–9.11.13 f.; 4,4 f.). Für die judenchristlichen Gegner in Galatien ist das Kreuz Christi ein Skandalon („Ärgernis“), weil es die Beschneidungsforderung der Tora als Weg zum Heil zunichte macht. Doch für Paulus ist es der eigentliche Inhalt seiner Verkündigung (Gal 5,11) und die alles entscheidende Grundlage seiner christlichen Existenz (6,12.14; § 5.11.3c). Der Hauptunterschied zwischen beiden Briefen besteht darin, dass der stellvertretende Kreuzestod im Galaterbrief den Fluch und damit die Heilsbedeutung der Tora aufhebt. In der korinthischen Gemeinde hingegen legt Paulus alles Gewicht auf die Torheit und Schwachheit, die nach den Beurteilungsmaßstäben dieser Welt unsinnig erscheinen, im Kreuz Jesu aber Gottes Weisheit und Kraft offenbar machen. Die Kreuzestheologie wird im 1. Korintherbrief nicht nur christologisch begründet und am Beispiel der korinthischen Gemeinde in ihrer ekklesiologischen Relevanz aufgezeigt. Sie wird auch in den Konsequenzen für die Verkündigung der Kreuzesbotschaft durch den schwachen Apostel und für das ethische Verhalten der Christen entfaltet: Was Paulus in der Pistisformel von 1Kor 15,3b–5 aus einer bereits vorliegenden Tradition als „Evangelium“ übernommen hat, stellt er zu Beginn des Briefs in seiner These (propositio) pointiert als Wort vom Kreuz voran (1,18), das denen, die verlorengehen, als skandalöse Torheit453 erscheint (1,18.23), den Christen aber, die gerettet werden, als ein Beweis der Kraft Gottes gilt (1,18.24). Das von Paulus verkündigte „Evangelium“ besteht im „Wort vom Kreuz“ (1,17 f.; vgl. Gal 5,11; Röm 1,16). Nichts anderes will der Apostel wissen und verkündigen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten (1Kor 1,23; 2,2; vgl. Gal 6,14). Für alle Weisheit dieser Welt ist das Kreuz als Hinrichtungsart der Inbegriff von Schwäche, Torheit und Sinnlosigkeit. Für die Juden ist es ein Skandalon (Ärgernis; 1Kor 1,23),454 dass Christus als Messiasprätendent am Kreuz den Tod eines von Gott verfluchten Verbrechers gestorben sein soll (Gal 3,10.13; Dtn 27,26; 21,23). Für die Griechen ist es eine Torheit (1Kor 1,18.22 f.), weil sie im schändlichen Tod Jesu die göttliche Weisheit des erwählenden und rettenden Heilsratschlusses nicht erkennen (1,21). Doch was in Christus als dem Gekreuzigten „das Törichte an Gott“ zu sein scheint, ist durch den stellvertretenden, die Sünden tilgenden Charakter dieses Todes (15,3) in Wahrheit „weiser als die Menschen“ (1,25a), weil Gott am Kreuz seine Weisheit sub contrario (unter dem Gegenteil) verborgen, gerade in der anstößigen 453 Das griechische Wort „mōría“ meint nicht einfach Unkenntnis oder Unverständnis, sondern mit einem abwertenden Unterton Dummheit, Unsinn, Schwachsinn, Sinnlosigkeit. 454 Vgl. ebenso in Gal 5,11 für die Judenchristen, die die Beschneidung fordern.
252
5 Die paulinischen Briefe
Gestalt dieser Torheit aber seine Heilsabsicht endgültig offenbart hat. Und was am Kreuz „das Schwache an Gott“ zu sein scheint, ist in Wirklichkeit „stärker als die Menschen“ (1,25b), weil schon Christus aus Schwachheit gekreuzigt, durch die Kraft Gottes aber von den Toten auferweckt wurde und lebt (6,14; 15,3 f.; 2Kor 13,4). Mit seinem Wort vom Kreuz (1Kor 1,18) verkündet Paulus daher das Evangelium, dass der Messias (Christus) stellvertretend für die Sünden der Menschen gestorben und am dritten Tag auferstanden ist (15,3b–5). Durch diese Botschaft von der göttlichen Heilstat im Opfertod und der Auferweckung Jesu werden die Gläubigen gerettet (15,2), weil Gottes Kraft ebenso wie Christus auch die Christen von den Toten auferweckt,455 die Macht der Sünde und die Todesverfallenheit des Menschen überwindet (15,56 f.; vgl. Röm 8,37), Rettung und Heil bringt (1Kor 1,18.21; Röm 1,16) sowie durch den schöpferischen Akt der Verwandlung in der Auferstehung ein neues, ewiges Leben gewährt (2Kor 13,4; 1Kor 15). Diese christologische Erkenntnis demonstriert Paulus den Korinthern ekklesiologisch durch einen Hinweis auf die soziale Zusammensetzung ihrer Gemeinde, in der es nicht viele Weise, Mächtige und Vornehme gibt, sondern Gott vor allem diejenigen berufen und erwählt hat, die nach weltlichen Beurteilungskategorien als töricht und schwach gelten (1Kor 1,26–28). Daher gibt es zwar durchaus auch Weise, Mächtige und Wohlhabende in der Gemeinde (s. Anm. 408), doch ihr Ruhm bei Gott beruht nicht auf ihrer Weisheit, ihrem Reichtum und ihrer Stärke, sondern auf dem Heil, das von Gott in Christus verwirklicht wurde und in der göttlichen Weisheit (sc. der Botschaft vom Kreuz), Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung besteht (vgl. 1,30 f. mit Jer 9,22). Die Berufung zu dieser Gemeinschaft (1,9) erfolgt aufgrund des stellvertretenden Todes Jesu. Schon die rhetorische Frage in 1,13, ob etwa Paulus für die Korinther gekreuzigt wurde, geht davon aus, dass die Korinther nur deshalb „auf den Namen Christi“ getauft (§ 5.6.2.2d) wurden, weil dieser für ihre Sünden („für euch“) gestorben ist (vgl. 11,24; 15,3). Diese heilbringende Bedeutung des Kreuzestodes bildet für den Apostel die entscheidende Ausgangsbasis, von der her er seine Folgerungen im Blick auf die Missstände in der korinthischen Gemeinde zieht. Statt sich um taufende Missionare zu gruppieren und die Gemeinde aufzuteilen (1,10–17), sollen die Korinther sich auf den gemeinsamen Grund ihres Heils im Kreuzestod Jesu besinnen, durch den ihnen von Gott Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung zuteil geworden ist (1,30). Denn „auf Christus getauft“ (Gal 3,27) sind sie nun „in Christus Jesus“ (Gal 3,28; 1Kor 1,30) und durch die Taufe in ihm „ein Leib“ (1Kor 12,13). Gerade die Pneumatiker sollen daher, statt durch ihr unberechtigtes Überlegenheitsbewusstsein Spaltungen zu provozieren, für die schwächeren Glieder des Leibes sorgen (12,22–27). Da Christus nach den Einsetzungsworten seinen Leib für die anderen („für euch“) hingegeben hat (11,24), gebietet der Apostel den Korinthern, beim Herrnmahl (§ 5.6.2.3) „die Gemeinde Gottes“ nicht durch die Trennung in 455
1Kor 6,14; 2Kor 4,7.14; 13,4; Phil 3,10 f.
5.13 Der 2. Korintherbrief
253
Arme und Reiche in ihrer Praxis zu verachten, sondern das Mahl, dem Sinn des Stifters entsprechend, in der ungeteilten Gemeinschaft miteinander zu feiern (11,17– 34). Die Kreuzestheologie hat ethische Konsequenzen: Weil Christus – metaphorisch ausgedrückt – als Passalamm geopfert wurde,456 sollen die Korinther sich in ihrer täglichen Lebensführung vom alten Sauerteig der Schlechtigkeit und Bosheit reinigen, die durch Lasterkataloge illustriert werden (1Kor 5,10 f.; 6,9 f.). Ebenso wie die Juden beim Passafest alle Sauerteigreste aus den Häusern entfernen (Ex 12,15.19; 13,7), sollen auch die Korinther ihre Laster beseitigen. Stattdessen sollen sie in Lauterkeit und Wahrheit leben (1Kor 5,7 f.), weil sie durch die Taufe (§ 5.6.2.2d) gereinigt, geheiligt und gerecht geworden sind (6,11; vgl. 1,30). Als weitere Konsequenz der Kreuzestheologie ermahnt Paulus die Korinther, bei aller richtigen theologischen Erkenntnis auf das Gewissen des schwachen Bruders Rücksicht zu nehmen, „für den Christus gestorben ist“ (8,11; vgl. Röm 14,15). Die Kreuzestheologie nimmt Paulus auch für seine apostolische Verkündigung in Anspruch (1Kor 2,1–5). Er tritt in Schwachheit auf und hat keine andere Botschaft als das Wort vom gekreuzigten Messias (Christus). Darum beruht die Wirkung seiner Predigt nicht auf menschlicher Weisheit und Fähigkeit, sondern allein auf Gottes Geist und Kraft. Was dies für die eigene apostolische Existenz bedeutet, legt Paulus ausführlicher im 2. Korintherbrief dar, nachdem neue Vorwürfe gegen ihn erhoben wurden (§ 5.13).
5.13
Der 2. Korintherbrief
Kommentare: Hans Windisch, KEK 6, 1970 (= 91924); Rudolf Bultmann, KEK Sonderband, 1976; Victor P. Furnish, AncB 32A, 1984; Friedrich Lang, NTD 7, 1986; Hans D. Betz, Hermeneia, 1985 (2Kor 8 u. 9), DÜ Gütersloh 1993; Ralph P. Martin, WBC 40, 1986; HansJosef Klauck, NEB 8, 1986; Maurice Carrez, CNT 8, 1986; Christian Wolff, ThHK 8, 1989; Margaret E. Thrall, ICC, 1994.2000; Jerry W. MacCant, 2 Corinthians, Sheffield 1999; Erich Gräßer, ÖTK 8/1–2, 2002.2005. Monographien und Aufsätze (s. auch die Lit. zu 1Kor): Günther Bornkamm, Die Vorgeschichte des sog. zweiten Korintherbriefes, in: ders., Geschichte und Glaube II (BEvTh 53), München 1971, 162–194; Ernst Käsemann, Die Legitimität des Apostels, in: Karl H. Rengstorf, Paulusbild (Lit. § 5), 475–521; Dieter Georgi, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief (WMANT 11), Neukirchen 1964; Otfried Hofius, Erwägungen zur Gestalt und Herkunft der paulinischen Versöhnungslehre, in: ders., Paulusstudien (Lit. § 5), 1–14; Cilliers Breytenbach, Versöhnung (WMANT 60), Neukirchen 1989; ders., Versöhnung, Stellvertretung und Sühne, NTS 39 (1993), 59–79; Jerome Murphy-O’Connor, Theology of the Second Letter to the Corinthians, Cambridge 1991; Ulrich Heckel, Kraft in Schwachheit. Untersuchungen zu 2Kor 456
Zum metaphorischen Charakter der Opferaussagen vgl. § 7.1.5.1a zum Lamm Gottes in Joh 1,29.
254
5 Die paulinischen Briefe
10–13 (WUNT II/56), Tübingen 1993; Reimund Bieringer / Jan Lambrecht, Studies on 2 Corinthians (BEThL 112), Leuven 1994.
Der 2. Korintherbrief ist der persönlichste aller Briefe des Neuen Testaments, da Paulus sich gegen Vorwürfe verteidigen muss, die ihm die Legitimität seines Apostolats streitig machen. Durch die Leidensthematik ist die Epistel vor allem für die Anthropologie und das Amtsverständnis bedeutsam. Im Vergleich zum 1. Korintherbrief hat sich die Situation erheblich verändert, da inzwischen einige christliche Missionare von außerhalb nach Korinth gekommen sind, die ein anderes Evangelium vertreten (2Kor 2,17; 4,2; 11,3 f.). Damit handelt es sich um eine ähnliche Personenkonstellation wie im Galaterbrief (§ 5.11.3): Paulus wirbt ebenfalls aus der Ferne um die Loyalität der Gemeinde, während er auf die Gegner nur indirekt polemisch in der 3. Person Bezug nimmt. Im Unterschied zum Galaterbrief geht die Auseinandersetzung jedoch nicht um die Entscheidung zwischen der Beschneidungsforderung der Tora und der Wahrheit des Evangeliums, sondern um die Vollmacht und Kompetenz des Apostels, die die Kontrahenten in Zweifel ziehen und damit einen Keil zwischen die Gemeinde und Paulus treiben. Unabhängig von den Briefteilungshypothesen (s.u.) wird heute meist angenommen, dass es sich durchgehend um dieselben Gegner handelt.457 Sie treten als „Diener Christi“ auf, dem sie sich in besonderer Weise verbunden fühlen (10,7; 11,4.13.23), sind jüdischer Herkunft (11,22: „Hebräer“, „Israeliten“, „Nachkommen Abrahams“), führen den Aposteltitel (11,5.13; 12,11), berufen sich auf Empfehlungsbriefe (3,1; 10,12.18), nehmen das Unterhaltsrecht in Anspruch (2,17; 11,7–11.20; 12,13f.), verstehen etwas von Rhetorik (10,10; 11,6), schildern Offenbarungserlebnisse (12,1ff.) und vollbringen Wundertaten (12,12). Alle diese Punkte ergeben eine direkte Konkurrenzsituation, in der Paulus sich mit seinen Rivalen vergleichen und messen lassen muss.458 Zugleich wurden Vorwürfe gegen Paulus erhoben, die seine Autorität als Apostel untergraben. Vor allem hat man als Widerspruch konstatiert, seine Briefe seien stark, sein persönliches Auftreten aber schwach und seine Rede nach den Maßstäben der Schulrhetorik verachtenswert (10,10; vgl. 11,6). Außerdem hat man ihm die Nichtinanspruchnahme des apostolischen Unterhaltsrechts (11,7–11; 12,13–18) so ausgelegt, als sei er sich auch selbst seines Autoritätsanspruchs nicht mehr sicher. Offenbarungs-
457
Vgl. R. Bieringer, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief, in: ders. / J. Lambrecht, Studies on 2 Corinthians (BEThL 112), Leuven 1994, 181–221, und den Exkurs bei E. Gräßer, ÖTK 8/2, 125–128, zum ganzen Brief F. Lang, NTD 7, oder ausführlicher V. P. Furnish, AncB 32A, hier 48–54. M. Hengel, Der unterschätzte Petrus, Tübingen 2006, 111–118.149–151, hält die Gegner im 2. Korintherbrief für Abgesandte der Petrusmission. 458 2Kor 10,12 und 2,17; 3,1; 10,7–12,18, bes. 11,12.16.18.21 ff.
5.13 Der 2. Korintherbrief
255
erlebnisse habe er keine zu schildern (12,1 ff.). Und statt Zeichen und Wunder und kraftvolle Taten zu vollbringen (12,12), sei er krank (12,7b). Aus alledem hat man in Korinth einen Mangel an Vollmacht (10,8; 13,10) gefolgert und dieses Defizit ihm als Entfremdung von Christus (10,7) angelastet. Das eigentliche Briefthema ist daher die Christuszugehörigkeit des Apostels in seinen vielfältigen Bedrängnissen, die er schon im Eingangsteil anspricht (1,3–11) und in den Leidenslisten, den sog. Peristasenkatalogen, wiederholt aufgreift.459 Paulus stellt sich der schwierigen Aufgabe, die göttliche Herrlichkeit und Kraft sowie die Legitimität seiner Vollmacht gerade in der Schwachheit seiner apostolischen Existenz nachzuweisen. Dementsprechend hat der 2. Korintherbrief über weite Strecken den Charakter einer Apologie,460 die am Ende paränetisch auf die Erbauung der Gemeinde ausgerichtet wird (10,1–6; 12,19–13,10). 5.13.1
Gliederung und Inhalt
Der 2. Korintherbrief gliedert sich grob in die Kap. 1–7, 8f. und 10–13. Tabellarische Übersicht s. S. 256. 1,1–11 Briefeingang Auf das Präskript folgt als Proömium ein Eingangsgebet in Form einer Eulogie (eulogētós ho theós = gelobt sei Gott) statt der sonst üblichen Danksagung mit „eucharisteín“ (§ 5.7b). Paulus spricht vom Trost und der Hoffnung in Momenten der Bedrängnis (1,3–7) und erinnert an ein lebensgefährliches Widerfahrnis in der römischen Provinz Asia, d. h. im Westen der heutigen Türkei (1,8–11). Die Gebete verbinden den Verfasser mit den Adressaten. 1,12–7,16 Erster Teil: Die Versöhnung mit den Korinthern Im Eingangsabschnitt 1,12–2,13 wehrt Paulus sich gegen den Vorwurf der Unzuverlässigkeit, weil er nicht zu dem versprochenen Besuch nach Korinth gekommen ist. Statt des erwarteten Besuchs schrieb er „unter vielen Tränen“ einen Brief (2,4), den sog. Tränenbrief, der nicht erhalten ist (s. Anm. 471 ff.). Mit diesem Schreiben versuchte er den Streit mit den Korinthern zu schlichten, von denen einer ihm eine große Betrübnis bereitet hatte. Paulus erklärt, dass er sich allein auf die Gnade (1,12) und das Ja Gottes zu den Verheißungen in Christus (1,20) verlässt.461 Der Absatz endet
459
2Kor 4,7–10; 6,4–10; 11,23b–12,10; vgl. 1Kor 4,11–13; vgl. bes. zu den stoischen Parallelen M. Ebner, Leidenslisten und Apostelbrief (fzb 66), Würzburg 1991. 460 2Kor 2,14–6,10; 10,7–12,18; vgl. 2Kor 12,19: „Schon lange denkt ihr, dass wir uns vor euch verteidigen.“ 461 Dazu beruft er sich auf das Gericht Gottes (1,14: „Tag des Herrn Jesus“), auf den heiligen Geist (1,21f.), auf Jesus als den Sohn Gottes, durch dessen Verkündigung die göttlichen
256
5 Die paulinischen Briefe
1,1–11 1,1 f. 1,3–11
Briefeingang Präskript Proömium mit Eulogie und Erinnerung an die Bedrängnis in Kleinasien
1,12–7,16 1,12–2,13
Erster Teil: Die Versöhnung mit den Korinthern Rechtfertigung (Selbstempfehlung) wegen nicht erfüllter Besuchspläne
2,14–6,10 2,14–3,6 3,7–4,6 4,7–5,10 5,11–6,10
Die Apologie des apostolischen Dienstes Das Wirken des Apostels („Ihr seid der Brief Christi“) Die Herrlichkeit Christi (alter und neuer Bund) Die Leiden des Apostels (4,8f.; vgl. 6,4–10; 11,23–12,10) Der apostolische Dienst der Versöhnung
6,11–7,16 6,11–13
Werben um die Gemeinde Bitte um Weitherzigkeit 6,14–7,1 Warnung vor „Ungläubigen“ (späterer Einschub?) Aussöhnung mit den Korinthern
7,2–16 8,1–9,15
Zweiter Teil: Die Jerusalemkollekte (Zweifacher Aufruf in Kap. 8 und 9)
10,1–13,10
Dritter Teil: Die Verteidigung des Apostolats gegen die „Überapostel“ Paränetischer Rahmen (mit Schelte und Drohung) Apologetischer Vergleich mit den Gegnern (Synkrisis: 11,7–12,13)
10,1–6 10,7–12,18
11,21b–12,10 „Narrenrede“: Parodie auf den Selbstruhm der Gegner 11,23–29.32f.; 12,10 Leidenskataloge (vgl. 4,8f.; 6,4–10) 12,1–10 Offenbarungen V.2–4 Entrückung in den 3. Himmel (in der 3. Pers.) V.7–9 Krankheit und Herrnwort: „Es genügt dir ...“ 12,19–13,10 13,11–13
Zuspitzung des Eingangsappells zur Erbauung (vgl. 10,1–6.8) Briefschluss mit Paränese, Grüßen, heiligem Kuss und triadischem Segen
Inclusio (Rahmung)
Gegensatz
mit der Aufforderung, den Gegner nach der Strafe, die ihm zuteil wurde, in Vergebung wieder aufzunehmen und zu ermutigen (2,5–13). Den größten Block bildet: Die Apologie des apostolischen Dienstes (2,14–6,10) Paulus legt zunächst die Bedeutung seines Auftrags dar (2,14–3,6). Sein Apostolat ist ein echtes Zeugnis für den im Geist präsenten Christus (vgl. 3,17a: „Der Herr ist der Geist“). Seine Verkündigung eröffnet den Weg zum Heil, das in Gerechtigkeit Verheißungen auch in Korinth verwirklicht wurden (1,18–20), und auf Gott als Zeugen (Beschwörung; 1,18.23).
5.13 Der 2. Korintherbrief
257
und Leben besteht (3,6.9). Seine apostolische Wirksamkeit wird – als Erfahrungsbeweis – in der Existenz der korinthischen Gemeinde sichtbar: „Ihr seid der Brief Christi“ (3,3). Danach stellt Paulus den Dienst des Mose an der Tora antitypisch dem apostolischen Dienst am Evangelium gegenüber (3,7–4,6). In seinem Dienst für die Herrlichkeit Christi übertrifft er bei weitem die Herrlichkeit, die auf dem Gesicht des Mose glänzte, als dieser nach dem Bundesschluss mit den Gesetzestafeln vom Berg Sinai herabstieg (Ex 34,29–35). Die sterbliche Existenz der wahren Apostel ist wie ein zerbrechliches Tongefäß, welches das Evangelium als wertvollen Schatz enthält, dessen lebenschaffende Kraft ganz von Gott kommt (4,7–5,10). Die Leiden des Paulus (4,8–15; vgl. 1,4 ff.8) sind kein Zeichen der Schwäche, sondern der Verbundenheit mit Christus, der selber viel erleiden musste und in der Verkündigung seiner Apostel durch den Geist am Werk ist. Die Überzeugungskraft des apostolischen Zeugnisses besteht gerade darin, dass es bei den Adressaten Glauben hervorbringt und Freiheit schenkt, wenn es auch in der Niedrigkeit und Schwäche der (wahren) Apostel dargeboten wird (4,7–15; vgl. 6,3–10: von der paradoxen Herrlichkeit des apostolischen Dienstes). Diese Botschaft ist stärker als die Angst vor dem irdischen Tod. Sie beflügelt die Sehnsucht nach der Überwindung der sterblichen Existenz und nach der endgültigen Gemeinschaft in der himmlischen Heimat beim Herrn (5,1–10). Die Apologie mündet in die zentralen Aussagen über den apostolischen Dienst der Versöhnung (5,11–6,10). Die Wortfamilie stammt ursprünglich aus dem sozialen bzw. politischen Leben und bezeichnet den Frieden und die Aussöhnung zwischen Feinden (Röm 5,1.10f.; vgl. Kol 1,20–22). Die Botschaft von der Versöhnung (katallagé) in Christus kommt von Gott selber, wird durch die Apostel ausgerichtet (2Kor 5,18 ff.) und beendet die Feindschaft der Sünder gegen Gott (Röm 5,10f.; 8,7). Nur darf man Christus nicht „irdisch“ (wörtlich „fleischlich“, katá sárka), d. h. äußerlich, als den am Kreuz Gescheiterten betrachten (2Kor 5,16f.), sondern soll ihn im Glauben als den Vorboten der neuen Schöpfung anerkennen,462 der zugunsten der Menschen starb und im Geist gegenwärtig ist. Durch diese tiefere, wahre Erkenntnis werden die Glaubenden „in Christus“ selber zur „neuen Kreatur“ (5,17; vgl. Gal 6,15). Deshalb gipfelt das Wort des Apostels von der Versöhnung in der Aufforderung an die Korinther: „So bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt“ (2Kor 5,20f.; vgl. Röm 5,10f.). Nach Abschluss der Apologie folgen das Ringen um die Gemeinde (6,11–13) und eine (wohl sekundär eingeschobene) Warnung vor „Ungläubigen“, die auf der Seite 462 Zu 2Kor 5,16 s. J. B. Souček, Wir kennen Christus nicht mehr nach dem Fleisch (1959), zuletzt in: P. Pokorný / ders.: Bibelauslegung (Lit. § 2.1.3), 183–197; zusammenfassend Ch. Wolff, ThHK 8, 123–127.
258
5 Die paulinischen Briefe
Beliars, d. h. Satans, stehen (6,14 –7,1). Trotz aller Kritik schließt der Abschnitt mit einem Lob der Adressaten und dem Aufruf zur gegenseitigen Versöhnung (7,2–16). 8,1–9,15 Zweiter Teil: Die Jerusalemkollekte In Kap. 8 und 9 ergeht ein zweifacher Aufruf zur Geldsammlung für die Christen in Jerusalem, die nach Gal 2,10 auf dem Apostelkonvent (48 n. Chr.) für die Armen der dortigen Gemeinde beschlossen worden war (vgl. 1Kor 16,1; Röm 15,25–31). 10,1–13,10 Dritter Teil: Die Verteidigung des Apostolats gegen die „Überapostel“463 Paulus warnt die Adressaten vor den falschen Aposteln, die nur sich selbst empfehlen (Kap. 10). Er erklärt ihnen, dass er diesen Überaposteln keineswegs unterlegen ist (11,5; 12,11), sondern alle Dinge, derer sich diese falschen Apostel (11,13) rühmen, ebenfalls aufzuweisen hat – mit Ausnahme des Selbstruhms, den er in der sog. „Narrenrede“ parodiert (11,1 ff.). In deren Kernteil (11,21–12,10) beschreibt er mit bitterer Ironie, wie er sich selbst mit allen Zeichen seines authentischen Apostelamts rühmen könnte von Missionserfolgen (10,14 ff.) über den rhetorischen Ausbildungsstand (11,6) und die jüdische Herkunft (11,22) bis zu besonderen Offenbarungserlebnissen (12,2–4.9) und Wundertaten (12,12; Exkurs 6c). Doch kündigt er vorweg an, wie „töricht“ eine solche Selbstempfehlung ist (11,16f.; 12,11), weil sie nicht dem Sinn des Herrn entspricht (ou katá kýrion = nicht dem Herrn gemäß) und ohne christologische Einsicht äußerlich, oberflächlich und vordergründig bleibt (katá sárka = nach dem Fleisch, fleischlich; 11,17f.).464 Als Höhepunkt der ganzen Argumentation zitiert Paulus ein Wort des erhöhten Herrn (Jesus Christus), der ihn gerade in seiner Krankheit, die er metaphorisch als „Pfahl im Fleisch“ bezeichnet, mit einer Offenbarung würdigte. Darin hat der Herr ihm seine Gnade zugesagt und versprochen, in der persönlichen Schwachheit des Paulus mit seiner göttlichen Kraft wirksam zu sein. Deshalb vermag Paulus einerseits als Christ persönlich das Leiden in Geduld auszuhalten und andererseits als Apostel mit seiner Verkündigung z. B. bei der Gemeindegründung in Korinth Erfolg zu haben. So überführt Paulus in der Narrenrede die „Überapostel“ des Selbstbetrugs. Sie haben kein Recht, über ihn zu richten. Mit einer erneuten Warnung kündigt Paulus im paränetisch rahmenden Schlussteil (12,19– 13,10; vgl. 10,1–6) seinen dritten Besuch in Korinth an (13,1f.). Bei seiner Ankunft möchte er aber nicht hart und streng sein müssen, denn die Vollmacht, die ihm Gott
463
Zu Gliederung und Argumentationsgang von 2Kor 10–13 vgl. U. Heckel, Kraft in Schwachheit, 6–51. 464 Paulus spielt hier nicht die Rolle des Komödianten (so vor allem H. D. Betz, Sokratische Tradition, 79–83), sondern macht seinen Gegnern im Sinn der jüdischen Weisheitsliteratur die Torheit zum Vorwurf, dass sie sich im Widerspruch zum Sinn des Herrn befinden (11,17f.).
5.13 Der 2. Korintherbrief
259
gab, soll der Erbauung (oikodomḗ), nicht der Zerstörung der Gemeinde (10,8; 13,10) dienen. 13,11–13 Briefschluss „Im Übrigen ...“ endet der Brief mit einer Ermahnung zum Frieden, der Aufforderung zum „heiligen Kuss“ untereinander (§ 5.7b), Grüßen und einem dreigliedrigen Segen mit trinitarischem Gefälle. Gliederungsprinzip ist in diesem Schlusssegen noch nicht die Trinität, sondern die Wirkung der göttlichen Gnade, Liebe und Gemeinschaft in der Gemeinde, aber diese drei Begriffe werden triadisch Christus, Gott und dem Geist zugeordnet.465 5.13.2
Integrität, Anlass, Zeit und Ort(e) der Abfassung
Schon 1776 machte der Hallenser Professor Johann Salomo Semler in seinem Kommentar zum 2. Korintherbrief auf einige Brüche aufmerksam, die eine sinnvolle fortlaufende Auslegung des Texts unmöglich machen. Die Annahme, dass es sich um eine sekundäre literarische Einheit handelt, die aus mehreren Briefen oder Teilen zusammengestellt wurde, scheint die beste Erklärung zu sein. Besonders auffällig ist die Spannung zwischen dem 9. und 10. Kapitel, denn auf den feierlichen Abschluss mit dem Kollektenaufruf für die Jerusalemer und einen Lobpreis ihres Gehorsams (9,13 f .) folgt in Kap. 10–13 eine harsche Polemik gegen die Nachgiebigkeit der Korinther. Dabei äußert der Apostel energisch seine Bereitschaft, allen Ungehorsam zu strafen (10,6). Auch zum ersten Hauptteil (1–7) stehen die letzten Kapitel im Widerspruch: Dort vergleicht Paulus die Korinther mit seinen Kindern (6,13), spricht zweimal von der gegenseitigen Öffnung der Herzen (6,11–13; 7,2) und drückt zuletzt seine Freude darüber aus, dass er sich auf sie verlassen kann (7,16). Außerdem ist deutlich, dass das 8. und das 9. Kapitel sich eigentlich zweimal mit demselben Thema befassen – der Sammlung für Jerusalem. Ob zwei verschiedene Briefe zugrunde liegen, ist schwer zu sagen.466 Bedenken wurden noch hinsichtlich 2Kor 6,14–7,1 geäußert. Es handelt sich um ein Textsegment, das sich durch den Wortschatz und die Schwarzweißmalerei zwischen Gläubigen und Ungläubigen bzw. Christus und Beliar vom Stil und der Theologie des Paulus deutlich abhebt. Die Aussagen dieses Abschnitts berühren sich aber in vielerlei Hinsicht mit der Theologie der Essener, wie sie durch Qumrantexte belegt 465 Vgl. 1Kor 12,4–6 (§ 5.12.1); (Phil 2,1); Gal 4,4–6 (§ 5.11.1); Eph 4,4–6 und Mt 28,19 (§ 5.6.2.2e); vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 305f. 466 Die Herausgeber der Hermeneia-Kommentarreihe wagten es, einen selbstständigen Kommentar zu 2Kor 8–9 herauszugeben. Eine solche Praxis entspricht nicht den Regeln der Exegese, die sich auch mit der Endgestalt des Texts befassen muss.
260
5 Die paulinischen Briefe
ist (z. B. die Kriegsrolle 1QM). Die Ausführungen würden gut in den Mund der judenchristlichen Gegner des Galaterbriefs passen. Die Abgrenzung dieses Abschnittes durch 6,13 („Lasst ... euer Herz weit aufgehen“) und 7,2 („Gebt uns Raum in euren Herzen!“) hat zu der Annahme geführt, dass es sich um einen späteren Einschub handeln könnte.467 Es ist jedoch auch möglich, dass Paulus für seine Polemik hier einen bekannten Text heranzog, der z. B. Sib III,63–74 ähnelt.468 Weitere Inkohärenzen lassen auf redaktionelle Eingriffe schließen. Auch wenn in neuerer Zeit die Plädoyers für die Einheitlichkeit wieder zunehmen, ist der 2. Korintherbrief vermutlich das Ergebnis einer redaktionell bearbeiteten Sammlung erhaltener Brieffragmente.469 Einzelne Züge der Inkohärenz weisen zwar auch andere kanonisierte Episteln auf, aber die Häufigkeit im 2. Korintherbrief nährt Zweifel an der Unversehrtheit des Texts. Der Bruch zwischen dem 9. und 10. Kapitel wurde bereits erwähnt. Die Spannungen sind hier so deutlich, dass die Annahme einer sekundären Verbindung die einfachste Erklärung wäre. Da Paulus in 2Kor 2,4 einen Vorbrief erwähnt, den er wahrscheinlich nach unserem 1. Korintherbrief und vor dem ersten Teil des 2. Korintherbriefs „unter vielen Tränen“ schrieb, hielten manche Forscher470 den in scharfem Ton verfassten Abschnitt 2Kor 10–13 für den Tränenbrief, eventuell noch um andere Teile des 2. Korintherbriefs erweitert.471 Dagegen spricht allerdings, dass der in 2,3–11 und 7,8–12 beschriebene Zwischenfall, der den Tränenbrief veranlasste, in 2Kor 10–13 nicht erwähnt ist. Außerdem schrieb Paulus nach 2Kor 1,23–2,4 den Tränenbrief, weil er nicht persönlich kommen wollte, während er in 2Kor 10–13 mit seinem baldigen Besuch in Korinth rechnet (10,2; 12,14; 13,1f.10). Diese Beobachtungen führen zu dem Schluss, dass 2Kor 10–13 nicht der Tränen-, sondern eher ein Kampfbrief ist, den Paulus nach dem ersten Teil des heutigen 2. Korintherbriefs schrieb.472 2Kor 8 und 9 wurden bereits erwähnt. Der Spendenaufruf in diesen beiden Kapiteln könnte als der paränetische Teil des Briefs (2Kor 1–7?) entstanden sein. Dass es sich um zwei Briefe handelte, deren zweiter (2Kor 9) für die Christen in der Provinz Achaia bestimmt war (H. D. Betz), ist zwar nicht ausgeschlossen, muss aber als Hypothese angesehen werden. Vorrang sollte die exegetische Deutung jener zwei Textabschnitte im Zusammenhang mit 2Kor 1–7 haben, wobei Kap. 9 eine umfangreichere Lesergruppe anredet und mit der Danksagung in 9,15 den Briefschluss bilden könnte (peroratio). Die Kapitelfolge ist kein Beweis für die Ein467
S. bes. H. D. Betz, 2Cor 6:14–7:1: An Anti-Pauline Fragment, JBL 92 (1973), 88–108. So O. Böcher, EWNT I, 509; vgl. zum Ganzen Ch. Wolff, ThHK 8, 146–149; R. Bieringer in: ders. / J. Lambrecht, Studies, 551–570. 469 Zu Teilungshypothesen und Einheitlichkeit vgl. die Forschungsüberblicke von R. Bieringer in: ders. / J. Lambrecht, Studies, 67–105.107–130.131–179; U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5), 253–262. 470 So schon J. S. Semler, heute H.-J. Klauck, L. Aejmelaeus, F. Lang, ähnlich G. Dautzenberg, Der zweite Korintherbrief als Briefsammlung, ANRW II,25,5, Berlin 1987, 3045– 3066, der 2Kor 9 für den ältesten Teil hält. 471 So bes. R. Bultmann, KEK Sonderband, 1976, 23, der zu dem Brief noch 2Kor 2,14– 7,4 und Kap. 9 rechnet. 472 So z. B. V. P. Furnish; U. Schnelle, modifiziert Ch. Wolff. 468
5.13 Der 2. Korintherbrief
261
heitlichkeit von 2Kor 1–9. Aber weitere Teilungen bleiben hypothetisch. Außerdem müssten die möglicherweise in 2Kor 1–9 enthaltenen Brieffragmente in so enger zeitlicher und räumlicher Nachbarschaft vermutet werden, dass solche Teilungshypothesen für die Auslegung allenfalls von untergeordneter Bedeutung sind. Als wahrscheinlich selbstständiges Ganzes muss also bloß der letzte Teil, d. h. 2Kor 10–13, betrachtet werden.
Die rekonstruierbaren Etappen der Kommunikation zwischen Paulus und der von ihm gegründeten christlichen Gemeinde in Korinth sind demnach folgende (vgl. § 5.8.2): a) Paulus wirkte am Anfang der 50-er Jahre in Korinth und gründete dort eine christliche Gemeinde (vgl. Apg 18,1–17). b) Bald nach seiner Abreise schrieb er den Korinthern aus Ephesus einen Brief, in dem er sie aufforderte, Kontakte mit einem Mann abzubrechen, der sich als Christ durch Inzest sexuell unangemessen verhielt (1Kor 5,1.9–13). Bei diesem Brief handelt es sich um den verlorenen Brief Nr. 1, den sog. Vorbrief (1Kor 5,9). c) Später schickte der Apostel aus Ephesus seinen Mitarbeiter Timotheus nach Korinth (1Kor 16,8.10). Ihm gab er einen Brief mit, in dem er die Fragen der Korinther beantwortete und auf neue Nachrichten reagierte. Das ist der Brief Nr. 2 – unser 1. Korintherbrief. d) Nachdem Timotheus mit schlechten Nachrichten zurückgekehrt war, reiste Paulus nach Korinth (sog. Zwischenbesuch), um die Gemeinde zu ermahnen, da ihn der Konflikt mit einem Mitglied der Gemeinde sehr betrübte (2Kor 2,1.5). Auf diesen Zwischenfall (nicht auf den sexuellen Devianten aus 1Kor 5) bezieht sich die Notiz in 2Kor 7,12, die schon mit einigem Abstand geschrieben ist. e) Nach der Rückkehr nach Ephesus schrieb Paulus den nicht erhaltenen Brief Nr. 3, den sog. Tränenbrief (2Kor 2,4). f) Nachdem Paulus in Ephesus im Gefängnis (2Kor 6,5; 11,23) gesessen hatte, kehrte er wieder nach Europa zurück. In Philippi begegnete er Titus, der in Korinth war (2,12f.) und gute Nachrichten überbrachte (7,6.13). Paulus verfasste daraufhin in Makedonien (7,5) einen versöhnenden Brief, der mit 2Kor 1–9 (oder 1–7) identisch ist. Das ist der Brief Nr. 4. g) Leider erreichten ihn im Frühjahr des darauffolgenden Jahres in Makedonien, d. h. in Philippi, beunruhigende Nachrichten über die Lage in Korinth. Vor seinem dritten Besuch (2Kor 12,14; 13,10) schrieb er deshalb einen 5. Brief, den sog. Kampfbrief, der zumindest in Teilen in 2Kor 10–13 enthalten ist. In ihm verteidigte er erbittert sein Apostelamt. h) Bald darauf reiste Paulus nach Korinth und versöhnte sich mit den dortigen Christen. Im Römerbrief, den er von Korinth aus schrieb,473 lobte er bereits die Sammlung für Jerusalem (Röm 15,26), die er in 2Kor 9 empfohlen hatte.
473
Kenchreä (Röm 16,1) ist der östliche Hafenort von Korinth.
262
5 Die paulinischen Briefe
Diese Abfolge der Ereignisse ist selbstverständlich nur eine Skizze, die ergänzt und korrigiert werden kann. Aber sie reicht aus zur Darstellung der Beziehungen zwischen den Lebensstationen und der Theologie des Paulus. 5.13.3
Theologie und Bedeutung
Der 2. Korintherbrief ist in der frühchristlichen Literatur nicht so oft belegt wie der 1. Korintherbrief, den schon der 1. Clemensbrief (96–100 n. Chr.), Ignatius von Antiochien (110–114 n. Chr.) und Polykarp (etwa 110–115 n. Chr.) zitieren.474 Mehrere angebliche Zitate aus dem 2. Korintherbrief beruhen in Wirklichkeit nur auf zufälligen Ähnlichkeiten im Gebrauch einer einzelnen Wendung. Eindeutig belegt ist, dass Markion (§ 3.3b) in der Mitte des 2. Jh.s den 2. Korintherbrief (wohl in der uns erhaltenen Gestalt) in seinen Kanon aufnahm (Tert. Marc. 5,11f.). Seit der Mitte des 2. Jh.s. wurde der 2. Korintherbrief in weiten Bereichen der Kirche zur gottesdienstlichen Lektüre verwendet. Als solcher („noch einmal ...“ d. h. „an die Korinther“) ist er im Kanon Muratori angeführt (Ende 2. Jh.; § 3.4a). 5.13.3.1
Zu 2Kor 1–9: Herrlichkeit, Leiden, Versöhnung
Der erste Briefteil hat eine klare theologische Linie, die angesichts des Konflikts mit den Gegnern in Korinth in den Versöhnungsaussagen von Kap. 5 gipfelt. a) Das Evangelium von der Herrlichkeit Christi: In 3,7–4,6 benutzt Paulus in seiner Apologie des apostolischen Dienstes mehrmals den Begriff der „Herrlichkeit“ (dóxa). Im paganen Griechisch meint das Wort Ruhm, Ehre und Ansehen eines Menschen, in der Septuaginta dient es aber als Übersetzung von hebr. kabod (Herrlichkeit). Daher bezeichnet es auch im Neuen Testament neben der Ehre Gottes vor allem den Lichtglanz der göttlichen Herrlichkeit. Nun wird die Herrlichkeit zu einem Ausdruck für die Gottesnähe und eschatologische Vollendung einer gottbezogenen Existenz. In dem Abschnitt 3,7–18, der in seiner theologischen Aussage umstritten ist, geht es bei dieser Herrlichkeit zwar auch um den Gegensatz zwischen dem Dienst des alten und des neuen Bundes, zwischen dem Buchstaben, der tötet, und dem Geist, der lebendig macht, zwischen dem Dienst der Verurteilung, der in die Verdammung führt, und dem Dienst der von Gott geschenkten Gerechtigkeit, der den Freispruch im Jüngsten Gericht bewirkt.475 Im Vordergrund stehen in der Apologie aber der Dienst und die Legitimität des Apostels, der mit der Herrlichkeit des Evangeliums in 474
Vgl. A. Lindemann / H. Paulsen, Die Apostolischen Väter (Lit. § 12c), 564.567.569. Vgl. O. Hofius, Gesetz und Evangelium nach 2Kor 3, in: Paulusstudien (Lit. § 5), 75– 120, zu den Forschungspositionen F. Back, Verwandlung durch Offenbarung bei Paulus (WUNT II/153), Tübingen 2002, bes. 90–95. 475
5.13 Der 2. Korintherbrief
263
jeder Hinsicht dem Glanz überlegen ist, der auf dem Gesicht des Mose zu sehen war, als dieser nach dem Bundesschluss mit den Gesetzestafeln vom Sinai herabstieg (3,7–18; vgl. Ex 34,29–35).476 Das Gesetz führt nur indirekt zu Gott, indem es sagt, was vor Gott nicht bestehen kann. Es hat „das Amt, das zur Verdammnis führt“ (3,9). Von der Herrlichkeit des Herrn (Christus) aber gehen die rettende Gerechtigkeit (3,9) und der Freispruch zum Leben aus, welche die Verkündigung des Evangeliums in Offenheit ermöglichen: „Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“ (3,12.17b).477 Die Herrlichkeit spiegelt sich im hellen Licht des Evangeliums,478 das der Apostel zur Erleuchtung der Christen predigt. Diese Erleuchtung ist von einer solchen Großartigkeit, dass sie nur mit der Erschaffung des Lichts am ersten Schöpfungstag verglichen werden kann (4,1–6) und die Gläubigen „in Christus“ zu einer „neuen Kreatur“ werden lässt (5,17). b) Die Hoffnung im Leiden: 4,7–5,10 zufolge bekennt sich der Geist zu denjenigen, die das „Todesleiden“ Christi an ihrem Leib herumtragen (4,10). Damit hält der Geist zu den sterblichen Menschen, besonders zu denjenigen, die wie der Apostel für das Heil der anderen, das in der Auferweckung zur Herrlichkeit des ewigen Lebens besteht, arbeiten. Paulus ist sich bewusst, dass die Todesgefahr als Erfahrung des Ausbleibens göttlicher Hilfe eine große Anfechtung ist (vgl. 1,8–10). Deshalb bedarf der Glaube an die aus Lebensgefahren errettende und auferweckende Kraft Gottes einer täglichen Erneuerung durch den Geist (4,7–18). Da Paulus in 1Thess 4,13 ff. noch davon ausging, dass er das Ende dieses Äons erlebt (§ 5.10.3), wurden in der Auslegungsliteratur bezüglich 2Kor 5,1–10 zwei eng zusammenhängende Probleme diskutiert: zum einen das Problem einer Entwicklung in der Eschatologie des Paulus, zum anderen die Frage eines (leiblosen) Zwischenzustands in der Zeit, die sich zwischen dem Sterben eines Menschen und der Parusie Christi erstreckt. Beginnen wir beim zweiten Punkt: Paulus denkt, wenn er von der Nacktheit spricht, nicht im griechischen (oder gnostischen) Sinn an die Leiblosigkeit der Existenz, als ob die – hier gar nicht erwähnte – (sc. unsterbliche) Seele der Träger der Identität eines Menschen wäre und den Körper abstreifen würde. Ohne Leib ist für den Apostel ein Leben weder diesseits noch jenseits des Todes vorstellbar. Paulus schätzt den Leib nicht wie die Griechen (und Gnostiker) als Gefängnis der Seele ein. Der Leib hat in seinem Denken einen ungleich positiveren Stellenwert. Die leibliche Existenz ist ein Wesenszug der Geschöpflichkeit. Weil es nach 1Kor 15,44–49 und 476
So F. Back, Verwandlung (s. Anm. 475), 96f. u. ö. Zur Freiheit in 2Kor 3 vgl. S. Vollenweider, Freiheit (Lit. § 5), 247–284; ders., Art. Freiheit, ThBLNT2 1, 503f. 478 Paulus spielt hier vermutlich auf die Christusvision bei seiner Berufung an (1Kor 9,1; 15,8; Gal 1,15f.). 477
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Phil 3,21 weder ein irdisches noch ein himmlisches Dasein ohne Leib gibt (§ 5.12.5c), kann die Nacktheit in 2Kor 5 nicht die Körperlosigkeit der Existenz bezeichnen. Das Wort von der Nacktheit kann sich aber als Ausdruck der Angst vor dem Verlust des irdischen Leibes und der Beziehungslosigkeit (Einsamkeit) eines Menschen auf die Zeit zwischen dem Tod und der Auferstehung, d. h. vor dem Anziehen des geistigen Leibes (1Kor 15,44–47; Phil 3,21), beziehen. Paulus war sich bewusst, dass der Mensch nur mit Hilfe seines Körpers, mit Augen, Ohren, Gesicht und Stimme (1Kor 12,14 ff.; 13,1.12), kommunizieren kann (§ 5.12.5d). Dieser Angst hält der Apostel die Hoffnung auf das Überkleidetwerden mit dem Gewand der Unsterblichkeit des ewigen Lebens entgegen (2Kor 5,3f.; vgl. 1Kor 15,53f.).479 Da Paulus diesen Vorgang des Überkleidens an anderen Stellen auch als Entrückung (1Thess 4,17) oder Verwandlung480 beschreiben kann, stoßen wir in 2Kor 5,1–10 nur auf eine neue Formulierung seiner eschatologischen Vorstellung. Der Apostel findet sie in einer Zeit, in der die Christen mit dem Eintreten ihres Todes bereits vor der Ankunft des neuen Äons rechnen mussten. Es handelt sich also bloß um eine neue Akzentuierung der Auferstehungshoffnung, nicht um einen substantiellen Wandel in der paulinischen Eschatologie. Gegen die zuerst erwähnte Entwicklungshypothese spricht zudem die Naherwartung des Apostels, mit der ein Problem verbunden ist, das die Christen bis heute begleitet: Während Paulus in 1Thess 4 f. die Parusie noch zu Lebzeiten erwartete (§ 5.10.3), rechnete er in Phil 1,21–26 als Häftling im Gefängnis schon mit seinem vorherigen Tod (§ 5.14.4). Gleichwohl hielt er auch in den späten Briefen immer noch an der Erwartung eines verhältnismäßig nahe bevorstehenden Weltendes fest, ohne sich freilich auf einen bestimmten Termin festzulegen (Röm 13,11 f.; Phil 4,5). Paulus weiß, dass die Erlösung außer dem Neuanfang – der Neuschöpfung (vgl. 2Kor 5,17; Gal 6,15) – auch eine Anknüpfung an die Identität des Einzelnen verlangt, die er irgendwie ausdrücken muss. Deshalb redet er auch im Zusammenhang mit der Nacktheit in der 1. Person („wir“).481 Die Nacktheit bedeutet den Tod. Der Glaubende vermag jedoch – trotz der menschlichen Todesangst – das eschatologische Ziel 479
Vgl. die Exkurse zu den Deutungsmodellen von 2Kor 5,1–10 bei Ch. Wolff, ThHK 8, 101–105, und zur Frage einer Entwicklung der paulinischen Eschatologie bei F. Lang, NTD 7, 284–293, sowie zum Ganzen M. Hengel, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 376–382, der die von R. Bultmann vorgeschlagene Lesart „ekdysámenoi“ (ausgezogen) statt der gut bezeugten Vorsilbe „en-“ (angezogen sc. den geistlichen Leib) für eine eklatante Fehlentscheidung von Nestle / Aland26 hält, die auf Markions Leibfeindlichkeit zurückgehen könnte. 480 1Kor 15,51 ff.; Phil 3,21; Röm 8,29; 2Kor 3,18. 481 Grundsätzlich könnte Paulus die durch Gnade gewährte Identität mit der (ebenso aus Gnade erneuerten) Seele identifizieren. Doch meint „psyche¯´“ z.B. im Logion vom Verlieren und Erretten (MK 8, 35–37) nicht die unsterbliche „Seele“ neben dem vergänglichen Leib, sondern wie hebr. „næpæˇs“ das Leben, die Vitalität (vgl. Gen 2,7).
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der Wege Gottes mit den Menschen zu erkennen. Denn der Geist Gottes wird ihm als „Unterpfand“ (arrabṓn; 2Kor 5,5; 1,22) oder „Erstlingsgabe“ (aparchḗ; Röm 8,23) zuteil, die bereits jetzt die Hoffnung auf eine Existenz in einem neuen Leib antizipatorisch vergegenwärtigen. Der Glaube bleibt wirklich ein Wagnis, das den Ernst der Sterblichkeit nie völlig verdrängen kann. Doch weiß der Gläubige, dass auch die gegenwärtige Existenz und selbst der Tod nur eine Etappe auf dem Weg zur unmittelbaren Gemeinschaft mit Christus in der Vollendung ist (Röm 8,38 f. 14,7–9): Wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen dessen, was bei Gott schon objektive Realität ist (2Kor 5,6 f.; vgl. 4,18; Röm 8,24). Daher können wir festhalten, dass Paulus seine Eschatologie neu formuliert hat. Aber die theologischen Prämissen sind dieselben geblieben, nur die existenzielle Bewältigung der Todesangst (1,8 ff.; 4,8 ff.) ist für den Apostel zu einer neuen Erfahrung geworden. Es ist ihm auch klar geworden, was vor dem Richterstuhl Christi zählt. Daran kann er sich schon jetzt in seinem alltäglichen Handeln orientieren, es sei gut oder böse (2Kor 5,9 f.). Diese Ausführungen zum Gericht nach Werken (2Kor 5,10) scheinen die Rechtfertigungslehre einzuschränken und werden manchmal als Argument für die Datierung von 2Kor 1–9 vor dem Galaterbrief herangezogen. Die Rechtfertigungslehre bedeutet jedoch keine Abschwächung des Jüngsten Gerichts. Vielmehr geschieht die Rechtfertigung, d. h. Gerechtmachung, vor dem Richterstuhl Christi (§ 5.10.3 Ende). Deshalb finden wir ähnliche auf das Endgericht bezogene Ermahnungen, dass jeder für seine Taten selbst vor Gott Rechenschaft ablegen muss, auch in Röm 14,10b–12 in der Paränese bezüglich der Starken und der Schwachen, nachdem Paulus in den vorangegangenen Kapiteln seine Rechtfertigungslehre dargelegt hatte.482 Weil das letzte Urteil Gott selber vorbehalten ist, kann kein Christ einem anderen Menschen durch sein Richten das Heil absprechen (1Kor 4,5; Röm 14,13; § 5.12.5d). c) Der Dienst der Versöhnung: In 2Kor 5,11–6,10 erklärt Paulus den Korinthern seinen apostolischen Auftrag als Dienst der „Versöhnung“ (katallagé; 5,18 f.). Das Wort meint den Frieden, der durch die Aussöhnung zwischen Feinden entsteht (Röm 5,10; vgl. Kol 1,20–22). Eigentlich stammt es aus dem Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen. Bei Paulus begegnet es für die Aussöhnung zwischen Eheleuten (1Kor 7,11), im paganen Griechisch vor allem für die diplomatischen Beziehungen zwischen (Stadt-)Staaten. Im theologisch qualifizierten Sinn verwendet der Apostel die Wortfamilie parallel zu den Ausdrücken der Gerechtmachung und Rettung als Bezeichnung für das Heil, das Gott in Christus bewirkt hat (Röm 5,1.10 f.; vgl. Kol 1,20–22). Wer Jesus Christus 482 Vgl. 1Kor 3,12 ff.; 2Kor 11,15; zum Problem s. L. Mattern, Das Verständnis des Gerichtes bei Paulus (AThA NT 47), Zürich 1966, 151 ff.; M. Konradt, Gericht und Gemeinde (BZNW 117), Berlin u. a. 2003, hier 473 ff.
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nicht als den für alle Menschen gestorbenen und auferweckten Herrn erkennt (2Kor 5,15), bleibt bei einer „fleischlichen“ (katá sárka), d. h. äußerlichen, Beurteilung Christi stehen, die die aus dem göttlichen Zorngericht errettende Bedeutung seines Sterbens nicht wahrnimmt (Röm 5,9 f.). Die rechte Erkenntnis führt zu einer Neuschöpfung, durch die der Mensch seine Existenz „in Christus“ als „neue Kreatur“ begreift (2Kor 5,17; vgl. Gal 6,15). Damit vermag der Glaube schon zu antizipieren, was der übrigen Welt erst noch bevorsteht, wenn der neue Äon zur Vollendung kommt.483 Die Neuschöpfung hat ihren Grund in der Versöhnung, die Gott gestiftet hat, indem er die Welt (kósmos) in Christus mit sich selber versöhnte (2Kor 5,18). Der Begriff der Versöhnung impliziert eine Situation der Entfremdung und Feindschaft gegen Gott, die sich gegen das Gesetz Gottes auflehnt und insbesondere gegen das erste Gebot verstößt. Diese Feindschaft wurde durch den Tod Jesu überwunden, der die Liebe Gottes erwiesen, Frieden mit Gott gebracht und einen neuen Zugang zu ihm eröffnet hat, wie Paulus später im Römerbrief darlegen wird (Röm 5,1 f.8.10 f.; 8,7). Diese Aussöhnung geschah aufgrund der Liebe Christi und durch den Tod, den Jesus für alle Menschen gestorben ist (2Kor 5,14 f.; Gal 2,20). Durch dieses heilvolle Ereignis brachte Gott die Gerechtigkeit, in der er die Verfehlungen nicht mehr anrechnet (2Kor 5,19.21). Denn Gott hat Christus als Unschuldigen stellvertretend „für uns zur Sünde gemacht“, damit wir „in ihm Gottes Gerechtigkeit“, d. h. als abstractum pro concreto „von Gott Gerechtfertigte“, würden (5,21; § 5.16.5a).484 In dieser Versöhnungstat ist Christus von Gott her für die Menschen zum Opfer für ihre Sünden485 und insofern stellvertretend für sie, d. h. ihnen zugute, „zur Gerechtigkeit geworden“ (1Kor 1,30). Dadurch werden die Menschen zu Gerechten, die von Gott in Christus durch den Glauben ganz aus Gnade gerechtfertigt sind, d. h. freigesprochen und gerecht gemacht, ohne es verdient zu haben.486 Dieses „Wort von der Versöhnung“ (lógos tḗs katallagḗs) zu verkündigen, ist Paulus als „Dienst“ bzw. „Amt487 der Versöhnung“ (diakonía tḗs katallagḗs) aufgetragen (5,18.19). Deshalb bittet er die Korinther als Botschafter an Christi Statt: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (5,20).
483
Vgl. den neuen Himmel und die neue Erde in Apk 21,5. Ebenso wurde Christus in Gal 3,13 f. stellvertretend „für uns zum Fluch“, d. h. er nahm den Fluch des Gesetzes auf sich, damit der Segen, der dem Abraham verheißen war, in Christus allen zuteil wird (§ 5.11.3c). 485 Vgl. Röm 8,3: „um unserer Sünde willen“ (perí hamartías) bzw. 1Kor 15,3: „er ist gestorben für (wegen) unsere(r) Sünden“ (hypér tṓn hamartiṓn; vgl. Röm 4,25; Gal 1,4) sowie zur Stellvertretung und zum Opfer § 5.6.2.3b; Exkurs 2. 486 Vgl. die passiven Formulierungen mit „dikaioústhai“ in Röm 3,24.28; 5,1.9; Gal 2,16 f.; 3,24. 487 Das Wort „diakonía“ heißt eigentlich „Dienst“ (z. B. 1Kor 16,15; 2Kor 11,8), doch verwendet Paulus es auch in einem speziellen Sinn für seinen Apostolat, d. h. sein apostolisches Amt (2Kor 4,1; 6,3; Röm 11,13). 484
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Oder anders ausgedrückt: Nehmt durch meine Verkündigung im Glauben an, was Gott durch das stellvertretende Sterben Jesu zur Versöhnung mit euch getan hat. Ähnlich wie im 1. Korintherbrief geht auch hier die Argumentation ganz von der Heilsbedeutung des Kreuzes Christi aus (§ 5.12.5e). Im 1. Korintherbrief war der heilbringende Tod Christi u. a. die Macht, die die Überwindung des Selbstruhms und der sozialen Trennung in der Gemeinde ermöglichte.488 Auch in 2Kor 1–9 stützt der für andere erlittene Tod Christi die Autorität des äußerlich schwachen Apostels (5,14 f.), der die Versöhnung Gottes mit den Menschen verkündigt und dadurch die Voraussetzungen zur Überwindung des Misstrauens in der Gemeinde schafft (5,18– 21). Weil Christus für andere gelitten hat, sollen die Korinther auch den Apostel in seinen Leiden als Mitarbeiter Gottes akzeptieren, damit sie die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangen (6,1). Diese Theologie des Kreuzes wird auf die persönliche Existenz des Paulus angewandt und hat ein Verständnis der Apostel als „Diener Gottes“ (6,4) zur Folge, deren Verkündigung gerade in ihrer Wehrlosigkeit authentisch und mächtig ist: „... als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben“ (2Kor 6,9 f.). Der zuletzt zitierte Abschnitt galt schon für Augustin (354–430 n. Chr.)489 als eine der eindrucksvollsten Passagen eines antiken Briefs. Es handelt sich um eine Beschreibung der christlichen Existenz zwischen den Zeiten, d. h. in der letzten Periode des alten Äons, zu einem Zeitpunkt, an dem der Messias schon bekannt ist (§ 5.10.3). Der neue Äon wirkt bereits durch das Evangelium und wird durch die neue Existenz der Christen in dieser Welt vergegenwärtigt, auch wenn sie noch unter dem alten Äon leiden. Wie schon in der Pistisformel aus 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.1) dient hier die Aussage über den heilbringenden Tod Jesu als Gegengewicht zur apokalyptisch geprägten Auferstehungsverkündigung, die in 1Kor 15 als Hauptargument für die christliche Hoffnung im Tod angeführt wurde (§ 5.12.5). Ebenso werden in 2Kor 5 beide soteriologischen Traditionen entfaltet, in V.1–10 die endzeitliche Erwartung, ab V.14 ff. die schon vollzogene Versöhnung durch das stellvertretende Sterben Jesu. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die erhaltenen Texte, die Paulus nach Korinth schickte, leicht zu verstehen sind, wenn wir die paulinische Rechtfertigungslehre als schon bekannt voraussetzen (§ 5.11.4e; 5.12.5e). Andernfalls bleibt z. B. die Notiz über die Gerechtigkeit in 2Kor 5,21 (vgl. 6,7) rätselhaft, die der Tod Jesu gebracht habe. Ähnliches gilt von den Aussagen über die Freiheit vom Gesetz des Mose (3,17b), die nicht mit einer völligen Freiheit von jeglicher Norm verwechselt werden darf. Der Gläubige erkennt im Dienst an anderen das „Gesetz Christi“ (1Kor 9,21; 488 489
1Kor 1,13 (vgl. 12,13 ff.); 8,11 (vgl. V.7–11); 11,24 (vgl. V.17–34); 15,3 (vgl. V.11). Vgl. doctr. chr. IV, 20,42 (ed. I. Martin, CChrSL 32, Turnholt, 1962, 149).
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Gal 6,2; § 5.11.4d), um sie für das Evangelium zu gewinnen (vgl. 1Kor 9,19–23: „den Juden ein Jude, den Schwachen ein Schwacher ...“). Die Aussagen über die Versöhnung Gottes mit den Menschen können als alternative Deutung der Rechtfertigungslehre begriffen werden.490 Diese „Versöhnungslehre“ ist für einen hellenistisch gebildeten Menschen – und damit für die Heidenchristen – besser verständlich als die Rechtfertigungslehre, die mit der apokalyptischen Erwartung des Jüngsten Gerichts verbunden war. Nach Peter Stuhlmacher handelt es sich um eine bei Paulus theologisch reflektierte ältere Tradition, in der die Versöhnung als eine Parallele zur kultischen Sühne (Lev 16) verstanden wird.491 Nach Cilliers Breytenbach gehören Versöhnung als ein eher sozialer und politischer Begriff und die aus dem Opferkult stammende Vorstellung der Sühne (Exkurs 2) begrifflich nicht zusammen, sondern haben eine unterschiedliche Herkunft.492 Angesichts dieser unterschiedlichen Herleitung bleibt festzuhalten: Die mit der Septuaginta (§ 5.5.1.1) vertrauten (Juden-)Christen sahen die Worte von der Versöhnung im Kontext des vierten Gottesknechtslieds in Jes 52,13–53,12. Diese Assoziation entspricht der Absicht des Paulus: Die Versöhnung ist im stellvertretenden Tod Christi begründet, der Sühne bewirkt hat (Röm 3,25). Während „Sühne“ und „Versöhnung“ im Deutschen einer einzigen Wortfamilie angehören, haben sie in der Bibel unterschiedliche Wurzeln im Opferkult bzw. im zwischenmenschlichen Bereich (s. Anm. 491 f.). Wieweit die Verbindung dieser unterschiedlichen Motive der Sühne, der Stellvertretung, der Rechtfertigung und der Versöhnung schon vor Paulus unter den Christen und Juden bekannt war, kann nicht eindeutig bestimmt werden. Unbestritten ist nur, dass der Gedanke des stellvertretenden Opfertodes bei Paulus oft auch ohne einen Ausdruck der Versöhnung Gottes mit den Menschen vorkommt und in einem der jüdischen Bibel kundigen Milieu gut verständlich war (Exkurs 2). Da in 2Kor 5,19 von der Versöhnung in einer grammatisch unüblichen Weise die Rede ist, war Paulus hier wahrscheinlich bestrebt, die Rechtfertigungslehre, die den stellvertretenden Tod Jesu erläutert, durch das Versöhnungsmotiv mit einer neuen Interpretation zu versehen: Die zuerst verwendete kultische Metapher des Opfers wird durch die politisch-soziale Metapher der Versöhnung noch einmal anders gedeutet (§ 1.3.3).493 490 Als grundlegenden Ausdruck paulinischer Theologie betrachten den Begriff der Versöhnung z. B. R. P. Martin, Reconciliation, Atlanta, GA 1981, und P. Stuhlmacher, Zur paulinischen Christologie (1977), zuletzt in: ders., Versöhnung, Gesetz und Gerechtigkeit, Göttingen 1981, 209–223, dort 217–220; ders., Theologie 1 (Lit. § 1), 295 ff.334 ff. 491 Ebenso auch O. Hofius, Erwägungen, 14. 492 C. Breytenbach, Versöhnung, 95 ff.215 u. a.; ders., Art. Sühne; Art. Versöhnung, ThBLNT2 2, 1685–1691.1777–1780. Zur Diskussion vgl. F. Hahn, Streit um die „Versöhnung“, VF 36 (1991), 55–64; ders., Theologie II (Lit. § 1), 381–398. 493 Treffend hat E. Käsemann, Erwägungen zum Stichwort „Versöhnungslehre im Neuen Testament“, in: Zeit und Geschichte (FS R. Bultmann), Tübingen 1964, 47–59, festgehalten,
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In 2Kor 5,19 handelt es sich um eine ausgesprochene Generalisierung der Rechtfertigungslehre: Die persönlich erfahrene Versöhnung mit Gott hat ihren Grund im universalen Versöhnungshandeln Gottes, das den „Kosmos“, d. h. die ganze Menschheit, einschließt. Diese Ausweitung erklärt der Apostel mit Hilfe der (vorpaulinischen?) Aussage494 vom göttlichen Versöhnungswirken in Christus und dem Nichtanrechnen der Verfehlungen (2Kor 5,19a.b). Mit der Kategorie der Versöhnung zieht er eine hellenistische Vorstellung heran, um den Inhalt der christlichen Botschaft verständlich zu machen.495 In Röm 5,9–11 verbindet er diese alternative Soteriologie der Versöhnung organisch mit der Rechtfertigungslehre. In seiner theologischen Reflexion hat Paulus diese zwei verschiedenen soteriologischen Entwürfe kombiniert und die ältere Kurzformel neu interpretiert. Dadurch gewann die paulinische Theologie ihre Wirkungs- und Überzeugungskraft. In 2Kor 5,15 und in einigen weiteren paulinischen Texten wird die stellvertretende Lebenshingabe auch mit Aussagen über die Auferweckung Jesu verbunden, sodass beide Ereignisse nicht isoliert betrachtet, sondern Jesu Tod und Auferstehung im sachlichen Zusammenhang gesehen werden müssen (vgl. 1Kor 15,3 ff.; § 5.6.2.1; 5.12.5).496 5.13.3.2
Zu 2Kor 10–13: Kraft in Schwachheit
Der letzte Teil des 2. Korintherbriefs ist eine Apologie des Apostels (vgl. 12,19), d.h. genaugenommen ein apologetischer Vergleich mit seinen Gegnern (Synkrisis: 11,7– 12,13).497 Der Selbstruhm des Apostels und die „Narrenrede“ in 11,1–12,13 sollen die Rivalen als falsche Apostel (11,13) entlarven, da sie aus der Sicht des Paulus keinen Grund zum Ruhm haben und ihr Selbstruhm absurd ist. Die Auseinandersetzung ist in einen paränetischen Rahmenteil eingebettet (10,1–6; 12,14–13,10), der auf die „Erbauung“ der Gemeinde zielt (oikodomḗ).498 Paulus sieht seine eigenen Leiden gerechtfertigt durch das Leiden Jesu Christi, der selber aus Schwachheit gekreuzigt dass Versöhnung im Neuen Testament kein soteriologischer Oberbegriff ist, das Motiv des Opfers und das der Versöhnung aber dieselbe Sache ausdrücken (55.58). 494 Manche halten „hōs hóti“ (dass) für ein Zitationssignal, das die nachfolgende Aussage als Überlieferungsstück kennzeichnen soll, andere gehen von einer epexegetischen (erklärenden) Bedeutung aus. 495 Vgl. die Belege bei C. Breytenbach, Versöhnung, 189 ff.; ders., Art. Versöhnung, ThBLNT2 2, 1778 f. 496 „Die Theologie der Auferstehung ist hier (bei Paulus; P.P.) ein Kapitel in der Theologie des Kreuzes, nicht deren Überbietung“ (E. Käsemann, Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 107). 497 Vgl. zu 2Kor 10–13 U. Heckel, Kraft in Schwachheit, bes. 49–51 (Gliederungsübersicht) und 301–325 (Zusammenfassung), sowie die Diskussion der neueren Literatur bei E. Gräßer, ÖTK 8/2. 498 2Kor 10,8; 12,19; 13,10 (§ 5.12.5b).
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wurde, aber seit der Auferstehung aus Gottes Kraft lebt.499 Die in 2Kor 1–9 skizzierte Soteriologie wird in Kap. 10–13 ethisch und ekklesiologisch entfaltet. Im Rahmen des kanonischen 2. Korintherbriefs soll dieser Teil als Paränese dienen. Um die Um- und Neubewertung seiner Schwachheit herbeizuführen, die man ihm zum Vorwurf macht, gebraucht Paulus als Schlüsselwort das Verbum „kauchā́sthai“ (sich rühmen) aus der Sentenz „wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn“ (10,17), die er schon in 1Kor 1,31 als verkürztes Schriftzitat eingeführt hatte (vgl. Jer 9,22 f.; § 5.12.5e). Indem Paulus sich in paradoxer Weise seiner Schwachheiten rühmt, parodiert er nicht nur den Selbstruhm der rivalisierenden „Überapostel“ aufgrund ihrer Vorzüge. Mit der Aufzählung seiner Leiden weitet er zugleich die konkreten Vorwürfe gegen Einzelzüge seines Auftretens auf seine gesamte berufliche Existenz aus. Den Haupteinwand gegen seine apostolische Vollmacht erklärt er zu einem charakteristischen Wesenszug seines Lebens als Diener Christi, das über die ihm widerfahrenen Leiden hinaus auch seine aktive Sorge für alle Gemeinden einschließt.500 In diesem Kontext sind auch die Offenbarungsschilderungen in Kap. 12 zu verstehen. In V.2–4 berichtet Paulus von einer bereits vierzehn Jahre zurückliegenden Entrückung in den dritten, d. h. für Paulus höchsten Himmel, in dem das Paradies liegt. Nur widerwillig distanzierend schildert er diese Offenbarung in der 3. Person wie das Erlebnis eines anderen Menschen und bedauert nicht einmal, dass er die unsagbaren Worte nicht weitergeben darf, die er zu hören bekam (vgl. die Sprache der Engel in 1Kor 13,1; § 5.12.1). Nach den antithetischen Überleitungsversen 5–7a, die die beiden Erzählpassagen zu Anti-Geschichten verklammern, kommt Paulus auf seine Krankheit („Pfahl im Fleisch“) zu sprechen, die man ihm zum Vorwurf macht. Aufgrund des Verbums „kolaphízein“ (mit der Faust schlagen, ohrfeigen) wurde diese Krankheit in der Alten Kirche stets als Kopfschmerz im Bereich der Wangen verstanden. Und da der Dorn (Luther: „Pfahl“) den Schmerz als stechend charakterisiert, handelt es sich bei dieser schlagartig stechenden Krankheit vielleicht um eine Trigeminus-Neuralgie.501 Als Höhepunkt der ganzen Argumentation zitiert Paulus ein Offenbarungswort des (erhöhten) Herrn, das nicht wie in der Lutherübersetzung zur Genügsamkeit auffordert („lass dir an meiner Gnade genügen“ würde beim Verb eine Passivform voraussetzen). Vielmehr sagt es aktivisch das Ausreichen der göttlichen Gnade zu (12,9): „Es genügt (arkeí) dir meine Gnade, denn die Kraft ist in den Schwachen mäch-
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2Kor 12,8–10; 13,3 f.; vgl. 1Kor 6,14; 2Kor 4,7–14; Phil 3,10 f. 2Kor 11,23–27; 12,10; vgl. 6,4–10 und die Peristasenkataloge in 4,7–10; 1Kor 4,11–
13. 501 Vgl. U. Heckel, Der Dorn im Fleisch. Die Krankheit des Paulus in 2Kor 12,7 und Gal 4,13 f., ZNW 84 (1993), 65–92, und als neueren Überblick den Exkurs bei E. Gräßer, ÖTK 8/2,198–200.
5.13 Der 2. Korintherbrief
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tig“.502 Auch wenn Paulus nicht von seiner Krankheit geheilt wurde, reicht die Kraft dieser Gnade aus, weil sie von Gott kommt (2Kor 4,7) und sowohl aus Situationen der Todesnot zu erretten (1,8–11) als auch zur Vollendung im ewigen Leben zu führen vermag (12,9; 13,4).503 Das Herrnwort appelliert nicht an die Selbstgenügsamkeit (oder gar das Autarkie-Ideal eines stoischen Weisen) und auch nicht an die menschliche Tugend der Tapferkeit, sondern sagt das Ausreichen der göttlichen Kraft zu. Statt dem philosophischen Ideal der „Selbst-Genügsamkeit“ nachzueifern, wird eine neue Form der „Christ-arkie“ propagiert:504 Die „dýnamis“ bleibt eine „vis aliena“ (fremde Kraft), die stets von außen kommt und nicht zum Besitz des Menschen wird. Die Kraft Gottes führt einen Menschen am Leiden nicht vorbei, erweist in der Leidens- und Trostgemeinschaft mit Christus aber ihre Wirksamkeit (1,3–7), bewahrt vor der völligen Verzweiflung (4,8 f.) und begründet die feste, zuversichtliche Hoffnung auf die Auferstehung zum ewigen Leben mit Christus.505 Durch diese göttliche Kraft ist Paulus in der Lage, alle Bedrängnis in Geduld und Bewährung auszuhalten (Röm 5,2–5; Phil 4,11–13): „Alles vermag ich durch den, der mich stark macht.“ Darum sind auch die Leiden des Apostels nicht schon für sich genommen rühmenswert, sondern nur unter der Zusage des Herrn und als Wirkungsfeld seiner Kraft. So erweist Paulus das paradoxe Rühmen der Schwachheiten letztlich als einen Lobpreis der göttlichen Kraft Christi, der zugleich die Regel von 2Kor 10,17 erfüllt: Er rühmt sich des Herrn, der – im Unterschied zu den Gegnern – die Schwachheit des Apostels nicht verachtet, sondern zum Ort seiner Wirksamkeit erwählt hat (12,9).506 Damit hat Paulus aus dem Herrnwort in 12,9 anthropologische Einsichten gefolgert, aus denen er sogleich weitere Konsequenzen hinsichtlich der Vollmacht (exousía) zieht, die ihm der Herr für seinen apostolischen Dienst gegeben hat (10,8; 13,10): Wenn sein persönliches Auftreten schwach ist, dann können sein Missionserfolg, der Aufbau der Gemeinde und das Wachsen des Glaubens bei den Korinthern (10,11–18; 13,5) nicht auf seinen menschlichen Fähigkeiten beruhen, sondern müssen in der Kraft seines Herrn ihren Ursprung haben. Die Schwachheit des Paulus steht nicht im Widerspruch zu seiner Christuszugehörigkeit und Vollmacht (10,7b–10), sondern ist durch die Parallelität zur Schwachheit Christi legitimiert (13,4). Außerdem sind gerade seine missionarischen Erfolge in Korinth allen Vorwürfen zum Trotz der ent502 Vgl. zur Wirkungsgeschichte U. Heckel, Schwachheit und Gnade. Trost im Leiden bei Paulus und in der Seelsorgepraxis heute, Stuttgart 1997, 40–106. 503 Die Auferweckung der Toten liefert für Paulus den entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der Kraft Gottes (vgl. Mk 12,24), der seine Macht in der Auferstehung Jesu schon bewiesen hat und in der Auferstehung der Christen zur Vollendung bringen wird (vgl. 1Kor 6,14; 2Kor 4,7.14; 13,4; Phil 3,10 f.). 504 Vgl. zum stoischen Autarkieideal U. Heckel, Kraft, 277–284.317 f.; ders., Art. Genüge, ThBLNT2 1, 723–725. 505 2Kor 4,14; 13,4; Röm 8,17; Phil 3,10 f. 506 Vgl. U. Heckel, Art. Ruhm, ThBLNT2 2, 1517–1522.
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5 Die paulinischen Briefe
scheidende Beweis für die Wahrheit seines apostolischen Vollmachtsanspruchs (13,3). Daraus folgt eine paränetisch eingekleidete Drohung an die Korinther, ihren Glauben zu bewähren, damit Paulus beim geplanten Besuch nicht als starker Mann auftreten und seine Vollmacht durch Niederreißen unter Beweis stellen muss, sondern die Gemeinde aufbauen kann, wie es seinem Auftrag und Schreibanliegen entspricht (10,8; 12,19; 13,5–10).
5.14
Der Philipperbrief
Kommentare: Ernst Lohmeyer, KEK 9,1 (1930), 141974; Jean F. Collange, CNT Xa, 1973; Josef Ernst, RNT, 1974; Joachim Gnilka, HThK X,3, 31980; Ralph P. Martin, NCBC, 1976; Gerhard Barth, ZBK 9, 1979; Wolfgang Schenk, Die Philipperbriefe des Paulus, Stuttgart 1984; Peter T. O’Brien, NIGTC, 1991; Ulrich B. Müller, ThHK 11,I, 22002; Gordon D. Fee, NIC, 1995; Nikolaus Walter, NTD 8/2, 1998. Monographien und Aufsätze: Walter Schmithals, Die Irrlehrer des Philipperbriefes (1957), in: ders., Paulus und die Gnostiker (ThF 35), Hamburg – Bergstedt 1965, 47–87; Günther Bornkamm, Der Philipperbrief als paulinische Briefsammlung (1962), in: ders., Geschichte und Glaube II (Lit. § 5), 195–205; Günther Baumbach, Die von Paulus im Philipperbrief bekämpften Irrlehrer, in: Karl-Wolfgang Tröger (Hg.), Gnosis und Neues Testament, Berlin 1973, 293–310; Wolfgang Schenk, Der Philipperbrief in der neueren Forschung (1945–1985), ANRW II,25,4, Berlin 1987, 3280–3313; Günther Klein, Antipaulinismus in Philippi, in: Jesu Rede von Gott (FS W. Marxsen), Gütersloh 1989, 297–313; Karl P. Donfried / I. Howard Marshall, The Theology of the Shorter Pauline Letters (NTTh), Cambridge 1993; Casy W. Davies, Oral Biblical Criticism. The Influence of the Principle of Orality on the Literary Structure of Paul’s Epistle to the Philippians (JSNTSS 172), Sheffield 1999.
Da Paulus sich bei der Abfassung des Philipperbriefs wegen seiner Christuspredigt im Gefängnis befindet, setzt er sich hier am intensivsten mit seinem möglicherweise bevorstehenden Tod auseinander. Umso dankbarer weiß er sich der Gemeinde in Philippi in einem herzlichen, geradezu freundschaftlichen Verhältnis durch den engen Kontakt und die finanzielle Unterstützung verbunden, die er bei anderen Gemeinden ablehnte (vgl. 2Kor 11,7–11).507 5.14.1
Gliederung und Inhalt
Beim Philipperbrief handelt es sich möglicherweise um eine Briefsammlung, da vor allem der Übergang von der Aufforderung zur Freude in 3,1 zu der scharfen Polemik gegen die Irrlehrer ab 3,2 als Bruch angesehen wird. Außerdem ist davon auszugehen, dass der Philipperbrief vermutlich zwischen dem 1. und dem 2. Korintherbrief entstanden ist (§ 5.8.2). Der letzte Teil des Philipperbriefs, wie er uns erhalten ist, 507
Vgl. zum Ganzen den Kommentar von U. B. Müller, ThHK 11/1.
5.14 Der Philipperbrief
273
kann wegen der Auseinandersetzung um die Rechtfertigungslehre in Kap. 3 auch in zeitlicher Nähe zum Römerbrief abgefasst sein. Die Reihenfolge, in welcher wir diese Briefe behandeln, ist also durch praktische Gründe bestimmt und soll nicht als Aussage über ihre Datierung verstanden werden. Die folgende Gliederungsübersicht deutet bereits einige Probleme der Interpretation an. 1,1–11 1,1 f. 1,3–11
Briefeingang Präskript (erwähnt erstmals Episkopen und Diakone) Proömium mit Dankgebet und Fürbitte für die Gemeinschaft (vgl. 4,10 ff.)
1,12–3,1
Briefkorpus I: Die Lage des Paulus und Ermahnung zur Einmütigkeit 1,12–26 Die Situation des Apostels im Gefängnis (1,7.13.17; vgl. 4,22) 1,27–3,1 Paränese I: Ermahnung zur Eintracht und Liebe in Christus 2,6–11 2,19–30 3,1
3,2–4,1
Christushymnus
Empfehlungen für Timotheus und Epaphroditus Abschließende Aufforderung zur Freude Briefkorpus II: Polemische Warnung vor Irrlehrern
4,2–9 Paränese II:
Aufforderung zu Eintracht, Freude und Friede (vgl. 2,1–4)
4,10–20
Dank für die Geldspende (vgl. 1,5)
4,21–23
Briefschluss (Postskript) mit Grüßen und Gnadenwunsch als Schlusssegen Christushymnus
kursiv Paränese
1,1–11 Briefeingang Nach dem Präskript eröffnet Paulus den Brief mit dem Proömium (exordium; 1,3– 11). Er dankt Gott für die gemeinschaftliche Teilhabe an der Botschaft des Evangeliums und bittet für die Philipper um das Wachstum ihres Glaubens. Paulus ist im Gefängnis (1,7.13.17). 1,12–3,1 Briefkorpus I : Die Lage des Paulus und Ermahnung zur Einmütigkeit 1,12–26 Der Apostel schildert seine Situation. Der Eingangsteil trägt Züge einer Selbstempfehlung des Paulus,508 dennoch soll er vor allem der Darstellung des Problems (narratio) dienen. Die Notiz aus 1,7 wird in V.16 f. entfaltet: Die Verhaftung des Apostels ermutigte die Christen in seiner Umgebung zur Verkündigung des Evangeliums. Einige von ihnen stellten jedoch seine Autorität in Frage. Sein Lebenswille ist erschöpft, sodass der Tod für ihn ein Gewinn wäre: Er könnte schon „mit 508
Vgl. F. Schnider / W. Stenger, Briefformular, 50 ff. (Lit. § 5.7).
274
5 Die paulinischen Briefe
Christus“ sein. Doch um der Adressaten willen möchte er weiterhin leben und das Gefängnis bald verlassen (1,21–26).509 1,27–2,18 Paränese I: Die Aufforderungen zur Treue, Eintracht und Liebe im gegenseitigen Dienst werden durch einen vorpaulinischen Christushymnus (Bekenntnis, Lehrgedicht) begründet (probatio), den der Apostel in Phil 2,6–11 zitiert. Der Hymnus bezieht den Titel „kýrios“ (Herr) auf Jesus (§ 5.6.1.3) und setzt dessen Präexistenz voraus. Anders als in der Pistisformel von 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.1) wird die heilbringende Funktion des Todes Jesu nicht expliziert, sondern nur auf den Tod am Kreuz hingewiesen. Das Kreuz ist der tiefste Punkt der Erniedrigung, die als Modell der Demut und Solidarität mit den sterblichen Menschen beschrieben wird und in der Erhöhung Jesu auf die Ebene Gottes ihren Gegenpol hat. 2,19–30 Es folgen Empfehlungen für Timotheus (2,19–24) und Epaphroditus (2,25–30), die Paulus als Mitarbeiter nach Philippi vorausschickt und besonders herzlich ankündigt. 3,1 Eine Aufforderung zur Freude schließt sich an, die mit einer Notiz über die nützlichen Wiederholungen510 als letzte Mitteilung (tó loipón = im Übrigen) eingeleitet ist. 3,2 – 4,1 Briefkorpus II: Polemische Warnung vor Irrlehrern Die „böswilligen Arbeiter“, die auch als „Hunde“ bezeichnet werden, forderten von den Christen in Philippi die Beschneidung. Dass sie dadurch die Gemeinde spalteten, wird durch ein Wortspiel ausgedrückt: Beschneidung – Zerschneidung (peritomḗ – katatomḗ; 3,2 f.). Indem Paulus sich als vorbildlichen Juden und Pharisäer präsentiert (3,5 f.), gibt er einen der wenigen autobiographischen Hinweise auf seine vorchristliche Vergangenheit (§ 5.8.1). Aber nachdem er Jesus als den Herrn kennen gelernt hat, erhielt er durch den Glauben von Gott die Gerechtigkeit (§ 5.16.5a). Diese Gerechtigkeit verbindet ihn mit Christus in seinem Leiden und eröffnet ihm die Perspektive der Auferstehung, die in der Erhöhung Jesu durch die Kraft Gottes begründet ist (3,7–11). Paulus vergleicht sein Leben mit einem sportlichen Wettrennen um den (in diesem Fall) himmlischen Preis, den er ergreifen möchte (3,12 ff.). Allerdings zeigt sich darin eine Innovation der Metapher, dass der ganze Wettlauf, dessen Ziel im Ergreifen des himmlischen Siegespreises besteht, durch das bereits geschehene Ergriffensein des Paulus durch Christus motiviert ist (3,12). 4,2–9 Paränese II: Nach der Aufforderung an einzelne Personen zur Eintracht (4,2 f.) folgen Ermahnungen, die zur eschatologischen Freude auffordern, von der Naherwartung getragen sind (4,4) und mit der Ankündigung verbunden werden, dass das Kommen des Herrn nahe bevorsteht (4,5; vgl. „Marana tha“ in 1Kor 16,22; 509 Dies ist eines der stärksten Argumente gegen die Auffassung des Christentums als einer Jenseitsreligion. 510 Phil 3,1: „Dass ich euch immer dasselbe schreibe, verdrießt mich nicht und macht euch umso gewisser.“
5.14 Der Philipperbrief
275
§ 5.6.1.3). Fast überraschend schließt sich ein Appell an, die allgemein anerkannten ethischen Normen zu respektieren (4,8). 4,10–20 Der Dank an die Adressaten für ihre finanzielle Unterstützung des Apostels (4,18; vgl. 2,25) mündet in einen liturgischen Lobpreis (Doxologie) mit „Amen“. Kap. 4 könnte die rhetorische Funktion einer peroratio (§ 5.7b) haben. 4,21–23 Den Schluss (Postskript) bilden Grüße und ein Gnadenwunsch als Segen. 5.14.2
Verfasser, Adressaten und literarische Integrität
Dass der Philipperbrief von Paulus stammt, ist allgemein anerkannt.511 Timotheus, der als Mitabsender angegeben wird (1,1; vgl. 2,19–24), hat eher die Funktion eines Zeugen. Adressaten der Epistel sind die Christen in Philippi, der ersten uns bekannten christlichen Gemeinde auf europäischem Boden. Nach Philipp II. von Makedonien, dem Vater Alexanders des Großen, benannt (356 v. Chr.), erlebte die Stadt unter Augustus ab 42 v. Chr. als römische Militärkolonie512 eine neue Blüte.513 Über die Gründung der christlichen Gemeinde wird in Apg 16,11–40 berichtet (vgl. Apg 20,6; 1Thess 2,2). Sie erfolgte 49 oder 50 n. Chr. und entsprach der paulinischen Strategie, Gemeinden an geographischen und administrativen Schlüsselstellen des Reichs aufzubauen. Philippi lag an der Via Egnatia, der Hauptverbindungsstraße zwischen Rom und Kleinasien. Der Brief zeugt von einem völlig unbelasteten Verhältnis und regen Kontakt zu den Philippern – abgesehen von der Polemik gegen die Widersacher in Kap. 3. Über den konkreten Einfluss von (Juden oder) Judenchristen innerhalb dieser christlichen Gemeinde ist nichts Genaueres bekannt. Apg 16,13 erwähnt einen Versammlungsort der Juden, der hier als „proseuchḗ“ (Gebetsstätte) bezeichnet wird. Die auffälligen Spannungen im Briefaufbau deuten darauf hin, dass das Schreiben aus mehreren (redigierten) Briefteilen zusammengestellt sein könnte. Polykarp von Smyrna (etwa 110–115) bezeugt die Existenz einer umfassenden Korrespondenz des Paulus mit der Gemeinde in Philippi, wenn er den Philippern empfiehlt, die Briefe (Plural), die ihnen Paulus geschickt hat, aufmerksam zu lesen (Polyk. Phil. 3,2; vgl. aber den Singular in 11,3). Polykarps Hinweis veranlasste mehrere Forscher zu Rekonstruktionsversuchen, unter denen die Annahme von drei ursprünglichen Briefen bzw. Brieffragmenten einen breiteren Widerhall fand.514 In jüngerer Zeit 511
Im 19. Jh. wurde die Verfasserschaft des Paulus z. B. von F. C. Baur in Frage gestellt. Vgl. die Namensform „Philippḗsioi“ für das lat. „Philippenses“ in Phil 4,15. 513 Näheres bei L. Bormann, Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus (NT.S 78), Leiden u. a. 1995; P. Pilhofer, Philippi I (WUNT 87), Tübingen 1995. 514 Vgl. die Übersicht bei U. B. Müller, ThHK 11/1, 7 f.; drei Briefe vermuten G. Bornkamm, A. Wikenhauser / J. Schmid, W. Marxsen, N. Perrin, H. Köster, H.-M. Schenke / K. M. 512
276
5 Die paulinischen Briefe
nehmen jedoch die Verfechter der literarischen Einheitlichkeit zu. Sie gehen davon aus, dass es ein einziger Brief ist, da viele Probleme bei der Rekonstruktion erst durch die Teilungshypothesen entstehen, wenn die Stimmungslage oder die Frage der Haftsituation isoliert betrachtet werden und die verbindenden Motive zu wenig Beachtung finden.515 Dennoch sollen die Hauptargumente der Teilungshypothese genannt werden, die beim Philipperbrief zur Annahme einer Sammlung aus folgenden drei Teilen geführt haben: A 4,10–20 B 1,1 – 3,1 und 4,21–23
Dankbrief (nach der Ankunft des Epaphroditus) Gefängnisbrief (durch Epaphroditus überbracht)
C 3,2 – 4,9
Kampfbrief (später, gegen Widersacher paulinischer Lehre)516
A) Der sog. Dankbrief: Phil 4,10–20 bildet eine Einheit, die nach Hinzufügung der Adresse (§ 5.7b) ein vollständiger Brief sein könnte, in dem Paulus für das durch Epaphroditus geschickte (Geld-)Geschenk dankt. Von der Haft bzw. Entlassung erwähnt Paulus nichts. B) Der sog. Gefängnisbrief: Der Anfang und das Ende des kanonischen Philipperbriefs sind im Gefängnis verfasst (1,7 f.12 f.17; vgl. 4,22). Die Geldspende, die Epaphroditus überbrachte, wird nur indirekt erwähnt. Der Überbringer ist inzwischen mit diesem Brief unterwegs nach Philippi (1,3; 2,25). Die Schwierigkeit der meisten Rekonstruktionsversuche besteht in der Bestimmung der Passagen, die noch zu diesem zweiten Schreiben gehören, das als Rahmen des kanonischen Philipperbriefs gedient haben könnte. C) Der sog. Kampfbrief: Am auffälligsten ist der Bruch zwischen 3,1 und 3,2 ff. Nun beginnt eine scharfe Polemik gegen eine gefährliche Gruppe in der Gemeinde, zu der der Aufruf zur Beständigkeit „im Herrn“ in 4,1 passt. Auch der Appell zur Aussöhnung zwischen den zwei Frauen, die eine verantwortliche Stellung in der Gemeinde hatten (4,2 f.), und die ethische Ermahnung in 4,8 f. können zu diesem Teil gehört haben. Die Gefangenschaft wird nicht erwähnt, sodass das Kapitel nach der in 1,25 erwarteten Entlassung geschrieben sein kann.
Fischer, N. Walter, mit zwei Briefen (Kampfbrief und Rest) rechnen J. Gnilka, A. Suhl u. a. C. W. Davies geht aufgrund der rhetorischen Analyse davon aus, dass der Philipperbrief Züge mündlicher Rede aufweist, die im Stil der Diatribe bearbeitet sind (Oral Biblical Criticism, 140–161). Da aber auch der Endredaktor den Stilwechsel als rhetorisches Mittel benutzt, muss die inhaltliche Analyse bei der Frage der Einheitlichkeit von größerem Gewicht sein, als C. W. Davies voraussetzt. 515 So z. B. E. Lohmeyer, W. G. Kümmel, U. Schnelle, U. B. Müller, H.-J. Klauck. 516 Zur Begründung vgl. G. Bornkamm, zur Begrenzung der einzelnen Teile H.-M. Schenke / K. M. Fischer, Einleitung (Lit. § 1), 126, zur älteren Diskussion A. Wikenhauser / J. Schmid, Einleitung (Lit. § 1), 500 ff.
5.14 Der Philipperbrief
277
Das 2. Kapitel mit dem Hymnus (2,6–11) wird mit einer Bitte um die Vollendung der Freude (2,2) eröffnet, die kaum zum Kampfbrief gehören kann.517 Die Bitte ist eher dem zweiten Brief zuzuordnen, dem sog. Gefängnisbrief, der von Epaphroditus überbracht wurde. Epaphroditus ist in der Stadt, in welcher der Apostel im Gefängnis sitzt, erkrankt und kehrt erst nach seiner Genesung zurück (2,25–30). Paulus möchte Timotheus nach Philippi schicken (2,19–24). Diesem zweiten Brief werden vielfach Phil 1,1–3,1 und 4,21–23 zugeordnet. Nach dieser Teilungshypothese wurden die drei im Philipperbrief enthaltenen Schreiben aus liturgischen und literarischen Gründen für die leichtere Verwendung im Gottesdienst redaktionell zu einer Briefsammlung zusammengefasst. Die Redaktionsarbeit habe ein Schüler des Paulus geleistet, der das ganze paulinische Korpus oder zumindest einen bedeutenden Teil (vermutlich in Ephesus) gesammelt und redigiert habe (§ 5.9). Bei dieser Redaktion entstand die Gegenüberstellung der „böswilligen Arbeiter“ (Kampfbrief C) und des Epaphroditus (Gefangenschaftsbrief B), der dadurch zum Vorbild eines treuen christlichen Zeugen wurde. 5.14.3
Die Gegner
Die in Kap. 3 bekämpften Gegner werden nur sehr allgemein charakterisiert. Die „böswilligen Arbeiter“ (3,2) sind vermutlich mit den „Feinden des Kreuzes Christi“ (3,18 f.) identisch.518 Als christliche Missionare (ergátai)519 betonten sie ihre Zugehörigkeit zum Judentum und forderten nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz verlangt, die Beschneidung (3,2–6). Daher dürfte es sich um eine christliche Gruppe handeln, die von Judenchristen beeinflusst war.520 Indem Paulus in 3,2 ff. die Alternative zwischen der „Gerechtigkeit aus dem Gesetz“ und der „Gerechtigkeit von Gott aufgrund des Glaubens“ aufwirft, lässt er eine auffällige Nähe zum Galater- und wegen der Rede von der „Gerechtigkeit von Gott“ (3,9) zum Römerbrief erkennen (§ 5.11.3–4; 5.16.5a).521 Aufgrund dieser Parallelen ist bei den Gegnern im Philipperbrief von einem judenchristlichen Einfluss auszugehen – analog zu den Falschbrüdern oder Jakobusleuten in Gal 2,4 f.12. Anders als in Galatien haben diese judenchristlichen 517 Doch weist U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 160, auf vielfache Wortbezüge zwischen 2,6–11 und 3,20 f. hin. 518 Vgl. den Exkurs bei U. B. Müller, ThHK 11/1, 188–193. 519 Vgl. 2Kor 11,13 als Bezeichnung für falsche Apostel (§ 5.13). 520 Heiden(-Christen) können die Irrlehrer nicht gewesen sein wegen der Beschneidungsforderung. Aber sie waren auch keine Juden, da Paulus nicht gegen den Abfall von Christus, sondern gegen den Rückfall in eine judenchristliche Haltung kämpft, die den Christusglauben mit der Beschneidungsverpflichtung kombinieren will. 521 Deswegen identifiziert sie G. Klein, Antipaulinismus, 313, mit Judaisten, ähnlich Ch. Mearns, The Identity of Paul’s Opponents at Philippi, NTS 33 (1987), 194–204.
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5 Die paulinischen Briefe
Irrlehrer in der Gemeinde von Philippi aber noch nicht weiter Fuß fassen können (vgl. Gal 1,6 f.; 4,9 f.). Dagegen ist umstritten, ob es sich zugleich um moralische Libertinisten handelt („ihr Gott ist der Bauch“; 3,19) – ähnlich den Enthusiasten im 1. Korintherbrief (§ 5.12.4). Eine Erklärung kann die Analyse der paulinischen Polemik bieten: Paulus betont dieser Gruppe gegenüber das Bürgerrecht der Christen im Himmel (3,20). Die Konsequenz ist eine aktive Verantwortung im jetzigen Leben, das mit einem Wettlauf verglichen wird. Erst am Ziel wird die Vollkommenheit erreicht (3,12–16). Die Gegner betonten also ihre Zugehörigkeit zur himmlischen Welt, die für sie die Vollkommenheit schon im Diesseits einschließt. Sie lebten angeblich ohne moralische Hemmungen, was mit ihrem Vollkommenheitsbewusstsein zusammenhängen kann.522 In der Religionsgeschichte ist eine solche Mischung aus Spiritualität und laxer Moral später in der Gnosis belegt. Eine Analogie findet sich bei den falschen Aposteln aus 2Kor 10–13,523 die sich ebenfalls ihres wahren Judentums (vgl. 2Kor 11,22 f.), ihrer geistigen Autorität sowie ihrer Christusnähe rühmten und gleichzeitig (aus paulinischer Sicht) unzüchtig lebten (2Kor 12,21; § 5.13.3.2). Da moralische Beschuldigungen der Gegner in Polemiken häufig vorkommen, trägt dieser Topos zur Identifizierung der Gegner nicht viel bei. Lange Zeit hat man die innere Spannung der Polemik als Ausdruck des geistigen Kampfes an zwei Fronten gegen christliche Judaisten und libertinistische Enthusiasten betrachtet.524 Wenn wir bedenken, wie provozierend die paulinische Theologie mit ihrer neuen Auffassung vom Volk Gottes wirken musste (§ 5.11.4), begreifen wir, dass die Gegnerschaft recht unterschiedlich motiviert sein konnte.525 Inzwischen hat sich beim Philipperbrief weitgehend die Einsicht einer einheitlichen judenchristlichen Gegnerfront durchgesetzt. Oft wird auch ein politischer Umstand als Erklärungsgrund angeführt, weshalb Paulus seine Gegner als „Feinde des Kreuzes Christi“ bezeichnet haben könnte (3,18). Die Ablehnung der Kreuzestheologie könnte als Zuneigung zur Synagoge interpretiert werden, die durch die Angst vor der Verfolgung um des „Kreuzes Christi“ willen (vgl. Gal 6,12) motiviert wäre (Phil 3,18 f.). Dieser Hinweis auf die Zuwendung zum Judentum erfolgt ungeachtet der Frage, ob sie aus Angst vor den synagogalen Gerichten entstand oder ob sie ein Versuch war, unter dem Dach der Synagoge 522 Deshalb können die „böswilligen Arbeiter“ nicht mit den Gegnern aus Galatien identisch sein. Paulus polemisiert nicht gegen die Auffassung des Gesetzes als Heilsweg, sondern gegen das Vollkommenheitsgefühl. 523 Vgl. die „betrügerischen Arbeiter“ in 2Kor 11,13 mit den „bösen Arbeitern“ in Phil 3,2. 524 So im Anschluss an W. Lütgert in der letzten Zeit vor allem G. Baumbach, Irrlehrer, 308 ff. 525 H.-M. Schenke / K. M. Fischer, Einleitung I (Lit. § 1), 128, identifizieren die Gegner als „offizielle Kirche“.
5.14 Der Philipperbrief
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als einer offiziell anerkannten Religion der möglichen Verfolgung durch die römische Staatsmacht zu entgehen (vgl. § 2.2.1b; Exkurs 9). Diese Angst vor Anfeindungen könnte Paulus polemisch als Sorge um den Bauch charakterisiert haben.526 Schon hier muss allerdings gesagt werden, dass Paulus im Philipperbrief theologische Konsequenzen zog, die über die in Kap. 3 erörterten Streitfragen weit hinausgehen. 5.14.4
Das theologische Anliegen: Leben im Angesicht des Heils
Da die Opponenten erst im polemischen Teil der Philipperkorrespondenz deutlich hervortreten (3,2 ff.), sind die theologischen Grundaussagen des Apostels, denen wir im Philipperbrief begegnen, primär in einem anderen, weiteren Kontext zu deuten. Erst in einem zweiten Schritt stellt sich dann die Frage, wie die Polemik gegen die „böswilligen Arbeiter“ vor dem Hintergrund der früheren Auseinandersetzungen zu verstehen ist. Selbst wer die Briefteilungshypothese für plausibel hält, muss anerkennen, dass die einzelnen Abschnitte des Philipperbriefs in der Verschiedenheit ihrer Situationen durch eine zusammenhängende Thematik verbunden sind, die Paulus theologisch entfaltet. Die verschiedenen Situationen sind: a) die Freude über das aus Philippi überbrachte Geschenk, das für Paulus ein Zeichen der gegenwärtigen realen Macht des Evangeliums darstellt (4,14–18; sog. Dankbrief A), b) die Sehnsucht nach einem unmittelbaren Mit-Christus-Sein aus der Gefangenschaft heraus (1,21 ff.; sog. Gefängnisbrief B) und c) der problematische Anspruch auf die schon erreichte geistige Vollkommenheit, den Paulus bei den Gegnern verspürt (3,12.15; sog. Kampfbrief C). Alle drei Aspekte veranlassten den Apostel zu einem vertieften theologischen Nachdenken über die Präsenz des Heils: Zum ersten sieht er eine deutliche Spur heilvoller Erfahrungen in der Gemeinschaft, die er in Gestalt einer materiellen Unterstützung von den Philippern erfahren hat (4,15–20). Zum zweiten muss die Gemeinschaft „mit Christus“ für Paulus in seiner vom Tod bedrohten Lage als Gefangener eine Perspektive bieten, die ihm über das irdische Dasein hinaus die Hoffnung auf ein ewiges Leben eröffnet: „Denn Christus ist mein Leben, und Sterben mein Gewinn“ (1,21.23). Da Paulus in 1Thess 4,17 noch die Ankunft des neuen Äons zu seinen Lebzeiten voraussetzte (§ 5.10.3), müssen wir aus dieser Todessehnsucht heraus mit einer Akzentverschiebung in der paulinischen Es-
526 So A. Suhl, W. Schenk, K.-W. Niebuhr, P. Pilhofer, deren Position U. B. Müller, ThHK 11/1, 192 f. Anm. 265, jedoch „aus einer überstrapazierten Sicht des paulinischen Gebrauchs von Politeuma in Phil. 3,20 (erklärt)“.
280
5 Die paulinischen Briefe
chatologie rechnen (§ 5.13.3.1b).527 Trotz der Möglichkeit eines unmittelbar bevorstehenden gewaltsamen Todes werden aber auch im Philipperbrief die Hoffnung auf die Parusie des Retters am Tag Christi528 und die eschatologische Naherwartung nicht aufgegeben: „Der Herr ist nahe!“ (4,5; vgl. Röm 13,11 f.). Es handelt sich also eher um eine konkrete Zuspitzung der Enderwartung auf die Situation in der Gefangenschaft als um eine echte Änderung der eschatologischen Vorstellungen. Ein noch größeres Gewicht hat zum dritten die präsentische Dimension des Heils: Die wahre Heimat der Christen, die ihnen wie eine antike Polis (Stadt) das volle Bürger recht gewährt (políteuma), befindet sich im Himmel (3,20; vgl. 2Kor 5,6– 8).529 Die Namen der Gläubigen stehen bereits im Geburtsregister dieser himmlischen Polis, dem Buch des Lebens (Phil 4,3). Der Eintrag in dieses Buch eröffnet die vollberechtigte Zugehörigkeit zur himmlischen Heimatstadt und begründet die Hoffnung auf die dortige Vollendung der eigenen Existenz.530 Davon lebt die gegenwärtige Freude, die eine Vorwegnahme der eschatologischen Freude darstellt und von der Hoffnung auf die nahe bevorstehende Parusie des Kyrios erfüllt ist:531 „Freut euch im Herrn allezeit! Noch einmal sage ich: Freut euch“ (4,4). Gleichzeitig erkannte Paulus, dass eine vorzeitige Preisgabe der Verantwortung für die Mitmenschen aufgrund seiner Todessehnsucht eine Flucht darstellen würde (1,22.24.26). Gerade in der Verantwortung für andere zeigt sich, wie ernst ein Mensch die Gnade Gottes nimmt. Angesichts des Vollkommenheitsgefühls einiger Christen, die die Adressaten beeinflusst haben könnten, entfaltet der Apostel die Präsenz des Heils als eine Bewegung (Wettlauf) hin zur Vollendung, die von Christus inspiriert ist (3,12–16). Gegenwärtig sind sie noch unterwegs, aber das Ziel steht vor Augen. Vielleicht war auch das Bild des Bürgerrechts im Himmel mit ähnlichen Konnotationen einer eschatologischen Erwartung verbunden, zumal in Philippi römische Veteranen angesiedelt wurden. Diese ehemaligen Soldaten machten sich hier um die Blü527 Vgl. W. Wiefel, Die Hauptrichtung des Wandels im eschatologischen Denken des Paulus, ThZ 30 (1974), 65–81; G. Baumbach, Die Zukunftserwartung nach dem Philipperbrief, in: Die Kirche des Anfangs (FS H. Schürmann), Leipzig 1977, 439–458, bes. 453 ff.; G. Haufe, Individuelle Eschatologie des Neuen Testaments, ZThK 83 (1986), 436–463, dort 454, aber auch die Kritik an der Entwicklungshypothese von P. Siber, Mit Christus leben (AThANT 61), Zürich 1972, 99–134; M. Hengel, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 376–382.388–391. 528 Phil 1,6.10; 2,16; 3,12–21. 529 Vgl. R. Feldmeier, Christen als Fremde (Lit. § 8.6), 80–83.93 f. 530 Vgl. A. M. Schwemer, Himmlische Stadt und himmlisches Bürgerrecht (Gal 4,26 und Phil 3,20), in: M. Hengel u. a. (Hg.), La Cité de Dieu / Die Stadt Gottes (WUNT 129), Tübingen 2000, 195–243; vgl. auch das himmlische Jerusalem in Hebr 12,22 (§ 8.5.3c) und Apk 21,2 (§ 7.2.6). 531 Phil 1,4.18.25; 2,18; 3,1; 4,1.4 f.
5.14 Der Philipperbrief
281
te einer Stadt verdient, die nicht ihre ursprüngliche Heimat war. Setzt aber schon das irdische Bürgerrecht an einem anderen Ort solche konstruktiven Kräfte frei, dann wirkt das Wissen um das uneingeschränkte Wohnrecht in der himmlischen Heimatstadt erst recht motivierend für das Miteinander in der Gemeinde, weil es von der Erwartung auf das Kommen des Herrn und auf die Vollendung der Gemeinschaft mit ihm getragen ist (3,20). 5.14.5
Der Christushymnus in Phil 2,6–11
Ernst Lohmeyer, Kyrios Jesus (SAH 4), Heidelberg 1928; Ernst Käsemann, Kritische Analyse von Phil 2,6–11, in: ders., Exegetische Versuche I (Lit. § 5.6.2.3), 51–95; Reinhard Deichgräber, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit (StUNT 5), Göttingen 1967, 118–133; Hans-Martin Schenke, Die neutestamentliche Christologie und der gnostische Erlöser, in: Gnosis und Neues Testament, Berlin 1973, 205–229; Jozef Heriban, Retto phroneín e kénōsis. Studio esegetico su Fil 2,1–5.6–11 (BSR 51), Rom 1973; ders., Il Cristo „preesistente“, o Jesu Cristo nella sua essistenza divino-umana?, in: EΠITOAYTO (FS P. Pokorný), Prag 1998, 149–162; Morna D. Hooker, Philippians 2,6–11, in: Jesus und Paulus (FS W. G. Kümmel), Göttingen 1975, 151–174; Georg Strecker, Redaktion und Tradition im Christushymnus Phil 2,6–11, in: ders., Eschaton und Historie, Göttingen 1979, 142–157; Luise Abramowski, Drei christologische Untersuchungen (BZNW 45), Berlin / New York 1981; Otfried Hofius, Der Christushymnus Phil 2,6–11 (WUNT 17), Tübingen 21991; Ralph Brucker, „Christushymnen“ oder „epideiktische Passagen“? (FRLANT 176), Göttingen 1997.
Zur Basis seiner paränetisch orientierten Argumentation bezüglich der konkreten Verantwortung für die Mitmenschen machte Paulus den Christushymnus in Phil 2,6–11.532 Es handelt sich dabei um einen vorpaulinischen Text,533 den der Apostel aus der Tradition übernommen hat und den er bei den Adressaten als bekannt voraussetzt. Als Lied hatte der Hymnus einen gottesdienstlichen Sitz im Leben (vgl. Kol 3,16; § 5.6.2.4). Er dürfte nicht allzu lange vor der Abfassung dieses Briefteils formuliert worden sein. Der Hymnus lautet: I
532
6a b 7a b 7c
„Er, der in Gottesgestalt war, hielt nicht fest wie einen Raub das Gottgleichsein, sondern er machte sich selbst arm, Knechtsgestalt annehmend. Den Menschen gleich werdend
Zu den Christushymnen vgl. § 5.6.2.4, zu Phil 2,6–11 U. B. Müller, ThHK 11/1, 91–
115. 533 Darauf deuten die paulinischen Hapaxlegomena „morphḗ“ (Gestalt), „harpagmós“ (Raub), „hyperhypsoýn“ (zur höchsten Höhe erheben), „katachthónios“ (unterirdisch) sowie die Häufung der Partizipial- und Relativkonstruktionen, der strophische Aufbau, die Parallelismen und die Unterbrechung des Kontexts.
282
5 Die paulinischen Briefe d 8a b c
II 9a b l0 a b 11a b c
und der Erscheinung nach erfunden als ein Mensch, erniedrigte er sich selbst, sich gehorsam erzeigend bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz. Darum auch hat Gott ihn zur höchsten Höhe erhoben und ihm geschenkt den Namen über alle Namen, damit unter Anrufung des Namens Jesu jedes Knie sich beuge der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen und jede Zunge lobpreisend bekenne: ,Herr ist Jesus Christus!‘ zur Ehre Gottes, des Vaters.“534
Der Hymnus geht von der Präexistenz Jesu aus: Das Leben Jesu ist nicht erst durch die Inkarnation entstanden, sondern er war schon vorher bei Gott. Diese Existenz wird noch nicht als Schöpfungsmittlerschaft charakterisiert, die erst in den deuterobzw. nachpaulinischen Hymnen mehrfach begegnet.535 Bei Paulus findet sich lediglich in 1Kor 8,6 eine kurze Formel, die mit der Schöpfungsmittlerschaft Jesu rechnet, „durch den alle Dinge sind und wir durch ihn“ (§ 5.6.2.4). Dieser Gedanke der Präexistenz- und Schöpfungsmittlerschaft Christi bildet den protologischen Gegenpol zur bereits früher geläufigen, eschatologisch orientierten Kombination von Sterbeformel und Auferstehungsverkündigung (1Kor 15,3b–5; § 5.6.2.1), die in dem alten aramäischen Gebetsruf „Marana tha“ („Unser Herr, komm!“; 1Kor 16,22) bald mit der Erhöhungsvorstellung und dem Kyrios-Titel (§ 5.6.1.3) verknüpft wurde. Die auf das Eschaton ausgerichtete Verbindung von gekreuzigtem Jesus und neuem Äon (§ 5.10.3) führte im Philipperhymnus zu einer ähnlichen „hymnischen“ Verankerung „nach vorne“. Eine analoge Rückbindung ist schon in den vorpaulinischen Hingabe536 und Sendungsformeln537 impliziert, die ebenfalls einen göttlichen Ursprung voraussetzen (§ 5.6.2.1). Indem beide Verlängerungen „nach vorne“ und „nach hinten“ kombiniert werden, entsteht ein mythisches Bild des Ab- und des noch höheren Aufstiegs. Diese Ab- und Aufwärtsbewegung erklärte die religionsgeschichtliche Schule mit dem direkten Einfluss alter Mythen. Entscheidend ist für Paulus jedoch die theologische Intention des Präexistenzgedankens: Die Erfahrung des Glaubens, dass der erhöhte Herr im hymnischen Bekenntnis zum Kyrios auf neue Weise präsent ist, wird bei der Existenz Jesu Christi generalisiert vom Uranfang bis in Ewigkeit. Der Hymnus in Phil 2,6–11 ist ein zweistrophiges Lied, das durch die Konjunktion „dió“ („darum“) und den Subjektwechsel von Christus zu Gott in V.9 eine deutliche 534
Gliederung und Übersetzung O. Hofius, Christushymnus, 8.137. Vgl. § 5.6.2.4 zu Kol 1,15–20 (§ 8.2.5); Hebr 1,3 f. (§ 8.5.2); Joh 1,1 ff. (§ 7.1.5.1a; 7.6.1). 536 Vgl. die Hingabe durch Gott (Röm 4,25; 8,32; vgl. Joh 3,16; § 7.1.5.1a) sowie die Selbsthingabe Jesu (Gal 1,4; 2,20; 1Tim 2,5 f.; vgl. Mk 10,45). 537 Gal 4,4 f.; Röm 8,3 f. (§ 5.6.1.2; vgl. Joh 3,16 f.; 1Joh 4,9 f.; § 7.1.5.1a). 535
5.14 Der Philipperbrief
283
Zäsur aufweist. Dieser Neueinsatz markiert die Wende des Geschehens. Diskutiert wird bei der Zeilengliederung, ob es sich um sechs Dreizeiler (E. Lohmeyer) oder – eher wie oben abgedruckt – um sieben Zweizeiler nach dem Formprinzip des Parallelismus membrorum handelt, wie er auch für alttestamentliche Psalmen typisch ist (R. Deichgräber; O. Hofius; s. Anm. 534). Mit der Erniedrigung des Präexistenten (2,6–8) und der Erhöhung als Herr (2,9– 11) gibt der Hymnus die drei Etappen der Geschichte des Erlösers wieder, die Himmel und Erde verbinden: „oben“ (Präexistenz) – „unten“ (Erniedrigung bis zum Tod am Kreuz) – „ganz oben“ (Erhöhung und Inthronisation zum Weltherrscher). Die Geschichte Jesu repräsentiert den Willen des Schöpfers und ist keine nur vorübergehende Etappe seiner Kommunikation mit den Menschen. Da der Ort des Menschen im Kosmos ein Grundthema der antiken Mythologie und Philosophie darstellt, ist eine derartige Entfaltung der christlichen Glaubenserfahrung gut verständlich.538 Von zentraler christologischer und paränetischer Bedeutung war für Paulus die gegensätzliche Bewegung in der Selbsterniedrigung des Präexistenten und der Erhöhung des Gekreuzigten, die die gottesdienstliche Anbetung als „Herr“ ermöglicht. Präexistenz
Inthronisation zum „Kyrios“
Selbsterniedrigung
Erhöhung durch Gott Tod (Kreuz)
liturgische Akklamation durch die Gemeinde
Abb. 14: Der Christushymnus in Phil 2,6–11
Nicht alle Probleme der Deutung können hier erwähnt werden, doch sind einige Beobachtungen für das Verständnis des Philipperbriefs unentbehrlich: a) Der Ausgangspunkt liegt nach V.6 „in der Gestalt Gottes“ (morphḗ theoú). Betont wird damit die gottgleiche Würdestellung Christi, sein göttlicher Status. Implizit ist die Präexistenz Christi vorausgesetzt (s. Anm. 535f.; § 5.6.2.4). b) Der Abstieg, die Selbstentäußerung (V.7) des Erlösers, war nicht die Folge eines schicksalhaften Falls. Christus verzichtete bewusst auf seinen Status als Gottgleicher und nahm gegen alle antike Erwartungshaltung freiwillig die „Knechtsgestalt“ (morphḗ doúlou) an.539 Diese Sklavenexistenz steht im äußersten Kontrast zu seiner 538
Wenn H.-M. Schenke, Neutestamentliche Christologie, 219 ff., den Hymnus mit später belegten, außerchristlichen gnostischen Vorstellungen vergleicht, gibt er eine anschauliche Illustration der Wirkung des Hymnus. Die historische Einordnung bleibt allerdings hypothetisch. 539 Vgl. das vierte Gottesknechtslied (Jes 52,13–53,12) und das Lösegeldlogion (Mk 10,45).
284
5 Die paulinischen Briefe
ursprünglichen „Gottesgestalt“ (morphḗ theoú; V.6).540 Einen parallelen Gedanken formuliert Paulus in 2Kor 8,9: „er wurde arm, obwohl er reich war.“ c) Die Ausdrücke „Gestalt“ (morphḗ; V.6f.) oder „Abbild, gleiche Erscheinung“ (homoíōma; 2,7) dürfen nicht mit Hilfe späterer dogmatischer Vorstellungen als Ausdruck einer doketischen Christologie kritisiert werden, die mit der nur scheinbaren Leiblichkeit des Erlösers rechnete. Sie betonen vielmehr, dass der Erlöser wahrer Mensch war, der unter den realen Bedingungen menschlicher Todesverfallenheit lebte (Röm 8,3) und seine Gottebenbildlichkeit nicht verlor (vgl. Gen 1,26 LXX: der Mensch als homoíōsis [Ähnlichkeit] Gottes).541 d) Die Erniedrigung des Menschgewordenen (V.8) hat keine Analogie in vergleichbaren Hymnen (s. Anm. 535), die nicht vom Kreuzestod sprechen und auch die Menschwerdung nicht in den ethischen Kategorien des Gehorsams schildern. Die Schlusswendung „zum Tode am Kreuz“ wird häufig – aber nicht immer – für eine paulinische Ergänzung gehalten,542 durch die der Apostel den Hymnus seiner Kreuzestheologie angepasst haben soll.543 e) Die zweite Strophe zieht aus der Selbstentäußerung und -erniedrigung des Menschgewordenen mit dem markanten Neueinsatz in V.9 die Konsequenz der Erhöhung, und zwar durch Gott.544 Die Erhöhung dessen, der sich selbst erniedrigt hat, zeigt im Sinn der weisheitlich geprägten Jesusüberlieferung,545 dass der freiwillige Macht- und Besitzverzicht, der mit der Existenz als Sklave verbunden ist, nicht im Scheitern endet, sondern in Wahrheit Anerkennung bei Gott findet. Zugleich wird 540
Die Frage, ob der „Raub“ (harpagmós) in 2,6b etwas schon Erbeutetes (res rapta) oder erst Begehrtes und Verfolgtes (res rapienda) ist, kann grammatisch nicht eindeutig entschieden werden (L. Abramowski hat auch auf die Bedeutung von „harpagmós“ als Entrückung aufmerksam gemacht). Literarisch geht es allerdings um einen Parallelismus mit dem ersten Satz, was für die erste Möglichkeit spricht (so bes. E. Käsemann). Die Präexistenz wird hier vor allem als Hintergrund der Menschwerdung verstanden, so J. Heriban, Retto phroneín, 371.406f. 541 Vgl. 2Kor 4,4; Kol 1,15; vgl. E. Käsemann, Kritische Analyse, 75f. Zu Christus als dem wahren Menschen in Phil 2 s. M. Hooker, Philippians 2:6–11, 160 ff. 542 Nach E. Lohmeyer (z.St.) oder U. B. Müller (95.107f.115) ist die Wendung „zum Kreuzestod“ ein Zusatz, G. Strecker (und andere) hält den ganzen V.8 für eine redaktionelle Ergänzung. Für die Integrität des Hymnus ohne sekundäre Zusätze plädiert O. Hofius, Christushymnus, 1.3–17.103f. 543 Vgl. das Lied „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich“ von Nikolaus Herman (1560): „Er äußert sich all seiner G’walt, wird niedrig und gering und nimmt an eines Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding“ (EG 27,3). 544 Vgl. die Aussage in 2Kor 13,4, dass Christus aus Schwachheit gekreuzigt wurde, aber lebt aus Gottes Kraft. 545 Mt 23,12; Lk 14,11; 18,14; vgl. Mt 18,4; zur weisheitlichen Tradition vgl. Spr 3,34 („Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade“) in Jak 4,6.(10); 1Petr 5,5(f.); 1Clem 30,2.
5.14 Der Philipperbrief
285
das Ostergeschehen als Erhöhung dargestellt.546 Dieser Vorgang der Erhöhung geschieht zwar bei der Auferstehung Jesu, doch bedeutet seine einseitige Betonung schon eine neue, weniger apokalyptische Interpretation der Auferstehungsverkündigung. Entsprechendes gilt auch für die anderen Hymnen dieser Art (s. Anm. 535). f) Die zweite Strophe begründet die Akklamation „Herr“ (kýrios) für Jesus Christus, die die griechischsprechenden Juden statt des Namens Gottes (JHWH) benutzten.547 Als Umschreibung des Gottesnamens ist er der „Name über alle Namen“, der Jesus als höchster göttlicher, gottgleicher Würdetitel beigelegt wird (vgl. 1Kor 12,3; § 5.6.1.3).548 Erhöhung und Namensverleihung gelten als Akt der Inthronisation und Herrschaftsübertragung. Am Ende steht die gottesdienstliche Proskynese und Akklamation Jesu als „kýrios“. Sie hat eine kosmische Tragweite549 und zielt auf die Verehrung des Erhöhten durch alle überirdischen Geistermächte, alle Geschöpfe auf Erden und die Toten der Unterwelt. Wo sie stattfindet, wird im Namen der ganzen Schöpfung geredet. Hier hat der Kosmos sein Zentrum. Deswegen ist auch das mosaische Gesetz der Autorität des Herrn untergeordnet.550 So ist im Gottesdienst schon gegenwär tig, was als universales Geschehen für die Welt noch aussteht und bei der Parusie des Retters vollkommen verwirklicht werden wird (vgl. 3,20f.). Alles, was Paulus über die präsentische Dimension des Heils sagt, wird mit diesem Hymnus in der Liturgie vorweggenommen. g) Durch die Einbettung in den paränetischen Kontext (1,27–2,18) wird der Kyrios der Gemeinde zugleich in ethischer Hinsicht paradigmatisch als Verhaltensmodell vor Augen gestellt. Der Mensch ist durch Demut und im Gehorsam dem Herrn (kýrios) nahe. Das Sein „in Christus“ verlangt eine dem Evangelium angemessene Lebensführung (1,27: axíōs). Diese paränetische Absicht bildet auch den Hintergrund für die paulinische Polemik gegen die libertinistischen Tendenzen der Widersacher im Philipperbrief (s. Anm. 522f.).551 546
Vgl. die Erhöhungsaussagen in Apg 2,33; 5,31. Auch in außerbiblischen Texten ist „Herr“ (aram. māre’) im absoluten Gebrauch als Bezeichnung Gottes belegt, wie dem Parallelismus in 11QPsa = 11Q05 (Ps 151A) 28,7f. entnommen werden kann. 548 Dass Jesus praktisch mit Gott gleichgesetzt wird, müsste im jüdischen Milieu als Lästerung betrachtet werden, gäbe es nicht Ps 110 (LXX 109),1, wo Gott den zu seiner Rechten sitzenden messianischen König als „Herr“ anredet, der seinen Willen auf Erden repräsentieren soll. Mit Ps 110 konnten die Christen ihren Gebrauch des Titels Herr Juden gegenüber rechtfertigen (Mk 12,36f.; Apg 2,34; § 5.6.1.3). 549 Vgl. Phil 2,10f. mit Jes 45,23 LXX. 550 Vgl. E. Schillebeeckx, Christus und die Christen (DÜ), Freiburg 1997, 166f. 551 Da Paulus den Hymnus logisch in das Gefüge seiner Argumentation eingewoben hat, entstanden Vermutungen, es handle sich um einen paulinischen Text, der sich nur durch den absichtlichen Stilwechsel vom Kontext unterscheidet. So R. Brucker, „Christushymnen“, bes. 311. 547
286
5 Die paulinischen Briefe
5.14.6
Die Brücke zu den Deuteropaulinen
Bei aller Authentizität der paulinischen Theologie finden wir im Philipperbrief mehrere Motive, die in den deuteropaulinischen Briefen aufgegriffen und weiter entfaltet werden: a) Von großer Bedeutung ist das Motiv des Lehrers (Apostels) als Vorbild für seine Schüler (Adressaten). So entsteht das Verhältnis der Nachahmung (mímēsis), in welcher der Apostel von Christus, seine Mitarbeiter von ihm und Christus, aber auch die Adressaten von dem durch sie alle repräsentierten Verhaltensmodell abhängig sind.552 Nachdem Paulus von seinem Ergriffensein durch Christus gesprochen hat, ermahnt er die Philipper: „Ahmt auch ihr mich nach (symmimētaí mou gínesthe), Brüder, und achtet auf jene, die nach dem Vorbild (týpos) leben, das ihr an uns habt“ (Phil 3,17; vgl. 3,12–16).553 „Was ihr gelernt und empfangen und gehört und gesehen habt an mir, das tut!“ (4,9). Doch bleibt bei aller Nachahmung des Apostels letztlich Christus selber das entscheidende Vorbild, wie die Begründung der Paränese durch das Evangelium (1,27; 2,1–5) und den Philipperhymnus (2,6–11) zeigt. Nicht einzelne Taten aus seinen Erdentagen, sondern die ganze Selbstentäußerung und Lebenshingabe Jesu wird weit über die gesinnungsmäßige Einstellung hinaus zum Maßstab für die Eintracht in der Gemeinde. Die Aufforderung zur Nachahmung ist eine paulinische Analogie zum Ruf in die Nachfolge bei den Synoptikern (§ 6.2.8b). Dieses Vorbild-Motiv wurde in den Pastoralbriefen554 weiterentwickelt (§ 8.4.3a). Dadurch wurde Christus, der Heiland, selber zum Verhaltensmodell, das in der Geschichte von Generation zu Generation weitergegeben wird.555 b) Das zweite Motiv ist das Bild des verhafteten Apostels, das die Verfasser der Deuteropaulinen (Kol; Eph; Past) aus dem Philipper- und Philemonbrief übernahmen, um die Autorität und Glaubwürdigkeit des paulinischen Evangeliums durch sein Leiden zu bekräftigen.556 c) Von allen authentischen Paulusbriefen begegnet allein in Phil 3,20 der Titel „Heiland, Erlöser“ (sōtḗr; 3,20), der bei Lukas557 und in den Deuteropaulinen558 häufiger die Heilsbedeutung Jesu kennzeichnet. Für die Schüler des Apostels war dieser Titel als Neuformulierung seiner Rechtfertigungslehre (Phil 3,8–11) besonders anziehend (Tit 3,4–7; vgl. 2,11–13).
552
Vgl. 1Thess 1,6; 1Kor 4,16; 11,1. Einheitsübersetzung. 554 2Tim 1,13; 2,2f.; 3,10f.; vgl. auch Kol 1,24–2,4. 555 Vgl. H.-D. Betz, Nachfolge und Nachahmung (Lit. § 6.2.8), 186 ff. 556 Vgl. die Gefangenschaft in Phil 1,7.12f.17; 4,22; Phlm 1.9–13 mit Kol 4,18; Eph 3,1; 4,1; 6,20; 2Tim 1,8; 2,9 oder den „Mitgefangenen“ in Phlm 23 mit Kol 4,10. 557 Lk 2,11 (Geburt Jesu); Apg 5,31; 13,23 (§ 6.4.5.3c). 558 Eph 5,23; 2Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6 (§ 8.4.2). 553
5.14 Der Philipperbrief
287
d) In der Adresse werden erstmals Episkopen und Diakone erwähnt (Phil 1,1).559 Bei den Episkopen („Aufseher“) ist die gängige Übersetzung „Bischöfe“ irreführend, da erst Ignatius von Antiochien (110–114 n. Chr.) mit diesem Titel einen über die Ortsgemeinde hinausgehenden, überregionalen Anspruch erhob. Die Episkopen gehen auf das hellenistische Vereinswesen zurück (Exkurs 12) und bilden den Ausgangspunkt für die Episkopenverfassung in den nachpaulinischen Schriften.560 Das urchristliche Diakonenamt561 ist aus dem „Tischdienst“ bei den Mahlzeiten der Gemeinde entstanden. Es verband karitative und liturgische Aufgaben.562 5.14.7
Ort und Zeit der Abfassung
Im Nachwort zu mehreren byzantinischen Handschriften und in der Ergänzung des Codex Vaticanus (B) lesen wir, dass der Brief an die Philipper von Rom aus geschrieben worden sei. Diese Angabe ist vermutlich von der Apostelgeschichte abhängig. Ihr zufolge saß Paulus nur in Cäsarea Maritima (Apg 23,18.23; 25,13f.27) und in Rom (28,17) im Gefängnis. Auch die Notizen über das „Prätorium“ (Phil 1,13; Kaserne der Prätorianergarde) und über das „Haus des Kaisers“ (4,22) könnten nach Rom weisen. Auf Rom als Abfassungsort – und damit auf eine Spätdatierung des Philipperbriefs als das letzte erhaltene Schreiben um 60 n. Chr. – könnten außerdem die soeben erwähnten Motive hindeuten, die hier erstmals auftauchen und schon den Übergang zur Paulusschule vorbereiten.563 Das lateinische Wort „praetorium“ konnte neben der Prätorianerkaserne jedoch in den römischen Provinzen auch andere Gebäude hoher Beamter und Offiziere bezeichnen, in denen ebenfalls Gerichtsverfahren stattfanden (Mk 15,16; Apg 23,35). Genauso könnte es sich bei den Menschen „aus dem Haus des Kaisers“ um Provinzbeamte der kaiserlichen Verwaltung handeln.564 Außerdem beabsichtigte Paulus, von Rom nach Spanien zu reisen (Röm 15,24.28), nicht zurück nach Philippi (Phil 1,26; 2,24). Er hätte seine Pläne zwar ändern können, aber das relativ unkomplizierte Reisen zwischen Philippi und dem Gefängnis des Paulus, das in 2,25 ff. vorausgesetzt wird, spricht eher gegen Rom als Abfassungsort.
559
Vgl. U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik (Lit. § 7.1), 60–65.81–88.176f. Apg 20,28; 1Petr 5,2; 1Tim 3,2; Tit 1,7. 561 Vgl. Röm 16,1 (vgl. 12,7), später 1Tim 3,1–13 (Exkurs 12); zu Apg 6,1–6 s. § 6.4.5.2b. 562 Das Diakonenamt verlor in der Alten Kirche an Bedeutung und wurde im Mittelalter zu einer Durchgangsstufe für das Priesteramt. Das Diakonenamt der evangelischen Kirche verdankt sich dem Neubeginn im 19. Jh. 563 Rom als Abfassungsort vermuten z. B. M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5), 2f. Anm. 8; U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 153–156. 564 Näheres bei U. B. Müller, ThHK 11,1, 212f. 560
288
5 Die paulinischen Briefe
Deswegen setzte sich in der letzten Zeit die Hypothese durch, dass Paulus den Brief von Ephesus aus schrieb. Von einer Gefangenschaft in Ephesus wird zwar weder in der Apostelgeschichte noch in den Paulusbriefen ausdrücklich berichtet,565 doch erwähnt der Apostel, dass er mehrfach in Gefängnissen saß.566 Den Philipperbrief könnte Paulus demnach am Ende seiner ephesinischen Gefangenschaft verfasst haben, da er mit seiner baldigen Freilassung rechnet (2,24), d. h. etwa im Jahr 55.567
5.15
Der Philemonbrief
Kommentare: Ernst Lohmeyer, KEK 9,2, 61964; Martin Dibelius, HNT 12, 31953; Josef Ernst, RNT, 1974; Eduard Lohse, KEK 9,2, 21977; Ralph O. Martin, NCBC, 21981; Peter Stuhlmacher, EKK 18, 1975; Alfred Suhl, ZBK, 1981; Joachim Gnilka, HThK X,4, 1982; Wilhelm Egger, NEB 15, 1985; Herrmann Binder (Joachim Rohde), ThHK 11,2, 1990; Michael Wolter, ÖTK 12, 1993; Hans Hübner, HNT 12, 1997; Peter Lampe, NTD 8/2, 1998; Joseph A. Fitzmyer, AncB 34C, 2000; Eckart Reinmuth, ThHK 11/II, 2006. Monographien und Aufsätze: John Knox, Philemon and the Letters of Paul, New York / Nashville 21959; Ulrich Wickert, Der Philemonbrief – Privatbrief oder apostolisches Schreiben?, ZNW 52 (1961), 230–238; Peter Lampe, Keine „Sklavenflucht“ des Onesimus, ZNW 76 (1985), 135–137; Norman R. Peterson, Rediscovering Paul. Philemon and the Sociology of Paul’s Narrative World, Philadelphia 1985; Susanne C. Winter, Paul’s Letter to Philemon, NTS 33 (1987), 1–15; Wolfgang Schenk, Der Brief des Paulus an Philemon in der neueren Forschung (1945–1987), ANRW II, 25.4, Berlin 1987, 3439–3495; John M. Barclay, Paul, Philemon and the Dilemma of Christian Slave-Ownership, NTS 37 (1991), 161–186; Brian M. Rapske, The Prisoner Paul in the Eyes of Onesimus, NTS 37 (1991), 187–203.
Der Philemonbrief568 ist das kürzeste erhaltene paulinische Schreiben. Es entspricht dem Umfang nach den damals üblichen Briefen und hat am ehesten den Charakter eines Privatbriefs. Seine Adressaten sind der begüterte Philemon, Aphia, Archippus und die christliche Gemeinde (ekklēsía) in Philemons Haus. Er ist also keineswegs ein rein privates Schreiben. 565
Ob man aus 1Kor 4,9; 15,32; 16,9; 2Kor 1,8f.; Röm 16,4.7 unbedingt auf eine Gefangenschaft bzw. auf eine solche in Ephesus schließen kann, ist strittig. 566 2Kor 6,5; 11,23; vgl. die „Bedrängnis“ in Phil 4,14 mit der „Bedrängnis“ in der Provinz Asia in 2Kor 1,8. Für die ephesinische Abfassung zumindest der ersten zwei Teile plädierte Adolf Deißmann, Paulus, Tübingen 21925, 203–225, dem die meisten zeitgenössischen Forscher folgen, in neuerer Zeit U. B. Müller, ThHK 11/1, 16–23; N. Walter, NTD 8/2, 15–17 oder E. Lohse, Paulus (Lit. § 5), 180. 567 Nach der Briefteilungshypothese folgten die beiden Schreiben Phil A und Phil B relativ kurz aufeinander vor dem 2. Korintherbrief, in dem Paulus auf seine Verhaftungen zurückschaut (2Kor 6,5; 11,23). Da in Phil C von einer Gefangenschaft keine Rede ist, könnte dieser Teil später geschrieben worden sein. Dass dies noch in Ephesus geschah, kann nur vermutet werden. 568 Vgl. als Kommentar J. A. Fitzmyer, AncB 34C.
5.15 Der Philemonbrief
5.15.1
289
Gliederung und Inhalt
Der Brief hat ein einziges Thema: die Fürsprache des Apostels für den Sklaven Onesimus bei seinem Besitzer Philemon. 1–7 1–3 4–7
Briefeingang Präskript mit Adresse an Philemon und seine Hausgemeinde Proömium mit Dankgebet und Fürbitte für den Glauben des Philemon
8–20
Briefkorpus: Fürsprache für den Sklaven Onesimus
21–25
Briefschluss mit Besuchsplan, Grüßen und Segenswunsch
1–7 Briefeingang Nach dem Präskript und dem Proömium (exordium; 4–7), das ein Dank- und Fürbittgebet für den Glauben des Philemon enthält, erklärt Paulus sein Anliegen. 8–20 Hauptteil: Fürsprache für den Sklaven Onesimus Paulus setzt sich für Philemons Sklaven Onesimus ein, der bei ihm auftauchte und Christ wurde: „So bitte ich dich für meinen Sohn Onesimus, den ich gezeugt habe in der Gefangenschaft“ (10). Onesimus kehrt mit diesem Brief zu seinem Patron zurück. Paulus bittet Philemon, Onesimus aufzunehmen und wie seinen Bruder in Christus zu behandeln (argumentatio, probatio: 8–16). Mit der eigenen Unterschrift haftet Paulus für die Summe, die Onesimus Philemon schuldig ist (17–20). 21–25 Briefschluss Paulus kündigt seinen Besuch bei Philemon an (sog. Parusietopos; 21–22) und endet mit Grüßen sowie einem Gnadenwunsch als Schlusssegen.569 5.15.2
Ort und Umstände der Abfassung
Paulus befindet sich im Gefängnis (Phlm 1.9.13), sodass für den Philemonbrief meist dieselbe Entstehungssituation wie im Philipperbrief angenommen wird.570 Nach einer in einigen byzantinischen Handschriften belegten Tradition schrieb Paulus diesen Brief von Rom aus (ebenso wie den Philipperbrief). Es handelt sich dabei um eine sekundäre Tradition, denn die Reise von Rom nach Kolossä in Kleinasien, wo Onesimus zuhause ist (Kol 4,9), dauerte noch länger als die Reise von Rom nach Philippi in Makedonien. Außerdem ist von der Absicht des Apostels, nach der Entlassung aus der Haft in Rom noch Kolossä zu besuchen, nichts bekannt. Daher ist
569 570
S. dazu M. Wolter, ÖTK, 237; zur ganzen Struktur s. W. Schenk, Der Brief, 3451 ff. Phil 1,7.13.17 (§ 5.14.7).
290
5 Die paulinischen Briefe
auch beim Philemonbrief (wie beim Philipperbrief) eine Abfassung in Ephesus (§ 5.14.7) wahrscheinlich, d. h. zwischen 53 und 55 n. Chr. Onesimus war ein damals üblicher Sklavenname, der die Eigenschaft ausdrücken sollte, die man von ihm erwartete (griech. onḗsimos = nützlich; vgl. das Wortspiel im V.11). Dass es sich bei dem Onesimus in Phlm 10 um dieselbe Person handelt wie in Kol 4,9, beruht auf der naheliegenden Vermutung, die Namensliste im Kolosserbrief sei aus dem Philemonbrief übernommen. Da der Verfasser des Kolosserbriefs sein Schreiben an die Christen in Kolossä adressierte, ist es wahrscheinlich, dass Onesimus wirklich mit Kolossä in Verbindung stand. Ephesus als Abfassungsort und Kolossä als Bestimmungsort sind daher die wahrscheinlichste Annahme, die in neueren Kommentaren vertreten wird.571 Direkte Belege für diese Vermutung fehlen zwar, aber die anderen Hypothesen sind noch weniger überzeugend. Eher unwahrscheinlich sind die anderen Vorschläge mit Rom oder Cäsarea als Abfassungsort,572 die Annahme, Onesimus habe in Pergamon gelebt,573 die Vermutung, Archippus sei der eigentliche in Kolossä lebende Herr des Onesimus und Philemon nur dessen Fürsprecher, der in Laodizea wohnte,574 oder sogar die Überlegung, dass Onesimus Paulus nicht aufsuchte, sondern auf seiner Flucht sein Mitgefangener geworden war.575
5.15.3
Ein Testfall theologischer Ethik
Früher hielten die meisten Exegeten Onesimus für einen geflüchteten Sklaven (lat. fugitivus). Die Sklaverei galt in der Antike als eine damals nicht weiter problematisierte wirtschaftliche Notwendigkeit. Die Flucht eines Sklaven wurde in der Regel grausam bestraft. Dem Text ist jedoch nicht zu entnehmen, dass Onesimus seinen Herrn verlassen wollte, sondern nur, dass er auf Paulus mit der Bitte um Fürsprache zugegangen war. Es gibt mehrere Belege, dass ein Sklave aus Angst vor der Strafe zu einem Freund seines Herrn (lat. amicus domini) flüchtet, um ihn zur Fürsprache zu bewegen. In Iustinians Digesten (Auszüge aus juristischen Werken) ist von dem Juristen Proculus (1. Jh. n. Chr.) eine diesbezügliche Äußerung enthalten (21,1,17,4.12; vgl. 21,1,43,1). Auch bei Plinius dem Jüngeren (61–112 n. Chr.) ist ein solcher Fall belegt (ep.
571
Vgl. E. Lohse, J. Gnilka, P. Stuhlmacher, M. Wolter, H. Hübner, P. Lampe, J. A. Fitz-
myer. 572 573 574 575
So C.-J. Thornton, Zeuge des Zeugen (Lit. § 6.4), 201–207.212. Vgl. W. Schenk, Paulus an Philemon, 3482 ff. (onomastische Argumente). J. Knox, The Epistle to Philemon, IntB 11, New York / Nashville 1955, 49 ff. Vgl. H. Binder, ThHK 11/II, 35.
5.15 Der Philemonbrief
291
9,21.24).576 Diese Erklärung von Peter Lampe wird in der letzten Zeit weitgehend anerkannt. Sie ist wahrscheinlicher als die traditionelle Deutung auf einen flüchtigen Sklaven, da es geeignetere Schlupfwinkel als die Gefängniszelle des Paulus gibt. Da Onesimus seinem Herrn vermutlich materiellen Schaden zufügte, erklärt Paulus in V.18–20, er wolle die finanzielle Verantwortung übernehmen. Dass Onesimus sich an den verhafteten Paulus wandte, unterstreicht die Autorität des Apostels. Die Bekehrung des Onesimus bildet einen Erklärungsansatz für die Lösung des Problems. In 1Kor 7,17 prägte Paulus die Regel, dass jeder in der gesellschaftlichen Stellung bleiben soll, in welcher er zum Glauben berufen wurde. Dieser Grundsatz soll auch für Sklaven gelten (7,21a). Nur wenn ihnen die Freilassung angeboten wird, sollen sie diese Möglichkeit wahrnehmen (V.21b). 1Kor 7,21 kann zwar auch anders verstanden werden,577 doch mildern die paulinischen Aussagen die Härte der damaligen äußeren sozialen Ordnung, einschließlich des Sklaventums, durch einen Appell an die innere Einstellung. Dementsprechend fordert Paulus Philemon nicht zur Freilassung des Onesimus auf, denn das Entscheidende war seiner Meinung nach die Änderung ihres zwischenmenschlichen Verhältnisses unabhängig vom sozialen Status. Er war sich der möglichen Auswirkung dieser veränderten Beziehung auf die ganze Kommunität im Haus des Philemon bewusst, einschließlich der Nichtgläubigen. Er erkennt den durch Onesimus entstandenen Schaden an und nimmt die finanzielle Last auf sich. Zugleich fordert er mit der Autorität des geistigen Vaters Philemon auf, Onesimus mit Achtung aufzunehmen, wie es einem Bruder gebührt. Dadurch ändert sich unter dem Einfluss des Evangeliums sowohl das Leben des Onesimus als auch das des Philemon. Paulus adressiert den Brief an die ganze christliche Gemeinde im Haus des Philemon, um so Missdeutungen zu vermeiden. Alle christlichen Brüder und Schwestern sollen die Gründe für die unerwartete Verhaltensänderung ihres irdischen Herrn kennen, um sie eventuell den anderen, nichtchristlichen Angehörigen des Hauses erklären zu können. Gleichzeitig dienen die Mitadressaten als Zeugen für die Bitte an Philemon. Der Philemonbrief ist ein Beispiel, das die sozialen Auswirkungen des Christentums auf die Gesellschaft drastisch illustriert. Der christliche Glaube verändert die Welt durch die Bildung alternativer sozialer Beziehungen innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die dadurch abgemildert werden (vgl. Gal 3,26–28; 1Kor 12,13).
576
Vgl. P. Lampe, Keine „Sklavenflucht“; W. Schenk, Philemon, 3476 ff.; B. M. Rapske, The Prisoner Paul, 203. 577 Das griech. „mállon chrḗsai“ kann mit „brauche es umso lieber“ (so W. Schrage) oder „bleibe erst recht dabei“ (M. Dibelius) übersetzt werden. Die erste Möglichkeit ist grammatisch und kontextuell wahrscheinlicher, die zweite wurde in der Kirche seit Johannes Chrysostomus bevorzugt. Zur Debatte s. W. Schrage, EKK VII/2, z.St.; S. S. Bartchy, Mállon chrḗsai (SBLDS 11), Missoula 1974, 178.
292
5 Die paulinischen Briefe
Wie der Brief wirklich gewirkt hat, wissen wir nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Falls der zu einem späteren Zeitpunkt verfasste Kolosserbrief die Verhältnisse richtig rekonstruiert, die zu Lebzeiten des Paulus kurz nach der Abfassung des Philemonbriefs herrschten, muss Philemon Onesimus freundlich aufgenommen und erneut zu Paulus geschickt haben. Denn nach Kol 4,9 sandte der Apostel ihn einige Zeit später wieder nach Kolossä oder Laodizea. Die Annahme, der bei Ignatius von Antiochien (110–114 n. Chr.) etwa 60 Jahre später erwähnte ephesinische Bischof Onesimus (IgnEph 1,3; 2,1; 6,2) sei mit dem Onesimus des Philemonbriefs identisch, bleibt wegen der Häufigkeit des Namens hypothetisch. Wirkungsgeschichtlich hatte der Brief eher eine gesellschaftlich konservierende Funktion, weil in ihm nicht zur Abschaffung der Sklaverei und zu grundlegenden Änderungen im Gesellschaftsgefüge aufgerufen wurde. Dennoch ist der Philemonbrief als Dokument für die Wirkungskraft des Evangeliums in der sozialen Sphäre bedeutsam und aus diesem Grunde kanonisiert worden.578 Die Kraft neuer konkreter Beziehungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und die Bedeutung christlicher Gemeinden als Alternativmodell für das Zusammenleben innerhalb einer sozialen Gruppe579 wurde in der jüngsten Geschichte unter den Christen in den kommunistischen Ländern, aber auch in einigen Teilen der Dritten Welt entdeckt. Dadurch erlebte das Interesse am Philemonbrief eine Renaissance.
5.16
Der Römerbrief
Kommentare: Otto Michel, KEK 14, 51978; Ernst Käsemann, HNT 8a, 41980; Heinrich Schlier, HThK 6, 21979; Ulrich Wilckens, EKK 6,1–3, 1978. 1980. 1982; Dieter Zeller, RNT, 1984; C. E. B. Cranfield, ICC I, 1975; II 1979; James D. G. Dunn, WBC 38A.B, 1988; Peter Stuhlmacher, NTD 6, 1989; Joseph A. Fitzmyer, AncB 33, 1993; Klaus Haacker, ThHK 6, 1999; Eduard Lohse, KEK 4, (15)12003. Monographien und Aufsätze: Ernst Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus (1961), zuletzt in: ders., Exegetische Versuche II (Lit. § 5.6.2.3), 181–193; Peter Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus (FRLANT 87), Göttingen 21966; Ulrich Luz, Das Geschichtsverständnis des Paulus (Lit. § 5); Karl Kertelge, Rechtfertigung bei Paulus (NTA 3), Münster 21971; Günther Bornkamm, Der Römerbrief als Testament des Paulus, in: ders., Geschichte und Glaube II (Lit. § 5), 120–139; Peter v. d. Osten-Sacken, Römer 8 als Beispiel paulinischer Soteriologie (FRLANT 112), Göttingen 1975; Edwin P. Sanders, Paul and Palestinian Juda578
Zur Wirkungsgeschichte vgl. J. Rohde in (H. Binder) ThHK 11/II, 69–71; J. Gnilka, HThK 10,4, 31–33.71–81. 579 Die Grundeinheit war die Hausgemeinde. Das „Haus“ bestand aus dem Herrn (pater familias), aus seinen Sklaven und z. T. seinen Klienten (vgl. Exkurs 11). Zu den Hausgemeinden s. P. Stuhlmacher, EKK 18, 70–75, und J. Gnilka, HThK 10,4, 17–33; H.-J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS 103), Stuttgart 1981; R. W. Gehring, Hausgemeinde und Mission (BWM 9), Gießen 2000.
5.16 Der Römerbrief
293
ism, London 1977; ders., Paulus, Stuttgart 1995 (DÜ); Karl P. Donfried, The Romans Debate, Peabody, MS 21991; ders., False Presuppositions in the Study of Romans, CBQ 36 (1974), 332–358; Michael Wolter, Rechtfertigung und zukünftiges Heil (BZNW 43), Berlin 1978; Heikki Räisänen, Römer 9–11, ANRW II, 25.4, Berlin 1987, 2891–2939; Neil Elliott, The Rhetorics of Romans (JSNTS 45), Sheffield 1990; Eduard Lohse, Summa Evangelii – zu Veranlassung und Thematik des Römerbriefes, NGWG 1993, Nr. 3, 91–119; ders., Euaggélion theoú. Paul’s Interpretation of the Gospel in His Epistle to the Romans, Bib 76, 1995, 127–140; Karl P. Donfried / Peter Richardson (Hg.), Judaism and Christianity in First-Century Rome, Grand Rapids, MI / Cambridge 1998; Michael Theobald, Der Römerbrief (EdF 294), Darmstadt 2000; Michael Theobald, Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001; Klaus Haacker, The Theology of Paul’s Letter to the Romans, Cambridge 2003; Eduard Lohse, Theologische Ethik im Römerbrief des Apostel Paulus, NAWG 2004, 199–212.
Der Römerbrief ist die am stärksten systematisch durchkomponierte Epistel des Paulus. Im Zentrum steht das Evangelium von der Rechtfertigung (Gerechtmachung) der Glaubenden allein aus Gnade. Wie kaum eine andere biblische Schrift hat der Römerbrief in der Kirchengeschichte fundamentale Anstöße gegeben, insbesondere bei Markion (§ 3.3b), Augustin (s. Anm. 584.627), Martin Luther (s. Anm. 609) und Karl Barth (s. Anm. 620). 5.16.1
Gliederung und Inhalt
Die Gliederung des Briefs ist durch die paulinische Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben bestimmt. Die Grundthese in 1,16 f. (propositio) begründet Paulus rhetorisch wirkungsvoll zunächst durch den Nachweis der Unmöglichkeit anderer Lösungen (1,18–3,20), um dann seine These nach der positiven Seite hin zu entfalten. Wie weit der Argumentationsgang reicht, ist nicht einfach zu bestimmen. In der Römerbriefexegese wird diskutiert, ob die These von der Rechtfertigung nur bis zur Schriftbegründung durch Abraham in 4,25 entfaltet wird oder ob sie bis 5,21 die Schuldverfallenheit aller Menschen durch die Adam-Christus-Typologie fortführt bzw. auch bis 8,39 das Leben im Geist umfasst oder gar noch die Israelthematik in Kap. 9–11 einschließt.580 An allen diesen Stellen sind Zäsuren zu beobachten. Doch auch wenn die Rechtfertigungsthematik ohne Zweifel die Argumentation in Röm 9–11 weiter bestimmt, markiert Paulus selber in 9,1 am deutlichsten einen Neueinsatz, sodass wir hier den neuen Briefteil beginnen lassen. In diesem zweiten Teil belegt der Apostel die Tragfähigkeit seiner Grundthese im Blick auf Israel. Der dritte Teil (12,1 ff.) hat einen paränetischen Charakter. Über Kap. 16 mit der Grußliste wird später (§ 5.16.3) die Rede sein. 580 Zu den Streitfragen vgl. durchgängig M. Theobald, Römerbrief, hier 42 ff. zur Gliederung; als Kommentar E. Lohse, KEK 4 (mit etlichen hilfreichen Exkursen zu Hauptbegriffen der paulinischen Theologie).
294
5 Die paulinischen Briefe
1,1–17 1,1–7 1,8–15
Briefeingang Präskript mit Apostolatsbegründung, Evangelium und Sohnesformel (1,3 f.) Proömium mit Dankgebet für die Gläubigen in Rom und Selbstempfehlung
1,16 f.
Die These des Briefs: Das Evangelium von Gottes Gerechtigkeit
1,18–8,39
Erster Teil der Argumentation: Die Rechtfertigung als Grund des Heils Negative These: Kein Mensch wird durch Werke vor Gott gerecht Die Heiden unter dem Zorngericht Gottes Die Juden unter dem Zorngericht Gottes Die Schuldverfallenheit aller Menschen
1,18–3,20 1,18–32 2,1–29 3,1–20 3,21–8,39 3,21–31 4,1–25
5,1–11 5,12–21
Positive These: Die Gerechtigkeit Gottes wurde in Christus offenbart Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes durch den Tod Christi Schriftbegründung: Abrahams Gerechtigkeit aus Glauben (vgl. Gal 3) Die Hoffnung auf die zukünftige Herrlichkeit und die Versöhnung durch den Tod Christi als Erweis der Liebe Gottes Adam-Christus-Typologie (vgl. 1,18–3,20; 3,23 f.; 1Kor 15,21 f.)
6,1–8,17
Einwände: Der in Christus Gerechtfertigte und die Sünde 6,1–23 Die Befreiung von der Sünde durch die Taufe (mit Paränese) 7,1–6 Die Freiheit vom Gesetz (Vergleich mit dem Eherecht) 7,7–25 Der adamitische Mensch unter Gesetz und Sünde (vgl. 7,5) 8,1–17 Das Leben „in Christus Jesus“ nach dem Geist (vgl. 7,6)
8,18–30 8,31–39
Die Hoffnung auf die Erlösung der ganzen Natur (Schöpfung) Die Gewissheit der Untrennbarkeit von der Liebe Gottes
9,1 – 11,36 9,1–5 9,6–29 9,30–10,21 11,1–32 11,33–36
Zweiter Teil der Argumentation: Israel im Plan Gottes Trauer des Paulus über Israel Gottes freie Gnadenwahl Israels Ungehorsam Gottes Absicht: „Ganz Israel wird gerettet werden“ Hymnus auf die Weisheit Gottes (sc. in seinem erwählenden Erbarmen)
5.16 Der Römerbrief 12,1–15,13 12,1–13,14 12,1 f. 12,3–8 12,9–21 13,8–10 13,11–14 14,1 – 15,13 15,7–13 15,14–16,23 15,14–33 16,1–23 [16,25–27 kursiv:
295
Dritter Teil: Die Paränese (vgl. 6,12–23) Grundsätzliche Mahnungen („durch die Barmherzigkeit Gottes“) Einleitung: Der vernünftige Gottesdienst in der Lebensführung Viele Charismen – ein Leib in Christus (vgl. 1Kor 12) Die Überwindung des Bösen durch das Gute (vgl. Mt 5,39.44) 13,1–7 Das Verhalten staatlichen Behörden gegenüber Die (Nächsten-)Liebe als Erfüllung des Gesetzes (vgl. Gal 5,14) Lebensgestaltung angesichts des anbrechenden Tages (der Endzeit) Spezielle Weisungen: Starke und Schwache (vgl. 1Kor 8–10) Die Einheit des neuen Gottesvolks aus Juden und Heiden Briefschluss Reisepläne des Apostels (mit Friedenswunsch 15,33) Empfehlungen, Grußaufträge und heiliger Kuss, Warnungen vor Irrlehrern, Segenswünsche, Nachtrag Schlussdoxologie]
Aussagen über die Menschheit Wiederaufnahme eines Gedankens
unterstrichen: Aussagen über Christus Inclusio (Rahmung)
1,1–17 Briefeingang Mit dem erweiterten Präskript (1,1–7) begründet Paulus seine apostolische Würde durch das „Evangelium Gottes“ (1,1 f.) und die Sohnesformel (1,3 f.). Es folgt das Proömium (exordium) mit der Selbstvorstellung des Apostels in der Form eines Dankgebets (1,8 ff.), in dem er auch die Absicht äußert, die Adressaten zu sehen. 1,16 f. Die These des Briefs (propositio): Das Evangelium von Gottes Gerechtigkeit Paulus nennt als Thema des Briefs das Evangelium von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes, d. h. seines gerechtmachenden Handelns, das durch die göttliche Kraft zum Heil führt (vgl. 1Kor 1,18). Diese Botschaft gilt den Juden zuerst und auch den Heiden. Sie erweckt den Glauben und wird durch Glauben aufgenommen (Zitat Hab 2,4; vgl. Gal 3,11). Zum Erweis dieser These wird zunächst die Heillosigkeit der ganzen Menschheit aus Heiden und Juden dargelegt, um ab 3,21 nach der positiven Seite das Offenbarwerden der Gerechtigkeit Gottes ohne Gesetz aus reiner Gnade durch den Sühnetod Jesu zu entfalten. 1,18–8,39 Erster Teil (probatio I): Die Rechtfertigung als Grund des Heils 1,18–3,20 Die negative These in Form einer Gerichtsrede (Anklage): Kein Mensch wird durch die Werke des Gesetzes vor Gott gerecht (3,20). Gottlosigkeit und Götzendienst führen zu Ungerechtigkeit, zu verkehrten moralischen Beziehungen und zu religiöser Entfremdung von Gott (1,18–32). Allen Menschen, Heiden wie Juden, droht das Gericht Gottes. Auch die Juden sind bedroht und werden sich vor dem göttlichen Gericht nicht auf ihre Zugehörigkeit zum Volk Gottes berufen können, denn sie erfüllen das Gesetz nicht (Kap. 2). Sie empfingen zwar die Offenbarung Gottes, aber ihre Übertretung wird als Schuld entlarvt.
296
5 Die paulinischen Briefe
3,21–8,39 Die positive These: Die Gerechtigkeit Gottes ist durch die Heilstat Gottes in Christus offenbar, d. h. bekannt gemacht geworden. Sie errettet aus dem Jüngsten Gericht und besteht in der gerechten Gestaltung der Beziehungen zwischen den Menschen und Gott sowie zwischen den Menschen untereinander. In Christus geschieht die Rechtfertigung aller Gläubigen aus reiner Gnade, ohne eigene Verdienste. Diese These wird in 3,21–31 grundlegend entfaltet und dann in Kap. 4 am Beispiel Abrahams aus der Schrift begründet. Die Rechtfertigung hat die Befreiung aus dem Zorngericht Gottes zur Folge (1,18; 2,5; 4,15; 5,9). Sie wird zum einen mit einem Wort, das aus der Sphäre der gesellschaftlichen Ordnung stammt, als „Erlösung“ (apolýtrōsis) bezeichnet, d. h. als „Loskauf“ eines Gefangenen oder Sklaven. Zum anderen wird sie durch den Terminus „hilastḗrion“ (Sühneort),581 der aus dem jüdischen Opferkult kommt, als Sühnopfer (§ 5.6.2.3b) interpretiert (3,24 f.), das die Vergebung der Sünden gewährt und einen neuen Zugang zu Gott eröffnet. Der Mensch hat keinen Grund, sich selbst zu rühmen. Das Gesetz gilt, doch es dient nur zur Aufdeckung der menschlichen Schuld (3,21–31). Das erwählte Volk besteht zwar aus den Nachkommen Abrahams (Röm 4; vgl. Gal 3,6 ff.; § 5.11.4b). Dieser gewann aber seine Gerechtigkeit vor Gott, wie Paulus mit dem Zitat von Gen 15,6 nachweist (vgl. Gal 3,6), durch seinen Glauben, d. h. durch sein Vertrauen auf die Verheißungen Gottes, nicht durch die Erfüllung des Gesetzes (das erst Mose auf dem Sinai mitgeteilt wurde; Gal 3,15–18; § 5.11.4b). Die von der Tora geforderte Beschneidung wurde bei Abraham später (Gen 17), nach den Verheißungen (Gen 12,1–3; vgl. Gal 3,8), als nachträgliches Zeichen seiner Glaubensgerechtigkeit vorgenommen, sodass Paulus die Gläubigen für die wahren Kinder Abrahams und das eigentliche Volk Gottes hält. Der Glaube Abrahams erreicht in der Gegenwart sein Ziel im Glauben an Christus. Den Gedanken der Rechtfertigung (5,1) führt Paulus in Kap. 5–8 weiter, indem er die beiden rahmenden Abschnitte 5,1–11 und 8,18–39 durch die eschatologische Hoffnung (5,2–5; 8,18–30) und die Liebe Gottes im stellvertretenden Tod Jesu (5,6– 11; 8,31–39) umfassend miteinander verklammert (Inclusio). Durch den Tod Christi als stellvertretendes Opfer für die Gottlosen erweist Gott (!) seine Liebe, die den Sünder vor Gott bestehen lässt, aus dem Zorngericht (vgl. 1,18 ff.) befreit und ihm Versöhnung gewährt (5,1–11; vgl. 2Kor 5,18). In der Adam-Christus-Typologie 5,12–21 verfolgt der Apostel die Aussagen über die Schuldverfallenheit der gesamten Menschheit aus Heiden und Juden (1,18–3,20) 581 Dieses Verständnis nach der Deckplatte auf der Bundeslade (Ex 25,17 u. a.) als dem Ort der Sühne beim Opfer im Allerheiligsten am Versöhnungstag (Lev 16,13 ff.) hat sich inzwischen weitgehend durchgesetzt; vgl. B. Janowski folgend W. Kraus, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe (WMANT 66), Neukirchen-Vluyn 1991; anders aufgrund seiner früheren Arbeiten zum Sühnopfer der Märtyrer in 4Makk 17,21 f. noch E. Lohse, KEK 4, 134 f.
5.16 Der Römerbrief
297
und über die Erlösung durch Christus (3,23 f.) weiter. Nun stellt er der Menschheit, die durch Adams Ungehorsam gezeichnet ist und im Tod ihren letzten Horizont hat, die vielen Menschen gegenüber, die durch Christus die Gemeinschaft mit Gott und das ewige Leben erhalten. In 6,1–8,17 thematisiert Paulus einige Einwände zum Leben unter der Macht der Sünde und unter dem Gesetz. Mit rhetorischen Fragen582 greift er in Kap. 6 den Vorwurf auf: Wenn die Gnade Gottes stärker ist als die menschliche Sünde, warum sollten wir nicht sündigen? Die Antwort lautet: Durch die Taufe wird der Mensch aus dem Einflussbereich der Sünde herausgenommen. Er ist dann nicht mehr durch die Sünde determiniert, sein Horizont ist die Auferstehung mit Christus (6,3–11; § 5.6.2.2d). Da die Sünde den Menschen versklavt und ihm als Sold den Tod gibt, wählt der Gläubige – so die Paränese – selbstverständlich den Dienst bei Jesus Christus, der dem, der ihm vertraut, ewiges Leben schenkt (6,12–23). Nach 7,1–6 ist die Zeit des Gesetzes beendet, wie das Beispiel des Todes im Eherecht zeigt. Was Paulus in 7,5 f. als Gegensatz zwischen Fleisch und Geist thetisch formuliert, entfaltet er in den Kapiteln 7 und 8. Die Aussage von 7,5 führt er in 7,7– 25a weiter aus zur alten bereits überwundenen Existenz („einst“) im Fleisch unter der Macht der Sünde, des Todes und des Gesetzes, die Aussage von V.6 („jetzt aber“) in 8,1–17 zum erneuerten Leben in Christus durch den Geist Gottes. Das Gesetz zeigt die Sünde auf, gibt aber keine Kraft zu einem besseren Leben (7,7–13). Jeder Mensch, der nach dem Gesetz leben will, erlebt einen inneren Widerstreit, aus dem er nur durch Christus errettet werden kann (7,14–25). Dieser Befreiungsschlag erfolgte „in Christus Jesus“ (8,1), in dem Gott seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches zur Sühne für die Sünde gesandt hat (8,3), um ein Leben „nach dem Geist“ (katá pneúma) zu eröffnen (8,1–17). Durch den Geist ist der Christ nicht mehr dem Verdammungsurteil unterworfen (8,1), sondern hat Leben, Frieden und Gerechtigkeit (8,6.10 f.; vgl. 5,1.10.17 ff.; 6,4 ff.) und kann im Gebet Gott als „Vater“ anreden (Abba; 8,15; vgl. Gal 4,5 f.). Dieses Geschehen hat nach 8,18–30 einen kosmischen Horizont. Denn wie die Sünde des Menschen im gegenwärtigen alten Äon alle Kreatur in Mitleidenschaft gezogen hat, so sehnt sich die gesamte Schöpfung voller Hoffnung (vgl. 5,2–5) nach der Befreiung aus der Knechtschaft der Vergänglichkeit und nach dem Offenbarwerden der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Auch die Erlösung durch Christus hat universale Folgen. Deshalb kann der Christ gewiss sein, dass die übermenschlichen Mächte, einschließlich des Todes, nicht imstande sind, ihn von der Liebe zu trennen, die Gott (!) durch die Dahingabe seines Sohnes im stellvertretenden Tod Jesu für die Menschheit endgültig erwiesen hat (8,31–39; vgl. 5,5–11).
582
Röm 6,1.15; vgl. 3,1.9; 4,1.
298
5 Die paulinischen Briefe
9,1–11,36 Zweiter Teil (probatio II): Israel im Plan Gottes In 9,1–5 setzt Paulus mit der Beteuerung der Trauer über seine jüdischen Stammverwandten zwar völlig neu ein, nimmt mit der Israelthematik aber den heilsgeschichtlichen Vorrang der Juden aus der Eingangsthese (1,16) wieder auf und kehrt zur Erwählungsthematik zurück, die er schon in 3,1–3 als Vorzug der Juden erwähnt hatte: Das erwählte Volk Gottes hat keinen Grund, sich selbst zu rühmen. Doch seine heilsgeschichtlichen Vorzüge bleiben die Kindschaft, der Bund, die Tora, der Gottesdienst und die Verheißungen (9,4 f.). Deshalb bekräftigt der Apostel in einem ersten Argumentationsgang (9,6–29) einerseits Gottes Treue zum Wort seiner Verheißung gegenüber Israel (9,6–13), andererseits die Freiheit und Souveränität der göttlichen Gnadenwahl (9,14–29). In einem zweiten Schritt (9,30–10,21) wendet er sich Israels Ungehorsam gegenüber der Predigt des Evangeliums von Jesus Christus zu, der dem Gültigkeitsanspruch der Tora (des Gesetzes) ein Ende gesetzt hat (10,4). Entscheidend bleibt der Glaube an Jesus als Herrn, den Gott von den Toten auferweckt hat (10,9). In einem dritten Abschnitt (11,1–32) warnt Paulus die Heidenchristen mit dem Ölbaumgleichnis vor Hochmut: Die „Wurzel“ ist Abraham als Träger der in Christus erfüllten Heilsverheißung (vgl. Kap.4), der Stamm des „edlen Ölbaums“ ist die Heilsgemeinde Israels, und die eingepfropften wilden Zweige sind die Heidenchristen. Deshalb haben die Christen kein Recht, sich über die Juden zu erheben. Sodann weist der Apostel auf das endzeitliche „Geheimnis“ (11,25: mystḗrion) hin, dass das letzte Ziel des Weges Gottes mit den Menschen bei der Wiederkunft Christi das Heil Israels einschließt: „Ganz Israel wird gerettet werden“ (V.26). Seine Rettung wird am Ende eintreten. Dieses Geschehen wird durch dasselbe Erbarmen Gottes herbeigeführt, das sich in Christus offenbarte. Ein Gotteshymnus (11,33–36) mit Doxologie und liturgischem Amen rühmt die unbegreifliche Weisheit, d. h. hier das Geheimnis des göttlichen Erbarmens (V.25–32).583 Damit ist der zweite Briefteil abgeschlossen. 12,1–15,13 Dritter Teil: Die Paränese (exhortatio) Die Ermahnungen (vgl. 6,12 ff.; 8,12–17) eröffnet Paulus in 12,1 mit dem für die Paränese typischen Verbum „parakalṓ“ (ich ermahne; § 5.7b). Mit der Wendung „durch das Erbarmen Gottes“ (diá tṓn oiktirmṓn) knüpft er an das Thema der Rechtfer tigung allein aus Gnade in den früheren Briefteilen an (3,24 ff.). Der wahre, vernünftige Gottesdienst besteht nach Kap. 12 in der gesamten Lebensführung, die das heilige Geschehen nicht auf den Kult eingrenzt, sondern in der alltäglichen Lebensgestaltung bewährt. Gerade in dem Bereich, der profan genannt wird, gilt es, dem
583
Nicht die Unerforschlichkeit und Verborgenheit göttlicher Ratschlüsse in menschlichen Schicksalsschlägen!
5.16 Der Römerbrief
299
heiligen Willen Gottes zu gefallen, statt sich durch Assimilation den Praktiken des alten Äons anzupassen, der in Christus überwunden ist. Diese in 12,1 f. grundsätzlich geforderte Erneuerung des Lebens wird nun in zwei Richtungen konkretisiert: innerhalb der Gemeinde zielt die ethische Ermahnung auf den gegenseitigen Dienst, den Paulus durch einen Hinweis auf die Charismen (§ 5.12.1) in der Gemeinde und durch das Bild vom Leib und den Gliedern verdeutlicht (V.3–13; vgl. 1Kor 12; § 5.12.5b). Im Verhältnis nach außen (ab Röm 12,14) verlangt die Paränese den Verzicht auf Vergeltung, Frieden mit allen Menschen, so weit es möglich ist, und die Überwindung des Bösen durch das Gute (mit Anspielungen auf Jesusworte der Bergpredigt; Mt 5,39.44). Zu den Beziehungen nach außen gehört auch das Verhältnis zur staatlichen Macht (13,1–7). Der Christ darf die Strukturen dieser Welt nicht geringschätzen, er soll die römischen Behörden respektieren (exousía = Obrigkeit, Amtsgewalt; Pl. Machthaber, Amtsträger). Weil er vor sich die Morgendämmerung des neuen Zeitalters sieht, gewinnt er die Kraft, sich an der Nächstenliebe zu orientieren (13,8–10; vgl. 12,3–21; Gal 5,13 f.; § 5.11.4c).584 Nach dieser allgemeinen Paränese ermahnt Paulus in 14,1–15,13 speziell die Gruppe der „Starken“ im Glauben, die nach der Logik des Glaubens Recht haben, die „Schwachen“ nicht zu provozieren, die einige – aus der Sicht des Glaubens nur unwesentliche – kultisch-diätetische Vorschriften befolgen (vgl. 1Kor 8–10). Bei den Schwachen handelt es sich im Römerbrief wahrscheinlich um Judenchristen, die aus der Sorge, unrein zu werden, ihrer bisherigen jüdischen Gewohnheit entsprechend auf den Genuss von Fleisch und Wein verzichteten (14,2 f.21) und bestimmte Tage (14,5 f.), d. h. den Sabbat, hielten. Indem der Apostel seinen Appell zur Rücksichtnahme mit dem stellvertretenden Sterben Jesu begründet (Röm 14,15; vgl. 1Kor 8,11), greift er auf einen Grundgedanken der Rechtfertigungslehre zurück. 15,14–16,23 Briefschluss Im letzten Teil handelt Paulus von seiner Heidenmission, die von Jerusalem ausging, und von seinen Reiseplänen nach Spanien. Er schließt mit einem Friedenswunsch (15,33). Kap. 16 enthält Empfehlungen für die Diakonin Phöbe aus dem korinthischen Hafenort Kenchreä als Briefüberbringerin, zahlreiche persönliche Grüße an römische Gemeindeglieder, die Aufforderung zum „heiligen Kuss“ untereinander (§ 5.7b), Warnungen vor Irrlehrern, Segenswünsche, einen Nachtrag und eine später angefügte Doxologie [16,25–27].
584
Bei der Warnung vor den Begierden des Fleisches in Röm 13,13 f. hatte Augustin 386 n. Chr. sein Bekehrungserlebnis (Conf. 8,10,29).
300
5 Die paulinischen Briefe
5.16.2
Die Adressaten
Die christliche Gemeinde in Rom wurde nicht von Paulus gegründet. Gleichwohl ist ihm die römische Christenheit nicht unbekannt, da die Grußliste (16,3–15) mit 26 Namen auf vielfältige Kontakte hinweist, durch die der Apostel in groben Zügen über die dortige Situation informiert gewesen sein dürfte. Den ersten eindeutigen Beleg für die Existenz von Christen in Rom stellt dieser Brief dar. Nach Röm 15,22 f. und 1,13 gab es eine christliche Gemeinde dort aber schon „seit vielen Jahren“, d. h. spätestens seit den 40-er Jahren. In das Zentrum des Reichs gelangte das Christentum durch Handelsleute, aber auch durch Sklaven und Freigelassene, die in den Häusern begüterter Familien arbeiteten. In Röm 16 werden mindestens fünf solche „Häuser“ erwähnt, in denen es christliche Zellen gab.585 Diese unterschiedlichen Versammlungsorte sind vermutlich der Grund, weshalb Paulus die römischen Christen – anders als die Korinther und die Thessalonicher (1Kor 1,2; 2Kor 1,1; 1Thess 1,1) – nicht gemeinsam als „Gemeinde (Gottes)“ (ekklēsía) anredet. In zwei Fällen waren die Herren selbst nicht Christen (Aristobul, Narzissus). Auch wenn die ursprüngliche Zugehörigkeit von Kap. 16 zum Römerbrief manchmal in Frage gestellt wird (§ 5.16.3), erhalten wir hier Einsichten in die soziale Struktur der frühchristlichen Gemeinden, in denen es sowohl Sklaven wie Tertius (V.22) als auch einflussreiche Beamte wie den Stadtkämmerer Erastus in Korinth (V.23) gab.586 Der römische Historiker Suëton schrieb um das Jahr 120, dass Kaiser Claudius (41–54 n. Chr.) die Juden aus Rom vertrieben habe, weil sie auf Betreiben eines gewissen „Chrestus“ Unruhen stifteten (Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantis Roma expulit; vita Claudii 25).587 Es handelt sich um Jesus, dessen Titel „Christus“ (Christós) mit dem verbreiteten Sklavennamen „Chrḗstos“ verwechselt wurde,588 weil die Aussprache der beiden Vokale ē und i im Griechischen identisch war (sog. Itazismus).589 Wahrscheinlich kamen damals in die jüdische Gemeinde (Juden-)Christen, die bezeugten, dass Jesus der Messias (Christus) ist, was zu Tumulten führte. Daraufhin erließ der Kaiser im Jahr 49 ein Edikt (§ 5.8.1). Auch die vermutlich schon getauften Juden Aquila und Priska (Apg 18,2: Priszilla) mussten 585
Röm 16,5.10 f.14 f.; vgl. H.-J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS 103), Stuttgart 1981; R. W. Gehring, Hausgemeinde und Mission (BWM 9), Gießen 2000, 220–384, bes. 259–269.380 ff. 586 Vgl. P. Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten (WUNT II/18), Tübingen 21989, Kap. IV. 587 Zum Judenedikt des Claudius vgl. C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte (Lit. § 12e), 14–16 und R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 139–180. 588 Der Name heißt „brauchbar, tüchtig, gut, rechtschaffen“ und ist gleichbedeutend mit dem Namen Onesimos („nützlich“) in Phlm 10; Kol 4,9 (§ 5.15.2). 589 Der Schreibweise „chrēstós“ begegnen wir auch in einigen alten Handschriften des Neuen Testaments.
5.16 Der Römerbrief
301
Rom verlassen. Sie flüchteten nach Korinth (Apg 18,1 f.), reisten weiter nach Ephesus (18,18 f.) und kehrten später – nach dem Tod des Claudius im Jahr 54 n. Chr. – nach Rom zurück (Röm 16,3 f.). Einen judenchristlichen Einfluss verraten die alte Bekenntnisformel zur davidischen Herkunft Jesu (Röm 1,3 f.), die messianische Deutung der Davidssohnschaft (15,12) durch das Zitat aus Jes 11,10: „der Spross aus der Wurzel Isais“ (§ 5.6.1.2), das Wort von der Sühne (3,25; s. Anm. 581), das Ansehen Abrahams (4,1 ff.), die Israelthematik (9–11) und nicht zuletzt die zahlreichen Schriftzitate, die hier so gehäuft vorkommen wie in keinem anderen Paulusbrief.590 Da der judenchristliche Teil der römischen Christenheit durch das Claudiusedikt stark geschwächt wurde, waren zur Abfassungszeit des Briefs die meisten Christen dieser Stadt heidnischen Ursprungs. Wie sehr Heidenchristen nach der Meinung des Paulus in der römischen Gemeinde den Ton angaben, zeigen das Ölbaumgleichnis mit der Warnung vor heidenchristlichem Hochmut (11,13.17 ff.) und die betonte Ausrichtung des Briefs auf die Heiden (1,5.13 f.; 15,7 ff.16 ff.). Durch die heidenchristliche Übermacht gehörten die Judenchristen zur Minderheit der „Schwachen“ (14,1 ff.), die sich noch den jüdischen Speisevorschriften und dem Sabbatgebot verpflichtet fühlten, obwohl doch Christus das Ende des Gesetzes ist (10,4). Die altkirchliche Überlieferung, Petrus sei der Gründer der römischen Gemeinde gewesen,591 kann aus den frühen Zeugnissen nicht belegt werden. Die Aussage von 2Kor 10,15 f., nach der Paulus nur dort wirken möchte, wo „andere“ (sc. Apostel) nicht waren (vgl. Röm 15,20; Gal 2,7), spricht eher gegen diese Vermutung. Die Möglichkeit eines Aufenthalts des Petrus in Rom ist dadurch nicht ausgeschlossen, wo er höchstwahrscheinlich ebenso wie Paulus in den neronischen Christenverfolgungen 64 n. Chr. das Martyrium erlitt (1Clem 5,4–7).592 Was über die römischen Christen gesagt wurde, ist auch für die Auslegung von Röm 13 von Bedeutung. Dort ist vom Verhalten gegenüber staatlichen Behörden die 590 Vgl. bes. Röm 1,17 (Hab 2,4: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“; vgl. Gal 3,11); 3,1–21; 4,3.17 f. (Abraham; Gen 15,6; 17,5; 15,5; vgl. 12,3); 7,7 („Du sollst nicht begehren“; Ex 20,17; Dtn 5,21); 8,36 (getötet wie Schlachtschafe; Ps 44,23); 13,9 (Dekalog aus Dtn 5,17–21; Ex 20,13–17 und Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18); 15,3 f. (Schmähungen; Ps 69,10); 15,7–12 (bes. Jes 11,10: Wurzel Isais); 15,21 (Mission, wo das Evangelium noch nicht verkündigt wurde; Jes 52,15). 591 Euseb, Chronik des Hieronymus (GCS 47), ed. R. Helm, Berlin 1956, 179. 592 Zu den Anfängen der römischen Gemeinde vgl. P. Lampe, Die stadtrömischen Christen (s. Anm. 586); M. Hengel / M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 389–392, zu Petrus in Rom Ch. Böttrich, Petrus. Fischer, Fels und Funktionär (BG 2), Leipzig 2001, 211–234 mit Hinweisen auf 1Clem 5,1–7 und den Bericht über die Christenverfolgungen unter Nero 54 n. Chr. bei Tacitus (Annalen 15,38–44; Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen I. Alte Kirche, hg.v. A. M. Ritter, Neukirchen-Vluyn 72002, 6 f.), 1Petr 5,13 (Babylon = Rom; § 8.6.4); IgnRöm 4,3 und die archäologischen Spuren im Vatikan.
302
5 Die paulinischen Briefe
Rede. Paulus greift dieses Thema auf, weil nach dem Claudiusedikt die Ankunft eines bekannten christlichen Missionars bei den römischen Behörden Angst vor neuen Tumulten und analoge Maßnahmen gegen die Christen hätte auslösen können. Auch auf Seiten der Synagoge befürchtete man neue Strafmaßnahmen durch die Obrigkeit. Paulus hielt es deshalb für nötig, den Adressaten klarzumachen, dass der Glaube, der schon jetzt den Sieg Jesu Christi über alle Schicksalsmächte aufzeigt, nicht zur Verachtung der politischen Ordnungen führen darf. Die Repräsentanten der staatlichen Macht haben als notwendiger Damm gegen böse Taten ihre Berechtigung. Der Apostel war sich der Bedeutung des römischen Reiches für die Verbreitung des Evangeliums bewusst. Die Römer bauten ein umfassendes Kommunikationsnetz im ganzen Mittelmeerraum auf, unterdrückten das Piratentum und errichteten große Verwaltungszentren. Griechisch wurde in der neutestamentlichen Zeit als zweite Reichssprache akzeptiert. Es galt als Weltsprache (wie heute Englisch) und diente mündlich ebenso wie schriftlich der allgemeinen Verständigung. Alle diese Möglichkeiten nutzte Paulus für seine Missionstätigkeit. 5.16.3
Text, Integrität, Abfassungsort und -zeit
Im Blick auf die Integrität wird diskutiert, ob der Brief ursprünglich möglicherweise mit dem Friedenswunsch in 15,33 endete. Der feierliche Abschluss des 15. Kapitels trennt Röm 16 vom Rest des Briefs. Gegen das letzte Kapitel als ursprünglichen Bestandteil des Römerbriefs wurden in der Forschung mehrere Gründe angeführt: Paulus konnte in Rom nicht so viele Menschen kennen. Epänetus (Epainetos), der vermutlich als Erster in Asien, d. h. der römischen Provinz Asia, zum Glauben an Christus kam, muss in Ephesus Christ geworden sein. Auch Aquila und Priska (Priszilla) sind nach Ephesus gegangen (Apg 18,18 f.). Und die Warnung an diejenigen, die Zwietracht säen (Röm 16,17–20), passt nicht zum Stil des Briefs, der u. a. der Selbstvorstellung des Apostels dient. Mehrere Forscher nehmen deshalb an, dass es sich bei Röm 16 um Teile eines nach Ephesus geschickten Schreibens handelt (16,3–16) oder dass dieser Abschnitt zu einem verlorenen Epheserbrief gehörte. Zu jenem Brief wird manchmal auch die Paränese (12,1–15,6) oder der Abschnitt über die Starken und Schwachen (14,1–15,13) gerechnet.593 Die Schwester Phöbe könnte den Brief nach Ephesus zusammen mit einer Kopie des Römerbriefs gebracht haben, sodass die Reiseroute Korinth – Rom – Ephesus – Korinth gewesen sein müsste. Trotzdem ist es nicht undenkbar, dass das 16. Kapitel zum Römerbrief gehörte, wie viele Exegeten mit gewichtigen Gründen annehmen.594 Zu Briefen, deren Abfassung längere Zeit dauerte, konnten die Autoren kurz vor der Absendung Grüße und Mitteilungen hinzufügen. 593
Ausführlich H.-M. Schenke / K. M. Fischer, Einleitung (Lit. § 1), 141 f. Vgl. W. G. Kümmel, U. Wilckens, K. P. Donfried, P. Stuhlmacher, K. Haacker, E. Lohse oder P. Lampe, zusam menfassend K. P. Donfried, A Short Note on Romans 16, zuletzt in: ders., The Romans Debate, 44–52. 594
5.16 Der Römerbrief
303
Eine Post für Privatzwecke gab es nicht. So musste man manchmal längere Zeit warten, bis jemand in die entsprechende Richtung reiste. Paulus grüßte in Rom so viele Menschen, weil er davon ausging, dass die ihm schon bekannten Brüder und Schwestern die Mehrheit der römischen christlichen Gemeinde von seinen guten Absichten überzeugen würden. Die Leute aus Ephesus konnten in die Hauptstadt übergesiedelt sein. Und die Warnung vor Zwietracht ist als Verallgemeinerung seiner Erfahrungen zu begreifen, die in allen gruppenbezogenen Ermahnungen gut denkbar ist. Sie hat sogar im Brief selbst eine gewisse Parallele in der Ermahnung, dem Bruder kein Ärgernis zu bereiten (14,13). Es ist nicht ausgeschlossen, dass mit der Hinzufügung des 16. Kapitels noch weitere Eingriffe in den Text verbunden waren. Die Verlegenheit hinsichtlich des Verhältnisses von Röm 16 zum Korpus des Briefs spiegelt sich auch in der Textüberlieferung wider. Nach Origenes († 254) endete der Römerbrief im Kanon Markions mit dem 14. Kapitel. Markion (§ 3.3b) wollte offensichtlich die Verdoppelung des Themas der Starken und der Schwachen und die vielen Zitate aus der jüdischen Bibel in Röm 15 vermeiden. Das abrupte Ende erforderte eine nachträgliche Schlussdoxologie, die in 16,25–27 erhalten ist. Der unpaulinische Wortschatz und die unsichere Stellung in der Textüberlieferung (nach 14,23 oder 15,33) sprechen für einen sekundären Charakter. Im Kodex B (Vaticanus) und in anderen Textzeugen begegnen wir der Doxologie nur einmal am Ende des Römerbriefs. In der byzantinischen Texttradition steht sie am Ende des 14. und noch einmal am Ende des 16. Kapitels, im Papyrus Chester-Beatty (p46, etwa 200) nach dem 15. Kapitel. Die Annahme der Bearbeitung im Rahmen der kirchlichen liturgischen Praxis wird dadurch textkritisch unterstützt. Eindeutig sekundär ist der Gnadenwunsch in 16,24, da er in den ältesten Handschriften fehlt. Seit dem 5. Jh. taucht er vor, nach oder statt der Doxologie 16,25–27 auf.
Ein breiter Konsens besteht im Blick auf die Abfassungszeit des Römerbriefs, den Paulus während seines letzten Aufenthalts in Korinth schrieb (16,1),595 d. h. etwa 56 n. Chr. Falls das 16. Kapitel zum Römerbrief gehörte, müssen Aquila und Priska (Priszilla) nach dem Tod des Kaisers Claudius (54 n. Chr.) nach Rom zurückgekehrt sein. Die Hypothesen, nach denen der Römerbrief aus zwei (+ Röm 16)596 oder mehreren Episteln entstand, sind wenig hilfreich.597 5.16.4
Anlass und Zweck des Schreibens
Es gab mehrere Gründe für die Abfassung dieses Briefs. Die oft diskutierte Frage, ob es sich um einen Gelegenheitsbrief oder um eine programmatische Zusammenfassung der paulinischen Theologie handle, wirft eine schiefe Alternative auf. Auch diejenigen, die den konkreten Anlass der Abfassung hervorheben, bestreiten nicht, 595
Kenchreä in Röm 16,1 ist einer der zwei Häfen von Korinth. So W. Schmithals, Methodische Erwägungen zur Literarkritik der Paulusbriefe, ZNW 87 (1996), 51–82. 597 Zum methodischen Vorgehen s. § 5.12.2 und zum Römerbrief U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 138–141. 596
304
5 Die paulinischen Briefe
dass Paulus bei dieser Gelegenheit auf theologische Grundfragen einging, die über den Tag hinaus relevant sind und schließlich zur Sammlung und Kanonisierung der Paulusbriefe geführt haben. Eindeutiger Anlass für die Abfassung war die geplante Missionsreise in die Provinz Hispania (heute Spanien und Portugal; Röm 15,23 f.28), für die Paulus in Rom eine Basis benötigte. Da er von einer judenchristlichen Prägung zumindest eines Teils seiner römischen Adressaten ausging, musste er erläutern, warum seine Verkündigung nicht mehr dem mosaischen Gesetz verpflichtet ist. Deshalb wollte er sein Vorhaben zunächst vor der christlichen Gemeinde im Zentrum des Reichs erläutern. Dass die paulinische Position für Judenchristen nicht leicht zu begreifen war, belegt indirekt die Erzählung in Apg 28,23–28 von einer langen Diskussion mit den römischen Juden über das Gesetz und das Heil für die Heiden. Im Römerbrief musste der Apostel also seine Beziehung zu Israel und zur Schrift bezeugen, um gerade aus der jüdischen Bibel (§ 2.1.1) die Freiheit vom mosaischen Gesetz zu begründen. Seine Verbundenheit mit den Judenchristen und seine Anerkennung der Sonderstellung der Urgemeinde wollte Paulus auch durch die Sammlung für die Armen in Jerusalem demonstrieren. Die finanzielle, vor allem aber die geistige und kirchenpolitische Unterstützung vonseiten der römischen Gemeinde hatte für ihn eine große Bedeutung (Röm 15,25–31). Noch gewichtiger als die geplante Reise nach Hispanien ist ein anderer Grund für die Abfassung des Briefs: Paulus wollte – ungeachtet seiner konkreten Pläne – die christliche Gemeinde in der Hauptstadt des Reichs, d. h. in der Weltmitte, erreichen. Wenn wir bedenken, mit welcher Konsequenz der Apostel christliche Gemeinden in den Verwaltungszentren des römischen Reichs errichtete, musste die Hauptstadt für ihn von herausgehobenem Interesse sein. Nach den Erfahrungen, die er in mehreren christlichen Gemeinden gemacht hatte, lag ihm die Einheit der römischen Christen besonders am Herzen. Auf die Einheit der Gemeinde zielt seine Ermahnung an die „Starken“ im Glauben, die Schwachen zu respektieren (14,1–15,13; vgl. 1Kor 8–10). Die Ruhe in der römischen Gemeinde war auch zur Vermeidung von Konflikten mit den kaiserlichen Amtsträgern wichtig.598 Der Einheit innerhalb der Gemeinde dient auch die Sohnesformel, die der Apostel in Röm 1,3 f. aus vorpaulinischer Tradition zitiert (§ 5.6.1.2). Damit dokumentiert Paulus seine Absicht, die apostolische Lehre als eine Interpretation jener mit den Judenchristen gemeinsamen Glaubensüberlieferung darzustellen. Ihre judenchristliche Herkunft verrät der Hinweis auf die davidische Abstammung Jesu.599 Die Formel enthält zwar kein Wort vom Kreuz Christi (§ 5.12.5e), das für Paulus so bedeu598 Vgl. K. Haacker, ThHK 6, 13 f.; vgl. unsere Notizen zu Röm 13 in § 5.16.2 und bei Anm. 652 f f. 599 Vgl. in Röm 15,12 das Zitat aus Jes 11,10: „der Spross aus der Wurzel Isais“ (§ 6.2.7.1).
5.16 Der Römerbrief
305
tend war, aber sie muss den Adressaten bekannt gewesen sein. Die Sohnesformel gehört zum Inhalt des paulinischen Evangeliums (1,1; § 5.6.2.1), und die Theologie des Römerbriefs ist eine Deutung dieser Botschaft (1,16 f.).600 Gelegentlich zieht Paulus ältere Tauftraditionen (Röm 3,25–26a;601 6,3 f.) als gemeinsame Ausgangsbasis heran. In Röm 6 betont er die Identifikation des Täuflings mit Christus – eine Deutung der Taufliturgie, die sowohl die ethische Verpflichtung des Christen als auch seine Hoffnung für die Endzeit und damit über den Tod hinaus motiviert (6,4–11; § 5.6.2.2d). Aufs Ganze gesehen kann der Römerbrief als Testament oder – da im Unterschied zu 2Tim 4,1–8 (§ 8.4.1–2) kein Abschiedsbrief – treffender als Summe des Evangeliums bezeichnet werden.602 Seine Argumente waren auch für die Jerusalemer Christen gültig. Und doch handelt es sich um einen Brief, der nicht für die Jerusalemer Urgemeinde bestimmt war,603 sondern sich an die römischen Christen wendet.604 Im Briefrahmen (Röm 1,1–15; 15,14–16,27) legt Paulus zwar seine Missions- und Reisepläne dar, aber im Briefkorpus erörtert er die für die römischen Gemeinden zentrale Frage nach dem Verhältnis von Juden(christen) und Heiden(christen) (1,16 – 11,36). Das Problem war durch die Rückkehr der Judenchristen wie Priska und Aquila (16,3) nach dem Herrschaftswechsel von Claudius zu Nero (54 n. Chr.) neu aufgebrochen und bedurfte einer grundsätzlichen Erörterung.605 Die Frage hatte sich, wie die Paränese für die Starken und Schwachen (14,1–15,13) zeigt, an der Befolgung der Reinheitsvorschriften und des Sabbatgebots (14,2 f.5 f.20 f.) entzündet. Da einige Gemeindeglieder diese Gebote ihrer jüdischen Prägung entsprechend einhielten, wurden sie als „schwach im Glauben“ bezeichnet (14,1). Der Ort, an dem der Konflikt virulent wurde, waren die gemeinsamen Gottesdienste in den Hausgemeinden, die meist mit einem Sättigungsmahl verbunden waren und für die „Schwachen“ durch die Sorge vor dem Unreinwerden durch den Kontakt mit Heiden(christen) zum Problem wur60 0 Vgl. E. Lohse, Euaggélion theoú, 135–137; ders., KEK 4, 62 f. Wenn wir in diesem Zusammenhang über die paulinische Tendenz sprechen, die Einheit der Kirche zu retten, müssen wir sogleich die Warnung von C. E. B. Cranfield, ICC II, 822 f., ernst nehmen: Das Hauptanliegen ist die Deutung des Evangeliums. 601 Vgl. W. Kraus, Der Jom Kippur, der Tod Jesu und die Biblische Theologie, JBTh 6, 1991, 156–172. 602 Vgl. G. Bornkamm, Der Römerbrief als Testament, 135 ff.; E. Lohse, Summa Evangelii, bes. 113–119; ders., KEK 4, 45–48. 603 So J. Jervell, Der Brief nach Jerusalem. Über Veranlassung und Adresse des Römerbriefs, StTh 25 (1971), 61–73. 604 Dass der Römerbrief als eine Verteidigungsrede geschrieben sein sollte (so z. B. W. Simonis, Der gefangene Paulus, Frankfurt 1990), ist schon wegen seiner pastoralen Dimension ausgeschlossen. 605 Vgl. V. Gäckle, Die Starken und die Schwachen in Korinth und in Rom (WUNT II/200), Tübingen 2005, 292–449, bes. 330–336.
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den. Damit steht Paulus im Römerbrief vor der Frage, welche Bedeutung Christus als „des Gesetzes Ende“ (10,4) nicht nur für die Gültigkeit der Tora, sondern sehr viel umfassender für das Heil der Menschen (1,16–8,39), den heilsgeschichtlichen Vorzug Israels (9–11) und die Einheit des neuen Gottesvolks aus Juden und Heiden (15,7– 13) in der Gemeinde Jesu Christi hat. Er antwortet mit dem Evangelium von der Gerechtigkeit Gottes, die jeden Menschen ohne Unterschied aus Gnade gerecht macht durch den Glauben an Christus, die Juden zuerst und ebenso die Heiden (1,16 ff.). 5.16.5 Die Theologie: Rechtfertigungslehre, Anthropologie, Israel, staatliche Macht Der erste Argumentationsgang in Röm 1–8 behandelt Fragen der Rechtfertigungslehre und der Anthropologie. Dabei benutzt Paulus verschiedene literarische Ausdrucksmöglichkeiten. Vor allem bedient er sich des Mittels der Diatribe – eines populären Vortrags, der unter kynischen und stoischen Philosophen verbreitet war.606 In der Diatribe werden rhetorische Fragen benutzt. Paulus jedoch greift reale Einwände gegen seine Rechtfertigungslehre auf.607 a) Die Rechtfertigungslehre: Der ganze Brief konzentriert sich auf die Rechtfertigung aus Glauben, die Paulus schon im Galaterbrief vertreten hatte (§ 5.11.3).608 Ausgangspunkt ist die These, dass in Jesus Christus, in seinem Kreuzestod und der Auferstehung, die Gerechtigkeit Gottes offenbart ist, die den Glauben erweckt und allein durch Glauben aufgenommen wird (1,16 f.; vgl. 1,3 f.).609 Mitgeteilt wird diese göttliche Gerechtigkeit nach Paulus durch das Evangelium (1,1.9.16), das er mit der Sohnesformel in Röm 1,3 f. als Traditionsgut eingeführt hatte.610 Die gute Nachricht besteht in der Befreiung von der Sünde.
606 R. Bultmann, Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe (FRLANT 13), Göttingen 1910. 607 Röm 3,1.9.31; 4,1; 6,1.15; 7,7.13 u. a. 608 Zur unterschiedlichen Einbettung und den Transformationen der Rechtfertigungsaussagen vgl. den erhellenden Längsschnitt von M. Theobald, Der Kanon von der Rechtfertigung (Gal 2,16; Röm 3,28), in: Studien zum Römerbrief, 164–225 (einschl. Apg 3,12.16; 13,38 f.; 15,10 f.; Eph 2,5.8 f.; Tit 3,4–7; 2Tim 1,8 f.; Jak 2,14–26). 609 An dieser Stelle kam Martin Luther nach seinem autobiographischen Rückblick in der Vorrede zum ersten Band seiner lateinischen Schriften (1545) die befreiende reformatorische Erkenntnis, welchen Sinn die Rede von der „Gerechtigkeit Gottes“ in der Bibel in Wahrheit hat; vgl. WA 54, 185 f. oder die deutsche Übersetzung bei Martin Luther, Ausgewählte Schriften I–VI, hg.v. K. Bornkamm / G. Ebeling, Frankfurt 1982, I, 22–24. 610 Vgl. Gal 1,15 f.; 2Tim 2,8 (§ 5.6.1.2).
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Der Mensch lebt unter dem Druck der Sünde. Als Sünder begeht er nicht bloß einzelne Übertretungen göttlicher Gebote (hamartíai; Pl.), sondern er ist in seiner ganzen Existenz der „Sünde“ (hamartía; Sg.!) verfallen (1,18–3,20; 3,23; 5,12). Die Sünde besteht nicht nur in einzelnen Verfehlungen (7,5), Begierden (1,24; 6,12; 7,7 f.) und Leidenschaften (1,26; vgl. 7,5), sondern ist dem Menschen insgesamt schicksalhaft zum Verhängnis geworden. Sie ist nicht nur ein moralischer Mangel in der Lebensführung, sondern hat den Charakter einer unentrinnbaren Macht (s. Anm. 633). Ihr Wesen ist „Gottlosigkeit“ (asébeia; 1,18; vgl. 4,5; 5,6) und „Ungerechtigkeit“ (adikía; 1,18.29; 6,13) oder schärfer ausgedrückt „Feindschaft gegen Gott“ (échthra eis theón 8,7; vgl. 5,10) sowie die Unfähigkeit, sich dem Gesetz Gottes unterzuordnen und Gott zu gefallen (8,7 f.). Als Sünder verweigert der Mensch Gott Ehre und Dank (1,21), Gehorsam (5,19) und Dienst (6,19). Er kann einzelne gute Werke als Erfüllung der Gebote des Gesetzes tun (vgl. 2,14 f.), ohne Gott wirklich zu vertrauen. Aber wegen seiner Sündenverfallenheit bleibt er ausnahmslos Gottes Zorngericht ausgeliefert (1,18; 2,5.8; 3,5; 1Thess 1,10 u. ö.): „alle haben gesündigt und entbehren der Herrlichkeit Gottes“ (Röm 3,23; vgl. 5,12). Doch durch die Gnade Gottes in Christus Jesus ist die Herrschaft der Sünde beendet (3,24; 5,15–21). Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes in Jesus Christus ist ein neuer und entscheidender Weg zur Rettung aus dem göttlichen Zorn (5,9; 1Thess 1,9 f.).611 Es handelt sich um einen innerlich wirksamen Weg, sodass die Menschen im Glauben ein persönliches Verhältnis zu Gott gewinnen. In dieser Hinsicht ist der Glaube selbst ein Teil des Heilshandelns Gottes, das in Christus konzentriert ist (3,21–26). Das göttliche Heil, das sich im Glauben ereignet, betrifft und verändert den ganzen Menschen – nicht nur seine Werke. Der Apostel bezeichnet dieses Heilshandeln in Röm 3,24 f. erstens als „Gerechtwerden“ (dikaioústhai) des Menschen aus „Gnade“ (cháris), das für Paulus der Inbegriff der Heilstat Gottes in Christus ist, zweitens als „Erlösung“ (apolýtrōsis), die aus der Sklaverei der Sünde befreit, und drittens als „Sühne“ (hilastḗrion), die Gott zur Vergebung durch ein Opfer bewirkt (s. Anm. 581). Als Schriftbeleg für die Rechtfertigung durch den Glauben wird Abraham in Röm 4 – ebenso wie in Gal 3,6 ff. (§ 5.11.1; 5.11.4b)612 – mit dem Zitat von Gen 15,6 eingeführt: „Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet“.613 Abraham ist „unser aller Vater“ (Röm 4,16) und dient als Identifikations- und Integrationsfigur für Juden- und Heidenchristen, die beide in gleicher Weise unabhängig von der Beschneidung (§ 5.11.3) bei Gott allein durch den Glauben – nicht durch Werke – Gerechtigkeit erlangen. In Umkehrung der gewohnten jüdischen Reihenfolge wird nicht mehr der Vollzug der Beschneidung als Voraussetzung zum Erlangen 611
Vgl. E. Käsemann, HNT 8a, 91. In Röm 4 im Unterschied zu Gal 3 freilich ohne das Motiv des Segens. 613 Vgl. zu Röm 4 M. Neubrand, Abraham – Vater von Juden und Nichtjuden (FzB 85), Würzburg 1997. 612
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der Gerechtigkeit angesehen, sondern Paulus folgert aus der zeitlichen Priorität der Glaubensgerechtigkeit (Gen 15,6) deren qualitative Überlegenheit gegenüber der später berichteten Beschneidung (Gen 17). Deshalb wird die Gerechtigkeit schon bei Abraham dem Glaubenden ohne Werke wie der vom Gesetz geforderten Beschneidung allein aus Gnade zugerechnet. Die Beschneidung gilt lediglich als Zeichen, das die im Glauben zugeeignete Gerechtigkeit im Nachhinein wie ein „Siegel“ bestätigt (Röm 4,9–12). Die Gerechtigkeit Abrahams wird von Gott nicht nur beurteilend festgestellt, sondern in einem schöpferischen Akt hergestellt. Die Rechtfertigung erscheint als ein ebenso tiefgreifender Vorgang wie das heilschaffende Handeln Gottes in der Auferweckung und der Schöpfung. Die Tragweite dieses Geschehens bekräftigt der Apostel, indem er mit den beiden Wendungen „der die Toten lebendig macht“ und „der das, was nicht ist, ins Dasein ruft“ (Röm 4,17; vgl. 1Kor 1,28) bekenntnisartig geprägte jüdische Formulierungen aufnimmt.614 Die Rechtfertigung des Gottlosen (Röm 4,5) ist kein geringeres Wunder als die Auferstehung der Toten und die „creatio ex nihilo“ (Schöpfung aus dem Nichts). Paulus bezieht das dem Abraham verheißene Erbe nicht mehr auf die Landnahme in Kanaan, sondern auf den ganzen Kosmos, d. h. die zukünftige Welt, das endzeitliche Gottesreich, das ewige Heil, das den Glaubenden zuteil werden soll (Röm 4,13). Über Gal 3 hinaus wird der Glaube dadurch konkretisiert, dass Abraham mit Sara trotz des hohen Alters der Verheißung Vertrauen schenkte und in Isaak den versprochenen Nachkommen erhielt (Röm 4,18–25). Nach den zusammenfassenden Aussagen über die Rechtfertigung und den Frieden mit Gott (Röm 5,1) kehrt Paulus am Ende des 6. Kapitels zum Thema der Sünde zurück: Der Mensch, der der Sünde dient, d. h. die Chance der Gnade Gottes nicht erkennt, erhält von der Sünde als Arbeitgeber einen schlechten Lohn („Sold“), nämlich den Tod (6,23a). Gott schenkt den Gläubigen mehr als einen Lohn, er gibt ihnen das ewige Leben zum Geschenk (6,23b). Das ist die Erklärung des Evangeliums als der dynamisch wirkenden Kraft Gottes (1,16 f.). Im Römerbrief bezeichnet Paulus die heilvolle göttliche Absicht umfassend als „Gerechtigkeit Gottes“ (dikaiosýnē theoú).615 Umstritten ist vor allem die Bedeutung der Genitivverbindung: Handelt es sich erstens um einen Genitivus subiectivus im Sinn einer göttlichen Eigenschaft (als Richter) oder zweitens um einen Genitivus auctoris 614
Vgl. die Wendung „der die Toten lebendig macht“ in JosAs 20,7; 4Q521 7+5 II 6 sowie in der zweiten Benediktion des Achtzehngebets (C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte [Lit. § 12e], 238); vgl. für die Schöpfung aus dem Nichts 2Bar 21,4; 48,8; JosAs 12,1 f.; 2Makk 7,23.28f u. ö. Vgl. O. Hofius, Die Gottesprädikationen Röm 4,17b, in: Paulusstudien II (Lit. § 5), 58–61. 615 Röm 1,17; 3,5.21 f.25 f.; 10,3; 2Kor 5,21; Phil 3,9; vgl. die Exkurse bei P. Stuhlmacher, NTD 6, 30–33; E. Lohse, KEK 4, 78–81 (Lit.).
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(Genitiv des Urhebers) im Sinn der Gerechtigkeit, die Gott erweist, wirkt und schafft, oder drittens um einen Genitivus obiectivus im Sinn der Gerechtigkeit, die im Endgericht vor Gott und ihm gegenüber gilt? Außerdem wird diskutiert, ob diese Gerechtigkeit von Gott entweder im effektiven Sinn wirklich geschaffen oder nur im forensischen Sinn eines Freispruchs angerechnet wird. Diese Alternative wird vielfach mit dem Gegensatzpaar effektiv / imputativ bezeichnet. Alle diese Deutungen stützen sich auf zutreffende Textbeobachtungen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Durchgehend zeigt der paulinische Sprachgebrauch, dass die Gerechtigkeit keine menschliche Leistung ist, die der Mensch vor Gott erbringen muss („Werkgerechtigkeit“) – sei es als Jude, als Heide oder als Christ. Die Gerechtigkeit kann nur eine von außen kommende, fremde, von Gott gewährte Gerechtigkeit sein (lat. iustitia aliena, iustitia passiva). Gemeint ist primär die Gerechtigkeit im effektiven Sinn eines Genitivus subiectivus bzw. auctoris, d. h. der Gerechtigkeit, die Gott eigen ist und die von ihm ausgeht. Es ist die Gerechtigkeit, die seinen Willen unter den Menschen verwirklicht, das Heil bewirkt, Vergebung und Leben gewährt und den Frieden mit Gott begründet. Paulus nennt sie in Phil 3,9 „die Gerechtigkeit aus (ek) Gott“. Auch nach Röm 3,5.24–26 wird von Gott gesagt, dass er „gerecht ist und gerecht macht“616 denjenigen, der an Jesus glaubt. Darüber hinaus hat die Genitivverbindung zugleich den Charakter eines Genitivus obiectivus im Sinn der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Denn Christus „wurde uns (hēmín) von Gott zur Gerechtigkeit gemacht (egenḗthē)“ (1Kor 1,30), „damit wir die Gerechtigkeit Gottes würden durch ihn (Christus)“ (2Kor 5,21; § 5.13.3.1c). Die „Gerechtigkeit Gottes“ steht hier als abstractum pro conreto. Sie bezeichnet die Glaubenden als Gerechtfertigte, der vor dem Richterstuhl Gottes als Gerechte erscheinen, denen in Christus diese Gerechtigkeit tatsächlich zuteil geworden ist. Daher wird die Gerechtigkeit den Glaubenden nicht nur imputativ zugerechnet.617 Vielmehr wird sie ihnen durch den Geist als Gabe der Neuschöpfung auch effektiv zuteil, wie die Anspielung auf die Taufe in 1Kor 6,11 zeigt (vgl. Röm 6,3; § 5.6.2.2d): „... ihr seid gerecht geworden im Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.“ Damit umfasst die „Gerechtigkeit Gottes“ die ganze Bedeutungsbandbreite von der Urheberschaft des göttlichen Subjekts über die Gabe an die Glaubenden bis zu den Auswirkungen dieser Gerechtigkeit im Blick auf das göttliche Gericht und den Lebenswandel der Christen im Alltag. Für das paulinische Verständnis ist entscheidend, dass diese Gerechtigkeit nach Röm 10,3 keine menschliche Eigenschaft darstellt und auch keiner menschlichen Aktivität entspringt, sondern sich ganz und gar
616
Vgl. das Verb „dikaioún“ mit Gott als Subjekt in Röm 3,26.30; 4,5; 8,30.33; Gal 3,8. Vgl. „logízesthai“ (Vulgata: inputari, reputari) in Röm 4,3–11.22–24; Gal 3,6; vgl. auch 2Kor 5,19. 617
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Gott verdankt. Sie erweist sich als eine fremde (lat. aliena), von Gott (Phil 3,9) geschenkte Gerechtigkeit (lat. iustitia passiva). Durch sein gerechtmachendes Handeln verändert Gott das ethische Verhalten der Menschen. Erfüllt von der Hoffnung auf die Auferstehung und das neue Leben in der vollkommenen Gemeinschaft mit Christus (Röm 6,4 ff.) sollen die Gläubigen ein Leben führen, das im Dienst der Gerechtigkeit Gottes steht (6,12 ff.). Mit dem Tod und der Auferstehung Jesu hat der neue Äon begonnen und ist die Macht der Sünde gebrochen. Aber die Versuchung durch die Sünde dauert noch an. Deshalb bleiben weiterhin Ermahnungen zur Gerechtigkeit erforderlich, die Paulus in einer Paränese anschließt (6,12–23; vgl. 12,1; § 5.16.5c). Die „Gerechtigkeit“ kann nicht nur individuell gedacht werden, sondern es geht um jenes Recht, „in welchem sich Gott in der von ihm abgefallenen und als Schöpfung doch unverbrüchlich ihm gehörenden Welt durchsetzt.“618 Durch die eschatologische Erneuerung (6,4) schenkt Gott dem Menschen im Glauben seine Identität, sein wahres Ich, zu dem er von Gott bestimmt ist (8,1 ff.). Die Rechtfertigung des Sünders ist Teil eines die ganze Schöpfung umfassenden Geschehens, in dem der neue Äon in die Gegenwart einbricht (5,1–11; 8,18–39). Der Römerbrief stellt mit der Rechtfertigungslehre die letzte paulinische Reflexion der neuen Erfahrung der doppelten Eschatologie dar, in der die ersten Christen zwischen der endzeitlichen Hoffnung auf das ewige Leben jenseits des göttlichen Gerichts und der gegenwärtigen Erfahrung des Heils im gerechtmachenden Handeln Gottes differenzieren: Die Begegnung mit dem Messias geschah schon innerhalb des alten Äons und beflügelt erst recht die Sehnsucht nach der noch ausstehenden Erlösung der ganzen Schöpfung.619 Zum göttlichen Willen gehört das konkrete Ereignis der Offenbarung in Christus, in der die ewige Absicht Gottes mit dieser Welt verwirklicht wurde. Der Glaube wird durch die Verkündigung des Christusgeschehens hervorgerufen.620 Er impliziert bei den Gläubigen das Vertrauen, dass Gott den Menschen schon jetzt barmherzig zugeneigt ist und dass sie ihn wie Jesus selber mit der aramäischen Gebetsanrede „Abba“ als „Vater“ (§ 5.6.1.2) anrufen können (8,12–17). Paulus wählt zwar „Gottes Gerechtigkeit“ als Oberbegri ff. Aber er spricht auch von der Liebe, die zum Wesen dieser Gerechtigkeit gehört (5,8; vgl. 5,5; 8,35 ff.). Die Liebe ist Gottes eigentliches Motiv und die treibende Kraft seines Heilshandelns, in dem er den Sünder freispricht und gerecht macht. Die Erfahrung der Gnade (5,2) 618
E. Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, 192 (Hervorhebung U.H.). Vgl. § 5.6.2.1; 5.10.1 und 3; 5.11.3. 620 K. Barth hat in seiner programmatischen Deutung des Römerbriefs (Römerbrief, 2 1921) das Wort „Glaube“ (pístis) als „Treue“ (Gottes) übersetzt. Das ist zwar philologisch an den meisten Stellen falsch, aber dadurch hob der Schweizer Theologe hervor, dass der Glaube grundsätzlich durch Gottes Treue (zum Menschen und zu seiner eigenen Absicht) hervorgerufen wird (Röm 1,17; vgl. K. Barth, Römerbrief, Vorwort zur 2. Auflage, in: J. Moltmann [Hg.], Anfänge der dialektischen Theologie [ThB 17], München 1966, 105–118, dort 117). 619
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entspringt der göttlichen Liebe, beide sind Teil seines heilvollen Handelns. Die Gerechtigkeit, die in der Schrift von großer Bedeutung ist (der hebr. Stamm zdq), wird im Kreuz und der Auferstehung Christi vollendet. In jüngster Zeit wurde die zentrale Bedeutung der Rechtfertigungslehre in der paulinischen Theologie in Frage gestellt (E. P. Sanders, H. Räisänen). Unser Versuch, die theologischen Zusammenhänge bei Paulus nachzuzeichnen, widerspricht solchen Thesen (§ 5.8.2i). b) Die Anthropologie: Im Römerbrief entwickelt Paulus Grundzüge einer theologischen Anthropologie. Nach einer berühmten Formulierung Rudolf Bultmanns ist in der paulinischen Theologie „jeder Satz über Gott (bzw. Christus) ein Satz über den Menschen und umgekehrt.“621 Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang in den Aussagen über Adam und Christus in Röm 5,12–21. In der Gestalt Adams beschreibt der Apostel die gegenwärtige Existenz des Menschen, die der Sünde und dem Tod unterworfen ist, in der Gestalt Christi das Leben, zu dem Gott alle Menschen bestimmt hat. In der Adam-Christus-Typologie in Röm 5,12–21 nimmt Paulus den Kontrast zwischen der heillosen Schuld- und Sündenverfallenheit aller Menschen (1,18–3,20) und der universalen Gnadentat Christi (3,23 f.) wieder auf.622 Er bezeichnet Adam als „týpos toú méllontos“ (5,14), d. h. als Gegenbild des zukünftigen Menschen Jesus Christus (vgl. 1Kor 15,21 f.45–49).623 In dieser Antithese ist Adam eine konkrete historische Gestalt, „der erste Mensch“ (1Kor 15,45.47). Als Stammvater des Menschengeschlechts wurde er für die ganze Menschheitsgeschichte schicksalsbestimmend. Inhaltlich ist das Entsprechungsverhältnis durch mehrere Gegensatzpaare bestimmt, die eine durchgehende Gegenüberstellung von Adam-Seite und Christus-
621 Vgl. zur paulinischen Anthropologie als Klassiker R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (Lit. § 1), 191–353, hier 192: „Jeder Satz über Gott ist zugleich ein Satz über den Menschen und umgekehrt. Deshalb und in diesem Sinne ist die paulinische Theologie zugleich Anthropologie ... So ist auch jeder Satz über Christus ein Satz über den Menschen und umgekehrt; und die paulinische Christologie ist zugleich Soteriologie.“ Vgl. dazu kritisch U. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie (BThSt 18), Neukirchen-Vluyn 1991, bes. 1– 12.44–133; ders., Paulus (Lit. § 5), 565–627, aber auch P. Stuhlmacher, Theologie I (Lit. § 1), 273–283; J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 51–101.199–204.241 f.281–293 und zum Römerbrief M. Theobald, Römerbrief, 131–167.227–258. Vgl. auch Ch. Frevel / O. Wischmeyer, Menschsein. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (NEB Themen 11), Würzburg 2003; E. Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament (UTB), Tübingen 2006. 622 Vgl. O. Hofius, Die Adam-Christus-Antithese und das Gesetz, in: Paulusstudien II (Lit. § 5), 62–103 (mit zweispaltiger Gliederung in Adam-Seite und Christus-Seite). 623 Zu „týpos“ (Bild, Vorbild) als Terminus für eine Typologie vgl. 1Kor 10,6.11 (§ 5.6.2.2b).
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Seite ergeben: Während Adam durch seine Gebotsübertretung zum universalen Auslöser der Sünde, des Todes und der Verdammnis wurde (Röm 5,12.14–18.21), erscheint Christus in antithetischer Entsprechung als universaler Urheber der Gerechtigkeit und des ewigen Lebens (5,16–21). Der Tod ist nicht nur das Ergebnis kreatürlicher Sterblichkeit und bedeutet auch nicht nur das Ende des physischen Lebens im biologischen Sinn. Der Tod ist vielmehr eine Konsequenz der Sünde. Er ist die Folge des göttlichen Verdammungsurteils über die Gottlosigkeit des Menschen und bedeutet das eschatologische Verderben, das – im Gegensatz zum ewigen Leben – für immer von Gott trennt. Doch geht es Paulus nicht einfach um den Kontrast zwischen Verdammnis und Heil, sondern er verbindet das Aufzeigen dieses Gegensatzes mit einer Argumentation „a minore ad maius“.624 Diese Gedankenfigur beschreibt formal gesehen nur eine Steigerung, bezeichnet inhaltlich aber die unvergleichliche Überlegenheit, die durch das einzigartige „Geschenk“ (dōreá; 5,15 f.17) der göttlichen „Gnade“ (cháris; 5,15.17.20 f.) in der Heilstat Christi entstanden ist. Was Christus bewirkt hat, wird den Glaubenden „umsonst“ (dōreán) zuteil (3,24). Am Ende bleibt nicht das unausweichliche Verhängnis der Sünde und des Todes, sondern die Gerechtigkeit im umfassenden Sinn, d. h. die Errettung aus dem göttlichen Zorngericht und das ewige Leben (5,16–21). Was Paulus in 5,12–21 mit Hilfe der Adam-Christus-Typologie in seiner universalen Bedeutung grundlegend dargestellt hat, führt er in Kap. 6–8 weiter. Zunächst zieht er in Röm 6 Folgerungen für die christliche Existenz. Durch die Taufe auf Christus (§ 5.6.2.2d) ist der „alte Mensch“ gestorben (6,3 f.6), d. h. die adamitische Existenz unter der Macht der Sünde und des Todes beendet (5,12–21). Nun beginnt „in Christus“ ein neues Leben, d. h. eine eschatologisch erneuerte Lebenswirklichkeit, die von der Hoffnung auf die Auferstehung erfüllt ist (6,3–11) und auch im ethischen Verhalten dem Gerechtigkeit schaffenden Handeln Gottes entspricht (6,12–23). Dann erst geht Paulus in Kap. 7 auf die Situation des adamitischen Menschen unter dem Gesetz und unter der Sünde ein, um in Kap. 8 die Existenz des Menschen „in Christus Jesus“ (8,1) gegenüberzustellen, d. h. des Christen, der durch die Taufe aus dem Einflussbereich der Sünde und des Todes befreit ist (8,2; vgl. 6,3 ff.; § 5.6.2.2d). In Röm 7,7–25a,625 einem der schwierigsten Abschnitte des Römerbriefs, legt Paulus den inneren Widerspruch dar, in dem der unerlöste adamitische Mensch steht: Ver-
D.h. als Schlussfolgerung vom Kleinen zum Größeren (vgl. pollṓ mállon = um wie viel mehr; Röm 5,15.17). 625 Vgl. zu Röm 7 O. Hofius, Der Mensch im Schatten Adams, in: Paulusstudien II (Lit. § 5), 104–154, zu den Deutungen für das „Ich“ den Exkurs von E. Lohse, KEK 4, 213–216 und ausführlicher (mit Forschungs- und Motivgeschichte) H. Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit (WUNT 164), Tübingen 2004. 624
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sklavt unter der Herrschaft der Sünde tut er nicht das Gute, das er bejaht und will, wie es Gottes Gesetz gebietet, sondern er vollbringt das Böse, das er eigentlich hasst. Wegen der Anspielungen in 7,8–12 auf die Paradiesgeschichte (Gen 2 f.) wird in der heutigen Exegese meist davon ausgegangen, dass das ganze Kapitel die Existenz des adamitischen Menschen beschreibt, und zwar vom Standpunkt der Erlösten „in Christus“ aus (8,1 f f.). Letztlich geht es nicht um die psychologische Beschreibung eines innermenschlichen Konflikts zwischen Wollen und Tun, sondern um die theologische Sicht des Menschen, der durch die Macht der Sünde im Widerspruch zu den Geboten Gottes lebt, der das Gute will (7,12; 12,2). In Röm 7 stellt Paulus die Situation des Menschen außerhalb und ohne Christus dar. Auch der Christ kennt zwar noch solche Versuchungen, aber er lebt in der Gewissheit, dass dieser Konflikt durch Christus längst entschieden ist und seine Existenz nun vom Geist Gottes bestimmt wird (8,1 f f.). Ein schwieriges Verständnisproblem bereitet das „Ich“ in Röm 7: Aufgrund der Anspielungen in V.8–13 auf das göttliche Gebot in der Paradieserzählung (Gen 2 f.)626 wird es heute fast ausnahmslos in einem generell anthropologischen Sinne auf das „Ich“ des unerlösten adamitischen Menschen schlechthin bezogen. In Fortführung der allgemeinen Sündenverfallenheit von Röm 1,18–3,20 und der Adam-Seite aus 5,12–21 ist also die gesamte Menschheit gemeint einschließlich der Juden. Paulus beschreibt mit diesem „Ich“ in Röm 7 die Situation aller Menschen vor, außerhalb und ohne Christus (vgl. 3,9.22 f.: „alle“, ohne Unterschied).627 Der Argumentationsgang von V.7–25a vollzieht sich in drei zeitlich gestuften Schritten, die den Gegensatz von „einst“ und „jetzt“ erläutern, den Paulus in 7,5 f. thetisch vorangestellt 626
Vgl. bes. Gen 2,16 f.; 3,3 f.11.13.17. So seit der bahnbrechenden Dissertation von W. G. Kümmel, Römer 7 und die Bekehrung des Paulus (UNT 17), Leipzig 1929, Ndr. ders., Römer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament (TB 33), München 1974, der die individuelle, autobiographische Deutung auf die vorchristliche (pharisäische) Vergangenheit des Paulus überzeugend widerlegt hat (vgl. Gal 1,13 f.; Phil 3,6: „nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, untadelig“; abzulehnen ist damit auch die generell jüdische Interpretation durch E. Käsemann, HNT 8a, 187, „daß der Apostel vom Menschen unter dem Gesetz, konkret also vom frommen Juden spricht“). Ebenso zurückzuweisen ist die generell christliche Deutung in der augustinisch-refor matorischen Tradition auf den Widerstreit des durch Christus erlösten Menschen „simul iustus et peccator“, da die Gleichzeitigkeit des „simul“ an der Antithese von „einst“ und „jetzt“ in 7,5 f. sowie dem Tempuswechsel von den Vergangenheitsaussagen in V.7–13 zum Präsens in V.14– 23 scheitert. Doch deutet J. D. G. Dunn, Rom. 7,14–25 in the Theology of Paul, ThZ 31 (1975), 257–273; ders., WBC 38A, 374–412, bes. 387 f.397ff. 410 ff. Röm 7 wieder als Beschreibung der gegenwärtigen Erfahrungen des Paulus als Christ, da sich alter und neuer Äon auch beim inneren und äußeren Menschen in 2Kor 4,16 überschneiden. Außerdem erklärt Dunn, dass Phil 3,6 durch den Hinweis des Apostels, er sei in seiner vorchristlichen Zeit nach der vom Gesetz geforderten Gerechtigkeit untadelig gewesen, nicht wie Röm 7,7–13 vom christlichen, sondern vom jüdischen Standpunkt aus formuliert ist. Phil 3,6 ist zwar in der Tat aus jüdischer Perspektive formuliert, aber mit der Absicht, sie als durch Christus überwunden zu erweisen (V.7 ff.). 627
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hatte (vgl. 6,21 f.): Zunächst wird in 7,7–13 in der Vergangenheitsform eine Geschichte erzählt, als spräche in dem „Ich“ Adam selber von seinem Sündenfall als dem einmaligen Ereignis, dass „durch den Ungehorsam des einen Menschen“ (5,19) „die Sünde in die Welt hineinkam und durch die Sünde der Tod“ (5,12). Sodann wird zweitens in 7,14–23 im Präsens als gegenwärtiger Konflikt beschrieben, was seit Adams Fall in gleicher Weise für jeden Menschen gilt, wie Otfried Hofius dargelegt hat: „Ich, der adamitische Mensch, bin, was Adam, der Protoplast,628 geworden ist. Deshalb kann Adams Geschichte als meine Geschichte erzählt werden, – deshalb ist auch der Bericht von Röm 7,7b–11.13 in die Form der ‚Ich‘-Rede gefaßt.“629 Schließlich folgt drittens in 7,24 futurisch formuliert der Ruf nach Erlösung aus dieser Verfallenheit an Sünde und Tod. Erst dann macht die Dankesformel in V.25a630 deutlich, dass das ganze 7. Kapitel – Röm 5 und 7,6 explizierend – vom Standpunkt des Erlösten aus geschrieben wurde und von 8,1 ff. her aus der Perspektive „in Christus Jesus“ zu verstehen ist. Die durch den Glauben bereits vorweggenommene Erlösung macht den Menschen gegen die Versuchungen und den inneren Streit nicht immun. Sie gibt ihm aber die Gewissheit, dass die fremden Kräfte der Sünde vor Gott schon keine Macht mehr haben. So gliedert sich Kap. 7 in die Geschichte vom Sünder-Werden Adams (7,7–13), in die Wirklich keit des Sünder-Seins aller Menschen (7,14–23) und in den Schrei nach Errettung, durch den der Christ bekennt, dass er in seinen Anfechtungen ein rettendes Gegenüber hat (7,14–25a). Als besonderes Problem erscheint die Frage, wie das Verhältnis von Tora und Sünde zu bestimmen ist. Im ersten Abschnitt (V.7–13) widerspricht Paulus energisch einer Identifizierung beider Größen. Auf die Frage: „Ist das Gesetz (die Ursache der) Sünde?“ (7,7) kann der Apostel nur erwidern: „mḗ génoito“ (durchaus nicht, das sei ferne!). Die Tora ist „heilig“, und das Gebot, im Paradies nicht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, ist „heilig und gerecht und gut“ (7,12): „Das Gesetz wirkt die Sünde nicht, es gibt aber den Anlaß dazu, daß die Realität der Sünde sichtbar und die Sünde so in ihrer Schrecklichkeit entlarvt wird. ... Sobald das Paradiesgebot (sc. ‚du sollst nicht begehren‘) ‚kam‘, ‚lebte die (sc. bereits latent vorhandene) Sünde auf‘ – das heißt: sie wurde aktiv und gewann die Macht. ... Woher die Sünde kommt, das vermag Paulus dabei ebenso wenig zu sagen, wie es der jahwistische Bericht Gen 2–3 sagen kann.“631 Die Sünde versteht Paulus als personifizierte Macht (vgl. 1Kor 15,56: dýnamis), die – mythologisch ausgedrückt in Gestalt der Schlange632 – von außen an den Menschen herantritt, in ihm Wohnung nimmt und sein ganzes Leben von Gott entfremdet.633
Beim Widerstreit zwischen Wollen und Tun (V.14–23) gibt Paulus keinen psychologischen Einblick in den Kampf zwischen dem guten Willen und der bösen Tat, son628
D.h. als erstes menschliches Lebewesen, das Gott erschaffen hat (vgl. SapSal 7,1;
10,1). 629
O. Hofius, Mensch (s. Anm. 625), 121 (Hervorhebung O.H.). Röm 7,25b wird wegen der Widersprüche zu V.7–25a meist als spätere Randglosse beurteilt (s. Anm. 641). 631 O. Hofius, Mensch (s. Anm. 625), 127.131.134 (vgl. 117). 632 Vgl. Röm 7,11 mit Gen 3,13: „sie betrog mich“. 633 Die Sünde ist „in die Welt gekommen“ (5,12), ergreift die Gelegenheit (7,8.11), „herrscht“ (5,21; 6,12), „gebietet“ (6,14), „wohnt in mir“ d. h. „in meinem Fleisch“ (7,17 f.20), sodass der Mensch ihr „dient“ (6,6.16 f.20), „gehorcht“ (6,12.16), „unter ihr“ ist (3,9; 6,14), ihren Sold empfängt (6,20) und „unter sie verkauft“ ist wie ein Sklave (7,14). 630
5.16 Der Römerbrief
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dern eine theologische Analyse der Lage des Menschen unter der Herrschaft der Sünde. Der adamitische Mensch trägt diesen Widerspruch nicht in sich, sondern er selbst ist der Widerspruch, nämlich gegen Gott. Es geht nicht nur um einen innermenschlichen Widerstreit zwischen Wollen und Tun, sondern um den Konflikt zwischen der Macht der Sünde und dem Willen Gottes, den der Mensch in sich austrägt: Gut und Böse werden hier leicht in einer verkürzten, vorwiegend moralischen Weise missverstanden. Für Paulus besteht das Gute, das mit dem Willen Gottes übereinstimmt, jedoch in einem sehr viel umfassenderen Sinn darin, Gott zu ehren und zu danken (Röm 1,21), zu suchen (3,11), zu fürchten (3,18), ihm zu leben (6,11) und sich ihm hinzugeben (6,13). Böse ist dasjenige Verhalten, das dem Willen Gottes insgesamt widerspricht. Es ist der Ungehorsam (5,19), der als Feindschaft gegen Gott (8,7; vgl. 5,10) begriffen wird, sich in der eingangs beschriebenen Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit auswirkt und den Begierden des Herzens nachgibt (1,18 ff.). Die eigentliche Bosheit des Menschen besteht im Verstoß gegen das erste Gebot (vgl. 1,21.25). Nun ist die Tora zwar „geistlich“, d. h. göttlicher Herkunft und überirdischer Art. Und dem „inneren Menschen“ nach (7,22)634 , d. h. mit seinem „Verstand“ (noús; 7,23) und guten Willen (7,18 f.), hat der unerlöste Mensch durchaus Freude am Gesetz Gottes. Aber er ist „fleischlich“ (7,14), d. h. in seiner Existenz „im Fleisch“ ein Sklave der Sünde und als solcher ein Feind Gottes (5,10; 8,7). Er wurde gewiss nicht als Sünder erschaffen. Doch er ist nicht das freie Subjekt seines Handelns. Er ist unter die Sünde „verkauft“, versklavt und gänzlich fremdbestimmt, weil „die Sünde“ in ihm „wohnt“ und über ihn „herrscht“ (s. Anm. 633). Wegen dieser Ohnmacht des Fleisches (8,3) ist er unfähig, sich dem Gesetz Gottes unterzuordnen und Gott zu gefallen (8,7 f.). Dieser Situation des unerlösten adamitischen Menschen in Kap. 7 stellt Paulus in 8,1–17 das Sein „in Christus Jesus“ gegenüber. Mit der Partikel „nun“ („nýn“) nimmt er die These von der durch den Geist erneuerten Existenz aus 7,6 („nyní“) auf, die er als Leben „nach dem Geist“ entfaltet. „In Christus“ ist die Sünde überwunden, sie hat keine Zukunft mehr. Aber die Sünde ist noch nicht beseitigt, sie verführt immer noch zu einem Leben „nach dem Fleisch“. Auch der gerechtfertigte Mensch kann den inneren Kampf noch erleben, obwohl er schon weiß, dass Christus seine Rettung ist. Glauben ohne Anfechtung kennt Paulus nicht. Denn der Gläubige lebt noch „im Fleisch“ (en sarkí),635 aber er lebt nicht mehr „nach dem Fleisch“ (katá sárka),636 sondern bereits „nach dem Geist“ (katà pneúma; 8,4 f.). „Fleisch“ ist der 634
Die Vorstellung stammt aus platonischer Tradition, wurde von Paulus aber radikal uminterpretiert; vgl. Ch. Markschies, Art. Innerer Mensch, RAC 18 (1998), 266–312; H. D. Betz, The Concept of the ,Inner Human Being‘ (ho és¯o ánthr¯opos) in the Anthropology of Paul, NTS 46 (2000), 315–341, monographisch Th. K. Heckel, Der innere Mensch (WUNT II/53), Tübingen 1993. 635 Gal 2,20; 2Kor 10,3; Phil 1,22.[24]. 636 Röm 8,4 f.12 f.; 2Kor 10,3.
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5 Die paulinischen Briefe
vorfindliche Mensch in seiner irdischen Existenz, die von Sünde und Tod bestimmt ist.637 Der „Geist“ dagegen ist eine Gabe der Endzeit, die den Gläubigen als Erstlingsgabe (8,23) in der Taufe zuteil wird638 und sie von Sünde und Tod befreit (8,2). Nun „wohnt“ nicht mehr die Sünde in ihnen (7,17 f.20), sondern der Geist Gottes (8,9.11), der sie mit den eschatologischen Gaben des Lebens und der Gerechtigkeit,639 des Friedens mit Gott (5,1; 8,6) und der Freude des Reiches Gottes (14,17; 15,13) erfüllt.640 Dennoch befindet sich der Christ immer noch in der Auseinandersetzung mit der Sünde. Deshalb macht Paulus den Gläubigen Mut, durch die Kraft des Geistes Gottes die Macht der Sünde im Fleisch zu besiegen. Auch die Paränese in Gal 5,16 f. besagt, dass die von der Sünde angefochtene Existenz noch der Versuchung ausgesetzt bleibt.641 Dies bedeutet nicht – wie vielfach angenommen – einen ständigen Widerstreit zwischen Geist und Fleisch, weil der Christ auch in seinen Anfechtungen schon ganz unter der Macht der Gnade Gottes steht. Deshalb erklärt Paulus in Röm 7–8 allen, die die Versuchung erleben, dass es sich um die „unmögliche Möglichkeit“ eines Rückfalls in die Vergangenheit handelt, in einen Zustand, der „in Christus“ längst überwunden ist. Entscheidend ist die Einsicht, dass der Mensch seine ihm von Gott zugedachte Bestimmung erreicht, wenn er sich durch den Glauben „in Christus Jesus“ befindet (8,1 ff.). Daraus folgt für die paulinische Anthropologie: Das Schicksal des Menschen ist von Sünde und Tod gezeichnet, aber durch die göttliche Heilstat in Christus ist er aus diesem Verhängnis allein aus Gnade befreit worden. Nun kann er als Christ ein Leben führen, das von der Hoffnung auf die leibliche Auferstehung zum Leben in der Gemeinschaft mit Christus bestimmt ist (§ 5.12.5c) und sich im ethischen Verhalten an der Gerechtigkeit Gottes orientiert, der gerecht ist und gerecht macht. Die Unterscheidung von „einst“ und „jetzt“ in 6,21 f.; 7,5 f. bedeutet in 7,7–25a und 8,1–17 nicht einfach eine zeitliche Abfolge, sondern die eschatologische Wende vom alten zum neuen Äon, die durch den Aufruf zur Distanzierung von „diesem Äon“ und zur „Erneuerung des Denkens“ in 12,2 paränetisch fortgeführt wird. Sie impliziert die fundamentale Differenzierung zwischen der Existenz des Menschen extra Christum 637
Röm 7,5.7–25; 8,2 f.6.12–15; vgl. zur Vergänglichkeit 1Kor 15,39.50 (vgl. V.42–44.50– 56; § 5.12.5c). 638 1Kor 6,11; 12,13 (§ 5.6.2.2c–d); vgl. den Geist als Angeld in 2Kor 1,22; 5,5. 639 Röm 5,16–21; 6,4 f.12 ff.; 8,2.6.10 f. 640 Vgl. den analogen Gegensatz in Gal 5,16–25 zwischen dem Lasterkatalog mit den „Werken des Fleisches“ und Liebe, Freude, Friede usw. als „Frucht des Geistes“ (§ 5.11.1); vgl. J. Frey, Die paulinische Antithese von „Fleisch“ und „Geist“ und die palästinisch-jüdische Weisheitstradition, ZNW 90 (1999), 45–77. 641 So die Erwägungen zu Gal 5,17 von O. Hofius, Widerstreit zwischen Fleisch und Geist?, in: U. Mittmann-Richert u. a. (Hg.), Der Mensch vor Gott (FS H. Lichtenberger), Neukirchen-Vluyn 2003, 147–159.
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und in Christo. Aus der universalen Bedeutung der Adam-Christus-Typologie (5,12– 21) zieht Paulus in Kap. 7 und 8 existenzielle Konsequenzen, indem er dem Leben „nach dem Fleisch“ das Leben „nach dem Geist“ gegenüberstellt (8,4 ff.). Angesichts der Äonenwende bezeichnet dieser Gegensatz nicht einen innermenschlichen Dualismus zwischen dem höheren geistigen Vermögen und den niederen fleischlichen Trieben, sondern den Herrschaftswechsel von der Macht der Sünde zu einem Leben in der Kraft des Geistes Gottes.642 c) Rechtfertigung und Paränese: Der Sinn der Rechtfertigungslehre (§ 5.11.3–4) muss immer wieder neu erschlossen werden. Es reicht nicht aus, das menschliche Verhalten durch die Gebote des Gesetzes zu verbessern, auch wenn diese ein Bestandteil der göttlichen Menschenführung sind. Das Ziel ist ein Leben, das sich an der Gerechtigkeit Gottes orientiert. Ein solches Leben kann nur durch die Änderung des ganzen Menschen, einschließlich seiner Beziehung zu Gott und einschließlich seines Selbstverständnisses erlangt werden. Die Lehre von der Rechtfertigung geht davon aus, dass der Mensch im Unterschied zum Rest der Schöpfung ein verantwortliches Wesen ist, das vor dem göttlichen Richter für seine Taten Rechenschaft zu geben hat.643 Der Mensch bezieht sich immer auf einen Herrn, ein „Gesetz“, eine Tradition. Seine durch den Glauben erworbene Freiheit644 besteht darin, dass er auf den wahren Herrn vertrauen kann, der auf seiner Seite steht und ihn aus der Selbstdestruktion rettet. Von der Rechtfertigung aus Gnade ist auch die Paränese (§ 5.7b) bestimmt, denn ihr Appell baut auf der Grundlage dessen auf, was „durch die Barmherzigkeit Gottes“ geschehen ist (Röm 12,1). Die Gerechtigkeit, die von Gott im Blick auf das Jüngste Gericht aus Gnade gewährt wird, motiviert das verantwortliche Handeln schon im gegenwärtig