Einleitung in das Neue Testament 9783825227982, 9783161480119, 3825227987

296 23 7MB

German Pages [825]

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Einleitung in das Neue Testament
 9783825227982, 9783161480119, 3825227987

Table of contents :
Einleitung in das Neue Testament
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abbildungen und Schemata im Text
Abkürzungen
1 Hinführung
2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments
3 Das Neue Testament als Kanon
4 Der Text des Neuen Testaments
5 Die paulinischen Briefe
6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte
7 Die johanneischen Schriften
8 Die Schriften des Paulinismus (einschließlich Jakobusbrief)
9 Schlussbetrachtung: Gemeinsames und Unterschiede in den neutestamentlichen Schriften
10 Zeittafeln
11 Glossar (Erklärung von Fachausdrücken)
12 Quellenausgaben, Nachschlagwerke und Kommentarreihen
13 Register

Citation preview

UTB 2798

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Beltz Verlag Weinheim · Basel Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien Wilhelm Fink Verlag München A. Francke Verlag Tübingen und Basel Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck Tübingen C. F. Müller Verlag Heidelberg Ernst Reinhardt Verlag München und Basel Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen Verlag Recht und Wirtschaft Frankfurt am Main VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden WUV Facultas Wien

Petr Pokorný / Ulrich Heckel

Einleitung in das Neue Testament Seine Literatur und Theologie im Überblick

Mohr Siebeck

Petr Pokorný; geboren 1933 in Brno (Brünn); Theologie- und Altphilologiestudium in Prag; Professor emeritus an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Prag; Direktor des Zentrums der biblischen Studien der Akademie der Wissenschaften und der Karlsuniversität. Ulrich Heckel; geboren 1958; Studium der ev. Theologie in Tübingen, Edinburgh und Göttingen; 1992 Promotion; 2002 Habilitation; Pfarrer an der Reuschkirche in Göppingen und Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen.

ISBN 978-3-8252-2798-2 (UTB) ISBN 978-3-16-148011-9 (Mohr Siebeck) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Times-Antiqua gesetzt und auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

Illustrissimo ordini theologorum Universitatis Fredericae Guilelminae Bonnensis atque illustrissimo ordini theologorum Universitatis Reformatae Budapestinae de Casparo Carolio nominatae ab utroque magno theologiae doctoris honore ornatus hunc libellum grato animo dedicat P. P.

Vorwort

a) Zur Entstehung: Dieses Buch habe ich ursprünglich als eine ausgesprochen literarische und theologische Einleitung in das Neue Testament geschrieben. Als der Verlag im Jahr 2003 den Wunsch äußerte, das vorgelegte Manuskript sprachlich und stilistisch noch einmal zu überarbeiten, ist vor drei Jahren mein jüngerer Kollege Ulrich Heckel hinzugetreten. Bald hat sich gezeigt, dass dies eine glückliche Wahl war. Herr Heckel hat nicht nur meinen deutschen Sprachstil verbessert, wofür ich ihm besonders dankbar bin, er hat nicht nur das Manuskript zu einem wirklichen Lehrbuch gemacht durch Summarien, Tabellen, graphische Übersichten usw., sondern er hat sich vor allem als Co-Autor bewährt. Er hat viele Informationen zur Zeitgeschichte eingeschoben, die er meistens selbst geschrieben hat. Vor allem hat er, was ich besonders schätze, mehrere theologische Exkurse, thematische Längsschnitte und manche Ergänzungen vorgeschlagen und auch selber formuliert. In den paulinischen Schriften einschließlich der Deuteropaulinen hat er die Interpretation erheblich mitbeeinflusst. Mehrere Textabschnitte haben wir nach einer Diskussion neu bearbeitet. Viele, besonders für die Praktische Theologie bedeutende exegetische Beobachtungen und Folgerungen hat er hinzugefügt. So ist der ursprüngliche Text um gut ein Drittel gewachsen. Zunächst dachte ich, dass die Erweiterungen meinen Duktus der Gedanken stören können, aber das ist, soweit ich es jetzt beurteilen kann, nicht der Fall. Die Informationen zur Zeitgeschichte sind meist graphisch deutlich unterschieden, vor allem aber ist die exegetische Praxis und das theologische Denken von Herrn Heckel dem meinen so ähnlich, dass er sich mit meiner Argumentation weitgehend identifizieren konnte und ich von ihm in der Paulusexegese viel gelernt habe. Die größte Kunst beim Verfassen akademischer Lehrbücher ist es, das Werk übersichtlich zu gestalten. Dabei hat ein Lehrbuch einerseits die Funktion, sich als wissenschaftlicher Entwurf zu bewähren und Zusammenhänge zu bedenken, welche den Horizont monographischer Einzeluntersuchungen überschreiten. Andrerseits muss ein didaktisch gestaltetes Lehrbuch die exegetischen Probleme in einem offenen Diskurs zugespitzt darstellen, da ihre Geringschätzung, besonders eine „pastorale“ Harmonisierung, der neutestamentlichen Wissenschaft und der theologischen Erkenntnis bisher nie geholfen hat. Wie uns dies gelungen ist, werden die Leserinnen und Leser beurteilen. Für die sprachliche Korrektur der ersten Fassung des Manuskripts danke ich Herrn Dr. Wolf B. Oerter (Karlsuniversität Prag). Den ganzen Text, besonders das Kapitel über die Textgeschichte, hat mein Kollege Pro f. Dr. Hans-Gebhard Bethge (Humboldt-Universität Berlin) mit seiner Mitarbeiterin Imke Schletterer durchgese-

VIII

Vorwort

hen. Das erste Kapitel habe ich mit Dr. Jakub Čapek (Karlsuniversität Prag) besprochen, was allerdings nicht bedeutet, dass er sich mit dem Wortlaut identifizieren muss. Bei der Vorbereitung des Manuskripts hat mir bereitwillig und qualifiziert die Theologin und Altphilologin Lucie Kopecká (Zentrum der biblischen Studien Prag) geholfen. Außerdem hat sich Herr Tilman Knödler sehr um das Deutsch bemüht. Dankbar sind wir für die Durchsicht einiger Abschnitte und mancherlei Hinweise von Pro f. Dr. Christfried Böttrich, PD Dr. Roland Deines, Pro f. Dr. Reinhard Feldmeier, Pfr. Dr. Michael Gese, Pro f. Dr. Jörg Frey, PD Dr. Ulrike Mittmann-Richert, Pfr. Dr. Richard Mössinger und Pro f. Dr. Ruben Zimmermann. Außerdem dankt Herr Heckel den Studierenden in Tübingen für vielfältige Rückfragen und Anregungen, seinen Schwiegereltern Lieselotte und Dr. Gerhard Schoebe für die intensive kritische Lektüre sowie seiner Mutter Dr. Gisela Heckel und Pro f. Dr. Wilfrid Werbeck für das umsichtige Korrekturlesen. Ihnen allen gehört mein besonderer Dank. Hilfreich wären natürlich auch Hinweise und Anregungen von Leserinnen und Lesern, um die wir herzlich bitten und die wir bei einer eventuellen Neuauflage gerne berücksichtigen. Last but not least danke ich dem Verleger, Herrn Dr. h. c. Georg Siebeck, für den an mich gerichteten Vorschlag, ein solches Lehrbuch zu schreiben, und für die Aufnahme dieses Buchs in die Reihe der Universitäts-Taschenbücher. Herrn Dr. Henning Ziebritzki, dem Cheflektor, danke ich für die Organisation der Arbeit und für die Empfehlung der Zusammenarbeit mit Herrn Heckel, die sich aus meiner Sicht, wie schon erwähnt, bewährt hat. b) Zur Gestaltung: Im Aufbau orientiert sich dieses Lehrbuch an den Einleitungen in das Neue Testament, aber durch die konsequente Einbeziehung der Theologie der einzelnen Schriften umfasst es weit mehr als die bisherigen Werke dieser Art, die sich im Wesentlichen auf die Einleitungsfragen beschränken, wer, wann, wo, für wen und mit welcher Absicht diese Schriftstücke verfasst hat. In der Konzeption wollen wir die Einleitungswissenschaft sehr viel enger mit den Fragen einer Theologie des Neuen Testaments verbinden, als es bisher üblich war. Deshalb soll dieses Lehrbuch einen zuverlässigen Überblick über alle unentbehrlichen Informationen zum literarischen Aufbau, den Entstehungsverhältnissen und vor allem der Theologie der jeweiligen Schriften bieten. Dabei geht es uns bewusst auch um einen Gesamtentwurf, der von beiden Autoren durchgehend gemeinsam verantwortet wird, einige Zusammenhänge neu interpretiert und selbst einen eigenständigen Beitrag zur Forschung leistet. Inzwischen ist es in der neutestamentlichen Exegese zwar weithin üblich geworden, die Bibelkunde mit ihren Übersichten zu Gliederung und Inhalt der einzelnen Bücher, die Einleitungswissenschaft mit der Frage nach dem Autor und der Abfassungssituation sowie die Theologie des Neuen Testaments mit dem Interesse an seiner Botschaft jeweils in eigenen Publikationen gesondert darzustellen. Aber der Sa-

Vorwort

IX

che nach sind alle drei Aspekte unlösbar verbunden: Mit den Entstehungsverhältnissen hängen die Theologie und die literarische Gestalt dieser Schriften zusammen. Gliederung und Inhalt werden deshalb stets auch in tabellarischen Übersichten dargeboten, um die unverzichtbare eigenständige Arbeit am Text und die Orientierung innerhalb der neutestamentlichen Bücher zu erleichtern. Mehrere Exkurse mit thematischen Längs- und Querschnitten helfen, den jeweiligen Sachverhalt über den unmittelbaren literarischen Kontext hinaus historisch und theologisch einzuordnen. Aus den vorliegenden Texten die Entstehungssituation nüchtern zu rekonstruieren, die theologische Absicht der frühchristlichen Autoren präzise nachzuzeichnen und ein exegetisch reflektiertes Gesamtverständnis der neutestamentlichen Schriften darzulegen, ist die eigentliche Absicht dieser Einleitung. Vor allem sollen die Texte selbst in ihrem Zusammenhang zum Sprechen gebracht werden. Statt des Referats von Sekundärliteratur im Haupttext bieten die Fußnoten Hinweise auf andere Forschungsmeinungen, knappe Übersichtsartikel und monographische Veröffentlichungen zur weiteren Vertiefung für Referate, Seminararbeiten oder Schwerpunkte bei der Examensvorbereitung. Analoges gilt für Interessierte aus benachbarten akademischen Disziplinen, aber auch für diejenigen, die in der kirchlichen Praxis und Ausbildung, bei Predigten und Bibelarbeiten in der Gemeinde, im Religionsunterricht oder in der Erwachsenenbildung mit biblischen Texten zu tun haben und sich über den gegenwärtigen Forschungsstand der neutestamentlichen Exegese informieren wollen. Das Lehrbuch beginnt mit einer allgemeinen Einleitung zur Geschichte der Disziplin und den hermeneutischen Grundfragen (§ 1). Nach einem Überblick über die historischen, kulturellen und religiösen Voraussetzungen der Entstehung des Neuen Testaments (§ 2) behandelt dieser Eingangsteil auch die Geschichte der Kanonbildung (§ 3) und der handschriftlichen Überlieferung (§ 4). Daran schließen sich die speziellen Einleitungen zum Inhalt, der Entstehungssituation und der Theologie der einzelnen Schriften an. Dieser Hauptteil beginnt mit den Briefen des Paulus (§ 5), weil diese die ältesten schriftlich überlieferten Texteinheiten des Neuen Testaments sind. Die Evangelien enthalten zwar Material, dessen Teile mit dem vorösterlichen, irdischen Jesus verbunden sind. Doch müssen wir mit den Traditionen anfangen, die bereits Paulus als älteres Gut aus der Überlieferung übernommen hat (§ 5.5–6). Diese Anordnung ist auch deshalb erforderlich, weil bei der Untersuchung anderer Traditionen, die in das narrative Gerippe der Evangelien integriert wurden (§ 6), die von Paulus stammenden Briefe als eine damals schon in mehreren Gebieten der entstehenden Kirche bekannte Literatur vorauszusetzen sind. Dementsprechend müssen die Briefe des Apostels als eine lebendige, weiter entfaltete oder umstrittene theologische Tradition auch bei den Evangelien berücksichtigt werden. Wie alle Einleitungen bietet dieses Lehrbuch Informationen über die wichtigsten Kommentare, Monographien und Aufsätze zu den Schriften, von denen in den ein-

X

Vorwort

zelnen Kapiteln die Rede ist. Die Literatur ist am Anfang der Abschnitte zusammengestellt, um das kontinuierliche Lesen nicht zu stören. Zu jeder Schrift wird in der ersten Anmerkung auf einen hilfreichen Kommentar hingewiesen. Im Literaturverzeichnis am Ende werden nur die gängigen Quellenausgaben, Nachschlagwerke und Kommentarreihen mit einer Kurzcharakteristik aufgeführt. Die Fußnoten nennen grundlegende oder weiterführende Literatur, teilweise auch Titel zu Einzelfragen, die im Literaturverzeichnis nicht wiederholt werden. Die Auswahl der Sekundärliteratur kann aus der unübersehbaren Menge an Publikationen wirklich nur einige Werke bieten. Wir machen auch auf wichtige Publikationen aufmerksam, die außerhalb des deutschen Sprachraums entstanden sind und beachtet zu werden verdienen. Der Gebrauch der Abkürzungen für Zeitschriften und Bücher- bzw. Kommentarreihen folgt S. M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (Berlin / New York 21992), die antiken Texte sind nach dem im Handwörterbuch „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (4. Auflage) benutzten System zitiert. Der RGG4 entsprechen auch die anderen Abkürzungen (s. u.) sowie die Umschrift griechischer und hebräischer Worte. Nur das Abkürzungsverzeichnis der Kommentarreihen bieten wir im vollen Umfang, da die Kommentare nach den Reihen zitiert sind, also nicht mit vollen Titeln. Bibelzitate sind meist der revidierten Lutherbibel (1984) entnommen (gelegentlich mit kleineren Abweichungen). Petit gesetzte Abschnitte enthalten weiterführende Angaben, die über den fortlaufenden Gedankengang hinausgehen, für das Verständnis aber nützlich sind, z. B. detailliertere Begründungen, historische Hintergrundinformationen, Positionen der Forschungsgeschichte oder Ausblicke auf verwandte Gedanken und Neuakzentuierungen in anderen Schriften des Neuen Testaments. Prag, den 13. 11. 2006

Petr Pokorný

Inhaltsübersicht

1 Hinführung 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Zur Geschichte der Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur gegenwärtigen Bedeutung der Einleitungswissenschaft. . . . Hermeneutische Vorüberlegungen: Die Funktion der Sprache . . Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wesen der Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 11 12 18 28

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments 2.1 Die jüdische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die hellenistische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32 52

3 Das Neue Testament als Kanon 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die theologischen Voraussetzungen des christlichen Kanons. . . Die Idee des christlichen Kanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons . . . . . . . . . . . . . Die Abgrenzung des Kanons und die Beziehung zur jüdischen Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Reihenfolge und Bezeichnung der einzelnen Bücher(gruppen) .

63 65 69 74 78 83

4 Der Text des Neuen Testaments 4.1 Das Schreiben in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der Urtext des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 1: Zur Kapitel- und Verseinteilung des neutestamentlichen Texts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88 91 104 111

5 Die paulinischen Briefe 5.1 Der Brief als Ersatz für die persönliche Anwesenheit des Apostels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Ausrichtung auf die Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Das Vorlesen im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die Briefe als Kommunikationsmedium der Kirche (zur Ekklesiologie). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

116 117 117 118

XII

Inhaltsübersicht

5.5 Die Intertextualität der Briefe (Voraussetzungen christlicher Theologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln) . . . . . . Exkurs 2: Stellvertretung, Sühne, Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Briefgattungen und Briefformular . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Die authentischen Paulusbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9 Das paulinische Briefkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10 Der 1. Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.11 Der Galaterbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12 Der 1. Korintherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.13 Der 2. Korintherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14 Der Philipperbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.15 Der Philemonbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.16 Der Römerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121 124 160 171 178 194 196 207 230 253 272 288 292

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte 6.1 Die synoptische Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 3: Die Traditionskritik der formgeschichtlichen Schule . . . . . Exkurs 4: Die Redaktionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Das Markusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 5: Die vormarkinische Passionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 6: Wunder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 7: Gleichnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Das Matthäusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte . . . . . . . . . . .

321 324 337 363 378 383 395 429 479

7 Die johanneischen Schriften 7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Johannesoffenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 8: Die Apokalyptik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 9: Der Kaiserkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

535 587 595 610

8 Die Schriften des Paulinismus (einschließlich Jakobusbrief) 8.1 Die Paulusschulen und ihre Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 10: Das Problem der Pseudepigraphie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Der Kolosser- und der Epheserbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 11: Die Haustafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Der 2. Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Die Pastoralbriefe (1. und 2. Timotheusbrief, Titusbrief) . . . . . . Exkurs 12: Die Kirche und ihre Ämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

616 619 623 635 648 654 667

Inhaltsübersicht

XIII

Der Hebräerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der 1. Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Judasbrief und der 2. Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Jakobusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

672 689 705 715

9 Schlussbetrachtung: Gemeinsames und Unterschiede in den neutestamentlichen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

729

10 Zeittafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

745

11 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

752

12 Quellenausgaben, Nachschlagwerke und Kommentarreihen . . . . .

763

13 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

769

8.5 8.6 8.7 8.8

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Abbildungen und Schemata im Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXV

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVII 1 Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1.1 Zur Geschichte der Disziplin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zur gegenwärtigen Bedeutung der Einleitungswissenschaft . . . 1.3 Hermeneutische Vorüberlegungen: Die Funktion der Sprache . . 1.3.1 Die Sprache als Organisation der Erfahrung . . . . . . . . . . 1.3.2 Sprache als Weltgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Der metaphorische Charakter religiöser Rede . . . . . . . . . 1.3.4 Metapher und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Die literarische Eigenart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Die Faktoren der Textlektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Der Text als Zeugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Die Authentizität des Zeugnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.5 Die theologische Funktion der historischen Kritik . . . . . 1.4.6 Das Vorverständnis des Lesers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Das Wesen der Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 11 12 12 14 15 17 18 18 19 21 23 24 27 28

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments . . . . . . .

32

2.1 Die jüdische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Bibel der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Bibel und Talmud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Das Alte und das Neue Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Die Septuaginta und die Sprache des Neuen Testaments 2.1.5 Der alttestamentliche Kanon und das Problem der Biblischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die hellenistische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Jüdische Apokalyptik und hellenistische Kultur . . . . . . . 2.2.2 Urchristentum und Hellenismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Griechische Sammlungen von Sentenzen . . . . . . . . . . . .

32 33 36 40 44 49 52 52 56 58

XVI

Inhaltsverzeichnis

2.2.4 Biographie und Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Dramatische Elemente im Neuen Testament . . . . . . . . . . 2.2.6 Rhetorik und Epistolographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59 60 61

3 Das Neue Testament als Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die theologischen Voraussetzungen des christlichen Kanons. . . Die Idee des christlichen Kanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons . . . . . . . . . . . . Die Abgrenzung des Kanons und die Beziehung zur jüdischen Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Reihenfolge und Bezeichnung der einzelnen Bücher(gruppen) .

63 65 69 74

4 Der Text des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

4.1 Das Schreiben in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der Urtext des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Handschriften auf Papyrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die Majuskelhandschriften auf Pergament . . . . . . . . . . . 4.2.3 Die Minuskelhandschriften und Lektionare . . . . . . . . . . 4.2.4 Zitate in der altchristlichen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Alte Übersetzungen des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . 4.2.5.1 Lateinische Übersetzungen I: Vetus Latina . . . 4.2.5.2 Lateinische Übersetzungen II: Vulgata . . . . . . . 4.2.5.3 Syrische, koptische und andere alte Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Die Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Der gegenwärtige Stand der Erforschung des biblischen Texts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Die bekanntesten Textabweichungen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Die neuzeitlichen Editionen des griechischen Texts . . . . Exkurs 1: Zur Kapitel- und Verseinteilung des neutestamentlichen Texts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Das theologische Problem der Textrekonstruktion . . . . .

88 91 93 95 98 99 99 100 101

5 Die paulinischen Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

5.1 Der Brief als Ersatz für die persönliche Anwesenheit des Apostels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Ausrichtung auf die Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Das Vorlesen im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

116 117 117

78 83

102 104 104 106 110 110 111 113

Inhaltsverzeichnis

5.4 Die Briefe als Kommunikationsmedium der Kirche (zur Ekklesiologie). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die Intertextualität der Briefe (Voraussetzungen christlicher Theologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Schriftzitate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1.1 Die Septuaginta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1.2 Griechische (hellenistische) Literatur . . . . . . . . 5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln) . . . . . . 5.6.1 Die christologischen Hoheitstitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.1 Christus – Messias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.2 Sohn Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.3 Herr – Kyrios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.4 Menschensohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1.5 Die Bedeutung der christologischen Titel . . . . . 5.6.2 Traditionsformen der Liturgie, Mission und Katechese . 5.6.2.1 Die Pistisformel in 1Kor 15,3b–5: Tod und Auferstehung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2.2 Die Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2.3 Das Herrnmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 2: Stellvertretung, Sühne, Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2.4 Christushymnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2.5 Die Überlieferung von Worten und Taten Jesu . 5.7 Briefgattungen und Briefformular . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Die authentischen Paulusbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8.1 Das Problem der paulinischen Chronologie . . . . . . . . . . 5.8.2 Die Biographie des Paulus und ihr Verhältnis zu seiner Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9 Das paulinische Briefkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10 Der 1. Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10.2 Die Todesfälle in Thessalonich und ihre theologische Bewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10.3 Die Apokalyptik und das paulinische Evangelium . . . . . 5.10.4 Zeit und Ort der Abfassung, Adressaten und Integrität . . 5.11 Der Galaterbrief. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.11.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.11.2 Rhetorische Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.11.3 Die Theologie: Die Gegner und die Rechtfer tigungslehre 5.11.4 Die ekklesiologische Bedeutung der Rechtfertigungslehre 5.11.5 Abfassungszeit, Entstehungsort und Adressaten . . . . . . . 5.12 Der 1. Korintherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XVII

118 121 121 122 123 124 124 125 128 131 132 133 134 134 137 152 160 168 169 171 178 178 181 194 196 197 199 201 206 207 208 213 214 221 228 230

XVIII

Inhaltsverzeichnis

5.12.1 Anlass, Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12.2 Die Frage der literarischen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12.3 Verfasser, Entstehungszeit und die Gemeinde in Korinth 5.12.4 Gruppierungen in der korinthischen Gemeinde. . . . . . . . 5.12.5 Kreuzestheologie, Leib Christi, Auferstehungshoffnung Der 2. Korintherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.13.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.13.2 Integrität, Anlass, Zeit und Ort(e) der Abfassung . . . . . . 5.13.3 Theologie und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.13.3.1 Zu 2Kor 1–9: Herrlichkeit, Leiden, Versöhnung 5.13.3.2 Zu 2Kor 10–13: Kraft in Schwachheit . . . . . . . . Der Philipperbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14.2 Verfasser, Adressaten und literarische Integrität . . . . . . 5.14.3 Die Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14.4 Das theologische Anliegen: Leben im Angesicht des Heils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14.5 Der Christushymnus in Phil 2,6–11 . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14.6 Die Brücke zu den Deuteropaulinen . . . . . . . . . . . . . . . . 5.14.7 Ort und Zeit der Abfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Philemonbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.15.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.15.2 Ort und Umstände der Abfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.15.3 Ein Testfall theologischer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Römerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.16.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.16.2 Die Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.16.3 Text, Integrität, Abfassungsort und -zeit . . . . . . . . . . . . . 5.16.4 Anlass und Zweck des Schreibens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.16.5 Die Theologie: Rechtfertigungslehre, Anthropologie, Israel, staatliche Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

230 237 239 240 244 253 255 259 262 262 269 272 272 275 277

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte . . . . . . . .

321

6.1 Die synoptische Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Die Entdeckung der mündlichen Tradition . . . . . . . . . . . Exkurs 3: Die Traditionskritik der formgeschichtlichen Schule . . . . . 6.1.3 Die Fragmenten- und Urevangeliumshypothese . . . . . . . 6.1.4 Benutzungshypothesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

321 321 322 324 329 330

5.13

5.14

5.15

5.16

279 281 286 287 288 289 289 290 292 293 300 302 303 306

Inhaltsverzeichnis

6.1.4.1 Literarische Abhängigkeit I: Die GriesbachHypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4.2 Literarische Abhängigkeit II: Die Zweiquellentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 4: Die Redaktionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5 Die Logienquelle (Q) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5.1 Eine Übersicht über den rekonstruierten Inhalt . 6.1.5.2 Die Charakteristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5.3 Die Theologie der Logienquelle (und ihre Etappen?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5.4 Die Logienquelle und das Markusevangelium . . 6.1.6 Die anderen Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6.1 Das Thomasevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6.2 Das Petrusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6.3 Das Geheime Markusevangelium . . . . . . . . . . . 6.1.6.4 Papyrus Egerton 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6.5 Andere apokryphe Evangelien . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Das Markusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Verfasser, Entstehungsort, Datierung und intendierter Leserkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Ältere Traditionen und Vorstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 5: Die vormarkinische Passionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Sprache und Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.6 Gattung und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 6: Wunder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 7: Gleichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.6.1 Das „Evangelium“ als Überschrift . . . . . . . . . . . 6.2.7 Die Christologie des Markus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7.1 Sohn Davids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7.2 Menschensohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7.3 Sohn Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7.4 Das Messiasgeheimnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7.5 Die markinische Kreuzestheologie . . . . . . . . . . 6.2.8 Jüngerschaft als Nachfolge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.9 Das Liebesgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.10 Der offene Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Das Matthäusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Sprache, Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIX

330 333 337 339 340 342 345 348 351 352 357 358 359 361 363 365 372 374 377 378 381 382 383 395 399 404 405 407 409 412 415 417 425 428 429 430 439

XX

Inhaltsverzeichnis

6.3.3 Die Theologie des Matthäus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.1 Die Überschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.2 Die fünf Reden Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.3 Die Erfüllungszitate und die matthäische Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.4 Die Bedeutung des Anfangs und des Schlusses . 6.3.4 Der Abfassungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4.1 Die Auseinandersetzung mit den Pharisäern und den Paulinisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4.2 Die Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4.3 Die Ekklesiologie (einschließlich Vaterunser) . . 6.3.5 Verfasser, Zeit und Ort der Entstehung . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . 6.4.1 Das lukanische Doppelwerk, seine Absicht und seine Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Sprache und Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3.1 Das Lukasevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3.2 Die Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.4 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5 Die Theologie des Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5.1 Das Zeitverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5.2 Das Volk Gottes (Ekklesiologie und Pneumatologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5.3 Christologie und Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5.4 Die Sozialethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.6 Widmung, Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung . . . . . . 7 Die johanneischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1

Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.1 Das Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.2 Die Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Die Beziehung zu den Synoptikern . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Quellen und religionsgeschichtlicher Hintergrund . . . . . 7.1.5 Die Theologie des Johannesevangeliums . . . . . . . . . . . . 7.1.5.1 Das (fleischgewordene) Wort: Christologie und Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.5.2 Pneumatologie und Eschatologie . . . . . . . . . . . .

439 440 441 444 449 452 453 465 469 477 479 481 486 488 488 494 498 499 499 503 514 527 530 535 535 537 537 543 544 546 550 555 555 566

Inhaltsverzeichnis

XXI

7.1.5.3 Ekklesiologie und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.6 Johanneische Schule, Verfasser und Entstehungszeit . . . 7.1.7 Zur Theologie der Johannesbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Johannesoffenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Text, Sprache und literarische Gattung . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 8: Die Apokalyptik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Auslegungstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Eschatologie und Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.5 Die Soteriologie und das paulinische Erbe . . . . . . . . . . . 7.2.6 Die himmlische Liturgie, die Kirche und ihre Ethik . . . . Exkurs 9: Der Kaiserkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.7 Verfasser, Ort, Zeit, Anlass und Zweck der Abfassung . .

569 576 585 587 588 592 595 599 600 605 608 610 612

8 Die Schriften des Paulinismus (einschließlich Jakobusbrief) . . . . .

616

8.1 Die Paulusschulen und ihre Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 10: Das Problem der Pseudepigraphie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Der Kolosser- und der Epheserbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1.1 Der Kolosserbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1.2 Der Epheserbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Die Textgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Die Stellung des Kolosser- und des Epheserbriefs im Corpus Paulinum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4 Die gemeinsamen ekklesiologischen Tendenzen . . . . . . Exkurs 11: Die Haustafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.5 Die christologische These des Kolosserbriefs . . . . . . . . . 8.2.6 Literarische Form, Adressaten, Abfassungszeit und -ort des Kolosserbriefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.7 Die ekklesiologische Herausforderung im Epheserbrief . 8.2.8 Adressaten, Verfasser, Entstehungszeit und -ort des Epheserbriefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Der 2. Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Gliederung, Inhalt und die Beziehung zum 1. Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Das Anliegen: Wider die Faulheit bei der Parusieerwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung. . . . . . . . . . . . . . . 8.3.4 Wirkungsgeschichte und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Die Pastoralbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

616 619 623 625 625 627 629 630 633 635 637 641 642 646 648 649 650 653 654 654

XXII

Inhaltsverzeichnis

8.4.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1.1 Der 1. Timotheusbrief. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1.2 Der Titusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1.3 Der 2. Timotheusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Bezeugung, Intention, Entstehung und Verfasser . . . . . . Exkurs 12: Die Kirche und ihre Ämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Die Stellung in der Geschichte des Paulinismus . . . . . . . 8.5 Der Hebräerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Text, literarischer Charakter und verarbeitete Traditionen 8.5.3 Die Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.4 Adressaten, Verfasser, Ort und Zeit der Entstehung . . . . 8.5.5 Die Stellung im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Der 1. Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.2 Text, Adressaten, Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.3 Die theologische Bewältigung der sozialen und politischen Bedrohungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.4 Verfasser, Ort und Zeit der Entstehung . . . . . . . . . . . . . . 8.7 Der Judasbrief und der 2. Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7.1 Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7.1.1 Der Judasbrief. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7.1.2 Der 2. Petrusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.7.2 Die Auseinandersetzung mit der Häresie. . . . . . . . . . . . . 8.7.3 Verfasser, Abhängigkeit, Adressaten, Zeit und Ort der Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8 Der Jakobusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8.1 Inhalt, Gattung und Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8.2 Theologische Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.8.3 Autor, Ort und Zeit der Abfassung, Rezeptionsgeschichte

655 656 659 660 661 667 669 672 673 676 679 687 689 689 690 692 694 702 705 706 706 706 708 712 715 716 719 725

9 Schlussbetrachtung: Gemeinsames und Unterschiede in den neutestamentlichen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

729

10 Zeittafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

745

10.1 Chronologische Übersicht zur neutestamentlichen Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Geographische Übersicht zur Geschichte des Urchristentums . .

745 750

11 Glossar (Erklärung von Fachausdrücken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

752

Inhaltsverzeichnis

12 Quellenausgaben, Nachschlagwerke und Kommentarreihen . . . . 12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6 12.7

XXIII

763

Bibelausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apokryphen, Pseudepigraphen und jüdische Texte. . . . . . . . . . . Christliche Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nag Hammadi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textsammlungen zur Umwelt des Neuen Testaments . . . . . . . . Nachschlagwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Kommentarreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

763 764 766 766 766 767 768

13 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

769

13.1 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

769 782

Abbildungen und Schemata im Text

1. Ein semantisches Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Faktoren der Textlektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Großbuchstaben (sog. Majuskeln) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Papyrus Bodmer XVII (p74; Apg 15,23–28), 7. Jh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Codex Sinaiticus (a, 01; Ende des Lukasevangeliums), 4. Jh. . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Codex Vaticanus (B, 03; Joh 1,1-13), 4. Jh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die „Königin der Minuskeln“ (33; Schluss des Römerbriefs), 9. Jh. . . . . . . . . . . . 8. Stammbaum der Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die neutestamentliche Herrnmahlsüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Die christologische Neuinterpretation apokalyptischer Erwartungen bei Paulus . 11. Die Stellung der Tora im Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Christus und die Tora bei Paulus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Verheißung, Tora und Evangelium nach Gal 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Der Christushymnus in Phil 2,6-11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Synopse der ersten drei Evangelien (Synopsis Quattuor Evangeliorum, hg. v. Kurt Aland, 15., revidierte Auflage, © 1996 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart) 16. Die Griesbach-Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Die Annahme der Markusprioriät durch Karl Lachmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Die Zweiquellentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Erweiterungen der Zweiquellentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Der Umfang der verarbeiteten Quellen bei den Synoptikern . . . . . . . . . . . . . . . . . 21. Datierungsübersicht zu den Evangelien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22. Synopse von Texten der Logienquelle mit Parallelen aus den Evangelien, Apokryphen und Kirchenvätern (Synopsis Quattuor Evangeliorum, hg. v. Kurt Aland, 15., revidierte Auflage, © 1996 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart) . . . 23. Das Verhältnis des Thomasevangeliums zur synoptischen Tradition. . . . . . . . . . . 24. Die unterschiedliche Akzentuierung des Liebesgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. Der Fixpunkt des Matthäusevangeliums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26. Rylands-Papyrus (p52; Joh 18,31–33.37 f.), um 125 n. Chr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27. Der Verfasser des Johannesevangeliums und der Johannesbriefe . . . . . . . . . . . . . 28. Die Beziehungen zwischen den paulinischen und deuteropaulinischen Briefen . . 29. Die Beziehungen des Judas- und 2. Petrusbriefs zum Corpus Paulinum . . . . . . . .

13 20 90 94 96 97 98 105 154 204 215 216 225 283 322 331 334 334 335 335 337

341 355 427 452 545 584 633 709

Abkürzungen

Abkürzungen biblischer Bücher und anderer Quellen AT: Gen, Ex, Lev, Num, Lev, Dtn, Jos, Ri, Rut, 1Sam, 2Sam, 1Kön, 2Kön, 1Chr, 2Chr, Esr, Neh, Est, Hiob, Ps, Spr, Prd, Hld, Jes, Jer, Ez, Dan, Hos, Joel, Am, Ob, Jona, Mi, Nah, Hab, Zeph, Hag, Sach, Mal Apokryphen: Jud, SapSal, Tob, Sir, Bar, 1Makk, 2Makk NT: Mt, Mk, Lk, Joh, Apg, Röm, 1Kor, 2Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1Thess, 2Thess, 1Tim, 2Tim, Tit, Phlm, Hebr, Jak, 1Petr, 2Petr, 1Joh, 2Joh, 3Joh, Jud, Apk Past: Pastoralbriefe (1-2Tim, Tit)

Alttestamentliche Apokryphen und Pseudepigraphen, jüdische Schriften ApkAbr AssMos 2Bar 3Bar 1Hen 2Hen JosAs Jub OdSal PsSal Sib TestXII TestHiob

Apokalypse Abrahams Assumptio (auch: Testament) des Mose 2. (syrischer) Baruch 3. (griechischer) Baruch 1. (äthiopischer) Henoch 2. (slawischer) Henoch Joseph und Aseneth Jubiläenbuch Oden Salomos Psalmen Salomos Sibyllinen Testamente der zwölf Patriarchen Testament Hiobs

Apostolische Väter Barn 1Clem 2Clem Did Herm IgnEph usw. Polyk

Barnabasbrief 1. Clemensbrief 2. Clemensbrief Didache Hirt des Hermas Briefe des Ignatius an die Epheser, Magnesier, Traller, Römer, Philadelphier, Smyrnäer, Polykarp Brief des Polykarp von Smyrna an die Philipper

XXVIII

Abkürzungen

Neutestamentliche Apokryphen ApkJak ApkPetr EvThom

Jakobusapokalypse Petrusapokalypse Thomasevangelium

Antike Autoren Eus. h.e. Iust. Tacit. Tert.

Euseb, historia ecclesiastica (Kirchengeschichte) Justin Tacitus Tertullian

Abkürzungen der Kommentarreihen AncB ANTC BECNT BNTC CNT EKK Hermeneia HNT HTA HThK Interp ICC NBC KEK NCBC NCeB NEB NIBC NIC NIGTC NTD ÖTK RNT Sacra pagina SKK.NT

Anchor Bible, Garden City, NY Abingdon New Testament Commentaries, Nashville, TN Baker Exegetical Commentary on the New Testament, Grand Rapids, MI Black’s New Testament Commentaries, London Commentaire du Nouveau Testament, Neuchâtel Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Neukirchen / Zürich Hermeneia. A Critical and Historical Commentary on the Bible, Philadelphia, PA Handbuch zum Neuen Testament, Tübingen HistorischTheologische Auslegung, Wuppertal / Giessen Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Freiburg, Br. Interpretation. A Bible Commentary for Teaching and Preaching, Louisville, KT International Critical Commentary (of the Holy Scriptures …), Edinburgh New Bible Commentary, Cambridge Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, Göttingen The New Century Bible Commentary, Grand Rapids, MI New Century Bible, London Neue Echter Bibel, Würzburg New International Biblical Commentary, Peabody, MS New International Commentary on the New Testament, Grand Rapids, MI New International Greek Testament Commentary, Exeter Das Neue Testament Deutsch. Neues Göttinger Bibelwerk, Göttingen Ökumenischer Taschenbuch-Kommentar zum Neuen Testament, Gütersloh / Würzburg Regensburger Neues Testament, Regensburg Sacra pagina, Collegeville Stuttgarter kleiner Kommentar. Neues Testament, Stuttgart

Abkürzungen ThHK ThKNT WBC ZBK

XXIX

Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, Leipzig (Berlin 1948–1992) Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Stuttgart World Biblical Commentary, Dallas, TX Zürcher Bibelkommentare, Zürich

Sonstige Abkürzungen apol. aram. BSLK DH di ff. dt. DÜ EG EKD ep. FS griech. inscr. hebr. kopt. KS lat. LkS MtS ND NHC NTApo par. Pers. PG Pl. Q QLk QMT röm. Sg. sog. z.St. v.l.

(griech. apologia) Apologie, Verteidigung aramäisch Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 1930; 101986 Heinrich Denzinger / Peter Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg u. a. 402005 differierend, verschieden, voneinander abweichend deutsch Deutsche Übersetzung Evangelisches Gesangbuch Evangelische Kirche in Deutschland (lat. epistula) Brief Festschrift griechisch (lat. inscriptio) Überschrift hebräisch koptisch Kleine Schriften lateinisch Sondergut des Lukasevangeliums Sondergut des Matthäusevangeliums Nachdruck Nag Hammadi Codex Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen I-II, Tübingen 61990–1997 parallel Person Patrologia Graeca, hg. v. Jacques-Paul Migne, Paris 1857ff. Plural Logienquelle Lukasfassung der Logienquelle Matthäusfassung der Logienquelle römisch Singular sogenannt zur genannten (Bibel-)Stelle (lat. varia lectio) abweichende Lesart

1

Hinführung

 Neuere Lehrbücher der Einleitung: Alfred Wikenhauser / Josef Schmid, Einleitung in das Neue Testament, Freiburg i. Br. 61972; Werner Georg Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 211983; Willi Marxsen, Einleitung in das Neue Testament, Gütersloh 41978; Eduard Lohse, Die Entstehung des Neuen Testaments (ThW 4), Stuttgart 51991; Norman Perrin, The New Testament. An Introduction, New York 1974; Hans-Martin Schenke / Karl M. Fischer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments I–II, Berlin 1978–1979; Helmut Köster, Einführung in das Neue Testament, Berlin / New York 1980; Robert F. Collins, Introduction to the New Testament, Garden City, NY 1983; Brevard S. Childs, The New Testament as Canon. An Introduction, New York 1984; Eduard Schweizer, Theologische Einleitung in das Neue Testament (NTD.E 2), Göttingen 1989; Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB), Göttingen 52005; Jürgen Roloff, Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 1995; Raymond E. Brown, An Introduction to the New Testament, New York / London etc. 1997; Ingo Broer, Einleitung in das Neue Testament (NEB), 2 Bde., Würzburg 1998–2001; Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.), Grundinformation Neues Testament, Göttingen 2000, 22003; Paul J. Achtemeier / Joel B. Green / Marianne Meye Thompson, Introducing the New Testament. Its Literature and Theology, Grand Rapids, MI / Cambridge, UK 2001; Carl R. Holladay, A Critical Introduction to the New Testament, Nashville 2005.  Zur neutestamentlichen Theologie: Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984; Werner Georg Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen (GNT 3), Göttingen 1969 (mehrere Neudrucke); Leonhard Goppelt, Theologie des Neuen Testaments (UTB), Göttingen 31980 (urspr. 2Bde. Berlin 1975/76); Eduard Schweizer, Theologische Einleitung (s.o.); Alfons Weiser, Theologie des Neuen Testaments I–II, Stuttgart 1993; Raymond E. Brown, An Introduction to New Testament Christology, Mahwah, NJ 1994; Klaus Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums (UTB), Tübingen, Basel 21995; Hans Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments I–III, Göttingen 1990, 1993, 1995; Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments I–II, Göttingen 1992, 1999; Georg Strecker (/ Wilhelm Horn), Theologie des Neuen Testaments, Berlin / New York 1996; Ulrich Wilckens, Theologie des Neuen Testaments, I,1 ff., Neukirchen-Vluyn 2002 ff.; Ferdinand Hahn, Theologie des Neuen Testaments I–II, Tübingen 2003.

1.1

Zur Geschichte der Disziplin

 Werner Georg Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, Freiburg, München 21970; ders., Das Neue Testament im 20. Jahrhundert (SBS 50), Stuttgart 1970; John K. Riches, A Century of New Testament Study, Cambridge 1993.

Unsere Darstellung des Neuen Testaments steht in der Tradition der Einleitungen, beschränkt sich aber nicht auf die Frage nach den Entstehungsverhältnissen der ein-

2

1 Hinführung

zelnen Schriften, sondern soll vor allem einen Beitrag zum Verständnis ihrer Theologie leisten. Deshalb beginnen wir mit einem knappen Überblick über die Geschichte der Einleitungen und der Theologien des Neuen Testaments. a) Die Entstehung der Einleitungswissenschaft: Die Einleitungswissenschaft, in diesem Fall die „Einleitung in das Neue Testament“, hat sich in der Neuzeit als historische Disziplin durchgesetzt. Ihr Ziel ist es, die Entstehungssituation eines Texts zu erhellen. Deshalb gehört sie zur umfassenden Aufgabe der Textinterpretation. Die Vorgeschichte dieser Disziplin reicht bis in die Alte Kirche zurück, die seit Origenes († 254) Studien zum ursprünglichen Wortlaut des Bibeltexts (Textkritik oder Textologie) durchführte. In der Zeit der Kanonbildung beschäftigten sich die christlichen Lehrer auch mit der Entstehung einzelner neutestamentlicher Schriften (Papias, Kanon Muratori usw.; § 3). Zu einer Disziplin des Universitätsstudiums wurde die Einleitungswissenschaft erst in der Neuzeit. Ermöglicht wurde die Entfaltung der protestantischen Bibelwissenschaft im 18. und 19. Jh. wahrscheinlich nicht so sehr durch die reformatorische Lehre nach dem Prinzip „sola scriptura“, sondern eher durch den Geist der Aufklärung mit der kritischen Infragestellung der Autorität des kirchlichen Amts und der dogmatischen Tradition. Ein wirklicher Vorläufer der Einleitungswissenschaft war der französische Oratorianer Richard Simon. Er verfasste im Jahr 1678 als erste umfassende Studie dieser Art eine „Kritische Geschichte des Alten Testaments“, in der er mit der Analyse des Texts und der Sprache auch historisch-kritische Beobachtungen verband. So formulierte er z. B. die Einsicht, dass die Evangelienüberschriften nicht von den Evangelisten stammen. Die ersten neutestamentlichen Einleitungen schrieben der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis (Einleitung in die göttlichen Schriften des Neuen Bundes, 1750) und der Hallenser Theologe Johann Salomo Semler (Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, 1771–1775). Die inneren Voraussetzungen ihres Vorhabens formulierten sie unterschiedlich: Michaelis prüfte mit historischen Mitteln die Apostolizität der einzelnen biblischen Schriften, d. h. die Frage, ob sie wirklich von einem Apostel verfasst sind und die apostolische Autorität zu Recht beanspruchen konnten. Semler dagegen begann, die Gleichsetzung von „Heiliger Schrift“ und „Wort Gottes“ aufzulösen und zwischen dem Text als einer historischen Größe und der „christlichen wahren Religion“ mit ihrer Moral zu unterscheiden. Ihre „Gegenstände“ (z. B. die Rechtfertigung) müssen demnach historisch richtig erkannt werden, um von ihnen in einer verständlichen Weise reden zu können. Erst dann kann die Wirkung Gottes erwartet werden. Damit handelte es sich bei Semler um eine Neuinterpretation der Lehre von der Inspiration der Schrift, durch die er die Grundlagen der historisch-kritischen Exegese formulierte und zugleich die Hauptaufgaben der Disziplin umriss: Zum einen wurden die Texte als von Menschen verfasste Schriften

1.1 Zur Geschichte der Disziplin

3

angesehen, für deren Verständnis die Entstehungsbedingungen historisch erhellt werden müssen, zum anderen wurde das geistliche Verstehen vor allem als ein inneres Geschehen aufgefasst.1 Nach Meinung einiger Forscher des 18. Jh.s stand dieses innere Verstehen mit der Bekenntnistradition der Kirche in Einklang, andere sahen darin allein eine Angelegenheit des individuellen Gewissens. Diese beiden Grundlinien gehören zu jeder Auslegung, die eine historische und eine systematisch reflektierende, hermeneutische Dimension hat. Semler argumentierte gegen die kritischen Überlegungen, die Gotthold Ephraim Lessing in den Jahren 1774–1778 als Fragmente eines anonymen Autors publizierte. Der Name des Anonymus lautete, wie später bekannt wurde, Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Dieser zog im Sinn des englischen Deismus eine scharfe Trennungslinie zwischen Jesus als Propheten einer natürlichen, ethisch orientierten Religion und der in den Evangelien vertretenen Lehre von Jesus als einem göttlichen leidenden Erlöser. So einseitig Reimarus in seiner radikalen Kritik am Offenbarungscharakter der biblischen Schriften und in seiner historischen Rekonstruktion der natürlichen, ethischen Religion vorging, so einseitig war Semler in seiner Vorordnung des innerlich vernommenen, geistigen Sinns der Schrift vor den historischen Befund.2 An diesen Beispielen lassen sich die methodischen Probleme der Deutung gut illustrieren, die sowohl den geschichtlichen Abstand zur Entstehungssituation als auch den theologischen Aussagegehalt der Texte ernst zu nehmen hat. Den gesamten hermeneutischen Prozess zu analysieren, ist eine der großen Aufgaben jeder Theologie bzw. Philosophie. b) Die Geschichte der Einleitungswissenschaft: Die Geschichte der Disziplin können wir uns nur durch eine kurze Charakterisierung der Hauptprobleme und ihrer Lösungen vergegenwärtigen. Ausgangspunkt für die Einleitungswissenschaft war die Unterscheidung, die Johann Philipp Gabler 1787 in seiner Antrittsvorlesung forderte zwischen der biblischen Theologie als einer historischen Disziplin, die den Schriftsinn zu erheben hat, und der dogmatischen Theologie als einer didaktischen Aufgabe, die die göttlichen Dinge in zeitgemäßer Weise lehren soll. In der Folgezeit war die historische Arbeit vielfach durch eine dogmenkritische Tendenz motiviert. Als Begründer der modernen alt- (und neu-)testamentlichen Einleitungswissenschaft gilt Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827). Dieser führte auch den Begriff des Mythos als Ausdruck für die „Sagen der alten Welt in der damaligen sinnlichen Denkart und Sprache“ in die Bibelwissenschaft ein. Die im 19. Jh. entstandenen Einleitungen sind geprägt von der rationalistischen Kritik am Mythos als einem die 1 Vgl. J. S. Semler, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik ..., (1760), zitiert bei W. G. Kümmel, Das Neue Testament, 78 f. 2 Vgl. W. G. Kümmel, Das Neue Testament, 106; ders., Art. Einleitungswissenschaft II, TRE 9, 469–482.

4

1 Hinführung

ganze Welt umfassenden vorwissenschaftlichen Wirklichkeitsverständnis. Einige Autoren untersuchten die Dogmen nicht nur mit einer historisch-kritischen Skepsis, sondern verbanden deren Analyse mit einer spiritualisierenden Neuinterpretation. Diese geistliche Deutung der Glaubensaussagen konnte mit der christlichen Lehre einigermaßen versöhnt werden (Wilhelm Martin Leberecht de Wette 1780–1849). Der entscheidende Ansporn kam von der „Tübinger Schule“, deren Hauptgestalt Ferdinand Christian Baur (1792–1860) war, der bedeutendste Kirchengeschichtler des 19. Jh.s. Er schrieb keine Einleitung im heutigen Sinn, doch in seiner „Untersuchung zur ältesten Kirchengeschichte“ und in anderen Arbeiten unterzog er die Verfasserangaben der neutestamentlichen Schriften einer konsequenten historischen Kritik, in der er z. B. die Abfassung der Pastoralbriefe durch den Apostel Paulus bestritt. Außerdem stellte er die historische Untersuchung der biblischen Schriften in den umfassenden Horizont einer dialektischen Geschichtsphilosophie, die von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1807; Kap. VI) geprägt war: Das Christentum, das sein ursprünglich jüdisches Milieu verlassen hat, wurde nach dieser Sicht in der hellenistischen Umwelt durch die Gnosis als seiner Antithese neu gedeutet und fand im sog. Frühkatholizismus durch die Institutionalisierung des Amtes in der Kirche seine synthetische und lebensfähige Gestalt. Bei Baurs These handelt es sich nicht mehr um eine historische Kritik der Dogmen, wie sie schon 1787 Johann Philipp Gabler durch seine Unterscheidung zwischen der biblischen und der dogmatischen Theologie eingeführt hatte. Bei Baur ging es vielmehr um eine dialektische Interpretation der ganzen Geschichte. Eine solche Deutung ermöglichte es einerseits, die einzelnen Daten zu einem umfassenderen Gesamtbild zusammenzufügen. Andererseits prägte die „Tübinger Schule“ durch ihre Geschichtsphilosophie ein ideologisiertes Bild der Geschichte, das den tatsächlichen Gegebenheiten in vieler Hinsicht deutlich widersprach. Schließlich gab Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910) der Einleitungswissenschaft eine Gestalt, die bis heute aktuell ist. Er legte als erster in seinem „Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament“ (1885) das Material der Disziplin in zwei Teilen dar. Der erste Teil enthielt die allgemeine Einleitung, d. h. die Probleme der Geschichte der Kanonbildung und der Textüberlieferung, im zweiten folgte die spezielle Einleitung in die einzelnen Bücher des Neuen Testaments. Bei der Behandlung des Kanons klammerte er die dogmatischen Fragen absichtlich aus und beschränkte sich ganz auf die historische Aufgabe, die Entstehung der neutestamentlichen Schriftensammlung darzustellen. Dieses Vorgehen ermöglichte es ihm, die kanonischen Schriften als ein Ganzes zu sehen, als Texte, die als Gruppe überliefert wurden, ohne ihre Einheit theologisch begründen zu müssen. Als 1864 die siebte, verbesserte Auflage der „Enzyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften“ des Basler Professors Karl R. Hagenbach (1801–1874) erschien, konnte ihr Verfasser schon 26 monographische Bearbeitungen der Einleitung in das Neue Testament nennen.

1.1 Zur Geschichte der Disziplin

5

Bevor wir uns den seither erschienenen Einleitungen zuwenden, müssen einige Entscheidungen des Lehramtes der römisch-katholischen Kirche erwähnt werden. Nachdem die tiefgreifenden wissenschaftlichen Untersuchungen des französischen Dominikaners Joseph-Marie Lagrange (1855–1938) und anderer Forscher den Widerstand einiger konservativer Repräsentanten der Kirche geweckt hatten, gewannen für die Entfaltung der Einleitungswissenschaft als einer eigenständigen Disziplin die lehramtlichen Äußerungen eine entscheidende Bedeutung. Sie stellten nämlich fest, dass mehrere literarische Gattungen, die die biblischen Schriftsteller benutzen, von den Wahrheiten des Glaubens indirekt, metaphorisch und analog sprechen. Es handelt sich um die Enzyklika „Divino afflante Spiritu“, die Papst Pius XII. im Jahr 1943 veröffentlichte (DH 3825–3831), und um die 1965 erschienene dogmatische Konstitution des II. Vatikanischen Konzils „Dei Verbum“ (DH 4201–4235). Diese Entwicklung gipfelte in dem Dokument der Päpstlichen Bibelkommission „Die Auslegung der Bibel in der Kirche“ aus dem Jahre 1993, das schon die postmoderne Pluralität der Methoden theologisch reflektiert.3 Die theologische Bewertung der gesamten kritischen Bibelwissenschaft ist erst ein Ergebnis der ökumenischen Diskussion des 20. Jh.s. Unter den neueren Einleitungen erschien 1952 erstmalig die „Einleitung in das Neue Testament“ des katholischen Autors Alfred Wikenhauser, deren spätere Ausgaben (ab 1972) Josef Schmid neu bearbeitete. Sie nutzt die durch die römisch-katholische Kirche eröffneten Möglichkeiten zur historischen Kritik und behandelt relativ ausführlich die Textgeschichte. In der Art der historischen Kritik und in der Beschränkung auf die kanonischen Schriften ähnelt dem eben genannten Werk auch die Einleitung von Werner Georg Kümmel, die zuerst 1963 als Neubearbeitung des Lehrbuchs von Paul Feine und Johannes Behm erschien und nach einer gründlichen Neubearbeitung im Jahr 1972 ihre endgültige Gestalt gewann. Kümmel legt den Kanon zugrunde, den er allerdings nur in seiner Bedeutung für die Kirche reflektiert. Die hermeneutischen Voraussetzungen einer Auseinandersetzung mit der geistigen Umwelt, d. h. eine Interpretation des Offenbarungsbegriffs, werden nur ansatzweise erörtert. Eine relativ kurze Einleitung schrieb 1963 Willi Marxsen. Er ging vom kerygmatischen Inhalt der neutestamentlichen Schriften aus, der ihn aber nicht an der konsequent kritischen historischen Arbeit hinderte. Bei seinem existenzbezogenen Vorverständnis war er jedoch nicht bereit, die theologischen Implikationen der Abgrenzung bei der Kanonbildung zu bearbeiten. Einen anderen Weg schlug Philipp Vielhauer in seinem Lehrbuch der „Geschichte der urchristlichen Literatur“ (1975) ein, in dem er auch außerkanonische Schriften der ersten hundert Jahre des Christentums darstellt und die vorliterarischen Traditionen behandelt, die am Anfang der verschiedenen 3

Vgl. zu diesen Dokumenten H.-J. Klauck, Religion und Gesellschaft im frühen Christentum (WUNT 152), Tübingen 2003, 360–393.394–420.

6

1 Hinführung

christlichen Theologien stehen. Die Kanongeschichte fehlt völlig in der zweibändigen Einleitung von Hans-Martin Schenke und Karl Martin Fischer (1978–1979) und wird nur kurz erwähnt in der zuverlässigen Einleitung von Udo Schnelle (1994), die inzwischen als Standardwerk gilt (52005). Die vier zuletzt genannten Werke verzichten auf die Darstellung der Textgeschichte des Neuen Testaments. Ein umfassendes repräsentatives Werk mit ausführlichen Informationen ist die Einleitung (Introduction to the New Testament) des Amerikaners Raymond E. Brown (1997). In jüngerer Zeit hat Gerd Theißen (2000) die Geistes- und Sozialgeschichte des Urchristentums beschrieben und in seiner Konzeption die christliche Religion – wie jede Religion – als ein Zeichensystem dargestellt. Diese Betrachtungsweise versucht die Grundzeugnisse des christlichen Glaubens im Blick auf die innere Logik ihrer Reflexion und Applikation zu erforschen. Denn das Zeichensystem beruft sich auf die Grundaussagen des Glaubens, stellt deren indirekte liturgische Umsetzung dar, spiegelt sich in der sozialen Realität wider und kann sich nicht in direktem Widerspruch zu den Glaubensinhalten entfalten.4 c) Die Theologie des Neuen Testaments: Da unser Überblick über die einzelnen Bücher des Neuen Testaments einen Schwer punkt auf deren Theologie legt, steht dieses Lehrbuch auch in der Tradition der neueren Theologien des Neuen Testaments, wie sie im 20. Jh. Rudolf Bultmann begründete. Seine Theologie des Neuen Testaments5 erschien 1948–1953 in drei Lieferungen. Sie wirkt in der Darstellung der Grundprobleme der neutestamentlichen Theologie und in der Interpretation der Texte bis heute inspirierend. Auf der einen Seite setzt Bultmann sich von den älteren Arbeiten mit ihren immanenten humanistischen Voraussetzungen ab. Auf der anderen Seite schwächt er die Bedeutung des Osterumbruchs ab, den die vorpaulinischen Bekenntnisse hervorheben. Bultmann vertritt die Auffassung, dass die Erscheinungen des Auferstandenen nach Ostern nicht als Mirakel zu verstehen sind, sondern dass es sich um Ereignisse handelt, die den Sieg Jesu über die verdorbene Welt offenbaren (Bultmann sagt: „veranschaulichen“).6 Dass das Kreuz Christi verkündigt wird, d. h. positiv verstanden werden kann, ist ein anderer Ausdruck für die eschatologische Wirklichkeit, mit der die Menschen in der Gestalt Jesu vor und nach Ostern konfrontiert sind. In diesem Sinn ist Bultmann keineswegs ein Vertreter liberaler Kritik an der religiösen Überlieferung. Unter den theologischen Entwürfen wählt er Paulus und Johannes aus. Paulus hat die ältere Auffassung des Todes Jesu als Sühnopfer übernommen und durch seine Deutung die Verkündigung des Gekreuzigten als Weg zur Rechtfertigung des sündigen Menschen vor dem Gericht Gottes neu interpretiert. Die Gnade Gottes versteht 4 5 6

Vgl. G. Theißen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh 2000, 19 f. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984. Ebd. 409.

1.1 Zur Geschichte der Disziplin

7

Bultmann als Mittel, um ein rechtes Verhältnis der Menschen zu Gott herzustellen, das eine Beziehung gläubigen Vertrauens ist. Die von einer starken Endzeiterwartung geprägte paulinische Eschatologie begreift er in einem johanneisch anmutenden Sinn überwiegend präsentisch als Heilserfahrung, die die gegenwärtige Existenz bestimmt. Umgekehrt arbeitet er bei der Interpretation des johanneischen Konzepts der Geschichte Jesu als des offenbarenden Wortes Gottes die Abhängigkeit von der Gnade Gottes in einer Weise heraus, die für die paulinische Theologie charakteristisch ist. Durch diese leichte Verschränkung johanneischer und paulinischer Züge gewinnt Bultmanns Deutung der neutestamentlichen Theologien ihren gemeinsamen Grundton. Sein Werk hat auch Kritik hervorgerufen, vor allem, weil Bultmann die Weltbilder der neutestamentlichen Autoren als mythisch bezeichnete. Dieser Vorwurf beruht auf einem Missverständnis, denn „Mythos“ bedeutet in Bultmanns Begrifflichkeit ein zeitgebundenes Wirklichkeitsverständnis, das der heutigen Erfahrung nicht mehr entspricht und neu interpretiert werden muss. Die Forderung, den Mythos wörtlich zu nehmen, d. h. als eine noch heute angemessene Weise der Wirklichkeitserfassung anzusehen, stellt Bultmann auf die gleiche Stufe mit der Beschneidungsforderung, die von den Gegnern des Paulus zur Bedingung für das Erlangen des Heils erklärt wurde. Bultmann hat einen Weg der Interpretation entworfen, der legitim und keineswegs falsch ist. Aber aus heutiger Sicht handelt es sich um eine verkürzte Deutung, die vor allem die historische und soziale Dimension des Lebens und des Heils unterschätzt. Der Mythos dient der Orientierung des Menschen in der Welt, die sich nicht nur in einem neuen Selbstverständnis auswirkt und also nicht allein existenziell ausgelegt werden darf, sondern auch ethische und soziale Konsequenzen hat. Die orientierende Bedeutung für die Gegenwart muss mit Hilfe von Analogieschlüssen erarbeitet werden. Im Gegensatz zu Bultmann enthält die „Neutestamentliche Theologie“ von Joachim Jeremias (1971) eine ausführliche Rekonstruktion der Lehre Jesu.7 Fast die ganze nachösterliche Christologie ist nach Jeremias’ Urteil in der Lehre Jesu und in seinem Selbstbewusstsein schon in nuce enthalten. Irreversibel ist die Entdeckung, dass das Christentum aus jüdischen Wurzeln entstand – ein Thema, dem später, gegen Ende des 20. Jh.s, mehrere Arbeiten gewidmet wurden.8 Dass Jesus als Jude auch unter hellenistischem Einfluss stand, in der Vorstadt des hellenistischen Zentrums des südlichen Galiläa (Sepphoris) aufwuchs und wahrscheinlich auch griechisch kommunizierte, wird nicht hervorgehoben. Die These, dass die Christologie in der Lehre und im Selbstverständnis Jesu vorweggenommen wurde, führt paradoxerweise – wie bei 7

J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie. 1. Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh

1971. 8

Vgl. z. B. die Diskussion der Neuen Paulusperspektive (§ 5.8.2i).

8

1 Hinführung

Bultmann – zur Abschwächung des Einschnitts, den das Ostergeschehen bedeutet. Nach der Publikation des ersten Bands ist dem Verfasser offensichtlich klar geworden, dass es auf einem solchen Fundament schwierig wäre, die verschiedenen Theologien der neutestamentlichen Autoren als eigenständige Entwürfe darzustellen. Der zweite Band ist nicht erschienen. Ähnlich wie Jeremias hat auch Leonhard Goppelt seine Theologie des Neuen Testaments (1976) konzipiert:9 Der erste Teil ist eine Rekonstruktion des Wirkens Jesu, der zweite Teil behandelt die paulinische Lehre und schließlich das Denken der einzelnen Evangelisten und anderer Bücher des Neuen Testaments. Das Werk gipfelt in einer Darstellung der johanneischen Schriften. Bei aller Kürze, die es dem Verfasser nicht erlaubt, die Theologie der einzelnen Evangelisten umfassender zu entfalten, bietet Goppelt eine Menge sachlicher Beobachtungen. Er versucht die theologischen Schultraditionen räumlich (territorial) zu verorten. Peter Stuhlmacher schrieb eine zweibändige „Biblische Theologie das Neuen Testaments“ (1992, 1999),10 die materialreich in harmonisierender Gestalt viele nützliche Informationen enthält, und zwar unter ständiger Berücksichtigung der jüdischen Bibel. Um eine Biblische Theologie kann es sich bei diesem Werk allerdings nur in einem begrenzten Sinn handeln.11 Denn die Bibel bietet mehrere Theologien, deren Grundaussagen zwar in vieler Hinsicht konvergieren, deren gemeinsame Züge aber nur durch eine systematisch-theologische Reflexion zu erreichen sind (§ 2.1.5; 9a–g). Dessen war sich Hans Hübner in seinem gleichnamigen dreibändigen Werk bewusst (1990–1995).12 Im ersten Band (Prolegomena) stellte er die Grundlinien des möglichen theologischen Diskurses dar. Hier bewegen wir uns schon auf der Grenze zwischen einer Theologie des Neuen Testaments und der systematischen Theologie. Eine solche Gesamtperspektive, die in systematisch-theologischen Überlegungen gipfelt, eröffnet das zweiteilige Werk von Ferdinand Hahn (2002):13 Der erste Band enthält eine „Theologiegeschichte des Urchristentums“, die bei der Botschaft Jesu einsetzt und sich an der Vielfalt der einzelnen Schriften und Überlieferungskomplexe orientiert. Der zweite Band bietet als die eigentliche theologische Leistung eine systematische Zusammenschau der „Einheit des Neuen Testaments“ anhand zentraler Themen. Er würdigt die Entstehung des Kanons als grundlegende Entscheidung der Alten Kirche, appliziert den Begriff der Offenbarung auf die Geschichte Jesu, beschreibt die Entstehung der Kirche, die christliche Ethik und die Eschatologie. 9 10

L. Goppelt, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 1975/76 (31980). P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments 1–2, Göttingen 1992,

1999. 11 Siehe P. Pokorný, Probleme biblischer Theologie (1979), zuletzt in: ders. / J. B. Souček, Bibelauslegung (Lit. § 2.1.3), 109–119. 12 H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments I–III, Göttingen 1990, 1993, 1995. 13 F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments I–II, Tübingen 2002.

1.1 Zur Geschichte der Disziplin

9

Behutsam in den Formulierungen, genau in den exegetischen Schlussfolgerungen und in der theologischen Reflexion, ist sein Werk auf die tragenden Linien konzentriert. Ein Gespräch mit den gegenwärtigen Denkströmungen wagt er zwar nicht, aber die innerkirchlich-theologische Leistung ist so imposant, dass der Leser kein Defizit empfindet. Im Blick auf die Beziehung zwischen Neuem und Altem Testament ist Georg Strecker in seiner Theologie des Neuen Testaments (1996) viel zurückhaltender als die anderen Autoren. Er würde es nicht wagen, eine Biblische Theologie zu schreiben, weil er sachlich von einer Diskontinuität zwischen den beiden Teilen der christlichen Bibel ausgeht und in der Tradition der religionsgeschichtlichen Schule das Urchristentum für ein synkretistisches Phänomen hält, das stark von seiner hellenistischen Umwelt beeinflusst ist.14 Er bietet eine Übersicht über das Material, vermeidet allerdings eine systematische Interpretation. Eine hermeneutisch anregende Christologie des Neuen Testaments hat Martin Karrer (1998) geschrieben.15 Er geht jedoch nur nach Themenkreisen geordnet von den gemeinsamen Grundtendenzen der neutestamentlichen Schriften aus und differenziert zu wenig zwischen den Ansätzen der einzelnen Autoren. Einen neuen christologischen Gesamtentwurf legte Larry W. Hurtado (2003)16 vor, der nach den Einflüssen der religionsgeschichtlichen Schule im 20. Jh. wieder die jüdische Verwurzelung Jesu und der frühen Christenheit ernster nimmt. Für die weitere Forschung grundlegend entfaltet er die Christologie der einzelnen Überlieferungskomplexe (Paulus, Evangelien, johanneische Schriften usw.) in ihren historischen und theologischen Zusammenhängen. Eine umfassende theologische Einführung in die Ekklesiologie des Neuen Testaments schrieb Jürgen Roloff (1993).17 Wegen der liturgischen Funktion der Glaubens- und Bekenntnisformeln bildet für ihn die Christologie den Ausgangspunkt seiner ekklesiologischen Überlegungen zu den einzelnen neutestamentlichen Schriften. Außerdem reflektiert er das Verhältnis zu Israel als eine wichtige, bisher weithin vernachlässigte Fragestellung. Diese Beobachtungen geben einen kleinen Einblick in die komplizierte Aufgabe einer Theologie des Neuen Testaments, deren systematisierendes Interesse nicht selten zu einer Anpassung des theologischen Profils der einzelnen Entwürfe führt. Nachdem die Redaktionsgeschichte gezeigt hat, dass die neutestamentlichen Zeugen selbstständige schöpferische Theologen sind (Exkurs 4), erscheint es uns angemes14

G. Strecker (/ F. W. Horn), Theologie des Neuen Testaments, Berlin / New York 1996, bes. 4–9.22 f.55 ff. u. ö. 15 M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament (NTD.E 11), Göttingen 1998. 16 L. W. Hurtado, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids MI / Cambridge 2003. 17 J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament (NTD.E 10), Göttingen 1993.

10

1 Hinführung

sen, ihre theologischen Konzeptionen im Zusammenhang mit dem literarischen und historischen Ort ihrer Schriften darzustellen. d) Daraus folgt für die Konzeption dieses Lehrbuchs: Das vorliegende Werk ist als Handbuch gedacht, das in einem einzigen Band die notwendigen Informationen für das Verständnis der Schriften des Neuen Testaments darbieten soll. Deswegen müssen wir in einer allgemeinen Einleitung (§ 1–4) zunächst die hermeneutischen Voraussetzungen für die Interpretation der neutestamentlichen Texte zumindest kurz erwähnen (§ 1.2 ff.). Praktisch werden wir die bedeutsamsten Einsichten der Sprachwissenschaft (Linguistik) vorstellen und die möglichen Wege zur Lösung einiger Grundfragen der Hermeneutik andeuten. Gleichzeitig ist diese hermeneutische Vorbesinnung eine schöpferische Arbeit: Die Überprüfung unreflektierter Voraussetzungen der eigenen Interpretation kann für die exegetische Arbeit inspirierend wirken. Für ein angemessenes Verständnis ist auch ein Überblick erforderlich über die historischen Voraussetzungen der jüdischen Tradition und der hellenistischen Kultur mit ihren Einflüssen auf die neutestamentlichen Autoren (§ 2), eine Reflexion der Bedeutung des Kanons (§ 3) sowie eine Einführung in die Geschichte und theologische Relevanz der Textkritik (§ 4). Zeitlich erfolgte die Kanonisierung der Bücher des Neuen Testaments zwar erst, nachdem diese schon ihre literarische Gestalt gewonnen und sich in der Kirche durchgesetzt hatten, und die Probleme der handschriftlichen Überlieferung gehören in eine noch spätere Zeit. Doch dürfte es hilfreich sein, zunächst eine Übersicht über die Entstehung der Sammlung der Bücher zu bieten, die den Kanon des Neuen Testaments bilden. Außerdem halten wir es für sinnvoll, die Textgeschichte vorzuziehen, da die textliche Basis der einzelnen Schriften in den entsprechenden Kapiteln berücksichtigt wird. Nach diesen Vorüberlegungen werden in der speziellen Einleitung (§ 5–8) die einzelnen Schriften ihrer historischen Entstehungsreihenfolge nach behandelt: Wir beginnen mit den sieben authentischen Paulusbriefen (§ 5) als den ältesten neutestamentlichen Schriften aus den 50-er Jahren des 1. Jh.s, konkret mit den sie prägenden Traditionen (Septuaginta, Hoheitstitel, Bekenntnisformeln, liturgische Elemente, Taufe, Herrnmahl, Jesusworte, Briefformular und Lebensgeschichte des Paulus). Dann folgen nach einer Einführung in die synoptische Frage (§ 6.1) Markus (§ 6.2), dessen Evangelium um 70 n. Chr. entstand und den anderen als Vorlage diente, sowie Matthäus (§ 6.3) und Lukas mit der Apostelgeschichte (§ 6.4). An die Synoptiker schließen sich in ihrer Mischung von gattungsmäßiger Verwandtschaft und theologischer Eigenständigkeit die johanneischen Schriften (§ 7) mit dem Johannesevangelium, den Johannesbriefen und der Apokalypse des Johannes an. Der letzte Hauptteil ist den Deuteropaulinen und den katholischen Briefen gewidmet, die großenteils im ausgehenden 1. Jh. entstanden sind und sich in unterschiedlicher Weise mit der paulinischen Tradition auseinandersetzen (§ 8). Am Ende steht als Resümee eine kurze

1.2 Zur gegenwärtigen Bedeutung der Einleitungswissenschaft

11

Schlussbetrachtung (§ 9), die die übereinstimmenden Züge, aber auch die bleibenden Unterschiede zwischen den Schriften des Neuen Testaments festhält. Der Anhang umfasst Zeittafeln (§ 10), ein Glossar zur Erklärung der Fachausdrücke (§ 11), ein Literaturverzeichnis der Quellenausgaben, Nachschlagwerke und Kommentarreihen (§ 12) sowie Stellen- und Sachregister (§ 13).

1.2

Zur gegenwärtigen Bedeutung der Einleitungswissenschaft

Am Beispiel der „Tübinger Schule“ wurde ein Grundpfeiler jeder Textdeutung sichtbar: die Einordnung des Texts in ein größeres Ganzes, in einen Traditionsstrom, der noch in der Gegenwart bedeutend ist, der die Situation des heutigen Menschen beeinflusst und der es ihm ermöglicht, seinen eigenen Ort in der Geschichte zu bestimmen. Eine solche Gesamtinter pretation der neutestamentlichen Schriften und ihrer Sammlung im Kanon ist notwendig als Pendant zur detaillierten Einzelexegese. Ihr dient auch die Einleitungswissenschaft. Früher übten die christlichen Dogmen die Funktion jenes umfassend interpretierenden Paradigmas aus. Später übernahm diese Aufgabe z. B. die hegelsche Sicht der Geschichte. Heute fehlt uns ein solcher integrierender Deutungsrahmen. Wir müssen neu über die Art menschlicher Orientierung in der Geschichte nachdenken, um das Gemeinsame der biblischen Textwelt und unserer erlebten Welt zu entdecken. Deswegen beginnen wir unsere Darstellung mit einer kurzen Erörterung der Grundprobleme der Hermeneutik – der Theorie der Deutung schriftlich fixierter Texte. Die Hermeneutik der biblischen Bücher muss sich mit ihrer Sprachform befassen18 und den Anspruch jener Texte dem Leser gegenüber deutlich machen.19 Schon seit einigen Jahren ist die Bedeutung der Hermeneutik anerkannt, aber sie hat bisher noch keinen festen Platz in der neutestamentlichen Wissenschaft gefunden.

18

Vgl. E. Fuchs, Hermeneutik (Lit. § 1.3) III. In diesem Zusammenhang weise ich auf die Diskussion hin, die durch folgende These von H. Räisänen hervorgerufen wurde. Seiner Meinung nach sollte die Bibel unvoreingenommen untersucht werden, und die Theologie des Neuen Testaments sollte nur innerkirchlich betrieben werden, weil die einzelnen Schriften des Neuen Testaments theologisch nicht einheitlich seien und nur aus der Sicht der Kirche eine Einheit bilden würden (Beyond New Testament Theology: A Story and a Programme, Philadelphia, PA 1990, xviii). Dies ist eine Sicht, die die Rolle der Wirkungsgeschichte nicht wahrnimmt, zu der im Fall der neutestamentlichen Schriften ihre gemeinsame Kanonisierung gehört. Die Kanonisierung bildet das Vorverständnis, das auch nichtchristliche Forscher motiviert, sich für die biblischen Texte zu interessieren. In der Diskussion relativierte P. Balla die These von Räisänen durch den Nachweis der Konvergenz der neutestamentlichen Schriften (Challenges to the New Testament Theology [WUNT II/95], Tübingen 1995, bes. 251–254). 19

12

1 Hinführung

1.3

Hermeneutische Vorüberlegungen: Die Funktion der Sprache

 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (DÜ), Berlin 2 1967; Ernst Fuchs, Hermeneutik, Bad Cannstatt 1954, Tübingen 41970; ders., Marburger Hermeneutik (HUTh 9), Tübingen 1968; Hans W. Frei, The Eclipse of Biblical Narrative, New Haven, CT 1974; Peter Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments (GNT 6), Göttingen 21986; Klaus Berger, Hermeneutik des Neuen Testaments, Gütersloh 1988; Wilhelm Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament, Freiburg u. a. 31993; Günther Figal, Vom Schweigen der Texte, in: ders., Für eine Philosophie von Freiheit und Streit, Tübingen 1994; Jean Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991; Roman Jacobson, Poetik (STW 262), Frankfurt/M. 31993; Robert Morgan / John Barton, Biblical Interpretation, Oxford 21989, Kap. 7; Daniel Patte, Structural Exegesis for New Testament Critics, Valley Forge, PA 1990; Jean Pépin / Karl Hoheisel, Art. Hermeneutik, RAC XIV; Martin Pöttner, Sprachwissenschaft und neutestamentliche Exegese, ThLZ 123 (1998) (Sammelbericht); Paul Ricoeur, Biblical Hermeneutics, Semeia 4 (1975), 27–148; W. Randolph Tate, Biblical Interpretation, Peabody, MA 1991, Unit II; Hans Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986; Vernon Robbins, The Tapestry of Early Christian Discourse, London / New York 1996; Oswald Bayer, Hermeneutical Theology, in: P. Pokorný / J. Roskovec (Hg.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 103–120.

1.3.1

Die Sprache als Organisation der Erfahrung

Unter dem Einfluss des Positivismus wurden literarische Texte im 19. Jh. als Berichte verstanden. Man wusste zwar, dass sie auch eine kommentierende Dimension haben, indem sie das Berichtete deuten und in dem Geschehen einen Sinn entdecken. Doch das Betonen der Treue zum Berichteten war bei ihrer Auswertung entscheidend. Eine neue Sicht der exegetischen Aufgabe brachten die linguistischen Untersuchungen, die seit Beginn des 20. Jh.s die Philosophie beeinflussten und seit drei Jahrzehnten in der Exegese an Bedeutung zunahmen. Die Wende kam durch die Neuentdeckung der bereits in der Antike und im Mittelalter untersuchten Funktion der Sprache. Es war vor allem Ferdinand de Saussure, der in seiner Theorie der Linguistik (Cours de linguistique générale; 1916) die soziale Funktion der Sprache beschrieb: Als ein System von Zeichen (Codes) ermöglicht die Sprache (franz. langue, im Unterschied zum Sprechakt = franz. parole) nicht nur die Kommunikation, sondern zugleich das Denken und die Orientierung des Menschen in der Welt.20 Im Unterschied zu de Saussure wird heute die elementarste Voraussetzung betont: Die Sprache ist schöpferisch. Indem sie die Welt organisiert, „macht“ sie aus dem Ganzen der Erfahrung durch seine Strukturierung und Unterscheidung der Einzeler-

20

Vgl. F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Kap. II/4, § 1.

1.3 Hermeneutische Vorüberlegungen: Die Funktion der Sprache

13

scheinungen21 die menschliche Lebenswelt. Diese umfassende Erfahrung wird im Prolog des Johannesevangeliums (1,1) theologisch gedeutet. Die schöpferische Tätigkeit Gottes wird metaphorisch als „Wort“ (lógos) bezeichnet. Eigentlich handelt es sich um eine Beschreibung, die das Sein Gottes als Schöpfer überhaupt charakterisiert.22 Lexikalische Codes sind daher relativ stabile Zeichen für die Phänomene, die erst durch die Sprache sichtbar werden. Um die Vielfalt der ganzheitlichen Erfahrung zu erfassen, muss die Sprache die einzelnen Wörter als Verallgemeinerung mehrerer Einzelerscheinungen konzipieren. Der Wortschatz stellt eine funktionelle Reduktion der unbegrenzten bunten Wirklichkeit auf die begrenzte Anzahl der Worte dar. In der Sprache wird unsere Erfahrung sortiert und interpretiert.23 Da die Wörter in jeder Sprache anders gestaltet sind, besteht ein Teil der biblischen Exegese in der Untersuchung der Semantik der Ausdrücke, um ihre semantische Reichweite richtig erfassen und übersetzen zu können. Die Unterschiede im semantischen Bereich der einzelnen Wörter lassen sich den Wörterbüchern entnehmen, die für jeden biblischen Ausdruck mehrere Äquivalente in der modernen Sprache anführen. Jede dieser Übersetzungen deckt nur einen Teil des Bedeutungsumfangs eines Worts in der Ursprache ab, hat darüber hinaus aber meistens noch andere Bedeutungen, die außerhalb des Bedeutungsumfangs des Wortes in der Ursprache liegen. Jedes dieser Äquivalente ist also nur ein Teiläquivalent, wie das folgende Beispiel zeigt:

Einseitige Verfügung

Willenskundgabe Gottes

diathē´kē

Altes / Neues Testament

Bund Vertrag

Abb. 1: Ein semantisches Feld (vgl. § 2.1.3b)

21 Vgl. J. Peregrin, Is Language a Code?, in: From the Logical Point of View, Nr. 2 (1993), 73–79. 22 O. Bayer, Hermeneutical Theology, in: P. Pokorný / J. Roskovec (Hg.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 104–120, hier 110. 23 Vgl. P. Ricoeur, Die lebendige Metapher (Lit. § 1.3.3), 74–82.

14

1 Hinführung

Die Grundeinheit der Sprache, d. h. der eigentliche Träger der Bedeutung, ist aber nicht das einzelne Wort, sondern der Satz, in den diese Worte eingebunden sind. Die Gefahr bei der Arbeit mit den exegetischen Lexika besteht in der Versuchung, die dort genannten Bedeutungen von ihrer Funktion im Kontext zu isolieren, dessen Struktur für das Entdecken ihrer konkreten Bedeutung entscheidend ist. 1.3.2

Sprache als Weltgestaltung

Mit der Einbindung der Worte in einen Satz gelangen wir zur Funktion der Grammatik. Die Sprachwelt ist nicht nur ein Mittel zur Erfassung der „realen“ Welt, sie ist selbst eine ihrer Dimensionen. Wir leben in Sprachprojekten, in denen das grammatische „Ich“ die relative Mitte ist. Die anderen „Personen“ repräsentieren seine Bezugspunkte – sein soziales Feld. Dieses besteht zwar auch aus „Ichs“, wird aus der Sicht des Sprecher-Ichs aber als Du, Er, Sie usw. definiert. Vor allem gibt es in der Sprachwelt einen Aspekt, der durch die grammatischen Tempora ausgedrückt wird. Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft treten ins Blickfeld – und ihre Relationen: ein Perfekt z. B. verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart. Durch die Tempora wird nicht nur eine Orientierung in der Zeit ermöglicht, sondern die Welt noch tiefer mitgestaltet, als es durch den Wortschatz geschieht: In die grammatische Vergangenheit situieren wir die schon erlebten Ereignisse, die dadurch anderen vermittelt werden können. Im Futur sprechen wir von dem, was wir erwarten. Durch diese zeitliche Differenzierung wird das Geschehen, das unser Jetzt umgibt, in eine Welt der Geschichte eingebunden, die sich in der grammatisch organisierten Zeit erstreckt, die wir uns als Raum, d. h. „quasispatial“, vorstellen. Diese Analyse der Erinnerung ist schon von Augustin (354–430) beschrieben und im X. und XI. Buch seiner Bekenntnisse als Thema theologischer und philosophischer Reflexion entfaltet worden. Die Vergangenheit ist durch die Erinnerung präsent, und die Erinnerung „lebt“ in der Sprache (nach Augustin „in den Worten“; conf. X, 20). Die Sprache bringt also ein kommunizierbares, intersubjektives Modell der Wirklichkeit hervor, in dem wir uns bewegen und das wir nicht verlassen können. Der konsequente Konstruktivismus hält dieses Modell für realer als die sog. objektive Welt, die wir nur durch die Brille jener Projekte erfassen. Diese konstruktivistische Sicht ist jedoch eine verfehlte Schlussfolgerung, denn es gehört zu den größten Leistungen der Sprache, dass sie fähig ist, sich selbst zu relativieren, d. h. anzudeuten, dass das, worauf sie sich bezieht, die Sprachwelt transzendiert. Sie spricht „über etwas“.24 Dieses „Etwas“ ist zwar nur durch die Sprache erreichbar, doch kann grammatisch signalisiert werden, dass die Realität sich nicht in der Sprachwelt erschöpft.

24

Dies ist das Hauptargument von Paul Ricoeur gegen den konsequenten Strukturalismus (Konstruktivismus).

1.3 Hermeneutische Vorüberlegungen: Die Funktion der Sprache

15

Über etwas zu sprechen, ist die Grundgestalt der Interpretation, der Kommentierung. Die Sprache übt auch eine referentielle Funktion aus, sie hat teil an den Beziehungen zur Umwelt. Das Verhältnis der Texte zu ihrer Umgebung ist ein Thema, zu dessen Bewältigung eine literarische Einführung einen entscheidenden Beitrag leistet. Daraus folgt, dass die exegetischen Methoden zwischen den Texten und der in ihnen bezeugten Wirklichkeit differenzieren müssen. Wer beides identifiziert, d. h. den biblischen Text als solchen schon für die direkte Offenbarung Gottes hält und keine Rückfrage stellt, entspricht nicht dem Charakter dieser Texte als einer konkreten Gestalt der Sprache. Die biblischen Texte sind nicht das Wort Gottes, aber sie enthalten und bezeugen die göttliche Offenbarung in dieser Welt. Bei den biblischen Texten geschieht die Rückfrage nach dem Inhalt der Offenbarung meist durch eine historische Annäherung. Diese Kritik betrifft sowohl fundamentalistische Interpretationen der Schrift, die den Wortlaut der Texte mit dem in ihnen bezeugten Wort Gottes gleichsetzen, als auch konsequent strukturalistische (konstruktivistische) Deutungen, die dem Zeugnischarakter des Textes nicht gerecht werden. 1.3.3

Der metaphorische Charakter religiöser Rede

 Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher (La métaphore vive, 1975) (Übergänge 12), München 1986 (DÜ); Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 52004.

Für einen antiken Menschen bot der Mythos (§ 1.1a.c) mit seinen Sagen der Urzeit einen Erzählrahmen, der die Welt als Ganzes umfasste und die verschiedenen Beziehungen des menschlichen Lebens und der Geschichte verband. Er war mit der Sprache ko-extensiv, d. h. er betraf den ganzen Raum der Sprache. Diesen umfassenden Bezugsrahmen kann die Sprache aber auch auf andere Weise andeuten. In unserer säkularisierten Welt können wir das äußerlich nicht konkret Vorstellbare – die Geschichte als Ganzes sowie die bisher unbekannten neuen Erscheinungen – nicht direkt erfassen. In diesen nicht gegenständlichen Bereich gehören die meisten religiösen Phänomene. Durch eine unmittelbare Anwendung eines lexikalischen Zeichenvorrats können sie kaum verbalisiert werden. Zum Wesen der Kodierung gehört nämlich, dass die Bedeutung des Kodes beiden Seiten, dem Redenden und den Angeredeten, dem Autor und dem Leser, dem Sender und den Adressaten als gemeinsamer Zeichenvorrat bekannt ist. Kodes können nur das schon Bekannte mitteilen. Um etwas nicht allgemein Erfahrbares zur Sprache zu bringen, muss die Sprache die schon bekannten Kodes in einen neuen, unerwarteten Zusam-

16

1 Hinführung

menhang stellen, sodass die Zeichen eine neue Funktion gewinnen. Durch diese neue Verwendung werden die Zeichen „innoviert“.25 Die extreme, man könnte auch sagen paradoxe Gestalt einer solchen neuen Kombination, die das Suchen neuer Bedeutungszusammenhänge ausdrückt, ist die Metapher. Das metaphorisch gebrauchte Wort gewinnt in einem solchen Satzkontext eine neue Bedeutung, in der immer auch etwas von seinen Grundbedeutungen mitklingt. Zum Beispiel ist das „Reich Gottes“ ohne Zweifel kein Reich mit einem gegenständlich sichtbaren Territorium, Beamten und einer Armee. Es ist wirklich etwas Neues, das in der gegenständlichen Welt noch nicht da ist. Es ist das Reich „Gottes“. Und doch ist es ein Reich in dem Sinne, dass es Menschen und ihre Beziehungen betrifft. Die Metapher, die „wörtlich“ genommen nicht verifizierbar ist, kann als Modell für etwas dienen, das noch nicht da ist und als solches doch verständlich wird. Natürlich ist nicht jede paradoxe Verbindung mehrerer Zeichen eine Metapher. Eine Metapher entsteht, wenn eine solche Wortverbindung beim Hören wirklich zum Begreifen einer Sache hilft, d. h., wenn die Metapher weiter benutzt wird.26 Aristoteles definierte die Metapher vor allem in ihrer ästhetischen Funktion als rednerische Ausschmückung (poet. 21–22 [1457b–1458b]). Eine Strömung der jüngeren Linguistik hat die kognitive, zu neuer Erkenntnis führende Bedeutung der Metapher neu ans Licht gebracht. In der Hermeneutik hat aus dieser Erkenntnis Paul Ricoeur27 Konsequenzen gezogen: Die Aussage einer authentischen Metapher kann durch ihre rationale Deutung nie völlig ausgeschöpft werden. Wir können zwar beschreiben, was etwa eine Metapher sagen möchte, aber ihre Prägnanz und ihre wirksame Poetik geht dadurch verloren. In einem solchen Fall kann sie nur durch eine andere Metapher oder durch eine Art analoger Rede interpretiert werden. So kann Jesus die Metapher „Reich Gottes“ erklären, indem er sagt: Das Reich Gottes ist „wie“ – und es folgt ein Gleichnis (Exkurs 7). Die Metapher kann als Grundelement eines alternativen, neuen Weltprojekts verstanden werden, als ein Signal der neuen Wirklichkeit. In diesem Sinn lässt sich die Metapher als säkularisierte Form des Mythos charakterisieren. „Mythisch“ sind sol25

Vgl. P. Ricoeur, Temps et récit I, Paris 1983, 229 f. Er spricht von der teleologischen Intention, die es uns ermöglicht, die einzelnen Erfahrungen in eine metaphorisch gestaltete umfassende Struktur einzuordnen. 26 Mehrere Linguisten behaupten deswegen, dass es nur gute Metaphern gibt. Von der Metapher unterscheiden sich das Gleichnis und die Allegorie, indem sie (meistens durch ein „wie“ oder durch den Kontext) ihren Übertragungsvorgang in ein analoges Modell der Welt offen ankündigen (Exkurs 7). 27 Vgl. P. Ricoeur, Die lebendige Metapher, 77 ff., 188–193; (P. Ricoeur /) E. Jüngel, Metapher (B.EvTh), München 1974, 117 ff. Die kognitive Funktion der Metapher stellte vor allem D. Davidson, What Metaphors Mean, in: On Metaphor, Chicago 1978, in Frage. Zur gegenwärtigen Diskussion über die Metapher s. J. Stern, Metaphor in Context, Cambridge, MA / London 2000, 39–66.

1.3 Hermeneutische Vorüberlegungen: Die Funktion der Sprache

17

che Ausdrücke, weil sie die Möglichkeit einer alternativen Welt andeuten und weil einige Metaphern wie „Himmel“, „Rettung, Heil“ oder „Auferstehung“ den ganzen Horizont der menschlichen Welt betreffen (sie sind mit der Sprachwelt ko-extensiv). „Säkularisiert“ sind die Metaphern in dem Sinne, dass wir uns bei ihrer Anwendung ihrer möglichen Ersetzbarkeit durch andere Ausdrücke unserer Sprachwelt bewusst sind. Die Metaphern gehören zur religiösen Rede, und auch in der Bibel haben sie eine Schlüsselfunktion: Reich Gottes, Auferstehung, Sohn Gottes. Die metaphorische Dimension dieser Metaphern kennen alle Gläubigen: Sie wussten und wissen auch heute, dass die Auferstehung (Auferweckung) kein übliches Aufstehen aus dem Bett ist und dass Jesus kein Sohn Gottes im physischen Sinn sein kann (§ 5.6.1.2), dass es sich also um eine neue, überraschende und zugleich intensivere Bedeutung der bekannten Ausdrücke handeln muss. Innerhalb einer Gruppe, die gemeinsame, in der Umwelt nicht übliche Erfahrungen gemacht hat, können die Metaphern als exklusive Kodes funktionieren, sodass ihr metaphorischer Charakter mitunter nicht wahrgenommen wird. So wird im kirchlichen Bereich z. B. das Wort „Heil“ als umfassender Ausdruck für die Errettung und Befreiung aus allem Leid gebraucht. Wenn sich die Christen nicht isolieren und in ein Ghetto abdrängen lassen wollen, müssen sie sich des metaphorischen Charakters der christlichen Sprache neu bewusst werden. Nur so werden sie fähig, von ihrer vertrauten Ausdrucksweise methodisch Abstand zu nehmen, um sie auch mit anderen Worten zu interpretieren und neu zu entfalten. 1.3.4

Metapher und Wirklichkeit

Jede Metapher enthält ein rudimentäres Projekt einer alternativen Welt. Anschaulich wird diese Eigenart in der paulinischen Interpretation der christlichen Taufe, die Paulus in Röm 6,1–14 vorlegt (§ 5.6.2.2d). Dort bezeichnet er die Taufe (wahrscheinlich in einer schon übernommenen christlichen Tradition) als das Sterben mit Christus, das auch die Hoffnung auf die Auferstehung garantiert. Die Taufe ist also ein liturgischer Eintritt in die Welt dieser Grundmetapher des christlichen Bekenntnisses und sie hat Folgen für die Orientierung im Leben: Sie ergibt eine neue Hierarchie der Werte. Selbstverständlich ist die Quelle des neuen Lebens nicht die Metapher selbst, sondern die Wirklichkeit, die die Metapher und das liturgische Geschehen repräsentieren. Aber es geht um eine Wirklichkeit, die vor allem durch eine metaphorische Ausdrucksweise,28 durch symbolische Gesten und liturgische Rituale dargestellt

28 Dass das Gleichnis der Metapher ähnlich ist, zeigen N. Goodman, Languages of Art, Indianapolis 1976, 21977, oder H. Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern (FRLANT 120), Göttingen 21980, 59 f.

18

1 Hinführung

wird. Es handelt sich daher nicht nur um eine metaphorische Vergegenwärtigung, sondern um die unersetzliche metaphorische Vergegenwärtigung dieser neuen Wirklichkeit. Es sind eben nicht „bloß“ Bilder, Symbole und Riten, sondern zugleich Erfahrungen einer anderen Wirklichkeit, die darin bis ins körperliche Erleben hinein anschaulich und spürbar nahegebracht werden. Dieses Verständnis ist ein möglicher Ansatz zur Deutung der Sakramente (§ 5.6.2.2–3).

1.4

Der Text

Wird ein Sprachprojekt schriftlich fixiert, so handelt es sich um einen Text. 1.4.1

Die literarische Eigenart

 Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946) (DALP 90), München 61977; Amos N. Wilder, Early Christian Rhetoric, Cambridge, MS 21971; Jean Calloud, L’Analyse structurale du récit, Lyon 1973; George A. Kennedy, New Testament Interpretation through Rhetorical Criticism, Chapel Hill / London 1984; Peter V. Zima, Literarische Ästhetik (UTB), Tübingen 1991; Georg Strecker, Literaturgeschichte des Neuen Testaments (UTB), Göttingen 1992; Detlev Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte, Darmstadt 1993; J. David Hester Amador, Academic Constraints in Rhetorical Criticism of the New Testament (JSNT SS 174), Sheffield 1999.

Wenn wir einen alten literarischen Text lesen, erfahren wir sehr konkret, dass wir in eine andere Welt versetzt werden. Grundsätzlich gilt diese Erfahrung für alle literarischen Texte, und zwar schon deswegen, weil ihre Welt fixiert ist, während die Welt der Leser sich ständig bewegt. Die im Text beschriebene Welt unterscheidet sich von unserer eigenen Lebenswelt dadurch, dass die in ihnen dargestellte „Sache“ aus einem spezifischen Blickwinkel gesehen wird. Der Zugang zur Sache, um die es im Text geht, wird uns durch den Text vermittelt. Der schriftlich fixierte und literarisch bearbeitete Text stellt eine Welt (Textwelt) innerhalb der Sprachwelt dar. Der geschriebene Text wird dadurch potentiell zum universalen Gut, weil er allgemein zugänglich ist. Ähnlich wie die grammatikalischen Regeln den Satzbau bestimmen, prägen auch die literarischen Gattungen, jede mit ihren syntaktischen, semantischen und pragmatischen Grundmerkmalen, die Produktion neuer Texte.29 Die Gattungen (Genres) der literarischen Texte (Evangelien, Briefe) und z. T. auch die Gattungen der mündlichen Überlieferung (Wundererzählungen, Gleichnisse, Jesusworte, Bekenntnisformeln) sind eine Tradition, vor deren Hintergrund Neues artikuliert werden kann. Da 29

Vgl. P. Ricoeur, Biblical Hermeneutics, 69 (Lit. § 1.3).

1.4 Der Text

19

jede Gattung sich durch bekannte Elemente auszeichnet, haben die Gattungen eine stabilisierende Wirkung auf die Kommunikation. Nach dem zweiten Weltkrieg hoben Erich Auerbach und Amos N. Wilder die literarische Dimension des Neuen Testaments neu hervor. Sie fanden Widerhall, weil ihre Analysen die Texte vor allem als Makrostrukturen untersuchen, die durch die Autoren bewusst gestaltet wurden. Die Gesamtkomposition ist für das Verständnis eines Texts besonders aufschlussreich. Denn im Blick auf die Pragmatik (das Verhältnis zum Zeichen- bzw. Wortbenutzer) haben die unbewusst entstandenen Dimensionen eine geringere Bedeutung.30 1.4.2

Die Faktoren der Textlektüre

Schriftlich fi xierte Texte haben auch ihre Schattenseite: Sie enthalten Erinnerungen oder sie äußern sich zu einer bedeutenden Sache, aber sie schweigen, wenn sie gefragt werden (Plato, Phaidr. 274e–275a). Sie sprechen uns an und ziehen unser Interesse auf sich. Aber sie sind nicht dialogisch. Sie reden zu uns aus einer anderen Zeit, in die von uns her kein direkter Weg führt. Insbesondere die Lektüre alter Texte bedarf mancherlei Erklärung, um ihren Sinn besser verstehen zu können. Die Auslegung, zu der die Erörterung der Einleitungsfragen und des theologischen Profils der einzelnen literarischen Texte gehört, soll daher einen direkten Dialog mit dem Text eröffnen, der uns aufgrund des zeitlichen und räumlichen Abstands auf unmittelbare Weise nicht mehr möglich ist. Diese Lücke zwischen den Fragen der Leser und dem Schweigen der Texte zu überbrücken, ist eine Aufgabe der Exegese. Das Neue Testament ist demnach eine Sammlung literarischer Texte,31 die der Vermittlung in Gestalt eines Metatexts (Kommentars, Predigt usw.) besonders intensiv bedürfen. „Besonders intensiv“ muss diese Auseinandersetzung erfolgen, weil es sich um Texte handelt, die einerseits die Grundfragen des Lebens und der menschlichen Hoffnung betreffen, andererseits jedoch alt sind und einem fremden Milieu entstammen. Äußere Zeichen des Abstandes, der uns von der Entstehungssituation trennt, sind z. B. die Personen- und Ortsnamen, die sich gegen eine direkte Übertragung sperren.32

30 Z. B. kann die Lektüre des fachlich gut gestalteten Buchs „L’analyse rhétorique“ von R. Meynet (Paris 1989) den Leser leicht von den Hauptproblemen der Exegese ablenken. 31 Wenn auch einige Bücher des Neuen Testaments nicht für Literatur im engen Sinn gehalten werden können, ist das Ganze des Kanons (§ 3) ohne Zweifel eine Sammlung literarischer Texte. 32 Auf die Unterdrückung der referentiellen Funktion der Sprache hat E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese I, Olten – Freiburg/Br. 31985, seine Theorie der Exegese gebaut; zur Kritik s. G. Lohfink / R. Pesch, Tiefenpsychologie und keine Exegese (SBS 129),

20

1 Hinführung

Schon jetzt sehen wir, dass das Lesen eines Texts ein komplexer Vorgang ist: Der Leser (mit seiner Welt) führt eine Begegnung mit dem Text und seiner Welt herbei, der sich auf eine Sache beruft, die wieder ihre eigene Welt hat. Diese Sachwelt begegnet uns zwar durch den Text, aber beansprucht ihre relative Autonomie, eine „intentionelle Exteriorität“.33 Der vierte Teilnehmer des Lektüreprozesses, der vielfach hinter dem Text versteckt bleibt, ist der Autor (die Autoren). Oft ist seine Welt der Textwelt so ähnlich, dass er hinter dem Text „schläft“, aber an manchen Stellen greift er in den Text als Person ein. In den Paulusbriefen z. B. stellen Grüße, apostolischer Segen oder Warnungen (1Kor 16,22–24) einen deutlichen Umbruch in der argumentierenden oder ermahnenden Textgestalt des Briefkorpus dar. In anderer Weise ist auch die Ich-Form der Erzählung in fiktiven Erzähltexten wie z. B. der Johannesapokalypse ein Versuch, etwas von der Wucht der direkten Beziehung des Autors zur „Sache“ den Lesern weiterzuvermitteln (§ 7.2.2). Meistens wird daher mit vier Faktoren gerechnet, die die Lektüre und Auslegung von Texten bestimmen. Sie ergeben ein kommunikatives Viereck, das es hermeneutisch zu bedenken gilt: Sache

Autor

Leser

Text Abb. 2: Faktoren der Textlektüre

Nach diesem Viereck werden manchmal auch die Methoden gegliedert, die bei der Auslegung benutzt werden: Sie beginnen erstens mit der linguistisch-strukturalistischen Analyse als Methode, die die Textwelt selber betrifft. Sie fahren fort zweitens mit der rezeptionsästhetischen Untersuchung der Pragmatik, die nach der tatsächlichen oder intendierten Wirkung des Texts auf die Leserinnen bzw. Hörer fragt. Es folgen drittens die Darstellung des philosophischen oder theologischen Hintergrunds als Methodenschritte, die sich auf die im Text behandelte Sache beziehen (meist Traditions-, Motiv- oder Begriffsgeschichte genannt). Hinzukommen viertens die Fragen der speziellen Einleitung zu den einzelnen Schriften, die die Welt des Autors Stuttgart 1987; J. Frey, Eugen Drewermann und die biblische Exegese (WUNT II/71), Tübingen 1995. 33 P. Ricoeur, The Canon between the Text and the Community, in: P. Pokorný / J. Roskovec (Hg.), Philosophical Hermeneutics (s. Anm. 22), 7–26, hier 9.

1.4 Der Text

21

(und der ursprünglichen Adressaten) untersuchen.34 Das Schema darf freilich nur als Hinweis auf die Grundrichtungen verstanden werden, in denen die einzelnen Auslegungsmethoden wirken. Die Funktion der einzelnen Methoden muss bei der Arbeit mit jedem Text bewusst gemacht werden. Darüber hinaus kann die Anzahl der Faktoren, die bei der Auslegung im Spiel sind, noch erweitert werden. Der wirkliche Autor unterscheidet sich manchmal vom literarischen. Diesem Phänomen werden wir z. B. bei den pseudepigraphischen Schriften begegnen, bei denen ein uns unbekannter Autor seine Schrift unter dem Namen einer anerkannten Autorität veröffentlicht (Exkurs 10). Ähnliches gilt für die Unterscheidung zwischen den literarischen Adressaten (z. B. Theophilus in Lk 1,3; Apg 1,1), den wirklichen Adressaten (die Öffentlichkeit, für die Lukas geschrieben hat) und – selbstverständlich – den heutigen Leserinnen und Lesern. Außerdem will bedacht sein, dass die neutestamentlichen Texte ursprünglich nicht primär zur privaten Bibellektüre aufgeschrieben wurden, die in breiterem Ausmaß erst durch das Anwachsen der allgemeinen Volksbildung und seit dem 19. Jh. durch die stark verbilligten Druckausgaben der Bibelanstalten ermöglicht wurde. Bestimmt waren die neutestamentlichen Schriften vor allem für das Vorlesen und Hören im Gottesdienst: Der Glaube kommt in der frühen Christenheit normalerweise nicht aus der Lektüre eines schriftlich vorliegenden Texts, sondern aus dem Vorlesen der neutestamentlichen Schriften35 und „aus dem Hören“ der Predigt (Röm 10,17; Gal 3,2.5).36 Eigene Schriftrollen konnten sich nur ganze Gemeinden oder einzelne Reiche wie der äthiopische Finanzminister in Apg 8,26 ff. leisten, nicht aber einfache Gemeindeglieder wie die Sklaven, Freigelassenen und Handwerker in Korinth.37 So sehr die Faktoren jeder Textlektüre auch bei biblischen Texten zu beachten sind, haben diese doch die Eigenart, dass sie als Sache, die sie behandeln, eine Botschaft von Gott, das Wort Gottes, eine Offenbarung zum Inhalt haben. Insofern kommt ihnen in besonderer Weise der Charakter eines Zeugnisses zu. 1.4.3

Der Text als Zeugnis

 Jean Griesch, Témoignage et l’attestation, Philosophie 16 (1995), 305–326; Paul Ricoeur, The Hermeneutics of Testimony (1972), zuletzt in: ders., Essays on Biblical Interpretation, Philadelphia 1980, 119–154.

34

Die Abbildung ist eine Vereinfachung der Graphik bei M. Oeming, Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 1998, 5; zu den Auslegungsmethoden s. a.a.O., S. 31 ff. 35 1Thess 5,27 (§ 5.3); Kol 4,16; 1Tim 4,13 (Exkurs 12); Apk 1,3 (§ 7.2.6); Mk 13,14; Justin apol. I,67,3 (§ 6.2.3d). 36 Vgl. am Ende der Sendschreiben in Apk 2,7 u. ö.: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“ (§ 7.2.6). 37 1Kor 1,26 ff.; 7,21 f.; 12,13; Apg 18,2 f. (§ 5.12.3).

22

1 Hinführung

Eine spezifische Funktion üben Texte aus, die ein persönliches Zeugnis enthalten, das die im Text vertretene Sache unterstützt. In diesem Fall tritt nicht nur der Autor hinter der Sache zurück, sondern auch die „Sache“ gewinnt als autonome Größe eine eigenständige Bedeutung, die von der Textstruktur abgehoben wird. Anders gesagt: Das Zeugnis ist der rhetorisch spezifische Ausdruck einer Beziehung, in der der Autor mit seiner eigenen Existenz eine Sache hervorhebt, um die es im Text geht. Dieses persönliche Zeugnis ist uns nur durch den Text zugänglich, doch handelt es sich um einen Ausdruck, der die Struktur des Texts beeinflusst, und zwar unabhängig davon, ob es ein narrativer oder ein diskursiver Text ist. In der jüdisch-christlichen Tradition hat das Zeugnis eine theologische Funktion: Einige Ereignisse werden als Offenbarungen Gottes betrachtet. Der Text ist nicht die direkte Offenbarung, wohl aber ein fixiertes Zeugnis von dieser Offenbarung, z. B. die Berichte von den Berufungsvisionen des Mose (Ex 3), der Propheten (Jes 6; Jer 1 u. ö.) oder des Apostels Paulus, in der ihm Christus erschien, als Sohn Gottes und Inhalt des Evangeliums offenbart wurde.38 Üblicherweise enthält ein Bericht eine Mitteilung. Es gibt allerdings Mitteilungen, die zur Entscheidung aufrufen. So funktionieren auch die biblischen Erzählungen, in denen konkrete Ereignisse als Geschehen dargestellt werden, durch das Gott sich mitteilen will. Ohne diese Tradition einzelner Offenbarungen Gottes, die wir aus der jüdischen Bibel (aus dem christlichen Alten Testament) kennen, wäre es nicht möglich, Jesus als die endgültige, eschatologische Offenbarung Gottes zu charakterisieren. In Joh 1,18 wird die Geschichte Jesu als eine göttliche Erzählung, als „Exegese“ Gottes, bezeichnet (exēgḗsato = er hat erzählt). Als Offenbarung wird ein konkretes Ereignis der Geschichte bezeichnet, in dem Gott „menschlich“ und in diesem Sinn indirekt erkannt wird.39 Der Zeuge kann sich nur auf seine existenzielle Betroffenheit berufen. Die Wahrheit seines Zeugnisses ist nicht nachprüfbar und es gibt keine andere Verbürgung als das Zeugnis selbst. Der Zeuge sagt in diesem Fall: Das, was ich bezeuge, kann zwar nicht durch Verallgemeinerung oder den Hinweis auf ein wiederholtes Vorkommen als wahr erwiesen werden. Es handelt sich also nicht um ein Beispiel. Aber meine Erfahrung mit diesem einmaligen Ereignis, das seinen Ort und seine Zeit hat (also kein Symbol ist), führte 38 Vgl. Gal 1,12.16 f.; 1Kor 15,8; Apg 9,3–15. Dadurch unterscheidet sich die mit dem Zeugnis rechnende Hermeneutik, in der die Interpretation dem Bezeugten verantwortlich ist, von der Auffassung der Interaktion zwischen dem Leser und dem Verfasser, wie sie z. B. die Konstanzer Schule versteht (W. Iser, Der Akt des Lesens, München 1976, 125 u. ö.; die Linguistik ist geneigt, die Sprachwelt für autonom zu halten [z. B. N. Goodman]). Der Beitrag der Konstanzer Schule, die die Rolle des Lesers hervorhob, ist kaum zu leugnen. Doch muss gleichzeitig betont werden, dass die Mitarbeit an der Sinnproduktion beim Lesen einiger Texte ihre durch den Text gegebenen festen Grenzen hat. 39 Etwas anderes ist eine Epiphanie, die einen mirakulösen Eingriff des Göttlichen in die irdische Welt darstellt.

1.4 Der Text

23

zur Entdeckung einer Wirklichkeit, die nicht auf die Zeit und den Ort dieser Offenbarung begrenzt ist. Auf diese Weise entdecken Christen in der Geschichte Jesu den Charakter Gottes, wie er immer war und wie er in der Zukunft allgemein zugänglich sein wird (Apk 1,8; 21,6; 22,13). Die Wucht der geschichtlichen Einmaligkeit, die das Bezeugte vom Beispiel oder Symbol unterscheidet, verleiht dem Zeugnis seine besondere Kraft. Dieser außerordentliche Charakter ist aber zugleich auch eine Belastung, da die Auswertung und Interpretation des Bezeugten, die jedes Zeugnis enthält, nur indirekt verifizierbar ist. Deswegen wurde das Betrachten von Zeugnissen oft als unwissenschaftlich angesehen, aber in Wirklichkeit können die Humanwissenschaften ohne Zeugnis nicht auskommen. Die Bedeutung des Zeugnisses in der Hermeneutik der christlichen Texte hat ihre Analogien in der Geschichtsschreibung und in der Rechtswissenschaft, die zwar andere Quellen haben, aber ebenfalls auf Zeugnisse angewiesen sind. Auf der Analogie zum Zeugnis in der Rechtswissenschaft hat Paul Ricoeur seine Hermeneutik des Zeugnisses aufgebaut.40 1.4.4

Die Authentizität des Zeugnisses

Da die Wahrheit und Glaubwürdigkeit eines Zeugnisses nicht direkt verifiziert werden kann, ist es nötig, Kennzeichen eines authentischen Zeugnisses zu nennen. a) Für die Authentizität des Zeugnisses ist die Wehrlosigkeit des Zeugen von entscheidender Bedeutung. Die Aufnahme des Zeugnisses kann nicht erzwungen werden. Der Apostel Paulus hat die Kraft seines Zeugnisses programmatisch durch seine äußere Schwäche und durch seine Bereitschaft zum Leiden (1Kor 2,3; 2Kor 11,30) verstärkt. Später ist in der christlichen Kirche der „Zeuge“ (mártys) zum Synonym für den Märtyrer geworden. b) Die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses wird durch seine Übereinstimmung mit anderen unabhängigen Zeugnissen in derselben Sache gestärkt (§ 1.4.3). c) Ein authentisches Zeugnis stimmt mit anderen Aussagen über dieselbe Sache überein oder widerspricht zumindest nicht dem, was wir von diesem „Fall“ aus anderen Quellen wissen. Auffällig sind z. B. mehrere gemeinsame Züge der Worte Jesu aus der Logienquelle (Q) und der im Markusevangelium erhaltenen narrativen Tradition über Jesus, besonders seine Zuwendung zu den Armen. d) Authentisches Zeugnis setzt die Prüfung der darin enthaltenen Angaben voraus. Durch Rückfragen wird nicht die Bedeutung des Bezeugten bestätigt. Aber das Zeugnis geht von Gegebenheiten aus, die auf ihre Authentizität hin überprüft werden können. Die Berufung auf das Kreuz Jesu (1Kor 1,23) bzw. auf seine irdische Gestalt (1Joh 4,1–6) sind Zeichen dieser Tendenz zur Rückbesinnung und Vergewisserung. 40

P. Ricoeur, The Hermeneutics of Testimony, 124 f.

24

1 Hinführung

Ein solches Vorgehen hat in der Gestaltung der jüdischen Bibel ihre Vorgeschichte, die wir als Zeugnis von der Offenbarung Gottes charakterisieren (§ 1.4.3). Die Wirkung des Zeugnisses soll der Funktion (der Pragmatik) der bezeugten Geschichten nicht widersprechen, d. h. im Neuen Testament dem Wirken Jesu. Wenn ein Zeugnis alle eben genannten Kriterien erfüllt, sind diese Kennzeichen noch kein Beweis für die Wahrhaftigkeit des Bezeugten. Aber wie die übereinstimmenden und verifizierbaren Zeugnisse vor Gericht dem Richter seine Entscheidung und Verkündung des Urteils nicht abnehmen, so sind auch die Zeugnisse der christlichen Autoren für ihre Adressaten (die Umwelt der Kirche) noch kein Beweis des christlichen Glaubens. Gleichwohl verlangen sie eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der bezeugten Wahrheit. Diese Einsicht hat die Konsequenz, dass solche Zeugnisse von nichtchristlichen Adressaten, wenn sie rational denken, historisch beachtet und ernst genommen werden müssen. e) Die Leser werden sich ohne Zweifel an viele Ereignisse erinnern, die das christliche Zeugnis kompromittierten (Kreuzzüge, Hexenverfolgungen usw.). Und sie werden es begreifen, wenn die Umwelt aufgrund solcher Erfahrungen ihre Zeugnisse nicht ernst nimmt. Eine Übersicht über das Neue Testament kann jedoch einige Züge aufzeigen, die für die verschiedenen urchristlichen Theologien neutestamentlicher Schriften als Handlungsmaximen wesentlich sind wie das Liebesgebot oder die Parteinahme für die Schwachen. Wenn das Versagen an diesen Maßstäben eingestanden wird, kann das Zeugnis durch Kritik und Buße zumindest indirekt bestätigt werden. Die Darstellung solcher gemeinsamer Beurteilungskriterien kann zur Entdeckung der inneren Kontinuität des Zeugnisses beitragen, das durch die Sünden in der Geschichte der Kirche nie völlig verdeckt wurde. So kann das Eingeständnis von Verfehlungen durch den Zeugen, der sich an den Grundsätzen des Bezeugten messen lässt, als letztes Zeichen der Authentizität dieses Zeugnisses betrachtet werden. 1.4.5

Die theologische Funktion der historischen Kritik

 Bernard C. Lategan / Willem S. Voster, Text and Reality: Aspects of Reference in Biblical Texts, Philadelphia 1985.

Die referentielle Funktion der Sprache setzt voraus, dass der Mensch sich in seiner Welt mit Hilfe der sprachlich vermittelten Informationen und Zeugnisse orientiert. In denjenigen biblischen Texten, die die Grundorientierung des Menschen betreffen, geht es meistens um bezeugte einmalige Ereignisse, die für das menschliche Leben maßgeblich sind und die äußerste Zukunft des Menschen angehen (§ 1.4.3). Wenn sich ein Text auf ein einmaliges Ereignis bezieht, sind auch seine Datierung, die Entstehungsverhältnisse und sein geistiger Standort von Interesse. In den biblischen Texten wird die Verbindung mit der einmaligen Geschichte an einigen

1.4 Der Text

25

Stellen theologisch begründet. Als besondere Ereignisse gelten im Alten Testament die Berufung Abrahams (Gen 12,1–9), der Auszug aus Ägypten (Ex 1–15), die Gesetzgebung am Sinai (Ex 19,1–24,14) und das Auftreten der Propheten (Jesaja, Jeremia usw.). Die Bedeutung dieser Ereignisse wird von den biblischen Autoren hoch geschätzt und in den Texten direkt oder indirekt als Offenbarung Gottes bezeugt.41 Als Zeugen nehmen die Schriftsteller diese Ereignisse aus der Gesamtheit des Geschehens heraus und benutzen sie als Orientierungspunkte für den Glauben Israels, das von JHWH erwählte Volk zu sein und von ihm durch die Geschichte geführt zu werden. Im Neuen Testament wird die Geschichte Jesu von den christlichen Autoren als endgültige Offenbarung Gottes betrachtet. Damit üben die neutestamentlichen Zeugnisse zugleich die Funktion eines Bekenntnisses zur Offenbarung Gottes in der Person und dem Leben Jesu aus. Diese Bekenntnisart, die sich mit der theologischen Reflexion über die fortdauernde Bedeutung Jesu verband, setzte sich in der christlichen Kirche schon am Anfang des 2. Jh.s gegen die enthusiastischen Strömungen durch, die primär am Wirken des Geistes interessiert waren, weniger an den gemeinsamen Grundlagen der Glaubensüberlieferung. Dieses Bekenntnis zur Person Jesu ist zur Voraussetzung für die Idee des christlichen Kanons geworden (§ 3.2–3).42 Dass Gott sich im Auftreten Jesu offenbart hat und die neutestamentlichen Autoren von dieser Geschichte Zeugnis ablegen, bewirkte schon in neutestamentlicher Zeit eine enge Rückbindung der Texte an die Person Jesu, die die christliche Tradition vor unkontrollierbaren Neuschöpfungen schützte. Einzelne Spuren jenes geistigen Kampfes können wir an mehreren Stellen verfolgen. Unverkennbar ist vor allem bei Paulus die Tendenz, den Enthusiasten das Kreuz Jesu entgegenzuhalten (1Kor 1,18; § 5.12.5e). In dieselbe Richtung weist in den Johannesbriefen die programmatische Bindung der christlichen Prophetie an das Bekenntnis zu dem im Fleisch gekommenen Jesus Christus (1Joh 4,1–3; 2Joh 7; § 7.1.7). Eine Rückbindung an das Wirken Gottes in der Geschichte Jesu beabsichtigt vor allem die (Sub-)Gattung Evangelium, die im Osterbekenntnis oder den Ostererzählungen gipfelt, aber ihrem narrativen Grundgehalt nach eine Biographie Jesu ist (§ 6.2.6; 6.2.6.1). Die historische Kritik, die in der neuzeitlichen Exegese als Auslegungsmethode dominiert, wurde in ihrer Entfaltung nur indirekt durch theologische Gründe beeinflusst. Das aus dem Humanismus übernommene Prinzip „ad fontes“ (zu den Quellen), die Hegelsche Auffassung der Dialektik der Geschichte und das positivistische 41 P. Ricoeur hat die Bedeutung des Zeugnisses für den gegenwärtigen Diskurs (neu) entdeckt. Er ist der Kategorie Offenbarung gegenüber sehr misstrauisch (La critique et la conviction, Paris 1995, 225), solange die Offenbarung nicht durch Zeugen bezeugt ist, die durch ihre Existenz das Gewicht des Bezeugten demonstrieren (Toward a Hermeneutic of the Idea of Revelation, in: ders., Essays on Biblical Interpretation, Philadelphia 1980, 73–118). 42 Zur Philosophie der sozialen Funktion der biblischen Zeugnisse s. P. Ricoeur, The Canon between the Text and the Community, in: P. Pokorný / J. Roskovec (Hg.), Philosophical Hermeneutics (s. Anm. 22), 7–26.

26

1 Hinführung

Verständnis der Wahrheit als Summe der Informationen beeinflussten die Entwicklung der historisch-kritischen Methoden. Allerdings fehlte die theologische Begründung nicht völlig, da es immer auch um das Verständnis der Botschaft Jesu ging. Die Exegese ist insofern kritisch (von griech. krínein = unterscheiden, beurteilen), als sie im Anschluss an Johann Salomo Semler (§ 1.1a) zwischen „Heiliger Schrift“ und „Wort Gottes“ unterscheidet, die biblischen Texte als geschichtlich entstandene, von Menschen verfasste Schriften betrachtet und zu deren Interpretation die allgemein zugänglichen, vernünftigen Methoden der Textauslegung einsetzt, die auch für jeden anderen profanen Text zur Verfügung stehen. Der heute übliche Kanon von Methodenschritten wurde erst nach und nach entwickelt: Die Textkritik versucht in der frühen Neuzeit und verstärkt seit dem 18. Jh. den ursprünglichen Wortlaut der neutestamentlichen Schriften zu rekonstruieren (§ 4). Traditionskritik und Formgeschichte analysieren seit dem 18. Jh. den Überlieferungsprozess der in den Evangelien enthaltenen Stoffe. Im 19. Jh. fragen ihre Vertreter nach den literarischen Abhängigkeiten zwischen den synoptischen Evangelien sowie in der Leben-Jesu-Forschung nach dem historischen Jesus (§ 6.1.2; Exkurs 3). Seit dem ersten Weltkrieg untersuchen sie auch die in den paulinischen Briefen enthaltenen Formeln, Bekenntnisse, Hymnen oder ethischen Stücke43 (§ 5.6.2). Nach dem zweiten Weltkrieg beginnt die Redaktionskritik, die Bedeutung der Evangelisten als Schriftsteller und Theologen zu entdecken und ihre spezifische Eigenart herauszuarbeiten, die in der literarischen Darstellung weit über das bloße Sammeln des Stoffs hinausgeht (Exkurs 4). Da mit der Aufklärung die Bedeutung des Kanons geschwächt wurde (§ 1.1a–b), setzte bereits im 19. Jh. ein neues Interesse an der Geschichte der Kanonbildung ein (§ 3). Zu ergänzen sind noch zeit- und religionsgeschichtliche Untersuchungen, die seit dem ausgehenden 19. Jh. den jüdischen und hellenistischen Hintergrund erhellen und in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s durch die Quellenfunde in Qumran am Toten Meer (1947) und in Nag Hammadi in Oberägypten (1945) neue Impulse erhielten.44 Weitere Anstöße bieten sozialgeschichtliche Studien, die seit den 60-er Jahren die sozialen Verhältnisse der frühen Christen erforschen.45 Nach dem zweiten Weltkrieg kamen neue sprach- und literaturwissenschaftliche Ansätze hinzu, die die Funktion der Sprache bedenken (§ 1.3), die Texte als Teil eines Kommunikationsprozesses zwischen Autor und Rezipienten begreifen 43 Vgl. die Tugend- und Lasterkataloge (§ 5.11.1 zu Gal 5,19–13; § 8.2.4) oder die Haustafeln (Exkurs 11). 44 Vgl. zur jüdischen Tradition § 2.1 (E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes, 1901– 1911) und zur hellenistischen Kultur § 2.2; 5.5.1.2, den Einfluss der religionsgeschichtlichen Schule bei der Deutung der Taufe (§ 5.6.2.2a), bei den Hypothesen zur Gnosis in Korinth (§ 5.12.4) oder im Johannesevangelium (§ 7.1.4d) sowie zur theologischen Bewertung die Überlegungen zu den Auslegungstypen der Johannesapokalypse (§ 7.2.3). 45 Vgl. z. B. die Wandermissionare (§ 6.1.5.3e; 6.2.8a) oder die Zusammensetzung der Gemeinden (§ 5.12.3).

1.4 Der Text

27

und durch narrative bzw. rhetorische Analysen rezeptionsästhetisch nach der intendierten oder tatsächlichen Wirkung beim Vollzug des Lesens und Hörens fragen (§ 1.4.1; 2.2.6).46 Als Christen müssen wir die theologische Relevanz der historischen Bibelwissenschaft mit allen ihren Methoden bestimmen: Ihre theologische Bedeutung liegt in ihrem Beitrag zur Erinnerung an Jesus, der den heutigen Möglichkeiten entspricht. Sie ist das Instrument der Rückbindung des Glaubens an die Person Jesu und zugleich ein Instrument zur Kontrolle seines Bekenntnisses. Die profane Forschung muss sich dessen bewusst werden, dass die historische Erforschung der Bibel mit dem geschichtlichen Charakter ihres Inhalts, der Offenbarung Gottes in der Geschichte Jesu Christi, zusammenhängt. Weil das Auftreten Jesu ein einmaliges geschichtliches Ereignis war, sind die Methoden der historischen Bibelwissenschaft nicht zufällig oder sachfremd, sondern ein angemessenes Mittel zur Interpretation seiner Botschaft. Nicht zuletzt die zentralen Verkündigungsinhalte in den einzelnen Schriften nachzuzeichnen, ist eine Kernaufgabe exegetischer Arbeit. Das Neue Testament ist nicht nur die wichtigste historische Quelle für die Erforschung der Geschichte der Jesusbewegung, sondern auch die entscheidende Basis für die kirchliche Verkündigung und den christlichen Glauben. Daher ist die Bibel nicht nur als Grundlage zur Rekonstruktion der Vergangenheit von Interesse, sondern auch für die Sinnbildung und Lebensorientierung in der Gegenwart. Die Aufgabe der Exegese als einer historischen Disziplin bleibt es, die ursprüngliche Bedeutung der biblischen Texte zu rekonstruieren, ihre Funktion im Entstehungszusammenhang darzustellen und ihren Sinngehalt verständlich zu machen. Davon zu unterscheiden ist die kirchliche Vermittlungsaufgabe, die von der exegetischen Erschließung der biblischen Texte profitiert, für die konkrete Umsetzung aber natürlich noch weiterer hermeneutischer, systematisch- und praktisch-theologischer Reflexion bedarf. 1.4.6

Das Vorverständnis des Lesers

 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 41975; Ulrich H. J. Körtner, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hemeneutik, Göttingen 1994; Anthony C. Thiselton, New Horizons in Hermeneutics, Exeter 1985.

Gerade die Tragweite der biblischen Texte, die bei den Gottesdiensten gelesen werden und in denen Jesus als Schlüsselperson der menschlichen Hoffnung (Herr, Sohn Gottes, Heiland) bezeichnet wird, erweckt das Interesse an der Bibel.

46 3

1993.

Vgl. zur Einführung W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament, Freiburg u. a.

28

1 Hinführung

Doch muss betont werden, dass die Theorie des Verstehens keine spezifisch biblische oder theologische Hermeneutik kennt. Zu jedem Text gehört ein Vorverständnis. Jeder Text wird mit einer pragmatischen Absicht konzipiert und aufgeschrieben. Am Anfang jedes Texts steht die Überzeugung, dass das Textgewordene „der Rede (bzw. des Lesens) wert ist“. Ein Unterschied besteht nur in der Intensität, Tragweite und Bedeutung des Aufgeschriebenen und des Vorverständnisses, mit dem sich die Leser für die verschiedenen Texte interessieren.47 Existenziell kann der Unterschied zwischen biblischen und anderen Texten qualitativ sein, doch ist die Struktur der Interpretation in beiden Fällen ähnlich. Prinzipiell gibt es nur eine Hermeneutik, sonst wäre die Hermeneutik keine Theorie der Kommunikation.48 Für Rudolf Bultmann ist das Interesse an der Bibel ein Spezialfall des existenziellen Vorverständnisses.49 Wir müssen jedoch hinzufügen, dass es sich um ein Vorverständnis handelt, das zwar existenziell aufgenommen, aber sozial tradiert und artikuliert wird.50

1.5

Das Wesen der Deutung

 Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik (1950), zuletzt in: ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 1952, 211–235; Paul Ricoeur, Biblical Hermeneutics, in: Semeia 4 (1975), Missoula, MT 1975, 27–148; ders., De l’interpretation (1983), in: ders., Du texte à l’action. Essays d’herméneutique, Paris 1986, 11–35.

Die Interpretation ist bestrebt, den Abstand zwischen dem Text und dem Leser durch einen Metatext zu überbrücken. Mit ihrer Arbeit versucht die Exegese, die zeitliche 47

Vgl. die höchst aufschlussreichen autobiographischen Essays zahlreicher bekannter Neutestamentlerinnen und Neutestamentler bei E.-M. Becker (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft (UTB), Tübingen 2003. 48 Dies gilt als Kritik u. a. für die in vielerlei Hinsicht berechtigte kanonische Deutung der Bibel (canonical approach) bei B. S. Childs, The New Testament as Canon (Lit. § 1), 34 ff., und für die Hervorhebung der Endgestalt des Texts bei H. W. Frei, Types of Christian Theology, New Haven 1992, 15. Sie unterschätzen die referentielle Dimension des Texts, d. h. seine Rückbindung, die ihn mit der Geschichte Jesu verbindet (§ 1.4.5). Wenn die kritische Interpretation die Grenzen des Kanons nicht prinzipiell angreift, bedeutet dies nicht, dass die Exegeten die Kanonizität respektieren müssten, sondern dass die kanonischen Texte wirklich etwas Gemeinsames haben, das der kritischen Untersuchung ihrer Gemeinsamkeiten standhält (§ 9). 49 Vgl. R. Bultmann, Ist voraussetzungslose Exegese möglich?, zuletzt in: ders., Glauben und Verstehen III, Tübingen 31965, 142–150, hier 149. 50 Zur Auslegungsgeschichte der einzelnen biblischen Bücher hat W. Werbeck in den einschlägigen Artikeln der RGG3 die Quellen aus der ganzen Kirchengeschichte einschließlich Sekundärliteratur zusammengestellt (vgl. ergänzend die Literaturverzeichnisse der neueren Kommentare, z. B. KEK oder EKK).

1.5 Das Wesen der Deutung

29

Distanz durch die Rekonstruktion der ursprünglichen Textwelt (Remythisierung), durch die Untersuchung der Auswirkungen jener Welt auf die Welt des ursprünglichen Lesers (authorial reader) und durch die Konfrontation der Textwelt mit der Welt des heutigen Lesers zu überwinden. Dadurch soll der Leser erkennen können, wie der Text seinem Selbstverständnis und seiner Orientierung in der (Sprach-)Welt dient.51 Die Produktion des Metatexts (in Form einer Meditation, literarischen Einführung, Predigt, eines Fachkommentars oder Essays) ist aber nicht das eigentliche Ziel, sondern sie soll nur der Rückkehr zum Text dienen – dem besseren Verständnis des Texts selbst, dem neuen Lesen in einer kritisch geläuterten „zweiten Naivität“.52 Ohne diese unmittelbare Begegnung mit dem Text wäre seine Wirkung geschwächt. Der Zweck der Deutung besteht also darin, dass der Leser mit Hilfe des Kommentars einen neuen Zugang zum Text und dadurch zu sich selbst findet. Im Grunde handelt es sich beim Prozess der Deutung eines alten oder fremden Texts um die Konfrontation verschiedener Weltprojekte – der Textwelt und der Welt des Lesers: a) Rudolf Bultmann definiert als Voraussetzung des Verstehens „das Lebensverhältnis des Interpreten zu der Sache ...“, die im Text – direkt oder indirekt – zu Wort kommt.53 Der elementarste Ausdruck dieses Verhältnisses ist die Frage. Der heutige Leser konfrontiert den Text mit seinen Problemen, er erwartet von ihm trotz der Differenz der Zeiten eine Hilfe für die Orientierung in seiner gegenwärtigen Welt. b) Da der Leser in einer von der Textwelt unterschiedlichen Welt lebt, ist HansGeorg Gadamer einen Schritt weiter gegangen. Er definierte die Auslegung als die bewusste Annäherung und Verschmelzung der Horizonte des Verfassers des Texts und des heutigen Lesers.54 Die Spannung zwischen der Bewegung des Texts zu sich selbst und seiner Wendung nach außen ruft das Gespräch zwischen dem Leser und dem Text hervor, das auch als hermeneutischer Zirkel bezeichnet wird.55 Die Deutung ist nie definitiv, nie vollendet. Sie kann allerdings die Richtung des authentischen Verstehens zeigen, die nicht nur in der Erkenntnis besteht, sondern auch mit einer Entscheidung verbunden ist. 51

Siehe besonders M. Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Gesamtausgabe Bd. 63, Frankfurt / M. 1988, 80; ähnlich P. Ricoeur, Soi-même comme un autre (Lit. § 1.5), 168 ff. 345 ff.; E. Lévinas, Totalité et Infini, Den Haag 61993 , Kap. I,B,7. 52 Der Begriff wurde geprägt von P. Ricoeur, Philosophie de la volonté II. La symbolique du mal, Paris 1960, und monographisch bearbeitet bei M. I. Wallace, The Second Naiveté (SABH 6), Macon, GA 21995. 53 Vgl. R. Bultmannn, Das Problem der Hermeneutik, 217 (Hervorhebung P.P. / U.H.). 54 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (Lit. § 1.5.5), 286–289. Zur Kritik U. H. J. Körtner, Der inspirierte Leser (Lit. § 1.5.5), 14 ff.; K. Berger, Hermeneutik (Lit. § 1.3), 217 f. 55 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (Lit. § 1.5.5), 275 f.; P. Ricoeur, De l’interprétation, 27 f.

30

1 Hinführung

c) Eben dieser Gedanke wurde von Gadamer selbst noch weiter entfaltet:56 Die Distanz zwischen den verschiedenen zeitlich, räumlich oder sozial getrennten Weltprojekten ist nur in gewisser Hinsicht aufhebbar.57 Die Verschmelzung der Horizonte kann nicht durch eine Anpassung der Weltprojekte erreicht werden. Der erste Schritt wäre dann eine Erweiterung der Welt des Lesers durch die Welt des interpretierten Texts. Der Leser erkennt nicht nur, wie der Text damals fungierte. Er muss auch lernen, die Textwelt zu respektieren, d. h. anzuerkennen, dass er der Textwelt gegenüber nicht überlegen ist, wenn er ein anderes, „späteres“ Weltbild hat und mit heutigen Kategorien arbeitet.58 Seine Welt erstreckt sich weiter in Zeit und Raum, aber sie wird auch durch eine andere, aus dem Text übernommene Gestaltung der menschlichen Erfahrung bereichert. Sein Horizont wird um die vergangene und fremde Situation erweitert, aus welcher er den Text begreifen kann. Das Ziel besteht darin, dass die durch den Interpreten (Exegeten) angebotene erweiterte Welt sowohl für die ursprünglichen Adressaten des Texts als auch für den gegenwärtigen Leser bewohnbar ist.59 Eine solche Prüfung ist bei theologisch geprägten Texten vor allem eine Aufgabe theologischer Reflexion. d) Das Ziel der Interpretation ist allerdings nicht nur die Erweiterung der Welt des Lesers um die Welt des Texts bzw. aller einzelnen Texte, die er liest und verstehen möchte. Das eigentliche Ziel ist die grundsätzliche „Öffnung“ seiner Welt – die Entdeckung seiner eigenen Situiertheit, die endgültige Entideologisierung seines Weltprojekts, die Einsicht in die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins überhaupt. Für die biblischen Texte gilt aber auch, sogar noch intensiver: Die Inkarnation Gottes betrifft die Geschichte, ihre Deutung ist an keines der einzelnen Weltprojekte gebunden. Eine solche Abhängigkeit untersagt schon das erste Gebot des Dekalogs (Ex 20,3).

56

Ebd. 285 f. In diesem Sinn wurde Gadamer kritisiert von Harold Bloom, The Anxiety of Influence, New York 1973, 93. Ähnlich wie einige Repräsentanten der Konstanzer Schule und der Dekonstruktivisten (bes. J. Derrida) betont auch H. Bloom die mögliche negative, bremsende Rolle der Tradition. Dies bestätigt allerdings nur, dass das Neue nur in (eventuell auch polemischer) Auseinandersetzung mit der Tradition sagbar ist. 58 Dies ist schon bei der Übersetzung der Bibel zu beachten. Die Wirkung der Übersetzung auf die heutigen Leser kann und darf nicht dieselbe sein wie die Wirkung des Urtexts auf die ursprünglichen Leser (so wird die gute Übersetzung definiert bei E. A. Nida / Ch. R. Taber, Theorie und Praxis des Übersetzens unter besonderer Berücksichtigung der Bibelübersetzung, London 1969). Er weiß nämlich, dass der Text alt ist, er interessiert sich für ihn, weil er alt ist, und weiß, dass er bei seinem Lesen eine Deutung braucht. Die Übersetzung kann sie nicht ersetzen, weil eine gute Übersetzung die Unterschiede der Welten (Weltprojekte) respektieren muss. Sonst wäre sie keine Übersetzung. 59 Vgl. P. Ricoeur, De l’interprétation, 32. 57

1.5 Das Wesen der Deutung

31

e) Wenn ein alter Text, den wir aus seiner Situation in der Vergangenheit begreifen müssen, wirklich bedeutend ist, kann er sich immer auf die Zukunft beziehen. Metaphorisch könnte er daher als „Erinnerung an die Zukunft“ verstanden werden. Der Weg zurück zum Text ist dann ein Weg in die Zukunft. Es gibt Texte, die sich auf die letzte, eschatologische Zukunft beziehen. Ihrem Selbstanspruch nach gilt dies von den meisten Texten des Neuen Testaments. Wie jemand sich mit diesem Anspruch auseinandersetzt, hängt von der persönlicher Entscheidung jedes einzelnen Menschen ab. Alle bisherigen Überlegungen bringen keine umwälzende Änderung für die Gestaltung der literarischen und theologischen Einführung mit sich. Wir versuchen nur, die bekannten Informationen, Methoden und theologischen Interpretationen in einen umfassenden hermeneutischen Rahmen zu stellen, damit wir besser wissen, was eine Darstellung der Literatur und Theologie der neutestamentlichen Schriften leisten kann.

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

Das Neue (§ 1.3.3) wird erst im Verhältnis zu den Traditionen sichtbar, die vorgegeben sind und im Folgenden erwähnt werden sollen. Fast alle Schriften des Neuen Testaments sind von Juden verfasst, also Sympathisanten, die zum Umkreis der Synagogen gehörten. Auch Jesus war Jude, weshalb beispielsweise das Vaterunser (§ 6.3.4.3b) aus dem besten Erbe des Judentums erwächst und grundsätzlich auch von Juden gebetet werden könnte. Um die Theologie der neutestamentlichen Schriften sowie ihre literarische Gestalt und ihre gegenseitigen Beziehungen deuten zu können, sind Grundkenntnisse der Geschichte Israels und der jüdischen Traditionen unerlässlich.1

2.1 Die jüdische Tradition  Samuel Amsler, L’Ancien Testament dans l’Église, Neuchâtel 1960; Wilhelm Bousset (/ H. Greßmann, E. Lohse), Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter (HbNT 21), Tübingen 41966; Earl E. Ellis, The Old Testament in Early Christianity (WUNT 54), Tübingen 1991; Hans Hübner, Biblische Theologie I (Lit. § 1); George Foot Moore, Judaism in the First Century of the Christian Era I–III, Cambridge, MS 1927–1930 (Nachdruck 1966); Emil Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi I–III, (1901–1911), Hildesheim 1964 (Nachdr.), engl. Neubearb. (I–V) hg. v. Géza Vermes / Matthew Black, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C – A.D. 135), Bd. I–III,2, Edinburgh 1973–87; Jahrbuch für Biblische Theologie 3 (Zum Problem des biblischen Kanons), Neukirchen 1988 (Sammelband); Johann Maier, Zwischen den Testamenten (NEB. AT.E 3), Würzburg 1990; Julio Trebolle Barrera, The Jewish Bible and the Christian Bible. An Introduction to the History of the Bible, Leiden u. a. 1998; vgl. auch § 3 (Kanon).

1 Zur Geschichte und Religion in der Zeit des zweiten Tempels vgl. als gut lesbare Einführung Johann Maier, Zwischen den Testamenten (NEB.AT.E 3), Würzburg 1990 (dort weitere Lit.) sowie als Standardwerk E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C – A.D. 135), ed. G. Vermes et al., Bd. I–III,2, Edinburgh 1973–1987 (zur Würdigung dieser Neubearbeitung des großartigen, ursprünglich 1901–1911 erschienenen Werks vgl. M. Hengel, Der alte und der neue „Schürer“, JSSt 35 [1990], 19–72, jetzt ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. KS II [WUNT 109], Tübingen 1999, 157–199). Zur neueren Literatur vgl. R. Deines, Die jüdische Mitwelt, in: H.-W. Neudorfer / E. J. Schnabel, Studium des Neuen Testaments. Einführung in die Methoden der Exegese, Wuppertal / Giessen 2006, 101–140.

2.1 Die jüdische Tradition

2.1.1

33

Die Bibel der Juden

Die Bibel war die Schrift, die alle Juden miteinander verband, einschließlich derjenigen, die in der Diaspora lebten, d. h. in der „Zerstreuung“ außerhalb Palästinas. Selbst die Mysterienkulte, deren Teilnehmer sich in der ganzen damaligen Welt durchsetzten und sich seit der hellenistischen Epoche durch eine bewusste Entscheidung an ihre Gottheiten banden, haben als Grundlage ihres Kultes keine heiligen Schriften. Allein das Judentum knüpfte seinen Glauben in besonderer Weise an ein Buch, die Bibel. Der Bezug auf die jüdische Bibel und die Argumentation, die auf ihrem Text aufbaut, sind eine Gemeinsamkeit aller Schriften und Schichten des Neuen Testaments. Dieser durchgehende Rückbezug durch Zitate und Anspielungen ist der spezifische Zug der neutestamentlichen Intertextualität (vgl. § 5.5). Der deutsche Ausdruck „Bibel“2 geht über lat. „biblia“ auf das griechische Wort „tá biblía“ (die Bücher) bzw. das Diminutiv „biblíon“ (Büchlein) zurück. Das Wort bezeichnete zunächst den Bast der ägyptischen Papyrusstaude, dann das daraus hergestellte Schreibmaterial und schließlich das Schriftstück, den Brief, das Buch. Im Neuen Testament dient das Wort zur Bezeichnung für Einzelschriften.3 Als umfassender Oberbegriff für das Alte und Neue Testament wird „tá biblía“ seit Johannes Chrysostomus (349–407) gebraucht.4 Von den einzelnen Büchern der Bibel (unserem Alten Testament) sprachen die ersten Christen im Anschluss an die frühjüdische Terminologie als „Schriften“ (griech. graphaí) oder – singularisch zu einer einheitlichen Größe zusammenfassend – als „Schrift“ (graphḗ).5 Sie konnten auch vom „Gesetz“ (nómos), d. h. der Tora, reden (mal für den Pentateuch, mal für die ganze Schrift)6 oder in einer Doppelwendung vom Gesetz und den Propheten.7 In 1Tim 5,18 wird die „Schrift“ als Autorität angeführt. Inhaltlich bezieht sich der Terminus auf zwei durch „und“ verbundene Zitate aus Dtn 25,4 („Einem dreschenden Ochsen sollst du das Maul nicht 2 Vgl. M. Luther, Biblia: das ist: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545, hg. v. H. Volz, München / Herrsching o.J. (1972). 3 Vgl. „bíblos“ für das Buch des Mose (= die Tora; Mk 12,26) oder des Propheten Jesaja (Lk 3,4), das Buch der Propheten (Apg 7,42) und der Psalmen (Lk 20,42; Apg 1,20) sowie „biblíon“ für Jesaja (Lk 4,17) und das Johannesevangelium (Joh 20,30). 4 Johannes Chrysostomus, hom. in Col. 9,1 (PG 62,361). 5 Vgl. für die Schriften insgesamt im Plural (Mt 26,54; Lk 24,27; Joh 5,39; Apg 17,2.11; 18,24.28; Röm 15,4; 1Kor 15,3 f.) oder Singular (Joh 2,22; 10,35; Röm 11,2; Gal 3,8.22; Jak 4,5; 1Petr 2,6; 2Petr 1,20), für ganze Schriftteile (Mt 26,56: Propheten) sowie für einzelne Schriftstellen (Mk 12,10; Lk 4,21; Joh 19,37); vgl. auch Zitationsfor meln wie z. B. „es steht geschrieben“ (gégraptai; Mt 4,4.6.7.10; Mk 7,6; Röm 1,17 u. ö.). 6 Vgl. das „Gesetz“ (nómos) für den Pentateuch (Mt 12,5; Lk 2,23.24; Joh 8,5.17; 1Kor 9,9; Gal 3,10) oder die ganze Schrift (Mt 5,18; Lk 16,17; Joh 10,34; 12,34; 15,25; Röm 3,19; 1Kor 9,8; 14,21; 14,34; Gal 4,21b), ferner die Rede vom Gesetz und den Propheten (s. Anm. 7). 7 Vgl. am Anfang und Ende der Bergpredigt (Mt 5,17; 7,12) sowie bei der Frage nach dem wichtigsten Gebot (Mt 22,40), im Zeugnis Jesu über Johannes den Täufer (Lk 16,16 Q: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis Johannes“); vgl. weiter Apg 13,15; 24,14; 28,23; Röm 3,21, aber auch Joh 1,45 (Berufung der ersten Jünger).

34

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

zubinden“) und einem wohl schriftlich vorliegenden Jesuslogion aus Lk 10,7 („Der Arbeiter ist seines Lohnes wert“). In 2Petr 3,16 werden neben den Briefen des Paulus „die übrigen Schriften“ erwähnt, mit denen das Alte Testament gemeint ist (1,20).

Traditionell war der Tempel auf dem Berg Zion in Jerusalem das Symbol der jüdischen Einheit. Der Tempel galt als Wohnort und Thronsitz Gottes. Er bildete das Zentrum des Kults, der mit seinen Opfern die Aufhebung von Schuld ermöglichte, den Zugang zu Gott eröffnete und eine erneuerte Gemeinschaft mit ihm gewährte. Seit der Entstehung des salomonischen Tempels (vor 926 v. Chr.) setzte sich allmählich das Prinzip eines einzigen kultischen Zentrums in Israel durch. Nach seiner Zerstörung bei der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier (587 v. Chr.) und nach dem Exil wurde er 520–515 v. Chr. als der sog. zweite Tempel wieder aufgebaut. Unter Herodes d.G. (37–4 v. Chr.) wurde er umfassend erneuert. Zur Zeit Jesu gab es nur noch einen anderen JHWH-Tempel in Ägypten in Leontopolis (ca. 160 v. Chr. – 73 n. Chr.). Da die Mehrheit der Juden (etwa zwei Drittel bis drei Viertel) in der Diaspora außerhalb Palästinas lebte, spielte sich ihr geistiges Leben vor allem in den Synagogen ab, die als Orte des Gebets, der Toralesung und der Unterweisung über die ganze damals bekannte Welt verstreut waren.8 Eine einheitliche architektonische Gestalt der Synagoge hatte sich zur Zeit Jesu noch nicht herausgebildet, doch war ihre religiöse, liturgische und kulturelle Funktion klar erkennbar. Die Synagoge (griech. synagōgḗ = Versammlung) diente als Ort des Gottesdienstes, doch fehlten die Opfer, die dem Tempelkult in Jerusalem vorbehalten waren. Mit ihrem opferlosen Wortgottesdienst schuf die Synagoge eine wesentliche Voraussetzung nicht nur für die Neuformierung des Judentums nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr., sondern auch für den urchristlichen Gottesdienst (§ 5.3). Im Vordergrund stand im synagogalen Gottesdienst neben den Gebeten und dem Psalmengesang vor allem die Lektüre und Auslegung des Gesetzes, der Tora (hebr. tôrāh = Weisung, Gesetz). Sie umfasst die ersten fünf Bücher der Schrift und wird deshalb auch „Pentateuch“ (griech. pentáteuchos [bíblos] = Fünfrollenbuch) genannt (Gen, Ex, Lev, Num, Dtn). Der gottesdienstlichen Lesung dienten außerdem Bücher aus der Sammlung der „Propheten“ (hebr. nebî’îm), die in die „vorderen“ und „hinteren“ Propheten unterteilt werden. Die „hinteren“ Propheten umfassen die Bücher der Schriftpropheten, 8

Die Entstehung der Synagoge ist ungeklärt. Die ältesten Belege stammen in Ägypten aus dem 3. Jh. v. Chr., die frühesten archäologischen Funde in Israel aus dem 1. Jh. v. Chr. Das Neue Testament erwähnt mehrfach Synagogen in Kapernaum (Mk 1,21 u. ö.), Nazareth (Mk 6,2 par. Lk 4,16), Jerusalem (Apg 6,9; 24,12), Damaskus (Apg 9,2.20), Zypern (13,5), Kleinasien (Apg 13,14.43; 14,1) mit seiner Metropole Ephesus (Apg 18,19.26; 19,8) und Griechenland mit Philippi (Apg 16,13: proseuchḗ = Gebetsstätte), Thessalonich (17,1), Athen (17,17), Korinth (18,4).

2.1 Die jüdische Tradition

35

die den prophetischen Gestalten zugeschrieben werden, nämlich die „großen“ Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel9 sowie die zwölf „kleinen“ Propheten. Letztere werden auch als „Dodekapropheton“ (Zwölfprophetenbuch) bezeichnet und erstrecken sich von Hosea bis Maleachi. Die „vorderen“ Propheten enthalten die meisten der im christlichen Kanon als Geschichtsbücher charakterisierten Schriften (außer 1–2Chr), d. h. Josua bis 2. Könige. Als Propheten gelten diese, weil sie zwar auch von Propheten oder geistbegabten Menschen wie z. B. Samuel (1Sam 19,20), Elia (1Kön 19,10), Elisa (2Kön 2–9) u. a. berichten, vor allem aber das Zeitgeschehen in prophetischer Weise von der Geschichte JHWHs mit seinem Volk her deuten. Das Gesetz und die (vorderen und hinteren) Propheten bildeten schon im 2. Jh. v. Chr. eine Sammlung von Büchern, aus denen im Gottesdienst vorgelesen wurde. Im Prolog zum Buch Jesus Sirach begegnet „das Gesetz und die Propheten“ (s. Anm. 7) um 132 v. Chr. erstmals als feststehende Bezeichnung für eine allseits anerkannte Schriftensammlung. Im synagogalen Gottesdienst war ihre Lesung meistens mit einer Auslegung der vorgetragenen Abschnitte verbunden. So hat nach Lk 4,16 ff. Jesus in der Synagoge von Nazareth Jes 61 dahingehend gedeutet, dass durch seine Sendung die Worte vom „Gnadenjahr des Herrn“ erfüllt sind. Nach Apg 13,15 wurde auch Paulus in einer Synagoge „nach der Lesung des Gesetzes und der Propheten“ zu einer Predigt aufgefordert. Der letzte Teil enthält den Rest des Alten Testaments, der seit dem 2. Jh. n. Chr. als „Schriften“ (hebr. ketûbîm) bezeichnet wurde, auch griech. „Hagiographen“ (heilige Schriften) genannt. Dazu gehören die Psalmen, Hiob, die Sprüche und die fünf Megillot, d. h. die Buchrollen, die zu den jüdischen Hauptfesten gelesen wurden (Hoheslied, Ruth, Klagelieder, Prediger und Esther). Den Schluss bilden Daniel und die beiden Chronikbücher sowie Esra und Nehemia. Dieser Teil war in neutestamentlicher Zeit noch nicht ganz abgeschlossen, Gesetz und Propheten als Grundbestand jedoch unangefochten. Darauf könnte die dreigliedrige Rede vom Gesetz des Mose, den Propheten und Psalmen in Lk 24,44 hinweisen.10 Eine solche Dreiteilung der biblischen Schriften ist erstmalig im Prolog des Jesus Sirach belegt, den der Enkel des Verfassers um 132 v. Chr. seiner Übersetzung des hebräischen Originals ins Griechische voranstellte und in dem er vom Gesetz, den Propheten und den anderen, den übrigen Büchern spricht, die hier offensichtlich noch keinen festen Namen haben.11

9

Daniel folgt erst im dritten Teil. Möglich ist auch, dass Lukas den Psalter hier nicht stellvertretend für den dritten Teil nennen, sondern nur wegen seiner besonderen Bedeutung für den christologischen Schriftbeweis hervorheben wollte; vgl. stets redaktionell in Lk 20,42 (Ps 110,1); 24,44; Apg 1,20 (Ps 69,26); 13,33 (Ps 2,7). 11 Vgl. in 4Q397 14–21 10 das Buch Moses, die Bücher der Propheten und Davids (sc. Psalmen). Selbst Philo (VitCont 25) spricht noch unbestimmt von Gesetz, Propheten, Hymnen und anderen Schriften. 10

36

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

Als Ganzes ist die Schrift, das christliche Alte Testament, eine Schriftensammlung, die von der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel erzählt und in ihrer Grundstruktur einen narrativen Charakter hat. Diese Darstellungsweise hängt mit der Auffassung der Offenbarung zusammen, dass Gott Israel zu seinem Volk erwählt, es durch die Geschichte geführt und ihm seinen Willen kundgetan hat. Von dieser Geschichte gibt die Schrift Zeugnis (§ 1.5.2). Seit dem Mittelalter wurde die dreiteilige jüdische Bibel nach den Anfangsbuchstaben der einzelnen Teile (tôrāh, nebî’îm, ketûbîm) im Judentum auch mit einem Kunstwort Tanakh genannt. 2.1.2

Bibel und Talmud

 (H. L. Strack /) Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 6 Bde., München 1926–1961 (seither mehrere Auflagen); Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 81992 (wichtige Einführung); Hyam Maccoby, Early Rabbinic Writings, Cambridge 1988.

Die thematischen, an Sachfragen orientierten Auslegungen des Gesetzes (der Tora), die bedeutende jüdische Lehrer etwa seit dem Ende des 1. Jh.s v. Chr. vortrugen, wurden mündlich tradiert und später unter der Bezeichnung Mischna gesammelt.12 Das Wort heißt „Wiederholung“ (von hebr. šnh = wiederholen), meint das Einprägen der Lehre durch Wiederholung und bezeichnet die tradierte Gesetzeslehre im Unterschied zum geschriebenen Gesetz, der Tora des Mose. Als gegen Ende des 1. Jh.s n. Chr. die hebräische Bibel – bestehend aus Gesetz, Propheten und Schriften (hebr. tôrāh, nebî’îm und ketûbîm) – abgeschlossen wurde, trat die Mischna mit einem autoritativen Anspruch als „mündliche Tora“ neben die Mikra (miqrā’), d. h. die (Schrift)Texte, die im synagogalen Gottesdienst vorgelesen wurden. Lehrer dieser mündlichen Tora waren die Rabbinen (von hebr. rabbi = mein Meister, Lehrer), d. h. Schriftgelehrte, die sich den Fragen der Gesetzesauslegung widmeten und an das Erbe der Pharisäer (§ 6.3.4.1) anknüpften.13 Als die mündliche Überlieferung der Rabbinen im 2. Jh. n. Chr. anwuchs, wurden die Lehrsätze schriftlich fi xiert. Durchgesetzt hat sich die Sammlung, die Jehuda haNasi zugeschrieben wurde (Jehuda I., „der Fürst, Patriarch“ oder einfach „Rabbi“ genannt; ca. 175–217 n. Chr.). Kodifiziert wurde sie in den ersten Jahren des 3. Jh.s n. Chr. Die Mischna ist das Werk der Tannaiten („Lehrer“ von hebr. šnh = wiederholen, lehren, lernen), d. h. der Rabbinen nach der Tempelzerstörung in den Jahren 70 bis 200 n. Chr. Sie besteht aus sechs „Ordnungen“ (hebr. sedarim) mit einer wech12

Vgl. zum Folgenden G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München

8

1992. 13

Im Deutschen bezeichnet der Titel „Rabbiner“ einen ordinierten und von einer jüdischen Gemeinde angestellten Gelehrten und Seelsorger.

2.1 Die jüdische Tradition

37

selnden Zahl von insgesamt 63 „Traktaten“ (hebr. massekhtot).14 Nach dem Verlust des Tempels brachte die Mischna wie kein anderes Werk das Selbst- und Weltverständnis des rabbinischen Judentums zum Ausdruck und prägte dessen weitere Entwicklung. Die späteren Deutungen ähnlicher Art sind das Werk der Amoräer („Sprecher“ von hebr. ’mr = sagen; 3.–5. Jh.), d. h. der Kommentatoren der tannaitischen Lehren. Sie knüpfen thematisch an die Mischnatraktate an und sind in der Gemara („Vervollständigung“) gesammelt, die als „Vollendung“ der schriftlichen Tora betrachtet wird. Die Gemara bildet zusammen mit der Mischna den Talmud („Studium, Belehrung, Lehre“ von hebr. lmd = lernen bzw. limmad = lehren). Da zwei Fassungen der Gemara existieren, die palästinische (abgeschlossen um 400 n. Chr.) und die babylonische (5. Jh.), gibt es auch zwei Versionen des Talmuds, den umfassenderen Talmud Bavli15 und den Talmud Jerushalmi.16 Die Midraschim (Sg. Midrasch = „Lehrvortrag“ von hebr. drš = suchen, fragen, erforschen) sind Auslegungen der biblischen Bücher. Als solche haben sie nicht dieselbe Autorität wie der Talmud erreicht, wenn auch einige von ihnen schon aus tannaitischer Zeit stammen. Ähnliches kann über die meisten Targumim („Übersetzungen“) gesagt werden, bei denen es sich um freier paraphrasierende Übertragungen (Interpretationen) der hebräischen Bibel in die aramäische Alltagssprache handelt. Diese Hintergründe sind für das Verständnis des Neuen Testaments aus drei Gründen von Bedeutung: Erstens gehören die Anfänge der später schriftlich fixierten jüdischen Tradition in die neutestamentliche Zeit. Sie bilden eine wichtige Quelle für die Darstellung der Religion und Kultur des damaligen Judentums. Wenn wir sie zur theologischen Deutung des Neuen Testaments heranziehen, müssen wir uns allerdings vor einer anachronistischen Anwendung hüten. Im Judentum der neutestamentlichen Zeit waren die Repräsentanten der tannaitischen Tradition eine einflussreiche Gruppierung, die das Erbe der Pharisäer (§ 6.3.4.1) weiterführte und bei der Neuformierung des Juden14

Text: G. Beer / O. Holtzmann u. a. (Hg.), Die Mischna, Gießen / Berlin 1912 ff. („Gießener Mischna“; zu den kritischen Editionen s. G. Stemberger, Einleitung [s. Anm. 12], 141 f.); Übersetzungen: L. Goldschmidt (s. Anm. 15); H. Danby, The Mishnah, London 1933 (zahlreiche Nachdrucke); J. Neusner, The Mishnah, New Haven – London 1988. 15 Text: Talmud Bavli, Ausgabe Romm, Wilna 1880–1886 (zahlreiche Nachdrucke), Übersetzung: L. Goldschmidt, Der babylonische Talmud, 12 Bde., Berlin 1929–1936 (mehrfache Nachdrucke); I. Epstein (Hg.), The Babylonian Talmud. Translated into English with Notes, Glossary and Indices, 35 Bde., London u. a. 1935–1952; ders., Hebrew-English Edition of the Babylonian Talmud, 36 Bde., London u. a. 1960–1990. 16 Verbreitetste Textausgabe: Talmud Yerushalmi, Krotoschin 1866 (mehrere Nachdrukke); Übersetzung des Talmud Yerushalmi (ÜTY), hg. v. M. Hengel / P. Schäfer u. a., Tübingen 1975 ff.; J. Neusner, The Talmud of the Land of Israel, 35 Bde., Chicago 1982–1994.

38

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

tums nach der Katastrophe der Tempelzerstörung (70 n. Chr.) zur beherrschenden Kraft wurde. Die Vorläufer der Tannaiten waren in neutestamentlicher Zeit aber keinesfalls die einzige bedeutende geistige Strömung. Nicht alle Entscheidungen der jüdischen Behörden und nicht alle Sitten der Juden zur Zeit von Jesus und Paulus sind daher aus ihren später kodifizierten Lehren rekonstruierbar. Neben den Pharisäern gab es auch die Sadduzäer, die Essener von Qumran und die Zeloten.17 Noch wichtiger ist allerdings der Umstand, dass der Stoff des Talmuds erst in nachneutestamentlicher Zeit fortlaufend fi xiert wurde, dass zwischen Jehuda I. und der neutestamentlichen Zeit der Jüdische Krieg mit dem Ende des Tempelkults in Jerusalem (66–70 n. Chr.) stattfand und dass die Pharisäer danach ihren Einfluss auf das ganze Judentum – einschließlich der Diaspora – in einem enormen Ausmaß steigern konnten. Diese Ereignisse prägten die geistige Situation des Judentums. Außerdem konnte nur ein Teil der Bestimmungen der Mischna mit einigen Aussagen der Baraita oder Tosefta schon zur Zeit des Neuen Testaments anerkannt gewesen sein. Die neutestamentliche Exegese muss deshalb beachten, dass nur ein Teil dessen, was im Talmud steht, schon zur Zeit Jesu galt, und dass die Grenze schwer zu finden ist. Die Tosefta („Hinzufügung, Ergänzung“) und die Baraita (die „draußen befindliche“ Lehre) sind zwei zusätzliche Sammlungen von Deutungen des Gesetzes, der Tora, die die Lehren der Mischna ergänzen und ebenfalls der tannaitischen Zeit zugerechnet werden. Einige Teile der Baraita werden auch in den beiden Versionen der Gemara zitiert. Dieser Sachverhalt darf z. B. bei der Arbeit mit dem bekannten Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch von (H. L. Strack /) Paul Billerbeck nicht vergessen werden, der durch seine umfangreiche Zusammenstellung von Paralleltexten wesentlich zur Erschließung des jüdischen Hintergrunds beigetragen hat.18

17 Zu den Pharisäern und Sadduzäern s. § 6.3.4.1 (Petit). Die Essener von Qumran trennten sich zu Beginn der Regierungszeit der Hasmonäer (um 152 v. Chr.) vom Jerusalemer Tempelkult, lebten als eine priesterlich orientierte Gemeinschaft mit strengen Regeln für das Gemeinschaftsleben und gingen mit der Zerstörung ihrer Siedlung am Toten Meer durch die Römer 68 n. Chr. unter (vgl. als gut lesbare Einführung H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg u. a. 71998; für einen ersten Überblick H. Lichtenberger / A. Lange, Art. Qumran, TRE 28, 45–79 oder A. Lange, Art. Qumran, RGG4 6, 1873– 1896). Die Zeloten (von griech. zḗlos = Eifer) waren eine religiös motivierte antirömische Aufstandsbewegung, die im Eifer für Gottes Recht und Reich gegen die nichtjüdische Herrschaft über das Heilige Land kämpfte und im Jüdischen Krieg (66–70 n. Chr.) zur Zerstörung Jerusalems führte (vgl. R. Deines, Art. Zeloten, TRE 36, 626–630). 18 (H. L. Strack /) P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch (Lit. § 12). Das Werk wird heute nur unter dem Namen Billerbeck (Bill.) zitiert, da „Strack (sc. als Herausgeber) mit keinem Wort eine Mitwirkung des Werks für sich in Anspruch genommen hat“ (Vorwort Bd. IV, S.V).

2.1 Die jüdische Tradition

39

Zweitens ist die Mischna für das Neue Testament wegen ihrer literarischen Gestaltung bedeutend: Zunächst muss ein Unterschied betont werden: Der Stoff der Mischna wurde als meistens sehr indirekte Deutung der verschiedenen Bestimmungen des Gesetzes tradiert (Halakha = „Lebenswandel“ von hebr. hlk = gehen, wandeln) und thematisch geordnet nach Traktaten, die in sechs Ordnungen gesammelt sind. Die Evangelien dagegen sind narrative Texte, deren Stoff als fortlaufende Geschichte dargeboten wird. Solche Erzählungen haben in der jüdischen Tradition nur indirekte Analogien in der Haggada („Erzählung“, auch aramäisch als Aggada bezeichnet, von hebr. ngd = erzählen).19 In den Evangelien gibt es zwar auch thematische Sammlungen von Sprüchen, z. B. über das Eigentum in Lk 16,1–13. Doch sind diese in den Evangelien völlig in den erzählenden Rahmen eingegliedert, während in der rabbinischen Tradition umgekehrt die haggadischen (erzählenden) Texte in die halakhischen Ausführungen zur Tora integriert sind. Doch gibt es auch Analogien: Die halakhischen Texte bestehen zu weiten Teilen aus Diskussionen, da die einzelnen Deutungen des Gesetzes sich im Streit herauskristallisierten. Die Tannaiten und ihre Nachfolger waren also keine konservativen Heuchler, wie es die neutestamentliche Polemik gegen die Pharisäer nahelegen könnte, sondern Repräsentanten einer jüdischen Reformbewegung. Eine Parallele zu den halakhischen Diskussionen finden wir in den zahlreichen Disputationen (Streitgesprächen) zwischen Jesus und den Pharisäern, die aus den synoptischen Evangelien bekannt sind, z. B. über die Vollmacht Jesu, die Tischgemeinschaft mit Sündern und den Sabbat (Mk 2,1–3,6) oder über die Steuer, die Auferstehung und das höchste Gebot (Mk 12,13–34). Gattungsmäßig handelt es sich bei diesen Streitgesprächen um eine indirekte Analogie, die in der Art und Weise manche Gemeinsamkeit mit den halakhischen Diskussionen aufweisen. Auch historisch gesehen sind sie ein Beleg für die gegenseitige Beeinflussung zwischen der Jesusbewegung und ihren jüdischen Kontrahenten. Erst nachträglich, nach der Vertreibung der Christen aus der Synagoge in den 70-er Jahren,20 wurden die Streitgespräche mit einer negativen Einschätzung der jüdischen Opponenten verbunden und vor allem von Matthäus in einer scharfen Polemik gegen die Pharisäer zugespitzt (§ 6.3.4.1a). Drittens sehen wir, dass aus jüdischer Sicht die christliche Deutung der Schrift nicht die einzig mögliche ist. Es war die Ostererfahrung, dass der Messias auferstanden ist, aus der heraus die ersten Christen die jüdische Bibel als Vorgeschichte und Vorhersage des Kommens Jesu Christi deuteten und ihren Glauben legitimierten. Der Talmud leugnet die alttestamentliche Auffassung der Offenbarung Gottes (§ 1.5.2; 1.5.4) nicht, dass Gott in der Tora seinen Willen mitgeteilt hat. Er schwächt 19

Die haggadischen Texte enthalten kurze Erzählungen, Anekdoten, Rätsel und ähnli-

ches. 20

S. § 6.3.4; 6.3.4.1; 6.4.5.2a; 7.1.5.3.

40

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

sie jedoch durch die Überzeugung, dass nicht nur der hebräische Textbestand der Bibel ein gewisses Element der Heiligkeit besitzt, sondern auch der Talmud implizit schon in der Offenbarung Gottes auf dem Sinai enthalten ist, bei der Mose die Zehn Gebote empfing. Die ersten Christen deuteten zwar ebenfalls den Wortsinn einiger Texte der Bibel mit rabbinischen Auslegungsmethoden, d. h. bisweilen ohne Rücksicht auf den unmittelbaren literarischen Kontext (§ 2.1.3). Die Funktion des Neuen Testaments ist jedoch in der christlichen Kirche eine andere als die des Talmuds im Judentum. Die neutestamentlichen Schriften wurden nicht verfasst, um die Tora auszulegen, sondern um das Evangelium von Jesus Christus weiterzugeben. Der Stoff und die Idee des zweiteiligen christlichen Kanons, bestehend aus dem Alten und dem Neuen Testament, musste sich unter den Christen erst gegen die tannaitischen Vorstellungen durchsetzen. Dieser Unterschied zum Talmud ist für die Kanongeschichte (§ 3) und für das ganze Verständnis des Neuen Testaments von Bedeutung. 2.1.3

Das Alte und das Neue Testament

 Samuel Amsler, L’Ancien Testament dans l’Église, Neuchâtel 1960; Hartmut Gese, Erwägungen zur Einheit der biblischen Theologie (1970), zuletzt in ders., Vom Sinai zum Zion (BEvTh 64), München 1974, 11–30; Hans Hübner, Biblische Theologie I (Lit. § 1); ders., Vetus Testamentum in Novo 2, Göttingen 1997; Josef B. Souček, Israel und die Kirche im Denken des Apostel Paulus (1971), zuletzt in: Petr Pokorný / ders., Bibelauslegung als Theologie (WUNT 100), Tübingen 1997, 171–182; Günter Stemberger, Jabne und der Kanon, in: Jahrbuch für biblische Theologie 3, Neukirchen 1988, 163–174; Hans Peter Rüger, Das Werden des christlichen Alten Testaments, ebd. 175–189; Peter Stuhlmacher, Theologie 1–2 (Lit. § 1).

a) Christus und die Schrift: Von Anfang an betonten die Christen den inneren Zusammenhang zwischen ihrem Glauben und der Schrift (s. Anm. 5 ff.). Deren Zeugnis lasen sie jedoch im Unterschied zu den Juden kaum als Tora, sondern – trotz mancher Unterschiede im Detail – primär als prophetische Verheißung.21 Die christliche Besonderheit bestand vor allem darin, dass die verschiedenen endzeitlichen und messianischen Erwartungen der jüdischen Bibel (des Alten Testaments) nun auf Jesus bezogen wurden.22 Diese christologische Deutung war nur aufgrund der neuen und endgültigen Offenbarung Gottes möglich, die im Ostergeschehen einen Schlüssel zum Verständnis der Geschichte Jesu bot. Theologisch ist die enge innere Verbindung des Alten und des Neuen Testaments nur im Rückblick vom Neuen Testament 21 Vgl. bes. Gal 3 (§ 5.11.4b); Mt (§ 6.3.3.3a); Lk (§ 6.4.5.2a); Hebr (§ 8.5.3b–c); 1Petr 1,10 f. (§ 8.6.2). 22 Zu den Texten und der urchristlichen Schriftauslegung vgl. F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 93–98.111–142.

2.1 Die jüdische Tradition

41

her zu erkennen und aus einer im Bekenntnis der Kirche verankerten Sicht zu begreifen. Aus dem Alten Testament ist dieser Zusammenhang nicht von vornherein zwingend zu begründen. Besonders Paulus betonte einen wichtigen Zug des Glaubens, den die frühen christlichen Texte sonst nur in Andeutungen enthielten: Er hob das Bewusstsein hervor, dass die Existenz des Volkes Gottes ständig von der freien Entscheidung Gottes abhängt, die von Gnade und Vergebung geprägt ist. Paulus belegte diese göttliche Gnadenwahl vor allem im Römerbrief mit alttestamentlichen Schriftstellen.23 Solche für das Alte Testament typischen Aussagen entsprachen der Grunderfahrung der Christen, die die Offenbarung Gottes in Jesus Christus bekannten. Wenn wir nach der grundlegenden Gemeinsamkeit aller 27 literarischen Einheiten (Bücher) des Neuen Testaments fragen, sind trotz aller Verschiedenheit und z. T. auch Widersprüchlichkeit drei auffällige Merkmale gemeinsam: Erstens ist Jesus die (zumindest vorausgesetzte) Schlüsselgestalt. Zweitens wird seine Bedeutung als eschatologische betrachtet, d. h. aus einer endzeitlichen Perspektive als für das Leben jedes Menschen und für die Vollendung der Geschichte entscheidend. Drittens fehlt nie ein Hinweis auf das Alte Testament und seinen Inhalt.24 Der Ausgangspunkt aller neutestamentlichen Ausführungen ist immer Jesus, es gibt keine einfache Fortsetzung, keine direkte Kontinuität des Erbes der jüdischen Schrift. Die Diskontinuität wird oft ausdrücklich benannt: „Ihr habt gehört ..., ich aber sage euch ...“ (Mt 5,21 ff., bes. 38 f.; vgl. Lk 16,16), oder: „Christus ist des Gesetzes Ende ...“ (Röm 10,4). Und doch wird gerade aus der Sicht des christlichen Glaubens erklärt, dass das Neue eine radikal tiefere und endgültige Offenbarung des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs ist,25 den die jüdische Bibel bezeugt. Anknüpfung und Widerspruch bleiben unauflöslich aneinander gebunden. b) Das „Alte“ und das „Neue Testament“: Diese spannungsvolle Bezugnahme auf die jüdische Bibel bildete eine wesentliche Voraussetzung für die spätere Entstehung einer Gesamtkonzeption des Alten und Neuen Testaments. Die Bezeichnung26 „Altes Testament“ geht auf die lat. Übersetzung „vetus testamentum“ für das griech. „palaiá diathḗkē“ (alter Bund) in 2Kor 3,14 zurück. Dort ist mit diesem Ausdruck jedoch weder der „Alte Bund“ (Bundesschluss vom Sinai) noch eine Schriftensammlung (unser „Altes Testament“) gemeint, sondern die Tora des Mose, d. h. die Tora vom 23 Vgl. die Zitate in Röm 9,27.29; 11,3 f. aus Jes 1,9; 10,22; 1Kön 19,10–18 oder in Röm 11,8 aus Jes 29,10; vgl. J. B. Souček, Israel und die Kirche, 178 f. 24 Vgl. Paulus (§ 5.5.1; 5.11.4b Petit); Mk (Exkurs 5); Mt (§ 6.3.3.3a); Lk (§ 6.4.5.2a); Joh (§ 7.1.5.1); Apk (§ 7.2.2); Hebr (§ 8.5.2–3); 1Petr (§ 8.6.2); 2Petr (§ 8.7.2); Jak (§ 8.8.2c), und weiter die mehrbändige Zusammenstellung von H. Hübner, Vetus Testamentum in novo, Göttingen 1997 ff. 25 Vgl. Mk 12,26 par.; Apg 3,13; 7,32. 26 Vgl. W. Schneemelcher, Art. Bibel III, TRE 6, 22 ff.; ders., NTApo6 I, 4 f.

42

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

Sinai, die im Pentateuch enthalten ist und im jüdischen Synagogengottesdienst vorgelesen wird. Als Benennung für das christliche Alte Testament taucht der Ausdruck erstmals um 170 n. Chr. bei Bischof Melito von Sardes auf, der das Gesetz und die Propheten als „die Bücher des Alten Bundes“ (tá tḗs palaiás diathḗkēs biblía) einzeln auflistet (Eus. h.e. 4,26,13 f.). Im Gegenzug legte sich eine entsprechende Bezeichnung für die neuen Schriften nahe (vgl. 2Kor 3,6), die um 192 im Kampf gegen den Propheten Montanus erstmals belegt ist (Eus. h.e. 5,16,3): „das Wort des Evangeliums des neuen Bundes“ (hó tḗs toú euaggelíou kainḗs diathḗkēs lógos). Bei Tertullian (ca. 160–220), Clemens von Alexandrien (ca. 150–215) und Origenes (ca. 185–254)27 war dieser Sprachgebrauch schon üblich. In den Beschlüssen der Synode von Laodicea (Mitte 4. Jh.) wurde er als Bezeichnung festgeschrieben (Kanon 59). Damit hat die biblische Ausdrucksweise zwar den Anstoß gegeben, doch erfolgte die terminologische Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament im Sinn einer Schriftensammlung erst in der Alten Kirche. Dabei ist zu bedenken, dass das Wort „Testament“ als lateinische Übersetzung für den „Bund“ (hebr. berît, griech. diathḗkē) benutzt wurde (§ 1.3.1 Abb.1). In der jüdischen Tradition ist dieser Ausdruck nicht im Sinn eines wechselseitigen Vertrags oder Bündnisses auf gleicher Augenhöhe gemeint, sondern einer einseitigen heilvollen Anordnung, Verfügung, Setzung oder Willenserklärung, bei der Gott als der eine Partner das Leben des anderen, schwächeren, d. h. des Gottesvolks, schützt (1Kor 11,24 f.; vgl. Jer 31,31–34). Dieser ursprüngliche Wortsinn ist mit der lateinischen Übersetzung weithin zurückgetreten, sodass sich eine problematische Bedeutungsverschiebung vom „Bund“ zum „Testament“ als einer (letztwilligen) Verfügung ergab. Außerdem ist bei den beiden Adjektiven zu beachten, dass das Attribut „neu“ das Alte Testament nicht als veraltet abwertet, sondern an die prophetischen Ankündigungen eines neuen Bundes anknüpft (Jer 31,31 ff.) und die endgültige, eschatologisch entscheidende Erneuerung der göttlichen Heilssetzung im Christuszeugnis des Neuen Testaments hervorheben soll. Um jeglichen Verdacht einer Abwertung zu vermeiden, wird von manchen heute die Bezeichnung „Hebräische Bibel“ bevorzugt. Doch ist dieser Name nicht unproblematisch, da er keine jüdische Bezeichnung ist und auch die wechselseitige Bezogenheit von Altem und Neuem Testament nicht mehr anklingen lässt, die für das christliche Verständnis konstitutiv ist. Außerdem macht er mit dem Hebräischen statt der Religion die Sprache zum Unterscheidungsmerkmal, obwohl Teile von Daniel und Esra auf Aramäisch abgefasst sind und in neutestamentlicher Zeit viele Juden ihre Bibel auf Hebräisch gar nicht mehr verstehen konnten. Sie waren auf eine griechische Übersetzung angewiesen und benutzten die Septuaginta (§ 2.1.4). Nicht zuletzt ist die Rede von der „Hebräischen Bibel“ im Blick auf die ersten Christen auch 27

4,1,1).

Vgl. Clemens von Alexandrien (str. 1,5; 5,85); Origenes (comm. in Joh 10,28; princ.

2.1 Die jüdische Tradition

43

historisch irreführend, da diese ihre jüdische Bibel ganz überwiegend in der Gestalt der Septuaginta lasen, deren Wortschatz und Vorstellungswelt die neutestamentliche Sprache und christologische Reflexion beeinflusst hat.28 Dies gilt auch für die Teile der Septuaginta, die als deuterokanonische Schriften (s. Anm. 45) bezeichnet werden, weil sie im hebräischen Kanon keine Entsprechung haben.29 Jedenfalls können wir festhalten, dass das Neue Testament nicht einfach die Fortsetzung des Alten, sondern sein komplementäres Gegenüber ist. Gerade die Polarität bleibt eine ständige hermeneutische Herausforderung für die Kirche. Diese Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität wird durch die kontrastierende Zweiteilung in Altes und Neues Testament nicht nur in der Sache anerkannt, sondern durch den zugleich verbindenden wie unterscheidenden Namen auch terminologisch dauerhaft wach gehalten (§ 3.5). c) Die christliche Rezeption des Alten Testaments: In der christlichen Bibel übt das Alte Testament eine zweifache Funktion aus: Zunächst werden einzelne Aussagen des Alten Testaments zur Unterstützung der christlichen Bekenntnisse und Traditionen herangezogen, manchmal in einer – rabbinischen Auslegungsmethoden entsprechenden – Ausdeutung des Wortlauts gegen den Wortsinn, den die Stelle in ihrem ursprünglichen Kontext hat (z. B. der eine Same Abrahams in Gal 3,16; § 5.11.4b). In solchen Fällen wird das Alte Testament verwendet, um einzelne christliche Aussagen in den Augen von Juden und Judenchristen zu legitimieren. Darüber hinaus wurde die jüdische Bibel aber auch als Ganzes schon zur Zeit der Entstehung des Neuen Testaments als Buch der Vorgeschichte Jesu Christi aufgefasst (vgl. Röm 1,1–4; § 5.6.1.2). Diese Betrachtungsweise ist nicht nur eine Folge der geschichtlichen Entstehung des Christentums aus dem Judentum. Sie liegt auch in einer bewussten theologischen Entscheidung der Kirche begründet, die nicht ohne innere Kämpfe gefällt und durchgesetzt wurde, besonders in der Mitte des 2. Jh.s gegen Markion (§ 3.3b). Die Beibehaltung der jüdischen Bibel im christlichen Gottesdienst und später im christlichen Kanon legitimiert ihre Bedeutung als Vorgeschichte des christlichen Glaubens. 28 Nur durch den Wortlaut der Septuaginta erklärbar sind nach F. Siegert, Einführung 2 (s. Anm. 31), 353, z. B. das Passiv der Segensaussage in Gen 12,3 („eneulogēthḗsontai“; Apg 3,25; Gal 3,8), Dtn 21,23: „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt“ (Gal 3,13), Ps 110,1 (die Gottesbezeichnung „kyrios“ = „Herr“ als Christustitel; § 5.6.1.3), Jes 7,14 („par thénos“ = „Jungfrau“ statt hebr. „’almāh“ = „junge Frau“; Mt 1,23; § 6.3.3.3d), Jes 52,13–53,12 (vier tes Gottesknechtslied; § 5.6.2.1) und Jer 31,31–34 (Ankündigung eines neuen Bundes); vgl. auch die Bedeutung der Präexistenzaussagen über die Weisheit (SapSal 9,1 f.; Sir 24) für die christologische Reflexion (§ 5.6.2.4). 29 Vgl. z. B. Mk 10,19 (Sir 4,1); Jak 1,19 (Sir 5,11) und weiter die Liste der Zitate und Anspielungen im Anhang der Textausgabe von Nestle / Aland.

44

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

Für die Exegese des Neuen Testaments hat diese christliche Rezeption der jüdischen Bibel zur Folge, dass das Alte Testament nicht nur als Korrelat ständig berücksichtigt, sondern gleichzeitig auch in seiner relativen Eigenständigkeit und Autonomie respektiert werden muss. Es gibt auch eine nicht-christliche Auslegung der jüdischen Bibel. 2.1.4

Die Septuaginta und die Sprache des Neuen Testaments

 Literatur zur Septuaginta: Robert Hanhart, Septuaginta, in: Werner H. Schmidt u. a., Altes Testament (UB 421), Stuttgart 1989, 179–196; Mario Cimosa, Guida allo Studio della Bibbia Graeca (LXX), Rom 1995; Gilles Dorival / Marguerite Harl / Olivier Munnich, La Bible Grecque des Septante, Paris 1988; Martin Hengel / Anna Maria Schwemer (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum (WUNT 72), Tübingen 1994; ders., Die Septuaginta als von den Christen beanspruchte Schriftensammlung bei Justin und den Vätern vor Origenes, zuletzt in: ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. KS II (WUNT 109), Tübingen 1999, 335–380; Evangelia G. Dafni, Theologie der Sprache der Septuaginta, ThZ 58 (2002), 315–328; Folker Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Septuaginta (MJSt 9), Münster 2001; ders., Register zur „Einführung in die Septuaginta“. Mit einem Kapitel zur Wirkungsgeschichte (MJSt 13), 2003; Kristin De Troyer, Die Septuaginta und die Endgestalt des Alten Testaments (UTB), Göttingen 2005; Michael Tilly, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005.  Zur Sprache des Neuen Testaments: Gerard Mussies, The Morphology of Koine Greek, Leiden 1971; James K. Elliott, The Language and Style of the Gospel of Mark. An Edition of C. H. Turners „Notes in Marcan Usage“. Together with Other Comparable Studies (NT.S 71), Leiden u. a. 1993; Stanley E. Porter (Hg.), Language of the Greek New Testament (JSNTS 60), Sheffield 1991; Marius Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments (UTB), Paderborn u. a. 2001; s. auch Lit. § 6.2.5.

a) Die Entstehung der Septuaginta: Viele Juden und ihre Sympathisanten zur Zeit Jesu haben – selbst im palästinischen Mutterland – die hebräische Sprache immer weniger verstanden. Sie haben das Alte Testament in griechischer Übersetzung gelesen. Diese Übersetzung wird „Septuaginta“ (wörtlich „Siebzig“) genannt, d. h. die Übersetzung der siebzig Männer, die nach der Legende an ihrer Entstehung beteiligt waren (lat. inter pretatio septuaginta virorum; abgekürzt: LXX).30 Das Griechische war seit den Eroberungszügen Alexanders des Großen (356–323 v. Chr.) mit der hellenistischen Kultur die vorherrschende Sprache im ganzen Mittelmeerraum geworden (§ 2.2.1). Als erste Über tragung der Schriften der hebräischen Bibel in die grie30 Vgl. als Handausgabe A. Rahlfs, Septuaginta, Stuttgart 1935, verbesserte Neuauflage hg. v. R. Hanhart, Stuttgart 2006 (elektronische Ausgabe: CD-Rom Bibel Edition, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart), als kritische Edition: Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum. Auctoritate Academiae Scientiarum Gottingensis editum, Göttingen 1931 ff., sowie die deutsche Übersetzung von W. Kraus / M. Karrer (Hg.), Die Septuaginta Deutsch, Stuttgart 2007.

2.1 Die jüdische Tradition

45

chische Weltsprache ist die Septuaginta eine einzigartige Leistung, für die es in der Antike keine Parallele gibt.31 Als Übersetzung ist sie der älteste Kommentar zur hebräischen Bibel. Nach einer Legende aus der jüdisch-hellenistischen Diaspora wurden die fünf Bücher der Tora (der Pentateuch) von 72 jüdischen Gelehrten, d. h. sechs aus jedem der zwölf Stämme Israels, in 72 Tagen übersetzt. Der Auftrag kam vom ägyptischen König Ptolemaios II. Philadelphos (285–246 v. Chr.). Diese Legende wurde von dem unbekannten Verfasser des (Pseudo-)Aristeasbriefs (wahrscheinlich Ende 2. Jh. v. Chr.) überliefert. Spätere Erzähler und Schriftsteller haben sie weiter entfaltet (Philo, Josephus u. a.).32 Indem im Aristeasbrief (310 f.) jeder Überarbeitung oder Veränderung dieser Übersetzung in Anlehnung an Dtn 4,2; 13,1; 29,19.26 der göttliche Fluch angedroht wird, beansprucht der Verfasser auch für die Septuaginta den Rang einer heiligen Schrift (wie es ähnlich in Apk 22,18 f. geschieht; § 7.2.6). Der jüdische Historiker Josephus (37–100 n. Chr.)33 spricht neben den 72 auch von 70 Übersetzern (Ant. 12,57) – vielleicht nicht nur eine Kurzformel, sondern schon eine Angleichung an die älteren biblischen Erzählungen von den 70 Ältesten (Ex 24,1–11; Num 11,10– 25) und ein erster Hinweis auf die später im kirchlichen Sprachgebrauch üblich gewordene Bezeichnung „Septuaginta“ (LXX). Allein Philo von Alexandrien, der einflussreiche jüdische Philosoph und Exeget (etwa 20/10 v. Chr. – 45 n. Chr.), betont den wunderhaften Charakter der Übersetzung „auf prophetische Weise wie unter göttlicher Ergriffenheit“ (VitMos 2,32: katháper enthousiṓntes prophḗteuon). Indem Philo nicht nur den ursprünglichen Text, sondern auch die Übersetzung auf die göttliche Inspiration zurückführt, trug er indirekt zur späteren christlichen Hochschätzung der Septuaginta bei. Seit Justin, dem christlichen Apologeten (um 150 n. Chr.), und seit Irenäus (um 180 n. Chr.)34 wurde die Entstehungslegende und Inspirationstheorie, die sich ursprünglich nur auf den griechischen Pentateuch bezog, von den Christen auch auf die Propheten ausgeweitet, ja auf alle Bücher des Alten Testaments.35 Doch ist es von dieser grundsätzlichen Aus31 Eine hervorragende Gesamtdarstellung bietet M. Hengel, Die Septuaginta als „christliche Schriftensammlung“, ihre Vorgeschichte und das Problem des Kanons, 182–284, eine handbuchartige Einführung mit ihren neutestamentlichen Bezügen F. Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament; ders., Register zur „Einführung in die Septuaginta“. Mit einem Kapitel zur Wirkungsgeschichte (2 Bde.). 32 Arist 301–316; Übersetzungen bei C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte zur Umwelt (Lit. § 12), 330–337. 33 Josephus Ant. 12,11–118; vgl. 1,10 ff.; Contra Apionem 2,45 ff. 34 Justin apol. I,31,2–5; Irenäus, haer. 3,21,2 (= Eus. h.e. 5,8,14): kat’ epípnoian toú theoú = nach göttlicher Inspiration (Einhauchung); vgl. 2Tim 3,16: theópneustos = von Gott eingehaucht, eingegeben, inspiriert; 2Petr 1,20 f. 35 Vgl. M. Hengel, Septuaginta (s. Anm. 31), 187–203 und F. Siegert, Einführung (s. Anm. 31), 30; vgl. auch F. Siegert, Die Inspiration der Heiligen Schriften. Ein philonisches

46

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

sage über die göttliche Herkunft und Autorität der heiligen Schrift noch ein weiter Weg bis zur Lehre der altprotestantischen Orthodoxie von der Verbalinspiration, die in manchen Formen eines neuzeitlichen Biblizismus fortlebt.36 Jedenfalls spiegelt diese Legende die Tatsache wider, dass die Septuaginta im Bereich des ägyptischen Judentums entstand, schon in hellenistischer Zeit weltweit verbreitet war und in der jüdischen Diaspora eine große Autorität besaß. Durch die Septuaginta wurden sowohl die jüdische Gruppenidentität als auch der Prozess der kulturellen Anpassung an die hellenistische Zivilisation unterstützt, wie dem Aristeasbrief entnommen werden kann.37 In Wirklichkeit entstand die Übersetzung historisch zwischen dem 3. und 1. Jh. v. Chr., und zwar überwiegend in Ägypten in Alexandrien, teilweise aber auch in Palästina oder unter Einflüssen aus Judäa. Die Legende beschränkte sich bei Aristeas ausschließlich auf die Übersetzung des Pentateuchs als des jüdischen Gesetzes, von den Propheten ist dort nicht die Rede. Tatsächlich folgten erst allmählich auch die Übersetzungen der Geschichtsbücher, der Propheten und der Hagiographen in einem Prozess, der sich über 300 Jahre hinzog und zahlreiche Übersetzer aus sehr verschiedenen Zeiten erforderte (Pentateuch 3. Jh., Propheten und Psalmen 2. Jh., die übrigen Bücher bis ins 1. Jh. n. Chr., zuletzt Hoheslied und Prediger [Qohelet oder Ecclesiastes]).38 In ihrer Heterogenität ist die Septuaginta deshalb bei weitem nicht mit der Geschlossenheit der Vulgata des Hieronymus (ca. 347–419) zu vergleichen (§ 4.2.5.2). Während dieses Zeitraums wurden auch verschiedene handschriftliche Fassungen vereinheitlicht. Zudem wurden einzelne Schriften der Septuaginta nicht als Übersetzung angefertigt, sondern bereits auf Griechisch abgefasst (SapSal; 2– 4Makk). Einige Forscher gehen davon aus, dass manche Teile der Septuaginta im ägyptischen Leontopolis entstanden, wo der Hohepriester Onias IV. um 160 v. Chr. in der Zeit des Makkabäeraufstands einen Ersatztempel bauen ließ. Andere vermuten sogar die Entstehung einer Konkurrenzübersetzung ins Griechische.39 Ein solches Konkurrenzunternehmen kann jedoch nicht

Votum zu 2Tim 3,16, in: R. Deines / K.-W. Niebuhr (Hg.), Philo und das Neue Testament (WUNT 172), Tübingen 2004, 205–222. 36 Die Behauptung einer Inspiration der hebräischen Vokalzeichen ist schon deshalb problematisch, weil deren Entwicklung historisch erst ab dem 7. Jh. n. Chr. einzusetzen beginnt. Zur hermeneutischen Reflexion des Schriftprinzips vgl. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens I, Tübingen 1979, 24–42. 37 Vgl. R. Feldmeier, Weise hinter „eisernen Mauern“. Tora und jüdisches Selbstverständnis zwischen Ak kulturation und Absonderung im Aristeasbrief, in: M. Hengel / A. M. Schwemer, Septuaginta, 20–37. 38 Vgl. F. Siegert, Einführung I (s. Anm. 31), 34–43 mit Übersichtstafel (42). 39 Vgl. A. J. F. Klijn, The Letter of Aristeas and the Greek Translation of the Pentateuch in Egypt, NTS 11 (1964–65), 154–158.

2.1 Die jüdische Tradition

47

nachgewiesen werden. Da es sich in Leontopolis um einen Ersatz für den Jerusalemer Tempel handelte, war dort sehr wahrscheinlich der hebräische Text in Gebrauch.40

b) Die Rezeption der Septuaginta: Einige Septuaginta-Rollen wurden in Qumran (s. Anm. 17) gefunden. Sie zeigen, dass diese Übersetzung auch von den Essenern geschätzt wurde. Die Septuaginta wurde auch zur Bibel der ersten Christen. Darum benutzten die neutestamentlichen Autoren meist die griechische Version und wurden von deren Vokabular beeinflusst. Sie verstanden die Schrift als prophetisches Buch, dessen Verheißungen in Christus erfüllt sind (s. Anm. 21). So ist es bezeichnend, dass im Neuen Testament vor allem Zitate aus dem Psalter und dem Jesajabuch herangezogen werden – statt aus dem Pentateuch, wie es für Philo als Juden typisch ist. Allein die von den ersten Christen gebrauchte Septuaginta ermöglichte es der Kirche, trotz ihrer Kritik an Beschneidung, Opferkult usw. am Alten Testament festzuhalten. Andererseits beeinträchtigte die christliche Rezeption das Ansehen dieser Übersetzung bei den Juden. Nachdem die Christen gegen Ende des 1. Jh.s die Synagogen hatten verlassen müssen (s. Anm. 20), geriet die Septuaginta unter Juden als kompromittierte Textfassung in Verruf und wurde im 2. Jh. durch wörtlichere Übersetzungen ersetzt (Theodotion, Aquila, Symmachus). So ist die Septuaginta im Judentum nie kanonisiert worden, sondern nur die hebräische Bibel (ohne die deuterokanonischen Schriften bzw. Apokryphen; s. Anm. 41ff.). Außerdem verwendete das frührabbinische Judentum (§ 2.1.2) die Rollenform, die Christen die Buchform (Kodex; § 4.1). c) Der Umfang der Septuaginta: In ihr sind auch einige Bücher enthalten, die gegen Ende des 1. Jh.s n. Chr. vom Judentum nicht in die hebräische Bibel aufgenommen wurden.41 Es handelt sich dabei um das Buch Judith, das Buch Tobit (Tobias), die vier Makkabäerbücher,42 die griechischen Ergänzungen zum Buch Esther und das sog. erste (in der Vulgata das dritte) Buch Esra, das einen Auszug aus mehreren hebräischen Texten des Alten Testaments bietet. Diese Schriften sind narrative Texte. Weiter enthält die Septuaginta Zusätze zum Buch Daniel, von denen drei narrativen Charakter haben (die Geschichten von Susanna, von Bel und vom Drachen zu Babel), während das Gebet Asarjas und der Gesang der drei Männer im Feuerofen im Stil der Psalmen abgefasst sind. Zu den Liedern und Gebeten gehören der 151. Psalm und einige Hymnen des Neuen Testaments (Magnificat, Benedictus, Nunc dimittis aus Lk 1,46–55.68–79; 2,29–32), die in 40

Vgl. G. Dorival, La Bible Grecque, 78 f. Vgl. zu den einzelnen Schriften jeweils die kurzen Einführungen in der Stuttgarter Erklärungsbibel oder auch der Neuen Jerusalemer Bibel und detaillierter E. Schürer, History III,1 (s. Anm. 1). 42 4Makk fehlt in einigen bedeutenden Handschriften (Vaticanus) der Septuaginta und in der Vulgata. 41

48

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

manchen Handschriften der Septuaginta unter den Oden aufgeführt werden, die an den Psalter angehängt sind. Sie unterstreichen, dass die Septuaginta – auch als Sammlung jüdischer Schriften – ein christliches Buch ist. Teil dieser Sammlung ist das Gebet Manasses, das eine Rekonstruktion der in 2Chr 33,18 erwähnten Gebete darstellt. Die Weisheit Salomos (Sapientia Salomonis), die die theologische Gestaltung der synoptischen Passionsgeschichte beeinflusst haben kann,43 und Jesus Sirach (ben Sira, Siracides, Ecclesiasticus) sind Weisheitsbücher. Zu ihnen gehört auch das Buch Baruch (mit dem Brief Jeremias), das in seiner Grundaussage ein Lob der Weisheit ist. Bei allen diesen Schriften handelt es sich um Bücher, die man in einer griechischen Fassung in die Septuaginta aufgenommen hat. Doch ist ein Teil von ihnen zunächst in hebräischer (1Esr, 1Makk, Sir, Jdt) oder aramäischer (Teile von Tob oder 2Makk) Sprache verfasst worden. Die ursprünglich hebräischen Psalmen Salomos (1. Jh. v. Chr.) sind zwar in der Handausgabe von Alfred Rahlfs abgedruckt, finden sich aber bis zum 10. Jh. nicht in den Handschriften der Septuaginta und gehören auch nicht zum Kanon (der Codex Alexandrinus [A = 02; 5. Jh.] erwähnt sie im Inhaltsverzeichnis erst nach dem Neuen Testament und den Clemensbriefen). PsSal 17 und 18 sind nicht nur für die frühjüdische Messiaserwartung, sondern auch für die Christologie von größter Bedeutung (§ 5.6.1.1).

d) Die christliche Verwendung: Auf die christliche Kirche übten mehrere dieser Schriften der Septuaginta, die nicht in der hebräischen Bibel enthalten sind, als Apokryphen Einfluss aus. Als Bezeichnung für die deuterokanonischen Schriften44 (Spätschriften der Septuaginta) geht der Terminus „Apokryphen“ auf Hieronymus (ca. 347–419) zurück.45 Die Zitate aus der Septuaginta sind in den neutestamentlichen Schriften selten ganz wörtlich, wenn wir sie mit den heutigen kritischen Rekonstruktionen des Urtexts der Septuaginta vergleichen. Dies hängt nicht nur mit der in neutestamentlicher Zeit auffälligen Uneinheitlichkeit der Texttradition zusammen, sondern auch mit den noch nicht so peniblen Zitierkonventionen, dem Anführen aus dem Gedächtnis und dem Einfluss verschiedener Kommentatoren. So heißt es z. B. in Eph 4,8: „Er stieg hinauf zur Höhe, er führte Gefangene mit, er gab den Menschen Gaben.“46 In der Septuaginta steht dieser Satz in Ps 67,19 (Ps 68,19 der hebr. Bibel), wo eine abweichende Lesart vorliegt: „Du hast vom Menschen47 Gaben empfangen“ (nicht: ihnen gegeben). Diese „paulinische“ Lesart ist in der alten armenischen und syrischen Übersetzung der Psalmen belegt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Textfassung dieser Übersetzungen schon in neutestamentlicher Zeit bekannt war und wahrscheinlich auf Mose bezogen wurde, dem Gott die Zehn Gebote als Gabe (für die Menschen) geschenkt hat, wie es in der 43

Vgl. Mk 15,32 mit SapSal 2,12–20; 5,1–5. Diese Bezeichnung ist erstmals bei Sixtus von Siena (1520–1569) belegt. 45 Prologus in libro regum, Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem, ed. R. Weber u. a., Stuttgart 41994, 365. 46 Übersetzung P. P. 47 Codex Sinaiticus im Plural: „unter den Menschen“ oder „für die Menschen“. 44

2.1 Die jüdische Tradition

49

später fixierten Tradition belegt ist (Aboth Rab. Nathan 2 [Targ. Ps. 68,19]). Die mündliche Tradition kann also einige Texte deutend überliefert haben. Es muss sich nicht um eine andere Fassung handeln, die von der Septuaginta als ganzer zu unterscheiden ist.

e) Fazit: Im Blick auf die Septuaginta bleibt festzuhalten, dass diese – nicht der hebräische Kanon, der Tanakh (§ 2.1.1) – von Anfang an die Bibel der frühchristlichen Kirche war:48 Aus der Septuaginta übernahmen die Autoren der neutestamentlichen Schriften erstens ihren religiösen Wortschatz des Glaubens und der Hoffnung. Dies gilt schon für die Bezeichnung des erwarteten Heilands als „Messias“ = „Christós“ (Gesalbter), die auf Jesus übertragen wurde (§ 5.6.1.1). Ähnlich verhält es sich bei dem spezifischen Wort für die Liebe: „agápē“ bzw. „agapán“. Im klassischen Griechisch ist diese Wortfamilie selten und literarisch kaum belegt, doch in der Septuaginta wird sie zur Übersetzung der hebräischen Wurzel „’hb“ herangezogen und bezeichnet nun u. a. die Liebe Gottes zu seinem Volk (z. B. Hos 11,1).49 Vor allem war es jedoch zweitens der Charakter der Koinḗ, d. h. der „gemeinsamen“ Sprache der hellenistischen Welt, die eine im strengen Sinn nicht-literarische Sprache war und die von den neutestamentlichen Autoren übernommen wurde (§ 6.2.5). Der entscheidende Grund für die Wahl dieser Sprachebene war vermutlich die gewünschte Verständlichkeit für die Hörer und Leser, die überwiegend einfacheren Bevölkerungsschichten zuzurechnen sind. Drittens fanden in der Septuaginta die christlichen Autoren der neutestamentlichen Bücher, besonders der Evangelien und der Apostelgeschichte, auch die Grundmodelle für die schriftliche Bearbeitung der narrativen Stoffe und Hymnen. 2.1.5

Der alttestamentliche Kanon und das Problem der Biblischen Theologie

In den Synagogen setzte sich am Anfang des 2. Jh.s v. Chr. der hebräische Kanon durch (§ 2.1.4b), der die – nach unserer Zählung – 39 Bücher der jüdischen Bibel (des christlichen Alten Testaments) enthält. Von größerer Bedeutung war die Diskussion, die gegen Ende des 1. Jh.s n. Chr. in der rabbinischen Schule in Jabne (Jamnia, unweit von Jaffa) stattfand und vor allem zwei kleine Schriften betraf: Prediger (Qohelet oder Ecclesiastes) und Hoheslied. Bei der dort verhandelten Streitfrage, ob diese Texte die Hände verunreinigen, wurde implizit vorausgesetzt, dass die beiden

48 Bis heute wirkt die Septuaginta in der Liturgie nach z. B. im „Kyrie eleison“ (Herr, erbarme dich) oder in den Bibelübersetzungen bei der Umschreibung des Gottesnamens durch „kýrios“ = „HERR“ (§ 5.6.1.3). Zur Rezeption im Christentum vgl. Anm. 28 und F. Siegert, Einführung II (s. Anm. 31), 351–358. 49 Weiteres zum Problem s. bei N. Turner, Christian Words, Edinburgh, o. J. (vor 1982).

50

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

Schriften als heilige Bücher eine spezifische Behandlung erfordern.50 Diese Diskussion besagt nicht, dass dort der Kanon der jüdischen Bibel definiert wurde.51 Eine Art Kanonisierung spiegelt sich eher im Prozess der Ablehnung der Septuaginta in den griechisch sprechenden Synagogen wider, in denen sie im Lauf des 2. Jh.s durch wörtlichere Übersetzungen verdrängt wurde (Aquila, Theodotion, Symmachos; § 2.1.4b). Damit blieb die jüdische Bibel im nachneutestamentlichen Judentum auf den Tanakh ohne die deuterokanonischen Schriften der Apokryphen (s. Anm. 41 ff.) beschränkt. Zur Zeit des Neuen Testaments erkannten die Juden nur „das Gesetz und die (früheren und späteren) Propheten“ als eine de facto kanonische Sammlung an, zu der gelegentlich noch die Psalmen gerechnet wurden (Lk 24,44; s. Anm. 10). Erst später setzte sich die ganze Gruppe der „Schriften“ (hebr. ketûbîm) als dritter Teil des Kanons durch (s. Anm. 10). Für das Neue Testament ist die Entwicklung des jüdischen Kanons in dreifacher Hinsicht bedeutsam: Von besonderem Interesse ist erstens die Tatsache, dass neben der Tora auch die Sammlung der prophetischen Bücher im Judentum der neutestamentlichen Zeit schon abgeschlossen war. Selbst wenn einige Texte erst später in die Sammlung der Schrift aufgenommen wurden (die Klagelieder Jeremias, Daniel), handelt es sich dabei um Bücher, die sich in der literarischen Darstellung in derselben Zeit bewegten wie die schon kanonisierten (liturgisch gelesenen) Bücher anderer angeblich prophetischer Autoren (Jesaja, Jeremia usw.). Die durch pharisäische Vorstellungen beeinflussten Rabbinen prägten die Idee, dass die Periode der direkten Wirkung des prophetischen Geistes in Israel nach dem Exil mit Esra, Nehemia, Haggai, Sacharja und Maleachi abgeschlossen war (bSanh 11a) – eine Idee, die schon in den späteren Psalmen angelegt ist.52 Die neue prophetische Gabe wurde erst für die eschatologische Zukunft erwartet (Joel 3,1–5).53 An die Stelle des Geistes trat die deutende Tradition der Rabbinen (Tannaiten), die auch als „Himmelsstimme“ (hebr. bat-qôl) bezeichnet wurde (§ 2.1.2). Um eine kontinuierliche Fortsetzung der Schrift handelt es sich bei der Mischna also nicht.

50

Vgl. G. Stemberger, Jabne und der Kanon, 163–174 (Lit. § 2.1.3). Auch im Neuen Testament sind die Grenzen des Kanons noch unscharf, wie die Zitate in Jud 9.14 f. aus der Assumptio Mosis und 1. Henoch 1,9 zeigen, die bei der Rezeption des Judasbriefs in 2Petr 2,11.17 f. nicht mehr als Autoritäten angeführt werden (§ 8.7.2); vgl. auch das Zitat in 1Kor 2,9 aus der Apokalypse des Elia sowie die Zitate unbekannter Herkunft in Lk 11,49; Joh 7,38; 1Kor 9,10; Jak 4,5. 52 Ps 74,9; vgl. 1Makk 9,27. 53 Vgl. 1Makk 4,46; 14,41; auf Joel 3,1–5 beruft sich die Pfingstpredigt des Petrus in Apg 2,17–21 (§ 6.4.5.2a). 51

2.1 Die jüdische Tradition

51

Nur einige jüdische Randgruppen wie die Täufersekten einschließlich der Anhänger Johannes des Täufers (§ 5.6.2.2a) oder die Essener in Qumran (s. Anm. 17) nahmen an, dass der Geist Gottes unter ihnen weiter – oder schon wieder – wirkt.54 Ihre Repräsentanten zählten sich zu den Propheten, wie es u. a. in Lk 16,16 Q zum Ausdruck kommt: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis Johannes.“ Doch nahmen die Schriften dieser Propheten weder in der jüdischen Öffentlichkeit noch in ihren eigenen Kreisen eine mit den alten „Propheten“ vergleichbare Position ein. Die Qumranleute benutzten z. B. einen Kommentar zu Habakuk (1QpHab), der für sie bedeutend war. Die Autorität dieses Kommentars leiteten aber auch sie vom Buch Habakuk selber ab, da die Zitate durch „’āmar“ („es heißt“) eingeführt werden. Solche Kommentare sind ein indirektes Zeugnis, dass die essenischen Geistträger im Vergleich zu den kanonischen „späteren Propheten“ nur eine nachgeordnete Autorität besaßen. Zweitens rezipierten in neutestamentlicher Zeit die Christen „das Gesetz und die Propheten“ (s. Anm. 7), und zwar – unter dem Vorzeichen endzeitlicher Erfüllung – als „Schrift“ (s. Anm. 5).55 Da das Urchristentum die Schriften von Anfang als endzeitlich-messianische Verheißungen verstand, die in Christus erfüllt sind (s. Anm. 21), konnte vor allem Lukas (§ 6.4.5.2a) unter den „Propheten“ die ganze Schrift subsumieren.56 Doch gewannen einige Teile der Tradition Jesu (z. B. aus der Logienquelle der Grundgehalt der Bergpredigt in Mt 5–7) schon bald nach Ostern eine ähnliche Autorität wie das Gesetz. Diese Entwicklung legt den Schluss nahe, dass die jüdische „Schrift“ indirekt auch die Bildung des christlichen Kanons beeinflusste (§ 3). Schließlich hat die Entstehung des jüdischen Kanons drittens Konsequenzen für die „Biblische Theologie“.57 Begriff und Sache sind umstritten. Während Johann Philipp Gabler (1787) den Terminus zur Unterscheidung der historischen Bibelwissenschaft von der dogmatischen Theologie benutzte (§ 1.1b), geht es heute um die Frage nach der Einheit der zweigeteilten christlichen Bibel (§ 1.1c). Der Ausdruck ist historisch berechtigt, da die Christen die jüdische Bibel als Teil ihrer eigenen Vergangenheit rezipierten (§ 2.1.3–4). Die Rede von der „Biblischen Theologie“ impliziert vor allem, dass die christliche Kanonisierung der jüdischen Schrift einen bedeutenden Teil der jüdischen Tradition in ein neues Ganzes eingefügt hat. Diese Einbeziehung bestimmt von Anfang an das Verständnis des Neuen Testaments und 54

Z. B. 1QH XIV,13 ff.; Mk 6,14 f. u. a. Matthäus verwendet ausschließlich den Plural (graphaí), Johannes mit einer Ausnahme (Joh 5,39) den Singular (graphḗ), Lukas und Paulus haben beide Formen. Nur Paulus spricht in Röm 1,2 von „heiligen Schriften“ (ohne Artikel), in denen Gott sein Evangelium zuvor durch die Propheten angekündigt hat (graphaí hagíai; vgl. 2Tim 3,15: hierá grámmata). 56 Vgl. Lk 1,70; 13,28; 24,25 (vgl. V.27); Apg 3,18–24; 10,43; 13,27; 26,27 (vgl. V.22); Röm 1,2 (§ 5.11.4b Petit); Hebr 1,1 (§ 8.5.3b). 57 Zur Einführung in die vielschichtige Thematik s. B. Janowski, Art. Biblische Theologie, RGG4 1, 1544–1549. 55

52

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

hat die christliche Auffassung des Alten Testaments mitgeprägt. Die Kanonisierung war keine willkürliche Entscheidung. Sie machte aber deutlich, dass die jüdische Bibel dem Verständnis der christlichen Tradition und Literatur besser als andere (auch andere jüdische) Traditionen diente.58 Mit der hermeneutischen Frage nach dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament bzw. der Einheit der Schrift steht die Biblische Theologie schon am Übergang zur systematischen Theologie. Deshalb kann sie auch als eigenständiger Forschungsbereich begriffen werden.

2.2

Die hellenistische Kultur

 Klaus Berger, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, in: ANRW II,25,2, Berlin 1984, 1031–1432. 1831–1885; Detlev Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte, Darmstadt 1993; Johann Gustav Droysen, Geschichte des Hellenismus I–III, Tübingen 1962 (Nachdr. der 2. Aufl.); Ithamar Gruenwald, Jewish Apocalyptic Literature, in: ANRW II,19,1, Berlin 1979, 89–118; Martin Hengel, Judentum und Hellenismus (WUNT 10), Tübingen 1969, 31988; ders., Juden, Griechen und Barbaren (SBS 76), Stuttgart 1976; Helmut Köster, Einführung in das Neue Testament (GLB), Berlin / New York 1980; Johann M. Schmidt, Die jüdische Apokalyptik, Neukirchen 1968; Georg Strecker / Johann Maier, Neues Testament – Antikes Judentum (UTB), Stuttgart 1989; William W. Tarn, Hellenistic Civilisation, London 31959; Martin Hengel / Christoph Markschies, Das Problem der Hellenisierung Judäas im 1. Jahrhundert nach Christus, in: ders., Judaica et Hellenistica. KS I (WUNT 141), Tübingen 1996, 1–90; Hans-Josef Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums I– II, Stuttgart u. a. 1995–1996 (gut lesbares Studienbuch); Kurt Erlemann u. a. (Hg.), Neues Testament und antike Kultur (NTAK), Neukirchen-Vluyn 2004ff. (auf fünf Bände angelegt).

2.2.1 Jüdische Apokalyptik und hellenistische Kultur a) Die Juden und die griechische Sprache: Alle Autoren der neutestamentlichen Schriften waren Juden oder mit den Juden sympathisierende Gottesfürchtige. Dennoch sprachen und schrieben sie alle in griechischer Sprache. Vermutungen, dass einige Bücher des Neuen Testaments oder zumindest manche Teile ursprünglich in aramäischer Sprache verfasst wurden, hielten der kritischen Prüfung nicht stand (§ 6.1.2). Die Semitismen der griechischen Sprache, die uns im Neuen Testament begegnen, verdanken sich nicht nur der aramäischen Tradition und sind auch nicht 58 Vgl. H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments I (Lit. § 1), § 1. Das Konzept einer Biblischen Theologie wird programmatisch vertreten von P. Stuhlmacher, Theologie (Lit. § 1), aber abgelehnt von G. Strecker, Theologie (Lit. § 1), 4 ff. Zum „Alten Testament“ als „Bibel des Urchristentums“ vgl. F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 37–142. Zur Diskussion dieser Entwürfe s.o. § 1.1c.

2.2 Die hellenistische Kultur

53

ausschließlich mit dem Einfluss der Septuaginta zu erklären. Vielleicht sind sie primär ein Zeichen der semitischen Färbung der ganzen griechischen Sprache des östlichen Mittelmeerraums, auch dort, wo sie von Heiden gesprochen wurde.59 Nur manche mündlich überlieferte Einheiten sind aus dem Aramäischen ins Griechische übertragen. Direkt übersetzt wurden vor allem einige kurze Formeln z. B. in der Botschaft von der Auferstehung Jesu, in deren Zusammenhang im Griechischen sowohl „egeírein“ (auferwecken)60 als auch „anistánai“ (auferstehen)61 vorkommt. Es handelt sich wahrscheinlich um zwei mögliche Übersetzungen der hebräischen und aramäischen Wurzel „qwm“, da bei der Tochter des Jairus in Mk 5,41f. das griechisch transskribierte Wort „koum“ („steh’ auf!“) durch die entsprechenden Formen sowohl von „egeírein“ als auch von „anistánai“ wieder aufgenommen wird. Mit dem Hinweis auf die Verbreitung der Semitismen behaupten wir nicht, dass es keine christlich-aramäischen Texte gegeben hätte. Aber die Autoren der neutestamentlichen Schriften trafen die Semitismen, soweit wir es beurteilen können, schon in griechischer Übersetzung an. Dies gilt bereits für die Logienquelle (§ 6.1.5). b) Die Juden in der hellenistischen Gesellschaft: Die gläubigen Juden waren innerhalb der hellenistischen Gesellschaft eine Minderheit. Sie unterschieden sich von der hellenistischen Umgebung hinsichtlich der religiösen und ethischen Lebensorientierung,62 aber beide Gruppen lebten innerhalb derselben Territorien, desselben Reichs und derselben hellenistisch-römischen Zivilisation nebeneinander. Es gab Spannungen, die sich manchmal zu Konflikten ausweiteten, aber im allgemeinen gehörte die jüdische Minderheit zur Gesellschaft. Von ihrer Umgebung wurden die Juden weitgehend akzeptiert mit Privilegien wie dem Versammlungsrecht für eigene Gottesdienste oder einer Lebenspraxis gemäß ihren religiösen Vorschriften (z. B. Speiseund Sabbatgebote). Die jüdische Bevölkerung bildete eine Subkultur mit alternativen Strukturen. Dazu gehörten die unabhängige Selbstverwaltung der Synagogengemeinden mit eigenen Leitungsgremien und Amtsträgern (Älteste, Synagogenvorsteher), die Erlaubnis, eigene Steuern für den Jerusalemer Tempel einzutreiben, eine eigene Gerichtsbarkeit, die Befreiung vom Militärdienst sowie die Beachtung der Sabbatruhe z. B. bei Gerichtsterminen oder der Ausgabe von Getreiderationen.63

59 Vgl. M. Reiser, Syntax und Stil des Markusevangeliums (WUNT II/11), Tübingen 1984, 164 ff.; M. Reiser, Sprache (Lit. § 2.1.4), 3–14.29–49. 60 1Kor 15,4.12; Mk 16,6. 61 Vgl. 1Thess 4,14 (intransitiv) oder Apg 2,24 (transitiv, Gott als Subjekt). 62 Vgl. z. B. die vom hellenistischen Judentum übernommenen Lasterkataloge in Mk 7,21 f. par.; Lk 18,11; Röm 1,29–31; 1Kor 5,10 f.; 6,9 f.; Gal 5,19–21; Kol 3,5–8; Eph 5,3–5 u. ö. (§ 5.11.1; 5.12.5e; 8.2.4). 63 Vgl. zur rechtlichen Stellung E. Schürer, History III/1, 87–137, bes. 91 f.118–121.124 f.; M. Pucci Ben Zeev, Jewish Rights in the Roman World (TSAJ 74), Tübingen 1998.

54

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

Umgekehrt verstanden sich die Juden nicht als Kontra-Kultur, die die politische Macht hätte ergreifen wollen.64 c) Judentum und Hellenismus: Die früher übliche Unterscheidung zwischen dem hellenistischen und dem jüdischen Hintergrund des Urchristentums ist nur in sehr begrenztem Maße hilfreich. Nach Ferdinand Christian Baur (1792–1860), dem führenden Kopf der „Jüngeren Tübinger Schule“ (§ 1.1b), gab es zwischen Judentum und Hellenismus gerade im sozialen Bereich einen Streit um die Tora, der sich auch unter den Christen der ersten Generation zwischen Petrus und Paulus als Protagonisten der judenchristlich bzw. heidenchristlich geprägten Gruppe widerspiegelte.65 Das aus 2Makk 4,13 entlehnte Wort „Hellenismus“66 dient hier nicht nur als Epochenbezeichnung, sondern zugleich als Ausdruck für eine ganze Kultur und Lebenseinstellung, die vor allem durch die griechische Sprache,67 aber auch umfassender durch die Bildung, (Popular-)Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Religiosität der hellenistischen Zivilisation geprägt war. Seit Alexander dem Großen (356–323 v. Chr.) und seinen Nachfolgestaaten (Diadochen: Seleukiden und Ptolemäer) hatte sich die hellenistische Kultur im ganzen östlichen Mittelmeerraum ausgebreitet. Die Entstehung des Christentums interpretierte Baur als Ergebnis dieses Streits zwischen Judentum und Hellenismus um die Bedeutung des Gesetzes im täglichen Leben. In Wirklichkeit gingen die Grenzen quer durch das Judentum, betraf der hellenistische Einfluss nicht nur die jüdische Diaspora, sondern auch das palästinische Mutterland, wie selbst die korinthischen und ionischen Säulen im Neubau des Jerusalemer Tempels durch Herodes den Großen (37–4 v. Chr.), die Theaterbauten (§ 2.2.5), Hippodrome und Bäder im ganzen Land verraten.68 d) Die Apokalyptik: Das Neue, das das Christentum darstellt, lässt sich auf diese Weise nicht erklären. Eher ist zu fragen, in welcher Weise die im hellenistischen Milieu entstandenen jüdischen Traditionen (§ 2.1.4b.e) von Anfang an zur Formulierung der christlichen Bekenntnisse beigetragen haben. Die Christen sprachen nach Ostern über ihre neue Erfahrung mit Jesus vorwiegend mit Hilfe der jüdischen Er64

Zur soziologischen Klassifizierung s. D. Arnold (Hg.), Subcultures, Berkeley 1970, und V. Robbins, The Tapestry of Early Christian Discourse, London / New York 1996, Kap. 5. 65 Vgl. F. C. Baur, Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde (1831), Auswahl bei W. G. Kümmel, Das Neue Testament (Lit. § 1.1), 158–161. 66 Als Bezeichnung für die Zeit von Alexander d.Gr. (356–323 v. Chr.) bis Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.) geht der Begriff zurück auf Johann Gustav Droysen (1808–1884), Geschichte des Hellenismus, 1836–1842. 67 Vgl. hellēnízein = die griechische Sprache einwandfrei beherrschen. 68 Vgl. wegweisend M. Hengel, Judentum und Hellenismus (WUNT 10), Tübingen 31988, 191 ff.; ders. / Ch. Markschies, Das Problem der Hellenisierung Judäas im 1. Jahrhundert nach Christus, in: ders., Judaica et Hellenistica. KS I (WUNT 141), Tübingen 1996, 1–90.

2.2 Die hellenistische Kultur

55

wartung des Umbruchs der Äonen, d. h. des Endes dieser gegenwärtigen Zeit und der Ankunft des neuen Weltalters (griech. aiṓn méllōn; hebr. ‘ôlām habba’). Die erwartete Wende ist durch Gottes Gericht und die nachfolgende Auferstehung (Auferweckung) der Toten bestimmt (§ 5.10.3). In manchen apokalyptischen Schriften des Frühjudentums taucht auch die Gestalt des „Messias“ (§ 5.6.1.1) auf, die gelegentlich mit dem „Menschensohn“ identisch oder verwandt ist (§ 6.2.7.2). Belege für eine solche messianische Figur finden sich im äthiopischen Henoch (1Hen) und 4. Esra, aber auch in einigen Qumrantexten und PsSal 17 f. Die endzeitlichen Bilder der Apokalyptik ermöglichten durch ihren kosmisch-mythischen Rahmen, die individuelle persönliche Hoffnung des Menschen und die universale Perspektive der Geschichte („dieses Äons“) von einem (endzeitlichen) Fluchtpunkt her als ein Ganzes zu erfassen (§ 5.10.3). Schon allein deshalb wurden die apokalyptischen Bilder in geistiggeistlicher Hinsicht zu einem einflussreichen Phänomen. Vorstufen finden sich in der Prophetie Israels (vor allem Jes 24 – 27; Dan) und in der jüdischen Tradition, die in einigen Schriften der alttestamentlichen Pseudepigraphie69 schriftlich fixiert wurde (vgl. Exkurs 8: Die Apokalyptik). Erst zu Beginn des hellenistischen Zeitalters wurden solche Erwartungen zu einer geistig prägenden Strömung (1–2Henoch, 2–3Baruch, 4Esra, ApkAbr), deren Elemente auch von den Pharisäern (§ 6.3.4.1) und den Essenern in Qumran (s. Anm. 17) übernommen wurden. Doch bevor wir uns mit der Bedeutung der apokalyptischen Erwartungen im entstehenden Christentum befassen, sollen auch die anderen Merkmale der Apokalyptik erwähnt werden, wie sie uns besonders in der Johannesapokalypse (§ 7.2) begegnen. Es sind vor allem kosmische Spekulationen über die Zeichen der Endzeit, die einerseits mit Symbolen und Visionen der Jenseitshoffnung auf eine heilvoll erneuerte Welt blicken, andererseits Katastrophen wie Krieg, Hunger, Pest, Hagel, Feuer, Wasser, Erdbeben und Sonnenfinsternis schildern (vgl. § 5.10.3; Exkurs 8). Viele dieser Vorstellungen sind auch in den Mysterienreligionen, im hellenistischen Volksglauben (Grabinschriften), im populären Platonismus und im (Neu-)Pythagoreismus zu finden und hängen mit dem geistigen Klima des Späthellenismus zusammen.70 69

Vgl. als maßgebliche deutsche Textausgabe: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit (JSHRZ), hg. v. W. G. Kümmel / H. Lichtenberger, 5 Bde., Gütersloh 1973 ff., aber auch: Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, hg. v. P. Rießler, Augsburg 1928 (Nachdrucke; veraltete, nicht mehr zitierfähige einbändige Handausgabe); The Old Testament Pseudepigrapha (OTP), ed. J. H. Charlesworth, 2 Bde., New York 1984–1985 (mit historischtheologischer Einführung zu jeder Schrift), und zu den Einleitungsfragen E. Schürer, History III,1 (s. Anm. 1); J. J. Collins, The Apocalyptic Imagination. An Introduction to Jewish Apocalyptic Literature, Grand Rapids, MI 21998, sowie umfassend A.-M. Denis, Introduction à la littérature religieuse judéo-hellénistique, Turnhout 2000. 70 Vgl. M. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion (HAW V/2.1–2), München 1941–1951; 31967–1976, und jetzt die empfehlenswerte Gesamtdarstellung von H.-J. Klauck, Umwelt I–II (Lit. § 2.2).

56

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

2.2.2

Urchristentum und Hellenismus

a) Hellenistische Einflüsse: Ebenso wie im Frühjudentum haben wir auch bei den ersten Christen mit dem Einfluss der hellenistischen Kultur zu rechnen, die großenteils durch das Judentum vermittelt wurde. Diese hellenistische Beeinflussung kann weder durch den Hinweis auf die Existenz der radikalen jüdischen Bewegungen, z. B. der Zeloten (s. Anm. 17), noch auf die Wirkung der apokalyptischen Literatur (§ 2.2.1d) in Frage gestellt werden. Vielmehr stehen alle diese Bewegungen im Zusammenhang mit der Renaissance der einheimischen Religionen und Kulturen in Ägypten, Phönizien, Babylonien und auch im Judentum seit dem 2. Jh. v. Chr. Hellenistisch war diese Tendenz in mehrfachem Sinne: Erstens entsprach sie der hellenistischen Neigung, im Osten eine durch die Zivilisation noch nicht verdorbene Religion zu suchen. Zweitens wurden mehrere bekannte Werke dieser Art in griechischer Sprache verfasst, wie sie Alexander Polyhistor (80–40 v. Chr.) in seiner Schrift „Über die Juden“ aus Exzerpten nicht-jüdischer Autoren zusammengestellt hat. Schließlich tauchen drittens auch in jüdischen Texten griechische Motive auf, beispielsweise die Idee Hesiods vom Verfall der Geschichte, die Auffassung des Mysteriums (Geheimnis) aus den Mysterienkulten und der mythologisch narrative Rahmen der Sibyllinischen Orakel. In der hellenistisch-jüdischen Literatur begegnen wir sogar Legenden über die Verwandtschaft zwischen Mose und Orpheus71 und über die gemeinsame Abstammung der Juden und der Spartaner (1Makk 12,6–23 u. a.). b) Apokalyptische Einflüsse: Mehrere alte christliche Glaubensaussagen knüpfen an apokalyptische Vorstellungen an. Ernst Käsemann hob hervor, dass „die Apokalyptik ... die Mutter aller christlichen Theologie gewesen“ sei.72 Damit behauptete Käsemann nicht, dass die Apokalyptik die Mutter des Glaubens sei, sondern nur, dass mit ihr das Nachdenken über den Glauben begann. Er meinte nicht, dass alle christliche Theologie apokalyptisch sei. Aber er machte deutlich, dass wir das urchristliche Denken ohne Kenntnis der Apokalyptik nicht begreifen können. Dieser apokalyptische Einfluss zeigt sich in der Verbindung Jesu mit dem Menschensohn (§ 6.2.7.2), z. T. auch in seiner Identifizierung mit dem Messias (§ 5.6.1.4) und vor allem in der Verkündigung seiner Auferweckung durch Gott (§ 5.6.2.1). Das Christentum transformierte die apokalyptische Auferstehungserwartung, um die umfassende Bedeutung der nachösterlichen Präsenz Jesu auszudrücken: In seiner Auferstehung ist diese Hoffnung schon zur Wirklichkeit geworden, allerdings nur in der Person Jesu. Dieser ist der Repräsentant des neuen Äons in unserer geschicht71

Artapanus (Frgm.3) nach Euseb, Praeparatio evangelica 9,27,4. E. Käsemann, Die Anfänge christlicher Theologie (1960), in: ders., Exegetische Versuche II (Lit. § 5.6.2.3), 82–104, hier 100. 72

2.2 Die hellenistische Kultur

57

lichen Zeit und seine Auferweckung offenbart den universalen Horizont seiner persönlichen Geschichte. Die Auferstehungsverkündigung ist deswegen zur Achse der späteren christlichen theologischen und dogmatischen Entwicklung geworden, weil sie die vorgegebene Tradition weitgehend modifizierte und die Ostererfahrung besonders gut zum Ausdruck brachte. Der apokalyptische Hintergrund ist klar zu erkennen: Bei Paulus wird die Auferstehung Jesu mit dem Jüngsten Gericht verbunden (1Thess 1,10) und als Vorwegnahme der allgemeinen Auferstehung gedeutet (1Thess 4,13–18; § 5.10.2). Diese ursprüngliche Konnotation ist noch in der Apostelgeschichte bezeugt, z. B. in der Areopagrede (Apg 17,31). Die enthusiastischen Äußerungen der urchristlichen Frömmigkeit, die vor allem in Korinth aufbrachen (§ 5.12.4), unterstützen diese Auffassung vom hohen Stellenwert der Auferstehung. Das hellenistische Milieu ermöglichte es schon bald, die Auferstehung als Erhöhung und Rehabilitierung Jesu durch Gott zu begreifen, wie sie besonders in den lukanischen Schriften oft dargestellt wird (§ 6.4.5.3c). c) Die jüdische Vermittlung hellenistischer Einflüsse: Der jüdische Hintergrund des entstehenden Christentums und der sich formierenden Kirche kann vom hellenistischen Milieu nicht getrennt werden: Jesus muss mit beiden Sprachen vertraut gewesen sein, Andreas und Philippus sind Jünger, von denen nur ein griechischer Name bekannt ist, schon in Palästina gab es im Kreis um Stephanus ein hellenistisches Christentum (Apg 6 f.), alle erhaltenen Schriften des Urchristentums wurden griechisch verfasst und die christliche Theologie entfaltete sich mit Hilfe der griechischen Sprache. Andererseits hielten die ersten Christen ihre Verkündigung samt der Botschaft Jesu für die Vollendung des jüdischen Erbes und bereicherten ihre Theologie durch das Studium der jüdischen Bibel. Die Beschränkung auf die hebräische Textgestalt wurde seit Hieronymus (347–419) und in der Reformation programmatisch verfochten (§ 3.5). Doch hat weltweit nur derjenige Teil der hebräischen Tradition fortgewirkt, der durch die Septuaginta ins Griechische übersetzt war. Zu diesem Erbe gehören vor allem der ethische Monotheismus und der opferlose Wortgottesdienst, wie er in den Synagogen mit Schriftlesung, Auslegung und Gebet gefeiert wurde. Wie jede Übertragung waren auch das griechische Evangelium und seine theologischen Entfaltungen mit einer gewissen Veränderung der griechischen Sprache und Kultur verbunden. Doch mussten die Innovationen im Rahmen des Verständlichen bleiben (§ 1.3.4). Die Septuaginta (§ 2.1.4) verkörpert die Brücke, die aus der jüdischen Welt in ihre hellenistische Umgebung führt, indem sie die ursprünglich hebräischen Aussagen innerhalb der Koordinaten der griechischen Kultur interpretiert. Z. B. lesen wir in Jes 43,21, dass das Volk Gottes den „Ruhm (tehillāh) Gottes verkünden“ soll. Es handelt sich um geschichtliche Ereignisse, in denen Israel die Offenbarung des Willens Gottes erkannt hat. In der Septuaginta wird hier über die „aretaí“ Gottes geredet. Dieses

58

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

Wort bezeichnet im Griechischen die Tugenden, aber auch die Intensität des Wirkens. In diesem Sinn wird Jes 43,21 vom Verfasser des 1. Petrusbriefs verstanden und als Ausdruck göttlicher „Wohltaten“ zitiert (1Petr 2,9). Daher kann das Studium der hebräischen Bibel nützlich sein, um für die Deutung des Neuen Testaments weitere Konnotationen des griechischen Texts zu entdecken. In einigen Fällen trägt es zur Erkenntnis der ursprünglichen Absicht der neutestamentlichen Autoren bei, z. B. beim „Bund“ (hebr. berît, griech. diathḗkē; § 2.1.3b) oder der „Herrlichkeit“ (griech. dóxa, hebr. kabod; § 5.13.3.1a). 2.2.3

Griechische Sammlungen von Sentenzen

Die eben beschriebenen Zusammenhänge deuten bereits an, dass die literarischen Gattungen der hellenistischen Zeit die Entstehung des Neuen Testaments beeinflusst haben. Wenn wir z. B. die Sammlung „Q“, die Logienquelle (§ 6.1.5), in den Zusammenhang der jüdischen Literatur stellen, gehört sie in die Gruppe der weisheitlichen (sapientialen) Literatur wie das Buch der Sprüche, der Prediger (Qohelet oder Ecclesiastes), Jesus Sirach (Ecclesiasticus) oder im nachbiblischen Judentum die Sprüche der Väter (hebr. Pirqê ̉Abôth). Da die Logienquelle in griechischer Sprache aufgeschrieben und den literarischen Bedürfnissen der christlichen Gemeinden angepasst wurde, müssen wir sie auch im Kontext der hellenistischen Literatur sehen, in der die Sprüche der Weisen tradiert, literarisch fixiert und zu Sammlungen gruppiert wurden. Da in der frühen christlichen Literatur auch das Thomasevangelium (NHC II,2; § 6.1.6.1) und andere Texte zu den Spruchsammlungen gehören (§ 6.2.6), haben wir mit einer kontinuierlichen Tradition der frühchristlichen Logiensammlungen zu rechnen. Gleichzeitig werden wir uns die Frage stellen müssen, warum ihnen in der Gestaltung des neutestamentlichen Kanons als eines Ganzen nur noch eine auffällig untergeordnete Bedeutung zugemessen wird (§ 6.1.5.4). Hellenistischer Tradition entsprach auch die Aufbewahrung und Erarbeitung der Sprüche in Gestalt von Chriën oder Sentenzen (griech. „gnṓmē“ = Erkenntnis, kurzer Sinnspruch). Eine Chrië (griech. „chreía“ = Anwendung, Gebrauch) ist ein Spruch, der in einer rhetorisch pointiert formulierten Anekdote von einer historischen Persönlichkeit mit lehrhafter Tendenz „gebraucht“ wird.73 Solche Chriën sollten das Erlernen der Sprüche erleichtern und den Wortlaut wirkungsvoll einrahmen, damit seine wirkliche oder mögliche Bedeutung noch besser erkennbar wird. Die Sprüche wurden so gestaltet, dass sie einen Überblick über die Lehre einer Person oder einer Schule bieten konnten. Das für die Formulierung der Chriën ty-

73 Das Abfassen solcher Chriën war eine Stilübung, die zur rhetorischen Ausbildung gehörte. Die klassisch gewordene Sammlung ist in Alexandrien von dem Dichter Machon im 3. Jh. v. Chr. zusammengestellt worden.

2.2 Die hellenistische Kultur

59

pische Verfahren beeinflusste die redaktionelle Arbeit der Evangelisten und z. T. schon die Träger der von ihnen übernommenen Traditionen. Normalerweise wurde in der Chrië die sprechende bzw. handelnde Person (der literarische Held) kurz charakterisiert, damit deutlich wurde, wann und wo sie so sprach, wie es überliefert wurde. So lesen wir z. B. bei Markus: „Nachdem aber Johannes gefangengesetzt war, kam Jesus nach Galiläa und predigte das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nahe gekommen.74 Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,14 f.). Im Epheserbrief stoßen wir auf einen Satz, der direkt auf die Chriën bezogen werden kann: „Kein faules Wort komme aus eurem Mund hervor, vielmehr ein gutes, das zu einer ‚Chrië‘ gehört, welche erbaut“ (Eph 4,29, eine der möglichen Übersetzungen). Die Kunst der Chrië zu erlernen, war damals Bestandteil aller Ausbildungen. Und das Einüben in diese Kunst blieb bis ins 19. Jh. ein Teil der humanistischen Bildung. 2.2.4

Biographie und Geschichtsschreibung

Für die Deutung der Evangelien und der Apostelgeschichte sind vor allem die narrativen Formen des Alten Testaments von Bedeutung, deren hellenistisches Pendant die Geschichtsschreibung und die Biographie bilden. Der Einfluss der jüdischen Bibel wurde durch die Septuaginta (§ 2.1.4) vermittelt. Wie schon im Alten Testament die Offenbarungen Gottes bezeugt und mit ihren geschichtlichen Folgen beschrieben werden, stellen auch die Evangelien die Geschichte Jesu als göttliche Offenbarung dar. Diese Auswirkungen der Gottesbegegnung gehören zur Grunderfahrung Israels, an der später auch das hellenistische Judentum und die frühe Christenheit festhielten (§ 1.5.2). Da das christliche Zeugnis die Geschichte Jesu als die endgültige Offenbarung Gottes betrachtete, hat sich die Biographie als diejenige Gattung erwiesen, die für ihre literarische Bearbeitung am besten geeignet schien, da sie das Leben, die Tätigkeit und den Charakter eines einzelnen Menschen, z. B. eines Philosophen oder Dichters, als vorbildlich darstellt. Wie wir sehen werden, sind die Evangelien durch ihren Verkündigungsinhalt zu einer spezifischen Form der Biographie geworden, sodass man sogar von einer Untergattung „Evangelium“ sprechen kann (§ 6.2.6). Ohne Kenntnis der literarischen Form der Biographie können die Evangelien nicht sachgerecht gedeutet werden, z. B. in der Funktion der Vorgeschichten bei Matthäus und Lukas.75 Als eine Biographie, die für uns in diesem Zusammenhang bedeutend ist, 74

Die Lutherübersetzung (Rev. 1984) hat hier „... herbeigekommen“. Gelegentlich hat man auch die Biographien der modellhaften Personen, die den umfassenden Sinn der Geschichte, die Hoffnungen und ethischen Prinzipien verkörpern, Aretalogie genannt. Vgl. M. Hadas / M. Smith, Heroes and Gods. Spiritual Biographies in Antiquity, New 75

60

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

kann beispielsweise das Leben des Apollonius von Tyana (Ende 1. Jh.) genannt werden, eines neupythagoreischen Wundertäters, der ein asketisches Wanderleben führte, das von Philostratus Flavius (Anfang 3. Jh.) geschildert wurde und gerne im Blick auf die Wunder Jesu zum Vergleich herangezogen wird (Exkurs 6a).76 Ein weiteres wichtiges Beispiel einer Biographie ist das Leben des Mose (De vita Mosis), das der jüdische Religionsphilosoph Philo von Alexandrien (ca. 20/10 v. Chr. – 45 n. Chr.) beschrieben hat, um Mose für gebildete heidnische Leser als von Gott berufenen, höchsten Gesetzesgeber für alle Völker darzustellen. Auch die Prologe der lukanischen Schriften (Lk 1,1–4; Apg 1,1–3) haben ihre Analogien in der antiken Literatur (§ 6.1.2). 2.2.5

Dramatische Elemente im Neuen Testament

Wenig selbstverständlich scheint dagegen der Zusammenhang zwischen Neuem Testament und Theater zu sein, da sowohl die Juden als auch die Christen die dramatische Kunst mit tiefem Misstrauen betrachteten. Und doch können einige Einflüsse nicht geleugnet werden. Das Theater war ein beinahe allgegenwärtiger Bestandteil der hellenistischen und römischen Kultur. Das Theater gehört zu den bis heute gut erkennbaren architektonischen Resten der griechischen und römischen Städte und Siedlungen. In der Kaiserzeit hatte es eine ähnliche Bedeutung wie bei uns heute das Fernsehen. Dort erreichte die globale Kultur des Imperiums ihre Konsumenten. Präsentiert wurde die bunte Kultur einer relativ liberalen Gesellschaft, deren staatsideologischen Rahmen der Kaiserkult bildete. Dieser wurde mitunter formal, im 1. Jh. unter einigen Kaisern wie Caligula (37–41 n. Chr.), Nero (54–68) und Domitian (81–96) aber mit totalitärer Konsequenz verstanden und praktiziert (Exkurs 9). Aufgeführt wurden in den Theatern nicht nur die klassischen Tragödien und Komödien (manchmal in Auszügen), sondern auch neue, zumeist nicht erhaltene Spiele oder einzelne komische Szenen. Auch dramatische und musikalische Wettbewerbe wurden ausgerichtet und verschiedene andere Zusammenkünfte zu gesellschaftlichen Zwecken veranstaltet. Das Theater war die Kultur, die der Mehrheit der damaligen Gesellschaft zugänglich war, die nicht lesen konnte. In Apg 19,29 wird z. B. eine spontane Versammlung des Volks im Theater erwähnt, die gegen den Apostel Paulus gerichtet war. Es ist also davon auszugehen, dass die dramatischen Formen die ganze Kultur beeinflussten. Selbst Paulus benutzt die Theatermetaphorik in 1Kor 4,9 zur Charakterisierung seiner persönlichen Rolle: „Wir sind zum Schauspiel geworden für die York 21970, XIII ff. Sachlicher ist es allerdings, bei der exakter definierbaren Bezeichnung „Biographie“ zu bleiben. 76 Philostratus, Das Leben des Apollonios von Tyana, griech.-dt. hg. v. V. Mumprecht, München 1983.

2.2 Die hellenistische Kultur

61

Welt.“77 Das Markusevangelium ist als die älteste christliche Schrift ihrer Art beispielsweise durch das Auftreten eines Boten am Anfang (Johannes der Täufer) und am Ende (Jüngling am Grabe) gekennzeichnet. Beide charakterisieren den Protagonisten und heben seine Bedeutung hervor, wie es auch in den Dramen der Fall war. Überhaupt strebt die ganze Erzählung nach der Exposition und den ersten Konflikten (den sog. Peripetien) einem tragischen Ende entgegen. Der Wendepunkt erfolgt nach dem Bekenntnis des Petrus in Mk 8,31. Seitdem bewegt sich die Erzählung auf das Ende und ihren Gipfel zu: die Katastrophe des Helden, die durch den Eingriff einer höheren Macht umgedeutet und in eine große Verheißung verwandelt wird. Auch in den vormarkinischen Überlieferungseinheiten, besonders den Wundergeschichten, sind dramatische Elemente wie der kommentierende Chorschluss zu finden (z. B. Mk 1,27 par.; Exkurs 6). In den Evangelien sind noch weitere dramatische Mittel auszumachen, z. B. bei Markus die Anagnorisis (§ 6.2.7.3). Allerdings muss gesagt werden, dass die Evangelien keine Dramen sind.78 Sie enthalten nur in dem Maße dramatische Elemente, wie jene in der damaligen Kultur präsent waren. Das Evangelium unterscheidet sich von den Tragödien aufgrund seiner anti-fatalen Botschaft79 und ist auch literarisch anders gestaltet. Es handelt sich nicht um eine schöpferische Nachahmung (griech. mímēsis) eines in mythischer Vergangenheit liegenden Urbildes, wie es nach Aristoteles in der griechischen Tragödie der Fall war (po. 1450b), sondern um ein Zeugnis, das in der Gestalt Jesu eine einmalige Geschichte betraf, die zeitlich nicht weit zurück lag (§ 6.2.6; 6.2.6.1). 2.2.6

Rhetorik und Epistolographie

Auf einige Formen der griechischen Literatur wird erst bei den einzelnen Schriften des Neuen Testaments eingegangen.80 An dieser Stelle sind noch die Rhetorik und die Epistolographie zu erwähnen, da sie einige Berührungspunkte mit dem Neuen

77 In der Narrenrede in 2Kor 11,1–12,13 spielt Paulus nicht die Rolle des Komödianten, sondern polemisiert im Sinne jüdischer Weisheitsliteratur gegen die Torheit der Gegner, die sich gegen den Herrn vergehen (11,17 f.). 78 Mehrere Forscher haben versucht, eine dramatische Struktur des Markusevangeliums nachzuweisen. Die auffallend unterschiedlichen Ergebnisse ihrer Arbeit deuten die Strittigkeit eines solchen Verfahrens an. Wir erwähnen davon nur B. H. Standaert, L’Évangile selon Marc. Composition et genre littéraire, Zevenkerken – Brugge 1978 (Diss.) und F. G. Lang, Kompositionsanalyse des Markusevangeliums, ZThK 74 (1977), 1–24. 79 Von der Anti-Fatalität des Evangeliums spricht M. Balabán, Glaube oder Fatum (tschechisch mit deutscher Zusam menfassung), in: The State and Perspectives of Religious Studies in Czechoslovakia, Brno 1990, 17–23. 80 Vgl. die Briefform (§ 5.7), die Peristasen- bzw. Leidens- (§ 5.13), Laster- und Tugendkataloge (§ 5.11.1; 8.2.4) sowie die Haustafeln (Exkurs 11).

62

2 Voraussetzungen zur Entstehung des Neuen Testaments

Testament haben. Die Rhetorik bildete in der demokratischen Kultur Griechenlands die Grundlage jeder Bildung. Sie wurde nicht nur in den Gymnasien der griechischen Städte unterrichtet und geübt, sondern auch von den wandernden Lehrern der Beredsamkeit breiteren Schichten der Bevölkerung nahe gebracht. In der hellenistischen und römischen Zeit hatte sie ihre Bedeutung in der Lokalpolitik der Polis (Stadt) und in der juristischen Praxis vor Gericht beibehalten (§ 5.7a). In Apg 24,1 ff. wird die Anklage gegen Paulus (literarisch) wiedergegeben, die der Rhetor Tertullus als der rechtliche Vertreter des Jerusalemer Hohepriesters vorträgt (V.2b-8). Eine vorbildliche Verteidigungsrede (Apologie) des Paulus folgt in V.10b-21. Grundprinzipien der griechischen Rhetorik fassten in der römischen Zeit Cicero und im 1. Jh. n. Chr. Quintilian (institutio oratoria)81 zusammen. 1975 unternahm Hans Dieter Betz mit Hilfe der Rhetorik den Versuch, den Galaterbrief konsequent als eine rhetorisch gegliederte Schrift zu erklären.82 Sein Versuch führte zu Diskussionen, ob und inwiefern Einsichten aus der Rhetorik auf die Epistolographie (§ 5.7) übertragbar sind (§ 5.11.2). Strittig ist insbesondere, inwieweit das Ganze des Briefs durch eine bewusste rhetorische Strategie bestimmt ist und welche rhetorischen Gattungen überwiegen. Allgemein ist allerdings anerkannt, dass noch heute und um so mehr damals die literarischen Äußerungen durch rhetorische Formen beeinflusst sind und waren. Die literarische Analyse, die die Linguistik im umfassenden Sinn berücksichtigt, wird seit dem Ende der 60-er Jahre des 20. Jh.s auch als „rhetorische Kritik“ bezeichnet.83

81

Quintilian, Ausbildung des Redners. 12 Bücher. Lateinisch und deutsch, hg. v. H. Rahn, Darmstadt 1988. 82 Vgl. H.-D. Betz, The Literary Composition and Function of Paul’s Letter to the Galatians, NTS 21 (1975), 353–379. 83 Als Fachausdruck durch J. Muilembourg geprägt; s. R. Meynet, L’analyse rhétorique, Paris 1989, 15.

3 Das Neue Testament als Kanon

 Frühchristliche Texte: Erwin Preuschen (Hg.), Analecta 8/II, Tübingen 1910; Übersetzung: W. Schneemelcher, NTApo I (Lit. § 12c), 1–40.  Literatur: Theodor Zahn, Geschichte des neutestamentlichen Kanons I–II, Erlangen, 1888–1889, 1890–1892; Adolf von Harnack, Die Entstehung des Neuen Testaments und die wichtigsten Folgen der neuen Schöpfung, Leipzig 1914; Edgar J. Goodspeed, The Formation of the New Testament, Chicago 1937; Wilhelm Schneemelcher, NTApo I, 1–40; Ernst Käsemann (Hg.), Das Neue Testament als Kanon, Göttingen 1970; Hans von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel, Tübingen 1968; Peter Stuhlmacher (Hg.), Das Evangelium und die Evangelien (WUNT 28), Tübingen 1983; Martin Hengel, Die Evangelienüberschriften (SHAW.PH 1984/3), Heidelberg 1984; Roger Beckwith, The Old Testament Canon in the New Testament Church, London 1985; Earl E. Ellis, The Old Testament in Early Christianity (WUNT 54), Tübingen 1991; Geoffrey M. Hahneman, The Muratorian Fragment and the Development of the Canon, Oxford 1992; Bruce M. Metzger, Der Kanon des Neuen Testaments, Düsseldorf 1993; Lee M. MacDonald, The Formation of the Christian Biblical Canon, Peabody, MA 1995; Graham N. Stanton, The Fourfold Gospel, NTS 43 (1997), 317–346; Detlev Dormeyer, Die Bibel: Entstehung und Zusammenstellung eines Textcorpus, in: L. J. Engels / H. Hofman (Hg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft IV, Wiesbaden 1997, 89–119; Julio Trebolle Barrera, The Jewish Bible and the Christian Bible. An Introduction to the History of the Bible, Leiden 1998; Theo K. Heckel, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (WUNT 120), Tübingen 1999; Martin Hengel, The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ, Harrisburg, PA / London 2000; Stephen C. Carlson, Clement of Alexandria on the Order of the Gospels, NTS 47 (2001), 118–125; Hermann von Lips, Der neutestamentliche Kanon, Zürich 2004.

3.1

Das Problem

Der Kanon ist eine Sammlung von Schriften, die ein differenziertes Ganzes mit verschiedenen theologischen Akzenten darstellt. Die Zusammenstellung ist keineswegs selbstverständlich. Sie hat sich in einem komplexen Prozess herauskristallisiert und in der Kirche ohne äußere Gewalt durchgesetzt. Das Problem der Auswahl der hier besprochenen urchristlichen Texte ist das Problem des christlichen Kanons.1 1

Vgl. immer noch als Klassiker Th. Zahn, Geschichte des neutestamentlichen Kanons (1888–1892), und A. v. Harnack, Die Entstehung des Neuen Testaments (1914); vgl. weiter zu den unterschiedlichen Fragestellungen H. v. Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel (1968); B. M. Metzger, Der Kanon des Neuen Testaments (1993); J. Trebolle Barrera, The Jewish Bible and the Christian Bible. An Introduction to the History of the Bible (1998); Th. K. Heckel, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (1999); M. Hen-

64

3 Das Neue Testament als Kanon

Die Begrenzung dieser Einleitung auf die kanonisierten Schriften scheint einseitig und traditionell zu sein. Die Vermeidung solcher Einseitigkeit führte in ähnlichen Lehrbüchern zur Ausweitung des besprochenen literarischen Bereichs auf die gesamte urchristliche Literatur. Schon seit mehr als drei Jahrzehnten ist diese Tendenz sichtbar.2 Das bedeutendste Phänomen, das mit einem entscheidenden Teil der urchristlichen Literatur verbunden ist, bleibt dabei aber unberücksichtigt, nämlich die Kanonisierung. Denn dass diese Schriften zum Kanon wurden, ist die wichtigste Dimension ihrer Wirkung und einer der Hauptgründe für das heutige Interesse an jenen Texten. Wer den Prozess der Kanonbildung nicht bedenkt, verspielt zugleich die hermeneutische Chance, die Bedeutung der urchristlichen Texte vor dem Hintergrund ihrer Kanonizität zu bestimmen. Es ist also berechtigt, die Schriften des Neuen Testaments als ein Ganzes zu untersuchen. Die Kanonisierung darf allerdings nicht als Garantie für die theologische Kongruenz der kanonisierten Schriften verstanden werden. Was die neutestamentlichen Bücher verbindet, ist die Konzentrierung auf Jesus als die Schlüsselgestalt menschlicher Hoffnung und auf die Argumente aus der jüdischen Bibel, die als prophetische Hinweise auf seine fundamentale Bedeutung aufgefasst wurden (§ 2.1.3). Beide Momente erschließen sich erst und allein durch das Christuszeugnis des Neuen Testaments. Die Gemeinsamkeiten – d. h. die theologischen Gründe, die zur Kanonisierung geführt haben – können nur durch eine systematische Metareflexion entdeckt werden. Betrachten wir die einzelnen Schriften des Neuen Testaments, so müssen wir mit einer Pluralität der Theologien rechnen, zumal die Kanonisierung erst nach der Abfassung der Texte einsetzte. Als ein späterer Vorgang kann und darf die Kanonisierung die Auslegung der neutestamentlichen Texte also nur indirekt beeinflussen. Da diese Schriften zunächst als Aussagen für ihre konkrete Zeit und Umwelt zu verstehen sind, kann als Norm ihrer Deutung nur der Text dieser Schriften selber gelten.3 Bei der Untersuchung der kanonisierten Schriften ist methodisch Vorsicht geboten. Da die Untersuchung kritisch sein muss, werden selbstverständlich auch außerkanonische Texte wie z. B. die nachneutestamentliche Sammlung der Apostolischen Väter, das Thomasevangelium (§ 6.1.6.1) oder die bedeutenden alten Textvarianten (§ 4.3.3) mitberücksichtigt. Dabei werden wir im Rahmen unserer Einleitung, z. B. bei der Pistisformel in 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.5d) oder bei Markus (§ 6.2.6.1d), auf einige Schnittpunkte der urchristlichen mündlichen und literarischen Tradition aufgel, The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ (2000), zur Forschungsgeschichte Th. K. Heckel, Neuere Arbeiten zum Neutestamentlichen Kanon I–II, ThR 68 (2003), 286– 313.441–459, sowie zur Einführung P. Stuhlmacher, Theologie 2 (Lit. § 1), 287–349. 2 Vgl. Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975, 3 ff.; K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums (Lit. § 1); W. Schmithals, Theologiegeschichte des Urchristentums, Stuttgart u. a. 1994. 3 G. Sellin, Zwischen Deskription und Reduktion. Aporien und Möglichkeiten einer Theologie des Neuen Testaments, EvTh 64 (2004), 172–186, hier 175 f.

3.2 Die theologischen Voraussetzungen des christlichen Kanons

65

merksam machen, die als Voraussetzungen für die spätere Kanonbildung von Bedeutung waren.

3.2 Die theologischen Voraussetzungen des christlichen Kanons Die Entstehung des christlichen Kanons war keine natürliche Fortsetzung des Prozesses der Kanongestaltung der jüdischen Bibel (§ 2.1.3). Die ersten Christen rechneten nicht mit einer zweiteiligen Bibel, denn die Osterverkündigung war mit apokalyptischen Vorstellungen verbunden, die die Erwartung des nahe bevorstehenden Weltendes mit der Wiederkunft Christi einschloss (sog. Naherwartung; § 5.6.2.1; 5.10.3). Als die Parusie jedoch immer länger ausblieb, kam es zu Erschütterungen, die zwar nicht die innere Identität des Glaubens zerstörten. Aber sie hatten zur Folge, dass die zweite und die späteren christlichen Generationen der vorkonstantinischen Zeit sich nicht mehr auf die jüdische Bibel beschränken konnten, sondern neue Wege suchen mussten: a) Christus und die Schrift: In der ersten Generation nach dem Tod Jesu war die Norm der Verkündigung und das Rückgrat ihrer von den Lehrern gepflegten Tradition der Herr (kýrios), d. h. Jesus Christus mit seiner ganzen Geschichte, besonders als der wiederauferstandene und erhöhte Erlöser. Auch die Worte Jesu wurden primär als Logien des lebendigen, auferstandenen Herrn tradiert (1Thess 4,13 ff.), denen die apostolischen Lehrer, auch Paulus, ihre eigenen Aussagen unterordneten (1Kor 7,10.12.25). Ebenso bildeten die Worte Jesu beim letzten Mahl in 1Kor 11,23 ff. als Weisung des Kyrios, d. h. des erhöhten Herrn, den Maßstab für die Kritik an der Feier des Herrnmahls in Korinth (§ 5.6.2.3a). Wo von der Schrift (§ 2.1.1) die Rede ist, handelt es sich um die jüdische Bibel, d. h. um das Alte Testament der christlichen Bibel. Der Herr und die Schrift waren die beiden autoritativen Quellen, die im christlichen Gottesdienst des 1. Jh.s eine konstituierende Funktion übernahmen.4 Durch Zitate aus der Schrift, d. h. der jüdischen Bibel (§ 2.1.1–5; 5.5.1), legitimierte sich die christliche Verkündigung als Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen (bes. 1Kor 15,3.4: katá tás graphás = nach den Schriften; § 5.6.2.1). Die Berührungen zwischen der Geschichte Jesu und der Schrift waren zunächst entweder allgemeiner Art oder wurden in rabbinischer Weise durch stichwortartige Parallelen begründet, wie wir sie auch bei Paulus finden (z. B. bei der Nachkommenschaft Abrahams in Gal 3,16). Derselbe Paulus stellte jedoch den Schriftbeweis (§ 5.11.4b) auf eine theologische Basis, indem er das Zeugnis der Schrift als prophetische Verheißung interpretierte, auf Christus bezog und als Argument für ein Konzept des Volkes Gottes anführte, das aus der Gnade Gottes und 4

So auch 1Kor 9,9.13 f.; vgl. 1Tim 5,18.

66

3 Das Neue Testament als Kanon

nicht kraft eigener Qualitäten lebt (vgl. bes. Röm 9 – 11).5 Doch bei aller Verwendung der Schrift blieb die theologisch entscheidende Autorität stets Christus als der auferstandene und lebendige Herr. Als die Kirche – noch zur Zeit der ersten Generation – heidnischen Boden betrat, veränderte der Ausdruck „nach den Schriften“ (katá tás graphás; 1Kor 15,3 f.) seine Funktion. Während die Schrift bisher im jüdischen Milieu herangezogen wurde, um die Autorität des verkündigten Jesus zu legitimieren, verhalf jetzt umgekehrt das Christuszeugnis zur Anerkennung der jüdischen Bibel bei den Heidenchristen. Die Schrift wurde als indirektes Zeugnis aufgefasst, in dem Jesus Christus in Verheißung und Erwartung verhüllt war (2Tim 3,15 ff.). b) Evangelien und Briefe: Die Entstehung des christlichen Kanons wurde durch das Vorlesen der apostolischen Briefe in den gottesdienstlichen Versammlungen (§ 5.3) sowie durch die schriftliche Gestaltung der Überlieferung der Worte und Taten Jesu in den Evangelien vorbereitet (§ 6.2.4).6 Die schriftliche Fixierung erfolgte bereits zur Zeit der zweiten Generation, d. h. im letzten Drittel des 1. Jh.s. So führte der Verfasser des Markusevangeliums die Sprüche Jesu, die ursprünglich als aktuelle Aussagen des auferstandenen, lebendigen Herrn tradiert wurden, wieder in den Rahmen seines irdischen Lebens zurück (§ 6.2.6). Sie wurden dadurch zu Worten Jesu Christi, die er während seines irdischen Lebens gesagt hatte. Aus Texten, die anfänglich als unmittelbare Äußerung des göttlichen Willens durch Christus verstanden worden waren, wurden Texte, die im Gottesdienst vorgelesen und von frühchristlichen Lehrern oder Propheten in die Gegenwart übersetzt, kommentiert und appliziert wurden. Noch längst vor der Entstehung des Kanons wurden diese Schriftstücke zu einer literarischen Norm der lebendigen Verkündigung und Ermahnung (Paränese). Zugleich inspirierten sie, da sie in einer veränderten Situation als Texte selber wieder der Aktualisierung und Auslegung bedurften, die Produktion neuer Metatexte (Deutung, Predigt), wie wir es z. B. bei der Brotrede in Joh 6 als Interpretation der Speisung der Fünftausend beobachten können. Die Briefe des Neuen Testaments erlangten als apostolische Schreiben eine ähnliche Stellung, weil ihre Autoren als frühe Zeugen für die dritte und die weiteren christlichen Generationen eine Autorität besaßen, die der Autorität Jesu nahekam.7 Schon in den ersten christlichen Texten außerhalb des Neuen Testaments wurden die Apostel gleich nach Gott, dem Vater, und Jesus Christus genannt (1Clem 42,1; IgnMagn 13,1). Das Sammeln dieser Überlieferungen gehört allerdings nur zu den Voraussetzungen, die erst mehr als eine Generation später in der Mitte des 2. Jh.s zur Entste5 6 7

Vgl. J. B. Souček, Israel und die Kirche (Lit. § 2.1.3), 171–182. Vgl. Ch. Markschies, Zwischen den Welten wandern, Frankfurt / M. 1997, 100–110. Vgl. Lk 10,16: „Wer euch hört, der hört mich“; Apg 1,21 f.; 2Petr 3,2.

3.2 Die theologischen Voraussetzungen des christlichen Kanons

67

hung der Idee des christlichen Kanons führten. Bis weit ins 2. Jh. hinein blieb die mündliche Überlieferung über Jesus Christus die entscheidende Autorität in der Kirche. Es gab zu jener Zeit noch immer die Möglichkeit, dass die christliche Verkündigung und Lehre weiterhin einfach als Deutung der Schrift (des Alten Testaments) innerhalb der christlichen Gemeinden dargeboten wurde (z. B. im Barnabasbrief). Die schon erwähnten Voraussetzungen prädestinierten die Entwicklung, an deren Ende die Entstehung des Kanons stand, noch nicht. c) Rezeptionsmöglichkeiten von jüdischer Bibel und christlicher Überlieferung: Denkbar wären auch andere Entscheidungen gewesen. Eine reale Möglichkeit der Gestaltung des christlichen liturgischen Lesens hätte erstens in der Ersetzung der jüdischen Bibel (§ 2.1.1) durch eine Sammlung christlicher Texte bestanden. Dieser Versuch wurde in der Mitte des 2. Jh.s von Markion (ca. 85–160; § 3.3b) unternommen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Eine andere Möglichkeit wäre zweitens die direkte Einordnung des christlichen Zeugnisses und der christlichen Texte in die jüdische Bibel gewesen – die Evangelien in die früheren Propheten (die historischen Bücher der christlichen Bibel, d. h. Josua – 2. Könige; § 2.1.1), die Episteln in die späteren Propheten (die Prophetenbücher) oder in die Schriften (ketûbîm). Die christliche Bibel wäre dann eine erweiterte jüdische Schrift (graphḗ) geworden. Für beide Lösungen gab es im 1. Jh. Voraussetzungen. Beide hätte man als folgerichtige Entfaltungen älterer Ansätze betrachten können. Die Lösung Markions wurde von einem Teil der Kirche auch wirklich ausprobiert. Es hätte aber auch eine dritte Möglichkeit bestanden: die enthusiastische Ablehnung der älteren Jesusüberlieferung oder der Bekenntnisformeln als Norm, die für die Verkündigung und theologische Reflexion verbindlich war, und der Anspruch prophetischer Eingebung, der unmittelbar vom erhöhten Herrn abgeleitet worden wäre. Dieser enthusiastische Ansatz hätte eventuell mit dem Erhalt der jüdischen Bibel kombiniert werden können, zumal die Übergänge zwischen prophetisch inspirierter Rede und der lehrhaften Weitergabe traditioneller Jesusüberlieferungen in den Anfängen der Kirche noch recht fließend waren (Apg 13,1 f.; Did 11–13). Sammlungen von Schriftzitaten, die man als Verheißungen auf Jesus als den Messias bezog,8 hätten als Testimonien zur typischen literarischen Gattung des Christentums werden können. Eine solche Gattung ist in Qumran durch 4QTestimonium und 4QFlorilegium belegt. Diese Möglichkeit hätte eine weitere Alternative zu der historisch erfolgreichen Lösung der Großkirche dargestellt, aber sie konnte sich nicht durchsetzen. Nur einige Gruppen in den paulinischen Gemeinden haben diesen Weg gewählt. Elemente dieser judaistisch-enthusiastischen Lösung tauchten in charisma8

Vgl. etwa die Reflexionszitate im Matthäusevangelium (§ 6.3.3) oder die Florilegien zum Steinmotiv in Mt 21,42 parr.; Apg 4,11; Röm 9,33; Eph 2,20; 1Petr 2,4.6–8.

68

3 Das Neue Testament als Kanon

tischen Gemeindegruppierungen (1Kor 12–14; § 5.12.1) und bei anderen enthusiastischen Personenkreisen auf (Phil 3,2 ff.; § 5.14.3). d) Die Eigenständigkeit des neutestamentlichen Kanons: Alle diese eben beschriebenen Möglichkeiten müssen zumindest erwähnt werden, um zu zeigen, dass die Entstehung des christlichen Kanons eine bedeutende Weichenstellung war. Die jüdische Bibel (§ 2.1.1) und die Sammlung der christlichen Schriften bilden in diesem Kanon zwei Einheiten. Das Neue Testament9 ist nicht einfach eine Fortführung der jüdischen Bibel (§ 3.2), sondern deren polares Gegenüber, weil es das Zeugnis von der Offenbarung eines neuen Bundes enthält, den Gott durch die Propheten verheißen (Jer 31,31–34) und in Christus geschlossen hat (§ 2.1.3). Der Prozess der Kanonisierung verlief auf mehreren Ebenen. Es handelt sich zwar nur um einen Teil der Dogmengeschichte, doch gipfelte die theologische Reflexion der christlichen Grundbekenntnisse in der Entstehung des Kanons. Denn Bekenntnisformulierungen wie 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.1) bieten eine knappe Zusammenfassung wesentlicher Glaubensaussagen, aber sie bleiben auf eine ausführlichere Schilderung angewiesen, wie es zum Tod Jesu gekommen war und wie die Jünger durch die Erscheinungen des Auferstandenen seine lebendige Gegenwart erfahren haben. Die größte Herausforderung war die Aufrechterhaltung der doppelten Eschatologie: Der Messias ist schon bekannt, das messianische Reich aber noch nicht da. Diese Aufspaltung stellte etwas Neues in der jüdischen Geschichte dar und brachte das Spezifische der Ostererfahrung, dass Jesus auferstanden ist und lebt, am besten zum Ausdruck (§ 5.10.3). Die zweifache Eschatologie verband mehrere Gruppen der Anhänger Jesu. Sie bereitete einerseits der ultraapokalyptischen Naherwartung ein Ende, die nicht fähig war, eine Vision für mehrere christliche Generationen zu entwerfen. Andererseits hatte sie die Aufhebung der vorbehaltlos präsentischen Eschatologie zur Folge, die selbstständig nur in einer enthusiastischen oder spiritualisierenden Gestalt weiterleben konnte. Der Kanon ist ein Produkt des Bewusstseins, dass wir in einer Zwischenzeit leben, die später als die Geschichte nach Christus definiert wurde. Kompromisslose Verfechter der Naherwartung hätten ihre Glaubensinhalte nicht in Büchern für spätere Generationen festgehalten. Und geistbegabte Enthusiasten hätten den schriftlich fixierten Text immer mit Misstrauen betrachtet. Die einzelnen Etappen der Entstehung des Kanons sind zwar zeitlich ineinander verschachtelt, geschahen idealtypisch jedoch in folgender Reihenfolge: 1. Die Entstehung des Textmaterials, d. h. der Schriften des Neuen Testaments, evtl. ihrer einzelnen Schichten, 2. die Entstehung der Idee des Neuen Testaments und 3. die Begren-

Griech. diathḗkē und hebr. berît – (Neuer, Alter) Bund – stammen als Bezeichnungen für die beiden Teile der christlichen Bibel aus dem 2. Jh. n. Chr. (§ 2.1.3). 9

3.3 Die Idee des christlichen Kanons

69

zung des Kanons.10 Die erste Etappe wird in den späteren Kapiteln dieser Einleitung besprochen (§ 5–8). Auf die Voraussetzungen, die zur Entstehung des zweiteiligen Kanons führten, beziehen sich speziell die Ausführungen in § 5.6.2 (verwendete Traditionen in den Paulusbriefen); § 6.2.6 (Gattung und Theologie der Evangelien); § 8.7.3b (zur integrierenden Funktion des 2. Petrusbriefs) und Exkurs 10 (Das Problem der Pseudepigraphie). Doch soll an dieser Stelle noch auf die Idee des christlichen Kanons eingegangen werden.

3.3

Die Idee des christlichen Kanons

Das griechische Wort „kanṓn“ bedeutet wörtlich „Schilfrohrstange“. Im übertragenen Sinn meint es „Messlatte, Maßstab, Lineal, Richtschnur“ und auf einer höheren Stufe der Übertragung „Regel, Norm“ (Gal 6,16). Als Bezeichnung für die maßgebliche Sammlung der Schriften wird der Begriff in der Kirche erst seit dem 4. Jh. verwendet. a) Die Idee des neutestamentlichen Kanons: Hier lassen sich drei Elemente unterscheiden. Außer dem Vorhandensein der einzelnen Schriften des Neuen Testaments sind es erstens ihre Sammlung, die ähnlich wie beim Kanon der jüdischen Bibel durchgeführt wurde, d. h. als eine begrenzte Gruppe von Schriften, deren literarisches Rückgrat die narrativen Texte bilden. Zu beachten ist zweitens die relative Selbstständigkeit der christlich kanonisierten Schriften, die neben der jüdischen Bibel stehen. Am Ende steht drittens die Verbindung beider Sammlungen zu einer gemeinsamen Bibel, die Altes und Neues Testament umfasst. Die Idee des neutestamentlichen Kanons entstand spätestens in den sechziger Jahren des 2. Jh.s und fand überraschend schnell eine relativ feste Gestalt. Schon gegen Ende des 2. Jh.s begründete Irenäus von Lyon (um 180 n. Chr.), der bedeutendste Theologe des 2. Jh.s, mit theologischen und philosophisch-spekulativen Argumenten (haer. 3,11,8) die Grundgestalt des neutestamentlichen Kanons mit vier Evangelien. Gelegentlich sprach er auch vom Neuen Testament schon als der „Schrift“ (griech. graphḗ; lat. scriptura). Diese Vorstellung von der Zusammengehörigkeit aller christlichen Schriften muss eine überraschende Entwicklung gewesen sein, denn etwa dreißig Jahre zuvor war von der Idee des Kanons noch nichts zu hören. Die Apostolischen Väter, eine Zusammenstellung der ältesten christlichen Schriften außerhalb des Neuen Testaments, übernahmen zwar mit wenigen Ausnahmen (Didache; Hirt des Hermas) die Form der Epistel, die sich im paulinischen Korpus bewährt hatte (vor allem der 1. Clemens10

So J. B. Souček, Zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons (tschechisch), Studientext, Prag 1946, hier 7.

70

3 Das Neue Testament als Kanon

brief und die Briefe des Ignatius). Aber ausdrückliche Hinweise auf eine mit der Schrift (der jüdischen Bibel) vergleichbare Sammlung christlicher Schriften finden wir bei ihnen nicht. Justin (Iustinus Martyr, † 165 in Rom) spricht nach 150, nachdem vom Evangelium bisher immer nur im Singular die Rede war (§ 6.2.6.1), als erster von den Evangelien in der Mehrzahl und zitiert einige von ihnen. Das Matthäusevangelium erwähnt er manchmal sogar wörtlich. Auch er schätzt den Stoff der Evangelien, aber noch nicht wegen ihrer kanonischen Autorität, sondern nur als „Erinnerungen der Apostel“ (griech. apomnēmoneúmata tṓn apostólōn).11 Besonderen Abstand hält er zu Paulus, vielleicht unter dem Einfluss von Markion (§ 3.3b), der die Theologie des Apostels zur Norm seiner häretischen Lehre gemacht hatte. Auch wenn er die Frage der künftigen Auferstehung der Christen oder die Beziehung zur irdischen Obrigkeit bespricht, beruft sich Justin nicht auf die bekannten paulinischen Texte. Es war schließlich die innere Autorität der Evangelien, die die Entstehung der Idee des Kanons förderte. Einzelne Evangelien wurden zur Abfassungszeit im 1. Jh. regelmäßig im Gottesdienst vorgelesen12 und begannen, im 2. Jh. als liturgische Schriftlesung neben die alttestamentlichen Schriften zu treten (Justin apol. I,67,3).13 Zu diesem Zweck wurden die neutestamentlichen Schriften von den Gemeinden abgeschrieben und über viele Gebiete verteilt. Ähnlich verhält es sich bei den Briefen. Schon in der letzten Dekade des 1. Jh.s zitiert der 1. Clemensbrief den 1. Korintherbrief des Paulus.14 Zwanzig Jahre später erinnert Ignatius die Christen in Ephesus an den Apostel Paulus, der an sie in allen seinen Briefen gedacht habe (IgnEph 12,2). In 2Petr 3,15 f. wird in den ersten Jahrzehnten des 2. Jh.s (§ 8.7.3b) schon die Existenz der paulinischen Briefe („alle“) als eines gesammelten Korpus vorausgesetzt. b) Markion: Adolf von Harnack (1851–1930) dachte, dass der christliche Kanon unter dem direkten Einfluss von Markion aus Sinope (ca. 85–160) entstanden sei, der im Jahr 144 aus Kleinasien nach Rom gekommen war. Markion begann – ähnlich wie die Gnostiker – den von Paulus geprägten Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium neu zu interpretieren, indem er Gott, den Schöpfer dieser Welt, als eine niedrige und eifersüchtige Gottheit beschrieb. Nachdem ihn die Kirche abgelehnt hatte, gründete Markion eigene christliche Gemeinden, für die er eine neue liturgische Schriftensammlung zusammenstellte. Sie umfasste das Lukasevangelium und zehn paulinische Briefe (ohne Past). Seine außerordentliche geistige Leistung bestand darin, in 11

Justin, dial. 101,3; 104,1 u. a. Dieser Terminus entstand vielleicht in Anlehnung an Xenophons († nach 355 v. Chr.) „Erinnerungen an Sokrates“. 12 Vgl. Mk 13,14; Justin apol. I,66,3; 67,4 (§ 6.2.3d). 13 Vgl. J. Salzmann, Lehren und Ermahnen (WUNT II/59), Tübingen 1994, 246–249. 14 Vgl. 1Clem 34,8 (vgl. 35,5; 37,5; 47,1–3; 49,5) mit 1Kor 2,9 (vgl. 1,10–13; 12,21 f.; 13,4– 7; Röm 1,29–32); vgl. auch Hebr 1,3 f. in 1Clem 36,2–5 (§ 8.5.4b.d).

3.3 Die Idee des christlichen Kanons

71

der Zeit eines zunehmenden christlichen Moralismus (z. B. 2Clem 17,1–19,3)15 die paulinische Theologie neu entdeckt zu haben. Leider beseitigte er aus den von ihm kanonisierten Schriften die seiner Meinung nach unechten judaisierenden Passagen. So ließ er z. B. einen großen Teil der ersten vier Kapitel des Lukasevangeliums aus, weil in ihnen von der jüdischen Herkunft Jesu und von seiner Menschlichkeit die Rede ist. Genauso verfuhr er mit Lk 5,39: „Der alte (Wein) ist besser“ und Röm 1,16: „Das Evangelium ist die Kraft Gottes, die selig macht ... die Juden zuerst und ebenso die Griechen.“ Im Unterschied zu den Gnostikern, die das Alte Testament neu interpretierten, lehnte er die jüdische Bibel grundsätzlich ab. Trotz des guten Willens, das Anliegen des Apostels zu vertreten, interpretierte er seinen Meister ohne Rücksicht auf den Kontext der paulinischen Aussagen.16 Heute wird die Harnacksche These distanziert beurteilt. Denn der Prozess der Kanonbildung dürfte kaum durch Markion ausgelöst, wohl aber beschleunigt worden sein. Markion war in der Tat der erste, der zwei Teile des neutestamentlichen Kanons eindeutig definierte: die Evangelien, deren indirekter Verfasser Jesus selbst sein musste, und den apostolischen Teil, dessen Grundgehalt aus den paulinischen Briefen besteht. Doch hatte Markion damit nur ausdrücklich benannt, was sich als Prozess schon länger abgezeichnet hatte. Die zwei Größen „euaggélion“ und „apóstolos“ unterschied man schon früher (IgnMagn 13,1), wobei das „euaggélion“ eine höhere Autorität besaß. Ob der begüterte Markion der Sammler der Rollen oder Bücher (Kodizes) mit den Abschriften paulinischer Briefe war, von dem in 2Petr 3,15 f. die Rede ist, können wir nicht entscheiden. Jedenfalls setzte sich in der Mitte des 2. Jh.s der zweiteilige christliche Kanon durch, an dessen Anfang die vier Evangelien standen, die schon früher Bestandteil der gottesdienstlichen Lesung in verschiedenen Bereichen der Kirche waren (s. Anm. 12). Ihre Anerkennung wurde dadurch erschwert, dass die Handschriften damals zu teuer waren, um allen Gemeinden zugänglich zu sein.17 Umso bemerkenswerter ist der schnell errungene Sieg des christlichen zweiteiligen Kanons mit den Evangelien und den apostolischen Briefen und noch erstaunlicher seine rasche Emanzipation von der anders orientierten christlichen Literatur des 2. und 3. Jh.s. Aus dem lebendigen Christuszeugnis des ursprünglich mündlich verkündigten Evangeliums ist eine zweiteilige Schrift geworden. c) Integrative und selektive Tendenzen: Um die Idee des christlichen Kanons in ihrem Wesen zu begreifen, müssen wir sehen, dass die Tendenz zur Sammlung der 15 Vgl. K. P. Donfried, The Setting of Second Clement in Early Christianity (NT.S 38), Leiden 1974, 181. 16 Vgl. H. v. Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel, 193 ff. 17 Schon bald (von Anfang an?) benutzte die Kirche den Kodex als billigere Form des Buchs (§ 4.1).

72

3 Das Neue Testament als Kanon

Schriften zwei Seiten hatte. Zum einen öffnete sie die theologisch allzu einseitigen liturgischen Konzepte der einzelnen Gemeinden und wirkte dadurch ökumenisch integrierend. Zunächst hatten die Evangelisten versucht, durch die Verarbeitung der mündlich oder schriftlich überlieferten Stoffe ihre älteren Vorlagen zu ersetzen, Matthäus und Lukas das Markusevangelium und die Logienquelle (§ 6.3.4; 6.4.1a), Johannes die synoptischen Evangelien (§ 7.1.3). Trotz dieser ursprünglichen Absicht der Verfasser vermochte jedoch keines der Evangelien die anderen zu verdrängen. Am Ende setzte sich der Vierevangelienkanon durch, in dem die vier ältesten Evangelien einfach nebeneinander gestellt wurden, ohne dass irgendein Ausgleich zwischen ihren Unterschieden versucht worden wäre.18 Die Entwicklung des Vierevangelienkanons richtete sich nicht nur gegen die Absicht der beiden längeren synoptischen Evangelien Matthäus und Lukas, ältere (Text-)Überlieferungen überflüssig zu machen, sondern bedeutete auch die Ablehnung des syrischen Diatessarons (griech. diá tessárōn = durch [die] vier [sc. Evangelien]). Bei dieser Schrift handelt es sich um eine Evangelienharmonie, die Tatian von Syrien (ca. 120–180), ein Schüler Justins, eine Generation später, etwa um 170 n. Chr., zusammenstellte, indem er den gesamten Evangelienstoff in den narrativen Rahmen des Johannesevangeliums als eine fortlaufende Erzählung einfügte. Durch das Streichen von Doppelüberlieferungen und Glätten von Widersprüchen wollte er die Einheitlichkeit der Darstellung der Jesusgeschichte garantieren und die vier Evangelien überflüssig machen. In Syrien setzte sich diese Art des Kanons für drei Jahrhunderte durch, bis sie im 5. Jh. zugunsten der vier Evangelien abgelehnt und durch die verbreitete Übersetzung, die Peschitta (§ 4.2.5.3a), verdrängt wurde. Weder Markions radikale Reduktion noch Tatians harmonisierende Synthese konnten sich also gegen die vierfache Evangelienüberlieferung durchsetzen. Damit kommen wir zur zweiten Seite dieser sammelnden Tendenz der Idee des Kanons, nämlich der restriktiven und selektiven: Es ging auch um die Ablehnung einiger Textsor ten und Texte, die zu liturgischer Anwendung konzipiert waren. Dieser Ausscheidungsprozess betrifft nicht nur die Gattung der Logiensammlungen (§ 6.1.5), die allein im narrativen Rahmen der kanonischen Evangelien ihren Weg in den Kanon gefunden haben. Ausgesondert wurden auch die Didache, eine frühchristliche Gemeindeordnung mit alten Überlieferungen (Ende 1. Jh.), und die Apokalypsen, von denen nach dem Bericht des Kanon Muratori (§ 3.3.1a)19 gegen Ende des 2. Jh.s in der römischen christlichen Gemeinde noch drei gelesen wurden: die Johannesapokalypse, die Petrusapokalypse und der Hirt des Hermas (auch im Kodex Sinaiticus enthalten; § 4.2.2). Dass man zuletzt nur eine Apokalypse, die Offenbarung des Johannes, kanonisierte, ist bezeichnend (Exkurs 8). Der Kanon sollte vor allem das Normative repräsentieren, das an die Zeit der Inkarnation, d. h. an das irdische 18 19

Vgl. Th. K. Heckel, Evangelium, bes. 207–218; M. Hengel, The Four Gospels, 34 ff. Deutsche Übersetzung bei W. Schneemelcher, NTApo6 I, 27–29.

3.3 Die Idee des christlichen Kanons

73

Leben Jesu, gebunden ist. Obwohl die neuen Offenbarungen beanspruchten, durch den Geist inspiriert zu sein,20 wurden sie mit Misstrauen als Entwertung jener endgültigen Offenbarung in der Person Jesu betrachtet. Die Autorität des Geistes wurde nicht bestritten, die einflussreichen Gruppen banden ihn allerdings an den konziliaren Konsens, wie es sich schon beim Apostelkonvent in Apg 15,28 abzeichnet. Offenbarungen gegenüber Einzelpersonen konnten nur sehr schwer von Täuschung oder bewusstem Betrug unterschieden werden. Seine restriktive Funktion erhielt der Kanon schon in der Mitte des 2. Jh.s in der Zeit seiner Entstehung und Abgrenzung gegen Markion und dessen Kanon, gegen die Montanisten21 und deren Naherwartung sowie gegen die Gnostiker und deren Schriften.22 Die Gnostiker stellten die gefährlichste Alternative dar, weil sie die Inkarnation Gottes im irdischen Jesus in Frage stellten und seine für die Kanonisierung normative Bedeutung nicht anerkannten. Der neben Markion andere große Interpret des paulinischen Erbes war Valentinus, der als Lehrer etwa 140–160 n. Chr. ebenfalls in Rom wirkte und den Weg zur Gnosis bereitete, selber aber noch nicht ging.23 d) Der „apostolische“ Anspruch: Die theologische Begründung des Kanons geht prinzipiell von der Einmaligkeit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus aus (§ 1.4.3; 1.4.5). Dadurch ist die zeitliche Begrenzung der kanonisierten Texte gegeben. Es sind Schriften der Erstzeugen – der Apostel. Dieser Authentizitätsanspruch gilt sowohl für die Evangelien, deren Verfasser vor allem das Material der Jesustradition weitergaben, als auch für den zweiten Teil mit den Briefen, der deswegen „apóstolos“ genannt wurde. Doch bezeichnet der Begriff „apostolisch“ in diesem Kontext nicht nur das Urzeugnis in seiner zeitlichen Bedeutung, sondern zugleich das authentische Zeugnis im Sinn der apostolischen Lehre, die in diesen Schriften enthalten ist. Diese inhaltliche Komponente der Apostolizität geht auf die ältesten, in der apostolischen Zeit wurzelnden Bekenntnisse zurück, vor allem auf diejenigen, die den Glauben an die Auferstehung Jesu und die stellvertretende Bedeutung seines Todes artikulierten. Ein solches Bekenntnis hat bereits Paulus in 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.1) als eine alle Apostel verbindende gemeinsame Grundlage aus der Tradition übernommen und in die Pistis-Formel eingebunden (V.5–11). Die Formulierung des Ostergeschehens, bei dem sich die apokalyptische Erwartung einer allgemeinen Auferstehung der Toten in 20

Apk 1,1–3.11; 2,1; 22,18 f. u. a. Der Prophet Montanus und die Prophetinnen Maximilla und Prisca wirkten in den Jahren 160–170 n. Chr. in Phrygien in Kleinasien. 22 Vgl. H.-J. Klauck, Umwelt II (Lit. § 12), 145–198; Ch. Markschies, Die Gnosis, München 2001 (vgl. ders., Art. Gnosis II, RGG4 3, 1045–1053). 23 Vgl. Ch. Markschies, Valentinus Gnosticus? (WUNT 65), Tübingen 1992. 21

74

3 Das Neue Testament als Kanon

der Gestalt Jesu in einem konkreten Menschen ereignet hatte, wurde als geeigneter Ausdruck der christlichen Glaubenserfahrung angesehen, der auch für andere Christen als tragfähig erachtet wurde. Das Bekenntnis zur Auferstehung Jesu erwies auch bezüglich anderer christologischer Entwürfe eine integrierende Kraft. Von den zwei Koordinaten – dem Alter und der „dogmatischen Korrektheit“ – war das Alter unter damaligen Bedingungen nur schwer bestimmbar. Bei Schriften, die der Bekenntnistradition der Großkirche entsprachen, wurde die Geschichte ihrer Entstehung nicht näher untersucht. Man begnügte sich mit den traditionellen Angaben über ihre zumindest indirekte apostolische Herkunft, nach der Markus als Dolmetscher des Petrus (§ 6.2.3a), Lukas als Begleiter des Paulus (§ 6.4.6b) galt. Dagegen wurden die dogmatisch strittigen Texte wie der Hebräerbrief (§ 8.5.5) und die Johannesoffenbarung (§ 7.2.7a) auch hinsichtlich ihrer Entstehungsgeschichte kritischer betrachtet. Damit kam die Zuordnung einer Schrift in die Zeit der Apostel bei der Kanonbildung faktisch der historischen Anerkennung ihrer dogmatischen Korrektheit gleich.24 Mit dem theologischen Problem der Christen, die das Element des Betrugs kennen, dass einige Verfasser ihre Schriften unter dem Namen eines Apostels veröffentlichten, werden wir uns später beschäftigen (Exkurs 10: Das Problem der Pseudepigraphie). e) Fazit: Aus dem Abstand von fast zweitausend Jahren müssen wir den christlichen Teil des Kanons als eine Sammlung der ältesten Texte begreifen, die der Glaubensnorm entsprachen und schon bald als integrierend erkannt wurden. Der Kanon ist vor allem das Ergebnis einer „zweiten“ Bewegung, die auf das Stadium des anfänglichen Enthusiasmus folgte. Der Prozess der Kanonbildung war eine Etappe der Rückbindung an die Person Jesu, die nicht mehr der Begründung des Glaubens, sondern eher seiner weiteren Orientierung in der Geschichte diente.

3.4

Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons

a) Der Grundbestand und die Ränder: 1740 entdeckte der Bibliothekar Ludovico A. Muratori in der Bibliothek des Ambrosius von Mailand (333–397) das Fragment eines lateinischen Manuskripts aus dem 8. Jh., das ein Verzeichnis der Bücher enthielt, die für die gottesdienstliche Lesung empfohlen werden. Der Kanon Muratori ist vermutlich in Rom entstanden und in griechischer Sprache verfasst. Sein Text wird in die Zeit um das Jahr 200 datiert.25 Der Kanon Muratori bestätigt die Exis24

Vgl. J. B. Souček, Zur Geschichte (s. Anm. 10), 6. Textausgabe: H. Lietzmann, Kleine Texte I, Berlin 21933 oder im Anhang von K. Aland (Hg.), Synopsis Quattuor Evangeliorum; Übersetzung W. Schneemelcher, NTApo6 I, 27–29. 25

3.4 Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons

75

tenz einzelner Gruppen von Schriften, deren Autorität gegen Ende des 2. Jh.s anerkannt war und aus den christlichen Quellen belegt werden kann: Vier Evangelien (der Anfang des Kanons, in dem vermutlich vom Matthäus- und Markusevangelium die Rede war, ist nicht erhalten), Apostelgeschichte, Episteln und Offenbarungen. Die Episteln werden in folgender Reihenfolge angeführt: Die Briefe des Paulus an die sieben Gemeinden (1–2Kor – Eph – Phil – Kol – Gal – 1–2Thess – Röm), denen die sieben Sendschreiben in Apk 2 f. zur Seite gestellt werden, vier Briefe an Einzelpersonen (Phlm – Tit – 1–2Tim) und die katholischen Briefe (Jud – 1–2Joh), unter denen seltsamerweise die Weisheit Salomos eingereiht wird. Überraschend ist das Fehlen des 1. Petrusbriefs, verständlicher das Schweigen bezüglich der noch länger strittigen Briefe des Jakobus (§ 8.8.3) und an die Hebräer (§ 8.5.5). Von den Apokalypsen werden die Johannesoffenbarung und die Petrusapokalypse übernommen – letztere allerdings mit der Einschränkung, dass einige sie ablehnen. Bedeutend sind die restriktiven Aussagen: Die Briefe des Paulus nach Laodizea und nach Alexandrien werden als unecht bezeichnet und abgelehnt. Der Hirt des Hermas (eine Apokalypse) wird zur gottesdienstlichen Lektüre nicht empfohlen. Und ausdrücklich gewarnt wird vor den Schriften des Arsinous, Valentinus, Miltiades und Markion. Wenn wir diese Aufstellung des Kanon Muratori mit anderen Berichten der christlichen Schriftsteller an der Wende vom 2. zum 3. Jh. wie Irenäus, Tertullian, Clemens von Alexandrien und Hippolyt von Rom vergleichen, ergibt sich aus jener Zeit schon ein bemerkenswerter Konsens hinsichtlich der Gestalt des Kanons: vier Evangelien, mindestens zwölf paulinische Episteln, Apostelgeschichte, 1. Petrusbrief (nicht enthalten im Kanon Muratori), 1. Johannesbrief und die Johannesoffenbarung. Der Hebräerbrief blieb im Westen wegen seiner Äußerungen zur Unmöglichkeit der zweiten Buße bis fast zum Ende des 4. Jh.s außerhalb des Kanons (§ 8.5.5). Damit war der neutestamentliche Kanon zwar noch nicht fixiert, in seinem Grundbestand aber faktisch weitgehend anerkannt und nur in der unscharfen Abgrenzung an den Rändern noch offen. Es gibt noch weitere Verzeichnisse der kanonischen Schriften des Neuen Testaments, die aus dem 3. Jh. stammen und in den Handschriften des Neuen Testaments überliefert sind. So enthält z. B. der Codex Claromontanus (D) ein Kanonverzeichnis, das aus dem 3. Jh. stammt.26 Dort sind schon alle später kanonisierten Schriften außer dem Hebräerbrief aufgelistet. Darüber hinaus werden hier am Ende als Be-

Mitunter wird eine Spätdatierung angenommen, die jedoch voraussetzt, dass wir das lateinische „nuperrime“ (vor kurzem), das sich im Text auf die Entstehung des Hirt des Hermas bezieht, auf Jahrzehnte ausdehnen. So z. B. A. C. Sundberg, Canon Muratori: A Fourth Century List, HTR 66 (1973), 1–41; ähnlich G. H. Hahneman, The Muratorian Fragment; beide unterschätzen die anderen zeitgenössischen Verzeichnisse. Vgl. dagegen G. Stanton, The Fourfold Gospel, 322 ff. 26 Übersetzung bei W. Schneemelcher, NTApo6 I, 30.

76

3 Das Neue Testament als Kanon

standteil des Neuen Testaments noch der Hirt des Hermas, die Paulusakten und unter Vorbehalt auch die Petrusapokalypse erwähnt. Vom Anfang des 4. Jh.s stammt der Kanon des Euseb (ca. 265–339 n. Chr.; h.e. 3,25.26),27 in dem von den katholischen Briefen nur der 1. Johannes- und der 1. Petrusbrief akzeptiert, die anderen aber als Antilegomena bezeichnet werden, d. h. als Schriften, deren Anerkennung auf Widerspruch stößt und umstritten ist. Die Johannesoffenbarung wird mit dem Vorbehalt „wenn man will“ versehen. Euseb (h.e. 6,25,3 ff.) unterteilte – nach dem Vorbild des Origenes († 254) – die christlichen Schriften aus gottesdienstlicher Sicht in 1. „homologúmena“ (unbestrittene, „übereinstimmend“ allgemein anerkannte Schriften), 2. strittige Schriften, und zwar a) „antilegómena“ (Schriften, denen „widersprochen“ wird), auch „amphiballómena“ („angezweifelte“ Schriften) genannt (z. B. Jak, Jud, 2Petr, 2–3Joh), oder b) „nótha“ („unechte, gefälschte“ Schriften; z. B. Herm, ApkPetr u. a.) sowie 3. „dyssebḗ“ („unfromme“, eindeutig häretische Schriften, die abzulehnen sind; etwa EvPetr). In dieser Kategorisierung werden die Kriterien für die Aufnahme in den Kanon sichtbar: Apostolizität, dogmatische Korrektheit und Anerkennung in der Kirche. Der Kanon setzte sich in der christlichen Kirche nur schrittweise durch. Der im 3. Jh. entstandene Kodex, der die Papyri Bodmer VII/VIII (p72) enthält, bietet auch Abschriften des 3. Korintherbriefs und der 11. Ode Salomos. Aus diesem Befund darf man nicht folgern, dass jene Schriften noch Bestandteil der liturgischen Lesung waren.28 Er zeigt jedoch, dass die Idee des Kanons als eines Ganzen mit exklusiver Wirkung in Ägypten noch nicht stark genug war, um die Bildung solcher gemischten Anthologien zu verhindern. Die Verbreitung des Kanons wurde auch durch praktische Gründe beeinträchtigt. Von den etwa 3000 erhaltenen Handschriften, die Texte des Neuen Testaments enthalten (§ 4.2.1 ff.), waren nur etwa sechzig als Wiedergabe des ganzen Neuen Testaments mit seinen nach unserer Zählung 27 Büchern konzipiert.29 b) Der Vierevangelienkanon: Von einigen Gruppen in der Kirche wurde die Kanonisierung der vier Evangelien kritisiert. Denn die Wahl nur eines einzigen Evangeliums entsprach der anfänglichen Praxis der meisten Lokalgemeinden, der Absicht der Evangelisten und dem Kanon des Markion. Die Zusammenstellung der vier Evange27

Übersetzung bei W. Schneemelcher, NTApo6 I, 38. Vgl. W. Wiefel, Kanongeschichtliche Erwägungen zu Papyrus Bodmer VII/VIII (p72), Archiv für Papyrusforschung 23 (1973), 289–303. 29 Vgl. J. K. Elliott, Manuscripts, the Codex and the Canon, JSNT 63 (1996), 105–123, hier 110. 28

3.4 Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons

77

lien hingegen wurde durch ökumenische Interessen motiviert, die unterschiedliche Traditionen zu vereinen versuchten. Im Hintergrund stand das Bewusstsein, dass sich die Evangelien auf ein Geschehen beziehen, das nur schwer in Worte gefasst werden kann. Deswegen schien eine mehrfache Darstellung berechtigt. Diese Einsicht ist vielleicht der wichtigste Grund für die schon erwähnten Auseinandersetzungen bei Irenäus (§ 3.3a). Nur ein Evangelium wählte Tatian (§ 3.3c) in Syrien (2. Jh.), indem er in seinem Diatessaron (diá tessárōn = durch [die] vier [Evangelien]) den Stoff der vier Evangelien zu einer einzigen Erzählung zusammenfügte, Doppelüberlieferungen tilgte und Widersprüche harmonisierte. Nach Euseb (h.e. 4,29,6) verbreitete dieses Diatessaron sich über Syrien hinaus und beeinflusste den Text einiger späterer Abschriften der vier Evangelien. Der Text ist nicht erhalten, bekannt ist nur ein kleiner Teil der Passionsgeschichte auf einem Pergamentfragment aus Dura Europos im südöstlichen Syrien am oberen Euphrat, ein armenischer Kommentar des Syrers Ephraem (um 306–373) zum Diatessaron aus dem 4. Jh. sowie eine spätere arabische und eine mittelpersische Übersetzung. Ein verlässlicher Text kann aus diesen Zeugnissen und den Zitaten der Kirchenväter kaum erstellt werden, wenn auch das Anliegen dieses Unternehmens – ein einheitliches Evangelienbuch zu haben – verständlich ist. Vielleicht benutzte Tatian die Tradition der „Erinnerungen der Apostel“ (s. Anm. 11), die Justin zitiert.30 Aber auch diese Hypothese ist bis heute offen. Schließlich wurde das Diatessaron am Anfang des 5. Jh.s selbst in Syrien abgelehnt und durch die Peschitta (§ 4.2.5.3a) abgelöst. Die Ablehnung von Tatians Evangelienharmonie war eine der bedeutendsten restriktiven Entscheidungen, die die Gefahr vermied, eine vereinheitlichte Fassung der Jesusüberlieferung als formale Norm einzuführen. Schon durch die äußere Gestalt mit vier Evangelien verrät der neutestamentliche Kanon, dass er sich in der Geschichte Jesu auf ein und dasselbe Geschehen bezieht, das in unterschiedlicher Weise als Offenbarung Gottes dargestellt wird. Durch die vierfache Parallelüberlieferung wurde auch die historische Forschung mit ihrem Interesse an der spezifischen Eigenart der einzelnen Evangelien als eine Dimension der Exegese legitimiert (§ 1.4.5). Theologisch wird mit dem Kanon die Schlüsselrolle Jesu Christi anerkannt, „der im Fleisch gekommen ist “ (1Joh 4,2). c) Weitere Einflüsse: Der zu Beginn des 2. Jh.s abgeschlossene Kanon der hebräischen Bibel (§ 2.1.1) beeinflusste ohne Zweifel den neutestamentlichen Kanon als Modell entscheidend – die Doppelüberlieferungen in 1–2Kön und 1–2Chr stellen eine gewisse Analogie zur Mehrzahl der Evangelien dar. Dagegen wurde die Kodifizierung der jüdischen Tradition in der Mischna und später im Talmud (§ 2.1.2) nicht 30

Vgl. W. L. Petersen, Textual Evidence of Tatians Dependence upon Justins Apomnemoneumata, NTS 36 (1990), 289–303.

78

3 Das Neue Testament als Kanon

zu einem vorbildhaften Modell. Eher wurde die Kanonbildung in einer späteren Etappe indirekt durch die Standardausgaben mit Sammlungen von Werken griechischer Klassiker (Lyriker, Tragiker, Redner) beeinflusst, die in hellenistischer Zeit entstanden und den genauen Umfang der einzelnen Texte angeben.31 Grundsätzlich führte die Idee des Kanons zu einer Festlegung, die paradoxerweise den Weg für eine neue Welle christlicher Literatur bahnte, die sich bereits auf den Kanon bezog.

3.5

Die Abgrenzung des Kanons und die Beziehung zur jüdischen Bibel

a) Die Abgrenzung des neutestamentlichen Kanons: Unsere 27 Bücher des Neuen Testaments sind als abgeschlossene Größe zum ersten Mal im 39. Osterbrief des Bischofs Athanasius von Alexandrien aus dem Jahr 367 n. Chr. aufgeführt.32 Dabei handelt es sich zwar um eine Anweisung, die nur für eine Diözese gültig war und sich vor allem im Osten durchsetzte. Doch wurde im Westen derselbe Kanon nur einige Jahre später (382) unter Papst Damasus aufgenommen. In Nordafrika wurde der Kanon mit 27 Büchern auf den Synoden in Hippo Regius (393) und Karthago (39733 und 419) bestätigt. Er wurde von der überwiegenden Mehrheit der Kirche rezipiert, wenn auch der Streit um die Johannesoffenbarung wegen der chiliastischen Naherwartung im Osten bis ins Mittelalter fortdauerte (§ 7.2.7a). In der syrischen Kirche werden der 2. und 3. Johannesbrief, der 2. Petrusbrief, der Judasbrief und die Johannesoffenbarung bis heute als strittige Texte betrachtet. In der armenischen Kirche wird der 3. Korintherbrief und in der koptischen Kirche werden die beiden Clemensbriefe im Gottesdienst benutzt. Das Decretum Gelasianum de libris recipiendis et non recipiendis, das nach Papst Gelasius I. benannt wurde (492–496),34 enthält ein später im 6. Jh. redigiertes Bücherverzeichnis, das vielleicht römische Traditionen widerspiegelt, die bis ins 4. Jh. (Synode im Jahr 382) zurückreichen können. Im zweiten Teil bietet es eine Aufzählung aller 27 Bücher des Neuen Testaments und davon deutlich abgesetzt im fünften Teil eine Aufstellung der apokryphen Schriften, die zu verwerfen sind.

31 So ein syrisches Kanonverzeichnis vom Anfang des 5. Jh.s (E. Preuschen, Analecta, 66–68). 32 Übersetzung bei W. Schneemelcher, NTApo6 I, 39 f. Dort werden außer den Büchern der hebräischen Bibel noch Schriften aus der Septuaginta erwähnt, „die zwar nicht kanonisiert sind, aber von den Vätern als Lektüre“ empfohlen werden wie SapSal, Sir, Esth, Judith, Tob (sowie Did und Herm aus den Apostolischen Vätern). 33 Hier wurden auch die Schriften der Septuaginta erstmals als Teil des christlichen Kanons aufgezählt (DH 186). 34 Vgl. W. Schneemelcher, NTApo6 I, 30–33.

3.5 Die Abgrenzung des Kanons und die Beziehung zur jüdischen Bibel

79

b) Die Verwendung des Alten Testaments: Das Gesetz, die Propheten und die Psalmen, also das spätere Alte Testament, wurden von Anfang als gottesdienstliche Lesung verwendet, weil die ersten Anhänger Jesu Juden waren (§ 2.1.1; 2.1.3–5). Ebenso verfuhren die Christen, weil sie sich selbst zunächst als eine innerjüdische messianische Bewegung betrachteten. Erst als Markion (§ 3.3b) seinen Kanon zusammengestellt hatte und die Heidenchristen in der Kirche die Oberhand gewannen, wurde das Festhalten am Alten Testament zu einer bewussten Entscheidung. Jede neue Bewegung muss sich in der Geschichte orientieren und ihre Vorgeschichte suchen, wenn sie eine stabile Lehre und soziale Struktur entwickeln will. Die Kirche entschied sich für die Geschichte Israels als ihre Vorgeschichte (Röm 1,2 f.; Hebr 1,1 f.) und für das Alte Testament als Dokument ihrer eigenen Vergangenheit (§ 2.1.3). Der zweiteilige Kanon hat also den Charakter eines Bekenntnisses.35 Die Bezeichnung Alter Bund bzw. Altes Testament (seit dem Ende des 2. Jh.s; § 2.1.3) deutet an, dass es sich um eine zwar unentbehrliche, aber doch um eine Vorgeschichte handelt, die aus der Sicht des Neuen kanonisiert wurde. Der Grund für die Aufnahme der jüdischen Bibel in den christlichen Kanon war ihre neue Bedeutung, in der sie als Altes Testament mit dem Neuen ebenso verbunden wie von ihm unterschieden wurde. Die Interpretation des Alten Testaments findet in der christlichen Kirche auf zwei Ebenen statt: Die Zitate und Anspielungen auf das Alte Testament müssen bei den urchristlichen Autoren aus der Sicht des konkreten neutestamentlichen Kontexts interpretiert werden, die von der Bedeutung der entsprechenden Texte in der jüdischen Bibel manchmal deutlich abweicht.36 Da die jüdische Bibel als Ganzes kanonisiert wurde, ist es aber auch sachlich und theologisch begründet, jene Texte als eine relativ autonome Größe zu interpretieren und dadurch ständig die Berechtigung und den Charakter der frühchristlichen Deutung des Alten Testaments kritisch zu prüfen. Die Divergenzen zwischen diesen beiden Arten der alttestamentlichen Exegese sind auffällig, aber die Ergebnisse weisen auch manche Gemeinsamkeiten auf, wie einige Einzelstudien37 und die Analysen des Offenbarungsverständnisses des Alten Testaments nachgewiesen haben.38 In den alttestamentlichen Geschichten entdeckten die Christen dasselbe Geschehen, das ihrer Erfahrung nach in Jesus Christus gipfelt und den Weg zum letzten Horizont des Mensch-Seins öffnet – zur Gemeinschaft mit Gott. 35 36

Vgl. K. Barth, Kirchliche Dogmatik I/2, Zollikon 41948, 532. Betont z. B. von H. Braun, Das Alte Testament im Neuen Testament, ZThK 59 (1962),

16–31. 37

Vgl. J. B. Souček, Israel und die Kirche im Denken des Apostel Paulus (Lit. § 2.1.3). Vgl. H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments I, Göttingen 1990, 15.33 f.210.213; P. Stuhlmacher, Theologie 1 (Lit. § 1), 1–39; Bd. 2, 287–349. 38

80

3 Das Neue Testament als Kanon

c) Septuaginta oder hebräischer Kanon? Die Kirche übernahm das Alte Testament überwiegend in der griechischen Übersetzung der Septuaginta (§ 2.1.4), bei der noch lange nicht feststand, welche Schriften zu ihr gehörten. Der Wunsch, einen deutlich umrissenen Kanon zu haben,39 wirkte auch bei der Entstehung der einheitlichen lateinischen Übersetzung, der Vulgata (§ 4.2.5.2), mit. Hieronymus (ca. 347– 419) versuchte als Übersetzer, den engeren hebräischen Kanon der Juden (§ 2.1.1) durchzusetzen. Seine (nach unserer Zählung) 39 Bücher wurden gegen Ende des 1. Jh.s in den Synagogen gelesen, nachdem die Schule in Jabne (Jamnia, bei Jaffa) nach 70 n. Chr. nach längeren Diskussionen auch einige strittige Bücher (z. B. Hoheslied, Prediger) zur gottesdienstlichen Lesung zugelassen hatte. Diese Rückkehr zum Ursprung, die Hieronymus als erster mit dem Terminus „hebraica veritas“ (hebräische Wahrheit) programmatisch vertrat,40 gelang letztlich jedoch nicht. Schließlich wurden in die lateinische Übersetzung die meisten griechisch verfassten Bücher aus der Septuaginta aufgenommen, auch wenn Hieronymus sie nicht übersetzt hatte. In der römisch-katholischen Kirche wurde dieser umfassendere Kanon auf dem Konzil von Trient durch das „Decretum de canonicis Scripturis“ 1546 bestätigt (DH 1502). Die Kirchen der Reformation akzeptierten als vollwertigen Bestandteil des alttestamentlichen Kanons hingegen nur die Bücher der hebräischen Bibel, nicht der Septuaginta. Der Grund war die neuentdeckte Bedeutung des Hebräischen als Ursprache des Alten Testaments im Rahmen des Humanismus und seiner Bewegung „zu den Quellen“ (lat. ad fontes). Dieses Interesse am Urtext verband sich mit dem Studium der Schrift. Doch müssen wir sogleich hinzufügen, dass die Reformation die deuterokanonischen Bücher (Apokryphen) nicht gänzlich ablehnte. Luther bezeichnete sie – der altkirchlichen Praxis vor allem im Westen folgend – in seiner Bibelübersetzung als „Bücher, so der heiligen Schrift nicht gleich gehalten und doch nützlich und gut zu lesen sind“.41 Die böhmische Reformation (15. Jh.) benutzte die apokryphen Bücher. Noch in der Kralitzer Bibel – der dritten Generation der Bibelübersetzungen ins Tschechische –, die unter Mitwirkung jüdischer Gelehrter übersetzt und mit einem Kommentar versehen wurde (Ende 16. Jh.), sind die deuterokanonischen Bücher der Vulgata unter der Bezeichnung Apokrypha als 5. Band enthalten. In den Kirchen der deutschen Reformation blieben die „Apokryphen“ im lutherischen Zweig als gottesdienstliche Lesung erhalten, in der EKD aber nicht als Predigtperikope (Luther pre-

39

So R. Beckwith, The Old Testament Canon in the New Testament Church, London 1985, 144 ff. 383 ff. 40 Vgl. Ch. Markschies, Hieronymus und die „Hebraica Veritas“, in: M. Hengel / A. M. Schwemer, Septuaginta (Lit. § 2.1.4), 131–181, hier 147 f. 41 So in der Überschrift zu den Apokryphen vor der Vorrede auf das Buch Judith in: M. Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545, hg. v. H. Volz, München / Herrsching o.J. (1972), Bd.2, 1674.

3.5 Die Abgrenzung des Kanons und die Beziehung zur jüdischen Bibel

81

digte nur über zwei Stellen aus Sirach). Durch das Auffinden zahlreicher hebräischer Textfragmente vor allem aus dem Sirachbuch ist „das Formalargument der hebraica veritas freilich ... brüchig geworden,“42 da auch einige der in der Septuaginta griechisch überlieferten Schriften hebräische Vorstufen haben und damit die Sprache kein geeignetes Abgrenzungskriterium mehr bietet. Entsprechendes gilt für die von manchen propagierte Rede von der „Hebräischen Bibel“ (§ 2.1.3b). Die östliche, orthodoxe Kirche verwirft nicht den engeren Kanon, aber faktisch benutzt sie den Kanon der Septuaginta. Da es auch noch zwischen der orthodoxen Kirche und der koptischen, armenischen und äthiopischen Kirche Unterschiede hinsichtlich des Umfangs des alttestamentlichen Kanons gibt, lässt die Gestalt des ersten Teils des Kanons auf Unterschiede zwischen den Konfessionen schließen. d) Die Komplementarität von Altem und Neuem Testament: Das Neue Testament ist keineswegs eine einfache Fortsetzung des Alten, sondern ein komplementäres Gegenüber, das zwar viele alttestamentliche Gedanken aufnimmt, das Christusgeschehen aber als die neue, endgültige Offenbarung Gottes darstellt (§ 2.1.3; 3.2). In der eschatologischen Erwartung gibt es im Alten Testament im Blick auf die Endzeit unterschiedliche Vorstellungen. Dies gilt auch für die Hoffnungen, in denen der Messias eine Schlüsselfunktion ausübt. Die entscheidenden Verheißungen betreffen den neuen Äon. Ihre Erfüllung steht aber noch aus. Literarisch gibt es mehrere Textgruppen, die an die jüdische Bibel anknüpfen (Talmud, Midraschim, Qumrantexte; vgl. § 2.1.3). Das Neue Testament stellt unter ihnen die am wenigsten erwartete Möglichkeit der Anknüpfung dar. Das Kommen des Messias ohne das messianische Reich kann dem Alten Testament nur sehr indirekt entnommen werden. Im Neuen Testament verkündigt Jesus das Reich Gottes als eine universale Größe, die den Rahmen der Hoffnung vieler jüdischer Zeitgenossen auf eine religiös-nationale Wiederherstellung Israels sprengt. Im Blick auf dieses Reich des Messias gibt es manche Entsprechungen zwischen Altem und Neuem Testament – nicht nur wegen der ähnlichen Begrifflichkeit, die das Verstehen des Neuen Testaments ohne die Kenntnis des Alten so schwer macht. Mit dem Alten ist das Neue Testament auch nicht allein aufgrund des ähnlichen Existenzverständnisses oder des gemeinsamen narrativen Rahmens verbunden, der sich auf konkrete Geschichten bezieht (§ 1.4.3; 1.4.5) und für die jüdisch-christliche Tradition typisch ist. Das Neue Testament gilt vor allem des-

42

O. H. Steck, Der Kanon des hebräischen Alten Testaments, in: W. Pannenberg / Th. Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis I. Kanon – Schrift – Zeugnis, Freiburg u. a. 1992, 11–33, hier 31; vgl. 31 f.: „Anders als zur Reformationszeit wissen wir heute, daß nicht wenige der evangelischerseits sogenannten Apokryphen sicher oder mit großer Wahrscheinlichkeit ursprünglich hebräische oder aramäische Schriften waren oder auf derartige Vorstufen zurückgehen (Tobit, Judith (?), Sirach, Baruch (?), Brief Jeremias (?), Zusätze zu Daniel, 1Makk, Gebet Manasses (?), 3. Esra (teilweise), 4. Esra, Ps 151; auch Psalmen Salomos).“

82

3 Das Neue Testament als Kanon

halb als komplementäres Gegenstück, weil das Alte Testament Gott als denjenigen entdeckte, der Neues schafft und der sich dementsprechend auf neue Weise den Menschen zuneigen kann. Damit konnten die neutestamentlichen Autoren einerseits in großer Kontinuität alttestamentliches Gedankengut aufgreifen, andererseits das Auftreten Christi mit einem klaren Bewusstsein der Diskontinuität aber zugleich als ein völlig neues, bisher noch nicht da gewesenes Ereignis präsentieren. Nach dem christlichen Zeugnis ist die Geschichte Jesu die entscheidende Zuwendung Gottes zu den Menschen, seine endgültige Offenbarung. Ihre Bezeugung ist das Zentrum der christlichen Bibel. e) Die Mitte der Schrift: Dass der Kanon selbst noch ein inhaltliches Zentrum hat, ist kaum zu leugnen. Nach Martin Luther ist das Entscheidende für die Beurteilung der heiligen Schriften, „... ob sie Christum treiben oder nicht“.43 Dieses Kriterium besagt nicht, dass das, was außerhalb der Christusbotschaft liegt, entbehrlich ist. Es bedeutet nur, dass es nicht ohne Rücksicht auf Christus als die inhaltliche Mitte interpretiert werden darf. Dieses christologisch bestimmte Zentrum muss auch jede wissenschaftliche Forschung, die sich mit der Bibel kritisch befasst, ernst nehmen, falls sie die Schriften kennen lernen und den Grund der gemeinsamen Kanonisierung begreifen will. Der Kanon verhindert mit seiner eindeutigen Mitte in der Botschaft von Christus jede willkürliche Manipulation durch den Anspruch neuer Offenbarungen oder die Berufung auf das unmittelbare freie Wirken des Heiligen Geistes. Im Unterschied zu den christlichen Bekenntnissen44 deutet er gleichzeitig die Breite der Möglichkeiten an, die das biblische Grundzeugnis für das Denken und Handeln eröffnet. Einige Texte, die den heutigen Menschen nicht ansprechen, können zu anderer Zeit plötzlich aktuell werden. Da im Kanon verschiedene theologische und soziale Entwürfe ihren Platz fanden, konnte Ernst Käsemann die These formulieren, dass der Kanon durch seine ganze Struktur nicht die Einheit der Kirche (im Sinn der Einheitlichkeit), sondern ihre ökumenische Vielfalt begründet.45 Die neutestamentlichen Zeugen polemisieren manchmal gegeneinander, z. B. Matthäus (§ 6.3.4.1c) und der Jakobusbrief (§ 8.8.2c) gegen eine einseitige Paulusdeutung. Doch streiten sie dabei um die Deutung der Offenbarung jenes Gottes, dessen Reich Jesus verkündigte. Diese gute Bot-

43 So in der Vorrede auf den Jakobus- und Judasbrief im Septembertestament von 1522 (WA DB 7, 384; Luthers Vorreden zur Bibel, hg. v. H. Bornkamm, Bielefeld 31989, 216). Deshalb haben die lutherischen Bekenntnisschriften den Kanon auch nicht durch eine Aufzählung seiner Schriften festgelegt. 44 Von den kurzen neutestamentlichen Formeln über das Nicäno-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis bis hin zu den Bekenntnisschriften der einzelnen Konfessionen. 45 Vgl. E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? In: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 41965, 214–223, bes. 221.

3.6 Reihenfolge und Bezeichnung der einzelnen Bücher(gruppen)

83

schaft bildet die gemeinsame Grundlage, die die einzelnen Traditionen und Theologien des Neuen Testaments über alle Differenzen hinweg verbindet (§ 9). Damit gewinnt der Kanon im Grundgehalt seiner Christusbotschaft eine normative Funktion für den christlichen Glauben. Aber die äußeren Grenzen des Kanons zu definieren und den Umfang seiner Schriften festzulegen, ist eine theologische Entscheidung, die in der Hand der Konfessionen liegt. Die theologische Unbestimmtheit bei der äußeren Kanongrenze geht nicht von der Erwartung aus, dass eine neue, höhere Offenbarung kommt, wohl aber, dass neuentdeckte alte Texte einen besseren Zugang zu Jesus ermöglichen könnten. Diese prinzipielle Offenheit ist nur die Kehrseite der eindeutigen Eingrenzung des christlichen Kanons auf die Geschichte Jesu und der ersten Zeugnisse, die dieses Geschehen widerspiegeln. Der Unterschied zu den anderen Heiligen Büchern der Weltreligionen besteht beim christlichen Kanon besonders in der indirekten Autorität des Texts. Seine Autorität ist insofern eine indirekte, als der Text sich – als ein Zeugnis der Offenbarung Gottes – auf ein Geschehen bezieht, das zu einer konkreten Zeit an konkreten Orten stattgefunden hat (§ 1.4.3; 1.4.5). Diese indirekt abgeleitete Autorität mit ihrem Zeugnischarakter unterscheidet die Bibel vom Koran mit seinem Anspruch, Mitteilungen aus einem in seiner Urschrift im Himmel bewahrten Heiligen Buch (kitāb) zu enthalten. Die geschichtliche Dimension hebt die Bibel von den heiligen Texten des Hinduismus und Buddhismus ab.

3.6

Reihenfolge und Bezeichnung der einzelnen Bücher(gruppen)

Die Reihenfolge der Bücher des Neuen Testaments wurde durch die jüdische Schrift beeinflusst. Im Unterschied zum Alten Testament stabilisierte sich die Reihenfolge schneller, da in der Zeit, als die Idee des Kanons entstand, die neutestamentlichen Schriften schon als Kodizes (§ 4.1) existierten und nicht mehr wie die Bücher der jüdischen Bibel in einzelnen Rollen aufbewahrt wurden. Da ein Kodex mehrere Bücher enthalten kann, war es einfacher, mit seiner Hilfe eine mehr oder weniger einheitliche Reihenfolge durchzusetzen. Die Evangelien stehen am Anfang, weil sie von Jesus berichten, seine Aussagen enthalten und er somit indirekt als der eigentliche Urheber ihres Inhalts betrachtet werden kann. Ihre grundlegende Bedeutung bestätigen auch die Überschriften „Das Evangelium nach Markus“ (KATA MARKON), „... nach Lukas“ usw. (§ 6.2.3a), die in der antiken Literatur nicht ihresgleichen haben.46 Die Bezeichnung „Evangelium“ ist von einem älteren Begriff abgeleitet, der im urchristlichen Kontext die „gute Nachricht“ bedeutete, konkret für die Osterbotschaft gebraucht wurde (1Kor 15,1; § 5.6.2.1) 46

Vgl. M. Hengel, Die Evangelienüberschriften (SHAW.PH 1984/3), Heidelberg 1984, 11 ff.; ders., The Four Gospels (Lit. § 3), 48–55.126 f.

84

3 Das Neue Testament als Kanon

und in diesem Sinn noch in Mk 1,1 benutzt ist (§ 6.2.6.1). Die Überschrift des Markusevangeliums in Mk 1,1 wirkte so inspirierend, dass das Wort „Evangelium“ zur Bezeichnung für die Untergattung der kerygmatischen Biographien Jesu wurde (§ 6.2.6). Die Evangelien wurden zunächst anonym abgefasst und von den Autoren durch zusammenfassende Überschriften am Anfang der Texte charakterisiert (Mk 1,1: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“; Mt 1,1: „Buch der Geschichte von Jesus Christus“). Da die Bezeichnung der Evangelien nach den Autoren seit der ersten Hälfte des 2. Jh.s bezeugt ist,47 erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Namen der Evangelisten Markus (§ 6.2.3a) und Lukas (§ 6.4.6b) authentisch sind. Ihre Identifizierung mit den aus dem Neuen Testament bekannten Personen ist naheliegend, aber nicht beweisbar. Auf der anderen Seite spricht die Einheitlichkeit der Überschriften für ihre gemeinsame Einführung bereits zu einer Zeit, in der in mehreren christlichen Gemeinden mindestens zwei Evangelienschriften in Besitz waren und im Schriftenschrank sowie im Gottesdienst von einander unterschieden werden mussten. Die Reihenfolge wurde erstens durch die Vorstellungen vom Alter der einzelnen Evangelien, zweitens durch ihren Umfang und drittens durch Ähnlichkeiten mit den Büchern des Alten Testaments beeinflusst. Alle diese Gesichtspunkte führten zu der prominenten Anfangsstellung des Matthäusevangeliums, das mit den Worten „Bíblos genéseōs Iēsoú Christoú“ (Buch der Geschichte Jesu Christi) beginnt (§ 6.3.3.1), das umfangreichste ist und ohne Zweifel alte Überlieferungen (Q) enthält (§ 6.3.1).48 Das Johannesevangelium ahmt zwar absichtlich den ersten Vers des Buchs Genesis nach („Am Anfang ...“; § 7.1.5.1a). Aber andere Gründe, wie der Missbrauch durch die Montanisten, die sich für ihre ekstatische Prophetie auf den Parakleten (Heiligen Geist) im Johannesevangelium beriefen, oder die Angst vor doketischen Tendenzen, die die Inkarnation leugneten, veranlassten seine Einrahmung durch das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte. Denn diese beiden Theophilus gewidmeten Schriften ordnen das Auftreten Jesu historisch in den Horizont der Weltgeschichte ein. Folglich blieb für das Markusevangelium die zweite Stelle übrig. Damit war die meistverbreitete Reihenfolge der Evangelien gegeben: Mt – Mk – Lk – Joh. Den Kern des zweiten Teils bildete das Corpus Paulinum (§ 5), bei dem die Reihenfolge der Briefe wieder mehr oder weniger durch Alter, Länge und Bedeutung bestimmt wurde. Der zeitlich gesehen jüngste Brief des Paulus, der Römerbrief (§ 5.8.2; 5.16.3), rückte erst in den mittelalterlichen Handschriften an die erste Stelle. Früher standen am Anfang meist die Korintherbriefe (Kanon Muratori; § 3.3.1a). Eine spezifische Gruppe bildeten immer die drei Pastoralbriefe (1–2Tim; Tit; § 8.4) und manchmal die Gefangenschaftsbriefe (Eph, Phil, Kol, Phlm). Schließlich traten 47 M. Hengel, Evangelienüberschriften (s. Anm. 46), 8 ff. 14 ff., hat gezeigt, dass jene Bezeichnungen schon seit dem Anfang des 2. Jh. bekannt gewesen sind. 48 Vgl. M. Hengel, Evangelienüberschriften (s. Anm. 46), 10 ff.; ders., The Four Gospels (Lit. § 3), 34–47.

3.6 Reihenfolge und Bezeichnung der einzelnen Bücher(gruppen)

85

die Schreiben an Gemeinden (Röm – 1Thess) vor die Briefe an Einzelpersonen (1Tim – Phlm). Der Hebräerbrief kam trotz seines Umfangs an die letzte Stelle, weil er erst spät den paulinischen Briefen zugerechnet wurde (§ 8.5.2). Im Corpus Paulinum wurden die Briefe nach ihren Adressatengemeinden bezeichnet im Unterschied zu den katholischen Briefen, die mit Petrus, Jakobus usw. den Verfassernamen im Titel tragen. Als Ganzes fanden die Paulusbriefe ihren Ort hinter der Apostelgeschichte, welche den apostolischen Teil eröffnet. Eine dem paulinischen Korpus gegenüber eigenständige Gruppe bildeten die sieben katholischen Briefe (Jak; 1–2Petr; 1–3Joh; Jud; § 8.6–8). Die Bezeichnung ist spätestens seit Euseb (ca. 265–339 n. Chr.) ein feststehender Begriff (h.e. 2,23,25; 6,14,1) und charakterisiert diese Briefe als „allgemeine“, d. h. an die gesamte Christenheit gerichtete Schreiben. Die Briefeingänge wahren durch das Präskript die Form des Briefs (außer 1Joh). Anders als in den paulinischen Briefen können am Ende jedoch Grüße und Schlusssegen fehlen (Jak; 1Joh) oder durch eine Doxologie (Jud; 2Petr) ersetzt werden, die auf die gottesdienstliche Lesung als Sitz im Leben der Gemeinden schließen lässt. Die kanonische Anordnung entsprach der Aufzählung der drei „Säulen“ Jakobus, Kephas (Petrus) und Johannes in Gal 2,9. Neben den Paulusbriefen bildeten die katholischen Briefe die zweite Briefsammlung im neutestamentlichen Kanon, doch werden die Johannesbriefe heute meist bei den johanneischen Schriften behandelt (§ 7.1). Dabei schien die Sieben als Symbolzahl für die Vollkommenheit wichtig zu sein, da die sieben katholischen Briefe neben den vierzehn (= 2 x 7) Paulusbriefen (einschl. Hebr) und den sieben Sendschreiben in Apk 2 f. stehen (§ 7.2.1). Im Kanon Muratori (§ 3.3.1a) ist bereits die später vorherrschende Anordnung Apg – Corpus Paulinum – katholische Briefe (nur Judas und zwei Johannesbriefe) belegt. In einigen Verzeichnissen steht das paulinische Korpus am Anfang des apostolischen Teils und erst dann folgen die Apostelgeschichte und die katholischen Briefe (so in den Verzeichnissen des Codex Sinaiticus und Alexandrinus). Die Johannesoffenbarung bildete mit ihrem visionären Ausblick auf die eschatologische Neuschöpfung der Welt (im Grunde logisch) den Schluss.49 Hinsichtlich der Reihenfolge der biblischen Bücher gab es keine erwähnenswerten Probleme. Sie wurde durch lokale Traditionen beeinflusst, und erst die Erfindung des Buchdrucks führte zu dem Versuch der Vereinheitlichung, die jedoch bis heute nicht

49 Unter den Ausnahmen ist vor allem die Reihenfolge des Kanon Mommsen zu nennen (aus Nordafrika, 4. Jh.), der in zwei Handschriften belegt ist, von denen eine aus dem 10. Jh. stammt und von dem deutschen Historiker Th. Mommsen in der Bibliothek in Cheltenham (England) entdeckt wurde. Die Reihenfolge ist dort: Mt – Mk – Joh – Lk – Corpus Paulinum – Apg – Apk – Katholische Briefe.

86

3 Das Neue Testament als Kanon

durchgängig vorhanden ist.50 So sind z. B. in der Lutherbibel der Hebräer- (§ 8.5.3c) und der Jakobusbrief (§ 8.8.3) aufgrund theologischer Vorbehalte ans Ende der katholischen Briefe umgestellt.

50

Vgl. H. P. Rüger, The Extent of the Old Testament Canon, BiTr 40 (1989), 301–308; J. K. Elliott, Manuscripts, the Codex, and the Canon (s. Anm. 29), 105–123.

4 Der Text des Neuen Testaments

 Textausgaben (vgl. Lit. § 12a): Constantin von Tischendorf, Novum Testamentum Graece ... Editio octava critica maior I–II, Leipzig 1869/1872, Bd. III. Prolegomena (von Caspar R. Gregory geschrieben), Leipzig 1894; Brooke F. Westcott / Fenton J. A. Hort, The New Testament in the Original Greek I–II (1881), 2. rev. Ausg., Cambridge / London 1890/1896 (zu den anderen älteren kritischen Ausgaben s. K. Aland / B. Aland, Der Text des Neuen Testaments [s.u.] 21–56); International Greek New Testament Project, Oxford, seit 1983 (beginnend mit Lk); Novum Testamentum Graecum. Editio Critica Maior, Stuttgart, seit 1997 (beginnend mit den katholischen Briefen); Eberhard et Erwin Nestle und Barbara Aland et Kurt Aland, Johannes Karavidopoulos, Carlo M. Martini, Bruce M. Metzger (Hg.) (Nestle-Aland), Novum Testamentum Graece 1898–1998 (Jubiläumsausgabe [= ergänzte 27. Ausg. aus dem Jahr 1993]), Stuttgart 1998 (gängige Handausgabe); dieselben / Bruce M. Metzger, Allen Wikgren (Mitarbeiter früherer Ausgaben), The Greek New Testament, Stuttgart 1993 (bes. für Bibelübersetzer geeignet: weniger Abweichungen notiert; diejenigen, die sich in der Übersetzung widerspiegeln, sind allerdings besser belegt); Augustinus Merk, Novum Testamentum Graece et Latine, Rom 1964; Albert Huck / Heinrich Greeven, Synopse der drei ersten Evangelien, Tübingen 131981; Kurt Aland (Hg.), Synopsis Quattuor Evangeliorum, Stuttgart 1963, 152001 (3. korrigierter Druck).  Literatur: Caspar R. Gregory, Textkritik des Neuen Testaments, Leipzig 1909; Heinrich J. Vogels, Handbuch der Textkritik des Neuen Testaments, Bonn 1953; Bruce M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 31975; Kurt Aland / Barbara Aland, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 1982; Martin Hengel, Die Evangelienüberschriften (SHAW 1984/3), Heidelberg 1984; Eldon J. Epp / Gordon D. Fee, Studies in the Theory and Method of New Testament Textual Criticism, Grand Rapids, MI 1993; Barbara Aland / Joël Delobel (Hg.), New Testament Textual Criticism. Exegesis and Early Church History (CBET 7), Kampen 1994; Bruce Metzger, The Text of the New Testament in Contemporary Research: Essays on the Status Questionis, Grand Rapids, MI 1995; Günther Zuntz, Lukian von Antiochien und der Text der Evangelien (AHAW.PH 1995/2), Heidelberg 1995; James K. Elliott, A Bibliography of Greek New Testament Manuscripts (SNTSMS 109), Cambridge 1989. Von den Einleitungen (§ 1.1) bietet die ausführlichste Einführung in die Textkritik Afred Wikenhauser / Josef Schmid (S. 65–202).

Vor der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg in Mainz um 1450 musste jedes Exemplar eines Texts von Hand abgeschrieben werden. Die rasche Ausbreitung des Christentums machte durch die vielen Gemeindegründungen eine große Anzahl von Kopien der neutestamentlichen Schriften erforderlich, die zunächst durch private Abschriften und seit dem 3. Jh. in werkstattartig organisierten Schreibstuben (Skriptorien) immer wieder neu abgeschrieben und vervielfältigt wurden. Dabei haben sich im Lauf der Zeit Abweichungen, Schreibfehler und vermeintliche Verbesserungen ergeben, sodass der Text an einzelnen Stellen in mehreren Lesarten

88

4 Der Text des Neuen Testaments

(Varianten) vorliegt. Aufgabe der Textkritik (Textologie) ist es, die unterschiedlichen Lesarten zusammenzustellen und aus ihnen mit Hilfe methodisch nachvollziehbarer Kriterien den ursprünglichen Wortlaut herauszufinden, den sog. Urtext. Deshalb sollen zunächst die Beschreibstoffe und Schreibgewohnheiten in der Spätantike (§ 4.1), dann die wichtigsten erhaltenen Handschriften (§ 4.2) und schließlich (§ 4.3) die Methoden, Editionen und Ergebnisse der modernen Textkritik vorgestellt werden, die den ursprünglichen Text des Neuen Testaments zu rekonstruierten versucht.1

4.1

Das Schreiben in der Spätantike

a) Die Beschreibstoffe: In neutestamentlicher Zeit wurde vor allem auf Papyrus geschrieben (vgl. 2Joh 12), der aus dem Mark der Papyrusstaude (lat. cyperus papyrus) hergestellt wurde. Die Stängel wurden mit scharfen Werkzeugen in hauchdünne Streifen geschnitten. Diese wurden eng nebeneinander gelegt, dann folgte im rechten Winkel eine zweite Schicht. Mit dem im Mark enthaltenen Saft wurden beide Lagen gepresst und zusammengeklebt. Auf der Vorder- bzw. Innenseite (lat. recto) verliefen die Fasern horizontal, d. h. parallel zur Schrift, auf der Rück- oder Außenseite (lat. verso) vertikal. Ein Papyrusbogen war etwa 30 cm breit. Er wurde in mehreren Längen hergestellt, aber auch die größeren Bögen reichten nur für einen Privatbrief oder eine kürzere Epistel (§ 5.1–4). Für längere Texte, besonders für literarische Werke, wurden zwanzig bis vierzig Bögen aneinandergeklebt, sodass Streifen in einer Länge von sechs bis zwölf Metern entstanden, die von links nach rechts in Kolumnen (Spalten) beschrieben und aufgerollt wurden. Längere Rollen waren schwer handhabbar. Meistens wurde nur eine Seite beschrieben. Eine Rolle bildete ein „Buch“. Aus diesem Grund bestehen so viele Werke der antiken Literatur aus mehreren Büchern. Im Neuen Testament bilden nur das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte ein literarisches Werk, das aus zwei Büchern besteht, die beide Theophilus gewidmet sind (Lk 1,3; Apg 1,1).2 Die begrenzte Länge einer Rolle war vielleicht einer der Gründe, weshalb der Text des Markusevangeliums durch Matthäus und besonders durch Lukas gekürzt wurde, um den Stoff aus weiteren Quellen unterbringen zu können (§ 6.1.4.1–2). Geschrieben wurde mit Hilfe eines zurechtgeschnittenen Schreibrohrs mit Tinte aus Ruß und organischen Farbstoffen (3Makk 4,20; 3Joh 13).

1 Vgl. zum Ganzen K. u. B. Aland, Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben und in die Theorie wie Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 21989; B. Aland, Art. Textkritik der Bibel II. Neues Testament, RGG4 8, 201–207. 2 In Apg 1,1 wird auf das Lukasevangelium als den ersten Bericht (lógos) zurückverwiesen.

4.1 Das Schreiben in der Spätantike

89

Schon in hellenistischer Zeit war auch das Pergament bekannt, das nach der kleinasiatischen Stadt Pergamon benannt ist. Es wurde aus Schaf- oder Ziegenfellen hergestellt, die enthaart, mit Bimsstein und Kreide geglättet und zurechtgeschnitten wurden. Die Juden schrieben ihre Rollen zumeist auf Pergament, das teurer war als Papyrus (vgl. 2Tim 4,13). Deswegen wurden mitunter schon benutzte Rollen, deren Text nicht mehr benötigt wurde oder nur noch schwer zu lesen war, erneut beschrieben, nachdem der ältere Text zuvor weggeschabt worden war. Solche Rollen werden Palimpseste genannt (von griech. „palin“ = „wiederum“ und „psestos“ = „abgeschabt“). Die erste, getilgte Schrift kann mit UV-Licht wieder lesbar gemacht werden. Die ältesten erhaltenen Textzeugen des Neuen Testaments sind Papyri. Sie stammen aus Ägypten (bes. Oberägypten), wo Regen sehr selten ist und unter dem Sand Papyrus über Jahrhunderte erhalten bleibt. In Ägypten wurden biblische Texte bis ins 8. Jh. auf Papyrus geschrieben. Die ältesten Pergamenthandschriften des Neuen Testaments stammen erst aus dem 4. Jh. Nur ein Diatessaron-Fragment (§ 3.3) aus dem 2. Jh. aus Dura Europos am oberen Euphrat dokumentiert, dass die Christen vereinzelt auch früher Pergament benutzten. b) Der Kodex: Neben der Pergament- oder Papyrusrolle wurde seit dem 3. Jh. der Kodex verwendet, der in seiner äußeren Gestaltung schon ein direkter Vorgänger unseres Buchs ist. Bereits in vorneutestamentlicher Zeit gebrauchte man Wachstafeln, die aufeinander gelegt und mit einer Schnur heftartig verbunden wurden, als Notizbücher. Da solche gestapelten Wachstafeln mit Rahmen und Unterlage aus Metall oder Holz dicker als unsere Bücher waren, wurden sie im Lateinischen spöttisch „caudex“ (Baumstamm, Holzklotz, Brett) genannt, später „codex“, Kodex. Sie wurden für Notizen genutzt, die man mit einem Stichel schreiben und später durch das Glätten der Fläche ausradieren konnte. Einzelne aufeinander gestapelte Papyrusblätter wurden für die Buchhaltung verwendet, seit dem 1. Jh. v. Chr. auch in der römischen Staatsverwaltung.3 Vom 4. Jh. an war es üblich, zwei bis vier Bögen aufeinander zu legen und in der Mitte zu falten. Bald setzten sich vier Doppelblätter, d. h. 16 Schreibseiten, als Grundeinheit eines Papyruskodex durch. Mehrere solcher Doppelblätter konnten zu größeren Kodices aneinandergefügt werden. Die praktische Handhabung und die Einsparmöglichkeit beim Schreibmaterial, das auf beiden Seiten beschrieben werden konnte,4 führten gegen Ende des Altertums zur endgültigen Durchsetzung des Kodex gegenüber der Rolle. Ein weiterer Faktor wird die Verwendung des langlebigeren Pergaments gewesen sein. Durch das Binden der Quaternien 3

Zur Entstehung des Kodex s. weiter M. Hengel, Evangelienüberschriften (Lit. § 3),

40 ff. 4

Ein Nachteil bestand allerdings darin, dass der Text manchmal auf der Gegenseite Spuren hinterließ.

90

4 Der Text des Neuen Testaments

(4 Doppelblätter = 8 Blätter = 16 Seiten) ist das Buch in seiner heutigen Gestalt entstanden. Die ältesten Handschriften des Neuen Testaments waren fast alle5 Kodizes, so auch die kleinen Fragmente wie z. B. der älteste Zeuge eines neutestamentlichen Texts, der Rylands-Papyrus (p52) mit einem kleinen Abschnitt aus dem Johannesevangelium vom Anfang des 2. Jh.s (Abb. s. § 7.1.2). Er ist auf beiden Seiten beschrieben und gehörte offensichtlich zu einem Kodex. Die Christen waren diejenige Gruppe in der spätantiken Gesellschaft, die die Vorteile des Kodex hoch schätzte und es wagte, auch ihre wertvollsten Texte auf diese Art zu kopieren. Somit haben die Christen auf entscheidende Weise zur Verbreitung des Kodexes als der äußeren Gestalt literarischer Werke beigetragen. Dass sie den Kodex von Anfang an benutzten, ist nicht ausgeschlossen.6 Das Verhältnis von Höhe zu Breite war bei den Kodizes meistens 3:2. Üblicherweise betrugen die Maße etwa 26 x 17 cm. Später gab es allerdings sowohl Miniaturkodizes als auch gigantische Bücher, z. B. den lateinischen Kodex Gigas liber (gig 51) aus dem 13. Jh., in dem jede Seite 49 x 89,5 cm maß. Er entstand im Kloster Podlažice bei Chrudim (Böhmen) und wird heute in Stockholm aufbewahrt. c) Die Schreibweise: Als griechische Buchschrift dienten die heutigen Großbuchstaben (Majuskeln; Abb.3), meistens quadratischer, z. T. aber auch kreisförmiger oder ellipsoider Art. Die Schreibweise, die damals in jeder Schreibergeneration ein wenig anders ausfiel, ist das verlässlichste Mittel für die Datierung der einzelnen Manuskripte.7

Abb.3: Großbuchstaben (sog. Majuskeln)

5

Eine Ausnahme bilden die Papyri p12, p13, p18 und p22 aus dem 3. und 4. Jh. und wenige spätere Pergament-Handschriften. 6 Die schon erwähnte Notiz aus Apg 1,1 (prṓtos lógos = erstes Buch) ist in dieser Hinsicht doppeldeutig. Die Tatsache, dass keine der anderen Schriften des Neuen Testaments den Umfang einer Rolle überschreitet, könnte ein Argument für die ursprüngliche Verwendung der Rolle auch bei den Christen sein. Diese räumliche Begrenzung könnte aber auch die Nachwirkung einer alten Gepflogenheit sein, die in der Zeit des Kodex noch beibehalten wurde. Daher können auch die ersten christlichen Schreiber ihre Texte durchaus schon auf Codices statt wie sonst zunächst noch allgemein üblich auf Rollen geschrieben haben. 7 Bis heute können handgeschriebene Dokumente aufgrund ihrer Schreibweise verschiedenen Zeitperioden zugeordnet werden, weil die Gestaltung der Buchstaben in jeder Generation mit Abweichungen unterrichtet wird.

4.2 Der Urtext des Neuen Testaments

91

Zu den Schreibgewohnheiten der christlichen Schreiber (z. B. Tertius in Röm 16,22)8 gehörte auch die Abkürzung der heiligen Namen (lat. nomina sacra) wie Gott, Jesus, Herr, Vater (Gottvater), Sohn (Gottessohn) oder der Geist. Findet sich z. B. in einer griechischen Handschrift die Kurzform ΘN statt „theon“ (Gott; s. Abb.6 Ende 2. Zeile), KS statt „kyrios“, CS statt „christos“, so handelt es sich um einen christlichen Text. Bis zum Ende des Altertums wurden die Texte kontinuierlich, ohne Trennung von Sätzen und Worten geschrieben (lat. scriptio continua). Ein solcher Text konnte durch lautes Vorlesen besser verstanden werden. Vor diesem Hintergrund wird auch die Geschichte von dem äthiopischen Finanzminister in Apg 8 gut nachvollziehbar, der unterwegs eine Rolle mit dem Text aus Jes 53 las, sodass Philippus ihn hören und fragen konnte: „Verstehst du auch, was du liest?“ (Apg 8,30). Neben den Majuskeln gab es die Kursivschrift, in der die einzelnen Buchstaben durch Ligaturen verbunden waren (Geschäftsschrift). Sie wurde vor allem für private Nachrichten und Notizen benutzt. Doch ist nicht ausgeschlossen, dass auch Texte des Neuen Testaments ursprünglich auf diese Weise wiedergegeben wurden. Mit Hilfe der Großbuchstaben konnten die Anfänge von Sätzen und Worten bezeichnet werden, und aus dieser Schrift haben sich die heutigen griechischen Schrifttypen entwickelt. Erst seit dem 9. Jh. ist die Kursivschrift allgemein zum Schreiben von Büchern, einschließlich der Bibel, benutzt worden (sog. Minuskeln). In den Text sind später Zeichen für die griechischen Akzente und die Interpunktion eingedrungen, manchmal auch Angaben, die beim Lesen die Orientierung erleichtern sollten. d) Der Titel des Buchs: Der Buchtitel, der nicht immer vom Verfasser selber stammen musste, stand am Ende. Allerdings war der erste Satz oft so formuliert, dass er nicht nur als Einleitung des ersten Teils, sondern auch als Zusammenfassung des ganzen Werks dienen konnte (Mk 1,1: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“; Mt 1,1: „Buch der Geschichte von Jesus Christus“; Apk 1,1: „Offenbarung Jesu Christi“). In den Handschriften des 4. Jh.s taucht der Titel des Buchs nicht nur am Ende, sondern oft auch zu Beginn des Texts auf.

4.2

Der Urtext des Neuen Testaments

Vorbemerkung: Die neutestamentliche Textkritik (Textologie) hat sich seit den 60-er Jahren des 20. Jh.s durch neue Textfunde, durch die Koordinierung der Arbeit, durch die Möglichkeiten der elektronischen Aufbereitung der zur Verfügung stehenden 8 Auch gebildete Autoren waren auf ihre Dienste angewiesen; Paulus als Handwerker hatte trotz seiner Bildung eine schwere Hand: „Seht mit wie großen Buchstaben ich euch schreibe mit eigener Hand!“ (Gal 6,11 ff.).

92

4 Der Text des Neuen Testaments

Texte und durch die Ausbildung spezialisierter Fachleute derart entfaltet, dass sie heute – ähnlich wie z. B. die Archäologie des östlichen Mittelmeerraums – einen in vieler Hinsicht selbstständigen Forschungsbereich bildet, den ein Bibelwissenschaftler nur um den Preis erheblicher Vereinfachungen darstellen kann. Dennoch wollen wir den Versuch einer Skizze wagen, um das theologische Problem der Textkritik anzudeuten und auf die Kommunikation mit den Textforschern aufmerksam zu machen. Dieser Gedankenaustausch beruht vor allem auf einer qualifizierten Arbeit mit den Textausgaben. Es wäre ein Zeitverlust, wenn jede Auslegung die Ergebnisse auf eigene Faust verifizieren würde. Auf der anderen Seite sollten alle, die sich mit der neutestamentlichen Exegese befassen, in der Lage sein, mit dem umfangreicheren textkritisch relevanten Material der großen wissenschaftlichen Editionen und dem textkritischen Apparat der kleinen Handausgaben zu arbeiten. Denn letzteres lädt zur kritischen Prüfung der Rekonstruktion des Urtexts ein, wie sie die Herausgeber anbieten. Kein Satz des Neuen Testaments ist in der Urschrift erhalten, sondern nur in Abschriften, bei denen an manchen Stellen mehrere Lesarten (Varianten) vorliegen. Deshalb muss die Textkritik versuchen, aus den überlieferten Handschriften den Urtext herauszufinden. Bei den meisten Schriften der Antike ist der Abstand zwischen der vorausgesetzten Entstehungszeit und den ersten erhaltenen Abschriften wesentlich größer,9 als dies bei den Schriften des Neuen Testaments der Fall ist. Die Textforscher gehen davon aus, dass der ursprüngliche Wortlaut der neutestamentlichen Schriften mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit rekonstruiert werden kann. Dass in einer kritischen Edition wie der heute üblichen von Nestle / Aland am Fuß jeder Textseite im Variantenapparat unterschiedliche Lesarten aus den einzelnen überlieferten Handschriften verzeichnet sind, ist kein Argument gegen die Verlässlichkeit des rekonstruierten Urtexts. Ein Teil der Varianten sind stilistische Verbesserungen, ein großer Teil kann sachlich als Fehler der Schreiber erklärt werden, die durch mangelnde Aufmerksamkeit, durch Versehen beim Abschreiben, durch Hörfehler beim Diktieren in den Schreibwerkstätten oder durch den Einfluss der mündlichen Tradition bzw. paralleler Abschnitte z. B. aus einem anderen Evangelium verursacht wurden. Durch das Auflisten der verschiedenen Lesarten soll die textkritische Entscheidung für den im fortlaufenden Text abgedruckten Wortlaut nachprüfbar und nachvollziehbar gemacht werden. Nur eine geringe Zahl von Lesarten oder Varianten betrifft Unterschiede, die theologisch bedeutsam sein können. Davon müssen allerdings diejenigen ausgeschlossen werden, deren Entstehung eindeutig als spätere Änderung erklärbar ist, sodass sie zur Rekonstruktion des Urtexts nicht gebraucht werden können. So ersetzen einige Handschriften in Lk 2,41 die Worte „seine (Jesu) Eltern“ durch „Joseph und Maria“. Oder in Lk 2,27 lässt eine 9

Im Durchschnitt mehr als ein halbes Jahrtausend.

4.2 Der Urtext des Neuen Testaments

93

Kursivhandschrift dieselben Worte aus – zwei Beispiele für die Tendenz, den Text durch eine Änderung des Wortlauts beim Anfertigen einer Abschrift der inzwischen aufgekommenen Lehre von der Jungfrauengeburt Jesu (§ 6.3.3.3d; 6.4.5.3a) anzupassen.10 Die relative Einheitlichkeit im Wortlaut des biblischen Texts war nicht selbstverständlich. Bereits in der Antike versuchte die Kirche, diese Einheitlichkeit des Texts planmäßig zu fördern (§ 4.2.5.2). Und obgleich sie mit Mitteln arbeitete, die den Maßstäben der heutigen Textkritik nicht standhalten können, wurden die gröbsten Textverderbnisse bereits im Altertum beseitigt. Die Textkritik war die erste Disziplin der kritischen Erforschung des Neuen Testaments, die schon in der Alten Kirche entwickelt wurde, insbesondere durch Origenes (ca. 185–254) und Hieronymus (ca. 347–419). Die Quellen für die Rekonstruktion des Originaltexts des Neuen Testaments sind vor allem die erhaltenen griechischen Handschriften (§ 4.2.1–3), die Zitate in der frühchristlichen Literatur (§ 4.2.4) und die ältesten Übersetzungen (§ 4.2.5). Auf die Arbeit an der Rekonstruktion des griechischen Urtexts konzentriert sich das Institut für neutestamentliche Textforschung in Münster. 4.2.1

Die Handschriften auf Papyrus

Die älteste Gruppe der griechischen Handschriften sind die auf Papyrus geschriebenen Texte. Bis auf wenige Ausnahmen gehören diese Handschriften – bisher sind mehr als 100 bekannt – zu den sog. Majuskeln, die in Großbuchstaben geschrieben sind (s. Abb.3). Sie enthalten neutestamentliche Schriften, die z. T. beschädigt sind, oder es handelt sich um kleine Fragmente. Die meisten von ihnen stammen aus Ägypten (2.–8. Jh.) und wurden erst gegen Ende des 19. oder im 20. Jh. gefunden sowie wissenschaftlich publiziert. Trotz des lückenhaften Zustands vermitteln diese Zeugnisse insgesamt einen guten Eindruck vom Text des Neuen Testaments, wie er in Ägypten vor der Entstehung der ältesten erhaltenen Pergamenthandschriften in Gebrauch war. Sie werden mit p + hochgestellter Ordnungsnummer bezeichnet. Zu den bedeutendsten Papyrushandschriften gehören die Bodmer-Papyri II, XIV und XV (p66 und p75), die aus der Zeit der Wende vom 2. zum 3. Jh. stammen und große Teile des Johannesevangeliums enthalten; p75 bietet zudem größere Partien des Lukasevangeliums. Sie wurden erst in den 50-er Jahren des 20. Jh.s bekannt und sind in der nach ihrem Erwerber benannten Bodmer-Bibliothek in Cologny bei Genf aufbewahrt, genauso wie der größere Teil des p72 (Bodmer-Papyrus VII und VIII) vom Ende des 3. Jh.s. Er umfasst die Petrusbriefe und den Judasbrief sowie einige alttestamentliche und außerkanonische Texte (§ 3.3). Aus dem 7. Jh. stammt der Papyrus Bodmer XVII (p74; s. Abb.4) mit Fragmenten der Apostelgeschichte und der katholischen Briefe. 10

Zum Problem s. B. D. Ehrman, The Orthodox Corruption of Scripture, Oxford 1993.

94

4 Der Text des Neuen Testaments

Abb.4: Papyrus Bodmer XVII (p74; Apg 15,23–28), 7. Jh.

4.2 Der Urtext des Neuen Testaments

95

Eine bedeutende Sammlung stellen die ebenfalls nach ihrem Erwerber benannten ChesterBeatty-Papyri (p45, p46 und p47) dar, deren größter Teil sich in Dublin befindet. Sie enthalten Paulusbriefe aus der Zeit um das Jahr 200 (p46), Fragmente der Evangelien und der Apostelgeschichte (p45) sowie der Johannesoffenbarung (p47) aus dem 3. Jh. Bei p45 handelt es sich um die älteste Handschrift, die alle vier Evangelien und die Apostelgeschichte enthält.11 Das älteste Fragment eines Texts aus dem Neuen Testament (Joh 18,31–33.37 f.) ist der Papyrus Rylands p52 (Manchester), der vor der Mitte des 2. Jh.s entstanden ist (Abb. s. § 7.1.2).

4.2.2

Die Majuskelhandschriften auf Pergament

Noch am Anfang des 20. Jh.s bildeten die auf Pergament geschriebenen Majuskelhandschriften das bedeutendste Material für die Rekonstruktion des Texts des Neuen Testaments. Dieser Bestand umfasst wenig mehr als 300 Handschriften. Die meisten von ihnen sind Fragmente. Bloß wenige umfassen das ganze Neue Testament. Sie reichen bis ins 10. Jh., aber die ältesten von ihnen sind nur wenig jünger als die Handschriften auf Papyrus (Bruchstücke schon aus dem 2./3. Jh.).12 In der Textkritik werden die Handschriften dieses Bestandes mit Großbuchstaben (A, B, C usw.) und (genauer) mit Nummern, die mit 0 anfangen, bezeichnet (01, 02, 03 usw.). Die Handschriften dieses Bestands lieferten im 19. und frühen 20. Jh. das Grundmaterial für die moderne Rekonstruktion des neutestamentlichen Texts, ehe im 20. Jh. die Papyri besonderes Ansehen erlangten. Es sind vor allem der Codex Sinaiticus (a, 01) und der Codex Vaticanus (B, 03), aber auch der Codex Alexandrinus (A, 02) und der Codex Bezae Cantabrigiensis (D, 05), die aus dem 4. und 5. Jh. stammen. Der Codex Sinaiticus (a, 01; s. Abb.5) wurde von Konstantin von Tischendorf (1815–1874), einem der bedeutendsten Textkritiker, in der Mitte des 19. Jh.s im Kloster der heiligen Katharina auf der Halbinsel Sinai gefunden und zur Grundlage seiner großen Textausgabe des Neuen Testaments gemacht. Er ist im 4. Jh. in Palästina oder Ägypten entstanden und wurde danach dreimal korrigiert. Tischendorf brachte den Kodex nach Russland, wo er ihn dem Zaren Alexander II. übergab als Dank für die Finanzierung seiner Reise. Dort wurde er 1934 für die Bibliothek des British Museum in London gekauft, wo er heute ist. Der Codex Vaticanus (B, 03; Abb.6), nach der Bibliothek benannt, in der er seit dem 15. Jh. aufbewahrt wird, stellt die älteste, im 4. Jh. wahrscheinlich in Oberägypten entstandene

11

Ähnlich war der noch ältere Kodex konzipiert, der als p4 (Fragmente Lk) und p64.67 (Fragmente Mt) bekannt ist: T. C. Skeat, The Oldest Manuscript of the Four Gospels, NTS 43 (1997), 1–34. 12 Es sind dies z. B. die Handschrift 0189 (Berlin), die ein Fragment mit dem Text von Apg 5,3–21 darstellt, oder 0212 (New Haven, CT) mit einem kleinen aus Dura Europos stammenden Teil des Diatessarons Tatians. Zu den Vermutungen über die frühere Datierung einiger Handschriften s. § 6.3.2.

96

4 Der Text des Neuen Testaments

Abb.5: Codex Sinaiticus (a, 01; Ende des Lukasevangeliums), 4. Jh. Handschrift der ganzen christlichen Bibel dar. Sie ist die mit Abstand bedeutendste Majuskel. Vom Neuen Testament fehlt nur der letzte Teil (Hebr 9,14 – 13,25; 1–2Tim; Tit; Phlm; Apk). Neben dem Codex Alexandrinus (A, 02; British Museum, London) soll noch der Codex Ephraemi Syri rescriptus (C, 04, heute in Paris) erwähnt werden. Bei ihm handelt es sich um ein Palimpsest aus dem 5. Jh., das aus Spuren rekonstruiert wurde, die unter den Traktaten von Ephraem dem Syrer (ca. 306–373) gefunden werden konnten, mit denen die Handschrift im 12. Jh. überschrieben wurde. Die Rekonstruktion wurde in letzter Zeit mit Hilfe der Computer-Technologie vervollständigt. Im Besitz des französischen Reformators Theodor Beza befand sich eine der beiden Handschriften, die heute in Cambridge (05) und in Clermont bei Beauvais in Frankreich (06) zu

4.2 Der Urtext des Neuen Testaments

97

Abb.6: Codex Vaticanus (B, 03; Joh 1,1–13), 4. Jh. sehen sind (gemeinsam als D bezeichnet). Zusammen mit der erheblich jüngeren (9. Jh.) Bilingua (zweisprachiger Text), dem Codex Boernerianus (012, gemeinsam mit 011 als G bezeichnet, heute in Dresden), sind sie mit dem westlichen Texttypus (§ 4.3.2) verwandt, zu dem die Vorlagen der ältesten lateinischen Übersetzungen gehören (§ 4.2.5.1). Ein direkter Vorgänger dieser Textart, wie es lange Zeit die vorherrschende Meinung war, ist der in beiden Teilen des Kodex D vertretene Text jedoch nicht.13

13

Vgl. J. K. Elliott, Codex Bezae and the Earliest Greek Papyri, in: D. C. Parker / C.-B. Amphoux (Hg.), Codex Bezae, Leiden 1996, 161–182.

98

4 Der Text des Neuen Testaments

Unter dem Buchstaben W (032) ist die Freer-Handschrift (auch Washingtonianus genannt) vom Ende des 4. oder Anfang des 5. Jh.s zu finden, die die vier Evangelien enthält (Reihenfolge Mt – Joh – Lk – Mk). In Mk 16,14 bietet sie einen Zusatz, das sog. Freer-Logion (§ 6.2.2), den schon Hieronymus (ca. 347–419) kannte. Eine besondere Gruppe bilden Codex Koridethi (038; – in Tiflis deponiert), p46, p75, W und die Minuskelgruppen φ1 und φ13 (Ferrar-Gruppe). Burnett H. Streeter bezeichnete sie als Cäsarea-Text. Eigentlich handelt es sich um einen Text, der aus Alexandrien stammt und dem ägyptischen Text (§ 4.3.2) zuzurechnen ist, der jedoch relativ früh in andere Textformen überging.

4.2.3

Die Minuskelhandschriften und Lektionare

Mehr als 2500 Minuskelhandschriften sind erhalten, die in der Zeit vom 9. Jh.14 bis zur Verbreitung des Buchdrucks im 15. Jh. entstanden. Sie werden einfach mit

Abb.7: Die „Königin der Minuskeln“ (33; Schluss des Römerbriefs), 9. Jh. 14

Aus dem 9. Jh. stammen die Handschriften Nr. 33, 1080, 1862 und 2500.

4.2 Der Urtext des Neuen Testaments

99

fortlaufenden Nummern (1, 2, 3 usw.) gekennzeichnet. Auch diese Handschriften enthalten in ihrer Mehrheit nur Teile des neutestamentlichen Texts oder es handelt sich um Fragmente. Unter ihnen gibt es auch Gruppen, die höchstwahrscheinlich von einer spezifischen älteren Textart abhängig sind. Zu diesen werden die Handschriften Nr. 13, 69, 124, 346, 543 und andere (f13) gerechnet – die sog. Ferrar-Gruppe (φ) – sowie die Handschriften Nr. 1, 118, 131, 209 und andere (f1) – früher als Lake-Gruppe (λ) bezeichnet. Gelegentlich sind für die Textkritik auch Lektionare nützlich, die einzelne Abschnitte des biblischen Texts für die Lesung im Gottesdienst enthalten. Mehr als 2000 Lektionare sind bekannt, die in den kritischen Ausgaben des neutestamentlichen Texts mit kursiv gesetztem l + Nummer bezeichnet werden (l 1, l 2, l 3 usw.). 4.2.4

Zitate in der altchristlichen Literatur

Eine weitere bedeutende Quelle für die Rekonstruktion des Urtexts sind die Zitate des Neuen Testaments in der ältesten christlichen Literatur, d. h. zumeist bei den Kirchenvätern. Schon seit Ignatius von Antiochien (110–114 n. Chr.) begegnen uns Anspielungen auf den Text des Neuen Testaments, bei denen manchmal schwer zu entscheiden ist, ob sie durch den Text selber oder nur durch die mündliche Tradition inspiriert wurden. Bereits gegen Ende des 2. Jh.s finden wir ausdrückliche Zitate. Sie sind bedeutend, weil die Schriften der Kirchenväter nicht so weit verbreitet waren und das Risiko von Fehlern beim Abschreiben geringer war. Besonders die Autoren der kontinuierlichen Auslegungen (Homilien) zitieren zunächst einen Abschnitt des Neuen Testaments, um ihn dann auszulegen. Solche Textzeugnisse sind höchstwahrscheinlich einer fortlaufenden Handschrift entnommen. Bereits Origenes (ca. 185– 254) und Hieronymus (ca. 347–419) untersuchten theologisch bedeutsame Abweichungen einzelner ihnen zugänglicher Handschriften, um ihre Entstehung zu erklären. Das relative Alter solcher Zeugnisse ist ihr Vorteil, ein Nachteil besteht in ihrem bruchstückhaften Charakter. In den kritischen Ausgaben werden die Kirchenväter – nach den Belegen aus den griechischen Texthandschriften – im Griechischen oder in anderen Übersetzungen angeführt und durch die Abkürzung des Namens des Autors bezeichnet, der die betreffende Stelle zitiert, z. B. Orig = Origenes. 4.2.5

Alte Übersetzungen des Neuen Testaments

Für die Rekonstruktion des Urtexts sind auch die alten Übersetzungen des Neuen Testaments wichtig. Eine Übersetzung reproduziert zwar die Vorlage nur indirekt und ist eigentlich ein zweifach abgeleiteter Zeuge, da durch das Abschreiben der Übersetzungen möglicherweise ebenso neue Fehler entstehen können, wie dies auch

100

4 Der Text des Neuen Testaments

schon beim Kopieren des griechischen Texts der Fall war. Wenn jedoch eine Übersetzung bei mehreren voneinander nicht abhängigen Zeugen an einer Stelle sichtbare Eigentümlichkeiten aufweist (z. B. die Auslassung eines Wortes oder den veränderten Sinn eines Satzes), ist diese Lesart der zugrundeliegenden Handschrift wahrscheinlich mindestens so alt wie die ältesten Übersetzungen. 4.2.5.1

Lateinische Übersetzungen I: Vetus Latina

 Textausgaben: Vetus Latina: Die Reste der altlateinischen Bibel nach Petrus Sabatier neu gesammelt und herausgegeben von der Erzabtei Beuron, Freiburg i. Br. seit 1949; die weiteren bibliographischen Angaben siehe bei Aland / Aland, Text (Lit. § 4), 195 f.

Es gibt verschiedene Übersetzungen ins Lateinische. Die ältesten Handschriften des lateinischen Neuen Testaments stammen vom Ende des 4. Jh.s. Dabei handelt es sich jedoch um Kopien von Übersetzungen, die viel früher entstanden sind. Im Wortlaut lassen diese Abschriften gemeinsame Züge erkennen, aber auch Spuren von Korrekturen sowie Harmonisierungen divergierender Stellen. Da sie in den weiten, kaum hellenisierten Teilen Italiens verbreitet wurden, bezeichnet man diese lateinischen Übersetzungen als Itala. Die ältesten lateinischen Übersetzungen sind jedoch noch älter als die eben erwähnten Handschriften. Sie sind in Nordafrika entstanden, das seit dem 2. Jh. v. Chr. zum römischen Reich gehörte. Die nordafrikanische Küste war im Mittelmeerraum das größte Gebiet, das von der Hellenisierung kaum berührt wurde. Deshalb war hier nach dem Auftreten des Christentums der Wunsch nach einer lateinischen Übersetzung besonders ausgeprägt. Dort entstanden die ältesten lateinischen Bibelübersetzungen, denen vermutlich Handschriften derselben griechischen Handschriftenfamilie zugrunde liegen. Durch das hohe Alter der verarbeiteten Handschriften sind die Übersetzungen für die Textkritik wertvoll. Heute wird diese älteste Welle der lateinischen Übersetzungen Vetus Latina (die „alte lateinische“ Übersetzung) genannt. Die Übersetzer besaßen keine hohe Bildung, sodass Augustin (354–430) und Hieronymus (ca. 347–419) die schlechte Qualität der Übersetzung kritisierten. Allerdings sind Kopien der Vetus Latina noch im 13. Jh. belegt. Der erwähnte Gigas liber (§ 4.1) enthält in der Apostelgeschichte und der Johannesoffenbarung Lesarten, die aus der Vetus Latina stammen. Die lateinischen Handschriften werden durch kleine lateinische (ausnahmsweise griechische) Buchstaben angegeben (a, b, c usw.), gelegentlich auch durch Abkürzungen ihrer Bezeichnungen (gig = Gigas liber). Parallel wurde die numerische Bezeichnung (1, 2, 3 usw.) eingeführt (Bonifatius Fischer; vgl. den Anhang I.B von Nestle / Aland27). Auf die wissenschaftliche Erforschung der lateinischen Handschriften aus der Zeit vor der Vulgata konzentriert sich das Institut der Erzabtei Beuron im Donautal bei Sigmaringen.

4.2 Der Urtext des Neuen Testaments

4.2.5.2

101

Lateinische Übersetzungen II: Vulgata

 Textausgaben: Johannes Wordsworth / Henricus I. White / H. D. F. Sparks, Novum Testamentum Domini nostri Jesu Christi latine secundum editionen Sancti Hieronymi I–III, Oxford 1898–1954 (editio minor: Wordsworth / White, London, o. J. [1982]; Robert Weber mit Bonifatius Fischer / Jean Gribomont / H. D. F. Sparks / Walter Thiele (Hg.), Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem I–III, Stuttgart 1969; Nova vulgata bibliorum sacrorum editio, Vatikan 1979.

Da die älteren lateinischen Übersetzungen von so schlechter Qualität waren und durch Verbesserungen große Unterschiede im lateinischen Text entstanden sind, wurde Hieronymus (ca. 347–419), ein Gelehrter, der Griechisch und Hebräisch gut beherrschte, von Papst Damasus (366–384) mit einer neuen Übersetzung ins Lateinische beauftragt. Diese Übersetzung sollte sich auf die griechischen Handschriften stützen und durch ihre Verbreitung die liturgische Lesung des biblischen Texts vereinheitlichen. Hieronymus übersetzte daraufhin das Alte Testament aus dem Hebräischen, nur bei den deuterokanonischen Büchern (§ 2.1.4d) benutzte er ältere lateinische Übersetzungen. Die Übersetzung des Neuen Testaments entstand als sorgfältige Revision der älteren lateinischen Fassungen anhand des griechischen Originals. Hieronymus standen als griechische Vorlage die frühen Zeugen des byzantinischen Texttyps (§ 4.3.2) zur Verfügung. Die Arbeit an den Evangelien schloss er im Jahr 383 ab. Die neue Fassung der Briefe taucht erst am Anfang des 5. Jh.s auf, sodass allgemein angenommen wird, dass sie von einem unbekannten Schüler des Hieronymus angefertigt wurde. Jedenfalls ist es ein wissenschaftlich sorgfältiges Werk. Auf diese Weise entstand die „vulgata versio“, d. h. die „allgemeine Fassung“ der lateinischen Übersetzung, wie sie seit dem 7. Jh. in der lateinischen Kirche verbreitet ist. Etwa 8000 Handschriften der Vulgata sind erhalten, von denen einige dem Urtext des Hieronymus zeitlich sehr nahe stehen, z. B. der Codex Sangallensis (n–16), der in St. Gallen aufbewahrt wird, Fragmente der Evangelien enthält und schon vom Anfang des 5. Jh.s stammt. Da die Vulgata (die „allgemeine“ Ausgabe) sich im Gebrauch nur durch Kompromisse mit älteren Fassungen durchsetzte, beschloss das Konzil von Trient 1546, eine authentische Ausgabe der Übersetzung vorzubereiten. Unter Papst Sixtus V. erschien die Neuausgabe 1590 (Vulgata Sixtina), doch enthielt sie so viele Fehler, dass bereits zwei Jahre später (1592) Papst Clemens VIII. sie erneut bearbeiten ließ. Diese Fassung (Clementina) wurde in ihrer 3. Auflage aus dem Jahr 1598 zum offiziellen Bibeltext der römisch-katholischen Kirche. Die Vulgata war von großer Bedeutung für die Durchsetzung des Bibeltexts, der dem griechischen Urtext relativ nahe steht. In der katholischen Kirche wurde sie 1979 offiziell durch die Neo-Vulgata (Nova Vulgata Bibliorum sacrorum editio) ersetzt, die eine verlässliche lateinische Übersetzung der neuesten Rekonstruktion des

102

4 Der Text des Neuen Testaments

griechischen Urtexts darstellt. Eine zuverlässige Rekonstruktion des ursprünglichen Texts der Übersetzung des Hieronymus wird im Benediktinerkloster San Girolamo (Hieronymus) in Rom vorbereitet. Die englische kritische Ausgabe stammt von J. Wordsworth, H. J. White und H. F. D. Sparks (1889–1954). 1969 erschien die vollständige kritische Handausgabe der Vulgata bei der Württembergischen Bibelgesellschaft in Stuttgart, 1994 deren 4. verbesserte Auflage.15 4.2.5.3

Syrische, koptische und andere alte Übersetzungen

 Textausgaben bei Aland / Aland, Text (Lit. § 4), 199–221.  Literatur: Tjitze Baarda, Essays on the Diatessaron (Contributions to Biblical Exegesis and Theology 11), Kampen 1994; William L. Petersen, Tatian’s Diatessaron (SVigChr 25), Leiden 1994.

Neben den lateinischen Übersetzungen, die die Sprache und Theologie der westlichen Kirche prägten, gab es noch weitere alte Übersetzungen, die für die Textkritik von Interesse sind (§ 2.1.4d). Sie stammen vor allem aus Syrien und aus Ägypten, wo man koptisch sprach. a) Syrische Übersetzungen: In der Mitte des 2. Jh.s stellte Tatian (ca. 120–180) das Diatessaron (griech. diá tessárōn = durch [die] vier [sc. Evangelien]), zusammen (§ 3.3c), eine syrische Evangelienharmonie, die den Stoff der vier Evangelien in einer durchgehenden Erzählung bündelte, in der syrischen Kirche verbreitet war und für eine authentische Form des Evangeliums Jesu gehalten wurde. Zu Beginn des 3. Jh.s entstand eine Übersetzung der einzelnen Evangelien (Vetus Syra), die durch Handschriften aus dem 4. und 5. Jh. bezeugt ist, nämlich durch den Syrus Curetonianus (syrc), der nach seinem Entdecker benannt wurde, und durch den Syrus Sinaiticus (syrs), der auf dem Sinai entdeckt wurde. Die Vetus Syra wurde durch das damals vorherrschende Diatessaron beeinflusst, ist handschriftlich aber nicht einheitlich überliefert. Indirekt ist sie durch einige Zitate bezeugt. Erst im 5. Jh. entstand die Peschitta (die Einfache).16 Dabei handelt es sich um eine offizielle syrische Übersetzung des in der Mehrheit der Kirche inzwischen schon kanonisierten Texts. Der Tradition nach wurde sie durch Bischof Rabbula von Edessa (411–435) angeregt und setzte sich bald in den beiden großen Gruppen des syrischen Christentums durch – bei den Monophysiten und den Nestorianern. Sie gewann in Syrien eine ähnliche Stellung wie die Vulgata im lateinischen Sprachraum. Die späteren Übersetzungen sind Revisionsversuche. Die erste von ihnen ist die Philoxeniana, die im Auftrag des monophysitischen Bischofs Philoxenus ein gewisser Polykarp 507– 508 anfertigte und die bisher nur fragmentarisch rekonstruiert wurde. Die zweite ist die Harklensis, die Bischof Thomas von Harqel unter Berücksichtigung einiger griechischer

15 Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem, ed. R. Weber u. a., Stuttgart 41994 (elektronische Ausgabe: CD-Rom Bibel Edition, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart). 16 Sie ist „die Einfache“ im Vergleich zu der mit zahlreichen Anmerkungen versehenen Übersetzung des Thomas von Harqel. Die Bezeichnung stammt aus dem 10. Jh.

4.2 Der Urtext des Neuen Testaments

103

Handschriften 616 als Revision der Philoxeniana zusammenstellte. Es handelt sich um eine sklavische Übersetzung mit einem komplizierten und nicht ganz durchsichtigen kritischen Apparat. Seit dem 5. Jh. ist die Existenz einer Übersetzung ins palästinische Syrisch belegt – einer Sprache, die dem von Jesus gesprochenen Aramäisch nahe stand. Dieser Text ist ebenfalls durch das Diatessaron beeinflusst. b) Koptische Übersetzungen: In Ägypten begannen die Christen in der Umgangssprache jener Zeit, dem Koptischen, zu schreiben. Unter der griechischsprechenden Intelligenz war das Christentum vielleicht schon in der zweiten Hälfte des 1. Jh.s bekannt. Jedenfalls ist bereits gegen Ende des 2. Jh.s eine beachtenswerte christliche Minderheit bezeugt. Da gleichzeitig alle Berichte über die einflussreiche jüdische Minderheit verschwinden, ist es wahrscheinlich, dass viele Juden Christen wurden. Über die Anfänge der christlichen Mission in Ägypten gibt es Legenden, die bei Markus oder Apollos (Apg 18,24 f.) einsetzen. Vor allem existieren Papyrusfragmente der neutestamentlichen Schriften, die aus Ägypten stammen und schon im 2. Jh. entstanden sind (§ 4.2.1). Nicht viel später musste das Christentum unter den koptischsprechenden Ureinwohnern Fuß gefasst haben. Seit dem 3. Jh. entstanden Übersetzungen in den im Süden (Oberägypten) gesprochenen sahidisch-koptischen Dialekt (sa), bald danach auch in den im Norden gesprochenen bohairisch-koptischen (bo) Dialekt. Einige Teile des Neuen Testaments wurden noch in andere Dialekte übersetzt, z. B. achmimisch (ac), lykopolitanisch (L),17 faijumisch (f), mittelägyptisch (mae). In allen koptischen Übersetzungen (co) sind gemeinsame Züge zu beobachten. Die ältesten koptischen Handschriften stammen vom Ende des 3. Jh.s. Besonders bedeutend sind der Crosby-Schøyen-Codex (Ms. 193; ca. 3. Jh.) mit dem Text u. a. des (1.) Petrusbriefs sowie der Codex Schøyen (Ms. 2650; 5. Jh.), in dem vermutlich eine spezifische Version des Matthäusevangeliums als Vorlage diente.18 Im Vergleich mit dem kanonischen Matthäusevangelium kann es als Paraphrase charakterisiert werden (vgl. § 6.4.4 zum Kodex D). c) Von den anderen alten Übersetzungen, die zumindest indirekt bei der Rekonstruktion des Urtexts gebraucht werden können, soll noch die armenische (arm + Abkürzungen für die einzelnen Handschriften) erwähnt werden. Sie entstand im 4. Jh. unter starkem Einfluss der syrischen Übersetzungen und wurde später unter Berücksichtigung griechischer Handschriften revidiert. Aus den armenischen und syrischen Vorlagen wurden sekundäre Übersetzungen ins Georgische (geo) angefertigt, erst die zweite Fassung der Übersetzung aus dem 7. Jh. verwendete griechische Handschriften. Direkt aus dem Griechischen (frühbyzantinische Handschriften) übersetzte im 4. Jh. Bischof Wulfila die Bibel für die zu der Zeit im Donauraum siedelnden Goten ins Gotische. Leider ist die Übersetzung nur unvollständig erhalten. Bekannt ist der Codex argenteus – die „Silberbibel“ aus dem 6. Jh., so genannt wegen der Prachtausstattung, heute in der Universitätsbibliothek in Uppsala. Ins Alt(kirchen)slawische wurden zunächst die Evangelien übersetzt und bald danach der 17

Früher „subachmimisch“ (ac2) genannt. Vgl. die Editionen von J. E. Goehring (CSCO 521 Sub 85, Louvain 1990), sowie die von H.-M. Schenke, Coptic Papyri I (MSC vol. II) Oslo 2001 (mit hypothetischer griechischer Rückübersetzung). 18

104

4 Der Text des Neuen Testaments

apostolische Teil des Lektionars aus den Briefen des Neuen Testaments. Diese Übertragung geschah im Zuge der byzantinischen Mission der griechischen Gelehrten Konstantin (Kyrillus) und Methodius, die 863 auf Einladung des Herrschers Rostislav ins Mährische Reich kamen, um dem Volk das Christentum zu vermitteln. Nach dem Tod des Konstantin übersetzte Methodius in acht Monaten die ganze Bibel, die er zwei Schnellschreibern diktierte. Da die beiden Brüder das Südslawische beherrschten, bereicherten sie die Sprache um biblische Begriffe. Dadurch führten sie das Alt(kirchen)slawische ein, das für die Bevölkerung in dem Bereich verständlich war, zu dem Mähren, Ostböhmen, die Westslowakei und ein Teil Schlesiens gehörten. Nachdem sich die herrschende Dynastie für die westliche lateinische Liturgie entschieden hatte und Bischof Methodius 885 starb, verbreiteten seine Mitarbeiter die altslawische Bibel in Bulgarien. Über Bulgarien erreichte diese Bibel Russland und Kroatien.19

4.3 4.3.1

Methoden und Ergebnisse der Textkritik Die Methoden

Ziel der Textkritik ist es, den ursprünglichen Wortlaut festzustellen. Deshalb muss an jeder Stelle mit mehreren Lesarten gefragt werden, welche Variante die ursprüngliche ist, aus der alle anderen Varianten entstanden sind. Zu diesem Zweck hat die Textkritik eine eigene Methodik entwickelt, die in der Kombination von zwei Arten der Textanalyse besteht: Zum einen werden nach den sog. äußeren Kriterien das Alter und die Qualität der Zeugen in der Handschriftenüberlieferung untersucht, zum anderen nach den sog. inneren Kriterien die sprachliche, stilistische und inhaltliche Eigenart jeder Textvariante. Zunächst handelt es sich um ein heuristisches (Aussuchen der Texte) und chronologisches Vorgehen, dessen Ziel es ist, nach den äußeren Kriterien die Genealogie der Handschriften und anderer Zeugnisse einer bestimmten Texteinheit zu rekonstruieren. Das relative Alter und die Abhängigkeit der Texte untereinander lässt sich graphisch durch das Erstellen eines Baums von Zeugnissen (lat. stemma codicorum) sichtbar machen. In der älteren Textforschung wurden Genealogien als Stammbaum ganzer Handschriften erstellt (sog. Gesamtstemma) und zu einzelnen Gruppen gebündelt (sog. Texttypen), in der neueren Textforschung hingegen wird seit dem zweiten Weltkrieg die Genealogie der Lesarten jeder einzelnen Textstelle untersucht, aus der sich dann auch Rückschlüsse für das Verhältnis der Zeugen untereinander und deren Qualität ziehen lassen (sog. lokalgenealogische Methode).

19

1995.

Zum altslawischen Text s. A. A. Alekseev, Textgeschichte der slawischen Bibel, Köln

4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik

105

(Urtext)

Zeuge 1 Lesart a

Zeuge 4 Lesarten a + d

Zeuge 5 Lesarten a + e

Zeuge 2 Lesart b

Zeuge 6 Lesarten a + f

Zeuge 3 Lesart c

Zeuge 7 Lesarten b + g

Abb.8: Stammbaum der Zeugen

Durch diese Vorgehensweise können Handschriften bei der Rekonstruktion ausgeschieden werden, die von einem älteren Texttyp abhängen und deren abweichende Lesarten sekundär sind (Mütter und Töchter). Wenn eine Handschrift eine ältere Fassung eines Texts repräsentiert als andere, muss diese ältere Fassung jedoch noch keineswegs ursprünglicher sein. Deshalb kann eine gut bearbeitete Genealogie nicht mechanisch interpretiert werden. Die Textkritik kann z. B. feststellen, dass einige zeitlich spätere Handschriften gemeinsame Züge aufweisen, die nicht als Textkorruptionen zu erklären sind und die daher von einer unbekannten älteren Handschrift abhängig sein können. Die meisten alten Handschriften des Neuen Testaments enthalten nur Bruchstücke des Texts. Auch die unterschiedlichen Texttypen, d. h. Gruppen von Texten mit verwandten Lesarten, reichen nur bis in die ältesten für seine Rekonstruktion brauchbaren Handschriften zurück, die von der Entstehungszeit immer noch mindestens hundert Jahre entfernt sind. Aus diesen Gründen kann die genealogische Methode allein nicht zum Ziel führen. Sie muss durch die Sachkritik mit der Beurteilung der einzelnen Textvarianten nach inneren Kriterien ergänzt werden. Eine solche Kritik fängt mit der Untersuchung allgemein üblicher Schreibfehler an. Es handelt sich um die Verwechslung ähnlicher Wörter, um die Auslassung eines Teils des Texts, wenn an zwei voneinander nicht weit entfernten Stellen Worte mit einer ähnlichen Endung vorkommen (Homoioteleuton), um die Wiederholung von Wörtern oder Zeilen sowie um Fehler, die aufgrund einer ähnlichen Aussprache verschiedener Wörter bei der Niederschrift nach Diktat entstehen. Hinzu kommen vor allem in den Evangelien Abweichungen, die durch den Paralleltext aus einem anderen Evangelium verursacht werden. Die Varianten können aber auch durch die Kenntnis einer leicht unterschiedlichen Fassung des betreffenden Texts aus der mündlichen Tradition bedingt sein, durch die bewusste oder unbewusste Tendenz des Schreibers, den Text verständlicher zu machen oder zu glätten, sowie – in wenigen Fällen – auch durch dogmatische Motive. Mit Vorbehalten gilt bis heute die alte Regel: lectio difficilior = lectio potior (schwierigere Lesart = bessere Lesart). Nach diesem Prinzip hat die weniger ver-

106

4 Der Text des Neuen Testaments

ständliche Lesart vor den genealogisch gleich gewichtigen, inhaltlich aber besser verständlichen Lesarten Vorrang, weil die Schreiber den Text oft sekundär stilistisch verbesserten. Dieser Grundsatz gilt allerdings nicht absolut, besonders wenn der überlieferte Text, die lectio difficilior, keinen Sinn ergibt und – selbstverständlich – wenn sie aus einer Beschädigung der Handschrift erklärt werden kann. Weiter werden diejenigen Abweichungen für wenig bedeutend gehalten, die in einer Handschrift vorkommen, welche zu einer Textgruppe mit profilierten gemeinsamen Zügen gehört. Revisionsbedürftig war auch die andere alte textkritische Regel, nach der die kürzere Fassung meistens die ursprünglichere ist (lat. lectio brevior = lectio potior). Nähere Untersuchungen zur Textüberlieferung zeigten nämlich, dass gerade in den frühen Papyri die Tendenz zur Anreicherung des Texts nur wenig ausgeprägter ist als die Neigung zur Kürzung. Von der richtigen Kombination dieser beiden methodischen Vorgehensweisen hängt die Qualität der textkritischen Arbeit ab. Nur die Lesart kann als ursprünglicher bezeichnet werden, die nach den inneren Kriterien durch die Sachanalyse der Abweichungen erreicht wurde und nach den äußeren Kriterien genealogisch gut positioniert ist. Eine hypothetische Lesart dagegen, wie plausibel sie auch sachlich sein mag, darf ohne solche Stützen, d. h. als Konjektur, bei der Rekonstruktion des Urtexts nicht berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite ist die Lesart der ältesten erhaltenen Handschriften nicht automatisch die älteste Textform. Die bedeutendsten Textvarianten sind schon in der Zeit vor der Entstehung der ältesten erhaltenen Handschriften entstanden. Auch die ältesten Lesarten können sekundär sein und müssen mit Hilfe der Sachkritik beurteilt werden.20 4.3.2

Der gegenwärtige Stand der Erforschung des biblischen Texts

Als Brooke F. Westcott und Fenton J. A. Hort 1881 ihre bahnbrechende Arbeit über die Geschichte des neutestamentlichen Texts herausgaben, waren die bedeutendsten Papyrushandschriften noch unbekannt. Doch stellte ihre Auswertung der bis dahin wenig beachteten Majuskelhandschriften den bislang vorherrschenden byzantinischen Texttyp (sie nannten ihn „syrisch“) in Frage. Ein Texttyp ist eine Gruppe von Handschriften, die sich durch charakteristische Lesarten auszeichnen, die von möglichst allen Gruppenmitgliedern gelesen werden. Der byzantinische Texttyp hat sich seit dem 4. Jh. im griechischsprechenden Osten des römischen Reichs rasch immer weiter ausgebreitet und ist durch seine überaus zahlreichen Abschriften zum Normaltext der byzantinischen Kirche geworden. Quantitativ gesehen bilden die byzantinischen Handschriften die absolute Mehrheit

20

Zwölf Grundregeln für die textkritische Arbeit nennen K. u. B. Aland, Der Text des Neuen Testaments, 282 f.

4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik

107

aller griechischen Textzeugen, weil in Griechenland bzw. im griechischen Sprachraum die griechische Bibel bis zur Erfindung des Buchdrucks ständig neu abgeschrieben wurde. Allerdings handelt es sich aus demselben Grund – die beschädigten alten Handschriften mussten immer durch neue ersetzt werden – um Handschriften späteren Datums (die ältesten stammen aus dem 8. Jh.). In den neuen Ausgaben wird dieser Texttypus durch das Sammelsigel M (Mehrheitstext) bezeichnet.21 Als in der Zeit des Humanismus das Interesse am griechischen Urtext des Neuen Testaments neu geweckt wurde, dienten einige Texte dieses byzantinischen Typus als Grundlage für die reformatorischen Bibelübersetzungen. Erasmus von Rotterdam (1466–1536) benutzte einige Handschriften des byzantinischen Texttyps, als er 1516 in Basel eilig seine Erstausgabe des Texts des Neuen Testaments veröffentlichte, die später mit wenigen Abweichungen als „textus (ab omnibus) receptus“ („der von allen übernommene Text“) verbreitet wurde. Der Textus receptus stellt also in etwa die gedruckte Gestalt der byzantinischen Texttradition dar (§ 4.3.4). Der Autoritätsverlust, den dieser Text (auch Koine-Text genannt) durch Westcott und Hort erfuhr, erregte Aufsehen, da auf dessen Wortlaut mehrere protestantische Gruppen die Theorie der Verbalinspiration (§ 2.1.4a) bezogen. Lange Zeit vermutete man, dass der byzantinische Text das Ergebnis einer Rezension (berichtigende Durchsicht) durch den Presbyter Lukian († 311) sei. Eine solche Rezension ist allerdings – zumindest für das Neue Testament – nicht nachweisbar.22 Der byzantinische Text ist das Ergebnis einer längeren Entwicklung. Es handelt sich um einen Texttyp, der als Ganzes dem Urtext nicht allzu nahestand, die älteren Texte sprachlich glättete und einige Textvarianten einfach kombinierte.23 In den Evangelien sind für diese Textgruppe Angleichungen an die Parallelstellen in anderen Evangelien vorgenommen worden (in den kritischen Ausgaben meistens durch p gekennzeichnet). Da die Bearbeitung der byzantinischen Textform jedoch auf der Basis alter Texttraditionen gemacht wurde, kann diese Textart trotz ihrer Inkonsequenzen und späteren Korruptionen einige wertvolle Elemente des Urtexts bewahrt haben. Eine totale Ablehnung dieses byzantinischen Texts ist demnach nicht berechtigt. Westcott und Hort definierten mehrere Textgruppen, die sie von lokalen Traditionen ableiteten. Wir sprachen bereits von der in Cäsarea entstandenen Textgruppe (§ 4.2.2 Ende). Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Hypothese von den lokalen Textgestalten, wie inspirierend sie

21 S. das Verzeichnis der Handschriften bei Nestle / Aland, Novum Testamentum Graece, 27. Aufl., 713. 22 Vgl. G. Zuntz, Lukian von Antiochien, 25. 23 So lesen z. B. in Röm 6,12 die Handschriften a, A, B u. a. „taís epithymíais autoú“ (so lasst die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, sodass ihr seinen Begierden gehorcht!), p46, D, G u. a. lesen „autḗ“ (… sodass ihr ihr gehorcht!) und die byzantinische Gruppe (K, P und mehrere Minuskeln) liest „autḗ en taís epithymíais autoú“ (… sodass ihr ihr nicht gehorcht in seinen [des Leibes] Begierden!).

108

4 Der Text des Neuen Testaments

gewesen sein mag und wie richtig sie im Prinzip auch war, sich nicht bewährt. Denn die Handschriften wurden relativ häufig transportiert und die Textvarianten verbreiteten sich schnell, sodass eine Lokalisierung nicht möglich ist und wenig nützen würde. Wir werden uns deswegen nur auf die drei markantesten Textgruppen konzentrieren.

Neben dem byzantinischen Texttyp die zweite bedeutende Gruppe ist der sog. westliche Text, der wahrscheinlich in Syrien entstand, aber im Westen verbreitet wurde. Belegt ist er durch alte lateinische Übersetzungen, durch Zitate bei den Kirchenvätern (Justin, Irenäus, Tertullian), durch griechische Minuskeltexte und durch den Codex Bezae (D; § 4.2.2). Es handelt sich um einen Texttyp, der Spuren einer gewissen Harmonisierung aufweist. An manchen Stellen bietet er Erweiterungen, aber auch dort, wo er eine kürzere Lesart hat (nach Westcott und Hort die „western non interpolations“), muss er nicht dem Urtext näher sein. Doch weist dieser Texttyp Lesarten auf, die schon durch Papyrushandschriften bezeugt sind. Für die Textkritik am bedeutendsten ist ohne Zweifel die dritte Gruppe der Handschriften, deren Mitglieder den ägyptischen oder „neutralen“ Text bieten. Seine Hauptvertreter sind der Codex Vaticanus (B) und der Codex Sinaiticus (a), die alexandrinischen Kirchenväter, besonders Clemens von Alexandrien (ca. 150–215 n. Chr.), einige Minuskelhandschriften (33 u. a.) und in weniger eindeutiger Gestalt auch andere bedeutende Majuskelhandschriften wie A, C, L und die koptischen Übersetzungen. Die Verlässlichkeit dieser Hauptzeugen schwankt von einem Teil des Neuen Testaments zum anderen. Der Vaticanus (B) z. B. steht in den Paulusbriefen und in den katholischen Briefen der Verlässlichkeit seines Zeugnisses nach an erster Stelle, während er die Johannesoffenbarung nicht enthält und in der Apostelgeschichte Sinaiticus (a) und Alexandrinus (A) bevorzugt werden. In ähnlicher Weise müssen auch bei anderen Textgruppen die Hauptzeugen für die einzelnen Teile des Neuen Testaments näher bestimmt werden. Vor allem gilt es bei der textkritischen Untersuchung jeder Bibelstelle zu wissen, welche Zeugen überhaupt vorhanden sind. Zu dieser Frage bietet der Anhang (Appendix I) in der Textausgabe von Nestle / Aland eine gute erste Information. „Neutral“ wurde der ägyptische Text von Westcott und Hort genannt, weil er nach damaligen Vorstellungen durch die lokalen Abweichungen nicht verändert war. Diese Einschätzung stellte sich, wie wir jetzt wissen, jedoch als ungenau heraus. Auch hier handelt es sich um einen Texttyp, der schon früh belegt ist. Lange wurde dieser Texttyp auch als „Rezension von Hesychius“ († um 305)24 bezeichnet, da Hieronymus von dessen Rezension der griechischen Bibel berichtet.25 Eine solche Rezension ist jedoch durch die Untersuchung der Handschriften nicht nachweisbar, und die Notizen

24 Es handelt sich um einen sonst unbekannten Bischof. Die Datierung seines Lebens wird von der Notiz über den Märtyrer Hesychius abgeleitet (Eus. h.e. 8,13,7), wobei es nur eine Hypothese ist, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. 25 Praef. in Paral.; Apol. adv. Ruf. II,27; Praef. in Evang.

4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik

109

des Hieronymus beziehen sich wahrscheinlich nur auf den Text der Septuaginta. Vor allem vertreten die später entdeckten Bodmer-Papyri (p66, p72 und p75) eine ähnliche Texttradition, obwohl sie etwa hundert Jahre vor Hesychius geschrieben wurden.26 Es kann also nur gesagt werden, dass Hesychius vielleicht eine ältere Texttradition in einem Teil der Bibel neu revidierte. Ihre charakteristischen Züge gewann jene Tradition schon vor Hesychius.

Aus diesem Befund der allmählichen Herausbildung von Texttypen können folgende Konsequenzen gezogen werden: Die entscheidenden Korruptionen des Urtexts einzelner Bücher des Neuen Testaments entstanden vor seiner Kanonisierung, konkret in der Zeit zwischen der Entstehung der einzelnen Schriften und etwa der Mitte des 2. Jh.s, als die mündliche Tradition den geschriebenen Text noch direkt beeinflusste und die Handschriften noch getrennt je für sich abgeschrieben wurden. Nicht ganz ausgeschlossen ist, dass einzelne Schriften von ihren Autoren noch selbst revidiert und einige Bücher sehr wahrscheinlich sogar durch Schüler neu bearbeitet wurden, wie das Johannesevangelium erkennen lässt (§ 7.1.4c). Ebenso können aus Teilen der paulinischen Korrespondenz einzelne „Briefe“ entstanden sein (z. B. 2Kor [§ 5.13.2], möglicherweise auch Phil [§ 5.14.2]). Durch die redaktionelle Bearbeitung der Schriften kam es selbstverständlich auch zu Änderungen im Wortlaut. Gegen Ende jener Periode wurden die überlieferten Texte in Gruppen gesammelt (Corpus Paulinum, die vier Evangelien usw.). Daraus ergibt sich bei jeder Kopie der einzelnen Schriften die Frage, ob sie schon zu einer solchen Gruppe von gemeinsam weitergegebenen Texten gehörte. Bereits in der zweiten Hälfte des 3. Jh.s müssen wir die ersten Rezensionen des Texts vermuten, wie man die berichtigende Durchsicht nennt. Jede Rezension beseitigte viele grobe Fehler, aber gleichzeitig konservierte und verbreitete sie einige fehlerhafte Korrekturen, weil die Gelehrten nur begrenztes Vergleichsmaterial zur Verfügung hatten. Solche Abweichungen können wir nur vermutungsweise annehmen. In jener Zeit sind auch die eben beschriebenen großen Textgruppen (Texttypen) entstanden. Anfänglich gab es offensichtlich mehrere lokale Rezensionen, wie Westcott und Hort richtig angenommen haben. Die letzte Art der Abweichungen kam nach der Entstehung der Idee des Kanons (§ 3.3) zustande, als man begann, das Neue Testament als Ganzes zu sammeln. In der Mitte des 3. Jh.s überwog im Westen schon die lateinische Sprache und der griechische Text wurde nur noch selten neu abgeschrieben. In anderen Gebieten wie Ägypten und dem östlichen Mittelmeerraum wurde schon am Anfang des 4. Jh.s die Notwendigkeit eines einheitlichen Texts spürbar. Durch die Ausdehnung der Kirche und die rege Kopiertätigkeit traten die Unterschiede in den einzelnen Handschriften so deutlich zutage, dass die liturgische Einheit der Kirche bedroht wurde. Die Bischöfe beauftragten christliche Gelehrte mit der Suche nach älteren verlässlichen 26

Vgl. G. D. Fee, p75, p66 and Origen: The Myth of Early Textual Recension in Alexandria, zuletzt in: E. J. Epp / G. D. Fee, Studies, 247–273.

110

4 Der Text des Neuen Testaments

Archetypen des Texts. Von diesen Revisionen gilt in verstärktem Maße, was wir eben von den früheren Textrezensionen gesagt haben. Der Unterschied besteht nur darin, dass diese Etappe der Rezensionen schon z. T. rekonstruierbar ist. 4.3.3

Die bekanntesten Textabweichungen

Die meisten Textabweichungen vom rekonstruierten Urtext des Neuen Testaments fallen kaum ins Gewicht, da es sich um Schreibversehen oder stilistische Glättungen handelt, die den Sinn nicht verändern. Zu den wenigen auffälligen Textabweichungen gehören: a) der Wortlaut des Vaterunsers nach Mt 6,9b–13, da die byzantinische Texttradition am Ende eine offensichtlich sekundäre (durch 1Chr 29,11–13 inspirierte) dreigliedrige Doxologie enthält, welche die evangelischen Kirchen übernahmen,27 b) der spätere längere Zusatz des Markusevangeliums (§ 6.2.2), da in den ältesten Zeugen des ägyptischen Texts Mk 16,9–20 fehlt, c) die Abweichung (Kürzung) in der Stiftung des Herrnmahls nach Lk 22,19–20 gemäß dem Codex Bezae (D), die wahrscheinlich den Widerspruch zum Aposteldekret nach Apg 15,20 (Trinken des Bluts) vermeiden sollte, und d) die trinitarische Formel in 1Joh 5,7b–8, das Comma Johanneum („Textabschnitt des Johannes“), das vermutlich im 3./4. Jh. entstanden ist.28 4.3.4

Die neuzeitlichen Editionen des griechischen Texts

Kritische Editionen sind die Ergebnisse textkritischer Arbeit. Schon die hellenistischen Gelehrten bereiteten in Alexandrien kritische Textausgaben griechischer Klassiker vor. Vom Neuen Testament wurde die erste kritische Ausgabe erst in der Neuzeit ediert: die komplutensische Polyglotte (Polyglotta Complutensis), deren neutestamentlicher Teil in Spanien in Complutum (Alcalá) im Jahr 1514 publiziert wurde. Veranlasst wurde das große gelehrte Unternehmen durch Franziscus Kardinal Ximenes († 1517), der es auch finanzierte. Allerdings erteilte Papst Leo X. erst 1520 die Erlaubnis zur Veröffentlichung. Diese Ausgabe wird Polyglotta (Mehrsprachige) genannt, weil sie neben dem griechischen auch den lateinischen Text bietet. Der grie-

27

§ 6.3.4.3b; vgl. Lk 11,2–4 (§ 6.4.4); in der Didache und einigen koptischen Übersetzungen begegnen wir einer zweigliedrigen Doxologie (ohne „das Reich“). 28 Andere bedeutende Abweichungen finden sich in Mk 1,1 (Sohn Gottes); Lk 2,14 (bei den Menschen seines Wohlgefallens); 23,34 (Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!); Apg 15,20–29 (Aposteldekret); Mt 21,44; Joh 7,53–8,11 (Jesus und die Ehebrecherin; § 7.1.2). Der Wortlaut der wichtigsten Textvarianten ist in den Anmerkungen der Jerusalemer Bibel wiedergegeben.

4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik

111

chische Text stützte sich auf mehrere für uns nicht greifbare byzantinische Handschriften, die sorgfältig verglichen wurden. Bevor sich die europäische Öffentlichkeit mit diesem imposanten Werk vertraut machen konnte, veröffentlichte im Jahr 1516 der Basler Buchdrucker Johann Froben (Frobenius) den griechischen Text des Neuen Testaments, den der bekannte Humanist Erasmus von Rotterdam (1466–1536) vorbereitet hatte. Leider gab dieser eine übereilte Arbeit ab, da er den spanischen Gelehrten durch eine frühere Veröffentlichung zuvorkommen wollte. Auch Erasmus verwendete byzantinische Handschriften (§ 4.3.2) als Grundlage. Für jeden Teil des Neuen Testaments nahm er eine solche Minuskelhandschrift, trug seine Korrekturzeichen ein, und die Drucker setzten den Text direkt aus dieser Vorlage. Für das Buch der Offenbarung lieh er von seinem Freund Johannes Reuchlin (1455–1522) ein Exemplar aus, in dem das Ende (Apk 22,16–21) fehlte. Diesen Abschnitt übersetzte er mit einigen grammatikalischen Fehlern aus dem Lateinischen ins Griechische. So entstand die Textausgabe, die in der Reformationszeit als Vorlage für die Übersetzungen in mehrere Nationalsprachen diente. Auf der Grundlage der 2. Auflage (1519) übersetzte auch Martin Luther das Neue Testament. Sein Werk erschien im Jahr 1522. Den Text der Polyglotta hatte Luther noch nicht zu Verfügung. Erasmus fügte eine lateinische Übersetzung hinzu, die später auch getrennt erschien. Die weiteren Ausgaben, die in Paris bei dem Buchdrucker Robert Stephanus (Estienne) (1503–1559) erschienen, korrigierte man anhand der spanischen Ausgabe.

Exkurs 1: Zur Kapitel- und Verseinteilung des neutestamentlichen Texts Die vierte Ausgabe des korrigierten Erasmustexts, die Robert Stephanus im Jahr 1551 publizierte, enthielt erstmals eine Gliederung in Verse, die sich seitdem eingebürgert hat. Schon früher war der Text des Neuen Testaments in verschiedenen Handschriften unterschiedlich gegliedert worden. In den meisten Manuskripten setzte sich die Gliederung in Kephalaia (Kapitel) durch, die in der Ausgabe von Nestle / Aland am inneren Rand durch kursiv gesetzte Zahlen angegeben sind (1 2 3 4 usw.). Die heute übliche Einteilung in Kapitel wurde 1203 im Rahmen der Vulgata eingeführt und geht auf Stephan Langton, den späteren Erzbischof von Canterbury, zurück. Sie wurde von Robert Stephanus (Estienne) übernommen und 1551 in der lateinisch-griechischen Ausgabe des Neuen Testaments (mit dem verbesserten Erasmustext) durch die Nummerierung der Verse ergänzt, die sich rasch durchsetzte. Die Überschriften zwischen den einzelnen Abschnitten in den heutigen Bibelausgaben stammen nicht von den biblischen Verfassern, sondern wurden von den Herausgebern und Übersetzern ergänzt. Dadurch erklärt sich auch die Unterschiedlichkeit der Überschriften.

112

4 Der Text des Neuen Testaments

*** An den Text von Erasmus knüpften auch andere Ausgaben an, u. a. die des Reformators Theodor Beza (1519–1605), des Freundes und Nachfolgers Calvins in Genf, der die wertvolle Handschrift des westlichen Texts (Codex Bezae Cantabrigiensis, heute D) besaß. Für die Textausgabe nutzte er jedoch diese viel frühere Handschrift nicht. Heute wissen wir, dass dieses Versäumnis paradoxerweise ein Glück war, denn deren Paraphrase der Apostelgeschichte unterscheidet sich auffällig von allen anderen Handschriften und hätte später schwere Folgen hinsichtlich der ökumenischen Autorität der Bibel nach sich ziehen können. Die auf byzantinischen Handschriften basierende Ausgabe des Erasmus und seiner Nachfolger erhielt im Vorwort die als Empfehlung gedachte Benennung Textus receptus, als sie 1633 im Verlagshaus der Familie Elzevier in Leiden zum zweiten Mal erschien (§ 4.3.2). Schon im 18. Jh. begannen einige Gelehrte, auch Varianten aus anderen Gruppen als dem byzantinischen Texttyp zu beachten und das gegenseitige Verhältnis der ihnen zugänglichen Handschriften zu untersuchen (Johann Albrecht Bengel, Johann J. Wettstein, Johann J. Griesbach u. a.). Die wichtigsten, bis heute gültigen Grundsätze der Textkritik sind bereits von Bengel formuliert worden. Es war jedoch erst Karl Lachmann, der bei der Rekonstruktion des griechischen Texts 1831 konsequent den Textus receptus verließ. Auf der Grundlage des Codex Sinaiticus erarbeitete Konstantin von Tischendorf (1815–1874) in den Jahren 1869–1872 seine große Ausgabe des griechischen Texts (Lit. § 4).29 Die erste moderne Ausgabe, die auf dem Vergleichen mehrerer Handschriften aus verschiedenen Gruppen gründet, stammt von Westcott und Hort aus den Jahren 1881–1882 (§ 4.3.2). Von den weiteren Bibelwissenschaftlern, die neue Ausgaben des griechischen Texts des Neuen Testaments publiziert haben, sollen noch Hermann von Soden (1852–1914), Augustinus Merk (Textausgabe von 1933, 9. Aufl. 1964) und Eberhard Nestle genannt werden. Diese kritischen Ausgaben haben den Textus receptus auch aus der Theologenausbildung und der kirchlichen Praxis verdrängt. Besonders wichtig wurde die Textausgabe Novum Testamentum Graece von Eberhard Nestle (1898), der frühere kritische Ausgaben heranzog und den Ertrag der textkritischen Arbeit des 19. Jh.s zusammenfasste. Im Jahr 1927 fügte Nestles Sohn Erwin Nestle den textkritischen Apparat hinzu, der alle wichtigen Varianten mit der sie bezeugenden Handschrift notiert (früher bezeichnete man die Abweichungen nur mit den Namen der sie bevorzugenden Herausgeber). Seit der 21. Auflage 1952 war Kurt Aland Mitherausgeber dieser Ausgabe, deren textkritischer Apparat stetig er29 Eine Ausgabe des Texts von Stephanus aus dem Jahr 1550, die auch den Text späterer Ausgaben (Elzevier, Griesbach, Lachmann, Tischendorf, Tregelles, Alford, Wordsworth) notiert, ist die schöne griechisch-englische Taschenausgabe The Englishman’s Greek New Testament (London 1877), die mehr mals neu gedruckt wurde.

4.3 Methoden und Ergebnisse der Textkritik

113

weitert wurde. 1966 erschien die neue Ausgabe des Greek New Testament, für die ein Herausgeberkomitee mit folgenden Gelehrten verantwortlich war: Kurt Aland, Matthew Black, Bruce M. Metzger, Allen Wikgren, Arthur Vööbus, später Carlo M. Martini, Barbara Aland und Johannes Karavidopoulos. Eine völlig neu bearbeitete Ausgabe des Novum Testamentum Graece erschien 1979 (Nestle / Aland26), gemeinsam herausgegeben von Kurt Aland, Matthew Black, Carlo M. Martini, Bruce M. Metzger und Allen Wikgren. Der Text der Edition war gleichlautend mit der 3. Auflage des Greek New Testament. Beide Editionen sind interkonfessionell erarbeitet und verantwortet, was von erheblicher Bedeutung ist. Sie liegen allen neueren Übersetzungen zugrunde. Die 27. Auflage erschien 1993 mit unverändertem Text, nur der textkritische Apparat wird seither mit jedem Neudruck aktualisiert.30 Die zentrale Koordination der Arbeit an der Rekonstruktion des Urtexts brachte viel Gutes mit sich und ist zu begrüßen. Das Institut in Münster versucht durch die Zusammenarbeit mit dem Herausgeberkomitee die Gefahr einer einseitigen Monopolisierung zu vermeiden. Doch ist es nützlich, wenn auch an anderen Stellen kritische Ausgaben des neutestamentlichen Texts erscheinen. Eine solche Ausgabe ist z. B. diejenige der synoptischen Evangelien in der durch Heinrich Greeven bearbeiteten Synopse der drei ersten Evangelien von Albert Huck, die besonders die patristischen Zeugnisse berücksichtigt.31 Inzwischen sind die gängigen Textausgaben auch elektronisch zugänglich32 und für die Arbeit am Computer aufbereitet worden durch BibleWorks oder durch die Stuttgarter Elektronische Studienbibel (SESB).33 4.3.5

Das theologische Problem der Textrekonstruktion

Die Rekonstruktionen des Urtexts, die nicht mehr nur mit einer alten und verlässlichen Handschrift arbeiten, produzieren einen neuen Text, der als Grundlage für die

30

Auch als elektronische Ausgabe erhältlich: CD-Rom Bibel Edition, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 31 A. Huck / H. Greeven, Synopse der drei ersten Evangelien. Mit Beigabe der johanneischen Parallelstellen, Tübingen 131981. 32 Vgl. (ohne textkritischen Apparat): CD-Rom Bibel Edition, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart: Biblia Hebraica Stuttgartensia, Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland, 27. Aufl.), Septuaginta und Vulgata. 33 Vgl. als Textausgaben mit Suchfunktionen: BibleWorks für Windows 7.0 oder die Stuttgarter Elektronische Studienbibel (SESB), hg. v. Ch. Hardmeier u. a., Stuttgart 2004 (inzwischen 2., erweiterte Auflage, vgl. detailliertere Informationen unter www.bibleworks.com und www.bibelgesellschaft.de). Einen Vergleich beider Editionen bietet J. Woyke, Die Stuttgarter Elektronische Studienbibel (SESB), ThBeitr 36 (2005), 272–276.

114

4 Der Text des Neuen Testaments

meisten Bibelübersetzungen dient. Auf diese Weise beeinflusst die textkritische Arbeit unmittelbar das Leben der Gemeinden. Die Kirchen, die die Existenz einer allgemeinen (katholischen) Kirche im Apostolischen Bekenntnis oder im Nizänischen Bekenntnis anerkennen, sehen die Schrift als Norm ihres Glaubens und Lebens an. Nur die Abgrenzung, welche Schriften zum Kanon gehören, liegt in der Verantwortung der Konfessionen und kann neu formuliert werden (§ 3.3; 3.5). Die neuen Textausgaben, wie geringfügig ihre Unterschiede auch sein mögen, stellen prinzipiell jedoch eine Änderung im Bestand des Kanons dar, der in der Kirche normative Geltung erlangt hat (§ 3.3). Und es ist ein großer geschichtlicher und theologischer Erfolg der kritischen Wissenschaft, dass dieses so bedeutende Ergebnis von den meisten Christen anerkannt und in den Bibelausgaben akzeptiert wird, die die Kirchen zur Lektüre empfehlen. Diese durchgängige Rezeption ist der ökumenische Beitrag der Textkritik. Im Ergebnis führt die textkritische Arbeit zu einem künstlichen Text, der jedoch dem Urtext am nächsten kommt. In praktischer Hinsicht wäre es vielleicht einfacher, auf die Suche nach dem Urtext zu verzichten und in den großen wissenschaftlichen Ausgaben eine alte Handschrift als Grundlage zu nehmen, deren Abweichungen sich übersichtlicher in einzelne Gruppen gliedern ließen. Die Grundlage wäre dann ein Text, der in der Liturgie schon einmal für Schriftlesung und Predigt benutzt wurde. Und doch wäre dieses Vorgehen ein Verzicht auf den Weg zu den Quellen, der auch zu praktischen Ergebnissen führen soll. Die Rekonstruktion des Urtexts, die mit dem ursprünglichen Wortlaut wahrscheinlich nicht identisch ist, ihm aber doch nahekommt, ist ein Wagnis. Und sie ist immer noch nicht abgeschlossen, da die Textrekonstruktionen mit der Entdeckung und Bearbeitung weiterer Handschriften wechseln. Gerade in der Offenheit des Weges, der ohne Zweifel mehrere Etappen haben wird, ist diese Rekonstruktion des ursprünglichen Texts ein faszinierendes Geschehen.

5 Die paulinischen Briefe

 Zu Paulus und seiner Theologie: Béda Rigaux, Saint Paul, Paris 1956; Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984; Karl H. Rengstorf (Hg.), Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung (WdF 24), Darmstadt 1964, 31982; Ulrich Luz, Das Geschichtsverständnis des Paulus (BEvTh 49), München 1968; Victor P. Furnish, Theology and Ethics in Paul, Nashville / New York 1968; Günther Bornkamm, Paulus (1969), Stuttgart 71993; Joachim Gnilka, Paulus von Tarsus (HThK S VI), Freiburg 1966; Georg Eichholz, Die Theologie des Paulus im Umriss, Neukirchen 1972; Ed P. Sanders, Paulus und das palästinische Judentum (1977), deutsch Göttingen 1985; Ralph P. Martin, Reconciliation. A Study of Paul’s Theology, Atlanta, GA 1980; Leander E. Keck, Paul and His Letters, Philadelphia, PA 21988; Daniel Patte, Paul’s Faith and the Power of the Gospel. A Structural Introduction to the Pauline Letters, Philadelphia 1983; J. Chris Beker, Paul the Apostle, Philadelphia (Edinburgh) 2 1984; Alberto Vanhoye (Hg.), L’Apôtre Paul, Louvain 1986; Hans Hübner, Paulusforschung seit 1945, ANRW II,25,4, Berlin 1987, 2649–2840; Karl H. Schelkle, Paulus, Darmstadt 21988; Samuel Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung (FRLANT 147), Göttingen 1989; Otfried Hofius, Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 1989, 21994; Martin Hengel / Ulrich Heckel, Paulus und das antike Judentum (WUNT 58), Tübingen 1991; Jürgen Becker, Paulus, Tübingen 2 1992; Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie I (Lit. § 1); Hans Hübner, Biblische Theologie II (Lit. § 1); Charles K. Barrett, Paul, Louisville, KT 1994; Georg Strecker (hg. v. F. W. Horn), Theologie des Neuen Testaments, Berlin / New York 1996, 11–229; Eduard Lohse, Paulus, München 1996; James D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids, MI (Edinburgh) 1998; Martin Hengel, Paulus und Jakobus. KS III (WUNT 141), Tübingen 2002; Otfried Hofius, Paulusstudien II (WUNT 143), Tübingen 2002; Ferdinand Hahn, Theologie (Lit. § 1); Udo Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin 2003; James D. G. Dunn (Hg.), The Cambridge Companion to St. Paul, Cambridge 2003; Dieter Sänger / Ulrich Mell (Hg.), Paulus und Johannes (WUNT 198), Tübingen 2006; Oda Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe (UTB), Tübingen / Basel 2006.  Literatur zur Briefform: Adolf Deißmann, Licht vom Osten, Tübingen 41923; John L. White, New Testament Epistolary Literature in the Framework of Ancient Epistolography, in: ANRW II, 23,2, Berlin / New York 1984, 1730–1756; Stanley K. Stowers, Letter Writing in Graeco-Roman Antiquity (LEC 5), Philadelphia 1986; Hermann Probst, Paulus und der Brief (WUNT II/45), Tübingen 1991; M. Luther Stirewalt Jr., Studies in Ancient Greek Epistolography (SBL.RBS 27), Atlanta, GA 1993; Hans-Josef Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament (UTB), Paderborn u. a. 1998.

Von den insgesamt 21 Briefen des Neuen Testaments sind 13 unter dem Namen des Paulus überliefert. Als authentische Paulusbriefe gelten heute die folgenden sieben Schreiben (in der kanonischen Reihenfolge): Röm – 1Kor – 2Kor – Gal – Phil – 1Thess – Phlm (§ 5.10–16). Schülern des Apostels hingegen werden meist zugeschrie-

116

5 Die paulinischen Briefe

ben: Eph – Kol – 2Thess – Past (1–2Tim; Tit; § 8.1–4) und in einem weiteren Sinn auch der Hebräerbrief (§ 8.5). Wir beginnen mit den Briefen, deren paulinische Autorschaft unumstritten ist. Sie sind die ältesten christlichen Zeugnisse überhaupt und von prägender Bedeutung für die frühe Christenheit. Doch bevor wir uns den einzelnen Paulusbriefen zuwenden können (§ 5.10 ff.), sind einige Überlegungen zu den Voraussetzungen erforderlich, d. h. zur Bedeutung der Briefe für die frühe Kirche (§ 5.1–4), zu den von Paulus verwendeten Traditionen, nämlich „der Schrift“ (d. h. unser Altes Testament), den Hoheitstiteln und den älteren christologischen Formeln (§ 5.5–6), dem Briefformular (§ 5.7), der Biographie des Paulus (§ 5.8.1–2) sowie der Sammlung der paulinischen Briefe zu einem eigenen Briefkorpus (§ 5.9).1

5.1

Der Brief als Ersatz für die persönliche Anwesenheit des Apostels

In hellenistischer Zeit wurde der Brief (epistolḗ) zu einer verbreiteten Form der persönlichen Kommunikation,2 die trotz der räumlichen Entfernung der Korrespondierenden die persönliche Präsenz (parousía) des Absenders vermitteln sollte und konnte.3 Der Brief ist ein halbiertes Gespräch, er gibt nur die eine Seite wieder, die andere muss rekonstruiert werden. Er vertrat den Verfasser in seiner ganzen Persönlichkeit. So schrieb Basilius der Große (329–379), Bischof von Cäsarea, im 4. Jh. an Iovinus: „In deinem Brief habe ich deine Seele gesehen“ (ep. 2,419 f.).4 Die persönliche Dimension nutzten einige Philosophen und Schriftsteller wie auch die christlichen Apostel für Mitteilungen mit überindividueller Geltung. Paulus schrieb seine Briefe als Apostel,5 sie vergegenwärtigten seine apostolische Autorität. Manchmal versah er sein Schreiben mit einer eigenhändigen Unterschrift und bekräftigte seinen Autoritätsanspruch noch durch einen ausdrücklichen Hinweis auf Christus: „Mein, des Paulus, eigenhändiger Gruß. Wer den Herrn nicht liebt, der sei verflucht. Maranatha!“ (1Kor 16,21 f.; vgl. Gal 6,11 f.14). 1

Vgl. insgesamt U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5; mit umfangreicher Literatur), zur paulinischen Theologie die systematische Darstellung von J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), oder ebenso wissenschaftlich wie allgemeinverständlich die Biographie von E. Lohse, Paulus (Lit. § 5), aber auch die neutestamentlichen Theologien von P. Stuhlmacher (Lit. § 1), Bd. 1, 221– 392, und F. Hahn (Lit. § 1), Bd. I, 180–329. 2 Vgl. insgesamt H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament (UTB), Paderborn u. a. 1998. 3 Vgl. griech. „apṓn“ für die Abwesenheit in 1Kor 5,3; 2Kor 10,1.(11); 13,2.10; Phil 1,27; (Kol 2,5) und griech. „parṓn“ für die Anwesenheit in 1Kor 5,3; 2Kor 10,2.(11); 13,2.10; Gal 4,18. 4 S. K. Stowers, Letter Writing, 67 f. 5 Vgl. z. B. die Absenderangaben in Röm 1,1; 1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Gal 1,1.

5.2 Die Ausrichtung auf die Gemeinden

5.2

117

Die Ausrichtung auf die Gemeinden

Trotz mancher persönlicher Elemente sind die kanonisierten Episteln keine Privatbriefe,6 sondern Schreiben, die mit einem apostolischen Anspruch verfasst und als Mittel urchristlicher Missionsarbeit eingesetzt wurden. Immer richtet Paulus seine Paulusbriefe an eine konkrete Gruppe, an eine Gemeinde: „Ich beschwöre euch bei dem Herrn, diesen Brief vor allen Brüdern vorzulesen“ (1Thess 5,27; vgl. Kol 4,16). Manchmal sind sie sogar für mehrere Gemeinden einer Gegend bestimmt,7 im Philemonbrief zumindest für eine Hausgemeinde (Phlm 2).8 Erst in nachpaulinischer Zeit wurden Briefe nicht mehr nur an namentlich erwähnte Einzelgemeinden adressiert, sondern auch ohne direkten örtlichen Bezug allgemeiner als Botschaft und Ermahnung für eine größere Gruppe von Gläubigen oder für alle Christen geschrieben.9 Selbst die Pastoralbriefe sind zwar in Gestalt von Timotheus und Titus an Einzelpersonen adressiert, in Wirklichkeit aber als Instruktionen für die kirchlichen Funktionsträger der dritten christlichen Generation konzipiert und damit auf die Gestaltung des Gemeindelebens ausgerichtet (§ 8.4.2).

5.3

Das Vorlesen im Gottesdienst

Die Briefe der Apostel wurden innerhalb der gottesdienstlichen Versammlungen vorgelesen10 und auch mit den Nachbargemeinden ausgetauscht. Sie wurden also über ihren aktuellen Anlass hinaus aufbewahrt, abgeschrieben und gesammelt. In 2Petr 3,16 ist bereits von „allen“ Briefen des Paulus die Rede, sodass damals (Anfang des 2. Jh.s) schon ein Korpus seiner Schreiben bestanden haben muss. Die frühchristliche Praxis spiegelt sich auch in Kol 4,16 wider: „Und wenn dieser Brief bei euch vorgelesen ist, richtet es ein (poieíte),11 dass er auch in der Gemeinde von Laodizea vorgelesen wird und dass ihr auch den von Laodizea lest.“

6 7

Eine Ausnahme bildet der 3. Johannesbrief (§ 7.1.1). Gal; 2Kor: Korinth und ganz Achaia; 1Petr: Pontus, Galatien, Kappadozien, Asia, Bithy-

nien. 8 Vgl. Röm 16,5; 1Kor 16,19; Kol 4,15; vgl. H.-J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS 103), Stuttgart 1981; R. W. Gehring, Hausgemeinde und Mission (BWM 9), Gießen 2000, 220–384, bes. 380 ff. 9 Vgl. Jak 1,1: „an die Zwölf Stämme in der Zerstreuung“ (§ 8.8.1); Jud 1: „an die Berufenen“; 2Petr 1,1: „an alle, die mit uns den gleichen kostbaren Glauben erlangt haben“; Eph 1,1: „an die Heiligen, die auch gläubig sind in Christus Jesus“ (§ 8.2.2). 10 1Thess 5,27; Kol 4,16; Eph 3,3 f.; 1Tim 4,13 (Exkurs 12); Apk 1,3 (§ 7.2.6); Justin apol. I,67,3. 11 Das griech. „poieín“ kann hier auch die Anfertigung der Kopien bedeuten.

118

5 Die paulinischen Briefe

Das Lesen der Briefe in den Versammlungen diente der Unterweisung der Gemeinde, aber auch der Mitteilung von Grüßen, von Dank- und Fürbittgebeten sowie von Segenswünschen. Dadurch machten sie nicht nur den inneren Zusammenhalt der Kirche und ihre Einheit mit Gott sichtbar, sondern erlangten auch eine große Bedeutung für die christlichen Gottesdienste.12 Im Kanon des Neuen Testaments, dessen Umrisse schon in der Mitte des 2. Jh.s deutlich waren (§ 3.4a), bilden die Briefe den zweiten Teil mit 21 der insgesamt 27 Schriften (ohne Evangelien, Apostelgeschichte und Apokalypse; § 3.5). Allerdings weisen einige Briefe nur mit Einschränkungen die für diese Gattung typischen Züge auf.13

5.4 Die Briefe als Kommunikationsmedium der Kirche (zur Ekklesiologie) Es gehört zu den großen kirchengeschichtlichen Leistungen des Paulus, dass er die Möglichkeiten des Briefs als kommunikatives Mittel zur inneren Gestaltung der zerstreuten christlichen Gruppen erkannt und seiner Begabung gemäß genutzt hat. In Korinth sagte man, seine Briefe seien „wuchtig und stark“, sein persönliches Auftreten aber „schwach“ und „verachtenswert“ (2Kor 10,10). In dieser Bemerkung wird ein direkter Bezug auf eine konkrete Situation erkennbar, der uns heute nach 2000 Jahren Kirchengeschichte oft viel zu wenig bewusst ist, sodass die Briefe allzu leicht als dogmatische Lehrschreiben aufgefasst werden. Gerade die paulinischen Briefe wollen aber keine systematische Gesamtdarstellung entfalten, sondern zuallererst auf bedrängende Fragestellungen aus den jeweiligen Gemeinden antworten, theologisch-seelsorgerliche Orientierung vermitteln und praktische Wegweisung geben. Je

12

Aufschlussreich sind bei Paulus vor allem 1Kor 10 – 14; 16,22 (§ 5.12.4–5), Bekenntnisformeln (§ 5.6.2) und Hymnen (§ 5.6.2.4) sowie Taufe (§ 5.6.2.2) und Herrnmahl (§ 5.6.2.3), außerdem das Interesse an der liturgischen Praxis bei Matthäus (§ 6.3.4.3) und am Gemeindeleben in der Apostelgeschichte (§ 6.4.5.2b), die johanneische Ekklesiologie (§ 7.1.5.3), die Ämter in den Pastoralbriefen (Exkurs 12) sowie die (himmlische) Liturgie in der Johannesapokalypse (§ 7.2.6). Zum urchristlichen Gottesdienst vgl. F. Hahn, Der urchristliche Gottesdienst (SBS 41), Stuttgart 1970; ders., Art. Gottesdienst III, TRE 14, 28–39; J. Salzmann, Lehren und Ermahnen (WUNT II/59), Tübingen 1994; P. Wick, Die urchristlichen Gottesdienste (BWANT 150), Stuttgart 22003, zur Entstehung aus dem jüdischen Synagogengottesdienst J. Salzmann, Lehren, 450–459 im Anschluss an I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Frankfurt 21924; P. Billerbeck, Kommentar IV,1 (Lit. § 12e), 115–249; P. Billerbeck, Ein Synagogengottesdienst in Jesu Tagen, ZNW 55 (1964), 143–161; P. Schäfer, Der synagogale Gottesdienst, in: Literatur und Religion des Frühjudentums, hg. v. J. Maier / J. Schreiner, Würzburg 1973, 391–413. 13 Vgl. 1Joh (§ 7.1.1.2); Jak 1,1 (§ 8.8.1); Hebr 13,20–25 (§ 8.5.2), aber auch Apk 1,4 f. (§ 7.2.1; 7.2.6), ferner Apg 15,23–29; 23,26–30.

5.4 Die Briefe als Kommunikationsmedium der Kirche (zur Ekklesiologie)

119

klarer wir diese Entstehungssituation erkennen, desto besser werden wir die Argumentation des Apostels nachvollziehen können. Die Briefe trugen auf entscheidende Weise zur Einheit der Kirche bei, die in der ganzen „oikouménē“, d. h. der „bewohnten“ Welt, verbreitet war und deren Gemeinden „in der Diaspora (Zerstreuung)“ lebten (Jak 1,1; vgl. 1Petr 1,1). Die Briefe haben das Bewusstsein für die Zusammengehörigkeit gestärkt und die Einheit bekundet. Diese ökumenische Funktion der Briefe war nicht so selbstverständlich, wie es uns heute erscheinen mag. Die Anhänger Jesu verbreiteten sich schon bald in unterschiedlichen Gebieten. Die Vorstellung eines einzigen idealen Anfangs des Christentums leitet sich von den lukanischen Schriften ab (§ 6.4.5.2) und entspricht der Wirklichkeit nur in einem Punkt: Die meisten Gruppen erlebten nach der Hinrichtung Jesu einen Neubeginn, den sie auf verschiedene Weisen artikulierten. Dazu müssen wir uns die Ausgangssituation der Gemeinden vergegenwärtigen, die auch den Hintergrund der paulinischen Briefe bildet. Ihrer religiösen Herkunft nach gehörten die Christen selbstverständlich zum Judentum. Sie waren eine jüdische Reformbewegung und nutzten das Netz der Synagogengemeinden mit ihren Organisationsstrukturen. Erst die paulinische Mission emanzipierte sich von manchen jüdischen Einflüssen, indem die christlichen Gruppen begannen, ihr Leben außerhalb der Synagogen zu gestalten (z. B. Apg 18,1 ff.). Mehrere Synagogen drängten die Jesusleute aus ihrer Mitte hinaus (vgl. 2Kor 11,24). Dieser Prozess fand seinen Höhepunkt nach dem Fall Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. und spiegelt sich bei Matthäus in der Auseinandersetzung mit den Pharisäern wider (Mt 23; § 6.3.4.1). Damals verloren die Christen den Kampf um die Reform Israels. Die Vertreibung aus den Synagogen (Joh 9,22; § 7.1.5.3c) beschleunigte die missionarische Expansion der Kirche. Im äußeren Erscheinungsbild ähnelte die entstehende Kirche den Gemeinschaften der Mysterienkulte, die gemeinsame Kultmahlzeiten abhielten. Einzelne konnten sich in die religiösen Geheimnisse, Glückserwartung, Erlösungsglauben und Jenseitshoffnung einweihen lassen, durften diese Mysteriengeheimnisse aber nicht an Außenstehende weitergeben (s. Anm. 100). Zugleich unterschied die Kirche sich von solchen religiösen Gruppen durch ihre öffentliche Verkündigung und ihren universalen Zuspruch und Anspruch. Diese Eigenart spiegelte sich in ihrer Selbstbezeichnung als ekklēsía wider, die Paulus von Anfang an in der Anschrift an die Gemeinden gebrauchte.14 Die Mysteriengemeinschaften bezeichneten sich als „éranos“ oder „thíasos“ (private Vereine zur Ausrichtung von Festmahlzeiten).15 Das griechische Wort „ekklēsía“ diente in 14

1Thess 1,1; Gal 1,2; 1Kor 1,2; 2Kor 1,1. Vgl. H.-J. Klauck, Umwelt I (Lit. § 2.2), 49–58 und exemplarisch E. Ebel, Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden. Die Gemeinde von Korinth im Spiegel griechisch-römischer Vereine (WUNT II/178), Tübingen 2004. 15

120

5 Die paulinischen Briefe

der Septuaginta (§ 2.1.4) als Übersetzung des hebräischen „qāhāl“ (Versammlung, Gemeinde Israels, in Qumran das endzeitliche Aufgebot Gottes). In der hellenistischen Welt war „ekklēsía“ der Terminus für jede öffentliche Versammlung, besonders für die Versammlung der freien Bürger einer Polis, d. h. einer Stadt mit ihrem Einzugsbereich. Für die frühen Christen wurde „ekklēsía“ neben der konkreten gottesdienstlichen Versammlung (1Kor 11,17 f.20; 14,23), der Orts- oder Hausgemeinde (s. Anm. 7 f.) bald auch zur Bezeichnung für die Gesamtheit der christlichen Gemeinden (1Kor 15,9; Kol 1,18.24)16 – aber noch nicht für Kirchengebäude, die sich erst seit dem 3. Jh. nachweisen lassen. Die Christen unterschieden sich daher sowohl von der jüdischen Synagoge als auch von der heidnischen religiösen Umwelt. Darüber hinaus wurde noch ein weiterer Unterschied zwischen der christlichen Gemeinde und der politischen Ekklesia deutlich. Eine Ekklesia, zu der auch Frauen und Sklaven gehörten (1Kor 12,13; Gal 3,28), musste einerseits auf die damalige Umwelt provozierend wirken, machte andererseits gerade für diese Gruppen der Gesellschaft aber auch die Attraktivität der christlichen Gemeinden aus (vgl. § 5.15.3 zum Philemonbrief). Die starken Unterschiede in der religiösen und sozialen Herkunft der Gläubigen verursachten in einigen Gemeinden erhebliche Probleme im Zusammenleben. Darauf reagierte Paulus vor allem in zwei Schreiben mit der Entfaltung einer Ekklesiologie: Im Galaterbrief ringt er um die volle soteriologische Gleichberechtigung der Heidenchristen, die durch die judenchristliche Beschneidungsforderung in Frage gestellt wird (§ 5.11.4a), im 1. Korintherbrief geht er auf diverse Missstände ein, von denen er aus der dortigen Gemeinde erfahren hat (§ 5.12.4). Der universale Anspruch, der in der geglaubten Einheit mit Christus gründete, führte schon bei Paulus zu einer für damalige Verhältnisse außerordentlichen Reisetätigkeit17 und zur Entfaltung einer intensiven schriftlichen Kommunikation. Die Christen wurden bald zu einer korrespondierenden Weltgemeinschaft. Die Briefe hatten bei der Gestaltung einer universalen Kirche eine ähnliche Funktion wie die durch kaiserliche Militärpost beförderten Botschaften bei der Verwaltung des römischen Reichs. Da es ein öffentliches Postwesen noch nicht gab, wurden die Briefe vor allem durch Boten überbracht, die die Schreiben erläutern und neue Nachrichten in Erfahrung bringen konnten. Aus der Antike sind mehr als 9000 von Christen geschriebene Briefe erhalten. Offensichtlich war das Korrespondieren für die Christen so bezeichnend wie für keine andere Gruppierung. Selbstverständlich handelte es sich meistens nicht um Briefe, die für die gottesdienstliche Lesung geschrieben wa16 Vgl. P. Ellingworth, hē ekklēsía, hai ekklēsíai in the Pauline Corpus, in: J. Mrázek (Hg.), EPITOAYTO II (FS P. Pokorný), Praha 1998, 121–129, zur Ekklesiologie J. Roloff, Kirche (Lit. § 6.2.8), 86–143 (Gesamtüberblick), hier 83 f.96–99; J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 533–564, monographisch W. Kraus, Volk Gottes (Lit. § 5.11), 111 ff. 17 Vgl. R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 273–282.

5.5 Die Intertextualität der Briefe (Voraussetzungen christlicher Theologie)

121

ren. Doch wird auch hier die alte Erfahrung bestätigt, dass in der Liturgie die bedeutendsten Funktionen des Alltags rituell aufgenommen und neu gestaltet werden: Gespräch, gemeinsames Essen, Geschenke, Reinigung und auch Korrespondenz. Die Verkündigung geschah im hellenistischen Griechisch, der Koinḗ, d. h. der „gemeinsamen“ Sprache, die im Mittelmeerraum die allgemein verständliche Weltsprache war (wie heute Englisch). Zusammen mit der Verkündigung musste die intensive Korrespondenz in der christlicher Kommunikation einerseits die Schreibkundigkeit der Christen fördern, andererseits zur Durchsetzung einer adressatenbezogenen einfachen, „niedrigeren“ Sprache (lat. sermo humilis) in der Literatur und Liturgie führen (vgl. § 6.2.5 zum Markusevangelium). Zu Beginn des 20. Jh.s versuchte Adolf Deißmann (1866–1937) das ursprünglich griechische Wort Epistel als Terminus für diejenigen Briefe zu prägen, die eine „literarische Kunstform“ repräsentieren, d. h. für nicht persönliche Briefe.18 Da sich die ältesten christlichen Briefe von den Lehrbriefen Epikurs oder stoischer Philosophen wie Seneca, aber auch von den fiktiven Kunstbriefen (z. B. Ovids „Liebesbriefe der Heroinen“) ebenso unterscheiden wie von rein privaten Schreiben, setzte sich diese Differenzierung in der frühchristlichen Epistolographie nicht durch. In der Antike wurde das Wort „epistolḗ“ (bzw. „grámmata“) sowohl für literarische als auch für persönliche Briefgattungen benutzt. Auch wir gebrauchen die beiden Ausdrücke synonym.

5.5 Die Intertextualität der Briefe (Voraussetzungen christlicher Theologie) Unter Intertextualität versteht man den gegenseitigen Bezug verschiedener Texte aufeinander. Dieses Phänomen wird besonders in wörtlichen Zitaten und indirekten Anspielungen sichtbar, die einen älteren Text in später entstandenen Texteinheiten wieder aufnehmen, das Verständnis erleichtern sollen oder selbst durch den späteren Text neu interpretiert werden.19 5.5.1

Schriftzitate

 Charles H. Dodd, According to the Scriptures, London 1952; Samuel Amsler, L’Ancien Testament dans l’Église, Neuchâtel 1960; Hans Hübner, Biblische Theologie I (Lit. § 1), bes. 62 ff.

Vor allem die jüdische Literatur, besonders „die Schrift“ (unser Altes Testament, § 2.1.1–5), wurde von Paulus in neuer Weise auf Jesus als den Messias (Christus) 18 19

Vgl. A. Deißmann, Licht vom Osten, Tübingen 41923, 116 ff.194. Vgl. H. Hübner, Biblische Theologie I, 28 ff.

122

5 Die paulinischen Briefe

bezogen (§ 5.11.4b) und in dieser christologischen Deutung zur liturgischen Lektüre der Christen. Die Argumente aus der Schrift unterstützen das Zeugnis von Christus und steigern seine Bedeutung.20 Ein herausragendes Beispiel ist Ps 110,1: „Der Herr (Gott) sprach zu meinem Herrn (König): Setze dich zu meiner Rechten“ – mit 21 Belegen der am häufigsten zitierte bzw. assoziierte alttestamentliche Text im Neuen Testament, der die Bedeutung Jesu Christi aus der jüdischen Schrift bestätigen sollte.21 Paulus argumentierte mit der Schrift22 primär in der Absicht, den christlichen Inhalt seiner Verkündigung zu verdeutlichen (vgl. Abraham in Gal 3 und Röm 4).23 Schriftworte, die geeignet schienen, wurden zusammengestellt (z. B. Röm 3,10–18). Die Verzeichnisse der Schriftzitate, die wir in den kritischen Ausgaben des griechischen Neuen Testaments finden,24 verraten, welche alttestamentlichen Texte in der christlichen Lehre und in Streitgesprächen die beliebtesten waren, bei Paulus vor allem Jesaja (21-mal) und die Psalmen (16-mal). Ähnliche Sammlungen messianischer Texte sind aus Qumran bekannt (4QTest; 4QFlor). Damit wuchs den Schriftzitaten und Anspielungen bei den Christen von der zweiten Generation an noch eine weitere Aufgabe zu: Sie dienten nicht mehr nur der Unterstützung der christlichen Verkündigung, sondern begründeten im außerjüdischen Milieu gleichzeitig die Bedeutung der (alttestamentlichen) Schrift für den christlichen Glauben. 5.5.1.1

Die Septuaginta

Die Septuaginta ist die griechische Übersetzung der jüdischen Bibel, die den Wortschatz und die Vorstellungswelt der ersten Christen geprägt hat (§ 2.1.4). Die Kennt20 Vgl. 1Kor 15,3b–5 („nach den Schriften“); 15,27 (Ps 8,7); Röm 15,3 (Ps 69,10); Ps 15,12 (Jes 11,10). 21 Vgl. Mk 12,36 parr.; 14,62 parr.; Apg 2,34 f.; Röm 8,34; 1Kor 15,25; Kol 3,1; Eph 1,20; Hebr 1,3.13; 8,1; 10,12 f.; 12,2 u. ö.; vgl. M. Hengel, „Setze dich zu meiner Rechten!“ Die Inthronisation Christi zur Rechten Gottes und Psalm 110,1, in: ders., Christologie (Lit. § 5.6.1), 281–367, und zur messianischen Deutung der Psalmen J. Schaper, Eschatology in the Greek Psalter (WUNT II/76), Tübingen 1995. 22 Vgl. U. Heckel, Jer 9,22 f. als Schlüssel für 2.Kor 10–13. Ein Beispiel für die methodischen Probleme in der gegenwär tigen Diskussion über den Schriftgebrauch bei Paulus, in: M. Hengel / H. Löhr (Hg.), Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum (WUNT 73), Tübingen 1994, 206–225, sowie zum Ganzen monographisch D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums (BHTh 69), Tübingen 1986; F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998; F. Watson, Paul and the Hermeneutics of Faith, London 2004. 23 S. § 5.11.1; 5.11.4b; 5.16.5a; zur Rezeption der Abrahamsverheißung als der wichtigsten argumentativ entfalteten Kontinuitätsachse zum Alten Testament in Gal 3 vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 112–159.238–241.350 f. 24 Vgl. die Zusammenstellung bei Nestle / Aland27 im Appendix IV.

5.5 Die Intertextualität der Briefe (Voraussetzungen christlicher Theologie)

123

nis ihrer Schlüsseltexte ist im Neuen Testament vorausgesetzt. Da die Septuaginta mehr Schriften als die hebräische Bibel umfasst, müssen wir auch mit der Kenntnis jener ursprünglich griechisch verfassten Texte rechnen, die in den hebräischen Kanon nicht aufgenommen wurden und aus heutiger Sicht zu den deuterokanonischen (apokryphen) Schriften zählen (z. B. SapSal 3,8 in 1Kor 6,2). Die enge Verbindung mit der jüdischen Bibel ist zu einem konstanten Merkmal der Kirche geworden. Die Septuaginta, d. h. die griechische, nicht die hebräische Version der Schrift, war „die Bibel“ der frühen Christenheit (§ 2.1.4b). In der nachneutestamentlichen Zeit wurde sie zum Alten Testament (§ 2.1.5). Die Kirche brachte die jüdische Bibel im Rahmen ihrer Mission in die ganze damals bekannte Welt, sodass ihre Expansion zugleich indirekt zur Verbreitung der jüdischen Kultur beitrug, für die der ethische Monotheismus und der opferlose Wortgottesdienst in den Synagogen mit Schriftlesung, Auslegung und Gebet typisch waren (§ 2.2.2c). Selbst wenn die ersten Christen aus jüdischer Sicht als Häretiker galten, müssen wir uns ständig vor Augen halten, dass das Christentum eine radikale Neuinterpretation der jüdischen Tradition darstellt.25 5.5.1.2

Griechische (hellenistische) Literatur

Da das hellenistische Judentum an einige Traditionen seiner Umwelt anknüpfte, lässt sich in manchen Fällen offensichtlicher oder vermuteter Intertextualität nur schwer entscheiden, ob ein Zitat bzw. eine Anspielung dem griechischsprechenden Judentum oder der zeitgenössischen griechischen Literatur entnommen ist (§ 2.2). Dies trifft z. B. auf das „Hohelied der Liebe“ (1Kor 13) zu, zu dessen Formulierung Paulus vermutlich durch eine uns unbekannte hellenistisch-jüdische Quelle angeregt wurde (§ 5.12.2). Auch Laster-26 und Tugendkataloge27 können die christlichen Autoren aus der hellenistisch-jüdischen Literatur gekannt haben (z. B. SapSal 8,7), die von hellenistischen Philosophien (z. B. Diog.Laert. 7,110–114) beeinflusst waren (§ 5.11.1; 8.2.4).28 Aus der jüdischen Bibel schöpften die Christen zwar die Grundbegriffe ihrer christologischen Sprache wie z. B. den Christus- oder den Kyrios-Titel (§ 5.6.1.1; 5.6.1.3). Doch beeinflusste die hellenistische Kultur in den späteren Schriften des Neuen Testaments (Lukas, Johannes) auch die Soteriologie und die Gotteslehre, z. B. durch den Titel „sōtḗr“ (Heiland; s. Anm. 77). 25 Dass das Christentum als eine liberale Strömung aus dem Judenchristentum hervorgegangen ist, betont J. Daniélou, Théologie de judéo-christianisme, Paris 1958, 20 etc. 26 Gal 5,19–21 (§ 5.11.1); 1Kor 5,10 f.; 6,9 f. (§ 5.12.5e); 2Kor 12,20 f.; Röm 1,29–31; Kol 3,5; Eph 4,31; 5,3–5 (§ 8.2.4); 1Tim 1,9 f.; 3,2–5; Tit 3,3; 1Petr 2,1; 4,3.15 (§ 8.6.3b); vgl. Mk 7,21 f. par.; Lk 18,11; Apk 9,21; 21,8; 22,15. 27 Gal 5,22 f. (§ 5.11.1); 2Kor 6,6; Phil 4,8; Kol 3,12; Eph 4,2 f.32; 5,12 (§ 8.2.4); 1Tim 4,12; 6,11; 2Tim 2,22; 3,10; 2Petr 1,5–7 (§ 8.6.3b). 28 Vgl. H. D. Betz, Art. Lasterkataloge / Tugendkataloge, RGG4 5, 89–91 (Lit.).

124

5 Die paulinischen Briefe

Bereits Paulus war z. T. mit hellenistischer Literatur vertraut. Vereinzelt zitiert er auch außerbiblische Texte, von denen wir nicht sagen können, ob es sich dabei um ein Zitat aus der Literatur oder um ein literarisch bearbeitetes Sprichwort handelt, das Teil der mündlichen Kultur war. Dies gilt z. B. für die Sentenz „schlechter Umgang verdirbt gute Sitten“ (1Kor 15,33), die der griechische Dichter Menander (342–292 v. Chr.) in einer Komödie (Thais 218) verwendet.29 Solche Dimensionen der Intertextualität zu entdecken, d. h. das Corpus Hellenisticum Novi Testamenti zu rekonstruieren, stellt eine Aufgabe dar, die bisher nur zu einem Teil erfüllt wurde.30

5.6

Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

Die paulinischen Briefe sind zwar die ältesten Repräsentanten christlicher Literatur, aber ihre Lektüre zeigt, dass es zur Zeit ihrer Abfassung schon weit entfaltete mündliche Traditionen gab. Dabei handelt es sich insbesondere um christologische Hoheitstitel, Bekenntnisformeln, Elemente des Gottesdienstes und Jesusworte, die in der Liturgie, Verkündigung und Mission christlicher Gemeinden ihren „Sitz im Leben“ (Exkurs 3) fanden. 5.6.1

Die christologischen Hoheitstitel

 Oscar Cullmann, Christologie des Neuen Testaments (1957), Tübingen 71975; Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitstitel (FRLANT 83), Göttingen 1963; Werner Kramer, Christos Kyrios Gottessohn (AThANT 44), Zürich 1973; Johannes Zimmermann, Messianische Texte aus Qumran. Königliche, priesterliche und prophetische Messiasvorstellungen in den Schriftfunden von Qumran (WUNT II/104), Tübingen 1998; Udo Schnelle / Thomas Söding (Hg.), Paulinische Christologie (FS H. Hübner), Göttingen 2000; William Horbury, Messianism among Jews and Christians, London / New York 2003; Larry W. Hurtado, Lord Jesus Christ, Grand Rapids, MI / Cambridge 2003; Dieter Sänger (Hg.) Gottessohn und Menschensohn (BThSt 67), Neukirchen-Vluyn 2004; Martin Hengel, Studien zur Christologie. KS IV (WUNT 201), Tübingen 2006.

Die Hoheitstitel „Christus“, „Sohn Gottes“ und „Kyrios“ (Herr) enthalten zentrale Aussagen über die Person Jesu. Die Kenntnis dieser bereits aus der mündlichen Überlieferung stammenden Würdeprädikate ist eine unerlässliche Voraussetzung für das Verständnis der Paulusbriefe und der anderen Schriften des Neuen Testaments. 29 Vgl. W. A. Beardslee, Uses of the Proverb in the Synoptic Gospels, Interp. 23 (1970), 61–73; P. Pokorný, Griechische Sprichwörter im Neuen Testament (1994), in: ders. / J. B. Souček, Bibelauslegung (Lit. § 2.1.3), 147–154. 30 Vgl. Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus, hg. von G. Strecker / U. Schnelle, Berlin u. a. 1996 ff.

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

125

Deshalb stellen wir ihre Herkunft und Bedeutung nun für alle weiteren Ausführungen zusammenhängend dar und weisen in den Petit gesetzten Abschnitten auch schon auf die Veränderungen bei den nachpaulinischen Autoren hin. 5.6.1.1

Christus – Messias

 James H. Charlesworth, The Concept of the Messiah in the Pseudepigrapha, ANRW II 19,1, Berlin / New York 1979, 188–218; Martin Karrer, Der Gesalbte (FRLANT 151), Göttingen 1990; Gerbern S. Oegema, Der Gesalbte und sein Volk (SIJD 2), Göttingen 1994; John J. Collins, Jesus and the Messiahs of Israel, in: Geschichte – Tradition – Reflexion (FS M. Hengel) III, Tübingen 1996, 287–302; Martin Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament (GNT 11), Göttingen 1998; Stefan Schreiber, Gesalbter und König (BZNW 105), Berlin u. a. 2000; Martin Hengel / Anna Maria Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie (WUNT 138), Tübingen 2001; Martin Hengel, Erwägungen zum Sprachgebrauch von Christós bei Paulus und in der „vorpaulinischen“ Überlieferung, sowie: Präexistenz bei Paulus?, in: Paulus und Jakobus. KS III (WUNT 141), Tübingen 2002, 240– 261.262–301.

Die mündlich tradierten liturgischen Formeln bestanden vor allem in messianischen Hoheitstiteln, denen eine besondere Bedeutung zukommt.31 „Der Messias“ (hebr. hammāšîach; aram. mešîchā’), griech. Christós, d. h. der Gesalbte, ist der mit Abstand am häufigsten gebrauchte Titel (531-mal, davon 270-mal in den authentischen Paulusbriefen). In ihm kommen die Hoffnungen zum Ausdruck, die mit Jesus wahrscheinlich schon während seines irdischen Lebens verbunden waren, z. B. im Petrusbekenntnis: „Du bist der Christus!“ (Mk 8,29 parr.; vgl. 14,61 f.). Die Bezeichnung leitet sich her vom Salbungsritual mit duftendem heiligem Öl, das den heiligen Geist symbolisiert. Durch die Salbung wird eine Person als der Gesalbte JHWHs für einen besonderen Auftrag auserwählt und unter seinen Schutz gestellt (1Sam 24,7.11). Gesalbt wurden im Alten Testament ursprünglich die Könige,32 nach dem Zusammenbruch des Königtums seit der Exilszeit der Hohepriester,33 gelegentlich auch Propheten34 .35 31

Vgl. die Übersicht von U. Schnelle, Heilsgegenwart. Christologische Hoheitstitel bei Paulus, in: U. Schnelle / Th. Söding (Hg.), Paulinische Christologie, 178–193, die paulinische Gesamtdarstellung von J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 163–315, und für die Christologie jetzt grundlegend L. W. Hurtado, Lord Jesus Christ, hier bes. 98–134. 32 Vgl. Saul (1Sam 9,16; 10,1; 15,1.17), David (1Sam 16,6.12 f.; 24,7.11) und Salomo (1Chr 29,22) sowie Ps 2,2; 18,51 u. ö. Darüber hinaus wird sonst nur der Perserkönig Kyros in Jes 45,1 als Gesalbter bezeichnet. 33 Lev 4,3.5.16; 6,15; 1Chr 29,22; vgl. die beiden „Ölsöhne“ in Sach 4,12.14. 34 Vgl. Elia (1Kön 19,15 f.), aber auch Jes 61,1 (§ 6.4.5.3b). 35 Diese drei Ämter wurden in der altprotestantischen Orthodoxie (16. Jh.) in der Lehre vom dreifachen Amt Christi systematisiert; vgl. A. M. Schwemer, Jesus Christus als Prophet, König und Priester. Das munus triplex und die frühe Christologie, in: M. Hengel / dies., Der

126

5 Die paulinischen Briefe

Ein messianischer König wurde von den Schriftpropheten in großartigen Verheißungen angekündigt, die dessen Herrschaft als ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit in Aussicht stellen.36 Der „Friede“ (šalôm) bezeichnet nicht nur die Abwesenheit von Gewalt und Krieg, sondern ist ein Ausdruck der Ganzheit, der Unversehrtheit, des Wohlergehens, des Heilseins. Dieser Friede schließt Recht und Gerechtigkeit für alle Bewohner des Landes ein. Die Hoffnung auf einen messianischen Heilsbringer konnte auch ohne den Gesalbtentitel ausgedrückt werden (s. Anm. 36). Da der Messias nach den prophetischen Verheißungen aus der Dynastie Davids stammen sollte37 und für den Thron Davids bestimmt war,38 galt die Davidssohnschaft, d. h. die Herkunft aus dem Geschlecht Davids, als wichtiges Erkennungsmerkmal.39 Nach dem Exil richtete sich die messianische Hoffnung immer mehr auf den „Gesalbten des Herrn“ (PsSal 17,32) als eine künftige Heilsgestalt, die das Reich Davids wiederherstellen und die religiöse und nationale Integrität Israels erneuern sollte. Die jüngere Forschung hat gezeigt, dass in neutestamentlicher Zeit keine einheitliche jüdische Messiaserwartung (Messiasdogmatik) existierte, sondern es nur eine breite Vielfalt eschatologischer und messianischer Hoffnungen gab, wie sie vor allem in PsSal 17 f. (1. Jh. v. Chr.)40 und mehreren Qumrantexten erhalten sind.41 messianische Anspruch, 165–230, weiter K. Bornkamm, Christus – König und Priester. Das Amt Christi bei Luther im Verhältnis zur Vor- und Nachgeschichte (BHTh 106), Tübingen 1998. 36 Vgl. Jes 9,1–6 (Verheißung des Friedefürsten, der durch Recht und Gerechtigkeit regiert); 11,1–10 (Vision des Friedensreichs); Mich 5,1–5 (Friedensherrscher aus Bethlehem); Sach 9,9 f. („Tochter Zion ... dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer ... auf einem Esel“); Jer 23,5 (Verheißung eines gerechten Königs), aber auch Gen 49,10 (Zepter, Stab, Held aus Juda); Num 24,17 (Stern aus Jakob); 2Sam 7 (Verheißung für David und sein Königtum durch den Propheten Nathan); Am 9,11 (Prophezeiung der Wiederherstellung der zerfallenen Hütte Davids). 37 Vgl. Jes 11,1.10 (ein Reis aus Davids Stamm); Jer 23,5 (Spross Davids); Mi 5,1 (Bethlehem als Herkunftsort der Sippe Davids), aber auch die Verheißung eines Nachkommen für David durch Nathan (2Sam 7,12 f.). 38 Vgl. Jes 9,6 (Thron Davids); Jer 23,5 (Spross Davids als König); Hes 34,23 f.; 37,24 (Verheißung eines einzigen Hirten als Knecht Davids); Mi 5,1 (Herrscher in Israel aus Bethlehem) sowie das Nathansorakel (2Sam 7,11–16). 39 Röm 1,3 („aus der Nachkommenschaft Davids nach dem Fleisch“); Mk 10,47 (Heilung des blinden Bartimäus); 12,35–37 (Jerusalemer Streitgespräch; § 6.2.7.1). 40 Dieser für die Messianologie wichtige Text ist, obwohl er nicht zur Septuaginta gehört (§ 2.1.4c), abgedruckt in der Ausgabe von A. Rahlfs, Bd.2, 486 ff.; zur Übersetzung vgl. S. Holm-Nielsen, JSHRZ 4, 1977, 97 ff.; J. H. Charlesworth, OTP 2 (Lit. § 12b), 665 ff., in Auszügen auch C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte (Lit. § 12e), 380–382. 41 1QSb 5,24–28; 4Q161; 4Q285 5; 4Q174 III 10–13; 4Q252 1 V; 4Q246 II; 4Q375; 4Q376; 11QMelch (11Q13); 4Q521 2 II; 4Q175 u. a.; vgl. grundlegend J. Zimmermann, Messianische Texte aus Qumran, bzw. zur Einführung ders., Messiaserwartungen in den Schriftfunden von Qumran, ThBeitr 31 (2000), 125–144, ferner G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 462–470,

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

127

Ob und inwieweit Jesus selber einen messianischen Anspruch oder ein messianisches Bewusstsein vertreten hat, ist in der Exegese des 20. Jh.s besonders seit Rudolf Bultmann (1884–1976) sehr umstritten. Der Messiastitel fehlt zwar in der Logienquelle, was auf seine geringe Bedeutung in der ersten Zeit hindeuten könnte (§ 6.1.5.3). Aber die Kreuzesinschrift zeigt, dass Jesus als „der König der Juden“, d. h. als messianischer Aufrührer, hingerichtet wurde (Mk 15,26; § 6.2.7.1).42 Nach Ostern erhielt der Christus-Titel durch das Bekenntnis „Jesus ist der Messias“ einen formelhaften Charakter (Apg 9,22; 1Joh 5,1). Diese Würdebezeichnung wurde in den paulinischen Gemeinden schon bald zum bloßen Eigennamen,43 obwohl Paulus auch noch auf die ursprüngliche Bedeutung des Salbens anspielen konnte (chríein; 2Kor 1,21 f.).44 Jesus selber stand dem machtpolitisch apokalyptisch-übernatürlich geprägten Titel (PsSal 17,32; 4Esr 7,26)45 während seines irdischen Lebens zurückhaltend gegenüber,46 doch gewann die Bezeichnung „Christus“ durch die Verbindung mit seinem Leiden47 eine neue Bedeutung (§ 1.3.3). Angesichts der sehnsüchtigen Erwartung auf eine machtvolle Heilsgestalt wie in PsSal 17 f. musste der „gekreuzigte Messias“ für Juden zum höchsten Ärgernis werden (1Kor 1,23; Gal 5,11). In den synoptischen Evangelien kann das Geheimnis der Messianität Jesu bei Markus erst vom Kreuzestod und dem Auferstehungszeugnis her in seiner ganzen Tragweite erkannt werden (§ 6.2.7.4–5). Lukas charakterisiert Jesus in seiner programmatischen Antrittspredigt (Lk 4,18) durch das Zitieren der Aussage über die Geistsalbung aus Jes 61,1 f. als messianischen Propheten der Endzeit (§ 6.4.5.3b). Matthäus arbeitet vor allem die gewaltlos friedlichen und barmherzig heilenden Züge dieses messianischen Davidssohns heraus (§ 6.3.3.1). Johannes ist der einzige neutestamentliche Autor, der den hebräischen Messiastitel in griechischer Umschrift („Messías“) als Übersetzungsvorlage für das Christusprädikat erwähnt (Joh 1,41; 4,25). Er knüpft bei den alttestamentlich-jüdisch geprägten messianischen Erwartungen an den „König Israels“ an,48 distanziert sich aber von den politisch-militärischen Zügen irdischer Herrschaft. Durch die Dreisprachigkeit der Kreuzesinschrift (19,20; § 6.2.7.1) hebt Johannes die Universalität des Königtums Jesu hervor, das nicht von dieser Welt ist und den informativen Gesamtüberblick von W. Horbury, Messianism in the Old Testament Apocrypha and Pseudepigrapha, in: ders., Messianism, 35–64. 42 Vgl. zur Forschungsgeschichte M. Hengel / A. M. Schwemer, Der messianische Anspruch, IX–XIV.17–37.166–170, zur Kreuzigung 45–63.76 f.133–163, zum Diskussionsstand und zur Quellenlage W. Horbury, Messianism, 1–21. 43 Dies betont M. Hengel, Erwägungen zum Sprachgebrauch von Christós bei Paulus, 240–261 (Lit.). 44 Die Salbung der Könige und Priester sowie die messianische Bedeutung Jesu bilden auch den Hintergrund, wenn die Glaubenden in 1Petr 2,9; Apk 1,6 auf ihre königlich-priesterliche Würde angesprochen werden. 45 Vgl. J. H. Charlesworth, The Messiah, 216–218. 46 Vgl. z. B. die Frage nach der kaiserlichen Steuer (Mk 12,13–17). 47 Gal 2,21; vgl. Mk 8,29–33; 14,61 f. 48 Joh 1,49; 6,15; 12,13; 18,33 ff. (§ 6.2.7.1).

128

5 Die paulinischen Briefe

(18,36; § 7.1.5.1e). Das messianische Königtum Jesu besteht nicht in irdischer Macht (wie für zelotische Zeitgenossen mit ihren Aufständen), sondern im Offenbarungshandeln, das die göttliche Wahrheit für diese Welt bezeugt (18,37; vgl. 14,6).

Eine zentrale Bedeutung erhielt der Christus-Titel durch die für Paulus typischen Wendungen „mit Christus“ (sýn Christṓ) und „in Christus“ (en Christṓ). Der erste Ausdruck (sýn Christṓ) bezeichnet die Gemeinschaft und Verbundenheit „mit Christus“, die im ewigen Leben bevorsteht, aber schon im gegenwärtigen Leiden mit ihm erfahren und durch die Taufe auf seinen Namen eröffnet wird.49 Die zweite Formulierung (en Christṓ) besagt, dass ein Mensch zu Christus gehört, im Herrschaftsbereich Christi lebt und in seiner ganzen Existenz durch das Christusgeschehen bestimmt ist.50 Beide Wendungen gebraucht Paulus, um die Identität und Komplexität der christlichen Existenz im Zeichen des durch Christus geschenkten Heils auszudrücken. Der Würdetitel „Christus“ musste schon zum Eigennamen geworden sein, als die Sympathisanten der jungen messianischen Gemeinde in Antiochien „Christianer“ (Christianoí) genannt wurden (Apg 11,26)51 – analog zu der latinisierenden Namensform für personengebundene politische Parteien wie die Caesariani, Pompeiani oder im Neuen Testament die Herodianer (Hērōdianoí).52 In den Johannesbriefen ist dieser Eigenname bereits zum Programm geworden, da die Irrlehrer als „Antichristen“ bezeichnet werden, d. h. als Gegner des Messias, weil sie die Messianität Jesu leugnen (1Joh 2,18.22) und seine Inkarnation bestreiten (1Joh 4,2 f.; 2Joh 7; § 7.1.7). 5.6.1.2

Sohn Gottes

 Petr Pokorný, Der Gottessohn (ThSt 109), Zürich 1971; Martin Hengel, Der Sohn Gottes, in: ders., Christologie (Lit. § 5.6.1), 74–145 (urspr. Tübingen 1975; 21977).

49 P. Siber, Mit Christus leben (AThANT 61), Zürich 1971, bes. 94–97.188–190.247– 249.251–258, differenziert zwischen den futurischen Aussagen über die künftige Gemeinschaft des ewigen Lebens und Seins mit Christus (1Thess 4,14.17; 5,10; 2Kor 4,14; 13,4; vgl. 1Kor 6,14; Röm 8,11; Phil 1,23), den präsentischen Ausdrücken der gegenwärtigen Leidensgemeinschaft und Auferstehungshoffnung mit Christus (Phil 3,10 f.20 f.; Röm 8,17; vgl. 2Kor 13,4) und den Vergangenheitsaussagen, nach denen die Glaubenden durch den Herrschaftswechsel bei der Taufe (§ 5.6.2.2d) mit Christus den Unheilsmächten der Sünde und des Todes abgestorben sind (Röm 6). 50 Vgl. z. B. Röm 8,1; 1Kor 1,30; 15,22; 2Kor 5,17; Gal 3,26–29 (vgl. auch Joh 6,56; 14,20; 15,4 ff.; 17,23; 1Joh 3,6.24); s. Anm. 129 ff.; vgl. F. Neugebauer, In Christus, Berlin 1961, bes. 147–149. 51 Vgl. Apg 26,28; 1Petr 4,16. 52 Mk 3,6; 12,13 par. Mt 22,16; vgl. M. Hengel, Christós (s. Anm. 43), 240–261; M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 311 f.340–351.

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

129

In mehreren Bekenntnissen findet sich anstelle des Messiasprädikats (§ 5.6.1.1) der Titel „Sohn Gottes“.53 Auch dieser Titel hat alttestamentliche Wurzeln,54 doch war er ebenso im heidnischen Milieu verständlich. Im Vergleich mit anderen Christus-Prädikaten begegnet der Sohn-Gottes-Titel im Neuen Testament nicht sehr häufig, dafür an zentralen Stellen (15-mal bei Paulus; insgesamt 105-mal). Paulus erwähnt ihn schon bei seiner Berufungsvision (Gal 1,16). Einen Schwer punkt hat dieser Würdetitel im Römer- (7-mal) und Galaterbrief (4mal) innerhalb der Sendungs-55 und Hingabeformeln.56 Die Sendungsformel bringt die göttliche Sendung zum Ausdruck, setzt die Präexistenz Christi als Gottessohn bereits vor der Inkarnation bzw. vor aller Zeit voraus57 und stellt die Geschichte Jesu in einen kosmischen Rahmen. Sie deutet an, dass es sich um ein Geschehen handelt, das der umfassenden Absicht Gottes entspricht. In der Hingabeformel wurde die Gottessohnschaft schon früh mit der Hingabe Jesu in seinem Tod und mit dessen stellvertretender Bedeutung „für uns“ verknüpft.58 Außerdem wird Christus als der Sohn Gottes bei seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten erwartet (1Thess 1,10; vgl. 1Kor 15,28). Nach Röm 1,3 f. wurde Jesus als „Nachkomme Davids nach dem Fleisch“, d. h. als messianischer Davidide (§ 6.2.7.1), geboren59 und durch die Auferstehung zum „Sohn Gottes“ eingesetzt. Die Ausdrucksweise erinnert an die Verheißung eines Nachkommen für David, der nach der Ankündigung des Propheten Nathan Gottes „Sohn“ sein soll (2Sam 7,12–14), sowie an die Inthronisation des gesalbten Königs in Ps 2,7.60 In Röm 1,3 f. ist es in der Forschung weitgehend anerkannt, dass es sich um eine alte Formel handelt, die wegen ihres für Paulus untypischen Wortgebrauchs schon aus der vorpaulinischen Tradition übernommen wurde.61 Sie stellt den Anfang des Nachdenkens über die Ostererfahrung dar, die den himmlischen Messias („Sohn Gottes in 53

Röm 1,3 f.; 1Thess 1,9 f.; vgl. Mt 16,16; Mk 14,61 par.: „Sohn des Hochgelobten“ (§ 6.2.7.3). 54 Vgl. besonders die Nathansverheißung eines Nachkommen für David in 2Sam 7,14 (zitiert in 4Q174 III 10–13) sowie die Inthronisation in Ps 2,6–8; 4Q246 II 1; vgl. auch Ps 89,27. 55 Röm 8,3; Gal 4,4; Joh 3,16 f.; 1Joh 4,9 f. 56 Röm 8,32; Gal 2,20; Joh 3,16 (s. Anm. 89); vgl. darüber hinaus die Identifikationsaussagen in Apg 9,20 (Bekehrung des Paulus); Mt 16,16 (Petrusbekenntnis); Mk 1,11 parr. (Taufe Jesu; s. Anm. 103; § 6.2.7.3). 57 Vgl. auch Phil 2,6 (§ 5.14.5); 1Kor 8,6; 2Kor 8,9. 58 Röm 8,3 f.32; Gal 2,20; vgl. 4,4 f.; Joh 3,16 f. (s. Anm. 87). 59 Vgl. in Röm 15,12 das Zitat aus Jes 11,10: „der Spross aus der Wurzel Isais“, des Vaters Davids. 60 Die Formel in Röm 1,3 f. sollte nicht adoptianisch genannt werden, weil diese aus der späteren Dogmengeschichte stammende Charakterisierung ein Anachronismus wäre; es gab damals keine bessere, theologisch konsequenter reflektierte und in den meisten christlichen Gruppen bekannte Formulierung, um die Bedeutung Jesu zu kennzeichnen. 61 Vgl. E. Lohse, KEK 4, 64.

130

5 Die paulinischen Briefe

Macht“) mit dem gekreuzigten Jesus („Nachkomme Davids nach dem Fleisch“) identifizierte (§ 5.6.2.1). Der irdische Davidssohn war kein anderer als der auferstandene Gottessohn. Daher wird der „Sohn Gottes“ im Neuen Testament zum wichtigsten Jesustitel.62 In der narrativen Tradition der Evangelien wurde die Gottessohnschaft später zum zentralen christologischen Titel. Dass Jesus der Sohn Gottes ist, wird im Markusevangelium am Anfang bei der Taufe durch die Himmelsstimme kundgetan (Mk 1,9–11; § 5.6.2.2c) und am Ende durch den heidnischen Hauptmann am Kreuz bekenntnisartig ausgesprochen (Mk 15,39; § 6.2.7.3). Einen wesentlichen Ausgangspunkt bildete die aramäische Gottesanrede „Abba“ (Vater), mit der Jesus sich in seinem einzigartigen Gottesverhältnis in Gethsemane an den himmlischen Vater gewandt hat (Mk 14,36 [§ 6.2.7.5]; vgl. das Vaterunser Lk 11,2 Q [§ 6.3.4.3b]). Dieses aramäische Fremdwort übernahm Paulus für die griechischsprechenden Missionsgemeinden als geistgewirktes Zeichen, dass der Sohn durch diesen Gebetsruf auch die Glaubenden zu Söhnen bzw. Kindern Gottes macht (Röm 8,3.14–21; Gal 4,4–7).63 Bei Johannes wird der Sohn Gottes zum entscheidenden christologischen Hoheitstitel, der die Einzigartigkeit Jesu beschreibt (Joh 3,18; vgl. 1,14.18). Die Gottessohnschaft übertrifft die messianischen Erwartungen an Jesus als den wahren König Israels.64 Inhaltlich wird die Vorstellung vom Sohn Gottes mit dem Gedanken der Sendung durch Gott (3,16 f.) verbunden, der die Präexistenz einschließt (s. Anm. 55). Der Gottessohntitel demonstriert die vollkom mene Handlungs-, Offenbarungs- und Wesenseinheit mit dem göttlichen Vater (10,30; 17,11.21–23; § 7.1.5.1e). Der Hebräerbrief (1,5) setzt gleich zu Beginn in seiner christologischen Grundlegung mit der Gottessohnschaft Jesu ein und begründet diese mit den Zitaten von der Inthronisation in Ps 2,7 und der Nathansverheißung in 2Sam 7,14, um die einmalige Bedeutung Jesu allen anderen Engelsgestalten gegenüber hervorzuheben (Hebr 1,2.8; 2,5–3,6). Als Sohn Gottes ist Jesus der wahre Hohepriester, der durch seine Erniedrigung die Erfahrung der Versuchung im Leiden mit allen Glaubenden geteilt hat. Nur deshalb vermag er die Menschen durch sein Opfer ein für alle Mal zum himmlischen Heiligtum zu führen (2,14–18; 3,6; 5,8; 7,28; § 8.5.3b).65

In allen diesen Texten meint die Gottessohnschaft nicht in einem physischen Sinn die göttliche Abstammung Jesu, sondern seine intensivierte Zuordnung durch eine „sohnhafte“ Bindung an Gott als Vater. Erst bei Lukas und Matthäus wird in einem leiblichen Sinn die Gottessohnschaft durch die Jungfrauengeburt verkündet (§ 6.3.3.3d; 6.4.5.3a). Im Johannesevangelium (§ 7.1.5.1e) wird sie in der Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft (§ 5.6.2.4) schon vor der Erschaffung der Welt voraus62

Vgl. M. Hengel, Sohn Gottes, 78–83.118–125; A. Labahn / M. Labahn, Jesus als Sohn Gottes bei Paulus, in: U. Schnelle / Th. Söding (Hg.), Paulinische Christologie, 97–120. 63 Vgl. immer noch J. Jeremias, Abba, Göttingen 1966; vgl. M. Hengel, Abba, Maranatha, Hosanna und die Anfänge der Christologie, in: ders., Christologie (Lit. § 5.6.1), 496–534. 64 Joh 1,34.49; 10,24–30; 11,27; 20,31 u. ö. (vgl. Anm. 48). 65 Vgl. K. Backhaus, Gott als Psalmist. Psalm 2 im Hebräerbrief, in: D. Sänger (Hg.), Gottessohn, 198–231.

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

131

gesetzt. Die zentrale Bedeutung der Gottessohnschaft hat Konsequenzen für die christliche Gotteslehre: Denn wenn (z. B. im interreligiösen Dialog) nach dem Gottesbild gefragt wird, so ist nach dem Zeugnis des Neuen Testaments die Theo-logie (im engeren Wortsinn) nicht von der Christologie zu trennen. Nicht nur Jesus ist mit Gott verbunden wie ein „Sohn“ mit seinem Vater. Auch Gott wird zum „Vater“ erst durch den Sohn. 5.6.1.3

Herr – Kyrios

 Wilhelm Bousset, Kyrios Christos, Göttingen 51965; Gottfried Quell / Werner Foerster, Art. kýrios, ThWNT III, 1038–1098; Martin Rösel, Adonaj – Warum Gott „Herr“ genannt wird (FAT 29), Tübingen 1999.

Der Titel „Herr“ (griech. kýrios; hebr. ’ādôn; aram. māre’) war ursprünglich das Wort, das man in den griechischsprechenden Synagogen seit dem 3. Jh. v. Chr. bei der Schriftlesung anstelle des Tetragramms „JHWH“, d. h. des Namens Gottes, aussprach (hebr. qere’ = „das zu Lesende“ statt ketīb = „das Geschriebene“).66 Durch diesen spezifischen Wortgebrauch erhielt der Kyriostitel dieselbe Funktion wie der Name Gottes, der „der Name über alle Namen“ ist (Phil 2,9–11; § 5.14.5). Seine Übertragung auf Jesus67 war für Juden unerhört, für Christen aber durch seine Verwendung in Ps 110,1 legitimiert, da dort der von JHWH beauftragte messianische König Israels als „Herr“ (kýrios) bezeichnet wird (s. Anm. 21). Der Kyriostitel erscheint im Neuen Testament (719-mal, davon 189-mal bei Paulus) noch häufiger als der Christustitel. Im Unterschied zum Christusprädikat wird er aber nicht zum Eigennamen (s. Anm. 43), sondern bleibt eine Würdebezeichnung (468-mal für Jesus und – vor allem im Kontext von Schriftzitaten – 156-mal für Gott). In den christlichen Gemeinden wurde der Titel „Herr“ für Christus schon sehr früh im aramäischen Milieu verwendet. Im apokalyptisch ausgerichteten Gebetsruf „Marana tha“ (Unser Herr, komm!; 1Kor 16,22; Did 10,6)68 hat er beim Herrnmahl (s. Anm. 183) seinen ursprünglichen Sitz im Leben, wie der Abschluss der Abendmahlsüberlieferung in 1Kor 11,26 „bis er kommt“ und die griechische Übersetzung in Apk 22,20b zeigen: „érchou kýrie Iēsoú“ (Komm, Herr Jesu!).69 Dieser aramäische Aufruf war den griechischsprechenden Adressaten in Korinth ohne Überset66

Vgl. M. Rösel, Adonaj – Warum Gott „Herr“ genannt wird, bes. 1–15.222–230. Vgl. z. B. auch Joël 3,5 in Röm 10,12 f. oder Jer 9,22 f. in 1Kor 1,30 f.; 2Kor 10,17 und Ps 24,1 in 1Kor 10,26. 68 Zum Problem der Worttrennung vgl. M. Hengel, Abba, Maranatha (s. Anm. 63), 499.501.512–522, im Anschluss an J. A. Fitzmyer, New Testament Kyrios and Maranatha and their Aramaic Background, in: To Advance the Gospel, New York 1981, 218–236 (223 ff.). 69 Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 220–223. 67

132

5 Die paulinischen Briefe

zung vertraut. Mit diesem Gebet wandte sich die Gemeinde bei ihrer Mahlfeier an Jesus als den erhöhten Herrn und wünschte seine baldige endzeitliche Wiederkunft herbei.70 Die Tatsache, dass Jesus durch das Maranatha in einem Gebetsruf selber als Kyrios angesprochen wurde, bezeugt indirekt den tiefen Einschnitt, den das Ostergeschehen darstellte. Im Judentum wäre diese Anrede noch undenkbar gewesen. Damit ist der Titel, der bisher Gott selber vorbehalten war, schon in den ältesten vorpaulinischen Formeln zum Inhalt des christlichen Bekenntnisses geworden, das den auferstandenen und erhöhten Jesus Christus als „Herrn“ anruft (Phil 2,11; Röm 10,9; 1Kor 12,3). Diese völlig neuartige Verwendung des Kyriostitels wird durch das Bekenntnis zu dem „einen Gott, dem Vater, ... und dem einen Herrn, Jesus Christus,“ in 1Kor 8,6 bestätigt. Mit dieser Bekenntnisformel wird das „Šema‘ Jśrāel“ („Höre Israel“), das jüdische Grundbekenntnis aus Dtn 6,4 zur Einzigkeit JHWHs, christologisch modifiziert.71 Auch in einem stärker hellenistischen Milieu fand der Titel „kýrios“ seinen Platz in der gottesdienstlichen Akklamation (1Kor 12,3; Röm 10,9).72 Neben dem erhöhten Christus konnte Paulus auch den irdischen Jesus als „Kyrios“ bezeichnen, wenn er Jesuslogien als „Wort des Herrn“ einführt.73 Diese Redeweise zeigt, dass das, was der irdische Jesus gesagt hat, jetzt die Autorität des erhöhten Herrn beansprucht. Zudem beeinflusste der Kyriostitel das Selbstverständnis des Paulus: Durch diesen Herrn begriff er seine apostolische Existenz als die eines „Knechts Christi“ (Gal 1,10; Röm 1,1 u. ö.). 5.6.1.4

Menschensohn

Wahrscheinlich kannte Paulus auch die apokalyptische Bezeichnung „Menschensohn“ (§ 6.2.7.2). Sie kommt in der synoptischen Überlieferung als Titel Jesu vor (z. B. Lk 12,8 Q), war in der griechischsprechenden Welt aber unverständlich. Paulus verwendete diese Bezeichnung nicht, kann sie jedoch neu interpretiert haben durch den Vergleich Jesu (Mk 14,61 f.) mit dem zweiten, neuen, letzten Adam, der vom

70

Apk 22,20b; vgl. 1Kor 11,26; 1Thess 1,10. Vgl. Eph 4,5; Joh 20,28 (§ 7.1.5.1e); vgl. zu 1Kor 8,6 den Exkurs bei Ch. Wolff, ThHK 7, 172–176, sowie O. Hofius, Paulusstudien II (Lit. § 5), 167–180.181–192. 72 Vgl. W. Kramer, Christos Kyrios Gottessohn, 99. Gegen die Annahme, dass es sich um zwei unabhängige Wurzeln des Kyrios-Titels handelt – eine aramäisch-apokalyptische und eine griechisch-präsentische (so F. Hahn, Hoheitstitel, 109 f.) –, spricht die Tatsache, dass auch in dem aramäischen Bittruf Maranatha die präsentische Erhöhung Jesu vorausgesetzt ist: Er ist zum Adressaten der Gebete geworden, er ist durch das Gebet erreichbar. 73 1Thess 4,15; 1Kor 7,10.12.25; 9,14; 11,23 (§ 5.6.5.2b). 71

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

133

Himmel gekommen ist (1Kor 15,45–47; Röm 5,14 f.).74 Der hier vermutete Zusammenhang mit dem Menschensohntitel bleibt allerdings hypothetisch.75 5.6.1.5

Die Bedeutung der christologischen Titel

Die christologischen Titel sind die elementarsten Ausdrücke der Bedeutung Jesu, die man in unterschiedlichen theologischen Entwürfen benutzte. Da sie alle dem jüdischen Milieu entstammen, waren einige der heidnischen Umwelt unverständlich. Dies gilt neben der Bezeichnung Menschensohn vor allem für den Christustitel, der jedoch schon bald wie ein Eigenname verwendet wurde (s. Anm. 43). Als Funktionsbezeichnungen durchgesetzt haben sich die Titel „Sohn Gottes“ und „Herr“, die auch im heidnischen Milieu eine positive Bedeutung hatten. Hinzugekommen ist in der zweiten und dritten Generation noch ein weiterer Titel: „Heiland, Retter“ (sōtḗr). Dieser besitzt zwar ebenfalls einen hebräischen Hintergrund (ješû‘āh = Hilfe, Heil, Rettung),76 war aber erst recht aus der heidnischen Religion und der politischen Ideologie bekannt. Mit diesem Titel wollten Lukas und der Verfasser der Pastoralbriefe in einer hellenistischen Umgebung die soteriologische Bedeutung Jesu verständlich machen.77 Johannes hebt seine universale Gültigkeit hervor: Jesus ist „der Retter der Welt“ (ho sōtḗr toú kósmou).78 Die Hoheitstitel sind die auffälligste Gemeinsamkeit zwischen dem narrativen Teil des neutestamentlichen Kanons (den Evangelien) und den Briefen. Sie bringen die Bedeutung Jesu in drei unterschiedlichen Relationen zum Ausdruck, die bei allem Eigengewicht jedoch nicht auseinander gerissen werden dürfen, wie die massive Häufung in Röm 1,1–7 zeigt: – Als „Christus“ ist er der von Gott Gesalbte, der alttestamentlich verheißen war und als Messiasprätendent gekreuzigt wurde. Deshalb ist er ebenso Inhalt des Evangeliums (Gal 1,7; Röm 15,19 u. ö.) wie Gegenstand des Glaubens (Gal 2,16 u. ö.). – Als „Sohn Gottes“ ist er durch seine unverwechselbare Relation zum göttlichen Vater bestimmt. Daraus wird in den Sendungs- und Hingabeformeln (s. Anm. 55 ff.) seine einmalige Legitimation und Heilsmittlerschaft abgeleitet. – Als „Herr“ (kýrios) ist er durch seine göttliche Stellung und Vollmacht in einzigartiger Weise den Menschen übergeordnet, doch kann dieses Würdeprädikat (ähnlich wie später der „Heiland“) durch die Verbindung mit einem Possessivpro-

74

Vgl. auch 1Thess 1,10; 4,16; Phil 3,20 mit Dan 7,13 f. sowie 1Tim 2,5 f. mit Mk 10,45. Vgl. O. Cullmann, Christologie, Teil II,2; P. Stuhlmacher, Theologie 1 (Lit. § 1), 293. 76 Vgl. bei der Geburt Jesu Lk 2,11 mit Mt 1,21 (§ 6.3.3.4). 77 Vgl. Lk 2,11 (Weihnachtsgeschichte); Apg 5,31; 13,23 und 2Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6, aber auch schon Phil 3,20 und Eph 5,23 (§ 6.4.5.3c). 78 Joh 4,42; 1Joh 4,14; vgl. Joh 3,16 f. (§ 7.1.5.1a). 75

134

5 Die paulinischen Briefe

nomen eine persönliche Färbung erhalten: mein Herr, unser Herr (z. B. Phil 3,8; 1Thess 1,3 u. ö.). 5.6.2

Traditionsformen der Liturgie, Mission und Katechese

 Martin Rese, Formeln und Lieder im Neuen Testament, VF 2 (1970), 75–95; Klaus Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums (StNT 5), Gütersloh 1972; Klaus Berger, Formen und Gattungen (UTB), Tübingen u. a. 2005; Detlef Häußer, Christusbekenntnis und Jesusüberlieferung bei Paulus (WUNT II/210), Tübingen 2006.

Ebenso wie die Hoheitstitel gehören auch die formelhaften Überlieferungen, die in Gottesdienst und Unterweisung verwendet wurden, zu den Voraussetzungen, ohne deren Darlegung sich die Paulusbriefe und die übrigen neutestamentlichen Schriften nicht behandeln lassen. Eine weitreichende theologische Reflexion setzen die liturgischen Formeln voraus: Bekenntnisse wie die Pistisformel (1Kor 15,3b–5; § 5.6.2.1) oder die Sohnesformel (Röm 1,3 f.; s. Anm. 59), Akklamationen, d. h. bekenntnishafte Anrufungen wie „Jesus der Herr“ (1Kor 12,3b; § 5.6.1.3), Hymnen (§ 5.6.2.4),79 Eingangsgruß und Schlusssegen des Briefformulars (§ 5.7b), Fluchformeln (1Kor 16,22: Anathema) sowie kurze Gebete (z. B. Maranatha; s. Anm. 68). 5.6.2.1

Die Pistisformel in 1Kor 15,3b–5: Tod und Auferstehung Jesu

Die messianischen Titel, die dem gekreuzigten Jesus verliehen wurden, drücken das einmalige Phänomen der christlichen Endzeiterwartung aus, nämlich die Verdoppelung bzw. Spaltung der Eschatologie, die zwischen dem bereits erfolgten Anbruch der Endzeit und der noch ausstehenden Vollendung differenziert (§ 5.10.3). Die eschatologischen Erwartungen, die die Christen aus der jüdischen Tradition übernommen hatten, waren zwar nicht in Erfüllung gegangen, das Ende der Zeiten war noch nicht gekommen und das von den Propheten verheißene messianische Reich noch nicht angebrochen (s. Anm. 36 ff.). Aber die Christen sahen in Jesus von Nazareth den Messias, mit dessen Auftreten der neue Äon bereits begonnen hat.80 Dieses relativ komplizierte Bild des Heilsgeschehens setzte sich in der Kirche gegen andere Entwürfe durch (geistige Gegenwart des Heils, Naherwartung), weil es am besten geeignet war, als gemeinsames Fundament für die unterschiedlichen Ostererfahrungen der Schüler Jesu zu dienen. In den Erscheinungen des Auferstandenen hatten 79

Phil 2,6–11 (§ 5.14.5), vgl. ferner 1Tim 3,16 (§ 6.4.5.3f); Kol 1,15–20 (§ 8.2.5); Joh 1,1– 18 (§ 7.1.5.1a). 80 Dieses Phänomen, das heute als teleskopische Eschatologie charakterisiert wird, hat der Prager Neutestamentler J. B. Souček aufgewiesen. Belege bei P. Pokorný, In Honor of Josef B. Souček (1992), zuletzt in: ders. / J. B. Souček, Bibelauslegung (Lit. § 2.1.3), 13–23, hier 13 f.; vgl. auch O. Cullmann, Christologie, Kap. II,1,3.

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

135

sie erfahren, dass Jesus nicht mehr tot war, sondern lebt und ihnen weiterhin verbunden ist.81 Diese grundlegenden Gemeinsamkeiten wurden durch Formeln ausgedrückt, die sich rasch verfestigten. Weit verbreitet war schon vor Abfassung der Paulusbriefe die Pistisformel, die die für den christlichen Glauben konstitutiven Aussagen bündelte. Die Pistisformel aus 1Kor 15,3b–5 muss jedem Leser des 1. Korintherbriefs auffallen, weil sie von Paulus ausdrücklich als älteres Gut eingeführt wird und ihre Überlieferung in V.1–3a über drei Etappen der mündlichen Tradition zurückverfolgt werden kann: „... was ich empfangen (habe) ... habe ich euch weitergegeben (verkündigt) ..., das ihr angenommen habt.“ Diese – vermutlich auf die Jerusalemer Urgemeinde zurückgehenden – Glaubensaussagen haben als ökumenische Basis mehrerer christlicher Gruppen in 1Kor 15,1–11 eine weitreichende Bedeutung: „Es seien nun ich oder jene, so verkündigen wir (alle), und so habt ihr geglaubt“ (V.11; § 5.12.5a). Die Pistisformel aus 1Kor 15,3b-5 enthält zwei Aussagen über die Bedeutung Jesu, die zunächst unabhängig voneinander überliefert wurden, in der Sache aber unlösbar zusammengehören: 82 Das eine Element ist die Auferstehungsverkündigung, „dass Christus von den Toten auferweckt worden ist“ (1Kor 15,12). Diese Botschaft erscheint bei Paulus bereits als feststehende Redewendung, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat.83 Die Auferstehungsbotschaft hatte ihre Heimat in der Mission und in der „Verkündigung“ (kḗrygma; 1Kor 15,14). Sie wird kundgetan vor dem Hintergrund der umgestalteten apokalyptischen und pharisäischen Erwartung einer endzeitlichen allgemeinen Auferstehung (Mk 12,23 f.),84 die durch das Ostergeschehen in Christus freilich eine völlig neue Bedeutung erlangt hat.85 Die Auferstehungsverkündigung scheint der ge81

Vgl. 1Kor 15,3–11, aber auch Mk 16,1 ff. parr. Vgl. Ch. Wolff, ThHK 7, 355–370; W. Schrage, EKK VII/4, 18–25.31–53. 83 Vgl. als vorpaulinische Glaubensformel, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat (Röm 10,9; 1Thess 1,10; vgl. 4,14), weiter die Auferweckungsaussagen in 1Kor 6,14; 15,15.20 und besonders das partizipiale Gottesprädikat „der Jesus auferweckt hat“ in Röm 4,24; 8,11; 2Kor (1,9); 4,14; Gal 1,1 sowie Kol 2,12; Eph 1,20; 1Petr 1,21. 84 Im Alten Testament erscheint die Auferstehung erst spät Jes 26,19 (im Kontext der Apokalypse Kap. 24–27), metaphorisch bei der Wiederbelebung der Totengebeine in Ez 37,1– 14 (vgl. 4Q386) und eindeutig in Dan 12,2 f. (vgl. weiter 2Makk 7; 1Hen 51,1; 4Esr 7,32; syrBar 50 f.; 4Q521). In neutestamentlicher Zeit wird sie nach Apg 23,8; 26,5–8 von den Pharisäern (§ 6.3.4.1 Petit) vertreten, während sie von den Sadduzäern (§ 6.3.4.1 Petit) abgelehnt wird (Mk 12,18–27 parr.). Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass in Dan 12,2 f. die Auferstehung entweder zum ewigen Leben oder zu ewiger Schmach geschieht, d. h. die Scheidung in Erlöste und Verdammte durch das Gericht Gottes noch aussteht, während bei Paulus die Auferstehung allein zum ewigen Leben erfolgt und bereits Teil des Heilsgeschehens ist. Vgl. M. Hengel, Das Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe, in: ders., Christologie (Lit. § 5.6.1), 368–450 (hier 417–439 zur Auferstehung im Judentum). 85 E. Käsemann hat in diesem Zusammenhang von der Apokalyptik als der Mutter der 82

136

5 Die paulinischen Briefe

meinsame Ausgangspunkt mehrerer Aussagen zu sein, die als „Evangelium“ (euaggélion = gute Nachricht; § 6.2.6.1) bezeichnet werden: in 1Kor 15,1 bezüglich der Pistisformel in V.3b-5, in Röm 1,1 bezüglich der Einsetzung Jesu zum Sohn Gottes in V.3 f. (s. Anm. 59 ff.) und in 1Thess 1,5 für die Errettung der Glaubenden aus dem Zorngericht in 1,10. Damit stand die endzeitliche Vollendung zwar immer noch aus, aber die aus dem Judentum übernommene eschatologische Hoffnung war durch das Ostergeschehen modifiziert worden: Die bereits erfolgte Auferstehung Jesu bestärkte die Gläubigen in der Hoffnung auf ihre eigene Auferweckung, sodass sie ihre gegenwärtige Existenz schon ganz aus dieser endzeitlichen Perspektive als ein heilvoll erneuertes Leben begriffen. Umso notwendiger wurde es zu erklären, welche Bedeutung der Tod Jesu hat. Nicht nur der Auferstehung, auch dem Tod Jesu wurde eine heilbringende Wirkung zugemessen: Er geschah „für unsre Sünden“ (1Kor 15,3). Durch diese Wendung wird der alttestamentliche Gedanke der stellvertretenden Lebenshingabe aufgenommen, in der jemand sein Leben zur Rettung für andere einsetzt. Der Zusatz „nach den Schriften“ besagt, dass die von Schuld befreiende Wirkung des Todes Jesu dem Willen Gottes entspricht, wie er in den Schriften des Alten Testaments bezeugt ist (§ 5.5.1). Durch den Hinweis auf die Schrift wird der Tod Jesu indirekt auf Gottes Handeln zurückgeführt und zugleich als eschatologische Erfüllung gedeutet, mit der die einst verheißene Heilszeit begonnen hat.86 Eine konkrete Stelle wird nicht genannt, doch ist vor allem an das vierte Gottesknechtslied in Jes 53,5 f.8 f.12 zu denken, in dem eine geheimnisvolle Gestalt, der Knecht Gottes, im göttlichen Auftrag stellvertretend für die Sünden anderer leidet und wie ein Opferlamm stirbt, um den Vielen Gerechtigkeit zu verschaffen. Die Stellvertretungsaussagen aus Jes 53 wurden von den frühen Christen auf Jesus bezogen und in die Liturgie des Herrnmahls aufgenommen (s. Anm. 167 ff.).87 In der Feier dieses Mahls soll die Heilsbedeutung des Todes Jesu vergegenwärtigt werden (s. Anm. 179).88 Der Herrnmahlstradition entstammen auch die Hingabe-,89 die Sterbe-90 und die Leidensformeln (1Petr 2,21; 3,18), die an die Passion Jesu erinnern. Aus diesen Formeln entfaltet Paulus im Galaterbrief seine Rechtfertigungslehre. Bei dieser Lehre handelt es sich um eine Kernchristlichen Theologie gesprochen (§ 2.2.2b); vgl. M. Hengel, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 302–417; zur Apokalyptik s.u. § 5.10.3, zur Auferstehungshoffnung § 5.10.2–3; 5.12.1; 5.12.5c. 86 Vgl. § 5.11.4b Petit zum Schriftverständnis. 87 Bei Paulus in der Brotformel (1Kor 11,24b), in Mk 14,24 (ebenso wie Mt 26,28) erst beim Kelch, bei Lukas sowohl beim Brot- als auch beim Kelchwort (Lk 22,19 f.). 88 Vgl. W. Zager, Jesus und die frühchristliche Verkündigung, Neukirchen 1999, 35 ff. 89 Vgl. die Hingabe durch Gott (Röm 8,32; Joh 3,16 [§ 7.1.5.1a]; vgl. auch das Passivum divinum in Röm 4,25) sowie die Selbsthingabe Jesu (Gal 1,4; 2,20 und Eph 5,2.25; 1Tim 2,5 f.; Tit 2,14; vgl. Mk 10,45). 90 1Thess 5,10; 2Kor 5,14 f.; Röm 5,6.8; 14,15.

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

137

aussage der paulinischen Theologie, nach der Gott gerecht ist und gerecht macht: Er erweist seine Gerechtigkeit, indem er durch den stellvertretenden Tod Jesu die Sünder allein aus Gnade rechtfertigt, d. h. aus dem Jüngsten Gericht errettet, für gerecht erklärt und freispricht (§ 5.8.2i; 5.11.3c). Im Römerbrief bringt er die Rechtfertigungslehre in der Rede von der „Gerechtigkeit Gottes“ programmatisch auf den Begriff (§ 5.16.5a). Die beiden Aussagen über den stellvertretenden Tod und die Auferstehung Jesu waren ursprünglich autosemantisch, d. h. sie hatten als Ausdruck der Bedeutung Jesu jeweils einen eigenen Gültigkeitsanspruch. Die Erkenntnis dieser beiden Stränge zeigt, dass das christliche Bekenntnis und die mit ihm verbundene Theologie nicht als eine religiöse Theorie entstanden sind. Wir müssen das in den ältesten Glaubensaussagen enthaltene Zeugnis ernstnehmen. In beiden Bekenntnisaussagen wird auf verschiedene Weise eine Wirklichkeit reflektiert, die die Zeugen der Erscheinungen des Auferstandenen nach Ostern als heilvolle Erfahrung in Worte gefasst haben (§ 1.3.3; 1.4.3). Die beiden Teile der Pistisformel besagen zum einen, dass Jesus Christus durch die Auferstehung der Heiland ist trotz seines Kreuzestodes, zum anderen, dass er wegen seines Todes so bedeutend ist, weil er für die Sünder (für andere, für viele) starb. Beide Aussagen haben ihre eigenständige Bedeutung, doch ist eine Tendenz zu ihrer Verbindung schon seit den ältesten Glaubenszeugnissen sichtbar.91 Das stellvertretende Sterben Jesu hatte eine sühnende Wirkung (s. Anm. 167 ff.), konnte einen neuen Zugang zu Gott eröffnen und dadurch Vergebung, Rettung, Heil und ewiges Leben für alle Menschen erschließen. Seit der Entstehung der Pistisformel wirkten beide Bekenntnisaussagen gemeinsam, auch wenn in der Mission diejenige über die Auferstehung in den Vordergrund trat. Paulus betonte allerdings den Kreuzestod (vor allem den Enthusiasten in Korinth gegenüber; 1Kor 1,18 ff.; § 5.12.5). Nach einer alten, in Röm 6,3 f. verarbeiteten Überlieferung fand das Bekenntnis zum gestorbenen und auferstandenen Christus schon bald in der Taufe einen festen liturgischen Platz (§ 5.6.2.2d). 5.6.2.2

Die Taufe

 Gerhard Barth, Die Taufe in frühchristlicher Zeit (BThSt 4), Neukirchen-Vluyn 1981; Udo Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie (GThA 24), Göttingen 21986; Lars Hartman, „Into the Name of the Lord Jesus“, Edinburgh 1997; Helmut Umbach, In Christus getauft – von der Sünde befreit (FRLANT 181) Göttingen 1999; Karl-Heinrich Ostmeyer, Taufe und Typos (WUNT II/118), Tübingen 2000; Friedrich Avemarie, Die Tauferzählungen der Apostelgeschichte. Theologie und Geschichte (WUNT 139), Tübingen 2002.

91

Vgl. als Doppelformel vom Sterben und Auferstehen 1Thess 4,14; Röm 8,34; 14,9 und weiter mit Stellvertretungsaussagen in Röm 4,25; 1Kor 15,3b–5; 2Kor 5,15, ferner 13,4.

138

5 Die paulinischen Briefe

Taufe und Abendmahl sind die beiden wichtigsten liturgischen Feiern der frühen Christenheit (s. Anm. 12.15 f.). Sie haben einen völlig anderen Charakter als die Hoheitstitel (§ 5.6.1.1–5) und die Pistisformel (§ 5.6.2.1). Aber auch sie waren durch die mündliche Überlieferung für die ersten christlichen Gemeinden schon so sehr zur Selbstverständlichkeit geworden, dass bereits Paulus ihre Praxis und Bedeutung nicht mehr vorzustellen brauchte, sondern als bekannt voraussetzte. Da er ebenso wie die anderen neutestamentlichen Autoren Taufe und Abendmahl nirgends um ihrer selbst willen thematisiert, sondern aus gegebenem Anlass jeweils nur einzelne Aspekte hervorhebt, erscheint es auch hier sinnvoll, zunächst einen Gesamtüberblick zu bieten. Taufe und Herrnmahl werden seit Tertullian (ca. 150–220 n. Chr.) unter dem Oberbegriff „Sakrament“ zusammengefasst (Tert. Marc. 4,34). Dieser lateinische Terminus stammt nicht aus dem Neuen Testament, sondern wurde von Tertullian aus der römischen Militärsprache übernommen und meint dort den Fahneneid eines Soldaten. Der Ausdruck wurde im kirchlichen Sprachgebrauch zunächst in einem weiteren Sinn als Übersetzung für das griechische Wort „mystḗrion“ (Geheimnis) gebraucht, in der abendländischen Theologie aber seit Augustin (354–430 n. Chr.) immer enger mit Taufe und Eucharistie verbunden. Seither gilt der Terminus „Sakrament“ als Bezeichnung für gottesdienstliche Handlungen, die an dem von Christus gestifteten Heil als einer neuen Wirklichkeit Anteil geben (§ 1.3.4). In 1Kor 10,1–4 wurden Taufe und Abendmahl erstmals in einer Typologie (V.6: týpos; V.11: typikṓs) gemeinsam92 den Exoduserfahrungen Israels beim Durchzug durch das Schilfmeer und bei der Mannaspeisung93 als geistliche, d. h. durch den Geist vermittelte Gabe gegenüberstellt.94 Die Taufe ist ein einmaliger Initiationsakt, mit dem die Christen in die heilvolle Gemeinschaft mit Christus aufgenommen werden.95 Dagegen ist das Herrnmahl die regelmäßig wiederholte Feier der ganzen Gemeinde, die der Aktualisierung dieser Gemeinschaft mit Christus und der Gemeinschaft untereinander dient. Religionsgeschichtlich weist die Entstehung dieser neuen Riten auf einen Prozess der Verselbstständigung der frühen Christenheit gegenüber ihren jüdischen Wurzeln 92

Auch in Joh 19,34 sind Wasser und Blut eine Anspielung auf Taufe und Eucharistie (§ 7.1.5.3). 93 Vgl. die Anspielungen auf das Manna und die Eucharistie in Joh 6,31–35.38.41.48– 51.53–58 (§ 7.1.5.1c; 7.1.5.3). 94 Vgl. K.-H. Ostmeyer, Taufe und Typos, 137–145, sowie zu Taufe und Herrnmahl B. Kollmann, Mahlfeier (Lit. § 5.6.2.3), 62–65; F. Hahn, Theologie I (Lit. § 1), 285 f. 95 In der heutigen volkskirchlichen Kasualpraxis ist diese ekklesiologische Bedeutung des Initiationsritus allerdings vielfach durch ein primär biographisches Verständnis als erster Passageritus zu Beginn des Lebens überlagert; vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 71–74.363–369; ders., Kasualien als Segenshandlungen. Eine theologische Grundlegung der kirchlichen Passageriten, US 58 (2003), 188–204.319 (Korrekturnachtrag der Redaktion).

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

139

hin. Die Verbreitung dieser beiden Sakramente ist ein untrügliches Zeichen für die Neukonstitution der christlichen Gemeinden als eigenständige Religionsgemeinschaft, zu deren innerer Identitätsbildung (als „identity marker“) und äußerer Abgrenzung (als „boundary marker“) sie durch den rituellen Vollzug wesentlich beitrugen.96 Die praktische Entscheidung der Einzelnen, ob jemand sich zur Taufe bzw. zur Teilnahme an der Herrnmahlsfeier entschließt, kann in den Konsequenzen für das religiöse Leben eines Menschen kaum überschätzt werden. Zugleich hat es deutliche Folgen für das Entstehen einer neuen Glaubensrichtung oder Religion. Dabei müssen wir gerade in den Briefen die situationsbedingten Zufälligkeiten bedenken, durch die das jeweilige Schreiben konkret veranlasst ist. So darf z. B. aus der Nichterwähnung des Herrnmahls nicht kurzschlüssig die Folgerung gezogen werden, die Gemeinde habe diese Feier nicht gekannt. Nur den Missständen in der korinthischen Gemeinde ist es zu verdanken, dass Paulus die Einsetzungsworte erwähnt (1Kor 11,23–25). So ist der 1. Korintherbrief ein gutes Beispiel dafür, dass Taufe und Herrnmahl nur deshalb thematisiert werden, weil sie in der Gemeinde Probleme bereiteten (§ 5.12.4). Die liturgischen Texte für das Herrnmahl werden in 1Kor 11,23b–25 (vgl. Mk 14,22-25 parr.) zitiert, während die Texte zur Taufe nur im Rahmen theologischer Argumentation indirekt wiedergegeben werden (Röm 6,3-11; Gal 3,27; Kol 2,12). Sie bezeugen, dass die Deutung des Todes Jesu als stellvertretendes Sühnopfer in der Liturgie einerseits bei der Feier des Herrnmahls ihren Sitz im Leben gewann,97 andererseits eng mit der Taufe verknüpft war, die „auf seinen Tod“ erfolgte und an der heilvollen Wirkung seines Todes und seiner Auferstehung Anteil gab (Röm 6,3 f.; vgl. Kol 2,12). Die Verbreitung der Taufe und die Akzeptanz der Auferstehungschristologie sind eng miteinander verflochten. Sie gehören zum Grundzeugnis des christlichen Glaubens und hatten eine theologisch und liturgisch integrierende Wirkung. Daraus bezog die paulinische Theologie als eine soteriologisch tiefer durchdachte Neuinterpretation des Herrnmahls und z. T. auch des Auferstehungskerygmas in der Taufe ihre Überzeugungskraft (Röm 6; s. Anm. 126 ff.). Wir beginnen mit der Entstehung und Bedeutung der Taufe. Zunächst werden wir a–c) die Entwicklung von Johannes dem Täufer über die Taufe Jesu zur frühchristlichen Taufpraxis darstellen, dann d) auf das paulinische Taufverständnis, e) auf die Bedeutung des Taufbefehls in Mt 28,16–20 und f) auf die Kindertaufe eingehen, um schließlich g) die Tauftheologie in den neutestamentlichen Briefen weiterzuverfolgen und h) ein Fazit zu ziehen.

96 97

Vgl. W. A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur, Gütersloh 1993, 187–191.307–329. Mk 14,24; Mt 26,28; Lk 22,19.20; 1Kor 11,24; s. Anm. 165 ff.

140

5 Die paulinischen Briefe

a) Die Herkunft: Der Terminus „báptisma“ (Taufe)98 ist eine Ableitung von „báptein“ / „baptízein“ (eintauchen, untertauchen).99 Aus diesem Verb ist – durch das gotische „daupjan“ vermittelt – das deutsche Wort „taufen“ entstanden. Die Taufe ist eine kultische Waschung, die in mehreren spätantiken Religionen bekannt war. Auch in der Schrift (dem Alten Testament) sind Reinigungsvorschriften enthalten (Lev 12–16; Num 19). In Qumran gab es rituelle Waschungen, die als äußere Bestätigung der vorangegangenen inneren Umkehr angesehen wurden (1QS II,25–III,12). Über die Waschungen bei den Essenern berichtet Josephus (Bell. II,7,12 f.). Im 20. Jh. versuchte die religionsgeschichtliche Schule die Taufe aufgrund motivischer Parallelen aus den Einweihungspraktiken der Mysterienreligionen (§ 5.4) herzuleiten, doch werden diese Erklärungsversuche in der heutigen Forschung kritischer betrachtet.100 Inzwischen ist weitgehend anerkannt, dass die Jesusbewegung die Gestalt der Taufe mit dem Untertauchen im fließenden Wasser als einem nicht wiederholbaren Akt von Johannes dem Täufer101 übernahm. Dieser galt als apokalyptischer Endzeitprophet, Umkehrprediger und Wegbereiter Jesu. Er war die bekannteste Gestalt einer breiteren Täuferbewegung (Sib 4,165 f.) in der frühkaiserlichen Zeit.102 Jesus gehörte eine Zeit lang zu seinen Anhängern und wurde nach Markus in einer Offenbarungsszene mit einer Himmelsstimme von ihm getauft (Mk 1,9–11).103 Von anderen religiösen Waschungen unterscheidet sich die Johannestaufe erstens dadurch, dass sie keine Selbstwaschung ist, sondern passiv als Fremdtaufe durch Jo-

98

Vgl. insgesamt U. Schnelle, Art. Taufe, TRE 32, 663–674 (Lit.); F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 507–532; F. Avemarie, Art. Taufe II, RGG4 6, 52–59. 99 Für nichtchristliche Taufen wird im Griechischen auch das Verb „loúein“ (waschen, baden) benutzt. 10 0 „Analogy is not genealogy“ erklärt J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 445 f., im Anschluss an A. J. M. Wedderburn, Baptism and Resurrection (WUNT 44), Tübingen 1987; vgl. P. Pokorný, ThHK 10,I (Lit. § 8.2), 95–101; M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 261–263.416–418.444 f., die Quellen zu den Mysterienreligionen bei M. W. Meyer (Hg.), The Ancient Mysteries, San Francisco 1987, in Auswahl bei C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte (Lit. § 12e), 151–163, zur Einführung H.-J. Klauck, Umwelt I (Lit. § 2.2), 77–128, sowie grundlengend W. Burkert, Antike Mysterien, München 21991. Nach U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5), 364 f., zeigen die Mysterientexte „keine Genealogie oder Analogie“ zu Röm 6,3 f., wohl aber „das geistige Umfeld“. 101 Zu Johannes dem Täufer vgl. G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 184–198, ausführlicher U. B. Müller, Johannes der Täufer (BG 6), Leipzig 2002 (zur Taufe bes. 38–44.52– 56.93–100), und zu dessen Verhältnis zu Jesus Ch. Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,1 (Lit. § 7.1), 42 f.46–50.52 f. 102 Vgl. H. Lichtenberger, Täufergemeinden und frühchristliche Täuferpolemik im letzten Drittel des 1. Jahrhunderts, ZThK 84 (1987), 36–57. 103 So U. B. Müller, Johannes der Täufer (s. Anm. 101), 52–56.

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

141

hannes vollzogen wurde, was ihm den Beinamen „der Täufer“ eintrug.104 Als eschatologische Zeichenhandlung erfolgte sie zweitens in Anbetracht des nahen Weltendes bei jeder Person nur ein einziges Mal. Sie war drittens mit einer Aufforderung zur Umkehr verbunden (Mk 1,4; Lk 3,8 Q) angesichts des unmittelbar bevorstehenden Zorngerichts Gottes (Lk 3,7.17 Q) und versprach viertens die Vergebung der Sünden durch Gott beim kommenden Gericht (Mk 1,4; Lk 3,3). Johannes taufte „jenseits des Jordans“ (Joh 1,28; 10,40) an der Stelle, wo Josua durch den Jordan gezogen war (Jos 3 f.) und der Prophet Elia das Schilfmeerwunder wiederholt hatte (2Kön 2,1–18; vgl. Ex 14,22). Damit steht die Johannestaufe in der Tradition des Durchzugs durch das Rote Meer. Ihre Bedeutung lag darin, dass die Taufe das Gericht Gottes vorwegnahm. Wer sich taufen ließ, erfuhr die Rettung aus der Katastrophe des nahe bevorstehenden Untergangs. Nur bei der Taufe Jesu wurde – wegen seiner implizit vorausgesetzten Sündlosigkeit – das Motiv der Sündenvergebung zunehmend als Problem empfunden. Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie die Evangelien den Vorgang darstellen und bewerten: Schon bei Markus (1,9– 11) ist von der Vergebung keine Rede mehr, sondern bloß noch vom Herabsteigen des Geistes und der Himmelsstimme. Nach Matthäus weigerte sich Johannes, die Taufe Jesu zu vollziehen, da er doch eher selber getauft werden müsste. Statt als Sünder Vergebung zu erfahren, wurde Jesus nach der matthäischen Darstellung vielmehr getauft, um die Gerechtigkeit zu erfüllen, d. h. um sich als Gerechter zu erweisen, der den Willen Gottes vollständig verwirklicht (Mt 3,14 f.).105 Bei Lukas (3,21 f.; § 6.4.5.5) befand sich Johannes längst im Gefängnis (3,20), sodass die Taufe Jesu nicht mehr geschildert wird (wie noch in Mk 1,9). Sie diente nur noch als äußerer Anlass für das Gebet Jesu („als er getauft worden war und betete“), bei dem sich der Himmel „öffnete“ und der heilige Geist „in leiblicher Gestalt wie eine Taube“ herabstieg (dem im lukanischen Doppelwerk eine große Bedeutung zukommt; § 6.4.5.2b; 6.4.5.3b). Im Johannesevangelium wird die Taufe Jesu überhaupt nicht mehr erwähnt (Joh 1,29–34). Auch ist Johannes hier nicht mehr der Täufer (der Titel fehlt), sondern nur der erste große Zeuge (1,15.19).106 Dafür identifiziert Johannes der Täufer Jesus in seiner besonderen Würde, indem er ihn erstens als Lamm Gottes bezeichnet, das – statt durch eigene Sünden belastet zu sein – die Sünde der Welt wegnimmt (Joh 1,29; vgl. Jes 53,4.7.11), zweitens im Anschluss an die synoptische Tradition als Geistträger beschreibt (Joh 1,32 f.) und drittens als Gottessohn vorstellt (Joh 1,34; § 7.1.3).

Jesus knüpfte mit seiner Verkündigung bei der Botschaft des Johannes an, verlagerte aber den Schwerpunkt, indem er nicht nur den herannahenden Zorn Gottes (Lk 3,7 Q), sondern vor allem das Evangelium von der unmittelbar bevorstehenden Gottesherrschaft ansagte (Mk 1,14 f.). Ob Jesus selber die Wassertaufe praktiziert hat, ist 104

Josephus Ant. XVIII,116 (vgl. C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte [Lit. § 12e], 313– 315); Mk 6,25; Mt 3,1 u. ö. 105 Matthäus verlagert die Sündenvergebung von der Taufe (Mk 1,4) zum Abendmahl (Mt 26,28; § 6.3.3.3c). 106 Vgl. Joh 3,30 zum Verhältnis zwischen Jesus und Johannes d.T.: „Jener muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“

142

5 Die paulinischen Briefe

wegen der widersprüchlichen Angaben in Joh 3,22 („er taufte“; vgl. 3,26; 4,1) und 4,2 („Jesus selbst taufte nicht“) historisch umstritten.107 Unter Berufung auf Joh 4,2 wird eine Tauftätigkeit Jesu jedoch meist abgelehnt, da auch die Synoptiker von einer Taufpraxis Jesu nichts berichten und diese bei der Jüngeraussendung nicht erwähnt wird (Mk 6,7–13; Mt 10,1 ff. Q). Joh 3,22 wird dann meist als spätere Rückprojektion beurteilt, durch die die kirchliche Taufpraxis im Leben Jesu verankert und legitimiert werden sollte. Außerdem war die erste kurze Zeit nach Ostern unter den Anhängern Jesu durch einen Geistenthusiasmus gekennzeichnet, der das Bewusstsein dieser entscheidenden Wende widerspiegelt. In der synoptischen Tradition wird dieser Neuanfang metaphorisch Geisttaufe genannt (Mk 1,8 parr.). Bald hat sich die von Johannes dem Täufer übernommene Wassertaufe – mit einigen deutlichen Akzentverschiebungen – als Aufnahmeritus der Christen durchgesetzt. b) Die urchristliche Taufpraxis: In den christlichen Gemeinden muss die Taufe rasch verbreitet und schon sehr früh mit großer Selbstverständlichkeit praktiziert worden sein. Dies belegen die Tauferzählungen der Apostelgeschichte – nicht zuletzt von Paulus bereits Anfang der 30-er Jahre (Apg 9,17 f.; 22,16; 1Kor 12,13: „wir alle sind getauft“).108 Auch sonst wird es sich in aller Regel um die Bekehrungstaufe von Erwachsenen gehandelt haben. Dabei verrät die Unterschiedlichkeit der lukanischen Berichte und der paulinischen Ausführungen, dass die Art des Vollzugs zunächst noch situationsbedingt vielfältig war und eine feste Taufliturgie sich erst in späterer Zeit entwickelte. Dennoch ist gut erkennbar, dass im Wesentlichen vier Merkmale von der Johannestaufe übernommen wurden: Auch die christliche Taufe war erstens keine Selbstwaschung, sondern wurde durch eine andere Person als Täufer vollzogen.109 Sie geschah zweitens als eschatologische Zeichenhandlung in einem einmaligen, nicht wiederholbaren rituellen Akt.110 Sie erfolgte drittens mit einem Wasserbad111 – soweit möglich durch Untertauchen in einem fließenden Gewässer (Apg 8,38), nach Did 7,1 ff. nur ausnahmsweise durch dreimaliges Übergießen des Kopfes.

107

Vgl. U. B. Müller, Johannes der Täufer (s. Anm. 101), 54–56.93 f. Vgl. Krispus (Apg 18,8; 1Kor 1,14–16), Lydia und den Gefängniswärter in Philippi (Apg 16,15.33), aber auch Simon Magus (8,13), ferner Kornelius (10,1 – 11,18) und den äthiopischen Finanzminister (8,26–40), vielleicht auch schon die Pfingsterzählung (2,38.41); vgl. F. Avemarie, Tauferzählungen, 441–443 u. ö. 109 Apg 8,38; 10,48; Did 7,4. In 1Kor 1,14.16 wird dieser Aspekt polemisch heruntergespielt, denn entscheidend ist nicht die Person des Täufers, sondern allein Christus und der Glaube. 110 Zur Einmaligkeit der Taufe vgl. vor allem Röm 6,3 f.10 (§ 5.6.2.2d) und Hebr 6,1–6 (§ 8.5.3). Deshalb wird nirgends eine Wiederholung oder zweite Taufe (Wiedertaufe) erwähnt. 111 Apg 8,38; 1Kor 6,11; vgl. Apg 22,16; Eph 5,26; Tit 3,5; Hebr 10,22. 108

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

143

Und sie vermittelte viertens die Vergebung der Sünden (Apg 2,38; 22,16).112 Wie die Bußtaufe des Johannes war auch die christliche Taufe zunächst nur ein Element einer innerjüdischen Erneuerungsbewegung, die eher reformativ als separativ ausgerichtet war. Erst durch die missionarische Ausweitung des Taufens auf Heiden, d. h. Nichtisraeliten, wurde die Taufe zum entscheidenden und unterscheidenden Initiationsritus der christlichen Heilsgemeinde. Wie die Taufpraxis des Johannes wahrscheinlich von der Schilfmeertradition geprägt war, so symbolisiert das rituelle Untertauchen auch bei Paulus in Röm 6,3 f. nicht einfach die reinigende Wirkung des Abwaschens, sondern sehr viel radikaler den Untergang, das Ertränken der Sünden. Der Symbolbegriff meint hier nicht eine zeichenhafte Bedeutung, die auf ein anderes Geschehen hinweist, sondern die Verbindung der göttlichen mit der irdisch erfahrbaren Wirklichkeit. Das Untertauchen bewirkt das Absterben alles Gottfeindlichen des „alten Menschen“ (Röm 6,6), dem das Auftauchen, das allerdings nicht erwähnt wird, als Ritus der Neuschöpfung aus dem Tod korrespondiert.113 Auch in 1Kor 10,1 f. interpretiert Paulus es als eine typologische Vorausdarstellung114 des Taufgeschehens, dass die Israeliten unter der Führung des Mose aus der Sklaverei in Ägypten befreit und durch die tötenden Schilfmeerfluten hindurch errettet wurden (Ex 14,16.22.29; Ps 78,13), während das ägyptische Heer unterging (Ex 14,24–30). Ebenso versteht der Verfasser des 1. Petrusbriefs die Taufe aufgrund des stellvertretenden Todes und der Auferstehung Jesu als ein heilbringendes Geschehen. In einer typologischen Anspielung („antítypos“) auf die Sintflut deutet er das Eintauchen als Gericht und das Auftauchen als Errettung (1Petr 3,18–22). Auch hier sind die Getauften Abbilder und Nachfolger der aus der Sintflut Geretteten. Ihre Taufe symbolisiert nicht nur ein äußeres Abwaschen des schmutzigen Körpers, sondern sehr viel radikaler eine innere Reinigung, die ein „gutes Gewissen“ bewirkt und die „aufgrund der Auferstehung Jesu Christi“ geschieht (3,21). In dieser Begründung durch die Auferstehung entspricht die Taufe der Neuzeugung bzw. Wiedergeburt des Menschen in der Eingangseulogie (1,3).115

Im Unterschied zu Johannes wurde die christliche Taufpraxis modifiziert: Schon für Paulus erfolgte die Taufe „auf Christus“ (eis Christón; Röm 6,3; Gal 3,27; vgl. 1Kor 10,2), d. h. auf seinen Namen (vgl. 1Kor 1,13–15; 6,11). Nach der Apostelgeschichte wurde sie „in“ oder „auf“ den Namen Jesu vollzogen,116 um die christliche Taufe von der Johannestaufe abzuheben: Indem der Täufling den Namen Jesu anruft (Apg 112 Vgl. F. Avemarie, Tauferzählungen, 104–128, bes. 118.127 f.; vgl. auch Joh 20,21 f. und dazu U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik (Lit. § 7.1), 24 f. 113 Vgl. auch die Neu- oder Wiedergeburt in Tit 3,5; Joh 3,3–5; 1Petr 1,3.23. 114 Vgl. 1Kor 10,6: týpos; V.11: typikṓs. 115 Zu 1Kor 10 und 1Petr 3 vgl. K.-H. Ostmeyer, Taufe und Typos, 137–161; R. Feldmeier, ThHK 15/1, 138 f. 116 Vgl. „in“ (Apg 2,38: epí bzw. 10,48: en) oder „auf“ (eis; 8,16; 19,5) den Namen Jesu (vgl. Mt 28,19; Did 7,1.3, aber auch Jak 2,7 [§ 8.8.2b]).

144

5 Die paulinischen Briefe

22,16), wird die Taufe christologisch an die Person Jesu gebunden und soteriologisch durch die heilvolle Wirkung seiner Vergebung qualifiziert.117 Dies hatte in sozialer Hinsicht zur Folge, dass die Täuflinge in die Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger eingefügt wurden (Apg 2,41). Als auf Christus Getaufte erhielten die Anhänger Jesu zuerst in Antiochien den Namen „Christen“ (Apg 11,26; s. Anm. 52). Diese Benennung brachte nicht nur ihre Bindung an Christus zum Ausdruck, sondern ebenso ihre Eigenständigkeit als neue Gruppierung, und zwar sowohl Juden als auch Heiden gegenüber. Schließlich wurde die von Johannes angekündigte Feuertaufe nicht mehr als Gericht (Lk 3,16 f. Q), sondern als Ausgießung des heiligen Geistes verstanden, mit der das für die Endzeit verheißene Heil anbricht.118 c) Die Taufe Jesu als Modell für die christliche Taufe: In der Taufpraxis orientierten sich die ersten Christen an der Taufe Jesu (Mk 1,9–11 parr.) als Vor- und Urbild. Damit erhielt die Schilderung seiner Taufe eine legitimierende Funktion für den rituellen Vollzug und das theologische Verständnis in den Gemeinden. In den Evangelien wird die Erzählung der Taufe Jesu zwar nicht explizit als Kultätiologie stilisiert, da im Unterschied zum Einsetzungsbericht des Abendmahls eine Wiederholungsaufforderung (s. Anm. 179) fehlt und der Taufbefehl erst von Matthäus redaktionell formuliert wurde (Mt 28,16–20; s. Anm. 132 ff.). Dennoch wurde die Taufe Jesu in dreifacher Hinsicht zum Modell für die christliche Taufe: auch diese wird erstens mit Wasser vollzogen (s. Anm. 111), ist zweitens mit dem Herabsteigen bzw. der Gabe des Geistes verbunden119 und hat drittens die Gotteskindschaft der Getauften zur Folge: Zu 1. und 2.: Die Geisttaufe konnte unabhängig von der Wassertaufe erfolgen (Apg 2,1–4; 10,44–48) und mag einige Zeit mit ihr konkurriert haben. Doch hat sich schon bald die Auffassung von 1Kor 12,13 durchgesetzt, dass die Geisttaufe mit der Wassertaufe verbunden ist.120 Bereits bei Paulus wird die Wirkung der Taufe auf das Wirken des heiligen Geistes zurückgeführt (1Kor 6,11; 12,13), indem sie die Mitteilung und den Empfang des Geistes mit sich bringt (s. Anm. 119) bzw. einen ersten Anteil des Geistes gewährt.121 Nun wohnt Gottes Geist (Röm 8,9.11) in den Getauften, sodass sie in Christus leben (Röm 8,1 f.) und er in ihnen

117

So F. Avemarie, Tauferzählungen, 26–43, im Anschluss an L. Hartman, Auf den Namen des Herrn Jesus (SBS 148), Stuttgart 1992, 40 f., gegen die früher verbreitete, aus dem hellenistischen Zahlungsverkehr übernommene Vorstellung von der Übereignung des Täuflings an Christus durch W. Heitmüller, „Im Namen Jesu“, Göttingen 1903, 99–109.115–122, und H. Bietenhard, Art. ónoma, ThWNT V, 275, oder der Zueignung des Heils an den Täufling durch G. Delling, Die Zueignung des Heils in der Taufe, Berlin 1961, 70 f.74–76.80.90. 118 Mk 1,8 parr.; Joh 1,33; Apg 1,5; 11,16; vgl. das Pfingstgeschehen in Apg 2,3 f.38. 119 Vgl. 1Kor 12,13; Gal 3,26–29 (vgl. 3,2–5.14; 4,6), aber auch 1Kor 6,11; 2Kor 1,21 f. und weiter Apg 2,38; 8,15–17; (9,17 f.); 10,45.47 f.; 19,2–6 sowie Joh 3,5 und Tit 3,5. 120 Vgl. Mk 1,10 sowie 1Kor 6,11; Tit 3,5; Joh 3,5. 121 2Kor 1,22; 5,5: „Anzahlung“ (arrabṓn); Röm 8,23: „Erstlingsgabe“ (aparchḗ).

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

145

(Gal 2,20). Eine Anspielung auf die Taufe ist die Versiegelung122 und Salbung durch den heiligen Geist, die am messianischen Gesalbtsein Christi (§ 5.6.1.1) Anteil gibt (2Kor 1,21 f.).123 Weil die Gemeindeglieder in der Taufe durch den Geist geheiligt sind (1Kor 6,11), werden sie als „Geheiligte“ (hēgiasménoi; 1Kor 1,2) oder – häufiger – einfach als „Heilige“ (hágioi; Röm 1,7; 1Kor 1,2 u. ö.) angesprochen. Die innere Einheit von Wassertaufe und Geisttaufe (nicht die Unabhängigkeit der Geisttaufe) begründen einige Erzählungen der Apostelgeschichte, in denen sich exemplarisch die Taufpraxis der frühen Kirche widerspiegelt (vgl. Anm. 108 ff.; § 6.4.5.2b). So sehr der Geistempfang mit der Taufe verknüpft war, wurde er doch nicht auf den Taufvollzug beschränkt. Zu 3.: Die Gotteskindschaft wird in den synoptischen Evangelien bei der Taufe Jesu durch die Himmelsstimme offenbart,124 bei den Christen jedoch in einer abgestuften Analogie zu dem einzigartigen Gottessohn Jesus (§ 5.6.1.2) als Adoption interpretiert (Gal 3,26 f.; 4,5 f.). Das für die Adoption gebrauchte griechische Wort „hyiothesía“ (Annahme an Sohnes statt) ist eigentlich – wie bei uns heute – ein juristischer Fachterminus, den Paulus aber nur im religiösen Sinn für die Gottesbeziehung verwendet. Damit wird die Gotteskindschaft der Christen im Neuen Testament durch die Taufe begründet.125 Existenziell erfahrbar wird sie im geistgewirkten Gebet mit dem Abbaruf (Gal 4,5 f.; Röm 8,15–17; s. Anm. 63) und der Gottesanrede im Vaterunser (Lk 11,2 Q; § 6.3.4.3b).

d) Das paulinische Taufverständnis: Grundlegend für das christliche Verständnis der Taufe sind die Ausführungen des Paulus.126 Dabei ist jedoch zu beachten, dass der Apostel die Taufe nirgends als solche zum Hauptthema macht, sondern nur beiläufig auf sie zu sprechen kommt weshalb die einzelnen Hinweise im Folgenden schon vorweg im Zusammenhang dargestellt werden.127 So zielen auch die Aussagen in Röm 6,3–11 eigentlich auf die nachfolgende Paränese. Die Taufe wird von Paulus lediglich en passant in Erinnerung gerufen, ihre Bedeutung bei den Adressaten schon als bekannt vorausgesetzt (V.3 „wisst ihr nicht?“): Durch die Taufe wird die Zugehörigkeit eines Menschen zu Christus begründet. Wer „auf Christus“, d. h. auf seinen Namen, getauft ist (s. Anm. 116), hat Gemeinschaft „mit ihm“ (Röm 6,4 f.). Als Getaufter erhält er – in Anlehnung an das alte Be-

122

2Kor 1,22; Eph 1,13 f.; 4,30. 2Kor 1,21 f.; 1Joh 2,20.27; vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 344–346. 124 Vgl. das Täuferzeugnis in Joh 1,34 (s. Anm. 106). 125 Durch diesen Bezug zur Taufe unterscheidet sich die Gotteskindschaft im Neuen Testament von der schöpfungstheologisch begründeten Vorstellung, dass alle Menschen Kinder Gottes sind (vgl. Dtn 32,6; Jes 45,11; 64,7). 126 Zur paulinischen Tauftheologie vgl. J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 442–459, oder monographisch U. Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart; H. Umbach, In Christus getauft. 127 Zu Röm 6 als locus classicus kirchlicher Tauflehre vgl. U. Wilckens, EKK VI/2, 22– 33. 123

146

5 Die paulinischen Briefe

kenntnis in 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.1) – Anteil am Tod128 und an der Auferstehung Jesu. Durch die Taufe hat er nach Gal 3,26–29 „Christus angezogen“ und ist nun „in Christus“ (en Christṓ). Er wird von der Heilsmacht Christi eingehüllt wie von einem neuen Kleid, das jetzt unablöslich zu seiner Person gehört und sein Leben dauerhaft mit einer heilvollen Wirklichkeit umschließt.129 In Röm 6 führt Paulus dann weiter aus, was es bedeutet, dass ein Mensch nach seiner Taufe „in Christus“ (6,11.23) lebt, d. h. in die Schicksalsgemeinschaft des Todes und der Auferweckung Jesu hineingenommen ist: Mit dem Eintauchen stirbt der alte Mensch, er wird mit Christus „mitgekreuzigt“ (Röm 6,6). Der alte Adam wird in seiner Sünden- und Todesverfallenheit mit Christus „mitbegraben“ (6,4). Weil Christus „pro nobis“ gekreuzigt wurde (vgl. 1Kor 1,13), erhält der Täufling, indem er mit Christus mitgekreuzigt und mitbegraben wird, selber Anteil an der „extra nos“ begründeten Vergebung der Sünden, Gerechtmachung und Versöhnung mit Gott, die der stellvertretende Tod Jesu „für uns“ gebracht hat (Röm 5,6–11). Durch die Taufe kommt das Heil, das durch Christus „für uns“ universal geschehen ist, einer einzelnen Person individuell zugute. Ihr wird die Gemeinschaft „mit Christus“ eröffnet (sýn Christṓ). So geschieht durch die Taufe nichts, was nicht im Christusereignis seinen Grund hat. Aber was Christus am Kreuz für alle Menschen (5,12 ff.) getan hat, wird in der Taufe einem Individuum persönlich zugeeignet (6,3 ff.). Aus dieser Errettung vor dem göttlichen Zorngericht (Röm 5,9 f.) ergibt sich in Röm 6 die ebenfalls „extra nos“ verankerte Hoffnung, dass der Getaufte durch das Wirken des Geistes mit Christus schon jetzt an der eschatologisch erneuerten Wirklichkeit partizipiert (V.11). Dieser Neubeginn ist mit der Auferstehung Jesu angebrochen und wird durch den – bei Paulus jedoch nicht thematisierten – Ritus des Auftauchens symbolisch nachvollzogen.130 Wer aus der Taufe steigt, für den beginnt „mit Christus“ ein neues Leben. Nun ist er „mit ihm zusammengewachsen“ (sýmphytos), wird für immer mit ihm verbunden sein. Als Getaufter wird er ihm nicht nur im Tod, sondern durch die Auferweckung auch im ewigen Leben gleich werden (6,4 f.). Dabei bezeichnet das Wort „Gleichheit“ (homoíōma) die Identität und die Differenz in einem, dass die auf Christus Getauften mit seinem Tod mitgekreuzigt werden, selbst jedoch nicht sterben, sondern leben, „tot sind für die Sünde, aber leben für Gott“ (6,11). Mit dieser theologischen Deutung verschiebt Paulus im Taufritus die Betonung weg vom Untertauchen des alten Adam, der symbolischen Vorwegnahme der

128

Nach Mk 10,38 f. hat schon Jesus von seinem Tod metaphorisch als „Taufe“ gesprochen, ohne einen Bezug zum Wasserritus herzustellen. 129 Daraus entwickelte sich die christliche Sitte des Taufgewands. Vgl. die paränetische Verwendung des „Anziehens“ in Röm 13,14 und dazu den Exkurs von M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 438–451. 130 Vgl. das Heraussteigen bei der Taufe Jesu (Mk 3,9 f. par. Mt 3,16) und des Kämmerers (Apg 8,39).

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

147

Todesstrafe, hin zum Aufsteigen aus dem Wasser und zum Beginn einer neuen Existenz. Jetzt liegt der Schwerpunkt auf der antizipatorischen Vergegenwärtigung der absoluten Hoffnung, die vom Geist bewirkt wird, untrennbar mit dem Geschick Jesu verbunden ist und in der verheißenen Erweckung von den Toten gründet. Damit werden die Getauften zwar noch von ihrem irdischen Leben Abschied nehmen müssen, aber sie werden nicht für immer im Tod bleiben, sondern auferstehen und mit Christus leben in Ewigkeit. Durch die Gemeinschaft mit Christus bewirkt die Taufe nicht nur wie bei Johannes dem Täufer die Vergebung für begangene (Einzel-)Sünden, sondern sehr viel grundsätzlicher die Befreiung aus der abgrundtiefen Sündenverfallenheit und Todesohnmacht des Menschen, die Paulus zuvor in der Adam-Christus-Typologie in Röm 5,12 ff. (§ 5.16.5b) ausgeführt hatte. Es handelt sich um einen Akt der Neuschöpfung, weil „unser alter Mensch“ von diesem Zeitpunkt an „in Christus“ als „neue Kreatur“ (2Kor 5,17; Gal 6,15) existiert (s. Anm. 113). Nun wird er durch den Geist Gottes „in der Neuheit des Lebens“ wandeln (Röm 6,4; vgl. 7,6), die durch den heiligen Geist schon ganz im Zeichen der eschatologischen Vollendung steht (8,1 ff.18 ff.). In der Taufe geschieht nach Paulus ein Herrschaftswechsel (Röm 6,9.12). Der Getaufte ist – in den sozialen Kategorien von Sklaverei und Freiheit ausgedrückt – nicht mehr unter der tödlichen Herrschaft der Sünde versklavt (vgl. 5,14.17.21; 6,6.9.14– 23), sondern durch den stellvertretenden Sühnetod Jesu (s.u. Anm. 167 ff.) aus dieser Abhängigkeit befreit (3,25 f.; 6,18.22; 8,2). Nun „herrscht“ über ihn nicht mehr die Sünde, sondern die Gnade (5,21; 6,14). Er lebt nicht mehr „unter dem Gesetz“, sondern „unter der Gnade“ (6,14). Christus ist der „Herr“ seines Lebens, der ihn von der Macht der Sünde frei gemacht hat und ihm Gerechtigkeit und ewiges Leben schenkt (10,9–13). Durch die Taufe wird er in den Wirkungsbereich Christi aufgenommen und effektiv gerecht gemacht (2Kor 5,21; vgl. 1Kor 6,11; 1,30). Die fremde Gerechtigkeit (§ 5.16.5a), die die Taufe vermittelt, wird „durch den Glauben“ empfangen (Gal 3,25 f.) und erkannt (Röm 6,6.9). Damit ist die Macht der Sünde „ein für alle Mal“ (ephápax) gebrochen (Röm 6,10), auch wenn ihre vollständige Vernichtung noch auf sich warten lässt. Wegen dieser Spannung zwischen „schon“ und „noch nicht“ bedürfen die Getauften weiterhin der Paränese (6,12 ff.). Aber der Einzigartigkeit des Sühnetods Jesu entspricht die Einmaligkeit der Taufe. In ihr wird die Gerechtmachung, die durch den Tod Jesu universal für alle geschehen ist, einem Menschen individuell zuteil und zu einer wesentlichen Grundlage seiner Persönlichkeitsund Identitätsbildung. Die durch die Taufe neu geschaffene Existenz hat ethische Konsequenzen: Der Getaufte lebt nicht mehr als Sklave der Sünde, sondern als Gerechtfertigter, der von Gott freigesprochen und gerecht gemacht ist (Röm 6,7). Deshalb gehorcht er nicht mehr wie ein Sklave der Sünde (6,6.16 f.19 f.), sondern ist befreit von deren Herrschaft. In der Gemeinschaft mit Christus führt er ein eschatologisch erneuertes Leben (V.4) und

148

5 Die paulinischen Briefe

dient der göttlichen Gerechtigkeit durch ein entsprechendes moralisches Verhalten (V.16.18 f.; vgl. V.22). Die neue Präsenz Christi eröffnet den Weg in den neuen Äon (hebr. ‘ôlām, griech. aiṓn; § 5.10.3) und wird in den paränetischen Aussagen von Röm 6 und 8 für die Lebensgestaltung der Christen ethisch fruchtbar gemacht. Auf die Distanzierung von den fortdauernden Versuchungen der Sünde zielt die Paränese etwa nach dem Motto „Werde, der du bist!“ bzw. „Lebt, was ihr seid!“ So spricht Paulus in 1Kor 6,11 die Gläubigen in Aoristformen auf ihre Taufe an, damit sie die bereits erfolgte Lebenswende von der heidnischen Vergangenheit zu ihrer christlichen Existenz in ihrem ethischen Verhalten bewähren: „Aber ihr seid reingewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerecht geworden im Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes“ (vgl. 1Kor 1,30). Taufe, Gerechtmachung und die Auswirkungen dieser Heiligung in der sittlichen Lebenspraxis gehören untrennbar zusammen, weil das Leben der Getauften durch den Geist geheiligt ist und dementsprechend eine Lebensführung verlangt, die die Laster des alten Menschen hinter sich lässt.131 Da die Heilswirkung der Taufe durch den Tod und die Auferstehung Jesu begründet ist, hat sie eine ekklesiale Dimension: Die Taufe „auf Christus“ (eis Christón; s. Anm. 116) ist ein Aufnahmeakt, der die Eingliederung „in den einen Leib“ bewirkt (eis hén sṓma; 1Kor 12,13), d. h. die Einverleibung als neues Mitglied in den Einflussbereich Christi, der in der christlichen Gemeinde als Lebensgemeinschaft seine konkrete geschichtliche Gestalt hat. Wer „auf Christus getauft“ wurde, ist nun „in Christus“ (en Christṓ) inkorporiert, d. h. in den vorgegebenen Leib Christi, die christliche Gemeinde, aufgenommen (Gal 3,27 f.). Daraus leitet Paulus die soteriologische Gleichberechtigung aller Getauften ab, die ethische Konsequenzen hat. So hält er den innergemeindlichen Aufspaltungstendenzen in Korinth entgegen, dass die Gläubigen alle durch die Taufe zusammengehören wie die Glieder eines Leibes (1Kor 12,12 f.; § 5.12.4–5). Ebenso erinnert er die Galater angesichts der religiösen Spannungen zwischen Juden- und Heidenchristen daran, dass sie alle „einer“ sind „in Christus Jesus“ (Gal 3,28 § 5.11.3–4). Denn durch dessen Heilstat sind die alten ethnischen bzw. sozialen Gegensätze zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Männern und Frauen eigentlich überwunden, sodass sie im Zusammenleben der Gemeinde keine trennende Wirkung mehr haben dürfen (1Kor 12,13; Gal 3,28; vgl. Kol 3,11). Da die Taufe als einmaliger Akt das Leben der Täuflinge mit dem Geschick Jesu verbindet, gewann die Auferstehungschristologie (s. Anm. 83 ff.) durch den Bezug zur Taufe einen Vorsprung gegenüber anderen christologischen Konzeptionen. Dafür sprachen mehrere Gründe: Erstens ist die Auferstehungschristologie ein klarer Ausdruck der Ostererfahrung, dass Christus lebt und seine Auferweckung für das Leben der Christen von zentraler Bedeutung ist, weil sie sowohl die endzeitliche Hoffnung als auch die gegenwärtige Lebensführung bestimmt. Außerdem war sie zweitens in 131

S. Anm. 119 ff.; vgl. Röm 6,19–22; 1Kor 6,9 f.; 1Thess 4,3 ff.

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

149

der heidnischen Umwelt verständlich, denn die Auferstehung ist mit der Erhöhung verbunden (vgl. Phil 2,9–11), die allgemein verständlich eine begehrte Position „oben“ zum Ausdruck bringt. Nicht zuletzt fand sie drittens im Taufritus eine eindrucksvolle liturgische Darstellung, die durch das Ein- und Auftauchen von großer Symbolkraft für die christliche Existenz ist. e) Der Taufbefehl in Mt 28,16–20: Der Taufbefehl, der in allen christlichen Kirchen liturgisch benutzt wird, stammt aus der von Matthäus redaktionell gestalteten Schlussperikope des Evangeliums. In Mt 28,16–20 wird er vom erhöhten Christus erteilt und in den Missionsauftrag eingebettet.132 Die triadische Taufformel verbindet die Taufe auf den Namen Jesu (s. Anm. 116) mit der bereits von Paulus geläufigen Nebeneinanderstellung von Vater, Sohn und Geist.133 Durch diese Aufforderung wurde die Taufe als Initiationsritus zum christlichen Äquivalent und Ersatz für die Beschneidung – ein deutliches Signal für die Neukonstitution einer eigenen Religionsgemeinschaft durch die frühen Christen (§ 6.3.4.2b; vgl. Kol 2,11 f.). Im Kontext des Matthäusevangeliums wird der Vollzug der Taufe durch Jesu Ruf in die Nachfolge (§ 6.2.8a.f) begründet („machet zu Jüngern“), nicht durch den Entschluss bzw. die Entscheidung des Menschen. Verlangt wird nicht nur das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn (vgl. Mt 7,21), sondern das Kennenlernen und Befolgen seiner ganzen Lehre, die Matthäus in den fünf großen Reden dargestellt hat (Mt 28,20a; § 6.3.3.2; 6.3.3.4). Die Taufe begründet die Gegenwart und Beihilfe des auferstandenen Jesus, die in der Verkündigung und Versammlung der Gemeinde, der Mission und Ethik konkrete Gestalt annimmt: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage“ (Mt 28,20b; § 6.3.4.3). Eine spätere Paralleltradition bietet der sekundäre Markusschluss [Mk 16,15 f.], der die Heilsnotwendigkeit der Taufe betont: „Wer glaubt und getauft ist, wird gerettet werden. ...“

132

Die redaktionelle Formulierung wurde für die protestantische Theologie zum Problem, da nach reformatorischem Urteil für ein Sakrament die Einsetzung durch Christus konstitutiv ist. Die Problematik verschärfte sich angesichts der neuzeitlichen Rückfrage nach dem historischen Jesus (Exkurs 3) noch dadurch, dass der Taufbefehl – anders als die Einsetzung des Abendmahls – nicht auf den irdischen Jesus zurückgeführt wird, sondern eine nachösterliche Formulierung wiedergibt. Doch gilt es zum einen zu bedenken, dass gerade bei Matthäus die Lehre des Erhöhten keine andere als die des irdischen Jesus in seinen Reden ist (§ 6.3.3.2; 6.3.3.4; vgl. zum Problem auch § 5.6.2.5; 6.2.6.1). Zum anderen begründen neuere protestantische Entwürfe ihre Sakramentenlehre nicht mehr formal („biblizistisch“) mit der Einsetzung durch Christus (bzw. den „historischen“ Jesus), sondern bekräftigen die Verbindung mit der Person Jesu in seiner Taufe sowie seiner vor- und nachösterlichen Mahlgemeinschaft mit den Jüngern; vgl. z. B. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens III, Tübingen 1979, 315 ff.; W. Pannenberg, Systematische Theologie 3, Göttingen 1993, 373 ff.; W. Härle, Dogmatik, Berlin u. a. 22000, 532 ff. 133 Vgl. die trinitarische Tendenz in 1Kor 12,4–6 (§ 5.12.1); 2Kor 13,13 (§ 5.13.1); (Phil 2,1); Gal 4,4–6 (§ 5.11.1).

150

5 Die paulinischen Briefe

Nach Lukas (§ 6.4.5.2b) gibt Jesus keinen Taufbefehl, kündigt seinen Jüngern aber bei der Himmelfahrt die Taufe mit dem heiligen Geist für Pfingsten an (Apg 1,5). Dafür bietet die Aufforderung zur Taufe in der Pfingstpredigt des Petrus eine Kurzform des lukanischen Taufverständnisses (2,38), das die Bekehrung (s. Anm. 108), die Anrufung des Jesusnamens (s. Anm. 117), die Sündenvergebung (s. Anm. 112), den Geistempfang (s. Anm. 119) sowie die Eingliederung in die Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger (2,41) umfasst. Johannes (§ 7.1.5.3) überliefert ebenfalls keinen Taufbefehl, thematisiert die Taufe aber in Joh 3,3–5 durch die neue Geburt „aus Wasser und Geist“, die zur Bedingung für den Einlass in das Reich Gottes wird. Die nachösterliche Taufpraxis wird bei Johannes indirekt legitimiert durch den Hinweis, dass in der Zeit seines irdischen Wirkens „Jesus selber nicht taufte“, wohl aber „seine Jünger“ (4,2; vgl. 3,22; s. Anm. 107).

f) Die Kindertaufe: Da in der theologischen Deutung der Taufe die Zusage überwiegt, setzte sich die Kindertaufe durch. In der ersten Hälfte des 3. Jh.s wurde sie in der Kirche bereits allgemein praktiziert und rief keinen grundsätzlichen Widerspruch hervor.134 Im Neuen Testament wurde die Kindertaufe noch nicht als aktuelles Problem diskutiert. Denn im Urchristentum war zur Zeit der ersten Generation die Taufe eines Erwachsenen unmittelbar nach seiner Bekehrung der Normalfall. Es waren Erwachsene, die zum Glauben kamen und in die sich bildenden christlichen Gemeinden aufgenommen wurden, wie die Tauferzählungen der Apostelgeschichte zeigen (s. Anm. 108). Doch wenn jemand sein „Haus“ mittaufen ließ,135 dürften die unmündigen Kinder einer Großfamilie eher einbezogen als ausgeschlossen gewesen sein (Exkurs 11). Ein weiteres Argument für die Kindertaufe war die Einladung der Kinder durch Jesus (Mk 10,14).136 Ein Element stellvertretender Verantwor tung wird auch in 1Kor 15,29 sichtbar: Ohne eine ausdrückliche Antwort im Bekenntnis des Getauften hat man in Korinth nämlich die uns nicht näher bekannte Vikariatstaufe für die Toten praktiziert (daher auch Totentaufe genannt). Bei dieser Form der Taufe ließen sich Christen stellvertretend für Verstorbene taufen, um diese selbst nach dem Tod noch in das Heilsgeschehen einzubeziehen (1Kor 15,29). Auch die Taufe als Besprengung (statt Untertauchen), die aus der Taufe der Kranken (lat. baptisma clinicorum) entstand, ist erst in nachneutestamentlicher Zeit belegt (Did 7). Die Zusage des Heils förderte nicht nur die Verbreitung der Kindertaufe, sondern wurde auch zum Anlass, in der Verkündigung immer wieder an die grundlegende Bedeutung der Taufe für die christliche Existenz zu erinnern. So wurde die Taufe in 134

Zur Säuglings- und Erwachsenentaufe vgl. O. Hofius, Glaube und Taufe nach dem Zeugnis des Neuen Testaments, in: ders., Neutestamentliche Studien (WUNT 132), Tübingen 2000, 253–275. 135 1Kor 1,16 (Stephanas); Apg 10,24.27; 11,14 (Kornelius); 16,15 (Lydia); 16,31–33 (Kerkermeister); 18,8 (Krispus); vgl. § 6.4.5.2b. 136 Seit dem frühen Mittelalter fand die Kindersegnung durch Jesus als Schriftlesung in den Gottesdienstordnungen für die Säuglingstaufe Eingang (§ 6.2.1).

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

151

mehreren neutestamentlichen Briefen zum Ausgangspunkt, um die Christen auf ihr Getauftsein anzusprechen und sie ihrer Taufe zu vergewissern.137 Daraus folgt in der postbaptismalen Paränese die Aufforderung zu einem Leben „mit Christus“ (sýn Christṓ), das dem Vorbild Jesu in ethischer Hinsicht entspricht und der Gerechtigkeit dient (Röm 6,1 ff.; Kol 3,1 ff.).138 Diese fortdauernde Paränese für alle Getauften war eine weiteres Motiv, weshalb die Kindertaufe sich ohne den bei Erwachsenen sonst üblichen Taufvorbereitungsunterricht in der Kirche ohne größeren Widerstand durchsetzen konnte. g) Die Taufe in den nachpaulinischen Briefen: Im deuteropaulinischen Kolosserbrief (2,12) nimmt ein Schüler des Apostels Wendungen aus Röm 6,4 auf, formuliert die paulinischen Aussagen über das künftige, eschatologisch erneuerte Leben nach der Auferstehung (Futur) aber in Vergangenheitsaussagen um (Aorist). Nun liegt der Ton nicht mehr auf der durch die Taufe eröffneten Hoffnung auf die noch bevorstehende Auferstehung, sondern ganz auf der bereits gemachten Heilserfahrung, die den Glaubenden in der Taufe zuteil geworden ist. In einer veränderten Situation reagiert der Verfasser damit auf die Irrlehre vom Einfluss himmlischer Mächte („Weltelemente“) auf das menschliche Leben (Kol 2,8) und hält ihr die gegenwärtige Realität des Heils entgegen, die auf der Vergebung und dem Auslöschen des Schuldbriefs durch Christus beruht (2,13 f.). Weil die Glaubenden in der Taufe die Wirkung der heilvollen göttlichen Auferweckungskraft bereits erfahren haben, können sie allen Mächten dieser Welt gegenüber auch ihre derzeitige Existenz schon als eschatologisch erneuerte Wirklichkeit begreifen (2,12; § 8.2.5). Daran knüpft im Kolosser- und Epheserbrief die Paränese für die Getauften an, auch ethisch in der alltäglichen Praxis einen Lebenswandel zu führen, der dieser Existenz als neue Menschen angemessen ist (§ 8.2.4; 8.2.7). Nach Eph 4,5 wird die Einheit der Kirche biographisch in der einen Taufe verwirklicht, die alle Gläubigen in den weit verstreuten Gemeinden verbindet (§ 8.2.7). Auf die Taufe beziehen sich auch die Aussagen über das Wasserbad (Eph 5,25–27; s. Anm. 111) und über die Versiegelung (s. Anm. 123) durch den heiligen Geist, die als Angeld für das heilvolle Erbe (1,13 f.) am Tag der Erlösung gilt (4,30). In den Pastoralbriefen spielt ein Paulusschüler beim „Bad der Wiedergeburt und Erneuerung durch den heiligen Geist“ in Tit 3,5 auf die Taufpraxis des Untertauchens (s. Anm. 111) an, dessen rechtfertigende, Vergebung schaffende Wirkung Paulus beim Abwaschen in 1Kor 6,11 auf den Geist zurückgeführt hatte. Im Kontext von Tit 3 wird die Taufe als eine vom Geist gewirkte, neue, zweite Geburt verstanden,139 durch die der alte Mensch (Röm 6,6) die Befreiung von der Sünde und die eschatologische Neuschöpfung (Röm 6,4; 2Kor 5,17) seiner Existenz erfährt. Der 1. Petrusbrief ist eine Getauftenparänese, die die Gläubigen angesichts der befremdlichen Anfeindungserfahrungen schon in der Eingangseulogie auf ihre Wiedergeburt (1,3 ff.) 137

Röm 6,3 ff.; Gal 3,26–29; 1Kor 12,13 u. ö.; Kol 2,12 ff.; Eph 4,5; Hebr 6,2; 1Petr

3,21 f. 138 S. Anm. 50 und M. Ryšková, „Jetzt gibt es keine Verurteilung mehr für die, welche in Christus Jesus sind“ (MSS 19), St. Ottilien 1994, 274 ff. 139 Vgl. das Motiv der Wiedergeburt in Joh 3,3–5 (§ 7.1.5.3); 1Petr 1,3.23 (§ 8.6.3a); Jak 1,18 (§ 8.8.2c).

152

5 Die paulinischen Briefe

anspricht und später die rettende und reinigende Wirkung ihrer Taufe (3,20 f.; s. Anm. 115) aufgreift, um sie in ihrer christlichen Identität zu stärken und zu einem entsprechenden Verhalten zu ermutigen (§ 8.6.3a). Der Hebräerbrief (5,11 – 6,8) erinnert an die Grundlagen der Taufkatechese. Der Verfasser weist auf die Einmaligkeit der Erleuchtung durch den Geist (6,4 f.; vgl. 3,14) in der Taufe (6,2) hin, um vor der Unmöglichkeit einer zweiten Bekehrung, der „zweiten Buße“, zu warnen (vgl. Hebr 10,10.26; § 8.5.3c). Die Taufe befreit nicht nur vom bösen Gewissen, sondern reinigt auch den Leib und dient – analog zu den Reinigungsriten im Tempelkult – der Vorbereitung auf den Eintritt in das himmlische Heiligtum (10,19.22: „gewaschen mit reinem Wasser“; § 8.5.3c).

h) Fazit: Erstaunlich früh hat sich die Taufe als christlicher Initiationsritus durchgesetzt, der nur ein einziges Mal für das ganze Leben vollzogen wird. Durch die Taufe auf den Namen Jesu Christi werden die Gläubigen mit seinem Geschick in Tod und Auferstehung verbunden und in die Gemeinde aufgenommen. Durch den rituellen Vollzug wird einem Menschen individuell zugeeignet, was Christus mit seinem Sterben stellvertretend für alle auf sich genommen hat. Urbild ist die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer. Dementsprechend begründet die Taufe die Gotteskindschaft der Christen, gewährt die Vergebung, die Christus gebracht hat, und vermittelt den Geist Gottes. Die Taufe ist kein Selbstreinigungsritus, sondern beruht auf dem göttlichen Heilshandeln. Deshalb ist es von großer symbolischer Bedeutung, dass sie durch eine andere Person als Täufer vollzogen wird. Bei den Heidenchristen tritt die Taufe als Aufnahmeritus an die Stelle der Beschneidung im Judentum. In den neutestamentlichen Briefen werden die Adressaten als Getaufte angesprochen, ihrer Verbundenheit mit Christus vergewissert und dazu ermahnt, dem heilvollen Willen Gottes in ihrer ethischen Lebensführung zu entsprechen. 5.6.2.3

Das Herrnmahl

 Ernst Käsemann, Anliegen und Eigenart paulinischer Abendmahlslehre (1948), zuletzt in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 61970 (Bd. II, 31970), 11–34; Joachim Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 41966; Hans-Josef Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult (NTA.NF 15), Münster 21982; Otfried Hofius, Herrenmahl und Herrenmahlpraxis. Erwägungen zu 1Kor 11,23b–25, in: ders., Paulusstudien (Lit. § 5), 203– 240; Bernd Kollmann, Ursprung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier (GThA 43), Göttingen 1990; Thomas Söding, Das Mahl des Herrn, in: Vorgeschmack, FS Th. Schneider hg. v. B. J. Hilberath, Mainz 1995, 134–163; Matthias Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft (TANZ 13), Tübingen u. a. 1996; Jörg Frey / Jens Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament (WUNT 181), Tübingen 2005; Jens Schröter, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart (SBS 210), Stuttgart 2006.

Die unter Protestanten übliche Bezeichnung „Abendmahl“ geht auf die Lutherübersetzung von 1Kor 11,23 zurück: „... in der Nacht, da er verraten ward ...“ Sie betont den Bezug zum letzten Mahl Jesu. Paulus redet vom „Herrnmahl“ (kyriakón deíp-

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

153

non; 1Kor 11,20), weil Christus selber der Gastgeber ist (10,21; 11,23 ff.). Oder er spricht – im Gegensatz zum Altar heidnischer Kultmahle – vom „Tisch des Herrn“ (1Kor 10,21). Lukas nimmt das „Brotbrechen“, das für eine jüdische Mahlzeit typisch ist, aus dem Einsetzungsbericht (Mk 14,22; 1Kor 11,24) auf und gebraucht es als umfassenden Terminus für das eucharistische Mahl.140 „Eucharistie“ ist ein Ableitung von „eucharisteín“ (danken), verengte sich aber schon bald vom Tischgebet vor einer Mahlzeit (Mk 8,6; Apg 27,35) – so im Einsetzungsbericht141 – zu einer speziellen Bezeichnung für die eucharistische Mahlfeier (Did 9,1–5; vgl. 1Kor 10,16 v.l.). Im 2. Jh. wird der Begriff „Eucharistie“ zur vorherrschenden Bezeichnung. Ähnlich wie bei der Taufe (s. Anm. 100) hat die religionsgeschichtliche Schule auch das Herrnmahl aus den hellenistischen Mysterienreligionen zu erklären versucht. Doch ist nach gegenwärtigem Forschungsstand nicht anzunehmen, dass der Brauch eines gottesdienstlichen Mahls aus den Mysterienkulten übernommen wurde. Als Ausgangspunkt der Überlegungen zum Herrnmahl dient heute wieder die frühchristliche Mahlüberlieferung.142 Wir beginnen deshalb a) mit einem Vergleich der verschiedenen Einsetzungsberichte und den Beobachtungen zum äußeren Verlauf des Mahls Jesu mit den Jüngern. Dann wenden wir uns b) der symbolischen Bedeutung der Gabeworte Jesu zu und gehen c) der liturgischen Feierpraxis in der Gemeinde sowie d) der mit ihr verbundenen eschatologischen Heilserwartung nach. Am Ende verfolgen wir e) die Bedeutung des Herrnmahls in den einzelnen Schriften des Neuen Testaments weiter, bevor wir f) mit einer Zusammenfassung schließen. a) Die Entstehung: Historisch gehen die Texte von der Stiftung des Herrnmahls auf die Ereignisse der letzten Tage Jesu zurück, in denen er sich mit dem Risiko seines Leidens und mit dem Sinn seines Todes vor der Ankunft des Reiches Gottes auseinandersetzen musste. Der Einsetzungsbericht begegnet im Neuen Testament insgesamt 4-mal, wobei jeweils zwei Texte einander näher stehen: einerseits Mk 14,22–25 und Mt 26,26–29, andererseits Lk 22,15–20143 und 1Kor 11,23–25144 (zu Johannes s.u.).145 Paulus hat 140

Lk 22,19; 24,30.35; Apg 2,42.46; 20,7; vgl. 1Kor 10,16. Vgl. Kelch- (Mk 14,23 par. Mt 26,27) und Brotwort (Lk 22,19 par. 1Kor 11,24). Das synonym gebrauchte, alttestamentlich-jüdische „eulogeín“ (loben; Mk 14,22 par. Mt 26,26) weist auf die Form der Berakha als Tischeulogie hin: „Gepriesen sei ...“; vgl. P. Billerbeck, Kommentar I (Lit. § 12e), 685–687; U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 33–39. 142 J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 601–606; zur Forschungsgeschichte vgl. H.-J. Klauck, Herrenmahl, 8 ff. 143 Die lukanische Textüberlieferung wurde stark bearbeitet, doch ist textkritisch die Langfassung ursprünglich. 144 Vgl. zu 1Kor 11,23b–25 O. Hofius, Herrenmahl, 203–240; Ch. Wolff, ThHK 7, 265– 273; J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 599–623. 145 Vgl. die tabellarischen Übersichten bei G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 359– 141

154

5 Die paulinischen Briefe

die Einsetzungsworte „vom Herrn empfangen“ (1Kor 11,23), d. h. aus einer in der Gemeinde mündlich tradierten Jesusüberlieferung übernommen.146 Da Lukas die markinische Vorlage mit Aussagen der paulinischen Fassung kombiniert, repräsentieren Markus und Paulus jeweils die ältere Überlieferungsstufe. Mk

Mt

1Kor 11,23–25

Lk

Abb.9: Die neutestamentliche Herrnmahlsüberlieferung

Die weitergehende Frage, ob die markinische147 oder die paulinische Fassung148 bzw. welche Einzelwendungen149 dem ursprünglichen Wortlaut der Spendeworte Jesu am nächsten kommen, wird in der Literatur breit diskutiert, lässt sich auf der vorhandenen Textgrundlage aber kaum entscheiden und muss offen bleiben.150 Eine Synopse der Einsetzungsworte (s. S. 155) zeigt, dass Brot- und Kelchwort bei den Aussagen über den Leib, das Blut und den Bund durchgehende Gemeinsam keiten (unterstrichen) aufweisen, die Erklärungen zur stellvertretenden Bedeutung des Todes Jesu „für viele“ bzw. „für euch“ (kursiv) aber unterschiedlich formuliert und zugeordnet sind. Außerdem wird der Sinn des Kelchworts bei Matthäus durch den Zusatz „zur Vergebung des Sünden“ erläutert (fett). Lukas und Paulus erwähnen einen Wiederholungsbefehl, den Paulus nach dem Kelchwort in einer erweiterten Form ein zweites Mal anführt (fett). Lukas und Paulus sprechen vom „neuen“ Bund (fett). Eine Tendenz zur Angleichung von Brot- und Kelchwort zeigt sich in der parallelen Formulierung bei Markus und Matthäus („Dies ist ...“) sowie in der Gedächtnisaufforderung bei Paulus.

386, die biblischen Bezüge bei P. Stuhlmacher, Theologie 1 (Lit. § 1), 130–142, die detaillierte forschungsgeschichtliche Textanalyse bei Th. Söding, Mahl, 134–163, sowie die theologische Zusammenschau von F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 533–564. 146 Indem Paulus die Situationsangabe in der Nacht des Verrats mit dem Kyriostitel (§ 5.6.1.3) verknüpft, macht er deutlich, dass der Gekreuzigte mit dem auferstandenen Herrn identisch und in der Mahlfeier der Gemeinde als der himmlische und wiederkommende Gastgeber präsent ist (§ 5.6.2.5). 147 P. Stuhlmacher, Th. Söding. 148 Ch. Wolff, G. Theißen / A. Merz. 149 H.-J. Klauck. 150 O. Hofius, J. Schröter.

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln) Mt 26,26.27 f. Nehmt, esst, dies ist mein Leib.

Mk 14,22.24 Nehmt, dies ist mein Leib.

Trinkt alle aus ihm, denn dies ist Dies ist mein Blut des Bundes, mein Blut des Bundes, das für viele vergossen das für viele vergoswird sen wird. zur Vergebung der Sünden.

Lk 22,19.20

1Kor 11,24.25

Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird. Dies tut zu meinem Gedächtnis.

Dies ist mein Leib für euch.

Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.

Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut.

155

Dies tut zu meinem Gedächtnis.

Dies tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis. unterstrichen Gemeinsamkeiten fett Besonderheiten

kursiv Stellvertretungsaussagen

Nicht übersehen werden darf die unterschiedliche Funktion der Einsetzungsberichte. Bei den Synoptikern ist das letzte Mahl Jesu mit den Jüngern ein Teil der Passionserzählung. Paulus hingegen zitiert ein liturgisches Formular aus dem Gemeindegottesdienst, das die Einsetzung der eucharistischen Mahlfeier für die christliche Gemeinde in Erinnerung ruft. Damit geht es bei diesen Mahltexten nicht nur um das letzte Mahl Jesu, sondern auch um die erste Abendmahlsfeier der Gemeinde. Die Erzählung vom Abschiedsmahl Jesu hat also zugleich die Funktion einer Kultätiologie, welche die Mahlfeier der Gemeinde von der ursprünglichen Intention ihres Stifters her erklären, begründen und normieren soll151 – und zugleich deren Praxis widerspiegelt.152 151

Vgl. die praktisch-theologischen Folgerungen von O. Hofius, „Für euch gegeben zur Vergebung der Sünden“. Vom Sinn des Heiligen Abendmahls, in: ders., Neutestamentliche Studien (s. Anm. 134), 276–300. 152 Auch wenn Markus vom letzten Mahl Jesu als einem einmaligen Geschehen erzählt, dürfte seine Erzählung – zumindest unausgesprochen – schon eine implizite ätiologische Bedeutung haben, die die Mahlfeier der christlichen Gemeinde legitimieren soll. Deshalb werden die Aufforderung: „Nehmt!“ und der Vollzug „sie tranken alle daraus“ aus Mk 14,22 f. von Matthäus (26,26 f.) redaktionell noch stärker auf die hörende Gemeinde zugespitzt, die für ihr Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit seliggepriesen wird (5,6) und in der eucharistischen Mahlfeier durch die Vergebung der Sünden Sättigung erfährt (26,28): „Nehmt, esst ... trinkt alle daraus!“ In der paulinischen Herrnmahlsüberlieferung deuten die direkte Anrede („für euch“) und der Wiederholungsbefehl („das tut ...“) als Spuren des liturgischen Gebrauchs

156

5 Die paulinischen Briefe

Verschieden wird die zeitliche Abfolge der einzelnen Teile dieser Mahlfeier geschildert:153 Nach Mk 14,22 par. Mt 26,26 geschah die Brot- und Kelchhandlung nach der Mahlzeit („als sie gegessen hatten“), und Jesus beendete die Feier mit dem eschatologischen Ausblick auf das neuerliche Weintrinken im Reich Gottes (Mk 14,25 par. Mt 26,29). Damit bildeten Brot- und Kelchwort bei Markus und Matthäus den Abschluss der Sättigungsmahlzeit. Nach Paulus und Lukas hingegen wurde bereits vor der Sättigungsmahlzeit das Brotwort gesprochen und das Kelchwort folgte erst „nach dem Essen“ (Lk 22,20 par. 1Kor 11,25), sodass das Hauptmahl – wie jede jüdische Mahlzeit – von Tischgebet und Lobpreisbecher eingerahmt war. Die Trennung von gemeinschaftlichem Sättigungsmahl (später „Agape“ genannt) und sakramentaler Feier (später als „Eucharistie“ bezeichnet) ist erst in größeren Gemeinden um 150 n. Chr. belegt (Justin apol. I,65.67),154 könnte aber schon bei Markus und Matthäus angedeutet sein (was für die paulinische Version als die ursprünglichere Fassung spräche).155 Mk / Mt

Lk / Pls

Mahlzeit Brotwort Kelchwort

Brotwort Mahlzeit Kelchwort

Umstritten ist die Frage, ob das letzte Mahl mit den Jüngern ein Passamahl war, wie Joachim Jeremias annahm.156 Für seine Vermutung spricht der Erzählkontext mit den Vorbereitungen zum Passafest (Mk 14,12–17 parr.) und vor allem die lukanische Schilderung der Mahlszene (Lk 22,15). Trifft diese Annahme zu, so hätte Jesus zunächst das herkömmliche Passaritual mit der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten vollzogen (vgl. Ex 12,1–28; 13,3–10), dann aber beim Tischgebet vor dem Sättigungsmahl das Brot und danach beim dritten Becher –

auf ein späteres Entwicklungsstadium hin, doch könnte das Fehlen solcher Hinweise bei Markus auch gattungsbedingt durch den erzählenden Charakter der Passionsgeschichte erklärt werden. Welche dieser beiden Möglichkeiten dem ursprünglichen Wortlaut bei Jesus näher kommt, ist kaum noch rekonstruierbar. 153 Vgl. O. Hofius, Herrenmahl, 207–223, der „prolambánein“ in 1Kor 11,21 nicht als Vorwegnahme der Mahlzeit versteht, sondern ohne Betonung des zeitlichen Aspekts übersetzt (218): „Ein jeder nimmt beim Essen seine eigene Mahlzeit ein.“ Damit widerspricht er dem gängigen Verständnis, dass die reicheren Gemeindeglieder mit dem sättigenden Teil der Mahlzeit früher begannen und betrunken waren, wenn die Ärmeren später von der Arbeit kamen. 154 Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen I. Alte Kirche, hg. v. A. M. Ritter, Neukirchen-Vluyn 72002, 37–39. 155 Jesus nahm nach der lukanischen Darstellung an der Passamahlfeier nicht teil, verwies aber auf das künftige Essen und Trinken vom Weinstock im Reich Gottes mit der Erwähnung eines weiteren Kelchs (Lk 22,15–18). 156 Vgl. J. Jeremias, Abendmahlsworte, 35 ff., sowie das Plädoyer für ein Passamahl von P. Stuhlmacher, Theologie 1 (Lit. § 1), 54–57.130–135.141 f.207–210, und M. Hengel, Das Mahl in der Nacht, „in der Jesus ausgeliefert wurde“ (1 Kor 11,23), in: ders., Christologie (Lit. § 5.6.1), 451–495, bes. 462 f.472–492, mit den Einwänden bei G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 365.367 f.373–376.

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

157

dem sog. „Segens-“ oder treffender „Lobpreisbecher“ (vgl. 1Kor 10,16)157 – den Kelch mit einer neuen Deutung versehen. Gegen diese Interpretation wird eingewandt, dass die Einsetzungsworte selber explizit keinerlei Bezug zum Passamahl herstellen (außer vielleicht der Gedächtnisaufforderung; s. Anm. 179). Doch darf dieses Schweigen als argumentum e silentio nicht überstrapaziert werden. Denn auch wenn es ein Passamahl war, musste die Deutung Jesu keineswegs zwingend beim Passaritual anknüpfen. Zudem waren die Erzähler – statt an der Überlieferung des heute aufschlussreichen, damals aber selbstverständlichen Festrahmens – primär an der tiefgreifenden Neuinterpretation von Brot und Wein durch Jesus und am Modellcharakter für die urchristliche Eucharistiefeier interessiert. Als weiteres Gegenargument wird die Datierung des Todestags Jesu angeführt: Nach der übereinstimmenden Darstellung aller vier Evangelien muss die Hinrichtung Jesu am Rüsttag für den Sabbat,158 d. h. an einem Freitag, stattgefunden haben. Nun ergibt sich das Problem, dass nach den Angaben der Synoptiker die Kreuzigung nach dem nächtlichen Passamahl am ersten Tag des Passafestes (15. Nisan) erfolgte, nach der johanneischen Chronologie dagegen schon einen Tag früher (14. Nisan) am „Rüsstag für das Passafest“ (Joh 19,14 ff.42) zu einem Zeitpunkt, als die Passalämmer erst nachmittags geschlachtet wurden (vgl. 1Kor 5,7).159 Diese johanneische Datierung auf den 14. Nisan (7. April 30) wird von vielen Forschern für historisch eher zutreffend gehalten (§ 7.1.4), weil an Feiertagen wie dem Passafest keine Prozesse durchgeführt wurden. Da Jesus nach Johannes am Passaabend bereits verstorben ist, weist das Abschiedsmahl Jesu mit der Fußwaschung in Joh 13 keinen Bezug zum Passafest auf. Der historische Wert der johanneischen Datierung auf den Rüsttag wird jedoch auch angezweifelt wegen der theologischen Tendenz des vierten Evangelisten, nach der Jesus als das wahre Passalamm starb, um das Heil zu bringen (Joh 1,29.36; 18,28; 19,36).160 Mit der Datierung des Todes Jesu bleibt daher auch weiterhin die Frage umstritten, ob es sich bei der Einsetzung des Herrnmahls durch Jesus ursprünglich um ein Passamahl oder um eine gewöhnliche Mahlzeit handelte.

b) Die Gabeworte: Jesu Abschiedsmahl ist nach den erhaltenen Texten eine Symboloder Zeichenhandlung, in der Jesus Brot und Wein zeichenhaft mit einer neuen Interpretation versah. Der Symbolbegriff besagt in diesem Fall, dass das Essen und Trinken der angebotenen Gaben das Gute repräsentiert, das den Menschen durch den bevorstehenden Tod Jesu zuteil wird. Zur Deutung werden drei Motive verwendet, die – bei allen Unterschieden in der Formulierung – in der Sache im Wesentlichen

157

Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 35 f. Mk 15,42; Mt 27,62; Lk 23,54; Joh 19,31.42. 159 Vgl. R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 31–52, bes. 43 ff.; G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 152–154. 160 Zur Bedeutung des Pesachfestes vgl. Ch. Schlund, „Kein Knochen soll gebrochen werden“ (WMANT 107), Neukirchen-Vluyn 2005, oder zusammenfassend dies., Deutungen des Todes Jesu im Rahmen der Pesach-Tradition, in: J. Frey / J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu, 397–411. 158

158

5 Die paulinischen Briefe

übereinstimmen: erstens die freiwillige Selbsthingabe, zweitens die Stellver tretung bzw. Sühne und drittens der Bundesschluss.161 Der Gedanke der Selbsthingabe ist bereits im Brot- und Kelchwort impliziert. Die kürzeste (deshalb auch ursprüngliche?) Fassung des Brotworts finden wir bei Markus (14,22): „Dies ist mein Leib.“ Nach dieser Aussage identifizierte Jesus sich mit dem gebrochenen Brot. Der Leib meint hier nicht nur den Körper, sondern die gesamte leibliche Existenz, die den Tod Jesu einschließt (vgl. Röm 7,4). Dadurch erhielt das rituelle Zerbrechen des Brots (éklasen), wie es bei jüdischen Mahlzeiten üblich war, eine tiefere symbolische Bedeutung, die auf das Gewaltsame seiner Hinrichtung hinweist. Das zerbrochene Brot wird zum Zeichen des drohenden Todes. Dass dieser Tod anderen Menschen zugute kommt, kann bei Markus als Ausdruck der Proexistenz162 und Selbsthingabe Jesu aufgefasst werden. Denn indem Jesus das Brot austeilte, gab er (édōken) – durch das Gabewort „nehmt“ (lábete) verstärkt – Anteil an dem Heil, das durch die rettende Hingabe seines Lebens („Leib“) am Kreuz herbeigeführt wird (vgl. Mk 10,45).163 Das Kelchwort heißt bei Markus und Matthäus: „Dies ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird.“ Damit setzen Markus (und Matthäus) beim Brot- und Kelchwort (wie später Justin apol. I,66,3)164 streng parallel ein (was auf eine sekundäre Angleichung hindeuten könnte): „Dies ist mein Leib / Dies ist mein Blut ...“ Paulus und Lukas hingegen formulieren beide Sätze asymmetrisch (was beim Kelchwort dann gegebenenfalls die ursprünglichere Fassung wäre): „Dieser Kelch ist der neue Bund, (der) durch mein Blut (geschlossen wurde).“ Der Kelch (potḗrion) steht metonymisch für den im Gefäß befindlichen Wein und wird – in der Sache ebenso wie bei Markus und Matthäus – durch eine kühne Neuinterpretation auf das Blut Jesu bezogen. Daraus ergeben sich zwei Aspekte: Zum einen gilt das Blut als Träger des Lebens (Lev 17,11). Nur in der von Markus abhängigen synoptischen Überlieferung wird gesagt, dass dieses Blut „vergossen“ wird (ekchynnómenon; bei Paulus fehlt eine entsprechende Angabe). Das Blutvergießen spielt auf die gewaltsame Tötung Jesu an, schließt den Gedanken der freiwilligen Selbsthingabe ein und wird bei den Synoptikern in seiner soteriologischen Bedeutung durch eine Stellvertretungsaussage („für viele / euch“) expliziert. 161 Stellvertretung und Bundesstiftung sind bei Markus (und Matthäus) mit der Kelchhandlung verbunden, bei Paulus (und Lukas) zwischen Brot- und Kelchwort aufgeteilt. 162 Der Begriff wurde geprägt von H. Schürmann, „Pro-Existenz“ als christologischer Grundbegriff, in: ders., Jesus – Gestalt und Geheimnis, Paderborn 1994, 286–315. 163 Auf diese soteriologische Bedeutung greift Paulus zurück, wenn er das Herrnmahl in 1Kor 10,16 als Teilhabe am Leib und Blut Christi interpretiert, d. h. als Partizipation an der heilvollen Gemeinschaft (koinōnía) mit Gott, die durch den Tod Jesu gestiftet ist und durch die Teilnahme am Mahl empfangen wird (metéchomen = wir haben teil). 164 Zitiert bei K. Aland, Synopsis, zu Mk 14,22–25.

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

159

Zum anderen wird der Kelch durch die Ankündigung Jesu, er werde vom Wein erst wieder bei der erneuerten Mahlgemeinschaft in der vollendeten Gottesherrschaft trinken (Mk 14,25), im eschatologischen Sinn zu einem Becher der Verheißung, zum „Kelch des Heils“ (Ps 116,13). Aus ihm zu trinken, nimmt das endzeitliche Festmahl symbolisch vorweg, wie es Jesus in seiner ganzen Verkündigung vom Reich Gottes dargelegt hat (s.u. Anm. 181). In allen vier Fassungen der Gabeworte begegnen Stellvertretungsaussagen, die jedoch unterschiedlich formuliert und eingebunden sind. Das Brotwort wird allein bei Paulus (und Lukas) noch verdeutlicht durch den Zusatz „für euch (gegeben)“ (hypér hymṓn).165 Beim Kelchwort überliefern alle drei Synoptiker eine Stellvertretungsaussage, nur Paulus nicht, der sie schon beim Brotwort platziert hatte (s. Anm. 165 ff.). Die Stellvertretungsformel „für viele“ (hypér pollṓn) erinnert bei Markus (14,24) an das Lösegeldwort in Mk 10,45, nach dem der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als „Lösegeld für viele“ (lýtron antí pollṓn; vgl. 1Tim 2,6).166 „Viele“ meint im hebräischen Sprachgebrauch eine unzählbar große Menge, sodass die Wirkung dieses Todes eigentlich „allen“ Menschen zugute kommen soll. In Joh 6,51 wird die Stellvertretungsaussage durch den eucharistischen Bezug der Brotrede universal interpretiert: „für das Leben der Welt“ (§ 7.1.5.1a). Durch die Stellvertretungsaussagen wird nur explizit benannt, was im Brot- und Kelchwort der Sache nach schon ausgedrückt war: Jesu Selbstidentifizierung mit dem gebrochenen Brot und dem vergossenen Blut wird weiter ausgeführt durch das Motiv der stellvertretenden Sühne.167 Diese Vorstellung ist für viele Zeitgenossen heute nur schwer nachvollziehbar und darum auch in der exegetischen Diskussion

165

Diese Ergänzung könnte möglicherweise durch eine sekundär parallelisierende Angleichung an das nachfolgende Kelchwort entstanden sein, bei der das Verb aus Jes 53,6.10.12 übernommen wurde. 166 Vgl. parallel auch Mt 26,28 (perí pollṓn) mit 20,28 (antí pollṓn); bei Lukas (§ 6.4.5.3d) ist die Stellvertretungsformel in eine direkte Anrede umgesetzt: „für euch“ (vgl. ebenso die paulinisch-lukanische Fassung des Brotworts). 167 Zu den biblischen Sühneaussagen vgl. P. Stuhlmacher, Theologie 1 (Lit. § 1), 137–141; O. Hofius, Art. Sühne IV, TRE 32, 342–347; F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 381–398, und jetzt umfassend den Sammelband von J. Frey / J. Schröter (s. Anm. 160), die mit ihren beiden gerade in ihrer Unterschiedlichkeit aufschlussreichen Einführungen den gegenwärtigen Diskussionsstand wiedergeben; vgl. weiter B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen (WMANT 55), Neukirchen-Vluyn 1982, 22000; ders., Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff (SBS 165), Stuttgart 1997; Th. Knöppler, Sühne im Neuen Testament (WMANT 88), Neukirchen-Vluyn 2001, fer ner G. Röhser, Stellvertretung im Neuen Testament (SBS 195), Stuttgart 2002, und zur Begriffsgeschichte S. Schaede, Stellvertretung (BHTh 126), Tübingen 2004; ders., Art. Stellvertretung IV–V, RGG4 5, 1710–1713.

160

5 Die paulinischen Briefe

strittig. Umso sorgfältiger sollte beim Abendmahl differenziert werden zwischen einerseits der historischen Frage nach dem ursprünglichen Verständnis der neutestamentlichen Texte und andererseits der systematisch zu reflektierenden Problematik gegenwärtiger Vermittlungsmöglichkeiten. Deshalb schieben wir einen Exkurs zur Stellvertretung und Sühne ein, um dann wieder zur Heilsbedeutung der Gabeworte zurückzukehren.

Exkurs 2: Stellvertretung, Sühne, Versöhnung Die Wortfamilie „Sühne“ (hilasmós) kommt im Neuen Testament zwar nur selten vor (bei Paulus bloß Röm 3,25),168 doch kann die sühnende Wirkung des Todes Jesu auch durch einen Ausdruck der Stellvertretung umschrieben werden. Der Terminus „Stellvertretung“ ist ein erst in der Neuzeit (18. Jh.) gebildetes Abstraktum, für das es kein direktes biblisches Äquivalent gibt. Auch begegnet uns für den Stellvertretungsgedanken im Neuen Testament keine einheitliche Ausdrucksweise, sondern nur eine Reihe von unterschiedlich formulierten präpositionalen Wendungen.169 Die Sühne hat ihr Zentrum im Opferkult. Den Höhepunkt bildete in der alttestamentlich geprägten Tradition der große Versöhnungstag im Heiligtum (Lev 16).170 An diesem Tag betrat der Hohepriester einmal im Jahr das Allerheiligste und besprengte mit dem Blut der Opfertiere den Gnadenthron, um Sühne zu schaffen für die Sünden der Israeliten. Dieses Sühnegeschehen hatte stets stellvertretenden Charakter. Daneben findet sich der Gedanke einer stellvertretenden Lebenshingabe auch im vierten Gottesknechtslied (Jes 53; s. Anm. 87), hier allerdings außerhalb des Sühnopferkults. Darüber hinaus begegnet eine Stellvertretungsaussage nur im hellenistischen Judentum im Zusammenhang mit dem Märtyrertod (2Makk 7,37 f.; 4Makk 6,29; 17,21 f.). Dieser differenzierte Befund zur Stellvertretung und zur Sühne spricht zunächst gegen eine durchgehende Identifizierung beider Vorstellungen, so häufig diese Motive auch zusammen auftreten bzw. ineinander übergehen. Sühne hat immer einen stellvertretenden Charakter. Aber nicht jede Stellvertretungsaussage entstammt der kultischen Sühneopfertradition. Daher sollte in der exegetischen Diskussion präziser 168 Vgl. hiláskesthai = sühnen Lk 18,13 (§ 6.4.5.3d); Hebr 2,17 (§ 8.5.3), hilasmós = Sühne 1Joh 2,2; 4,10 (§ 7.1.5.1a); hilastḗrion = Deckplatte der Bundeslade Röm 3,25 (§ 5.16.1); Hebr 9,5. 169 Vgl. die unterschiedlichen präpositionalen Formulierungen mit hypér (vgl. die Abendmahlsüberlieferung Mk 14,24; Lk 22,19.20; 1Kor 1,13; 11,24; Joh 6,51, die Pistis-Formel 1Kor 15,3 [§ 5.6.2.1] sowie Röm 5,6.8; 8,32; 14,15; 2Kor 5,14 f.21 [§ 5.13.3.1c]; Gal 1,4; 2,20; 3,13; 1Thess 5,10 und weiter Eph 5,2.25; 1Tim 2,6; Tit 2,14; Hebr 2,9; 6,20; 1Petr 2,21; Joh 10,11.15; 15,13; 17,19; 1Joh 3,16 [§ 7.1.5.1a]), perí (Mt 26,28; Röm 8,3; 1Petr 3,18; Hebr 5,3), antí (Mk 10,45; Mt 20,28), diá (Röm 4,25; 1Kor 8,11; vgl. Jes 53,5.12). 170 Der Yom Kippur müsste im Wortsinn eigentlich „Sühnetag“ heißen.

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

161

unterschieden werden erstens zwischen den wechselnden quellensprachlichen Ausdrücken für Sühne und für Stellvertretung, zweitens zwischen der traditionsgeschichtlichen Frage ihrer Herleitung aus dem Judentum oder aus der hellenistischen Umwelt und drittens zwischen der metasprachlichen Rede von der Sühnetheologie oder dem Stellvertretungsgedanken als einer hermeneutisch systematisierenden Leitkategorie. In der Abendmahlsüberlieferung greifen die Stellvertretungsaussagen die hypérFormel auf, die als Abkürzung der Wendung „für (wegen) unsere Sünden“ einer alten Bekenntnistradition entstammt (1Kor 15,3 [§ 5.6.2.1]; vgl. Gal 1,4; Röm 4,25). „Nach den Schriften“ muss sie auf Jes 53,5 f.8 f.12 zurückgehen. Von Paulus wird sie vielfach zur Umschreibung der Heilsbedeutung des Todes Jesu verwendet: „für uns“, d. h. an unserer Stelle, uns zugute, zu unseren Gunsten (s. Anm. 169). Den Hintergrund bildet der alttestamentlich-jüdische Gedanke einer sühnenden, d. h. Vergebung schaffenden Wirkung des Leidens, das im vier ten Gottesknechtslied – hier freilich außerhalb des Opferkults – durch die stellvertretende Lebenshingabe des Gottesknechts anderen zugute kommt (Jes 53,10–12; s. Anm. 87).171 So kommt auch der Tod Jesu anderen zugute, indem er sie aus der Sünde errettet. Diesen Befund müssen wir respektieren, auch wenn der Gedanke der sühnenden Stellvertretung für heutige Menschen teilweise schwer nachzuvollziehen ist.172 Um den Gedanken stellvertretender Sühne besser verstehen zu können, müssen wir ihn in den Zusammenhang der paulinischen Theologie einordnen. Für Paulus ist die Sünde eine destruktive Macht, die dem Menschen zum Verhängnis wurde und ihn unentrinnbar dem Tod ausliefert (1Kor 15,21 f.56; vgl. Röm 5,12 ff.). Sie besteht in der Feindschaft gegen Gott, d. h. in der Rebellion, die sich dem Gesetz Gottes widersetzt und allen voran gegen das erste Gebot verstößt. Durch die Sünde steht der Mensch im Widerspruch zu seiner Daseinsbestimmung, für Gott und den Nächsten zu leben. Deshalb scheitert er gerade in seinen gut gemeinten Bestrebungen durch die Herrschaft der Sünde (vgl. Röm 7,7 ff.), die sich an der von Gott gesetzten Gerechtigkeitsordnung vergeht, die im Gesetz umrissen ist. Die Sünde zerstört so in verhängnisvoller Weise die Gottesbeziehung des Menschen, trennt ihn von Gott als Quelle seines Lebens, macht ihn gottlos und führt am Ende unumgänglich in den (sc. ewigen) Tod (vgl. Röm 8,6–8 mit 5,6–10; § 5.16.5). Aus dieser fatalen Sünden- und Todesverfallenheit hat Gott den Menschen durch seine Heilstat in Christus befreit. Stets ist im Sühnegeschehen Gott das handelnde

171

Vgl. B. Janowski / P. Stuhlmacher (Hg.), Der leidende Gottesknecht. Jesaja 53 und seine Wirkungsgeschichte (FAT 14), Tübingen 1996. 172 Den Diskussionsstand fasst F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 386, so zusammen: „Auch wenn die Sterbefor meln auf griechische Formulierungstradition hinweisen, steht im Hintergrund die hebräische Denkweise, für die stellvertretendes Handeln und Sühne eine hohe Bedeutung haben. Wo immer es um Vergebung der Sünde und um Auf hebung der Trennung von Gott geht, liegt deshalb der Sühnegedanke bzw. der Gedanke stellvertretender Sühne vor.“

162

5 Die paulinischen Briefe

Subjekt, nicht Adressat oder Objekt. Gott (!) hat durch die Sendung und den Tod Jesu den Menschen der Macht der Sünde entrissen, die widergöttliche Opposition des Menschen überwunden, Frieden gestiftet und das Leben erneuert (Röm 8,3–8). Die Heilsbedeutung des Todes Jesu kann Paulus in Röm 5,8–11 noch durch eine weitere Kategorie interpretieren: die Versöhnung (katallagé). Diese Wortfamilie wird sonst im zwischenmenschlichen Bereich gebraucht, bei Paulus für die Aussöhnung zwischen Eheleuten (1Kor 7,11), im paganen Griechisch für die diplomatischen Beziehungen zwischen (Stadt-)Staaten. Auch wenn „Sühne“ (hilasmós) und „Versöhnung“ (katallagé) auf unterschiedlichen Vorstellungen beruhen und im biblischen Sprachgebrauch – anders als im Deutschen – keine verwandten Wortfamilien sind,173 ergänzen sich beide Deutungen darin, dass sie stets die stellvertretend heilschaffende Wirkung des Todes Jesu beschreiben. Dabei wird die göttliche Heilstat in Christus durch die Sühneterminologie in Röm 3,25 in kultischen Kategorien gedeutet (s. Anm. 170.177 f.), beim Versöhnungsgedanken in 2Kor 5,18–20; Röm 5,10 f. hingegen durch die soziale Vorstellung von der Aussöhnung zwischen Feinden ausgedrückt.174 Auch der Versöhnungsgedanke ist mit Stellvertretungsaussagen verbunden (Röm 5,6.8; 2Kor 5,14 f.21). Durchgehend ist es Gott, der aus Liebe Sühne und Versöhnung gnädig gewährt, die Feindschaft zwischen Gott und Mensch überwindet und die Aufhebung der Schuld bewirkt. In einem umfassenden Schöpfungsakt macht Gott den Menschen „in Christus“ zu einer „neuen Kreatur“ (2Kor 5,17). Die Sünde wird ihm nicht mehr angerechnet, er wird durch den Glauben gerecht gemacht, bekommt Anteil an Gottes Gerechtigkeit und wird aus dem göttlichen Zorngericht errettet.175 Für das Verständnis der Sühne ist entscheidend, dass diese nicht wie bei Anselm von Canterbury (1033–1109) eine menschliche Gabe von satisfaktorischer Bedeutung ist im Sinn einer Genugtuung, als ob Jesus durch seinen Tod stellvertretend eine menschliche Ersatzleistung zur Wiedergutmachung für die Schuld erbracht hätte.176 Im biblischen Sinn stellt die Sühne eine einzigartige, souveräne und bedingungslose Stiftung Gottes dar. Sie ist ein einseitiges göttliches Gnadenhandeln, das durch den Tod Jesu die Sünde aufgehoben und in Christus für die Menschen eine neue Gemeinschaft mit Gott begründet hat. Dieses göttliche Geschenk können Menschen nur empfangen und im Glauben annehmen, indem sie sich versöhnen lassen (2Kor 5,20). Soweit Paulus.

*** 173

Dies betont zu Recht C. Breytenbach, Versöhnung (Lit. § 5.13); ders., Art. Sühne; Art. Versöhnung, ThBLNT2 2, 1685–1691.1777–1780 (Lit.). 174 Vgl. noch Röm 8,7, aber auch Kol 1,20–22. 175 2Kor 5,14–21; Röm 5,1.8–11 (§ 8.5.2i; 5.13.3.1c; 5.16.5a). 176 Unüberholt bleibt aus Anselms Schrift „Cur deus homo?“ freilich die Mahnung zu bedenken, welches Gewicht die Sünde hat: nondum considerasti, quanti ponderis sit peccatum (I,21).

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

163

Kehren wir nach dem Exkurs zum Herrnmahl zurück, so bekommen die Glaubenden in dessen Feier die Errungenschaften des stellvertretenden Todes Jesu bzw. der göttlichen Sühnetat in Christus wirksam zugeeignet. Hier erfahren sie die neu gewonnene Gemeinschaft mit Gott bzw. dem Herrn. Deshalb ist die sonst in der 1. Person formulierte Wendung „für uns“ – dem liturgischen Sitz im Leben entsprechend – in der paulinisch(-lukanischen) Version zu einer Anrede in der 2. Person umformuliert: „für euch (gegeben bzw. vergossen)“. Bei diesem Wechsel zur direkten Anrede handelt es sich also um eine Anpassung für den Gebrauch im Gottesdienst. Matthäus ergänzt beim Kelchwort sachgemäß die Wendung „zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28), die an sich nur die heilschaffende Bedeutung des Blutvergießens „für viele“ expliziert, aber auch in anderen Zusammenhängen ein besonderes Anliegen des Evangelisten erkennen lässt (s.u.). Von zentraler Bedeutung ist beim Herrnmahl die Vorstellung vom Bund,177 die an zwei unterschiedliche Traditionen anknüpft: Zum einen erinnert das Spendewort bei Markus und Matthäus an „das Blut des Bundes“ in Ex 24,8, das den Tod Jesu typologisch mit dem Opferblut in Beziehung setzt, das beim Bundesschluss am Sinai versprengt wurde (vgl. Hebr 9,20; § 8.5.3b). Zum andern verweisen Lukas und Paulus durch das Attribut „neu“ auf den neuen Bund, den nach Jer 31,31–34 JHWH Israel und Juda – ohne kultische Verankerung – zur vollkommenen eschatologischen Erneuerung der Gottesgemeinschaft und Vergebung der Schuld versprochen hat (vgl. 2Kor 3,6; Hebr 8,8–13; 9,15). Welche dieser beiden Versionen ursprünglich sein mag, lässt sich aufgrund des vorliegenden Textbefunds kaum entscheiden. Aber in beiden Fassungen handelt es sich bei diesem Bund um eine von Gott gesetzte Heilsordnung, die Vergebung der Sünden gewähren und die heilvolle Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott eröffnen soll. Zudem wird der Bund in allen Überlieferungen durch das Blut Jesu geschlossen, d. h. durch seine Lebenshingabe am Kreuz. Dabei kann das Blut neben dem Versprengen beim Bundesschluss (Ex 24,8) auch an die Sühne am großen Versöhnungstag erinnern (Lev 17,11). Doch bleibt zu beachten, dass die Opferterminologie im Blick auf den Tod Jesu stets metaphorisch gebraucht ist, da dieser auf Golgatha außerhalb des Opferkults starb. Jesus wurde nicht im wörtlichen Sinne auf einem Altar geopfert, sondern nur sein Tod mit Hilfe kultischer Vorstellungen als Opfer interpretiert. Hier liegt der Ausgangspunkt für die Loslösung der Christen vom Opferkult im Jerusalemer Tempel (§ 7.1.5.1a). Aufs Ganze gesehen hat Gott nach den Gabeworten der Abendmahlsüberlieferung durch den Tod Jesu nicht nur Sühne für vergangene Sünden gestiftet (s. Anm. 167 ff.), 177

Vgl. H. Lichtenberger, „Bund“ in der Abendmahlsüberlieferung, in: F. Avemarie / H. Lichtenberger (Hg.), Bund und Tora (WUNT 92), Tübingen 1996, 217–228.

164

5 Die paulinischen Briefe

sondern zugleich nach vorne blickend einen Bund von eschatologischer Bedeutung konstituiert. Zur Gemeinschaft mit Gott, die durch die Sünde zerbrochen war, ist durch den im Tod Jesu besiegelten Bund ein neuer zukunftsträchtiger Zugang eröffnet, der zum ewigen Leben führt. c) Die liturgische Praxis: Spuren gottesdienstlicher Verwendung verrät neben der korinthischen Herrnmahlsparadosis (s. Anm. 151 f.) auch der lukanische Einsetzungsbericht mit dem Wiederholungsbefehl beim Brotwort: „Dies tut zu meinem Gedächtnis“ (von Paulus nach dem Kelchwort wiederholt und ergänzt durch die Wendung „sooft ihr [davon] trinkt“; 1Kor 11,25).178 Diese explizite Anweisung begründet die Mahlfeier der christlichen Gemeinde durch das Vorbild Jesu: Was beim letzten Mahl Jesu geschah, soll sich bei jeder Abendmahlsfeier wiederholen. Durch diese Aufforderung wird die Mahlfeier für die nachösterliche Gemeinde institutionalisiert. Der Gedächtnisbefehl appelliert nicht an das intellektuelle Erinnerungsvermögen bezüglich eines Ereignisses in der Vergangenheit und hat auch nichts mit hellenistischen Totengedächtnismahlen179 zu tun. Vielmehr meint die Erinnerung hier im Sinn der hebräischen Wurzel „zkr“ das vergegenwärtigende Gedenken an JHWHs Heilshandeln (Ps 77,12; 105,5), wie es auch bei der Passafeier der Fall ist (Ex 12,14; 13,3.9). Im eucharistischen Mahl wird die Gedächtnisaufforderung durch die Verkündigung verwirklicht, die den Tod des Herrn in Erinnerung ruft und dessen Heilsbedeutung präsent werden lässt (1Kor 11,26). Diese Vergegenwärtigung geschieht nicht durch das Vorlesen der Einsetzungsworte oder die Predigt (wie im evangelischen Gottesdienst), sondern analog zu den Psalmen im hymnischen Lobpreis Gottes und seines Heilshandelns durch die Eucharistiegebete, die über Brot und Kelch gesprochen werden.180 Indem die Gemeinde vom Brot isst und aus dem Kelch trinkt, erhält sie Anteil an dem Heil, das durch den Tod Jesu erschlossen wurde. Brot und Wein sind keine „gewöhnliche“ Nahrung (Justin apol. I,66,2; s. Anm. 154), sondern „geistliche Speise“ und „geistlicher Trank“ (1Kor 10,3 f.), d. h. Gaben von geistgewirkter, überirdischer, himmlischer Herkunft und Art. Ihre geistliche, heilmachende Qualität erhalten sie durch das Tischgebet vor und nach der sakramentalen Mahlzeit (vgl. 1Kor 10,16). d) Die eschatologische Perspektive: Durch den unmittelbaren Kontext der Gabeworte ist die Mahlfeier mit einer endzeitlichen Heilserwartung verbunden. Nach dem 178 Diese Aufforderung fehlt bei Markus und Matthäus, doch dürfte deren Bericht ebenfalls die Funktion einer Kultätiologie haben (s. Anm. 151). 179 So wieder H.-J. Klauck, Herrenmahl, 83 f f.314–318. 180 O. Hofius, Herrenmahl, 224–230; vgl. Justin apol. I 65,5; 66,2 (s. Anm. 154) und 1Kor 11,24c.25c.26.

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

165

Bericht des Markus hat Jesus mit den Jüngern zwar sein letztes Mahl gefeiert, aber er tat es mit einem Ausblick auf die eschatologische Vollendung, die er mit dem neuerlichen Trinken von der Frucht des Weinstocks im Reich Gottes ankündigte (Mk 14,25 parr.).181 Dann werden nach der lukanischen Darstellung auch die Jünger als Repräsentanten des neuen Gottesvolks in der Gottesherrschaft wieder mit ihm an seinem Tisch essen und trinken (Lk 22,29 f.). Dieses endzeitliche Freudenmahl entsprach prophetischer Verheißung (Jes 25,6 f.). Jesus beschrieb es im Gleichnis vom großen Festmahl (Lk 14,15–24 Q) oder dem Logion vom Zu-Tisch-Sitzen im Reich Gottes (Lk 13,29 Q). Außerdem nahm er es in seinen Mahlgemeinschaften mit Sündern wie den Zöllnern Levi oder Zachäus182 und den Speisungswundern (Exkurs 6b) zeichenhaft vorweg. Durch die festlichen Anklänge erweist sich der Wein als Symbol der Vorfreude auf die endzeitliche Vollendung (Jes 25,6), während das Brot als Grundnahrungsmittel erscheint wie im Vaterunser (Mt 6,11). In diesem eschatologisch ausgerichteten Jubel hielt die erste Gemeinde in Jerusalem ihre eucharistischen Mahlfeiern ab (Apg 2,46). Aus derselben Parusiehoffnung ergänzte Paulus am Ende der Herrnmahlsparadosis durchaus sachgemäß: „bis (es so weit ist, dass) er kommt“ (1Kor 11,26). Damit wird der Herr in der Mahlfeier nicht nur als der Gekreuzigte und Auferstandene gegenwärtig, sondern auch als der endzeitlich Wiederkommende erwartet. Auf die Parusie zielte in den urchristlichen Gemeinden der aramäische Gebetsruf „Marana tha“ (1Kor 16,22; Did 10,6), der aus der Herrnmahlsfeier stammt und in Apk 22,20 ins Griechische übersetzt wird: „Komm, Herr Jesu!“ (s. Anm. 68 f.). Dass dieser ursprünglich eschatologische Ruf in 1Kor 16,22 und Apk 22,20 am Ende des Schreibens steht, erlaubt die Folgerung, dass nach dem Sprechen der eucharistischen Gebete bzw. dem Vorlesen des Briefs zur Feier des Herrnmahls übergeleitet wurde (vgl. Justin apol. I,66,3). Die Vorstellung von der Präsenz des Herrn in den Mahlfeiern der christlichen Gemeinde dürfte auch unterstützt worden sein durch die Berichte von den Erscheinungsmahlen des Auferstandenen mit den Jüngern, die vor allem bei Lukas, aber auch Johannes überliefert sind.183 e) Die Bedeutung des Herrnmahls in den neutestamentlichen Schriften: Wie wir bereits bei den Einsetzungsberichten sehen konnten, nehmen die einzelnen Autoren unterschiedliche Akzentuierungen vor: Matthäus (§ 6.3.3.3c) hebt redaktionell beim Kelchwort hervor, dass das Mahl „zur Vergebung der Sünden“ geschieht (Mt 26,28). Schon zu Beginn verknüpft er das Vergebungsmotiv

181

Bei Markus und Matthäus im Anschluss, bei Lukas vor Beginn des Mahles. Vgl. Mk 2,13–17 (Berufung des Levi); LkS 19,5.7.9 (Zachäus; § 6.4.5.2b); 15,1 f. 183 Lk 24,28–32.36–43; Joh 21,12 f.; Apg 10,41; vgl. A. M. Schwemer, Das Problem der Mahlgemeinschaft mit dem Auferstandenen, in: Ch. Grappe (Hg.), Le Repas de Dieu (s. Anm. 156), 187–226, bes. 208 ff. 182

166

5 Die paulinischen Briefe

mit dem Namen Jesu, der sein Volk von seinen Sünden erretten wird (Mt 1,21; vgl. 9,2.5 f.; § 6.3.3.4). Vor allem löst er die Vergebung von der Taufe, um sie mit dem Abendmahl zu verbinden (s. Anm. 105). So ist die Sündenvergebung nach matthäischem Verständnis durch den Tod Jesu ein für allemal gestiftet, aber sie wird nicht mehr einmalig in der Taufe empfangen, sondern bedarf einer immer wieder neuen Aktualisierung durch die Eucharistiefeier. Durch die Teilnahme am Mahl (26,26 f. durch die beiden Imperative redaktionell hervorgehoben: „esst“, „trinkt“) geht die Seligpreisung derer in Erfüllung, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten (5,6) und durch den Empfang von Brot und Wein, d. h. des Leibes und Blutes Christi, die Vergebung ihrer Sünden erfahren. Außerdem wird die Vergebung von Matthäus auffällig eng mit der ständigen ethischen Bewährung im Zusammenleben der Gemeinde verknüpft, das noch von dem frischen Bruch mit der Synagoge gezeichnet ist, daraus besondere Verletzungen zu verkraften hat und ein verstärktes Appellieren an die Versöhnungsbereitschaft verständlich macht (5,23–26; 6,12.14 f.; 18,21–35; § 6.3.4.3b). Lukas (§ 6.4.5.2b) betont als einziger Synoptiker beim Einsetzungsbericht einerseits durch den Erzählrahmen die Kontinuität zum jüdischen Passafest (22,15–18; s. Anm. 156), andererseits durch den Wiederholungsbefehl: „Dies tut zu meinem Gedächtnis“ (22,19) den ätiologischen Charakter, der die urchristliche Mahlpraxis begründet. Dementsprechend ist in der Apostelgeschichte nicht mehr von einer Passafeier, sondern nur von der eucharistischen Praxis der Christen die Rede.184 Die Gegenwart des erhöhten Herrn beim Mahl wird durch Anspielungen erzählerisch umgesetzt, indem der Auferstandene von den Emmausjüngern am Brotbrechen erkannt wird (Lk 24,30 f.; vgl. die Bitte V.29: „bleibe bei uns“) oder Jesus zu Zachäus nach dem Essen sagt: „Heute ist diesem Haus Heil wider fahren“ (Lk 19,9; vgl. V.5). Nach der Apostelgeschichte feierten die Christen das eucharistische Mahl in den Häusern, die als Versammlungsort dienten und als gottesdienstlicher Raum Tempel und Synagoge ablösten.185 Der Zeitpunkt war in der Jerusalmer Urgemeinde „täglich“ (Apg 2,46), sonst „am ersten Tag der Woche“ (Apg 20,7; vgl. 1Kor 16,2), dem Tag der Auferstehung Jesu (Mk 16,2), d. h. am Sonntag statt am jüdischen Sabbat – ein Hinweis auf die rituelle Verselbstständigung der frühen Christen gegenüber dem Judentum. Die Mahlfeier fand am Abend statt (Apg 20,7; vgl. 1Kor 11,21 f.), wie es für die Hauptmahlzeit und damit auch für kultische Feiern üblich war. Das Johannesevangelium berichtet nirgends von der Einsetzung des Abendmahls, erzählt aber an der entsprechenden Stelle im Evangelienaufriss (d. h. zwischen dem Einzug in Jerusalem und der Bezeichnung des Verräters) von der Fußwaschung beim letzten Mahl Jesu mit den Jüngern (Joh 13,1–20). Damit hat der Evangelist die Erzählung von der Einsetzung des Abendmahls zu Beginn der Passionsgeschichte ausgelassen und dafür die Fußwaschungserzählung eingefügt. Dennoch ist die Eucharistie im Blick, wenn die Brotrede in Kap. 6 das Speisungswunder mit dem ersten Ich-bin-Wort als das wahre Lebensbrot deutet (Exkurs 6c; § 7.1.5.3). Der Kontrast zwischen den eucharistischen Anspielungen in Joh 6 und der distanzierenden Rede vom „Passa“ als dem „Fest der Juden“ (6,4; vgl. 2,13; 11,55) legen wie bei Lukas den Schluss nahe, dass die johanneische Gemeinde das Passa nicht mehr mitgefeiert, sondern durch eine eigene eucharistische Feier ersetzt hat. Außerdem enthalten Blut und Wasser, die aus der Seite des Gekreuzigten fließen (19,34; vgl. 1Joh 5,6–8), eine Anspielung auf die Eucharistie und die Taufe. Auf die eucharistische Praxis der Gemeinde bezieht sich auch die 184

Apg 2,42.46; 20,7–12; 27,35 (§ 5.6.2.3a.c). Apg 2,46; 5,42; 20,7–12; vgl. zu den Häusern auch Röm 16,5; 1Kor 16,19; Kol 4,15; Phlm 2 (zur Lit. s. Anm. 8). 185

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

167

Einladung zum Mahl durch den Auferstandenen im Nachtragskapitel (21,12 f.; vgl. Lk 24,30 f.). Paulus thematisiert das Herrnmahl in seinen Briefen nur in 1Kor 10,3 f. (s. Anm. 92), 10,16 f.21 f. und 11,17–34 mit den Einsetzungsworten in 11,23–25 (s. Anm. 144). Dort erörtert er zum einen die Frage, ob ein Christ, der zum Herrnmahl geht, auch an Mahlzeiten teilnehmen kann, bei denen Fleisch von Tieren verzehrt wird, die möglicherweise im Zusammenhang mit Opfern für heidnische Götter („Götzen“) geschlachtet wurden (Kap. 8 – 10; § 5.12.1). Zum anderen hat er von einer Aufspaltung zwischen Reichen und Armen bei der Mahlfeier erfahren, dass bei dem sättigenden Teil dieser Mahlzeit nicht alle in gleicher Weise teilnehmen können (11,17–34; s. Anm. 153). Angesichts dieser Missstände zitiert der Apostel in 11,23–25 den Einsetzungsbericht als Kultätiologie, um aus der soteriologischen Bedeutung, die Jesus dem Mahl beigelegt hat, ekklesiologische Folgerungen für die Gemeindeglieder zu ziehen (§ 5.12.4–5). Daher kritisiert er zum einen die Teilnahme an Götzenopfermahlzeiten, weil diese nicht mit der Gemeinschaft mit Christus im Herrnmahl zu vereinbaren sind (Kap. 8 – 10, bes. 10,16 f.). Zum anderen darf die Einheit der Gemeinde als „Kirche Gottes“ (11,22) nicht durch die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich beeinträchtigt werden. Deshalb verbindet Paulus die in den Einsetzungsworten verkündete Heilsbedeutung des Todes Jesu und der Gegenwart des wiederkommenden Herrn in 11,27–29 paränetisch mit dem drohenden Gericht für diejenigen, die das Mahl in unangemessener Weise einnehmen. Dass jemand „unwürdig“ (anaxíōs) davon isst und trinkt, zielt deshalb nicht (wie in Teilen der späteren Wirkungsgeschichte) auf die persönliche Würdigkeit der Teilnehmenden, sondern auf den stiftungsgemäßen Vollzug der Feier durch die Gemeinde. In den deuteropaulinischen und katholischen Briefen (§ 8) wird das Herrnmahl nicht erwähnt – wie auch in den übrigen Paulusbriefen vermutlich nicht aus Unkenntnis, sondern weil es kein Konfliktgegenstand war und deshalb nicht erörtert zu werden brauchte. Nur Hebr 13,10 enthält eine Anspielung in dem Hinweis auf das Essen vom „Altar“ (§ 8.5.3). Nach Did 9,5 ist die Taufe die Voraussetzung für die Teilnahme an der Eucharistie.

f) Summa: Das Abendmahl geht auf eine Handlung Jesu bei seiner letzten Mahlfeier mit den Jüngern kurz vor seinem Tod in Jerusalem zurück, die entweder beim Passamahl (Lk) oder am Vorbereitungstag zum Passafest (Joh; vgl. 1Kor 5,7) stattfand, als die Passalämmer geschlachtet wurden. Die Gaben von Brot und Wein interpretierte Jesus im Sinn seiner Lebenshingabe für andere als Sühnegeschehen und mit Hilfe des Bundesmotivs als von Gott gestiftete Heilsordnung von eschatologischer Tragweite. Das Herrnmahl wird seit urchristlicher Zeit in den Gemeinden am Herrntag, dem Tag der Auferstehung Jesu, gefeiert, d. h. am Sonntag, nicht am Sabbat der Juden, und wöchentlich statt einmal im Jahr wie das jüdische Passafest. Dieser Zeitpunkt der Mahlfeier ist bemerkenswert, weil er schon früh eine Tendenz zur Eigenständigkeit der christlichen Gemeinden erkennen lässt und später den Prozess der Ablösung von den jüdischen Wurzeln verstärken wird. Durch das Essen und Trinken erhalten die Glaubenden Anteil am Heil, das Christus gebracht hat. Durch die Teilnahme an der Mahlfeier erfahren sie die befreiende Wirkung seines Todes und die symbolisch-rituelle Vorwegnahme des endzeitlichen Freudenmahls, bis Christus bei der Parusie selber wiederkommen wird.

168 5.6.2.4

5 Die paulinischen Briefe

Christushymnen

Ein Hymnus (griech. hýmnos) ist ein „Lobgesang“ oder „Festlied“. In der Exegese wird der Terminus in einem spezielleren Sinn für „Loblieder (sc. auf Gott)“ gebraucht.186 Die Besonderheit der Christushymnen besteht darin, dass sie nicht wie sonst üblich die Taten und Eigenschaften Gottes rühmen (z. B. Röm 11,33–36), sondern Christus preisen. Es handelt sich um liturgische Stücke, die im Gottesdienst ihren Sitz im Leben der Gemeinde hatten (Kol 3,16 f.; Eph 5,19 f.). Von dort wurden sie von den neutestamentlichen Autoren übernommen. Zu den Christushymnen gehören der Philipperhymnus (Phil 2,6–11), der Kolosserhymnus (Kol 1,15–20), der Anfang des Hebräerbriefs (Hebr 1,1–4) und der Johannesprolog (Joh 1,1–18). Diese Hymnen sind nicht nur Ausdruck einer göttlichen Verehrung für Christus,187 sondern zugleich das Ergebnis eines intensiven theologischen Nachdenkens mit einer hoch entwickelten Christologie. Sie sind aus älteren Bekenntnis- und Glaubensformeln entstanden (§ 5.6.2) und stellen deren Aussagen über Christus in einen weiteren Horizont. Sie setzen die Präexistenz Jesu vor der Inkarnation bzw. vor aller Zeit188 voraus und schließen seine Schöpfungsmittlerschaft ein, d. h. seine Mitwirkung bei der Erschaffung der Welt.189 Wie die Sendungsformeln190 machen sie deutlich, dass die Geschichte Jesu Teil eines von Gott gewollten umfassenden Geschehens ist, das den Willen Gottes verwirklicht und einen kosmischen Rahmen besitzt. Sie verbinden mehrere christologisch-soteriologische Entwürfe zu einer erzählerischen Sequenz (für uns gestorben, von Gott auferweckt) und bieten eine weitere Entfaltung der Aussagen über den Weg Jesu (s. Anm. 75 und zur Pistisformel in 1Kor 15,3b–5 § 5.6.2.1). In der erhaltenen Gestalt sind die Hymnen, die Jesus als den präexistenten Schöpfungsmittler besingen, meist nachpaulinisch. Aber erste Ansätze finden sich bereits bei Paulus. Dieser hatte die Schöpfungsmittlerschaft Christi erstmals in einer kurzen Bekenntnisformel in 1Kor 8,6 erwähnt, aber nicht weiter entfaltet, sondern nur vom Kyrios gesprochen, „durch den alle Dinge sind und wir durch ihn“. Außerdem kann186 Vgl. grundlegend R. Deichgräber, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit (StUNT 5), Göttingen 1967, hier 21 f., außerdem die beiden Aufsätze von M. Hengel, Hymnus und Christologie, sowie: Das Christuslied im frühen Gottesdienst, in: ders., Christologie (Lit. § 5.6.1), 185–204.205–258. 187 Nach dem Bericht des römischen Statthalters Plinius d.J. (111 n. Chr.) haben die Christen Kleinasiens bei ihren Gottesdiensten „Christus als ihrem Gott (Christo quasi deo) im Wechsel Lob gesungen“ (ep. 10,96,7; Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen I. Alte Kirche, hg. v. A. M. Ritter, Neukirchen-Vluyn 72002, 15). 188 Phil 2,6–11 (§ 5.14.5); vgl. 1Kor 8,6; 2Kor 8,9. 189 Kol 1,15–20 (§ 8.2.5); Hebr 1,1–4 (§ 8.5.2); Joh 1,1–18 (§ 7.1.5.1a); OdSal 7,15–23; 41,11–16; vgl. H. Hegermann, Die Vorstellung vom Schöpfungsmittler im hellenistischen Judentum und Urchristentum (TU 82), Berlin 1961. 190 Gal 4,4; Röm 8,3; Joh 3,17; 1Joh 4,9 f. (s. Anm. 55).

5.6 Ältere mündliche Traditionen (vorpaulinische Formeln)

169

te er den Gedanken der Präexistenz, der im Philipperhymnus anklingt (Phil 2,6; § 5.14.5; vgl. 2Kor 8,9) und in den Sendungsformeln impliziert ist (Gal 4,4; Röm 8,3). Den gemeinsamen Hintergrund dieser Aussagen über Christus bildete die jüdische Vorstellung von der Präexistenz der göttlichen Weisheit (Spr 8,22 ff.; SapSal 9,1 f.; Sir 24). 5.6.2.5

Die Überlieferung von Worten und Taten Jesu

a) Christologische Formeln: An älteren Traditionen über das Leben Jesu können wir den Paulusbriefen nur das Formelgut über seinen Kreuzestod entnehmen, das mit dem Zeugnis der Auferstehung und Erhöhung Jesu verbunden ist (1Kor 15,3b–5; § 5.6.2.1; vgl. auch den Hymnus in Phil 2,6–11; § 8.2.5). b) Worte des irdischen Jesus: Paulus muss einige Herrnworte gekannt haben, d. h. mündlich überlieferte Äußerungen des irdischen Jesus, die auch als „Logien“ bezeichnet werden. Ausdrücklich zitiert er solche Herrnworte im Zusammenhang mit der Ehescheidung (1Kor 7,10 f.) und dem Unterhaltsrecht der Apostel (1Kor 9,14), die möglicherweise ihre Parallelen in den Worten Jesu zur Ehescheidung (Mk 10,12) und zum Lohn missionarischer Arbeit (Lk 10,7) haben.191 Auch die Aussagen über die Parusie des Herrn (1Thess 4,15 ff.; § 5.10.2) werden auf ein „Wort des Herrn“ zurückgeführt, sodass der Abschnitt zumindest dem Sinn nach einer Paulus bekannten Jesustradition entsprechen kann (etwa Mk 14,62 parr.; Mt 24,30 f.). Die Schwierigkeit beim Verständnis der Herrnworte besteht darin, dass Paulus die Autorität Jesu von der Vollmacht des auferstandenen, lebendigen Herrn ableitete. Deshalb betrachtete er die Herrnworte, die die Tradition vom irdischen Jesus überlieferte, als Worte des nachösterlich erhöhten Herrn. Aus demselben Grund verband er die Einsetzung des Herrnmahls in 1Kor 11,23–25 (s. Anm. 146) mit dem KyriosTitel (§ 5.6.1.3). Die Zuschreibung dieser Logien an den Erhöhten bedeutet nicht, dass Paulus die irdische Menschlichkeit Jesu gering geschätzt hätte. Auch die Aussage, dass wir Christus nicht mehr „nach dem Fleisch“ kennen (2Kor 5,16), meint keine Herabsetzung der Leiblichkeit Jesu, weil sich die Worte „nach dem Fleisch“ (katá sárka) auf die Art der Erkenntnis, nicht auf die irdische Existenzweise Jesu beziehen. Daraus folgt, dass die Christen den irdischen Jesus als den auferstandenen Herrn betrachten, nicht als einen gescheiterten Menschen. Was der irdische Jesus gesagt hat, wird mit der Autorität des erhöhten Kyrios zitiert. Das Herr-Sein schließt die Leiblichkeit Jesu ein. Sonst könnte Paulus Jakobus nicht als „Bruder des Herrn“ bezeichnen (Gal 1,19). Dass Paulus Jesustraditionen kannte, bestätigt seine Notiz

191 Vgl. N. Walter, Paulus und die urchristliche Tradition, NTS 31 (1985), 498–522; T. Holtz, Jesus-Überlieferung und Briefliteratur (1985), in: Geschichte und Theologie des Urchristentums (WUNT 57), Tübingen 1991, 31–44.

170

5 Die paulinischen Briefe

über das Treffen mit Petrus (Kephas), von dem er sich informieren ließ (Gal 1,18: „historeín“ im Aorist). Da es um Überlieferungen ging, die Paulus in Damaskus und Antiochien nicht zugänglich waren, muss es sich auch um Worte und Ereignisse aus dem Leben Jesu gehandelt haben. Daraus ergibt sich die Frage, warum Paulus solche Jesusüberlieferungen nicht häufiger anführt. An einigen Stellen wird deutlich, weshalb Paulus solche ursprünglich mündlich überlieferten Herrnworte nicht erwähnt: Er hält sie in paränetischem Zusammenhang für einseitig oder sogar gefährlich. Das gilt z. B. für das Wort vom Berge versetzenden Glauben in 1Kor 13,2 (vgl. Mk 11,23 par.; Mt 17,20). Auch die antienthusiastischen Bemerkungen in 1Kor 4,6–13 (V 8: „Ihr seid schon satt geworden?“) sind offensichtlich polemisch gegen eine Deutung der Seligpreisungen Jesu gerichtet (Mt 5,6 Q), die von den Gegnern des Paulus als Ausdruck ihrer Heilsgewissheit (Heilsperfektionismus) benutzt wurden.192 Bei den Jesuslogien stoßen wir auf offene Fragen, bei deren Beantwortung wir uns immer die leitenden Gedanken der paulinischen Theologie vor Augen halten müssen: Das Interesse des Apostels an den mündlichen Überlieferungen aus dem Leben Jesu ist ganz und gar von der Autorität Jesu Christi als des lebendigen Herrn abhängig. Diese Autorität hat er bei seiner Bekehrung vor Damaskus erfahren, als durch den Geist inspirierte Glaubensgewissheit erlebt und zur Grundlage seiner Theologie gemacht. Wenn Paulus z. B. das aramäische „Abba“ als Anrede Gottes zitiert (Gal 4,6; Röm 8,15; s. Anm. 63), begründet er dieses Privileg der Christen nicht mit einem Herrnwort oder dem Vaterunser (Lk 11,2 Q; § 6.3.4.3b). Vielmehr führt er diese Anrede auf die Wirkung des Geistes zurück, der den Christen Mut zu solchem Gebet macht. c) Erzählungen über die Taten Jesu: Zu den narrativen mündlichen Überlieferungen über Jesus können wir nur sagen, dass Paulus wahrscheinlich eine Vorstufe der Passionsgeschichte kannte, da er die Einsetzung des Herrnmahls in 1Kor 11,23 mit der Notiz über den Verrat Jesu einleitet, der in derselben Nacht stattfand. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass der Apostel aus der Tradition einige Erzählungen von den Wundern Jesu kannte. Er erwähnte sie jedoch nicht, weil er eine Entwertung der Botschaft von der Heilsbedeutung des Kreuzestodes fürchtete: „Denn die Juden fordern Zeichen ..., wir aber verkündigen den gekreuzigten Christus“ (1Kor 1,22–23a; Exkurs 6c). d) Die Beziehung zu anderen urchristlichen Überlieferungen: Dieser Befund in den paulinischen Briefen spiegelt nicht die ganze Breite der urchristlichen Tradition und Theologie wider. Zum einem hatte Paulus geographisch mit einigen Gebieten, in die 192

Vgl. J. M. Robinson, Kerygma und Geschichte im Neuen Testament, in: H. Köster / ders., Entwicklungslinien (Lit. § 6.1.5), 20–66, 40 ff.

5.7 Briefgattungen und Briefformular

171

die christliche Mission bereits vorgedrungen war (z. B. Ägypten, bes. Alexandrien), kaum Kontakt. Zum anderen hatten die Briefe durch ihren direkten Situationsbezug als Genre eine andere Funktion als die Evangelientexte, die die Überlieferung über Leben und Worte Jesu festhalten sollten. Deshalb wäre es methodisch verfehlt, aus den spärlichen Anspielungen auf die narrativen Stoffe auf eine Unkenntnis weiterer Traditionen schließen zu wollen. Wären uns z. B. nur die johanneischen Briefe erhalten geblieben und das Johannesevangelium verloren gegangen, würden wahrscheinlich viele meinen, dass der johanneische Kreis an den Traditionen über Jesus völlig uninteressiert gewesen wäre. Außerdem wurde Paulus von einflussreichen Gruppen seiner Zeit wegen seiner theologischen Positionen für gefährlich gehalten: Die einen verurteilten die paulinische Distanzierung vom Gesetz als Heilsweg (besonders der Beschneidung als Heilsbedingung; Gal 1,7 ff.; 3,1 ff.; Phil 3,2 ff. u. a.), andere unterstützten enthusiastische Tendenzen (Gal 5,13 ff.; 1Kor 4,6–13; 15,12 ff.). Das Problem der Identifizierung der Gegner in den einzelnen Briefen werden wir detaillierter in den jeweiligen Teilabschnitten behandeln. Schon jetzt ist allerdings festzuhalten, dass Paulus in seinem gesamten Werk einen Kampf an mehreren Fronten führt, d. h. vor allem gegen Judaisten und gegen Enthusiasten, auch wenn ein solcher Zwei-Fronten-Kampf nicht in jedem einzelnen Schreiben nachweisbar ist.193 Für die weitere Entwicklung war die Pistisformel (1Kor 15,3b–5) durch ihre konsensbildende Wirkung von großer ökumenischer Bedeutung (§ 5.6.2.1). Von mehreren christlichen Gruppen wurde sie als gemeinsamer Ausdruck der Ostererfahrung (15,6–8) aufgenommen, dass der Auferstandene lebt und in veränderter Weise weiterhin gegenwärtig ist. Später wurde sie im Markusevangelium rezipiert und zur Integration der Jesustraditionen und der nachösterlichen Theologien genutzt (§ 6.2.6.1). Die Pistisformel repräsentierte zwar nur einen Teil der entstehenden Christenheit, aber bei den in 1Kor 15,5 ff. erwähnten Personen Petrus, den Zwölf, dem Herrnbruder Jakobus u. a. handelte es sich um eine einflussreiche Gruppierung, durch die die Überlieferung in 1Kor 15,3b–5 zum Ausgangspunkt der späteren Entwicklung des Kanons, der Bekenntnisse und des Dogmas wurde. Die Pistisformel muss sich schon bald mit dem Ritus der Taufe verbunden und aufgrund ihrer Überzeugungskraft durchgesetzt haben (s. Anm. 126 ff.).

5.7

Briefgattungen und Briefformular

 Der kleine Pauly (1979): Art. „Epistolographie“ (Peter L. Schmidt) und „Rhetorik“ (Hildebrecht Hommel / Konrat Ziegler); George A. Kennedy, New Testament Interpretation 193

Vgl. W. Lütgert, Gesetz und Geist. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte des Galaterbriefes (BFTh 22,6), Gütersloh 1919.

172

5 Die paulinischen Briefe

through Rhetorical Criticism, Chapel Hill 1984; Franz Schnider / Werner Stenger, Studien zum neutestamentlichen Briefformular (NTTS 11), Leiden 1987; Detlev Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte, Darmstadt 1993, 190–198; Udo Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 51–60; Stanley E. Porter, Handbook of Classical Rhetoric in the Hellenistic Period 330 B.C. – A.D. 400, Leiden 1997; Ulrich Heckel, Der Segen im Neuen Testament. Begriff, Formeln, Gesten. Mit einem praktisch-theologischen Ausblick (WUNT 150), Tübingen 2002; vgl. Lit. § 5.

Durch das Vorlesen im Gottesdienst erlangten die Briefe für die frühe Christenheit eine große liturgische und ekklesiologische Bedeutung (§ 5.1–4). Die paulinischen Briefe begründeten das Ansehen der Epistel als Element christlicher Liturgie. Dieser Sitz im Leben der Gemeinde hatte Auswirkungen auf die Gattung und das Formular der Briefe. a) Briefgattungen: Im Vergleich mit den damals bekannten Briefgattungen sind die Briefe des Paulus als eine Mischung zwischen Freundschaftsbriefen und theoretischen (philosophischen) Briefen zu betrachten, wobei z. B. im Philemonbrief die freundschaftlichen Elemente, im Römerbrief die lehrhaften Züge überwiegen. In den Freundschaftsbriefen steht – außer dem Ausdruck der Freundschaft (philophrónēsis) und den Grüßen – eine Botschaft (homilía) in der Gestalt von Mitteilungen und Instruktionen im Vordergrund. Die philosophischen Briefe, z. B. von Plato oder Epikur, sind deutlich argumentativer (diskursiver) gestaltet. Ein solches argumentatives Vorgehen ist auch bei Paulus anzutreffen. Dementsprechend verwendet er – wie schon die antiken Philosophen – rhetorische Mittel. Diese hat Hans Dieter Betz am Beispiel des Galaterbriefs aufgezeigt (§ 5.11.2). Dabei werden – mit Variationen – insbesondere die vier Teile einer Gerichtsrede (§ 2.2.6) gerne zur Gliederung herangezogen: 1. exordium (Vorrede), 2. narratio (Schilderung des Sachverhalts), 3. argumentatio (Beweisführung) und 4. peroratio (wirkungsvoller Redeabschluss). Einer solchen Grunddisposition bedienten sich auch die offiziellen Briefe der Administration des römischen Reichs. Allerdings sind die Analogien aus der Rhetorik bei der Interpretation paulinischer Briefe nur in begrenztem Maß anwendbar. Diese Einschränkung gilt nicht nur deshalb, weil der schriftlich zugestellte Brief sich als Textsorte von der mündlichen Rede unterscheidet.194 Bereits das Vorlesen im Gottesdienst (§ 5.3) hat einen anderen Sitz im Leben als die typischen Situationen der klassischen Schulrhetorik vor Ge-

194 Vgl. die zur Vorsicht mahnenden Einschränkungen des klassischen Philologen C. J. Classen, Paulus und die antike Rhetorik, ZNW 82 (1991), 1–33, hier 6; vgl. zu den Möglichkeiten und Grenzen rhetorischer Kritik C. J. Classen, Rhetorical Criticism of the New Testament (WUNT 128), Tübingen 2000; J. S. Vos, Die Kunst der Argumentation bei Paulus (WUNT 149), Tübingen 2002.

5.7 Briefgattungen und Briefformular

173

richt oder in einer Volksversammlung.195 Neben rhetorischen Gesichtspunkten haben die epistolaren Gepflogenheiten wie z. B. das Briefformular und die Zweckbestimmung für das Vorlesen im Gottesdienst die formale Gestaltung beeinflusst. Außerdem musste der Apostel oft auf konkrete Probleme in den Gemeinden eingehen oder etliche Fragen beantworten.196 Deshalb durchzieht vielfach nicht ein einziger Argumentationsgang den ganzen Brief, sondern Paulus setzt bisweilen mehrmals erneut ein (1–2Kor, Phil).197 Wenn er Fragen aufgreift, handelt es sich nicht nur um rhetorische Fragen oder einen rhetorisch inszenierten Dialog mit theoretisch denkbaren Meinungen wie in der Diatribe, d. h. den Vorträgen kynischer und stoischer Philosophen (§ 5.16.5), sondern um Antworten auf Fragen, die ihm aus den Gemeinden wirklich gestellt worden waren. Weil die Briefe des Paulus stets auf die Situation der Adressatengemeinden bezogen waren, haben sie ihre Autorität gewonnen. Als Missionar und Apostel fühlte er sich für die von ihm gegründeten Gemeinden verantwortlich.198 Daher beeinflussten die Schreiben des Apostels auch die Gestalt der später geschriebenen kanonischen Briefe. b) Briefformular: Die neutestamentlichen Briefe sind meist ähnlich aufgebaut. Nur wenige unterscheiden sich erheblich von dem nachfolgend beschriebenen Modell:199

195 Im Anschluss an Aristoteles unterschied die Schulrhetorik modellhaft drei Genera nach ihrer unterschiedlichen Funktion: a) die dikanische, auch forensische oder apologetische Rede, die vor Gericht zur Anklage oder Verteidigung vorgetragen wird (lat. genus iudiciale), b) die symbuleutische Rede, die vor der Volksversammlung bei einer anstehenden Entscheidung (z. B. eine Kriegserklärung) zu- oder abzuraten versucht (lat. genus deliberativum), und c) die epideiktische Rede, die z. B. zum Lob (oder auch als Tadel) auf eine zu feiernde Person gehalten wird (lat. genus demonstrativum). 196 1Kor 7,1.25; 8,1.4; 12,1; 16,1.12; 1Thess 4,(9).13; 5,1. 197 Vgl. grundlegend F. Siegert, Argumentation bei Paulus. Gezeigt an Röm 9 – 11 (WUNT 34), Tübingen 1985. 198 Vgl. U. Heckel, Paulus als „Visitator“ und die heutige Visitationspraxis, KuD 41 (1995), 252–291. 199 Der 1. Johannesbrief z. B. hat aus der Briefform nur die Anrede in der 2. Person übernommen.

174

5 Die paulinischen Briefe

Briefeingang A. Präskript – Absender (superscriptio im Nominativ) – Adresse (adscriptio im Dativ) – Eingangsgruß (salutatio) B. Proömium mit Dankgebet (exordium) Briefkorpus – Darstellung des Problems (narratio) – These (propositio) – Durchführung des Beweises (argumentatio mit probatio und refutatio) Briefschluss A. Paränese (exhortatio) B. Postskript (conclusio, peroratio) – Grüße (Grußaufträge, Grußausrichtungen, Aufforderung zum heiligen Kuss) – Eschatokoll mit Gnadenwunsch (analog zum Eingangsgruß)

Am Anfang des Briefs steht ein dreigliedriges Präskript, in dem nach griechischem Brauch auf den Namen des Absenders (lat. superscriptio = Überschrift) der Name des Adressaten (lat. adscriptio = Anschrift) folgt und sich dann der Eingangsgruß anschließt (lat. salutatio): „chaírein“ (sich freuen), d. h. „freut euch“200 (Jak 1,1; Apg 15,23; 23,26). Die erhaltenen Präskripte entsprechen dem heutigen Briefkopf und der Adresse, die sich am Anfang eines Schreibens befinden (und nicht mit dem Absender und der Anschrift auf dem Umschlag verwechselt werden dürfen). Die äußere Adresse wurde dagegen auf die Außenseite der Papyrusrolle geschrieben. Sie ist bei den kanonischen Briefen nicht erhalten, weil ihre Urschriften (Autographen) verloren gingen. Die paulinischen Präskripte enthalten die erwähnten Briefelemente, die aber dem hebräischen bzw. asiatischen Brauch folgend ausladender formuliert sind (meistens in zwei Sätzen). Auf den Namen folgt im Präskript eine Angabe über die Apostolizität oder ein anderer Beiname, der als Ehrenprädikat dient, z. B. „Knecht Jesu Christi“ (Röm 1,1). Manchmal ist eine kurze Zusammenfassung des apostolischen Auftrags angefügt (z. B. Röm 1,1–6). Oft wird ein Mitabsender erwähnt,201 der die Funktion eines Zeugen besitzt. Ob es sich dabei tatsächlich um einen Mitverfasser handelt, lässt sich nicht nachweisen. Die Adressaten werden vielfach als „Gemeinde“ (Gottes), „ekklēsía“, bezeichnet202 bzw. als die „Heiligen“ (hágioi), d. h. die durch den heiligen Geist Geheiligten, deren Leben vom Geist Gottes bestimmt ist.203 20 0

Vgl. den Imperativ „freu dich“ / „freut euch“ als mündlichen Gruß in Mk 15,18 parr.; Mt 26,49; 28,9; Lk 1,28. 201 1Thess: Silvanus und Timotheus; Gal: „alle Brüder“; 1Kor: Sosthenes; 2Kor; Phil; Phlm. 202 1Kor 1,2; 2Kor 1,1; Gal 1,2 (§ 5.4). 203 Vgl. Röm 1,7 u. ö. mit 1Kor 1,2; 6,11.

5.7 Briefgattungen und Briefformular

175

Diese Erweiterungen des Präskripts sind in den paulinischen Briefen so auffällig, dass sich die Funktion dieses Briefteils verändert hat. Das Präskript signalisiert bereits das theologische Anliegen, das im Brief zum Ausdruck kommt. Der Verfasser versteht sich als bevollmächtigter Zeuge und Träger des Evangeliums. Die Grundgestalt der Kommunikation ist der Weg: Evangelium – Apostel – Adressat (Röm 1,1– 7).204 Der auffälligste Unterschied zu den antiken Briefen besteht darin, dass der Eingangsgruß (lat. salutatio) im griechischen Formular „chaírein“ lautete, diese Freudenäußerung von Paulus jedoch durch einen anderen Gruß ersetzt wurde. Dieser lehnt sich etymologisch und klanglich zwar an die griechische Grußform an, wird inhaltlich aber völlig neu gefüllt: „Gnade sei mit euch (cháris hymín) und Friede“. In dieser Doppelwendung nimmt der Apostel den jüdischen Schalomgruß auf (vgl. Lk 10,5f.), stellt aber die „cháris“ als den für die paulinische Theologie typischen Inbegriff der „Gnade“ Christi voran. Beide Begriffe führt Paulus (bis auf 1Thess) stets auf den Vater Jesu Christi als den eigentlichen Segensspender zurück (Röm 1,7 u. ö.).205 Ein Beispiel für ein solches Präskript lautet: „Paulus, durch den Willen Gottes Apostel Christi Jesu, und Bruder Timotheus, an die Gemeinde Gottes in Korinth mit allen Heiligen in ganz Achaia! Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!“ (2Kor 1,1f.).206 Dem Eingangsgruß korrespondiert am Ende ein Segenswunsch, mit dem die Briefe abgeschlossen werden.207 Durch diese Rahmung steht das ganze Schreiben im 204

Dies ist auch für die (z. T. kanonisierte) christliche Pseudepigraphie typisch (Exkurs

10). 205

Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 250–255.281–298. Diese Form des Briefanfangs fand über die Paulusschule hinaus Nachahmer (Polyc Phil inscr.), setzte sich aber nicht gleich durch. So behalten z. B. noch die Präskripte des Ignatius von Antiochien (111–114 n. Chr.) den hellenistischen Freudengruß (chaírein) bei (IgnEph inscr. u. ö.). Dafür werden die Adressaten als diejenigen bezeichnet, die durch den Willen Gottes und Jesu Christi erwählt sind, was schon die Kenntnis der Grundaussagen des christlichen Glaubens in der angeredeten Gemeinde voraussetzt (IgnEph inscr.; IgnTrall 1,1 inscr.). 207 Die Wunschform zeichnet sich – analog zum aaronitischen Segen in Num 6,24–26 – durch den indirekten Appell an Gott in der 3. Person, die direkte Adressatenanrede in der 2. Person und beim Verbum – sofern es nicht ausgelassen wird – einen jussivischen oder optativischen Aussagemodus aus. Der Segen ist jedoch kein „frommer Wunsch“, sondern eine performative (vollziehende) Rede, hinter der Gottes Erfüllungszusage (Num 6,27) bzw. Treuespruch (1Thess 5,23f.; vgl. 2Thess 3,3) steht. Damit unterscheidet sich der Segenswunsch von der Fürbitte, die Gott direkt in der 2. Person anredet (JosAs 8,9: „Du Herr, segne diese Jungfrau“). Eine Zusage hat eine indikativische Verbform (ohne Zeitaspekt), begegnet aber nur bei göttlichem Subjekt (Mt 28,20; Joh 14,27; Gen 26,24). Eine Verheißung ist mit einer Futurform im zeitlichen, die Gegenwart ausschließenden Sinn verbunden, da z. B. bei Abraham die Nachkommenschaft noch aussteht (vgl. Gen 12,3b u. ö. in Apg 3,25; Gal 3,8 sowie Hebr 6,14 [Gen 22,17]). Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 261–280.352–354. 206

176

5 Die paulinischen Briefe

Zeichen des apostolischen Segens, der den Adressaten zugesprochen wird. Ein Friedenswunsch erscheint öfters am Übergang von der Paränese zu den Grüßen.208 Am Schluss des Briefs folgt der Gnadenwunsch, der – anders als in der Salutatio! – mit einer Präposition gebildet ist und den Charakter einer Beistandsformel hat: „die Gnade des Herrn Jesus (sei) mit euch (meth’ hymṓn)“ (1Kor 16,23). Dieser Schlusssegen leitet nach dem Vorlesen des Briefs mit dem Maranatharuf („Unser Herr, komm!“) schon zum anschließenden Herrnmahl über, bei dessen Feier die Gegenwart des Kyrios durch diesen aramäischen Gebetsruf (1Kor 16,22f.) oder seine griechische Übersetzung (Apk 22,20) herbeigefleht wird (§ 5.6.2.3d). Was im dreigliedrigen Segen in 2Kor 13,13 durch die Erwähnung der Gnade des Herrn, der Liebe Gottes und der Gemeinschaft des heiligen Geistes theologisch besonders steil klingt, erweist sich durch den Briefkontext als äußerst situationsbezogen, da der Friede und die Gemeinschaft in der korinthischen Gemeinde durch Auseinandersetzungen sehr bedroht sind (§ 5.12.4; 5.13). 209 Im Anschluss an das Präskript folgt als eigentliche Brieferöffnung das Proömium, das mit einem Eingangsgebet in Form einer Danksagung an Gott210 oder einer Eulogie (Lobpreis Gottes)211 verbunden ist. Der Apostel dankt Gott für den Glauben (für die Treue) der Adressaten. Außerdem weist er auf die gemeinsame Beziehung zu Gott hin, den Vater Jesu Christi. Zugleich bereitet er die Basis für seine theologische Argumentation.212 Damit übt das Proömium eine ähnliche Funktion aus wie in der Rhetorik das exordium (Vorrede). Das Korpus des Briefs beginnt meist mit einer direkten Anrede an die Adressaten, „Brüder“ genannt (z. B. 1Thess 2,1; Phil 1,12), und thematisiert bald den Abfassungsgrund des Schreibens. Oft wird nach einem kurzen Übergang (lat. transitus), der das gegenseitige Vertrauen stärken soll und manchmal eine Selbstempfehlung des Apostels enthält (Gal 1,6–10; Röm 1,13–15), das Problem dargestellt (lat. narratio = Erzählung, Schilderung des Sachverhalts; z. B. Gal 1,11–2,14). Dann wird die Grundthese (lat. propositio = Vorstellung des Beweisziels) formuliert (Röm 1,16f.; 1Kor 1,18; vgl. Gal 2,15f.), die in einem argumentierenden Hauptteil (lat. argumentatio = Beweisführung) begründet wird (lat. probatio = Beweis). Sie ist oft mit einer Widerlegung von Meinungen der Gegner verbunden (lat. refutatio). Der Schlussteil ist mitunter umfangreich und ersetzt gelegentlich den argumentativen Hauptteil (1Thess). Zu ihm gehört die Paränese (lat. exhortatio = Aufmunte-

208

Röm 15,33; 16,20; 2Kor 13,11 u. ö. Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 299–306. 210 Vgl. „eucharistṓ tṓ theṓ mou“ (ich danke meinem Gott) in Röm 1,8; 1Kor 1,4; Phil 1,3; Phlm 4; 1Thess 1,2 (wir). 211 Vgl. „eulogētós ho theós“ (gelobt sei Gott) in 2Kor 1,3; vgl. Eph 1,3; 1Petr 1,3. 212 In manchen neueren Arbeiten zum Briefformular wird das Proömium deshalb dem Briefkorpus zugeordnet. 209

5.7 Briefgattungen und Briefformular

177

rung, Ermahnung; z. B. 1Kor 16,1–18). Diese wird vielfach mit dem Verbum „parakalṓ“ (ich ermahne) eingeleitet,213 knüpft im Römerbrief durch den Hinweis auf „die Barmherzigkeit Gottes“ an die bereits früher dargelegte Rechtfertigungslehre an (Röm 12,1; § 5.16.5c) und kann auch argumentative Abschnitte enthalten, z. B. Röm 13,1b–5 zur Staatsmacht. Die Ermahnung wird gerne als Schlussfolgerung der These konzipiert (Gal 5,3f.; § 5.11.4c). Sie kann durch die (wiederholte) Hervorhebung der apostolischen Autorität unterstützt werden (1Kor 16,5–13). Das Postskript (lat. conclusio = Schlussfolgerung, peroratio = Schlussrede) bildet in mancher Hinsicht das Pendant zum Präskript. Es enthält Grüße, die der Verfasser den Adressaten entweder an einzelne Personen aufträgt (Röm 16,3–15), die ihm besonders wichtig sind („Grußauftrag“), oder von anderen weitergibt („Grußausrichtung“ z. B. Röm 16,21–23; 1Kor 16,19f.). Manchmal werden die Grüße mit einer Aufforderung zum „heiligen Kuss“ verbunden, den die Gemeindeglieder miteinander austauschen sollen. Der heilige Kuss gilt also nicht den Adressaten („ich grüße euch ...“) und auch nicht Dritten („grüßt die anderen von mir ...“). Er ist ein Zeichen für die Gemeinschaft der Heiligen, für das Wirken des heiligen Geistes und für die Liebe der Gläubigen untereinander.214 Ganz am Ende (griech. Eschatokoll = das an den Schluss Geklebte) steht der Gruß des Absenders, der im antiken Brief die persönliche Unterschrift ersetzt und manchmal mit einem Eigenhändigkeitsvermerk versehen ist.215 Dann folgt noch der Schlusssegen, der als Gnadenwunsch die Gestalt eines christologischen (1Kor 16,23) oder fast trinitarischen (2Kor 13,13) Segens haben kann und an die Stelle des sonst üblichen Schlussgrußes tritt (griech. érrōso / érrōsthe = sei[d] stark, leb[t] wohl; lat. vale / valete). Stets ist zu beachten, dass die rhetorischen Regeln nicht starr anzuwenden waren. Veränderungen einzelner Strukturelemente und Übergänge zwischen Textsegmenten (lat. transitus) stellen ein Zeichen sowohl der Kunst als auch der inneren Freiheit der Verfasser dar. c) Briefschreiber und -boten: Obwohl Männer – und wenige Frauen – in der Schreibkunst geschult waren, überließ man die Niederschrift längerer Briefe vielfach professionellen Schreibern, oft speziell ausgebildeten Sklaven (Röm 16,22), die manchmal den Wortlaut stilistisch beeinflussten.216 Es ist allerdings wenig wahrscheinlich, dass sie auch für den Inhalt der Briefe mitverantwortlich waren, wie es Otto Roller217 213 Röm 12,1 (§ 5.16.5c); 1Kor 1,10 (§ 5.12.1); 4,16; 16,15; Phil 4,2; (1Thess 4,1.10 Pl.); Phlm 9f.; Eph 4,1 u. ö. 214 Vgl. Röm 16,16a; 1Kor 16,20b; 2Kor 13,12a; 1Thess 5,26; 1Petr 5,14a. 215 1Kor 16,21; Gal 6,11; Phlm 19 sowie Kol 4,18; 2Thess 3,17 (vgl. Exkurs 10). 216 Im christlichen Milieu des 1. Jh.s waren es wohl professionelle Schreiber, die, wie Tertius in Röm 16,22, die diktierten Briefe in ihrer freien Zeit niederschrieben. 217 Vgl. O. Roller, Das Formular der paulinischen Briefe (BWANT 58), Stuttgart 1933 334 ff.

178

5 Die paulinischen Briefe

aufgrund der Untersuchung diplomatischer Schreiben für die paulinischen Briefe annahm. Die Briefe wurden durch Boten geschickt, die in die Gegend der Adressaten reisten (§ 5.4).218 Die Adresse, die auf die Rolle oder auf ihre Schutzhülle geschrieben war, ermöglichte es, den Brief zumindest auf einem Teil des Weges fremden Personen anzuvertrauen. Von dieser Möglichkeit wurde bei der Versendung der christlichen Briefe aber wenig Gebrauch gemacht wegen der rechtlich unsicheren Lage der christlichen Gemeinden. Wie wir Röm 16,1f. entnehmen können, überreichte die Überbringerin (Phöbe) den Brief persönlich.

5.8

Die authentischen Paulusbriefe

Die Darstellung der paulinischen Theologie muss sich auf die Briefe konzentrieren, die unbestritten Paulus selber zugerechnet werden (sog. Homologumena; § 3.4a; 5). Dabei ist auch die chronologische Reihenfolge wichtig. Unsere Absicht ist es nicht, grundlegende Wandlungen in der paulinischen Theologie zu demonstrieren – etwa eine Entwicklungshypothese in der Naherwartung oder der Rechtfertigungslehre –, wenn auch gewisse Verschiebungen seiner Ansichten belegbar sind. Vielmehr liegt uns daran, seine theologischen Argumente aus der Unterschiedlichkeit ihrer Entstehungssituation und im Nacheinander ihrer Abfassung besser verständlich zu machen. Dabei zeigt sich, dass Paulus seine Theologie als Reflexion über den Glauben in konkreten Situationen entfaltet, aus diesen Anlässen aber zu Einsichten kommt, deren Relevanz über die Ausgangslage weit hinausgehen kann. Dieser direkte Situationsbezug ist für das Verständnis der Paulusbriefe von entscheidender Bedeutung. 5.8.1

Das Problem der paulinischen Chronologie

 Alfred Suhl, Paulus und seine Briefe (StNT 11), Gütersloh 1975; Gerd Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel I (FRLANT 123), Göttingen 1980; Robert Jewett, Paulus-Chronologie, München 1982 (Ü); Nils Hyldahl, Die paulinische Chronologie (AThD 19), Leiden 1986; Martin Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: ders., Paulus und Jakobus. KS III (WUNT 141), Tübingen 2002, 68–192; Hans Hübner, Biblische Theologie II (Lit. § 1), § 2.2.2; Rainer Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus (WUNT 71), Tübingen 1994; Eduard Lohse, Paulus, München 1996, III,4; Martin Hengel / Anna Maria Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (WUNT 108), Tübingen 1998; Udo Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 31–45; Klaus Haacker, Paul´s Life, in: James D. G. Dunn (Hg.), The Cambridge Companion to St. Paul, Cambridge 2003, 19–33; Ruth Schäfer, Paulus bis zum Apostelkonzil (WUNT II/179), Tübin-

218

27–36.

Vgl. U. Heckel, Paulus als „Visitator“ (s. Anm. 198), 256f.; ders., Hirtenamt (Lit. § 7.1),

5.8 Die authentischen Paulusbriefe

179

gen 2004; Paul Trebilco, The Early Christians in Ephesus from Paul to Ignatius (WUNT 166), Tübingen 2004.

Die Frage nach der Reihenfolge der Briefe des Paulus ist eng mit dem Problem der Chronologie seines Lebens verbunden. Den Lebenslauf des Apostels darzustellen, ist jedoch kompliziert, da seine Briefe innerhalb weniger Jahre zwischen 50 und 56 (bzw. 60) n. Chr. entstanden sind und er darin nur selten, nämlich aus konkretem Anlass und mit direktem Situationsbezug, biographische Angaben einfließen lässt. Diese Hinweise sind aber zu punktuell, um daraus eine Gesamtchronologie rekonstruieren zu können. Deshalb sind wir nach dem brieflichen Selbstzeugnis des Apostels – methodisch in einem zweiten Schritt – auf die Berichte der Apostelgeschichte angewiesen, die mit den Aussagen der Paulusbriefe manchmal nicht übereinstimmen. Außerdem wird die Rekonstruktion dadurch erschwert, dass wir bei vielen Daten zwar eine zeitliche Reihenfolge (relative Chronologie) feststellen, aber keine exakten Zeitangaben in Jahreszahlen (absolute Chronologie) machen können. Daraus erklären sich die Schwankungen bei den Jahresangaben in der Literatur. Da der Lebenslauf des Paulus stark von seiner Reisetätigkeit geprägt war, erleichtert es die chronologische Einordnung, wenn die diversen Einzelangaben nicht nur im literarischen Kontext gelesen, sondern mit einem Blick auf die Landkarte219 verbunden werden.220 Die bedeutendste Hilfe bei der Datierung seines Lebens sind die Fragmente einer Inschrift. Sie enthält den Erlass des Kaisers Claudius (41–54 n. Chr.), in dem dieser den neuen Bewohnern von Delphi, der ehemals kultisch und politisch bedeutenden und durch Verwüstung bedrohten Stadt, Bürgerrechte garantiert.221 Dort wird Gallio (griech. Gallíōn), der Bruder des Philosophen und Nero-Erziehers Seneca sowie Onkel des Dichters Lucanus, erwähnt, vor dem nach Apg 18,12 ff. Paulus als Angeklagter stand. Gallio war Prokonsul, d. h. der vom römischen Senat ernannte Verwalter der Provinz Achaia (des Kerns von Griechenland). Das Dokument ist auf die Zeit nach der 26. Ausrufung des Claudius zum Imperator und im 12. Jahr seines Tribunats „datiert“. Wann die 26. Akklamation stattfand, wissen wir nicht. Die 27. geschah spätestens im August des Jahres 52 (Einweihungs-Inschrift des Anio Novus und der Aqua Claudia; terminus ante quem). Da der Anfang des 12. Jahres seines Tribunats etwa zu Beginn des Jahres 52 lag (terminus post quem), können wir die

219

Vgl. die Landkarten zu den Paulusreisen in den gängigen Bibelausgaben. Zu den Datierungsproblemen vgl. U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5), 29–40, sowie monographisch R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), und M. Hengel / M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), bes. 373–475 (Zeittafel). 221 Übersetzung bei C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte zur Umwelt (Lit. § 12), 58–60; eine ausführliche Diskussion bietet R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 180–184. 220

180

5 Die paulinischen Briefe

Inschrift und den Erlass auf das Jahr 52 datieren. Da die Amtsperiode der Prokonsuln ein Jahr dauerte und mit der Eröffnung der Schifffahrt nach den Frühlingsstürmen begann, bekleidete Gallio das Amt des Provinzverwalters in Achaia wahrscheinlich von Sommer 51 bis Sommer 52. Dieser Zeitraum entspricht den Angaben der Apostelgeschichte, die vermutlich wirkliche Ereignisse aus der Zeit des paulinischen Wirkens in Korinth wiedergibt. Demnach muss Paulus die anderthalb Jahre (Apg 18,11) in der Zeitspanne zwischen Herbst 50 und Frühling 53 in Korinth verbracht haben, vermutlich 50–51 n. Chr. Die in Apg 18,12–16 geschilderte Szene vor Gallio wird sich vermutlich nicht allzu lange nach dessen Ankunft in Korinth im Jahr 51 ereignet haben. Diese chronologische Einordnung des paulinischen Aufenthalts in Korinth wird auch durch die Datierung der Vertreibung der Juden aus Rom unter Kaiser Claudius (41–54 n. Chr.) gestützt, die in Apg 18,2 erwähnt ist. Der römische Schriftsteller Suëton (Anfang 2. Jh.) berichtet in seinem Werk über die Leben der Kaiser (Cl 25,4), dass Claudius die Juden aus Rom vertrieb, weil sie – „von einem Chrestus aufgehetzt“ (lat. impulsore Chresto) – Unruhe stifteten (§ 5.16.2).222 Im 5. Jh. hat der Geschichtsschreiber Orosius, ein Vertrauter Augustins, dieses Ereignis in das 9. Regierungsjahr des Claudius datiert, d. h. in das Jahr 49 n. Chr. Diese Zeitangabe entspricht dem Bericht von Apg 18,1–17, nach dem Aquila und Priszilla (in den Paulusbriefen Priska genannt) durch das Claudiusedikt aus Rom vertrieben wurden und in Korinth einige Zeit vor Paulus eingetroffen waren. Die Datierung des Orosius kann jedoch von der Apostelgeschichte her konstruiert sein, sodass die Gallio-Inschrift der einzige verlässliche Anhaltspunkt bleibt, von dem die relative Chronologie ausgehen kann. Die Amtszeit der Statthalter (Prokuratoren) von Judäa und Samarien, Felix (besonders das Ende seiner Amtsperiode) und Festus (Apg 23–26), lässt sich leider nicht genau bestimmen. Da Festus spätestens im Jahre 58 sein Amt antrat, muss die Eskortierung des Apostels nach Rom etwa im Jahre 59 stattgefunden haben.223 In jüngerer Zeit wurde manchmal die Datierung des sog. Apostelkonvents224 (Gal 2,1–10; Apg 15,1–35) als Anhaltspunkt der absoluten Chronologie erwähnt. Gal 2,9 ist zu entnehmen, dass bei jener Zusammenkunft die Missionsfelder aufgeteilt wurden und durch den Beschluss einer Geldsammlung die Solidarität mit der Jerusalemer Gemeinde bestätigt wurde. Beides geschah, um Konflikte zwischen Paulus und den ursprünglichen Jüngern Jesu zu vermeiden. An jenem Konvent nahm auch der Zebedaide Johannes (Gal 2,9) teil. Da nach Apg 12,2 sein Bru222

Vgl. C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte (Lit. § 12), 14–16, und dazu R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 139–180 (auch zu anderen Datierungsversuchen, bes. von G. Lüdemann). 223 Nach A. Suhl, Paulus und seine Briefe, 344, ereignete sie sich um drei bis vier Jahre früher. 224 Die ebenfalls verbreitete Bezeichnung „Apostelkonzil“ ist anachronistisch, weil sie bei diesem bilateralen Treffen von Gemeindevertretern schon zu sehr an die späteren Bischofssynoden denken lässt.

5.8 Die authentischen Paulusbriefe

181

der Jakobus durch Herodes Agrippa I. (41–44 n. Chr.) hingerichtet wurde und da in Mk 10,38f. der Märtyrertod der beiden Zebedäussöhne Jakobus und Johannes in einem Satz angedeutet wird, kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Konvent noch zu Lebzeiten des Herodes stattfand, also im Jahr 43 oder 44.225 Die Datierung mehrerer Paulusbriefe würde dann in eine erheblich frühere Zeit rücken. Doch bleibt diese frühe Ansetzung des Apostelkonvents eine Hypothese, die mit der relativen Chronologie konfrontiert werden muss. Die relative Chronologie spricht aber eher für eine Datierung in das Jahr 48 n. Chr. Denn nach Gal 2,1 fand der Apostelkonvent vierzehn Jahre, d. h. nach unserer Zählung mit ganzen Jahren dreizehn Jahre „danach“ statt (épeita diá dekatessárōn etṓn). Die Zeitangabe „danach“ könnte sich theoretisch noch auf die Berufung des Paulus (1,15f.) beziehen, hängt aber mit dem unmittelbar vorher erwähnten ersten Besuch des Paulus in Jerusalem zusammen, der drei Jahre nach seiner Bekehrung stattfand (1,18).226 Von diesem Besuch an müssen wir die vierzehn Jahre zählen. In diesem Fall ist die Frühdatierung des Apostelkonvents ausgeschlossen.

5.8.2 

Die Biographie des Paulus und ihr Verhältnis zu seiner Theologie

Literatur s. § 5.8.1

Zu Herkunft und Werdegang erwähnt Paulus in seinen Briefen nur wenige biographische Einzelheiten, am detailliertesten in Gal 1,13 ff. Aus den dortigen Angaben lässt sich in groben Zügen die Frühzeit des Apostels rekonstruieren. Das einschneidendste Ereignis seines Lebens war für Paulus ohne Zweifel die Bekehrung vom Christenverfolger zum Apostel Jesu Christi, die ihm durch eine Erscheinung des Auferstandenen zuteil wurde (Gal 1,15 f.).227 Die Lebenswende ereignete sich bei Damaskus (Gal 1,17) und dürfte schon recht bald nach der Hinrichtung Jesu (sehr wahrscheinlich im Jahr 30)228 und nach der ersten Verkündigung der Osterbotschaft etwa um 33 n.Chr. geschehen sein. Im Unterschied zu den drei ausführlichen, literarisch gestalteten Schilderungen in der Apostelgeschichte (Apg 9; 22;

225

So F. Hahn, Das Verständnis der Mission im Neuen Testament (WMANT 13), Neukirchen 1963, 77f.; A. Suhl, Paulus und seine Briefe, 316 ff. In meinen früheren tschechischen Veröffentlichungen habe ich diese Datierung vertreten (P. P.). R. Schäfer, Paulus bis zum Apostelkonzil, 487f., folgert aus der gewagten Identifizierung von Gal 2,1–10 mit der Überbringung der antiochenischen Kollekte (Apg 11,27–30; 12,25) die ungewöhnliche Frühdatierung 40 n. Chr. 226 Für die erste Möglichkeit plädiert vor allem A. Suhl, Paulus und seine Briefe, 46f.; zum Problem s. U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 37f. 227 Vgl. Ch. Dietzfelbinger, Die Berufung des Paulus als Ursprung seiner Theologie (WMANT 58), Neukirchen-Vluyn 21989. 228 Vgl. R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 31–52; G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 147–155.

182

5 Die paulinischen Briefe

26)229 spricht Paulus selber nur von einer Begegnung mit dem auferstandenen Christus als dem Herrn, der ihm in einer Vision erschien (1Kor 15,8 ff.; 9,1; vgl. 2Kor 4,4–6). Aus dem pharisäisch230 gebildeten Handwerker (Apg 18,3: „Zeltmacher“) und eifrigen Christenverfolger231 wurde durch das Damaskuserlebnis ein leidenschaftlicher Apostel, Missionar und Theologe. Erst drei Jahre nach seiner Bekehrung besuchte er wieder Jerusalem, um mit Petrus und dem Herrnbruder Jakobus Kontakt aufzunehmen (Gal 1,18). Für das Verständnis der paulinischen Theologie sind die Äußerungen des Apostels über seine Bekehrung von großer Bedeutung. Sie ermöglichen erste Schlussfolgerungen: a) Paulus betrachtete seine Begegnung mit Christus als eine – vermutlich schon die letzte – Ostererscheinung, die die Reihe der Christophanien abschloss (1Kor 15,8; § 5.12.5a). b) Er begriff seine Lebenswende als direkten apostolischen Auftrag, der der Berufung eines Jüngers Jesu, z. B. des Petrus, gleichwertig ist. Diesen Anspruch haben offensichtlich nicht alle Glieder der in 1Kor 15,5–7 genannten Gruppen als legitim empfunden und anerkannt (vgl. § 5.6.2.1), da besonders beim Herrnbruder Jakobus Vorbehalte zu vermuten sind (vgl. Gal 2,12). Die Berufung durch den Auferstandenen war für den ganzen Apostolat des Paulus konstitutiv: Aus ihr leitet er in Gal 1,11 f.15 f. die Autorität des von ihm verkündigten Evangeliums ab, und zwar unabhängig von den Führern der Jerusalemer Urgemeinde, die er erst drei Jahre später aufsuchte (1,18). In 2Kor 5,20 spricht er seine Adressaten als „Botschafter“ oder „Gesandter an Christi Statt“ an. In Röm 1,1 stellt er sich als „berufener Apostel“ vor, „der das Evangelium Gottes zu verkündigen“ ausgesondert ist.232 Aus der Anfangszeit nach seiner Berufung berichtet er, dass er „vierzehn Jahre“ in Syrien und Kilikien weilte (Gal 1,21). Bei diesem Gebiet handelt es sich um die Umgebung seiner Heimatstadt Tarsus, einer bedeutenden hellenistischen Metropole in Kilikien an der Südküste der heutigen Türkei, in der er nach den Angaben der Apostelgeschichte aufgewachsen ist (Apg 9,30). Nach seinem Selbstzeugnis in den Briefen stammt er aus einer streng jüdischen Familie pharisäischer Prägung.233 Nach 229

Apg 9,1–19; 22,3–16; 26,4–18; vgl. Ch. Burchard, Der dreizehnte Zeuge (Lit. § 6.4),

51 ff. 230

Phil 3,5; Apg 23,6; 26,5. Gal 1,13.23; 1Kor 15,9; Phil 3,6; Apg 8,3; 9,1.21 u. ö. 232 Zugleich beschrieb er seinen Apostolat in der Tradition alttestamentlicher Propheten, bes. Jeremias und des deuterojesajanischen Gottesknechts: „ausgesondert von Mutterleib an“ (Gal 1,15; Röm 1,1; Jes 49,1.5; Jer 1,5), „berufen“ (Gal 1,15; Röm 1,1; Jes 49,1), Auftrag für die „(Heiden-)Völker“ (Gal 1,16; Röm 1,5; Jes 49,6; Jer 1,5); vgl. K. O. Sandnes, Paul – One of the Prophets (WUNT II/43), Tübingen 1991. 233 Gal 1,13 f.; Phil 3,5 f.; 2Kor 11,22; Röm 11,1; Apg 23,6; 26,4 f.; vgl. die instruktive Einführung von J. Frey, Das Judentum des Paulus, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus (Lit. § 5), 5– 231

5.8 Die authentischen Paulusbriefe

183

Lukas besaß er das römische Bürgerrecht234 und kam zur pharisäischen Ausbildung nach Jerusalem.235 Anschließend an den syrisch-kilikischen Aufenthalt (Gal 1,21) lebte er ein ganzes Jahr (Apg 11,26) in der hellenistisch-judenchristlichen Gemeinde in Antiochien am Orontes, das ein bedeutendes Zentrum der jüdischen Diaspora war und sich zur Basis der christlichen Mission entwickelte.236 In die dortige christliche Gemeinde wurde Paulus von Barnabas aus Zypern, einem ihrer Hauptrepräsentanten, eingeführt. In Antiochien begann man nach Apg 11,26 die Anhänger Jesu abschätzig als „Christianer“ (Christianoí), d. h. Christusleute, zu bezeichnen (§ 5.6.1.1). Nach Apg 13,1–14,28 unternahm Paulus mit Barnabas von Antiochien aus eine (sog. erste) Missionsreise237 nach Zypern und in den südlichen Bereich von Kleinasien (etwa Mitte der vierziger Jahre?).238 Die Angaben in Apg 15 über den Apostelkonvent in Jerusalem (vgl. Gal 2,1–10) entstanden durch eine falsche239 Identifizierung, bei der Lukas dieses Treffen (48 n. Chr.; s. Anm. 225 f.) mit jener Zusammenkunft verwechselte, bei der Petrus, Barnabas und die antiochenischen Judenchristen das (wohl spätere) Aposteldekret beschlossen haben (Apg 15,20.29). Die in diesem Schreiben festgehaltenen Beschlüsse betrafen grundsätzlich vereinfachte Bedingungen der Gesetzesobservanz für die Heidenchristen, die das Essen von rituell geschlachtetem Fleisch (koscher) verlangten, die Abkehr vom Götzendienst, den Verzicht auf den Genuss von Blut und Ersticktem sowie die Vermeidung von Eheschließungen innerhalb der Blutsver-

43, ausführlicher zur jüdischen Identität des Paulus K.-W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel (WUNT 62), Tübingen 1992. 234 Apg 16,37 f.; 22,25.29; 23,27. 235 Apg 21,39–22,3; zu den Pharisäern s. § 6.3.4.1 Petit, zur Herkunft und Ausbildung M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 68–192. Ein niedrigerer Status des Paulus wird vorausgesetzt von E. W. Stegemann / W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, Stuttgart 1995, 258 ff. 236 Zur Bedeutung Antiochiens vgl. M. Hengel / M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 274– 461. 237 Die Zählung der Missionsreisen orientiert sich an der Darstellung der Apostelgeschichte, nach der jeweils Antiochien (13,1; 15,35; 18,22) den Ausgangspunkt bildete (13 f.; 15,36–18,22; 18,23–19,20; § 6.4.3.2). Die Zählung ist aber insofern irreführend, als Paulus sich seit seiner Berufung eigentlich ständig auf Reisen befand, die nur durch längere Aufenthalte in Antiochien (11,25 f.), Korinth (18,1–17) und Ephesus (18,23–19,20) unterbrochen waren. Außerdem kehrte er bei der dritten Reise nicht mehr nach Antiochien zurück, sondern das Ziel war Ephesus, um von dort über Griechenland nach Jerusalem und Rom weiterzureisen (19,21). 238 Vgl. G. Lüdemann, Paulus, 146. 239 Im Gegensatz zum Aposteldekret in Apg 15,29 betont Paulus, dass ihm „nichts auferlegt“ wurde (Gal 2,6b).

184

5 Die paulinischen Briefe

wandtschaft nach Lev 17 f. (§ 6.4.5.2a).240 Aus dem Selbstzeugnis in Gal 2,2.6 können wir schließen, dass Paulus bei der Entstehung dieses Dekrets nicht anwesend war und die dort formulierten Bedingungen auch nicht gebilligt hätte (§ 5.11.4a). Dem entspricht der Bericht in Apg 21,25, nach dem Paulus den Text des Aposteldekrets erst kurz vor seiner Verhaftung kennen lernte. Der Konvent befasste sich mit der Aufteilung der Missionsgebiete, um Konflikte zu vermeiden (Gal 2,3–9), und beschloss die Sammlung für die Armen in Jerusalem (Gal 2,10).241 Wie Paulus vor dem Apostelkonvent seine „gesetzesfreie“ Mission (§ 5.11.4c) bei den Heiden ohne die Vorschriften der jüdischen Tora theologisch begründete, wissen wir nicht. Er könnte seine Reise nach Zypern unerwähnt gelassen haben, weil er sie mit Barnabas unternahm, der den Standpunkt des Dekrets vertrat und mit dem er vermutlich aus diesem theologischen Grund die Zusammenarbeit abbrach.242 In Apg 15,37–39 ist der Konflikt nur aus persönlichen Problemen abgeleitet, damit das lukanische Bild einer einheitlichen Urkirche nicht gestört wird. Wir wissen also nur, dass Paulus Zypern und den Süden Kleinasiens besucht hat, und zwar vor der sog. zweiten Missionsreise. Daraus folgen weitere Konsequenzen für das Verständnis der paulinischen Theologie: c) Wahrscheinlich hat Paulus die Pistisformel (1Kor 15,3b–5), die vermutlich auf die Jerusalemer Urgemeinde zurückgeht (§ 5.6.2.1), als die für seine Verkündigung maßgebliche Gestalt des Evangeliums anerkannt (Gal 2,2–10; 1Kor 15,11; § 5.12.5a). d) Das (offensichtlich spätere) Aposteldekret (Apg 15,20.29) stellt aus paulinischer Sicht ein Dokument dar, das ein grundsätzliches Problem im Umgang von Judenund Heidenchristen in den Gemeinden wahrnahm, es aber auf eine inkonsequente Weise löste: Durch die Beschränkung auf einige Gebote, die die Juden vor der rituellen Verunreinigung bewahren sollten (s. Anm. 240), bedeutete das Aposteldekret eine Erleichterung für die Heidenchristen, erhärtete aber leider zugleich ihre zweitrangige Stellung im Volk Gottes. Außerdem schränkte es die Wahrheit des Evangeliums (Gal 2,5) ein, weil der Glaube an Christus nicht als das allein entscheidende Kriterium anerkannt, sondern mit weiteren Auflagen verbunden wurde. Paulus war überzeugt, dass solch ein Dokument der Einheit der Kirche nicht dient (§ 5.11.4). e) Von entscheidender Bedeutung für das Leben und für die Theologie des Paulus muss der Zwischenfall in Antiochien gewesen sein (Gal 2,11–14). Dort hatte Petrus sich dem Druck der um den Herrnbruder Jakobus versammelten Jerusalemer Christen gebeugt und aufgehört, mit unbeschnittenen (aber doch wohl getauften) Heiden240 Vgl. zum Aposteldekret J. Wehnert, Die Reinheit des „christlichen Gottesvolkes“ aus Juden und Heiden (WMANT 173), Göttingen 1997. 241 Vgl. 1Kor 16,1; 2Kor 8 f.; Röm 15,25–31; Apg 11,29; 12,25; 24,17. 242 Vgl. M. Öhler, Barnabas (WUNT 156), Tübingen 2003, 85 f.484 f.; ders., Barnabas (BG 12), Leipzig 2005.

5.8 Die authentischen Paulusbriefe

185

(christen) zu essen. Petrus brach im persönlichen Kontakt die Tischgemeinschaft mit Heidenchristen ab und feierte auch das Herrnmahl nicht mehr mit ihnen. Diese Spaltung belastete die Einheit der Gemeinde. f) Der Argumentation im Galaterbrief (§ 5.11.3) können wir entnehmen, dass es gerade dieser antiochenische Zwischenfall war, der Paulus später zur Ausformulierung seiner Rechtfertigungslehre inspirierte. Den Anlass bot nur indirekt die Frage nach dem Heil (Soteriologie), im Vordergrund stand die Frage nach der Einheit und dem Wesen des Volkes Gottes – die Ekklesiologie (§ 5.11.4a).243 Paulus wandte sich dagegen, dass das messianische Volk bloß aus Juden als den Nachkommen Abrahams und aus solchen Menschen bestehen sollte, die die Beschneidung vollzogen hatten und dadurch als Juden im Vollsinne galten. Seiner Meinung nach sind all diejenigen Kinder Abrahams, die wie Abraham an Gott glauben und im Glauben den Verheißungen Gottes vertrauen, die in Christus erfüllt sind (Gal 2,15–4,7). Bei der Deutung der paulinischen Theologie müssen wir uns diese ek klesiologische Ausgangsproblematik ständig vor Augen halten. Die Rechtfertigungslehre sollte die Einheit aller Christen begründen. Selbst die Einschränkung der Freiheit vom Gesetz, die mit Rücksicht auf die Schwachen in Röm 14 zum Ausdruck kommt, ist nichts anderes als eine Konsequenz der Rechtfertigung allein aus Gnade (§ 5.16.5c). Das so erworbene Heil kann anderen Menschen nicht abgesprochen werden. Über ihren Glauben kann von außen nicht entschieden werden. Eine genaue Datierung des antiochenischen Zwischenfalls ist nicht möglich. Paulus verbindet ihn sachlich eng mit seiner Bewertung des Apostelkonvents (Gal 2). Eine zeitliche Nähe ist wahrscheinlich, aber nicht beweisbar, sodass wir einen Zeitpunkt zwischen 48 und 50 n. Chr. annehmen.244 Die sog. zweite Missionsreise (Apg 15,40–18,22) unternahm Paulus mit Silas (lat. Silvanus), später schloss sich Timotheus an. Sie reisten – man vergleiche die Karte – durch das kleinasiatische Binnenland, u. a. durch Galatien (Apg 16,6). Nach Gal 4,13 f. erkrankte245 Paulus in Galatien, weshalb er längere Zeit bleiben musste. Welchen Teil von Galatien der Apostel besuchte, ist umstritten, da im Brief diesbezügliche Angaben fehlen (§ 5.11.5).246 Anschließend kam Paulus durch Troas nach Philippi in Makedonien, wo er die erste christliche Gemeinde auf europäischem Boden 243

Vgl. W. Kraus, Volk Gottes (Lit. § 5.11), bes. 202–254 (zum Galaterbrief). M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 247 f.330 f. sehen in dem „heftigen Streit“ in Apg 15,39 einen Hinweis auf den antiochenischen Zwischenfall und datieren diesen erst 2 ½ Jahre später ca. 52 n. Chr. (vgl. Apg 18,22 f.). 245 Vgl. U. Heckel, Der Dorn im Fleisch. Die Krankheit des Paulus in 2Kor 12,7 und Gal 4,13 f., ZNW 84 (1993), 65–92. 246 Daher ist auch fraglich, ob der in Gal 4,13 f. erwähnte Aufenthalt tatsächlich mit der Reise in Apg 16,16 zusammenfällt. Wenn es sich bei den Adressaten des Galaterbriefs um Hausgemeinden im südlichen Teil der römischen Provinz Galatia handelt (statt in der weiter nördlich gelegenen Landschaft Galatien; § 5.11.5), dürfte der durch die Krankheit in Gal 4,13 f. 244

186

5 Die paulinischen Briefe

gründete (Apg 16,11 ff.). Dann wirkte er in Thessalonich (Thessaloniki; Apg 17,1 ff.), von wo aus er Beröa und Athen erreichte. Athen war damals zwar nicht die Hauptstadt der Provinz Achaia (das war Korinth), bildete aber nach wie vor das kulturelle Zentrum Griechenlands. Paulus schickte Timotheus zurück nach Thessalonich, damit jener sein begonnenes Werk fortsetzt (1Thess 3,1 ff.). Er selbst zog weiter nach Korinth, wo er anderthalb Jahre (Apg 18,11) blieb, etwa 50–51 n. Chr. Dort verfasste er den ersten uns erhaltenen Brief, den 1. Thessalonicherbrief (§ 5.10.4). Zunächst verdiente er seinen Lebensunterhalt durch die Ausübung seines Handwerks (Anfertigung von Zelten aus Leder).247 Später erhielt er Unterstützung aus Makedonien, d. h. der Gemeinde in Philippi (Phil 4,15), sodass er sich stärker auf seine Missionsarbeit konzentrieren konnte (2Kor 11,9). Aus Korinth reiste Paulus Apg 18,18–22 zufolge über Ephesus und Cäsarea nach Jerusalem. So muss man den Satz über sein „Aufsteigen“ begreifen, das unter Juden ein technischer Ausdruck für eine Jerusalemreise war. Paulus selber erwähnt diesen Besuch in Jerusalem jedoch nicht und auch nach Apg 18,18.22 war das Reiseziel Antiochien. Deshalb wird jene Jerusalemreise meist als ein literarisches Mittel, also eine Fiktion, des Lukas angesehen, um die Einheit der Urkirche zu betonen, die durch die Nennung Jerusalems symbolisiert wird. In zeitlicher Nähe zu der Antiochienreise, von der die Apostelgeschichte berichtet, weilte Paulus noch ein zweites Mal in Galatien (Apg 18,23; vgl. 16,6).248 Bald darauf kam er (etwa im Jahr 53) nach Ephesus,249 wo er mehr als zwei Jahre verbrachte (ca. 53–55 n. Chr.; Apg 19,8.10; 20,31). Das war die sog. dritte Missionsreise (Apg 18,23– 19,20). Sehr wahrscheinlich schrieb er von dort aus etwa 54 n. Chr. den Galaterbrief (Frühdatierung),250 als er erfuhr, dass die Gemeinden in Galatien unter den Einfluss christlicher Judaisten gerieten (§ 5.11.5). Von Ephesus aus kor respondierte er auch mit der korinthischen Gemeinde. Damals entstanden der verlorene Vorbrief (1Kor

erzwungene (Gründungs)-Aufenthalt sich schon auf der sog. ersten Missionsreise (Apg 13 f.) ereignet haben. 247 Apg 18,3; vgl. 1Kor 4,12; 9,6–18; 1Thess 2,9. 248 Dass Paulus nach Apg 16,6 und 18,23 zwei Mal in Galatien weilte, könnte auch aus der Wendung „tó próteron“ in Gal 4,13 f. gefolgert werden. Diese Kombination setzt jedoch die Landschaftshypothese voraus, die heute zunehmend abgelehnt wird (§ 5.11.5). Sie ist auch sprachlich nicht zwingend, da im hellenistischen Griechisch „das erste von beiden Malen“ in der Regel „prṓtos“ heißt, während das in Gal 4,13 gebrauchte „tó próteron“ meist nur noch „früher“ bzw. „das einzige frühere Mal“ meint. Demnach müssen „die Gemeinden in Galatien“ (Gal 1,2) auf der sog. ersten Missionsreise gegründet worden sein (vgl. R. Riesner, Frühzeit [Lit. § 5.8.1], 258). 249 Vgl. P. Trebilco, The Early Christians in Ephesus, 53–196. 250 Größerenteils wird jedoch eine Spätdatierung des Galaterbriefs auf der Reise durch Makedonien und Griechenland (Apg 20,1 f.) kurz vor der Abfassung des Römerbriefs vertreten.

5.8 Die authentischen Paulusbriefe

187

5,9) und der 1. Korintherbrief (§ 5.13.2). Vermutlich von Ephesus aus schrieb er – wenn die Annahme einer ephesinischen Gefangenschaft zutrifft – als Gefangener ebenso den Brief an Philemon (§ 5.15.2) und vor seiner erwarteten Freilassung den Brief an die Philipper (§ 5.14.7).251 Da Paulus sich in Phlm 9 als „alten Mann“ (presbýtēs) bezeichnet, d. h. als etwa 60-Jährigen, muss er um die Zeitenwende geboren sein. Von einem Gefängnisaufenthalt in Ephesus berichten zwar weder die Apostelgeschichte noch das paulinische Selbstzeugnis, aber mindestens eine seiner Verhaftungen, die in 2Kor 6,5; 11,23 erwähnt sind, dürfte mit Ephesus in Zusammenhang stehen (§ 5.14.7). Vor der Abfassung des 2. Korintherbriefs (§ 5.13.2) muss Paulus etwa 55 n. Chr. noch einmal über Makedonien (1Kor 16,5; Apg 19,21) und Illyrien (Röm 15,19?) zu einem zweiten Besuch nach Korinth gereist sein (2Kor 2,1 ff.; vgl. 12,14; 13,1 f.).252 Während dieses turbulenten Aufenthalts bewältigte er die dortige Situation nicht – der sog. Zwischenbesuch verlief „betrüblich“ (2Kor 2,1: en lýpē). Deshalb verfasste er nach seiner Rückkehr nach Ephesus „unter vielen Tränen“ einen (nicht erhaltenen) Brief, den sog. Tränenbrief (2Kor 2,4). Nur wenig später beschloss er, nach Jerusalem zu gehen, um die Kollekte für die Armen zu übergeben (Apg 19,21). Von Ephesus brach er jedoch nicht direkt nach Jerusalem auf, sondern reiste zunächst nach Makedonien (Philippi) und stand durch Titus mit der korinthischen Gemeinde in Verbindung (2Kor 2,12 f.; 7,6.13 f.). Nachdem Paulus von ihm gute Nachrichten aus Korinth empfangen hatte, schrieb er einen versöhnenden Brief (2Kor 1 – 9 oder 1 – 7). Als er im darauffolgenden Jahr wieder beunruhigende Berichte erhielt, schickte er einen Kampfbrief nach Korinth (2Kor 10 – 13) und besuchte relativ bald die dortigen Christen zum dritten und letzten Mal (2Kor 12,14; 13,1; Apg 20,3:253 „drei Monate“). Das Verhältnis zwischen Paulus und der Gemeinde besserte sich, und die Korinther beteiligten sich an der Kollekte für Jerusalem (Röm 15,26). Während dieses dritten Korinthaufenthalts schrieb Paulus 56 n. Chr. den Römerbrief (Röm 16,1; § 5.16.3). In der Apostelgeschichte lesen wir von seiner Reise über Troas, Milet und Cäsarea nach Jerusalem (Apg 20,1 ff.). Weitere Nachrichten gibt es von dieser Reise nicht. Doch wird in dieser Zeit vielfach die Abfassung des Galaterbriefs angenommen (Spätdatierung; § 5.11.5). In Jerusalem wurde Paulus mit Verlegenheit aufgenommen, wie sogar aus dem harmonisierenden Bericht der Apostelgeschichte hervorgeht

251

Die beiden Gefängnisbriefe wurden nach einigen byzantinischen Handschriften mit der Gefangenschaft in Rom oder nach einer mittelalterlichen Überlieferung auch in Cäsarea in Verbindung gebracht (§ 5.14.7; 5.15.2). 252 Nach M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 475, und U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 43.45, fand diese Reise im Jahr 56 oder 55 statt. 253 So die Zuordnung von Apg 20,3 bei C. K. Barrett, ICC, 946.

188

5 Die paulinischen Briefe

(„Was nun?“; Apg 21,22a).254 Nach seiner Verhaftung wurde er nach Cäsarea eskortiert und dort während der langen Haft mehrmals verhört.255 Die Apostelgeschichte begründet seine Entsendung nach Rom damit, dass er als römischer Bürger (s. Anm. 234 f.) das kaiserliche Gericht anrufen konnte (Apg 25,11.25; 26,32). Apg 28,30 berichtet von seiner zweijährigen Gefangenschaft in Rom, während der er „ungehindert“ seine Verkündigung fortsetzen konnte. Was danach geschah, wissen wir nicht. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass Paulus im Zuge der Christenverfolgung durch Nero (54–68 n. Chr.) etwa im Jahr (62 oder) 64 n. Chr. ums Leben kam (1Clem 5,5– 7).256 Der 1. Clemensbrief (ca. 96–100 n. Chr.) setzt voraus, dass Paulus während seines Aufenthalts in Rom für einige Zeit aus der Haft entlassen wurde und als Missionar „die Grenze des Westens“ erreichte (1Clem 5,7). Es handelt sich dabei allerdings um einen Hinweis, der von den Worten des Paulus in Röm 15,28 über seine geplante Spanienreise abgeleitet sein könnte. Aus der Abschiedsrede des Paulus in Apg 20,24.37 f. geht hervor, dass Lukas vom Tod des Paulus in Rom wusste. Eine Unterbrechung der römischen Haftzeit würde einen Zeitraum für die Einordnung der Briefe öffnen, die wir in den bisher bekannten Abschnitten seines Lebens kaum unterbringen können und die theologisch anders gestaltet sind (bes. die Pastoralbriefe). Dabei handelt es sich allerdings nur um Vermutungen, welche die kirchliche Tradition der paulinischen Verfasserschaft unterstützen sollen (§ 8.4.2). Daraus ergibt sich die folgende chronologische Übersicht zur Biographie des Paulus, bei der alle Datierungen auf Schätzungen beruhen und mit Schwankungen von etwa zwei bis drei Jahren zu rechnen ist. Kursiv markiert ist die Abfassung der einzelnen Paulusbriefe (s. S. 189). Für das Verständnis der paulinischen Theologie sind aus der Biographie des Paulus noch zwei weitere Umstände von Bedeutung: g) Paulus war überzeugt, dass er durch seine universale missionarische Tätigkeit am Heilsplan Gottes teilnimmt. Diese Tätigkeit betrachtete er als die nachösterliche Gestalt der alttestamentlichen Erwartung einer Völkerwallfahrt nach Jerusalem zum Berg Zion.257 Er verstand sich als „Diener Christi Jesu für die Heiden“ (Röm 15,16; vgl. 11,13), bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt (11,25). Seine Sendung zu den Heiden258 leitete er von seiner Bekehrung ab, von der er stets als seiner Berufung 254

K. Haacker, The Theology of Paul’s Letter to the Romans, 12 f. Einer mittelalterlichen Tradition zufolge, die in den Nachworten mehrerer byzantinischer Handschriften erhalten ist, schrieb er in Cäsarea die Gefangenschaftsbriefe an die Philipper und an Philemon. Für Cäsarea als Abfassungsort zumindest des Philemonbriefs plädiert C.-J. Thornton, Zeuge des Zeugen (Lit. § 6.4), 201–207.212. 256 Vgl. F. W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus (BZNW 106), Berlin u. a. 2001. 257 Jes 2,2–4; 11,10; 60,11–14; Sach 8,20–22; 14,16 f. u. ö. 258 Gal 1,15 f.; 2,8; Röm 15,18 f.; vgl. Röm 1,5. 255

5.8 Die authentischen Paulusbriefe

189

um die Zeitenwende Geburt in Tarsus in Kilikien (Apg 9,11; 21,39; 22,3) mit römischem Bürgerrecht (Apg 16,37f.; 22,25.29; 23,27) in einer streng jüdischen Familie (Röm 11,1; Phil 3,5f.; Apg 23,6; 26,4f.) Ausbildung als Pharisäer (Phil 3,5f.; Apg 23,6) in Jerusalem (Apg 26,4f.) 30 n. Chr. Kreuzigung Jesu Verfolger der Gemeinde (1Kor 15,9; Gal 1,13.23; Phil 3,6; Apg 8,3; 9,1 u. ö.) ca. 33 Bekehrung bei Damaskus (Gal 1,11–17; 1Kor 9,1; 15,8–10; Apg 9 u. ö.) ca. 33–36 Arabien (Gal 1,17) ca. 36 Kurzbesuch bei Petrus in Jerusalem (3 Jahre nach der Bekehrung; Gal 1,18– 20; Apg 9,26–30) ca. 36–39 Mission in Syrien und Kilikien (Gal 1,21; Apg 9,30) ca. 40–41 Antiochien (ein volles Jahr mit Barnabas; Apg 11,25f.) ca. 41–48 Kollegialmission mit Barnabas u. a. in Syrien, Phönizien und Kilikien ca. 46–47 sog. 1. Missionsreise nach Zypern, Kilikien und Südgalatien (Apg 13–14) 48 Apostelkonvent in Jerusalem (Gal 2,1–10 [14 Jahre nach dem Kurzbesuch]; Apg 15,1–35) ca. 48–50 Zwischenfall in Antiochien bei Frühdatierung (?) (Gal 2,11–14) 49 Claudiusedikt (Aquila und Priszilla nach Korinth; Apg 18,2) 49–51 2. Missionsreise nach Kleinasien (Galatien) und Griechenland mit Silas und Timotheus, beginnend mit der Trennung von Barnabas (Apg 15,36 – 18,22) Herbst 50–51 Korinth (Gründung, eineinhalb Jahre; Apg 18,1–17): 1Thess 52

Gallio-Inschrift (vgl. Gallio 51 n. Chr. in Apg 18,12ff.)

ca. 52 53–55

(Antiochenischer Zwischenfall bei Spätdatierung?; Gal 2,11–14) 3. Missionsreise mit zweijährigem Aufenthalt in Ephesus (Apg 18,23– 19,20 bzw. 21,14): Gal bei Frühdatierung (?); 1Kor; Phlm; Phil (?) 2. „betrüblicher“ (Zwischen-)Besuch in Korinth (2Kor 2,1: „en lýpē“) und Rückkehr nach Ephesus: 2Kor Makedonienreise – (Gal bei Spätdatierung?) – mit 3. Korinthbesuch (2Kor 12,14; 13,1; Apg 20,2f.: drei Monate): Röm Verhaftung in Jerusalem und Gefangenschaft in Cäsarea (Apg 21–26) Überführung nach Rom (Apg 27f.): (Phil?) Spanienreise? (Röm 15,24.28; 1Clem 5,7) Tod in den Christenverfolgungen durch Nero (Apg 20,24f.37f.; 1Clem 5,5– 7)

55 56 57 59 62 (62 oder) 64

redet.259 Die Sammlung des Volkes Gottes ist nach paulinischer Auffassung jedoch nicht israelzentrisch auf den Berg Zion ausgerichtet, sondern geschieht überall dort, wo der lebendige Herr (kýrios) präsent ist, d. h. in der ganzen bewohnten Welt. Dennoch ist die paulinische Mission nicht als eine allumfassende Werbung zu begreifen. Sie zielt auf die Bildung stabiler Gemeinden, in denen der erhöhte Herr durch alle

259

Vgl. die Wortfamilie „kaleín“ (Gal 1,15; vgl. Röm 1,1; 1Kor 1,1).

190

5 Die paulinischen Briefe

seine Gnadengaben wirksam ist. Die Gründung solcher Gemeinden betrieb der Apostel vor allem in den Provinzhauptstädten (Antiochien, Ephesus) und vergleichbaren Zentren (Korinth) bis hin zur Hauptstadt des römischen Reichs.260 Deswegen konnte Paulus sagen, dass er in dem ganzen Bereich von Jerusalem bis Illyrien das Evangelium voll ausgerichtet habe (Röm 15,19), obwohl er nur eine begrenzte Anzahl an Gemeinden gründen konnte.261 Der Aufbau von Hausgemeinden und das Zeugnis von Person zu Person ist Sache der einzelnen Christen. Der Apostel war allerdings bemüht, lebensfähige Gemeinden zu gründen, die die Einheit des Glaubens leben. Sie sollten die Hoffnung der Christen auf die Vollendung der Gemeinschaft mit Christus durch das Feiern des Herrnmahls (1Kor 11,17–34; § 5.6.2.3d) vorwegnehmen, aber auch durch ihr ganzes Leben vor der Mitwelt demonstrieren. h) Paulus schrieb seine Briefe in rascher Abfolge zwischen 50 und 56 (bzw. 60)262 n. Chr. Alle entstanden nach dem Apostelkonvent (48 n. Chr.) und dem Zwischenfall in Antiochien, alle behandelten die dadurch entstandenen Probleme. Nur der erste Thessalonicherbrief wurde vor der Ausformulierung der paulinischen Rechtfertigungslehre geschrieben, die erst im Galaterbrief erfolgte. Die meisten Briefe, die unbestritten Paulus zugeschrieben werden (sog. Homologumena), sind relativ leicht in seine Biographie einzuordnen. Ihrer Entstehung nach geordnet, ergibt sich mit kleinen Unterschieden nachstehende Reihenfolge: entweder: 1Thess – Gal (?) – 1-2Kor (ursprünglich mehrere Briefe) – Röm oder auch: 1Thess – 1-2Kor – (Gal?) – Röm

Dagegen sind der Philipperbrief (vielleicht eine Briefsammlung; § 5.14.2) und der Brief an Philemon schwer zu datieren (§ 5.14.7; 5.15.2). Auch wenn die Briefe meist konkrete Fragen behandeln und nur der Römerbrief einen Gesamtüberblick über die paulinische Theologie bieten soll, ist davon auszugehen, dass alle Äußerungen von einer in sich konsistenten theologischen Grundeinstellung abgeleitet sind. Von einem tiefen Meinungswechsel etwa in den eschatologischen Vorstellungen oder der Rechtfertigungslehre ist im Denken des Paulus nichts zu beobachten, wenn er auch einige Gedanken mit der Zeit weiter entfaltet hat. i) Die These vom Heil des Menschen, das aus der Gnade Gottes resultiert und in Christus endgültig offenbart wurde, bildet das Zentrum der paulinischen Theologie, den Kern seiner Rechtfertigungslehre. In der heutigen Alltagssprache wird mit dem Begriff der „Rechtfertigung“ meist assoziiert, dass jemand sich für ein (Fehl-)Verhalten rechtfertigen will oder muss. Bis ins 17. Jh. bezeichnete das Wort einen gerichtlichen Prozess, aber auch die Verteidi260 261 262

Vgl. § 5.14.2; 5.16.2; 5.16.4. Vgl. M. Hengel, Die Ursprünge der christlichen Mission, NTS 18 (1971/72), 15–38. So, falls der Philipperbrief in Rom verfasst sein sollte (s. Anm. 251).

5.8 Die authentischen Paulusbriefe

191

gung, die Verurteilung oder den Freispruch. Daher dient der Begriff seit Martin Luthers reformatorischer Entdeckung in einem theologisch qualifizierten Sinn als Bezeichnung für die Rechtfertigung des Gottlosen, d. h. für die Gerechterklärung des Sünders im göttlichen Gericht: Allein aus Gnade wird der Mensch vor dem zu erwartenden eschatologischen Gericht Gottes freigesprochen („gerechtfertigt“). Durch die Gnade Gottes ist er ein Gerechtfertigter, kann er im Gericht bestehen und wird vor Gott für gerecht befunden. In dieser konkreten Bedeutung wird der Terminus Rechtfertigung auch in der Literatur zur paulinischen Theologie für die Gerechterklärung des Sünders durch die göttliche Gnade gebraucht. Die „Gnade“ (cháris) erklärt Paulus zum theologischen Leitmotiv und eigentlichen Beweggrund für das göttliche Heilshandeln in Christus (Röm 3,24; 5,12–21). Der Glaube beruht auf der aus Gnade gewährten Zueignung des Todes Jesu, der als universales Opfer für alle Menschen interpretiert wird (Röm 3,25; 5,8).263 Durch die Rechtfertigung hat der Sünder Frieden mit Gott und einen neuen Zugang zur Gemeinschaft mit ihm (Röm 5,1 ff.). Die Rechtfertigung hat nicht nur eine forensische (gerichtliche), die Gerechtigkeit zurechnende, gerechtsprechende Bedeutung, sondern auch eine effektive, gerechtmachende Wirkung (§ 5.16.5a.b). In der Taufe wird das in Christus gestiftete Heil mit dem Leben eines Einzelnen unlöslich verbunden (Röm 6; § 5.6.2.2d) und in der Gemeinde durch jede Feier des Herrnmahls (§ 5.6.2.3) mit dem Evangelium von der Auferstehung neu vergegenwärtigt, bis der erhöhte Herr am Ende der Zeiten wiederkommt (1Kor 10,16 f.; 11,23–26). Erstmals entfaltet hat Paulus seine Rechtfertigungslehre im Galaterbrief (§ 5.11.3– 4). Später hat er sie im Römerbrief in der Rede von der „Gerechtigkeit Gottes“ (Röm 1,17; 3,21–26) umfassend auf den Begriff gebracht: Durch das Heilshandeln in Christus hat Gott seine Gerechtigkeit erwiesen, dass er selbst gerecht ist und den gerecht macht, der aus dem Glauben an Jesus lebt (§ 5.16.5a). Die Bedeutung der „Gerechtigkeit Gottes“ und den Sinn der Rechtfertigungslehre werden wir im Zusammenhang des Galater- und des Römerbriefs ausführlicher darlegen. Bei der Rechtfertigungslehre handelt es sich keineswegs um einen „Nebenkrater“ der paulinischen Theologie, der in einer besonderen Kampfsituation entstanden sei, wie es William Wrede (1904) und nach ihm auch Albert Schweitzer (1930) behauptet haben.264 Eine neue Kontroverse zur Rechtfertigungslehre lösten in jüngerer Zeit Ed P. Sanders 263 Zu Röm 3,25 s. W. Kraus, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe (WMANT 66), Neukirchen-Vluyn 1991. 264 Vgl. W. Wrede, Paulus (1904), zuletzt in: K. H. Rengstorf (Hg.), Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung (WdF 24), Darmstadt 1964, 1–98, dort 92, und ähnlich A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930, 220 (Rechtfertigungslehre als Nebenkrater). Wrede erkennt zwar die Bedeutung des antiochenischen Konflikts (67 ff.), er unterschätzt allerdings die Tragweite der Konsequenzen, die Paulus daraus abgeleitet hat. Vgl. kritisch z. B. E. Jüngel, Paulus und Jesus (HUTh 2), Tübingen 1962, 17 ff.; H. Hübner, Das Gesetz bei Paulus (FRLANT 119), Göttingen 1978.

192

5 Die paulinischen Briefe

(1977) und Heikki Räisänen (1983; 21987) als Vertreter einer „New Perspective on Paul“ aus.265 Diese kritisierten die von Luthers Rechtfertigungsverständnis geprägte reformatorische Auslegungstradition. Dafür fragten sie – in einer berechtigten und seit dem Holocaust erst recht überfälligen Kritik an den antijudaistischen Tendenzen älterer Darstellungen – neu nach den jüdischen Voraussetzungen im Verständnis des Gesetzes und sahen die maßgebliche Struktur im Bundesnomismus (covenantal nomism).266 Nach diesem Ansatz dürfen die Fragen von Gesetz und Gehorsam nicht polemisch als „Gesetzlichkeit“ oder „Werkgerechtigkeit“ und Leistungsreligion abgetan werden, durch die der Mensch sich sein Heil „verdient“. Vielmehr wird die Tora jüdischem Selbstverständnis entsprechend betrachtet und innerhalb des Bundes Gottes mit Israel begriffen, d. h. unter dem Vorzeichen der göttlichen Erwählung, Gnade und Barmherzigkeit, die auch die Sühnemittel für die Übertretungen des Menschen einschließt. Nach dieser neuen Einsicht soll der Mensch sich durch seine Werke nicht die Gerechtigkeit verdienen, sondern den von Gott zuvor gestifteten Bund bewahren, indem er die göttlichen Gebote hält. Demnach hätte auch Paulus eine innerhalb des Judentums annehmbare Position vertreten. Da nur relativ wenige Juden Christen geworden sind, müssen wir jedoch damit rechnen, dass seine Christusverkündigung einem tieferen Umbruch bedeutete, als die Vertreter der „New Perspective“ annehmen. Dennoch bleibt als Ertrag dieser Kontroverse festzuhalten, dass angesichts der unterschiedlichen Frontstellung sehr viel sorgfältiger differenziert werden muss zwischen der reformatorischen Polemik gegen jede Art von menschlicher Werkgerechtigkeit und der paulinischen Kritik an der Heilsnotwendigkeit von Werken wie der Beschneidung, die die Tora zu tun verlangt. Das Judentum als Religion der „Werkgerechtigkeit“ und das Gesetz als „Heilsweg“ zu bezeichnen, hat sich als Zerrbild erwiesen, das nicht mehr aufrecht zu erhalten ist, weil es dem jüdischen Selbstverständnis nicht entsprach.267 Außerdem gilt es terminologisch zu bedenken, dass das Wort „Gesetz“ im Deutschen an265

Der Begriff stammt von J. D. G. Dunn, The New Perspective on Paul, BJRL 65 (1983), 95–122; ders., The New Perspective on Paul (WUNT 185), Tübingen 2005; zur Sache vgl. E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, London / Philadelphia, PA 1977, bes. 438 (DÜ: Paulus und das antike Judentum [StUNT 17], Göttingen 1985); H. Räisänen, Paul and the Law (WUNT 29), Tübingen 21987, 266 ff., aber auch die ganz unterschiedliche Kritik von H. Hübner, ThLZ 110 (1985), 894–895; T. E. van Spanje, Inconsistency in Paul? A Critique of the Work of Heikki Räisänen (WUNT II/110), Tübingen 1999; L. Thurén, Derhetorizing Paul. A Dynamic Perspective on Pauline Theology and the Law (WUNT 124), Tübingen 2000. 266 Zur Angemessenheit des Begriffs „Bundesnomismus“ vgl. F. Avemarie, Bund als Gabe und Recht, in: ders. / H. Lichtenberger (Hg.), Bund und Tora (WUNT 92), Tübingen 1996, 163–216, sowie zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur grundlegend F. Avemarie, Tora und Leben (TSAJ 55), Tübingen 1996. 267 Vgl. die Diskussion bei E. Lohse, KEK 4, 140–145, oder J. Frey, Das Judentum des Paulus, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus (Lit. § 5), 35–42; Vgl. auch Anm. 264 sowie ausführlicher D. A. Carson u. a. (Hg.), Justification and Variegated Nomism II. The Paradoxes of Paul (WUNT II/181), Tübingen 2004, die theologie- und forschungsgeschichtlich umfassende Gesamtdarstellung von S. Westerholm, Perspectives Old and New on Paul. The “Lutheran“ Paul and His Critics, Grand Rapids, MI 2004, zur gegenwärtigen Diskussion M. Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive (WUNT 182), Tübingen 2005; W. Härle, Paulus und Luther. Ein kritischer Blick auf die „New Perspective“, ZThK 103 (2006), 362–393.

5.8 Die authentischen Paulusbriefe

193

dere Assoziationen weckt als die jüdische Rede von der „Tora“ (Unterweisung). Paulus verwendet den Begriff „nómos“ in unterschiedlicher Weise, und zwar meist für die Tora, die Mose mit dem Dekalog268 auf dem Sinai von Gott empfangen hat (Ex 20),269 aber auch für die jüdische Schrift (das Alte Testament) als ganze,270 für den Pentateuch271 oder in einem allgemeinen Sinn von „Gesetzmäßigkeit, Ordnung, Regel, Norm“.272

Aufs Ganze gesehen hat die Diskussion um die Neue Paulusperspektive (s. Anm. 265) durch das intensivierte Fragen nach der Bedeutung von Bund und Tora ohne Zweifel zu einem besseren Verständnis des jüdischen Hintergrunds beigetragen. Dennoch vermochte die Kritik an der paulinischen Rechtfertigungstheologie aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen. Vor allem bei den von Paulus herangezogenen Zitaten, Redewendungen und Vorstellungen ist feiner zu differenzieren zwischen dem jüdischen Verständnis und der paulinischen Rezeption. Beim Galaterbrief werden wir sehen (§ 5.11.1; 5.11.3–4), dass z. B. die Bedeutung der Tora in den alttestamentlichen Schriften und der jüdischen Auslegung zur Zeit des Neuen Testaments rekonstruiert werden muss, bevor wir sie – in einem zweiten Schritt – mit dem paulinischen Gesetzesverständnis vergleichen und seine christologisch begründete Kritik nachvollziehen können. Deshalb muss die neutestamentliche Exegese nicht nur nach dem jüdischen Selbstverständnis fragen, sondern auch dem Argumentationsgefälle der paulinischen Briefe gerecht werden. Außerdem darf die exegetische Rekonstruktion des von Paulus intendierten Textsinns nicht unreflektiert mit den heute notwendigen Aufgaben des jüdisch-christlichen Dialogs vermengt werden, der noch weitere Überlegungen erfordert. Die bedeutendsten geistesgeschichtlichen Entdeckungen entstehen meist in Auseinandersetzungen – im Streit um Konkretes, wie es bei Paulus der antiochenische Zwischenfall (Gal 2,11–14) mit sich brachte. Dort erlebte der Apostel eine ungeeignete Art des Zusammenlebens von getauften Juden und getauften Heiden, die die Einheit der Kirche bedrohte. Der Zwischenfall in Antiochien bildete die negative Voraussetzung zur späteren Ausformulierung der Rechtfertigungslehre. Diese ist keine Spätfrucht des Paulus, sondern die konsequente Entfaltung seines theologischen Denkens. Ihre grundlegende Bedeutung bezeugt die Erzählung von jenem Zwischenfall, die im Galaterbrief erst aus einem größeren zeitlichen Abstand erfolgt und die Darlegung der Rechtfertigungslehre einleitet. Nachdem Paulus vor der Abfassung des Galaterbriefs neue Nachrichten über die Judaisten bekommen hatte, zog 268

Vgl. Röm 2,21 f.; 7,7–12 (begehren); 13,8–10. Röm 2,12 ff.25; 3,20 f.28; 4,13 f.15b; 5,13.20; 6,14f.; 7,1.8 f.; Gal 3,17.19 u. ö.; vgl. Röm 9,4 (nomothesía). 270 Röm 3,19 (Abschluss der Zitatensammlung); 3,31; 1Kor 9,8; 14,21 (Zitat Jes 28,11 f.); 14,34 (vgl. Gen 3,16); Gal 4,21b (Abrahamsgeschichte); vgl. Joh 10,34; 12,34; 15,25 (§ 2.1.1). 271 1Kor 9,9 („Gesetz des Mose“ mit Zitat Dtn 25,4); Gal 3,10b („Buch des Gesetzes“); vgl. neben den Propheten Röm 3,21 (§ 2.1.1). 272 Röm 3,27; 7,21.23.25; 8,2. 269

194

5 Die paulinischen Briefe

er aufgrund der Erfahrung aus dem antiochenischen Konflikt neue, radikale Folgerungen im Sinn der Rechtfertigung allein durch den Glauben. Er formulierte theologische Gedanken, die über seine Zeit hinaus von großer Relevanz sind. Die Rechtfertigungslehre wird in 2Kor 5–6 als Versöhnung neu interpretiert (§ 5.13.3.1c) und bildet bei den Starken und Schwachen in 1Kor 8 (§ 5.12.1) oder Röm 14 (§ 5.16.5a.c) die theologische Basis für die Paränese, in der gerade die in Christus geschenkte Freiheit Kompromisse erlaubt. Deshalb können Streit und Ärgernis innerhalb der christlichen Gemeinde vermieden werden.

5.9 

Das paulinische Briefkorpus

Literatur s. § 8.1

Das Problem der Sammlung und Kanonisierung der paulinischen Briefe gehört eigentlich in das Kapitel über die deuteropaulinischen Schriften (§ 8.1) und die Kanongeschichte (§ 3.4).273 Da mit ihm jedoch auch Konsequenzen für die Frage der Integrität der paulinischen Briefe verbunden sind, ist es sinnvoll, einige Bemerkungen an dieser Stelle der Behandlung der paulinischen Briefe vorauszuschicken. Erst in der Zeit nach dem Fall Jerusalems (70 n. Chr.) gewann die paulinische Theologie Anerkennung in breiteren Kreisen der Christenheit.274 Damals beherrschten die Pharisäer die Synagogen und versuchten, die Christen aus ihrer Gemeinschaft herauszudrängen (§ 5.4; 6.3.4.1). Zwischen der Zerstörung Jerusalems und dem Wirken des Apostels lag der Jüdische Krieg (66–70 n. Chr.). Als die große Katastrophe des jüdischen Volks hatte er Folgen, die auch das Leben der Synagogen in der Diaspora veränderten. Wir wissen nicht, wie dicht vor dem Fall Jerusalems das Netz der paulinischen Gemeinden bzw. der Paulusschüler in den christlichen Gemeinden war. Jedenfalls waren sie die ersten, die die Synagogen verlassen mussten. In der Zeit nach 70 wuchs der Einfluss der Paulusschüler in den christlichen Gemeinden. Ihre zunehmende Bedeutung in der Kirche muss mit der Sammlung der Briefe des Paulus verbunden gewesen sein. Paulus selbst besaß aufgrund seiner vielen Reisen kaum ein Archiv seiner Korrespondenz, und in den bewegten Zeiten gingen sicher auch einige seiner Schreiben verloren. In 1Kor 5,9 (sog. Vorbrief) und 2Kor 2,4 (sog. Tränenbrief) werden zwei Briefe erwähnt, die nicht erhalten sind. Bei der Zusammenstellung des Corpus Paulinum standen den Redaktoren von einigen Briefen wahrscheinlich nur Kopien zur Verfügung. Von manchen Briefen mögen sogar bloß Fragmente erhalten geblieben sein, für die es jedoch keine Belege gibt. Wir 273

Vgl. zur Einführung den Exkurs bei U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 395–410 (Lit.). Paulus selber war in seinen Gemeinden durchaus umstritten und hatte insbesondere in Galatien (§ 5.11.3), Korinth (§ 5.12.4; 5.13) und Philippi (§ 15.4.3) auch starke Gegner. 274

5.9 Das paulinische Briefkorpus

195

müssen also damit rechnen, dass die Paulusschüler der zweiten und dritten Generation versuchten, die Methoden der Redaktion der Korrespondenz bekannter Autoren ihrer Zeit nachzuahmen. Auch Philosophenschüler haben die Briefe ihrer Lehrer gesammelt.275 Leider sind nicht viele solcher Sammlungen mit dem Corpus Paulinum vergleichbar. Entweder handelt es sich um Sammlungen, die mehrere Generationen nach dem Tode der Verfasser entstanden (Plato), oder um Ausgaben, die die Autoren mitgestalteten (Cicero), oder um verlorene und uns nicht mehr zugängliche Editionen (Epikur). Die Eingriffe der Redaktoren sind durch didaktische, literarische, philosophische und unter den Christen selbstverständlich durch theologische und liturgische Interessen motiviert. Gesichtspunkte, die den heutigen Kriterien einer historisch-kritischen Textausgabe entsprechen und mit deren Hilfe die Authentizität bzw. Ursprünglichkeit einer Schrift beurteilt werden soll, fallen kaum ins Gewicht. Für eine redaktionelle Arbeit an den paulinischen Briefen spricht vor allem die Tatsache, dass mit Ausnahme der zwei Korinther- und Thessalonicherbriefe an jeden Ort jeweils nur ein Brief adressiert ist. Beim 2. Thessalonicherbrief handelt es sich wahrscheinlich um ein späteres Werk eines Schülers (§ 8.3.3). Der 2. Korintherbrief ist ein gutes Beispiel für eine aus mehreren Brieffragmenten bestehende literarische Einheit (§ 5.13.2). Spuren redaktioneller Arbeit weist möglicherweise der Philipperbrief auf (§ 5.14.2). Zur redaktionellen Arbeit gehörte vermutlich auch die Zusammenstellung von Sammlungen, die eine symbolische Zahl an Briefen (bes. 3 oder 7) enthielten.276 Die deuteropaulinischen Briefe (die zum Kanon gehörenden paulinischen Pseudepigraphen) sind fast zeitgleich mit den authentischen Paulusbriefen in Form von Zitaten und Anspielungen in der frühchristlichen Literatur nachweisbar, besonders bei Ignatius (110–114 n. Chr.).277 Diese Tatsache bezeugt, dass die Deuteropaulinen bereits am Anfang des 2. Jh.s zu den Sammlungen der Paulusbriefe gehörten, aus denen das heutige Corpus Paulinum entstand. Die Arbeit der Redaktoren trug also zur Anerkennung und späteren Kanonisierung der deuteropaulinischen Schriften bei. Mit den Problemen der kanonisierten Pseudepigraphie werden wir uns unter literarischen und theologischen Gesichtspunkten befassen (Exkurs 10). Im Einzelnen sind die Probleme der möglichen redaktionellen Arbeit am sinnvollsten im Zusammenhang mit den jeweiligen Briefen zu besprechen. Schon jetzt müssen wir allerdings darauf aufmerksam machen, dass die Grenzen zwischen re275

Vgl. M. L. Stirewalt, Studies, 34 ff. (Lit. § 5). Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Gruppe der paulinischen Briefe, die sich später als Kern des Korpus durchsetzte, sieben Briefe enthielt (1–2Kor, Gal, Phil, 1–2Thess, Röm). Genauso enthielt die Johannesoffenbarung sieben Briefe an die Gemeinden (Apk 2–3), und später gab es sieben Briefe des Ignatius. Die drei Pastoralbriefe bildeten eine selbstständige Einheit, ähnlich die drei Johannesbriefe. 277 Vgl. das Verzeichnis bei A. Lindemann / H. Paulsen, Die Apostolischen Väter (Lit. § 12c), 568. 276

196

5 Die paulinischen Briefe

daktionellen Nähten und rhetorischem Stilwechsel oft fließend sind. Methodisch ist bis zum Erweis des Gegenteils von der Einheitlichkeit und Ursprünglichkeit des gegebenen Texts auszugehen. Die Vermutung muss zunächst immer für die Gültigkeit des vorliegenden Texts sprechen. Zu der Annahme eines redaktionellen Eingriffs sind wir nur dann berechtigt, wenn andere Möglichkeiten der Deutung unverständlicher Stellen ausgeschöpft sind. Anders gesagt: Die Annahme einer redaktionellen Operation darf nie zur Erleichterung der exegetischen Arbeit oder zur Einebnung theologischer Probleme dienen. Nur dort, wo der untersuchte Text widersprüchlich ist und wo eine vorgeschlagene Konjektur wirklich hilfreich wäre, darf sie ernsthaft erwogen werden.278 Jede andere mutmaßliche Textverbesserung kann das Missverständnis noch steigern. Die Grenzen unserer Rekonstruktionsmöglichkeiten anzuerkennen, ist immer weniger gefährlich, als sich auf hypothetische Konstruktionen einzulassen (§ 1.4).279

5.10

Der 1. Thessalonicherbrief

 Kommentare: Martin Dibelius, HNT 11, 31937; Christian Masson, CNT, 1957; Willi Marxsen, ZBK 11.1, 1979; Traugott Holtz, EKK 13, 21990; I. Howard Marshall, NCBC, 1983; Charles A. Wanamaker, NIGTC, 1990; Eckart Reinmuth, NTD 8,2, 1998; Abraham J. Malherbe, AncB 32B, 2000.  Monographien und Aufsätze: Wolfgang Harnisch, Eschatologische Existenz (FRLANT 97), Göttingen 1973; Abraham J. Malherbe, Exhortation in First Thessalonians, NovT 255 (1983), 238–256; Udo Schnelle, Der erste Thessalonicherbrief und die Entstehung der paulinischen Anthropologie, NTS 32 (1986), 207–224; Robert Jewett, The Thessalonian Correspondence, Philadelphia 1986; Raymond F. Collins (Hg.), The Thessalonian Correspondence (BEThL 87), Leuven 1990; Hans Hübner, Biblische Theologie II (Lit. § 1), 42–56; Karl P. Donfried / I. Howard Marshall (Hg.), The Theology of the Shorter Pauline Letters (NT Theology), Cambridge 1993; Rainer Riesner, Frühzeit (§ 5.8.1); Rudolf Hoppe, Der erste Thessalonicherbrief und die antike Rhetorik, BZ 41 (1997), 229–237; Karl P. Donfried / Johannes Beutler (Hg.) The Thessalonians Debate, Grand Rapids, MI / Cambridge UK 2000; Christoph vom Brocke, Thessaloniki – Stadt der Kassander und Gemeinde des Paulus (WUNT II/125), Tübingen 2001. 278

Vgl. U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 91 ff. Eine Ausnahme bilden die Textsegmente, in denen der textkritische Befund (die handschriftlichen Unterschiede in den erhaltenen Kopien) für die Annahme einer redaktionellen Arbeit eine greifbare Grundlage bietet, wie es z. B. in einigen Teilen von Röm 16 der Fall ist (§ 5.16.3). Solche Stellen sind allerdings nur Ausnahmen, die eine sekundäre, mit der letzten Etappe der Kanonbildung verbundene Redaktion bezeugen. Es handelt sich also nicht um die Redaktion, die mit der Sammlung paulinischer Korrespondenz beschäftigt war. Die ältesten erhaltenen Handschriften paulinischer Episteln, vor allem der Chester-Beatty-Papyrus (p46), der in Dublin aufbewahrt ist und schon aus der Zeit um 200 stammt, bieten die paulinischen Briefe in einer relativ einheitlichen Gestalt. 279

5.10 Der 1. Thessalonicherbrief

197

Der 1. Thessalonicherbrief ist der früheste Paulusbrief und damit zugleich das älteste schriftliche Dokument des Neuen Testaments überhaupt.280 Das hier verhandelte Kernproblem sind Fragen der christlichen Hoffnung, die durch einige Todesfälle ausgelöst wurden. 5.10.1

Gliederung und Inhalt

Das Korpus des Briefes ist zweiteilig. Nach seiner Eröffnung beschreibt der erste Teil (2,1–3,13) die Beziehungen zwischen dem Apostel und den Christen in Thessalonich (Thessaloniki). Der bedeutendste Teil, der die Fragen der Adressaten zur Hoffnung angesichts des Todes beantwortet (4,13–18 und 5,1–11), gehört schon zur Paränese und enthält wichtige Elemente theologischer Argumentation.281 1,1–10 1,1 1,2–10

Briefeingang Präskript Proömium mit Dankgebet und Fürbitte für die Gemeinde

2,1 – 3,13 2,1–12 2,13–16 2,17 – 3,8 3,9–13

Erster Teil: Besuchswünsche und Botensendung Korpuseröffnung: Selbstempfehlung des Apostels Erneutes Dankgebet für die Gemeinde Besuchswunsch und Entsendung des Timotheus Dank- und Bittgebet für die Gemeinde

4,1 – 5,22 4,1–12 4,13 – 5,11 4,13–18 5,1–11 5,12–22

Zweiter, paränetischer Teil (Hauptteil): Leben angesichts des Endes Ermahnung zu einem gottgefälligen Lebenswandel („Heiligung“) Die beiden Fragen der Adressaten: Der Tod einiger Christen Die Hoffnung auf die Auferstehung und das Sein bei Christus Die Wachsamkeit im Blick auf den Tag des Herrn Korpusabschluss: Mahnungen für das Gemeindeleben

5,23–28 5,23–28

Briefschluss Postskript mit Friedenswunsch und Treuespruch, Fürbitteaufforderung, heiligem Kuss, Vorleseanweisung und Gnadenwunsch als Schlusssegen Inclusio (Rahmung)

1,1–10 Briefeingang Das Schreiben beginnt mit einem kurzen Präskript und einem Proömium (exordium), in dem Paulus Gott für den Glauben und die Liebe der Gemeinde dankt (1,2– 10). Das Proömium bietet eine Zusammenfassung der Missionspredigt, welche die

280 Vgl. zu den einzelnen Briefen jeweils U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5; mit umfangreicher Literatur), als Kommentar zum 1. Thessalonicherbrief bes. T. Holtz, EKK XIII. 281 Vgl. H.-J. Klauck, Briefliteratur (Lit. § 5), 267–281.284–291.

198

5 Die paulinischen Briefe

Adressaten einst zur Bekehrung veranlasste. Das Evangelium wird mit seiner Kernaussage wiedergegeben, dass der Auferstandene vor dem zukünftigen Zorn (dem Jüngsten Gericht) rettet. 2,1–3,13 Erster Teil: Besuchswünsche und Botensendung Wegen der Gebete wird dieser Teil manchmal noch dem Proömium zugeordnet, doch beginnt mit dem Rückblick auf das Wirken des Apostels in Thessalonich das Briefkorpus (2,1–12). Der Abschnitt fungiert als Selbstempfehlung (§ 5.7b) und Apologie, mit der Paulus Einwände gegen sein Verhalten entkräften und den Boden für die Paränese bereiten will.282 Nach einem erneuten Dankgebet (2,13–16) äußert er den Wunsch, die Adressaten wiederzusehen (2,17–3,8). Er erklärt, warum er Timotheus geschickt hat und weshalb er selbst nicht kommen kann: der Satan habe ihn gehindert (2,18). Der erste Teil endet mit einem Dank- und Bittgebet, das wieder vom Gericht Gottes und der Wiederkunft Jesu spricht (3,9–13). 4,1–5,22 Zweiter Teil: Leben angesichts des Endes Der thematische Hauptteil des Briefs besitzt einen paränetischen Rahmen. Die Ermahnung zur „Heiligung“ des Lebens durch die Bruderliebe und das Meiden der Unzucht (4,1–12) bildet nur die Einleitung zu dem konkreten Problem, das die Thessalonicher quälte: Was geschieht mit den Christen, die vor der Wiederkunft Christi und dem Eintreffen des neuen Äons (s. Anm. 298) gestorben sind? In 4,13–18 erklärt Paulus, dass die Auferstehung Jesu Christi die Verwirklichung der guten Absicht Gottes garantiert, und zwar sowohl universal in der Geschichte als auch individuell im Leben der einzelnen Menschen. Auch für die bereits Gestorbenen gilt die apokalyptische Hoffnung, dass sie bei der Wiederkunft Christi auferstehen, auf den Wolken in die Luft entrückt werden, dem Herrn begegnen und allezeit bei ihm sein werden (4,17). Diese endzeitliche Gemeinschaft mit Christus ist das Ziel der Wege Gottes mit den Menschen. Wegen der seelsorgerlichen Bedeutung dieser Frage für die Thessalonicher bettet Paulus seine Überlegungen über das Schicksal der Verstorbenen in eine Paraklese, d. h. Aufforderung zum Trösten, ein (vgl. 4,18 mit 5,1–11). Es folgen Aufforderungen zur Wachsamkeit vor dem kommenden „Tag“, wenn Christus zur Parusie erscheinen wird (5,1–11). Das Briefkorpus endet paränetisch mit Ermahnungen für das Leben der Gemeinde (5,12–22).

282 Vgl. H. Hübner, Theologie II (Lit. § 1), 42. Der Abschnitt kann als Widerlegung (refutatio) der (möglichen) Einwände betrachtet werden. Konkret handelt es sich schon um eine Beschreibung der Lage, sodass er auch als „narratio“ bezeichnet werden könnte (vgl. außer C. A. Wanamaker und R. Hoppe bes. K. P. Donfried / I. H. Marshall, The Theology of the Shorter Pauline Letters, 6).

5.10 Der 1. Thessalonicherbrief

199

5,23–28 Postskript Es folgen ein ausführlicher Friedenswunsch mit Treuespruch (5,23f.), die Bitte um Fürbitte, eine Aufforderung zum „heiligen Kuss“ (§ 5.7b), die Leseanweisung für den Gottesdienst „vor allen Brüdern“ und ein Gnadenwunsch als Schlusssegen (5,28). 5.10.2

Die Todesfälle in Thessalonich und ihre theologische Bewältigung

Der Brief wurde von Paulus bald nach seiner Ankunft in Korinth geschrieben. Er reagiert auf die guten Nachrichten, die Timotheus aus Thessalonich mitbrachte (3,1f.6): Die Thessalonicher bewähren ihre Treue Christus gegenüber auch im Leiden (2,14; 3,7f.). Die christliche Gemeinde in Thessalonich283 war erst kurz zuvor von Paulus gegründet worden. Sie bestand zumeist aus ehemaligen Heiden, die sich bekehrt hatten (1,9; 2,14). Die Verurteilung der Juden (2,15f.) hat ihren Grund in der Vertreibung der Christen aus der Synagoge (2,14), die in Apg 17,1 bezeugt wird. Die Kritik an den jüdischen Verfolgern bestätigt den Bericht in Apg 17,1–9, nach dem Paulus seine Mission unter den Juden begann (§ 6.4.6b). Das konkrete Problem der Gemeinde in Thessalonich bestand im Tod einiger Christen. Er trat für die Thessalonicher überraschend ein, da sie aus der Auferstehung Jesu die persönliche Hoffnung auf einen direkten Übergang ins ewige Leben abgeleitet und mit der jüdisch-apokalyptischen Erwartung eines neuen Äons verbunden hatten (§ 2.2.1d). Mit diesem apokalyptisch geprägten universalen Endzeitglauben sahen sie der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi (parousía)284 und dem göttlichen Gericht für alle Menschen entgegen.285 Deshalb hofften sie, nicht mehr sterben zu müssen, sondern noch zu ihren Lebzeiten bei der Parusie ihre eigene Entrückung ins ewige Leben bei Christus zu erfahren. In dieser Erwartung gingen sie davon aus, dass es nach der Auferstehung des Herrn keinen Tod mehr gäbe. Eben diese Hoffnung ist aber durch einige Todesfälle in der Gemeinde schwer erschüttert worden. In 1Thess 4,14–18286 gibt Paulus eine grundsätzliche Antwort: Die Auferstehung Jesu Christi nimmt nicht nur den neuen Äon vorweg, sie garantiert zugleich die Voll-

283

Vgl. R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 297–349; Ch. vom Brocke, Thessaloniki, pas-

sim. 284

1Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,23. Neben dieser universalen Perspektive kannte Paulus aufgrund seiner pharisäischen Vergangenheit (§ 5.8.1) auch die Vorstellung einer individuellen Auferstehung als Hoffnung eines Menschen im Tode (§ 5.6.2.1). 286 Vgl. dazu P. Hoffmann, Die Toten in Christus (NTA.NF 2), Münster 31978; T. Holtz, EKK XIII, z.St. 285

200

5 Die paulinischen Briefe

endung der menschlichen Lebensgeschichten, die durch den Tod begrenzt sind.287 Paulus setzt sich hier mit dem Problem der zweifachen Eschatologie auseinander, nach der die Endzeit aus einer gegenwärtigen und einer zukünftigen Phase besteht (§ 5.6.2.1; 5.10.3). Dabei beruft er sich auf die Autorität des erhöhten Kyrios (4,15), indem er ein „Wort des Herrn“ (§ 5.6.2.5b) über die Parusie zitiert. Der Umfang dieses Logions ist nicht sicher abgrenzbar, doch dürfte es sich um eine Jesusüberlieferung handeln,288 die an das Bild Jesu als des Menschensohns aus Dan 7,13 ff. (§ 6.2.7.2) anknüpft, der beim Erschallen der Posaune vom Himmel herabkommt. Es ist der erste christliche Beleg für eine persönliche Hoffnung im Tode.289 Oberflächlich betrachtet scheint die Überwindung des Todes eine Neufassung der pharisäischen Auferstehungshoffnung (§ 5.6.2.1) zu sein, doch in Wirklichkeit stoßen wir auf einen völlig neuen Gedanken, da diese Erwartung bei Paulus ihren Grund in der schon geschehenen Auferweckung Jesu hat.290 Der 1. Thessalonicherbrief ist der erste Beleg für das theologische Denken des Paulus. Grundlegend ist die Osterverkündigung von der Auferstehung Jesu (1,10), die aus der urchristlichen Überlieferung übernommen und mit Hilfe apokalyptischer Vorstellungen ausgedrückt wird. Schon hier dient der Terminus „Evangelium“ (1,5; vgl. 2,2.4.8f.; 3,2) als Inbegriff der Heilsbotschaft, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat und die Menschen aus dem kommenden Zorngericht errettet (1,9f.; § 5.6.2.1). Der Brief ist nicht nur durch die Apokalyptik beeinflusst. Besonders der Abschnitt 4,1–12 enthält mehrere Anspielungen auf das Alte Testament291 und verrät die Kenntnis der christlichen Überlieferung von Jesus als Lehrer, der Gebote gibt (4,2; vgl. Mt 28,20a; § 6.3.3.2). Jene Tradition ist im 1. Thessalonicherbrief in einen paränetischen Zusammenhang gestellt, für den die Gabe des Geistes als Aktualisierung alttestamentlicher Prophetie gedeutet wird (4,8; vgl. Ez 36,27; 37,14). Dass von der Religion direkte ethische Folgen ausgingen, war in der hellenistischen Gesellschaft unüblich. Der 1. Thessalonicherbrief begründete damit eine neue

287 Vgl. K. P. Donfried / I. H. Marshall, The Theology of the Shorter Pauline Letters, 33 ff.; zum zeitgeschichtlichen Hintergrund s. H. C. Cavallin, Life after Death (CB NT 7,1), Lund 1974, 197 ff. 288 Vgl. 1Thess 4,16f. mit Mk 14,62 und Mt 24,30f. (§ 5.6.2.4). 289 Sie stellt die These von L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841), krit. Ausg. Leipzig 1904, Kap. 19 über das Christentum als einen ins Jenseits gesteigerten Egoismus in Frage. Paulus musste die christlichen Adressaten mit Mühe von ihrer persönlichen Hoffnung im Tode überzeugen. 290 1Thess 1,10; 4,14; Gal 1,1; Röm 10,9 u. ö.; vgl. Christus als Erstling der Auferstandenen in 1Kor 15,20.23 (aparchḗ; vgl. prōtótokos Röm 8,29; Kol 1,18; Apk 1,5, prṓtos Apg 26,23, archēgós Apg 3,15; Hebr 2,10); vgl. die Parallelisierung der Auferstehung bei Christus und den Christen in 1Kor 6,14; 2Kor 4,14; 13,4; Röm 8,11. 291 Vgl. die Stellenhinweise am äußeren Rand bei Nestle / Aland27.

5.10 Der 1. Thessalonicherbrief

201

paränetische Tradition,292 die zwar aus dem Judentum geläufig war, allerdings erst mit der Verbreitung der paulinischen Briefe ihren Weg in die europäische Gesellschaft antrat. 5.10.3

Die Apokalyptik und das paulinische Evangelium

Im 1. Thessalonicherbrief geht es um die Frage, was angesichts des Auferstehungsgeschehens mit den verstorbenen Christen geschieht. In seiner Antwort greift Paulus endzeitliche Vorstellungen auf, die auf die große geistesgeschichtliche Bedeutung der Apokalyptik (§ 2.2.1d) hinweisen. Der Terminus „Apokalyptik“ ist ein neuzeitliches Kunstwort.293 Er wird zur Bezeichnung einer Gruppe von Texten gebraucht,294 deren gemeinsame Züge in der exegetischen Literatur auf unterschiedliche Weise definiert wurden. Überwiegend wird der Ausdruck als historische Kategorie verwendet, um eine endzeitliche Grundstimmung und Heilserwar tung zu beschreiben.295 Daneben gibt es auch Versuche einer stärker formalen Eingrenzung auf die literarische Gattung von göttlichen Offenbarungen, die Apokalypsen (Exkurs 8), die durch einen Zeugen berichtet werden296 und sich meist auf die Endzeit (Eschaton) beziehen. Diese formale Eingrenzung ist jedoch allzu formalistisch. Denn es gibt auch apokalyptische Texte, die ganz andere Offenbarungsformen enthalten. Die Bandbreite reicht von Entrückungen und Himmelsreisen (2Kor 12,1–4) über Visionen und

292

Vgl. A. J. Malherbe, Exhortation, 251 ff.; K.-W. Niebuhr, Gesetz und Paränese (WUNT II/28), Tübingen 1987. 293 1832 eingeführt von Friedrich Lücke, einem Schüler Friedrich Schleiermachers, im Anschluss an Karl Immanuel Nitzsch (1822); vgl. A. Christophersen, Friedrich Lücke Teil 1, Berlin 1999, 368–381. 294 Vgl. die Textauswahl bei C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte (Lit. § 12e), 356–386. 295 Vgl. M. Hengel, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 302–417, der die gängige Unterscheidung zwischen Apokalyptik (Endzeiterwartung) und Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) als falsche Alternative problematisiert, theologiegeschichtlich auf die Aversion des 19. Jh.s gegenüber aller apokalyptisch-zukünftigen Erwartung zurückführt und daraus im Gegenzug die Faszination für die präsentische Eschatologie des Johannesevangeliums erklärt; vor allem beschreibt er die „apokalyptische Grundstimmung“ der neutestamentlichen Zeit und stellt die wichtigsten Parusietexte vor: 1Thess 4,13 – 5,11 (bes. 343–359); 1Kor 15; 2Kor 4,16 – 5,10; (Phil 3,20f.); Röm 8,18–25; Mk 13,24–27.28–37; Lk 17,22–35 par. 296 So M. Wolter, Apokalyptik als Redeform im Neuen Testament, NTS 51 (2005), 171– 191, der von einer Endoffenbarung in der 1. Person ausgeht (sodass selbst Mk 13 und 1Kor 15,20–28 als apokalyptische Texte ausscheiden) und sich damit abgrenzt gegenüber der weithin akzeptierten Definition von J. Collins und A. Yarbro Collins s. A. Yarbro Collins, Cosmology and Eschatology in Jewish Christian Apocalypticism, Leiden 1996, 7.

202

5 Die paulinischen Briefe

Auditionen (Apk 1,9 ff.; 4,1 ff.) bis hin zu Formen prophetisch inspirierter Schriftauslegung (Apk 1,1.3 u. ö.; § 7.2.2; Exkurs 8).297 Jedenfalls sind es Texte, die zwei große Aspekte der Enderwartung integrieren, nämlich zum einen die universalgeschichtliche Hoffnung auf den neuen Äon,298 zum anderen die individuelle Aussicht auf die Auferstehung, das Endgericht und ein ewiges Leben.299 Im Lauf der Zeit gelang es selten, diese beiden Dimensionen der Hoffnung miteinander zu verbinden. Zunächst zur universalen Hoffnung: Diese schließt in der Apokalyptik die Erwartung des Jüngsten Gerichts ein. Durch das endzeitliche Gericht Gottes erhält das menschliche Leben einen letzten Zielpunkt, der die Arbeit, das ethische Verhalten und eventuell auch das Leiden oder Martyrium eines Menschen sinnvoll machen kann. In dieser generalisierenden Sicht sind mehrere zeitgebundene Züge apokalyptischer Texte noch unberücksichtigt wie z. B. Spekulationen über das Jenseits, der Dualismus zwischen guten und satanischen Mächten, Schwarzweißmalerei, Ideologisierung der Religion usw. Auch die Probleme einer gegenständlichen Geschichtsauffassung, die mit Hilfe apokalyptischer Motive die Zeichen der Zeit in der Gegenwart auszudeuten versucht, sind nur vorläufig registriert. Sie werden im Zusammenhang mit der Johannesoffenbarung ausführlicher behandelt (Exkurs 8; § 7.2.3). Nun zur individuellen Hoffnung: Hier wird durch die universale Vollendungserwartung das Problem der Zwischenzeit aufgeworfen, d. h. die Frage, was mit einem Menschen in der Zeit zwischen dem Eintreten seines Todes und der Auferstehung am Ende der Zeiten geschieht. Diese Zwischenzeit kann entweder durch eine Art Schlaf überbrückt werden (Dan 12,2). Oder die Verstorbenen werden gleich nach dem Tod vorläufig sortiert, um einerseits ins Paradies, andererseits in die Unterwelt zu gelangen (Lk 16,19–31; 23,43). Bei Paulus könnte die stereotype Rede von den Entschlafenen300 auf die zuerst genannte Vorstellung eines vor übergehenden Schlafzustands hindeuten, doch verwendet er diesen Ausdruck nur als eine euphemistische Umschreibung für die Toten.301 Wahrscheinlicher ist deshalb die zweite Möglichkeit einer vorläufigen himmlischen Zwischenexistenz, da Paulus selber das Paradies er297

Die nicht-eschatologischen Jakobus-Apokalypsen aus Nag Hammadi (NHC V,3; V,4) werden wegen anderer Apokalypsen als „Apokalypsen“ bezeichnet, ähnlich wie das Philippusevangelium „Evangelium“ genannt wird. 298 Paulus spricht nur von „diesem Äon“ (Röm 12,2; 1Kor 1,20; 2,6.8; 3,18; 2Kor 4,4) oder der gegenwärtigen bösen Weltzeit (Gal 1,4), nicht jedoch von der zukünftigen, kommenden Welt wie im apokalyptischen Zwei-Äonen-Schema (vgl. erst deuteropaulinisch Eph 1,21; 2,7), stattdessen aber von der Gottesherrschaft (1Thess 2,12; 1Kor 4,20; Röm 14,17 und 1Kor 6,9f.; 15,50; Gal 5,21) und dem ewigen Leben (Röm 2,7; 5,21; 6,22f.; Gal 6,8). 299 1Hen 51f.; vgl. syrBar 14,12f.; 24,1; 4Esr 7,33–35; Apk 14,13. 30 0 1Thess 4,13–15; 1Kor 15,18.20; vgl. 7,39; 11,30; 15,6.51. 301 Auch die These eines leiblosen Zwischenzustands ist damit nicht zu begründen (§ 5.13.3.1b zu 2Kor 5,3f.).

5.10 Der 1. Thessalonicherbrief

203

wähnt (2Kor 12,4), das als Aufenthaltsort der verstorbenen Gerechten gilt (Lk 23,43). Letztlich misst Paulus der Frage des Zwischenzustands aber nur eine nachrangige Bedeutung zu. Entscheidend ist für ihn die Hoffnung, nach dem Tod bei Christus zu sein und „mit (sýn) ihm“ zu leben.302 Auch das Eintreten des Todes vor der Parusie kann nicht von Christus trennen. Die Hoffnung, die „in Christus“ begründet ist, bedeutet keineswegs die Verlängerung des irdischen Lebens, als ob es sich im Rahmen des bisherigen, diesseitigen Äons weiter bewegen würde. Vielmehr handelt es sich um eine tiefgreifende Wende, die mit der endzeitlichen Wiederkunft Christi eintritt (1Thess 1,10; 4,14f.). Es geht um die Hoffnung, dass der Mensch als Person in seiner Einmaligkeit und Konkretheit das Ziel der Fürsorge Gottes ist, also kein Mittel zum Erreichen eines anderen, „höheren“ Zieles sein kann. Diese Vorstellung ist schon in dem alttestamentlichen Gedanken des Jüngsten Gerichts enthalten, aber nach Paulus hat sie im Tod Jesu zugunsten der anderen Menschen ihren eigentlichen Grund (5,9f.) und wird in der erwarteten Begegnung mit Christus303 in der Endzeit verwirklicht werden (4,17). Mit dieser bevorstehenden Wende begründet Paulus die Appelle zur Besserung der Lebensführung (5,11). Das ethische Verhalten der Christen soll aus dem neuen eschatologischen Bewusstsein heraus schon jetzt der endzeitlichen Gemeinschaft mit Christus entsprechen (5,10), untadelig sein (3,13; 5,23) und sich am göttlichen Willen zur Heiligung orientieren (4,1 ff.). Angesichts der konkreten Ausgangsfrage konzentriert sich Paulus im 1. Thessalonicherbrief aber auf die Auferstehung Christi als Vorwegnahme des Endgeschehens.304 Das Problem des Zeitpunkts, an dem der neue Äon kommt („Wann?“), wird durch die Art seines Eintreffens („Wie“?) entschärft. Indem Paulus mit einer apokalyptischen Tradition sagt, dass der Tag des Herrn kommen wird „wie ein Dieb in der Nacht“ (1Thess 5,2),305 überträgt er die alttestamentliche Vorstellung vom „Tag JHWHs“ auf die Wiederkunft Christi.306 Aus der unmittelbaren Naherwartung der Christen wird eine eschatologische Existenz, die das eigene Leben von der Parusie Christi her begreift, wann auch immer sie eintritt. Indem Paulus die Hoffnung in Christus mit dem Aufruf zur Wachsamkeit verbindet, beginnt er das Problem zu bewältigen, dass die als unmittelbar bevorstehend erwartete Parusie immer noch nicht eingetreten ist. Die tiefere, theologisch tragfähige Lösung bestand in der „zweifachen“ Eschatologie (§ 5.6.2.1), mit deren Hilfe 302

1Thess 4,14.17; 5,10; 2Kor 5,8; Röm 6,8; Phil 1,23; vgl. auch Röm 8,38f.; 14,7–9. Vgl. auch die Mit-Christus-Formulierungen in 2Kor 4,14 (vgl. 13,4); Röm 6,8; 8,17.29; Phil 3,10f.; vgl. P. Siber, Mit Christus leben (AThANT 61), Zürich 1972, zu 1Thess 4,13; 5,10 bes. 35–67. 304 Vgl. J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 265. 305 Vgl. Mt 24,43 par.; 2Petr 3,10; Apk 3,3; 16,15. 306 Vgl. außer 1Thess 5,2.4f.8 auch 1Kor 1,8; 5,5; 2Kor 1,14 und den Tag Christi in Phil 1,6.10; 2,16. 303

204

5 Die paulinischen Briefe

Paulus die Existenz der Kirche in die Periode „zwischen den Zeiten“ einordnete, d. h. in den Zeitraum zwischen dem Anbruch des neuen Äons, der mit dem Tod und der Auferstehung Jesu begonnen hat, und der Parusie, bei der der Sohn Gottes vom Himmel kommen wird.307 Aus dieser neuen Sicht ergibt sich die Spannung zwischen dem „schon“ und „noch nicht“: Die eschatologische Erneuerung hat mit der Heilstat Christi bereits endgültig eingesetzt, bleibt aber noch an den eschatologischen Vorbehalt geknüpft, dass ihre umfassende Verwirklichung in der Vollendung der Gottesherrschaft bei der Wiederkunft Christi erst bevorsteht (§ 5.12.1; 5.12.5c). Dieser Gedanke konnte nicht unmittelbar aus der jüdischen Apokalyptik abgeleitet werden. Ohne die grundlegende christologische Besinnung des Paulus wäre das Kirchenverständnis als eschatologische Heilsgemeinde zwischen den Zeiten und auch die Idee des christlichen Kanons als Zeugnis von der Offenbarung Gottes im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi (§ 3.3) nicht möglich gewesen. Stark vereinfacht lässt sich dieses Überlappen der Zeiten graphisch so darstellen: alter Äon

neuer Äon

Ende der Zeit Zeitachse

Weltvollendung Tod und Auferstehung Jesu

Parusie Christi Endgericht

ewiges Leben mit Christus

Christsein und Kirche „zwischen den Zeiten“ Abb. 10: Die christologische Neuinterpretation apokalyptischer Erwartungen bei Paulus

Bei der Frage, ob Paulus das endzeitliche Wiederkommen Christi noch zu seinen Lebzeiten erwartete, finden sich in seinen Briefen unterschiedliche Aussagen. Während der Apostel später im Philipperbrief mit seinem vorzeitigen Tod vor der Parusie rechnete (Phil 1,20–23; § 5.14.4), ging er im 1. Thessalonicherbrief noch davon aus, dass er die Wiederkunft Christi bereits während seines irdischen Lebens erfahren werde (4,15.17).308 Diese Sicht ist schon ein Resultat seiner Neufassung der apoka307

Vgl. 1Thess 1,10; 2,19; 3,13; 4,13f.15; 5,2.9f.23. Eine Akzentverschiebung in der eschatologischen Erwartung bei Paulus vermuten W. Wiefel, Die Hauptrichtung des Wandels im eschatologischen Denken des Paulus, ThZ 30 308

5.10 Der 1. Thessalonicherbrief

205

lyptischen Vorstellungen, die sowohl das Schicksal der Menschen (Phil 1,21 ff.) als auch die ganze Schöpfung (Röm 8,18 ff.) einschließt. Deshalb beschäftigt sich der Apostel nicht näher mit dem Problem des Zwischenzustands. Seine Antwort bleibt von grundsätzlicher Bedeutung, weil jenseits des Todes unabhängig vom Zeitpunkt der Parusie das Sein bei Christus entscheidend ist. Mit dieser christologischen Modifikation apokalyptischer Hoffnungen bezeugt der 1. Thessalonicherbrief ein frühes Stadium der paulinischen Theologie.309 Der Brief widerspricht theologisch zwar nicht den anderen Paulusbriefen. Dennoch darf dieses Schreiben nicht einfach im Licht der späteren Rechtfertigungslehre310 ausgelegt werden. Die Lehre vom göttlichen Freispruch des Sünders allein aus Gnade finden wir im 1. Thessalonicherbrief noch nicht,311 obwohl dieser vermutlich erst nach dem Zwischenfall in Antiochien (Gal 2,11–14) abgefasst wurde. Die Errettung aus dem Jüngsten Gericht durch Christus (1Thess 1,10), die Betonung des Glaubens als Weg zum Heil (4,14) und die Freude über die überraschende Bekehrung vieler Heiden (1,6–10) sind jedoch Aussagen, die der These von der Rechtfertigung aus dem Glauben, die im Galaterbrief erst ausformuliert wird, nahestehen und zu ihrer unmittelbaren Vorgeschichte gehören. Die Entfaltung der Rechtfertigungsaussagen wäre allerdings ohne die theologischen Ausführungen im 1. Thessalonicherbrief unverständlich. Denn die Rechtfertigung ist für Paulus die Rechtfertigung vor dem Jüngsten Gericht, dem Gericht Gottes. Diese eschatologische Perspektive eines endzeitlichen Gerichts kann gut vor dem Hintergrund des „Evangeliums“ verstanden werden, dass Jesus die Glaubenden dem kommenden Zorn Gottes entreißt (1Thess 1,10). Die Soteriologie wird hier – wegen der aktuellen Todesfälle (4,13 ff.) – zwar stärker von der Auferstehung Jesu her entwickelt. Aber auch im 1. Thessalonicherbrief wird sein stellvertretender Tod (§ 5.6.2.1) ebenso erwähnt (5,9f.) wie in den übrigen paulinischen Briefen. Insofern ist der Kern der Rechtfertigungslehre schon angelegt.

(1974), 65–81, und G. Haufe, Individuelle Eschatologie des Neuen Testaments, ZThK 83 (1986), 436–463, bes. 454. Doch sollte das unmittelbare Verlangen bei Christus zu sein (Phil 1,23) angesichts der Haftsituation nicht gegen die Naherwartung ausgespielt werden, wie der eindringliche Ruf in Phil 4,5: „Der Herr ist nahe“ und die Hinweise auf den Tag (1,6.10; 2,16) bzw. die Parusie Christi (3,20f.) zeigen (vgl. auch Röm 13,11f.). 309 Vgl. G. Strecker, Theologie (Lit. § 1), 147 ff.; U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5), 197–200, ders., Gerechtigkeit (Lit. § 5.6.2.2); K. P. Donfried, 1 Thessalonians, Acts and the Early Paul, in: R. F. Collins (Hg.), The Thessalonian Cor respondence (BEThL 87), Leuwen 1990, 3–26, kritischer R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 349–358. 310 Siehe § 5.8.2i; 5.11.3–4; 5.16.5a. 311 Es fehlen Begriffe wie „hamartía“, „nómos“, „staurós“, „stauroún“ und der Stamm „dik-„, der im Zusammenhang mit der Glaubensgerechtigkeit in den späteren paulinischen Briefen von besonderer Bedeutung ist.

206

5 Die paulinischen Briefe

5.10.4

Zeit und Ort der Abfassung, Adressaten und Integrität

Paulus verfasste den 1. Thessalonicherbrief in Korinth im Jahr 50 oder im Frühjahr 51 n. Chr., nicht lange nach seinem allzu kurzen Gründungsaufenthalt in Thessalonich, den er fluchtartig abbrechen musste (vgl. Apg 17,1–10a).312 Diese Stadt war damals ein bedeutendes Handelszentrum der römischen Provinz Makedonien. In ihr gab es mehrere Kulte, die mit Ekstase und sexueller Unzucht verbunden waren (Isis, Dionysos, Kabiren). Deren Einfluss bildet möglicherweise den Hintergrund der Paränese zur Heiligung und zum Meiden der Unzucht in 1Thess 4f.313 Paulus schrieb den Brief bald nach der Rückkehr des Timotheus.314 Dass Paulus der Verfasser des 1. Thessalonicherbriefs ist, steht außer Zweifel. Als Mitabsender sind Silvanus und Timotheus angegeben (1,1), offensichtlich Zeugen der Botschaft, aber keine Mitverfasser. Timotheus wird vor allem deswegen erwähnt, weil der Brief auf die von ihm übermittelten Nachrichten reagiert (3,2.6). Hinsichtlich der Integrität des Briefes haben mehrere Forscher Zweifel an der literarischen Einheitlichkeit angemeldet (F. C. Baur, W. Schmithals, Ch. Demke315). Doch konnte sich keiner von ihnen mit seiner Meinung durchsetzen. Sie begründen ihre Bedenken vor allem mit dem – literarisch betrachtet – echten Briefschluss in 3,11–14. Ihre schwerwiegendsten Einwände sind die antijüdischen Aussagen in 2,15f., die der späteren christlichen Judenpolemik ähneln und die mit den paulinischen Aussagen aus Röm 9 – 11 (bes. 11,31; § 5.16.5d) kaum vereinbar sind.316 Diese Einwürfe lassen sich allerdings nur dann aufrechterhalten, wenn man die paulinischen Aussagen ohne ihren konkreten geschichtlichen Zusammenhang interpretiert.317

Der 2. Thessalonicherbrief, der aller Wahrscheinlichkeit nach deuteropaulinisch ist,318 belegt die Wirkung des 1. Thessalonicherbriefs in der Zeit nach dem Tod des Paulus (§ 8.3).

312 Zu Datierung, Gemeindesituation und religiösem Hintergrund vgl. die Anm. 283 genannte Literatur. 313 So R. Jewett, K. P. Donfried. 314 K. P. Donfried, The Theology of 1Thessalonians, in: K. P. Donfried / I.H. Marshall, The Theology of the Shorter Pauline Letters, 1–79, hier 10f., schlägt die erste Hälfte der 40-er Jahre vor, doch setzt diese Frühdatierung voraus, dass Paulus Thessalonich und Korinth schon in Verbindung mit seinem Aufenthalt in Syrien und Kilikien besucht hätte (§ 5.8.2). Für eine solche Annahme gibt es allerdings keine Hinweise. 315 Theologie und Literarkritik im 1. Thessalonicherbrief, in: FS E. Fuchs hg. v. G. Ebeling, Tübingen 1973, 103–124. 316 Vgl. B. A. Pearson, 1 Thessalonians 2:13–16: A Deutero-Pauline Interpolation, HThR 64 (1971), 79–94. 317 Zur Integrität s. bes. T. Holtz, EKK, 25 ff.; U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 65f. 318 Argumente für seine Authentizität enthält der Kommentar von Malherbe.

5.11 Der Galaterbrief

207

5.11 Der Galaterbrief  Kommentare: Albrecht Oepke, ThHK 9, 51984; Heinrich Schlier, KEK, 51971; Franz Mußner, HThK 9, 41981; Pierre Bonnard, CNT 9, 1972; Hans D. Betz, Hermeneia, 1979, deutsch: Der Galaterbrief, München 1988; Dieter Lührmann, ZBK 7, 1978; Udo Borse, RNT, 1984; Joachim Rohde, ThHK 9, 1989; Richard N. Longenecker, WBC 41, 1990; Louis Martyn, AncB, 1997; Jürgen Becker, NTD 8/1, 1998; François Vouga, HNT 10, 1998.  Monographien und Aufsätze: Wilhelm Lütgert, Gesetz und Geist (BFChTh 6), Gütersloh 1919; Josef B. Souček, Israel und die Kirche im Denken des Apostel Paulus (1971), zuletzt in: Petr Pokorný / ders., Bibelauslegung als Theologie (Lit. § 2.1.3), 171–182; Ferdinand Hahn, Das Gesetzesverständnis im Römer- und Galaterbrief, ZNW 67 (1976), 29–63; Udo Borse, Der Standort des Galaterbriefes (BBB 41), Köln 1972; Hans Hübner, Das Gesetz bei Paulus (FRLANT 119), Göttingen 31982; Walter Schmithals, Judaisten in Galatien?, ZNW 74 (1983), 27–58; Heikki Räisänen, Paul and the Law (WUNT 29), Tübingen 1983; Karl Kertelge, Gesetz und Freiheit im Galaterbrief, NTS 30 (1984), 382–394; Alfred Suhl, Der Galaterbrief – Situation und Argumentation, ANRW II,25,4, Berlin 1987, 3067–3164; ders., Die Galater und der Geist, in: Jesu Rede von Gott (FS W. Marxsen), Gütersloh 1989, 267–296; Heinz Schürmann, Studien zur neutestamentlichen Ethik, Stuttgart 1990; Michael Bachmann, Sünder oder Übertreter. Studien zur Argumentation in Gal 2,15 ff. (WUNT 5), Tübingen 1992; James D. G. Dunn, The Theology of Paul’s Letter to the Galatians, Cambridge 21994; Friedrich Lang, Paulus und seine Gegner in Korinth und in Galatien, in: Geschichte – Tradition – Reflexion (FS M. Hengel), Tübingen 1996, 417–434; Cilliers Breytenbach, Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien (AGJU 38), Leiden 1996; Wolfgang Kraus, Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie des Paulus (WUNT 85), Tübingen 1996; Hans-Joachim Eckstein, Verheißung und Gesetz (WUNT 86), Tübingen 1996; Philip H. Kern, Rhetorics and Galatians, Cambridge 1998; Ruth Schäfer, Paulus bis zum Apostelkonzil (Lit. § 5.1.8).

Der Galaterbrief ist die am stärksten polemische Epistel im Corpus Paulinum, in der für den Apostel seine ganze Evangeliumsverkündigung auf dem Spiel steht. In den galatischen Gemeinden waren einige Judenchristen aufgetreten, die mit großer Vehemenz verlangten, dass die Beschneidung und andere Gebote der Tora auch von Heidenchristen zu erfüllen sind. Durch diese Forderung war die gleichberechtigte Stellung der Heidenchristen in der Kirche bedroht und das Zusammenleben zwischen juden- und heidenchristlichen Gemeindegliedern gefährdet. In seiner Reaktion macht Paulus deutlich, dass das Heil, d. h. Gerechtigkeit und ewiges Leben bei Gott, nicht durch die Erfüllung der Beschneidungsforderung, sondern allein durch den Glauben an Christus erlangt wird. Es handelt sich um den Kern der paulinischen Rechtfertigungslehre, die der Apostel hier zum ersten Mal entfaltet. Deshalb ist der Galaterbrief für das Verständnis der paulinischen Theologie besonders aufschlussreich.

208

5 Die paulinischen Briefe

5.11.1

Gliederung und Inhalt

Nach dem Briefeingang gliedert sich das Korpus in eine biographisch rückblickende Hinführung (1,11 – 2,21) und den theologisch argumentierenden Hauptteil (3,1– 5,12). 1,1–10 1,1–5 1,6–10

Briefeingang Präskript Proömium: Verwunderung über die Abkehr zu einem anderen Evangelium (verfremdete Selbstempfehlung statt Dankgebet für die Gemeinde)

1,11 – 2,21 1,11–24 2,1–10 2,11–14 2,15–21

Erster, narrativer Teil: Rückblick mit Schilderung der Streitfrage A) Die Berufung des Paulus zum Apostel (vgl. Apg 9) B) Der Apostelkonvent in Jerusalem (vgl. Apg 15) C) Der Zwischenfall in Antiochien Die Verteidigung des Evangeliums im antiochenischen Konflikt

3,1 – 5,12 3,1–5

Zweiter, lehrhafter Teil: Die theologische Begründung Die Streitfrage in Galatien: Glaube oder Werke, Geist oder Fleisch

3,6 – 4,7 Schriftbegründung I: Abraham 3,6–9 Rechtfertigung und Segensverheißung für Abraham 3,10–12 Der Fluch der Tora 3,13 f. Stellvertretende Fluchübernahme und Erfüllung der Segensverheißung in Christus 3,15–18 Gesetz und Verheißung 3,19–25 Die begrenzte Bedeutung des Gesetzes 3,26–4,7 Die Gläubigen in Christus als Kinder Gottes, Nachkommen Abrahams und Erben der Verheißung 4,8–20 4,21–31 5,1–12 5,13 – 6,18 5,13–6,10 6,11–18

Warnung vor Rückfall in die Knechtschaft Schriftbegründung II: Hagar-Sara-Typologie Aufruf zur Freiheit (vgl. 5,7–12 mit 1,6–10) Briefschluss Schlussparänese: Nächstenliebe als Toraerfüllung und Frucht des Geistes Postskript – ohne Grüße – mit Rekapitulation (Kreuz Christi und neue Schöpfung) sowie Friedenswunsch für „das Israel Gottes“

Schriftbegründung

Wiederaufnahme der Abrahamsverheißung

1,1–10 Briefeingang Das Präskript (1,1–5) betont im Blick auf das krisenhafte Verhältnis zwischen Paulus und den galatischen Gemeinden seine apostolische Würde: „nicht von Menschen,

5.11 Der Galaterbrief

209

auch nicht durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus“ (1,1). Außerdem erwähnt es die stellvertretende Selbsthingabe Jesu für die Sünden (1,4) und mündet in eine Doxologie (1,5). Im Proömium (1,6–10) bringt Paulus – statt des Dankgebets für die Gemeinde (§ 5.7b) – in einer verfremdeten Selbstempfehlung sein Erstaunen („ich wundre mich“) zum Ausdruck, dass die galatischen Gemeinden sich vom „Evangelium Christi“, das sie von Paulus angenommen hatten, zu einem „anderen Evangelium“ verführen ließen, das nach dem Urteil des Apostels in Wahrheit gar kein Evangelium ist. 1,11 – 2,21 Erster, narrativer Teil: Rückblick mit Schilderung der Streitfrage Um anschließend (ab 3,1) seine Position im galatischen Konflikt verständlich machen zu können, setzt Paulus mit einer autobiographischen Rückblende in drei Schritten ein: A) Zunächst erinnert er an seine jüdische Vergangenheit und seine Berufung durch Jesus Christus, die ihm das Evangelium vermittelt hat: „nicht von einem Menschen empfangen oder gelernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi“ (1,12; vgl. V.1.16). Diese Berufung begründet seine Autorität als Apostel, sie geschah unabhängig von den Jerusalemer Aposteln (1,10–17). Diesen ist Paulus erst drei Jahre später in Jerusalem begegnet (1,18 ff.). B) Sodann erwähnt er seinen nächsten Jerusalem-Besuch (2,1–10) vierzehn Jahre später beim Apostelkonvent (vgl. Apg 15), bei dem „sein Evangelium“ anerkannt wurde. Paulus benennt die eigentliche, schon dem galatischen Konflikt vergleichbare Streitfrage, ob Heidenchristen – um in der heilvollen Gemeinschaft mit Gott leben zu können – die Gebote des jüdischen Gesetzes, der Tora,319 erfüllen müssen. Es geht vor allem um die Forderung nach der Beschneidung (2,3; vgl. 5,2 f.6.11; 6,12 f.15), aber auch um das Einhalten von Speisegesetzen (2,11 ff.) und Festzeiten (4,10). Paulus hat die Erfüllung dieser Gebote nicht verlangt und auch von den Jerusalemer Autoritäten nicht auferlegt bekommen (2,6). Das Ergebnis des Streits bestand in der Aufteilung der Missionsgebiete durch einen Handschlag, der Ebenbürtigkeit signalisiert (statt durch Handauflegung, die eine legitimierende Funktion gehabt und eine Abhängigkeit sichtbar gemacht hätte): Petrus soll das Evangelium den Juden verkündigen, Paulus den Heiden (2,7–9). Darüber hinaus wurde nur noch die Kollekte für die Armen in Jerusalem vereinbart (2,10). Von weiteren Verabredungen, die das Aposteldekret (Apg 15,29) erwähnt, sagt Paulus jedoch nichts. C) Schließlich schildert der Apostel die Ereignisse bei seinem Besuch in Antiochien (2,11–14), bei dem Petrus inkonsequent handelte (sog. antiochenischer Zwischenfall). Dort hatte Petrus zunächst nach paulinischem Vorbild mit getauften Heiden zusammen an einem Tisch gegessen und wahrscheinlich auch das Herrnmahl gefeiert. Doch als Anhänger des Herrnbruders Jakobus auftraten, kehrte er unter 319

Zum Verständnis von „Tora“ und „Gesetz“ s. § 5.8.2i zur New Perspective.

210

5 Die paulinischen Briefe

deren Druck wieder zur jüdischen Praxis zurück und verließ zusammen mit anderen Judenchristen die (sc. auch eucharistische) Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen, um nicht durch den Kontakt mit Nicht-Juden unrein zu werden. Daraufhin (2,15–21) verteidigte Paulus dort in Antiochien gegenüber Petrus mit allem Nachdruck das Evangelium von der Rechtfertigung durch den Glauben an Christus: Das Gesetz, die Tora, ist gut, aber die „Werke des Gesetzes“ führen nicht zum Ziel: „Wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz (d. h. durch die Erfüllung seiner Vorschriften) kommt, so ist Christus vergeblich gestorben“ (2,21b). Mit diesen Worten bekräftigt Paulus im Galaterbrief seinen in Antiochien vertretenen Standpunkt, dass bei der Frage der Tischgemeinschaft (einschließlich des Herrnmahls) mit Heidenchristen die jüdischen Speisegebote keine Gültigkeit mehr besitzen, sondern allein der Glaube an Christus entscheidend ist. Nicht anders verhält es sich nach dem Urteil des Apostels auch mit der Beschneidungsforderung in den galatischen Gemeinden. In beiden Fällen geht es im Grunde um dieselbe Problematik, ob die Tora für Christen noch verbindlich ist. Deshalb fällt der Unterschied sachlich kaum ins Gewicht, dass der Konflikt in Antiochien sich an den Speisevorschriften entzündete, der Streit in Galatien hingegen durch die Beschneidungsforderung ausgelöst wurde. 3,1–5,12 Zweiter, lehrhafter Hauptteil: Die theologische Begründung Mit einem Neueinsatz durch die direkte Adressatenanrede („O ihr unverständigen Galater! Wer hat euch behext ...?“) wendet sich Paulus dem aktuellen Konflikt um die Gültigkeit der Tora zu. Dazu ruft er in Erinnerung, dass der Geist Gottes in den Gemeinden Galatiens doch durch den Glauben, nicht durch die Werke des Gesetzes zu wirken begonnen hat (3,1–5). Es folgt in 3,6 – 4,7 eine längere theologische Argumentation, die die Lage der Galater durch die Vergleichspartikel „kathṓs“ („gleichwie“) mit der Situation Abrahams verknüpft.320 Paulus akzeptiert die Voraussetzung, dass die Kirche als Volk Gottes zur Nachkommenschaft Abrahams gehört. Er verbindet die Abrahamkindschaft allerdings mit einer Verschiebung auf eine andere, geistige Ebene, indem er betont, dass Abraham deswegen gesegnet wurde, weil er Gott geglaubt hat.321 D. h. es werden zwei Arten von Nachkommenschaft unterschieden: die herkömmliche im Sinn der jüdischen Herkunft322 und die geistgewirkte, durch den heiligen Geist empfangene Nachkommenschaft „aus dem Glauben“ (Gal 3,7; vgl. 3,2–5; 4,29). Die Gläubigen, d. h. die an Christus glauben, sind seine wahren Nachkommen – sein Volk. Diese neue Sichtweise begründet Paulus mit der Schrift: In einer überaus dicht 320

Zur Gedankenführung vgl. die sorgfältige Exegese von H.-J. Eckstein, Verheißung und Gesetz (WUNT 86), Tübingen 1996, sowie zu Segen und Fluch U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 112–159.238–247.350 f. 321 Vgl. auch die Beschneidung des Herzens außer Röm 2,29 in Jer 4,4; Dtn 10,16; 30,6; 1QpHab XI,13; Jub 1,23. 322 Vgl. Röm 4,1: „unser Stammvater nach dem Fleisch“ (vgl. Röm 9,3.5).

5.11 Der Galaterbrief

211

gedrängten Gedankenführung parallelisiert er in Gal 3,6–9 unter Berufung auf Abraham zunächst das Zurechnen der Gerechtigkeit (Gen 15,6 LXX) mit der Segensverheißung (Gen 12,3b LXX u. ö.). Dieser Verheißung des Segens wird dann der Fluch des Gesetzes gegenübergestellt (Gal 3,10–12), das jeden verflucht, der nicht alle Vorschriften aus dem Buch des Gesetzes befolgt (Dtn 27,26 u. ö.). Die Tora verspricht zwar das Leben demjenigen, der sie hält (Lev 18,5 LXX Heiligkeitsgesetz). Da der Mensch in seiner Sündenverfallenheit die Weisungen der Tora aber nicht erfüllt, verkehrt sich die Verheißung des Lebens de facto in ein Todesurteil: „(Nur) wer sie (die Gebote) tut, wird durch sie leben“. Doch indem Christus als Verfluchter am Kreuz hing und damit das an sich gerechte Todesurteil für die Übertreter des Gesetzes (Dtn 21,23) stellvertretend auf sich nahm, ist der Fluch der Tora aufgehoben und die Segensverheißung für Abraham in Christus in Erfüllung gegangen. Daher bekommen die Gläubigen in Christus den Segen der Rechtfertigung unabhängig von der Tora ganz frei aus Gnade geschenkt (Gal 3,13 f.15–18), und zwar durch die Predigt und den heiligen Geist (3,2–5.14). Der Mensch, der dieses Versprechen im Vertrauen zu Gott ernst nimmt, kann vor dem Gericht Gottes „durch den Glauben gerechtfertigt“, d. h. gerechterklärt und freigesprochen, werden (3,24). In 3,15–25 erweist Paulus die heilsgeschichtliche Bedeutung der Tora als ein Intermezzo,323 das 430 Jahre nach der Bundesschließung mit Abraham begann,324 von der Segensverheißung an Abraham und ihrer Erfüllung in Christus eingerahmt ist und sich auf die Zeit zwischen der Offenbarung der Tora auf dem Berg Sinai und dem Kommen Christi beschränkt. Da Jesus Christus der eine verheißene „Nachkomme“ (spérma = Same) ist, sind nach 3,26–4,7 „in ihm“ – so des Paulus pointiert individuelle christologische Deutung des ursprünglich kollektiven Worts für die Nachkommenschaft – auch alle, die an Christus glauben, Nachkommen Abrahams und damit Erben des ihm verheißenen Segens. „In Christus Jesus“, der als der eine verheißene Nachkomme den Fluch des Gesetzes stellvertretend für alle auf sich genommen hat, werden der Verheißung entsprechend alle Glaubenden mit dem gläubigen Abraham gesegnet und ebenso wie jener durch das Evangelium gerechtfertigt (vgl. 3,26–29 mit 3,6–14). Da „in Christus Jesus“ der Unterschied zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien,325 Mann und Frau nicht mehr ins Gewicht fällt (3,28), haben auch die Heiden(-Christen) durch ihre Taufe auf Christus (3,27) vollen Anteil an der Verheißung des ewigen Lebens.326 Zugleich erfahren sie durch den Glauben, d. h. ohne die Beschneidungsforderung der 323

Vgl. Röm 5, 20: „es kam außerdem noch hinzu“. Die Zeitangabe folgt einer alten jüdischen Tradition (Ex 12,40 LXX); vgl. P. Billerbeck, Kommentar II (Lit. § 12e), 668 f. 325 Vgl. § 5.15.3 zum Philemonbrief. 326 Vgl. das Zitat aus Hab 2,4 in Gal 3,11; Röm 1,17: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ 324

212

5 Die paulinischen Briefe

Tora erfüllen zu müssen, die soteriologische Gleichberechtigung mit den Judenchristen, die sich auf ihre Abstammung von Abraham berufen. Die Christen sind freie Menschen, die sich durch den heiligen Geist mit dem Abba-Ruf an Gott als ihren Vater wenden dürfen (4,6 f.; vgl. Röm 8,15 f.). Indem die Sendung Christi durch Gott und die Sendung des Geistes durch Gott parallelisiert werden, zeichnet sich ein trinitarisches Gefälle im paulinischen Denken ab.327 Sofern die Galater die Vorschriften für die Festzeiten einhalten, kehren sie – jedenfalls nach dem Vorwurf von 4,8 ff. – wieder in den unmündigen Zustand zurück, der in Christus überwunden ist. So ähneln sie den Kindern von Hagar, der Sklavin Abrahams (4,21–31). Der argumentative Hauptteil gipfelt in einem Aufruf zur Freiheit (5,1–12), der von einigen Auslegern schon der nachfolgenden, allgemeiner werdenden Paränese zugeordnet wird, in seiner Zuspitzung aber das Resümee der Beweisführung darstellt: Die Galater sollen sich nicht durch die Beschneidungsforderung des Gesetzes versklaven lassen, denn „in Christus“ gilt nicht die Beschneidung, sondern „der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (5,6). 5,13 – 6,18 Briefschluss 5,13 – 6,10 Paränese: Die wahre Freiheit ist allerdings mit Selbstzucht verbunden und darf nicht zu Streit missbraucht werden. Sie besteht in der Nächstenliebe, die die wahre Erfüllung der Tora ist (5,13 f.; vgl. Lev 19,18; Röm 13,8–10). Es folgen Laster(5,19–21)328 und Tugendkataloge (5,22–23a),329 in denen die aufgeführten Verhaltensweisen nicht als moralische Tugenden, sondern als Gaben des Geistes verstanden werden: „Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung.“ Hinzu kommen Regeln für den Umgang miteinander: Alles soll der höchsten Norm – dem „Gesetz Christi“ – entsprechen (6,2; vgl. 1Kor 9,21), d. h. dem Liebesgebot (5,14; vgl. V.6). 6,11–18 Postskript: In einem eigenhändigen Eschatokoll (§ 5.7b) bekräftigt Paulus seine Stellung als Apostel, der das Evangelium von Christus selber empfangen hat. Angesichts der dramatischen Situation wiederholt er – das Fehlen jeglicher Grüße bestätigt die kritische Lage – die Warnung vor den falschen Lehrern mit Worten über die Beschneidung, das Kreuz und die Neuschöpfung des Menschen („neue Kreatur“) in Christus (vgl. 2Kor 5,17). Das Eschatokoll gipfelt in einem Friedenswunsch für „das Israel Gottes“, d. h. für Judenchristen und Heidenchristen, die beide durch den 327

Vgl. 1Kor 12,4–6 (§ 5.12.1); 2Kor 13,13 (§ 5.13.1); (Phil 2,1), aber auch Eph 4,4–6 und Mt 28,19 (§ 5.6.2.2e). 328 Vgl. Röm 1,29–31; 13,13; 1Kor 5,10 f.; 6,9 f. (§ 5.12.5e); 2Kor 12,20 f. sowie Eph 5,3–5; Kol 3,5–8 (§ 8.2.4), aber auch Mk 7,21 f. par.; Lk 18,11; Apk 9,21; 21,8; 22,15. 329 Vgl. 1Kor 13,4–7; 2Kor 6,6 f.; Phil 4,8 sowie Eph 4,2; 5,9; Kol 3,12 (§ 8.2.4); zu dem durch das hellenistische Judentum vermittelten popularphilosophischen Hintergrund vgl. H. D. Betz, Art. Lasterkataloge / Tugendkataloge, RGG4 5, 89–91 (Lit.).

5.11 Der Galaterbrief

213

Glauben an Christus Erben von Abrahams Segen sind (3,6 ff.). Dieser verheißene Segen ist es, den Paulus den Gemeinden im Evangelium (vgl. 3,8) verkündigt hat330 und von dem die Galater nicht abfallen sollen (vgl. 1,6–9). 5.11.2

Rhetorische Gestalt

Die Gliederung des Galaterbriefs ist von der klassischen Gliederung einer Rede beeinflusst, die zum Grundbestand der antiken Bildung gehört (§ 2.2.6; 5.7). Als umfangreiches Lehrbuch bietet die Rhetorik von Quintilian (ca. 35–96 n. Chr.), einem in Rom lebenden, etwas jüngeren Zeitgenossen des Paulus, eine nützliche Darstellung des rhetorischen Aufbaus der Argumentation und z. T. auch der diskursiven Gestaltung von Schriften. Hans Dieter Betz führte eine solche Gliederung des Galaterbriefs nach rhetorischen Gesichtspunkten durch.331 Der Vergleich mit einigen Regeln der damaligen Rhetorik kann die oben dargelegte epistolographische Analyse nicht ersetzen, da Brief- und Redegattungen nicht unerheblich auseinandergehen (vgl. § 5.7). Aber er hilft, den Aufbau der paulinischen Argumentation und die Funktion einzelner Teilabschnitte klarer zu erkennen: Das Proömium des Briefs hat die Funktion des exordium, d. h. der kunstgerechten Einleitung einer Rede. Die beiden Teile des Briefkorpus entsprechen dem Hauptteil der Rede. Der Rückblick auf die Berufung, den Apostelkonvent und den Zwischenfall in Antiochien (1,12–2,14) dient nach diesem rhetorischen Gliederungsvorschlag als narratio, d. h. als Schilderung der Streitfrage. Die Verteidigung des Evangeliums in Antiochien (2,15–21), die den paulinischen Standpunkt für den Konflikt in Galatien bekräftigt, übt die Funktion der propositio aus, d. h. der Vorstellung des Beweisziels. Die theologische Argumentation mit der Schriftbegründung (3,1–4,31) gilt als probatio, d. h. Beweisführung. Der abschließende Aufruf zur Freiheit wird zusammen mit der Schlussparänese als exhortatio, d. h. Ermahnung, aufgefasst. Das Postskript bildet die conclusio, d. h. den Abschluss, der noch einmal die wesentlichen Aspekte bündelt.

330 Nach Gal 3,8 ist es das Evangelium, das schon dem Abraham in der Segensverheißung als Evangelium vor dem Evangelium im Voraus verkündigt wurde: „proeuēggelísato“. 331 In der durch H. D. Betz in seinem Kommentar (1979) hervorgerufenen Diskussion über die Struktur und über das Anliegen der Epistel oszillieren die Meinungen zwischen einer juristisch gestalteten Argumentation (Ph. H. Kern) und einer Gelegenheitsrede (epideiktische Rede), z. B. A. Pitta, Dispozisione e message della Lettera ai Galati, Rom 1992. Die epistolographisch-rhetorische Analyse von D. Kremendahl, Die Botschaft der Form (NTOA 46), Göttingen 2000, bekräftigt die apologetische Gattungszuordnung. Zur Forschungsgeschichte vgl. D. F. Tolmie, Persuading the Galatians (WUNT II/190), Tübingen 2005, 1–19.(20–23).

214

5 Die paulinischen Briefe

1,1–5

Präskript

1,6–11

exordium (Einleitung)

1,12–2,14 narratio (Schilderung der Streitfrage) 2,15–21 propositio (Vorstellung des Beweisziels) 3,1–4,31 probatio (Beweisführung) 5,1 – 6,10

exhortatio (Ermahnung)

6,11–18

conclusio (Abschluss)

5.11.3

Die Theologie: Die Gegner und die Rechtfertigungslehre

Das Verständnis des Galaterbriefs wird erleichtert, wenn man sich die Personenkonstellation vergegenwärtigt: Paulus ringt aufgrund der räumlichen Trennung mit einem Brief aus der Ferne werbend um die Galater, da diese durch das Auftreten anderer Lehrer in ihren Gemeinden in der Gefahr stehen, vom Evangelium abzufallen. Seine Gegner, die unter den Galatern wirken, redet der Apostel nicht direkt an und stellt auch ihre Position nicht dar. Deren Standpunkt ist uns nicht überliefert, sondern muss indirekt aus der paulinischen Polemik rekonstruiert werden. In der Theologie des Paulus ist immer wieder ein Kampf an zwei Fronten zu beobachten (§ 5.6.2.5d): gegen Enthusiasten einerseits und gegen christliche Judaisten andererseits. Im Galaterbrief können wir allerdings nur eine Front entdecken: Bei den attackierten Gegnern handelt es sich um Judenchristen, die in den paulinischen Gemeinden die Einhaltung des Gesetzes forderten, besonders die Ausführung der Beschneidung (5,3; 6,12 ff.). Auf diese Weise schoben sie einen Keil zwischen Paulus und die Galater (4,13–15). Die Beschneidung wurde bei Juden durch das Abtrennen der Vorhaut am männlichen Glied vollzogen.332 Sie galt seit dem Exil als Zeichen des Bundes (Gen 17) und wurde am achten Tag nach der Geburt durchgeführt (Phil 3,5).333 Sie bildete die Voraussetzung für die Teilnahme am Passamahl (Ex 12,48 f.) und war das entscheidende Kriterium für die Kultfähigkeit (Lev 12,3; vgl. V.1–8). Nur wer beschnitten war, konnte im Vollsinn Jude sein.334 Daher verrät die Forderung nach der Beschneidung in Galatien einen judenchristlichen Ursprung.

332

Mädchen wurden und werden bei Juden nicht beschnitten. Vgl. Gen 17,10–12 (Abraham); Lev 12,3 (Beschneidungsgebot); Lk 1,59 (Johannes der Täufer); 2,21 (Jesus). 334 Vgl. A. Blaschke, Beschneidung (TANZ 28), Tübingen 1998, bes. die Zusammenfassungen 318–322.360.487–490, als Überblick auch O. Betz, Art. Beschneidung II, TRE 5, 716–722. 333

5.11 Der Galaterbrief

215

Hinter dem Streit um die Beschneidung verbirgt sich die prinzipielle, für die Mission unter Nicht-Israeliten entscheidende Streitfrage, ob ein getaufter (Heiden-)Christ jüdischen Geboten verpflichtet ist, d. h. konkret, ob er die für einen Juden erforderliche Beschneidung vollziehen, also Jude werden muss, um Christ sein zu können. Aus diesen weitreichenden Konsequenzen der Beschneidungsforderung erklärt sich die Schärfe der paulinischen Reaktion. Denn nun stellt sich das grundsätzliche Problem, welche Bedeutung die Tora für das Gottesverhältnis der (Heiden-)Christen und auch für die Tischgemeinschaft der Judenchristen mit den Heidenchristen noch hat, nachdem Christus durch seine stellvertretende Selbsthingabe schon die Rettung aus dem gegenwärtigen Äon gebracht hat (Gal 1,3 f.; 2,20; 3,13 f.). Im Kern spitzt sich die Auseinandersetzung auf die Frage zu, ob sich Gerechtigkeit (2,21; 3,6.21; 5,5) bzw. Rechtfertigung (2,16 f.; 3,8.11.24) und ewiges Leben (3,11 f.21) allein Christus verdanken oder ob auch der Tora noch eine soteriologische Bedeutung zukommt. Diese Alternative bildet das eigentliche Zentrum des Konflikts. Wird die Beschneidungsforderung nämlich als weitere Zusatzbedingung für (Heiden-)Christen aufrechterhalten, wie die judenchristlichen Gegner in Galatien verlangen, so behält das Gesetz eine soteriologische Funktion. Geben die Galater dem Drängen jener Lehrer nach, können Rechtfertigung und Leben nicht allein auf Christus zurückgeführt werden, was seine fundamentale Heilsbedeutung mindert, dem paulinischen Evangelium widerspricht und den energischen Protest des Apostels hervorruft. Umstritten ist im Blick auf die Tora daher lediglich ihre soteriologische Bedeutung für das Gottesverhältnis einschließlich der kultischen Verpflichtungen mit ihren Festzeiten und Reinheitsgeboten. Nicht umstritten sind die Ansprüche der Tora für das ethische Verhalten der Menschen. In der Paränese bleibt das alttestamentlich-jüdische Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) auch für die (Heiden-)Christen als Erfüllung der Tora ohne Abstriche verpflichtend (Gal 5,6.13 f.; vgl. Röm 13,8–10). Gehorsam verlangt das Liebesgebot nun freilich nicht mehr als Tora vom Sinai, sondern nur als „Gesetz Christi“ wird die Liebe zur alles bestimmenden Mitte der christlichen Ethik (Gal 6,2; s. Anm. 367). Im ganzen Konflikt geht es letztlich um die Frage, ob die Gottesbeziehung durch Christus oder durch die Tora bestimmt wird. Diese Grundalternative lässt sie sich stark vereinfacht in zwei Graphiken verdeutlichen:

Gott

Tora

Mensch – Tora – Mitmensch Abb. 11: Die Stellung der Tora im Judentum

216

5 Die paulinischen Briefe

Gott

Christus

Mensch – Liebesgebot als Erfüllung der Tora / Gesetz Christi – Mitmensch Abb. 12: Christus und die Tora bei Paulus

Das Verhältnis zu Gott entscheidet sich für Paulus allein an der Beziehung zu Christus. Die Gottesbeziehung der Christen wird nicht mehr durch die Tora geregelt. Was sich von ihren Geboten auf den Umgang mit anderen Menschen bezieht, ist im Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18; Gal 5,14) als „Gesetz Christi“ (6,2) gebündelt (s. Anm. 365 ff.). Nach der prinzipiellen Bedeutung des Streits sind nun einige Einzelfragen zu klären: a) Die Gegner in Galatien: Dass es sich bei den Widersachern um Judenchristen handelte, bestätigt neben dem Beschneidungsverlangen auch die Aufforderung zur Einhaltung einer kultischen Zeitordnung, d. h. des jüdischen Festkalenders (Gal 4,9 f.). Diese Forderung ist von einigen jüdischen Gruppen jener Zeit bekannt (z. B. 1QS 9,26 – 10,8; vgl. Jub 2,9). Ebenso sind die „Werke des Gesetzes“ (érga nómou)335 ein jüdischer Ausdruck (ma‘aśê hattôrah), der auch in einem Qumrantext vorkommt (4QMMT C 27 = 4Q398 14 ii 3). Er meint die Werke, die das Gesetz zu tun verlangt, d. h. das Halten der Tora durch die Erfüllung ihrer Gebote.336 Der Verfasser jenes Textes, der manchmal mit dem „Lehrer der Gerechtigkeit“

335 Gal 2,16a.b.c; 3,2.5.10; Röm 3,20.28; vgl. auch die Kurzform „Werke“ in Röm 4,2; 9,12.32; 11,6 sowie 4,6. 336 Die Wendung bezieht sich also nicht nur wie bei J. D. G. Dunn auf die Befolgung bestimmter Einzelgebote wie der Beschneidungs-, Speise- und Sabbatvorschriften als „boundary markers“, d. h. als Bestimmungen zur ethnisch-sozialen Abgrenzung (die dann immer noch ein Testfall für das Halten des „ganzen Gesetzes“ wären; Gal 5,3). Abzulehnen ist auch die Deutung dieser Werke auf jede Form von Werkgerechtigkeit und Leistungsreligion bzw. Selbstrechtfertigung des Menschen vor Gott. Hier geht die lutherische bzw. reformatorische Polemik gegen die katholische Rechtfertigungslehre von einer völlig anderen Situation aus als Paulus, der im Galaterbrief nicht die guten Werke thematisiert, die jemand zur Legitimation vor Gott tut, sondern die Regelungen für die Beschneidung, das Essen und den Sabbat, die von der Tora gefordert werden (und ethisch natürlich auch befolgt sein wollen). Zur Bedeutung der guten Werke s. zum Jakobusbrief § 8.8.2c.

5.11 Der Galaterbrief

217

identifiziert wird, ist bestrebt, sich von dem unreinen Volk zu trennen (4Q397). Ein ähnliches Verhalten fordern die Gegner des Paulus.337 Auch in 4QMMT tritt die eschatologische Perspektive deutlich hervor. Diese Analogie besagt nicht, dass es sich bei den Opponenten in Galatien um Juden handelte – es waren Christen.338 Aber Paulus beurteilt ihr Auftreten ähnlich wie das Verhalten der Anhänger des Jakobus, die sich in Antiochien durch die Ablehnung der Tischgemeinschaft mit Heidenchristen ebenfalls von den Unreinen distanziert hatten (Gal 2,11–14). Die Parallele aus Qumran bestätigt den streng judenchristlichen Einfluss: Die Gegner des Paulus vertraten in Galatien eine ähnliche Position als jüdische ethische Rigoristen wie der Verfasser von 4QMMT im Rahmen des Judentums seiner Zeit. Dass es sich bei den Gegnern um jüdische Gnostiker handelte, wird gelegentlich mit dem Hinweis auf die (Welt-)Elemente (stoicheía toú kósmou) in Gal 4,3.9 behauptet (W. Schmithals). Die Stoicheia waren in der Orphik, bei den Pythagoräern und in der Gnosis von unterschiedlicher Bedeutung, übten aber stets eine Mittlerfunktion zwischen der menschlichen und der göttlichen Welt aus. Deshalb spricht Paulus von den Weltelementen wahrscheinlich in metaphorischer Weise, um auch das Gesetz in seiner Mittlerfunktion mit ihnen zu vergleichen. Der Sohn Gottes ist als Mittler aber sowohl dem Gesetz als auch den Weltelementen übergeordnet (3,24 f.; 4,3–5).339

Wenn Paulus seine Gegner mit Jakobus in Verbindung bringt (Gal 2,12), so muss dies nicht bedeuten, dass der Herrnbruder selber solche Leute unterstützt hat. Eher könnten die Widersacher mit den „falschen Brüdern“ (2,4) identisch sein, die sich auf dem Apostelkonvent gegen die Vereinbarung des Paulus mit den Jerusalemer „Säulen“ (2,9) wandten und die Beschneidung des Griechen Titus forderten.340 Jedenfalls waren die Gegner der Überzeugung, dass der Glaube an Jesus als den Messias (Christus) die wahre Gestalt des Judentums ist und dass dessen jüdischer Rahmen nicht verlassen werden darf. Indem Paulus deren Beschneidungsforderung zurückweist und die Identität des Glaubens allein auf das von Christus gestiftete Heil gründet, macht er im Gegenzug der Tora jegliche soteriologische Relevanz streitig, was in der Konsequenz zum Bruch mit der Synagoge führen muss. Indem die judenchristlichen Opponenten Christusglauben und Toratreue, Taufe und Beschneidung auch für die Heidenchristen verlangen, unterschätzen sie nicht nur die Heilstat Jesu, sondern fallen aus der Sicht des Paulus auch hinter die Vereinbarungen des Apostel337

Gal 2,16; 3,2.5.10; vgl. Röm 3,20.28; vgl. J. D. G. Dunn, 4QMMT and Galatians, NTS 43 (1997), 147–153; ders., Theology (Lit. § 5), § 14.4; M. Bachmann, Keil oder Mikroskop? Zur jüngeren Diskussion um den Ausdruck „‚Werke‘ des Gesetzes“, in: ders. (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive (WUNT 182), Tübingen 2005, 69–134 (vgl. § 5.8.2i); O. Hofius, „Werke des Gesetzes“. Untersuchungen zu der paulinischen Rede von den érga nómou, in: D. Sänger / U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes (Lit. § 5), 271–310. 338 So aber N. Walter, Paulus und die Gegner des Christusevangeliums in Galatien, in: A. Vanhoye (Hg.), L’Apôtre Paul (BEThL 73), Leuven 1986, 351–356. 339 Zu den Weltelementen s. P. Pokorný, ThHK 10/1, 95 f.123 ff.; H.-J. Eckstein, Verheißung (Lit. § 5.11), 229–233. 340 So A. Oepke, ThHK 9, 212 f.

218

5 Die paulinischen Briefe

konvents zurück. Denn dort war nichts anderes festgelegt worden als die Aufteilung der Missionsgebiete und die Jerusalemkollekte (so nach Gal 2,6–10 im Gegensatz zum Aposteldekret in Apg 15,29; § 5.8.2; 6.4.5.2a). b) Die Reaktion des Paulus: Wenn der Apostel im Galaterbrief gegen die Beschneidung und andere Werke des Gesetzes als Bedingungen des Heils polemisiert, beabsichtigt er nicht, die Tora herabzusetzen. Seine Kritik am Gesetz als Heilsweg bedeutet keineswegs, dass das Befolgen des Gesetzes als Werk- oder Selbstgerechtigkeit abzulehnen ist, wie es einige Paulusinterpreten behaupten (s. Anm. 336). Das Gesetz ist für ihn ein „paidagōgós“ (Gal 3,24), ein Pädagoge im antiken Sinn eines Aufsehers, der auf Reliefs mit einem Stock in der Hand abgebildet ist. Aus paulinischer Sicht handelt es sich beim Gesetz um einen Damm, der die menschliche Sünde in Grenzen halten soll, der jedoch an sich nicht zum Heil, d. h. zur Gemeinschaft mit Gott, führen kann. Der Nutzen des Gesetzes ist sachlich und zeitlich begrenzt. Die Zeit der Tora endete341 mit dem Anfang des neuen Äons, der mit dem Glauben (pístis) anbricht, der sich auf Jesus als Christus (Messias; § 5.6.1.1) bezieht.342 Gott bekannte sich durch die Auferweckung Jesu von den Toten zu dem ans Kreuz Genagelten (1,1.4) und somit zu einem, der einen Tod starb, der durch das Gesetz verflucht ist (Dtn 27,26; 21,23; Gal 3,10.13). Die verurteilende Macht der Tora ist durch den Tod Jesu343 gebrochen, den dieser stellvertretend erlitt (3,13 f.; 4,4 f.). Sein Tod brachte die Befreiung vom Fluch des Gesetzes, die in einer sozialen Ausdrucksweise durch das Bild vom Loskaufen (exagorázein) eines Sklaven aus seiner Abhängigkeit (Knechtschaft) beschrieben wird (3,13; 4,5).344 Damit begann der neue Äon345 – die Zeit des Geistes und einer intensivierten Beziehung zu Gott im Glauben (2,16; 3,3.25), die den Menschen in Christus durch einen göttlichen Schöpfungsakt zu einer „neuen Kreatur“ macht (6,15), einen neuen Status der Gotteskindschaft eröffnet und Gott durch die Anrede „Abba“ als Vater anzurufen ermöglicht (4,5 f.). In Christus leben die Glaubenden „nicht mehr“ (oukéti; 2,20; 3,25 f.) in einer versklavten Existenz „unter dem Fluch (sc. des Gesetzes)“ (3,10) bzw. „unter dem Gesetz“ (3,23), „unter dem Zuchtmeister“ (3,25), „unter Vormündern und Hausverwaltern“ (4,2) und „unter den Elementen des Kosmos“ (4,3) – insofern ist Christus auch im Galaterbrief „des Gesetzes Ende,“ wie Paulus in Röm 10,4 sagen wird. Das Erfüllen der Be341

Beachte den pointierten Wechsel von den Vergangenheitsaussagen zum Präsens in

V.26. 342

Vgl. Christus als Objekt des Glaubens in Gal 2,16.20; 3,22 ff., aber auch Röm 3,22.26; Phil 3,9; Phlm 5. 343 Zum Stellvertretungsgedanken s. § 5.6.2.3b; Exkurs 2. 344 Vgl. dasselbe Verbum ohne Vorsilbe (agorázein) im Kontext der Sklaverei in 1Kor 6,20; 7,23. 345 Vgl. die Befreiung aus der gegenwärtigen bösen Welt (Gal 1,4) mit der „neuen Schöpfung“ (6,15) durch die stellvertretende Selbsthingabe Jesu für die Sünden (1,4; 2,20).

5.11 Der Galaterbrief

219

schneidungsforderung bedeutet für Paulus eine Rückkehr unter das Gesetz und stellt ein absurdes Verhalten dar – die Zurückweisung der Gnade Gottes (2,21). In der Paulusexegese wurde die Ablehnung des Gesetzes als Heilsweg, die Erfüllung seiner Verheißungen in Christus und die Bestätigung seiner Bedeutung als Erzieher oft als Widerspruch verstanden.346 Wir haben allerdings gesehen, dass Paulus den Glauben als den alleinigen Heilsweg definierte.347 Nur die soteriologische Funktion des Gesetzes wurde durch Christus aufgehoben, doch haben einzelne Dimensionen wie das Liebesgebot als Summe der Tora in der Paränese weiterhin Bestand in einem neuen Kontext (s. Anm. 367).348 Nach Paulus weist das Gesetz nicht den Weg zum Heil, sondern dient der Orientierung in der Welt.

c) Die Entfaltung der Rechtfertigungslehre: Im Galaterbrief geht Paulus von den älteren christlichen Glaubensaussagen aus, die den Tod Jesu Christi für andere (Gal 1,4; 2,20; 3,13) und seine Auferstehung (Gal 1,1) zum Inhalt haben (1Kor 15,3b–5). Beide Aussagen sind grundsätzlich unabhängig voneinander aus sich selbst heraus verständlich (§ 5.6.2.1). Aber in dem akuten Streit um das wahre Volk Gottes wagt es Paulus, beide zu kombinieren und neu zu interpretieren: Auch die Christen sind das Volk Gottes, weil sie in Christus durch ihren Glauben und durch die Taufe zu Erben349 der göttlichen Verheißung an Abraham werden (Gal 3,26–29). Im stellvertretenden Tod Christi ist schon der feste Grund gegeben, der die Menschen aus der Macht des Gesetzes befreit („ich bin dem Gesetz gestorben“; 2,19) und ihnen die Teilnahme am neuen Äon erschlossen hat: „Christus lebt in mir“ durch den Glauben (2,20; 3,13 f.). Die Gegenwart wird zu einer Zeit, in der sich die beiden Äonen überlappen (die zweifache Eschatologie; § 5.10.3). Diese Verschränkung der Zeiten kommt im Galaterbrief auch in mehreren Antinomien zum Ausdruck, die von apokalyptisch-eschatologischer Tragweite sind: Gesetz – Geist (4,1–7), Hagar – Sara (4,21– 31), Werke des Gesetzes – Glaube an Christus (2,15 ff.), Sünde – Rechtfertigung (2,16 f.), Fleisch – Geist (3,2–4; 5,16 f.), Verheißung des Segens – Fluch des Gesetzes (3,6–14), Sklave (bzw. unmündiges Kind) – Freier (Erbe) (3,19–4,7) usw. Um die Tiefe des Bruchs zu verdeutlichen, an dem der Christ durch den Glauben an den auferstandenen Christus als Herrn beteiligt wird, schildert Paulus, wie sein „Ich“ 346

Das betont vor allem H. Räisänen, Paul and the Law, bes. Kap. 2 (zur Kritik vgl. § 5.8.2i). 347 Zur Sicht der „New Perspective“ (§ 5.8.2i) vgl. J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 150–155.360–362.373–375, der zu Recht das jüdische Selbstverständnis der zitierten Gesetzeskorpora im Sinn des Bundesnomismus (covenantal nomism) nachzeichnet, in der Argumentation des Galaterbriefs aber die Parallelisierungen und Antinomien des Apostels zu wenig beachtet und damit der paulinischen Theologie nicht gerecht wird. 348 H. Hübner, Pauli Theologiae Proprium (1980), zuletzt in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik, Göttingen 1995, 40–68, bes. 45 ff. 349 Das Motiv des Erbens knüpft traditionsgeschichtlich an die Landverheißung an (Gen 15,7; vgl. Apg 7,5).

220

5 Die paulinischen Briefe

stirbt und er sich im Glauben mit Christus identifiziert: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (2,19–21). Diese rhetorisch wirksame Darstellung wird später in Röm 6,3 ff. durch die Rede vom Sterben des „alten Menschen“ und der eschatologisch begründeten Erneuerung seines Lebens durch die Taufe ersetzt und weiter ausgeführt (§ 5.6.2.2d). Das Evangelium von der Auferweckung Jesu, das im 1. Thessalonicherbrief so wichtig war (§ 5.10.3) und im 1. Korintherbrief entfaltet wird (§ 5.12.5c), erscheint im Galaterbrief nur im Präskript durch den Hinweis auf Gott, „der ihn auferweckt hat von den Toten“ (1,1). Doch erhält dieses Evangelium im Galaterbrief eine fundamentale Bedeutung, weil es von der Angst vor dem Zorn des gerechten Gottes befreit. Wenn Paulus das von ihm verkündigte Evangelium betont (1,11), handelt es sich also um eine Deutung der Auferstehungsbotschaft. Dieses Kerygma stellt er jenem „anderen Evangelium“ (1,6) gegenüber, in dem seine judenchristlichen Opponenten die Heilsbotschaft mit der Einhaltung des Gesetzes kombinieren. Deren Lehre ist nach paulinischem Urteil aber in Wahrheit gar kein Evangelium (1,7a), weil sie die Vollkommenheit der Heilsgabe in Christus in Frage stellt und damit dem Evangelium widerspricht, dem Paulus sich als Apostel durch seine Berufung verpflichtet weiß (1,1.11f.). ‚Sein Evangelium‘ (vgl. 2,11) ist die Rechtfertigungslehre. In ihr wird die Auferstehung als die Auferweckung des Gekreuzigten proklamiert, dessen stellvertretender Fluchtod am Kreuz das Heil für alle Menschen gestiftet hat.350 Durch diese Deutung wird das Ostergeschehen auf eine neue Art zum Ausdruck gebracht. Die künftige universale apokalyptische Erfüllung wird in die eschatologische Existenz jedes einzelnen Menschen hereingeholt. Paulus interpretiert die tradierte Formel des Evangeliums von der Auferstehung Christi, indem er die kultische Metaphorik vom Opfertod Jesu (§ 5.6.2.3b; Exkurs 2) in einzigartiger Weise mit der juristischen Begrifflichkeit der Rechtfertigung kombiniert und darin den Freispruch vor dem Gericht Gottes einschließt. Provozierend wirkt dabei sowohl im Galaterbrief als auch in den Korintherbriefen die Botschaft vom Kreuz Christi:351 Nicht nur in den politischen Messiasvorstellungen (§ 5.6.1.1), auch in den Traditionen vom leidenden Gerechten (Exkurs 5) wäre die Kreuzigung einer positiven Gestalt kaum denkbar. Für Paulus ist jedoch gerade die Auferweckung des Gekreuzigten ein Argument für die heilschaffende Macht Gottes, die die soteriologische Funktion des Gesetzes aufhebt (Gal 3,13). Im Galaterbrief entfaltet Paulus zum ersten Mal seine Rechtfertigungslehre als Explikation des Evangeliums von der heilbringenden Bedeutung Jesu (§ 5.6.2.1). Um sie zu verstehen, müssen wir beachten, dass sie eine Neuinterpretation des Evangeli350 Vgl. das Kreuz (Gal 3,1; 5,11; 6,12.14; § 5.12.5e) mit den Stellvertretungsaussagen (1,4; 2,20; 3,13; § 5.6.2.1). 351 Gal 5,11; 6,12.14; 1Kor 1,23; 2,2 f.; 2Kor 13,4 (§ 5.12.5e).

5.11 Der Galaterbrief

221

ums für diejenigen ist, die das (Jüngste) Gericht als die eigentliche Grenze zwischen diesem und dem künftigen Äon voraussetzen, d. h. für die religiös interessierten Juden, einschließlich der Judenchristen. Es mutet paradox an, dass Paulus die Rechtfertigungslehre im Galaterbrief gerade im Gespräch mit ehemaligen Heiden (4,8; 5,2 f.; 6,12 f.) formulierte. Diese Paradoxie ist jedoch dadurch veranlasst, dass die Heidenchristen sich durch Judenchristen haben beeinflussen lassen. Das Paradox löst sich auf, wenn man bedenkt, dass die paulinische Argumentation sich eigentlich an die Judenchristen in Galatien wendet. Für die hellenistisch geprägten Heidenchristen seiner Zeit interpretierte Paulus das Evangelium in 2Kor 5,11–6,10 wieder anders, nämlich als Versöhnungslehre (§ 5.13.3c). Wenn Paulus „rechtfertigen“ (dikaioústhai) sagt, meint er das Bestehen vor dem Gericht Gottes (Gal 2,16 f.; 3,8.11.24). Wenn er von der „Gerechtigkeit“ (dikaiosýnē) spricht, dann handelt es sich nicht um die distributive Gerechtigkeit, die Lohn und Strafe zuteilt, sondern um die rettende Heilsmacht Gottes. Die Gerechtigkeit Gottes schafft ein heiles Verhältnis zwischen Mensch und Gott, das in Christi Tod begründet liegt. Diese von Gott gestiftete Gerechtigkeit gewährt dem Menschen das ewige Leben (3,21), die Restitution seiner durch die Sünde gestörten Gotteskindschaft (4,5–7) und durch den heiligen Geist die Kraft zu einem neuen Leben auf der Erde (5,5; vgl. 3,5; 4,6 ff.). Der Mensch wird zu einer „neuen Kreatur“ (6,15). Eine solche Gerechtigkeit kann nur durch die Gnade Gottes erreicht werden (3,18; 5,4 ff.). Diese Gerechtigkeit wird durch das Evangelium verkündigt und im Glauben empfangen. Erst im Römerbrief wird Paulus dieses ganze Geschehen in der Rede von der „Gerechtigkeit Gottes“ auf den Begriff bringen (Röm 3,5.25 ff.), und zwar in einer so umfassenden Bedeutung, dass er die gerechtsprechende und die schöpferische Dimension der Gerechtigkeit im Sinn eines neuen göttlichen Schöpfungsakts vereinigt (§ 5.8.2i; 5.16.5a). 5.11.4

Die ekklesiologische Bedeutung der Rechtfertigungslehre

Die These von der Gerechtsprechung aus der Gnade Gottes stellt eine weitreichende Neuinterpretation der Formel vom stellvertretenden Tod Jesu (Exkurs 2) vor dem apokalyptischen Hintergrund einer erwarteten Äonenwende dar (§ 5.10.3). Sie ist mit der Auferstehungsverkündigung verbunden und schon in der alten Pistisformel in 1Kor 15,3b–5 enthalten (§ 5.6.2.1). Ihre Radikalität als Innovation (§ 1.3.2–3) kann kaum überschätzt werden. a) Die ekklesiologische Ausgangsfrage: Paulus hat die Rechtfertigungslehre vor allem aus ekklesiologischen Gründen entwickelt.352 Der Konflikt zwischen Paulus

352

Vgl. W. Kraus, Gottes Gerechtigkeit und Gottes Volk, in: M. Bachmann, Paulusperspektive (s. Anm. 337), 329–347.

222

5 Die paulinischen Briefe

und Petrus in Antiochien (Gal 2,11–14) wurde zum entscheidenden Anlass, um den Gedanken der Rechtfertigung zu entfalten. Petrus hatte unter dem Druck von Anhängern des Jakobus die Tischgemeinschaft, d. h. das Feiern des Herrnmahls, mit den Heidenchristen beendet. Dieser Abbruch der Mahlgemeinschaft bedeutete die Spaltung der Kirche. Die Argumentation der Paulusgegner in Galatien griff auf das Alte Testament zurück: Wenn Jesus der Messias (Christus) ist, dann müssen diejenigen, die ihn als Christus bekennen, das messianische Volk sein. Das messianische Volk aber ist Israel – die Nachkommen Abrahams, deren Bundeszeichen die Beschneidung ist (Gen 17; s. Anm. 333 f.). Die Folge war, dass nach diesem judenchristlichen Verständnis auch die Nicht-Israeliten, die sich zu Jesus als dem Christus bekennen und am neuen Äon teilnehmen wollten, zuvor durch die Beschneidung Juden werden mussten. Die nichtjüdischen Christen, die Heidenchristen, sollten in der Kirche also nur eine zweitrangige Stellung innehaben, wie sie etwa die unbeschnittenen Gottesfürchtigen in der Synagoge hatten, die mit dem jüdischen Glauben sympathisierten, ohne die Beschneidung aber nicht als Juden im Vollsinne akzeptiert wurden (Gal 2,11 ff.; Apg 15,1; § 6.4.5.2a). Dass ehemalige Heiden auch ohne Beschneidung allein aufgrund der Taufe als vollwertige Mitglieder der Gemeinde anerkannt werden sollten, war ein absolutes Novum. Damit hat Paulus erreicht, was für Sympathisanten und Gottesfürchtige in jüdischen Kreisen noch völlig undenkbar war und selbst über das Aposteldekret weit hinausging.353 b) Die Neuinterpretation der Abrahamsverheißung: Ebenso wie die Gegner geht auch Paulus im Galaterbrief von der Voraussetzung aus, dass das messianische Volk die wahre Nachkommenschaft Abrahams ist,354 allerdings in einer der jüdischen Tradition gegenüber umwerfend kühnen Neuinterpretation: Für den Apostel war Abrahams Glaube ausschlaggebend, mit dem er der Segensverheißung und Zuwendung Gottes vertraute (Gen 12,3 = Gal 3,8) und für den er die Gerechtigkeit zugerechnet bekam (Gen 15,6 LXX = Gal 3,6; vgl. Röm 4,3), noch ehe er beschnitten war (Gen 17).355 Daher kann Paulus sagen, dass dem Abraham – unabhängig von der Beschneidungsforderung – in der Segensverheißung schon das Evangelium von der Rechtfertigung allein aus Glauben im Voraus verkündigt wurde (Gal 3,8: proeuēggelísato). 353 Vgl. zum historischen Hintergrund den Forschungsbericht von B. Wander, Auseinandersetzungen zwischen antikem Judentum und frühem Christentum, VuF 48 (2003), 29–44. 354 Zur ekklesiologischen Bedeutung und dem Verhältnis zu Israel vgl. W. Kraus, Volk Gottes, 202–254. 355 Vgl. die Explikation in Röm 4,9–12; § 5.16.5a. Damit hebt sich Paulus grundlegend von der jüdischen Tradition ab, in der Abrahams Gerechtigkeit vor allem aus seinem Gehorsam bei der Opferung Isaaks (Gen 22,1–18) abgeleitet wurde (Sir 44,19–21; 1Makk 2,50–52; vgl. ebenso Hebr 11,17; Jak 2,21; § 8.8.2c). Zum Abrahambild im Frühjudentum und Neuen Testament vgl. K. Berger, Art. Abraham II, TRE 1, 372–382, monographisch F. E. Wieser, Die Abrahamvorstellungen im Neuen Testament, Bern u. a. 1987, hier 40–50.56–67, zu Gal 3 und Röm 4.

5.11 Der Galaterbrief

223

Die Verheißung an Abraham erscheint als Prototyp des Evangeliums. Denn Segensverheißung und Evangelium werden beide aus lauter Gnade zugesprochen und allein durch den Glauben aufgenommen. Analog gilt Abraham als Prototyp aller Glaubenden, d. h. als erster in der Gemeinschaft der Gläubigen. Die Abrahamsverheißung ist für den Apostel auch deshalb entscheidend, weil sie sich nach der innerbiblischen Chronologie 430 Jahre vor der Proklamation des Gesetzes auf dem Berg Sinai ereignete. Damit empfing Abraham die Verheißung bereits zu einer Zeit, als es die Tora noch gar nicht gab. Die Verheißung ist also älter, sie ist Gottes erstes Wort, das Gesetz hingegen erst Gottes zweite Willensäußerung. Deshalb ist das Evangelium vom Heil in Christus nach paulinischem Verständnis nicht Gottes Reaktion auf das Gesetz, sondern Gottes ursprünglicher Wille, der dem Abraham bereits im Voraus kundgetan wurde. Auch zeitlich gesehen hat die Gnade Priorität (Gal 3,15–18). Die Abrahamsverheißung ist derjenige Text, an dem sich das paulinische Schriftverständnis (§ 5.5.1) exemplarisch verdeutlichen lässt – und zugleich von anderen neutestamentlichen Verhältnisbestimmungen von Neuem und Altem Testament abhebt (§ 2.1.3). Die Schrift enthält die Tora, ist mit dieser aber nicht identisch. Das Alte Testament bleibt im Galater- und Römerbrief (§ 5.16.2) als theologischer Bezugsrahmen unverzichtbar, aber im Blick auf das Heil bei Gott ist Christus „das Ende des Gesetzes für jeden, der glaubt“ (Röm 10,4). Den hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der Schrift (Altes Testament) bietet die Kategorie der „Verheißung“ (epaggelía).356 Doch denkt der Apostel nicht im Schema von Verheißung und Erfüllung (wie Matthäus; § 6.3.3.3a) und versteht auch die Heilsgeschichte nicht als Kontinuum (wie Lukas; § 6.4.5.2a). Vielmehr betont er die Einmaligkeit und Endgültigkeit der Heilstat Gottes in Christus, der durch seine stellvertretende Selbsthingabe für die Sünden der Menschen die Äonenwende herbeigeführt hat (Gal 1,4; vgl. 3,13). Die gute Nachricht von diesem Heilsereignis (§ 6.2.6.1) hat „die Schrift“ (graph¯´e) in der Verheißung an Abraham „vorhergesehen“ (proideín) und „im Voraus zugesagt“ (proeuaggelízesthai; Gal 3,8). In analoger Weise charakterisiert Paulus in Röm 1,1 f. das „Evangelium Gottes“ durch das Verbum „proepaggelízesthai“ (vorherverheißen) mit der Vorsilbe „pro-“ noch sehr viel grundsätzlicher als bei der Abrahamverheißung als diejenige frohe Botschaft, die Gott durch das gesamte prophetische Zeugnis der biblischen Schriften (des Alten Testaments) zuvor versprochen hat. Auch das Christusbekenntnis in 1Kor 15,3.4 geschieht „nach den Schriften“, und die Gerechtigkeit Gottes wurde nach Röm 3,21 schon vor ihrer endgültigen Offenbarung in Christus „bezeugt vom Gesetz und den Propheten“ (§ 2.1.1). Damit wird die ganze Schrift als prophetisches Zeugnis verstanden, das Christus angekündigt hat (Röm 15,8–12; vgl. § 5.6.1.1–2; 6.2.7.1). Dementsprechend sind „in Christus“ Gottes Verheißungen Wirklichkeit geworden, er verkörpert das „Ja“ der göttlichen Zusagen (2Kor 1,19 f.). So begreift Paulus die ganze Schrift von ihren Heilszusagen her unter dem Vorzeichen der „Verheißung“ (epaggelía). Doch argumentiert er nicht im heilsgeschichtlichen Schema von Weissagung und Erfüllung, vielmehr spricht er vom Bestätigen (Röm 15,8) bzw. Festwerden (Röm 4,16), das die Zuverlässigkeit und Gültigkeit der göttlichen Verheißung(en) bekräftigt. Die Pointe liegt darin, dass Gott den Segen, 356

Vgl. G. Sass, Leben aus den Verheißungen (FRLANT 164), Göttingen 1995; ders., Art. Verheißung, ThBLNT2 2, 1743–1751.

224

5 Die paulinischen Briefe

den er dem gläubigen Abraham im Voraus zugesagt hat, in seiner Verheißungstreue durch denselben Glauben auch in den Christen verwirklicht.

Außerdem sind in den Segen Abrahams bereits die Völker, d. h. die Heiden, eingeschlossen (3,8; vgl. Gen 12,3; 18,18 u. ö.).357 Auch der gläubige Heidenchrist kann nach dem Vorbild und in der Gemeinschaft „mit dem gläubigen Abraham“ (Gal 3,9) vor dem Gericht Gottes bestehen, denn als Glaubender gehört er ebenso vollwertig zum Volk Gottes wie ein Judenchrist.358 Damit ist Abraham als Präzedenzfall der Gerechtigkeit aus Glauben zum legitimierenden Modell für die Völkermission geworden, in der nun nicht mehr lediglich Juden-, sondern auch Heidenchristen gleichwertig eingeschlossen sind (Gal 3,29; vgl. Röm 4,16 f.).359 Die Zugehörigkeit der Heidenchristen zur Nachkommenschaft Abrahams hat bei Paulus nicht nur eine metaphorische Bedeutung als Ehrentitel, sie bezeichnet eine reale Beziehung: die Analogie des Glaubens. Abraham hat einen bleibenden Rang inne als Erstling in der Gemeinschaft der Glaubenden (vgl. auch Röm 4; § 5.16.5a). Nicht zuletzt war für Paulus bereits die Verheißung an Abraham selber schon mit Jesus Christus verbunden, da dort vom „Samen“ im Singular die Rede ist (Gal 3,16).360 Diesen „Samen“ bezieht Paulus nicht wie sonst üblich im kollektiven Sinn auf Isaak und die weitere Nachkommenschaft (Apg 7,5–8), sondern in einem bewusst – und bei abwägender Betrachtung gewaltsam – wörtlich genommenen individuellen Verständnis auf die Person Jesu361 als den einen, den eigentlich verheißenen Nachkommen schlechthin. Durch den Glauben an Christus werden mit dem gläubigen Abraham auch alle Glaubenden mit ihrer Taufe in einem kollektiven Sinn zur Nachkommenschaft Abrahams und Erben seiner Segensverheißung (Gal 3,6–9.26– 29). Damit ergeben die Segensverheißung an Abraham und ihre Erfüllung in Christus eine große Klammer, die die Offenbarung der Tora am Sinai einrahmt und zu einem Intermezzo werden lässt, das in Christus überholt ist:

357 Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 112–159.238–247.350 f.; ders., Art. Segen, ThBLNT2 2, 1637 f. 358 In frühjüdischen Texten wird die Segensverheißung für alle Völker aus Gen 12 mit Abrahams Gehorsam bei der Opferung Isaaks (Gen 22,1–18) und dem Bundesgedanken verknüpft (Sir 44,19–21) sowie an die Beschneidung und den Toragehorsam gebunden, der hier die Warnung vor Verunreinigung durch die Tischgemeinschaft mit Heiden und das Mischehenverbot einschließt (Jub 12,22 f.; 18,16; 22,16.20). 359 Anders akzentuiert ist die Bedeutung Abrahams bei der Segensverheißung in Apg 3,25 f. als erster Bundespartner Gottes (§ 6.4.5.2a) und im Hebräerbrief als Paradigma der Geduld im Festhalten an der Verheißung (§ 8.5.3c); vgl. Abraham – ohne Erwähnung der Segensverheißung – als ersten Proselyten in Mt 1,1 f. (§ 6.3.3.1). 360 Hebr. zæra‘, griech. spérma; vgl. Gen 13,15; 17,8; 24,7 u. ö. (vgl. 12,7; 15,18) sowie 12,3: „in dir“ (Gal 3,8). 361 Vgl. ebenso die Petruspredigt in Apg 3,25 f. (§ 6.4.5.2a).

5.11 Der Galaterbrief Abraham

225

Christen

Verheißung des Segens (Gen 12,3) Glaube Abrahams (Gen 15,6) Nachkommenschaft („in dir“)

„die aus Glauben“ = „Söhne Abrahams“ (Gal 3,7) Neuinterpretation

Christus als der eine verheißene Nachkomme (individuell) (Gal 3,16)

Vorausverkündigung des Evangeliums (Gal 3,8):

Tora vom Sinai 430 Jahre später (Gal 3,17–25):

– Gerechtigkeit (Gen 15,6) – Segen (Gen 12,3)

– Verheißung des Lebens – Gerechtmachung (Gal 3,8) (Lev 18,5) wird zum – Loskauf, d. h. Befreiung Todesur teil für die vom Fluch des Gesetzes Übertreter (Dtn 27–30 (Gal 3,13) in Gal 3,10.12) – (ewiges) Leben (Hab 2,4 in Gal 3,11) – Segen für die Heiden (Gal 3,14a) – Geistempfang (3,14b) – Gotteskindschaft in Christus (3,26; 4,5 f.) – Neuschöpfung des Menschen in Christus (6,15)

für alle Völker (Gen 12,3)

Verkündigung des Evangeliums (Gal 1,6 f.11; 2,5 ff.):

Juden und Griechen „in Christus“ durch Glauben und Taufe Nachkommen Abrahams (kollektiv) und „nach der Verheißung Erben“ (Gal 3,26–29) => Soteriologische Gleichberechtigung der Heidenchristen

Abb. 13: Verheißung, Tora und Evangelium nach Gal 3 In den dargelegten Bahnen bewegt sich auch die Hagar-Sara-Typologie (Gal 4,21–31). In ihr ist der Vergleich mit Hagar, der Magd Abrahams, in 4,24 f. nicht als eine Herabsetzung Israels zu verstehen. Denn die Zweiteilung zwischen den beiden Frauen gilt – vor dem Hintergrund prophetischer Verheißungen (vgl. Jes 54,1 in Gal 4,27) – den Kindern von Abrahams Ehefrau

226

5 Die paulinischen Briefe

Sara, der Freien. Sie stellt ein Sinnbild für die neugetauften Heiden dar, die aus der Verheißung geboren sind (V.23) und ihre Freiheit nicht aufgeben sollen.362

Paulus entdeckte also die soteriologische Dimension des ekklesiologischen Streits und bot eine christologische Lösung an.363 Dadurch begründete er nicht nur die synchrone Einheit der Juden und Heiden in der Kirche, sondern auch die diachrone Einheit der Kirche mit der Nachkommenschaft Abrahams. Als Stammvater Israels und Verheißungsträger für alle Völker wird Abraham zur idealen Integrationsfigur, mit der sich sowohl Judenchristen als auch Heidenchristen identifizieren können (Gal 3,6–9.13 f.26–29; vgl. Röm 4,1 ff.).364 Durch ihre integrierende Kraft wurde die paulinische Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben in der Krise nach dem Fall Jerusalems (70 n. Chr.) für die Kirche attraktiv (§ 8.1). c) Das Liebesgebot: Aus dem Evangelium von Jesus Christus als der Offenbarung der Gnade Gottes ergibt sich die Motivation für ein neues Verständnis der Liebe zu Gott und zum Mitmenschen (Gal 5,6). Die Aufforderungen zur Gestaltung des neuen Lebens eines Christen – viel später lat. „nova lex“ genannt – sind ein Zug paulinischer Theologie, der häufig unterschätzt wurde. Die Aufforderungen sind nicht allein vom alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe abzuleiten.365 In der paulinischen Paränese (§ 5.7b) ist die Liebe eine unverzichtbare Dimension der im Glauben geschenkten Freiheit366 (5,13). Sie ist eine Gabe („Frucht“) des heiligen Geistes (5,22) und führt als „Gesetz Christi“ zur gegenseitigen Solidarität im Leben (6,2; vgl. 1Kor 9,21).367 Daher ist es irreführend, die Heidenmission als „gesetzesfrei“ zu bezeichnen. Denn nachdem die Beschneidungsforderung verworfen wurde, ist die Heidenmission zwar in der Tat nicht mehr dem jüdischen Gesetz verpflichtet. Aber sie ist bei aller paulinischen Kritik an der Heilsfunktion der Tora nicht „ohne (sc. jegliches) Gesetz“. Als „Gesetz des Christus“ (6,2) ergibt sich die Aufforderung zur Liebe freilich nicht mehr aus der Tora und auch nicht als deren Quintessenz aus dem Liebesgebot in Lev 19,18, sondern bleibt ganz an die Person Jesu gebunden, der sich selber aus Liebe hingegeben hat (1,4; 2,20) und dafür von den Toten auferweckt wurde (1,1). Glaube und Liebe gehören zusammen, das Ja zu Gott schließt das Ja zum 362

Vgl. J. L. Martyn, The Covenants of Hagar and Sarah, in: Faith and History (FS W. Meyer), Atlanta GA 1991, 159–192. 363 Vgl. J. B. Souček, Israel und die Kirche, 178 ff. 364 Vgl. U. Heckel, Das Bild der Heiden und die Identität der Christen bei Paulus, in: R. Feldmeier / U. Heckel (Hg.), Die Heiden (WUNT 70), Tübingen 1994, 269–296, bes. 281 f. 365 Gal 5,13 f.; Röm 13,8–10; Mk 12,31 par.; vgl. Lev 19,18 und zum Liebesgebot § 6.2.9. 366 Vgl. S. Vollenweider, Freiheit (Lit. § 5), 285–321; ders., Art. Freiheit, ThBLNT2 1, 504. 367 Vgl. Th. Söding, Das Liebesgebot bei Paulus (NTA 26), Münster 1995, bes. 187– 226.265–267; ders. u. a., Art. Liebe, ThBLNT2 2, 1318–1334, zur Ethik W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments (GNT 4), Göttingen 21989.

5.11 Der Galaterbrief

227

Nächsten ein. Durch Christus hat die christliche Existenz ihre eigene Norm.368 Diese ist – durch Salutatio und Schlusssegen gerahmt – von der Gnade des Herrn umschlossen (1,3; 6,18) und erhält in der Liebe eine richtungsweisende ethische Funktion, mit der nun aber kein soteriologischer Anspruch mehr verbunden ist (vgl. 1Kor 8 und 1Kor 13).369 d) Die Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die paulinische Theologie: Bereits das Dargestellte erweist die These von der Rechtfertigungslehre als „Nebenkrater“ apokalyptischer Erwartung bei Paulus (so Albert Schweitzer) als fragwürdig (§ 5.8.2i). Dasselbe gilt von der Behauptung, dass es sich bei der Rechtfertigungslehre um eine sekundäre, zweitrangige Begründung der missionarischen Strategie des Apostels handle. Paulus kann dieselben Sachverhalte auch auf andere Weise ausdrücken, z. B. durch die Rede von der Versöhnung in 2Kor 5,10–6,10 (§ 5.13.3.1). Wenn Paulus die Heilsbedeutung des Todes Jesu einmal als Gerechtmachung und an anderer Stelle als Versöhnung entfaltet, so darf keine dieser beiden Deutungen isoliert und verabsolutiert werden. Stets drängt sich der Eindruck auf, dass Paulus diese Erklärungsversuche als alternative Interpretationen seiner theologisch tiefen Lösung des ekklesiologischen Problems der Urkirche skizziert, das beim antiochenischen Zwischenfall eklatant zum Ausbruch gekommen ist. In den anderen Briefen legt Paulus die Rechtfertigungslehre zwar nicht explizit dar, aber er setzt deren Kenntnis voraus, wenn er an einigen Stellen verwandte Motive als Argument anführt.370 Dies gilt z. B. für den Hinweis auf den stellvertretenden Tod Jesu, mit dem Paulus in 1Kor 8,11 seine Aufforderung zur Rücksicht auf das Gewissen371 der Schwachen begründet (§ 5.12.5e). Nicht anders verhält es sich bei der Warnung in Röm 14,15, den Bruder nicht ins Verderben zu stürzen, für den Christus gestorben ist (§ 5.16.5c). In beiden Fällen handelt es sich um ekklesiologische und ethische Konsequenzen aus der Gerechtmachung allein aus Gnade. e) Datierung: Die Entfaltung der Rechtfertigungslehre kann als Argument für die Datierung des Galaterbriefs vor dem 1. Korintherbrief betrachtet werden, da hier Aussagen der Rechtfertigung nur vereinzelt anklingen (1Kor 15,56), in der Entfaltung der Kreuzestheologie aber sachlich vorausgesetzt sind (§ 5.12.5e). Allerdings ist 368 Vgl. Röm 15,7 (vgl. V 5: katá [gemäß] Christón Iēsoýn): „Nehmt einander an, wie (kathṓs) auch Christus euch angenommen hat“ (vgl. Kol 3,13 analog vom Vergeben und Eph 5,2 von der Liebe), den Christushymnus als Begründung für die Paränese in Phil 1,27–2,18 oder das Armwerden Christi in der Kollektenbitte von 2Kor 8,9. 369 Th. Söding, Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Paulus (SBS 150), Stuttgart 1992. 370 So z. B. in 1Kor 4,3–7; 9,19–23; 12,13; 15,56 f. oder Phil 3,8–11. 371 Vgl. 1Kor 8,7–12; 10,25–29; vgl. H.–J. Eckstein, Der Begriff Syneidesis bei Paulus (WUNT II/10), Tübingen 1983 oder zusammenfassend ders., Der aus Glauben Gerechte wird leben (BVB 5), Münster 2003, 73–77.226 f.

228

5 Die paulinischen Briefe

davon auszugehen, dass die Rechtfertigungslehre, die Paulus nach unserer Quellenlage im Galaterbrief zum ersten Mal schriftlich ausformuliert, in ihren Grundzügen schon früher Gegenstand seiner Lehre war (§ 5.10.3). Am Ende darf nicht verschwiegen werden, dass Paulus in dem Konflikt in Antiochien offensichtlich der Verlierer war. Er erwähnt nicht, dass Petrus seine Einwände anerkannte. Außerdem ist bezeichnend, dass Paulus später die Missionsgebiete der Antiochener mied und die Schwerpunkte seines Wirkens nach Kleinasien, Griechenland und Rom verlagerte. 5.11.5

Abfassungszeit, Entstehungsort und Adressaten

Der Notiz in Gal 4,13 ist zu entnehmen, dass Paulus bereits in „Galatien“ war (zu „tó próteron“ s. § 5.8.2). Dass Paulus von einem früheren Besuch in Galatien spricht, könnte auf eine Abfassung nach dem Galatienaufenthalt auf der dritten Missionsreise (Apg 18,23) von Ephesus aus hindeuten.372 Und da Paulus während dieses Aufenthalts in Ephesus auch den 1. Korintherbrief verfasste, könnten die Instruktionen für die Galater zur Jerusalemkollekte in 1Kor 16,1 darauf schließen lassen, dass der Konflikt in Galatien zur Entstehungszeit des 1. Korintherbriefs schon beigelegt war. Der Galaterbrief wurde demnach etwa im Jahr 54 n. Chr. geschrieben. Wenn wir uns vor Augen führen, dass Paulus nicht nur durch seine Briefe, sondern auch durch seine theologische Lehrtätigkeit wirkte, ist die Frage nach der zeitlichen Reihenfolge dieser beiden Schreiben allerdings nicht so bedeutend. Beide entstanden in enger Abfolge. Allerdings ist bloß der Galaterbrief aus sich selbst verständlich, während der 1. Korintherbrief mehrfach lediglich auf einige, beiden Seiten bekannte Thesen hinweist (z. B. die gleichwertige Berufung der Juden und Heiden nach 1Kor 7,17–19; 12,13). Deshalb ist bei der Deutung der Korintherbriefe die paulinische Rechtfertigungslehre (vgl. 1Kor 1,30; 6,11; 15,56) zumindest in ihren ekklesiologischen Hauptzügen als bekannt vorauszusetzen. Mehrere Forscher bevorzugen die Datierung des Galaterbriefs auf einen späteren Zeitpunkt, etwa 56 n. Chr., und nehmen als Abfassungsort Makedonien an (Apg 20,1 f.).373 Durch diese spätere Ansetzung ergibt sich eine zeitliche Nähe zum Römerbrief, der hinsichtlich der Rechtfertigungslehre und der Gesetzesthematik Ähnlichkeiten aufweist. Beim gegenwärtigen Kenntnisstand der paulinischen Biographie ist die Frage nach der Abfassungszeit nicht endgültig zu beantworten. Am wahrscheinlichsten ist die Entstehung während des Aufenthaltes in Ephesus. Bei der Auslegung des Galaterbriefs fällt diese Frage jedoch kaum ins Gewicht.

372 So z. B. W. G. Kümmel, Einleitung (Lit. § 1), 265 f.; D. Lührmann, ZBK 10 (nach 1Kor); H.-M. Schenke / K. M. Fischer, Einleitung (Lit. § 1), 79. 373 Zur Diskussion vgl. U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 112–114; vgl. auch J. Becker, NTD, 16.

5.11 Der Galaterbrief

229

Ein Problem stellen die Adressaten dar, für deren Lokalisierung eine Karte der Paulusreisen hilfreich ist. Es ist umstritten, ob es sich bei ihnen um Bewohner der nördlich gelegenen Landschaft Galatien (nordgalatische bzw. Landschafts-Hypothese) oder – wohl eher – des Südteils der römischen Provinz Galatia (südgalatische bzw. Provinz-Hypothese) handelt.374 Die Galater, eine, wie ihr Name besagt („Galater“ = „Kelten“), ursprünglich keltische Bevölkerungsgruppe, besiedelten im 3. Jh. v. Chr. einen Teil des nördlichen Kleinasien (die phrygische Hochebene, die Gegend um die heutige türkische Hauptstadt Ankara). Die Griechen besiegten sie und gründeten das Pergamenische Reich (Attalidenreich). Auf dem Pergamonaltar,375 der im 2. Jh. v. Chr. unter Eumenes II. gebaut wurde (heute in Berlin im Pergamonmuseum), sind die Galater als Titanen abgebildet, die gegen die olympischen Götter rebellieren. Bei dem Teil der Landschaft Galatiens, den Paulus während seiner zweiten Missionsreise besuchte (Apg 16,6), müsste es sich um die Umgebung der Stadt Pessinus handeln. Dort sind der sog. Landschaftshypothese zufolge die Adressaten des Schreibens zu suchen, die Paulus als Galater (3,1) anredet. Das Problem dieser Hypothese besteht jedoch darin, dass Lukas Galatien in Apg 16,6 und 18,23 auf der zweiten und dritten Missionsreise jeweils nur kurz erwähnt, dort aber nirgends von einer Gemeindegründung durch Paulus berichtet und auch in der Delegation der Überbringer der Kollekte für Jerusalem in 20,4 keine Repräsentanten jener Landschaft nennt. Andererseits spricht Lukas in der Apostelgeschichte von der Tätigkeit des Paulus in Lykaonien und den benachbarten Gebieten während seiner ersten Missionsreise (13,13–14,27), die seit 25 v. Chr. – über die nordgalatische Landschaft hinaus – ebenfalls zu der römischen Provinz Galatia gehörten. Nach der Provinzhypothese ist der Galaterbrief für die südgalatischen Gemeinden bestimmt, die Paulus auf der ersten Missionsreise gegründet hat. Während in der nordgalatischen Landschaft altkirchliche Zeugnisse von Christen aus vorkonstantinischer Zeit ebenso fehlen wie Belege für die vorchristliche Präsenz von Juden (obwohl im Galaterbrief Judenchristen ihren Einfluss geltend machen), gab es in den südlichen Teilen der Provinz Galatia jüdische Synagogen (Apg 13,14; 14,1; 16,3) und Christen wie z. B. Timotheus (1Kor 4,17; Apg 16,1) oder Gaius (Apg 20,4). Außerdem verwendet Paulus vielfach Provinznamen (vgl. z. B. Makedonien, Achaia, Asia in 1Kor 16,5.15.19 mit Galatia in V.1). Ein Nachteil der Provinzhypothese besteht darin, dass sie sich allein auf die Angaben der Apostelgeschichte stützen kann und Paulus in seinen Briefen nirgends auf die sog. erste Missionsreise (Apg 13 f.) zu sprechen kommt. Deshalb wurde in der deutschsprachigen Exegese lange Zeit der Landschaftshypothese der Vorzug gegeben. Doch mehren sich in letzter Zeit die Verfechter der Provinzhypothese, die in der englischsprachigen Literatur – auch unter Berücksichtigung althistorischer Arbeiten – seit dem 19. Jh. durchgehend vertreten wurde.376 374 Vgl. U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 114–116; ders., Paulus (Lit. § 5), 287–290, der für die Landschaftshypothese plädiert und die Gemeindegründung in Apg 18,23 auf der dritten Missionsreise 52 n. Chr. annimmt. 375 In Apk 2,13 wird der Pergamonaltar als Satansstuhl bezeichnet. 376 Vgl. P. Stuhlmacher, Theologie I (Lit. § 1), 226; R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 254–259; C. Breytenbach, Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien (AGJU 38), Leiden 1996, 113–119 (die Argumente zugunsten dieser Hypothese sind gesammelt in der Besprechung von Ch. Stenschke, Communio Viatorum 41 [1999], 65–91); M. Hengel / M. Schwemer,

230

5.12

5 Die paulinischen Briefe

Der 1. Korintherbrief

 Kommentare: Hans Conzelmann, KEK 5, 21981; Erich Fascher, ThHK 7/1 (1. Teil), Berlin 2 1980; Christian Senft, CNT 7, 1979; Christian Wolff, ThHK 7, 1996; Hans-Josef Klauck, NEB 7, 1984; Friedrich Lang, NTD 7 (1–2Kor), 1986; August Strobel, ZBK 6,1, 1989; Helmut Merklein, ÖTK 7,1, 1992; 7,2 1994; Wolfgang Schrage, EKK 7,1–4, 1991. 1995. 1999. 2001; Anthony C. Thiselton, NIGTC, 2001; Andreas Lindemann, HNT 9, 2000.  Monographien und Aufsätze: Wilhelm Lütgert, Freiheitspredigt und Schwarmgeist in Korinth (BFChTh 12,3), Gütersloh 1908; Walter Schmithals, Die Gnosis in Korinth (FRLANT 3 66), Göttingen 1969; Ulrich Wilckens, Weisheit und Torheit (BHTh 26), Tübingen 1959; Hans-Josef Klauck, Herrenmahl (Lit. § 5.6.2.3); Gerhard Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten (FRLANT 138), Göttingen 1986; ders., Hauptprobleme des ersten Korintherbriefes (ein Forschungsbericht), ANRW II,25,4, Berlin / New York 1987, 2940–3044; Peter Marshall, Enmity in Corinth (WUNT II/23), Tübingen 1987; Helmut Merklein, Die Einheitlichkeit des ersten Korintherbriefes, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 345–375; Gerd Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 1987; Margaret M. Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconcialition (HUTh 28), Tübingen 1991; Reimund Bieringer (Hg.), The Corinthian Correspondence (BEThL 125), Leuven 1996; Margaret Thrall (Hg.), Paul and Corinthians, Leiden 2003.

Der 1. Korintherbrief ist diejenige paulinische Epistel, die den tiefsten Einblick in das Leben, das Sozialgefüge und die Gottesdienste einer frühchristlichen Gemeinde gibt, da Paulus durchgehend auf konkrete Fragen antwortet und diverse Missstände kritisiert. Umso lehrreicher ist es zu sehen, wie der Apostel eine praktische Ekklesiologie entwickelt. Stets setzt er bei Christus ein, um von ihm her seine Gedanken auf das aktuelle Problem zuzuspitzen.377 5.12.1

Anlass, Gliederung und Inhalt

Die Gliederung ist durch die Existenz des sog. Vorbriefs beeinflusst, den Paulus vor diesem Brief geschrieben hatte (1Kor 5,9). Bestimmend sind vor allem diverse Fragen, die die Korinther an Paulus gerichtet hatten und deren Beantwortung er durch „perí“ („bezüglich“) einleitet378 – dem „Betreff“ eines heutigen Briefs vergleichbar: „Was aber das betrifft, wovon ihr geschrieben habt ...“ (7,1). Drei Delegierte hatten diesen Brief dem Apostel überbracht (16,17). Weitere Nachrichten übermittelten ihm Paulus (Lit. § 5.8.1), 395 Anm. 1634: „Die alte Streitfrage scheint mir mit den letztgenannten gründlichen Untersuchungen endgültig erledigt zu sein.“ Th. Witulski, Die Adressaten des Galaterbriefs (FRLANT 193), Göttingen 2000. 377 Vgl. zum 1. Korintherbrief insgesamt U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5), 201–250, als Kommentare F. Lang, NTD 7 (1–2Kor; gute Exkurse), detaillierter Ch. Wolff, ThHK 7 (Lit.!), sehr ausführlich W. Schrage, EKK VII/1–4. 378 1Kor 7,1.25; 8,1.4; 12,1; 16,1.12.

5.12 Der 1. Korintherbrief

231

die Christen (wahrscheinlich Sklaven), die zur Familie der begüterten Frau Chloë gehörten (1,11; vgl. 5,1; 11,18). Als Hauptproblem des 1. Korintherbriefs thematisiert Paulus Spaltungen in der Gemeinde, die durch das Überlegenheitsbewusstsein einiger Gemeindeglieder aufgrund spezieller Vorstellungen von theologischer Erkenntnis („Weisheit“), pneumatischen Erlebnissen oder materiellem Reichtum veranlasst sind. So vielfältig diese Faktoren sind, haben sie doch immer dieselbe fatale Wirkung, dass sie zu Gruppenbildungen führen. Umso energischer setzt sich Paulus für die Einheit der Gemeinde ein. Daraus erklärt sich der paränetische Charakter des ganzen Briefs (1,10: parakalṓ = ich ermahne; § 5.7b). Er kann nach den Regeln der Rhetorik auch als deliberative Rede (§ 5.7a Anm. 195) betrachtet werden, weil er den gemeinschaftlichen Nutzen (lat. utilitas) sucht (bes. 6,12; 10,23).379 Die Zukunft der Gemeinschaft ist hier allerdings eschatologisch bestimmt. Tabellarische Übersicht s. S. 232. 1,1–9 Briefeingang Nach dem Präskript setzt das Proömium (1,4–9) mit einem ausführlichen Dankgebet ein, das mit dem Reichtum der Erkenntnis und der Gnadengaben (Charismen) sowie dem Hinweis auf die Parusie schon die Fragestellungen der Kap. 12–14 und 15 anklingen lässt. 1,10 – 4,21 Erster Teil: Spaltungen in der Gemeinde In der korinthischen Gemeinde waren Gruppen entstanden, die sich auf ihre nicht mehr anwesenden Protagonisten, einerseits Paulus, andererseits Apollos, beriefen, die ihre Taufe vollzogen, ihnen den Geist vermittelt und die Weisheit gelehrt hatten. Daher entwickelten diese Gruppen ein übersteigertes Selbstwertgefühl aufgrund ihrer spezifischen Auffassung von theologischer Weisheit und aufgrund von spirituellen Offenbarungserlebnissen. Paulus unterstreicht diesem Überlegenheitsbewusstsein gegenüber grundlegend für den ganzen Brief die Bedeutung des Kreuzes Christi. Die Botschaft vom Kreuz erscheint den Ungläubigen als skandalöse Torheit, hat in Wahrheit aber der Menschheit („Juden und Griechen“) über alle religiösen, ethnischen und kulturellen Gegensätze hinweg das Heil gebracht. Der Satz über das Wort vom Kreuz (1,18) hat – ähnlich wie Röm 1,16 – die Funktion einer Kernthese (propositio), die den gesamten Brief bestimmt, zunächst in 1,18–2,5 ausgeführt (probatio) und mit der Pistisformel in 15,3b–5 als Inhalt des Evangeliums wieder aufgenommen wird. Dadurch ergibt sich eine Inclusio (Rahmung) des ganzen Schreibens. Gott unterstützt den Menschen nicht in seiner äußeren Macht, sondern er kommt zu ihm in seiner Schwäche, indem er 379

Vgl. M. Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconciliation, 24 u. a.; W. Schrage, EKK VII/1, 71–94.

232

5 Die paulinischen Briefe

1,1–9 1,1–3 1,4–9

Briefeingang Präskript Proömium mit Dankgebet für den Reichtum der Gaben in der Gemeinde

1,10–4,21 1,10–17 1,18–2,16 1,18–25 1,26–31 2,1–5 2,6–16 3,1–4,21

Erster Teil: Spaltungen in der Gemeinde Gruppenbildungen in der korinthischen Gemeinde Das Wort vom Kreuz: Gottes Weisheit als Torheit in der Welt a) Gottes Weisheit und Kraft im Skandalon des Kreuzes b) Die Erwählung des Törichten und Schwachen in der Gemeinde c) Die Verkündigung des Gekreuzigten durch den schwachen Apostel d) Die Offenbarung der Weisheit durch den Geist Gottes Die Lehrer der Gemeinde als Mitarbeiter am Werk Gottes

5,1–6,20 5,1–13 6,1–11 6,12–20

Zweiter Teil: Ethische Missstände bei einzelnen Gemeindegliedern Inzest mit der Stiefmutter (Gemeindeausschluss) Streit vor weltlichen Gerichten Prostitution (die Verantwortung christlicher Freiheit)

7,1–11,1 7,1–40 8,1–11,1 9,1–27

Dritter Teil: Fragen christlichen Lebens in heidnischer Umgebung Ehe, Ehescheidung, Ehelosigkeit Götzenopferfleisch (Rücksicht auf die „Schwachen“; vgl. Röm 14 f.) Die Freiheit des Apostels als Beispiel

11,2–14,40 11,2–16 11,17–34 12–14 12,1–3 12,4–11

Vierter Teil: Probleme des christlichen Gottesdiensts Frauen im Gottesdienst (vgl. 14,34–35) Herrnmahl (11,23–25 Einsetzungsbericht) Geistesgaben (Charismen) Das Bekenntnis „Jesus ist der Herr“ als Beurteilungskriterium Viele Gaben – ein Geist 12,12–31 Ein Leib – viele Glieder (vgl. Röm 12) 13 Das Hohelied der Liebe Glossolalie (Zungenrede) und Gemeinde

14 15,1–58 15,1–11 15,12–34 15,35–58

Fünfter Teil: Gegen die Leugnung der Auferstehung Tod und Auferstehung Christi als gemeinsame Glaubensgrundlage Die noch ausstehende Auferstehung der Christen (das „Dass“) Die Verwandlung des Leibes (das „Wie“ der Auferstehung)

16,1–23 16,1–18 16,19–24

Briefschluss Kollektenaufruf, Reisepläne und Schlussparänese Postskript mit Grüßen, heiligem Kuss, Maranatha-Ruf und Schlusssegen

a) durch seine göttliche Weisheit und Kraft in der Auferweckung des Gekreuzigten die Macht des Todes überwand (1,18–25), b) als Erfahrungsbeweis für die Korinther in ihrer eigenen Gemeinde gerade das vor der Welt Törichte und Schwache erwählte (1,26–31),

5.12 Der 1. Korintherbrief

233

c) in der Verkündigung des Gekreuzigten durch den schwachen Apostel den Beweis des Geistes und der Kraft erbrachte (2,1–5) und d) durch den Geist den Sinn für die Weisheit Gottes erschließt, die im Kreuzestod verborgen ist (2,6–16). Aus diesen a) christologischen, b) ekklesiologischen, c) apostolisch-kerygmatischen und d) pneumatologischen Überlegungen ergeben sich Konsequenzen für die korinthische Gemeinde: Die einzelnen christlichen Lehrer wie Apollos, Paulus usw. sind nur Mitarbeiter am Werk Gottes, das als Bau ein einziges Fundament hat, nämlich Jesus Christus (3,11). Vor dem Gericht Gottes wird nur das bestehen, was auf dieser Grundlage aufbaut (3,1–15). Deswegen sollen die Korinther die anderen Mitarbeiter Gottes nicht richten (4,1–5) und die Schwachheit des Apostels um Christi willen nicht mit geistlichem Hochmut verachten, sondern in seiner Verkündigung die Kraft des Reiches Gottes erkennen (4,6–21). 5,1–6,20 Zweiter Teil: Ethische Missstände bei einzelnen Gemeindegliedern Das Gemeindeglied, das sich des Inzests mit der Stiefmutter schuldig gemacht hat, soll von der christlichen Gemeinde in Korinth ausgeschlossen werden (Kap. 5). Die Christen sollen ihre Konflikte nicht vor heidnische Gerichte bringen, sondern intern regeln (6,1–11). Ihr ganzes Leben gehört Christus, auch ihr Leib. Deswegen sollen sie sich nicht an der Prostitution beteiligen (6,12–20). Paulus bekräftigt die christliche Freiheit (6,12: „Alles ist mir erlaubt“), bindet sie aber an die Verantwortung gegenüber Christus, dem Herrn. Auch die leibliche Existenz soll mit allen Körperteilen der Ehre Gottes dienen. Zur Sexualität gibt es in der korinthischen Gemeinde nicht nur eine libertinistische Fehldeutung der christlichen Freiheit, sondern auch asketische Missverständnisse, weshalb Paulus in Kap. 7 auf die Ehe eingeht. 7,1–11,1 Dritter Teil: Fragen christlichen Lebens in heidnischer Umgebung380 Die Nähe des neuen Äons bedeutet, dass der Christ sein ganzes Leben hindurch in der Situation, in der er sich gerade befindet, Christus bezeugen soll: in der Ehe (7,1 ff.; gegen asketische Tendenzen), als Judenchrist mit Beschneidung, als Heidenchrist ohne Beschneidung, als unverheirateter Mensch, als Sklave (7,17–24; vgl. Phlm; § 5.15.3). Eine Veränderung der äußeren Lage soll nicht die erste Sorge des Christen sein. Er soll seiner persönlichen Situation gegenüber innerlich Abstand halten, er soll „haben, als hätte er nicht“ (7,29–31). Anschließend wird die Frage des Essens von Götzenopferfleisch (8,1–11,1) erörtert, d. h. des Fleischs von Tieren, die auf dem Markt verkauft werden und möglicherweise mit heidnischen Opferriten geschlachtet sind.381 Die Antwort des Paulus enthält zwei Gesichtspunkte: Einerseits handelt es sich bei den Gottheiten, die die Hei-

380 381

1Kor 7,1.25; 8,1 nehmen Bezug auf gestellte Fragen (s. Anm. 378). Zum antiken Opferwesen vgl. H.-J. Klauck, Umwelt I (Lit. § 2.2), 27–49.

234

5 Die paulinischen Briefe

den verehren, nicht um wirkliche Götter, sondern um Götzen.382 Deshalb ist der Verzehr des ihnen geopferten Fleischs keine Sünde.383 Sollte dieses Essen andererseits für jemanden, der in seinem Glauben noch nicht zur Erkenntnis solcher Freiheit gekommen ist, zum Anstoß werden, soll ein Christ nach dem Urteil des Apostels auf den Genuss von Opferfleisch verzichten. Er soll das schwache Gewissen des Mitchristen nicht verletzen, für den Christus gestorben ist (8,11; vgl. Röm 14,15).384 Die Aufforderung zur Rücksichtnahme auf das Gewissen anderer kann einen freiwilligen Verzicht einschließen, den Paulus in Kap. 9 am Beispiel seines eigenen Umgangs mit der christlichen Freiheit385 verdeutlicht: An und für sich hätte er als Apostel das Recht, seinen Lebensunterhalt von der Gemeinde zu bekommen. Aber er nimmt dieses Recht nicht in Anspruch, sondern versucht als Missionar seine Hörer für das Evangelium zu gewinnen, indem er sich freiwillig zum Knecht aller macht (9,19–23: „den Juden ein Jude ...“).386 Die wahre christliche Freiheit bleibt dem Evangelium verpflichtet, dessen gewinnende Kraft auf andere anziehend wirken soll und nicht durch das praktische Verhalten in Verruf geraten darf. Die durch das Evangelium begründete Freiheit kommt verständlicherweise dort an ihre Grenze, wo ein Christ an heidnischen Kultmahlen teilnimmt. Denn dadurch verbindet er sich mit den Götzen, was mit der Teilnahme am Herrnmahl unvereinbar ist und den Eifer des einen Herrn herausfordert (10,1–22; vgl. 8,6). 11,2–14,40 Vierter Teil: Probleme des christlichen Gottesdiensts Paulus setzt voraus, dass sich Frauen durch Gebete und prophetische Rede aktiv am Gottesdienst beteiligen. Er warnt nur vor einem Benehmen, das im auffälligen Widerspruch zum Ethos der damaligen Gesellschaft steht (11,2–16). Das Mahl des Herrn (11,17–34) soll mit Rücksicht auf alle Teilnehmer gefeiert werden, einschließlich derer, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse nicht genug Nahrungsmittel mitbringen können. Paulus weist auf die Gemeinschaft mit dem auferstandenen, wiederkommenden Herrn in der Mahlfeier hin. Er begründet

382

Vgl. J. Woyke, Götter, ‚Götzen‘, Götterbilder (BZNW 132), Berlin u. a. 2005, bes. 211– 214.251–257.445–458. 383 Vgl. die andere Einstellung des Aposteldekrets nach Apg 15,20.29; 21,25 (§ 5.8.2); s. auch Apk 2,20. 384 1Kor 8,7–13 (V.11!); 10,23–33; vgl. analog Röm 14,1–15,13, bes. 14,15; vgl. V. Gäckle, Die Starken und die Schwachen in Korinth und in Rom (WUNT II/200), Tübingen 2005, hier 110–291. 385 Vgl. S. Vollenweider, Freiheit (Lit. § 5), 199–246; ders., Art. Freiheit, ThBLNT2 1, 502 f. 386 Dieser Abschnitt bildet – neben Röm 13,8 – den Ausgangspunkt für die Hauptthese der Reformationsschrift von M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520, WA 7, 21

5.12 Der 1. Korintherbrief

235

seine Kritik mit dem Bericht von der Einsetzung dieses Mahls durch den Herrn (11,23–25; vgl. Mk 14,22–24 parr.; § 5.6.2.3). Die Gaben des Geistes (12–14)387 sollen danach beurteilt werden, ob sie dem christlichen Bekenntnis „Jesus ist der Herr“ entsprechen (12,3; § 5.6.1.3) und ob sie die christliche Gemeinde verbinden, statt sie zu spalten. Zur Spaltung führt, dass einige Christen die Gaben, die sie selber empfangen haben, höher schätzen als die Begabungen der anderen. Diesem angemaßten pneumatischen Überlegenheitsgefühl entzieht Paulus die Grundlage auf zweifache Weise: Zum einen bezeichnet er die „Geistesgaben“ (12,1: pneumatiká) mit einem von ihm neu geprägten Ausdruck als „Gnadengaben“ (charísmata; vgl. Röm 12,3–8), d. h. als unverdiente Geschenke göttlicher Gnade, sodass es keinerlei Grund für irgendeine Form von Überheblichkeit und Selbstruhm gibt.388 Zum anderen führt er sämtliche aufsehenerregenden und weniger sensationellen Charismen auf denselben Geist zurück. Indem Paulus die verschiedenen Gaben von demselben Geist, demselben Herrn und demselben Gott herleitet (1Kor 12,4–6), werden erste Ansätze zu einem trinitarischen Denken sichtbar.389 Träger des göttlichen Geistes im vollen Sinn sind nicht einzelne Menschen, sondern nur die Gemeinde in der Gesamtheit der ihr gegebenen Gaben. In der Gemeinde sind alle Gläubigen mit ihren Charismen aufeinander angewiesen wie ein Leib mit vielen Gliedern (Kap. 12, bes. V.26: „Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit“). Höher als die anderen Geistesgaben steht nur die Liebe (Kap. 13), die als wichtigste Gabe die Einstellung zu allen anderen Charismen bestimmen soll. Sie verbindet die Menschen mit dem künftigen Äon, weil sie bestehen bleibt, wenn alles andere Stückwerk aufhört. So gipfelt das Hohelied der Liebe in der Trias Glaube, Hoffnung, Liebe mit der Agape (Liebe) als der größten Gabe.390 In Kap. 14 kommt Paulus auf die Frage der einzelnen Gaben (Charismen) zurück. Er warnt vor der Überschätzung der Glossolalie (Zungenrede)391 und fordert die Übersetzung solcher Äußerungen, damit sie der ganzen Gemeinde dienen. Den Vor387

1Kor 12,1 setzt wieder eine Anfrage der Adressaten voraus (s. Anm. 378). Vgl. 1Kor 4,7 analog bei der Rivalität zwischen Mitarbeitern: „Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dann, als hättest du es nicht empfangen?“ 389 Vgl. 2Kor 13,13 (§ 5.13.1); (Phil 2,1) und Gal 4,4–6 (§ 5.11.1), aber auch Eph 4,4–6 und Mt 28,19 (§ 5.6.2.2e). 390 Vgl. Th. Söding, Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Paulus (SBS 150), Stuttgart 1992. 391 Das „Reden in Zungen“ (1Kor 12,30; 14,5 f. u. ö.), d. h. in „Sprachen“, klingt so unverständlich wie die Sprache eines anderen Volks (1Kor 14,21 f.; Jes 28,11 f.), wird von einigen Gemeindegliedern in Korinth aber als unverfügbare, geistgewirkte Sprache der Engel aufgefasst (vgl. 1Kor 13,1: „mit Engelszungen“; 2Kor 12,4: „unsagbare Worte“) und eschatologisch als Zeichen für den Anbruch der Endzeit interpretiert. 388

236

5 Die paulinischen Briefe

zug gibt er aber eigentlich der christlichen Prophetie als einer unmittelbar verständlichen Rede (bes. 14,1–5.19.22.39)392 sowie den Gaben der Wortverkündigung durch Apostel, Propheten und Lehrer (12,28). Damit unterscheidet Paulus zwischen einzelnen Geistesgaben, die z. B. bei einer Krankenheilung spontan wirksam werden, und den personengebundenen Ämtern der Apostel, Propheten und Lehrer, die durch die Evangeliumsverkündigung für die Existenz der christlichen Gemeinde unverzichtbar sind. Zum Schluss werden die Frauen – im Widerspruch zu 11,1–16 – zum Schweigen in der christlichen Versammlung aufgefordert (14,34–35). Auf die Kritik am überhöhten Selbstbewusstsein der Pneumatiker, die durch ihre spirituellen Erlebnisse schon die Erfahrungen der Endzeit vorwegzunehmen meinen, folgt in Kap. 15 die Auseinandersetzung mit einem weiteren eschatologischen Missverständnis. 15,1–58 Fünfter Teil: Gegen die Leugnung der Auferstehung Wenn einige Christen in Korinth sagen: „Es gibt keine Auferstehung der Toten“ (15,12), werden sie nicht die Auferweckung generell in Frage gestellt haben, denn eine solche Behauptung hätte den Abfall vom Glauben bedeutet. Aber aus einem geistigen Vollendungsbewusstsein heraus dürften sie bestritten haben, dass die Auferstehung erstens noch aussteht und zweitens leiblich geschehen wird. Darum bekräftigt Paulus in Kap. 15 in zwei Schritten zuerst das „Dass“ der Auferstehung, um sich ab V.35 der Frage nach dem „Wie“ zuzuwenden: „Wie werden die Toten auferweckt? Mit was für einem Leib kommen sie?“ In einem ersten Gedankengang erinnert Paulus zunächst (V.1–11) an die alte Pistisformel vom Tod und der Auferweckung Christi, die als gemeinsame Glaubensgrundlage die wichtigsten christlichen Gruppen verbindet (V.3b–5: „gestorben ... begraben ... auferstanden ... erschienen ...“; § 5.6.2.1). Von diesem Bekenntnis ausgehend hebt er die konstitutive Bedeutung der Auferstehung Jesu hervor (V.12–19) und weist die korinthischen Enthusiasten auf die geordnete Abfolge der Endereignisse hin, nach der die Auferstehung auch für die Pneumatiker in Korinth noch aussteht: zunächst (an Ostern) als Erstling Christus, danach bei seiner Parusie die Christen und schließlich die ganze Welt durch die Vollendung der Gottesherrschaft (basileía), dass „Gott sei alles in allem“ (V.20–34). Die Gemeinschaft mit Christus eröffnet den Gläubigen die Teilhabe am Reich Gottes und garantiert ihnen die persönliche Hoffnung im Tod (vgl. 1Thess 4,13–18; § 5.10.2–3). Zu dieser Erwartung gehört die Auferstehung des Leibes, die Paulus im zweiten Argumentationsgang entfaltet (V.35–58). Die körperliche Auferweckung bedeutet keine Wiederbelebung des Leichnams und auch nicht die Rückkehr in die irdische Materialität, sondern das Empfangen eines neuen Körpers, der es dem Menschen ermöglicht, dem kommenden Christus zu begegnen und mit ihm zu kommunizieren.

392

nicht!“

Vgl. auch 1Thess 5,19 f.: „Den Geist dämpft nicht. Prophetische Rede verachtet

5.12 Der 1. Korintherbrief

237

Dabei geschieht eine Verwandlung393 in ein anderes Leben mit einem neuen, durch den göttlichen Geist „regierten“ Leib, der unsterblich sein und nicht mehr vergehen wird. Das Kapitel gipfelt in einer hymnischen Proklamation des Sieges über den Tod (vgl. Röm 8,37 ff.) mit einem Doppelzitat aus Jes 25,8 und Hos 13,14. 16,1–23 Briefschluss Im Schlussteil (16,1–18)394 ruft Paulus noch zur Sammlung für die Jerusalemer Gemeinde auf,395 informiert über Reisepläne und resümiert frühere Mahnungen zur Wachsamkeit im Glauben und zur Liebe (16,13 f.; vgl. Kap. 8; 13; 15). Das Postskript (16,19–24) enthält Grüße, die Aufforderung zum „heiligen Kuss“ untereinander (§ 5.7b) und eine durch das Bittgebet „Maranatha“ abgeschlossene apostolische Warnung (V.22), die zur Feier des Herrnmahls überleitet (vgl. 11,26; § 5.6.2.3c). 5.12.2

Die Frage der literarischen Integrität

Die thematische Zersplitterung des Briefs ruft Bedenken hinsichtlich seiner literarischen Einheitlichkeit hervor. Da schon ein Brief vorangegangen war (5,9), versuchte man in der Exegese oft, die beiden erhaltenen Briefe an die korinthische Gemeinde in mehrere Teile zu zerlegen und daraus verschiedene Stadien der Korintherkorrespondenz zu rekonstruieren.396 Beim 1. Korintherbrief wird von einer relativen Selbstständigkeit des 16. Kapitels, einigen Wiederholungen, zwei Gruppen in Korinth, die an verschiedenen Stellen genannt werden (16,17 und 1,11), und von dem in 5,9 erwähnten Vorbrief ausgegangen, dessen Text in verschiedenen Abschnitten der kanonischen Korintherbriefe gesucht wird. Dagegen wird die Einheitlichkeit von 1,10–4,21 allgemein anerkannt. Die ökumenische Erweiterung der Adresse in 1,2b an „alle, die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen an jedem Orte, ihrem und unserem“, die manche für einen Einschub halten,397 drückt möglicherweise schon die Tendenz aus, die Briefe nicht nur für eine einzelne „Gemeinde“, sondern für die ganze „Kirche“ (beides „ekklēsía“; § 5.4) geltend zu machen (vgl. die erweiterte Adresse in 2Kor 1,1b: „mit allen Christen in ganz Achaia“). Die Beweislast aller Teilungshypothesen liegt auf der Seite derer, die die Integrität bezweifeln. Die Teilungsvorschläge zum 1. Korintherbrief vermögen in ihrer Unterschiedlichkeit kaum zu überzeugen, da die angeblichen literarischen „Brüche“ sich gut durch die Verschie393

1Kor 15,51 f.; Phil 3,21; Röm 8,29; 2Kor 3,18. Fragen klingen an in 1Kor 16,1.12 (s. Anm. 378). 395 Vgl. Gal 2,10 (Apostelkonvent); 2Kor 8 f. (Kollektenaufruf); Röm 15,25–31. 396 W. Schenk, Der 1. Korintherbrief als Briefsammlung, ZNW 60 (1969), 219–243 (vgl. ders., Art. Korintherbriefe, TRE 19, 622–624), rekonstruierte vier Briefe aus dem Text des 1Kor; vgl. die Übersicht bei U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 80–83. 397 Nach A. v. Harnack, Die Briefsammlung des Apostels Paulus, Leipzig 1926, 9, galt diese Adresse dem ganzen Corpus Paulinum. 394

238

5 Die paulinischen Briefe

denheit der Einzelfragen erklären lassen, die Paulus beantworten musste.398 Beispielsweise wird das Problem der kultisch suspekten Speisen (brṓma, brṓsis) in 6,12–20 durch den Hinweis auf den Leib als Tempel des heiligen Geistes grundsätzlich gelöst und in Kap. 8 auf das konkrete Problem des Götzenopferfleischs bezogen. Die Speisethematik betrifft zwei Gruppen der Gemeinde und wird an unterschiedlichen Stellen erwähnt, weil es sich um verschiedene Fragen handelt. Nur der Gegensatz zwischen den Aussagen über die Teilnahme der Frauen am Gottesdienst (11,2–16 und 14,34 f.) kann nicht mit der literarischen Absicht des Apostels erklärt werden. Er kann mit großer Wahrscheinlichkeit durch die Annahme gelöst werden, dass 14,34 f. einen späteren Einschub darstellt. Ein schwerwiegendes Argument für diese Vermutung ist die unsichere Stellung der beiden Verse 14,34 f. in der handschriftlichen Überlieferung. Die sog. westliche Überlieferung (§ 4.3.2) verschiebt sie nach V.40 und verrät dadurch, dass man sich schon im Altertum ihrer Inkongruenz mit dem Kontext bewusst war.399 Die Hypothese, dass mehrere Einschübe vorliegen,400 lässt sich nicht verifizieren. Auch das Hohelied der Liebe in 1Kor 13401 scheint den Zusammenhang zwischen Kap. 12 und 14 zu unterbrechen. Außerdem ist das 13. Kapitel – für sich gelesen – nicht eindeutig als christlich zu identifizieren. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass an dieser Stelle ein älterer Text bearbeitet wurde. Seine Stellung im Kontext ist allerdings trotz der eben erwähnten Spannung gut erklärbar. 1Kor 13 fällt unter das Kriterium der „größeren Gaben“ (12,31).402 Der zweite Vers (13,2) entschärft das Jesuswort vom Berge versetzenden Glauben aus Mk 11,23 par. sowie Lk 17,6 Q. Er richtet sich wahrscheinlich gegen diejenigen, die mit Hilfe der Jesusworte aus der Bergpredigt403 ihre geistige Überlegenheit begründen wollten (§ 5.12.3).

Ergebnis: Solange nicht neue Argumente für eine Teilung vorliegen, ist davon auszugehen, dass der 1. Korintherbrief – bis auf die genannte Ausnahme vom Schweigen der Frauen in Gottesdienst (14,34 f.) – eine literarisch einheitliche Größe bildet.

398

Siehe Anm. 378; vgl. Ch. Wolff, ThHK 7, 6 f., und die dort genannte Literatur. Oft wird der Gegensatz zur paulinischen Maxime „hier ist nicht Mann noch Frau“ (Gal 3,28) erwähnt. Da es sich hier nicht um die Rettung oder Verwerfung vor Gott handelt, bleibt diese Parallele nur ein indirektes Argument. Theoretisch könnte der Satz „Ist denn das Wort von euch ausgegangen? Oder ist es nur zu euch gekommen?“ (1Kor 14,36) auch als ironische Umdeutung der Aussage von 14,34–35 interpretiert werden; vgl. R. W. Allison, Let Women Be Silent in the Churches (1Cor 14.33b–36), JSNT 32 (1988), 27–60. 40 0 Vgl. J. Murphy-O’Connor, Interpolations in I Corinthians, CBQ 48 (1986), 81–94. 401 Vgl. zu Kap. 13 Anm. 390 und insgesamt O. Wischmeyer, Der höchste Weg (StNT 13), Gütersloh 1981. 402 Vgl. Ch. Wolff, ThHK 7, 310 f.; W. Schrage, EKK VII,3, 276. 403 Vgl. auch die Frage: „Ihr seid schon satt geworden?“ (4,8) mit der Seligpreisung in Mt 5,6. 399

5.12 Der 1. Korintherbrief

5.12.3

239

Verfasser, Entstehungszeit und die Gemeinde in Korinth

Die Authentizität des Briefs ist unstrittig. Er stammt von Paulus. Als weiterer Absender wird Sosthenes (1,1) angeführt, der mit dem in Apg 18,17 genannten ehemaligen Synagogenvorsteher identisch sein könnte. Verfasst wurde der Brief in Ephesus (16,8). In 4,17–19 schreibt Paulus, dass er die Korinther bald besuchen wird, zunächst aber Timotheus schickt.404 Der Brief sollte seine Ankunft vorbereiten. Da der Apostel schon vorher nach Korinth geschrieben hatte (5,9), wurde dieser Brief wahrscheinlich während der zweiten Hälfte seines Aufenthaltes in Ephesus, aber vor dem Jahr 55 abgefasst (§ 5.8.2). Die Adressaten des Briefs sind die Christen in Korinth. Dort hatte Paulus eine christliche Gemeinde gegründet (Apg 18,1–22).405 Korinth (nicht Athen) war damals die Hauptstadt der Provinz Achaia, die seit 27 v. Chr. einen großen Teil des griechischen Kernlandes umfasste. Als Hafenstadt mit Zugang zu zwei Meeren wurde Korinth während der Römerzeit zu einem Zentrum nicht nur des Handels, sondern auch des religiösen Lebens. Dort befanden sich mehrere Heiligtümer unterschiedlicher Kulte, die aus dem Mittelmeerraum und dem Nahen Osten stammten (Poseidon, Dionysos, Asklepios, Isis und Serapis). Dazu ist auch der Aphrodite-Kult in Akrokorinth zu zählen, der mit kultischer Prostitution verbunden war. Eine spezifische Gruppe waren die Juden, unter denen Paulus nach Apg 18,4 seine Mission begonnen hat. Die Existenz einer Synagoge (Apg 18,4) ist archäologisch belegt. Zur christlichen Gemeinde gehörten – in sozialer Hinsicht typisch für das frühe Christentum406 – vor allem Angehörige der unteren sozialen Schichten mit Sklaven, Freigelassenen, Hafenarbeitern, Handwerkern.407 Es gab aber auch besser gestellte Mitglieder (1,26) wie den ehemaligen Synagogenvorsteher Krispus (Apg 18,8; 1Kor 1,14) und Hausbesitzer (11,22.34) wie Stephanas oder das Ehepaar Aquila und Priska (1,16; 16,15.19).408 Die Gemeindegröße lässt sich auf etwa 50–100 Personen schätzen. Denn einerseits legen die 17 in den paulinischen Briefen erwähnten Einzelpersonen in Korinth mit den Ehefrauen und den Angehörigen der Häuser von Krispus (Apg 18,8) und Stephanas (1Kor 1,16; 16,15 f.) die Zahl 50 als untere Grenze nahe. Andererseits dürfte die Gemeinde kaum mehr als 100 Personen umfassen, wenn sich im Haus des Gaius noch die „ganze Gemeinde“ zum Gottesdienst versammeln konnte (Röm 16,23; 1Kor 14,23). 404

So ist das „épempsa“ wohl zu verstehen. Vgl. die Selbstaussagen des Apostels in 1Kor 3,6: „ich habe gepflanzt“; 3,10: „den Grundstein gelegt“; 4,15: „euch durch das Evangelium gezeugt“. 406 Vgl. § 5.16.2 (Röm); § 6.1.5.3 (Q); § 6.4.5.4b (Lukas); Exkurs 11 (Haustafeln); § 8.4.2 (Pastoralbriefe); 8.8.2b (Jakobusbrief); vgl. G. Theißen, Jesusbewegung (Lit § 6.2.8). 407 1Kor 1,27 f.; 7,21 f.; 12,13; Apg 18,2 f. 408 Vgl. auch die Hinweise in dem von Korinth aus geschriebenen Römerbrief (§ 5.16.3) auf den Stadtkämmerer Erastus und Gaius als Gastgeber „der ganzen Gemeinde“ (Röm 16,23). 405

240

5 Die paulinischen Briefe

Paulus verzichtete in Korinth auf die Unterstützung durch die dortigen Christen und verdiente seinen Lebensunterhalt mit seinem Handwerk als Zeltmacher.409 Später lebte er von der Unterstützung, die er aus Makedonien (Philippi) erhielt (2Kor 11,8 f.). Die Gründe können nur vermutet werden. Ohne Zweifel war die hohe Anzahl armer Gemeindeglieder in Korinth bedeutsam (1Kor 1,26; 11,21 f.). Im 2. Korintherbrief wollte sich Paulus durch die Nichtinanspruchnahme seines apostolischen Unterhaltsrechts von den „falschen Aposteln“ unterscheiden, die nach Abfassung des 1. Korintherbriefs nach Korinth gekommen waren (§ 5.13) und sich von der Gemeinde versorgen ließen (2Kor 11,13.20; vgl. 2,17). In Korinth hatte Paulus sowohl Juden als auch Heiden missioniert (Apg 18,4; 1Kor 1,24; 12,13). Die dortige christliche Gemeinde bestand überwiegend aus bekehrten Heiden, wie der Rückblick auf die heidnische Vergangenheit (12,2), die Probleme mit den Prozessen vor heidnischen Richtern (6,1–11), mit der (sakralen) Prostitution (6,12–20) und mit der Teilnahme an Götteropfermahlzeiten (8,1–11,1) verraten. Es gehörten aber auch Judenchristen zu ihr, wie außer einigen Andeutungen (7,18: „Beschnittener“; 9,20: „den Juden ein Jude“) auch die Petrusgruppe (1,12), die „Gottesfürchtigen“, die mit der jüdischen Religion sympathisierten (Apg 18,7; § 6.4.5.2a), der bekehrte Synagogenvorsteher Krispus (Apg 18,8; 1Kor 1,14) oder das Ehepaar Aquila und Priska (1Kor 16,19; Apg 18,2: Priszilla) zeigen, das aufgrund des Judenedikts von Kaiser Claudius 49 n. Chr. nach Korinth gekommen war (§ 5.8.1). Nach Apg 18,12–17 klagten die Juden Paulus an, aber der Prokonsul Gallio (Bruder des Philosophen Seneca; § 5.8.1) lehnte es ab, ihre Anklage zu behandeln, weil sie ihm als innerreligiöse Streitigkeit belanglos erschien. Er griff nicht einmal ein, als das offensichtlich antijüdisch eingestellte Volk den Synagogenvorsteher vor seinem Richterstuhl verprügelte. Zum Wachstum der korinthischen christlichen Gemeinde trug nach Aussage des Paulus Apollos bei (1Kor 3,5 f.), der Apg 18,24 ff. zufolge erst nach Paulus in Korinth eingetroffen ist (vgl. 1Kor 3,6). Er war ein philosophisch gebildeter und rhetorisch begabter Jude aus Alexandrien und kannte Johannes den Täufer. Später berief sich eine der streitenden Parteien auf ihn.410 Damit sollte offensichtlich Druck auf Paulus ausgeübt werden (1Kor 1,12). 5.12.4 Gruppierungen in der korinthischen Gemeinde Mit der Zeit gab es in der korinthischen Gemeinde mehrere christliche „Parteien“. In 1Kor 1,12 erwähnt Paulus vier Gruppen, in 3,4 zwei und in 3,22 drei. Am stärksten

409 Vgl. Apg 18,3; 20,34 f. und 1Kor 4,12; 9,1.4–18; 2Kor 11,7–11.20 f.; 12,13 f.; 1Thess 2,9 sowie zum Unterhaltsrecht Lk 10,7 f.; 1Tim 5,18 (Exkurs 12). 410 1Kor 1,12; 3,4–6.22; 4,6; 16,12.

5.12 Der 1. Korintherbrief

241

war die Spannung zwischen den Anhängern von Paulus411 und Apollos (3,4–6; 4,6). Der Name des Apollos wird am häufigsten genannt (s. Anm. 410) und lässt darauf schließen, dass Paulus dessen Anhängerschaft für die einflussreichste Gruppierung in der korinthischen Gemeinde hielt. Die rhetorisch-philosophische Bildung des Apollos (Apg 18,24) passt zu den glänzenden Reden und der vermeintlich hohen Weisheit, die Paulus ablehnt (1,17; 2,1.4.13). Als falsche Weisheit kritisiert der Apostel eine theologische Erkenntnis, die zwar teilweise von richtigen Einsichten ausgehen mag, in ihren Konsequenzen aber die Weisheit Gottes in der Botschaft vom Gekreuzigten zu wenig bedenkt. Wegen der wiederholten Bezugnahme auf die Weisheit gilt die Apollosgruppe meist als Hauptadressat des ersten Briefteils (1,10–4,21). Vielleicht gehören zu ihr auch die „Starken“ (Kap. 8–10) wegen der Erkenntnis, die aufbläht, wie im Blick auf die Apollosgruppe (4,6) und zur Eröffnung der Götzenopferthematik erklärt wird (8,1), und wegen des Gegensatzes „schwach / stark“, der in diesen beiden Briefteilen (1–4 und 8 f.) gehäuft vorkommt.412 Da Weisheit und Erkenntnis als besondere Gaben des Geistes geschätzt werden (2,6–16; 12,8; vgl. 1,5.7), ergeben sich auch Verbindungen zu den Pneumatikern in Kap. 12–14 (s.u.). Außerdem verrät nach der Erwähnung des Apollos in 4,6 die übersteigert präsentische Eschatologie in 4,8 (2-mal: ḗdē = schon jetzt) eine Nähe zu den Leugnern der Auferstehung in Kap. 15 (s.u.). Eine Animosität scheint zwischen Paulus und Apollos aber noch nicht bestanden, sondern sich erst ohne deren Zutun zwischen den Anhängern entwickelt zu haben. Paulus hielt Apollos nicht für seinen Gegner, sondern schätzte ihn als einen Diener und Mitarbeiter Gottes, der die Arbeit des Apostels weiterführt.413 Weniger bedeutsam war dagegen die Petrusgruppe (1,12; 3,22), die sonst in Korinth nicht weiter hervortritt. Paulus spricht zwar von den Reisen des Petrus mit seiner Ehefrau (9,5). Von einem Aufenthalt des Petrus in Korinth ist aber nichts bekannt.414 Bei den Petrusleuten dürfte es sich um Personen handeln, die die Autorität des Petrus schätzen, vielleicht auch aus dem Missionsgebiet des Petrus (Kephas), d. h. aus Syrien, nach Korinth gekommen sind. Dies muss nach der Aufteilung der Missionsbereiche auf dem Apostelkonvent (48 n. Chr.) und nach dem Antiochienaufenthalt des Petrus geschehen sein (Gal 2,7–9.11–14). Unklar bleibt die Aussage über die vierte Gruppe, die sagt: „Ich (gehöre) zu Christus“ (1Kor 1,12). Theoretisch könnte eine „Christuspartei“ rekonstruiert werden 411

1Kor 1,12; 3,4–6.22. 1Kor 1,26 f.; 4,10; 8,7–13 (5-mal); 9,22 (3-mal); vgl. V. Gäckle, Die Starken (s. Anm. 384), 200–205.216 f.451 f. 413 1Kor 16,12; vgl. 3,5 f.9; 4,1.6. 414 Vgl. anders M. Hengel, Der unterschätzte Petrus, Tübingen 2006, 106–118.149–151, der die seltenere Erwähnung des Petrus mit den Spannungen nach dem antiochenischen Konflikt (Gal 2,11–14) erklärt und die Gegner im 2. Korintherbrief (§ 5.13) für Abgesandte der Petrusmission hält. 412

242

5 Die paulinischen Briefe

(vielleicht eine protognostische Gruppe).415 Doch wird diese These kaum mehr vertreten.416 Vielleicht hat Paulus selber dieses Schlagwort eingebracht, um die Gruppenbildung ad absurdum zu führen.417 Da Paulus in 1Kor 1,13 fragt: „Seid ihr auf den Namen des Paulus getauft?“, könnten die Korinther die Taufe als ein magisches Geschehen begriffen haben, in dem sie durch den taufenden Missionar den heiligen Geist empfangen (vgl. 1,14– 16).418 Daher wird auch verständlich, dass Paulus im 1. Korintherbrief immer wieder auf die Bedeutung der Taufe zu sprechen kommt.419 Die Entstehung der Parteien innerhalb der korinthischen Gemeinde lässt sich dann so erklären, dass die Beziehung zum Täufer verabsolutiert wurde gegenüber dem Heil, das in der Taufe (§ 5.6.2.2) gewährt wird, in der Proexistenz Christi („für euch“; 1,13) begründet liegt und alle Gläubigen „in Christus“ verbindet. Wenn nun noch weitere Personenkreise genannt werden, so dürfen diese – schon angesichts der Gemeindegröße (s. Anm. 408) – nicht einfach zu den bisherigen Gruppierungen addiert werden, von denen explizit allein im ersten Briefteil die Rede ist (1,12; 3,4.22). Denn nach der allgemeinen Situationsanalyse und theologischen Grundlegung behandelt Paulus in den späteren Kapiteln nicht weitere Parteien, sondern unterschiedliche Positionen, die zu Spaltungen geführt haben und sich in mancherlei Hinsicht mit den eingangs dargelegten Auffassungen der Apollosgruppe berühren (s. Anm. 413). Die Atmosphäre der Hafenstadt, die durch mehrere hellenistische Kulte mit ekstatischen Zügen geprägt war, beeinflusste auch eine beträchtliche Anzahl von Christen, die vom Wirken des Geistes erfüllt waren und als Pneumatiker bezeichnet werden. In ihrer Frömmigkeit gab es die Tendenz, die Erfahrung des Heils in ekstatischen Erlebnissen des Geistes wie Glossolalie (s. Anm. 391), in besonderen Offenbarungen der Weisheit und Erkenntnis sowie in Wunderheilungen (12,8–10.28–30) zu sehen. Für das verstärkte Interesse an solchen Phänomenen gibt es unterschiedliche Erklärungsversuche: Die pneumatischen Erfahrungen erinnern manche Exe-

415

Vgl. W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, 188.191. Einige Exegeten wie z. B. schon Johannes Chrysostomus (349–407 n. Chr.) halten diesen Vers für eine paulinische (oder spätere) Glosse (vgl. 3,23), da über diese Gruppierung sonst keine Information vorliegt. Die Überlieferung der Handschriften bietet jedoch keinen Anhaltspunkt für eine solche Hypothese. 417 So vor allem W. Schrage, EKK VII/1, 148. 418 F. W. Horn, Das Angeld des Geistes (FRLANT 154), Göttingen 1992, 248, vertritt die Herkunft des korinthischen Enthusiasmus aus dem Verständnis der Taufe als Ort der Geistverleihung, in der der Geist substanzhaft übermittelt und der Täufling dadurch zum Pneumatiker gemacht wird. 419 Vgl. 1Kor 1,13 f.30; 6,11; 10,1 f.; 12,13; 15,29 (§ 5.6.2.2d). 416

5.12 Der 1. Korintherbrief

243

geten an die spiritualistischen Züge späterer gnostischer Gruppen.420 Da einige Korinther die Weisheit als besondere Gabe des Geistes geschätzt haben (2,6–14; 12,8; vgl. 1,5.7), vermuten andere Ausleger eher eine hellenistisch-jüdische Weisheitslehre als Hintergrund,421 die Apollos aus Alexandrien mitgebracht haben könnte (s. Anm. 410). Nur durch den Einfluss des jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandrien (ca. 20/10 v. Chr.–45 n. Chr.) sind solche Züge aber nicht zu erklären, denn in Alexandrien lösten ähnliche Tendenzen422 keine spiritualistische Bewegung aus.423 Jedenfalls ist in Korinth mit unterschiedlichen Einflüssen aus der jüdischhellenistischen Theologie sowie aus den religiösen und philosophischen Vorstellungen der Umwelt zu rechnen. Nach seiner Kritik am Überlegenheitsgefühl der Pneumatiker in Kap. 12–14 lässt Paulus den Brief im heutigen Kap. 15 als Höhepunkt kulminieren. Bei den Bestreitern der Auferstehung der Menschen (15,12) könnte es sich theoretisch um Ultraapokalyptiker handeln, die ähnlich wie die erste Generation der Christen in Thessalonich unmittelbar das Gericht Gottes und die Ankunft des neuen Äons erwarteten (1Thess 4,13–18; § 5.10.2–3).424 Im Zusammenhang mit der paulinischen Argumentation im 1. Korintherbrief ist eine solche Auslegung jedoch kaum haltbar. In 1Kor 4,6–13 ist – nach dem Hinweis auf die Apollosgruppe (V.6 f.) – von korinthischen Christen die Rede, die sich bereits für reich, klug und satt hielten (V.8). Aufgrund eines allzu einseitigen Verständnisses der Sakramente setzten sie voraus, sie befänden sich durch den Empfang der Taufe und die Teilnahme am Herrnmahl425 tatsächlich schon als Mitregenten Christi im Reich Gottes („symbasileúein“) und dürften die anderen richten. Sie meinten, sie besäßen die Weisheit (1,22 ff.)426 und seien besser als die anderen,427 da sie sich um die geistigen Gaben bemühen (14,12; vgl. 1,7; 12 – 14). Daraus resultierte nicht nur ihre – sei es libertinistische oder asketische (Kap. 5 f.7) – Abwertung des Leibes als einer irdisch-vergänglichen Größe, wie schon in der griechischen Tradition der Leib als Gefängnis oder Grab der Seele verachtet wurde. Aus derselben Haltung heraus waren sie auch der Meinung, die Überwindung des Todes erfolge nicht erst bei der Parusie Christi, sondern sei schon mit der Geistverleihung durch die Taufe geschehen. 420

W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, 158 u. a., spricht von der Gnosis. Historisch ist dies nicht nachweisbar, vgl. die Kritik von Ch. Markschies, Art. Gnosis, RGG4 3, 1048. 421 Ch. Wolff, ThHK 7, 9 f. 422 Hervorgehoben bei G. Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten (FRLANT 138), Göttingen 1986, 67 ff. 423 Philo selbst war gegen die Dualisten (migr. I,450). 424 Vgl. B. Spörlein, Die Leugnung der Auferstehung, Regensburg 1971, 191 ff. 425 Vgl. 1Kor 1,13 ff.; 10 f.; 12,13; 15,29 (§ 5.6.2.2–3). 426 „Sophía“ und „sophós“ sind im 1. Korintherbrief häufig verwendete Worte (1Kor 1,17 – 2,16; 3,18–20; 12,8). 427 Vgl. „physioún“ (aufgeblasen sein) in 1Kor 4,6.18 f.; 5,2; 8,1; 13,4.

244

5 Die paulinischen Briefe

Ein solches Selbstbewusstsein wurde später in 2Tim 2,18 kritisiert durch die Warnung vor Häretikern, die behaupten, die Auferstehung sei schon geschehen. Justin berichtet über Christen (Gnostiker), die zu Beginn des 2. Jh.s sagten, dass sie bereits mit Gott verbunden seien und dass ihre Seele nach dem Tode nur den Leib verlassen und direkt in den Himmel kommen werde (Iust. dial. 80; um 160 n. Chr.). Für den Gnostiker Kerinth war es die Taufe, die jenen Zugang in die Unsterblichkeit eröffnet (Iren. haer. 1,23,5). Später sind solche Vorstellungen häufiger bezeugt (EvPhil, NHC II,3 56,15–20). Auch innerhalb der paulinischen Schule ist in Eph 2,6 zu lesen, dass Gott die Christen „mit auferweckt“ hat in Jesus Christus (§ 8.2.5; vgl. auch Joh 5,24; § 7.1.5.2b).

Darüber hinaus klingt im 1. Korintherbrief bereits die Abwehr einer Polemik gegen den paulinischen Apostolat an, die ihm rhetorische Defizite und seine Schwachheit zum Vorwurf macht (2,1–5; 4,6–13), mit der Berufungsvision und dem Unterhaltsrecht (s. Anm. 409) auch seine Legitimität in Frage stellt (9,1–3) und von den Gegnern des Paulus im 2. Korintherbrief drastisch verschärft wird. Anders als bei den Widersachern in Galatien wird von ihnen nicht gesagt, dass sie die Beschneidung der Heidenchristen forderten. Die bunte Front der Opponenten des Völkerapostels war offensichtlich vielfältiger, als es die kanonische Geltung der Paulusbriefe in den späteren Jahrhunderten nahelegt.428 Aber was die Widersacher über alle Unterschiede hinweg verband, waren Vorbehalte gegen die Person des Apostels. Die nach Meinung des Paulus falschen Apostel (2Kor 11,13) setzten in der korinthischen Gemeinde ihr Recht auf materielle Unterstützung durch,429 das sie mit ihrer apostolischen Würde begründeten.430 Wie sie ihren Apostolat verstanden, wissen wir nicht, und ebenso wenig, um welchen Personenkreis es sich dabei handelte. Es ist möglich, dass sie zur ersten Generation der Zeugen Christi gehörten (1Kor 15,7). Sie könnten aber auch im Auftrag der Jerusalemer Apostel gearbeitet (s. Anm. 414) oder ihren Anspruch auf eine spezifische geistige Erfahrung und Wundertätigkeit gestützt haben.431 Jedenfalls ist gut vorstellbar, dass die durch Paulus kritisierten enthusiastischen Christen von diesen Aposteln beeinflusst waren. Und selbst wenn es nicht so war, könnten die gegnerischen Apostel die Spannung zwischen Paulus und den enthusiastischen Christen zur Schwächung seiner Position ausgenutzt haben. 5.12.5

Kreuzestheologie, Leib Christi, Auferstehungshoffnung

Die Missstände in der korinthischen Gemeinde, die Angriffe auf den Apostolat des Paulus und die Leugnung der Auferstehung bilden den Hintergrund, vor dem der 428

Vgl. G. Sellin, Hauptprobleme, 3011 ff.; U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 85 f. 1Kor 9,12; vgl. 2Kor 2,17; 11,20. 430 2Kor 11,5.13; 12,11; nach P. Marshall, Enmity in Corinth, wurde die Spannung zwischen Paulus und den Korinthern durch soziale Probleme verursacht. 431 Vgl. 2Kor 12,12 f. (Exkurs 6c Ende). 429

5.12 Der 1. Korintherbrief

245

Apostel seine Argumentation entfaltet. Selbst wenn der 1. Korintherbrief eine Komposition aus mehreren Briefen wäre, würde das 15. Kapitel den Gipfel der theologischen Aussagen bilden, die einen großen Bogen von der Kreuzestheologie (1,18– 2,5) zur Auferstehungshoffnung (Kap. 15) schlagen und innerhalb dieses Rahmens (Inclusio) alle anstehenden Fragen behandeln. a) Die Pistisformel als gemeinsame Grundlage: Der Apostel zitiert in 1Kor 15,3b–5 das Evangelium, dass Jesus für die Sünden der Menschen gestorben und am dritten Tag auferstanden ist nach den Schriften (dem Alten Testament), wie er es den Korinthern verkündigt und in der Pistisformel selber schon aus einer älteren – vermutlich Jerusalemer – Bekenntnisüberlieferung übernommen hat (§ 5.6.2.1). Das 15. Kapitel bietet eine Entfaltung dieser Botschaft von Christus, die bereits im Briefeingang als „Wort vom Kreuz“ vorgestellt wurde (1,2.6.17 f.; s. Anm. 451 ff.). Zunächst erwähnt Paulus mit Kephas (Petrus), den Zwölf, den 500 Brüdern, Jakobus und allen Aposteln mehrere bedeutende Erstzeugen (15,5–9), die die Glaubensformel als geeignete Formulierung der Ostererfahrung weitergegeben haben, dass Jesus lebt und ihnen in einer visionären Erscheinung begegnet ist (15,11). Damit konnte Paulus als Gegenstück zur Aufzählung der streitenden Parteien in Kap. 1 demonstrieren, dass die Gruppenbildung in Korinth der gemeinsamen Ausgangsbasis widerspricht. Die Parteiungen stellen nicht nur seine Autorität als Apostel, sondern die Grundlage des Glaubens selber in Frage. Wenn Paulus sich als den „letzten von allen“ Erstzeugen (éschaton pántōn; 15,8) und als „Fehlgeburt“432 bezeichnet, wählt er einen Ausdruck der Bescheidenheit. Eine Fehlgeburt setzt vorzeitig ein, doch Paulus ist der letzte Empfänger einer direkten Offenbarung des Auferstandenen, sodass er eigentlich von einer Spätgeburt reden müsste. Gerade nach seiner Kritik am Enthusiasmus der Korinther möchte der Apostel es aber vermeiden, seine Offenbarungserlebnisse in den Vordergrund zu stellen. Dennoch reiht er sich unter die ersten Zeugen ein, weil zuletzt auch ihm mit der Offenbarung des Auferstandenen der apostolische Auftrag zuteil wurde (vgl. Gal 1,15 f.; § 5.8.2). Deshalb gehört auch er zu den hier genannten Erstzeugen, die offensichtlich eine Föderation aus verschiedenen Gruppen der Anhänger Jesu darstellten und durch das gemeinsame Bekenntnis, die überlieferte Glaubensformel in 15,3b–5, miteinander verbunden waren. Sie bildeten den Kern der Kirche als einer religiösen Weltbewegung. In den Korintherbriefen hat diese Aufzählung der Zeugen die Funktion, allen Spaltungen gegenüber die Einheit der Kirche anschaulich vor Augen zu halten. Sie baut auf der Konvergenz der Glaubensaussagen einiger wichtiger Erstzeugen auf: „Ob nun ich (es bin) oder jene, so verkündigen wir (alle), und so habt ihr geglaubt“ (15,11).

432

Vielleicht handelt es sich um ein Schimpfwort, das seine Gegner benutzten.

246

5 Die paulinischen Briefe

b) Geistesgaben und Leib Christi: Dass der auferstandene Christus Paulus als „letztem von allen“ (15,8) erschien, impliziert eine deutliche Ablehnung der Ansprüche der Gegner, die in der Glossolalie (s. Anm. 391) eine Quelle neuerer, höherer Offenbarungen durch den auferstandenen Christus sahen und sich dadurch anderen in der Gemeinde überlegen fühlten. Paulus weist dieses religiöse Überlegenheitsbewusstsein in 1Kor 12–14 als unberechtigt zurück433 und bringt in 15,5–8 die Reihe der Offenbarungsempfänger mit sich selbst als dem letzten Erstzeugen zum Abschluss. Denn seiner Überzeugung nach ist die Glossolalie bloß eine von den vielen Geistesgaben, die ihre Entstehung allesamt demselben göttlichen Geist verdanken (12,4–11; vgl. 1Thess 5,19–22). Der Geist Gottes wirkt nur im Zusammenspiel seiner Gaben, die sich in der christlichen Gemeinde zum Nutzen und zur Erbauung aller ergänzen wie die unterschiedlichen Glieder des Körpers (1Kor 12,4–31). Von zentraler Bedeutung für die paulinische Ekklesiologie (vgl. § 5.4) ist das Bild vom Leib434 (1Kor 12,12–27; vgl. Röm 12,3–8), das in der Antike als Metapher weit verbreitet war. Ein bekanntes Beispiel ist die Fabel vom Aufstand der Glieder gegen den Bauch, mit der Menenius Agrippa die ausgezogenen Römer 494 v. Chr. zur Rückkehr in die Stadt bewogen haben soll (Livius, Ab urbe condita II,32 f.). Paulus geht es beim Gebrauch dieser Metapher nicht nur um ein anschauliches Bild für die Gemeinde, sondern um den Leib Christi (1Kor 10,16; 11,27). Dieser wird im Unterschied zum Organismusgedanken435 nicht durch den menschlichen Zusammenschluss und das Selbstverständnis seiner (Mit-)Glieder konstituiert, sondern Ausgangspunkt der paulinischen Überlegungen ist Christus als „Herr“ (1Kor 12,3; § 5.6.3.1), zu dem sich die Gemeinde bekennt. Der Kyrios schenkt nicht nur die Vielfalt der Geistesgaben (12,5), er begründet auch die Einheit des Leibes über alle kulturellen und sozialen Unterschiede zwischen Juden und Griechen oder Sklaven und Freien hinweg.436 Das Bekenntnis zum Herrn (12,3) und die Taufe (12,13) sind diejenigen Gaben, durch die der Geist das Christsein erst in der Gemeinde verwirklicht. Durch die Taufe (§ 5.6.2.2) werden die Glaubenden zu Gliedern dieses Leibes (12,12 f.; vgl. Gal 3,27 f.). Ihre Zugehörigkeit zum Leib Christi erfahren sie jedes Mal neu in der Teilnahme am Herrnmahl, das eine Einheit stiftende Funktion hat und das eschatologische Mahl vorwegnimmt.437 Der Gottesdienst (§ 5.3) ist der primäre Ort der „Erbauung“ (oikodomḗ).438 In allen seinen Teilen soll er dem inneren und äußeren „Aufbau“ der 433 Vgl. zu den Geistesgaben U. Heckel, Paulus und die Charismatiker, ThBeitr 23 (1992), 117–138. 434 Vgl. J. Roloff, Kirche (Lit. § 6.2.8), 100–110; Ch. Wolff, ThHK 7, 301–305. 435 Auch heute wird die Leibmetaphorik ganz unterschiedlich gebraucht im gesellschaftlich-politischen Bereich, für Organisationen, in der Ökumene, der Ortsgemeinde oder im Blick auf die aktive Mitarbeiterschaft. 436 1Kor 12,13; vgl. Gal 3,27 f. (§ 5.11.4b). 437 1Kor 10,16 f.; vgl. 11,17–33; Mk 14,24 (§ 5.6.2.3). 438 Zur Wortfamilie als ekklesiologisch bedeutsamem Begriff vgl. 1Kor 3,9; 8,1.10; 10,23;

5.12 Der 1. Korintherbrief

247

Gemeinde dienen (14,5 f.12) nach dem Grundsatz: „Alles geschehe zur Auferbauung!“439 Der Nutzen für die Gemeinschaft ist – zusammen mit der Liebe440 – das theologisch entscheidende Kriterium zur Beurteilung der einzelnen Geistesgaben. In Umkehrung der in Korinth verbreiteten Wertskala sind deshalb die prophetische Rede und alle anderen Charismen der Wortverkündigung (vgl. die Ämter in 12,28),441 die Verständlichkeit des Gebets (14,13–19) und die Eindeutigkeit des Christusbekenntnisses in den Hymnen (§ 5.6.2.4) höher zu schätzen als die Glossolalie, die erst der Übersetzung bedarf, um für die Gemeinschaft nützlich zu sein. c) Das Reich Gottes und die Auferstehung: Die Auseinandersetzung um das Kommen der göttlichen Herrschaft (15,20–28) und der Hinweis auf das Jüngste Gericht (3,13b) erklären auch die Warnung vor dem vorzeitigen Richten (4,1–13). Paulus rechnet mit der endgültigen Überwindung des Todes als des letzten Feindes erst am Ende dieses Äons (15,26). Die Aussage, dass Gott zuletzt „alles in allem“ sein wird, ist nicht pantheistisch zu verstehen, sondern eine Umschreibung für die abschließende Vollendung der göttlichen Weltherrschaft (basileía) – einer der wenigen Belege dieses Zentralbegriffs der Verkündigung Jesu außerhalb der Synoptiker.442 Das Verb „hypotássein“ (sich unterordnen), das in 15,27–28 sechsmal verwendet wird, gehört zur sozialen Begrifflichkeit (vgl. 14,32; Röm 13,1) und bezieht sich auf die von Gott gewollte vollkommene Gemeinschaft am Ende der Geschichte. Die Aussagen, mit denen Paulus die ältere Verkündigung vom Reich Gottes neu interpretiert (1Kor 15,20–28), enthalten zugleich ein Modell für das Leben der christlichen Gemeinde, in deren Existenz und Gemeinschaft mit Gott die Verheißung für die Endzeit zeichenhaft vorweggenommen ist. Andererseits betont der Apostel gegenüber allem übersteigerten Enthusiasmus in Korinth den eschatologischen Vorbehalt, dass die endgültige Unterwerfung aller lebensfeindlichen widergöttlichen Mächte erst bei der Parusie erfolgen wird, also immer noch aussteht.

14,3–5.12.17.26; 2Kor 10,8; 12,19; 13,10; 1Thess 5,11; Röm 14,19; 15,2; Bildspender ist der Tempel als Haus Gottes (1Kor 3,16 f.; vgl. 6,19); vgl. J. Roloff, Kirche (Lit. § 6.2.8), 110–117. 439 1Kor 14,26; vgl. 10,23; Röm 14,19. Durch Ph. J. Spener (1635–1705) wurde die „Erbauung“ im Pietismus zu einem programmatischen Schlüsselbegriff für die geistliche Stärkung der Gläubigen, der durch den inflationären Gebrauch jedoch vielfach entleert oder allzu individualistisch auf die Pflege des religiösen Innenlebens verengt wurde. Wenn stattdessen heute eher vom „Gemeindeaufbau“ gesprochen wird, so ist auch dieser Ausdruck nicht ganz unproblematisch, da er zu wenig deutlich macht, wer hier eigentlich wen aufbaut. 440 1Kor 13,1–13; 16,14; 8,1 ff. 441 Vgl. U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik (Lit. § 7.1), 60.69–71. 442 Bei Paulus nur 7-mal (vgl. 1Thess 2,12; 1Kor 4,20; Röm 14,17, aber auch das Erben der Gottesherrschaft in 1Kor 6,9 f.; 15,50; Gal 5,21, das vom Motiv der Landverheißung geprägt ist; vgl. Gen 15,7; Apg 7,5).

248

5 Die paulinischen Briefe

Den Enthusiasten in Korinth hält Paulus die Auferstehung als „leibliche“ Wirklichkeit entgegen,443 selbst wenn ein „geistiger“ Leib auferstehen wird (15,44). Nun geht es um den Leib im Sinne des menschlichen Körpers. Der Leib ist für Paulus nicht wie in der griechischen Anthropologie ein Bestandteil neben der Seele oder neben dem Geist, sondern ein umfassender Ausdruck für die ganze Person. Die Überwindung des Todes und das neue Leben in der Gottesherrschaft (15,22–28) kann Paulus sich nur in leiblicher Form vorstellen,444 die auch Jesus bei der Frage nach der Auferstehung der Toten beschreibt: „wie die Engel im Himmel“ bzw. „engelgleich“ (Mk 12,25 par. Lk 20,36). Die Auferstehung bewirkt nicht die Befreiung der Seele vom Körper, wie es der griechischen Tradition entsprochen hätte, sondern ergibt durch einen schöpferischen Akt Gottes die radikale Metamorphose des irdischen Körpers. Durch die Leiblichkeit wird die Kontinuität zwischen der irdischen und der himmlischen Existenzweise gewahrt. Der Leib wird nicht von der Seele wie ein Kleid abgestreift, sondern der ganze Mensch wird in eine völlig neue eschatologische Wirklichkeit transformiert.445 Wer auferstanden ist, steht nicht nackt da, sondern bekommt das Kleid der Herrlichkeit als himmlisches Gewand übergezogen und damit Anteil an der Unverweslichkeit und Unsterblichkeit des ewigen Lebens (15,53 f.).446 Der Wechsel des Gewands verändert die Person: man „ist“, was man „trägt“ (15,49). Die Leiblichkeit ist ein unverzichtbarer Wesenszug jedes Lebens, auch nach der Auferstehung. Ohne Leib kann kein Mensch existieren, gibt es weder ein irdisches noch ein himmlisches Dasein (Phil 3,21). Oder mit der bekannten Formulierung von Rudolf Bultmann ausgedrückt: „der Mensch hat nicht ein sṓma, sondern er ist sṓma.“447 Wenn Paulus den Auferstehungsleib als „geistig“ charakterisiert, impliziert er nicht den Gegensatz zur Sphäre des Materiellen, sondern zur Macht der Sünde (15,17.34.56). Der neue Leib zeichnet sich durch eine total veränderte pneumatische Existenz aus. Sein ganzes Wesen und Handeln ist – statt fleischlich, d. h. sündig, zu sein (15,56; Röm 7,5.7–25; § 5.16.5b) – durch und durch vom Geist, d. h. der Kraft und dem Willen Gottes, beherrscht (wie bei den Engeln). Im Blick auf die paulinische Anthropologie können wir festhalten: Der Apostel vertritt eine ganzheitliche Sicht des Menschen. Auch die trichotomisch klingende Rede von Leib, Seele und Geist (1Thess 5,23) meint nicht drei Bestandteile des Men443 Nach Ch. Wolff, ThHK 7, 349 ff., will Paulus in Kap. 15 die Leiblichkeit der Auferstehung deutlich machen. 444 Vgl. den instruktiven Aufsatz von Ch. Burchard, 1 Korinther 15,39–41, ZNW 75 (1984), 233–258. 445 1Kor 15,51 ff.; Phil 3,21; Röm 8,29; 2Kor 3,18; vgl. F. Back, Verwandlung durch Offenbarung bei Paulus (WUNT II/153), Tübingen 2002, 160–198. 446 Zur Nacktheit s. § 5.13.3.1b zu 2Kor 5,3 f.; vgl. F. Lang, NTD 7, 284–293 (bes. zu 2Kor 5), und insgesamt M. Hengel, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 359–382. 447 R. Bultmann, Theologie (Lit. § 1), 195.

5.12 Der 1. Korintherbrief

249

schen, sondern drei Dimensionen des Menschseins, nämlich den „Leib“ (sṓma) als Ausdruck für die Identität der Person in ihrer Geschöpflichkeit und Christuszugehörigkeit (1Kor 6,12 ff.), die „Seele“ (psychḗ) als Ausdruck für den von Gott eingehauchten Lebensatem, d. h. die Vitalität, das Leben (vgl. Gen 2,7 LXX in 1Kor 15,45), und den „Geist“ (pneū́ma) als Ausdruck für das Bestimmtsein durch den Geist als einer Macht Gottes (Röm 8,1 ff.; § 5.16.5b). In der Auferstehung wird nicht die Seele vom Körper befreit, sondern die irdisch-leibliche Existenz des Menschen in eine neue geistige Wirklichkeit verwandelt. Enthusiastischen Tendenzen gegenüber betont Paulus den eschatologischen Vorbehalt, dass die Vollendung des Lebens noch aussteht und erst bei der Parusie Christi kommen wird. Die Leiblichkeit betrifft nicht nur das Verhältnis zum eigenen Körper, sondern auch die Beziehung zu anderen Personen: d) Das Zusammenleben und die Ordnung der Gemeinde: Die Leiblichkeit ist für Paulus deswegen so bedeutend, weil das ewige Leben sich nach dem Tod in der „basileía“, d. h. dem „Reich“, der „Herrschaft“ Christi, vollzieht (15,24). Es geschieht wirklich in einer Gemeinschaft und schließt soziale Beziehungen ein (15,24 ff.). Der „Leib“ steht nicht nur für das Personsein des Menschen, der ein Verhältnis zu seinem eigenen Körper und zu sich selbst hat,448 sondern ist auch Träger der Kommunikation mit anderen Menschen. Augen, Ohren (12,14 ff.), das Gesicht, die Stimme (13,1.12), die Berührung – sie alle sind nicht nur Zeichen der persönlichen Identität, sondern auch Mittler des sozialen Lebens in allen Bereichen. Diese gemeinschaftliche Dimension des neuen Lebens unterschätzten die Enthusiasten in Korinth. Paulus sah darin nicht nur die Wurzel der Parteienbildung, sondern auch eine Gefahr für die Spaltungen, die zu den Problemen bei der Feier des Herrnmahls führten (11,17–22). Die Leiblichkeit hat auch eine ekklesiale Dimension. Deshalb betont der Apostel den Gemeinschaftscharakter und die Einheit der Gemeinde als „Leib Christi“ mit vielen Gliedern (10,16 f.; 12,12 ff.; § 5.6.2.3e Ende). Darum geht es Paulus bei dem Streit vor heidnischen Gerichten (6,1–11) und bei dem Inzestfall (5,1–13) auch um Entscheidungen, die die innere Ordnung der Gemeinde und ihre Sendung in die Welt betreffen. Der Apostel kommt auf dieses Problem zu sprechen bei der Kritik an den Gegnern, die vorzeitig über das Heil oder Unheil der Menschen richten (4,5a). Außerdem erklärt er, dass die letzte Entscheidung über das ewige Heil nur Gott selbst zusteht (4,5b; 5,13). Vor diesem Hintergrund muss die christliche Gemeinde weise Menschen finden, die die Rechtssachen zwischen Gemeindegliedern entscheiden, damit die Christen ihre Streitigkeiten nicht vor einem weltlichen Gericht austragen müssen. Dieses Forum wäre schon allein wegen des schlechten Eindrucks nachteilig, der von der Gemeinde Christi in den Augen der Nichtgläubigen entstünde. Damit solche rechtlichen Konflikte nicht in der Öffentlich448

So R. Bultmann, Theologie (Lit. § 1), 196 f.

250

5 Die paulinischen Briefe

keit verhandelt werden, erlaubt Paulus das Richten, er fordert sogar dringend dazu auf, und zwar durch angesehene Mitglieder der Gemeinde. Dieser Vorschlag scheint im Widerspruch zum vorherigen und anschließenden Kontext zu stehen, der das Richten verbietet bzw. der Entscheidung Gottes zuschreibt. Aber Paulus schützt ein solches Verfahren vor Missbrauch, indem er erneut betont, dass das endgültige Urteil über das Heil eines Menschen Gott selber vorbehalten bleibt (5,13a). Die gegenwärtigen Entscheidungen, die bei dem Inzestfall die kirchliche Disziplin betreffen, sind nicht mit dem Urteil über das eschatologische Heil oder Unheil identisch, selbst wenn sie hart sein sollten (5,5). Außerdem unterstreicht Paulus, dass die Gemeinde solche Entscheidungen gemeinsam treffen muss und seine apostolische Weisung berücksichtigen soll. Wenn die Gemeindeglieder sich dementsprechend im Gebet versammeln, handeln sie in der Kraft des Herrn, der unter ihnen wirksam ist (5,1–5). e) Die Kreuzestheologie: Trotz einzelner Sprünge in der Argumentation, die z. T. in der Unterschiedlichkeit der anstehenden Probleme begründet sind, ist in der Kreuzestheologie ein einheitliches theologisches Anliegen erkennbar, das den vorgegebenen apokalyptischen Rahmen (§ 5.10.3) transformiert449 und für die Beantwortung der konkreten Fragen maßgeblich ist. Die verschiedenen Einzelprobleme in Korinth machen es nicht erforderlich, dass der Apostel seine These von der Rechtfertigung (Gerechterklärung) aus Glauben entfaltet. Seine Argumentation gegen die Leugner der Auferstehung gipfelt jedoch in dem feierlichen Ausruf, dass der Tod besiegt ist und mit der Sünde zusammenhängt, die ihre Macht aus dem Gesetz gewinnt (1Kor 15,55 f.). Bei diesen Worten handelt es sich um eine knappe Zusammenfassung dessen, was im Galater- und Römerbrief ausgeführt ist (§ 5.11.3–4; 5.16.5a). Gleichzeitig passt dieser Abschluss gut zum Gedankengang des Briefs.450 Gegen die Hypothesen, nach denen V.56 mit den Aussagen über die Sünde und das Gesetz eine Glosse seien, spricht nicht nur der textkritische Befund, sondern auch der theologische Zusammenhang mit 1,18–2,5. Dort bildet das Kreuz Jesu451 die alleinige Grundlage der paulinischen Verkündigung,452 wie es sich schon im Galaterbrief abzeichnete (§ 5.11.4d). Denn als der Gekreuzigte 449

Z. B. wird in 1Kor 11,29 oder 16,22 das Endgericht vorweggenommen. Vgl. Ch. Wolff, ThHK 7, 417 f. 451 Zum historischen Hintergrund vgl. umfassend M. Hengel, Crucifixion in the Ancient World and the Folly of the Message of the Cross, London 1977; H.-W. Kuhn, Art. Kreuz, TRE 19, 713–725. 452 Vgl. H. Weder, Das Kreuz Jesu bei Paulus (FRLANT 125), Göttingen 1981, 137 ff.; H.-Ch. Kammler, Kreuz und Weisheit (WUNT 159), Tübingen 2003. Zu den Schlüsselstellen des Paulinismus der Rechtfertigungslehre zählt diese Stelle F. W. Horn, 1Kor 15,56 – ein exegetischer Stachel, ZNW 82 (1991), 88–105, der den Vers jedoch für eine spätere Glosse hält; nach Th. Söding, „Die Kraft der Sünde ist das Gesetz“ (1Kor 15,56), ZNW 83 (1992), 74–84, handelt es sich um eine Vorstufe der Rechtfertigungslehre. 450

5.12 Der 1. Korintherbrief

251

(Gal 3,1) hat Christus stellvertretend (Gal 1,4; 2,20; 3,13) den Tod eines von Gott verfluchten Verbrechers auf sich genommen (Gal 3,10.13; Dtn 27,26; 21,23), um die Menschen vom Fluch des Gesetzes zu befreien und ihnen den Segen der Gerechtigkeit, des ewigen Lebens, des Geistempfangs und der Gotteskindschaft zu bringen (Gal 3,6–9.11.13 f.; 4,4 f.). Für die judenchristlichen Gegner in Galatien ist das Kreuz Christi ein Skandalon („Ärgernis“), weil es die Beschneidungsforderung der Tora als Weg zum Heil zunichte macht. Doch für Paulus ist es der eigentliche Inhalt seiner Verkündigung (Gal 5,11) und die alles entscheidende Grundlage seiner christlichen Existenz (6,12.14; § 5.11.3c). Der Hauptunterschied zwischen beiden Briefen besteht darin, dass der stellvertretende Kreuzestod im Galaterbrief den Fluch und damit die Heilsbedeutung der Tora aufhebt. In der korinthischen Gemeinde hingegen legt Paulus alles Gewicht auf die Torheit und Schwachheit, die nach den Beurteilungsmaßstäben dieser Welt unsinnig erscheinen, im Kreuz Jesu aber Gottes Weisheit und Kraft offenbar machen. Die Kreuzestheologie wird im 1. Korintherbrief nicht nur christologisch begründet und am Beispiel der korinthischen Gemeinde in ihrer ekklesiologischen Relevanz aufgezeigt. Sie wird auch in den Konsequenzen für die Verkündigung der Kreuzesbotschaft durch den schwachen Apostel und für das ethische Verhalten der Christen entfaltet: Was Paulus in der Pistisformel von 1Kor 15,3b–5 aus einer bereits vorliegenden Tradition als „Evangelium“ übernommen hat, stellt er zu Beginn des Briefs in seiner These (propositio) pointiert als Wort vom Kreuz voran (1,18), das denen, die verlorengehen, als skandalöse Torheit453 erscheint (1,18.23), den Christen aber, die gerettet werden, als ein Beweis der Kraft Gottes gilt (1,18.24). Das von Paulus verkündigte „Evangelium“ besteht im „Wort vom Kreuz“ (1,17 f.; vgl. Gal 5,11; Röm 1,16). Nichts anderes will der Apostel wissen und verkündigen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten (1Kor 1,23; 2,2; vgl. Gal 6,14). Für alle Weisheit dieser Welt ist das Kreuz als Hinrichtungsart der Inbegriff von Schwäche, Torheit und Sinnlosigkeit. Für die Juden ist es ein Skandalon (Ärgernis; 1Kor 1,23),454 dass Christus als Messiasprätendent am Kreuz den Tod eines von Gott verfluchten Verbrechers gestorben sein soll (Gal 3,10.13; Dtn 27,26; 21,23). Für die Griechen ist es eine Torheit (1Kor 1,18.22 f.), weil sie im schändlichen Tod Jesu die göttliche Weisheit des erwählenden und rettenden Heilsratschlusses nicht erkennen (1,21). Doch was in Christus als dem Gekreuzigten „das Törichte an Gott“ zu sein scheint, ist durch den stellvertretenden, die Sünden tilgenden Charakter dieses Todes (15,3) in Wahrheit „weiser als die Menschen“ (1,25a), weil Gott am Kreuz seine Weisheit sub contrario (unter dem Gegenteil) verborgen, gerade in der anstößigen 453 Das griechische Wort „mōría“ meint nicht einfach Unkenntnis oder Unverständnis, sondern mit einem abwertenden Unterton Dummheit, Unsinn, Schwachsinn, Sinnlosigkeit. 454 Vgl. ebenso in Gal 5,11 für die Judenchristen, die die Beschneidung fordern.

252

5 Die paulinischen Briefe

Gestalt dieser Torheit aber seine Heilsabsicht endgültig offenbart hat. Und was am Kreuz „das Schwache an Gott“ zu sein scheint, ist in Wirklichkeit „stärker als die Menschen“ (1,25b), weil schon Christus aus Schwachheit gekreuzigt, durch die Kraft Gottes aber von den Toten auferweckt wurde und lebt (6,14; 15,3 f.; 2Kor 13,4). Mit seinem Wort vom Kreuz (1Kor 1,18) verkündet Paulus daher das Evangelium, dass der Messias (Christus) stellvertretend für die Sünden der Menschen gestorben und am dritten Tag auferstanden ist (15,3b–5). Durch diese Botschaft von der göttlichen Heilstat im Opfertod und der Auferweckung Jesu werden die Gläubigen gerettet (15,2), weil Gottes Kraft ebenso wie Christus auch die Christen von den Toten auferweckt,455 die Macht der Sünde und die Todesverfallenheit des Menschen überwindet (15,56 f.; vgl. Röm 8,37), Rettung und Heil bringt (1Kor 1,18.21; Röm 1,16) sowie durch den schöpferischen Akt der Verwandlung in der Auferstehung ein neues, ewiges Leben gewährt (2Kor 13,4; 1Kor 15). Diese christologische Erkenntnis demonstriert Paulus den Korinthern ekklesiologisch durch einen Hinweis auf die soziale Zusammensetzung ihrer Gemeinde, in der es nicht viele Weise, Mächtige und Vornehme gibt, sondern Gott vor allem diejenigen berufen und erwählt hat, die nach weltlichen Beurteilungskategorien als töricht und schwach gelten (1Kor 1,26–28). Daher gibt es zwar durchaus auch Weise, Mächtige und Wohlhabende in der Gemeinde (s. Anm. 408), doch ihr Ruhm bei Gott beruht nicht auf ihrer Weisheit, ihrem Reichtum und ihrer Stärke, sondern auf dem Heil, das von Gott in Christus verwirklicht wurde und in der göttlichen Weisheit (sc. der Botschaft vom Kreuz), Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung besteht (vgl. 1,30 f. mit Jer 9,22). Die Berufung zu dieser Gemeinschaft (1,9) erfolgt aufgrund des stellvertretenden Todes Jesu. Schon die rhetorische Frage in 1,13, ob etwa Paulus für die Korinther gekreuzigt wurde, geht davon aus, dass die Korinther nur deshalb „auf den Namen Christi“ getauft (§ 5.6.2.2d) wurden, weil dieser für ihre Sünden („für euch“) gestorben ist (vgl. 11,24; 15,3). Diese heilbringende Bedeutung des Kreuzestodes bildet für den Apostel die entscheidende Ausgangsbasis, von der her er seine Folgerungen im Blick auf die Missstände in der korinthischen Gemeinde zieht. Statt sich um taufende Missionare zu gruppieren und die Gemeinde aufzuteilen (1,10–17), sollen die Korinther sich auf den gemeinsamen Grund ihres Heils im Kreuzestod Jesu besinnen, durch den ihnen von Gott Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung zuteil geworden ist (1,30). Denn „auf Christus getauft“ (Gal 3,27) sind sie nun „in Christus Jesus“ (Gal 3,28; 1Kor 1,30) und durch die Taufe in ihm „ein Leib“ (1Kor 12,13). Gerade die Pneumatiker sollen daher, statt durch ihr unberechtigtes Überlegenheitsbewusstsein Spaltungen zu provozieren, für die schwächeren Glieder des Leibes sorgen (12,22–27). Da Christus nach den Einsetzungsworten seinen Leib für die anderen („für euch“) hingegeben hat (11,24), gebietet der Apostel den Korinthern, beim Herrnmahl (§ 5.6.2.3) „die Gemeinde Gottes“ nicht durch die Trennung in 455

1Kor 6,14; 2Kor 4,7.14; 13,4; Phil 3,10 f.

5.13 Der 2. Korintherbrief

253

Arme und Reiche in ihrer Praxis zu verachten, sondern das Mahl, dem Sinn des Stifters entsprechend, in der ungeteilten Gemeinschaft miteinander zu feiern (11,17– 34). Die Kreuzestheologie hat ethische Konsequenzen: Weil Christus – metaphorisch ausgedrückt – als Passalamm geopfert wurde,456 sollen die Korinther sich in ihrer täglichen Lebensführung vom alten Sauerteig der Schlechtigkeit und Bosheit reinigen, die durch Lasterkataloge illustriert werden (1Kor 5,10 f.; 6,9 f.). Ebenso wie die Juden beim Passafest alle Sauerteigreste aus den Häusern entfernen (Ex 12,15.19; 13,7), sollen auch die Korinther ihre Laster beseitigen. Stattdessen sollen sie in Lauterkeit und Wahrheit leben (1Kor 5,7 f.), weil sie durch die Taufe (§ 5.6.2.2d) gereinigt, geheiligt und gerecht geworden sind (6,11; vgl. 1,30). Als weitere Konsequenz der Kreuzestheologie ermahnt Paulus die Korinther, bei aller richtigen theologischen Erkenntnis auf das Gewissen des schwachen Bruders Rücksicht zu nehmen, „für den Christus gestorben ist“ (8,11; vgl. Röm 14,15). Die Kreuzestheologie nimmt Paulus auch für seine apostolische Verkündigung in Anspruch (1Kor 2,1–5). Er tritt in Schwachheit auf und hat keine andere Botschaft als das Wort vom gekreuzigten Messias (Christus). Darum beruht die Wirkung seiner Predigt nicht auf menschlicher Weisheit und Fähigkeit, sondern allein auf Gottes Geist und Kraft. Was dies für die eigene apostolische Existenz bedeutet, legt Paulus ausführlicher im 2. Korintherbrief dar, nachdem neue Vorwürfe gegen ihn erhoben wurden (§ 5.13).

5.13

Der 2. Korintherbrief

 Kommentare: Hans Windisch, KEK 6, 1970 (= 91924); Rudolf Bultmann, KEK Sonderband, 1976; Victor P. Furnish, AncB 32A, 1984; Friedrich Lang, NTD 7, 1986; Hans D. Betz, Hermeneia, 1985 (2Kor 8 u. 9), DÜ Gütersloh 1993; Ralph P. Martin, WBC 40, 1986; HansJosef Klauck, NEB 8, 1986; Maurice Carrez, CNT 8, 1986; Christian Wolff, ThHK 8, 1989; Margaret E. Thrall, ICC, 1994.2000; Jerry W. MacCant, 2 Corinthians, Sheffield 1999; Erich Gräßer, ÖTK 8/1–2, 2002.2005.  Monographien und Aufsätze (s. auch die Lit. zu 1Kor): Günther Bornkamm, Die Vorgeschichte des sog. zweiten Korintherbriefes, in: ders., Geschichte und Glaube II (BEvTh 53), München 1971, 162–194; Ernst Käsemann, Die Legitimität des Apostels, in: Karl H. Rengstorf, Paulusbild (Lit. § 5), 475–521; Dieter Georgi, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief (WMANT 11), Neukirchen 1964; Otfried Hofius, Erwägungen zur Gestalt und Herkunft der paulinischen Versöhnungslehre, in: ders., Paulusstudien (Lit. § 5), 1–14; Cilliers Breytenbach, Versöhnung (WMANT 60), Neukirchen 1989; ders., Versöhnung, Stellvertretung und Sühne, NTS 39 (1993), 59–79; Jerome Murphy-O’Connor, Theology of the Second Letter to the Corinthians, Cambridge 1991; Ulrich Heckel, Kraft in Schwachheit. Untersuchungen zu 2Kor 456

Zum metaphorischen Charakter der Opferaussagen vgl. § 7.1.5.1a zum Lamm Gottes in Joh 1,29.

254

5 Die paulinischen Briefe

10–13 (WUNT II/56), Tübingen 1993; Reimund Bieringer / Jan Lambrecht, Studies on 2 Corinthians (BEThL 112), Leuven 1994.

Der 2. Korintherbrief ist der persönlichste aller Briefe des Neuen Testaments, da Paulus sich gegen Vorwürfe verteidigen muss, die ihm die Legitimität seines Apostolats streitig machen. Durch die Leidensthematik ist die Epistel vor allem für die Anthropologie und das Amtsverständnis bedeutsam. Im Vergleich zum 1. Korintherbrief hat sich die Situation erheblich verändert, da inzwischen einige christliche Missionare von außerhalb nach Korinth gekommen sind, die ein anderes Evangelium vertreten (2Kor 2,17; 4,2; 11,3 f.). Damit handelt es sich um eine ähnliche Personenkonstellation wie im Galaterbrief (§ 5.11.3): Paulus wirbt ebenfalls aus der Ferne um die Loyalität der Gemeinde, während er auf die Gegner nur indirekt polemisch in der 3. Person Bezug nimmt. Im Unterschied zum Galaterbrief geht die Auseinandersetzung jedoch nicht um die Entscheidung zwischen der Beschneidungsforderung der Tora und der Wahrheit des Evangeliums, sondern um die Vollmacht und Kompetenz des Apostels, die die Kontrahenten in Zweifel ziehen und damit einen Keil zwischen die Gemeinde und Paulus treiben. Unabhängig von den Briefteilungshypothesen (s.u.) wird heute meist angenommen, dass es sich durchgehend um dieselben Gegner handelt.457 Sie treten als „Diener Christi“ auf, dem sie sich in besonderer Weise verbunden fühlen (10,7; 11,4.13.23), sind jüdischer Herkunft (11,22: „Hebräer“, „Israeliten“, „Nachkommen Abrahams“), führen den Aposteltitel (11,5.13; 12,11), berufen sich auf Empfehlungsbriefe (3,1; 10,12.18), nehmen das Unterhaltsrecht in Anspruch (2,17; 11,7–11.20; 12,13f.), verstehen etwas von Rhetorik (10,10; 11,6), schildern Offenbarungserlebnisse (12,1ff.) und vollbringen Wundertaten (12,12). Alle diese Punkte ergeben eine direkte Konkurrenzsituation, in der Paulus sich mit seinen Rivalen vergleichen und messen lassen muss.458 Zugleich wurden Vorwürfe gegen Paulus erhoben, die seine Autorität als Apostel untergraben. Vor allem hat man als Widerspruch konstatiert, seine Briefe seien stark, sein persönliches Auftreten aber schwach und seine Rede nach den Maßstäben der Schulrhetorik verachtenswert (10,10; vgl. 11,6). Außerdem hat man ihm die Nichtinanspruchnahme des apostolischen Unterhaltsrechts (11,7–11; 12,13–18) so ausgelegt, als sei er sich auch selbst seines Autoritätsanspruchs nicht mehr sicher. Offenbarungs-

457

Vgl. R. Bieringer, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief, in: ders. / J. Lambrecht, Studies on 2 Corinthians (BEThL 112), Leuven 1994, 181–221, und den Exkurs bei E. Gräßer, ÖTK 8/2, 125–128, zum ganzen Brief F. Lang, NTD 7, oder ausführlicher V. P. Furnish, AncB 32A, hier 48–54. M. Hengel, Der unterschätzte Petrus, Tübingen 2006, 111–118.149–151, hält die Gegner im 2. Korintherbrief für Abgesandte der Petrusmission. 458 2Kor 10,12 und 2,17; 3,1; 10,7–12,18, bes. 11,12.16.18.21 ff.

5.13 Der 2. Korintherbrief

255

erlebnisse habe er keine zu schildern (12,1 ff.). Und statt Zeichen und Wunder und kraftvolle Taten zu vollbringen (12,12), sei er krank (12,7b). Aus alledem hat man in Korinth einen Mangel an Vollmacht (10,8; 13,10) gefolgert und dieses Defizit ihm als Entfremdung von Christus (10,7) angelastet. Das eigentliche Briefthema ist daher die Christuszugehörigkeit des Apostels in seinen vielfältigen Bedrängnissen, die er schon im Eingangsteil anspricht (1,3–11) und in den Leidenslisten, den sog. Peristasenkatalogen, wiederholt aufgreift.459 Paulus stellt sich der schwierigen Aufgabe, die göttliche Herrlichkeit und Kraft sowie die Legitimität seiner Vollmacht gerade in der Schwachheit seiner apostolischen Existenz nachzuweisen. Dementsprechend hat der 2. Korintherbrief über weite Strecken den Charakter einer Apologie,460 die am Ende paränetisch auf die Erbauung der Gemeinde ausgerichtet wird (10,1–6; 12,19–13,10). 5.13.1

Gliederung und Inhalt

Der 2. Korintherbrief gliedert sich grob in die Kap. 1–7, 8f. und 10–13. Tabellarische Übersicht s. S. 256. 1,1–11 Briefeingang Auf das Präskript folgt als Proömium ein Eingangsgebet in Form einer Eulogie (eulogētós ho theós = gelobt sei Gott) statt der sonst üblichen Danksagung mit „eucharisteín“ (§ 5.7b). Paulus spricht vom Trost und der Hoffnung in Momenten der Bedrängnis (1,3–7) und erinnert an ein lebensgefährliches Widerfahrnis in der römischen Provinz Asia, d. h. im Westen der heutigen Türkei (1,8–11). Die Gebete verbinden den Verfasser mit den Adressaten. 1,12–7,16 Erster Teil: Die Versöhnung mit den Korinthern Im Eingangsabschnitt 1,12–2,13 wehrt Paulus sich gegen den Vorwurf der Unzuverlässigkeit, weil er nicht zu dem versprochenen Besuch nach Korinth gekommen ist. Statt des erwarteten Besuchs schrieb er „unter vielen Tränen“ einen Brief (2,4), den sog. Tränenbrief, der nicht erhalten ist (s. Anm. 471 ff.). Mit diesem Schreiben versuchte er den Streit mit den Korinthern zu schlichten, von denen einer ihm eine große Betrübnis bereitet hatte. Paulus erklärt, dass er sich allein auf die Gnade (1,12) und das Ja Gottes zu den Verheißungen in Christus (1,20) verlässt.461 Der Absatz endet

459

2Kor 4,7–10; 6,4–10; 11,23b–12,10; vgl. 1Kor 4,11–13; vgl. bes. zu den stoischen Parallelen M. Ebner, Leidenslisten und Apostelbrief (fzb 66), Würzburg 1991. 460 2Kor 2,14–6,10; 10,7–12,18; vgl. 2Kor 12,19: „Schon lange denkt ihr, dass wir uns vor euch verteidigen.“ 461 Dazu beruft er sich auf das Gericht Gottes (1,14: „Tag des Herrn Jesus“), auf den heiligen Geist (1,21f.), auf Jesus als den Sohn Gottes, durch dessen Verkündigung die göttlichen

256

5 Die paulinischen Briefe

1,1–11 1,1 f. 1,3–11

Briefeingang Präskript Proömium mit Eulogie und Erinnerung an die Bedrängnis in Kleinasien

1,12–7,16 1,12–2,13

Erster Teil: Die Versöhnung mit den Korinthern Rechtfertigung (Selbstempfehlung) wegen nicht erfüllter Besuchspläne

2,14–6,10 2,14–3,6 3,7–4,6 4,7–5,10 5,11–6,10

Die Apologie des apostolischen Dienstes Das Wirken des Apostels („Ihr seid der Brief Christi“) Die Herrlichkeit Christi (alter und neuer Bund) Die Leiden des Apostels (4,8f.; vgl. 6,4–10; 11,23–12,10) Der apostolische Dienst der Versöhnung

6,11–7,16 6,11–13

Werben um die Gemeinde Bitte um Weitherzigkeit 6,14–7,1 Warnung vor „Ungläubigen“ (späterer Einschub?) Aussöhnung mit den Korinthern

7,2–16 8,1–9,15

Zweiter Teil: Die Jerusalemkollekte (Zweifacher Aufruf in Kap. 8 und 9)

10,1–13,10

Dritter Teil: Die Verteidigung des Apostolats gegen die „Überapostel“ Paränetischer Rahmen (mit Schelte und Drohung) Apologetischer Vergleich mit den Gegnern (Synkrisis: 11,7–12,13)

10,1–6 10,7–12,18

11,21b–12,10 „Narrenrede“: Parodie auf den Selbstruhm der Gegner 11,23–29.32f.; 12,10 Leidenskataloge (vgl. 4,8f.; 6,4–10) 12,1–10 Offenbarungen V.2–4 Entrückung in den 3. Himmel (in der 3. Pers.) V.7–9 Krankheit und Herrnwort: „Es genügt dir ...“ 12,19–13,10 13,11–13

Zuspitzung des Eingangsappells zur Erbauung (vgl. 10,1–6.8) Briefschluss mit Paränese, Grüßen, heiligem Kuss und triadischem Segen

Inclusio (Rahmung)

Gegensatz

mit der Aufforderung, den Gegner nach der Strafe, die ihm zuteil wurde, in Vergebung wieder aufzunehmen und zu ermutigen (2,5–13). Den größten Block bildet: Die Apologie des apostolischen Dienstes (2,14–6,10) Paulus legt zunächst die Bedeutung seines Auftrags dar (2,14–3,6). Sein Apostolat ist ein echtes Zeugnis für den im Geist präsenten Christus (vgl. 3,17a: „Der Herr ist der Geist“). Seine Verkündigung eröffnet den Weg zum Heil, das in Gerechtigkeit Verheißungen auch in Korinth verwirklicht wurden (1,18–20), und auf Gott als Zeugen (Beschwörung; 1,18.23).

5.13 Der 2. Korintherbrief

257

und Leben besteht (3,6.9). Seine apostolische Wirksamkeit wird – als Erfahrungsbeweis – in der Existenz der korinthischen Gemeinde sichtbar: „Ihr seid der Brief Christi“ (3,3). Danach stellt Paulus den Dienst des Mose an der Tora antitypisch dem apostolischen Dienst am Evangelium gegenüber (3,7–4,6). In seinem Dienst für die Herrlichkeit Christi übertrifft er bei weitem die Herrlichkeit, die auf dem Gesicht des Mose glänzte, als dieser nach dem Bundesschluss mit den Gesetzestafeln vom Berg Sinai herabstieg (Ex 34,29–35). Die sterbliche Existenz der wahren Apostel ist wie ein zerbrechliches Tongefäß, welches das Evangelium als wertvollen Schatz enthält, dessen lebenschaffende Kraft ganz von Gott kommt (4,7–5,10). Die Leiden des Paulus (4,8–15; vgl. 1,4 ff.8) sind kein Zeichen der Schwäche, sondern der Verbundenheit mit Christus, der selber viel erleiden musste und in der Verkündigung seiner Apostel durch den Geist am Werk ist. Die Überzeugungskraft des apostolischen Zeugnisses besteht gerade darin, dass es bei den Adressaten Glauben hervorbringt und Freiheit schenkt, wenn es auch in der Niedrigkeit und Schwäche der (wahren) Apostel dargeboten wird (4,7–15; vgl. 6,3–10: von der paradoxen Herrlichkeit des apostolischen Dienstes). Diese Botschaft ist stärker als die Angst vor dem irdischen Tod. Sie beflügelt die Sehnsucht nach der Überwindung der sterblichen Existenz und nach der endgültigen Gemeinschaft in der himmlischen Heimat beim Herrn (5,1–10). Die Apologie mündet in die zentralen Aussagen über den apostolischen Dienst der Versöhnung (5,11–6,10). Die Wortfamilie stammt ursprünglich aus dem sozialen bzw. politischen Leben und bezeichnet den Frieden und die Aussöhnung zwischen Feinden (Röm 5,1.10f.; vgl. Kol 1,20–22). Die Botschaft von der Versöhnung (katallagé) in Christus kommt von Gott selber, wird durch die Apostel ausgerichtet (2Kor 5,18 ff.) und beendet die Feindschaft der Sünder gegen Gott (Röm 5,10f.; 8,7). Nur darf man Christus nicht „irdisch“ (wörtlich „fleischlich“, katá sárka), d. h. äußerlich, als den am Kreuz Gescheiterten betrachten (2Kor 5,16f.), sondern soll ihn im Glauben als den Vorboten der neuen Schöpfung anerkennen,462 der zugunsten der Menschen starb und im Geist gegenwärtig ist. Durch diese tiefere, wahre Erkenntnis werden die Glaubenden „in Christus“ selber zur „neuen Kreatur“ (5,17; vgl. Gal 6,15). Deshalb gipfelt das Wort des Apostels von der Versöhnung in der Aufforderung an die Korinther: „So bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt“ (2Kor 5,20f.; vgl. Röm 5,10f.). Nach Abschluss der Apologie folgen das Ringen um die Gemeinde (6,11–13) und eine (wohl sekundär eingeschobene) Warnung vor „Ungläubigen“, die auf der Seite 462 Zu 2Kor 5,16 s. J. B. Souček, Wir kennen Christus nicht mehr nach dem Fleisch (1959), zuletzt in: P. Pokorný / ders.: Bibelauslegung (Lit. § 2.1.3), 183–197; zusammenfassend Ch. Wolff, ThHK 8, 123–127.

258

5 Die paulinischen Briefe

Beliars, d. h. Satans, stehen (6,14 –7,1). Trotz aller Kritik schließt der Abschnitt mit einem Lob der Adressaten und dem Aufruf zur gegenseitigen Versöhnung (7,2–16). 8,1–9,15 Zweiter Teil: Die Jerusalemkollekte In Kap. 8 und 9 ergeht ein zweifacher Aufruf zur Geldsammlung für die Christen in Jerusalem, die nach Gal 2,10 auf dem Apostelkonvent (48 n. Chr.) für die Armen der dortigen Gemeinde beschlossen worden war (vgl. 1Kor 16,1; Röm 15,25–31). 10,1–13,10 Dritter Teil: Die Verteidigung des Apostolats gegen die „Überapostel“463 Paulus warnt die Adressaten vor den falschen Aposteln, die nur sich selbst empfehlen (Kap. 10). Er erklärt ihnen, dass er diesen Überaposteln keineswegs unterlegen ist (11,5; 12,11), sondern alle Dinge, derer sich diese falschen Apostel (11,13) rühmen, ebenfalls aufzuweisen hat – mit Ausnahme des Selbstruhms, den er in der sog. „Narrenrede“ parodiert (11,1 ff.). In deren Kernteil (11,21–12,10) beschreibt er mit bitterer Ironie, wie er sich selbst mit allen Zeichen seines authentischen Apostelamts rühmen könnte von Missionserfolgen (10,14 ff.) über den rhetorischen Ausbildungsstand (11,6) und die jüdische Herkunft (11,22) bis zu besonderen Offenbarungserlebnissen (12,2–4.9) und Wundertaten (12,12; Exkurs 6c). Doch kündigt er vorweg an, wie „töricht“ eine solche Selbstempfehlung ist (11,16f.; 12,11), weil sie nicht dem Sinn des Herrn entspricht (ou katá kýrion = nicht dem Herrn gemäß) und ohne christologische Einsicht äußerlich, oberflächlich und vordergründig bleibt (katá sárka = nach dem Fleisch, fleischlich; 11,17f.).464 Als Höhepunkt der ganzen Argumentation zitiert Paulus ein Wort des erhöhten Herrn (Jesus Christus), der ihn gerade in seiner Krankheit, die er metaphorisch als „Pfahl im Fleisch“ bezeichnet, mit einer Offenbarung würdigte. Darin hat der Herr ihm seine Gnade zugesagt und versprochen, in der persönlichen Schwachheit des Paulus mit seiner göttlichen Kraft wirksam zu sein. Deshalb vermag Paulus einerseits als Christ persönlich das Leiden in Geduld auszuhalten und andererseits als Apostel mit seiner Verkündigung z. B. bei der Gemeindegründung in Korinth Erfolg zu haben. So überführt Paulus in der Narrenrede die „Überapostel“ des Selbstbetrugs. Sie haben kein Recht, über ihn zu richten. Mit einer erneuten Warnung kündigt Paulus im paränetisch rahmenden Schlussteil (12,19– 13,10; vgl. 10,1–6) seinen dritten Besuch in Korinth an (13,1f.). Bei seiner Ankunft möchte er aber nicht hart und streng sein müssen, denn die Vollmacht, die ihm Gott

463

Zu Gliederung und Argumentationsgang von 2Kor 10–13 vgl. U. Heckel, Kraft in Schwachheit, 6–51. 464 Paulus spielt hier nicht die Rolle des Komödianten (so vor allem H. D. Betz, Sokratische Tradition, 79–83), sondern macht seinen Gegnern im Sinn der jüdischen Weisheitsliteratur die Torheit zum Vorwurf, dass sie sich im Widerspruch zum Sinn des Herrn befinden (11,17f.).

5.13 Der 2. Korintherbrief

259

gab, soll der Erbauung (oikodomḗ), nicht der Zerstörung der Gemeinde (10,8; 13,10) dienen. 13,11–13 Briefschluss „Im Übrigen ...“ endet der Brief mit einer Ermahnung zum Frieden, der Aufforderung zum „heiligen Kuss“ untereinander (§ 5.7b), Grüßen und einem dreigliedrigen Segen mit trinitarischem Gefälle. Gliederungsprinzip ist in diesem Schlusssegen noch nicht die Trinität, sondern die Wirkung der göttlichen Gnade, Liebe und Gemeinschaft in der Gemeinde, aber diese drei Begriffe werden triadisch Christus, Gott und dem Geist zugeordnet.465 5.13.2

Integrität, Anlass, Zeit und Ort(e) der Abfassung

Schon 1776 machte der Hallenser Professor Johann Salomo Semler in seinem Kommentar zum 2. Korintherbrief auf einige Brüche aufmerksam, die eine sinnvolle fortlaufende Auslegung des Texts unmöglich machen. Die Annahme, dass es sich um eine sekundäre literarische Einheit handelt, die aus mehreren Briefen oder Teilen zusammengestellt wurde, scheint die beste Erklärung zu sein. Besonders auffällig ist die Spannung zwischen dem 9. und 10. Kapitel, denn auf den feierlichen Abschluss mit dem Kollektenaufruf für die Jerusalemer und einen Lobpreis ihres Gehorsams (9,13 f .) folgt in Kap. 10–13 eine harsche Polemik gegen die Nachgiebigkeit der Korinther. Dabei äußert der Apostel energisch seine Bereitschaft, allen Ungehorsam zu strafen (10,6). Auch zum ersten Hauptteil (1–7) stehen die letzten Kapitel im Widerspruch: Dort vergleicht Paulus die Korinther mit seinen Kindern (6,13), spricht zweimal von der gegenseitigen Öffnung der Herzen (6,11–13; 7,2) und drückt zuletzt seine Freude darüber aus, dass er sich auf sie verlassen kann (7,16). Außerdem ist deutlich, dass das 8. und das 9. Kapitel sich eigentlich zweimal mit demselben Thema befassen – der Sammlung für Jerusalem. Ob zwei verschiedene Briefe zugrunde liegen, ist schwer zu sagen.466 Bedenken wurden noch hinsichtlich 2Kor 6,14–7,1 geäußert. Es handelt sich um ein Textsegment, das sich durch den Wortschatz und die Schwarzweißmalerei zwischen Gläubigen und Ungläubigen bzw. Christus und Beliar vom Stil und der Theologie des Paulus deutlich abhebt. Die Aussagen dieses Abschnitts berühren sich aber in vielerlei Hinsicht mit der Theologie der Essener, wie sie durch Qumrantexte belegt 465 Vgl. 1Kor 12,4–6 (§ 5.12.1); (Phil 2,1); Gal 4,4–6 (§ 5.11.1); Eph 4,4–6 und Mt 28,19 (§ 5.6.2.2e); vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 305f. 466 Die Herausgeber der Hermeneia-Kommentarreihe wagten es, einen selbstständigen Kommentar zu 2Kor 8–9 herauszugeben. Eine solche Praxis entspricht nicht den Regeln der Exegese, die sich auch mit der Endgestalt des Texts befassen muss.

260

5 Die paulinischen Briefe

ist (z. B. die Kriegsrolle 1QM). Die Ausführungen würden gut in den Mund der judenchristlichen Gegner des Galaterbriefs passen. Die Abgrenzung dieses Abschnittes durch 6,13 („Lasst ... euer Herz weit aufgehen“) und 7,2 („Gebt uns Raum in euren Herzen!“) hat zu der Annahme geführt, dass es sich um einen späteren Einschub handeln könnte.467 Es ist jedoch auch möglich, dass Paulus für seine Polemik hier einen bekannten Text heranzog, der z. B. Sib III,63–74 ähnelt.468 Weitere Inkohärenzen lassen auf redaktionelle Eingriffe schließen. Auch wenn in neuerer Zeit die Plädoyers für die Einheitlichkeit wieder zunehmen, ist der 2. Korintherbrief vermutlich das Ergebnis einer redaktionell bearbeiteten Sammlung erhaltener Brieffragmente.469 Einzelne Züge der Inkohärenz weisen zwar auch andere kanonisierte Episteln auf, aber die Häufigkeit im 2. Korintherbrief nährt Zweifel an der Unversehrtheit des Texts. Der Bruch zwischen dem 9. und 10. Kapitel wurde bereits erwähnt. Die Spannungen sind hier so deutlich, dass die Annahme einer sekundären Verbindung die einfachste Erklärung wäre. Da Paulus in 2Kor 2,4 einen Vorbrief erwähnt, den er wahrscheinlich nach unserem 1. Korintherbrief und vor dem ersten Teil des 2. Korintherbriefs „unter vielen Tränen“ schrieb, hielten manche Forscher470 den in scharfem Ton verfassten Abschnitt 2Kor 10–13 für den Tränenbrief, eventuell noch um andere Teile des 2. Korintherbriefs erweitert.471 Dagegen spricht allerdings, dass der in 2,3–11 und 7,8–12 beschriebene Zwischenfall, der den Tränenbrief veranlasste, in 2Kor 10–13 nicht erwähnt ist. Außerdem schrieb Paulus nach 2Kor 1,23–2,4 den Tränenbrief, weil er nicht persönlich kommen wollte, während er in 2Kor 10–13 mit seinem baldigen Besuch in Korinth rechnet (10,2; 12,14; 13,1f.10). Diese Beobachtungen führen zu dem Schluss, dass 2Kor 10–13 nicht der Tränen-, sondern eher ein Kampfbrief ist, den Paulus nach dem ersten Teil des heutigen 2. Korintherbriefs schrieb.472 2Kor 8 und 9 wurden bereits erwähnt. Der Spendenaufruf in diesen beiden Kapiteln könnte als der paränetische Teil des Briefs (2Kor 1–7?) entstanden sein. Dass es sich um zwei Briefe handelte, deren zweiter (2Kor 9) für die Christen in der Provinz Achaia bestimmt war (H. D. Betz), ist zwar nicht ausgeschlossen, muss aber als Hypothese angesehen werden. Vorrang sollte die exegetische Deutung jener zwei Textabschnitte im Zusammenhang mit 2Kor 1–7 haben, wobei Kap. 9 eine umfangreichere Lesergruppe anredet und mit der Danksagung in 9,15 den Briefschluss bilden könnte (peroratio). Die Kapitelfolge ist kein Beweis für die Ein467

S. bes. H. D. Betz, 2Cor 6:14–7:1: An Anti-Pauline Fragment, JBL 92 (1973), 88–108. So O. Böcher, EWNT I, 509; vgl. zum Ganzen Ch. Wolff, ThHK 8, 146–149; R. Bieringer in: ders. / J. Lambrecht, Studies, 551–570. 469 Zu Teilungshypothesen und Einheitlichkeit vgl. die Forschungsüberblicke von R. Bieringer in: ders. / J. Lambrecht, Studies, 67–105.107–130.131–179; U. Schnelle, Paulus (Lit. § 5), 253–262. 470 So schon J. S. Semler, heute H.-J. Klauck, L. Aejmelaeus, F. Lang, ähnlich G. Dautzenberg, Der zweite Korintherbrief als Briefsammlung, ANRW II,25,5, Berlin 1987, 3045– 3066, der 2Kor 9 für den ältesten Teil hält. 471 So bes. R. Bultmann, KEK Sonderband, 1976, 23, der zu dem Brief noch 2Kor 2,14– 7,4 und Kap. 9 rechnet. 472 So z. B. V. P. Furnish; U. Schnelle, modifiziert Ch. Wolff. 468

5.13 Der 2. Korintherbrief

261

heitlichkeit von 2Kor 1–9. Aber weitere Teilungen bleiben hypothetisch. Außerdem müssten die möglicherweise in 2Kor 1–9 enthaltenen Brieffragmente in so enger zeitlicher und räumlicher Nachbarschaft vermutet werden, dass solche Teilungshypothesen für die Auslegung allenfalls von untergeordneter Bedeutung sind. Als wahrscheinlich selbstständiges Ganzes muss also bloß der letzte Teil, d. h. 2Kor 10–13, betrachtet werden.

Die rekonstruierbaren Etappen der Kommunikation zwischen Paulus und der von ihm gegründeten christlichen Gemeinde in Korinth sind demnach folgende (vgl. § 5.8.2): a) Paulus wirkte am Anfang der 50-er Jahre in Korinth und gründete dort eine christliche Gemeinde (vgl. Apg 18,1–17). b) Bald nach seiner Abreise schrieb er den Korinthern aus Ephesus einen Brief, in dem er sie aufforderte, Kontakte mit einem Mann abzubrechen, der sich als Christ durch Inzest sexuell unangemessen verhielt (1Kor 5,1.9–13). Bei diesem Brief handelt es sich um den verlorenen Brief Nr. 1, den sog. Vorbrief (1Kor 5,9). c) Später schickte der Apostel aus Ephesus seinen Mitarbeiter Timotheus nach Korinth (1Kor 16,8.10). Ihm gab er einen Brief mit, in dem er die Fragen der Korinther beantwortete und auf neue Nachrichten reagierte. Das ist der Brief Nr. 2 – unser 1. Korintherbrief. d) Nachdem Timotheus mit schlechten Nachrichten zurückgekehrt war, reiste Paulus nach Korinth (sog. Zwischenbesuch), um die Gemeinde zu ermahnen, da ihn der Konflikt mit einem Mitglied der Gemeinde sehr betrübte (2Kor 2,1.5). Auf diesen Zwischenfall (nicht auf den sexuellen Devianten aus 1Kor 5) bezieht sich die Notiz in 2Kor 7,12, die schon mit einigem Abstand geschrieben ist. e) Nach der Rückkehr nach Ephesus schrieb Paulus den nicht erhaltenen Brief Nr. 3, den sog. Tränenbrief (2Kor 2,4). f) Nachdem Paulus in Ephesus im Gefängnis (2Kor 6,5; 11,23) gesessen hatte, kehrte er wieder nach Europa zurück. In Philippi begegnete er Titus, der in Korinth war (2,12f.) und gute Nachrichten überbrachte (7,6.13). Paulus verfasste daraufhin in Makedonien (7,5) einen versöhnenden Brief, der mit 2Kor 1–9 (oder 1–7) identisch ist. Das ist der Brief Nr. 4. g) Leider erreichten ihn im Frühjahr des darauffolgenden Jahres in Makedonien, d. h. in Philippi, beunruhigende Nachrichten über die Lage in Korinth. Vor seinem dritten Besuch (2Kor 12,14; 13,10) schrieb er deshalb einen 5. Brief, den sog. Kampfbrief, der zumindest in Teilen in 2Kor 10–13 enthalten ist. In ihm verteidigte er erbittert sein Apostelamt. h) Bald darauf reiste Paulus nach Korinth und versöhnte sich mit den dortigen Christen. Im Römerbrief, den er von Korinth aus schrieb,473 lobte er bereits die Sammlung für Jerusalem (Röm 15,26), die er in 2Kor 9 empfohlen hatte.

473

Kenchreä (Röm 16,1) ist der östliche Hafenort von Korinth.

262

5 Die paulinischen Briefe

Diese Abfolge der Ereignisse ist selbstverständlich nur eine Skizze, die ergänzt und korrigiert werden kann. Aber sie reicht aus zur Darstellung der Beziehungen zwischen den Lebensstationen und der Theologie des Paulus. 5.13.3

Theologie und Bedeutung

Der 2. Korintherbrief ist in der frühchristlichen Literatur nicht so oft belegt wie der 1. Korintherbrief, den schon der 1. Clemensbrief (96–100 n. Chr.), Ignatius von Antiochien (110–114 n. Chr.) und Polykarp (etwa 110–115 n. Chr.) zitieren.474 Mehrere angebliche Zitate aus dem 2. Korintherbrief beruhen in Wirklichkeit nur auf zufälligen Ähnlichkeiten im Gebrauch einer einzelnen Wendung. Eindeutig belegt ist, dass Markion (§ 3.3b) in der Mitte des 2. Jh.s den 2. Korintherbrief (wohl in der uns erhaltenen Gestalt) in seinen Kanon aufnahm (Tert. Marc. 5,11f.). Seit der Mitte des 2. Jh.s. wurde der 2. Korintherbrief in weiten Bereichen der Kirche zur gottesdienstlichen Lektüre verwendet. Als solcher („noch einmal ...“ d. h. „an die Korinther“) ist er im Kanon Muratori angeführt (Ende 2. Jh.; § 3.4a). 5.13.3.1

Zu 2Kor 1–9: Herrlichkeit, Leiden, Versöhnung

Der erste Briefteil hat eine klare theologische Linie, die angesichts des Konflikts mit den Gegnern in Korinth in den Versöhnungsaussagen von Kap. 5 gipfelt. a) Das Evangelium von der Herrlichkeit Christi: In 3,7–4,6 benutzt Paulus in seiner Apologie des apostolischen Dienstes mehrmals den Begriff der „Herrlichkeit“ (dóxa). Im paganen Griechisch meint das Wort Ruhm, Ehre und Ansehen eines Menschen, in der Septuaginta dient es aber als Übersetzung von hebr. kabod (Herrlichkeit). Daher bezeichnet es auch im Neuen Testament neben der Ehre Gottes vor allem den Lichtglanz der göttlichen Herrlichkeit. Nun wird die Herrlichkeit zu einem Ausdruck für die Gottesnähe und eschatologische Vollendung einer gottbezogenen Existenz. In dem Abschnitt 3,7–18, der in seiner theologischen Aussage umstritten ist, geht es bei dieser Herrlichkeit zwar auch um den Gegensatz zwischen dem Dienst des alten und des neuen Bundes, zwischen dem Buchstaben, der tötet, und dem Geist, der lebendig macht, zwischen dem Dienst der Verurteilung, der in die Verdammung führt, und dem Dienst der von Gott geschenkten Gerechtigkeit, der den Freispruch im Jüngsten Gericht bewirkt.475 Im Vordergrund stehen in der Apologie aber der Dienst und die Legitimität des Apostels, der mit der Herrlichkeit des Evangeliums in 474

Vgl. A. Lindemann / H. Paulsen, Die Apostolischen Väter (Lit. § 12c), 564.567.569. Vgl. O. Hofius, Gesetz und Evangelium nach 2Kor 3, in: Paulusstudien (Lit. § 5), 75– 120, zu den Forschungspositionen F. Back, Verwandlung durch Offenbarung bei Paulus (WUNT II/153), Tübingen 2002, bes. 90–95. 475

5.13 Der 2. Korintherbrief

263

jeder Hinsicht dem Glanz überlegen ist, der auf dem Gesicht des Mose zu sehen war, als dieser nach dem Bundesschluss mit den Gesetzestafeln vom Sinai herabstieg (3,7–18; vgl. Ex 34,29–35).476 Das Gesetz führt nur indirekt zu Gott, indem es sagt, was vor Gott nicht bestehen kann. Es hat „das Amt, das zur Verdammnis führt“ (3,9). Von der Herrlichkeit des Herrn (Christus) aber gehen die rettende Gerechtigkeit (3,9) und der Freispruch zum Leben aus, welche die Verkündigung des Evangeliums in Offenheit ermöglichen: „Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“ (3,12.17b).477 Die Herrlichkeit spiegelt sich im hellen Licht des Evangeliums,478 das der Apostel zur Erleuchtung der Christen predigt. Diese Erleuchtung ist von einer solchen Großartigkeit, dass sie nur mit der Erschaffung des Lichts am ersten Schöpfungstag verglichen werden kann (4,1–6) und die Gläubigen „in Christus“ zu einer „neuen Kreatur“ werden lässt (5,17). b) Die Hoffnung im Leiden: 4,7–5,10 zufolge bekennt sich der Geist zu denjenigen, die das „Todesleiden“ Christi an ihrem Leib herumtragen (4,10). Damit hält der Geist zu den sterblichen Menschen, besonders zu denjenigen, die wie der Apostel für das Heil der anderen, das in der Auferweckung zur Herrlichkeit des ewigen Lebens besteht, arbeiten. Paulus ist sich bewusst, dass die Todesgefahr als Erfahrung des Ausbleibens göttlicher Hilfe eine große Anfechtung ist (vgl. 1,8–10). Deshalb bedarf der Glaube an die aus Lebensgefahren errettende und auferweckende Kraft Gottes einer täglichen Erneuerung durch den Geist (4,7–18). Da Paulus in 1Thess 4,13 ff. noch davon ausging, dass er das Ende dieses Äons erlebt (§ 5.10.3), wurden in der Auslegungsliteratur bezüglich 2Kor 5,1–10 zwei eng zusammenhängende Probleme diskutiert: zum einen das Problem einer Entwicklung in der Eschatologie des Paulus, zum anderen die Frage eines (leiblosen) Zwischenzustands in der Zeit, die sich zwischen dem Sterben eines Menschen und der Parusie Christi erstreckt. Beginnen wir beim zweiten Punkt: Paulus denkt, wenn er von der Nacktheit spricht, nicht im griechischen (oder gnostischen) Sinn an die Leiblosigkeit der Existenz, als ob die – hier gar nicht erwähnte – (sc. unsterbliche) Seele der Träger der Identität eines Menschen wäre und den Körper abstreifen würde. Ohne Leib ist für den Apostel ein Leben weder diesseits noch jenseits des Todes vorstellbar. Paulus schätzt den Leib nicht wie die Griechen (und Gnostiker) als Gefängnis der Seele ein. Der Leib hat in seinem Denken einen ungleich positiveren Stellenwert. Die leibliche Existenz ist ein Wesenszug der Geschöpflichkeit. Weil es nach 1Kor 15,44–49 und 476

So F. Back, Verwandlung (s. Anm. 475), 96f. u. ö. Zur Freiheit in 2Kor 3 vgl. S. Vollenweider, Freiheit (Lit. § 5), 247–284; ders., Art. Freiheit, ThBLNT2 1, 503f. 478 Paulus spielt hier vermutlich auf die Christusvision bei seiner Berufung an (1Kor 9,1; 15,8; Gal 1,15f.). 477

264

5 Die paulinischen Briefe

Phil 3,21 weder ein irdisches noch ein himmlisches Dasein ohne Leib gibt (§ 5.12.5c), kann die Nacktheit in 2Kor 5 nicht die Körperlosigkeit der Existenz bezeichnen. Das Wort von der Nacktheit kann sich aber als Ausdruck der Angst vor dem Verlust des irdischen Leibes und der Beziehungslosigkeit (Einsamkeit) eines Menschen auf die Zeit zwischen dem Tod und der Auferstehung, d. h. vor dem Anziehen des geistigen Leibes (1Kor 15,44–47; Phil 3,21), beziehen. Paulus war sich bewusst, dass der Mensch nur mit Hilfe seines Körpers, mit Augen, Ohren, Gesicht und Stimme (1Kor 12,14 ff.; 13,1.12), kommunizieren kann (§ 5.12.5d). Dieser Angst hält der Apostel die Hoffnung auf das Überkleidetwerden mit dem Gewand der Unsterblichkeit des ewigen Lebens entgegen (2Kor 5,3f.; vgl. 1Kor 15,53f.).479 Da Paulus diesen Vorgang des Überkleidens an anderen Stellen auch als Entrückung (1Thess 4,17) oder Verwandlung480 beschreiben kann, stoßen wir in 2Kor 5,1–10 nur auf eine neue Formulierung seiner eschatologischen Vorstellung. Der Apostel findet sie in einer Zeit, in der die Christen mit dem Eintreten ihres Todes bereits vor der Ankunft des neuen Äons rechnen mussten. Es handelt sich also bloß um eine neue Akzentuierung der Auferstehungshoffnung, nicht um einen substantiellen Wandel in der paulinischen Eschatologie. Gegen die zuerst erwähnte Entwicklungshypothese spricht zudem die Naherwartung des Apostels, mit der ein Problem verbunden ist, das die Christen bis heute begleitet: Während Paulus in 1Thess 4 f. die Parusie noch zu Lebzeiten erwartete (§ 5.10.3), rechnete er in Phil 1,21–26 als Häftling im Gefängnis schon mit seinem vorherigen Tod (§ 5.14.4). Gleichwohl hielt er auch in den späten Briefen immer noch an der Erwartung eines verhältnismäßig nahe bevorstehenden Weltendes fest, ohne sich freilich auf einen bestimmten Termin festzulegen (Röm 13,11 f.; Phil 4,5). Paulus weiß, dass die Erlösung außer dem Neuanfang – der Neuschöpfung (vgl. 2Kor 5,17; Gal 6,15) – auch eine Anknüpfung an die Identität des Einzelnen verlangt, die er irgendwie ausdrücken muss. Deshalb redet er auch im Zusammenhang mit der Nacktheit in der 1. Person („wir“).481 Die Nacktheit bedeutet den Tod. Der Glaubende vermag jedoch – trotz der menschlichen Todesangst – das eschatologische Ziel 479

Vgl. die Exkurse zu den Deutungsmodellen von 2Kor 5,1–10 bei Ch. Wolff, ThHK 8, 101–105, und zur Frage einer Entwicklung der paulinischen Eschatologie bei F. Lang, NTD 7, 284–293, sowie zum Ganzen M. Hengel, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 376–382, der die von R. Bultmann vorgeschlagene Lesart „ekdysámenoi“ (ausgezogen) statt der gut bezeugten Vorsilbe „en-“ (angezogen sc. den geistlichen Leib) für eine eklatante Fehlentscheidung von Nestle / Aland26 hält, die auf Markions Leibfeindlichkeit zurückgehen könnte. 480 1Kor 15,51 ff.; Phil 3,21; Röm 8,29; 2Kor 3,18. 481 Grundsätzlich könnte Paulus die durch Gnade gewährte Identität mit der (ebenso aus Gnade erneuerten) Seele identifizieren. Doch meint „psyche¯´“ z.B. im Logion vom Verlieren und Erretten (MK 8, 35–37) nicht die unsterbliche „Seele“ neben dem vergänglichen Leib, sondern wie hebr. „næpæˇs“ das Leben, die Vitalität (vgl. Gen 2,7).

5.13 Der 2. Korintherbrief

265

der Wege Gottes mit den Menschen zu erkennen. Denn der Geist Gottes wird ihm als „Unterpfand“ (arrabṓn; 2Kor 5,5; 1,22) oder „Erstlingsgabe“ (aparchḗ; Röm 8,23) zuteil, die bereits jetzt die Hoffnung auf eine Existenz in einem neuen Leib antizipatorisch vergegenwärtigen. Der Glaube bleibt wirklich ein Wagnis, das den Ernst der Sterblichkeit nie völlig verdrängen kann. Doch weiß der Gläubige, dass auch die gegenwärtige Existenz und selbst der Tod nur eine Etappe auf dem Weg zur unmittelbaren Gemeinschaft mit Christus in der Vollendung ist (Röm 8,38 f. 14,7–9): Wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen dessen, was bei Gott schon objektive Realität ist (2Kor 5,6 f.; vgl. 4,18; Röm 8,24). Daher können wir festhalten, dass Paulus seine Eschatologie neu formuliert hat. Aber die theologischen Prämissen sind dieselben geblieben, nur die existenzielle Bewältigung der Todesangst (1,8 ff.; 4,8 ff.) ist für den Apostel zu einer neuen Erfahrung geworden. Es ist ihm auch klar geworden, was vor dem Richterstuhl Christi zählt. Daran kann er sich schon jetzt in seinem alltäglichen Handeln orientieren, es sei gut oder böse (2Kor 5,9 f.). Diese Ausführungen zum Gericht nach Werken (2Kor 5,10) scheinen die Rechtfertigungslehre einzuschränken und werden manchmal als Argument für die Datierung von 2Kor 1–9 vor dem Galaterbrief herangezogen. Die Rechtfertigungslehre bedeutet jedoch keine Abschwächung des Jüngsten Gerichts. Vielmehr geschieht die Rechtfertigung, d. h. Gerechtmachung, vor dem Richterstuhl Christi (§ 5.10.3 Ende). Deshalb finden wir ähnliche auf das Endgericht bezogene Ermahnungen, dass jeder für seine Taten selbst vor Gott Rechenschaft ablegen muss, auch in Röm 14,10b–12 in der Paränese bezüglich der Starken und der Schwachen, nachdem Paulus in den vorangegangenen Kapiteln seine Rechtfertigungslehre dargelegt hatte.482 Weil das letzte Urteil Gott selber vorbehalten ist, kann kein Christ einem anderen Menschen durch sein Richten das Heil absprechen (1Kor 4,5; Röm 14,13; § 5.12.5d). c) Der Dienst der Versöhnung: In 2Kor 5,11–6,10 erklärt Paulus den Korinthern seinen apostolischen Auftrag als Dienst der „Versöhnung“ (katallagé; 5,18 f.). Das Wort meint den Frieden, der durch die Aussöhnung zwischen Feinden entsteht (Röm 5,10; vgl. Kol 1,20–22). Eigentlich stammt es aus dem Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen. Bei Paulus begegnet es für die Aussöhnung zwischen Eheleuten (1Kor 7,11), im paganen Griechisch vor allem für die diplomatischen Beziehungen zwischen (Stadt-)Staaten. Im theologisch qualifizierten Sinn verwendet der Apostel die Wortfamilie parallel zu den Ausdrücken der Gerechtmachung und Rettung als Bezeichnung für das Heil, das Gott in Christus bewirkt hat (Röm 5,1.10 f.; vgl. Kol 1,20–22). Wer Jesus Christus 482 Vgl. 1Kor 3,12 ff.; 2Kor 11,15; zum Problem s. L. Mattern, Das Verständnis des Gerichtes bei Paulus (AThA NT 47), Zürich 1966, 151 ff.; M. Konradt, Gericht und Gemeinde (BZNW 117), Berlin u. a. 2003, hier 473 ff.

266

5 Die paulinischen Briefe

nicht als den für alle Menschen gestorbenen und auferweckten Herrn erkennt (2Kor 5,15), bleibt bei einer „fleischlichen“ (katá sárka), d. h. äußerlichen, Beurteilung Christi stehen, die die aus dem göttlichen Zorngericht errettende Bedeutung seines Sterbens nicht wahrnimmt (Röm 5,9 f.). Die rechte Erkenntnis führt zu einer Neuschöpfung, durch die der Mensch seine Existenz „in Christus“ als „neue Kreatur“ begreift (2Kor 5,17; vgl. Gal 6,15). Damit vermag der Glaube schon zu antizipieren, was der übrigen Welt erst noch bevorsteht, wenn der neue Äon zur Vollendung kommt.483 Die Neuschöpfung hat ihren Grund in der Versöhnung, die Gott gestiftet hat, indem er die Welt (kósmos) in Christus mit sich selber versöhnte (2Kor 5,18). Der Begriff der Versöhnung impliziert eine Situation der Entfremdung und Feindschaft gegen Gott, die sich gegen das Gesetz Gottes auflehnt und insbesondere gegen das erste Gebot verstößt. Diese Feindschaft wurde durch den Tod Jesu überwunden, der die Liebe Gottes erwiesen, Frieden mit Gott gebracht und einen neuen Zugang zu ihm eröffnet hat, wie Paulus später im Römerbrief darlegen wird (Röm 5,1 f.8.10 f.; 8,7). Diese Aussöhnung geschah aufgrund der Liebe Christi und durch den Tod, den Jesus für alle Menschen gestorben ist (2Kor 5,14 f.; Gal 2,20). Durch dieses heilvolle Ereignis brachte Gott die Gerechtigkeit, in der er die Verfehlungen nicht mehr anrechnet (2Kor 5,19.21). Denn Gott hat Christus als Unschuldigen stellvertretend „für uns zur Sünde gemacht“, damit wir „in ihm Gottes Gerechtigkeit“, d. h. als abstractum pro concreto „von Gott Gerechtfertigte“, würden (5,21; § 5.16.5a).484 In dieser Versöhnungstat ist Christus von Gott her für die Menschen zum Opfer für ihre Sünden485 und insofern stellvertretend für sie, d. h. ihnen zugute, „zur Gerechtigkeit geworden“ (1Kor 1,30). Dadurch werden die Menschen zu Gerechten, die von Gott in Christus durch den Glauben ganz aus Gnade gerechtfertigt sind, d. h. freigesprochen und gerecht gemacht, ohne es verdient zu haben.486 Dieses „Wort von der Versöhnung“ (lógos tḗs katallagḗs) zu verkündigen, ist Paulus als „Dienst“ bzw. „Amt487 der Versöhnung“ (diakonía tḗs katallagḗs) aufgetragen (5,18.19). Deshalb bittet er die Korinther als Botschafter an Christi Statt: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (5,20).

483

Vgl. den neuen Himmel und die neue Erde in Apk 21,5. Ebenso wurde Christus in Gal 3,13 f. stellvertretend „für uns zum Fluch“, d. h. er nahm den Fluch des Gesetzes auf sich, damit der Segen, der dem Abraham verheißen war, in Christus allen zuteil wird (§ 5.11.3c). 485 Vgl. Röm 8,3: „um unserer Sünde willen“ (perí hamartías) bzw. 1Kor 15,3: „er ist gestorben für (wegen) unsere(r) Sünden“ (hypér tṓn hamartiṓn; vgl. Röm 4,25; Gal 1,4) sowie zur Stellvertretung und zum Opfer § 5.6.2.3b; Exkurs 2. 486 Vgl. die passiven Formulierungen mit „dikaioústhai“ in Röm 3,24.28; 5,1.9; Gal 2,16 f.; 3,24. 487 Das Wort „diakonía“ heißt eigentlich „Dienst“ (z. B. 1Kor 16,15; 2Kor 11,8), doch verwendet Paulus es auch in einem speziellen Sinn für seinen Apostolat, d. h. sein apostolisches Amt (2Kor 4,1; 6,3; Röm 11,13). 484

5.13 Der 2. Korintherbrief

267

Oder anders ausgedrückt: Nehmt durch meine Verkündigung im Glauben an, was Gott durch das stellvertretende Sterben Jesu zur Versöhnung mit euch getan hat. Ähnlich wie im 1. Korintherbrief geht auch hier die Argumentation ganz von der Heilsbedeutung des Kreuzes Christi aus (§ 5.12.5e). Im 1. Korintherbrief war der heilbringende Tod Christi u. a. die Macht, die die Überwindung des Selbstruhms und der sozialen Trennung in der Gemeinde ermöglichte.488 Auch in 2Kor 1–9 stützt der für andere erlittene Tod Christi die Autorität des äußerlich schwachen Apostels (5,14 f.), der die Versöhnung Gottes mit den Menschen verkündigt und dadurch die Voraussetzungen zur Überwindung des Misstrauens in der Gemeinde schafft (5,18– 21). Weil Christus für andere gelitten hat, sollen die Korinther auch den Apostel in seinen Leiden als Mitarbeiter Gottes akzeptieren, damit sie die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangen (6,1). Diese Theologie des Kreuzes wird auf die persönliche Existenz des Paulus angewandt und hat ein Verständnis der Apostel als „Diener Gottes“ (6,4) zur Folge, deren Verkündigung gerade in ihrer Wehrlosigkeit authentisch und mächtig ist: „... als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben“ (2Kor 6,9 f.). Der zuletzt zitierte Abschnitt galt schon für Augustin (354–430 n. Chr.)489 als eine der eindrucksvollsten Passagen eines antiken Briefs. Es handelt sich um eine Beschreibung der christlichen Existenz zwischen den Zeiten, d. h. in der letzten Periode des alten Äons, zu einem Zeitpunkt, an dem der Messias schon bekannt ist (§ 5.10.3). Der neue Äon wirkt bereits durch das Evangelium und wird durch die neue Existenz der Christen in dieser Welt vergegenwärtigt, auch wenn sie noch unter dem alten Äon leiden. Wie schon in der Pistisformel aus 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.1) dient hier die Aussage über den heilbringenden Tod Jesu als Gegengewicht zur apokalyptisch geprägten Auferstehungsverkündigung, die in 1Kor 15 als Hauptargument für die christliche Hoffnung im Tod angeführt wurde (§ 5.12.5). Ebenso werden in 2Kor 5 beide soteriologischen Traditionen entfaltet, in V.1–10 die endzeitliche Erwartung, ab V.14 ff. die schon vollzogene Versöhnung durch das stellvertretende Sterben Jesu. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die erhaltenen Texte, die Paulus nach Korinth schickte, leicht zu verstehen sind, wenn wir die paulinische Rechtfertigungslehre als schon bekannt voraussetzen (§ 5.11.4e; 5.12.5e). Andernfalls bleibt z. B. die Notiz über die Gerechtigkeit in 2Kor 5,21 (vgl. 6,7) rätselhaft, die der Tod Jesu gebracht habe. Ähnliches gilt von den Aussagen über die Freiheit vom Gesetz des Mose (3,17b), die nicht mit einer völligen Freiheit von jeglicher Norm verwechselt werden darf. Der Gläubige erkennt im Dienst an anderen das „Gesetz Christi“ (1Kor 9,21; 488 489

1Kor 1,13 (vgl. 12,13 ff.); 8,11 (vgl. V.7–11); 11,24 (vgl. V.17–34); 15,3 (vgl. V.11). Vgl. doctr. chr. IV, 20,42 (ed. I. Martin, CChrSL 32, Turnholt, 1962, 149).

268

5 Die paulinischen Briefe

Gal 6,2; § 5.11.4d), um sie für das Evangelium zu gewinnen (vgl. 1Kor 9,19–23: „den Juden ein Jude, den Schwachen ein Schwacher ...“). Die Aussagen über die Versöhnung Gottes mit den Menschen können als alternative Deutung der Rechtfertigungslehre begriffen werden.490 Diese „Versöhnungslehre“ ist für einen hellenistisch gebildeten Menschen – und damit für die Heidenchristen – besser verständlich als die Rechtfertigungslehre, die mit der apokalyptischen Erwartung des Jüngsten Gerichts verbunden war. Nach Peter Stuhlmacher handelt es sich um eine bei Paulus theologisch reflektierte ältere Tradition, in der die Versöhnung als eine Parallele zur kultischen Sühne (Lev 16) verstanden wird.491 Nach Cilliers Breytenbach gehören Versöhnung als ein eher sozialer und politischer Begriff und die aus dem Opferkult stammende Vorstellung der Sühne (Exkurs 2) begrifflich nicht zusammen, sondern haben eine unterschiedliche Herkunft.492 Angesichts dieser unterschiedlichen Herleitung bleibt festzuhalten: Die mit der Septuaginta (§ 5.5.1.1) vertrauten (Juden-)Christen sahen die Worte von der Versöhnung im Kontext des vierten Gottesknechtslieds in Jes 52,13–53,12. Diese Assoziation entspricht der Absicht des Paulus: Die Versöhnung ist im stellvertretenden Tod Christi begründet, der Sühne bewirkt hat (Röm 3,25). Während „Sühne“ und „Versöhnung“ im Deutschen einer einzigen Wortfamilie angehören, haben sie in der Bibel unterschiedliche Wurzeln im Opferkult bzw. im zwischenmenschlichen Bereich (s. Anm. 491 f.). Wieweit die Verbindung dieser unterschiedlichen Motive der Sühne, der Stellvertretung, der Rechtfertigung und der Versöhnung schon vor Paulus unter den Christen und Juden bekannt war, kann nicht eindeutig bestimmt werden. Unbestritten ist nur, dass der Gedanke des stellvertretenden Opfertodes bei Paulus oft auch ohne einen Ausdruck der Versöhnung Gottes mit den Menschen vorkommt und in einem der jüdischen Bibel kundigen Milieu gut verständlich war (Exkurs 2). Da in 2Kor 5,19 von der Versöhnung in einer grammatisch unüblichen Weise die Rede ist, war Paulus hier wahrscheinlich bestrebt, die Rechtfertigungslehre, die den stellvertretenden Tod Jesu erläutert, durch das Versöhnungsmotiv mit einer neuen Interpretation zu versehen: Die zuerst verwendete kultische Metapher des Opfers wird durch die politisch-soziale Metapher der Versöhnung noch einmal anders gedeutet (§ 1.3.3).493 490 Als grundlegenden Ausdruck paulinischer Theologie betrachten den Begriff der Versöhnung z. B. R. P. Martin, Reconciliation, Atlanta, GA 1981, und P. Stuhlmacher, Zur paulinischen Christologie (1977), zuletzt in: ders., Versöhnung, Gesetz und Gerechtigkeit, Göttingen 1981, 209–223, dort 217–220; ders., Theologie 1 (Lit. § 1), 295 ff.334 ff. 491 Ebenso auch O. Hofius, Erwägungen, 14. 492 C. Breytenbach, Versöhnung, 95 ff.215 u. a.; ders., Art. Sühne; Art. Versöhnung, ThBLNT2 2, 1685–1691.1777–1780. Zur Diskussion vgl. F. Hahn, Streit um die „Versöhnung“, VF 36 (1991), 55–64; ders., Theologie II (Lit. § 1), 381–398. 493 Treffend hat E. Käsemann, Erwägungen zum Stichwort „Versöhnungslehre im Neuen Testament“, in: Zeit und Geschichte (FS R. Bultmann), Tübingen 1964, 47–59, festgehalten,

5.13 Der 2. Korintherbrief

269

In 2Kor 5,19 handelt es sich um eine ausgesprochene Generalisierung der Rechtfertigungslehre: Die persönlich erfahrene Versöhnung mit Gott hat ihren Grund im universalen Versöhnungshandeln Gottes, das den „Kosmos“, d. h. die ganze Menschheit, einschließt. Diese Ausweitung erklärt der Apostel mit Hilfe der (vorpaulinischen?) Aussage494 vom göttlichen Versöhnungswirken in Christus und dem Nichtanrechnen der Verfehlungen (2Kor 5,19a.b). Mit der Kategorie der Versöhnung zieht er eine hellenistische Vorstellung heran, um den Inhalt der christlichen Botschaft verständlich zu machen.495 In Röm 5,9–11 verbindet er diese alternative Soteriologie der Versöhnung organisch mit der Rechtfertigungslehre. In seiner theologischen Reflexion hat Paulus diese zwei verschiedenen soteriologischen Entwürfe kombiniert und die ältere Kurzformel neu interpretiert. Dadurch gewann die paulinische Theologie ihre Wirkungs- und Überzeugungskraft. In 2Kor 5,15 und in einigen weiteren paulinischen Texten wird die stellvertretende Lebenshingabe auch mit Aussagen über die Auferweckung Jesu verbunden, sodass beide Ereignisse nicht isoliert betrachtet, sondern Jesu Tod und Auferstehung im sachlichen Zusammenhang gesehen werden müssen (vgl. 1Kor 15,3 ff.; § 5.6.2.1; 5.12.5).496 5.13.3.2

Zu 2Kor 10–13: Kraft in Schwachheit

Der letzte Teil des 2. Korintherbriefs ist eine Apologie des Apostels (vgl. 12,19), d.h. genaugenommen ein apologetischer Vergleich mit seinen Gegnern (Synkrisis: 11,7– 12,13).497 Der Selbstruhm des Apostels und die „Narrenrede“ in 11,1–12,13 sollen die Rivalen als falsche Apostel (11,13) entlarven, da sie aus der Sicht des Paulus keinen Grund zum Ruhm haben und ihr Selbstruhm absurd ist. Die Auseinandersetzung ist in einen paränetischen Rahmenteil eingebettet (10,1–6; 12,14–13,10), der auf die „Erbauung“ der Gemeinde zielt (oikodomḗ).498 Paulus sieht seine eigenen Leiden gerechtfertigt durch das Leiden Jesu Christi, der selber aus Schwachheit gekreuzigt dass Versöhnung im Neuen Testament kein soteriologischer Oberbegriff ist, das Motiv des Opfers und das der Versöhnung aber dieselbe Sache ausdrücken (55.58). 494 Manche halten „hōs hóti“ (dass) für ein Zitationssignal, das die nachfolgende Aussage als Überlieferungsstück kennzeichnen soll, andere gehen von einer epexegetischen (erklärenden) Bedeutung aus. 495 Vgl. die Belege bei C. Breytenbach, Versöhnung, 189 ff.; ders., Art. Versöhnung, ThBLNT2 2, 1778 f. 496 „Die Theologie der Auferstehung ist hier (bei Paulus; P.P.) ein Kapitel in der Theologie des Kreuzes, nicht deren Überbietung“ (E. Käsemann, Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 107). 497 Vgl. zu 2Kor 10–13 U. Heckel, Kraft in Schwachheit, bes. 49–51 (Gliederungsübersicht) und 301–325 (Zusammenfassung), sowie die Diskussion der neueren Literatur bei E. Gräßer, ÖTK 8/2. 498 2Kor 10,8; 12,19; 13,10 (§ 5.12.5b).

270

5 Die paulinischen Briefe

wurde, aber seit der Auferstehung aus Gottes Kraft lebt.499 Die in 2Kor 1–9 skizzierte Soteriologie wird in Kap. 10–13 ethisch und ekklesiologisch entfaltet. Im Rahmen des kanonischen 2. Korintherbriefs soll dieser Teil als Paränese dienen. Um die Um- und Neubewertung seiner Schwachheit herbeizuführen, die man ihm zum Vorwurf macht, gebraucht Paulus als Schlüsselwort das Verbum „kauchā́sthai“ (sich rühmen) aus der Sentenz „wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn“ (10,17), die er schon in 1Kor 1,31 als verkürztes Schriftzitat eingeführt hatte (vgl. Jer 9,22 f.; § 5.12.5e). Indem Paulus sich in paradoxer Weise seiner Schwachheiten rühmt, parodiert er nicht nur den Selbstruhm der rivalisierenden „Überapostel“ aufgrund ihrer Vorzüge. Mit der Aufzählung seiner Leiden weitet er zugleich die konkreten Vorwürfe gegen Einzelzüge seines Auftretens auf seine gesamte berufliche Existenz aus. Den Haupteinwand gegen seine apostolische Vollmacht erklärt er zu einem charakteristischen Wesenszug seines Lebens als Diener Christi, das über die ihm widerfahrenen Leiden hinaus auch seine aktive Sorge für alle Gemeinden einschließt.500 In diesem Kontext sind auch die Offenbarungsschilderungen in Kap. 12 zu verstehen. In V.2–4 berichtet Paulus von einer bereits vierzehn Jahre zurückliegenden Entrückung in den dritten, d. h. für Paulus höchsten Himmel, in dem das Paradies liegt. Nur widerwillig distanzierend schildert er diese Offenbarung in der 3. Person wie das Erlebnis eines anderen Menschen und bedauert nicht einmal, dass er die unsagbaren Worte nicht weitergeben darf, die er zu hören bekam (vgl. die Sprache der Engel in 1Kor 13,1; § 5.12.1). Nach den antithetischen Überleitungsversen 5–7a, die die beiden Erzählpassagen zu Anti-Geschichten verklammern, kommt Paulus auf seine Krankheit („Pfahl im Fleisch“) zu sprechen, die man ihm zum Vorwurf macht. Aufgrund des Verbums „kolaphízein“ (mit der Faust schlagen, ohrfeigen) wurde diese Krankheit in der Alten Kirche stets als Kopfschmerz im Bereich der Wangen verstanden. Und da der Dorn (Luther: „Pfahl“) den Schmerz als stechend charakterisiert, handelt es sich bei dieser schlagartig stechenden Krankheit vielleicht um eine Trigeminus-Neuralgie.501 Als Höhepunkt der ganzen Argumentation zitiert Paulus ein Offenbarungswort des (erhöhten) Herrn, das nicht wie in der Lutherübersetzung zur Genügsamkeit auffordert („lass dir an meiner Gnade genügen“ würde beim Verb eine Passivform voraussetzen). Vielmehr sagt es aktivisch das Ausreichen der göttlichen Gnade zu (12,9): „Es genügt (arkeí) dir meine Gnade, denn die Kraft ist in den Schwachen mäch-

499 50 0

2Kor 12,8–10; 13,3 f.; vgl. 1Kor 6,14; 2Kor 4,7–14; Phil 3,10 f. 2Kor 11,23–27; 12,10; vgl. 6,4–10 und die Peristasenkataloge in 4,7–10; 1Kor 4,11–

13. 501 Vgl. U. Heckel, Der Dorn im Fleisch. Die Krankheit des Paulus in 2Kor 12,7 und Gal 4,13 f., ZNW 84 (1993), 65–92, und als neueren Überblick den Exkurs bei E. Gräßer, ÖTK 8/2,198–200.

5.13 Der 2. Korintherbrief

271

tig“.502 Auch wenn Paulus nicht von seiner Krankheit geheilt wurde, reicht die Kraft dieser Gnade aus, weil sie von Gott kommt (2Kor 4,7) und sowohl aus Situationen der Todesnot zu erretten (1,8–11) als auch zur Vollendung im ewigen Leben zu führen vermag (12,9; 13,4).503 Das Herrnwort appelliert nicht an die Selbstgenügsamkeit (oder gar das Autarkie-Ideal eines stoischen Weisen) und auch nicht an die menschliche Tugend der Tapferkeit, sondern sagt das Ausreichen der göttlichen Kraft zu. Statt dem philosophischen Ideal der „Selbst-Genügsamkeit“ nachzueifern, wird eine neue Form der „Christ-arkie“ propagiert:504 Die „dýnamis“ bleibt eine „vis aliena“ (fremde Kraft), die stets von außen kommt und nicht zum Besitz des Menschen wird. Die Kraft Gottes führt einen Menschen am Leiden nicht vorbei, erweist in der Leidens- und Trostgemeinschaft mit Christus aber ihre Wirksamkeit (1,3–7), bewahrt vor der völligen Verzweiflung (4,8 f.) und begründet die feste, zuversichtliche Hoffnung auf die Auferstehung zum ewigen Leben mit Christus.505 Durch diese göttliche Kraft ist Paulus in der Lage, alle Bedrängnis in Geduld und Bewährung auszuhalten (Röm 5,2–5; Phil 4,11–13): „Alles vermag ich durch den, der mich stark macht.“ Darum sind auch die Leiden des Apostels nicht schon für sich genommen rühmenswert, sondern nur unter der Zusage des Herrn und als Wirkungsfeld seiner Kraft. So erweist Paulus das paradoxe Rühmen der Schwachheiten letztlich als einen Lobpreis der göttlichen Kraft Christi, der zugleich die Regel von 2Kor 10,17 erfüllt: Er rühmt sich des Herrn, der – im Unterschied zu den Gegnern – die Schwachheit des Apostels nicht verachtet, sondern zum Ort seiner Wirksamkeit erwählt hat (12,9).506 Damit hat Paulus aus dem Herrnwort in 12,9 anthropologische Einsichten gefolgert, aus denen er sogleich weitere Konsequenzen hinsichtlich der Vollmacht (exousía) zieht, die ihm der Herr für seinen apostolischen Dienst gegeben hat (10,8; 13,10): Wenn sein persönliches Auftreten schwach ist, dann können sein Missionserfolg, der Aufbau der Gemeinde und das Wachsen des Glaubens bei den Korinthern (10,11–18; 13,5) nicht auf seinen menschlichen Fähigkeiten beruhen, sondern müssen in der Kraft seines Herrn ihren Ursprung haben. Die Schwachheit des Paulus steht nicht im Widerspruch zu seiner Christuszugehörigkeit und Vollmacht (10,7b–10), sondern ist durch die Parallelität zur Schwachheit Christi legitimiert (13,4). Außerdem sind gerade seine missionarischen Erfolge in Korinth allen Vorwürfen zum Trotz der ent502 Vgl. zur Wirkungsgeschichte U. Heckel, Schwachheit und Gnade. Trost im Leiden bei Paulus und in der Seelsorgepraxis heute, Stuttgart 1997, 40–106. 503 Die Auferweckung der Toten liefert für Paulus den entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der Kraft Gottes (vgl. Mk 12,24), der seine Macht in der Auferstehung Jesu schon bewiesen hat und in der Auferstehung der Christen zur Vollendung bringen wird (vgl. 1Kor 6,14; 2Kor 4,7.14; 13,4; Phil 3,10 f.). 504 Vgl. zum stoischen Autarkieideal U. Heckel, Kraft, 277–284.317 f.; ders., Art. Genüge, ThBLNT2 1, 723–725. 505 2Kor 4,14; 13,4; Röm 8,17; Phil 3,10 f. 506 Vgl. U. Heckel, Art. Ruhm, ThBLNT2 2, 1517–1522.

272

5 Die paulinischen Briefe

scheidende Beweis für die Wahrheit seines apostolischen Vollmachtsanspruchs (13,3). Daraus folgt eine paränetisch eingekleidete Drohung an die Korinther, ihren Glauben zu bewähren, damit Paulus beim geplanten Besuch nicht als starker Mann auftreten und seine Vollmacht durch Niederreißen unter Beweis stellen muss, sondern die Gemeinde aufbauen kann, wie es seinem Auftrag und Schreibanliegen entspricht (10,8; 12,19; 13,5–10).

5.14

Der Philipperbrief

 Kommentare: Ernst Lohmeyer, KEK 9,1 (1930), 141974; Jean F. Collange, CNT Xa, 1973; Josef Ernst, RNT, 1974; Joachim Gnilka, HThK X,3, 31980; Ralph P. Martin, NCBC, 1976; Gerhard Barth, ZBK 9, 1979; Wolfgang Schenk, Die Philipperbriefe des Paulus, Stuttgart 1984; Peter T. O’Brien, NIGTC, 1991; Ulrich B. Müller, ThHK 11,I, 22002; Gordon D. Fee, NIC, 1995; Nikolaus Walter, NTD 8/2, 1998.  Monographien und Aufsätze: Walter Schmithals, Die Irrlehrer des Philipperbriefes (1957), in: ders., Paulus und die Gnostiker (ThF 35), Hamburg – Bergstedt 1965, 47–87; Günther Bornkamm, Der Philipperbrief als paulinische Briefsammlung (1962), in: ders., Geschichte und Glaube II (Lit. § 5), 195–205; Günther Baumbach, Die von Paulus im Philipperbrief bekämpften Irrlehrer, in: Karl-Wolfgang Tröger (Hg.), Gnosis und Neues Testament, Berlin 1973, 293–310; Wolfgang Schenk, Der Philipperbrief in der neueren Forschung (1945–1985), ANRW II,25,4, Berlin 1987, 3280–3313; Günther Klein, Antipaulinismus in Philippi, in: Jesu Rede von Gott (FS W. Marxsen), Gütersloh 1989, 297–313; Karl P. Donfried / I. Howard Marshall, The Theology of the Shorter Pauline Letters (NTTh), Cambridge 1993; Casy W. Davies, Oral Biblical Criticism. The Influence of the Principle of Orality on the Literary Structure of Paul’s Epistle to the Philippians (JSNTSS 172), Sheffield 1999.

Da Paulus sich bei der Abfassung des Philipperbriefs wegen seiner Christuspredigt im Gefängnis befindet, setzt er sich hier am intensivsten mit seinem möglicherweise bevorstehenden Tod auseinander. Umso dankbarer weiß er sich der Gemeinde in Philippi in einem herzlichen, geradezu freundschaftlichen Verhältnis durch den engen Kontakt und die finanzielle Unterstützung verbunden, die er bei anderen Gemeinden ablehnte (vgl. 2Kor 11,7–11).507 5.14.1

Gliederung und Inhalt

Beim Philipperbrief handelt es sich möglicherweise um eine Briefsammlung, da vor allem der Übergang von der Aufforderung zur Freude in 3,1 zu der scharfen Polemik gegen die Irrlehrer ab 3,2 als Bruch angesehen wird. Außerdem ist davon auszugehen, dass der Philipperbrief vermutlich zwischen dem 1. und dem 2. Korintherbrief entstanden ist (§ 5.8.2). Der letzte Teil des Philipperbriefs, wie er uns erhalten ist, 507

Vgl. zum Ganzen den Kommentar von U. B. Müller, ThHK 11/1.

5.14 Der Philipperbrief

273

kann wegen der Auseinandersetzung um die Rechtfertigungslehre in Kap. 3 auch in zeitlicher Nähe zum Römerbrief abgefasst sein. Die Reihenfolge, in welcher wir diese Briefe behandeln, ist also durch praktische Gründe bestimmt und soll nicht als Aussage über ihre Datierung verstanden werden. Die folgende Gliederungsübersicht deutet bereits einige Probleme der Interpretation an. 1,1–11 1,1 f. 1,3–11

Briefeingang Präskript (erwähnt erstmals Episkopen und Diakone) Proömium mit Dankgebet und Fürbitte für die Gemeinschaft (vgl. 4,10 ff.)

1,12–3,1

Briefkorpus I: Die Lage des Paulus und Ermahnung zur Einmütigkeit 1,12–26 Die Situation des Apostels im Gefängnis (1,7.13.17; vgl. 4,22) 1,27–3,1 Paränese I: Ermahnung zur Eintracht und Liebe in Christus 2,6–11 2,19–30 3,1

3,2–4,1

Christushymnus

Empfehlungen für Timotheus und Epaphroditus Abschließende Aufforderung zur Freude Briefkorpus II: Polemische Warnung vor Irrlehrern

4,2–9 Paränese II:

Aufforderung zu Eintracht, Freude und Friede (vgl. 2,1–4)

4,10–20

Dank für die Geldspende (vgl. 1,5)

4,21–23

Briefschluss (Postskript) mit Grüßen und Gnadenwunsch als Schlusssegen Christushymnus

kursiv Paränese

1,1–11 Briefeingang Nach dem Präskript eröffnet Paulus den Brief mit dem Proömium (exordium; 1,3– 11). Er dankt Gott für die gemeinschaftliche Teilhabe an der Botschaft des Evangeliums und bittet für die Philipper um das Wachstum ihres Glaubens. Paulus ist im Gefängnis (1,7.13.17). 1,12–3,1 Briefkorpus I : Die Lage des Paulus und Ermahnung zur Einmütigkeit 1,12–26 Der Apostel schildert seine Situation. Der Eingangsteil trägt Züge einer Selbstempfehlung des Paulus,508 dennoch soll er vor allem der Darstellung des Problems (narratio) dienen. Die Notiz aus 1,7 wird in V.16 f. entfaltet: Die Verhaftung des Apostels ermutigte die Christen in seiner Umgebung zur Verkündigung des Evangeliums. Einige von ihnen stellten jedoch seine Autorität in Frage. Sein Lebenswille ist erschöpft, sodass der Tod für ihn ein Gewinn wäre: Er könnte schon „mit 508

Vgl. F. Schnider / W. Stenger, Briefformular, 50 ff. (Lit. § 5.7).

274

5 Die paulinischen Briefe

Christus“ sein. Doch um der Adressaten willen möchte er weiterhin leben und das Gefängnis bald verlassen (1,21–26).509 1,27–2,18 Paränese I: Die Aufforderungen zur Treue, Eintracht und Liebe im gegenseitigen Dienst werden durch einen vorpaulinischen Christushymnus (Bekenntnis, Lehrgedicht) begründet (probatio), den der Apostel in Phil 2,6–11 zitiert. Der Hymnus bezieht den Titel „kýrios“ (Herr) auf Jesus (§ 5.6.1.3) und setzt dessen Präexistenz voraus. Anders als in der Pistisformel von 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.1) wird die heilbringende Funktion des Todes Jesu nicht expliziert, sondern nur auf den Tod am Kreuz hingewiesen. Das Kreuz ist der tiefste Punkt der Erniedrigung, die als Modell der Demut und Solidarität mit den sterblichen Menschen beschrieben wird und in der Erhöhung Jesu auf die Ebene Gottes ihren Gegenpol hat. 2,19–30 Es folgen Empfehlungen für Timotheus (2,19–24) und Epaphroditus (2,25–30), die Paulus als Mitarbeiter nach Philippi vorausschickt und besonders herzlich ankündigt. 3,1 Eine Aufforderung zur Freude schließt sich an, die mit einer Notiz über die nützlichen Wiederholungen510 als letzte Mitteilung (tó loipón = im Übrigen) eingeleitet ist. 3,2 – 4,1 Briefkorpus II: Polemische Warnung vor Irrlehrern Die „böswilligen Arbeiter“, die auch als „Hunde“ bezeichnet werden, forderten von den Christen in Philippi die Beschneidung. Dass sie dadurch die Gemeinde spalteten, wird durch ein Wortspiel ausgedrückt: Beschneidung – Zerschneidung (peritomḗ – katatomḗ; 3,2 f.). Indem Paulus sich als vorbildlichen Juden und Pharisäer präsentiert (3,5 f.), gibt er einen der wenigen autobiographischen Hinweise auf seine vorchristliche Vergangenheit (§ 5.8.1). Aber nachdem er Jesus als den Herrn kennen gelernt hat, erhielt er durch den Glauben von Gott die Gerechtigkeit (§ 5.16.5a). Diese Gerechtigkeit verbindet ihn mit Christus in seinem Leiden und eröffnet ihm die Perspektive der Auferstehung, die in der Erhöhung Jesu durch die Kraft Gottes begründet ist (3,7–11). Paulus vergleicht sein Leben mit einem sportlichen Wettrennen um den (in diesem Fall) himmlischen Preis, den er ergreifen möchte (3,12 ff.). Allerdings zeigt sich darin eine Innovation der Metapher, dass der ganze Wettlauf, dessen Ziel im Ergreifen des himmlischen Siegespreises besteht, durch das bereits geschehene Ergriffensein des Paulus durch Christus motiviert ist (3,12). 4,2–9 Paränese II: Nach der Aufforderung an einzelne Personen zur Eintracht (4,2 f.) folgen Ermahnungen, die zur eschatologischen Freude auffordern, von der Naherwartung getragen sind (4,4) und mit der Ankündigung verbunden werden, dass das Kommen des Herrn nahe bevorsteht (4,5; vgl. „Marana tha“ in 1Kor 16,22; 509 Dies ist eines der stärksten Argumente gegen die Auffassung des Christentums als einer Jenseitsreligion. 510 Phil 3,1: „Dass ich euch immer dasselbe schreibe, verdrießt mich nicht und macht euch umso gewisser.“

5.14 Der Philipperbrief

275

§ 5.6.1.3). Fast überraschend schließt sich ein Appell an, die allgemein anerkannten ethischen Normen zu respektieren (4,8). 4,10–20 Der Dank an die Adressaten für ihre finanzielle Unterstützung des Apostels (4,18; vgl. 2,25) mündet in einen liturgischen Lobpreis (Doxologie) mit „Amen“. Kap. 4 könnte die rhetorische Funktion einer peroratio (§ 5.7b) haben. 4,21–23 Den Schluss (Postskript) bilden Grüße und ein Gnadenwunsch als Segen. 5.14.2

Verfasser, Adressaten und literarische Integrität

Dass der Philipperbrief von Paulus stammt, ist allgemein anerkannt.511 Timotheus, der als Mitabsender angegeben wird (1,1; vgl. 2,19–24), hat eher die Funktion eines Zeugen. Adressaten der Epistel sind die Christen in Philippi, der ersten uns bekannten christlichen Gemeinde auf europäischem Boden. Nach Philipp II. von Makedonien, dem Vater Alexanders des Großen, benannt (356 v. Chr.), erlebte die Stadt unter Augustus ab 42 v. Chr. als römische Militärkolonie512 eine neue Blüte.513 Über die Gründung der christlichen Gemeinde wird in Apg 16,11–40 berichtet (vgl. Apg 20,6; 1Thess 2,2). Sie erfolgte 49 oder 50 n. Chr. und entsprach der paulinischen Strategie, Gemeinden an geographischen und administrativen Schlüsselstellen des Reichs aufzubauen. Philippi lag an der Via Egnatia, der Hauptverbindungsstraße zwischen Rom und Kleinasien. Der Brief zeugt von einem völlig unbelasteten Verhältnis und regen Kontakt zu den Philippern – abgesehen von der Polemik gegen die Widersacher in Kap. 3. Über den konkreten Einfluss von (Juden oder) Judenchristen innerhalb dieser christlichen Gemeinde ist nichts Genaueres bekannt. Apg 16,13 erwähnt einen Versammlungsort der Juden, der hier als „proseuchḗ“ (Gebetsstätte) bezeichnet wird. Die auffälligen Spannungen im Briefaufbau deuten darauf hin, dass das Schreiben aus mehreren (redigierten) Briefteilen zusammengestellt sein könnte. Polykarp von Smyrna (etwa 110–115) bezeugt die Existenz einer umfassenden Korrespondenz des Paulus mit der Gemeinde in Philippi, wenn er den Philippern empfiehlt, die Briefe (Plural), die ihnen Paulus geschickt hat, aufmerksam zu lesen (Polyk. Phil. 3,2; vgl. aber den Singular in 11,3). Polykarps Hinweis veranlasste mehrere Forscher zu Rekonstruktionsversuchen, unter denen die Annahme von drei ursprünglichen Briefen bzw. Brieffragmenten einen breiteren Widerhall fand.514 In jüngerer Zeit 511

Im 19. Jh. wurde die Verfasserschaft des Paulus z. B. von F. C. Baur in Frage gestellt. Vgl. die Namensform „Philippḗsioi“ für das lat. „Philippenses“ in Phil 4,15. 513 Näheres bei L. Bormann, Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus (NT.S 78), Leiden u. a. 1995; P. Pilhofer, Philippi I (WUNT 87), Tübingen 1995. 514 Vgl. die Übersicht bei U. B. Müller, ThHK 11/1, 7 f.; drei Briefe vermuten G. Bornkamm, A. Wikenhauser / J. Schmid, W. Marxsen, N. Perrin, H. Köster, H.-M. Schenke / K. M. 512

276

5 Die paulinischen Briefe

nehmen jedoch die Verfechter der literarischen Einheitlichkeit zu. Sie gehen davon aus, dass es ein einziger Brief ist, da viele Probleme bei der Rekonstruktion erst durch die Teilungshypothesen entstehen, wenn die Stimmungslage oder die Frage der Haftsituation isoliert betrachtet werden und die verbindenden Motive zu wenig Beachtung finden.515 Dennoch sollen die Hauptargumente der Teilungshypothese genannt werden, die beim Philipperbrief zur Annahme einer Sammlung aus folgenden drei Teilen geführt haben: A 4,10–20 B 1,1 – 3,1 und 4,21–23

Dankbrief (nach der Ankunft des Epaphroditus) Gefängnisbrief (durch Epaphroditus überbracht)

C 3,2 – 4,9

Kampfbrief (später, gegen Widersacher paulinischer Lehre)516

A) Der sog. Dankbrief: Phil 4,10–20 bildet eine Einheit, die nach Hinzufügung der Adresse (§ 5.7b) ein vollständiger Brief sein könnte, in dem Paulus für das durch Epaphroditus geschickte (Geld-)Geschenk dankt. Von der Haft bzw. Entlassung erwähnt Paulus nichts. B) Der sog. Gefängnisbrief: Der Anfang und das Ende des kanonischen Philipperbriefs sind im Gefängnis verfasst (1,7 f.12 f.17; vgl. 4,22). Die Geldspende, die Epaphroditus überbrachte, wird nur indirekt erwähnt. Der Überbringer ist inzwischen mit diesem Brief unterwegs nach Philippi (1,3; 2,25). Die Schwierigkeit der meisten Rekonstruktionsversuche besteht in der Bestimmung der Passagen, die noch zu diesem zweiten Schreiben gehören, das als Rahmen des kanonischen Philipperbriefs gedient haben könnte. C) Der sog. Kampfbrief: Am auffälligsten ist der Bruch zwischen 3,1 und 3,2 ff. Nun beginnt eine scharfe Polemik gegen eine gefährliche Gruppe in der Gemeinde, zu der der Aufruf zur Beständigkeit „im Herrn“ in 4,1 passt. Auch der Appell zur Aussöhnung zwischen den zwei Frauen, die eine verantwortliche Stellung in der Gemeinde hatten (4,2 f.), und die ethische Ermahnung in 4,8 f. können zu diesem Teil gehört haben. Die Gefangenschaft wird nicht erwähnt, sodass das Kapitel nach der in 1,25 erwarteten Entlassung geschrieben sein kann.

Fischer, N. Walter, mit zwei Briefen (Kampfbrief und Rest) rechnen J. Gnilka, A. Suhl u. a. C. W. Davies geht aufgrund der rhetorischen Analyse davon aus, dass der Philipperbrief Züge mündlicher Rede aufweist, die im Stil der Diatribe bearbeitet sind (Oral Biblical Criticism, 140–161). Da aber auch der Endredaktor den Stilwechsel als rhetorisches Mittel benutzt, muss die inhaltliche Analyse bei der Frage der Einheitlichkeit von größerem Gewicht sein, als C. W. Davies voraussetzt. 515 So z. B. E. Lohmeyer, W. G. Kümmel, U. Schnelle, U. B. Müller, H.-J. Klauck. 516 Zur Begründung vgl. G. Bornkamm, zur Begrenzung der einzelnen Teile H.-M. Schenke / K. M. Fischer, Einleitung (Lit. § 1), 126, zur älteren Diskussion A. Wikenhauser / J. Schmid, Einleitung (Lit. § 1), 500 ff.

5.14 Der Philipperbrief

277

Das 2. Kapitel mit dem Hymnus (2,6–11) wird mit einer Bitte um die Vollendung der Freude (2,2) eröffnet, die kaum zum Kampfbrief gehören kann.517 Die Bitte ist eher dem zweiten Brief zuzuordnen, dem sog. Gefängnisbrief, der von Epaphroditus überbracht wurde. Epaphroditus ist in der Stadt, in welcher der Apostel im Gefängnis sitzt, erkrankt und kehrt erst nach seiner Genesung zurück (2,25–30). Paulus möchte Timotheus nach Philippi schicken (2,19–24). Diesem zweiten Brief werden vielfach Phil 1,1–3,1 und 4,21–23 zugeordnet. Nach dieser Teilungshypothese wurden die drei im Philipperbrief enthaltenen Schreiben aus liturgischen und literarischen Gründen für die leichtere Verwendung im Gottesdienst redaktionell zu einer Briefsammlung zusammengefasst. Die Redaktionsarbeit habe ein Schüler des Paulus geleistet, der das ganze paulinische Korpus oder zumindest einen bedeutenden Teil (vermutlich in Ephesus) gesammelt und redigiert habe (§ 5.9). Bei dieser Redaktion entstand die Gegenüberstellung der „böswilligen Arbeiter“ (Kampfbrief C) und des Epaphroditus (Gefangenschaftsbrief B), der dadurch zum Vorbild eines treuen christlichen Zeugen wurde. 5.14.3

Die Gegner

Die in Kap. 3 bekämpften Gegner werden nur sehr allgemein charakterisiert. Die „böswilligen Arbeiter“ (3,2) sind vermutlich mit den „Feinden des Kreuzes Christi“ (3,18 f.) identisch.518 Als christliche Missionare (ergátai)519 betonten sie ihre Zugehörigkeit zum Judentum und forderten nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz verlangt, die Beschneidung (3,2–6). Daher dürfte es sich um eine christliche Gruppe handeln, die von Judenchristen beeinflusst war.520 Indem Paulus in 3,2 ff. die Alternative zwischen der „Gerechtigkeit aus dem Gesetz“ und der „Gerechtigkeit von Gott aufgrund des Glaubens“ aufwirft, lässt er eine auffällige Nähe zum Galater- und wegen der Rede von der „Gerechtigkeit von Gott“ (3,9) zum Römerbrief erkennen (§ 5.11.3–4; 5.16.5a).521 Aufgrund dieser Parallelen ist bei den Gegnern im Philipperbrief von einem judenchristlichen Einfluss auszugehen – analog zu den Falschbrüdern oder Jakobusleuten in Gal 2,4 f.12. Anders als in Galatien haben diese judenchristlichen 517 Doch weist U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 160, auf vielfache Wortbezüge zwischen 2,6–11 und 3,20 f. hin. 518 Vgl. den Exkurs bei U. B. Müller, ThHK 11/1, 188–193. 519 Vgl. 2Kor 11,13 als Bezeichnung für falsche Apostel (§ 5.13). 520 Heiden(-Christen) können die Irrlehrer nicht gewesen sein wegen der Beschneidungsforderung. Aber sie waren auch keine Juden, da Paulus nicht gegen den Abfall von Christus, sondern gegen den Rückfall in eine judenchristliche Haltung kämpft, die den Christusglauben mit der Beschneidungsverpflichtung kombinieren will. 521 Deswegen identifiziert sie G. Klein, Antipaulinismus, 313, mit Judaisten, ähnlich Ch. Mearns, The Identity of Paul’s Opponents at Philippi, NTS 33 (1987), 194–204.

278

5 Die paulinischen Briefe

Irrlehrer in der Gemeinde von Philippi aber noch nicht weiter Fuß fassen können (vgl. Gal 1,6 f.; 4,9 f.). Dagegen ist umstritten, ob es sich zugleich um moralische Libertinisten handelt („ihr Gott ist der Bauch“; 3,19) – ähnlich den Enthusiasten im 1. Korintherbrief (§ 5.12.4). Eine Erklärung kann die Analyse der paulinischen Polemik bieten: Paulus betont dieser Gruppe gegenüber das Bürgerrecht der Christen im Himmel (3,20). Die Konsequenz ist eine aktive Verantwortung im jetzigen Leben, das mit einem Wettlauf verglichen wird. Erst am Ziel wird die Vollkommenheit erreicht (3,12–16). Die Gegner betonten also ihre Zugehörigkeit zur himmlischen Welt, die für sie die Vollkommenheit schon im Diesseits einschließt. Sie lebten angeblich ohne moralische Hemmungen, was mit ihrem Vollkommenheitsbewusstsein zusammenhängen kann.522 In der Religionsgeschichte ist eine solche Mischung aus Spiritualität und laxer Moral später in der Gnosis belegt. Eine Analogie findet sich bei den falschen Aposteln aus 2Kor 10–13,523 die sich ebenfalls ihres wahren Judentums (vgl. 2Kor 11,22 f.), ihrer geistigen Autorität sowie ihrer Christusnähe rühmten und gleichzeitig (aus paulinischer Sicht) unzüchtig lebten (2Kor 12,21; § 5.13.3.2). Da moralische Beschuldigungen der Gegner in Polemiken häufig vorkommen, trägt dieser Topos zur Identifizierung der Gegner nicht viel bei. Lange Zeit hat man die innere Spannung der Polemik als Ausdruck des geistigen Kampfes an zwei Fronten gegen christliche Judaisten und libertinistische Enthusiasten betrachtet.524 Wenn wir bedenken, wie provozierend die paulinische Theologie mit ihrer neuen Auffassung vom Volk Gottes wirken musste (§ 5.11.4), begreifen wir, dass die Gegnerschaft recht unterschiedlich motiviert sein konnte.525 Inzwischen hat sich beim Philipperbrief weitgehend die Einsicht einer einheitlichen judenchristlichen Gegnerfront durchgesetzt. Oft wird auch ein politischer Umstand als Erklärungsgrund angeführt, weshalb Paulus seine Gegner als „Feinde des Kreuzes Christi“ bezeichnet haben könnte (3,18). Die Ablehnung der Kreuzestheologie könnte als Zuneigung zur Synagoge interpretiert werden, die durch die Angst vor der Verfolgung um des „Kreuzes Christi“ willen (vgl. Gal 6,12) motiviert wäre (Phil 3,18 f.). Dieser Hinweis auf die Zuwendung zum Judentum erfolgt ungeachtet der Frage, ob sie aus Angst vor den synagogalen Gerichten entstand oder ob sie ein Versuch war, unter dem Dach der Synagoge 522 Deshalb können die „böswilligen Arbeiter“ nicht mit den Gegnern aus Galatien identisch sein. Paulus polemisiert nicht gegen die Auffassung des Gesetzes als Heilsweg, sondern gegen das Vollkommenheitsgefühl. 523 Vgl. die „betrügerischen Arbeiter“ in 2Kor 11,13 mit den „bösen Arbeitern“ in Phil 3,2. 524 So im Anschluss an W. Lütgert in der letzten Zeit vor allem G. Baumbach, Irrlehrer, 308 ff. 525 H.-M. Schenke / K. M. Fischer, Einleitung I (Lit. § 1), 128, identifizieren die Gegner als „offizielle Kirche“.

5.14 Der Philipperbrief

279

als einer offiziell anerkannten Religion der möglichen Verfolgung durch die römische Staatsmacht zu entgehen (vgl. § 2.2.1b; Exkurs 9). Diese Angst vor Anfeindungen könnte Paulus polemisch als Sorge um den Bauch charakterisiert haben.526 Schon hier muss allerdings gesagt werden, dass Paulus im Philipperbrief theologische Konsequenzen zog, die über die in Kap. 3 erörterten Streitfragen weit hinausgehen. 5.14.4

Das theologische Anliegen: Leben im Angesicht des Heils

Da die Opponenten erst im polemischen Teil der Philipperkorrespondenz deutlich hervortreten (3,2 ff.), sind die theologischen Grundaussagen des Apostels, denen wir im Philipperbrief begegnen, primär in einem anderen, weiteren Kontext zu deuten. Erst in einem zweiten Schritt stellt sich dann die Frage, wie die Polemik gegen die „böswilligen Arbeiter“ vor dem Hintergrund der früheren Auseinandersetzungen zu verstehen ist. Selbst wer die Briefteilungshypothese für plausibel hält, muss anerkennen, dass die einzelnen Abschnitte des Philipperbriefs in der Verschiedenheit ihrer Situationen durch eine zusammenhängende Thematik verbunden sind, die Paulus theologisch entfaltet. Die verschiedenen Situationen sind: a) die Freude über das aus Philippi überbrachte Geschenk, das für Paulus ein Zeichen der gegenwärtigen realen Macht des Evangeliums darstellt (4,14–18; sog. Dankbrief A), b) die Sehnsucht nach einem unmittelbaren Mit-Christus-Sein aus der Gefangenschaft heraus (1,21 ff.; sog. Gefängnisbrief B) und c) der problematische Anspruch auf die schon erreichte geistige Vollkommenheit, den Paulus bei den Gegnern verspürt (3,12.15; sog. Kampfbrief C). Alle drei Aspekte veranlassten den Apostel zu einem vertieften theologischen Nachdenken über die Präsenz des Heils: Zum ersten sieht er eine deutliche Spur heilvoller Erfahrungen in der Gemeinschaft, die er in Gestalt einer materiellen Unterstützung von den Philippern erfahren hat (4,15–20). Zum zweiten muss die Gemeinschaft „mit Christus“ für Paulus in seiner vom Tod bedrohten Lage als Gefangener eine Perspektive bieten, die ihm über das irdische Dasein hinaus die Hoffnung auf ein ewiges Leben eröffnet: „Denn Christus ist mein Leben, und Sterben mein Gewinn“ (1,21.23). Da Paulus in 1Thess 4,17 noch die Ankunft des neuen Äons zu seinen Lebzeiten voraussetzte (§ 5.10.3), müssen wir aus dieser Todessehnsucht heraus mit einer Akzentverschiebung in der paulinischen Es-

526 So A. Suhl, W. Schenk, K.-W. Niebuhr, P. Pilhofer, deren Position U. B. Müller, ThHK 11/1, 192 f. Anm. 265, jedoch „aus einer überstrapazierten Sicht des paulinischen Gebrauchs von Politeuma in Phil. 3,20 (erklärt)“.

280

5 Die paulinischen Briefe

chatologie rechnen (§ 5.13.3.1b).527 Trotz der Möglichkeit eines unmittelbar bevorstehenden gewaltsamen Todes werden aber auch im Philipperbrief die Hoffnung auf die Parusie des Retters am Tag Christi528 und die eschatologische Naherwartung nicht aufgegeben: „Der Herr ist nahe!“ (4,5; vgl. Röm 13,11 f.). Es handelt sich also eher um eine konkrete Zuspitzung der Enderwartung auf die Situation in der Gefangenschaft als um eine echte Änderung der eschatologischen Vorstellungen. Ein noch größeres Gewicht hat zum dritten die präsentische Dimension des Heils: Die wahre Heimat der Christen, die ihnen wie eine antike Polis (Stadt) das volle Bürger recht gewährt (políteuma), befindet sich im Himmel (3,20; vgl. 2Kor 5,6– 8).529 Die Namen der Gläubigen stehen bereits im Geburtsregister dieser himmlischen Polis, dem Buch des Lebens (Phil 4,3). Der Eintrag in dieses Buch eröffnet die vollberechtigte Zugehörigkeit zur himmlischen Heimatstadt und begründet die Hoffnung auf die dortige Vollendung der eigenen Existenz.530 Davon lebt die gegenwärtige Freude, die eine Vorwegnahme der eschatologischen Freude darstellt und von der Hoffnung auf die nahe bevorstehende Parusie des Kyrios erfüllt ist:531 „Freut euch im Herrn allezeit! Noch einmal sage ich: Freut euch“ (4,4). Gleichzeitig erkannte Paulus, dass eine vorzeitige Preisgabe der Verantwortung für die Mitmenschen aufgrund seiner Todessehnsucht eine Flucht darstellen würde (1,22.24.26). Gerade in der Verantwortung für andere zeigt sich, wie ernst ein Mensch die Gnade Gottes nimmt. Angesichts des Vollkommenheitsgefühls einiger Christen, die die Adressaten beeinflusst haben könnten, entfaltet der Apostel die Präsenz des Heils als eine Bewegung (Wettlauf) hin zur Vollendung, die von Christus inspiriert ist (3,12–16). Gegenwärtig sind sie noch unterwegs, aber das Ziel steht vor Augen. Vielleicht war auch das Bild des Bürgerrechts im Himmel mit ähnlichen Konnotationen einer eschatologischen Erwartung verbunden, zumal in Philippi römische Veteranen angesiedelt wurden. Diese ehemaligen Soldaten machten sich hier um die Blü527 Vgl. W. Wiefel, Die Hauptrichtung des Wandels im eschatologischen Denken des Paulus, ThZ 30 (1974), 65–81; G. Baumbach, Die Zukunftserwartung nach dem Philipperbrief, in: Die Kirche des Anfangs (FS H. Schürmann), Leipzig 1977, 439–458, bes. 453 ff.; G. Haufe, Individuelle Eschatologie des Neuen Testaments, ZThK 83 (1986), 436–463, dort 454, aber auch die Kritik an der Entwicklungshypothese von P. Siber, Mit Christus leben (AThANT 61), Zürich 1972, 99–134; M. Hengel, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 376–382.388–391. 528 Phil 1,6.10; 2,16; 3,12–21. 529 Vgl. R. Feldmeier, Christen als Fremde (Lit. § 8.6), 80–83.93 f. 530 Vgl. A. M. Schwemer, Himmlische Stadt und himmlisches Bürgerrecht (Gal 4,26 und Phil 3,20), in: M. Hengel u. a. (Hg.), La Cité de Dieu / Die Stadt Gottes (WUNT 129), Tübingen 2000, 195–243; vgl. auch das himmlische Jerusalem in Hebr 12,22 (§ 8.5.3c) und Apk 21,2 (§ 7.2.6). 531 Phil 1,4.18.25; 2,18; 3,1; 4,1.4 f.

5.14 Der Philipperbrief

281

te einer Stadt verdient, die nicht ihre ursprüngliche Heimat war. Setzt aber schon das irdische Bürgerrecht an einem anderen Ort solche konstruktiven Kräfte frei, dann wirkt das Wissen um das uneingeschränkte Wohnrecht in der himmlischen Heimatstadt erst recht motivierend für das Miteinander in der Gemeinde, weil es von der Erwartung auf das Kommen des Herrn und auf die Vollendung der Gemeinschaft mit ihm getragen ist (3,20). 5.14.5

Der Christushymnus in Phil 2,6–11

 Ernst Lohmeyer, Kyrios Jesus (SAH 4), Heidelberg 1928; Ernst Käsemann, Kritische Analyse von Phil 2,6–11, in: ders., Exegetische Versuche I (Lit. § 5.6.2.3), 51–95; Reinhard Deichgräber, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit (StUNT 5), Göttingen 1967, 118–133; Hans-Martin Schenke, Die neutestamentliche Christologie und der gnostische Erlöser, in: Gnosis und Neues Testament, Berlin 1973, 205–229; Jozef Heriban, Retto phroneín e kénōsis. Studio esegetico su Fil 2,1–5.6–11 (BSR 51), Rom 1973; ders., Il Cristo „preesistente“, o Jesu Cristo nella sua essistenza divino-umana?, in: EΠITOAYTO (FS P. Pokorný), Prag 1998, 149–162; Morna D. Hooker, Philippians 2,6–11, in: Jesus und Paulus (FS W. G. Kümmel), Göttingen 1975, 151–174; Georg Strecker, Redaktion und Tradition im Christushymnus Phil 2,6–11, in: ders., Eschaton und Historie, Göttingen 1979, 142–157; Luise Abramowski, Drei christologische Untersuchungen (BZNW 45), Berlin / New York 1981; Otfried Hofius, Der Christushymnus Phil 2,6–11 (WUNT 17), Tübingen 21991; Ralph Brucker, „Christushymnen“ oder „epideiktische Passagen“? (FRLANT 176), Göttingen 1997.

Zur Basis seiner paränetisch orientierten Argumentation bezüglich der konkreten Verantwortung für die Mitmenschen machte Paulus den Christushymnus in Phil 2,6–11.532 Es handelt sich dabei um einen vorpaulinischen Text,533 den der Apostel aus der Tradition übernommen hat und den er bei den Adressaten als bekannt voraussetzt. Als Lied hatte der Hymnus einen gottesdienstlichen Sitz im Leben (vgl. Kol 3,16; § 5.6.2.4). Er dürfte nicht allzu lange vor der Abfassung dieses Briefteils formuliert worden sein. Der Hymnus lautet: I

532

6a b 7a b 7c

„Er, der in Gottesgestalt war, hielt nicht fest wie einen Raub das Gottgleichsein, sondern er machte sich selbst arm, Knechtsgestalt annehmend. Den Menschen gleich werdend

Zu den Christushymnen vgl. § 5.6.2.4, zu Phil 2,6–11 U. B. Müller, ThHK 11/1, 91–

115. 533 Darauf deuten die paulinischen Hapaxlegomena „morphḗ“ (Gestalt), „harpagmós“ (Raub), „hyperhypsoýn“ (zur höchsten Höhe erheben), „katachthónios“ (unterirdisch) sowie die Häufung der Partizipial- und Relativkonstruktionen, der strophische Aufbau, die Parallelismen und die Unterbrechung des Kontexts.

282

5 Die paulinischen Briefe d 8a b c

II 9a b l0 a b 11a b c

und der Erscheinung nach erfunden als ein Mensch, erniedrigte er sich selbst, sich gehorsam erzeigend bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz. Darum auch hat Gott ihn zur höchsten Höhe erhoben und ihm geschenkt den Namen über alle Namen, damit unter Anrufung des Namens Jesu jedes Knie sich beuge der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen und jede Zunge lobpreisend bekenne: ,Herr ist Jesus Christus!‘ zur Ehre Gottes, des Vaters.“534

Der Hymnus geht von der Präexistenz Jesu aus: Das Leben Jesu ist nicht erst durch die Inkarnation entstanden, sondern er war schon vorher bei Gott. Diese Existenz wird noch nicht als Schöpfungsmittlerschaft charakterisiert, die erst in den deuterobzw. nachpaulinischen Hymnen mehrfach begegnet.535 Bei Paulus findet sich lediglich in 1Kor 8,6 eine kurze Formel, die mit der Schöpfungsmittlerschaft Jesu rechnet, „durch den alle Dinge sind und wir durch ihn“ (§ 5.6.2.4). Dieser Gedanke der Präexistenz- und Schöpfungsmittlerschaft Christi bildet den protologischen Gegenpol zur bereits früher geläufigen, eschatologisch orientierten Kombination von Sterbeformel und Auferstehungsverkündigung (1Kor 15,3b–5; § 5.6.2.1), die in dem alten aramäischen Gebetsruf „Marana tha“ („Unser Herr, komm!“; 1Kor 16,22) bald mit der Erhöhungsvorstellung und dem Kyrios-Titel (§ 5.6.1.3) verknüpft wurde. Die auf das Eschaton ausgerichtete Verbindung von gekreuzigtem Jesus und neuem Äon (§ 5.10.3) führte im Philipperhymnus zu einer ähnlichen „hymnischen“ Verankerung „nach vorne“. Eine analoge Rückbindung ist schon in den vorpaulinischen Hingabe536 und Sendungsformeln537 impliziert, die ebenfalls einen göttlichen Ursprung voraussetzen (§ 5.6.2.1). Indem beide Verlängerungen „nach vorne“ und „nach hinten“ kombiniert werden, entsteht ein mythisches Bild des Ab- und des noch höheren Aufstiegs. Diese Ab- und Aufwärtsbewegung erklärte die religionsgeschichtliche Schule mit dem direkten Einfluss alter Mythen. Entscheidend ist für Paulus jedoch die theologische Intention des Präexistenzgedankens: Die Erfahrung des Glaubens, dass der erhöhte Herr im hymnischen Bekenntnis zum Kyrios auf neue Weise präsent ist, wird bei der Existenz Jesu Christi generalisiert vom Uranfang bis in Ewigkeit. Der Hymnus in Phil 2,6–11 ist ein zweistrophiges Lied, das durch die Konjunktion „dió“ („darum“) und den Subjektwechsel von Christus zu Gott in V.9 eine deutliche 534

Gliederung und Übersetzung O. Hofius, Christushymnus, 8.137. Vgl. § 5.6.2.4 zu Kol 1,15–20 (§ 8.2.5); Hebr 1,3 f. (§ 8.5.2); Joh 1,1 ff. (§ 7.1.5.1a; 7.6.1). 536 Vgl. die Hingabe durch Gott (Röm 4,25; 8,32; vgl. Joh 3,16; § 7.1.5.1a) sowie die Selbsthingabe Jesu (Gal 1,4; 2,20; 1Tim 2,5 f.; vgl. Mk 10,45). 537 Gal 4,4 f.; Röm 8,3 f. (§ 5.6.1.2; vgl. Joh 3,16 f.; 1Joh 4,9 f.; § 7.1.5.1a). 535

5.14 Der Philipperbrief

283

Zäsur aufweist. Dieser Neueinsatz markiert die Wende des Geschehens. Diskutiert wird bei der Zeilengliederung, ob es sich um sechs Dreizeiler (E. Lohmeyer) oder – eher wie oben abgedruckt – um sieben Zweizeiler nach dem Formprinzip des Parallelismus membrorum handelt, wie er auch für alttestamentliche Psalmen typisch ist (R. Deichgräber; O. Hofius; s. Anm. 534). Mit der Erniedrigung des Präexistenten (2,6–8) und der Erhöhung als Herr (2,9– 11) gibt der Hymnus die drei Etappen der Geschichte des Erlösers wieder, die Himmel und Erde verbinden: „oben“ (Präexistenz) – „unten“ (Erniedrigung bis zum Tod am Kreuz) – „ganz oben“ (Erhöhung und Inthronisation zum Weltherrscher). Die Geschichte Jesu repräsentiert den Willen des Schöpfers und ist keine nur vorübergehende Etappe seiner Kommunikation mit den Menschen. Da der Ort des Menschen im Kosmos ein Grundthema der antiken Mythologie und Philosophie darstellt, ist eine derartige Entfaltung der christlichen Glaubenserfahrung gut verständlich.538 Von zentraler christologischer und paränetischer Bedeutung war für Paulus die gegensätzliche Bewegung in der Selbsterniedrigung des Präexistenten und der Erhöhung des Gekreuzigten, die die gottesdienstliche Anbetung als „Herr“ ermöglicht. Präexistenz

Inthronisation zum „Kyrios“

Selbsterniedrigung

Erhöhung durch Gott Tod (Kreuz)

liturgische Akklamation durch die Gemeinde

Abb. 14: Der Christushymnus in Phil 2,6–11

Nicht alle Probleme der Deutung können hier erwähnt werden, doch sind einige Beobachtungen für das Verständnis des Philipperbriefs unentbehrlich: a) Der Ausgangspunkt liegt nach V.6 „in der Gestalt Gottes“ (morphḗ theoú). Betont wird damit die gottgleiche Würdestellung Christi, sein göttlicher Status. Implizit ist die Präexistenz Christi vorausgesetzt (s. Anm. 535f.; § 5.6.2.4). b) Der Abstieg, die Selbstentäußerung (V.7) des Erlösers, war nicht die Folge eines schicksalhaften Falls. Christus verzichtete bewusst auf seinen Status als Gottgleicher und nahm gegen alle antike Erwartungshaltung freiwillig die „Knechtsgestalt“ (morphḗ doúlou) an.539 Diese Sklavenexistenz steht im äußersten Kontrast zu seiner 538

Wenn H.-M. Schenke, Neutestamentliche Christologie, 219 ff., den Hymnus mit später belegten, außerchristlichen gnostischen Vorstellungen vergleicht, gibt er eine anschauliche Illustration der Wirkung des Hymnus. Die historische Einordnung bleibt allerdings hypothetisch. 539 Vgl. das vierte Gottesknechtslied (Jes 52,13–53,12) und das Lösegeldlogion (Mk 10,45).

284

5 Die paulinischen Briefe

ursprünglichen „Gottesgestalt“ (morphḗ theoú; V.6).540 Einen parallelen Gedanken formuliert Paulus in 2Kor 8,9: „er wurde arm, obwohl er reich war.“ c) Die Ausdrücke „Gestalt“ (morphḗ; V.6f.) oder „Abbild, gleiche Erscheinung“ (homoíōma; 2,7) dürfen nicht mit Hilfe späterer dogmatischer Vorstellungen als Ausdruck einer doketischen Christologie kritisiert werden, die mit der nur scheinbaren Leiblichkeit des Erlösers rechnete. Sie betonen vielmehr, dass der Erlöser wahrer Mensch war, der unter den realen Bedingungen menschlicher Todesverfallenheit lebte (Röm 8,3) und seine Gottebenbildlichkeit nicht verlor (vgl. Gen 1,26 LXX: der Mensch als homoíōsis [Ähnlichkeit] Gottes).541 d) Die Erniedrigung des Menschgewordenen (V.8) hat keine Analogie in vergleichbaren Hymnen (s. Anm. 535), die nicht vom Kreuzestod sprechen und auch die Menschwerdung nicht in den ethischen Kategorien des Gehorsams schildern. Die Schlusswendung „zum Tode am Kreuz“ wird häufig – aber nicht immer – für eine paulinische Ergänzung gehalten,542 durch die der Apostel den Hymnus seiner Kreuzestheologie angepasst haben soll.543 e) Die zweite Strophe zieht aus der Selbstentäußerung und -erniedrigung des Menschgewordenen mit dem markanten Neueinsatz in V.9 die Konsequenz der Erhöhung, und zwar durch Gott.544 Die Erhöhung dessen, der sich selbst erniedrigt hat, zeigt im Sinn der weisheitlich geprägten Jesusüberlieferung,545 dass der freiwillige Macht- und Besitzverzicht, der mit der Existenz als Sklave verbunden ist, nicht im Scheitern endet, sondern in Wahrheit Anerkennung bei Gott findet. Zugleich wird 540

Die Frage, ob der „Raub“ (harpagmós) in 2,6b etwas schon Erbeutetes (res rapta) oder erst Begehrtes und Verfolgtes (res rapienda) ist, kann grammatisch nicht eindeutig entschieden werden (L. Abramowski hat auch auf die Bedeutung von „harpagmós“ als Entrückung aufmerksam gemacht). Literarisch geht es allerdings um einen Parallelismus mit dem ersten Satz, was für die erste Möglichkeit spricht (so bes. E. Käsemann). Die Präexistenz wird hier vor allem als Hintergrund der Menschwerdung verstanden, so J. Heriban, Retto phroneín, 371.406f. 541 Vgl. 2Kor 4,4; Kol 1,15; vgl. E. Käsemann, Kritische Analyse, 75f. Zu Christus als dem wahren Menschen in Phil 2 s. M. Hooker, Philippians 2:6–11, 160 ff. 542 Nach E. Lohmeyer (z.St.) oder U. B. Müller (95.107f.115) ist die Wendung „zum Kreuzestod“ ein Zusatz, G. Strecker (und andere) hält den ganzen V.8 für eine redaktionelle Ergänzung. Für die Integrität des Hymnus ohne sekundäre Zusätze plädiert O. Hofius, Christushymnus, 1.3–17.103f. 543 Vgl. das Lied „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich“ von Nikolaus Herman (1560): „Er äußert sich all seiner G’walt, wird niedrig und gering und nimmt an eines Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding“ (EG 27,3). 544 Vgl. die Aussage in 2Kor 13,4, dass Christus aus Schwachheit gekreuzigt wurde, aber lebt aus Gottes Kraft. 545 Mt 23,12; Lk 14,11; 18,14; vgl. Mt 18,4; zur weisheitlichen Tradition vgl. Spr 3,34 („Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade“) in Jak 4,6.(10); 1Petr 5,5(f.); 1Clem 30,2.

5.14 Der Philipperbrief

285

das Ostergeschehen als Erhöhung dargestellt.546 Dieser Vorgang der Erhöhung geschieht zwar bei der Auferstehung Jesu, doch bedeutet seine einseitige Betonung schon eine neue, weniger apokalyptische Interpretation der Auferstehungsverkündigung. Entsprechendes gilt auch für die anderen Hymnen dieser Art (s. Anm. 535). f) Die zweite Strophe begründet die Akklamation „Herr“ (kýrios) für Jesus Christus, die die griechischsprechenden Juden statt des Namens Gottes (JHWH) benutzten.547 Als Umschreibung des Gottesnamens ist er der „Name über alle Namen“, der Jesus als höchster göttlicher, gottgleicher Würdetitel beigelegt wird (vgl. 1Kor 12,3; § 5.6.1.3).548 Erhöhung und Namensverleihung gelten als Akt der Inthronisation und Herrschaftsübertragung. Am Ende steht die gottesdienstliche Proskynese und Akklamation Jesu als „kýrios“. Sie hat eine kosmische Tragweite549 und zielt auf die Verehrung des Erhöhten durch alle überirdischen Geistermächte, alle Geschöpfe auf Erden und die Toten der Unterwelt. Wo sie stattfindet, wird im Namen der ganzen Schöpfung geredet. Hier hat der Kosmos sein Zentrum. Deswegen ist auch das mosaische Gesetz der Autorität des Herrn untergeordnet.550 So ist im Gottesdienst schon gegenwär tig, was als universales Geschehen für die Welt noch aussteht und bei der Parusie des Retters vollkommen verwirklicht werden wird (vgl. 3,20f.). Alles, was Paulus über die präsentische Dimension des Heils sagt, wird mit diesem Hymnus in der Liturgie vorweggenommen. g) Durch die Einbettung in den paränetischen Kontext (1,27–2,18) wird der Kyrios der Gemeinde zugleich in ethischer Hinsicht paradigmatisch als Verhaltensmodell vor Augen gestellt. Der Mensch ist durch Demut und im Gehorsam dem Herrn (kýrios) nahe. Das Sein „in Christus“ verlangt eine dem Evangelium angemessene Lebensführung (1,27: axíōs). Diese paränetische Absicht bildet auch den Hintergrund für die paulinische Polemik gegen die libertinistischen Tendenzen der Widersacher im Philipperbrief (s. Anm. 522f.).551 546

Vgl. die Erhöhungsaussagen in Apg 2,33; 5,31. Auch in außerbiblischen Texten ist „Herr“ (aram. māre’) im absoluten Gebrauch als Bezeichnung Gottes belegt, wie dem Parallelismus in 11QPsa = 11Q05 (Ps 151A) 28,7f. entnommen werden kann. 548 Dass Jesus praktisch mit Gott gleichgesetzt wird, müsste im jüdischen Milieu als Lästerung betrachtet werden, gäbe es nicht Ps 110 (LXX 109),1, wo Gott den zu seiner Rechten sitzenden messianischen König als „Herr“ anredet, der seinen Willen auf Erden repräsentieren soll. Mit Ps 110 konnten die Christen ihren Gebrauch des Titels Herr Juden gegenüber rechtfertigen (Mk 12,36f.; Apg 2,34; § 5.6.1.3). 549 Vgl. Phil 2,10f. mit Jes 45,23 LXX. 550 Vgl. E. Schillebeeckx, Christus und die Christen (DÜ), Freiburg 1997, 166f. 551 Da Paulus den Hymnus logisch in das Gefüge seiner Argumentation eingewoben hat, entstanden Vermutungen, es handle sich um einen paulinischen Text, der sich nur durch den absichtlichen Stilwechsel vom Kontext unterscheidet. So R. Brucker, „Christushymnen“, bes. 311. 547

286

5 Die paulinischen Briefe

5.14.6

Die Brücke zu den Deuteropaulinen

Bei aller Authentizität der paulinischen Theologie finden wir im Philipperbrief mehrere Motive, die in den deuteropaulinischen Briefen aufgegriffen und weiter entfaltet werden: a) Von großer Bedeutung ist das Motiv des Lehrers (Apostels) als Vorbild für seine Schüler (Adressaten). So entsteht das Verhältnis der Nachahmung (mímēsis), in welcher der Apostel von Christus, seine Mitarbeiter von ihm und Christus, aber auch die Adressaten von dem durch sie alle repräsentierten Verhaltensmodell abhängig sind.552 Nachdem Paulus von seinem Ergriffensein durch Christus gesprochen hat, ermahnt er die Philipper: „Ahmt auch ihr mich nach (symmimētaí mou gínesthe), Brüder, und achtet auf jene, die nach dem Vorbild (týpos) leben, das ihr an uns habt“ (Phil 3,17; vgl. 3,12–16).553 „Was ihr gelernt und empfangen und gehört und gesehen habt an mir, das tut!“ (4,9). Doch bleibt bei aller Nachahmung des Apostels letztlich Christus selber das entscheidende Vorbild, wie die Begründung der Paränese durch das Evangelium (1,27; 2,1–5) und den Philipperhymnus (2,6–11) zeigt. Nicht einzelne Taten aus seinen Erdentagen, sondern die ganze Selbstentäußerung und Lebenshingabe Jesu wird weit über die gesinnungsmäßige Einstellung hinaus zum Maßstab für die Eintracht in der Gemeinde. Die Aufforderung zur Nachahmung ist eine paulinische Analogie zum Ruf in die Nachfolge bei den Synoptikern (§ 6.2.8b). Dieses Vorbild-Motiv wurde in den Pastoralbriefen554 weiterentwickelt (§ 8.4.3a). Dadurch wurde Christus, der Heiland, selber zum Verhaltensmodell, das in der Geschichte von Generation zu Generation weitergegeben wird.555 b) Das zweite Motiv ist das Bild des verhafteten Apostels, das die Verfasser der Deuteropaulinen (Kol; Eph; Past) aus dem Philipper- und Philemonbrief übernahmen, um die Autorität und Glaubwürdigkeit des paulinischen Evangeliums durch sein Leiden zu bekräftigen.556 c) Von allen authentischen Paulusbriefen begegnet allein in Phil 3,20 der Titel „Heiland, Erlöser“ (sōtḗr; 3,20), der bei Lukas557 und in den Deuteropaulinen558 häufiger die Heilsbedeutung Jesu kennzeichnet. Für die Schüler des Apostels war dieser Titel als Neuformulierung seiner Rechtfertigungslehre (Phil 3,8–11) besonders anziehend (Tit 3,4–7; vgl. 2,11–13).

552

Vgl. 1Thess 1,6; 1Kor 4,16; 11,1. Einheitsübersetzung. 554 2Tim 1,13; 2,2f.; 3,10f.; vgl. auch Kol 1,24–2,4. 555 Vgl. H.-D. Betz, Nachfolge und Nachahmung (Lit. § 6.2.8), 186 ff. 556 Vgl. die Gefangenschaft in Phil 1,7.12f.17; 4,22; Phlm 1.9–13 mit Kol 4,18; Eph 3,1; 4,1; 6,20; 2Tim 1,8; 2,9 oder den „Mitgefangenen“ in Phlm 23 mit Kol 4,10. 557 Lk 2,11 (Geburt Jesu); Apg 5,31; 13,23 (§ 6.4.5.3c). 558 Eph 5,23; 2Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6 (§ 8.4.2). 553

5.14 Der Philipperbrief

287

d) In der Adresse werden erstmals Episkopen und Diakone erwähnt (Phil 1,1).559 Bei den Episkopen („Aufseher“) ist die gängige Übersetzung „Bischöfe“ irreführend, da erst Ignatius von Antiochien (110–114 n. Chr.) mit diesem Titel einen über die Ortsgemeinde hinausgehenden, überregionalen Anspruch erhob. Die Episkopen gehen auf das hellenistische Vereinswesen zurück (Exkurs 12) und bilden den Ausgangspunkt für die Episkopenverfassung in den nachpaulinischen Schriften.560 Das urchristliche Diakonenamt561 ist aus dem „Tischdienst“ bei den Mahlzeiten der Gemeinde entstanden. Es verband karitative und liturgische Aufgaben.562 5.14.7

Ort und Zeit der Abfassung

Im Nachwort zu mehreren byzantinischen Handschriften und in der Ergänzung des Codex Vaticanus (B) lesen wir, dass der Brief an die Philipper von Rom aus geschrieben worden sei. Diese Angabe ist vermutlich von der Apostelgeschichte abhängig. Ihr zufolge saß Paulus nur in Cäsarea Maritima (Apg 23,18.23; 25,13f.27) und in Rom (28,17) im Gefängnis. Auch die Notizen über das „Prätorium“ (Phil 1,13; Kaserne der Prätorianergarde) und über das „Haus des Kaisers“ (4,22) könnten nach Rom weisen. Auf Rom als Abfassungsort – und damit auf eine Spätdatierung des Philipperbriefs als das letzte erhaltene Schreiben um 60 n. Chr. – könnten außerdem die soeben erwähnten Motive hindeuten, die hier erstmals auftauchen und schon den Übergang zur Paulusschule vorbereiten.563 Das lateinische Wort „praetorium“ konnte neben der Prätorianerkaserne jedoch in den römischen Provinzen auch andere Gebäude hoher Beamter und Offiziere bezeichnen, in denen ebenfalls Gerichtsverfahren stattfanden (Mk 15,16; Apg 23,35). Genauso könnte es sich bei den Menschen „aus dem Haus des Kaisers“ um Provinzbeamte der kaiserlichen Verwaltung handeln.564 Außerdem beabsichtigte Paulus, von Rom nach Spanien zu reisen (Röm 15,24.28), nicht zurück nach Philippi (Phil 1,26; 2,24). Er hätte seine Pläne zwar ändern können, aber das relativ unkomplizierte Reisen zwischen Philippi und dem Gefängnis des Paulus, das in 2,25 ff. vorausgesetzt wird, spricht eher gegen Rom als Abfassungsort.

559

Vgl. U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik (Lit. § 7.1), 60–65.81–88.176f. Apg 20,28; 1Petr 5,2; 1Tim 3,2; Tit 1,7. 561 Vgl. Röm 16,1 (vgl. 12,7), später 1Tim 3,1–13 (Exkurs 12); zu Apg 6,1–6 s. § 6.4.5.2b. 562 Das Diakonenamt verlor in der Alten Kirche an Bedeutung und wurde im Mittelalter zu einer Durchgangsstufe für das Priesteramt. Das Diakonenamt der evangelischen Kirche verdankt sich dem Neubeginn im 19. Jh. 563 Rom als Abfassungsort vermuten z. B. M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5), 2f. Anm. 8; U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 153–156. 564 Näheres bei U. B. Müller, ThHK 11,1, 212f. 560

288

5 Die paulinischen Briefe

Deswegen setzte sich in der letzten Zeit die Hypothese durch, dass Paulus den Brief von Ephesus aus schrieb. Von einer Gefangenschaft in Ephesus wird zwar weder in der Apostelgeschichte noch in den Paulusbriefen ausdrücklich berichtet,565 doch erwähnt der Apostel, dass er mehrfach in Gefängnissen saß.566 Den Philipperbrief könnte Paulus demnach am Ende seiner ephesinischen Gefangenschaft verfasst haben, da er mit seiner baldigen Freilassung rechnet (2,24), d. h. etwa im Jahr 55.567

5.15

Der Philemonbrief

 Kommentare: Ernst Lohmeyer, KEK 9,2, 61964; Martin Dibelius, HNT 12, 31953; Josef Ernst, RNT, 1974; Eduard Lohse, KEK 9,2, 21977; Ralph O. Martin, NCBC, 21981; Peter Stuhlmacher, EKK 18, 1975; Alfred Suhl, ZBK, 1981; Joachim Gnilka, HThK X,4, 1982; Wilhelm Egger, NEB 15, 1985; Herrmann Binder (Joachim Rohde), ThHK 11,2, 1990; Michael Wolter, ÖTK 12, 1993; Hans Hübner, HNT 12, 1997; Peter Lampe, NTD 8/2, 1998; Joseph A. Fitzmyer, AncB 34C, 2000; Eckart Reinmuth, ThHK 11/II, 2006.  Monographien und Aufsätze: John Knox, Philemon and the Letters of Paul, New York / Nashville 21959; Ulrich Wickert, Der Philemonbrief – Privatbrief oder apostolisches Schreiben?, ZNW 52 (1961), 230–238; Peter Lampe, Keine „Sklavenflucht“ des Onesimus, ZNW 76 (1985), 135–137; Norman R. Peterson, Rediscovering Paul. Philemon and the Sociology of Paul’s Narrative World, Philadelphia 1985; Susanne C. Winter, Paul’s Letter to Philemon, NTS 33 (1987), 1–15; Wolfgang Schenk, Der Brief des Paulus an Philemon in der neueren Forschung (1945–1987), ANRW II, 25.4, Berlin 1987, 3439–3495; John M. Barclay, Paul, Philemon and the Dilemma of Christian Slave-Ownership, NTS 37 (1991), 161–186; Brian M. Rapske, The Prisoner Paul in the Eyes of Onesimus, NTS 37 (1991), 187–203.

Der Philemonbrief568 ist das kürzeste erhaltene paulinische Schreiben. Es entspricht dem Umfang nach den damals üblichen Briefen und hat am ehesten den Charakter eines Privatbriefs. Seine Adressaten sind der begüterte Philemon, Aphia, Archippus und die christliche Gemeinde (ekklēsía) in Philemons Haus. Er ist also keineswegs ein rein privates Schreiben. 565

Ob man aus 1Kor 4,9; 15,32; 16,9; 2Kor 1,8f.; Röm 16,4.7 unbedingt auf eine Gefangenschaft bzw. auf eine solche in Ephesus schließen kann, ist strittig. 566 2Kor 6,5; 11,23; vgl. die „Bedrängnis“ in Phil 4,14 mit der „Bedrängnis“ in der Provinz Asia in 2Kor 1,8. Für die ephesinische Abfassung zumindest der ersten zwei Teile plädierte Adolf Deißmann, Paulus, Tübingen 21925, 203–225, dem die meisten zeitgenössischen Forscher folgen, in neuerer Zeit U. B. Müller, ThHK 11/1, 16–23; N. Walter, NTD 8/2, 15–17 oder E. Lohse, Paulus (Lit. § 5), 180. 567 Nach der Briefteilungshypothese folgten die beiden Schreiben Phil A und Phil B relativ kurz aufeinander vor dem 2. Korintherbrief, in dem Paulus auf seine Verhaftungen zurückschaut (2Kor 6,5; 11,23). Da in Phil C von einer Gefangenschaft keine Rede ist, könnte dieser Teil später geschrieben worden sein. Dass dies noch in Ephesus geschah, kann nur vermutet werden. 568 Vgl. als Kommentar J. A. Fitzmyer, AncB 34C.

5.15 Der Philemonbrief

5.15.1

289

Gliederung und Inhalt

Der Brief hat ein einziges Thema: die Fürsprache des Apostels für den Sklaven Onesimus bei seinem Besitzer Philemon. 1–7 1–3 4–7

Briefeingang Präskript mit Adresse an Philemon und seine Hausgemeinde Proömium mit Dankgebet und Fürbitte für den Glauben des Philemon

8–20

Briefkorpus: Fürsprache für den Sklaven Onesimus

21–25

Briefschluss mit Besuchsplan, Grüßen und Segenswunsch

1–7 Briefeingang Nach dem Präskript und dem Proömium (exordium; 4–7), das ein Dank- und Fürbittgebet für den Glauben des Philemon enthält, erklärt Paulus sein Anliegen. 8–20 Hauptteil: Fürsprache für den Sklaven Onesimus Paulus setzt sich für Philemons Sklaven Onesimus ein, der bei ihm auftauchte und Christ wurde: „So bitte ich dich für meinen Sohn Onesimus, den ich gezeugt habe in der Gefangenschaft“ (10). Onesimus kehrt mit diesem Brief zu seinem Patron zurück. Paulus bittet Philemon, Onesimus aufzunehmen und wie seinen Bruder in Christus zu behandeln (argumentatio, probatio: 8–16). Mit der eigenen Unterschrift haftet Paulus für die Summe, die Onesimus Philemon schuldig ist (17–20). 21–25 Briefschluss Paulus kündigt seinen Besuch bei Philemon an (sog. Parusietopos; 21–22) und endet mit Grüßen sowie einem Gnadenwunsch als Schlusssegen.569 5.15.2

Ort und Umstände der Abfassung

Paulus befindet sich im Gefängnis (Phlm 1.9.13), sodass für den Philemonbrief meist dieselbe Entstehungssituation wie im Philipperbrief angenommen wird.570 Nach einer in einigen byzantinischen Handschriften belegten Tradition schrieb Paulus diesen Brief von Rom aus (ebenso wie den Philipperbrief). Es handelt sich dabei um eine sekundäre Tradition, denn die Reise von Rom nach Kolossä in Kleinasien, wo Onesimus zuhause ist (Kol 4,9), dauerte noch länger als die Reise von Rom nach Philippi in Makedonien. Außerdem ist von der Absicht des Apostels, nach der Entlassung aus der Haft in Rom noch Kolossä zu besuchen, nichts bekannt. Daher ist

569 570

S. dazu M. Wolter, ÖTK, 237; zur ganzen Struktur s. W. Schenk, Der Brief, 3451 ff. Phil 1,7.13.17 (§ 5.14.7).

290

5 Die paulinischen Briefe

auch beim Philemonbrief (wie beim Philipperbrief) eine Abfassung in Ephesus (§ 5.14.7) wahrscheinlich, d. h. zwischen 53 und 55 n. Chr. Onesimus war ein damals üblicher Sklavenname, der die Eigenschaft ausdrücken sollte, die man von ihm erwartete (griech. onḗsimos = nützlich; vgl. das Wortspiel im V.11). Dass es sich bei dem Onesimus in Phlm 10 um dieselbe Person handelt wie in Kol 4,9, beruht auf der naheliegenden Vermutung, die Namensliste im Kolosserbrief sei aus dem Philemonbrief übernommen. Da der Verfasser des Kolosserbriefs sein Schreiben an die Christen in Kolossä adressierte, ist es wahrscheinlich, dass Onesimus wirklich mit Kolossä in Verbindung stand. Ephesus als Abfassungsort und Kolossä als Bestimmungsort sind daher die wahrscheinlichste Annahme, die in neueren Kommentaren vertreten wird.571 Direkte Belege für diese Vermutung fehlen zwar, aber die anderen Hypothesen sind noch weniger überzeugend. Eher unwahrscheinlich sind die anderen Vorschläge mit Rom oder Cäsarea als Abfassungsort,572 die Annahme, Onesimus habe in Pergamon gelebt,573 die Vermutung, Archippus sei der eigentliche in Kolossä lebende Herr des Onesimus und Philemon nur dessen Fürsprecher, der in Laodizea wohnte,574 oder sogar die Überlegung, dass Onesimus Paulus nicht aufsuchte, sondern auf seiner Flucht sein Mitgefangener geworden war.575

5.15.3

Ein Testfall theologischer Ethik

Früher hielten die meisten Exegeten Onesimus für einen geflüchteten Sklaven (lat. fugitivus). Die Sklaverei galt in der Antike als eine damals nicht weiter problematisierte wirtschaftliche Notwendigkeit. Die Flucht eines Sklaven wurde in der Regel grausam bestraft. Dem Text ist jedoch nicht zu entnehmen, dass Onesimus seinen Herrn verlassen wollte, sondern nur, dass er auf Paulus mit der Bitte um Fürsprache zugegangen war. Es gibt mehrere Belege, dass ein Sklave aus Angst vor der Strafe zu einem Freund seines Herrn (lat. amicus domini) flüchtet, um ihn zur Fürsprache zu bewegen. In Iustinians Digesten (Auszüge aus juristischen Werken) ist von dem Juristen Proculus (1. Jh. n. Chr.) eine diesbezügliche Äußerung enthalten (21,1,17,4.12; vgl. 21,1,43,1). Auch bei Plinius dem Jüngeren (61–112 n. Chr.) ist ein solcher Fall belegt (ep.

571

Vgl. E. Lohse, J. Gnilka, P. Stuhlmacher, M. Wolter, H. Hübner, P. Lampe, J. A. Fitz-

myer. 572 573 574 575

So C.-J. Thornton, Zeuge des Zeugen (Lit. § 6.4), 201–207.212. Vgl. W. Schenk, Paulus an Philemon, 3482 ff. (onomastische Argumente). J. Knox, The Epistle to Philemon, IntB 11, New York / Nashville 1955, 49 ff. Vgl. H. Binder, ThHK 11/II, 35.

5.15 Der Philemonbrief

291

9,21.24).576 Diese Erklärung von Peter Lampe wird in der letzten Zeit weitgehend anerkannt. Sie ist wahrscheinlicher als die traditionelle Deutung auf einen flüchtigen Sklaven, da es geeignetere Schlupfwinkel als die Gefängniszelle des Paulus gibt. Da Onesimus seinem Herrn vermutlich materiellen Schaden zufügte, erklärt Paulus in V.18–20, er wolle die finanzielle Verantwortung übernehmen. Dass Onesimus sich an den verhafteten Paulus wandte, unterstreicht die Autorität des Apostels. Die Bekehrung des Onesimus bildet einen Erklärungsansatz für die Lösung des Problems. In 1Kor 7,17 prägte Paulus die Regel, dass jeder in der gesellschaftlichen Stellung bleiben soll, in welcher er zum Glauben berufen wurde. Dieser Grundsatz soll auch für Sklaven gelten (7,21a). Nur wenn ihnen die Freilassung angeboten wird, sollen sie diese Möglichkeit wahrnehmen (V.21b). 1Kor 7,21 kann zwar auch anders verstanden werden,577 doch mildern die paulinischen Aussagen die Härte der damaligen äußeren sozialen Ordnung, einschließlich des Sklaventums, durch einen Appell an die innere Einstellung. Dementsprechend fordert Paulus Philemon nicht zur Freilassung des Onesimus auf, denn das Entscheidende war seiner Meinung nach die Änderung ihres zwischenmenschlichen Verhältnisses unabhängig vom sozialen Status. Er war sich der möglichen Auswirkung dieser veränderten Beziehung auf die ganze Kommunität im Haus des Philemon bewusst, einschließlich der Nichtgläubigen. Er erkennt den durch Onesimus entstandenen Schaden an und nimmt die finanzielle Last auf sich. Zugleich fordert er mit der Autorität des geistigen Vaters Philemon auf, Onesimus mit Achtung aufzunehmen, wie es einem Bruder gebührt. Dadurch ändert sich unter dem Einfluss des Evangeliums sowohl das Leben des Onesimus als auch das des Philemon. Paulus adressiert den Brief an die ganze christliche Gemeinde im Haus des Philemon, um so Missdeutungen zu vermeiden. Alle christlichen Brüder und Schwestern sollen die Gründe für die unerwartete Verhaltensänderung ihres irdischen Herrn kennen, um sie eventuell den anderen, nichtchristlichen Angehörigen des Hauses erklären zu können. Gleichzeitig dienen die Mitadressaten als Zeugen für die Bitte an Philemon. Der Philemonbrief ist ein Beispiel, das die sozialen Auswirkungen des Christentums auf die Gesellschaft drastisch illustriert. Der christliche Glaube verändert die Welt durch die Bildung alternativer sozialer Beziehungen innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die dadurch abgemildert werden (vgl. Gal 3,26–28; 1Kor 12,13).

576

Vgl. P. Lampe, Keine „Sklavenflucht“; W. Schenk, Philemon, 3476 ff.; B. M. Rapske, The Prisoner Paul, 203. 577 Das griech. „mállon chrḗsai“ kann mit „brauche es umso lieber“ (so W. Schrage) oder „bleibe erst recht dabei“ (M. Dibelius) übersetzt werden. Die erste Möglichkeit ist grammatisch und kontextuell wahrscheinlicher, die zweite wurde in der Kirche seit Johannes Chrysostomus bevorzugt. Zur Debatte s. W. Schrage, EKK VII/2, z.St.; S. S. Bartchy, Mállon chrḗsai (SBLDS 11), Missoula 1974, 178.

292

5 Die paulinischen Briefe

Wie der Brief wirklich gewirkt hat, wissen wir nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Falls der zu einem späteren Zeitpunkt verfasste Kolosserbrief die Verhältnisse richtig rekonstruiert, die zu Lebzeiten des Paulus kurz nach der Abfassung des Philemonbriefs herrschten, muss Philemon Onesimus freundlich aufgenommen und erneut zu Paulus geschickt haben. Denn nach Kol 4,9 sandte der Apostel ihn einige Zeit später wieder nach Kolossä oder Laodizea. Die Annahme, der bei Ignatius von Antiochien (110–114 n. Chr.) etwa 60 Jahre später erwähnte ephesinische Bischof Onesimus (IgnEph 1,3; 2,1; 6,2) sei mit dem Onesimus des Philemonbriefs identisch, bleibt wegen der Häufigkeit des Namens hypothetisch. Wirkungsgeschichtlich hatte der Brief eher eine gesellschaftlich konservierende Funktion, weil in ihm nicht zur Abschaffung der Sklaverei und zu grundlegenden Änderungen im Gesellschaftsgefüge aufgerufen wurde. Dennoch ist der Philemonbrief als Dokument für die Wirkungskraft des Evangeliums in der sozialen Sphäre bedeutsam und aus diesem Grunde kanonisiert worden.578 Die Kraft neuer konkreter Beziehungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und die Bedeutung christlicher Gemeinden als Alternativmodell für das Zusammenleben innerhalb einer sozialen Gruppe579 wurde in der jüngsten Geschichte unter den Christen in den kommunistischen Ländern, aber auch in einigen Teilen der Dritten Welt entdeckt. Dadurch erlebte das Interesse am Philemonbrief eine Renaissance.

5.16

Der Römerbrief

 Kommentare: Otto Michel, KEK 14, 51978; Ernst Käsemann, HNT 8a, 41980; Heinrich Schlier, HThK 6, 21979; Ulrich Wilckens, EKK 6,1–3, 1978. 1980. 1982; Dieter Zeller, RNT, 1984; C. E. B. Cranfield, ICC I, 1975; II 1979; James D. G. Dunn, WBC 38A.B, 1988; Peter Stuhlmacher, NTD 6, 1989; Joseph A. Fitzmyer, AncB 33, 1993; Klaus Haacker, ThHK 6, 1999; Eduard Lohse, KEK 4, (15)12003.  Monographien und Aufsätze: Ernst Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus (1961), zuletzt in: ders., Exegetische Versuche II (Lit. § 5.6.2.3), 181–193; Peter Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus (FRLANT 87), Göttingen 21966; Ulrich Luz, Das Geschichtsverständnis des Paulus (Lit. § 5); Karl Kertelge, Rechtfertigung bei Paulus (NTA 3), Münster 21971; Günther Bornkamm, Der Römerbrief als Testament des Paulus, in: ders., Geschichte und Glaube II (Lit. § 5), 120–139; Peter v. d. Osten-Sacken, Römer 8 als Beispiel paulinischer Soteriologie (FRLANT 112), Göttingen 1975; Edwin P. Sanders, Paul and Palestinian Juda578

Zur Wirkungsgeschichte vgl. J. Rohde in (H. Binder) ThHK 11/II, 69–71; J. Gnilka, HThK 10,4, 31–33.71–81. 579 Die Grundeinheit war die Hausgemeinde. Das „Haus“ bestand aus dem Herrn (pater familias), aus seinen Sklaven und z. T. seinen Klienten (vgl. Exkurs 11). Zu den Hausgemeinden s. P. Stuhlmacher, EKK 18, 70–75, und J. Gnilka, HThK 10,4, 17–33; H.-J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS 103), Stuttgart 1981; R. W. Gehring, Hausgemeinde und Mission (BWM 9), Gießen 2000.

5.16 Der Römerbrief

293

ism, London 1977; ders., Paulus, Stuttgart 1995 (DÜ); Karl P. Donfried, The Romans Debate, Peabody, MS 21991; ders., False Presuppositions in the Study of Romans, CBQ 36 (1974), 332–358; Michael Wolter, Rechtfertigung und zukünftiges Heil (BZNW 43), Berlin 1978; Heikki Räisänen, Römer 9–11, ANRW II, 25.4, Berlin 1987, 2891–2939; Neil Elliott, The Rhetorics of Romans (JSNTS 45), Sheffield 1990; Eduard Lohse, Summa Evangelii – zu Veranlassung und Thematik des Römerbriefes, NGWG 1993, Nr. 3, 91–119; ders., Euaggélion theoú. Paul’s Interpretation of the Gospel in His Epistle to the Romans, Bib 76, 1995, 127–140; Karl P. Donfried / Peter Richardson (Hg.), Judaism and Christianity in First-Century Rome, Grand Rapids, MI / Cambridge 1998; Michael Theobald, Der Römerbrief (EdF 294), Darmstadt 2000; Michael Theobald, Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001; Klaus Haacker, The Theology of Paul’s Letter to the Romans, Cambridge 2003; Eduard Lohse, Theologische Ethik im Römerbrief des Apostel Paulus, NAWG 2004, 199–212.

Der Römerbrief ist die am stärksten systematisch durchkomponierte Epistel des Paulus. Im Zentrum steht das Evangelium von der Rechtfertigung (Gerechtmachung) der Glaubenden allein aus Gnade. Wie kaum eine andere biblische Schrift hat der Römerbrief in der Kirchengeschichte fundamentale Anstöße gegeben, insbesondere bei Markion (§ 3.3b), Augustin (s. Anm. 584.627), Martin Luther (s. Anm. 609) und Karl Barth (s. Anm. 620). 5.16.1

Gliederung und Inhalt

Die Gliederung des Briefs ist durch die paulinische Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben bestimmt. Die Grundthese in 1,16 f. (propositio) begründet Paulus rhetorisch wirkungsvoll zunächst durch den Nachweis der Unmöglichkeit anderer Lösungen (1,18–3,20), um dann seine These nach der positiven Seite hin zu entfalten. Wie weit der Argumentationsgang reicht, ist nicht einfach zu bestimmen. In der Römerbriefexegese wird diskutiert, ob die These von der Rechtfertigung nur bis zur Schriftbegründung durch Abraham in 4,25 entfaltet wird oder ob sie bis 5,21 die Schuldverfallenheit aller Menschen durch die Adam-Christus-Typologie fortführt bzw. auch bis 8,39 das Leben im Geist umfasst oder gar noch die Israelthematik in Kap. 9–11 einschließt.580 An allen diesen Stellen sind Zäsuren zu beobachten. Doch auch wenn die Rechtfertigungsthematik ohne Zweifel die Argumentation in Röm 9–11 weiter bestimmt, markiert Paulus selber in 9,1 am deutlichsten einen Neueinsatz, sodass wir hier den neuen Briefteil beginnen lassen. In diesem zweiten Teil belegt der Apostel die Tragfähigkeit seiner Grundthese im Blick auf Israel. Der dritte Teil (12,1 ff.) hat einen paränetischen Charakter. Über Kap. 16 mit der Grußliste wird später (§ 5.16.3) die Rede sein. 580 Zu den Streitfragen vgl. durchgängig M. Theobald, Römerbrief, hier 42 ff. zur Gliederung; als Kommentar E. Lohse, KEK 4 (mit etlichen hilfreichen Exkursen zu Hauptbegriffen der paulinischen Theologie).

294

5 Die paulinischen Briefe

1,1–17 1,1–7 1,8–15

Briefeingang Präskript mit Apostolatsbegründung, Evangelium und Sohnesformel (1,3 f.) Proömium mit Dankgebet für die Gläubigen in Rom und Selbstempfehlung

1,16 f.

Die These des Briefs: Das Evangelium von Gottes Gerechtigkeit

1,18–8,39

Erster Teil der Argumentation: Die Rechtfertigung als Grund des Heils Negative These: Kein Mensch wird durch Werke vor Gott gerecht Die Heiden unter dem Zorngericht Gottes Die Juden unter dem Zorngericht Gottes Die Schuldverfallenheit aller Menschen

1,18–3,20 1,18–32 2,1–29 3,1–20 3,21–8,39 3,21–31 4,1–25

5,1–11 5,12–21

Positive These: Die Gerechtigkeit Gottes wurde in Christus offenbart Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes durch den Tod Christi Schriftbegründung: Abrahams Gerechtigkeit aus Glauben (vgl. Gal 3) Die Hoffnung auf die zukünftige Herrlichkeit und die Versöhnung durch den Tod Christi als Erweis der Liebe Gottes Adam-Christus-Typologie (vgl. 1,18–3,20; 3,23 f.; 1Kor 15,21 f.)

6,1–8,17

Einwände: Der in Christus Gerechtfertigte und die Sünde 6,1–23 Die Befreiung von der Sünde durch die Taufe (mit Paränese) 7,1–6 Die Freiheit vom Gesetz (Vergleich mit dem Eherecht) 7,7–25 Der adamitische Mensch unter Gesetz und Sünde (vgl. 7,5) 8,1–17 Das Leben „in Christus Jesus“ nach dem Geist (vgl. 7,6)

8,18–30 8,31–39

Die Hoffnung auf die Erlösung der ganzen Natur (Schöpfung) Die Gewissheit der Untrennbarkeit von der Liebe Gottes

9,1 – 11,36 9,1–5 9,6–29 9,30–10,21 11,1–32 11,33–36

Zweiter Teil der Argumentation: Israel im Plan Gottes Trauer des Paulus über Israel Gottes freie Gnadenwahl Israels Ungehorsam Gottes Absicht: „Ganz Israel wird gerettet werden“ Hymnus auf die Weisheit Gottes (sc. in seinem erwählenden Erbarmen)

5.16 Der Römerbrief 12,1–15,13 12,1–13,14 12,1 f. 12,3–8 12,9–21 13,8–10 13,11–14 14,1 – 15,13 15,7–13 15,14–16,23 15,14–33 16,1–23 [16,25–27 kursiv:

295

Dritter Teil: Die Paränese (vgl. 6,12–23) Grundsätzliche Mahnungen („durch die Barmherzigkeit Gottes“) Einleitung: Der vernünftige Gottesdienst in der Lebensführung Viele Charismen – ein Leib in Christus (vgl. 1Kor 12) Die Überwindung des Bösen durch das Gute (vgl. Mt 5,39.44) 13,1–7 Das Verhalten staatlichen Behörden gegenüber Die (Nächsten-)Liebe als Erfüllung des Gesetzes (vgl. Gal 5,14) Lebensgestaltung angesichts des anbrechenden Tages (der Endzeit) Spezielle Weisungen: Starke und Schwache (vgl. 1Kor 8–10) Die Einheit des neuen Gottesvolks aus Juden und Heiden Briefschluss Reisepläne des Apostels (mit Friedenswunsch 15,33) Empfehlungen, Grußaufträge und heiliger Kuss, Warnungen vor Irrlehrern, Segenswünsche, Nachtrag Schlussdoxologie]

Aussagen über die Menschheit Wiederaufnahme eines Gedankens

unterstrichen: Aussagen über Christus Inclusio (Rahmung)

1,1–17 Briefeingang Mit dem erweiterten Präskript (1,1–7) begründet Paulus seine apostolische Würde durch das „Evangelium Gottes“ (1,1 f.) und die Sohnesformel (1,3 f.). Es folgt das Proömium (exordium) mit der Selbstvorstellung des Apostels in der Form eines Dankgebets (1,8 ff.), in dem er auch die Absicht äußert, die Adressaten zu sehen. 1,16 f. Die These des Briefs (propositio): Das Evangelium von Gottes Gerechtigkeit Paulus nennt als Thema des Briefs das Evangelium von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes, d. h. seines gerechtmachenden Handelns, das durch die göttliche Kraft zum Heil führt (vgl. 1Kor 1,18). Diese Botschaft gilt den Juden zuerst und auch den Heiden. Sie erweckt den Glauben und wird durch Glauben aufgenommen (Zitat Hab 2,4; vgl. Gal 3,11). Zum Erweis dieser These wird zunächst die Heillosigkeit der ganzen Menschheit aus Heiden und Juden dargelegt, um ab 3,21 nach der positiven Seite das Offenbarwerden der Gerechtigkeit Gottes ohne Gesetz aus reiner Gnade durch den Sühnetod Jesu zu entfalten. 1,18–8,39 Erster Teil (probatio I): Die Rechtfertigung als Grund des Heils 1,18–3,20 Die negative These in Form einer Gerichtsrede (Anklage): Kein Mensch wird durch die Werke des Gesetzes vor Gott gerecht (3,20). Gottlosigkeit und Götzendienst führen zu Ungerechtigkeit, zu verkehrten moralischen Beziehungen und zu religiöser Entfremdung von Gott (1,18–32). Allen Menschen, Heiden wie Juden, droht das Gericht Gottes. Auch die Juden sind bedroht und werden sich vor dem göttlichen Gericht nicht auf ihre Zugehörigkeit zum Volk Gottes berufen können, denn sie erfüllen das Gesetz nicht (Kap. 2). Sie empfingen zwar die Offenbarung Gottes, aber ihre Übertretung wird als Schuld entlarvt.

296

5 Die paulinischen Briefe

3,21–8,39 Die positive These: Die Gerechtigkeit Gottes ist durch die Heilstat Gottes in Christus offenbar, d. h. bekannt gemacht geworden. Sie errettet aus dem Jüngsten Gericht und besteht in der gerechten Gestaltung der Beziehungen zwischen den Menschen und Gott sowie zwischen den Menschen untereinander. In Christus geschieht die Rechtfertigung aller Gläubigen aus reiner Gnade, ohne eigene Verdienste. Diese These wird in 3,21–31 grundlegend entfaltet und dann in Kap. 4 am Beispiel Abrahams aus der Schrift begründet. Die Rechtfertigung hat die Befreiung aus dem Zorngericht Gottes zur Folge (1,18; 2,5; 4,15; 5,9). Sie wird zum einen mit einem Wort, das aus der Sphäre der gesellschaftlichen Ordnung stammt, als „Erlösung“ (apolýtrōsis) bezeichnet, d. h. als „Loskauf“ eines Gefangenen oder Sklaven. Zum anderen wird sie durch den Terminus „hilastḗrion“ (Sühneort),581 der aus dem jüdischen Opferkult kommt, als Sühnopfer (§ 5.6.2.3b) interpretiert (3,24 f.), das die Vergebung der Sünden gewährt und einen neuen Zugang zu Gott eröffnet. Der Mensch hat keinen Grund, sich selbst zu rühmen. Das Gesetz gilt, doch es dient nur zur Aufdeckung der menschlichen Schuld (3,21–31). Das erwählte Volk besteht zwar aus den Nachkommen Abrahams (Röm 4; vgl. Gal 3,6 ff.; § 5.11.4b). Dieser gewann aber seine Gerechtigkeit vor Gott, wie Paulus mit dem Zitat von Gen 15,6 nachweist (vgl. Gal 3,6), durch seinen Glauben, d. h. durch sein Vertrauen auf die Verheißungen Gottes, nicht durch die Erfüllung des Gesetzes (das erst Mose auf dem Sinai mitgeteilt wurde; Gal 3,15–18; § 5.11.4b). Die von der Tora geforderte Beschneidung wurde bei Abraham später (Gen 17), nach den Verheißungen (Gen 12,1–3; vgl. Gal 3,8), als nachträgliches Zeichen seiner Glaubensgerechtigkeit vorgenommen, sodass Paulus die Gläubigen für die wahren Kinder Abrahams und das eigentliche Volk Gottes hält. Der Glaube Abrahams erreicht in der Gegenwart sein Ziel im Glauben an Christus. Den Gedanken der Rechtfertigung (5,1) führt Paulus in Kap. 5–8 weiter, indem er die beiden rahmenden Abschnitte 5,1–11 und 8,18–39 durch die eschatologische Hoffnung (5,2–5; 8,18–30) und die Liebe Gottes im stellvertretenden Tod Jesu (5,6– 11; 8,31–39) umfassend miteinander verklammert (Inclusio). Durch den Tod Christi als stellvertretendes Opfer für die Gottlosen erweist Gott (!) seine Liebe, die den Sünder vor Gott bestehen lässt, aus dem Zorngericht (vgl. 1,18 ff.) befreit und ihm Versöhnung gewährt (5,1–11; vgl. 2Kor 5,18). In der Adam-Christus-Typologie 5,12–21 verfolgt der Apostel die Aussagen über die Schuldverfallenheit der gesamten Menschheit aus Heiden und Juden (1,18–3,20) 581 Dieses Verständnis nach der Deckplatte auf der Bundeslade (Ex 25,17 u. a.) als dem Ort der Sühne beim Opfer im Allerheiligsten am Versöhnungstag (Lev 16,13 ff.) hat sich inzwischen weitgehend durchgesetzt; vgl. B. Janowski folgend W. Kraus, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe (WMANT 66), Neukirchen-Vluyn 1991; anders aufgrund seiner früheren Arbeiten zum Sühnopfer der Märtyrer in 4Makk 17,21 f. noch E. Lohse, KEK 4, 134 f.

5.16 Der Römerbrief

297

und über die Erlösung durch Christus (3,23 f.) weiter. Nun stellt er der Menschheit, die durch Adams Ungehorsam gezeichnet ist und im Tod ihren letzten Horizont hat, die vielen Menschen gegenüber, die durch Christus die Gemeinschaft mit Gott und das ewige Leben erhalten. In 6,1–8,17 thematisiert Paulus einige Einwände zum Leben unter der Macht der Sünde und unter dem Gesetz. Mit rhetorischen Fragen582 greift er in Kap. 6 den Vorwurf auf: Wenn die Gnade Gottes stärker ist als die menschliche Sünde, warum sollten wir nicht sündigen? Die Antwort lautet: Durch die Taufe wird der Mensch aus dem Einflussbereich der Sünde herausgenommen. Er ist dann nicht mehr durch die Sünde determiniert, sein Horizont ist die Auferstehung mit Christus (6,3–11; § 5.6.2.2d). Da die Sünde den Menschen versklavt und ihm als Sold den Tod gibt, wählt der Gläubige – so die Paränese – selbstverständlich den Dienst bei Jesus Christus, der dem, der ihm vertraut, ewiges Leben schenkt (6,12–23). Nach 7,1–6 ist die Zeit des Gesetzes beendet, wie das Beispiel des Todes im Eherecht zeigt. Was Paulus in 7,5 f. als Gegensatz zwischen Fleisch und Geist thetisch formuliert, entfaltet er in den Kapiteln 7 und 8. Die Aussage von 7,5 führt er in 7,7– 25a weiter aus zur alten bereits überwundenen Existenz („einst“) im Fleisch unter der Macht der Sünde, des Todes und des Gesetzes, die Aussage von V.6 („jetzt aber“) in 8,1–17 zum erneuerten Leben in Christus durch den Geist Gottes. Das Gesetz zeigt die Sünde auf, gibt aber keine Kraft zu einem besseren Leben (7,7–13). Jeder Mensch, der nach dem Gesetz leben will, erlebt einen inneren Widerstreit, aus dem er nur durch Christus errettet werden kann (7,14–25). Dieser Befreiungsschlag erfolgte „in Christus Jesus“ (8,1), in dem Gott seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches zur Sühne für die Sünde gesandt hat (8,3), um ein Leben „nach dem Geist“ (katá pneúma) zu eröffnen (8,1–17). Durch den Geist ist der Christ nicht mehr dem Verdammungsurteil unterworfen (8,1), sondern hat Leben, Frieden und Gerechtigkeit (8,6.10 f.; vgl. 5,1.10.17 ff.; 6,4 ff.) und kann im Gebet Gott als „Vater“ anreden (Abba; 8,15; vgl. Gal 4,5 f.). Dieses Geschehen hat nach 8,18–30 einen kosmischen Horizont. Denn wie die Sünde des Menschen im gegenwärtigen alten Äon alle Kreatur in Mitleidenschaft gezogen hat, so sehnt sich die gesamte Schöpfung voller Hoffnung (vgl. 5,2–5) nach der Befreiung aus der Knechtschaft der Vergänglichkeit und nach dem Offenbarwerden der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Auch die Erlösung durch Christus hat universale Folgen. Deshalb kann der Christ gewiss sein, dass die übermenschlichen Mächte, einschließlich des Todes, nicht imstande sind, ihn von der Liebe zu trennen, die Gott (!) durch die Dahingabe seines Sohnes im stellvertretenden Tod Jesu für die Menschheit endgültig erwiesen hat (8,31–39; vgl. 5,5–11).

582

Röm 6,1.15; vgl. 3,1.9; 4,1.

298

5 Die paulinischen Briefe

9,1–11,36 Zweiter Teil (probatio II): Israel im Plan Gottes In 9,1–5 setzt Paulus mit der Beteuerung der Trauer über seine jüdischen Stammverwandten zwar völlig neu ein, nimmt mit der Israelthematik aber den heilsgeschichtlichen Vorrang der Juden aus der Eingangsthese (1,16) wieder auf und kehrt zur Erwählungsthematik zurück, die er schon in 3,1–3 als Vorzug der Juden erwähnt hatte: Das erwählte Volk Gottes hat keinen Grund, sich selbst zu rühmen. Doch seine heilsgeschichtlichen Vorzüge bleiben die Kindschaft, der Bund, die Tora, der Gottesdienst und die Verheißungen (9,4 f.). Deshalb bekräftigt der Apostel in einem ersten Argumentationsgang (9,6–29) einerseits Gottes Treue zum Wort seiner Verheißung gegenüber Israel (9,6–13), andererseits die Freiheit und Souveränität der göttlichen Gnadenwahl (9,14–29). In einem zweiten Schritt (9,30–10,21) wendet er sich Israels Ungehorsam gegenüber der Predigt des Evangeliums von Jesus Christus zu, der dem Gültigkeitsanspruch der Tora (des Gesetzes) ein Ende gesetzt hat (10,4). Entscheidend bleibt der Glaube an Jesus als Herrn, den Gott von den Toten auferweckt hat (10,9). In einem dritten Abschnitt (11,1–32) warnt Paulus die Heidenchristen mit dem Ölbaumgleichnis vor Hochmut: Die „Wurzel“ ist Abraham als Träger der in Christus erfüllten Heilsverheißung (vgl. Kap.4), der Stamm des „edlen Ölbaums“ ist die Heilsgemeinde Israels, und die eingepfropften wilden Zweige sind die Heidenchristen. Deshalb haben die Christen kein Recht, sich über die Juden zu erheben. Sodann weist der Apostel auf das endzeitliche „Geheimnis“ (11,25: mystḗrion) hin, dass das letzte Ziel des Weges Gottes mit den Menschen bei der Wiederkunft Christi das Heil Israels einschließt: „Ganz Israel wird gerettet werden“ (V.26). Seine Rettung wird am Ende eintreten. Dieses Geschehen wird durch dasselbe Erbarmen Gottes herbeigeführt, das sich in Christus offenbarte. Ein Gotteshymnus (11,33–36) mit Doxologie und liturgischem Amen rühmt die unbegreifliche Weisheit, d. h. hier das Geheimnis des göttlichen Erbarmens (V.25–32).583 Damit ist der zweite Briefteil abgeschlossen. 12,1–15,13 Dritter Teil: Die Paränese (exhortatio) Die Ermahnungen (vgl. 6,12 ff.; 8,12–17) eröffnet Paulus in 12,1 mit dem für die Paränese typischen Verbum „parakalṓ“ (ich ermahne; § 5.7b). Mit der Wendung „durch das Erbarmen Gottes“ (diá tṓn oiktirmṓn) knüpft er an das Thema der Rechtfer tigung allein aus Gnade in den früheren Briefteilen an (3,24 ff.). Der wahre, vernünftige Gottesdienst besteht nach Kap. 12 in der gesamten Lebensführung, die das heilige Geschehen nicht auf den Kult eingrenzt, sondern in der alltäglichen Lebensgestaltung bewährt. Gerade in dem Bereich, der profan genannt wird, gilt es, dem

583

Nicht die Unerforschlichkeit und Verborgenheit göttlicher Ratschlüsse in menschlichen Schicksalsschlägen!

5.16 Der Römerbrief

299

heiligen Willen Gottes zu gefallen, statt sich durch Assimilation den Praktiken des alten Äons anzupassen, der in Christus überwunden ist. Diese in 12,1 f. grundsätzlich geforderte Erneuerung des Lebens wird nun in zwei Richtungen konkretisiert: innerhalb der Gemeinde zielt die ethische Ermahnung auf den gegenseitigen Dienst, den Paulus durch einen Hinweis auf die Charismen (§ 5.12.1) in der Gemeinde und durch das Bild vom Leib und den Gliedern verdeutlicht (V.3–13; vgl. 1Kor 12; § 5.12.5b). Im Verhältnis nach außen (ab Röm 12,14) verlangt die Paränese den Verzicht auf Vergeltung, Frieden mit allen Menschen, so weit es möglich ist, und die Überwindung des Bösen durch das Gute (mit Anspielungen auf Jesusworte der Bergpredigt; Mt 5,39.44). Zu den Beziehungen nach außen gehört auch das Verhältnis zur staatlichen Macht (13,1–7). Der Christ darf die Strukturen dieser Welt nicht geringschätzen, er soll die römischen Behörden respektieren (exousía = Obrigkeit, Amtsgewalt; Pl. Machthaber, Amtsträger). Weil er vor sich die Morgendämmerung des neuen Zeitalters sieht, gewinnt er die Kraft, sich an der Nächstenliebe zu orientieren (13,8–10; vgl. 12,3–21; Gal 5,13 f.; § 5.11.4c).584 Nach dieser allgemeinen Paränese ermahnt Paulus in 14,1–15,13 speziell die Gruppe der „Starken“ im Glauben, die nach der Logik des Glaubens Recht haben, die „Schwachen“ nicht zu provozieren, die einige – aus der Sicht des Glaubens nur unwesentliche – kultisch-diätetische Vorschriften befolgen (vgl. 1Kor 8–10). Bei den Schwachen handelt es sich im Römerbrief wahrscheinlich um Judenchristen, die aus der Sorge, unrein zu werden, ihrer bisherigen jüdischen Gewohnheit entsprechend auf den Genuss von Fleisch und Wein verzichteten (14,2 f.21) und bestimmte Tage (14,5 f.), d. h. den Sabbat, hielten. Indem der Apostel seinen Appell zur Rücksichtnahme mit dem stellvertretenden Sterben Jesu begründet (Röm 14,15; vgl. 1Kor 8,11), greift er auf einen Grundgedanken der Rechtfertigungslehre zurück. 15,14–16,23 Briefschluss Im letzten Teil handelt Paulus von seiner Heidenmission, die von Jerusalem ausging, und von seinen Reiseplänen nach Spanien. Er schließt mit einem Friedenswunsch (15,33). Kap. 16 enthält Empfehlungen für die Diakonin Phöbe aus dem korinthischen Hafenort Kenchreä als Briefüberbringerin, zahlreiche persönliche Grüße an römische Gemeindeglieder, die Aufforderung zum „heiligen Kuss“ untereinander (§ 5.7b), Warnungen vor Irrlehrern, Segenswünsche, einen Nachtrag und eine später angefügte Doxologie [16,25–27].

584

Bei der Warnung vor den Begierden des Fleisches in Röm 13,13 f. hatte Augustin 386 n. Chr. sein Bekehrungserlebnis (Conf. 8,10,29).

300

5 Die paulinischen Briefe

5.16.2

Die Adressaten

Die christliche Gemeinde in Rom wurde nicht von Paulus gegründet. Gleichwohl ist ihm die römische Christenheit nicht unbekannt, da die Grußliste (16,3–15) mit 26 Namen auf vielfältige Kontakte hinweist, durch die der Apostel in groben Zügen über die dortige Situation informiert gewesen sein dürfte. Den ersten eindeutigen Beleg für die Existenz von Christen in Rom stellt dieser Brief dar. Nach Röm 15,22 f. und 1,13 gab es eine christliche Gemeinde dort aber schon „seit vielen Jahren“, d. h. spätestens seit den 40-er Jahren. In das Zentrum des Reichs gelangte das Christentum durch Handelsleute, aber auch durch Sklaven und Freigelassene, die in den Häusern begüterter Familien arbeiteten. In Röm 16 werden mindestens fünf solche „Häuser“ erwähnt, in denen es christliche Zellen gab.585 Diese unterschiedlichen Versammlungsorte sind vermutlich der Grund, weshalb Paulus die römischen Christen – anders als die Korinther und die Thessalonicher (1Kor 1,2; 2Kor 1,1; 1Thess 1,1) – nicht gemeinsam als „Gemeinde (Gottes)“ (ekklēsía) anredet. In zwei Fällen waren die Herren selbst nicht Christen (Aristobul, Narzissus). Auch wenn die ursprüngliche Zugehörigkeit von Kap. 16 zum Römerbrief manchmal in Frage gestellt wird (§ 5.16.3), erhalten wir hier Einsichten in die soziale Struktur der frühchristlichen Gemeinden, in denen es sowohl Sklaven wie Tertius (V.22) als auch einflussreiche Beamte wie den Stadtkämmerer Erastus in Korinth (V.23) gab.586 Der römische Historiker Suëton schrieb um das Jahr 120, dass Kaiser Claudius (41–54 n. Chr.) die Juden aus Rom vertrieben habe, weil sie auf Betreiben eines gewissen „Chrestus“ Unruhen stifteten (Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantis Roma expulit; vita Claudii 25).587 Es handelt sich um Jesus, dessen Titel „Christus“ (Christós) mit dem verbreiteten Sklavennamen „Chrḗstos“ verwechselt wurde,588 weil die Aussprache der beiden Vokale ē und i im Griechischen identisch war (sog. Itazismus).589 Wahrscheinlich kamen damals in die jüdische Gemeinde (Juden-)Christen, die bezeugten, dass Jesus der Messias (Christus) ist, was zu Tumulten führte. Daraufhin erließ der Kaiser im Jahr 49 ein Edikt (§ 5.8.1). Auch die vermutlich schon getauften Juden Aquila und Priska (Apg 18,2: Priszilla) mussten 585

Röm 16,5.10 f.14 f.; vgl. H.-J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS 103), Stuttgart 1981; R. W. Gehring, Hausgemeinde und Mission (BWM 9), Gießen 2000, 220–384, bes. 259–269.380 ff. 586 Vgl. P. Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten (WUNT II/18), Tübingen 21989, Kap. IV. 587 Zum Judenedikt des Claudius vgl. C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte (Lit. § 12e), 14–16 und R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 139–180. 588 Der Name heißt „brauchbar, tüchtig, gut, rechtschaffen“ und ist gleichbedeutend mit dem Namen Onesimos („nützlich“) in Phlm 10; Kol 4,9 (§ 5.15.2). 589 Der Schreibweise „chrēstós“ begegnen wir auch in einigen alten Handschriften des Neuen Testaments.

5.16 Der Römerbrief

301

Rom verlassen. Sie flüchteten nach Korinth (Apg 18,1 f.), reisten weiter nach Ephesus (18,18 f.) und kehrten später – nach dem Tod des Claudius im Jahr 54 n. Chr. – nach Rom zurück (Röm 16,3 f.). Einen judenchristlichen Einfluss verraten die alte Bekenntnisformel zur davidischen Herkunft Jesu (Röm 1,3 f.), die messianische Deutung der Davidssohnschaft (15,12) durch das Zitat aus Jes 11,10: „der Spross aus der Wurzel Isais“ (§ 5.6.1.2), das Wort von der Sühne (3,25; s. Anm. 581), das Ansehen Abrahams (4,1 ff.), die Israelthematik (9–11) und nicht zuletzt die zahlreichen Schriftzitate, die hier so gehäuft vorkommen wie in keinem anderen Paulusbrief.590 Da der judenchristliche Teil der römischen Christenheit durch das Claudiusedikt stark geschwächt wurde, waren zur Abfassungszeit des Briefs die meisten Christen dieser Stadt heidnischen Ursprungs. Wie sehr Heidenchristen nach der Meinung des Paulus in der römischen Gemeinde den Ton angaben, zeigen das Ölbaumgleichnis mit der Warnung vor heidenchristlichem Hochmut (11,13.17 ff.) und die betonte Ausrichtung des Briefs auf die Heiden (1,5.13 f.; 15,7 ff.16 ff.). Durch die heidenchristliche Übermacht gehörten die Judenchristen zur Minderheit der „Schwachen“ (14,1 ff.), die sich noch den jüdischen Speisevorschriften und dem Sabbatgebot verpflichtet fühlten, obwohl doch Christus das Ende des Gesetzes ist (10,4). Die altkirchliche Überlieferung, Petrus sei der Gründer der römischen Gemeinde gewesen,591 kann aus den frühen Zeugnissen nicht belegt werden. Die Aussage von 2Kor 10,15 f., nach der Paulus nur dort wirken möchte, wo „andere“ (sc. Apostel) nicht waren (vgl. Röm 15,20; Gal 2,7), spricht eher gegen diese Vermutung. Die Möglichkeit eines Aufenthalts des Petrus in Rom ist dadurch nicht ausgeschlossen, wo er höchstwahrscheinlich ebenso wie Paulus in den neronischen Christenverfolgungen 64 n. Chr. das Martyrium erlitt (1Clem 5,4–7).592 Was über die römischen Christen gesagt wurde, ist auch für die Auslegung von Röm 13 von Bedeutung. Dort ist vom Verhalten gegenüber staatlichen Behörden die 590 Vgl. bes. Röm 1,17 (Hab 2,4: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“; vgl. Gal 3,11); 3,1–21; 4,3.17 f. (Abraham; Gen 15,6; 17,5; 15,5; vgl. 12,3); 7,7 („Du sollst nicht begehren“; Ex 20,17; Dtn 5,21); 8,36 (getötet wie Schlachtschafe; Ps 44,23); 13,9 (Dekalog aus Dtn 5,17–21; Ex 20,13–17 und Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18); 15,3 f. (Schmähungen; Ps 69,10); 15,7–12 (bes. Jes 11,10: Wurzel Isais); 15,21 (Mission, wo das Evangelium noch nicht verkündigt wurde; Jes 52,15). 591 Euseb, Chronik des Hieronymus (GCS 47), ed. R. Helm, Berlin 1956, 179. 592 Zu den Anfängen der römischen Gemeinde vgl. P. Lampe, Die stadtrömischen Christen (s. Anm. 586); M. Hengel / M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 389–392, zu Petrus in Rom Ch. Böttrich, Petrus. Fischer, Fels und Funktionär (BG 2), Leipzig 2001, 211–234 mit Hinweisen auf 1Clem 5,1–7 und den Bericht über die Christenverfolgungen unter Nero 54 n. Chr. bei Tacitus (Annalen 15,38–44; Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen I. Alte Kirche, hg.v. A. M. Ritter, Neukirchen-Vluyn 72002, 6 f.), 1Petr 5,13 (Babylon = Rom; § 8.6.4); IgnRöm 4,3 und die archäologischen Spuren im Vatikan.

302

5 Die paulinischen Briefe

Rede. Paulus greift dieses Thema auf, weil nach dem Claudiusedikt die Ankunft eines bekannten christlichen Missionars bei den römischen Behörden Angst vor neuen Tumulten und analoge Maßnahmen gegen die Christen hätte auslösen können. Auch auf Seiten der Synagoge befürchtete man neue Strafmaßnahmen durch die Obrigkeit. Paulus hielt es deshalb für nötig, den Adressaten klarzumachen, dass der Glaube, der schon jetzt den Sieg Jesu Christi über alle Schicksalsmächte aufzeigt, nicht zur Verachtung der politischen Ordnungen führen darf. Die Repräsentanten der staatlichen Macht haben als notwendiger Damm gegen böse Taten ihre Berechtigung. Der Apostel war sich der Bedeutung des römischen Reiches für die Verbreitung des Evangeliums bewusst. Die Römer bauten ein umfassendes Kommunikationsnetz im ganzen Mittelmeerraum auf, unterdrückten das Piratentum und errichteten große Verwaltungszentren. Griechisch wurde in der neutestamentlichen Zeit als zweite Reichssprache akzeptiert. Es galt als Weltsprache (wie heute Englisch) und diente mündlich ebenso wie schriftlich der allgemeinen Verständigung. Alle diese Möglichkeiten nutzte Paulus für seine Missionstätigkeit. 5.16.3

Text, Integrität, Abfassungsort und -zeit

Im Blick auf die Integrität wird diskutiert, ob der Brief ursprünglich möglicherweise mit dem Friedenswunsch in 15,33 endete. Der feierliche Abschluss des 15. Kapitels trennt Röm 16 vom Rest des Briefs. Gegen das letzte Kapitel als ursprünglichen Bestandteil des Römerbriefs wurden in der Forschung mehrere Gründe angeführt: Paulus konnte in Rom nicht so viele Menschen kennen. Epänetus (Epainetos), der vermutlich als Erster in Asien, d. h. der römischen Provinz Asia, zum Glauben an Christus kam, muss in Ephesus Christ geworden sein. Auch Aquila und Priska (Priszilla) sind nach Ephesus gegangen (Apg 18,18 f.). Und die Warnung an diejenigen, die Zwietracht säen (Röm 16,17–20), passt nicht zum Stil des Briefs, der u. a. der Selbstvorstellung des Apostels dient. Mehrere Forscher nehmen deshalb an, dass es sich bei Röm 16 um Teile eines nach Ephesus geschickten Schreibens handelt (16,3–16) oder dass dieser Abschnitt zu einem verlorenen Epheserbrief gehörte. Zu jenem Brief wird manchmal auch die Paränese (12,1–15,6) oder der Abschnitt über die Starken und Schwachen (14,1–15,13) gerechnet.593 Die Schwester Phöbe könnte den Brief nach Ephesus zusammen mit einer Kopie des Römerbriefs gebracht haben, sodass die Reiseroute Korinth – Rom – Ephesus – Korinth gewesen sein müsste. Trotzdem ist es nicht undenkbar, dass das 16. Kapitel zum Römerbrief gehörte, wie viele Exegeten mit gewichtigen Gründen annehmen.594 Zu Briefen, deren Abfassung längere Zeit dauerte, konnten die Autoren kurz vor der Absendung Grüße und Mitteilungen hinzufügen. 593

Ausführlich H.-M. Schenke / K. M. Fischer, Einleitung (Lit. § 1), 141 f. Vgl. W. G. Kümmel, U. Wilckens, K. P. Donfried, P. Stuhlmacher, K. Haacker, E. Lohse oder P. Lampe, zusam menfassend K. P. Donfried, A Short Note on Romans 16, zuletzt in: ders., The Romans Debate, 44–52. 594

5.16 Der Römerbrief

303

Eine Post für Privatzwecke gab es nicht. So musste man manchmal längere Zeit warten, bis jemand in die entsprechende Richtung reiste. Paulus grüßte in Rom so viele Menschen, weil er davon ausging, dass die ihm schon bekannten Brüder und Schwestern die Mehrheit der römischen christlichen Gemeinde von seinen guten Absichten überzeugen würden. Die Leute aus Ephesus konnten in die Hauptstadt übergesiedelt sein. Und die Warnung vor Zwietracht ist als Verallgemeinerung seiner Erfahrungen zu begreifen, die in allen gruppenbezogenen Ermahnungen gut denkbar ist. Sie hat sogar im Brief selbst eine gewisse Parallele in der Ermahnung, dem Bruder kein Ärgernis zu bereiten (14,13). Es ist nicht ausgeschlossen, dass mit der Hinzufügung des 16. Kapitels noch weitere Eingriffe in den Text verbunden waren. Die Verlegenheit hinsichtlich des Verhältnisses von Röm 16 zum Korpus des Briefs spiegelt sich auch in der Textüberlieferung wider. Nach Origenes († 254) endete der Römerbrief im Kanon Markions mit dem 14. Kapitel. Markion (§ 3.3b) wollte offensichtlich die Verdoppelung des Themas der Starken und der Schwachen und die vielen Zitate aus der jüdischen Bibel in Röm 15 vermeiden. Das abrupte Ende erforderte eine nachträgliche Schlussdoxologie, die in 16,25–27 erhalten ist. Der unpaulinische Wortschatz und die unsichere Stellung in der Textüberlieferung (nach 14,23 oder 15,33) sprechen für einen sekundären Charakter. Im Kodex B (Vaticanus) und in anderen Textzeugen begegnen wir der Doxologie nur einmal am Ende des Römerbriefs. In der byzantinischen Texttradition steht sie am Ende des 14. und noch einmal am Ende des 16. Kapitels, im Papyrus Chester-Beatty (p46, etwa 200) nach dem 15. Kapitel. Die Annahme der Bearbeitung im Rahmen der kirchlichen liturgischen Praxis wird dadurch textkritisch unterstützt. Eindeutig sekundär ist der Gnadenwunsch in 16,24, da er in den ältesten Handschriften fehlt. Seit dem 5. Jh. taucht er vor, nach oder statt der Doxologie 16,25–27 auf.

Ein breiter Konsens besteht im Blick auf die Abfassungszeit des Römerbriefs, den Paulus während seines letzten Aufenthalts in Korinth schrieb (16,1),595 d. h. etwa 56 n. Chr. Falls das 16. Kapitel zum Römerbrief gehörte, müssen Aquila und Priska (Priszilla) nach dem Tod des Kaisers Claudius (54 n. Chr.) nach Rom zurückgekehrt sein. Die Hypothesen, nach denen der Römerbrief aus zwei (+ Röm 16)596 oder mehreren Episteln entstand, sind wenig hilfreich.597 5.16.4

Anlass und Zweck des Schreibens

Es gab mehrere Gründe für die Abfassung dieses Briefs. Die oft diskutierte Frage, ob es sich um einen Gelegenheitsbrief oder um eine programmatische Zusammenfassung der paulinischen Theologie handle, wirft eine schiefe Alternative auf. Auch diejenigen, die den konkreten Anlass der Abfassung hervorheben, bestreiten nicht, 595

Kenchreä in Röm 16,1 ist einer der zwei Häfen von Korinth. So W. Schmithals, Methodische Erwägungen zur Literarkritik der Paulusbriefe, ZNW 87 (1996), 51–82. 597 Zum methodischen Vorgehen s. § 5.12.2 und zum Römerbrief U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 138–141. 596

304

5 Die paulinischen Briefe

dass Paulus bei dieser Gelegenheit auf theologische Grundfragen einging, die über den Tag hinaus relevant sind und schließlich zur Sammlung und Kanonisierung der Paulusbriefe geführt haben. Eindeutiger Anlass für die Abfassung war die geplante Missionsreise in die Provinz Hispania (heute Spanien und Portugal; Röm 15,23 f.28), für die Paulus in Rom eine Basis benötigte. Da er von einer judenchristlichen Prägung zumindest eines Teils seiner römischen Adressaten ausging, musste er erläutern, warum seine Verkündigung nicht mehr dem mosaischen Gesetz verpflichtet ist. Deshalb wollte er sein Vorhaben zunächst vor der christlichen Gemeinde im Zentrum des Reichs erläutern. Dass die paulinische Position für Judenchristen nicht leicht zu begreifen war, belegt indirekt die Erzählung in Apg 28,23–28 von einer langen Diskussion mit den römischen Juden über das Gesetz und das Heil für die Heiden. Im Römerbrief musste der Apostel also seine Beziehung zu Israel und zur Schrift bezeugen, um gerade aus der jüdischen Bibel (§ 2.1.1) die Freiheit vom mosaischen Gesetz zu begründen. Seine Verbundenheit mit den Judenchristen und seine Anerkennung der Sonderstellung der Urgemeinde wollte Paulus auch durch die Sammlung für die Armen in Jerusalem demonstrieren. Die finanzielle, vor allem aber die geistige und kirchenpolitische Unterstützung vonseiten der römischen Gemeinde hatte für ihn eine große Bedeutung (Röm 15,25–31). Noch gewichtiger als die geplante Reise nach Hispanien ist ein anderer Grund für die Abfassung des Briefs: Paulus wollte – ungeachtet seiner konkreten Pläne – die christliche Gemeinde in der Hauptstadt des Reichs, d. h. in der Weltmitte, erreichen. Wenn wir bedenken, mit welcher Konsequenz der Apostel christliche Gemeinden in den Verwaltungszentren des römischen Reichs errichtete, musste die Hauptstadt für ihn von herausgehobenem Interesse sein. Nach den Erfahrungen, die er in mehreren christlichen Gemeinden gemacht hatte, lag ihm die Einheit der römischen Christen besonders am Herzen. Auf die Einheit der Gemeinde zielt seine Ermahnung an die „Starken“ im Glauben, die Schwachen zu respektieren (14,1–15,13; vgl. 1Kor 8–10). Die Ruhe in der römischen Gemeinde war auch zur Vermeidung von Konflikten mit den kaiserlichen Amtsträgern wichtig.598 Der Einheit innerhalb der Gemeinde dient auch die Sohnesformel, die der Apostel in Röm 1,3 f. aus vorpaulinischer Tradition zitiert (§ 5.6.1.2). Damit dokumentiert Paulus seine Absicht, die apostolische Lehre als eine Interpretation jener mit den Judenchristen gemeinsamen Glaubensüberlieferung darzustellen. Ihre judenchristliche Herkunft verrät der Hinweis auf die davidische Abstammung Jesu.599 Die Formel enthält zwar kein Wort vom Kreuz Christi (§ 5.12.5e), das für Paulus so bedeu598 Vgl. K. Haacker, ThHK 6, 13 f.; vgl. unsere Notizen zu Röm 13 in § 5.16.2 und bei Anm. 652 f f. 599 Vgl. in Röm 15,12 das Zitat aus Jes 11,10: „der Spross aus der Wurzel Isais“ (§ 6.2.7.1).

5.16 Der Römerbrief

305

tend war, aber sie muss den Adressaten bekannt gewesen sein. Die Sohnesformel gehört zum Inhalt des paulinischen Evangeliums (1,1; § 5.6.2.1), und die Theologie des Römerbriefs ist eine Deutung dieser Botschaft (1,16 f.).600 Gelegentlich zieht Paulus ältere Tauftraditionen (Röm 3,25–26a;601 6,3 f.) als gemeinsame Ausgangsbasis heran. In Röm 6 betont er die Identifikation des Täuflings mit Christus – eine Deutung der Taufliturgie, die sowohl die ethische Verpflichtung des Christen als auch seine Hoffnung für die Endzeit und damit über den Tod hinaus motiviert (6,4–11; § 5.6.2.2d). Aufs Ganze gesehen kann der Römerbrief als Testament oder – da im Unterschied zu 2Tim 4,1–8 (§ 8.4.1–2) kein Abschiedsbrief – treffender als Summe des Evangeliums bezeichnet werden.602 Seine Argumente waren auch für die Jerusalemer Christen gültig. Und doch handelt es sich um einen Brief, der nicht für die Jerusalemer Urgemeinde bestimmt war,603 sondern sich an die römischen Christen wendet.604 Im Briefrahmen (Röm 1,1–15; 15,14–16,27) legt Paulus zwar seine Missions- und Reisepläne dar, aber im Briefkorpus erörtert er die für die römischen Gemeinden zentrale Frage nach dem Verhältnis von Juden(christen) und Heiden(christen) (1,16 – 11,36). Das Problem war durch die Rückkehr der Judenchristen wie Priska und Aquila (16,3) nach dem Herrschaftswechsel von Claudius zu Nero (54 n. Chr.) neu aufgebrochen und bedurfte einer grundsätzlichen Erörterung.605 Die Frage hatte sich, wie die Paränese für die Starken und Schwachen (14,1–15,13) zeigt, an der Befolgung der Reinheitsvorschriften und des Sabbatgebots (14,2 f.5 f.20 f.) entzündet. Da einige Gemeindeglieder diese Gebote ihrer jüdischen Prägung entsprechend einhielten, wurden sie als „schwach im Glauben“ bezeichnet (14,1). Der Ort, an dem der Konflikt virulent wurde, waren die gemeinsamen Gottesdienste in den Hausgemeinden, die meist mit einem Sättigungsmahl verbunden waren und für die „Schwachen“ durch die Sorge vor dem Unreinwerden durch den Kontakt mit Heiden(christen) zum Problem wur60 0 Vgl. E. Lohse, Euaggélion theoú, 135–137; ders., KEK 4, 62 f. Wenn wir in diesem Zusammenhang über die paulinische Tendenz sprechen, die Einheit der Kirche zu retten, müssen wir sogleich die Warnung von C. E. B. Cranfield, ICC II, 822 f., ernst nehmen: Das Hauptanliegen ist die Deutung des Evangeliums. 601 Vgl. W. Kraus, Der Jom Kippur, der Tod Jesu und die Biblische Theologie, JBTh 6, 1991, 156–172. 602 Vgl. G. Bornkamm, Der Römerbrief als Testament, 135 ff.; E. Lohse, Summa Evangelii, bes. 113–119; ders., KEK 4, 45–48. 603 So J. Jervell, Der Brief nach Jerusalem. Über Veranlassung und Adresse des Römerbriefs, StTh 25 (1971), 61–73. 604 Dass der Römerbrief als eine Verteidigungsrede geschrieben sein sollte (so z. B. W. Simonis, Der gefangene Paulus, Frankfurt 1990), ist schon wegen seiner pastoralen Dimension ausgeschlossen. 605 Vgl. V. Gäckle, Die Starken und die Schwachen in Korinth und in Rom (WUNT II/200), Tübingen 2005, 292–449, bes. 330–336.

306

5 Die paulinischen Briefe

den. Damit steht Paulus im Römerbrief vor der Frage, welche Bedeutung Christus als „des Gesetzes Ende“ (10,4) nicht nur für die Gültigkeit der Tora, sondern sehr viel umfassender für das Heil der Menschen (1,16–8,39), den heilsgeschichtlichen Vorzug Israels (9–11) und die Einheit des neuen Gottesvolks aus Juden und Heiden (15,7– 13) in der Gemeinde Jesu Christi hat. Er antwortet mit dem Evangelium von der Gerechtigkeit Gottes, die jeden Menschen ohne Unterschied aus Gnade gerecht macht durch den Glauben an Christus, die Juden zuerst und ebenso die Heiden (1,16 ff.). 5.16.5 Die Theologie: Rechtfertigungslehre, Anthropologie, Israel, staatliche Macht Der erste Argumentationsgang in Röm 1–8 behandelt Fragen der Rechtfertigungslehre und der Anthropologie. Dabei benutzt Paulus verschiedene literarische Ausdrucksmöglichkeiten. Vor allem bedient er sich des Mittels der Diatribe – eines populären Vortrags, der unter kynischen und stoischen Philosophen verbreitet war.606 In der Diatribe werden rhetorische Fragen benutzt. Paulus jedoch greift reale Einwände gegen seine Rechtfertigungslehre auf.607 a) Die Rechtfertigungslehre: Der ganze Brief konzentriert sich auf die Rechtfertigung aus Glauben, die Paulus schon im Galaterbrief vertreten hatte (§ 5.11.3).608 Ausgangspunkt ist die These, dass in Jesus Christus, in seinem Kreuzestod und der Auferstehung, die Gerechtigkeit Gottes offenbart ist, die den Glauben erweckt und allein durch Glauben aufgenommen wird (1,16 f.; vgl. 1,3 f.).609 Mitgeteilt wird diese göttliche Gerechtigkeit nach Paulus durch das Evangelium (1,1.9.16), das er mit der Sohnesformel in Röm 1,3 f. als Traditionsgut eingeführt hatte.610 Die gute Nachricht besteht in der Befreiung von der Sünde.

606 R. Bultmann, Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe (FRLANT 13), Göttingen 1910. 607 Röm 3,1.9.31; 4,1; 6,1.15; 7,7.13 u. a. 608 Zur unterschiedlichen Einbettung und den Transformationen der Rechtfertigungsaussagen vgl. den erhellenden Längsschnitt von M. Theobald, Der Kanon von der Rechtfertigung (Gal 2,16; Röm 3,28), in: Studien zum Römerbrief, 164–225 (einschl. Apg 3,12.16; 13,38 f.; 15,10 f.; Eph 2,5.8 f.; Tit 3,4–7; 2Tim 1,8 f.; Jak 2,14–26). 609 An dieser Stelle kam Martin Luther nach seinem autobiographischen Rückblick in der Vorrede zum ersten Band seiner lateinischen Schriften (1545) die befreiende reformatorische Erkenntnis, welchen Sinn die Rede von der „Gerechtigkeit Gottes“ in der Bibel in Wahrheit hat; vgl. WA 54, 185 f. oder die deutsche Übersetzung bei Martin Luther, Ausgewählte Schriften I–VI, hg.v. K. Bornkamm / G. Ebeling, Frankfurt 1982, I, 22–24. 610 Vgl. Gal 1,15 f.; 2Tim 2,8 (§ 5.6.1.2).

5.16 Der Römerbrief

307

Der Mensch lebt unter dem Druck der Sünde. Als Sünder begeht er nicht bloß einzelne Übertretungen göttlicher Gebote (hamartíai; Pl.), sondern er ist in seiner ganzen Existenz der „Sünde“ (hamartía; Sg.!) verfallen (1,18–3,20; 3,23; 5,12). Die Sünde besteht nicht nur in einzelnen Verfehlungen (7,5), Begierden (1,24; 6,12; 7,7 f.) und Leidenschaften (1,26; vgl. 7,5), sondern ist dem Menschen insgesamt schicksalhaft zum Verhängnis geworden. Sie ist nicht nur ein moralischer Mangel in der Lebensführung, sondern hat den Charakter einer unentrinnbaren Macht (s. Anm. 633). Ihr Wesen ist „Gottlosigkeit“ (asébeia; 1,18; vgl. 4,5; 5,6) und „Ungerechtigkeit“ (adikía; 1,18.29; 6,13) oder schärfer ausgedrückt „Feindschaft gegen Gott“ (échthra eis theón 8,7; vgl. 5,10) sowie die Unfähigkeit, sich dem Gesetz Gottes unterzuordnen und Gott zu gefallen (8,7 f.). Als Sünder verweigert der Mensch Gott Ehre und Dank (1,21), Gehorsam (5,19) und Dienst (6,19). Er kann einzelne gute Werke als Erfüllung der Gebote des Gesetzes tun (vgl. 2,14 f.), ohne Gott wirklich zu vertrauen. Aber wegen seiner Sündenverfallenheit bleibt er ausnahmslos Gottes Zorngericht ausgeliefert (1,18; 2,5.8; 3,5; 1Thess 1,10 u. ö.): „alle haben gesündigt und entbehren der Herrlichkeit Gottes“ (Röm 3,23; vgl. 5,12). Doch durch die Gnade Gottes in Christus Jesus ist die Herrschaft der Sünde beendet (3,24; 5,15–21). Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes in Jesus Christus ist ein neuer und entscheidender Weg zur Rettung aus dem göttlichen Zorn (5,9; 1Thess 1,9 f.).611 Es handelt sich um einen innerlich wirksamen Weg, sodass die Menschen im Glauben ein persönliches Verhältnis zu Gott gewinnen. In dieser Hinsicht ist der Glaube selbst ein Teil des Heilshandelns Gottes, das in Christus konzentriert ist (3,21–26). Das göttliche Heil, das sich im Glauben ereignet, betrifft und verändert den ganzen Menschen – nicht nur seine Werke. Der Apostel bezeichnet dieses Heilshandeln in Röm 3,24 f. erstens als „Gerechtwerden“ (dikaioústhai) des Menschen aus „Gnade“ (cháris), das für Paulus der Inbegriff der Heilstat Gottes in Christus ist, zweitens als „Erlösung“ (apolýtrōsis), die aus der Sklaverei der Sünde befreit, und drittens als „Sühne“ (hilastḗrion), die Gott zur Vergebung durch ein Opfer bewirkt (s. Anm. 581). Als Schriftbeleg für die Rechtfertigung durch den Glauben wird Abraham in Röm 4 – ebenso wie in Gal 3,6 ff. (§ 5.11.1; 5.11.4b)612 – mit dem Zitat von Gen 15,6 eingeführt: „Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet“.613 Abraham ist „unser aller Vater“ (Röm 4,16) und dient als Identifikations- und Integrationsfigur für Juden- und Heidenchristen, die beide in gleicher Weise unabhängig von der Beschneidung (§ 5.11.3) bei Gott allein durch den Glauben – nicht durch Werke – Gerechtigkeit erlangen. In Umkehrung der gewohnten jüdischen Reihenfolge wird nicht mehr der Vollzug der Beschneidung als Voraussetzung zum Erlangen 611

Vgl. E. Käsemann, HNT 8a, 91. In Röm 4 im Unterschied zu Gal 3 freilich ohne das Motiv des Segens. 613 Vgl. zu Röm 4 M. Neubrand, Abraham – Vater von Juden und Nichtjuden (FzB 85), Würzburg 1997. 612

308

5 Die paulinischen Briefe

der Gerechtigkeit angesehen, sondern Paulus folgert aus der zeitlichen Priorität der Glaubensgerechtigkeit (Gen 15,6) deren qualitative Überlegenheit gegenüber der später berichteten Beschneidung (Gen 17). Deshalb wird die Gerechtigkeit schon bei Abraham dem Glaubenden ohne Werke wie der vom Gesetz geforderten Beschneidung allein aus Gnade zugerechnet. Die Beschneidung gilt lediglich als Zeichen, das die im Glauben zugeeignete Gerechtigkeit im Nachhinein wie ein „Siegel“ bestätigt (Röm 4,9–12). Die Gerechtigkeit Abrahams wird von Gott nicht nur beurteilend festgestellt, sondern in einem schöpferischen Akt hergestellt. Die Rechtfertigung erscheint als ein ebenso tiefgreifender Vorgang wie das heilschaffende Handeln Gottes in der Auferweckung und der Schöpfung. Die Tragweite dieses Geschehens bekräftigt der Apostel, indem er mit den beiden Wendungen „der die Toten lebendig macht“ und „der das, was nicht ist, ins Dasein ruft“ (Röm 4,17; vgl. 1Kor 1,28) bekenntnisartig geprägte jüdische Formulierungen aufnimmt.614 Die Rechtfertigung des Gottlosen (Röm 4,5) ist kein geringeres Wunder als die Auferstehung der Toten und die „creatio ex nihilo“ (Schöpfung aus dem Nichts). Paulus bezieht das dem Abraham verheißene Erbe nicht mehr auf die Landnahme in Kanaan, sondern auf den ganzen Kosmos, d. h. die zukünftige Welt, das endzeitliche Gottesreich, das ewige Heil, das den Glaubenden zuteil werden soll (Röm 4,13). Über Gal 3 hinaus wird der Glaube dadurch konkretisiert, dass Abraham mit Sara trotz des hohen Alters der Verheißung Vertrauen schenkte und in Isaak den versprochenen Nachkommen erhielt (Röm 4,18–25). Nach den zusammenfassenden Aussagen über die Rechtfertigung und den Frieden mit Gott (Röm 5,1) kehrt Paulus am Ende des 6. Kapitels zum Thema der Sünde zurück: Der Mensch, der der Sünde dient, d. h. die Chance der Gnade Gottes nicht erkennt, erhält von der Sünde als Arbeitgeber einen schlechten Lohn („Sold“), nämlich den Tod (6,23a). Gott schenkt den Gläubigen mehr als einen Lohn, er gibt ihnen das ewige Leben zum Geschenk (6,23b). Das ist die Erklärung des Evangeliums als der dynamisch wirkenden Kraft Gottes (1,16 f.). Im Römerbrief bezeichnet Paulus die heilvolle göttliche Absicht umfassend als „Gerechtigkeit Gottes“ (dikaiosýnē theoú).615 Umstritten ist vor allem die Bedeutung der Genitivverbindung: Handelt es sich erstens um einen Genitivus subiectivus im Sinn einer göttlichen Eigenschaft (als Richter) oder zweitens um einen Genitivus auctoris 614

Vgl. die Wendung „der die Toten lebendig macht“ in JosAs 20,7; 4Q521 7+5 II 6 sowie in der zweiten Benediktion des Achtzehngebets (C. K. Barrett / C.-J. Thornton, Texte [Lit. § 12e], 238); vgl. für die Schöpfung aus dem Nichts 2Bar 21,4; 48,8; JosAs 12,1 f.; 2Makk 7,23.28f u. ö. Vgl. O. Hofius, Die Gottesprädikationen Röm 4,17b, in: Paulusstudien II (Lit. § 5), 58–61. 615 Röm 1,17; 3,5.21 f.25 f.; 10,3; 2Kor 5,21; Phil 3,9; vgl. die Exkurse bei P. Stuhlmacher, NTD 6, 30–33; E. Lohse, KEK 4, 78–81 (Lit.).

5.16 Der Römerbrief

309

(Genitiv des Urhebers) im Sinn der Gerechtigkeit, die Gott erweist, wirkt und schafft, oder drittens um einen Genitivus obiectivus im Sinn der Gerechtigkeit, die im Endgericht vor Gott und ihm gegenüber gilt? Außerdem wird diskutiert, ob diese Gerechtigkeit von Gott entweder im effektiven Sinn wirklich geschaffen oder nur im forensischen Sinn eines Freispruchs angerechnet wird. Diese Alternative wird vielfach mit dem Gegensatzpaar effektiv / imputativ bezeichnet. Alle diese Deutungen stützen sich auf zutreffende Textbeobachtungen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Durchgehend zeigt der paulinische Sprachgebrauch, dass die Gerechtigkeit keine menschliche Leistung ist, die der Mensch vor Gott erbringen muss („Werkgerechtigkeit“) – sei es als Jude, als Heide oder als Christ. Die Gerechtigkeit kann nur eine von außen kommende, fremde, von Gott gewährte Gerechtigkeit sein (lat. iustitia aliena, iustitia passiva). Gemeint ist primär die Gerechtigkeit im effektiven Sinn eines Genitivus subiectivus bzw. auctoris, d. h. der Gerechtigkeit, die Gott eigen ist und die von ihm ausgeht. Es ist die Gerechtigkeit, die seinen Willen unter den Menschen verwirklicht, das Heil bewirkt, Vergebung und Leben gewährt und den Frieden mit Gott begründet. Paulus nennt sie in Phil 3,9 „die Gerechtigkeit aus (ek) Gott“. Auch nach Röm 3,5.24–26 wird von Gott gesagt, dass er „gerecht ist und gerecht macht“616 denjenigen, der an Jesus glaubt. Darüber hinaus hat die Genitivverbindung zugleich den Charakter eines Genitivus obiectivus im Sinn der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Denn Christus „wurde uns (hēmín) von Gott zur Gerechtigkeit gemacht (egenḗthē)“ (1Kor 1,30), „damit wir die Gerechtigkeit Gottes würden durch ihn (Christus)“ (2Kor 5,21; § 5.13.3.1c). Die „Gerechtigkeit Gottes“ steht hier als abstractum pro conreto. Sie bezeichnet die Glaubenden als Gerechtfertigte, der vor dem Richterstuhl Gottes als Gerechte erscheinen, denen in Christus diese Gerechtigkeit tatsächlich zuteil geworden ist. Daher wird die Gerechtigkeit den Glaubenden nicht nur imputativ zugerechnet.617 Vielmehr wird sie ihnen durch den Geist als Gabe der Neuschöpfung auch effektiv zuteil, wie die Anspielung auf die Taufe in 1Kor 6,11 zeigt (vgl. Röm 6,3; § 5.6.2.2d): „... ihr seid gerecht geworden im Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.“ Damit umfasst die „Gerechtigkeit Gottes“ die ganze Bedeutungsbandbreite von der Urheberschaft des göttlichen Subjekts über die Gabe an die Glaubenden bis zu den Auswirkungen dieser Gerechtigkeit im Blick auf das göttliche Gericht und den Lebenswandel der Christen im Alltag. Für das paulinische Verständnis ist entscheidend, dass diese Gerechtigkeit nach Röm 10,3 keine menschliche Eigenschaft darstellt und auch keiner menschlichen Aktivität entspringt, sondern sich ganz und gar

616

Vgl. das Verb „dikaioún“ mit Gott als Subjekt in Röm 3,26.30; 4,5; 8,30.33; Gal 3,8. Vgl. „logízesthai“ (Vulgata: inputari, reputari) in Röm 4,3–11.22–24; Gal 3,6; vgl. auch 2Kor 5,19. 617

310

5 Die paulinischen Briefe

Gott verdankt. Sie erweist sich als eine fremde (lat. aliena), von Gott (Phil 3,9) geschenkte Gerechtigkeit (lat. iustitia passiva). Durch sein gerechtmachendes Handeln verändert Gott das ethische Verhalten der Menschen. Erfüllt von der Hoffnung auf die Auferstehung und das neue Leben in der vollkommenen Gemeinschaft mit Christus (Röm 6,4 ff.) sollen die Gläubigen ein Leben führen, das im Dienst der Gerechtigkeit Gottes steht (6,12 ff.). Mit dem Tod und der Auferstehung Jesu hat der neue Äon begonnen und ist die Macht der Sünde gebrochen. Aber die Versuchung durch die Sünde dauert noch an. Deshalb bleiben weiterhin Ermahnungen zur Gerechtigkeit erforderlich, die Paulus in einer Paränese anschließt (6,12–23; vgl. 12,1; § 5.16.5c). Die „Gerechtigkeit“ kann nicht nur individuell gedacht werden, sondern es geht um jenes Recht, „in welchem sich Gott in der von ihm abgefallenen und als Schöpfung doch unverbrüchlich ihm gehörenden Welt durchsetzt.“618 Durch die eschatologische Erneuerung (6,4) schenkt Gott dem Menschen im Glauben seine Identität, sein wahres Ich, zu dem er von Gott bestimmt ist (8,1 ff.). Die Rechtfertigung des Sünders ist Teil eines die ganze Schöpfung umfassenden Geschehens, in dem der neue Äon in die Gegenwart einbricht (5,1–11; 8,18–39). Der Römerbrief stellt mit der Rechtfertigungslehre die letzte paulinische Reflexion der neuen Erfahrung der doppelten Eschatologie dar, in der die ersten Christen zwischen der endzeitlichen Hoffnung auf das ewige Leben jenseits des göttlichen Gerichts und der gegenwärtigen Erfahrung des Heils im gerechtmachenden Handeln Gottes differenzieren: Die Begegnung mit dem Messias geschah schon innerhalb des alten Äons und beflügelt erst recht die Sehnsucht nach der noch ausstehenden Erlösung der ganzen Schöpfung.619 Zum göttlichen Willen gehört das konkrete Ereignis der Offenbarung in Christus, in der die ewige Absicht Gottes mit dieser Welt verwirklicht wurde. Der Glaube wird durch die Verkündigung des Christusgeschehens hervorgerufen.620 Er impliziert bei den Gläubigen das Vertrauen, dass Gott den Menschen schon jetzt barmherzig zugeneigt ist und dass sie ihn wie Jesus selber mit der aramäischen Gebetsanrede „Abba“ als „Vater“ (§ 5.6.1.2) anrufen können (8,12–17). Paulus wählt zwar „Gottes Gerechtigkeit“ als Oberbegri ff. Aber er spricht auch von der Liebe, die zum Wesen dieser Gerechtigkeit gehört (5,8; vgl. 5,5; 8,35 ff.). Die Liebe ist Gottes eigentliches Motiv und die treibende Kraft seines Heilshandelns, in dem er den Sünder freispricht und gerecht macht. Die Erfahrung der Gnade (5,2) 618

E. Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, 192 (Hervorhebung U.H.). Vgl. § 5.6.2.1; 5.10.1 und 3; 5.11.3. 620 K. Barth hat in seiner programmatischen Deutung des Römerbriefs (Römerbrief, 2 1921) das Wort „Glaube“ (pístis) als „Treue“ (Gottes) übersetzt. Das ist zwar philologisch an den meisten Stellen falsch, aber dadurch hob der Schweizer Theologe hervor, dass der Glaube grundsätzlich durch Gottes Treue (zum Menschen und zu seiner eigenen Absicht) hervorgerufen wird (Röm 1,17; vgl. K. Barth, Römerbrief, Vorwort zur 2. Auflage, in: J. Moltmann [Hg.], Anfänge der dialektischen Theologie [ThB 17], München 1966, 105–118, dort 117). 619

5.16 Der Römerbrief

311

entspringt der göttlichen Liebe, beide sind Teil seines heilvollen Handelns. Die Gerechtigkeit, die in der Schrift von großer Bedeutung ist (der hebr. Stamm zdq), wird im Kreuz und der Auferstehung Christi vollendet. In jüngster Zeit wurde die zentrale Bedeutung der Rechtfertigungslehre in der paulinischen Theologie in Frage gestellt (E. P. Sanders, H. Räisänen). Unser Versuch, die theologischen Zusammenhänge bei Paulus nachzuzeichnen, widerspricht solchen Thesen (§ 5.8.2i). b) Die Anthropologie: Im Römerbrief entwickelt Paulus Grundzüge einer theologischen Anthropologie. Nach einer berühmten Formulierung Rudolf Bultmanns ist in der paulinischen Theologie „jeder Satz über Gott (bzw. Christus) ein Satz über den Menschen und umgekehrt.“621 Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang in den Aussagen über Adam und Christus in Röm 5,12–21. In der Gestalt Adams beschreibt der Apostel die gegenwärtige Existenz des Menschen, die der Sünde und dem Tod unterworfen ist, in der Gestalt Christi das Leben, zu dem Gott alle Menschen bestimmt hat. In der Adam-Christus-Typologie in Röm 5,12–21 nimmt Paulus den Kontrast zwischen der heillosen Schuld- und Sündenverfallenheit aller Menschen (1,18–3,20) und der universalen Gnadentat Christi (3,23 f.) wieder auf.622 Er bezeichnet Adam als „týpos toú méllontos“ (5,14), d. h. als Gegenbild des zukünftigen Menschen Jesus Christus (vgl. 1Kor 15,21 f.45–49).623 In dieser Antithese ist Adam eine konkrete historische Gestalt, „der erste Mensch“ (1Kor 15,45.47). Als Stammvater des Menschengeschlechts wurde er für die ganze Menschheitsgeschichte schicksalsbestimmend. Inhaltlich ist das Entsprechungsverhältnis durch mehrere Gegensatzpaare bestimmt, die eine durchgehende Gegenüberstellung von Adam-Seite und Christus-

621 Vgl. zur paulinischen Anthropologie als Klassiker R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (Lit. § 1), 191–353, hier 192: „Jeder Satz über Gott ist zugleich ein Satz über den Menschen und umgekehrt. Deshalb und in diesem Sinne ist die paulinische Theologie zugleich Anthropologie ... So ist auch jeder Satz über Christus ein Satz über den Menschen und umgekehrt; und die paulinische Christologie ist zugleich Soteriologie.“ Vgl. dazu kritisch U. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie (BThSt 18), Neukirchen-Vluyn 1991, bes. 1– 12.44–133; ders., Paulus (Lit. § 5), 565–627, aber auch P. Stuhlmacher, Theologie I (Lit. § 1), 273–283; J. D. G. Dunn, Theology (Lit. § 5), 51–101.199–204.241 f.281–293 und zum Römerbrief M. Theobald, Römerbrief, 131–167.227–258. Vgl. auch Ch. Frevel / O. Wischmeyer, Menschsein. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (NEB Themen 11), Würzburg 2003; E. Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament (UTB), Tübingen 2006. 622 Vgl. O. Hofius, Die Adam-Christus-Antithese und das Gesetz, in: Paulusstudien II (Lit. § 5), 62–103 (mit zweispaltiger Gliederung in Adam-Seite und Christus-Seite). 623 Zu „týpos“ (Bild, Vorbild) als Terminus für eine Typologie vgl. 1Kor 10,6.11 (§ 5.6.2.2b).

312

5 Die paulinischen Briefe

Seite ergeben: Während Adam durch seine Gebotsübertretung zum universalen Auslöser der Sünde, des Todes und der Verdammnis wurde (Röm 5,12.14–18.21), erscheint Christus in antithetischer Entsprechung als universaler Urheber der Gerechtigkeit und des ewigen Lebens (5,16–21). Der Tod ist nicht nur das Ergebnis kreatürlicher Sterblichkeit und bedeutet auch nicht nur das Ende des physischen Lebens im biologischen Sinn. Der Tod ist vielmehr eine Konsequenz der Sünde. Er ist die Folge des göttlichen Verdammungsurteils über die Gottlosigkeit des Menschen und bedeutet das eschatologische Verderben, das – im Gegensatz zum ewigen Leben – für immer von Gott trennt. Doch geht es Paulus nicht einfach um den Kontrast zwischen Verdammnis und Heil, sondern er verbindet das Aufzeigen dieses Gegensatzes mit einer Argumentation „a minore ad maius“.624 Diese Gedankenfigur beschreibt formal gesehen nur eine Steigerung, bezeichnet inhaltlich aber die unvergleichliche Überlegenheit, die durch das einzigartige „Geschenk“ (dōreá; 5,15 f.17) der göttlichen „Gnade“ (cháris; 5,15.17.20 f.) in der Heilstat Christi entstanden ist. Was Christus bewirkt hat, wird den Glaubenden „umsonst“ (dōreán) zuteil (3,24). Am Ende bleibt nicht das unausweichliche Verhängnis der Sünde und des Todes, sondern die Gerechtigkeit im umfassenden Sinn, d. h. die Errettung aus dem göttlichen Zorngericht und das ewige Leben (5,16–21). Was Paulus in 5,12–21 mit Hilfe der Adam-Christus-Typologie in seiner universalen Bedeutung grundlegend dargestellt hat, führt er in Kap. 6–8 weiter. Zunächst zieht er in Röm 6 Folgerungen für die christliche Existenz. Durch die Taufe auf Christus (§ 5.6.2.2d) ist der „alte Mensch“ gestorben (6,3 f.6), d. h. die adamitische Existenz unter der Macht der Sünde und des Todes beendet (5,12–21). Nun beginnt „in Christus“ ein neues Leben, d. h. eine eschatologisch erneuerte Lebenswirklichkeit, die von der Hoffnung auf die Auferstehung erfüllt ist (6,3–11) und auch im ethischen Verhalten dem Gerechtigkeit schaffenden Handeln Gottes entspricht (6,12–23). Dann erst geht Paulus in Kap. 7 auf die Situation des adamitischen Menschen unter dem Gesetz und unter der Sünde ein, um in Kap. 8 die Existenz des Menschen „in Christus Jesus“ (8,1) gegenüberzustellen, d. h. des Christen, der durch die Taufe aus dem Einflussbereich der Sünde und des Todes befreit ist (8,2; vgl. 6,3 ff.; § 5.6.2.2d). In Röm 7,7–25a,625 einem der schwierigsten Abschnitte des Römerbriefs, legt Paulus den inneren Widerspruch dar, in dem der unerlöste adamitische Mensch steht: Ver-

D.h. als Schlussfolgerung vom Kleinen zum Größeren (vgl. pollṓ mállon = um wie viel mehr; Röm 5,15.17). 625 Vgl. zu Röm 7 O. Hofius, Der Mensch im Schatten Adams, in: Paulusstudien II (Lit. § 5), 104–154, zu den Deutungen für das „Ich“ den Exkurs von E. Lohse, KEK 4, 213–216 und ausführlicher (mit Forschungs- und Motivgeschichte) H. Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit (WUNT 164), Tübingen 2004. 624

5.16 Der Römerbrief

313

sklavt unter der Herrschaft der Sünde tut er nicht das Gute, das er bejaht und will, wie es Gottes Gesetz gebietet, sondern er vollbringt das Böse, das er eigentlich hasst. Wegen der Anspielungen in 7,8–12 auf die Paradiesgeschichte (Gen 2 f.) wird in der heutigen Exegese meist davon ausgegangen, dass das ganze Kapitel die Existenz des adamitischen Menschen beschreibt, und zwar vom Standpunkt der Erlösten „in Christus“ aus (8,1 f f.). Letztlich geht es nicht um die psychologische Beschreibung eines innermenschlichen Konflikts zwischen Wollen und Tun, sondern um die theologische Sicht des Menschen, der durch die Macht der Sünde im Widerspruch zu den Geboten Gottes lebt, der das Gute will (7,12; 12,2). In Röm 7 stellt Paulus die Situation des Menschen außerhalb und ohne Christus dar. Auch der Christ kennt zwar noch solche Versuchungen, aber er lebt in der Gewissheit, dass dieser Konflikt durch Christus längst entschieden ist und seine Existenz nun vom Geist Gottes bestimmt wird (8,1 f f.). Ein schwieriges Verständnisproblem bereitet das „Ich“ in Röm 7: Aufgrund der Anspielungen in V.8–13 auf das göttliche Gebot in der Paradieserzählung (Gen 2 f.)626 wird es heute fast ausnahmslos in einem generell anthropologischen Sinne auf das „Ich“ des unerlösten adamitischen Menschen schlechthin bezogen. In Fortführung der allgemeinen Sündenverfallenheit von Röm 1,18–3,20 und der Adam-Seite aus 5,12–21 ist also die gesamte Menschheit gemeint einschließlich der Juden. Paulus beschreibt mit diesem „Ich“ in Röm 7 die Situation aller Menschen vor, außerhalb und ohne Christus (vgl. 3,9.22 f.: „alle“, ohne Unterschied).627 Der Argumentationsgang von V.7–25a vollzieht sich in drei zeitlich gestuften Schritten, die den Gegensatz von „einst“ und „jetzt“ erläutern, den Paulus in 7,5 f. thetisch vorangestellt 626

Vgl. bes. Gen 2,16 f.; 3,3 f.11.13.17. So seit der bahnbrechenden Dissertation von W. G. Kümmel, Römer 7 und die Bekehrung des Paulus (UNT 17), Leipzig 1929, Ndr. ders., Römer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament (TB 33), München 1974, der die individuelle, autobiographische Deutung auf die vorchristliche (pharisäische) Vergangenheit des Paulus überzeugend widerlegt hat (vgl. Gal 1,13 f.; Phil 3,6: „nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, untadelig“; abzulehnen ist damit auch die generell jüdische Interpretation durch E. Käsemann, HNT 8a, 187, „daß der Apostel vom Menschen unter dem Gesetz, konkret also vom frommen Juden spricht“). Ebenso zurückzuweisen ist die generell christliche Deutung in der augustinisch-refor matorischen Tradition auf den Widerstreit des durch Christus erlösten Menschen „simul iustus et peccator“, da die Gleichzeitigkeit des „simul“ an der Antithese von „einst“ und „jetzt“ in 7,5 f. sowie dem Tempuswechsel von den Vergangenheitsaussagen in V.7–13 zum Präsens in V.14– 23 scheitert. Doch deutet J. D. G. Dunn, Rom. 7,14–25 in the Theology of Paul, ThZ 31 (1975), 257–273; ders., WBC 38A, 374–412, bes. 387 f.397ff. 410 ff. Röm 7 wieder als Beschreibung der gegenwärtigen Erfahrungen des Paulus als Christ, da sich alter und neuer Äon auch beim inneren und äußeren Menschen in 2Kor 4,16 überschneiden. Außerdem erklärt Dunn, dass Phil 3,6 durch den Hinweis des Apostels, er sei in seiner vorchristlichen Zeit nach der vom Gesetz geforderten Gerechtigkeit untadelig gewesen, nicht wie Röm 7,7–13 vom christlichen, sondern vom jüdischen Standpunkt aus formuliert ist. Phil 3,6 ist zwar in der Tat aus jüdischer Perspektive formuliert, aber mit der Absicht, sie als durch Christus überwunden zu erweisen (V.7 ff.). 627

314

5 Die paulinischen Briefe

hatte (vgl. 6,21 f.): Zunächst wird in 7,7–13 in der Vergangenheitsform eine Geschichte erzählt, als spräche in dem „Ich“ Adam selber von seinem Sündenfall als dem einmaligen Ereignis, dass „durch den Ungehorsam des einen Menschen“ (5,19) „die Sünde in die Welt hineinkam und durch die Sünde der Tod“ (5,12). Sodann wird zweitens in 7,14–23 im Präsens als gegenwärtiger Konflikt beschrieben, was seit Adams Fall in gleicher Weise für jeden Menschen gilt, wie Otfried Hofius dargelegt hat: „Ich, der adamitische Mensch, bin, was Adam, der Protoplast,628 geworden ist. Deshalb kann Adams Geschichte als meine Geschichte erzählt werden, – deshalb ist auch der Bericht von Röm 7,7b–11.13 in die Form der ‚Ich‘-Rede gefaßt.“629 Schließlich folgt drittens in 7,24 futurisch formuliert der Ruf nach Erlösung aus dieser Verfallenheit an Sünde und Tod. Erst dann macht die Dankesformel in V.25a630 deutlich, dass das ganze 7. Kapitel – Röm 5 und 7,6 explizierend – vom Standpunkt des Erlösten aus geschrieben wurde und von 8,1 ff. her aus der Perspektive „in Christus Jesus“ zu verstehen ist. Die durch den Glauben bereits vorweggenommene Erlösung macht den Menschen gegen die Versuchungen und den inneren Streit nicht immun. Sie gibt ihm aber die Gewissheit, dass die fremden Kräfte der Sünde vor Gott schon keine Macht mehr haben. So gliedert sich Kap. 7 in die Geschichte vom Sünder-Werden Adams (7,7–13), in die Wirklich keit des Sünder-Seins aller Menschen (7,14–23) und in den Schrei nach Errettung, durch den der Christ bekennt, dass er in seinen Anfechtungen ein rettendes Gegenüber hat (7,14–25a). Als besonderes Problem erscheint die Frage, wie das Verhältnis von Tora und Sünde zu bestimmen ist. Im ersten Abschnitt (V.7–13) widerspricht Paulus energisch einer Identifizierung beider Größen. Auf die Frage: „Ist das Gesetz (die Ursache der) Sünde?“ (7,7) kann der Apostel nur erwidern: „mḗ génoito“ (durchaus nicht, das sei ferne!). Die Tora ist „heilig“, und das Gebot, im Paradies nicht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, ist „heilig und gerecht und gut“ (7,12): „Das Gesetz wirkt die Sünde nicht, es gibt aber den Anlaß dazu, daß die Realität der Sünde sichtbar und die Sünde so in ihrer Schrecklichkeit entlarvt wird. ... Sobald das Paradiesgebot (sc. ‚du sollst nicht begehren‘) ‚kam‘, ‚lebte die (sc. bereits latent vorhandene) Sünde auf‘ – das heißt: sie wurde aktiv und gewann die Macht. ... Woher die Sünde kommt, das vermag Paulus dabei ebenso wenig zu sagen, wie es der jahwistische Bericht Gen 2–3 sagen kann.“631 Die Sünde versteht Paulus als personifizierte Macht (vgl. 1Kor 15,56: dýnamis), die – mythologisch ausgedrückt in Gestalt der Schlange632 – von außen an den Menschen herantritt, in ihm Wohnung nimmt und sein ganzes Leben von Gott entfremdet.633

Beim Widerstreit zwischen Wollen und Tun (V.14–23) gibt Paulus keinen psychologischen Einblick in den Kampf zwischen dem guten Willen und der bösen Tat, son628

D.h. als erstes menschliches Lebewesen, das Gott erschaffen hat (vgl. SapSal 7,1;

10,1). 629

O. Hofius, Mensch (s. Anm. 625), 121 (Hervorhebung O.H.). Röm 7,25b wird wegen der Widersprüche zu V.7–25a meist als spätere Randglosse beurteilt (s. Anm. 641). 631 O. Hofius, Mensch (s. Anm. 625), 127.131.134 (vgl. 117). 632 Vgl. Röm 7,11 mit Gen 3,13: „sie betrog mich“. 633 Die Sünde ist „in die Welt gekommen“ (5,12), ergreift die Gelegenheit (7,8.11), „herrscht“ (5,21; 6,12), „gebietet“ (6,14), „wohnt in mir“ d. h. „in meinem Fleisch“ (7,17 f.20), sodass der Mensch ihr „dient“ (6,6.16 f.20), „gehorcht“ (6,12.16), „unter ihr“ ist (3,9; 6,14), ihren Sold empfängt (6,20) und „unter sie verkauft“ ist wie ein Sklave (7,14). 630

5.16 Der Römerbrief

315

dern eine theologische Analyse der Lage des Menschen unter der Herrschaft der Sünde. Der adamitische Mensch trägt diesen Widerspruch nicht in sich, sondern er selbst ist der Widerspruch, nämlich gegen Gott. Es geht nicht nur um einen innermenschlichen Widerstreit zwischen Wollen und Tun, sondern um den Konflikt zwischen der Macht der Sünde und dem Willen Gottes, den der Mensch in sich austrägt: Gut und Böse werden hier leicht in einer verkürzten, vorwiegend moralischen Weise missverstanden. Für Paulus besteht das Gute, das mit dem Willen Gottes übereinstimmt, jedoch in einem sehr viel umfassenderen Sinn darin, Gott zu ehren und zu danken (Röm 1,21), zu suchen (3,11), zu fürchten (3,18), ihm zu leben (6,11) und sich ihm hinzugeben (6,13). Böse ist dasjenige Verhalten, das dem Willen Gottes insgesamt widerspricht. Es ist der Ungehorsam (5,19), der als Feindschaft gegen Gott (8,7; vgl. 5,10) begriffen wird, sich in der eingangs beschriebenen Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit auswirkt und den Begierden des Herzens nachgibt (1,18 ff.). Die eigentliche Bosheit des Menschen besteht im Verstoß gegen das erste Gebot (vgl. 1,21.25). Nun ist die Tora zwar „geistlich“, d. h. göttlicher Herkunft und überirdischer Art. Und dem „inneren Menschen“ nach (7,22)634 , d. h. mit seinem „Verstand“ (noús; 7,23) und guten Willen (7,18 f.), hat der unerlöste Mensch durchaus Freude am Gesetz Gottes. Aber er ist „fleischlich“ (7,14), d. h. in seiner Existenz „im Fleisch“ ein Sklave der Sünde und als solcher ein Feind Gottes (5,10; 8,7). Er wurde gewiss nicht als Sünder erschaffen. Doch er ist nicht das freie Subjekt seines Handelns. Er ist unter die Sünde „verkauft“, versklavt und gänzlich fremdbestimmt, weil „die Sünde“ in ihm „wohnt“ und über ihn „herrscht“ (s. Anm. 633). Wegen dieser Ohnmacht des Fleisches (8,3) ist er unfähig, sich dem Gesetz Gottes unterzuordnen und Gott zu gefallen (8,7 f.). Dieser Situation des unerlösten adamitischen Menschen in Kap. 7 stellt Paulus in 8,1–17 das Sein „in Christus Jesus“ gegenüber. Mit der Partikel „nun“ („nýn“) nimmt er die These von der durch den Geist erneuerten Existenz aus 7,6 („nyní“) auf, die er als Leben „nach dem Geist“ entfaltet. „In Christus“ ist die Sünde überwunden, sie hat keine Zukunft mehr. Aber die Sünde ist noch nicht beseitigt, sie verführt immer noch zu einem Leben „nach dem Fleisch“. Auch der gerechtfertigte Mensch kann den inneren Kampf noch erleben, obwohl er schon weiß, dass Christus seine Rettung ist. Glauben ohne Anfechtung kennt Paulus nicht. Denn der Gläubige lebt noch „im Fleisch“ (en sarkí),635 aber er lebt nicht mehr „nach dem Fleisch“ (katá sárka),636 sondern bereits „nach dem Geist“ (katà pneúma; 8,4 f.). „Fleisch“ ist der 634

Die Vorstellung stammt aus platonischer Tradition, wurde von Paulus aber radikal uminterpretiert; vgl. Ch. Markschies, Art. Innerer Mensch, RAC 18 (1998), 266–312; H. D. Betz, The Concept of the ,Inner Human Being‘ (ho és¯o ánthr¯opos) in the Anthropology of Paul, NTS 46 (2000), 315–341, monographisch Th. K. Heckel, Der innere Mensch (WUNT II/53), Tübingen 1993. 635 Gal 2,20; 2Kor 10,3; Phil 1,22.[24]. 636 Röm 8,4 f.12 f.; 2Kor 10,3.

316

5 Die paulinischen Briefe

vorfindliche Mensch in seiner irdischen Existenz, die von Sünde und Tod bestimmt ist.637 Der „Geist“ dagegen ist eine Gabe der Endzeit, die den Gläubigen als Erstlingsgabe (8,23) in der Taufe zuteil wird638 und sie von Sünde und Tod befreit (8,2). Nun „wohnt“ nicht mehr die Sünde in ihnen (7,17 f.20), sondern der Geist Gottes (8,9.11), der sie mit den eschatologischen Gaben des Lebens und der Gerechtigkeit,639 des Friedens mit Gott (5,1; 8,6) und der Freude des Reiches Gottes (14,17; 15,13) erfüllt.640 Dennoch befindet sich der Christ immer noch in der Auseinandersetzung mit der Sünde. Deshalb macht Paulus den Gläubigen Mut, durch die Kraft des Geistes Gottes die Macht der Sünde im Fleisch zu besiegen. Auch die Paränese in Gal 5,16 f. besagt, dass die von der Sünde angefochtene Existenz noch der Versuchung ausgesetzt bleibt.641 Dies bedeutet nicht – wie vielfach angenommen – einen ständigen Widerstreit zwischen Geist und Fleisch, weil der Christ auch in seinen Anfechtungen schon ganz unter der Macht der Gnade Gottes steht. Deshalb erklärt Paulus in Röm 7–8 allen, die die Versuchung erleben, dass es sich um die „unmögliche Möglichkeit“ eines Rückfalls in die Vergangenheit handelt, in einen Zustand, der „in Christus“ längst überwunden ist. Entscheidend ist die Einsicht, dass der Mensch seine ihm von Gott zugedachte Bestimmung erreicht, wenn er sich durch den Glauben „in Christus Jesus“ befindet (8,1 ff.). Daraus folgt für die paulinische Anthropologie: Das Schicksal des Menschen ist von Sünde und Tod gezeichnet, aber durch die göttliche Heilstat in Christus ist er aus diesem Verhängnis allein aus Gnade befreit worden. Nun kann er als Christ ein Leben führen, das von der Hoffnung auf die leibliche Auferstehung zum Leben in der Gemeinschaft mit Christus bestimmt ist (§ 5.12.5c) und sich im ethischen Verhalten an der Gerechtigkeit Gottes orientiert, der gerecht ist und gerecht macht. Die Unterscheidung von „einst“ und „jetzt“ in 6,21 f.; 7,5 f. bedeutet in 7,7–25a und 8,1–17 nicht einfach eine zeitliche Abfolge, sondern die eschatologische Wende vom alten zum neuen Äon, die durch den Aufruf zur Distanzierung von „diesem Äon“ und zur „Erneuerung des Denkens“ in 12,2 paränetisch fortgeführt wird. Sie impliziert die fundamentale Differenzierung zwischen der Existenz des Menschen extra Christum 637

Röm 7,5.7–25; 8,2 f.6.12–15; vgl. zur Vergänglichkeit 1Kor 15,39.50 (vgl. V.42–44.50– 56; § 5.12.5c). 638 1Kor 6,11; 12,13 (§ 5.6.2.2c–d); vgl. den Geist als Angeld in 2Kor 1,22; 5,5. 639 Röm 5,16–21; 6,4 f.12 ff.; 8,2.6.10 f. 640 Vgl. den analogen Gegensatz in Gal 5,16–25 zwischen dem Lasterkatalog mit den „Werken des Fleisches“ und Liebe, Freude, Friede usw. als „Frucht des Geistes“ (§ 5.11.1); vgl. J. Frey, Die paulinische Antithese von „Fleisch“ und „Geist“ und die palästinisch-jüdische Weisheitstradition, ZNW 90 (1999), 45–77. 641 So die Erwägungen zu Gal 5,17 von O. Hofius, Widerstreit zwischen Fleisch und Geist?, in: U. Mittmann-Richert u. a. (Hg.), Der Mensch vor Gott (FS H. Lichtenberger), Neukirchen-Vluyn 2003, 147–159.

5.16 Der Römerbrief

317

und in Christo. Aus der universalen Bedeutung der Adam-Christus-Typologie (5,12– 21) zieht Paulus in Kap. 7 und 8 existenzielle Konsequenzen, indem er dem Leben „nach dem Fleisch“ das Leben „nach dem Geist“ gegenüberstellt (8,4 ff.). Angesichts der Äonenwende bezeichnet dieser Gegensatz nicht einen innermenschlichen Dualismus zwischen dem höheren geistigen Vermögen und den niederen fleischlichen Trieben, sondern den Herrschaftswechsel von der Macht der Sünde zu einem Leben in der Kraft des Geistes Gottes.642 c) Rechtfertigung und Paränese: Der Sinn der Rechtfertigungslehre (§ 5.11.3–4) muss immer wieder neu erschlossen werden. Es reicht nicht aus, das menschliche Verhalten durch die Gebote des Gesetzes zu verbessern, auch wenn diese ein Bestandteil der göttlichen Menschenführung sind. Das Ziel ist ein Leben, das sich an der Gerechtigkeit Gottes orientiert. Ein solches Leben kann nur durch die Änderung des ganzen Menschen, einschließlich seiner Beziehung zu Gott und einschließlich seines Selbstverständnisses erlangt werden. Die Lehre von der Rechtfertigung geht davon aus, dass der Mensch im Unterschied zum Rest der Schöpfung ein verantwortliches Wesen ist, das vor dem göttlichen Richter für seine Taten Rechenschaft zu geben hat.643 Der Mensch bezieht sich immer auf einen Herrn, ein „Gesetz“, eine Tradition. Seine durch den Glauben erworbene Freiheit644 besteht darin, dass er auf den wahren Herrn vertrauen kann, der auf seiner Seite steht und ihn aus der Selbstdestruktion rettet. Von der Rechtfertigung aus Gnade ist auch die Paränese (§ 5.7b) bestimmt, denn ihr Appell baut auf der Grundlage dessen auf, was „durch die Barmherzigkeit Gottes“ geschehen ist (Röm 12,1). Die Gerechtigkeit, die von Gott im Blick auf das Jüngste Gericht aus Gnade gewährt wird, motiviert das verantwortliche Handeln schon im gegenwärtigen Leben.645 Da die Rechtfertigung aus der Gnade Gottes kommt, wünscht der Christ das, was er hat, auch anderen Menschen. Weil Gott in Christus seine Liebe zu den Menschen erwiesen hat, als diese noch Gottlose, Sünder und Feinde waren (5,6–10), gilt die Liebe (§ 6.2.9) nicht nur dem Nächsten innerhalb der Gemeinde (13,8–10; vgl. 12,3–13), sondern das Ziel ist der Friede mit allen Menschen, im Vergeltungsverbot selbst gegenüber den Verfolgern (12,14–21). 642 Der Gegensatz in Röm 7,25b zwischen dem „Verstand“ (noús), der dem Gesetz Gottes dient, und dem „Fleisch“ (sárx), das der Sünde dient, enthält eine andere Akzentuierung im Sinn eines innermenschlichen Widerstreits und wird deshalb meist für eine spätere Glosse eines Abschreibers gehalten. 643 Zum Gericht nach Werken vgl. Röm 14,10; 2Kor 5,10 (§ 5.11.3; 5.13.3.1b). 644 Zur Freiheit von Tod (Röm 5), Sünde (Röm 6) und Gesetz (Röm 7) durch den Geist (Röm 8) vgl. S. Vollenweider, Freiheit (Lit. § 5), 323–396; ders., Art. Freiheit, ThBLNT2 1, 504 f. 645 In der „modernen“ Neuzeit setzte man dagegen voraus, dass die menschliche Aktivität nur durch frei gesetzte Ziele effektiv motiviert werden kann.

318

5 Die paulinischen Briefe

So erklärt sich aus der Rechtfertigungslehre als Hauptthema des Römerbriefs auch die Behandlung des ethischen Problems der Starken und Schwachen (14,1–15,13).646 Wenn das Verhalten der Starken, die in ihrer Glaubenserkenntnis schon weiter fortgeschritten sind, das Gewissen der Schwächeren in Bedrängnis bringt, muss die Rücksicht auf deren Rettung vor dem religiösen Erlebnis bzw. vor der Erkenntnis der Starken stehen, da Christus auch für den schwachen Bruder gestorben ist (14,15; vgl. 1Kor 8,11). Die christliche Freiheit kann sich auch in der freiwilligen Selbstbegrenzung auswirken (vgl. 1Kor 9; § 5.12.1). d) Israel: Auch der Abschnitt, in dem Paulus das Problem der Juden und ihrer endzeitlichen Hoffnung behandelt (Röm 9–11),647 steht mit dem Briefkorpus in einem logischen Zusammenhang (1,16; 2,9 f.; 3,1–8). Der Begriff der Rechtfertigung, der angesichts des Jüngsten Gerichts zum Sprachfeld der Apokalyptik gehört, hat eine soziale Dimension. So erklärt Paulus nach dem Siegeslied von der in Christus geoffenbarten Liebe Gottes (8,37–39), dass er um der Rettung Israels willen sein individuelles Heil aufgeben möchte (9,3). Dieser Wunsch ist vielleicht nicht wörtlich zu verstehen, aber der Apostel bezeugt damit, dass er das Heil wirklich auch als soziales und in die Gegenwart reichendes Geschehen versteht. Das Heil kann er sich nicht ohne die Gemeinschaft vorstellen und die Gemeinschaft nicht ohne sein Volk – ohne die Juden, deren Vorzüge er preist in den Bundessetzungen, der Tora und den Verheißungen (9,4 f.). Daher ist jede Frömmigkeit, die nur an individuelles Heil denkt, defizitär. Auf den Einwand, die Verheißungen Gottes seien hinfällig geworden, antwortet Paulus, indem er im Blick auf Israel eine Unterscheidung zwischen der leiblichen Nachkommenschaft und den Kindern der Verheißung einführt (9,6–13: Isaak, nicht Ismael, Jakob, nicht Esau).648 Damit stellt sich das Problem der (doppelten) Prädestination (9,14–29), ob es neben der Erwählung und Berufung zum Heil649 durch Gottes gnädiges Erbarmen („Gefäße der Barmherzigkeit“) auch eine Verstockung zum Verderben („Gefäße des Zorns“) gibt (9,22 f.). Zuletzt löst Paulus das Problem durch eine intertextuell mit der jüdischen Schrift verflochtene apokalyptische Spekulation über die Rettung Israels, die durch zeitgenössische Vorstellungen beeinflusst ist. Theologisch bezieht er das Evangelium konsequent auch auf die eschatologische Zukunft Israels, die grundsätzlich von derselben 646

Vgl. V. Gäckle, Die Starken und die Schwachen (s. Anm. 605), 292–449. Zu Israel vgl. Gal 3,6 f f. (§ 5.11.4a.b), aber auch Mt (§ 6.3.4.1a); Lk (§ 6.4.5.2a); Apk (§ 7.2.6). 648 Vgl. analog schon § 5.11.4 zu Gal 3. 649 Vgl. den Kettenschluss in Röm 8,28–30 vom vorzeitigen Ratschluss Gottes zur Vorherbestimmung, Berufung, Gerechtmachung und endzeitlichen Verherrlichung (§ 5.12.5c) mit Christus. In Eph 1,3–14 wird die Erwählung „in Christus“ bereits „vor Grundlegung der Welt“ zum Ausgangspunkt für die Ekklesiologie (§ 8.2.7). 647

5.16 Der Römerbrief

319

Gnade Gottes abhängt (11,26–29), die den Christen jetzt durch Glauben zuteil wird (11,31 f.). Das eschatologische „Geheimnis“ (11,25: mystḗrion) besteht darin, dass die Mehrheit Israels zwar von Gott (Passivum divinum!) verstockt wurde (11,7 f.; vgl. Jes 6,9 f.).650 Diese Verstockung ist jedoch zeitlich limitiert, bis die Fülle der Heiden im endzeitlichen Israel das Heil erlangt hat (11,25), wie es durch die jüdische Erwartung der Völkerwallfahrt zum Zion vorgezeichnet ist.651 Daher besagen nach Otfried Hofius die Worte „pās Israḗl sōthḗsetai“ („ganz Israel wird gerettet werden“; 11,26), „daß die Rettung ‚ganz Israels‘ erst dann erfolgen kann, wenn das ‚Eingehen‘ der von Gott erwählten Heiden in die Heilsgemeinde Israel zum Abschluß gekommen sein wird. ... ‚Ganz Israel‘ kommt nicht durch die Predigt des Evangeliums zum Heil“, sondern „wird vielmehr aus dem Munde des wiederkommenden Christus selbst das Evangelium vernehmen, – das rettende Wort seiner Selbsterschließung, das den Glauben wirkt, der Gottes Heil ergreift. ... ‚Ganz Israel‘ kommt so zwar anders zum Heil als die Heidenchristen und der schon jetzt an Christus glaubende ‚Rest‘, – nämlich nicht aufgrund der Missionspredigt der Kirche, sondern ganz unmittelbar durch den Kyrios selbst. Aber es kommt eben damit gerade nicht ohne Christus, nicht ohne das Evangelium und nicht ohne den Glauben an Christus zum Heil.“652 e) Das Verhältnis zur staatlichen Ordnung: Auch der andere scheinbare Fremdkörper im Römerbrief, das 13. Kapitel, gewinnt im Licht der rechtfertigungstheologisch begründeten Ethik seinen guten Sinn. Gerade angesichts der Verwendungsgeschichte, die durch einen totalitären Missbrauch belastet ist, gilt es zu beachten, dass Röm 13 eine paränetische, nicht eine dogmatische Rede darstellt, keine allgemeine Staatslehre entwickeln, sondern nach den Erfahrungen mit dem Claudiusedikt (s. Anm. 587 ff.) zu einem konkreten Umgang mit römischen Behörden anleiten will. Paulus ruft nicht zum Kampf gegen die heidnische Obrigkeit auf, er hält sie jedoch auch nicht für ein Instrument der Strafe Gottes über sein erwähltes Volk, wie dies in der Bibel bei der Heimsuchung durch andere Machthaber auch zu finden ist (z. B. Am 3). Die Ermahnung in Röm 13,1–7 wird eingerahmt von einem Appell an die Gläubigen zur Überwindung des Bösen durch das Gute, von der paulinischen Neuinterpretation der Aufforderung zur Feindesliebe (12,9–21) und dem Gebot der Nächsten-

650 Vgl. zur Verstockung (Zitat Jes 6,9 f.) in Mk 4,10–12 (sog. Parabeltheorie beim Messiasgeheimnis; § 6.2.7.4) und Röm 11, aber auch Apg 28,16–31 (§ 6.4.5.2a) und Joh 12,37–43 (§ 7.1.5.3c) M. Theobald, Mit verbundenen Augen. Kirche und Synagoge nach dem Neuen Testament, in: Studien (Lit. § 5.16), 367–395, hier 375–378. 651 Jes 2,2–4; 11,10; 60,11–14; Sach 8,20–22; 14,16 f. u. ö. 652 So O. Hofius, Das Evangelium und Israel, in: Paulusstudien (Lit. § 5), 175–202 (193.197 f.), dessen „Sonderweg“-Hypothese zu Röm 9–11 nach M. Theobald, Römerbrief, 278 „dem Text am ehesten zu entsprechen (scheint)“. Vgl. J. Roloff, Kirche (Lit. § 6.2.8), 117–131; W. Kraus, Volk Gottes (Lit. § 5.11), 269–333.

320

5 Die paulinischen Briefe

liebe (13,8–10).653 Aufgabe staatlicher Gewalt ist es, Böses zu verhindern (13,4). Abgeschlossen wird Röm 13 durch die eschatologische Aussicht, in der der neue Äon wie ein Tag nach der Nacht kommt. Deswegen lehnt der Christ die irdische Obrigkeit nicht ab, aber er überhöht sie auch nicht, sondern erkennt sie als ordnende Macht an, die das Böse bestrafen soll.654 Den damaligen Menschen musste diese theologische Interpretation der römischen Staatsmacht auffallen. Heute scheint die Ableitung der staatlichen Gewalt bzw. Obrigkeit (exousía) von dem einzig wahren Gott nach den negativen Erfahrungen der Wirkungsgeschichte ein Ausdruck von Untertanen-Mentalität zu sein. In neutestamentlicher Zeit war es ein revolutionäres Argument, denn mit dem Kaiserkult wurde ein göttlicher Anspruch verbunden (Exkurs 8). Die Christen vermieden den Weg der Konfrontation, gerade um innerhalb der Gesellschaft eine Gemeinde bauen zu können, in der die Menschen nach anderen Regeln beurteilt werden als in der Welt (Röm 15). Die Ablehnung der von außen erzwungenen Alternativen kann ein schöpferischer Eingriff in die soziale und politische Welt sein. Es ist kein konfliktloser Weg, es ist allerdings ein Weg, der versucht, falsche Konflikte zu vermeiden. Röm 13 ist im wörtlichen Sinn keine allgemeine Regel, sondern muss ganz aus der damaligen Lage heraus verstanden werden. Diesen konkreten Situationsbezug gilt es auch in der heutigen kirchlichen Bibelauslegung als hermeneutisches Grundproblem zu bedenken. Das Kapitel war ohne Zweifel als konkrete Paränese gedacht, deren spätere Deutung im Sinn einer Ablehnung jeder christlichen Kritik an der Staatsmacht eine Fehldeutung ist.655 Und doch war schon die Möglichkeit, aus dem Glauben solche Konsequenzen zu ziehen, in den damaligen Religionen etwas spezifisch Christliches, das nur im Judentum eine gewisse Analogie hatte. Die Frömmigkeit der meisten religiösen Vereine, in die man durch persönliche Wahl wie in die Kirche eintreten konnte (§ 5.4), war nicht mit sozialer Verantwortung verbunden. Deswegen sah Ernst Käsemann im „vernünftigen Gottesdienst“ (Röm 12,1) den besonderen politischen Beitrag des Christentums im Vergleich mit anderen Religionen. Diese Konzeption des vernünftigen Gottesdiensts entspricht der Demut des Glaubens, prägte später die Weltgeschichte und inspirierte die weltliche Verantwortung der Christen.656

653 Vgl. P. Pokorný, Römer 12,14–21 und die Aufforderung zur Feindesliebe, in: Dummodo Christus annuntietur (FS J. Heriban) (BSRel 146), Roma 1999, 105–112; zur Nächstenliebe in Röm 13,8–10 vgl. Gal 5,14 (§ 5.11.4c). 654 Zur Auslegungsgeschichte vgl. den Exkurs bei U. Wilckens, EKK VI/3, 43–66. 655 Zu den Korrekturen in 1Petr 2,13 siehe § 8.6.3d, zur gegenteiligen Bewertung in Apk 13 § 7.2.7b. 656 Vgl. E. Käsemann, Römer 13,1–7, zuletzt in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Tübingen 21964, 204–222.

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

6.1

Die synoptische Frage

 Vgl. außer den Lit. § 12a genannten Synopsen: Albert Huck / Hans Lietzmann, Synopse der drei ersten Evangelien, Tübingen 131981 (11892); Robert Morgenthaler, Statistische Synopse, Zürich / Stuttgart 1971.  Monographien und Aufsätze: Heinrich J. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien, Leipzig 1863; Burnett H. Streeter, The Four Gospels, London 1924; Léon Vaganay, La problème synoptique, Paris 1954 (vgl. die Rez. von Philipp Vielhauer in ThLZ 80 [1955], 647 ff.); William R. Farmer, The Synoptic Problem, London 1964; Antonio Gaboury, La structure des Évangiles synoptiques, Leiden 1970; Frans Neirynck, The Minor Agreements of Matthew and Luke against Mark (BEThL 37), Leuven 1974; Walter Schmithals, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 1985; David L. Dungan (Hg.), The Interrelations of the Gospels (BEThL 95), Leuven 1991 (Sammelband); ders., A History of the Synoptic Problem (ABRL), Doubleday 1999; Camille Focant (Hg.), The Synoptic Gospels (BEThL 110), Leuven 1993; Georg Strecker (Hg.), Minor Agreements (GTA 50), Göttingen 1993 (Sammelband); Gerd Theißen / Annette Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996; Peter M. Head, Christology and the Synoptic Problem (SNTSMS 94), Cambridge 1997; John K. Riches / William R. Telford / Christopher M. Tuckett, The Synoptic Gospels, Sheffield 2001.

6.1.1

Das Problem

Eine aufmerksame Lektüre der kanonischen Evangelien zeigt, dass die drei ersten eine Gruppe von Schriften mit auffälligen Gemeinsamkeiten bilden, während sich das Johannesevangelium dem Stil nach und z. T. auch dem Inhalt nach von den anderen Evangelien unterscheidet. Schreibt man die Texte des Matthäus-, Markus- und Lukasevangeliums in drei Spalten nebeneinander, sind zahlreiche inhaltliche und manchmal sogar wortwörtliche Übereinstimmungen zu erkennen. Nach dem griechischen Wort für „Zusammenschau“ (sýnopsis) werden die ersten drei als synoptische Evangelien bezeichnet (s. Abb.15). Die Erklärung dieser Ähnlichkeiten ist eine Aufgabe, mit welcher sich die neutestamentliche Forschung schon seit Jahrhunderten befasst. Den synoptischen Evangelien liegt der gleiche Aufriss zugrunde: Nach dem Auftreten Johannes des Täufers erscheint Jesus und wird von Johannes getauft. Er predigt und heilt die Kranken in Galiläa, dann geht er nach Jerusalem, wo er verhaftet, verurteilt und schließlich am Kreuz hingerichtet wird. Das Johannesevangelium ist den anderen kanonischen Evangelien zwar in seinem Gesamtentwurf ähnlich. Es beginnt z. B. ebenfalls mit Johannes dem Täufer. Aber

322

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Abb. 15: Synopse der ersten drei Evangelien Synopsis Quattuor Evangeliorum, hg. v. Kurt Aland, 15., revidierte Auflage © 1996 Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart.

die Unterschiede sind umso auffälliger: Die Begegnung mit Johannes verläuft anders als bei den Synoptikern, es wird von mehreren Reisen Jesu nach Jerusalem erzählt, und die wörtlichen Übereinstimmungen fehlen bis auf ganz wenige Ausnahmen völlig. Über die Beziehung des Johannesevangeliums zu den Synoptikern werden wir im Zusammenhang mit den johanneischen Schriften (§ 7.1.3) sprechen. 6.1.2

Die Entdeckung der mündlichen Tradition

Schon Kirchenväter wie Augustin (s. Anm. 30) machten sich Gedanken über die synoptischen Evangelien. Sie nahmen in einzelnen Beobachtungen die Ergebnisse neuzeitlicher Forschung vorweg. Die direkten Vorgänger der gegenwärtigen Forschung begegnen uns allerdings erst im 18. und 19. Jh. Gotthold Ephraim Lessing formulierte 1778 seine Hypothese von einer hebräischen Quelle, aus welcher alle vier Evangelisten geschöpft hätten. Die vermutete Quelle nannte er „Evangelium der Apostel“,

6.1 Die synoptische Frage

323

„Evangelium der Nazarener“ oder „Evangelium der Hebräer“.1 Diese sonst sehr vage Urevangeliumshypothese drückt eine irreversible Erkenntnis aus: Mindestens ein Teil der Evangelienüberlieferung muss zunächst im semitischen Sprachmilieu tradiert worden sein. Dies geschah wohl in aramäischer Sprache, da das Hebräische damals nur noch im Kult gebräuchlich war. Neuere Versuche, den überdauernden Einfluss hebräischer religiöser Unterweisung zu belegen,2 konnten nicht überzeugen. Diesen Sachverhalt müssen wir bei der Auslegung der synoptischen Texte mitbedenken. Die Evangelien sind als literarische Texte im griechischsprechenden Milieu entstanden.3 Sie können nicht als Übersetzungen aus dem Aramäischen betrachtet werden (§ 2.2.1a). Lessings Hypothese inspirierte einige Jahre später, 1796, den Theologen und Philosophen Johann Gottfried Herder, der eine aramäische Überlieferung, die er „mündliche Predigt“ nannte, als älteste christliche Traditionsform annahm (sog. Traditionshypothese). Sie sei in den Evangelien aufgenommen und schriftlich fixiert worden.4 Ihre Träger waren nach Herder die „Evangelischen Rhapsoden“. Trotz aller Kritik an seiner Hypothese sind sich seit Herder die biblischen Exegeten der Bedeutung der ethnologischen Forschung bewusst, die die Gesetzmäßigkeiten der mündlichen Überlieferung analysiert. Gerade jene volkskundlichen Untersuchungen entdeckten, dass die mündliche Tradition fähig ist, über einen relativ langen Zeitraum Einzelerzählungen und Sprüche zu bewahren. Sie ist allerdings nicht in der Lage, ein ganzes Werk zu konstruieren, das mehrere Traditionsstränge und literarische Formen miteinander verbindet. Die Evangelien sind jedoch Texte, die mit einer umfassenden literarischen Strategie und theologischen Absicht gestaltet wurden. Diese Textnatur der Evangelien erkannte auch Herder. Deshalb erweiterte er schon bald (1797) seine Hypothese durch die Annahme einer aramäischen Urfassung des Markusevangeliums, von dem die anderen Synoptiker abhängig seien.5 Er hat selbst 1 Vgl. G. E. Lessing, „Neue Hypothesen über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet“ (1778) und bes. „Theses aus der Kirchengeschichte“, § 5.24.40.43.45, zuletzt in W. Gericke (Hg.), Sechs theologische Schriften Gotthold Ephraim Lessings (Quellen NF 3), Berlin 1985, 83–88. Vgl. im Jahr 1794 J. G. Eichhorn (s. Anm. 26), zuletzt in: ders., Einleitung in das Neue Testament, Bd. I, Leipzig 1820, 180–184 (innerhalb des Kapitels „Von den drei ersten Evangelien“). 2 Vgl. J. A. Emerton, The Problem of Vernacular Hebrew in the First Century A. D. and the language of Jesus, JThS 24 (1973), 1–17. 3 Siehe § 6.2.3a.b; 6.3.5c; 6.4.2. 4 Vom Erlöser der Menschen. Nach unseren drei ersten Evangelien (1796), in: Johann Gottfried Herder (Hg. Th. Zippert), Bd. 9/1, Frankfurt a. M. 1994, 609–724 (über die Verschriftlichung des mündlichen Evangeliums, 679 f.; Reihenfolge: Mt – Mk – Lk, ebd.; als Gedichte geschrieben, nicht als „Tagebuch“, 616). 5 Von Gottes Sohn, der Welt Heiland. Nach Johannes Evangelium, ebd.

324

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

gespürt, dass die Traditionshypothese zur Lösung des synoptischen Problems nicht ausreicht, da sie die vielfältigen Gemeinsamkeiten zwischen den Evangelien nicht zu erklären vermag. Diese Traditionshypothese wird auch durch den Prolog des Lukasevangeliums (Lk 1,1–4) unterstützt, der nach den literarischen Gepflogenheiten griechischer Schriftsteller gestaltet ist, die einleitend ihre Quellen nennen:6 „Nachdem es viele unternommen haben, einen Bericht zusammenzustellen von den Ereignissen, die unter uns zur Vollendung gekommen sind, gleichwie sie uns überliefert haben die, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes geworden sind, erschien es auch mir (gut), nachdem ich von Anfang an allem genau nachgegangen bin, es dir der Reihe nach zu schreiben, hochgeehrter Theophilos, damit du erkennst die Zuverlässigkeit der Worte, über die du unterrichtet worden bist.“7 Lukas rechnet hier mit einer Etappe der mündlichen Tradition („überliefert haben“). Er spricht aber auch von schriftlichen Quellen, die er kannte: „Nachdem es viele unternommen haben, einen Bericht zusammenzustellen ...“ Seine Absicht war es, ihre Komposition zu verbessern: „der Reihe nach zu schreiben ... damit du erkennst die Zuverlässigkeit ...“ Diese Angaben sind für die Gattung der Geschichtsschreibung typisch, wie die Prologe vergleichbarer Schriften zeigen, z. B. von Arrian in der „Anabasis Alexanders“ (Anfang 2. Jh. n. Chr.) oder von Josephus in seiner Schrift „Gegen Apion“. Auch wenn die Traditionshypothese die Gemeinsamkeiten nicht hinreichend erklären kann, brachte sie doch wichtige Erkenntnisse über die Eigenart der mündlichen Überlieferung.

Exkurs 3: Die Traditionskritik der formgeschichtlichen Schule  Martin Dibelius, Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 1919, 61971; Rudolf Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 1921, 91979 (Ergänzungsheft bearb. v. Gerd Theißen / Philipp Vielhauer).

In den ältesten christlichen Gemeinden galt die mündliche Verkündigung (§ 5.6) als die autoritative Gestalt des Wortes Gottes, die in mündlicher Form weitergegeben wurde. Die Mündlichkeit der Verkündigung hinterließ Spuren in der literarischen Struktur der Evangelien. Gegen Ende des 1. Jh.s hatten sich die später kanonisierten 6

L. Alexander, The Preface to Luke’s Gospel. Literary convention and social context in Luke 1, 1–4 and Acts 1, 1 (MSSNTS 78), Cambridge 1993, verweist auf Ähnlichkeiten nicht so sehr in den Prologen der Historiographen, sondern eher in den Einleitungen zu den naturwissenschaftlichen Werken antiker Ärzte. Zum Charakter von Augenzeugenberichten in antiken Texten vgl. S. Byrskog, Story as History – History als Story. The Gospel Tradition in the Context of Ancient Oral History (WUNT 123), Tübingen 2000, zu Lk 1,1–4 bes. 228–232. 7 Übersetzung von W. Wiefel, ThHK 3 (Lit. § 6.4), 38.

6.1 Die synoptische Frage

325

vier Evangelien weit über die Gebiete hinaus ausgebreitet, in denen sie entstanden waren. Dennoch wurde die Jesustradition bis fast in die Mitte des 2. Jh.s (Justin † 165) von christlichen Schriftstellern ausschließlich und bis ans Ende des 2. Jh.s gelegentlich aus der mündlichen Überlieferung zitiert. Noch in den Apostolischen Vätern, den ältesten christlichen Texten außerhalb des Neuen Testaments, sind wörtliche Zitate der Evangelien selten.8 Diese Einsicht in den mündlichen Charakter besagt zwar nichts über die Entstehung der Evangelien, sie trägt aber zum Verständnis ihrer Vorgeschichte bei. Auch in einer weiteren Hinsicht ist die Mündlichkeit von bleibender Bedeutung: Noch nachdem sich die schriftlich fixierten Evangelien durchgesetzt hatten, lernten die Christen den Inhalt der Texte als Hörer in der gottesdienstlichen Lesung (§ 1.4.2; 6.2.3d) und nicht als individuelle Leser literarischer Werke kennen. Gegen Ende des 19. Jh.s gingen die Bibelwissenschaftler im Bereich des Alten Testaments der Frage nach, wie die Grundformen der Erzählung mit dem religiösen Leben der Gemeinde zusammenhängen, für das sie bestimmt waren (Hermann Gunkel; 1862–1932). Diese Fragestellungen übertrug die formgeschichtliche Schule auf die synoptischen Evangelien. 1919 veröffentlichte Martin Dibelius sein bahnbrechendes Buch „Formgeschichte des Evangeliums“. Dort beschrieb er einige Formen, in welchen die jesuanische Tradition überliefert wurde (Paradigma,9 Jesuswort, Legende, Paränese). In der literarischen Gestalt der synoptischen Evangelien sind noch Spuren der abgeschliffenen mündlichen Form erkennbar. Aus der stilistischen und rhetorischen Beschaffenheit einer Überlieferung lassen sich deren Sitz im Leben und einzelne Züge des gottesdienstlichen Lebens der ersten christlichen Generationen rekonstruieren (§ 5.6.2). Für die Interpretation der Evangelien hat diese formgeschichtliche Erkenntnis eine nicht unerhebliche Bedeutung. So kann beispielsweise von einem Text, der Gott in der 2. Person anredet und also ein Gebet ist, keine ethische Anleitung oder Beschreibung einer missionarischen Strategie erwartet werden. Auch die Worte Jesu, die sog. Logien, hatten unterschiedliche Funktionen: Prophetische Sprüche wurden auf konkrete Fragen des Gemeindelebens bezogen (z. B. Lk 14,15; 6,46 Q), apokalyptische Weissagungen vergegenwärtigten das Endgericht (z. B. Lk 17,23 Q). Sprichwörter, die in einem neuen Zusammenhang benutzt wurden wie z. B. von den Gesunden und dem Arzt (Mk 2,17), generalisierten die Tragweite des Auftretens Jesu. Gleichnisse (z. B. Mk 4,30–32), Parabeln (Mt 8 Vgl. z. T. aus mündlicher Tradition Did 8,2 (Vaterunser Mt 6,9–13); 1Klem 23,3 f. (Mt 24,32 f. Feigenbaumgleichnis); 24,5 (Sämanngleichnis Mk 4,3 ff.); Barn 4,14 (Mt 22,14: viele sind berufen …); 5,8–10 (Summarium); 2Klem 8,5 (Lk 16,11); vgl. weitere Belege bei K. Aland, Synopsis (Lit. § 12a), Index V. Patres, oder A. Lindemann / H. Paulsen, Die Apostolischen Väter (Lit. § 12c), 557 ff.; vgl. H. Köster, Synoptische Überlieferung bei den apostolischen Vätern (TU 65), Berlin 1957, 6 ff.; M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 61–65.128–135. 9 R. Bultmann spricht stattdessen von Apophthegma (Geschichte der synoptischen Tradition, 39 ff.).

326

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

20,1–16) und Allegorien (Mk 4,13–20) deuteten die verschiedenen Aspekte des Reiches Gottes als Grundmetapher der Verkündigung Jesu (§ 1.3.3; Exkurs 7). Apophthegmen, die einen prägnanten Ausspruch Jesu illustrieren bzw. applizieren wie z. B. zum Ährenraufen am Sabbat (Mk 2,23–28), können als kurze Predigten verstanden werden.10 Einige Apophthegmen ähneln einer Disputation wie den Jerusalemer Streitgesprächen zur Steuerfrage oder zur Auferstehung (Mk 12,13–17.18– 27). Sie bereiteten die Gemeinde auf Vorwürfe von Gegnern vor. Außer den Wortüberlieferungen enthalten die Evangelien auch Geschichtserzählungen wie die verschiedenen Texte zur Passionsgeschichte. Eine eigene Gruppe bilden die Legenden, die die Bedeutung einer Person durch erbauliche Züge erzählerisch so ausschmücken, dass die historische Information überlagert wird. Die Funktion einer Legende können wir z. B. bei der Geburt Jesu erkennen: So wird die knappe Notiz aus Joh 7,41 f., die vom Streit über die Herkunft des Messias berichtet, am Anfang des Lukas- und Matthäusevangeliums zu einer eigenen Erzählung ausgestaltet. Von der Legende ist es nur ein kleiner Schritt zur Novelle mit deutlich mirakulösen Zügen, die z. B. bei Besessenenheilungen zu beobachten sind und Analogien in der damaligen Literatur haben.11 Die Einstufung einer Geschichte als Novelle, wie Dibelius die Wundergeschichten klassifizierte, bedeutet nicht, dass Jesus keine außerordentlichen Taten vollbrachte. Diese Kategorisierung unterstreicht aber, dass die Geschichten sich den damals verbreiteten Erzählformen anpassten. Das typisch Christliche besteht bei solchen Texten nicht in der erzählten Geschichte, sondern in der tiefen Ehrfurcht gegenüber der Person Jesu, die durch einige Einzelzüge der überlieferten Wundergeschichten verstärkt wird (Exkurs 6).12 Die formgeschichtliche Erkenntnis ändert nichts an der Tatsache, dass mit der zunehmenden theologischen Reflexion das Misstrauen gegenüber den Novellen wuchs. Schon bei Paulus hatten wir eine starke Zurückhaltung festgestellt, sodass er wunderhafte Stoffe zu vermeiden bestrebt war (1Kor 1,22a; § 5.6.2.5c). Neben der paulinischen Lösung versuchte man später die Überwucherung der wunderhaften Elemente in den Erzählungen13 durch eine engere Einbindung in den Rahmen der Geschichte Jesu zu verhindern. Durch den literarischen Kontext wurden die Wundergeschichten so einerseits mit der Taufe Jesu durch Johannes, später mit seiner Geburt 10 Deswegen werden solche Texte in der sozio-rhetorischen Schule als „pronouncement stories“ (Verkündigungsgeschichten) bezeichnet: B. L. Mack / V. K. Robbins, Patterns of Persuasion, Kap. 1 und 8. 11 Vgl. Mk 5,1–20; 9,14–29 mit Luc. incred. 16. 12 Alttestamentliche Inspirationen boten vor allem die Elisa-Geschichten (vgl. Mt 17,24– 27 mit 2Kön 6,1–7). 13 In späterer Zeit ist diese Tendenz in apokryphen Texten, z. B. in der Kindheitserzählung des Thomas, deutlich (W. Schneemelcher, NTApo6 I, 349 ff.).

6.1 Die synoptische Frage

327

verbunden, andererseits aber erst recht mit der Passionsgeschichte und dem Osterumbruch verknüpft. Vor allem bei Markus werden wir sehen, wie er die Wunder Jesu literarisch in den Passionszyklus integrierte und als Vorabbildungen der Auferstehung darstellte, deren wahre Bedeutung erst von Ostern her verständlich wird (Exkurs 6c). Die Tendenz zur Ausgestaltung der Wundergeschichten war in der christlichen mündlichen Überlieferung – wie in jeder entstehenden religiösen Tradition – offensichtlich stärker, als es die erhaltenen Texte verraten. Zunächst wirkte die liturgische Institutionalisierung der Überlieferung selektiv: Die Evangelisten bearbeiteten später zwar einen breiteren Strom der Tradition, doch nahmen sie in ihre Evangelien nur das auf, was ihrer Meinung nach dem kerygmatischen und theologischen Grundanliegen der Jesusüberlieferung entsprach oder zumindest nicht widersprach. Deutlich ist diese Tendenz zur Auswahl in den lukanischen Schriften zu sehen, die aus dem Leben Jesu vor seinem öffentlichen Auftreten bloß die Geburtsgeschichten und die Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel wiedergaben und in der Apostelgeschichte nur ausgewählte Taten des Petrus und des Paulus berichteten. Wie die Vertreter jeder neuen wissenschaftlichen Methode tendierten auch die Vertreter der Formgeschichte zur Selbstüberschätzung. Martin Dibelius erweckt den Eindruck, dass der Prozess, in dem die Jesusüberlieferung ihre liturgische Gestalt gewann, die Zeit der Entstehung ihrer Inhalte sei. Unbewusst übernahm er wohl die Voraussetzung Herders und der gesamten Romantik, nach der es so etwas wie eine kollektive Schöpferkraft des Volks gibt.14 Dass die nachösterliche Verkündigung die Gestaltung der synoptischen Evangelien beeinflusste, war eine Neuentdeckung der formgeschichtlichen Schule. Bis dahin war im 19. Jh. das historische Interesse der Leben-Jesu-Forschung vorherrschend gewesen, die nach den Ursprüngen in der Geschichte Jesu fragte. Erst in den 60-er Jahren des 20. Jh.s beschrieben Forscher wie Ernst Käsemann, deren Werk zuweilen als die Neue Frage nach dem historischen Jesus bezeichnet wird (The New Quest), die österliche Motivierung der Jesusdarstellungen, die zeigen sollten, dass der Auferstandene kein anderer ist als der Gekreuzigte.15 Neu ist diese Fragestellung durch ihre andere Ausrichtung als in der Leben-Jesu-Forschung des 19.

14

Die skandinavische Forschung betont unter dem Einfluss einer Strömung der Volkskunde die Kontinuität der Überlieferung (Th. Boman, Die Jesusüberlieferung im Lichte der neueren Volkskunde, Göttingen 1967) und des rabbinischen Modells (B. Gerhardsson, Memory and Manuscript [ASNU 22], Lund 21964; S. Byrskog, Jesus the Only Teacher [CBNT 24], Stockholm 1994; vgl. R. Riesner, Jesus als Lehrer [WUNT II/7], Tübingen 31988). Die Einsicht in die Mündlichkeit der Überlieferung ist irreversibel. Mit einer rabbinischen konservierenden Tendenz der Überlieferung kann jedoch in der Zeit nach Ostern und vor 70 n. Chr. kaum gerechnet werden (W. H. Kelber, The Oral and the Written Gospel, Philadelphia 1983, 14 ff. u. a.; s. Lit. § 6.1.2 Traditionskritik). 15 Vgl. E. Käsemann, Sackgassen im Streit um den historischen Jesus, zuletzt in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Göttingen 21965, 67; G. Ebeling, Theologie und Ver-

328

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Jh.s, die an der Entwicklung der Persönlichkeit Jesu interessiert war, nach Albert Schweitzers Resümee (1906) aber allzu sehr in der Gefahr stand, die eigenen modernen Ideale in die Geschichte Jesu hinein einzutragen.16 Die Vertreter der neuen Rückfrage hingegen wissen, dass jede Jesusforschung einerseits mit den kerygmatischen Bedürfnissen der nachösterlichen Gemeinden rechnen, sich andererseits aber zugleich am irdischen Jesus orientieren muss.17 Der Erkenntnisgewinn besteht darin, dass auch der Osterglaube ein bleibendes Interesse an den Ursprüngen hat. Die nachösterliche Verkündigung konnte nicht nur die frohe Botschaft von der Auferstehung verbreiten, sie musste auch darlegen, wie es dazu kam, dass Jesus gekreuzigt wurde.

Auch die letzte Etappe, in der die Jesusüberlieferung in den Evangelien schriftlich bearbeitet wurde, blieb außerhalb der Sichtweite der formgeschichtlichen Forschung. Die Evangelisten betrachtete man als Sammler und Herausgeber von Traditionen. Rudolf Bultmann erkannte in seiner „Geschichte der synoptischen Tradition“ (1921) zwar schon hellsichtig die theologische Absicht, die hinter den vier Evangelien stand, doch waren seine Schlussfolgerungen mit einer Überschätzung der schöpferischen Potenz solcher Sammler verbunden.18 Erst der Einfluss der Literaturtheorie in der Exegese führte seit den 70-er Jahren des 20. Jh.s zur Neuentdeckung der Evangelien als literarisch eigenständige Zeugnisse.19 Schon im urchristlichen Gottesdienst konnten einige Stoffe, besonders die Apophthegmen, als verkündigende Erzählungen mit Hilfe von rhetorischen Mitteln umgestaltet werden. Ähnlich innovierte Nacherzählungen waren auch auf der redaktionellen Ebene üblich.20 Fazit: Die Traditionskritik kann zwar die literarischen Beziehungen der synoptischen Evangelien zueinander nicht erklären. Sie macht aber auf die liturgische Überlieferungsetappe aufmerksam, in der durch eine theologisch motivierte Selektion und Integration des Stoffs die Voraussetzungen geschaffen wurden, die die Entstehung der Evangelien als Schriften ermöglichten. Die Evangelisten benutzten die Zeugnisse, Themen und theologischen Anliegen als Rohstoff, die in der nachösterlichen

kündigung, Tübingen 1962, 52: „In der Frage nach dem historischen Jesus geht es um den hermeneutischen Schlüssel zur Christologie.“ 16 Vgl. die Schlussbetrachtung von A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 11906, 21913 (stark erweitert), 51951 (mit neuer Vorrede). 17 Vgl. zur Forschungsgeschichte den Überblick bei G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 21–33. 18 Vgl. R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 400. 19 Vgl. B. L. Mack / V. K. Robbins, Patterns of Persuasion, Sonoma, CA 1989, Kap. 1 und 2. 20 Vgl. V. K. Robbins, Exploring the Texture of Texts, Valley Forge, PA 1996, Kap. 2.

6.1 Die synoptische Frage

329

mündlichen Überlieferung enthalten waren und in den gottesdienstlichen Versammlungen der frühen Christen ihren Sitz im Leben hatten.21 6.1.3

Die Fragmenten- und Urevangeliumshypothese

Die Fragmenten- oder Diegesenhypothese (griech. diḗgēsis = Erzählung; Lk 1,1) stammt hauptsächlich von Friedrich Schleiermacher.22 1817 äußerte dieser die Vermutung, dass in den Evangelien die verschiedenartigen, sorgfältig ausgewählten, aber „mit dem übrigen in keiner Beziehung stehenden Stücke“ schriftlich fixierter Erzählungen der Apostel zusammengestellt wurden.23 Später urteilte er im Anschluss an eine um das Jahr 140 geschriebene Äußerung des Papias von Hierapolis über die Entstehung des Markus- und Matthäusevangeliums (Euseb h.e. 3,39,15– 16),24 dass das Matthäusevangelium schon eine alte Sammlung von Sprüchen und Erzählungen aufnahm.25 Die Fragmentenhypothese erkannte richtig, dass in vielen Fällen die Evangelisten Aufzeichnungen der mündlichen Tradition benutzten und dass solche kurzen Texte bereits im aramäischsprechenden Milieu entstanden sein konnten. Sie spiegelt auch die Probleme wider, die mit den Sammlungen der Sprüche Jesu und anderer Traditionsstücke verbunden waren, die heute als Apokryphen erhalten sind (Papyrus Egerton u. a.; § 6.1.7.4). Eine Lösung der synoptischen Frage konnte die Fragmentenhypothese aber nicht bieten, da die Evangelien in griechischer Sprache verfasst wurden. Außerdem waren die Gemeinsamkeiten in der Komposition der synoptischen Evangelien durch die Fragmentenhypothese kaum begreiflich zu machen. Mehrere Forscher bevorzugten deshalb die Hypothese eines schriftlichen Urevangeliums, die schon Herder aufstellte (§ 6.1.2) und die Johann Gottfried Eichhorn 1794 ausformulierte (s. Anm. 1). Er erkannte zutreffend, dass die Beziehungen zwischen den synoptischen Evangelien vor allem ein literarisches Problem sind.26 Die 21 Ein Standardwerk ist: G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten (StNT 8), Gütersloh 1974. K. Berger, Formen und Gattungen (UTB), Tübingen u. a. 2005, stellt ein Verzeichnis der stilistischen und rhetorischen Elemente der Sprache des Neuen Testaments dar, das in unserem Zusammenhang aber weniger ergiebig ist. 22 F. Schleiermacher selbst spricht nicht von Diegesen, sondern von Erinnerungen. 23 F. Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe Bd. I,8 (Hg. H. Patsch / D. Schmid) Berlin u. a. 2001, 180. 24 A. Lindemann / H. Paulsen, Die Apostolischen Väter (Lit. § 12c), 294 f. 25 Ebd. 163, vgl. 56.101 f.; vgl. U. H. J. Körtner, Papias von Hierapolis (FRLANT 133), Göttingen 1983, 156 ff. 26 Einige Züge dieser Hypothese wurden auch in neueren Arbeiten vertreten: L. Vaganay (aram. Urevangelium), A. Gaboury (das Urevangelium etwa mit Mk 1,1–13 u. 6,14–16,8 identisch), J. M. Rist, On the Independence of Matthew and Mark (SNTSMS 32), Cambridge 1978 (aramäischer Matthäus) und verschiedene Kombinationen mit der Traditionshypothese (W.

330

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Hypothese eines schriftlichen Urevangeliums hilft allerdings nur ein kleines Stück weiter. Denn für die Existenz eines solchen Urevangeliums besitzen wir keine Belege (§ 6.1.7). Die Annahme einer Abhängigkeit von einem einzigen Urevangelium erklärt auch nicht die Unterschiede, die zwischen den Synoptikern bestehen, vor allem nicht die zwischen Matthäus und Lukas, die insbesondere in der Reihenfolge der Perikopen hervortreten. Hinzu kommen weitere Beobachtungen: So steht z. B. die Predigt Jesu in Nazareth bei Lukas ganz am Anfang seines Auftretens (Lk 4,16–30), während sie bei Markus (6,1–6) und Matthäus (13,53–58) erst sehr viel später folgt. Die Bergpredigt (Mt 5–7) und andere matthäische Reden Jesu besitzen als umfassende Einheiten keine synoptische Analogie. Markus berichtet nicht von der Auffindung des leeren Grabes. Lukas und Markus haben keine Nachgeschichte mit Taufbefehl usw. 6.1.4

Benutzungshypothesen

Da die Urevangeliumshypothese (§ 6.1.3) sich nicht durchsetzen konnte, wurden für die Annahme einer literarischen Abhängigkeit zwischen den synoptischen Evangelien unterschiedliche Modelle entwickelt. 6.1.4.1

Literarische Abhängigkeit I: Die Griesbach-Hypothese

Die wörtlichen Übereinstimmungen27 und die Tatsache, dass das kürzere Markusevangelium ganz in den beiden längeren synoptischen Evangelien enthalten ist,28 führten zu dem Schluss, dass die synoptischen Evangelien irgendwie voneinander abhängig sein müssen. Damit war die Benutzungshypothese aufgestellt, aber die Frage noch offen, in welcher Reihenfolge die Evangelien entstanden waren und welcher Evangelist welche Vorlage gekannt hatte. Schon gegen Ende des 18. Jh.s veröffentlichte Johann Jakob Griesbach seine Hypothese, nach der das Markusevangelium ein Auszug aus den beiden anderen Synop-

Schmithals). A. Ennulat, Die „Minor Agreements“ (WUNT II/62), Tübingen 1994, formulierte eine Hypothese, nach der das Urevangelium, von dem Matthäus und Lukas abhängig waren, eine bearbeitete Fassung des Markusevangeliums sei; vgl. ähnlich U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 194 f. 27 Vgl. z. B. Mk 8,35 parr. (Leben retten und verlieren); Mk 15,43 parr. (Joseph von Arimathäa) oder aus den größeren Einheiten Mk 2,1–3,6 (Streitgespräche; in Mk 2,10 sogar einschließlich des Anakoluths). 28 Vgl. als Ausnahmen Mk 4,26–29 (Gleichnis vom Wachsen der Saat); 7,31–37 (Heilung des Taubstummen); 8,22–26 (Heilung des Blinden bei Betsaida) und die sog. große Lücke (Mk 6,45–8,26) bei Lukas nach 9,17.

6.1 Die synoptische Frage

331

tikern ist (Reihenfolge: Mt – Lk – Mk). Dabei setzte er voraus, dass auch Lukas Matthäus benutzt hat:29 Mt Lk

Mk Abb. 16: Die Griesbach-Hypothese

Mit dieser Annahme konnte Griesbach begründen, warum Markus beinahe vollständig in den beiden anderen Synoptikern enthalten ist. Derselbe Sachverhalt kann ebenso gut aber auch mit der heute verbreiteten Zweiquellentheorie erklärt werden (s.u. § 6.1.4.2). Die Vertreter der Griesbachschen Hypothese argumentieren jedoch mit den Abweichungen von der markinischen Reihenfolge, die bei Matthäus und Lukas zu finden sind. Zudem verweisen sie auf einige Sätze, die als markinische Kombination des lukanischen und matthäischen Texts gedeutet werden können. In Mk 1,32 lesen wir z. B. den Satz: „Am Abend aber, als die Sonne untergegangen war ...“. Dagegen heißt es in Lk 4,40 „... als die Sonne untergegangen war“ und stattdessen in Mt 8,16 „Am Abend aber ...“ Außerdem gibt es eine Reihe von Stellen, an denen sich im Wortlaut Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas gegen Markus feststellen lassen (sog. minor agreements). So finden sich z. B. bei der Heilung eines Gelähmten in Mt 9,7 und Lk 5,25 die Worte „er ging heim“, die bei Markus (2,12) nicht erwähnt sind. Oder bei der Heilung eines Aussätzigen lesen wir in den Parallelen zu Mk 1,40 bei Lukas und Matthäus die Anrede „Herr“, die bei Markus fehlt. Nicht zuletzt hat allein Markus das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29), das weder Matthäus noch Lukas überliefern. Solche Unterschiede und Parallelen kann die Griesbachsche Hypothese besser als die Zweiquellentheorie erklären. Und doch setzte sich Griesbachs Vermutung nicht durch, obwohl sie in verschiedenen Modifikationen seit dem Altertum bekannt war30 und bis heute die Funktion eines (meist nur theoretischen) Opponenten der Zweiquellentheorie ausübt. Denn 29 Commentatio qua Marci Evangelium totum e Matthei et Lucae commentariis decerptum esse monstratur, Jena 1789/90; vgl. den Bericht bei W. Schmithals, Einleitung (Lit. § 6.1), 142–150; ders., Art. Evangelien, TRE 10, 586; die Griesbachsche Hypothese vertrat im 20. Jh. vor allem W. R. Farmer in modifizierter Gestalt (Lit. § 6.1). 30 Schon Augustin, De consensu euangelistarum I,2 (um das Jahr 400), vermutete, Markus und Lukas seien in der Reihenfolge nach Matthäus geschrieben worden und damit von ihm abhängig (ed. J. Weihrich, CSEL 43, 1904, S.3 Z.10 f.: „primus Mattheus, deinde Marcus, tertio Lucas, ultimo Iohannes“; vgl. IV,11 [S.406 f.]).

332

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

aufs Ganze gesehen sind es nur relativ wenige und auch nicht sonderlich gewichtige Stellen, an denen Matthäus und Lukas gegen Markus übereinstimmen. Sehr viel größer ist dafür die Schwierigkeit, begreiflich zu machen, aus welchen Motiven Markus so stark gekürzt, Kompositionen wie die Machttaten Jesu in Mt 8 f. zerschlagen und die Bergpredigt (Mt 5–7) bzw. Feldrede (Lk 6,17–49), die matthäischen und lukanischen Sondergutsgleichnisse (§ 6.3.4; 6.4.1c) oder die Vorgeschichten (Mt 1 f.; Lk 1 f.) ausgelassen haben sollte. Für die Phänomene, die die Griesbachhypothese löst, die Zweiquellentheorie aber nicht deuten kann, gibt es andere Motive, die sich relativ einfach nachvollziehen lassen. Die wenigen scheinbar aus Matthäus und Lukas kombinierten Sätze des Markusevangeliums sind eine Verbesserung des markinischen Stils. Lukas verband die sprachlichen Veränderungen mit einer erheblichen Kürzung der markinischen Paralleltexte. Bei der Häufigkeit solcher Eingriffe haben die aus der Sicht der Zweiquellentheorie späteren Evangelisten Matthäus und Lukas an einigen Stellen wahrscheinlich unterschiedliche Teile des markinischen Texts beibehalten. Auch die Übereinstimmungen von Lukas und Matthäus gegen Markus sind erklärbar:31 „... er ging heim“ in Lk 5,25 und Mt 9,7 ist eine logische Ergänzung der vorhergehenden Aufforderung „geh heim!“ (Mk 2,11). Matthäus und Lukas könnten sie unabhängig voneinander aus der mündlichen Überlieferung übernommen32 oder aus eigener Initiative ergänzt haben. Die in Mk 1,40 noch fehlende Anrede Jesu als „Herr“ war die in der Urkirche übliche Akklamation des Auferstandenen (§ 5.6.1.3). Sie kommt bei den „längeren“ Synoptikern öfter vor als bei Markus und wurde von Matthäus und Lukas an unterschiedlichen Stellen eingefügt.33 Relativ spät, zusammen mit der Entstehung der Redaktionsgeschichte (§ 6.1.5.1), wurden auch überzeugende Vorschläge zum Problem der gegenüber Markus veränderten Perikopenreihenfolge bei Lukas und Matthäus vorgelegt. Diese Umstellungen ergeben sich meist aus der literarischen Komposition und der theologischen Absicht der Evangelisten. Lukas zog z. B. die kurze Erzählung von der Predigt Jesu in Nazareth (Mk 6,1–6) an den Anfang seines öffentlichen Auftretens vor, weil er sie als programmatische Antrittsrede Jesu konzipierte (Lk 4,16–30). Durch redaktionelle Absicht sind auch andere Umgestaltungen erklärbar: Von den Scharen, die sich um Jesus sammelten, erzählt Lukas im Unterschied zu Markus (Mk 2,13) erst nach der Einsetzung der Zwölf, damit er sie mit den Hörern der nachfolgenden Feldrede Jesu identifizieren kann (Lk 6,17; vgl. 5,1.3). Matthäus stellt die Wundertaten Jesu aus Mk 31

S. F. Neirynck, The Minor Agreements, 198–201; vgl. schon B. H. Streeter, Gospels (s. Anm. 38), 293 ff. 32 Solche Wiederholungen sind für den mündlichen Erzählstil typisch. 33 Vgl. U. Luz im Korreferat zu W. R. Farmer, The Minor Agreements of Matthew and Luke against Mark and the Two-Gospel Hypothesis (mit der Antwort von Farmer), in: G. Strecker (Hg.), Minor Agreements, 209–220.

6.1 Die synoptische Frage

333

1 f.; 4 f. in seinem Evangelium in Kap. 8–9 zusammen, wo sie nun das Schlusswort der Bergpredigt anschaulich kommentieren: „... denn er lehrte sie in Vollmacht ...“ (Mt 7,29). Ein bedeutendes Argument gegen die Griesbachsche Hypothese ist die Analyse des markinischen Stils und der theologischen Absicht. Das Markusevangelium enthält zahlreiche Elemente der mündlichen Überlieferung, z. B. das relativ einfache Griechisch, das Praesens historicum, die Parataxe, die Verbindung der einzelnen Traditionsstücke mit einer kurzen Zeit- oder Ortsangabe usw. Je mehr die literarische Leistung des Markus erkannt wird, desto deutlicher wird seine Nähe zur Kultur der mündlichen Überlieferung (Oralität). Im Unterschied zu ihm spiegeln die anderen Synoptiker in ihrer Theologie deutlicher die Probleme der zweiten christlichen Generation wider. Lukas entwirft eine neue Auffassung der Zeit (§ 6.4), die sich nicht nur von der jüdischen, sondern auch von der urchristlichen Apokalyptik unterscheidet. Matthäus befasst sich mit den neuen Problemen des Zusammenlebens in den christlichen Gemeinden (Mt 18), besonders mit der Frage nach den Menschen, die an ihrem Leben teilnahmen, ohne wirklich Christen zu sein.34 Dieser Vergleich der theologischen Akzente ist ein noch stärkeres Argument für die Zweiquellentheorie als die stilistischen Eigenheiten.35 Gegen die Griesbachsche Hypothese spricht auch die Annahme, dass Lukas das Matthäusevangelium gekannt haben soll. Denn dann bleiben erst recht schwierige Fragen: Warum ließ Lukas die Geburtsgeschichte aus und ersetzte sie durch eine andere? Warum zerstückelte er die Bergpredigt? Warum kürzte er das feierliche Petrusbekenntnis aus Mt 16,16? Aus der Griesbach-Hypothese versucht man gelegentlich einige Elemente zu retten, z. B. die Annahme, dass Lukas neben Markus „matthäische Tradition“ benutzt habe.36 Aber in der synoptischen Frage gilt die Zweiquellentheorie heute mehrheitlich als der geeignetste Ausgangspunkt für die weitere Forschung. 6.1.4.2

Literarische Abhängigkeit II: Die Zweiquellentheorie

Auch die Zweiquellentheorie geht von einem direkten literarischen Abhängigkeitsverhältnis zwischen den synoptischen Evangelien aus. Anders als Griesbach erklärte Karl Lachmann 1835 in seinem Buch „De ordine narrationum in evangeliis synopticis“37 die Ähnlichkeiten der drei ersten Evangelien aber mit der These der Markusprioriät, d. h. der Annahme, das Markusevangelium habe den anderen Synopti34

Vgl. das Gleichnis vom Unkraut und Weizen oder von der Hochzeit in Mt 13,24–30; 22,11–14 u. a. (§ 6.3.4.3d). 35 Vgl. P. M. Head, Christology and the Synoptic Problem, 256 ff. 36 Vgl. A. M. Farrer, On Dispensing with Q, Oxford 1955, 55 ff. 37 K. Lachmann, De ordine narrationum in evangeliis synopticis, ThStKr 8 (1835), 570– 574.

334

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

kern als Vorlage gedient. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass innerhalb des mit Markus gemeinsamen Stoffs die Synoptiker nur so weit überein stimmen, wie sie mit dem deutlich kürzeren Markusevangelium übereinstimmen. Weichen Matthäus oder Lukas in der Perikopenreihenfolge ab, so geht im Aufriss wenigstens einer von beiden parallel mit Markus, sodass dieser den Ausgangspunkt bilden muss. Mk

Mt

Lk

Abb. 17: Die Annahme der Markuspriorität durch Karl Lachmann

Lachmanns Theorie wurde von Christian Hermann Weiße (1838) und Heinrich Julius Holtzmann (1863) zusammen mit Bernhard Weiß bearbeitet und um ein neues bedeutendes Element ergänzt: Neben dem Markusevangelium haben die beiden längeren synoptischen Evangelien eine zweite Quelle benutzt, die eine Sammlung von Sprüchen Jesu enthielt und später mit der Chiffre „Q“ bezeichnet wurde. Man setzte zwar noch ein Urevangelium voraus (s. Anm. 26), das nicht nachweisbar ist, doch die Grundthese war entworfen. Auf dieser Grundlage entwickelte Burnett H. Streeter in seinem Buch „The Four Gospels“ (1925) eine Vier-Dokumenten-Theorie,38 nach der Lukas und Matthäus außer dem Markusevangelium die Logienquelle (Q), Proto-Lukas und die matthäische Sonderquelle verarbeitet haben. Zwei von diesen Quellen (Mk und Q) sind den beiden längeren Synoptikern gemeinsam, weswegen von der Zweiquellentheorie gesprochen wird. Streeter – ähnlich wie in Deutschland später Emanuel Hirsch – folgte noch der Idee, dass nicht nur die synoptische Frage als Ganzes, sondern auch die mit ihr verbundenen Einzelprobleme im Rahmen literarischer Abhängigkeit gelöst werden müssten. Heute wird jedoch auch mit dem Einfluss der damals noch lebendigen mündlichen Tradition gerechnet (Exkurs 3). Streeters Modell literarischer Abhängigkeiten konnte also vereinfacht werden, zumeist in der folgenden Gestalt: Mk

Q

Mt

Lk

Abb. 18: Die Zweiquellentheorie 38

B. H. Streeter, The Four Gospels. A Study of Origins, New York 1925, 223 ff.

6.1 Die synoptische Frage

335

Das Schema der Zweiquellentheorie stellt ohne Zweifel eine starke Simplifizierung der Abhängigkeitsverhältnisse dar, die in Wirklichkeit wesentlich komplexer sind. Doch ihre Grundstruktur ist als Ausgangspunkt für die weitere Arbeit unentbehrlich. Die Zweiquellentheorie hat sich aufgrund ihrer funktionellen Plausibilität bewährt. Sie postuliert keine Quellen, für die es keine textlichen Anhaltspunkte gibt, sie braucht keine weiteren unterstützenden Hypothesen und sie bietet zugleich genug Raum für eventuelle Ergänzungen:39 Proto-Mk ?

Mt – Sondergut

Q – ältere Schicht ?

Mk

Q

Mt

Lk

Lk – Sondergut

Abb. 19: Erweiterungen der Zweiquellentheorie

Fragen wir nach den Anteilen des Markusevangeliums und der Logienquelle in den beiden längeren synoptischen Evangelien, so ergibt sich das nächste Schaubild (s. Abb.20). Danach übernimmt Matthäus etwa die Hälfte seines Stoffes von Markus (8555 Wörter), gut ein Viertel von Q und knapp ein Viertel aus dem Sondergut. Lukas verkürzt den Markusstoff um etwa drei Zehntel von ursprünglich 11708 auf 6737 Worte, baut die Logienquelle Q ein und ergänzt mehr als ein Drittel Sondergut.

Abb. 20: Der Umfang der verarbeiteten Quellen bei den Synoptikern 39 Der Ausdruck „Sondergut“ wird hier in einem rein technisch-formalen Sinn gebraucht. Denn dass Matthäus und Lukas Sondergut verwenden, ist offensichtlich, besagt aber noch nicht zwingend, dass der gesamte Sondergutstoff aus derselben Quelle stammen muss. Ob man bei Markus und Q zwischen früheren und späteren Schichten oder Stufen unterscheiden kann, bleibt hypothetisch.

336

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Der ganze Prozess ist auch durch mündliche Tradition beeinflusst, und ohne Zweifel gab es verschiedene literarische Vorstufen. Die Forschung hat in der letzten Zeit die literarischen Fragmente der Evangelientradition (Oxyrhynchos-Fragmente, EgertonPapyrus u. a.; § 6.1.7.4–5) zu schätzen gelernt. Zuletzt müssen wir noch einige Einwände gegen die Zweiquellentheorie aufgreifen. Die gelegentlichen Übereinstimmungen (minor agreements) zwischen Matthäus und Lukas, die sich bei Markus nicht finden, wurden bereits erörtert (§ 6.1.4.1).40 Ein weiteres Gegenargument ist das Fehlen von Mk 6,45–8,26 im Lukasevangelium, die sog. „große Auslassung“ zwischen Lk 9,17 und 18. Die Griesbachsche Hypothese erklärt diese Lücke mit der Vermutung, Markus habe den Abschnitt nur aus Matthäus gekannt. Im Rahmen der Zweiquellentheorie wurde dieses Problem früher mit der Annahme gelöst, Lukas habe eine ältere Fassung des Markusevangeliums zu Verfügung gehabt (Urmarkushypothese). Mehrere Monographien sind dem Nachweis einer stilistischen und lexikalischen Eigentümlichkeit dieser „lukanischen Lücke“ gewidmet. In der Gegenwart überwiegt jedoch die Meinung, dass Lukas den ganzen Abschnitt bewusst ausließ. Lukas übernahm aus dem Markusevangelium an allen Stellen eine relativ umfangreiche Textpassage und schloss daran eine größere Einheit aus anderen Quellen an, sei es aus Q oder aus einer Sonderquelle. Er arbeitete also mit Abschnitten, die größer waren als die heutige Kapiteleinteilung. Gleichzeitig musste er den markinischen Stoff kürzen, damit der erste Teil seines Werks, der thematisch dem Markusevangelium entsprach, den Umfang eines Buchs, d. h. einer Rolle, nicht überschritt (§ 4.1). Er nahm neben Markus noch mindestens zwei weitere Quellen auf. Matthäus straffte aus ähnlichen Motiven die einzelnen Perikopen.41 Lukas kürzte nicht so auffällig, ließ dafür aber vermutlich ein längeres Textstück aus. Wenn wir die einzelnen Perikopen dieses Teils untersuchen, stellen wir fest, dass Lukas für ihre Auslassung gute Gründe hatte: Die Geschichte vom Seewandel (Mk 6,45–52) erzählt von einer göttlichen Epiphanie Jesu auf dem Galiläischen See, die als Entfaltung einer ähnlichen Szene bei der Sturmstillung (Mk 4,35–41 par. Lk 8,22–25) angesehen werden kann. Die Ausführungen über die kultische Reinheit (Mk 7,1–23) konnte Lukas für das heidnische Milieu als nicht aktuell betrachtet haben. Und die Perikope von der Syrophönizierin (Mk 7,24–30), in welcher Jesus seine israelzentrierte Auffassung der universalen Mission darlegt,42 konnte der Verfasser des Lukasevangeliums in einer Zeit extensiver Heidenmission für unverständlich bzw. verwirrend halten. Die Erzählungen von der Heilung eines Taubstummen in Mk 7,31–37 und des Blinden in Mk 8,22–26 ließ nicht nur Lukas, sondern auch Matthäus aus. Der Grund bestand vermutlich darin, dass hier die Heilungspraktiken konkreter geschildert sind, während die spätere 40 Eine bedeutende Stütze der Zweiquellentheorie gegen die Einwände der minor agreements stellt das Werk von Frans Neirynck dar (s. Anm. 31). M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 196–207, nimmt eine oder mehrere Logienquelle(n) an und versucht die minor agreements durch die Abhängigkeit des Matthäus von Lukas zu erklären. Eine Übersicht der Übereinstimmungen bietet A. Ennulat, „Minor Agreements“ (s. Anm. 26), 472–594 (Anhang). 41 Vgl. die Tochter des Jairus in Mk 5,21–43 (22 Zeilen der modernen Textausgabe) mit Mt 9,18–26 (8 Zeilen). 42 Vgl. die Erwartung der endzeitlichen Völkerwallfahrt nach Zion in Jes 2,3 f.; 11,10 u. a.

337

6.1 Die synoptische Frage

Überlieferung die Unmittelbarkeit der Heilung durch Jesus betonte. Die zweite Speisungsgeschichte (Mk 8,1–9) kann Lukas als Dublette ausgelassen haben. Heinz Schürmann untermauerte die These von der absichtlichen Auslassung von Mk 6,45– 8,26, indem er nachwies, dass Lukas den übersprungenen Teil kannte.43 Die Stadt Betsaida, deren Name in diesem Abschnitt zweimal vorkommt (Mk 6,45; 8,22), erwähnt allein Lukas (9,10 di ff. Mk; Mt) kurz vor jener Lücke, an der die aus der markinischen Vorlage übergangenen Erzählungen stehen sollten. In Lk 9,18 schob er nach der Lücke eine Notiz über das Gebet ein, die durch Mk 6,46 inspiriert sein kann.

Fazit: Die „lukanische Lücke“ kann als Teil der redaktionellen Absicht des Lukas betrachtet werden. Aufs Ganze gesehen bleibt die Zweiquellentheorie eine Hypothese, aber sie ist von großer Plausibilität. Sie kommt mit wenigen Grundannahmen aus und vermag viel zu erklären. Was an Alternativen vorgeschlagen wurde, erweist sich als wesentlich komplizierter. Nehmen wir die Datierungsvorschläge zu den einzelnen Schriften vorweg, so ergibt sich folgende zeitliche Zuordnung: 30 Kreuzigung

40

50

60

Q

70

80

90

100

Mk

Lk Apg

Mt

Joh

Abb. 21: Datierungsübersicht zu den Evangelien

Exkurs 4: Die Redaktionskritik  Vgl. außer der im Text des Exkurses genannten Literatur auch zu den einzelnen Evangelien § 6.2–4.

Die Unterscheidung von älteren und jüngeren Überlieferungsstadien kann mit unterschiedlicher Ausrichtung geschehen. Als einflussreichste Fragestellung der Traditionskritik hatte sich bereits die formgeschichtliche Arbeit erwiesen, die nach dem vorliterarischen Stadium der Jesusüberlieferung zurückfragte (§ 6.1.2.1). Die redaktionsgeschichtliche Methode dreht die Fragerichtung um und untersucht die Texte in der chronologischen Reihenfolge ihrer Abfassung. Sie erforscht die Art und Weise, in der ein Schriftsteller die ihm zur Verfügung stehenden mündlichen und schriftlichen Quellen redaktionell bearbeitet hat. Und sie analysiert, wie der spätere Verfasser den überlieferten Stoff literarisch gestalten musste, damit eine theologisch überzeugende Aussage entstehen konnte. Durch die redaktionsgeschichtliche Arbeit stellte sich immer deutlicher heraus, dass die Evangelisten nicht nur Sammler und 43

Vgl. H. Schürmann, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu den synoptischen Evangelien, Düsseldorf 1968, 111 ff.

338

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Herausgeber waren, sondern sich zugleich als theologische Interpreten erwiesen. Durch die Auswahl, Anordnung, Strukturierung und Kommentierung der übernommenen Überlieferungen sowie durch Hinzufügung weiterer Zeugnisse entwickelten sie ihr eigenes Profil. Elemente der Redaktionskritik sind schon in den Werken der Kirchenväter, besonders bei Origenes († 254), enthalten. Doch als eigenständig ausformulierte Methodik, die sich mit der Komposition und theologischen Ausrichtung der einzelnen Evangelien beschäftigt, entstand die Redaktionsgeschichte erst im 20. Jh. nach dem zweiten Weltkrieg. Das Matthäusevangelium untersuchten auf diese Weise schon George D. Kilpatrick und Krister Stendahl (§ 6.3.3), aber erst Hans Conzelmann definierte 1953 in seiner Studie zum Lukasevangelium „Die Mitte der Zeit“ (§ 6.4) ein solches Verfahren als einen spezifischen Schritt exegetischer Arbeit. Für dieses Vorgehen setzte sich die Bezeichnung Redaktionsgeschichte und später sachlich treffender Redaktionskritik durch. Die Redaktionskritik arbeitet mit dem Text, wie ihn der Evangelist geschrieben hat. Dabei greift sie u. a. auf Methoden der synchronen Analyse zurück, die sich nur innerhalb des unmittelbaren literarischen Kontexts der jeweiligen Schrift bewegt. Im Unterschied zu einer rein textimmanenten Interpretation ist sie sich jedoch der diachronen Schichtung des Texts bewusst, der eine längere Vorgeschichte hat. Auch wenn die literarische Gestalt und die theologische Aussage einer ganzen Schrift untersucht werden, dient dieser Arbeitsschritt der Unterscheidung der heute vorliegenden Fassung von den Quellen, die frühere Stufen darstellen und die mancherlei Unterschiede erkennen lassen. Wegen dieses Interesses an den redaktionellen Veränderungen hat man zunächst von „Redaktionsgeschichte“ gesprochen. Die Redaktionskritik hilft indirekt, auch die Vorformen des Texts zu entdecken, indem sie die von den verschiedenen Evangelisten formulier te Endgestalt mit anders orientierten Schichten oder Segmenten konfrontiert und auf diese Weise den Blick für die sprachliche, stilistische und theologische Eigenart jedes einzelnen Evangeliums schärft. In diesem Sinn handelt es sich um eine historisch-kritische Methodik. In der Praxis der theologischen Arbeit bahnte die Redaktionsgeschichte der literarischen Analyse den Weg, die seit dem letzten Drittel des 20. Jh.s die Evangelien mit sprachund literaturwissenschaftlichen Methoden untersucht (§ 1.4.5). Sie wies nach, welch große Bedeutung die Evangelisten als Autoren hatten. Notwendig erscheinen noch zwei Nachbemerkungen: Die eine betrifft das Verständnis der traditions- und redaktionskritischen Arbeit. Denn anders als im heute vielfach üblichen Sprachgebrauch meint das Wort „Kritik“ hier nicht eine negative Bewertung, sondern im ursprünglichen Sinn von griech. „krínein“ (unterscheiden) die methodisch begründete differenzierende Wahrnehmung unterschiedlicher Traditionsschichten.44 Dieser Begriff von Kritik als „Unterscheiden“ ist in der theolo44

Eine andere Art von Traditionsgeschichte ist es, wenn unabhängig von den Überliefe-

6.1 Die synoptische Frage

339

gischen Wissenschaft seit dem frühen 19. Jh. in Gebrauch. Die kritische Tätigkeit wurde nicht selten mit dem romantischen Ideal befrachtet, das die ersten Ursprünge für natürlich, rein und unverbildet hielt und alle späteren Veränderungen als Verfallsgeschichte verdächtigte. Dieses Defizit ist heute durch die redaktionsgeschichtliche Arbeit aber weitgehend überwunden. Die andere Nachbemerkung bezieht sich auf die Individualität der einzelnen Autoren. Ohne Zweifel hat die redaktionskritische und literaturwissenschaftliche Arbeit das Bewusstsein für das eigenständige Profil der Evangelisten geschärft, die die Gestalt und Geschichte Jesu, seine Lehre und Taten gemäß ihrer Situation und ihren Auffassungen auf je besondere Weise stilisierten, artikulierten und akzentuierten, daraus auswählten und wegließen. Dennoch war ihre redaktionelle Bearbeitung der überlieferten Stoffe keineswegs beliebig, sie darf nicht mit der schriftstellerischen Freiheit moderner Romanautoren verwechselt werden. Gerade Matthäus (§ 6.3.1; 6.3.4) und Lukas (§ 6.4.2) verraten bei allen Unterschieden ein umfassendes Interesse an einer möglichst vollständigen Bewahrung der Jesusüberlieferung aus den ihnen zur Verfügung stehenden Quellen. Analog dürfte es sich bei Markus verhalten (§ 6.2.4). In einer völlig anderen Weise ist selbst bei Johannes die Verwendung älterer Überlieferungen (§ 7.1.3) und eine strenge Bindung an das ursprüngliche Zeugnis über Jesus festzustellen (§ 7.1.5.2). Deshalb werden durch die Redaktionskritik zwei Fragen noch einmal neu verstärkt: Zum einen stellt sich das historische Problem einer ständigen Rückfrage, welche Überlieferungen wirklich auf Jesus selber zurückgehen und welche Aussagen sich möglicherweise besser aus der spezifischen Sicht des jeweiligen Evangelisten erklären lassen (s. Anm. 15 ff.). Zum anderen drängt sich angesichts der Unterschiede zwischen den Evangelien, ja zwischen allen neutestamentlichen Schriften die theologische Frage nach den grundlegenden Gemeinsamkeiten des urchristlichen Zeugnisses auf. Dieser Frage nach der theologischen Einheit des Neuen Testaments ist in letzter Zeit vor allem Ferdinand Hahn (§ 1.1c) nachgegangen. Beide Fragen, die historische und die theologische, werden wir nicht nur in unserer Darstellung der Evangelien weiterverfolgen, sondern auch am Ende in der Schlussbetrachtung zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten in den neutestamentlichen Schriften (§ 9) wiederaufnehmen. 6.1.5

Die Logienquelle (Q)

 Textrekonstruktionen und Hilfsmittel: Siegfried Schulz, Griechisch-deutsche Synopse der Q-Überlieferungen, Zürich 1972; Athanasius Polag, Fragmenta Q, Neukirchen 1979; Wolfgang Schenk, Synopse zur Redequelle der Evangelien, Düsseldorf 1981; Frans Neirynck, Qrungsverhältnissen einer ganzen Perikope die Herkunft und die Weiterentwicklung einzelner Worte oder Motive aus der alttestamentlich-jüdischen oder hellenistischen Kultur untersucht werden.

340

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Parallels, Leuven 1988; John S. Kloppenborg, Q-Parallels, Sonoma, CA 1988; James M. Robinson / John S. Kloppenborg / Paul Hoffmann, Documenta Q, Leuven, 1985 ff.; Paul Hoffmann / Christoph Heil (Hg.), Die Spruchquelle Q. Studienausgabe, Darmstadt u. a. 2002.  Monographien und Aufsätze: Adolf Harnack, Sprüche und Reden Jesu, Leipzig 1907; 2 Heinz E. Tödt, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 1984; Heinz Schürmann, Die vorösterlichen Anfänge der Logientradition, zuletzt in: ders., Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu den synoptischen Evangelien, Düsseldorf 1968, 39–65; Dieter Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle (WMANT 33), Neukirchen 1969; Helmut Köster / James M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971; Paul Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle (NTA 8), Münster 31982; Siegfried Schulz, Q – Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972; Athanasius Polag, Die Christologie der Logienquelle (WMANT 45), Neukirchen 1977; Rudolf Laufen, Die Doppelüberlieferungen der Logienquelle und des Markusevangeliums (BBB 54), Königstein / Bonn 1980; Joel Delobel (Hg.), Logia – The Sayings of Jesus (BEThL 59), Leuven 1982; M. Eugene Borg, Sayings of the Risen Jesus (SNTS MS 46), Cambridge 1982; Heinz Schürmann, Gottes Reich – Jesu Geschick, Freiburg 1983, dort 65–182; John S. Kloppenborg, The Formation of Q, Philadelphia, PA 1987; Migaku Sato, Q und Prophetie (WUNT 2/29), Tübingen 1988; Ronald A. Piper, Wisdom in the Q-Tradition (SNTSMS 61), Cambridge 1989; Arland D. Jacobson, The First Gospel: An Introduction to Q, Sonoma, CA 1992; Burton L. Mack, The Lost Gospel: The Book of Q and Christian Origins, San Francisco 1993; Thomas Bergemann, Q auf dem Prüfstand (FRLANT 158), Göttingen 1993; David R. Catchpole, The Quest for Q, Edinburgh 1993; Leif E. Vaage, Galilean Upstarts. Jesus’ First Followers according to Q, Valley Forge, PA 1994; Christopher M. Tuckett, Q and the History of Early Christianity: Studies on Q, Edinburgh 1996; Risto Uro, Symbols and Strata. Essays of the Sayings Gospel Q (FES 65), Helsinki / Göttingen 1996; Jens Schröter, Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas (WMANT 76), Neukirchen 1997; Marcus Borg, The Lost Gospel Q, Valley Forge, PA 1998; Allan Kirk, The Composition of the Saying Source (NT.S 91), Leiden 1998; John S. Kloppenborg, Excavating Q, Minneapolis, MN 2000.  Kommentar: Dieter Zeller, SKK.NT, Stuttgart 1984.

Texte, die nur von Matthäus und Lukas überliefert sind, werden der Logienquelle Q zugeschrieben. Für den Wortlaut vergleiche man die griechischen Synopsen (s. Abb. 22). 6.1.5.1

Eine Übersicht über den rekonstruierten Inhalt

Zur Orientierung sind die Kapitel des Lukasevangeliums in Klammern angegeben. Ein Asteriskus (*) bezeichnet die Stellen, an denen die Reihenfolge bei Matthäus abweicht. Predigt Johannes des Täufers (3) – [Versuchung Jesu (4)] – Grundgehalt der Bergpredigt bzw. Feldrede: Seligpreisungen, Feindesliebe, Barmherzigkeit, Goldene Regel, Baum und Früchte, Hausbau (6) – Hauptmann von Kapernaum (7) – Täufertexte (7) – Nachfolge* (9) – Aussendung der Jünger,* Weherufe gegen galiläische Städte

6.1 Die synoptische Frage

Abb. 22: Synopse von Texten der Logienquelle mit Parallelen aus den Evangelien, Apokryphen und Kirchenvätern Synopsis Quattuor Evangeliorum, hg. v. Kurt Aland, 15., revidierte Auflage © 1996 Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart.

341

342

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

– Jubelruf Jesu (10) – Vaterunser, Vom Erhören der Gebete* (11) – Der Streit um Beelzebul und die Überwindung des Starken – Gegen Wundersucht (Zeichen des Jona), Auge und Licht* (11) – Weherufe gegen die Pharisäer (11) – Aufruf zum Bekenntnis, Lästerung gegen den heiligen Geist, Sorglosigkeit, Schatz im Himmel, Wachsamkeit (12)* – Senfkorn und Sauerteig, warnende Sprüche,* Klage über Jerusalem (13) – [Gleichnis vom großen Gastmahl (14)]* – Gleichnis vom verlorenen Schaf (15)* – Sprüche über die Parusie (17) – [Talentengleichnis (19)].45 Die Texte der Logienquelle werden in der Literatur manchmal mit Q + Kapitelund Versnummer der lukanischen Fassung bezeichnet: Die Angabe Q 7,1–9 bedeutet, dass es sich um das Textsegment Lk 7,1–9 handelt, jene Perikope aus der Logienquelle stammt und eine matthäische Parallele hat. Da Lukas mit größeren Texteinheiten des Markus arbeitete, kann ein ähnliches Verfahren auch bei seiner Arbeit mit Q vorausgesetzt werden. In der Reihenfolge der Textsegmente ist Lukas daher wahrscheinlich verlässlicher als Matthäus, der die Sprüche in größeren Reden zusammenfasste. Im Wortlaut hingegen kommt die matthäische Fassung dem vorausgesetzten Q-Text oft näher. 6.1.5.2

Die Charakteristik46

Die Logienquelle (Q) ist eine Schrift, die uns als selbstständiges Ganzes nicht zugänglich ist. Sie kann nur aus der doppelten synoptischen Tradition rekonstruiert werden, d. h. aus den Texten, die bei Markus nicht vorkommen, sondern allein von Matthäus und Lukas überliefert werden (ca. 4000 Worte).47 Mit Ausnahme der längeren Versuchungsgeschichte (Lk 4,1–13 Q) und der Perikope vom Hauptmann von Kapernaum (Lk 7,1–9 Q) handelt es sich um Sprüche Jesu. Wahrscheinlich zirkulierten einige Gruppen dieser Sprüche schon im aramäischsprechenden Milieu, möglicherweise gab es eine aramäische Spruchquelle. Durch den synoptischen Vergleich zugänglich sind nur die griechischen Fassungen, die die Evangelisten zur Verfügung hatten. Die griechisch redigierte Logienquelle entstand wahrscheinlich in (Nord-) Palästina, und zwar vor dem Jüdischen Krieg, vermutlich zwischen 40 und 50 n. Chr.48 Der Grundgehalt ist vorösterlich. Wegen ihres Alters besitzt Q eine einzigartige Bedeutung. 45 Vgl. außer den vielen bekannten Rekonstruktionen auch die Studienausgabe (Griechisch und Deutsch) von P. Hoffmann und Ch. Heil (Die Spruchquelle Q, Darmstadt u. a. 2002), sowie die deutsche Werkstattübersetzung des Q-Textes der Rekonstruktion des Internationalen Q-Projekts in: S. H. Brandenburger / Th. Hieke (Hg.), Wenn drei das Gleiche sagen (Th 14), Münster 1998, 103–121. 46 S. bes. E. Schweizer, Theologische Einleitung (Lit. § 1), 39–46. 47 Zu den differierenden Zahlenangaben vgl. M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 172 mit Anm. 672. 48 So U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 226; vgl. vorsichtiger P. Hoffmann / Ch. Heil (Hg.),

6.1 Die synoptische Frage

343

Ihrer Gattung nach steht Q den sapientiellen (weisheitlichen) Sammlungen nahe (J. M. Robinson, J. S. Kloppenborg, A. D. Jacobson). Nach Migaku Sato dagegen wurde sie von der alttestamentlichen Prophetie inspiriert. Diese Annahme ist historisch kaum zu belegen, doch war die Funktion mehrerer Sprüche ohne Zweifel prophetisch. Paulus kannte offensichtlich eine ähnliche Sammlung in mündlicher Form, da die wenigen Aussagen, die er als „Wort des Herrn“ einleitet (§ 5.6.2.4), auch bei ihm eine prophetische Funktion haben. Der Streit kann durch einen Hinweis auf Lk 11,49–51 Q (vgl. Sir 24,33–34) entschärft werden, wo von der Aussendung der Propheten durch die Weisheit Gottes die Rede ist. Keinesfalls handelt es sich um typische Weisheitsliteratur, wie sie aus den Weisheitsschriften der jüdischen Bibel geläufig ist (Spr; Prd; Sir; SapSal). Denn die Worte Jesu ähnelten nicht den Sprüchen der Weisen, sondern erhoben eher den Anspruch, eine neue Form der Tora zu sein. Sonst wären nicht einige von ihnen als Antithesen zu den älteren Deutungen des Gesetzes, ja teilweise sogar zum Gesetz selbst formuliert worden (Mt 5,21 ff.). Da nur Sprüche rekonstruierbar sind und ein vollständiges Evangelium, wenn es dieses gegeben hätte, wahrscheinlich einige bei Markus nicht bezeugte Erzählungen enthalten hätte, ist bei Q von einer Spruchsammlung auszugehen. Auch die Existenz der erwähnten narrativen Perikopen widerspricht dem nicht. Denn bei diesen Abschnitten handelt es sich um erzählerisch ausgestaltete Disputationen. Bei 31 Sprüchen gibt es Dubletten, die bei Markus und in Q überliefert sind.49 Sie bestätigen, dass Matthäus und Lukas die Logienquelle nahezu vollständig übernahmen. Auch wenn die Dubletten nur in Randüberlieferungen vorkommen, sind sie als zwei50 voneinander unabhängige Zeugnisse für die historische Kritik besonders wertvoll.51 Da bei Matthäus und Lukas die Reihenfolge der Sprüche aus der Logienquelle manchmal verschieden ist und da sie oft in unterschiedlichem Wortlaut vorkommen, bestritten manche Forscher die Schriftlichkeit von Q (z. B. J. Jeremias, E. Fascher, Bo Reicke). Einige Unterschiede sind sehr groß, und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die beiden Evangelisten die Perikopen unabhängig voneinander aus verschiedenen Quellen kannten. Der entscheidende Teil der doppelten Überlieferung bei Die Spruchquelle Q., 21, die alte Jesustraditionen annehmen und die Endredaktion um 70 n. Chr. datieren. 49 Z.B. das Sprichwort, nach dem der Mensch, der sein Leben retten will, es verliert, während derjenige, der bereit ist, sein Leben zu verlieren, es gewinnen kann: Mk 8,35 (Mt 16,25; Lk 9,24) und Lk 17,33 Q (Mt 10,39). Ursprünglich handelte es sich um eine militärische Regel, die in der Jesusüberlieferung metaphorisch auf Jesu Geschick appliziert wurde. Jesus könnte sie für seine eigene Person benutzt haben, als klar wurde, welche Gefahr ihm droht. 50 Mit dem EvThom sind es zuweilen sogar drei Zeugen, wie es z. B. beim Wort vom Kreuztragen und Verlieren des Lebens Lk 14,27 Q; 17,33 Q oder von der Macht des Glaubens Lk 17,6 Q der Fall ist. 51 Vgl. H. T. Fleddermann, Mark + Q (BEThL 122), Leiden 1995; R. Laufen, Doppelüberlieferungen.

344

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Lukas und Matthäus muss allerdings schriftlich vorhanden gewesen sein, denn es gibt mehrere fast wörtlich übereinstimmende Sprüche wie den Jubelruf mit dem Lobpreis des Vaters (Lk 10,21–24 Q) oder die Predigt des Johannes (Lk 3,7–9.17 Q). Diese zwingende Gewissheit gilt auch heute noch. Dennoch stellen Stoffe, die die beiden Synoptiker in auffällig unterschiedlicher Gestalt wiedergeben, ein Problem der Q-Forschung dar. So werden z. B. das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14–30 par. Lk 19,12–27 Q) oder das Gleichnis vom großen Mahl (Mt 22,1–10 par. Lk 14,16–24 Q) bei Matthäus und Lukas in zwei so verschiedenen Versionen geboten, dass nur die Pointe gemeinsam ist. Beim Mahlgleichnis hat Matthäus der Erzählung mit der Frage nach dem hochzeitlichen Gewand sogar noch eine neue Pointe hinzugefügt (Mt 22,11–14). Wegen dieses Befundes begrenzte Thomas Bergemann den Umfang der Logienquelle auf die mehr oder weniger wörtlich übereinstimmenden Perikopen,52 rechnete dabei aber weder mit redaktioneller Arbeit noch mit dem Einfluss mündlicher Überlieferung. Mindestens ein Teil der nicht übereinstimmenden Stoffe kann aus anderen Überlieferungen stammen. Einiges könnten die Evangelisten aus ihren Sonderquellen zitiert haben, die sich in manchen Bereichen wie den beiden eben genannten Gleichnissen überschneiden. Viele Stoffe, besonders die oft erzählten Sprüche wie z. B. Gleichnisse, können aber auch aus dem Gedächtnis zitiert worden sein. Da es damals noch keine autoritativen Texte gab, müssen wir damit rechnen, dass die Logienquelle in mehreren Fassungen zirkulierte, sodass die Evangelisten zwei verschiedene Versionen benutzt haben könnten (Q1 und Q2, bzw. QLk und QMt). Vieles muss auch der Redaktion zugeschrieben werden. Matthäus formulierte den zweiten Teil des Mahlgleichnisses mit dem Bild vom Hochzeitsgewand (Mt 22,1–14 Q?), um die problematische Aufspaltung in bewusste und oberflächliche Christen aufzugreifen, die in der zweiten christlichen Generation aktuell wurde: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt“ (V.14). Lukas (Lk 7,1–10 Q) charakterisierte den Hauptmann von Kapernaum als einen Repräsentanten der Heidenchristenheit, der das jüdische Erbe schätzen kann (V.4–6a). Ein weiteres Problem ist die Reihenfolge der Perikopen. Die Übereinstimmungen in der Komposition des Q-Stoffs zwischen Matthäus und Lukas könnten durch den gemeinsamen Rahmen bedingt sein, den das Markusevangelium bietet. Dieses Argument würde gegen Q als schriftlich vorliegenden Text sprechen. Es gibt jedoch Sprüche, die die beiden Evangelisten in derselben Reihenfolge darbieten, ohne vom Markusevangelium beeinflusst zu sein (z. B. Bergpredigt par. Feldrede; Hauptmann von Kapernaum). Die identische Perikopenfolge könnte auch ein Zeichen absichtlicher redaktioneller Arbeit sein. Jedenfalls muss der Gesamtaufriss durch die Entstehungsgeschichte beeinflusst worden sein: Man begann die Sprüche in Gruppen zu 52

Vgl. Th. Bergemann, Q auf dem Prüfstand (FRLANT 158), Göttingen 1993, bes. 62 ff.229 ff.

6.1 Die synoptische Frage

345

sammeln, die durch ein Stichwort oder Thema verbunden waren und sich gegenseitig auslegten (Johannes der Täufer, Eschatologie, Satan usw.). Die Gesamtkomposition ist kaum zu rekonstruieren. Wir wissen nur, dass am Anfang eine Sammlung von Sprüchen über Johannes den Täufer stand. Weitere Sprüche über Johannes befanden sich etwa in der Mitte (Lk 7 par. Mt 11), wo ihre Einführung durch das markinische Schema nicht beeinflusst ist. 6.1.5.3

Die Theologie der Logienquelle (und ihre Etappen?)

Theologisch sind für Q folgende Momente charakteristisch: a) Die Bedeutung Jesu wird vor dem Hintergrund der apokalyptischen Predigt Johannes des Täufers dargestellt (Lk 3,7–18 Q). Gleichzeitig wird das Auftreten Jesu als Erfüllung der durch Johannes repräsentierten Prophetie beschrieben (Lk 7,18–35 Q). Die Prophetie ist „deuteronomistisch“ motiviert, d. h. das Unheil wird als Folge der Sünden Israels gedeutet z. B. in der Weissagung über die Verwüstung Jerusalems (Lk 13,34 f. Q). b) Das Heil wird israelzentriert geschildert (s. Anm. 42). Doch werden auch die Heiden Anteil haben, die aus allen Himmelsrichtungen im Reich Gottes zu Tische liegen werden (Lk 13,28 f. Q). Johannes der Täufer und Jesus verkündigen das göttliche Gericht. Doch bei Jesus ist die entscheidende Größe das Reich Gottes, dessen Ankündigung eine fröhliche Verheißung ist, besonders für die Armen und Leidenden. Es handelt sich um die Vision einer alternativen Gesellschaft, deren Verwirklichung in der Nähe zu Jesus beim gemeinsamen Essen und Trinken53 und in der Gemeinde seiner Jünger vorweggenommen wird (Bergpredigt / Feldrede). c) Q enthält keine Passionsgeschichte. Weder wird die heilbringende Bedeutung des Kreuzes Jesu erwähnt, auch wenn Sprüche wie vom Kreuztragen darauf Bezug nehmen (Lk 14,27 Q u. a.), noch findet sich eine Osterverkündigung. Die Beziehung zur Person Jesu hat jedoch entscheidende Konsequenzen für die Hoffnung, dass Blinde sehen, Lahme gehen und Tote auferstehen werden (7,22 f. Q). Seine Worte sind die gültige Weisheit Gottes (sophía; 7,35 Q; 11,31 Q). In apokalyptischer Tradition wird Jesus als kommender „Menschensohn“ bezeichnet (z. B. 17,23 f. Q; § 6.2.7.2). Der Titel „Christus“ (Messias; § 5.6.1.1) fehlt. d) Q ist im Grunde noch eine jüdische Schrift, deren Leser den Kern des wahren Israel bilden. Sie sollen das mosaische Gesetz ernst nehmen (Lk 16,17 Q) und in ihrer Frömmigkeit die Pharisäer übertreffen (Lk 11,39–52 Q). e) Die Ethik ist nicht moralistisch, sondern als Anpassung an die universale Macht des hereinbrechenden Reiches Gottes supra-ethisch begründet. Die Aufforderung zur Feindesliebe (Lk 6,27–36 Q) ist keineswegs sentimental gemeint, sondern spie-

53

Vgl. den Vorwurf in Lk 7,33 f. Q: „ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder“.

346

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

gelt Erfahrungen von Anfeindung und Verfolgung um Jesu willen wider:54 Einen Mitmenschen zu „lieben“ (agapán) bedeutet, ihm Anteil am Reich Gottes zu wünschen, da „segnen“ und „bitten für“ in Lk 6,28 Q Ausdrücke für ein Fürbittgebet sind, durch welches das Heil auch den Feinden zugute kommen soll. Außerdem gilt es, diese Liebe in guten Taten (Lk 6,28) und durch schockierende Symbolhandlungen vorzuleben, z. B. durch das demonstrative Ertragen einer Ohrfeige (Lk 6,29 par. Mt 5,39–41). Die Ethik der Feindesliebe half der Gemeinde der Jünger Jesu, innerhalb der Synagoge zu überleben, da ihre Andersartigkeit als Gefährdung empfunden werden musste. Später wurde daraus eine missionarische Strategie (§ 9e). Ein weiterer Zug der Ethik ist die Sorglosigkeit (Lk 12,22–32 Q), die in Worten dargestellt wird, welche an das Vaterunser (Lk 11,2–4 Q) kommentierend anknüpfen.55 Hier zeigt sich eine Spannung im Trägerkreis der Logienquelle zwischen Wandermissionaren und sesshaften Jesusanhängern. Die umherziehenden Propheten traten mit einem radikalen Ethos der Heimatlosigkeit, des Besitzverzichts56 und des Abbruchs von Familienbindungen57 auf. Doch waren sie auf die ortsansässigen Unterstützer58 angewiesen, die ihnen einerseits Unterkunft boten (Lk 10,5–7), andererseits aber für ihr Festhalten am Besitz kritisiert wurden.59 Das Verhältnis zwischen beiden Gruppen bestand in einer komplementären Symbiose und Abhängigkeit. Denn die Wandercharismatiker brauchten feste Ortsgemeinden als „Heimathafen“, vertraten mit ihrem asketischen Ethos der Sorglosigkeit, des Gewaltverzichts und der Feindesliebe aber zugleich zentrale Werte der Botschaft Jesu von der kommenden Gottesherrschaft, an deren Verkündigung die ortsfesten Gruppen ein geistiges Interesse hatten.60 Diese Spannung bleibt für die Jünger in der Nachfolge Jesu bestim54 Vgl. Lk 6,22 f. Q (Seligpreisung); 11,49–51 Q (Schicksal der Propheten); 12,4 f. Q (Fürchtet euch nicht vor dem Tod des Leibes); 12,11 f. Q (Synagogen-Gerichte), aber auch 1Thess 2,14–16 (Verfolgung der Gemeinden in Judäa); Apg 12,1 f. (Hinrichtung des Jakobus). 55 Vgl. W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments (NTD Erg 4), Göttingen 21989, 38 ff.; P. Pokorný, Die Bergpredigt / Feldrede als supra-ethisches System, in: K. Wengst (Hg.), JA und NEIN (FS W. Schrage), Neukirchen-Vluyn 1998, 181–193. 56 Alle Belege sind Q-Texte: Lk 9,57–62 (Vom Ernst der Nachfolge); 10,1–12.16 (Aussendung der 72). 57 Lk 14,26 (Wer nicht Vater und Mutter hasst); 12,51–53 (Nicht Frieden, sondern das Schwert). 58 Lk 9,58 (Füchse haben Höhlen); 12,39 (der Menschensohn kommt wie ein Dieb); 13,18– 21 (Senfkorn / Sauerteig). 59 Lk 16,13 (Gott oder Mammon); 12,33 f. (Sammelt nicht ...); 6,30 (Verzicht auf Rückforderung von Geliehenem); vgl. auch die Bilderwelt der Häuser und Dörfer 6,47 ff. (Hausbau); 10,2 (Ernte); 10,7 (Häuser); 11,9 f. (Klopft an, so wird euch geöffnet); 12,39 ff. (Einbrecher, Haussklave); 13,23 ff. (Tür); 14,15–24 (Gastmahl). 60 Vgl. G. Theißen, Soziologie (Lit. § 6.2.8), 14–21; ders., Jesusbewegung (Lit. § 6.2.8), 55–90.

6.1 Die synoptische Frage

347

mend (§ 6.2.8a) und wird von Matthäus (§ 6.3.4.3d) und Lukas (§ 6.4.5.4b) in unterschiedlicher Weise aufgenommen. In diesem groben theologischen Überblick wurde von einer historischen Stratifizierung von Q abgesehen, d. h. von einer zeitlichen Einordnung der einzelnen Schichten. Denn hinter die eben angedeutete Endgestalt zu gehen, ist methodisch schwierig. Dieter Lührmann hielt in seiner bahnbrechenden Arbeit (Die Redaktion der Logienquelle; 1969) die weisheitlichen, nicht apokalyptisch gefärbten Sprüche für jünger. Ähnlich urteilte Siegfried Schulz (1972). Viele dieser Modelle spiegeln sich auch in der mehrschichtigen Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte von Q bei Athanasius Polag (1979) wider. 1987 legte jedoch John S. Kloppenborg – an James M. Robinson anknüpfend und später von Arland D. Jacobson und der Claremonter Schule aufgenommen – eine andere zeitliche Einordnung (Stratifikation) der einzelnen Schichten vor, die die vorösterlichen Anfänge berücksichtigte. Danach sind die Texte, in denen die gegenwärtige Dimension des Reiches Gottes hervortritt, die ältesten. J. S. Kloppenborg rechnet sie der weisheitlichen Gattung zu.61 Erst später kamen seiner Ansicht nach die deuteronomistischen Reden, Gerichtsankündigungen und apokalyptischen Sprüche hinzu. Die Versuchungsgeschichten gehören nach Meinung dieses Exegeten der Endredaktion an. Diese Sicht ist ein völlig neues Modell, das in Amerika große Aufmerksamkeit gefunden hat. Wenn wir die Diskussion nicht ideologisieren wollen, sollten wir in einer Metabetrachtung bedenken, dass für die europäische Forschung Jesu Verkündigung des Reiches Gottes eschatologisch orientiert ist, während sie für die Claremonter zum weisheitlichen Genre gehört und mit zeitgenössischen Mitteln ein alternatives Modell der Gesellschaft präsentiert. Zu beachten ist auch, dass die deutschen Exegeten in der Rekonstruktion einer vorösterlichen Schicht skeptischer62 waren als die in der historischen Kritik optimistischeren amerikanischen Forscher. Die im Verhältnis zur Jesustradition jüngere apokalyptische Schicht bei J. S. Kloppenborg kann also an einigen Stellen mit der älteren, frühnachösterlichen apokalyptischen Schicht bei D. Lührmann identisch sein.63 Dennoch bleibt ein grundlegender Unterschied bestehen: Für die erste Gruppe, die überwiegend aus europäischen Forschern besteht, ist die österliche Authentisierung der Sprüche Jesu entscheidend. Für die zweite Forschungsrichtung hat das Bild Jesu als Lehrer eine große Bedeutung, dessen Lehrwirkung durch seinen Jüngerkreis weitergetragen wird. Für die erste Gruppe war es die Autorität des auferstandenen Herrn, die der Logiensammlung Geltung und Weiterleben ermöglichte. Dagegen ist für die zweite, die amerikanische Gruppe die Auferstehungsverkündigung eher ein alternativer, nachträglicher und apokalyptisch gefärbter Ausdruck für die Wirkungskraft der Jesustradition. Diese Gegenüberstellung ist bewusst überspitzt, um die Alternativen herauszustellen, enthält aber kein Werturteil. Bereits jenseits der Grenze einer plausiblen Hypothese befindet sich u.E. erst das Bild Jesu als eines kynischen

61

Es ist allerdings anzunehmen, dass in Q die Instruktionen mit Drohworten und mit eschatologischen Verheißungen von Anfang an verbunden waren (J. Schröter, Erinnerungen an Jesu Worte, 113–122). Eine solche Verbindung ist auch im Markusevangelium und in seinen Vorstufen gut erkennbar. 62 Vorösterliche Anfänge der Logienquelle belegen bes. H. Schürmann und A. Polag. 63 Zur „Re-apokalyptisierung“ vgl. D. Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle, 94.

348

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Philosophen, das John D. Crossan64 und besonders Burton L. Mack65 aus dem Modell der Jesusüberlieferung ableiteten, das J. M. Robinson und J. S. Kloppenborg entworfen hatten.66 Die amerikanische Gruppe hat Recht, wenn sie auf das relative Anwachsen der Apokalyptik in der Jesusbewegung nach dem Tod Jesu und nach Ostern hinweist. Auf deutschem Boden schrieb schon Philipp Vielhauer die Menschensohn-Sprüche einer späteren Etappe zu67 und Heinz Schürmann betonte zusammen mit Joachim Wanke ihren kommentierenden Charakter.68 Die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu war aber, wie auch der Grundbestand der Bergpredigt bzw. Feldrede bezeugt, keineswegs nur apokalyptisch ausgerichtet. Die Dimension der Gegenwärtigkeit hatte zweifellos eine große Bedeutung. Und doch ist die Verkündigung des Reiches Gottes kaum als philosophischer Entwurf eines bloß für die Gegenwart relevanten sozialen Modells zu interpretieren.69 Seine Predigt war mit der Erwartung einer relativ nahen Erfüllung verbunden. Ohne die Erfüllung oder zumindest ohne eine neue österliche Erfahrung mit Jesus hätte eine solche Lehre nur in einer spiritualistisch innovierten Fassung weiterleben können. Die Logienquelle setzt schon eine neue Erfahrung mit dem (wieder) gegenwärtigen Jesus voraus. In der uns erreichbaren Fassung der Logienquelle sind die Worte Jesu als aktuelle Aussagen für die zweite christliche Generation aufgefasst.

6.1.5.4

Die Logienquelle und das Markusevangelium

Es ist ein Verdienst der Schule von James M. Robinson, dass sie auf die Verwandtschaft zwischen der Logienquelle und dem Thomasevangelium (§ 6.1.6.1) sowie den späteren Spruchsammlungen und Dialogen mit dem lebendigen Jesus aufmerksam machten: Es sind der „Dialog des Erlösers“ (NHC III,5), das „Evangelium des Erlösers“ („Unbekanntes Berliner Evangelium“ [UBE]; § 6.1.7.5), ein Teil des „Buches des Thomas“ (NHC II,7) und ähnliche Texte bis hin zu dem „Apokryphon des Johannes“70 oder dem Philippusevangelium

64

Vgl. J. D. Crossan, Der historische Jesus, München 21995 (DÜ), 553 f. Vgl. B. L. Mack, A Myth of Innocence. Mark and Christian Origins, Philadelphia, PA 1988, 67–74. 66 Zur Kritik F. G. Downing, Cynics and Christian Origins, Edinburgh 1992; M. Ebner, Kynische Jesusinterpretation – „disciplined exaggeration“?, BZ 40 (1996), 93–100; C. M. Tuckett, Q and the History of Early Christianity, 390 ff.; P. Hoffmann, Mutmaßungen über Q, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus (BEThL 158), Leuven 2001, 255–288. 67 Vgl. Ph. Vielhauer, Gottesreich und Menschensohn in der Verkündigung Jesu (1957), in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament (ThB 31), München 1965, 55–91, vgl. 92–140 (Diskussion). 68 H. Schürmann, Beobachtungen zum Menschensohn-Titel in der Redequelle, zuletzt in: ders., Gottes Reich – Jesu Geschick, Freiburg i. Br. 1983, 153–182; J. Wanke, „Bezugs- und Kommentarworte“ in den synoptischen Evangelien (EThS 44), Leipzig 1981. 69 Vgl. G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 29: „Der ‚nicht-eschatologische Jesus’ scheint mehr kalifornisches als galiläisches Lokalkolorit zu haben.“ 70 BG 8502,2; NHC II,1; III,1; IV,1; vgl. Iren. haer. 1,29. 65

6.1 Die synoptische Frage

349

(NHC II,3), die als Dialoge mit dem Erlöser konzipiert sind.71 Auch das Freer-Logion, das in einigen Handschriften (bes. W = 032) am Schluss des Markusevangeliums zwischen Mk 16,14 und 15 eingeschoben wurde (§ 6.2.2), gehört in die Gruppe dieser Schriften.

Dabei handelt es sich durchweg um spätere Texte, aber das Thomasevangelium (§ 6.1.6.1) schöpfte in seiner ältesten Schicht wahrscheinlich unabhängig von den Synoptikern und der Logienquelle aus der Jesusüberlieferung. Auch das lukanische Sondergut geht zurück auf eine alte, dem irdischen Jesus zeitlich nahe Sammlung der Gleichnisse Jesu.72 Neben den synoptischen Evangelien ist also mit einer alternativen literarischen Gattung von Spruchsammlungen zu rechnen, in der die Jesusüberlieferung weiterlebte. Diese Logien waren mit dem lebendigen Herrn verbunden, nicht mit dem irdischen Jesus. Wenn sie doch auf diesen Bezug nahmen, handelte es sich um Sprüche, die bei außerordentlichen Gelegenheiten wie der Verklärung (UBE p. 114,2 ff.) geäußert wurden. Am Anfang des 2. Jh.s schrieb Papias von Hierapolis einen Kommentar zu den Worten Jesu (griech. logíōn kyriakṓn exḗgēsis), der nicht erhalten ist. Alle diese Texte unterstreichen die Bedeutung solcher Logienüberlieferungen. Die Anfänge dieser Gattung sind in den mündlichen Sammlungen der Sprüche Jesu zu suchen, zu denen auch die Quelle gehörte, aus welcher Paulus seine Herrnworte zitiert (§ 5.6.2.4). Auch die Anfänge der Spannung zwischen der an das irdische Leben Jesu gebundenen synoptischen Tradition und der spiritualisierten Deutung der Jesusworte finden sich schon bei Paulus, besonders im 1. Korintherbrief (§ 5.12.4). Mehrere andere Spruchsammlungen wurden von den Verfassern der Evangelien, deren literarische (Unter-)Gattung Evangelium (§ 6.2.6.1) wir von der Pistisformel in 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.1) und vom Markusevangelium ableiten können, schon bald als Konkurrenz erkannt. Die einflussreichste und wahrscheinlich älteste schriftlich fixierte Spruchsammlung wurde von den beiden längeren Synoptikern in ihre Schriften integriert. Durch diese Einbindung wurden die alten Logien nicht nur rezipiert, sondern im Kontext dieser beiden Evangelien zugleich in einen neuen Deutungsrahmen gestellt. Die anderen Spruchsammlungen wurden in den christlichen Gemeinden allmählich aus dem liturgischen Gebrauch hinausgedrängt. Diese Entwicklung geschah aber ohne Gewalt, zu der die Christen damals ohnehin keine Mittel gehabt hätten. Als lebensfähigere und ökumenisch tragfähigere Gestalt der Jesusüberlieferung erwiesen sich die später kanonisch gewordenen Evangelien. Ein Punkt muss noch angefügt werden: Neben der Rückbindung der Logienüberlieferung an den irdischen Jesus in den Evangelien gab es eine spiritualisierende Strömung, die sich für die 71 Übersetzungen bei W. Schneemelcher, NTApo6 I, 148 ff.189 ff.245 ff.310 ff. und H.-M. Schenke (s. Anm. 82). 72 Vgl. K. Paffenroth, The Story of Jesus according to L (JSNTSS 147), Sheffield 1997, 97.103.

350

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

geistige Bedeutung des Kreuzes Jesu und der Auferstehung interessierte. Doch war die Interpretation des Kreuzes umstritten: Die Vertreter der gnostisch-spiritualisierenden Strömung verstanden das Kreuz als Aufforderung zur Leugnung der Leiblichkeit und begriffen die Auferstehung als Symbol der inneren Erneuerung.73 Diese Tendenzen unterstreichen nur die Bedeutung von Ostern als Grunddatum des christlichen Glaubens, das nicht entwertet werden sollte.74

Nur Vermutungen können wir anstellen über das Verhältnis zwischen Markus und der Logienquelle. Eine Möglichkeit wäre, dass Markus die Logienquelle nicht kannte. Die Dubletten in der Wortüberlieferung müsste er dann direkt aus der mündlichen Tradition übernommen haben.75 Wahrscheinlicher ist jedoch der andere Fall: Da die Logienquelle kurz nach der Abfassung des Markusevangeliums bereits so weit verbreitet war, dass sie in zwei verschiedenen Gegenden von Lukas und Matthäus als besonders bedeutsam eingeschätzt wurde, müssen wir eher davon ausgehen, dass vermutlich auch Markus Q schon kannte und doch bewusst nicht aufnehmen wollte.76 Ein erster, inhaltlicher Grund für das Übergehen der Logienquelle könnte die unterschiedliche theologische Orientierung sein: Auf der einen Seite lag Markus an der Christologie des stellvertretenden Todes (Exkurs 5), auf den die Logienquelle nur am Rande anspielt (§ 6.1.5.3c). Auf der anderen Seite erschien ihm die Lehrer- und Prophet-Christologie der Logienquelle (§ 6.1.5.3) als unzureichend, um das Geheimnis des Todes und der Auferstehung Jesu zu erfassen. Auch die Aufforderung zur Feindesliebe (Lk 6,27 Q) könnte Markus als eine provozierend ungerechte Parole empfunden haben. Ein weiterer, eher äußerlicher Grund für das absichtliche Nichtbeachten könnte die bereits fixierte Rolle der Logienquelle im Leben der Kirche gewesen sein. Die Sprüche Jesu verstand man als das entscheidende Wort bei konkreten Problemen des christlichen Lebens, wie sie schon Paulus einsetzte (§ 5.6.2.4). Wir lesen das Markusevangelium zu einseitig mit „kanonischen“ Augen, die schon wissen, dass das Evangelium zu einer integrierenden Gattung wurde. Markus schrieb zwar mit einer integrierenden Tendenz, wollte aber bei weitem nicht alles aufnehmen, was im christlichen Gottesdienst Verwendung fand. Sonst hätte er zumindest das Vaterunser berücksichtigen müssen.77

73 Vgl. E. Pagels, Versuchung durch Erkenntnis: Die gnostischen Evangelien, Frankfurt 1981 (DÜ), Kap. I. 74 Gegen K. Berger, Theologie des Urchristentums (Lit. § 1), 6 f.183 ff.550. 75 Vgl. J. Schüling, Studien zum Verhältnis von Logienquelle und Markusevangelium (FzB 65), Würzburg 1991, 180 ff. 76 Vgl. Mk 1,7 f.12 f.; 3,22–30; 4,30–32; 6,7–11; 12,38–40. 77 W. Schmithals, Einleitung (Lit. § 1), 403, setzt sogar voraus, dass Q ein Pendant des Markusevangeliums war.

6.1 Die synoptische Frage

351

Am wahrscheinlichsten ist es, dass sich bei Markus beide Gründe verbanden. Er respektierte zwar die Theologie der Logienquelle oder einer ähnlichen Sammlung von Sprüchen Jesu, die in seiner Gemeinde bekannt war. Doch er betrachtete sie als zu einseitig. Deswegen schrieb er ein Buch, in dem er – innerhalb der eigenen, vermutlich von Paulus beeinflussten theologischen Sicht (§ 6.2.7.3) – andere lebendige christliche Traditionen interpretierend aufnahm. So wurde das „Evangelium“ durch Markus über seinen theologisch qualifizierten Inhalt hinaus zu einer eigenständigen biographischen Gattung (§ 6.2.6). Außerhalb der kanonischen Evangelien sind nur sehr vereinzelt Überlieferungen älterer Jesustradition erhalten (§ 6.1.6). 6.1.6

Die anderen Evangelien

Neben den synoptischen Evangelien gibt es weitere Texte, die ebenfalls Jesus-Überlieferungen enthalten. In der Diskussion dieser Texte wurde seit mehr als zwanzig Jahren die weitgehend anerkannte Bedeutung der Zweiquellentheorie durch mehrere Hypothesen in Frage gestellt. Sie alle verbindet die Annahme, dass einige nicht kanonische Evangelien und andere Schriften älter als die kanonischen Evangelien sein können oder zumindest unabhängige Traditionen enthalten, die auch in den kanonischen Evangelien bearbeitet wurden, weshalb sie in der von Kurt Aland herausgegebenen Synopsis Quattuor Evangeliorum mitabgedruckt sind. Die Vertreter dieser Hypothesen befassen sich insbesondere mit den nichtkanonischen Texten der Jesustraditionen, die großenteils erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s zugänglich wurden und durch Presseberichte auch in einer breiteren Öffentlichkeit Aufmerksamkeit fanden.78 Diese Forscher widersprechen der gängigen Ansicht, Texte wie das Petrusevangelium, der Papyrus Egerton oder die Fragmente aus Oxyrhynchos seien von den kanonischen Evangelien abhängig. Methodisch sind einige von ihnen mit umgekehrten Vorzeichen voreingenommen im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der Neutestamentler. Doch unterschätzen sie den in den ältesten christlichen Bekenntnissen dokumentierten Umbruch, den das Ostergeschehen brachte. Die Behandlung dieser Texte wird zeigen, dass die Zweiquellentheorie im Blick auf die synoptischen Evangelien ihre Gültigkeit behält, darüber hinaus aber wohl nur beim Thomasevangelium (§ 6.1.6.1) und den vier Perikopen des Papyrus Egerton (§ 6.1.6.4) vermutlich mit Überlieferungen zu rechnen ist, die von den kanonisierten Evangelien unabhängig sein können. Dennoch müssen wir solche Forscher ernst nehmen, weil sie die Untersuchung der Synoptiker um einige Impulse bereicherten. Auf

78

Vgl. J. Schröter, Jesus im frühen Christentum. Zur neueren Diskussion über kanonisch und apokryph gewordene Evangelien, VuF 51 (2006), 25–41.

352

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

eine interessante Weise drückte die eben erwähnte Tendenz John D. Crossan in seinem Buch über die vier anderen Evangelien aus.79 6.1.6.1

Das Thomasevangelium

 Textausgaben: Johannes Leipoldt, Das Evangelium nach Thomas (TU 101), Berlin 1967; Bentley Layton / Thomas O. Lambdin / Harold W. Attridge / Helmut Koester, The Gospel of Thomas, in: Nag Hammadi Codex II,2–7, Bd. I (NHS 20), Leiden 1989, 38–128; Marvin Meyer, The Gospel of Thomas, San Francisco 1992; K. Aland (Hg.), Synopsis Quattuor Evangeliorum, Stuttgart 151996 (koptisch, deutsch, englisch); Dieter Lührmann, Fragmente apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache (MThSt 59), Marburg 2000, 106–131; Hans-Martin Schenke u. a. (Hg.), Nag Hammadi Deutsch (GCS.NF 8), Berlin u. a. 2001; Uwe-Karsten Plisch, Was nicht in der Bibel steht, Stuttgart 2006.  Kommentare (*), Monographien und Aufsätze: Ernst Haenchen, Die Botschaft des Thomas-Evangeliums, Berlin 1961; *Rudolphe Kasser, L’Évangile selon Thomas, Neuchâtel 1961; Wolfgang Schrage, Das Verhältnis des Thomas-Evangeliums zur synoptischen Tradition und zu den koptischen Evangelienübersetzungen (BZNW 29), Berlin 1964; Claus-Hunno Hunzinger, Unbekannte Gleichnisse Jesu aus dem Thomasevangelium, in: Walther Eltester (Hg.), Judentum – Urchristentum – Kirche (FS Joachim Jeremias) (BZNW 26), Berlin 1964, 209– 220; Oscar Cullmann, Das Thomasevangelium und die Frage nach dem Alter der in ihm erhaltenen Traditionen (1966), zuletzt in: ders., Vorträge und Aufsätze, Tübingen / Zürich 1966, 566–588; James M. Robinson, Lógoi sophṓn, in: ders. / Helmut Koester, Entwicklungslinien (Lit. § 6.1.5), 71–113; Andreas Lindemann, Zur Gleichnisinterpretation im Thomas-Evangelium, ZNW 71 (1980), 214–243; Beate Blatz, Das koptische Thomasevangelium, in: Wilhelm Schneemelcher, NTApo I, 93–113; John D. Crossan, In Parables, San Francisco / London 1973; *Jean-D. Kaestli, L’Évangile de Thomas, ETR 54 (1979), 375–396; Christopher M. Tuckett, Nag Hammadi and the Gospel Tradition, Edinburgh 1986; *Margaretha Lelyveld, Les Logia de la vie dans l’Évangile selon Thomas (NHS 34), Leiden 1987; *Michael Fieger, Das Thomasevangelium: Einleitung, Kommentar und Systematik (NTA 22), Münster 1991; Stephen J. Patterson, The Gospel of Thomas and Jesus, Sonoma, CA 1993; Charles Hedrick, Parables as Poetic Fictions, Peabody, MA 1994; Gregory J. Riley, The Gospel of Thomas in Current Scholarship, Current Research: Biblical Studies 2, 1994, 227–252; *Richard Valantasis, The Gospel of Thomas, London / New York 1997; *Thomas Zöckler, Jesu Lehren im Thomasevangelium (NHMS 47), Leiden 1999; Hans-Josef Klauck, Apokryphe Evangelien (Lit. § 12c), 142–162; Elaine Pagels, Beyond Belief. The Secret Gospel of Thomas, New York 2003; Dieter Lührmann, Die apokryph gewordenen Evangelien. Studien zu neuen Texten und zu neuen Fragen (NT.S 112), Leiden 2004, 144–181; *Reinhard Nordsieck, Das Thomasevangelium, Neukirchen-Vluyn 2004.

Der bedeutendste der vier von Crossan behandelten Texte ist das Thomasevangelium, das aus dem Fund von Nag Hammadi stammt, im Winter 1945/46 entdeckt und mit

79

Vgl. J. D. Crossan, Four Other Gospels, Minneapolis, MN 1985.

6.1 Die synoptische Frage

353

Verspätung veröffentlicht wurde (kopt. peuaggelion pkata Thomas; NHC II,2).80 Es handelt sich um 114 ursprünglich griechische Sprüche Jesu81 in koptischer Übersetzung.82 Etwa die Hälfte hat Parallelen in den kanonischen Evangelien. Die Passionsgeschichte wird nicht erwähnt, genauso wenig wie die Wunder und Exorzismen Jesu. Seine Existenz war bereits früher bekannt, die älteste Erwähnung findet sich bei Hippolyt von Rom († 235).83 Nach seiner Aussage benutzten die Naassener, eine gnostische Gruppe, das Thomasevangelium. Dieser Hinweis bedeutet nicht, dass das Thomasevangelium gnostisch ist. Er besagt nur, dass es von den Gnostikern gelesen wurde. Ein Teil des Thomasevangeliums war schon seit dem Anfang des 20. Jh.s durch Papyrusfragmente aus dem hellenistischen Oxyrhynchos (El Behnesa in Ägypten) bezeugt.84 Da diese Texte paläographisch aus dem 3. Jh. stammen, muss das Thomasevangelium um das Jahr 200 in Oberägypten bekannt gewesen sein. Die späteren Textzeugen finden sich von Ägypten bis nach Turkestan. Es handelt sich also um einen weit verbreiteten Text. Deshalb musste die Sammlung schon seit der Mitte des 2. Jh.s in einer der heute erhaltenen Gestalt ähnlichen Form existieren und kann dasselbe Alter wie die spätesten Schriften des Neuen Testaments (2Petr; § 8.7.3b) haben. Als Abfassungsort wird meist Syrien angenommen. Das Nebeneinander von griechischen Fragmenten und koptischer Version (s. Anm. 81 f.) verrät, dass die Schrift in mehreren Fassungen tradiert und noch lange Zeit durch mündliche Überlieferung beeinflusst wurde. Die Bezeichnung „Evangelium“ (des Thomas) wurde im griechischen Text vermutlich am Ende der schriftlichen Fixierung im 2. Jh. hinzugefügt. Am Textanfang steht eine Überschrift, nach der es sich um „die verborgenen Worte“ handelt, „die der lebendige Jesus sagte und Didymos Judas Thomas aufgeschrieben hat.“ Die Überschrift mit dem Namen Thomas stammt aus einer Periode, in welcher die großen apostolischen Gestalten schon verstorben waren und christliche Lehrer es wagten, bedeutende Texte mit den Namen von Aposteln zu verknüpfen. Eine solche 80 Mit dem Kindheitsevangelium des Thomas (nach 160) hat es nichts gemeinsam (vgl. W. Schneemelcher, NTApo6 I, 349 ff.). 81 Diese Nummerierung ist die am meisten verbreitete. 82 Vgl. die neusten deutschen Übersetzungen vom Berliner Arbeitskreis für KoptischGnostische Schriften (H.-M. Schenke / H.-G. Bethge / U. U. Kaiser [Hrsg.], Nag Hammadi Deutsch, Bd. 1 [GCS 8], Berlin / New York 2001, 151–181 – eine Studienausgabe ist angekündigt) und den koptischen Text mit deutscher und englischer Übersetzung im Anhang von K. Aland (Hg.), Synopsis (Lit. § 12a); vgl. P. Nagel, Die Neuübersetzung des Thomasevangeliums in der Synopsis quattuor Evangeliorum und in Nag Hammadi Deutsch Bd. 1, ZNW 95 (2004), 209–257 und zur Einführung H.-J. Klauck, Apokryphe Evangelien, Stuttgart 2002, 142–162. 83 Hippolyt, Ref. 5,7,20 f.; vgl. Origenes, Luc. hom. 1. 84 Es handelt sich um folgende Texte: Incipit des EvThom bis Log. 7 (POxy. 654); Log. 26–33 + Log. 77,2 (POxy 1); Log. 36–39 (40? praktisch unlesbar; POxy 655).

354

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Namensnennung finden wir bei Matthäus (§ 6.3.5a) und Johannes (§ 7.1.6b), deren Evangelien später kanonisiert wurden, bald danach waren es Thomas, Philippus, Petrus u. a. Ebenso wurden einige neutestamentliche Briefe Johannes, Judas, Petrus und Jakobus zugeordnet (§ 7.1.6b; 8.7.3; 8.8.3). In gleicher Weise verfuhr man bei apokryphen Schriften, die später nicht mehr in den Kanon aufgenommen wurden. Ein Logion (EvThom 12) lobt Jakobus den Gerechten und bezeugt, dass einige Worte ursprünglich auch mit seinem Namen verbunden waren. Das Verhältnis des Thomasevangeliums zu den kanonischen Evangelien wurde ausführlich diskutiert: In der ersten Periode der Erforschung des Thomasevangeliums überwog die Meinung, es handle sich um einen Auszug (cento) aus den kanonischen Evangelien (Ernst Haenchen). Christopher M. Tuckett wies nach, dass mehrere Sprüche des Thomasevangeliums Kombinationen der Sprüche der kanonischen Evangelien sind. Ähnliches gilt nach Wolfgang Schrage auch für die griechischen Fragmente.85 Michael Fiegers Kommentar (1991) baut auf diesen Prämissen auf. Dagegen folgen die Kommentare von Thomas Zöckler (1999) und Reinhard Nordsieck (2004) den Hypothesen von J. M. Robinson und J. S. Kloppenborg, die das Thomasevangelium für älter hielten als die kanonischen Evangelien. Im Grunde lassen die beobachteten Zusammenhänge aber nur den Schluss zu, dass die Redaktoren des Thomasevangeliums, die es am Anfang des 2. Jh.s ungefähr in die uns erhaltene Gestalt brachten, mit den kanonischen Evangelien vertraut waren. Claus-Hunno Hunzinger untersuchte die Gleichnisse und stellte im Thomasevangelium das Fehlen der allegorischen Deutungen fest, die aus den synoptischen Evangelien bekannt sind (bes. beim Gleichnis vom Sämann in Mk 4,13–20). Daraus folgerte er, dass zumindest einige Gleichnisse des Thomasevangeliums unabhängig von den Synoptikern aus der vor- oder außersynoptischen Tradition stammen. Die zur geistigen Deutung neigenden prägnostischen Redaktoren des Thomasevangeliums würden nämlich die allegorischen Interpretationen gerne aufgenommen haben. Auch dass das Thomasevangelium keine Beeinflussung durch die Reihenfolge der Logien bei den Synoptikern erkennen lässt, spricht für einen eigenständigen Überlieferungsstrom. Was an Ähnlichkeiten festgestellt wurde, ist vermutlich in späteren Redaktionsstufen entstanden.

Das Thomasevangelium erweist sich daher als eine Schrift, die in ihrem Grundgehalt eine Auswahl aus dem Material der Tradition bietet, die von den Synoptikern unabhängig ist. Die Analyse des Thomasevangeliums bestätigt also die Hypothese der formgeschichtlichen Schule (§ 6.1.2.1), dass der Rahmen der Evangelien sekundär ist und noch nicht mit der älteren Überlieferung verbunden war.86 Durch die Entdeckung des Thomasevangeliums ist die Zweiquellentheorie (§ 6.1.4.2) also nicht überholt, sondern nur wie folgt zu ergänzen:

85 W. Schrage, Evangelienzitate in Oxyrhynchus-Logien und im koptischen ThomasEvangelium, in: Apophoreta (FS E. Haenchen), Berlin 1964, 251–268. 86 Vgl. K. L. Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu (1919), Darmstadt 1964 (Nachdruck).

6.1 Die synoptische Frage

Mk

Q

Mt

Lk

355

EvThom Direkte Abhängigkeit Sekundäre Beeinflussung Abb. 23: Das Verhältnis des Thomasevangeliums zur synoptischen Tradition

J. M. Robinson machte auf die Analogie des Thomasevangeliums zur Logienquelle aufmerksam (§ 6.1.5.4). Es werden zwar Unterschiede in der Gestaltung des Stoffes sichtbar, dass in der Logienquelle oft eine umfassende Rahmung durch Situationsangaben erfolgt, während im Thomasevangelium die Sprüche durch stereotype Formeln voneinander getrennt sind.87 Aber die Autorität der Sprüche Jesu wurde hier wie dort nicht von ihrer Verbindung zum irdischen Jesus abgeleitet, sondern von seiner gegenwärtigen Autorität als des lebendigen Herrn.88 So war es schon bei Paulus (§ 5.6.2.5b). Selbstverständlich ist der auferstandene Jesus auch in den kanonischen Evangelien von entscheidender Bedeutung. Sie sind aus der Sicht seiner neuen nachösterlichen Gegenwart geschrieben, betonen aber gleichzeitig die Verbindung des Auferstandenen mit dem irdischen Jesus. Diese Rückbindung der Verkündigung und des neuen geistigen Lebens an den irdischen Jesus hat die ganze biographische Struktur der (Unter-)Gattung Evangelium bestimmt (§ 6.2.6; 6.2.6.1). Die Überschrift im Text des Thomasevangeliums betont hingegen, dass es Worte des lebendigen Jesus sind.

87 Vgl. H.-M. Schenke, On the Compositional History of the Gospel of Thomas, The Institute for Antiquity and Christianity. The Claremont Graduate School – Occasional Papers 40 (Dez. 1998). Schenke versucht, die Eigentümlichkeiten des Thomasevangeliums, die an einigen Stellen den Eindruck etwas primitiver Exzerpta machen, durch die Hypothese zu erklären, dass das Thomasevangelium eigentlich aus den Büchern des Papias von Hierapolis über die Deutung der Worte des Herrn exzerpiert ist. 88 Für ein solches Vorgehen gibt es Parallelen auch bei Paulus: „Denn ich habe (sc. durch eine in der Gemeinde überlieferte Jesustradition) von dem Herrn (d. h. dem erhöhten Kyrios; § 5.6.1.3) empfangen, was ich euch weitergegeben habe …“ sagt der Apostel, der den irdischen Jesus persönlich nicht gekannt hat, im Blick auf die Einsetzung des Herrnmahls (1Kor 11,23a; § 5.6.2.3). Auch die Anrede Gottes als „Vater“, die von der alten Jesustradition abzuleiten ist, sieht Paulus nicht als das Erbe des irdischen Jesus an, sondern als nachösterliche Gabe des Geistes (vgl. aram. Abba in Mk 14,36 mit Gal 4,6; Röm 8,15 f.; § 5.6.1.2).

356

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Diesen Hinweis auf Jesus als den Lebendigen versteht J. M. Robinson im Sinn einer Jesustradition, in der Jesus nach seiner Kreuzigung in einer Offenbarung den Jüngern als Lichtgestalt vorgestellt wird. Dieses Motiv sei schon in der Pistisformel (1Kor 15,5; § 5.6.2.1) in dem Wort „ṓphthē“ (er erschien) enthalten und in der Tradition der Verklärung anschaulich beschrieben (Mk 9,2 f.; 2Petr 1,16 f.).89 Andere Belege solcher Traditionen bieten die Beauftragungsvision in Apk 1,13–16, das Petrusevangelium (§ 6.1.6.2) sowie weitere spätere Texte. Theologisch soll es sich um einen Strom handeln, in dem die Spannung zwischen dem Tod und der Auferstehung Jesu in den Hintergrund tritt und der Nachdruck auf eine mystische Glorifizierung seiner ständig gültigen Weisheit gelegt wird. In diesen Traditionsstrom gehören nach dieser These nicht zuletzt Spruchsammlungen wie die Logienquelle, das Thomasevangelium und andere kleinere Zusammenstellungen, die sonst im Rahmen der Evangelien erhalten sind, z. B. die vormarkinische Sammlung der Gleichnisse (Mk 4,1–34). Ihre literarischen Entfaltungen sind die erwähnten nachösterlichen Gespräche mit Jesus. Als mögliches Modell für die literarische Gestaltung der Jesustradition muss diese Theorie ernst genommen werden. Doch sie fordert auch zum Widerspruch heraus, denn der Hinweis auf Jesus als den Lebendigen bezeichnet die folgenden Sprüche nicht als eine neue Offenbarung, die sich einer nachösterlichen Erscheinung des Auferstandenen verdankt. Vielmehr bekräftigt die Berufung auf den Erhöhten die Aktualität dieser Worte aus den Erdentagen Jesu, weil er gegenwärtig lebt. Strittig ist außerdem die Behauptung, das Thomasevangelium repräsentiere nicht nur eine alte christliche literarische Gattung, die mit der mündlichen Tradition noch eng verbunden ist, sondern auch ihre ursprüngliche Theologie: die Präsentation des Reiches Gottes als alternatives Bild der Gesellschaft.90 Erst Paulus habe die österliche apokalyptische Orientierung des Christentums durchgesetzt.91 Die für das Thomasevangelium charakteristische gemäßigte Askese, der Abstand von den gesellschaftlichen Strukturen, die präsentische Eschatologie und die Tendenz zur platonisierenden Deutung des Schrift92 müssten dann direkt von der ältesten Jesusüberlieferung abgeleitet werden. Die Gegenwärtigkeitsdimension des Reiches Gottes ist in der Logienquelle in der Tat nicht zu leugnen (Lk 11,20 Q; 17,21), aber gleichzeitig ist das Reich Gottes auch in deren ältester Schicht schon eine apokalyptische Größe (§ 6.1.5.3). Daher müssen wir sowohl Sprüche mit einem präsentischen Inhalt als auch mit einer eschatologischen Perspektive zur ältesten Schicht des Thomasevangeliums rechnen.93 Einige wurden mit Aussagen über die bedeutenden Repräsentanten der apostolischen Generation wie Jakobus, Petrus, Matthäus und Thomas verbunden (EvThom 12 f.). Erst dann kamen die platoni-

89 Vgl. J. M. Robinson, Jesus from Easter to Valentinus (or to the Apostolic Creed), JBL 101 (1982), 5–37. Auf die alternativen Traditionen des frühen Christentums machte schon W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (BHTh 10), Tübingen 1934, aufmerksam. 90 Vgl. J. D. Crossan, Der historische Jesus, München 21995 (DÜ), 378 f. u. a. 91 So z. B. B. L. Mack, A Myth of Innocence (s.o. Anm. 65), Kap. 4. 92 R. Doran, A Complex of Parables: GTh 96–98, NT 29 (1987), 347–352, vgl. R. Valantasis, M. Lelyveld u. a. 93 Vgl. die Logien 25.32–36.39.47.57–58.63–64.76.82.95–96.102 und evtl. noch weitere.

6.1 Die synoptische Frage

357

sierenden Logien94 hinzu, die eine später ständig anwachsende und von den Gnostikern übernommene Tendenz widerspiegeln.95

6.1.6.2

Das Petrusevangelium

 Textausgaben (*): *Erich Klostermann, Apocrypha I (KlT 3), Bonn 31933, 3–8; Jürgen Denker, Die theologiegeschichtliche Stellung des Petrusevangeliums (EHS.T 36), Bern 1975; *Albert Fuchs, Das Petrusevangelium (SNTU.B 12), Linz 1978; *Antonio de Santos Otero, Los Evangelios Apócrifos (BAC 148), Madrid 41984, 375–393; Raymond E. Brown, The Gospel of Peter and Canonical Gospel Priority, NTS 33 (1987), 321–343; Christian Maurer / Wilhelm Schneemelcher, Petrusevangelium, in: Wilhelm Schneemelcher, NTApo I, 180–188; Joel B. Green, The Gospel of Peter: Source for a Pre-Canonical Passion Narrative?, ZNW 78 (1987), 293–301; James H. Charlesworth / Craig A. Evans, Jesus in the Agrapha and Apocryphal Gospels, in: Bruce Chilton / Craig A. Evans, Studying the Historical Jesus, Leiden 1994, 479–533, dort 503–514; *Dieter Lührmann, Fragmente (Lit. § 6.1.6.1), 72–95; Dieter Lührmann, Petrus als Evangelist – ein bemerkenswertes Ostrakon, NT 43 (2001), 348–367; Hans-Josef Klauck, Apokryphe Evangelien (Lit. § 12c), 110–118; Dieter Lührmann, Studien (Lit. § 6.1.6.1), 55–104; *Thomas J. Kraus / Tobias Nicklas, Das Petrusevangelium und die Petrusapokalypse. Die griechischen Fragmente mit deutscher und englischer Übersetzung (GCS. NF 11), Berlin u. a. 2004.

Zu den Texten, die in jüngster Zeit potentiell als Dokumente ältester christlicher Tradition angesehen werden, gehört auch das Petrusevangelium.96 Frühchristliche Autoren wie Origenes († 254) und Euseb (265–339 n. Chr.; h.e. 6,12,3–6) erwähnen es bereits. Ein Fragment der Passionsgeschichte mit einer Schilderung der Auferstehung Christi wurde Ende des 19. Jh.s in Ägypten gefunden. Die Annahme einer Frühdatierung erregte jedoch Widerspruch. Jürgen Denker formulierte 1975 die These, dass es sich um einen von den Synoptikern unabhängigen Text handle, und fand mit dieser Ansicht einige Nachfolger.97 Wenige Jahre später publizierte J. D. Crossan sein Buch über vier andere Evangelien (s. Anm. 79), in dem er das Petrusevangelium für ein unabhängiges Zeugnis einer alten christlichen Tradition hält. Die Schilderung der Auferstehung Jesu, die in den kanonischen Texten nicht vorkommt, erweckt den Anschein der Ursprünglichkeit und kann als Wiedergabe eines Erlebnisses gedeutet werden. Auch auf das Alte Testament beziehen sich zahlreiche Anspielungen, aber keine direkten

94

Vgl. etwa Log. 7.22.42.50.56.60.80.97 oder 111. Ein ausgewogenes, allerdings gegenüber der historischen Verbindung zwischen Jesus und dem Thomasevangelium ausgesprochen kritisches Bild bieten J. Schröter, Erinnerung an Jesu Worte, bes. 140–143, oder E. Rau, Jesus – Freund von Zöllnern und Sündern, Stuttgart 2000, 80 ff. 96 Vgl. W. Schneemelcher, NTApo6 I, 180 ff. und zur Einführung H.-J. Klauck, Apokryphe Evangelien (s. Anm. 82), 110–118. 97 Vgl. die Übersicht bei H. Köster, Überlieferung und Geschichte der frühchristlichen Evangelienliteratur, ANRW II,25,2, 1463–1542, dort 1488. 95

358

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Zitate, wie es unter den christlichen Schriftstellern der zweiten und dritten Generation üblich gewesen wäre. Deshalb sprechen die Vertreter der Frühdatierung des Petrusevangeliums von einem Dokument der ältesten Tradition, auf das der Verfasser des Markusevangeliums wegen seiner Kreuzestheologie bewusst verzichtet habe. Eine nähere Prüfung der Kriterien, nach welchen die historische Einordnung (Stratifikation) vorgenommen wurde, führte allerdings zu skeptischeren Schlüssen. Raymond E. Brown zeigte, dass für das Petrusevangelium dieselbe Beobachtung gilt, die man schon früher durch einen Vergleich mit anderen, relativ gut datierbaren Texten gemacht hatte: Die Zunahme gegenständlicher Schilderung, das Aufzählen unvoreingenommener Zeugen und pittoreske Wundermotive sprechen eher für eine sekundäre Entfaltung der Tradition. Die Annahme einer späteren Entstehung wird auch dadurch gestützt, dass sich in den synoptischen Evangelien ein Einfluss des Petrusevangeliums nicht nachweisen lässt.

Diese Einwände gegen eine Frühdatierung besagen nicht, dass das Petrusevangelium nur eine Kombination von synoptischen Erzählungen und frei erdachten Wundermotiven ist. Wahrscheinlich wurden einige Traditionen bearbeitet, die die Intensität der Ostererfahrung, dass Jesus lebt, indirekt widerspiegeln. Die literarische Verarbeitung jener Urerfahrung in dem fragmentarisch erhaltenen Text und auch die theologische Verwandtschaft mit einigen gnostischen Texten aus dem 2. Jh. sprechen allerdings dafür, dass wir es hier mit einer späteren Darstellung der berichteten Erlebnisse zu tun haben, die im Stile der Epiphaniegeschichten nacherzählt wurden. Falls das Petrusevangelium aus älteren Traditionen entstanden sein sollte, sind diese schon kaum mehr rekonstruierbar. Dies gilt auch für den Kreuzigungsbericht, der manchmal als ein älterer Teil des Petrusevangeliums angesehen wird.98 6.1.6.3

Das Geheime Markusevangelium

 Textausgaben (*): *Morton Smith, Clement of Alexandria and a Secret Gospel of Mark, Cambridge, MS 1973; *Helmut Merkel, Auf den Spuren des Urmarkus? Ein neuer Fund und seine Beurteilung, ZThK 71 (1974), 123–144; Morton Smith, Merkel on the Longer Text of Mark, ZThK 72 (1975), 133–150; Helmut Merkel, Anhang: Das „geheime Evangelium“ nach Markus, in: Wilhelm Schneemelcher, NTApo I, 89–92 (dort weitere Lit.); Charles W. Hedrick, Secret Mark – New Photographs, New Witnesses, in: The Fourth R, 13 (2000), 3–16; *Dieter Lührmann, Fragmente (Lit. § 6.1.6.1), 182–185; Hans-Josef Klauck, Apokryphe Evangelien (Lit. § 12c), 48–52; Eckhard Rau, Das geheime Markusevangelium, Neukirchen-Vluyn 2003; Stephen C. Carlson, The Gospel Hoax: Morton Smith‘s Invention of Secret Mark, Waco TX 2005.

Zu den Zeugen der alten nichtkanonischen Tradition über Jesus zählt J. D. Crossan auch das sog. Geheime Markusevangelium.99 Dieser Text ist eine Ergänzung des

98

Vgl. J. D. Crossan, Der historische Jesus, 594 ff. Vgl. die Übersetzung bei W. Schneemelcher, NTApo6 I, 89–92 und zur Einführung H.J. Klauck, Apokryphe Evangelien (s. Anm. 82), 48–52. 99

6.1 Die synoptische Frage

359

Markusevangeliums, die angeblich zu seiner ursprünglichen geheimen Fassung gehörte. Der amerikanische Religionshistoriker Morton Smith fand den Text 1958 in einer neuzeitlichen Abschrift eines bisher unbekannten Briefes des Clemens von Alexandrien († 215) im griechisch-orthodoxen Kloster Mar Saba in der Nähe von Jerusalem.10 0 Der Text enthält einen Abschnitt, der zwischen Mk 10,34 und 35 eingefügt gewesen sein soll. Dort wird von der Auferweckung eines reichen jungen Mannes erzählt, der dann von Jesus auf geheime Art und Weise eingeweiht wurde. Zu seiner Weihe gehörte auch die Beauftragung, vielleicht eine geistige Taufe. Der Jüngling kam nachts zu Jesus, nur mit einem Hemd auf dem bloßen Leib bekleidet. M. Smith meinte, dass es sich um die Übersetzung eines aramäischen Originals handle – des Vorgängers der Synoptiker. Die aus der Sicht späterer kirchlicher Moral strittigen Züge der Perikope sollen zur Beseitigung dieses Abschnitts aus dem Markusevangelium geführt haben. Aufgrund einer eingehenden Analyse weist Stephen C. Carlson nach, dass das Geheime Markusevangelium eine Fälschung ist, die vermutlich M. Smith vorgenommen hat. Selbst wenn der Brief authentisch wäre, was strittig ist, könnte es sich um eine Kombination der Perikope von der Erweckung des Lazarus (Joh 11) mit Motiven der synoptischen Evangelien handeln. Das Schriftstück wäre dann in der Absicht entstanden, die gnostischen Lehren in der Kirche zu legitimieren. Dafür spricht der Brief, in dessen Rahmen der Text vorkommt. Clemens von Alexandrien versucht dort, Authentisches von weiteren, in einigen Handschriften des Markusevangeliums vorkommenden gnostischen Einschüben zu unterscheiden.

Falls es sich beim Geheimen Markusevangelium nicht um eine Fälschung handelt, wäre es ein interessantes Zeugnis für die Geschichte der Christenheit des 2. Jh.s. 6.1.6.4

Papyrus Egerton 2

 Textausgaben (*): *H. Idris Bell / T. C. Skeat, Fragments of an Unknown Gospel and Other Early Christian Papyri, London 1935; Goro Mayeda, Das Leben-Jesu-Fragment Papyrus Egerton 2, Bern 1946; Joachim Jeremias / Wilhelm Schneemelcher, Papyrus Egerton 2, in: W. Schneemelcher, NTApo I, 82–85; Helmut Köster, Überlieferung und Geschichte der frühchristlichen Evangelienliteratur, ANRW II,25,2, Berlin 1984, 1463–1542, dort 1488–1490; Dieter Lührmann, Das neue Fragment des P. Egerton 2 (PKöln 255), in: The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck III), Leuven 1992, 2239–2255; James H. Charlesworth / Craig A. Evans, Jesus in the Agrapha and Apocryphal Gospels (Lit. § 6.1.6.2); *Kurt Erlemann, Papyrus Egerton 2: „Missing Link“ zwischen synoptischer und johanneischer Tradition, NTS 42 (1996), 12–34; Enrico Norelli, Le papyrus Egerton 2 et sa localisation dans la tradition sur Jésus, in: D. Marguerat / ders. / J. M. Poffet (Hg.), Jesus de Nazareth, Genf 1998, 397–435; Theo K. Heckel, Evangelium (Lit. § 3), 300–308; *Dieter Lührmann, Fragmente (Lit. § 6.1.6.1), 142–153; HansJosef Klauck, Apokryphe Evangelien (Lit. § 12c), 36–40; Dieter Lührmann, Studien (Lit. § 6.1.6.1), 125–143.

10 0

Vgl. E. Rau, Das geheime Markusevangelium, Neukirchen-Vluyn 2003.

360

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Als der Papyrus Egerton 1935 publiziert wurde,101 erweckte er große Aufmerksamkeit. Die drei Fragmente jenes Kodex, von denen nur zwei einen lesbaren Text enthalten, datierte man in die Mitte des 2. Jh.s. Damit handelte es sich um ein Dokument, das älter war als alle erhaltenen Abschriften der kanonischen Texte vergleichbaren Umfangs. Wenig Aufregung verursachte 1987 die Entdeckung des Papyrus Köln Nr. 255 (M. Gronewald), der nur die unteren Zeilen des Papyrus Egerton wiedergibt. Die paläographische Analyse verschob das Entstehungsdatum des Manuskripts auf die Wende vom 2. zum 3. Jh. Dennoch ist der Papyrus Egerton ein alter Text, der die Beantwortung der synoptischen Frage beeinflussen könnte. Der beschädigte Text besteht aus vier Perikopen. Die erste ist ein Streitgespräch mit gesetzeskundigen Juden, in dem Jesus für seinen Auftrag auch die Autorität des Mose beansprucht. Sie endet mit einem Versuch, Jesus zu steinigen. Die Disputation hat eine Parallele in Joh 5,39–47. Die zweite Perikope erzählt die Heilung eines Aussätzigen, der durch die Tischgemeinschaft mit kultisch unreinen Aussätzigen krank wurde. Nach der Heilung schickt Jesus ihn dem mosaischen Gesetz entsprechend zur kultischen Reinigung (vgl. Mk 1,40–44). Der dritte Abschnitt ist eine Variante der Zinsgroschen-Frage, die aus Mk 12,13–17 und EvThom 100 bekannt ist. Jesus beantwortet die ihm gestellte Frage nicht, er reagiert nur mit einer Warnung. Das letzte Textstück betrifft eine bisher unbekannte Wundergeschichte, die am Ufer des Jordans stattfindet. Damit enthält der Papyrus Egerton zwei „synoptische“ Perikopen, eine „johanneische“ und eine bisher unbekannte Passage. Zunächst überwog die Meinung, es handle sich um eine Nachahmung der kanonischen Evangelien. Der Japaner Goro Mayeda widmete sein Lebenswerk dem Nachweis der Unabhängigkeit dieses Papyrus von den kanonischen Evangelien. Erst in der neueren Forschung vertreten Helmut Koester, John D. Crossan und andere die Meinung, es sei eine vorjohanneische Schrift. So wird in dem Papyrustext z. B. von der „Stunde der Auslieferung“ (hṓra tḗs paradóseōs) gesprochen. Diese Wendung erinnert an die „Stunde“, die in Joh 7,30 u. ö. ein Terminus technicus für die Kreuzigung und Erhöhung Jesu ist (§ 7.1.1.1). Auch in der zweiten Perikope von der Heilung des Aussätzigen fehlen im Vergleich mit Mk 1,40–44 einige markinische Züge (z. B. die Proskynese vor Jesus und das markinische Schweigegebot). Diese Beobachtungen sprechen gegen die Abhängigkeit von den Synoptikern und für die Möglichkeit einer unabhängigen Nacherzählung ähnlicher Traditionen. In der dritten Perikope erscheint die Steuerfrage: „Ist es zulässig, den Königen die der Obrigkeit zukommenden Gebühren zu entrichten?“102 Doch ist die allgemeine Formulierung im Blick auf die Datierung doppeldeutig: Sie kann eine spätere Verallgemeinerung der Frage sein, sie kann aber auch ihre ursprüngliche radikale Gestalt repräsentieren.

Jedenfalls kann nicht nachgewiesen werden, dass der Papyrus Egerton ein Auszug aus den kanonischen Evangelien ist, da die wörtlichen Übereinstimmungen gering 101 Vgl. J. Jeremias / W. Schneemelcher, NTApo6 I, 82–85 und zur Einführung H.-J. Klauck, Apokryphe Evangelien (s. Anm. 82), 36–40 (mit Abbildung auf dem Umschlag). 102 Übersetzung von J. Jeremias und W. Schneemelcher (s. Anm. 101).

6.1 Die synoptische Frage

361

sind und keine Harmonisierung des Texts vorliegt. Es könnten also alte Überlieferungen enthalten sein. Um die innere Spannung zwischen der antijüdischen Polemik und den biblischen Argumenten zu erklären, legte Kurt Erlemann eine sehr plausible Deutung vor: Seiner Meinung nach handelt es sich um die Jesustradition einer judenchristlichen Gruppe, die sich gegen den Druck der Synagoge durch die Berufung auf das Gesetz und auf Mose verteidigt.103 Es ist wenig wahrscheinlich, dass der Papyrus Egerton als Fragment aus einem umfangreichen Text wie z. B. den Evangelien stammt. Die Vermutung, dieser Papyrus sei ein Teil des Petrusevangeliums, bleibt hypothetisch. Eine Parallele wurde unter den anderen Evangelienfragmenten nicht gefunden. Es handelt sich also offensichtlich um eine kleine Sammlung von Erzählungen über Jesus (E. Norelli), die in Disputationen mit Juden benutzt werden konnten und zu diesem Zweck nacherzählt bzw. schriftlich fixiert wurden. Wegen der johanneischen Bezüge ist die Herkunft des Papyrus im Umkreis von Gruppen zu suchen, die sich in einem ähnlichen Milieu befanden wie der Verfasser des Johannesevangeliums. Seine Entstehung ist etwa in den letzten zwanzig Jahren des 1. Jh.s zu vermuten. Kurzum: Der Papyrus Egerton ist ein bedeutendes Dokument des Judenchristentums, das gleichzeitig die Ausweglosigkeit dieser Position dokumentiert. Außerdem stellt es einen Beleg für die mögliche Transformation von Einzelstücken der Tradition dar, die den Tendenzen mündlicher Überlieferung entsprechen. Im Unterschied zur Formgeschichte (§ 6.1.2.1) hat die Analyse des Papyrus Egerton gezeigt, dass die Tradition schon vor und außerhalb der Evangelien schriftlich fixiert und in kleineren Sammlungen rhetorisch gestaltet wurde. 6.1.6.5

Andere apokryphe Evangelien

Sobald ein Modell gefunden wird, das die Anfänge der Jesusüberlieferung zu erhellen vermag, kann es unter Umständen auch zur Deutung anderer nicht-kanonischer Bruchstücke der Evangelien beitragen.104 Bisher ist deren Zuordnung aber so unsicher, dass sie bei der Klärung der Überlieferungsverhältnisse kaum weiterhelfen. Dies gilt z. B. für den Oxyrhynchos-Papyrus Nr. 840 aus dem 4. oder 5. Jh., der ein Gespräch über die kultische Reinheit wiedergibt. Er wurde in einem kleinen Format abgeschrieben, wahrscheinlich als Teil eines Amuletts.105 Auch hier kann es sich um eine schriftlich bearbei-

103

Vgl. K. Erlemann, Pap. Egerton, 28 ff. Vgl. zur Einführung H.-J. Klauck, Apokryphe Evangelien (s. Anm. 82), 35–52. 105 Der Text ist abgedruckt in K. Aland, Synopsis (Lit. § 12a), 219, mit Übersetzung bei D. Lührmann, Fragmente apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache (MThSt 59), Marburg 2000, 164 ff. (vgl. die detaillierte Besprechung von Th. J. Kraus, ZAC 8 [2004], 129–137; vgl. auch W. Schneemelcher, NTApo6 I, 81 f.). 104

362

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

tete Variante der Perikope über die Reinheit (Mk 7,1–23) handeln, die nicht Bruchstück eines verlorenen Evangeliums ist. Bedeutend ist der Oxyrhynchos-Papyrus Nr. 1224 (4. Jh.), der die Überreste eines Papyrusbuchs bewahrt. Er berichtet auf 10 Zeilen von einem Streit Jesu über die Tischgemeinschaft mit Sündern (eine Parallele zu Mk 2,16–17) und tradiert eine Variante der Aufforderung zum Gebet für die Feinde (Lk 6,27 f. Q).106 Beide Teile stellen wichtige Motive der Jesusüberlieferung dar, deren gelegentliche Fixierung gut nachvollziehbar ist. Das Fajjumfragment (auch Vindobonensis [aus Wien] genannt; 3. Jh.) enthält ein Bruchstück der Passionsgeschichte (eine Parallele zu Mk 14,27–30).107 Ob es sich um eine gekürzte Wiedergabe des markinischen Texts oder um eine Vorstufe desselben handelt, kann wegen der Kürze des Fragments nicht entschieden werden. Das Ägypterevangelium, von dem nur Zitate aus einem kurzen Dialog über die geschlechtliche Enthaltsam keit bei Clemens von Alexandrien († 215) überliefert sind,108 könnte unabhängig von den Synoptikern entstanden sein.109 Wahrscheinlich wurde es später, in der ersten Hälfte des 2. Jh.s geschrieben.110 Wir wissen allerdings nicht, ob es ein Evangelium synoptischer Art oder ein Gespräch mit dem Auferstandenen wiedergibt.111

Die restlichen apokryphen Evangelien sind für die Rekonstruktion der Anfänge der Evangelientradition ohne größere Bedeutung. Wir erwähnen noch das in koptischer Sprache vorliegende, neu rekonstruierte Evangelium des Erlösers, das auch das „Unbekannte Berliner Evangelium“ (UBE)112 oder besser „Berliner

106

Ebd., 63.84.248 (mit Übersetzung bei D. Lührmann, a.a.O., 170 ff.; vgl. NTApo6 I,

85 f.). 107

Ebd., 444 (mit Übersetzung bei D. Lührmann, a.a.O., 80 f.; vgl. NTApo6 I, 87). Text und Übersetzung D. Lührmann, a.a.O., 25 ff. (vgl. NTApo6 I, 174–179). 109 Gegen W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (BHTh 10), Tübingen 1934, 54 ff. 110 Gegen J. D. Crossan, Der historische Jesus, 565. 111 Dieses Ägypter-Evangelium darf nicht mit dem „Ägyptischen Evangelium“ verwechselt werden. Als letzteres benannte ein Schreiber den gnostischen Traktat „Das heilige Buch des Großen unsichtbaren Geistes“ aus Nag Hammadi (NHC III,2 und IV,2). 112 Ch. W. Hedrick, Gospel of the Savior, Santa Rosa, CA 1999 (Textausgabe mit Kommentar und Übersetzung); H.-M. Schenke, Das sogenannte „Unbekannte Berliner Evangelium“ (UBE), ZAC 2 (1998), 199–213. Nachdem es St. Emmel, The Recently Published Gospel of the Savior („Unbekanntes Berliner Evangelium“): Righting the Order of Pages and Events, HTR 95 (2002), 45–72, gelungen ist, die ursprüngliche Reihenfolge der Fragmente zu erkennen, hat U.-K. Plisch auf dieser gesicherten Basis eine neue deutsche Übersetzung erarbeitet: Verborgene Worte Jesu – verworfene Evangelien. Apokryphe Schriften des frühen Christentums, Berlin 2000, 27–34; vgl. jetzt auch die Übersetzung bei P. Nagel, „Gespräche Jesu mit seinen Jüngern vor der Auferstehung“ – zur Herkunft und Datierung des „Unbekannten Berliner Evangeliums“, ZNW 94 (2003), 215–257, hier 248–257; vgl. U.-K. Plisch, Zu einigen Einleitungsfragen des Unbekannten Berliner Evangeliums (UBE), ZAC 9 (2005), 64–84; U.-K. Plisch, Was nicht in der Bibel steht, Stuttgart 2006. 108

6.2 Das Markusevangelium

363

Evangelienfragment“113 genannt wird. Dieser Text scheint zwar von Matthäus und Johannes beeinflusst zu sein, doch stellt er zugleich ein Zwischenglied zwischen den Evangelien kanonischer Art und der eben erwähnten „nachösterlichen“ Gruppe dar. Ein langer Dialog spielt sich zwischen Jesus und seinen Jüngern auf dem Berg der Verklärung ab. Partielle Übereinstimmungen gibt es mit dem seit 1889 bekannten Straßburger koptischen Papyrusfragment.114 Im Frühjahr 2006 machte ein neu gefundenes Judasevangelium Schlagzeilen, dessen koptischer Text in den 80-er Jahren des letzten Jahrhunderts von Antiquitätenhändlern in Kairo zum Kauf angeboten wurde, sich seit 2002 im Besitz der Maecenas-Stiftung in Basel befindet und durch den Genfer Koptologen Rodolphe Kasser veröffentlicht wurde.115 Der Papyruskodex stammt aus dem 4. oder 5. Jh. und enthält neben dem Judasevangelium noch den „Brief des Petrus an Philippus“ und die „Apokalypse des Jakobus“, die beide aus den gnostischen Schriften von Nag Hammadi bekannt sind. Da das Judasevangelium bei Irenäus von Lyon um 180 n. Chr. erwähnt wird (haer. I,31,1), muss es bereits in der Mitte des 2. Jh.s entstanden sein. Es handelt sich um ein Dokument gnostischen Denkens aus nachneutestamentlicher Zeit, nicht um ein Zeugnis alter Jesusüberlieferung.

Zuletzt seien noch die einzelnen, weit verbreiteten Sprüche Jesu genannt, die dem irdischen Jesus zugerechnet werden, aber nicht in den kanonischen Evangelien überliefert sind, sog. Agrapha (die „Ungeschriebenen“), d. h. Worte, die nicht in den kanonischen Evangelien aufgeschrieben wurden. Ein solches Logion (Agraphon) ist z. B. das nicht ganz verständliche Wort von dem Menschen, der am Sabbat arbeitet, das der Codex Bezae (D) zwischen Lk 6,4 und 5 anführt. Von den Hunderten nichtkanonischer Sprüche Jesu gehören nur ganz wenige zur ältesten Jesustradition.116 Für uns ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, dass die Agrapha als kleinste Einheiten das Weiterleben der Jesustradition dokumentieren.

6.2

Das Markusevangelium

 Kommentare: Ernst Lohmeyer, KEK I,2, 1968; Vincent Taylor, The Gospel according to St. Mark, London 1953; Walter Grundmann, ThHK 2, 101989; Eduard Schweizer, NTD 1, 7 1989; Rudolf Pesch, HThK II,1–2 (1976–1977), 51989. 41991; Joachim Gnilka, EKK II,1–2, 1978–1979; Walter Schmithals, ÖTK 2,1–2, 1979; Josef Ernst, RNT, 1981; Christopher S. Mann, AncB 27, 1986; Dieter Lührmann, HNT 3, 1987; Morna D. Hooker, BNTC, 1991;

113 So J. Frey, Leidenskampf und Himmelsreise. Das Berliner Evangelienfragment (Papyrus Berolinensis 22220), BZ 46 (2002), 71–96, hier 73–75, daran anschließend P. Nagel, Herkunft (s. Anm. 112), 215; H.-J. Klauck, Apokryphe Evangelien (s. Anm. 82), 42–48, hier 43. 114 P. Nagel, Herkunft (s. Anm. 112), 217–223 (vgl. W. Schneemelcher, NTApo6 I, 87– 89). 115 Vgl. Das Evangelium des Judas, hg. v. R. Kasser / M. Meyer / G. Wurst, Wiesbaden 2006; U.-K.Plisch, Was nicht in der Bibel steht, Stuttgart 2006. 116 Vgl. O. Hofius, Versprengte Herrenworte, in: W. Schneemelcher, NTApo6 I, 76–79; H.-J. Klauck, Apokryphe Evangelien (s. Anm.82), 16–33.

364

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Robert H. Gundry, Mark, Grand Rapids 1993; William L. Telford, NIGTC, 1996; Paul Lamarche, Évangile de Marc (ÉB 33), Paris 1996; Bas M. F. van Iersel, Mark (JSNTS 164), 1998; Richard T. France, NIGTC 2002.  Monographien und Aufsätze: William Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien (1901), Göttingen 41969; Willi Marxsen, Der Evangelist Markus (FRLANT 67), Göttingen 2 1959; Etienne Trocmé, La Formation de l’Évangile selon Marc, Paris 1953; Philipp Vielhauer, Erwägungen zur Christologie des Markusevangeliums, in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament (TB 31), München 1965, 199–214; Jürgen Roloff, Das Markusevangelium als Geschichtsschreibung, EvTh 27 (1969), 73–93; Heinz Wolfgang Kuhn, Ältere Sammlungen im Markusevangelium (SUNT 8), Göttingen 1970; Karl Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium (StANT 23), München 1970; Maurits Sabbe (Hg.), L’Évangile selon Marc (BEThL 34), Leuven 1974; Dan O. Via, Kerygma and Comedy in the New Testament, Philadelphia 1975; Dietrich A. Koch, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums (BZNW 32), Berlin 1975; Heikki Räisänen, Das „Messiasgeheimnis“ im Markusevangelium, Helsinki 1976 (engl. neu bearbeitet: Edinburgh 1990); Petr Pokorný, Anfang des Evangeliums. Zum Problem des Anfangs und des Schlusses des Markusevangeliums (1977), zuletzt in: ders. / Josef B. Souček, Bibelauslegung als Theologie (Lit. § 2.1.3), 237–253; Heinrich Baarlink, Anfängliches Evangelium, Kampen 1977; Rudolf Pesch (Hg.), Das Markusevangelium (WdF 411), Damstadt 1979; Martin Hengel, Probleme des Markusevangeliums, in: Peter Stuhlmacher (Hg.), Evangelium (Lit. § 3), 221–265; Jack D. Kingsbury, The Christology of Mark’s Gospel, Philadelphia 1983; M. Eugene Boring, Truly Human / Truly Divine. Christological Language and the Gospel Form, St.Louis, MS 1984; Hubert Cancik (Hg.), Markus-Philologie (WUNT 33), Tübingen 1984, darin bes. Martin Hengel, Entstehungszeit und Situation des Markusevangeliums, 1–45; Petr Pokorný, Das Markus-Evangelium. Literarische und theologische Einleitung mit Forschungsbericht, ANRW 25.3, Berlin 1984, 1969–2035; Gottfried Rau, Das Markus-Evangelium. Komposition und Intention, ebd. 2036–2257; Vernon K. Robbins, Jesus the Teacher. A Socio-Rhetorical Interpretation of Mark, Philadelphia, PA 1984; Cilliers Breytenbach, Nachfolge und Zukunftserwartung bei Markus (AThANT 71), Zürich 1984; Ferdinand Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums. Methodische Neuansätze in der Markusforschung (SBS 118–119), Stuttgart 1985; Thomas Söding, Glaube bei Markus (SBB 12), Stuttgart 1985; J. Lee Magness, Sense and Absence. Structure and Suspension in the Ending of Mark’s Gospel (SBL.SS), Atlanta, GA 1987; Hubert Frankemölle, Evangelium – Begriff und Gattung. Ein Forschungsbericht (SBB 15), Stuttgart 21994; Burton L. Mack, The Myth of Innocence. Mark and Christian Origins, Philadelphia 1988; Sharyn E. Dowd, Prayer, Power, and the Problem of Suffering (SBL.DS 105), Atlanta, GA 1988; Ludger Schenke, Das Markusevangelium (UB), Stuttgart etc. 1988; Ernst Best, Mark. The Gospel as Story, Edinburgh 1988 (Nachdruck); James M. Robinson, Messiasgeheimnis und Geschichtsverständnis. Zur Gattungsgeschichte des Markusevangeliums (TB 81), München 1989; ders., Grundzüge markinischer Gottessohn-Christologie, in: ders. / H. Paulsen (Hg.), Anfänge der Christologie (FS Ferdinand Hahn), Göttingen 1991, 169–184; Folkert Fendler, Studien zum Markusevangelium (GTA 49), Göttingen 1991; Klaus Scholtissek, Die Vollmacht Jesu (NTA 25), Münster 1992; Thomas Söding (Hg.), Der Evangelist als Theologe. Studien zum Markusevangelium (SBS 163), Stuttgart 1995; William R. Telford (Hg.), The Interpretation of Mark, Edinburgh 1995; Hans-Josef Klauck, Vorspiel im Himmel? Markus (BThSt 32), Neukirchen 1997; Dirk Frickenschmidt, Das Evangelium als Biographie (TANZ 22), Tübingen / Basel 1997; Brenda D. Schildgen, Crisis and Continuity. Time in the Gospel of

6.2 Das Markusevangelium

365

Mark (JSNT SS 159), Sheffield 1998; William R. Telford, The Theology of the Gospel of Mark (NTTh), Cambridge 1999; Edwin K. Broadhead, Naming Jesus. Titular Christology in the Gospel of Mark (JSNTS 175), Sheffield 1999; Paul L. Danove, Linguistics and Exegesis in the Gospel of Mark (JSNTS 218) (SNTG 10), Sheffield 2001; Detlev Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener (SBB 43), Stuttgart 22002; Florian Wilk, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker (BZNW 109), Berlin u. a. 2002; Detlev Dormeyer, Das Markusevangelium, Darmstadt 2005; Eve-Marie Becker, Das MarkusEvangelium im Rahmen antiker Historiographie (WUNT 194), Tübingen 2006.

6.2.1

Gliederung und Inhalt

Nach der Zweiquellentheorie (§ 6.1.5) ist das Markusevangelium das älteste der synoptischen Evangelien, sowohl Lukas als auch Matthäus sind von ihm abhängig (Markuspriorität). Beide orientieren sich am markinischen Aufbau, Matthäus hat den Stoff des Markus fast vollständig, Lukas weitgehend übernommen bis auf die große Auslassung Mk 6,45–8,26 nach Lk 9,17. Und da das Johannesevangelium zumindest eine indirekte Kenntnis der Synoptiker verrät (§ 7.1.3), muss der Verfasser des Markusevangeliums der Schöpfer der literarischen Gattung „Evangelium“ gewesen sein. Erst wenn wir bedenken, wie viel die anderen Synoptiker damit von Markus übernommen haben, lassen sich die Veränderungen, die sie vornehmen, und die Gemeinsamkeiten, die sich durchziehen, in ihrer literarischen und theologischen Bedeutung angemessen würdigen. Einige Exegeten meinen, dass die Evangelien nach einem Grundmuster der christlichen Verkündigung gestaltet sind, das in der Zusammenfassung der Geschichte Jesu in der Petruspredigt in Apg 10,37–41 seinen Niederschlag gefunden hat (Charles H. Dodd).117 Diese Vermutung lässt sich aber nicht nachweisen. Lukas kann jene Darstellung auch aus seinem von Markus abhängigen Evangelium konstruiert haben.118

Markus119 integrierte mehrere Quellen und Traditionen und nutzte die durch sie hervorgerufenen Spannungen aus, um das mit Jesus verbundene Neue auszudrücken: Der Wundertäter, der sich selbst nicht helfen kann, ein Buch über die „gute Nachricht“ (euaggélion), das in der Kreuzigung gipfelt und ein offenes Ende hat usw. Das

117 Vgl. C. H. Dodd, The Framework of the Gospel Narrative (1932), zuletzt in: ders., New Testament Studies, Manchester 1953, 1–11, und in neuerer Zeit P. Stuhlmacher, Theologie 2 (Lit. § 1), 119 f. 118 Vgl. D. E. Nineham, The Order of Events of St. Mark’s Gospel – an Examination of Dr. Dodd’s Hypothesis, in: ders. (Hg.), Studies in the Gospels (FS R. H. Lightfoot), Oxford 1957, 223–239. 119 Vgl. insgesamt P. Stuhlmacher, Theologie 2 (Lit. § 1), 130–150; F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 488–517, als Kommentar J. Gnilka, EKK II/1–2.

366

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

sind die Widersprüche, die den Leser zum Nachdenken führen und mit den mannigfachen Äußerungen Gottes konfrontieren.120 Im Blick auf die literarische Gestaltung stellt das Petrusbekenntnis (8,27–31) in der Mitte des Markusevangeliums den bedeutendsten Wendepunkt dar. Von nun an bewegt sich alles auf die Kreuzigung zu. In der ersten Hälfte stehen die Taten Jesu im Vordergrund. Beide Hälften enthalten eine größere Rede, in der das Geschehene gedeutet und schon auf die Situation der nachösterlichen Gemeinde zugespitzt wird, in 4,1–31 mit Gleichnissen vom Reich Gottes, in Kap. 13 über das Ende der Welt. In beiden Hälften erscheint ein Block mit Streitgesprächen, zunächst in Galiläa (2,1– 3,6), später in Jerusalem (12,13–34). Außerdem ist eine grobe, vorwiegend geographisch gegliederte Dreiteilung deutlich: Das Auftreten Jesu in Galiläa und unter den Heiden (1,14 ff.) – der Weg nach Jerusalem in die Passion (8,27 ff.) – Jerusalem (11,1 ff.) als Ort der Hinrichtung. Eine detailliertere Analyse zeigt noch weitere kompositorische Markierungen: Der Prolog des ganzen Werks mit dem Auftreten von Johannes dem Täufer schließt sichtbar mit 1,13 ab. In 1,14 beginnt nach dem Szenenwechsel von der Wüste nach Galiläa der erste Teil (1,14–3,6) der öffentlichen Tätigkeit Jesu mit der ersten Predigtzusammenfassung vom Anbruch der Gottesherrschaft, den ersten Jüngerberufungen, Heilungen und Streitgesprächen. Sogleich wird die Verhaftung Johannes des Täufers erwähnt (1,14), dessen Tod in 6,14–29 das Ende des zweiten Teils (3,7–6,29) markiert, der die Berufung und Aussendung der Zwölf (3,13–19; 6,1–13), die Gleichnisrede (4,1–34), eine Sturmstillung und eine Totenauferweckung (4,35–5,43) umfasst und bereits erste Reisen in heidnische Gebiete einschließt. Mit einem erneuten Szenenwechsel (Wüste; 6,31) fängt ein dritter Teil (6,30–8,26) an, der nach einigen weiteren Wundern mit einer neuen ethischen Deutung der kultischen Reinheitsvorschriften (7,1–23) die Zuwendung zu den Heiden vorbereitet und mit der Heilung des Blinden bei Betsaida abgeschlossen wird (8,22–26). Darüber hinaus können wir innerhalb des ersten Hälfte noch einen weiteren Neuanfang der Erzählung beobachten: Nach den Streitgesprächen (2,1–3,6) wird bereits zum ersten Mal die Todesgefahr erwähnt, die Front der Gegner Jesu fängt an sich zu formieren (3,6; vgl. 11,18; 12,12; 14,1). Diesem bedrohlichen Abschluss des ersten Teils entspricht am Ende des zweiten Teils die Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt Nazareth (6,1–6) und am Ende des dritten Teils beim Gespräch über das Brot das Unverständnis selbst seiner engsten Anhänger, der Jünger (8,14–21). In der zweiten Hälfte des Evangeliums steigern die drei Leidensweissagungen die vorwärtsdrängende Dramatik (8,31; 9,31; 10,33 f.), an die sich stets Nachfolgeworte vom Kreuztragen, vom Dienen und der Lebenshingabe mit dem Lösegeldwort an120

S. P. Ricoeur, Le récit (Lit. § 6.2.5), 17 ff.

6.2 Das Markusevangelium

367

schließen. Auffällige Neueinsätze sind der Einzug Jesu in Jerusalem (11,1 ff.), der Beginn der Passionsgeschichte (14,1 ff.) und der Anfang des Epilogs mit der Osterbotschaft (16,1 ff.). Außerdem werden bei Markus durch weitere Kompositionselemente einige Teile des Evangeliums miteinander verzahnt: So stellen zum einen die Seeüberfahrten in Kap. 4, 6 und 8 kritische Situationen dar, in denen sich bei der Sturmstillung (4,35–41) und dem Seewandel (6,45–52) neue, göttliche Dimensionen des Geheimnisses Jesu offenbaren und im Gespräch über das Brot mit der Warnung vor dem Sauerteig, d. h. der Lehre, der Pharisäer (8,14–21) bereits die Leidensthematik der zweiten Hälfte ankündigt. Die zweite und dritte Bootsszene folgen jeweils auf eine Speisung der Volksmenge (6,32–44; 8,1– 10), bei der das Unverständnis der Jünger in der Klage Jesu über ihre Blindheit gipfelt (8,18a)121 und mit der Heilung des Blinden bei Betsaida kontrastiert wird (8,22–26; vgl. 10,46–52).122 Zum anderen wird das Problem der Jünger, die glauben, dass sie kein Brot haben (8,16), obwohl ein Brot mit ihnen im Boot ist (8,14), in der Passionsgeschichte bei der Einsetzung des Herrnmahls wiederaufgenommen, wenn Jesus beim Verteilen des Brots sagt: „Nehmt; das ist mein Leib“ (14,22). Ebenso spielen die beiden Speisungsgeschichten auf die eucharistische Mahlfeier (und deren wiederkehrende Praxis?) an.123 Aus den erwähnten Gliederungssignalen ergibt sich folgender Aufbau: Tabellarische Übersicht s. S. 368f. 1,1 Überschrift: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“ 1,2–13 Prolog in der Wüste Der Prolog umfasst das Auftreten Johannes des Täufers, der als endzeitlicher Prophet und Umkehrprediger die Ankunft eines Stärkeren ankündigt, die Taufe Jesu, bei der die Stimme vom Himmel Jesus den geliebten Sohn (Gottes) nennt, und seine Versuchung, bei der er als der neue Adam auftritt (s. Anm. 297). 1,14–3,6 Erster Teil: Jesu vollmächtiges Auftreten in Galiläa Der erste Teil enthält eine programmatische Zusammenfassung der Predigt Jesu (1,15), die Berufung seiner ersten vier Jünger (1,16–20), sein Lehren und Heilen in Kapernaum (1,21–45). Einen eigenen Block bilden die Streitgespräche (2,1–3,6) über die Vergebung der Sünden bei der Heilung des Gelähmten, über die Tischgemeinschaft mit den Sündern bei der Berufung des Zöllners Levi, über das Fasten und über die Sabbatheiligung beim Ährenraufen und bei der Heilung eines Mannes mit einer

121 122 123

Vgl. Mk 4,11 f. und 3,5; 6,52; 8,17. Vgl. auch Mk 8,18b mit 7,31–37. Vgl. Mk 6,41; 8,6 f. mit 14,22; vgl. Lk 24,30; 1Kor 11,23 ff. (§ 5.6.2.3).

368

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

1,1 1,2–13 1,2–14 1,9–13 1,14–3,6 1,14 f.

1,16–20 1,21–45 2,1–3,6

3,7–6,29 3,7–35

Überschrift: Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes Prolog in der Wüste Auftreten Johannes des Täufers (vgl. 6,14–29) Taufe Jesu (Himmelsstimme: geliebter Sohn Gottes) und Versuchung Erster Teil: Jesu vollmächtiges Auftreten in Galiläa Zusammenfassung der Predigt Jesu in Galiläa: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ Berufung der ersten vier Jünger (vgl. die Berufung der Zwölf 3,13–19) Lehre Jesu in der Synagoge von Kapernaum und Heilungen Streitgespräche: Heilung des Gelähmten, Berufung des Levi, Fasten, Sabbatheiligung beim Ährenraufen und bei der Heilung der verdorrten Hand mit dem ersten Todesbeschluss (3,6; vgl. 11,18; 12,12; 14,1) Zweiter Teil: Galiläa und die erste Reise zu den Heiden Zusammenfassung der Tätigkeit Jesu und erste Ausflüge in heidnische Gebiete (3,7–12; vgl. 1,32–34; 6,53–56), Berufung der Zwölf (3,13–19; vgl. 1,16–20), Beelzebul, Sünde gegen den Geist, Jesu wahre Verwandte

4,1–34

Gleichnisse vom Reich Gottes (Sämann, selbstwachsende Saat, Senfkorn)

4,35–5,43

Wunder: Sturmstillung (1. Seeüberquerung) und drei Heilungsgeschichten: Besessener von Gerasa, Tochter des Jaïrus, Frau mit den Blutungen Jesu Ablehnung in Nazareth und Aussendung der Zwölf (vgl. 1,16–20; 3,13–19) Tod Johannes des Täufers (vgl. 1,2–14)

6,1–13 6,14–29 6,30–8,26 6,30–56

Dritter Teil: Galiläa und die zweite Reise zu den Heiden Wunder: Speisung der 5000, Seewandel (2. Seeüberquerung), Heilungen 7,1 – 8,26 Jesu Wirken unter den Heiden: Streit um das kultisch Reine (7,1–23), Fernheilung nach dem Gespräch mit der Syrophönizierin, Heilung des Taubstum men in der heidnischen Dekapolis, Speisung der 4000 (8,1–10), Ablehnung der (messianischen) Zeichen, Gespräch über das Brot mit Warnungen vor den Pharisäern und dem Unverständnis der Jünger (3. Seeüberquerung) 8,22–26 abschließend: Heilung des Blinden vor Betsaida (vgl. 10,46–52) < Mk 6,45–8,26 fehlt als große Auslassung nach Lk 9,17 >

6.2 Das Markusevangelium

8,27–10,52 8,27ff.

369

10,46–52

Vierter Teil: Von Cäsarea Philippi nach Jerusalem Petrusbekenntnis: „Du bist der Christus!“, 1. Leidensankündigung mit dem Wort von der Nachfolge und Selbstverleugnung (8,31–38), Verklärung Jesu mit der Himmelsstimme: Sohn Gottes (9,2–10), Heilung des besessenen Jungen, 2. Leidensankündigung mit Rangstreit der Jünger (9,31–37), Warnung vor Abfall Sprüche über Ehe, Kinder und Eigentum, 3. Leidensweissagung mit der Zebedaidenbitte um einen Vorzugsplatz und dem Lösegeldwort (10,32–45) abschließend: Heilung des blinden Bartimäus bei Jericho (vgl. 8,22–26)

11,1–13,37 11,1 ff. 11,20–33 12,1–12

Fünfter Teil: Die Zuspitzung des Konflikts in Jerusalem Einzug in Jerusalem, Verfluchung des Feigenbaumes, Tempelreinigung Sprüche über den Berge versetzenden Glauben und die Vollmacht Jesu Das Gleichnis von den bösen Winzern

12,13–34

Jerusalemer Streitgespräche: Die Frage nach der kaiserlichen Steuer, der Auferstehung der Toten (Sadduzäerfrage), dem wichtigsten Gebot (doppeltes Liebesgebot), der Davidssohnschaft

12,38–40 12,41–44

Warnung vor den Schriftgelehrten (vgl. Mt 23) Das Opfer („Scherflein“) der armen Witwe

13,1–37

Endzeitrede

10,1–45

14,1 – 16,8 14,1–66

Sechster Teil: Passion und Auferstehung Tötungsbeschluss, Salbung, Abendmahl (14,22–25), Gebet und Gefangennahme in Gethsemane (14,32–42), vor dem Hohen Rat (Jesus bekennt sich als Sohn Gottes; 14,61f.), Verleugnung durch Petrus 15,1–47 Prozess vor Pilatus, Verurteilung, Verspottung, Kreuzigung (15,26: „König der Juden“), Bekenntnis des Hauptmanns: Sohn Gottes (15,39), Begräbnis 16,1–8 Epilog: Die Auferstehungsbotschaft am leeren Grab (Jerusalem mit dem Hinweis auf die Erscheinungen in Galiläa) [Mk 16,9–20 fehlt in den ältesten Textzeugnissen]

kursiv: Sohn Gottes

kursiv Reden

Gleichnisse / Endzeitrede

Streitgespräche

abgestorbenen Hand. Als Reaktion erfolgt erstmals der Tötungsbeschluss (3,6; vgl. 11,18; 12,12; 14,1). 3,7–6,29 Zweiter Teil: Galiläa und die erste Reise zu den Heiden Der zweite Teil fasst die Tätigkeit Jesu mit ersten Ausflügen über Galiläa hinaus bis Jerusalem im Süden sowie Tyrus und Sidon im Norden zusammen (3,7 f.; vgl. eine Landkarte). Im Einzelnen schildert Markus die Berufung der Zwölf als neues Got-

370

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

tesvolk analog zu den zwölf Stämmen Israels (3,13–19),124 das Unverständnis der Verwandten Jesu und seine wahre Familie (3,35: „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“), die Anklage durch seine Gegner wegen des Bundes mit dem Beelzebul, die Sünde gegen den heiligen Geist, die Rede mit Gleichnissen vom Reich Gottes (4,1–34: Sämann, selbstwachsende Saat, Senfkorn), die Sturmstillung (erste Überquerung des Sees) und drei Heilungsgeschichten (Besessener von Gerasa, Auferweckung der Tochter des Jaïrus, Frau mit den Blutungen). Am Ende des zweiten Teils stehen die Ablehnung der Predigt Jesu in seiner galiläischen Heimat Nazareth (6,1–6) und die Geschichte vom Tod Johannes des Täufers (6,14–29), die schon auf den Tod Jesu vorausweist. 6,30–8,26 Dritter Teil: Galiläa und die zweite Reise zu den Heiden Der dritte Teil ist von Wundern eingerahmt und beschreibt die Zuwendung Jesu zu den Heiden. Markus erzählt die Rückkehr der Jünger, die Speisung der Fünftausend, Jesu Seewandel (zweite Überquerung des Sees) und gibt einen weiteren Sammelbericht. Der Streit um das kultisch Reine bereitet durch die Umdeutung der Reinheit ins Ethische den Übergang vom Einflussbereich des jüdischen Gesetzes zu den Heiden vor (7,1–23). Das Gespräch mit der Syrophönizierin kreist um das Problem der Tischgemeinschaft mit (ehemaligen) Heiden, die Jesus als den Herrn bekennen (7,25b.28a). Die Heilung des Taubstummen geschieht im heidnischen Gebiet der Dekapolis (griech.: Zehn Städte) auf der Ostseite des Jordan. Es folgen die Speisung der Viertausend, die Ablehnung der messianischen Zeichen und bei der dritten Überquerung des Sees ein Gespräch über das Brot mit der Warnung vor dem Sauerteig, d. h. der Lehre, der Pharisäer (8,14–21). Dem hartnäckigen Unverständnis der Jünger stellt Markus abschließend die Heilung des Blinden bei Betsaida gegenüber (8,22–26). 8,27–10,52 Vierter Teil: Von Cäsarea Philippi nach Jerusalem125 Mit dem Bekenntnis des Petrus: „Du bist der Christus!“ beginnt bei Cäsarea Philippi an der Nordgrenze Israels die zweite Hälfte des Evangeliums, die vom Weg Jesu nach Jerusalem in die Passion erzählt. Es folgen die erste Leidensankündigung mit dem Wort über die Nachfolge als Kreuztragen und Selbstverleugnung, mit dem Jesus „offen“ (parrēsía) zu sprechen anfängt (8,32), die Verklärung Jesu, bei der die himmlische Stimme Jesus zum zweiten Mal als Sohn Gottes bezeichnet (9,2–10), die Heilung des besessenen (epileptischen) Knaben und die zweite Leidensankündigung mit der Warnung vor Ehrgeiz (Rangstreit der Jünger, wer der Größte sei) und vor Abfall (in der Mitte die Geschichte vom fremden Wundertäter: „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“; 9,40). Jesus begibt sich jenseits des Jordans (10,1) und spricht über die Ehe,

124 Vgl. die Berufung der ersten vier Jünger (1,16–20) und die Aussendung der Zwölf (6,7–13). 125 Vgl. das Wegmotiv in Mk 8,27 und 10,52.

6.2 Das Markusevangelium

371

über die Kinder mit einer Segnung (10,13–16)126 und über Reichtum und Nachfolge mit kurzen Situationsangaben („Der reiche Jüngling“). Nach der dritten Leidensankündigung erwidert Jesus die Bitte der Zebedäussöhne Jakobus und Johannes um einen Platz im Himmel an der Seite Jesu mit den Worten über das Herrschen und Dienen, die in der Deutung des Todes Jesu als Lösegeld für viele gipfeln. Der vierte Teil schließt mit der Heilung des Blinden bei Jericho, dem sein Glaube geholfen hat und der daraufhin Jesus auf dem Weg in die Passion nachfolgt (10,46–52; vgl. 8,22–26). 11,1–13,37 Fünfter Teil: Die Zuspitzung des Konflikts in Jerusalem Im fünften Teil verschärfen sich die Auseinandersetzungen durch den Einzug in Jerusalem, die Verfluchung des Feigenbaums und die Tempelreinigung, die den Todesbeschluss zur Folge hat (vgl. 3,6). Daraufhin erwähnt Markus Sprüche über den Berge versetzenden Glauben und die Vollmacht Jesu, das Gleichnis von den bösen Winzern, das in der Sendung des geliebten Sohns in den Weinberg (= Israel) und in der Tötung durch die Weingärtner (= Führer Israels) das Geschick Jesu andeutet (12,1– 12). Wiederum einen eigenen Block bilden die vier Jerusalemer Streitgespräche über die kaiserliche Steuer, über die Auferstehung der Toten (Sadduzäerfrage), über das höchste Gebot (Doppelgebot der Liebe) und über das Verständnis der Davidssohnschaft. Am Ende stehen noch eine Warnung vor den Schriftgelehrten (vgl. Mt 23) und die kurze Geschichte vom Opfer („Scherflein“) der Witwe. In der Endzeitrede (Kap. 13), die ein selbstständiges Ganzes innerhalb des Evangeliums bilden kann,127 befinden sich Weissagungen über die Zerstörung des Tempels (13,1 f.), über das Ende dieses Äons mit Verfolgung und Verführung sowie über die Ankunft des Menschensohns (13,26). Das Kapitel schließt mit dem Gleichnis vom Feigenbaum und einer Mahnung zur Wachsamkeit (13,28 ff.). 14,1–16,8 Sechster Teil: Passion und Auferstehung Im sechsten Teil erzählt Markus die Passionsgeschichte in Jerusalem (Kap. 14 f.): Der Hohe Rat (Synedrium), das oberste jüdische Gremium unter dem Vorsitz des Hohepriesters, beschließt den Tod Jesu (14,1; vgl. 3,6; 11,18; 12,12). Jesus wird in Betanien durch eine Frau „im voraus gesalbt für sein ... Begräbnis“ (14,8). Dann erzählt Markus in Kap. 14 den Verrat des Judas, die Einsetzung des Herrnmahls (14,22–25), das Gebetsringen in Gethsemane (14,32–42) und die Verhaftung, das Verhör vor dem 126 Die Kindersegnung war ursprünglich eine prophetische Zeichenhandlung Jesu ohne liturgischen Bezug. Als sich im Zusammenhang mit Augustins Erbsündenlehre die Säuglingstaufe durchsetzte, wurde Mk 10,13–16 im frühen Mittelalter als Lesung für die Taufe in die Gottesdienstordnungen aufgenommen. Die Forderung nach einer eigenständigen liturgischen Segenshandlung an Neugeborenen kam erst nach dem zweiten Weltkrieg auf und war eine Reaktion auf Karl Barths Kritik an der Säuglingstaufe; vgl. U. Heckel, Die Kindersegnung Jesu und das Segnen von Kindern. Neutestamentliche und praktisch-theologische Überlegungen zu Mk 10,13–16 par., ThBeitr 32 (2001), 327–345; ders., Segen (Lit. § 5.7), 53–76.328. 127 So R. Pesch, Naherwartungen. Tradition und Redaktion in Mk 13, Düsseldorf 1968.

372

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Hohen Rat – Jesus bekennt sich erst jetzt als Wehrloser zu seiner Gottessohnschaft (14,61 f.) – und die Verleugnung Jesu durch Petrus. Kap. 15 schildert den Prozess vor dem römischen Statthalter Pilatus (vgl. 1Tim 6,13), Verspottung und Kreuzigung mit dem ersten Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes durch einen römischen Hauptmann (15,39), Jesu Tod und sein Begräbnis. 16,1–8 ist der Epilog mit der Auferstehungsverkündigung – dem eigentlichen Evangelium – am leeren Grab. Das Auferstehungsgeschehen selber wird nicht beschrieben, sondern nur durch die Osterbotschaft angedeutet und auf die Erscheinung des Auferstandenen in Galiläa verwiesen. Zu sehen sein wird der Auferstandene erst bei der Parusie vom Himmel her (13,26 f.; 14,62). Der Schluss [Mk 16,9–20] mit den Erscheinungen des Auferstandenen fehlt in den ältesten Textzeugen. 6.2.2

Der Text

Die ältesten Handschriften stammen aus dem 3. und 4. Jh. Leider ist das Markusevangelium in Papyrus-Handschriften, die zumeist aus Ägypten stammen, seltener vertreten als die anderen kanonischen Evangelien. Schon gegen Ende des 1. Jh.s stand es vermutlich im Schatten vor allem des Matthäus-, aber auch des Lukasevangeliums (§ 6.3.1).128 Eine bedeutende Abweichung in der Textüberlieferung liegt bereits in Mk 1,1 vor, wo manche alte Handschriften, besonders der Codex Sinaiticus (a), der Codex Koridethi (Q) und einige Schriftzitate christlicher Autoren des Altertums die Worte „Sohn Gottes“ auslassen. Die zweite und bedeutendste Abweichung betrifft den Schluss, bei dem im Sinaiticus (a), im Vaticanus (B; beide 4. Jh.; § 4.2.2) und in wichtigen anderen Handschriften 16,9–20 fehlt. Die traditionellen letzten zwölf Verse müssen wir also für einen späteren Zusatz halten, der aus den anderen Evangelien kombiniert wurde. Aus kirchlicher Sicht ändert dieser textkritische Befund nichts an der Kanonizität jener Verse. Nur müssen wir diese Sätze bei der Interpretation des Evangelientexts für jünger als den übrigen Text halten.129 In einer armenischen Handschrift aus dem 10. Jh. wird dieser Abschnitt einem gewissen Ariston zugeschrieben, deswegen wird er auch Ariston-Schluss genannt. Unter den Handschriften, die diesen Zusatz enthalten, ist der Codex Alexandrinus (A) aus dem 5. Jh. der älteste. Allerdings muss der Ariston-Schluss schon im 2. Jh. entstanden sein, da ihn auch die bedeutenden Vertreter der westlichen (D) und der byzantinischen Tradition sowie alte Übersetzungen enthalten (§ 4.3.2). Er entstand also, bevor sich die großen Texttraditionen voneinander

128

Vgl. M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 39.42 f. Einige Exegeten sehen den Ariston-Schluss als ursprünglich an: R. H. Gundry, Matthew (Lit. § 6.3), zu Mt 28. 129

6.2 Das Markusevangelium

373

trennten.130 Seiner Strittigkeit waren sich mehrere christliche Gelehrte schon im frühen Mittelalter bewusst, sodass der Abschnitt 16,9–20 in einigen mittelalterlichen Handschriften zwischen Zeichen gesetzt wurde, die lateinisch „asterisci“ (Sternchen) oder „obeli“ (Bratspieße) heißen und vielleicht ähnlich wie Klammern fungieren sollten. Das Freer-Logion ist ein kurzer Abschnitt, der im Codex Freerianus („Washington“ – W) – laut Hieronymus auch noch in anderen griechischen Handschriften – im sekundären Markusschluss in 16,9–20 zwischen V.14 und 15 ergänzt wurde: „Und jene entschuldigten sich mit den Worten: ‚Dieses Zeitalter der Gesetzlosigkeit und des Unglaubens steht unter Satan, der es durch die unreinen Geister nicht zulässt, dass die Wahrheit und Kraft Gottes ergriffen wird. Deshalb offenbare deine Gerechtigkeit schon jetzt!‘ sagten jene zu Christus. Und Christus erwiderte ihnen: ‚Erfüllt ist die Grenze der Jahre der Macht Satans. Aber es kommen andere Schrecken, und die Sünder, für die ich in den Tod gegeben wurde, sollen umkehren zur Wahrheit und nicht mehr sündigen, damit sie den im Himmel befindlichen, geistlichen und unvergänglichen Glanz der Herrlichkeit erben. Doch [geht hin ...]“131 Es handelt sich um eine Art Gespräch mit dem Auferstandenen, wie es in der nichtkanonischen Literatur häufiger vorkommt (§ 6.1.5.4). Indirekt soll damit eine Lösung für das Problem der Par usieverzögerung gegeben werden. Seit dem frühen Mittelalter war der sog. kürzere Schluss bekannt (nach V.8), eigentlich ein kürzerer Zusatz, der in einigen Handschriften vorkommt: „Alles Aufgetragene aber verkündeten sie kurz denen um Petrus. Danach aber entsandte auch Jesus selbst vom Aufgang und bis zum Untergang durch sie die heilige und unzerstörbare Botschaft des ewigen Heils. Amen.“132 Meist wurde dieser Zusatz mit dem Ariston-Schluss [16,9–20] kombiniert. Er sollte das abrupte Ende des Markusevangeliums dem Modell der anderen Evangelien anpassen. Die Hypothesen zu alten Fragmenten des Markustexts werden bei der Datierung erörtert (s. Anm. 152). Mehrmals wurde versucht, Mk 6,45–8,26, also den Abschnitt, den Lukas nicht übernommen hat, aus lexikalischen und grammatischen Gründen für einen sekundären Zusatz zu erklären. Dieses Vorhaben gelang nicht, und die neuere Forschung erkennt in der lukanischen „großen Lücke“ eine redaktionelle Absicht (§ 6.1.4.2). Textkritisch (§ 4.3.1) ist jener Abschnitt gut bezeugt. 130 So J. A. Kelhoffer, Miracle and Mission. The Autentication of Missionaries and their Message in the Longer Ending of Mark (WUNT II/112), Tübingen 2000; vgl. M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 226. 131 Übersetzung J. Frey, Zu Text und Sinn des Freer-Logion*, ZNW 93 (2002), 13–34, hier 21.25 mit einer Datierung in die zweite Hälfte des 2. Jh.s.; vgl. auch J. Gnilka, EKK 2,2, 355, Anm. 26 und ebd. 350 f., eine Übersicht der verschiedenen Textgestalten des Markusschlusses. 132 Nach J. Gnilka, EKK 2,2, 351.

374 6.2.3

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Verfasser, Entstehungsort, Datierung und intendierter Leserkreis

a) Verfasser: Als Autor des Markusevangeliums wird in der exegetischen Literatur meist ein anonymer Heidenchrist vermutet.133 Diese gängige Annahme ist jedoch kaum überzeugend. Die Verbindung unseres zweiten Evangeliums mit dem Namen Markus ist schon bei Papias von Hierapolis belegt, der vor der Mitte des 2. Jh.s tätig war (Eus. h.e. 3,39,14 f.).134 Papias beruft sich auf die mündliche Überlieferung des Presbyters Johannes, der etwa um 100 n. Chr. gestorben ist (§ 7.1.6b). Nach diesem Bericht des Papias war Markus ein Dolmetscher (griech. hermēneutés) des Apostels Petrus, d. h. er soll die Lehrvorträge des galiläischen Fischers ins Griechische übersetzt und aus dem Gedächtnis aufgeschrieben haben. Der Hinweis auf die Dolmetscherfunktion wird im Text des Markusevangeliums durch die Abfassung in einem einfachen, aber einwandfreien Griechisch sowie die Kenntnis des Aramäischen indirekt bestätigt (s.u.). Die Übersetzeraufgabe könnte die herausragende Bedeutung des Petrus im Markusevangelium erklären, besonders die Inclusio als erster und letzter Jünger in 1,17 und 16,7.135 Diese Angabe entspricht 1Petr 5,12 f., wo Markus als Begleiter von Petrus genannt wird.136 Da der 1. Petrusbrief ein pseudepigraphisches Schreiben ist (§ 8.6.4), könnte es sich bei der Erwähnung des Markus auch um eine fiktive Angabe handeln, die dann aber immer noch ein Beleg für die Verbindung von Petrus und Markus aus dem 1. Jh. wäre. Spätestens seit dem Anfang des 2. Jh.s gibt es eine Tendenz, den Verfasser mit dem Kreis der Apostel in Verbindung zu bringen, wie später Justin (dial. 106,3; um 160 n. Chr.) belegt.137 Gegen die Identifizierung des Verfassers mit dem Petrusbegleiter wird eingewandt, dass dieser als Dolmetscher aus eigener Kenntnis berichten könnte und kaum auf ältere Überlieferungen zurückgreifen müsste (s.u.). Doch schließen Augenzeugenberichte die Verwendung überliefer-

133

Vgl. U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 242 f. Die altkirchlichen Zeugnisse finden sich im Anhang von K. Aland (Hg.) Synopsis (Lit. § 12a), die Papiasfragmente mit Übersetzung bei A. Lindemann / H. Paulsen, Die Apostolischen Väter (Lit. § 12c), 286–303. 135 Vgl. zum Kontrast, wie Petrus im Johannesevangelium erst an zweiter Stelle nach Andreas und durch ihn vermittelt berufen (Joh 1,40–42) sowie durch den idealen Lieblingsjünger übertroffen wird (bes. Kap. 21; § 7.1.6b); zur statistischen Auswertung s. R. Feldmeier, Die Darstellung des Petrus in den synoptischen Evangelien, in: P. Stuhlmacher (Hg.), Evangelium (Lit. § 3), 267–271; vgl. insgesamt Ch. Böttrich, Petrus. Fischer, Fels und Funktionär, Leipzig 2001, 235 ff.; M. Hengel, Der unterschätzte Petrus, Tübingen 2006, 58–78. 136 Dies betont M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 65–68.78–96.100.153–157.259 f. Anm. 318. 324; vgl. zur Papias-Notiz K. Th. Heckel, Evangelium (Lit. § 3), 219–265. 137 Nach C.-J. Thornton, Justin und das Markusevangelium, ZNW 84 (1993), 93–110, dachte Justin bei den „Erinnerungen (griech. apomnēmoneúmata) des Petrus“ (dial. 106,3; vgl. Mk 3,16 f.) an das Markusevangelium. 134

6.2 Das Markusevangelium

375

ten Materials keineswegs aus.138 Aber schon die Papias-Notiz ist ein Beleg für die Kritik an der Unvollständigkeit und falschen Reihenfolge der Jesusüberlieferungen im Markusevangelium, dem Matthäus und Lukas bereits im 2. Jh. als „bessere“ Evangelien den Rang abgelaufen haben. Der Verfasser hieß wahrscheinlich Markus.139 Dass er mit dem gleichnamigen Begleiter des Paulus identisch ist,140 erscheint naheliegend (M. Hengel), lässt sich aber nicht beweisen. Die Bezeichnung Evangelium nach (katá) Markus ist seit Irenäus (um 180 n. Chr.) belegt. Sie muss allerdings schon länger üblich gewesen sein, da in den aus Ägypten stammenden Papyri p66 und p75 (Joh und Lk) um das Jahr 200 auch die Bezeichnung „nach Johannes“ und „nach Lukas“ vorkommt. Der Ausdruck dürfte also bereits Jahre früher entstanden sein, denn es dauert immer einige Zeit, bis sich eine neue Gewohnheit durchsetzt. Die völlige Einheitlichkeit der vier Evangelientitel und die Notwendigkeit einer Kennzeichnung zur Unterscheidung von anderen Schriften in der Gemeindebibliothek sowie für das öffentliche Vorlesen im Gottesdienst legen sogar die Vermutung nahe, dass die Titel in eine Zeit lange vor der Kanonisierung (§ 3), vielleicht schon ins 1. Jh., zurückgehen. Die Titel könnten durch die Überschrift in Mk 1,1 angeregt sein, die vom „Anfang des Evangeliums“ spricht (§ 3.6).141 Die Vertrautheit des Verfassers mit der aramäischen Sprache und dem Milieu des hellenistischen Judenchristentums (s. Anm. 144 ff.) führt zu dem Schluss, dass der Autor ein aufgeschlossener, theologisch denkender und für Heidenchristen schreibender Judenchrist war.142 b) Abfassungsort: Nach dem späten Zeugnis des Irenäus (um 180 n. Chr.) wird als Entstehungsort des Markusevangeliums Rom genannt (haer. III,1,1). Diese Angabe hält Martin Hengel für historisch glaubwürdig (s. Anm. 136), da sie auch durch den Hinweis auf Markus als Mitarbeiter des Petrus in 1Petr 5,13 gestützt wird und dieser Brief vermutlich ebenfalls aus Rom stammt (§ 8.6.4). Für Rom sprechen nicht nur die Unkenntnis der galiläischen Topographie (Mk 5,1 ff.; 7,31), sondern vor allem die auffällig gehäuften Latinismen.143 Die vielen Aramaismen verraten zwar eine Verwurzelung im palästinischen Mutterland.144 Doch da Markus hebräische bzw. ara138 Vgl. S. Byrskog, Story as History – History as Story. The Gospel Tradition in the Context of Ancient Oral History (WUNT 123), Tübingen 2000, 269–292. 139 So W. G. Kümmel, Ph. Vielhauer, L. Schenke, Th. Söding, U. Schnelle. 140 Apg 12,12.25; 13,5–13; 15,37 ff.; Kol 4,10; Phlm 24 ff.; vgl. 2Tim 4,11. 141 So M. Hengel, Evangelienüberschriften (Lit. § 3), 13 ff.; ders., Gospels (Lit. § 3), 48– 55.126 f. 142 Vgl. O. Pesch, Das Markusevangelium, 11. 143 Mk 4,21; 5,9.15 (Legion); 6,27; 6,37 (Denar); 7,4; 12,14; 12,42 (Quadrans); 15,15.39.44 f. (Centurio) u. a. 144 Mk 1,13 u. ö. (Satan); 5,41 (talita kum = steh auf); 7,11 (Korban = Opfergabe); 7,34

376

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

mäische Ausdrücke übersetzt145 und sich an heidenchristliche Adressaten wendet,146 muss das Evangelium außerhalb Palästinas entstanden sein. Wegen dieser eigentümlichen Mischung aus Lokalkolorit und räumlicher Distanz wird als Abfassungsort meist das nördlich angrenzende Syrien vorgeschlagen.147 Doch ein aus Syrien stammender Verfasser hätte wohl kaum so geographisch unspezifisch von einer „Syrophönizierin“ (Mk 7,26) gesprochen. Auch fehlt ein ähnlich deutlicher Hinweis auf Syrien wie in Mt 4,24.148 Deshalb ist Rom als Entstehungsort wahrscheinlich vorzuziehen. c) Abfassungszeit: Für die Datierung kommen das Ende der 60-er oder die 70-er Jahre des 1. Jh.s in Betracht.149 Als wahrscheinlicher Entstehungszeitpunkt gilt das Jahr 70 n. Chr.150 Dafür sprechen die Anspielungen auf den Jüdischen Krieg (66–70 n. Chr.), auf die Verwüstung des Tempels und auf die Flucht in die Berge (13,2.14; vgl. 15,38). Anhänger der Frühdatierung hielten dagegen, dass eine Prophetie oder eine „nachträgliche“ Prophetie (vaticinium ex eventu) eindeutiger sein müsste.151 Dieser Einwand kann durch den Hinweis auf die nichtkanonische christliche Literatur entkräftet werden, in der es nur wenige deutlichere Anspielungen auf den Fall Jerusalems gibt. Kaum nachweisbar ist die Frühdatierung aufgrund der angeblichen Markusfragmente aus Qumran, die einige Autoren vertreten.152 Ist das Evangelium (effata = tu dich auf); 9,43 (Geenna, Hölle); 10,51 („Rabbuni“ für „Rabbi“ = mein Herr, mein Meister); 14,36 (Abba = Vater); 15,22 (Golgatha = Schädelstätte); 15,34 (Zitat Ps 22,2) u. a.; vgl. H. P. Rüger, Die lexikalischen Aramaismen im Markusevangelium, in: H. Cancik (Hg.), Markus-Philologie (WUNT 33), Tübingen 1984, 73–84. 145 Mk 3,17 (Boanerges = Donnersöhne); 5,41; 7,11.34; 9,43; 14,36; 15,22.34 (vgl. Anm. 144). 146 Vgl. die Öffnung für Völker in Mk 12,9; 13,10; 14,9; 15,39. 147 So W. G. Kümmel, Ph. Vielhauer, W. Schmithals, H. Köster, L. Schenke, G. Theißen; eine Übersicht bietet Th. Söding, Der Evangelist in seiner Zeit, in: ders., Der Evangelist als Theologe, 11–62, dort 29 f. 148 Vereinzelt werden genannt Galiläa (W. Marxsen), Dekapolis, Ägypten (wegen des angeblich dort entstandenen Geheimen Markusevangeliums; § 6.1.6.3) oder Kleinasien (U. Schnelle wegen 1Petr 5,13). 149 Vgl. M. Hengel, Entstehungszeit, 1–45; M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 78 f. 150 Vgl. J. Marcus, The Jewish War and the Sitz im Leben of Mark, JBL 111 (1992), 441–462. 151 So G. Zuntz in seinen Beiträgen in dem Sammelband von H. Cancik (Hg.), „MarkusPhilologie“ (s. Anm. 144). 152 7Q5 als Rest von Mk 6,52 f.; vgl. C. P. Thiede, Die älteste Evangelienhandschrift?, Wuppertal 1986, zur Kritik K. Aland, Neue neutestamentliche Papyri III, NTS 20 (1973–74), 357–381; H.-U. Rosenbaum, Cave 7Q5: Gegen die erneute Inanspruchnahme des QumranFragments 7Q5 als Bruchstück der ältesten Evangelien-Handschrift, BZ 31 (1987), 189–205; St. Ernste, Kein Markustext in Qumran (NTOA 45), Göttingen / Freiburg (CH) 2000. Die we-

6.2 Das Markusevangelium

377

in Rom entstanden, so liegt der Tod des Petrus in den neronischen Christenverfolgungen 64 n. Chr. kaum mehr als fünf Jahre zurück.153 Markus betont zwar die Bedeutsamkeit des Petrus (s. Anm. 135), erwähnt dessen Märtyrertod aber nicht (im Unterschied zum gewaltsamen Tod von Jakobus und Johannes in Mk 10,39). Dieses Schweigen erscheint bemerkenswert, ist als argumentum e silentio aber kein sonderlich starker Einwand gegen eine Abfassung in Rom, da nichts über sein Ende gesagt und auch kein anderer Ort genannt wird. Analoges gilt für die Nichterwähnung des Römerbriefs, der mit seiner Argumentation eine völlig andere Funktion hat als die Erzählung der Jesusgeschichte im Markusevangelium. d) Adressaten: Die Empfänger waren gemischte Gemeinden, in denen neben Heidenchristen auch Judenchristen lebten. Die Perikope vom Reinen und Unreinen (7,1– 24) bezeugt, dass das Problem, wie die Christen mit den jüdischen Reinheitsvorschriften umgehen sollten, noch aktuell war. Die Erzählung von der Syrophönizierin (7,24–30) war eine Hilfe, um die Frage der Tischgemeinschaft zwischen Juden und ehemaligen Heiden beim Herrnmahl zu lösen.154 Gedacht ist das Evangelium zum (Vor)-Lesen, das im Gottesdienst seinen Sitz im Leben155 der Gemeinde hat.156 6.2.4

Ältere Traditionen und Vorstufen

Sehr wahrscheinlich war ein Teil des von Markus benutzten Materials schon in mehr oder weniger umfangreichen Sammlungen mit Wundern (4,35–5,43), Gleichnissen (4,1–34) und Streitgesprächen (2,1–3,6) vorhanden.157 Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Teil jener Texte bereits schriftlich fixiert vorlag.158 Diese Sammlungen können allerdings nicht nachgewiesen werden, da solche Texte nur als (schriftliche) Stütnigen erhaltenen Buchstaben passen theoretisch zu mehreren Texten und, falls sie wirklich die aus Markus bekannten Texte beträfen, lässt sich nicht beweisen, dass sie schon ein Teil des Evangeliums waren. 153 1Clem 5,1–4; 6,1 f.; Joh 21,18 f.; IgnRöm 4,3. 154 So P. Pokorný, From a Puppy to the Child. Some Problems of Contemporary Biblical Exegesis Demonstrated from Mark 7:24–30 / Matt 15:21–8, in: ders. / J. B. Souček, Bibelauslegung als Theologie (Lit. § 2.1.3), 69–85. 155 Vgl. zu diesem Terminus Exkurs 3. 156 So M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 37 f.94.96 f.116 ff. einschl. Anm. 153 f.397.501, mit Hinweisen auf Mk 13,14; Apk 1,3 (§ 7.2.6); Kol 4,16 (vgl. 1Thess 5,27; § 5.3); 1Tim 4,13 und Justin apol. I,67,3; vgl. auch R. Deines, Gerechtigkeit (Lit. § 6.3), 41–93, bes. 84 ff.100.639 f. 157 Vgl. die Wundergeschichten (Mk 4,35 – 5,43; 6,32–44), die Gleichnisse (4,2–10.13– 20.26–33 oder 13,28–29.34–37), die Streitgespräche (2,15–36; 3,20–34) oder die Mischformen aus Streitgespräch und Wundergeschichte (2,1–12; 3,1–6; 7,24–30). 158 Vgl. H. W. Kuhn, Ältere Sammlungen im Markusevangelium (StUNT 8), Göttingen 1971; C. Breytenbach, Vor markinische Logientradition. Parallelen in der urchristlichen Brief-

378

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

ze der mündlichen Tradition und Verkündigung dienten. Bei der Gestaltung des Markusevangeliums sind einige Strukturelemente zu beobachten (sandwich compositions), die durch die Verschachtelung kürzerer Texte entstehen (z. B. 5,21–43: Jaïrustochter – die Frau mit den Blutungen – Jaïrustochter). Sie waren z. T. schon in der mündlichen Überlieferung vollzogen. Markus entfaltete sie, um die einzelnen Geschichten und Worte durch ihre gegenseitige Verklammerung zu interpretieren.159 Die Endzeitrede in Kap. 13 kann in ihrem Grundgehalt160 eine ältere apokalyptische Einheit gewesen sein, die in der Zeit um den Fall Jerusalems wieder aktuell geworden ist. Es gibt Vermutungen, dass das Wort von der „Gräuelgestalt der Entweihung“ (13,14) ursprünglich die beabsichtigte Aufstellung einer Statue des Kaisers Caligula (37–41 n. Chr.) im Jerusalemer Tempel (39 n. Chr.) kommentierte.

Exkurs 5: Die vormarkinische Passionsgeschichte  Eduard Lohse, Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu Christi, Gütersloh 21967; Ernst Best, The Temptation and the Passion: The Markan Soteriology (SNTSMS 2), Cambridge 21990; Gerhard Schneider, Die Passion Jesu nach den drei älteren Evangelien (BiH 11), München 1973; Detlev Dormeyer, Die Passion Jesu als Verhaltensmodell (NTA NF 11), Münster 1974; Wolfgang Schenk, Der Passionsbericht nach Markus, Berlin 1974; Werner H. Kelber (Hg.), The Passion in Mark, Philadelphia 1976; Werner Mohn, Gethsemane (Mk 14,32–42), ZNW 64 (1979), 194–208; Paul Ricoeur, Le récit interpretatif. Exégése et Théologie dans les récits de la Passion, RSR 73 (1985), 17–38; Johannes Schreiber, Der Kreuzigungsbericht des Markusevangeliums Mk 15,20b–41 (BZNW 48), Berlin 1986; Dale C. Allison, The End of the Ages has Come: An Early Interpretation of the Passion and Resurrection of Jesus, Edinburgh 1987; Matti Myllykoski, Die letzten Tage Jesu. Markus und Johannes, ihre Traditionen und die historische Frage I (AASF 256), Helsinki 1991; Urs Sommer, Die Passionsgeschichte des Markusevangeliums (WUNT II/58), Tübingen 1993; Adela Y. Collins, From Noble Death to Crucified Messiah, NTS 40 (1994), 481–503; Wolfgang Reinbold, Der älteste Bericht über den Tod Jesu (BZNW 69), Berlin 1994; Raymond E. Brown, The Death of the Messiah: From Gethsemane to the Grave: A Commentary on the Passion Narratives in the Four Gospels I–II, New York 1994 (dort die umfangreichste Literaturübersicht); Georg Strecker, Die Passionsgeschichte im Markusevangelium, in: Friedrich Wilhelm Horn, Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments (FS G. Strecker), Berlin / New York 1995, 218–248; einen Diskussionsbericht bietet Marion L. Soards, The Question of a Premarcan Passion Narrative, in: Raymond E. Brown, The Death of the Messiah (s.o.) 1492–1524.

literatur, in: The Four Gospels (BEThL 100,2), ed. F. van Segbroeck (FS F. Neirynck), Leuven 1992, 725–749. 159 So J. R. Edwards, Markan Sandwiches, NT 31 (1989), 195–216 (er hebt ihre theologische Funktion hervor). 160 Etwa Mk 13,7–8.12.14–20.24–27.

6.2 Das Markusevangelium

379

Als Grundlage des Markusevangeliums wurde lange Zeit eine vormarkinische Passionsgeschichte angenommen. Denn für das Markusevangelium gilt in besonderer Weise, was die bekannte Formulierung von Martin Kähler (1892) über die Evangelien insgesamt sagt: Sie sind „Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung“.161 Rudolf Pesch rechnete zu der übernommenen Passionsgeschichte die ganze zweite Hälfte des Markusevangeliums (8,27–16,9).162 Diese Hypothese lässt sich aber weder durch die Statistik des Wortschatzes noch durch eine stilistische Analyse erhärten, ebenso wenig die Annahme eines Ur-Markus163 oder aramäischer Quellen.164 Da sich keine dieser Hypothesen durchsetzen konnte, wird seit mehr als zwanzig Jahren die Existenz einer vormarkinischen Passionserzählung wieder in Frage gestellt.165 Nach Burton L. Mack ist die Passionsgeschichte ein Werk des Evangelisten, der verschiedene Traditionen sammelte und in einen neuen Deutungskontext stellte, um die paulinische Konzeption des stellvertretenden Todes eines Unschuldigen166 narrativ zu unterstützen.167 Sogar Raymond E. Brown ist in seinem großen Werk über die Leidensgeschichte skeptisch, ob sich ihre vormarkinische Gestalt rekonstruieren lässt, wenn er auch die Existenz eines solchen Texts nicht bestreitet und Elemente der alten Passionstradition aufzeigt.168 Für eine vormarkinische Passionsgeschichte sprechen indirekte Indizien, z. B. die überflüssige Information, dass Judas zu den Zwölfen gehört (14,10), was der Leser 161 M. Kähler, Der sog. historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus (ThB 2), München 1892, 41969, 60 (Anm. 1 von S. 59). 162 R. Pesch, HThK II, 2, 1–27; dagegen hält É. Trocmé, La formation de l’Évangile selon Marc (EHPR 57), Paris 1967, 169 ff.188, die Passionsgeschichte für eine Hinzufügung des Endredaktors. 163 So in der neueren Forschung z. B. W. Schmithals, ÖTK 2,1, 44 ff., oder P. Lamarche, Marc, 18 f. Ein vormarkinisches kurzes Epiphanie-Evangelium setzt G. Sellin voraus: Das Leben des Gottessohnes. Taufe und Verklärung Jesu als Bestandteile eines vormarkinischen „Evangeliums“, Kairos 25 (1983), 237–253. 164 So z. B. M. Casey, Aramaic Sources of Mark’s Gospel (SNTSMS 102), Cambridge 1999 (s.a. § 6.2.5). 165 Zur älteren Diskussion s U. Luz, Markusforschung in der Sackgasse? ThLZ 105 (1980), 641–655, bes. 646 ff. 166 Diese These hat schon M. Werner in seiner Studie „Der Einfluss paulinischer Theologie im Markusevangelium“ (Gießen 1923) widerlegt: Markus kann Paulus gekannt haben, aber er ist kein Paulinist. 167 Vgl. B. L. Mack, The Myth of Innocence, 262 ff., und ähnlich schon W. H. Kelber (Hg.), „The Passion in Mark“. Dass die Passionsgeschichte zwar eine allmählich gewachsene und durch Markus gestaltete Sammlung der christlichen Überlieferungen ist, die allerdings alt und relativ verlässlich sind, betonte E. K. Broadhead, Prophet, Son, Messiah. Narrative Form and Function in Mark 14–16 (JSNTSS 97), Sheffield 1994. 168 R. E. Brown, The Death of the Messiah, (53–)57 (vgl. 1492–1524 zu den 35 Rekonstruktionsversuchen).

380

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

schon seit 3,19 weiß. Auffällig ist auch die Verbindung der Erzählung in Kap. 14 f. durch das Verb „paradidónai“ (verraten, ausliefern), das Markus nur in Anspielung auf das Leiden Jesu benutzt.169 Das Hauptargument für die Existenz einer älteren Passionsdarstellung ist der Unterschied zwischen der Soteriologie der Passionsgeschichte und den vormarkinischen Aussagen. In der Passionserzählung setzen sich die Anhänger Jesu mit dem Tod ihres Meisters auseinander, indem sie das Motiv vom Leiden des Gerechten (lat. passio iusti) aufgreifen, der von den Gottlosen verspottet wird.170 Außerdem wird das Schicksal Jesu durch das Wort „deí“ („es muss“) in der ersten Leidensankündigung apokalyptisch interpretiert (8,31).171 Am Ende erwartet der Leidende seine Rechtfertigung durch den Menschensohn (14,62), die Finsternis kündigt das Ende dieses Äons an (vgl. Am 8,9 in Mk 15,33),172 und die Stimme des Sterbenden ruft zum Gericht (vgl. Mk 15,37 mit Joel 4,15 f.). Demnach war Jesus der Repräsentant Gottes, den die Menschen ablehnten und zu dem sich Gott am Umbruch der Äonen bekennen wird. Damit ist die Theologie der vormarkinischen Passionsdarstellung umrissen. Noch vor Markus verknüpfte die das Herrnmahl feiernde Gemeinde die Passionsgeschichte mit dem Bericht von der Stiftung des Herrnmahls, in dem die Gabeworte die Heilsbedeutung des Todes Jesu „für viele“ deutlich machen (14,22–25; § 5.6.2.3). Die dort artikulierte Christologie des stellvertretenden Todes Jesu nahm Markus im Lösegeldwort auf (10,45), bevor sich mit dem Einzug in Jerusalem alles auf die Passion zuspitzt. Der Stellvertretungsgedanke, der in der Tradition des Herrnmahls zur Deutung des Todes Jesu diente, ist durch das vierte Gottesknechtslied in Jes 53 geprägt (§ 5.6.2.3b; Exkurs 2). Ebendieser Text ist zwar auch in der Passionsgeschichte in Anspielungen präsent, aber sein Zitat betrifft nur das Schweigen Jesu (Mk 14,61a; vgl. Jes 53,7) und gerade nicht den stellvertretenden Charakter seines Todes (Jes 53,4–6). Da der Stellvertretungsgedanke in der Passionsgeschichte nur in den Einsetzungsworten der Herrnmahlsüberlieferung begegnet, sonst aber nicht aufgenommen wird, scheint er für die Passionsdarstellung ursprünglich ohne größere Bedeutung gewesen zu sein. Umso mehr fällt auf, dass Markus das Lösegeldwort (10,45) unmittelbar vor dem Einzug in Jerusalem (11,1 ff.) platziert und unter diesem Vorzei169

Mk 14,10 f.18.21.41 f.44; 15,1.10.15. Ps 22,7–9; SapSal 2,12–20. Nur mit Hilfe der Psalmen, d. h. der Schrift (§ 2.1.3a), war das Ungeheuerliche dieses Schicksals überhaupt zu begreifen; vgl. Mk 14,18: „der mit ihm isst“ (Ps 41,10); 14,34: „Betrübt ist meine Seele zu Tode“ (Ps 42,6.12; 43,5; 55,2–6); 14,38: „Der Geist ist willig“ (Ps 51,14); 15,24.29–36: „Mein Gott, mein Gott, warum bzw. wozu hast du mich verlassen?“, Teilen der Kleider, Kopfschütteln der Vorbeigehenden, Verspottung des Gerechten, Tränken mit Essig (Ps 22,2.8 f.19; 55,23; 69,22) und dazu B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 22006, 355–365. 171 Vgl. Anm. 298 und die Prophezeiung „was geschehen muss (deí) in Bälde“ in Apk 1,1; 22,6 (vgl. 4,1). 172 Vgl. D. C. Allison, The End of the Ages has Come, 34–39. 170

6.2 Das Markusevangelium

381

chen die ganze Passionsgeschichte in eine pointiert soteriologische Perspektive stellt. Dieses Bemühen des Evangelisten, den Tod Jesu als stellvertretendes Geschehen neu zu interpretieren, spricht für eine ältere Vorlage der Passionsgeschichte, deren Soteriologie Markus mit seiner eigenen Auffassung von der Heilsbedeutung Jesu zu verbinden suchte.173 Diese neue integrierende soteriologische Deutung ist die große theologische Leistung des Evangelisten (§ 6.2.7).174 6.2.5

Sprache und Stil

 J. Keith Elliott, The Language and Style of the Gospel of Mark (NT.S 71), Leiden 1993 (darin Cuthbert H. Turner, Notes on Marcan Usage [1923–1928]); Frans Neirynck, Duality in Mark (BEThL 31), Leuven 21988; Marius Reiser, Syntax und Stil des Markusevangeliums (WUNT II/11), Tübingen 1984; Peter Dschulnigg, Sprache, Redaktion und Intention des Markus-Evangeliums (SBB 11), Stuttgart 1984; Hans Peter Rüger, Die lexikalischen Aramaismen im Markusevangelium, in: Hubert Cancik, Markus-Philologie (Lit. § 6.2), 73–84.

Der einfache Stil des Markusevangeliums, der der hellenistischen Umgangssprache sehr nahesteht, ist durch die Sprache der z. T. mündlichen Quellen und vor allem durch die Septuaginta (§ 2.1.4) beeinflusst. Oft wurde vermutet, dass der Verfasser mit aramäischen Quellen arbeitete. Begründet wurde diese Hypothese mit der Existenz von 21 lexikalischen Aramaismen.175 Neuere Untersuchungen176 beweisen jedoch, dass sich der markinische Stil von der Sprache der vergleichbaren heidnischen Literatur nicht stark unterscheidet. Semitismen oder Pseudosemitismen waren für das Griechische des ganzen östlichen Mittelmeerraums bezeichnend. Die vielen Sprecher, für die das Griechische die zweite Sprache war und gleichzeitig die einzige, in der sie schreiben konnten, prägten Struktur und Wortschatz mit. Die Theologie des Evangeliums verrät, dass Markus ein besonders intelligenter Theologe mit guter rhetorischer und stilistischer Grundausbildung war (vgl. z. B. die Ironie in 15,2.9.12). Der einfache Stil (lat. sermo humilis) ist kein Zeichen für eine mangelnde Bildung des Evangelisten, sondern ein Mittel seiner literarischen Strategie, mit der er möglichst breite Schichten der Bevölkerung erreichen wollte (vgl. § 5.4). Einfache 173 Neuere Arbeiten, die von der Existenz einer vormarkinischen Passionsgeschichte ausgehen, stammen z. B. von A. Y. Collins, U. Sommer (ohne nähere Begründung) oder W. Reinbold. Eine Verbindung von Augenzeugenbericht und überliefertem Material vermutet S. Byrskog (s. Anm. 138). 174 Zum historischen Hintergrund der Passionsgeschichte sowie der Datierung des Todestags bei den Synoptikern und Johannes (§ 7.1.4) vgl. G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 152–154.388–414; A. M. Schwemer, Die Passion des Messias nach Markus und der Vorwurf des Antijudaismus, in: M. Hengel / dies., Der messianische Anspruch (Lit. § 5.6.1), 133–163. 175 H. P. Rüger (s. Anm. 144); M. Casey (s. Anm. 164). 176 M. Reiser, Syntax; ders., Sprache (Lit. § 2.1.4), 68–64.

382

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Partikeln wie „kaí euthýs“ („und sogleich“) dienen der Abgrenzung der Abschnitte, heben die Wendungen im Geschick Jesu hervor und unterstreichen die aktuelle Geltung der vergangenen Geschichte (1,12.21.23.29 u. ö.). Im Blick auf die Kompositionstechnik müssen auch die markinischen Summarien erwähnt werden, die aus der Tradition übernommen wurden, aber als verallgemeinernde Aussagen177 und als Mittel der Gliederung178 in die Gesamtkomposition eingefügt sind. Kurzum: Sehr wahrscheinlich hat Markus den Stoff des Evangeliums weitgehend redaktionell gestaltet. „Das Markusevangelium gehört ohne Zweifel zur Weltliteratur, wiewohl (oder weil?) es nicht im Sprachgewand des gebildeten Hellenismus daherkommt.“179 6.2.6

Gattung und Theologie

Die Evangelien stehen der Gattung der Biographie nahe (§ 2.2.4),180 bilden jedoch eine eigene Textgruppe oder Untergattung. Sie erzählen nicht nur die Geschichten von der entscheidenden Periode der Tätigkeit Jesu, sondern verbinden mit seinem Auftreten die frohe Botschaft vom Anbruch des Reiches Gottes. Genauer gesagt haben die Evangelien die Form einer kerygmatisch-historiographischen Biographie (D. Dormeyer).181 Diese einzigartige Besonderheit in der Verkündigung der Heilsbotschaft bringt der Terminus „Evangelium“ zum Ausdruck, es handelt sich um eine Gattung sui generis (1,1).182 Der Genitivzusatz „Jesu Christi“ bezeichnet in der Überschrift (1,1) nicht nur den Inhalt dieses Buchs als Evangelium von Jesus Christus (Genitivus 177

Vgl. W. Egger, Frohbotschaft und Lehre. Die Sammelberichte des Wirkens Jesu im Markusevangelium (FThSt 19), Frankfurt 1986, bes. 184. 178 Mk 1,32–34 (nach dem Tag in Kapernaum); 3,7–12 (nach Streitgesprächen); 6,53–56 (nach Wundern); vgl. Ch. Hedrick, The Role of “Summary Statements“ in the Composition of the Gospel of Mark, NT 26 (1984), 289–311. 179 Th. Söding, Der Evangelist in seiner Zeit, in: ders. (Hg.), Der Evangelist als Theologe, 11–62, dort 25. 180 Näheres bei D. Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie, 4 ff.; D. Frickenschmidt, Das Evangelium als Biographie (TANZ 22), Tübingen / Basel 1997, 508, hält die Evangelien für antike „Jesus-Biographien im Vollsinn des Wortes“. Vgl. auch R. A. Burridge, What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography (SNTS.MS 70), Cambridge 1992. 181 D. Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener, 36–38. 182 So betont M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 2 f.49.90–97.111.291. Justin apol. I,66,3; 67,3 u. ö. redet 15-mal (in Anlehnung an Xenophons „Erinnerungen an Sokrates“) von den „Erinnerungen der Apostel“.

6.2 Das Markusevangelium

383

obiectivus). Indirekt könnte er auch schon andeuten, dass letztlich Jesus selber der eigentliche Urheber ist (Genitivus auctoris), der diese gute Nachricht gebracht hat (1,14). Es ist eben nicht das Evangelium des Markus, sondern nur nach Markus, wie es später in der Evangelienüberschrift heißen wird (s. Anm. 141). Die Absicht des Evangelisten bestand darin, mehrere Formen der mündlichen und z. T. auch schon schriftlich fixierten Tradition über Jesus miteinander zu verbinden (§ 6.2.4; 6.2.4.1). Mit dieser integrierenden Strategie verfolgte Markus zugleich eine klare theologische Intention. Schon die Tatsache, dass der Evangelist in seiner biographischen Darstellung auch Sprüche und Reden überliefert – im Markusevangelium etwa ein Drittel des Umfangs –, zeugt von seinem Willen,183 verschiedenartige Stoffe zusammenzuführen. Charakteristisch für die Lehre Jesu sind vor allem die Gleichnisse, mit denen er seine Botschaft vom Reich Gottes anschaulich vergegenwärtigt. Außerdem ergänzt Markus die Worte Jesu durch seine Taten. Die Wundergeschichten, besonders die Dämonenaustreibungen, ermöglichen es, die Erzählung als Darstellung eines kosmischen, diesen Äon transzendierenden Konflikts zu präsentieren. In der Geschichte Jesu wird der endzeitliche Kampf Gottes mit seinem Widersacher, das Ringen zwischen Geist und Satan, ausgetragen.184 In dieser Geschichte ist die eschatologische Zukunft in einem historisch greifbaren Ausschnitt der Vergangenheit zur Wirklichkeit geworden. Wegen dieser zentralen Bedeutung bedürfen die Gleichnisse und Wunder Jesu einer ausführlicheren Behandlung.

Exkurs 6: Wunder Was heute unter dem Oberbegriff „Wunder“ zusammengefasst wird, ist eine nicht unproblematische Bündelung von Geschehnissen, die im Neuen Testament einen ganz unterschiedlichen Charakter haben. Zu ihnen werden so verschiedenartige Taten gerechnet wie Heilungen (s. Anm. 198 ff.), Totenerweckungen (s. Anm. 214), Speisungen, die Verwandlung von Wasser in Wein (s. Anm. 220 ff.) sowie die Sturmstillung und der Seewandel (s. Anm. 218 f.). Wir beginnen a) mit einigen allgemeinen Bemerkungen zur Terminologie und dem Wunderverständnis, behandeln dann b) die verschiedenen Wunderarten sowie c) die unterschiedliche Sicht bei den Synoptikern, Johannes und Paulus, um d) mit einem Resümee zu schließen. a) Terminologie: Das deutsche Wort „Wunder“ bezeichnet den seelischen Zustand der staunenden Verwunderung über etwas Außergewöhnliches. Von diesem ursprünglich subjektiven Verständnis („sich wundern“) erfolgte ein Bedeutungswandel zu einem Wortgebrauch im objektiven Sinn („Wunder“), z. B. für Bauwerke wie die sie183 184

Vgl. das Material zu diesem Problem bei D. Frickenschmidt (s. Anm. 180). Vgl. J. M. Robinson, Messiasgeheimnis und Geschichtsverständnis, 36.

384

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

ben Weltwunder der Antike (u. a. Pyramiden von Giseh, Artemistempel in Ephesos, Zeusbild des Phidias). Durch den Einfluss des naturwissenschaftlichen Denkens wurde das Verständnis der Wunder in der Neuzeit vielfach auf einen supranaturalistischen Eingriff Gottes in den Naturverlauf reduziert, der als Durchbrechung der Naturgesetze betrachtet wird. Da alle Vorgänge ausnahmslos als ein natürliches Geschehen begriffen werden, das vollständig durch die Naturgesetze determiniert ist, bereiten die Erzählungen von den Wundern Jesu dem modernen Menschen große Schwierigkeiten. Wovon das Neue Testament mit Bewunderung erzählt, ist zum Problem geworden.185 Diese Schwierigkeiten im Verständnis der Wunder haben in der Forschungsgeschichte186 des 20. Jh.s eine Vielzahl von Untersuchungen zur Wunderthematik ausgelöst: Einerseits haben formgeschichtliche Analysen (Rudolf Bultmann; Martin Dibelius; Gerd Theißen)187 die Stileigentümlichkeiten der Wundererzählungen mit ihren Motiven188 und die Gesetzmäßigkeiten ihrer Überlieferung189 herausgearbeitet. Als Faustregel gilt, dass die einfachere, weniger wunderhafte Version einer Erzählung normalerweise das ältere Traditionsstadium darstellt. Damit konnten einige wunderhafte Züge als spätere erzählerische Ausgestaltung eingestuft werden. Redaktionsgeschichtliche Studien zu den einzelnen Evangelien schlossen sich an (s.u. Anm. 235 ff.). Andererseits wurden die Wunder Jesu religionsgeschichtlich mit den Heilungen im Asklepiosheiligtum von Epidauros in Griechenland, den Praktiken des neupythagoreischen 185 Durch diese verengte Fragestellung wurde zugleich der Zugang zu wunderbaren Erfahrungen verschüttet, für deren Bewunderung die Naturgesetze ohne Belang sind (z. B. für die naturwissenschaftlich-medizinisch erklärbare Geschichte einer Genesung). 186 Vgl. zum Ganzen die informative Einführung (Lit.!) von B. Kollmann, Neutestamentliche Wundergeschichten. Biblisch-theologische Zugänge und Impulse für die Praxis (UB 477), Stuttgart u. a. 2002, hier 9–67; ders., Art. Wunder IV, TRE 36, 389–397. 187 Vgl. grundlegend G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten (StNT 8), Gütersloh 1974, 57–83, oder die Übersicht bei G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 256–284, hier 258 f.265–269, mit der Einteilung in Exorzismen und Therapien, Rettungs- und Geschenkwunder, Normenwunder und Epiphanien. 188 Vgl. z. B. die Schwere (Mk 5,2–5) und Dauer (Mk 5,25; 9,21; Lk 13,11; Joh 5,5) einer Krankheit, die vergeblichen Versuche der Ärzte (Mk 5,26), die Wunderhandlung, die Admiration und Akklamation am Schluss. 189 Vgl. z. B. die Dubletten oder Varianten bei der Speisung der 5000 (Mk 6,30–44) oder 4000 (Mk 8,1–10; die Reihenfolge weckt jedoch Zweifel an der These von der zahlenmäßigen Steigerung als Motiv für eine sekundäre Doppelung), den Blinden- (Mt 9,27–31; 20,29–34 par. Mk 10,46–52) und Sabbatheilungen (Mk 3,1–6 parr.; Lk 14,1–6), die Steigerung von Zahlenangaben bei der Speisung der „Fünftausend“ (Mk 6,44) durch den Zusatz „ohne Frauen und Kinder“, die dann hinzuzurechnen sind (Mt 14,21), die Summarien in Apg 2,22; 10,38, die Ausgestaltung durch die Szene vom sinkenden Petrus (Mt 14,28–31) und die Umsetzung des Bildworts von den Menschenfischern (Mk 1,17) in eine Geschichte vom Fischfang des Petrus (Lk 5,1–11; Joh 21,1–11); vgl. auch die Verfluchung des Feigenbaums in Mk 11,12–14 mit dem Gleichnis in Lk 13,6–9.

6.2 Das Markusevangelium

385

Wanderphilosophen Apollonius von Tyana († 96/97 n. Chr.) oder den Wundern jüdischer Charismatiker verglichen. Beispiele sind Choni (1. Jh. v. Chr.), der durch das Ziehen eines magischen Kreises Regen herbeiführte, der Exorzist Eleazar oder Chanina ben Dosa (1. Jh. n. Chr.), von dem Brotwunder, Exorzismen und Fernheilungen durch Gebet überliefert sind.190 Diese Parallelen zeigen, dass zur Zeit Jesu auch andere charismatische Wundertäter wegen außergewöhnlicher Fähigkeiten verehrt wurden. Zu einem besonderen Vollmachtsanspruch mussten entsprechende Taten gehören. Selbstverständlich spiegeln die Traditionen über Jesus als Wundertäter seine außerordentliche Wirkung wider, aber sie haben nur wenige Züge mit dem heute als Magie oder Schamanismus beschriebenen Phänomen gemeinsam.

Terminologisch entspricht dem deutschen Ausdruck „Wunder“ im Griechischen am ehesten das Wort „thaúma“, ein durch Wahrnehmung vermitteltes Wunder, das zum Staunen Anlass gibt. Dieser Terminus kommt in der Profangräzität häufig vor, wird im Neuen Testament als Bezeichnung für die Wunder Jesu aber gemieden und begegnet nur in Mt 21,15 (thaumásia) als Ausdruck für die Heilungen Jesu. Die Synoptiker reden bevorzugt von „dynámeis“ (Krafterweise, Machttaten), d. h. den Auswirkungen der Kraft Gottes,191 Lukas gelegentlich von „térata“ (z. B. Apg 2,22) im Sinne göttlicher Wunderzeichen. Johannes spricht stattdessen von „sēmeía“ (Zeichen), durch die Jesus seine göttliche Herrlichkeit offenbart und Glauben weckt.192 Bei der Aussendung überträgt Jesus diese Vollmacht auch den Zwölf (Mk 6,7.13), sodass in der Apostelgeschichte von Petrus, Philippus und Paulus noch weitere Wunder, vor allem Heilungen, berichtet werden.193 In den apokryphen Apostelakten wird die Wundertätigkeit in nachneutestamentlicher Zeit romanhaft weiter ausgemalt.194

190 Vgl. die Textbeispiele bei G. Theißen / A. Merz, Jesus, 256–284, oder B. Kollmann, Wundergeschichten, 29–56, zu Epidauros und Apollonius auch H.-J. Klauck, Umwelt I (Lit. § 2.2), 130–146. 191 Mk 6,2.5; Mt 11,20.21.23; Lk 19,37; Apg 2,22; 8,13. 192 S. Anm. 242 f. (vgl. § 7.1.4); Wunder Jesu werden auch beschrieben im Testimonium Flavianum (Josephus Ant. 18,63 f.; vgl. G. Theißen / A. Merz, Jesus, 75–82) und Papyrus Egerton (§ 6.1.6.4). Die Logienquelle spricht von Wundern nur beim Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,5–13 par. Lk 7,1–10 Q), in den Worten über das Dämonenaustreiben (Lk 11,18–20 Q) und beim Zeichen des Jona (Lk 11,29–32 Q). Das Thomasevangelium enthält keine Wunder, sondern nur den Heilungsauftrag für die Jünger (EvThom 14). 193 Apg 3,1–10 (Heilung eines Gelähmten im Tempel durch Petrus); 8,6 f. (Exorzismus durch Philippus); 9,32–35.36–43 (Heilung des gelähmten Äneas und Auferweckung der Tabita durch Petrus); 14,8–18 (Heilung eines Gelähmten durch Paulus); 16,16–18 (Exorzismus des Wahrsagegeists durch Paulus); 20,7–12 (Totenerweckung durch Paulus); 28,1–10 (Heilung durch Paulus) sowie summarisch 2,43; 5,12–16; 14,3; 15,12; 19,11 f.; vgl. das paulinische Selbstzeugnis (Röm 15,19; 2Kor 12,12 [s.u. Anm. 248]; vgl. Hebr 2,4), das Charisma der Wundertätigkeit (1Kor 12,9 f.28; Gal 3,5) und die Krankensalbung in Jak 5,14–16 in der Tradition von Mk 6,13 (§ 8.8.2e). 194 Vgl. W. Schneemelcher, NTApo6 II, 71 ff.

386

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Im Neuen Testament sind die Wunder ein Ausdruck der übermenschlichen Vollmacht Jesu (exousía),195 die den Rahmen alltäglicher Erfahrung sprengt. Sie werden als Hinweis auf seine außergewöhnlich-überirdische Macht erfahren (s. Anm. 191) und lösen Verwunderung, Bewunderung, Erstaunen oder Erschrecken aus. So kündigt sich bei Markus im ersten Wunder, der Austreibung des unreinen Geistes (Mk 1,23–28), bereits der kosmisch-eschatologische Kampf mit Satan als dem Widersacher Gottes an (Mk 3,22–27). Lukas fügt noch hinzu, dass mit dieser Tat das Reich Gottes anbricht (Lk 11,20 Q). Die Pointe liegt darin, dass der Satan als oberster Herrscher über die Dämonen in den Exorzismen Jesu die Herrschaft eines Stärkeren anerkennen muss (Mk 3,22; Mt 9,34). Damit wird nicht die Kausalität der Naturgesetze außer Kraft gesetzt, sondern die Macht des Teufels gebrochen sowie der Krankheit und dem Leid ein Ende bereitet. Die Reaktion der Menge ist das erstaunte Entsetzen über die Vollmacht dieser neuen Lehre (Mk 1,22.27). Die Wunder Jesu bestätigen seine vorangegangene (für die Leser wohl schon nachösterlich gefüllte) Verkündigung,196 weshalb auch der große Wunderzyklus Mk 4,35–5,43 erst auf die Streitgespräche (2,1–3,6) und Gleichnisse (4,1–34) folgt. Die Wunder haben eine autorisierende Funktion, aber die Forderung nach einem „Zeichen vom Himmel“, durch das Jesus seine Glaubwürdigkeit von Gott her legitimieren soll, weist er als (satanische) Versuchung zurück.197 b) Wunderarten: Die hinsichtlich Anzahl und Bedeutung wichtigsten Wundertaten Jesu sind seine Heilungen. Dabei geht es nicht nur um Krankheit und Gesundheit im Sinn der heutigen naturwissenschaftlich orientierten Medizin, sondern primär um den metaphysisch-religiösen Zusammenhang von Heilung und Heil. Das Hauptinteresse gilt nicht einfach der Behandlung unterschiedlicher Krankheiten, sondern in allererster Linie der Macht Jesu, der mit seinen Heilungen den Anbruch der Herrschaft Gottes zeichenhaft verwirklicht, eine Erfahrung der messianischen Heilszeit vorwegnimmt und in dieser eschatologischen Perspektive einzelnen Menschen exemplarisch ein Erlebnis des Heilwerdens vermittelt. Die Heilungen Jesu sind unlösbar mit der Verkündigung des Gottesreichs verbunden, wie es Markus schon mit Blick auf die Anfänge in Kapernaum erzählt198 und bei der Aussendung der Jünger bestätigt.199 Auch die Summarien200 erwähnen nur Heilungen, keine „Naturwunder“.

195 196 197 198 199 20 0

Mk 1,22.27; 2,10; 11,28 ff. Mk 1,14 f.21 f.39; 2,2; 6,34. Mk 8,11–13; Mt 12,38 f.; vgl. die Versuchung Jesu in Mk 1,13; Mt 4,1.3. Mk 1,15.21–39; vgl. Mt 4,17.23; 9,35; Lk 4,16 ff. Mk 6,7.12 f.; vgl. 3,14 f.; Mt 10,7 f. Q. Mk 1,32–34; 3,7–12; 6,53–56.

6.2 Das Markusevangelium

387

Bei den Heilungen muss zwischen „Exorzismen“ und „Therapien“ unterschieden werden. Bei den Exorzismen wird eine Krankheit als aggressive Macht erlebt, die von außen kommt bzw. ein- und ausfährt, sodass jemand einen unreinen, bösen Geist hat oder von ihm besessen ist.201 Mt 17,25 beschreibt den Besessenen als mondsüchtig, d. h. nach antiker Terminologie als klassischen Fall eines Epileptikers. Die Dämonen beschränken sich aber keineswegs auf Geisteskrankheiten, sondern verursachen auch Stummheit, Blindheit, Aussatz oder eine gebeugte Körperhaltung.202 Diese Breite der Krankheitsbilder zeigt, dass das Interesse an den Dämonen nicht einer differenzierenden Diagnose als „Krankheitserreger“ in einem medizinischen Sinn gilt, sondern summarisch als Urheber lebenshemmender und existenzzerstörender Erfahrungen, die letztlich auf Satan als den Widersacher Gottes zurückgeführt werden (s. Anm. 195 f.). Da Jesus diese Geister durch ein Befehlswort austreibt (Mk 1,25; 5,8; 9,25), werden solche Heilungen „Exorzismus“ genannt (exorkízein = beschwören; vgl. Apg 19,13). Exorzistische Elemente werden in den Erzählungen von Matthäus zurückgedrängt203 oder gestrichen,204 bei Johannes fehlen Dämonenaustreibungen völlig. Bei den Therapien205 wird vorausgesetzt, dass eine Krankheit eine Schwachheit oder Kraftlosigkeit ist (asthéneia).206 Dementsprechend besteht die Heilung bzw. Therapie (therapeúein = heilen) in der Überwindung dieser Schwachheit.207 Sie beruht auf der göttlichen Vollmacht Jesu (s. Anm. 195) und geschieht bei den Therapien – ohne dass dies explizit ausgesprochen werden müsste – durch das Überströmen göttlicher Kraft (s. Anm. 191), d. h. konkret durch körperliche Berührung (Mk 5,21 ff.), durch Speichel (Mk 7,33; 8,23) oder durch Handauflegung.208 Eine dämonische Interpretation, die das Leiden auf die krankmachende Wirkung von Geistern zurückführt (s. Anm. 201 ff.), ist damit keineswegs ausgeschlossen (Lk 13,10–17). Jede Aufteilung der Wundererzählungen nach Gattungen hat etwas Künstliches, alle Perikopen enthalten stets auch Elemente anderer Wunderarten. Außerdem gibt 201 Mk 1,23–27 (Besessener in der Synagoge von Kapernaum); 5,1–20 (Besessener von Gerasa); 9,14–29 (besessener Junge). Vgl. E. Sorensen, Possession and Exorcism in the New Testament and Early Christianity (WUNT II/157), Tübingen 2002, bes. 118–167. 202 Vgl. Stummheit (Mk 9,17.25; Mt 9,32–34), Blindheit (Mt 12,22–24), Aussatz (Mk 1,43 f.) oder eine verkrümmte Körperhaltung (Lk 13,10–17); zur dämonischen Krankheitsdeutung s. U. Heckel, Der Dorn im Fleisch. Die Krankheit des Paulus in 2Kor 12,7 und Gal 4,13 f., ZNW 84 (1993), 65–92. 203 Vgl. Mk 1,39 mit Mt 4,23. 204 Vgl. Mk 1,23–28; 5,8 f.; 9,20–25. 205 Mk 1,29–31 (Schwiegermutter des Petrus); 1,40–45 (Aussätziger); 5,21–34 (Frau mit den Blutungen); 7,31–37 (Taubstummer); 8,22–26 (Blinder); Lk 13,10–17 (verkrümmte Frau). 206 Lk 13,11 f.; Joh 5,2–7. 207 Mk 6,5; Lk 5,15; 8,2. 208 Mk 5,23; 7,32 f.; 8,22–25; Lk 4,40; 13,13; vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 326 f.343 f.

388

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

es Mischformen, wenn z. B. Heilungen am Sabbat zum Anlass von Streitgesprächen werden.209 Solche Sabbatheilungen braucht man nicht als sog. Normenwunder, die gegen eine religiöse Vorschrift verstoßen, zu einer eigenen Untergattung zu verselbstständigen (Gerd Theißen), auch wenn sie in der Tat auf den Bruch der Sabbatnorm angelegt sind. Ihre eigentliche Pointe liegt an einer anderen Stelle: Im Judentum galt der Sabbat210 als Gottes Ruhetag (Gen 2,1–3) und wurde im Rahmen der typologischen Entsprechung von Urzeit und Endzeit zu einem Symbol für das zukünftige Heil (vgl. Hebr 4,3–11; § 8.5.3a). Eine Heilung am Sabbat konnte daher die anbrechende Gottesherrschaft in besonderer Weise vergegenwärtigen. Andererseits konnte sie aber auch als Bruch des Sabbatgebots (Ex 20,8–11) betrachtet werden und zum Konflikt führen.211 Mit einer ähnlich heilvollen Perspektive wird auch die Heilung des Gelähmten durch die Sündenvergebung erzählt, die eigentlich Gott vorbehalten ist (Ps 103,3 f.) und deshalb ebenfalls ein Streitgespräch auslöst (Mk 2,1–12). In beiden Heilungsformen, den Exorzismen und den Therapien, ist die göttliche Macht Jesu (s. Anm. 191.195) zur Überwindung der Krankheit entscheidend. Mit den Dämonenaustreibungen Jesu beginnt die Entmachtung des Bösen, mit seinen Therapien das Heilwerden des ganzen Lebens, ja der ganzen Schöpfung. Am Ende steht nicht einfach die Gesundheit der Kranken, sondern die umfassende Erkenntnis: „Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Sprachlosen reden“ (Mk 7,37). Durch diese Schlussbemerkung wird die geschehene Heilung in einen weiteren Horizont gestellt, der Gottes heilvolles Handeln vom Uranfang bis zur Vollendung der Welt einschließt und bei diesem Taubstummen im heidnischen Gebiet der Dekapolis (7,31) auch geographisch schon über die Grenzen Israels hinausgeht. Denn zum einen erinnern die abschließenden Worte an die Erzählung von der Erschaffung der Welt: „Es war sehr gut“ (Gen 1,31; vgl. Sir 39,21), zum anderen greifen sie die Verheißung zukünftigen Heils aus Jes 35,5 f. auf, dass die Blinden sehen und die Tauben hören werden.212 So wird in den Heilungen Jesu schon ein Stück neue Welt ohne Leid zeichenhaft konkret verwirklicht.213 Weit über die Gesundung einzelner Kranker hinaus sind sie ein vorweggenommenes Zeichen für das Heilwerden der ganzen Schöpfung. Vor dem Hintergrund dieser Heilserwartung sind auch die Totener weckungen als gesteigerte Form eines Heilungswunders zu verstehen.214 Sie erinnern an die Toten209 Mk 3,1–6 (verdorrte Hand); Lk 13,10–16 (verkrümmte Frau); 14,1–6 (Wassersüchtiger); vgl. Joh 5,1–47 (Gelähmter am Teich Betesda); 9,1–51 (Blindgeborener) und das Streitgespräch zur Sündenvergebung (Mk 2,1–12). 210 Vgl. L. Doering, Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum (TSAJ 78), Tübingen 1999, hier bes. 441–478. 211 Vgl. ohne Wunder Mk 2,23–28 (Ährenraufen am Sabbat). 212 Vgl. Lk 7,22 Q sowie Jes 61,1 f.; 4Q521 2 II und Lk 4,18–21. 213 Apk 21,1.4; vgl. Jes 35,10; 65,17.19; 66,22. 214 Mk 5,21–43 (Tochter des Jairus); LkS 7,11–17 (der junge Mann in Nain); Joh 11,1–44

6.2 Das Markusevangelium

389

erweckungen durch die Propheten Elia (1Kön 17,17–24) und Elisa (2Kön 4,8.17–37), überbieten diese aber in mehrfacher Hinsicht. Denn bei der Auferweckung der Tochter des Jaïrus (Mk 5,21–43) wird die ganze Geschichte durch das aramäische „Talita kum!“, seine griechische Übersetzung „égeire“ („Steh auf!“), und das sofortige Aufstehen des Mädchens (anéstē; 5,41 f.),215 schon zu einem Hinweis auf die Auferstehung von den Toten, die Jesus bei der Sadduzäerfrage aufgreifen (12,18–27) und an Ostern selber erfahren wird (16,6: ēgérthē = er ist auferstanden). Letztlich beruhen die Totenauferweckungen Jesu auf der Kraft Gottes, die die Auferstehung bewirkt (12,24 ff.). Die eigentliche Pointe ist nicht wie bei Elia und Elisa die Wiederbelebung eines Menschen, der wieder sterben muss, sondern die Analogie zur Auferweckung Jesu von den Toten durch Gott, die die österliche Hoffnung der Glaubenden auf ein neues, ewiges Leben jenseits des Todes begründet. Erst von Ostern her erschließt sich daher der Sinn der Totenerweckungen Jesu in ihrer eigentlichen Tragweite. Bei Heilungen ist vom Glauben die Rede – und sei es stellvertretend bei den vier Trägern (Mk 2,5). Mehrmals, aber nicht immer sagt Jesus: „Dein Glaube hat dich gerettet.“216 Dennoch ist der Glaube keine Fähigkeit, die der Mensch mitbringen müsste, sondern das Vertrauen in die Kraft Jesu, die gesund macht (5,30). Jede Hilfe ist möglich für den Glaubenden (9,22 f.),217 der Gott zutraut, dass dieser alle Dinge vermag (10,27; 14,36). Solcher Glaube kann nur erfleht und geschenkt werden: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben“ (9,24). Die Hilfe besteht in der Errettung aus der Not, bei der das Verbum „sṓzein“ (retten) auf den Zusammenhang von Heilung und Heil anspielt. Die Heilung wird Menschen zuteil, die Jesus vertrauen. Angesichts der Ablehnung in Nazareth kann Jesus keine Wunder tun wegen des Unglaubens, d. h. wegen der mangelnden Offenheit für Gottes Wirken in den Taten Jesu (6,5 f.). Bei der Sturmstillung (Mk 4,35–41) und dem Seewandel (6,45–52) handelt es sich um Epiphanien,218 die demonstrieren sollten, dass Jesus mit seiner Vollmacht (s. Anm. 195) an der Macht des Schöpfers Anteil hat und Herr auch über die Elemente ist (Hiob 9,8). Die Kategorisierung als „Naturwunder“ ist wegen der erwähnten Assoziationen mit dem modernen Naturbegriff wenig hilfreich.219 Es geht nicht darum,

(Lazarus); Apg 9,36–43 (Auferweckung der Tabita durch Petrus); 20,7–12 (Totenerweckung durch Paulus). 215 Vgl. ebenso beim Jüngling zu Nain (Lk 7,14f.) und noch deutlicher bei Lazarus in Joh 11 (s. Anm. 245). 216 Mk 5,34 (Frau mit den Blutungen); 10,52 (Bartimäus); LkS 17,19 (Aussätziger); vgl. Mk 5,36; 9,23 f. 217 Vgl. Mk 9,29; 11,22–24. 218 Vgl. das Offenbarungswort in Mk 6,50: „Seid getrost, ich bin’s, fürchtet euch nicht!“ 219 Diese Elemente einer göttlichen Erscheinung werden bei der Verklärung Jesu (Mk 9,2 ff.) erzählerisch weiter entfaltet und von Matthäus (28,1 ff.) an Ostern zu einer Angelophanie und Christophanie ausgestaltet. In dieser Perspektive steht auch die Parusie „in (seiner

390

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

dass Jesus Naturgesetze bricht, sondern wie der Schöpfer Herr über die Naturgewalten ist. Eine eigene Gruppe bilden die Geschenkwunder, zu denen die Speisungen der Fünf- (Mk 5,32–44) bzw. Viertausend (8,1–10) gehören. Diese gehen erstens historisch von den Erfahrungen des gemeinsamen Essens und Trinkens mit Jesus aus,220 sind zweitens alttestamentlich in einer überbietenden Analogie nach dem Vorbild der Brotvermehrung Elisas gestaltet (2Kön 4,42–44), erinnern drittens motivisch an das Gleichnis vom großen Festmahl,221 nehmen viertens eschatologisch die Verheißung einer endzeitlichen Mahlgemeinschaft vorweg (Lk 13,29 Q; 22,29 f.), in der niemand hungern wird (Lk 6,21), und spielen fünftens auf die Praxis der Herrnmahlsfeier an.222 Die ganze Weite dieses Assoziationshorizonts wird in der Brotrede von Joh 6, der ältesten erhaltenen „Predigt“ über eine Speisungsgeschichte, weiter ausgedeutet (§ 7.1.5.1c). Den Geschenkwundern ist auch die Verwandlung von Wasser in Wein als Symbol der Heilszeit bei der Hochzeit in Kana zuzuordnen (Joh 2,1–11) – das einzige Zeichen im Johannesevangelium, das keine synoptische Parallele hat.223 Von Jesus werden keine Strafwunder gegen Menschen berichtet,224 sondern nur die Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12–14.20 f.). Diese stellt als Zeichenhandlung das Gericht über Israel dar und wird in der Parallelüberlieferung Lk 13,6–9 bloß in Form eines Gleichnisses wiedergegeben (vgl. die Zurückweisung des Gottesurteils in Lk 9,52–55). c) Das Wunderverständnis bei den Synoptikern, Johannes und Paulus: Von den Evangelisten werden bei den Wundern Jesu unterschiedliche Züge hervorgehoben, ohne sie kritiklos der volkstümlichen Wundersucht auszuliefern. Markus war der erste, der die Wunder Jesu in seinem Evangelium literarisch mit dem Passionszyklus (Mk 14–16) verband. Deshalb ging man in den 60-er und 70-er Jahren des 20. Jh.s davon aus, dass diese Verbindung sich gegen das Bild Jesu als Wundertäter (griech. theíos anḗr = göttlicher Mensch)225 und entsprechende literarische Traditionen, die ganzen) Kraft“, die Markus bereits vor der Verklärung in Mk 9,1 ankündigt (vgl. 14,62, ferner Röm 1,3 f.). 220 Mk 2,13–17 (Berufung des Levi); LkS 19,5.9 (Zachäus; § 6.4.5.2); 15,1 f.; vgl. polemisch Lk 7,34 Q: „Fresser und Weinsäufer“. 221 Mt 22,1–14 par. Lk 14,15–24 Q? 222 Vgl. Mk 6,41; 8,6 f. mit 14,22. 223 Ob bei dieser Verwandlung von Wasser in Wein außer der biblischen Symbolik für die eschatologische Heilsfülle (Jes 25,6; Am 9,13; Joel 4,18; Gen 49,10–12) und den Anbruch der messianischen Heilszeit (Jes 62,2–5; Apk 19,7.9) noch Berührungen mit dem Kult des griechischen Weingotts Dionysos vorliegen, ist umstritten. 224 Vgl. aber Apg 5,1 ff. (Gottesurteil über Hananias und Saphira); 13,9–12 (Paulus). 225 Zur Gestalt des Gottmenschen in der Spätantike vgl. L. Bieler, Theíos anḗr I–II, Wien 1935–1936; G. Theißen, Wundergeschichten (s. Anm. 187), 218–221, sowie zur Kritik B. Black-

6.2 Das Markusevangelium

391

sog. Aretalogien,226 wandte.227 In Wirklichkeit beabsichtigte Markus eine Integration. Er interpretierte die Wundertradition durch ihre Verknüpfung mit den Worten Jesu und der Passionsgeschichte: Die Wunder bestätigen die Reich-Gottes-Verkündigung und sind ihr Bestandteil.228 Sie belegen das Mitleid Gottes mit einem Menschen („es jammerte ihn“).229 Zugleich dienen die Wunder in der Darstellung des Markus als innergeschichtliche Vorabbildung der endzeitlichen Auferstehung.230 Im Sinn des Messiasgeheimnisses (§ 6.2.7.4) führen sie aber nicht zur vollen Erkenntnis Jesu, die erst von der Passion und Ostern her möglich ist (9,9; 15,39).231 Bei der Person Jesu, dem leidenden Menschensohn (10,45), zeugen sie von seiner messianischen Würde als Sohn Gottes (12,35–37; vgl. Röm 1,3 f.; § 5.6.1.2).232 Der Glaube ist bei den Wundern ein Ausdruck des persönlichen Vertrauens zu Jesus, das für Markus christologisch geprägt ist.233 So rahmen die beiden Blindenheilungen in Mk 8,22–26 und 10,46–52 die zentralen Ankündigungen über den Weg ans Kreuz. Nach der Klage über das Unverständnis der Jünger (8,17–21) öffnet Jesus ihnen durch die Heilung des Blinden bei Betsaida die Augen (8,18) für das Heil, das Gott in seinem Sohn offenbart hat.234 Damit hat Markus den Weg zu einem symbolischen Verständnis einburn, Theios Aner and the Markan Miracle Traditions. A Critique of the Theios Aner Concept as an Interpretative Background of the Miracle Traditions Used by Mark (WUNT II/40), Tübingen 1991; D. S. du Toit, Theios anthropos. Zur Verwendung von theios anthropos und sinnverwandten Ausdrücken in der Literatur der Kaiserzeit (WUNT II/91), Tübingen 1997. 226 Vgl. M. Hadas / M. Smith, Heroes and Gods. Spiritual Biography in Antiquity, New York 21970. 227 So z. B. T. J. Weeden, The Heresy that Necessitated Mark’s Gospel, ZNW 59 (1968), 145–158; ders., Mark, Traditions in Conflict, Philadelphia, PA 1971; U.-B. Müller, Die christologische Absicht des Markusevangeliums und die Verklärungsgeschichte, ZNW 64 (1973), 159–193; L. Schenke, Die Wundererzählungen des Markusevangeliums (SBB 5), Stuttgart 1974, 407 f.; laut W. Schenk, Der Passionsbericht (Lit. § 6.2.4), ist die markinische Passionsgeschichte polemisch gegen das apokalyptische und doketisch-heroische Bild Jesu eingestellt. 228 Betont von T. Dwyer, The Motif of Wonder in the Gospel of Mark (JSNTSS 128), Sheffield 1996, bes. 198 f. 229 Vgl. splanchnízesthai (Mk 1,41; 6,34; 8,2; 9,22); vgl. L. Wells, The Greek Language of Healing from Homer to New Testament Times (BZNW 83), Berlin / New York 1998, bes. 127–130; B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter (FRLANT 170), Göttingen 1996, 314 ff. u. a. 230 Vgl. Mk 5,41 f. mit 12,18–27; 16,6; vgl. K. Kertelge, Wunder Jesu, 201 f. 210; U. Luz, Geheimnismotiv, 28 ff. 231 Vgl. D. A. Koch, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums (BZNW 42), Berlin / New York 1975, 192 ff. 232 Vgl. W. Telford, The Theology of the Gospel of Mark, 33 ff. 233 Vgl. Th. Söding, Glaube bei Markus, 546 f. 234 Vgl. H.-J. Eckstein, Glaube und Sehen. Markus 10,46–52 als Schlüsseltext des Markusevangeliums, ZNW 87 (1996), 33–50, zuletzt in: ders., Der aus Glauben Gerechte wird leben (BVB 5), Münster 2003, 81–100.

392

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

geschlagen, den das vierte Evangelium bei der Heilung des Blindgeborenen in Joh 9,1–41 vom äußeren Sehen Jesu zur tieferen Erkenntnis des Glaubens weiterführen wird. Ähnlich verfährt Markus beim Gespräch Jesu über das Brot (Mk 8,14–21) nach den Speisungsgeschichten (6,32–44; 8,1–10), das Johannes in der Brotrede ebenfalls ausgestalten wird (Joh 6; § 7.1.5.1c). Matthäus hat die markinischen Wundererzählungen stark gestrafft,235 nach der Bergpredigt (Mt 5 – 7) zum Beweis der Vollmacht Jesu als Messias der Tat236 auf Kap. 8 f. konzentriert und durch Summarien gerahmt (4,23–25; 9,35; § 6.3.1).237 Jesus wird verstärkt als der sich erbarmende Davidssohn gezeichnet238 und durch die Erfüllungszitate aus Deuterojesaja in die Tradition des leidenden Gottesknechts gestellt.239 Neben dieser messianischen Interpretation richtet Matthäus die Wundergeschichten in Kap. 8 f. schon mit einer ekklesiologischen Transparenz auf die Jüngerschaft aus (§ 6.3.4.3c), indem er die Geschichte vom Hauptmann von Kapernaum als Paradigma eines gläubig gewordenen Heiden (8,5–13 Q), das Wort von der Nachfolge (8,18–22 Q) und die Berufung des Zöllners Matthäus (9,9–13) einfügt. Bei der Sturmstillung betont Matthäus redaktionell das Einsteigen ins Boot als Sinnbild für die Glaubenserfahrung in der Nachfolge Jesu (8,23 di ff. Mk 4,36). Die Vollmacht zur Sündenvergebung (Mt 9,6) wird bei der Heilung des Gelähmten auch den Menschen übertragen (9,8), damit sie in der Gemeinde weiter geübt wird (18,18; vgl. 16,19). Lukas verrät in seinem Sondergut ein besonderes Interesse an der Wunderthematik.240 Er gestaltet die Antrittspredigt Jesu in Kapernaum (Lk 4,16 ff.) redaktionell zu einer programmatischen Rede aus, die den messianischen Anspruch Jesu mit den Verheißungen der Evangeliumsverkündigung und der Blindenheilung durch den Geistgesalbten aus Jes 61,1 f. begründet.241 Wort und Tat sind einander ergänzende Beweise für die Vollmacht (4,32.36) dieses endzeitlichen Wunderpropheten (24,19). Nur LkS 8,1–3 berichtet von den Frauen Maria Magdalena, Johanna, Susanna und anderen, die von Jesus geheilt wurden und sich ihm anschlossen. Die Wundertätigkeit Jesu wird in Apg 2,22; 10,38 zum Gegenstand der Predigt des Petrus und durch die Praxis des Petrus, Philippus und Paulus weitergeführt (s. Anm. 193).

235

Vgl. die Auslassung von Mk 7,31–37; 8,22–26. Vgl. Mt 11,2: „die Werke des Christus“ (§ 6.3.3.3c). 237 Vgl. U. Luz, Die Wundergeschichten von Mt 8–9, in: G. F. Hawthorne / O. Betz (Hg.), Tradition and Interpretation in the New Testament (FS E. E. Ellis), Grand Rapids, MI / Tübingen 1987, 149–161. 238 Mt 9,27; 15,22; 20,30 f.; 21,15 (redaktionell); vgl. § 6.3.3.1. 239 Mt 8,17 = Jes 53,4; Mt 12,18–21 = Jes 41,1–4 (§ 6.3.3.3a). 240 Lukas lässt zwar mit der großen Lücke Mk 6,45–52 (Seewandel); 7,31–37 (Heilung des Taubstummen); 8,1–10.22–26 (Speisung der 4000 und Heilung des Blinden in Gerasa) aus, hat aber als Sondergut Lk 5,1–11 (Fischzug des Petrus); 7,11–17 (Auferweckung des Jünglings in Nain); 13,10–17 (Heilung der verkrümmten Frau); 14,1–6 (Heilung des Wassersüchtigen); 17,11–19 (Heilung der zehn Aussätzigen) und das Summarium in 8,1–3. 241 Lk 4,16–20; vgl. 7,22 Q; 4Q521 2 II und § 6.4.5.3b. 236

6.2 Das Markusevangelium

393

Johannes242 stellt die synoptische Überlieferung (§ 7.1.3) in einen völlig anderen Deutungsrahmen, indem er die sieben Wunder243 als „sēmeía“ (Zeichen) interpretiert (§ 7.1.4), die exklusiv nur Jesus tut und niemand sonst (im Unterschied zur Aussendung der Zwölf Mk 6,7.13). Die Nummerierung wird nach Joh 4,54 (vgl. 2,11) nicht mehr fortgesetzt, weil die Heilung des Sohnes des königlichen Beamten das zweite erzählte Zeichen und das zweite Wunder in Kana ist, während die übrigen am See Genezareth (6,1) oder in Jerusalem (5,1; 9,7) bzw. dem nahegelegenen Betanien (11,1) stattfinden (die synoptischen Evangelien berichten keine Wunder in Jerusalem). Die Zeichen sind nur der sinnlich wahrnehmbare Teil der „Werke“ (érga; 7,3), mit denen das ganze Wirken Jesu umschrieben wird (5,17–21). Anders als bei den Synoptikern sind die Wunder für Johannes keine „Krafterweise“ der Vollmacht Jesu (dynámeis), sie bewirken keine Austreibung dämonischer Mächte (es wird kein Exorzismus erzählt) und sie bedeuten auch nicht den Anbruch der Gottesherrschaft. Im vierten Evangelium gelten die Wunder vielmehr als Manifestationen der göttlichen Herrlichkeit, die über die einzelnen Taten auf die Person und das Werk Jesu hinausweisen. Johannes versteht sie als sichtbare Demonstrationen, die Gottes „Herrlichkeit“ (dóxa) öffentlich machen (2,11; 11,40) und zur Erkenntnis des Glaubens an Jesus Christus als den wahren Lebensspender führen sollen.244 Insbesondere die Brotrede in Kap. 6 schöpft ausgehend von der Speisung der Fünftausend (vgl. Mk 6,32–44) das reiche symbolische Sinnpotenzial aus und eröffnet durch das Offenbarungswort „Seid getrost, ich bin’s, fürchtet euch nicht!“ in der Epiphanie-Szene beim Seewandel (Joh 6,20 = Mk 6,50) den Reigen der Ich-bin-Worte Jesu (§ 7.1.5.1c). Eine analoge Funktion haben auch die Sprüche über „das Licht der Welt“ bei der Blindenheilung in Joh 8,12; 9,1 ff. sowie „die Auferstehung und das Leben“ in der Lazarusgeschichte in 11,25. Das letzte und größte Wunder ist die ins Unermessliche gesteigerte Auferweckung des Lazarus, in der schon die Auferstehung Jesu vorabgebildet wird.245 Die Krankheit des Lazarus führt nicht zum Tod, sondern dient zur Verherrlichung Gottes (11,4a; vgl. 9,3). Die göttliche Herrlichkeit zeigt sich darin, dass Jesus, der selber die Auferstehung und das Leben ist (11,25 f.), den Toten aus dem Grab ins Leben zurückruft (11,40). Die Verherrlichung Jesu (11,4b) geschieht, indem er durch die Auferweckung des bereits Verstorbenen („er stinkt schon“; V.39) seine Herrlichkeit erweist, dadurch den Todesbeschluss provoziert (11,47 ff.) und durch die Kreuzigung zum Vater erhöht wird.246 Für die Glaubenden ist diese Herrlichkeit des ewigen Lebens schon gegenwärtig sichtbar (11,40). Ohne Glauben werden die Wunder Jesu nur unvollkommen erkannt (3,1 f.), bleiben ein missverständliches und missdeutbares Mirakel (4,46 ff.; 6,2.14 f.26) oder werden sogar zum Anlass des Todesbeschlusses und damit des Unglaubens (11,47; 12,37–40). Aber

242

Vgl. Ch. Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,1, 135–142, sowie M. Labahn, Offenbarung in Zeichen und Wort (WUNT II/117), Tübingen 2000; W. H. Salier, The Rhetorical Impact of the Semeia in the Gospel of John (WUNT II/186), Tübingen 2004; M. Becker, Zeichen, in: J. Frey / U. Schnelle (Hg.), Kontexte (Lit. § 7.1), 232–276. 243 Joh 2,1–12 (Weinwunder in Kana; s. Anm. 223); 4,43–54 (Heilung des Sohns eines königlichen Beamten); 5,1–18 (Heilung eines Gelähmten am Teich Betesda); 6,1–15.16–21 (Speisung der 5000 und Seewandel); 9,1–41 (Heilung eines Blindgeborenen); 11,1–44 (Auferweckung des Lazarus). 244 Joh 2,11.23; 4,54; 6,2.14; 20,30 f. u. ö. 245 Vgl. das Felsengrab und die Tücher in Joh 11,38.44 und 19,40; 20,1.7. 246 Joh 3,14; 8,28; 12,32.34.

394

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

der eigentliche, wahre Sinn dieser Zeichen ist der Glaube, der durch Christus das ewige Leben hat (20,30 f.). Paulus steht der Tradition christlicher Wundererscheinungen kritisch gegenüber. Indem er der jüdischen Zeichenforderung (vgl. Mk 8,11–13) die Botschaft vom gekreuzigten Messias (Christus) entgegenhält (1Kor 1,22 f.), reagiert er auf die enthusiastischen Tendenzen einiger Pneumatiker in der korinthischen Gemeinde, die das Leid dieser Welt schon hinter sich gelassen zu haben meinen (1Kor 4,6 ff.; § 5.12.1). Dass seine flehentliche Bitte um die Heilung von seiner chronischen Krankheit („Pfahl im Fleisch“) nicht erfüllt wurde, hat Paulus angesichts der gegnerischen Vorwürfe im 2. Korintherbrief zu einer vertieften existentiellen Reflexion der göttlichen Kraft vor dem Hintergrund der Kreuzestheologie geführt.247 Doch darf diese kritische Reaktion nicht mit einer Verachtung jeglicher Wunder gleichgesetzt werden. Paulus schätzt die Fähigkeit zu Heilungen als göttliche Gnadengabe (1Kor 12,9 f.28; Gal 3,5) und hat kraft seiner apostolischen Vollmacht (2Kor 10,8; 13,10) auch selber Wunder getan (Röm 15,19). In dieser Hinsicht braucht er sich von anderen Aposteln (2Kor 11,5; 12,11) keine Defizite vorzuwerfen lassen. Nur als primäres Erkennungszeichen oder Beweis für seine apostolische Legitimität lehnt er Wunder ab (2Kor 12,12), weil er die wahren Kennzeichen der Apostel in der Gründung von Gemeinden und der Auferbauung ihres Glaubens sieht.248

d) Resümee: Durch das naturwissenschaftlich geprägte Denken bereiten die Wundererzählungen heute besondere Schwierigkeiten. Die formgeschichtliche Analyse hat gezeigt, dass wir im Lauf der Überlieferung mit einer Steigerung und Ausmalung der wunderhaften Züge zu rechnen haben. Doch lässt die Breite der neutestamentlichen Überlieferung kaum Zweifel, dass Jesus solche Taten vollbracht hat. Auch der religionsgeschichtliche Vergleich mit anderen Wundertätern bestätigt, dass die Berichte von den Wundern Jesu für seine Zeitgenossen nicht unglaubwürdig waren. Insofern müssen wir nach dem Zeugnis der Quellen historisch davon ausgehen, dass Jesus solche Wunder getan hat. Vor allem die Berichte von den Heilungen (Exorzismen, Therapien) dürften historisch zutreffende Erinnerungen an das tatsächliche Wirken Jesu enthalten, während bei den Totenerweckungen, den Epiphanien und den Geschenkwundern wegen der traditionsgeschichtlichen Nähe zu verwandten Motiven in stärkerem Ausmaß mit einer nachträglichen erzählerischen Ausgestaltung zu rechnen ist. Damit bleibt die Frage, wie dieser historische Befund mit der heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu vereinbaren ist, d. h. ob das Berichtete wirklich so

247

2Kor 12,7–10; 13,3 f.; vgl. 1,8 ff.; 4,7 ff.; 6,3 ff. (§ 5.13.1; 5.13.3.1–2); vgl. U. Heckel, Kraft in Schwachheit (Lit. § 5.13), 75–142, und zur Wirkungsgeschichte ders., Schwachheit und Gnade. Trost im Leiden bei Paulus und in der Seelsorgepraxis heute, Stuttgart 1997, 40– 106. 248 2Kor 10,8; 12,10b.19; 13,3 f.10 (§ 5.13.1); vgl. U. Heckel, Kraft, 216–219.298–300, und daran anschließend S. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus (WUNT 134), Tübingen 2001, 223–244.

6.2 Das Markusevangelium

395

geschehen sein kann. Bei diesem Problem ist zu beachten, dass die Wunder Jesu Teil seiner Verkündigung vom Reich Gottes sind und den Anbruch der Gottesherrschaft demonstrieren. Sie lassen in der Vollmacht Jesu etwas von der übermenschlichen, göttlichen Macht des Schöpfers transparent werden. Sie sind Teil seines Rettungshandelns, nehmen exemplarisch die endgültige Überwindung von Krankheit, Tod, Angst, Hunger vorweg und verweisen schon zeichenhaft über die gegenwärtigen Erfahrungen hinaus auf die bevorstehende Vollendung der Welt. In dieser universaleschatologischen Perspektive sprengt die Wundertätigkeit Jesu alles rein innerweltliche Analogiedenken, das aufgrund heutiger Erfahrungen zu beurteilen versucht, ob es historisch möglich ist, dass das Berichtete auch tatsächlich so geschehen sein kann. Jedenfalls ist heute die Offenheit der Hoffnung, die mit dem Neuen rechnet, den Wunderberichten der Evangelien eher angemessen als der Versuch, die Wunder selber für einen eigenständigen Gegenstand des Glaubens zu halten. Den Schlüssel zum Verständnis der Wunder Jesu bieten seine Heilungen, die sich in zwei Gruppen aufteilen lassen. In den Exorzismen erweist sich Jesus im endzeitlichen Kampf gegen Satan und die Dämonen durch ein Machtwort als der Stärkere, in den Therapien lässt er seine göttliche Kraft durch eine körperliche Berührung überfließen. Das eigentliche Wunder besteht nicht im Durchbrechen von Naturgesetzen, sondern im heilvoll rettenden Wirken Jesu, das Menschen aus ihrem Leid herausholt, die Vollendung der Gottesherrschaft antizipiert und die Menge in Staunen versetzt. Auch die Totenerweckungen werden als Vorabbildung der Auferstehung Jesu und als Vorwegnahme des endzeitlichen Heils erzählt. Bei den Speisungen handelt es sich um Geschenkwunder, die mit den anderen Jesus-Geschichten von gemeinsamen Mahlzeiten im Zusammenhang stehen und in den Eucharistiefeiern ihre Fortsetzung finden. Welchen Sinn die Wunder haben, erschließt sich in seiner ganzen Tiefe erst durch die Botschaft Jesu vom Reich Gottes. Dieses ist der zentrale Gegenstand seiner Gleichnisse.

Exkurs 7: Gleichnisse Das Gleichnis (griech. parabolḗ = Gleichnis bzw. Parabel, hebr. māschāl = Rätselrede) ist eine Redegattung, in der der Erzähler mit einem Vergleich zwischen Bildebene und Sachebene arbeitet. Er wählt eine bildhafte Beschreibung, um eine unverständliche Sache anschaulich darzustellen.249 249 Zur Forschungsgeschichte und den Formen bildlicher Rede vgl. G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 285–310 (Lit.!), oder J. Roloff, Neues Testament, Neukirchen-Vluyn 71999, 126–149 (mit einigen Faustregeln zur Methodik der Gleichnisauslegung), als neuere Monographie Ch. Münch, Die Gleichnisse Jesu im Matthäusevangelium (WMANT 104), Neukirchen-Vluyn 2004.

396

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

a) Die Gleichnisse Jesu: Im Alten Testament gibt es einige bekannte Gleichnisse wie die Strafrede für Nathan (2Sam 12,1–14) oder das Lied vom unfruchtbaren Weinberg (Jes 5,1–7). Typisch sind die Gleichnisse vor allem für die Jesustradition bei den Synoptikern und im Thomasevangelium (§ 6.1.6.1): Die bekanntesten Gruppen stammen wahrscheinlich aus vorsynoptischen Quellen und sind erstens die Gleichnisse vom Säen und Wachsen in der Gleichnisrede Mk 4,1–34, zweitens die Gleichnisse aus dem lukanischen Sonderstoff250 und drittens die eschatologischen Gleichnisse in der Endzeitrede Mt 25,1–46.251 Die verschiedenen Gruppen und einzelne Gleichnisse sind durch die Tradition und Redaktion mehr oder weniger mitgestaltet. Matthäus z. B. verknüpft die Gleichnisse fast durchgängig mit dem Terminus „Himmelreich“ (statt „Reich Gottes“ bei Markus). Doch können wir die Gemeinsamkeiten gut erkennen, die quer durch die einzelnen Gruppen gehen und die es uns – zumindest in der synoptischen Tradition – nicht erlauben, einige Gleichnisse gänzlich als sekundäre Neubildungen einzustufen. Die Gleichnisse gehören ohne Zweifel zum Grundbestand der ältesten Jesusüberlieferung. Gleichnisse benutzt Jesus sehr oft für das von ihm verkündigte Reich Gottes – eine eschatologische Größe. Für die gemeinte Sache hat der übliche Wortschatz keinen Ausdruck, es handelt sich um etwas Neues, Zukünftiges, das sich nur metaphorisch aussagen lässt (§ 1.3.3–4). Wie jede Metapher durch einen unerwarteten Wortgebrauch etwas Neues andeuten will, kann auch das Wort vom Reich Gottes nur durch andere Äußerungen der analogischen Rede ersetzt werden, d. h. durch weitere Gleichnisse, falls man die Metapher nicht ausführlich kommentieren will. Deswegen lesen wir in den Evangelien einige Male: Das Reich Gottes „ist … wie …“, und es folgt ein Gleichnis (Mk 4,26.30). Die Reich-Gottes-Gleichnisse sind ein zentraler Bestandteil der Verkündigung Jesu, da insbesondere die Gottesherrschaft Inhalt seiner frohen Botschaft und Gegenstand des Glaubens ist (vgl. Mk 1,14 f.). b) Gleichnisformen: In der neutestamentlichen Exegese wurde zwischen unterschiedlichen Formen von Gleichnissen differenziert. Dabei wird der Terminus „Gleichnis“ nicht nur wie in der Exkursüberschrift in umfassender Weise als Oberbegriff, sondern auch in einem spezielleren Sinn für eine Untergruppe gebraucht:

250

Vgl. innerhalb des lukanischen Reiseberichts (§ 6.4.2; 6.4.3.1) Lk 10,29–37 (barmherziger Samariter); 11,5–8 (bittender Freund); 12,16–21 (reicher Tor); 15,8–10 (verlorene Drachme); 15,11–32 (verlorener Sohn); 16,1–12 (ungerechter Haushalter); 16,19–31 (reicher Mann und armer Lazarus); 17,7–10 (Knechtslohn); 18,1–8 (Richter und Witwe); 18,9–14 (Pharisäer und Zöllner). 251 MtS 25,1–13 (kluge und törichte Jungfrauen); Mt 25,14–30 Q (anvertraute Zentner); S Mt 25,31–46 (Weltgericht); vgl. auch MtS 20,1–16 (Arbeiter im Weinberg).

6.2 Das Markusevangelium

397

Das Gleichnis im engeren Sinn, z. B. vom Wachsen der Saat und dem Senfkorn (Mk 4,26–29.30–32) oder vom Finden des Verlorenen (Lk 15,4–10), kann als eine entfaltete Metapher betrachtet werden. Eine Metapher (griech. metaphorá = Übertragung) ist die Kurzform eines bildhaften Vergleichs, bei dem ein Ausdruck durch ein Wort aus einem anderen Sachbereich ohne die Vergleichspartikel „wie“ ersetzt wird, z. B. Herodes ist ein „Fuchs“ (LkS 13,31 f.). In einem Gleichnis wird ein Bildfeld breiter ausgemalt bzw. ein gewöhnlicher, sich wiederholender Vorgang des täglichen Lebens durch eine Erzählung weiter ausgeführt. Aber es bleibt ein bedeutender Unterschied: Das Gleichnis signalisiert durch die Vergleichspartikel „wie …“ oder die explizite Bezeichnung der Erzählung als „Gleichnis“, dass es sich um eine analogische Rede handelt. Dagegen gehört es zum Wesen der Metapher, dass sie durch die unerwartete Verbindung Aufmerksamkeit erweckt: Herodes als „Fuchs“ oder ein Reich, Königtum, Imperium, das Gott gehört, als „Reich Gottes“. Allegorien werden im Sprachgebrauch des Neuen Testaments als Textsorte terminologisch nicht eigens hervorgehoben, unterscheiden sich in der Art des Übertragungsvorgangs aber von den Gleichnissen im engeren Sinn. Die Allegorie (griech. allēgoría = andere, d. h. bildliche Rede) ist eine fortgesetzte Metapher, die aus verschiedenen Bildfeldern kombiniert sein kann. Sie übersetzt einen Gedanken, z. B. das Wort Gottes, in ein Bild: „Der Samen ist das Wort Gottes. Die aber auf dem Weg sind …“ (Lk 8,11 f.). Oder sie verfolgt innerhalb eines zusammenhängenden Bildfelds unterschiedliche Einzelzüge weiter, wie es in den Hirtenreden geschieht (Ez 34; Joh 10,1–18). Stets arbeitet sie mit einer konsequenteren Chiffrierung einzelner Angaben, indem sie über andere Träger, z. B. Tiere statt Menschen, spricht. Die einzelnen Aspekte des Bildfelds müssen jeweils neu identifiziert werden, wie es bei der Vision von den vier Tieren in Dan 7 in der Deutung auf die vier Weltreiche oder dem „Wolf“ als Umschreibung für Irrlehrer in Joh 10,12 der Fall ist (vgl. Apg 20,29; Mt 7,15). Ein Gleichnis hingegen veranschaulicht durch die Übertragung mit allseits bekannten „Bildern“ und Vorgängen des alltäglichen Lebens meistens nur eine einzige „Sache“, die bisher unbekannt ist oder durch diese Redeform verdeutlicht werden soll, bei Jesus vor allem die Gottesherrschaft. Seit der bahnbrechenden Arbeit von Adolf Jülicher über „Die Gleichnisreden Jesu“ wird zwischen diesen beiden Formen bildlicher Rede in der Weise differenziert, dass das Gleichnis nur einen einzigen Vergleichspunkt (lat. tertium comparationis) zwischen Bild- und Sachhälfte hat, z. B. das „automatische“ Wachsen der Saat (Mk 4,26–29) oder den Kontrast zwischen dem kleinen Senfkorn und den großen Zweigen (4,30–32). Die Allegorie enthält dagegen viele Vergleichspunkte, die erst Zug um Zug entschlüsselt werden müssen.252 Die weitere Forschung hat jedoch gezeigt, dass sich Jülichers Konzentration auf eine einzige Pointe nicht ganz so streng 252

A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, 2 Bde., Tübingen 1888/99, 21910, I, 25–118, hier 69 f.107.

398

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

durchhalten lässt. Die Grenzen sind fließend, einige Gleichnisse enthalten auch allegorische Elemente. So erfährt das Gleichnis vom Sämann (Mk 4,1–9), das an sich nicht allegorisch gemeint ist, durch Markus eine allegorisierende Interpretation, indem er die einzelnen Elemente des Bildfelds als verschlüsselte Hinweise auffasst und in einem zweiten Abschnitt Punkt für Punkt auf das Wort und die Hörer, die Verkündiger und den Satan, die Abtrünnigen und die Gläubigen weiter ausdeutet (V.13– 20). Oft wurde auch zwischen Gleichnissen und Parabeln unterschieden, bei denen die bildhafte Seite zu einer Erzählung ausgestaltet wird: Anders als das Gleichnis schildert die Parabel gerade nicht etwas allgemein Bekanntes, sondern eine neue, frei erfundene, provozierende, aber verständliche Geschichte von einem einmaligen, außergewöhnlichen Fall, der der Lebenserfahrung oder Erwartung der Adressaten widerspricht. Eine solche Parabel handelt z. B. von einem Hausherrn, der allen Arbeitern im Weinberg das Gleiche gibt (MtS 20,1–16), oder vom verlorenen Sohn, der sein Erbe verprasst, umkehrt und vom Vater mit Freuden wiederaufgenommen wird (LkS 15,11–32).253 Doch verliert die Abgrenzung zum Gleichnis im engeren Sinn an Schärfe, wenn man bedenkt, dass es auch bei der Parabel auf einen einzigen Vergleichspunkt ankommt. Ähnliches gilt von der Beispielerzählung, die – statt von der Bild- auf die Sachhälfte zu übertragen – auf der gleichen Ebene zur Nachahmung des geschilderten Vorbilds auffordert, z. B. beim barmherzigen Samariter (LkS 10,30–37): „So geh hin und tu desgleichen!“254 Es ist gut, diese Kategorien zu kennen, weil sie in der Forschung einen Großteil der Diskussion bestimmten. In der gegenwärtigen literarischen Analyse werden solche Unterscheidungen aber für weniger bedeutend gehalten, weil die Übergänge fließend sind und der Sprachgewinn stets durch eine bildhafte Ausdrucksweise geschieht. c) Die Bedeutung der Gleichnisse Jesu: In den Traditionen über Jesus sind die Gleichnisse von zentraler Bedeutung. Sie dienen nicht nur als Veranschaulichung oder didaktisch „bessere“ Formulierung der Botschaft Jesu. Sie verkündigen etwas grundlegend Neues, Kommendes, das noch nicht da ist. Die Gleichnisse Jesu sind durch eine „rationale“ Information oder einen abstrakten theologischen Lehrsatz nicht voll ersetzbar. Sie haben eine einmalige kognitive Funktion. Doch kann ihre Bedeutung in den Traditionen über Jesus noch tiefer, noch komplexer sein: Sie haben nicht nur eine kognitive Aufgabe, sondern erheben auch einen 253 Vgl. auch Mt 21,28–31 (zwei Söhne); Lk 7,41 f. (zwei Schuldner); 15,8–10 (verlorene Drachme); 16,1–8 (kluger, betrügerischer Verwalter); 18,1–8 (Richter und Witwe). 254 Vgl. durchgehend allein im lukanischen Sondergut Lk 12,16–21 (reicher Tor); 16,19–31 (reicher Mann und armer Lazarus); 18,9–14 (Pharisäer und Zöllner).

6.2 Das Markusevangelium

399

Anspruch. Sie dienen nicht bloß der besseren Erkenntnis, sondern zielen schon auf die gläubige Anerkennung. Doch das Entscheidende ist nicht der Anspruch, sondern ihre Wirkung, in der sie den Hörer mit der transzendenten Wirklichkeit, mit Gott selbst und mit seinem Zuspruch, mit seiner Verheißung konfrontieren. In der Sicht des Glaubens sind sie nicht nur eine Rede über das Reich Gottes, sie sind schon ein Teil der Gottesherrschaft, die selber mit dem Erzählen der Gleichnisse Jesu in dieser Welt anbricht. Diese geben bereits Anteil an dem eschatologischen Geschehen, auf das sie sich beziehen (Eberhard Jüngel;255 vgl. § 6.4.5.3e zu Lk 15,11–32). d) Die markinische Gleichnistheorie: Markus stellt eine Gleichnistheorie auf, nach der Jesus über das Geheimnis der Gottesherrschaft in den Gleichnissen nur zu den Außenstehenden spricht, die sehen, aber nicht erkennen und sich nicht bekehren (Mk 4,10–12).256 Diese Theorie spiegelt schon eine spätere Stufe wider. In der ältesten Schicht der Jesusüberlieferung dienten die Gleichnisse nicht zur Verhüllung seiner Botschaft, wie sie das markinische Konzept des Messiasgeheimnisses begreift, auf das wir weiter unten eingehen werden (§ 6.2.7.4). Bei Jesus hatten die Gleichnisse noch eine andere Funktion: Unverständlich waren sie nicht intellektuell, sondern existenziell. Ihr Verstehen war mit Entscheidung, Umkehr, Nachfolge verbunden. Deswegen waren sie für viele schwer annehmbar. e) Fazit: Jesus erzählt Gleichnisse, um den Anbruch des Reiches Gottes zu verkündigen. Er verwendet ihre anschauliche Schilderung nicht nur als didaktisches Mittel, um die Gottesherrschaft besser verständlich zu machen. Durch die Gleichnisse führt er seine Hörer selber in die Begegnung mit Gott. Im Hören erfahren sie nicht nur etwas über das Reich Gottes als eine jenseitige Größe, sondern werden sie selber schon in dieses eschatologische Geschehen hineingenommen. Damit können wir nach den beiden Exkursen über die Worte und Taten Jesu in seinen Gleichnissen und Wundern zum Evangelium als Inbegriff seiner Heilsbotschaft zurückkehren (s. Anm. 182 ff.). 6.2.6.1

Das „Evangelium“ als Überschrift

Der literarische Aufbau ist bei Markus durch zwei theologische Begriffe bestimmt: durch die Charakterisierung als „Evangelium“ und durch den Hoheitstitel „Sohn Gottes“ (1,1). Das Wort „Evangelium“ wurde im frühen Christentum unterschiedlich verwendet:

255 E. Jüngel, Paulus und Jesus (HUTh 2), Tübingen 1962, 51979, 87–174, bes. 135– 142.173 f. 256 Zum Zitat aus Jes 6,9 f. s. Anm. 304.

400

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

a) Als eindeutige Bezeichnung für ein Buch oder eine Schrift, wie es die Überschrift in Mk 1,1 nahelegt, findet sich „euaggélion“ erst bei Justin (apol. I,66,3; um 150 n. Chr.) und Markion (§ 3.3b) bezeugt.257 b) Auf die Überlieferung der Worte Jesu bezog man den Ausdruck „Evangelium“ wahrscheinlich schon vor Markus in dem programmatisch vorweggenommenen Resümee der Predigt Jesu (Mk 1,14 f.) und jedenfalls in der Didache (8,2; 15,4 u. a.; Ende 1. Jh.). c) Bei Paulus bezeichnet „euaggélion“ im wörtlichen Sinn einfach die „gute Nachricht“. Doch im Unterschied zum Profangriechischen, in dem das Wort im Plural für erfreuliche Nachrichten wie z. B. politische Siegesmeldungen gebraucht wurde, verwendet der Apostel es sehr bewusst im Singular für die eine Froh- und Heilsbotschaft, die für ihn in dem einen, ganz und gar einzigartigen Sinn der Osterverkündigung durch die Auferstehung Jesu qualifiziert ist.258 Da schon Paulus den Begriff „Evangelium“ aus der Tradition übernommen hat (1Kor 15,1 ff.; § 5.6.2.1), muss das Wort sich bereits bald nach Ostern als Kurzbezeichnung für die Osterbotschaft durchgesetzt haben. Beeinflusst sein dürfte der Sprachgebrauch von Deuterojesaja, der von dem „Freudenboten“ (euaggelizómenos) spricht, der Frieden verkündigt (Jes 52,7 LXX), und von dem Auftrag des Geistgesalbten, die gute Botschaft zu verkündigen (61,1 LXX: „euaggelízesthai“)259.260 d) Die letzten Verse des Markusevangeliums (16,6 f.) enthalten die gesamte in 1Kor 15,1 als Evangelium bezeichnete Pistisformel (1Kor 15,3b–5; § 5.6.2.1) in narrativer Adaption: Tod, Bestattung, Auferweckung, Erscheinung vor Petrus und den Jüngern.261 Damit steht am Ende des Buchs das „Evangelium“ in jenem umfassenden

257 Vgl. H. Koester, From the Kerygma-Gospel to Written Gospels, NTS 35 (1989), 361– 381; s.a. ders., Einfüh rung (Lit. § 1), 601 ff., und ders., Ancient Christian Gospels, London, Philadelphia, PA 1990, 9 ff.273 ff. 258 Vgl. z. B. 1Kor 15,1 ff.; Röm 1,1–4; 1Thess 1,5.10 (§ 5.6.2.1). 259 Vgl. 11QMelch II 16; 4Q521 2 II,12; vgl. D. Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie, 36. Material zur Bedeutung von Jes 61 bei Mk bietet J. Marcus, The Way of the Lord: Christological Exegesis of the Old Testament in the Gospel of Mark, Westminster 1992. 260 Dass dabei auch die Verwendung des Ausdrucks „euaggélia“ (Plural) im Kaiserkult berücksichtigt wurde, ist möglich, sollte angesichts der großen Bedeutung (Deutero-)Jesajas für die frühen Christen aber nicht überschätzt werden (vgl. die Kalenderinschrift von Priene 9 v. Chr.: „Der Geburtstag Gottes [= des Kaisers] war für die Welt der Anfang der Freudenbotschaften [euaggélia], die seinetwegen ergangen sind“; G. Friederich, ThWNT II, 721,23 f.); zur Herkunft vgl. P. Stuhlmacher, Das paulinische Evangelium I. Vorgeschichte (FRLANT 95), Göttingen 1968, 109–244, sowie ders., Theologie 2 (Lit. § 1), 118 f.; C. Ettl, „Anfang der ... Evangelien“, in: S. H. Brandenburger / Th. Hieke (Hg.), Wenn drei das Gleiche sagen (Th 14), Münster, 1998, 121–151. 261 Die Erscheinung des Auferstandenen steht noch in der Zukunft aus, weil die Begeg-

6.2 Das Markusevangelium

401

Sinne, in dem das Wort damals als Inbegriff der Heilsbotschaft vom Tod und der Auferstehung Jesu verbreitet war.262 Bei Markus ist der Terminus „Evangelium“ das erste Kompositionsmittel, das die Textkohärenz garantiert und die entscheidende Aussage des ganzen Buchs gleich zu Beginn in einem einzigen Wort zusammenfasst.263 Schon beim ersten Auftreten Jesu in Galiläa ist das „euaggélion“ der Inbegriff seiner Verkündigung (1,14 f.). Nach der synchronen Analyse wird das „euaggélion“ innerhalb des Buchs eng mit der Osterbotschaft verbunden und bezieht sich – mit Ausnahme der Reich-Gottes-Verkündigung in 1,14 f. – stets auf die Auferweckung Jesu.264 Nach Meinung Georg Streckers handelt es sich um einen Versuch, die Osterbotschaft aus der Perspektive der Geschichte des irdischen Jesus zu interpretieren.265 Auch aus diachronischer Sicht (jesuanische Überlieferung – Osterverkündigung – markinische Komposition) ist das „euaggélion“ ein Element der Textkohärenz. Mit diesem Wort wird alles, was im Markusevangelium steht, der zweiten und weiteren christlichen Generationen als dasjenige erklärt, was für das angemessene Verstehen des Evangeliums von der Auferweckung Jesu notwendig ist. Die Geschichte des irdischen Jesus ist eine wesentliche Voraussetzung für das Osterevangelium. Sonst wüsste man nicht, wen Gott auferweckt hat. Dieses umfassende Verständnis des Evangeliumsbegriffs ist nur die direkte Folge eines Grundanliegens, das zur Entstehung des Markusevangeliums führte: Gerade weil der christliche Glaube durch seine Bindung an eine konkrete Person der Geschichte, Jesus von Nazareth, das mythische Schema ewiger Archetypen durchbricht (ähnlich wie die jüdische Schrift; § 2.1), bedurfte das verkündete Evangelium bald eines begleitenden Texts, der die Geschichte dieser Schlüsselfigur darstellt. Sonst könnte der Name „Jesus“ zu einer unanschaulichen Chiffre verkommen.

nung mit dem Boten der Auferstehung in der narrativen Struktur nach der Auferstehung und vor den Ostererscheinungen situiert ist. 262 Dadurch wird die apokalyptische Deutung des Markusevangeliums in Frage gestellt, nach der der Markusschluss die nahe Parusie voraussetzt, wie es E. Lohmeyer, KEK 1,2, 356, W. Marxsen, Der Evangelist Markus, 74 (vgl. 54), N. Perrin, Towards an Interpretation of the Gospel of Mark, in: H.-D. Betz (Hg.), Christology and Modern Pilgrimage, Claremont 21971, 1–78, und andere Forscher (z. B. W. H. Kelber, T. J. Weeden) behaupten. 263 Lukas streicht den Ausdruck „Evangelium“ aus der Markusvorlage (Mk 1,1.14 f.; 8,35; 10,29; 13,10; 14,9) und verwendet ihn nur Apg 15,7; 20,24 für die apostolische Predigt (§ 6.4.6b), so gerne er das Verbum „euaggelízesthai“ als Vorzugswort gebraucht (4,18.43; 8,1; 16,16 u. ö.; § 6.4.5.1). Matthäus ergänzt das Substantiv (nur 4-mal) dreimal durch den Genitiv „vom Reich“ (tḗs basileías; Mt 4,23; 9,35; 24,14; vgl. 26,13). Johannes verwendet die Wortfamilie überhaupt nicht. 264 Mk 8,35; 10,29; 13,10; 14,9. 265 Vgl. G. Strecker, Das Evangelium Jesu Christi, in: ders., Eschaton und Historie, Göttingen 1979, 183–228, dort 217.

402

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Nicht zufällig wurde das ganze Buch später auch deshalb „Evangelium“ genannt, weil Markus in ihm bestrebt war, die Voraussetzungen zum Verstehen des mündlichen Evangeliums zu schaffen. Der Inhalt des Markusevangeliums sollte der „Anfang“ der Evangeliumsverkündigung sein. Ob diese, die ganze Geschichte Jesu einschließende Bedeutung auch schon in der Überschrift in Mk 1,1 gemeint ist („Anfang des Evangeliums“),266 wird noch immer diskutiert. Lukas zumindest verstand die Eingangsbemerkung des Markusevangeliums in diesem umfassenden Sinn. Denn in Apg 1,1 charakterisiert er sein ganzes Evangelium – das erste Buch seines Doppelwerks – als den Anfang der Tätigkeit Jesu, die in der Apostelgeschichte ihre Fortsetzung findet durch das gegenwärtige Wirken des Geistes. Dagegen spricht nur die Beobachtung, dass die Angabe bezüglich des „Anfangs“ nach der Eröffnung eines Werks sich in der hellenistischen Literatur oft auf das erste Textsegment bezieht, in unserem Fall etwa auf den Prolog und die Anfangsverkündigung in Mk 1,2–15.267 Doch ist dieser Hinweis auf außerbiblische Belege kein entscheidendes Argument, denn Markus modifizierte in mehrfacher Hinsicht die literarischen Gepflogenheiten seiner Zeitgenossen. Aber selbst wenn sich die Überschrift nur auf den ersten Abschnitt beschränken sollte, müssen wir das Markusevangelium für das Werk eines Erzählers halten, der den Schluss und die Erfüllung in dem narrativ gestalteten Evangelium der Osterbotschaft in Mk 16,1– 8 sieht. Diese Ausrichtung des Markusevangeliums auf die Osterbotschaft ermöglichte es, die Bedeutung der einmaligen Geschichte Jesu auf die aktuelle Situation der Hörer zu beziehen: Auch für sie gilt, dass Jesus sich in ihrem Leben ebenso als Retter erweist wie bei den Jüngern durch die Stillung des Seesturms (4,35–41). Auch für sie gibt es beim Herrnmahl genug Brot aus der Fülle der Körbe, die nach der Speisung der Volksmenge übrig geblieben sind.268 So eng Markus die Osterverkündigung an den irdischen Jesus zu binden suchte, legt er den Nachdruck auf einem anderen Punkt: Zum rechten Verständnis des Osterevangeliums ist es notwendig, den irdischen Jesus kennenzulernen. Die überlieferten 266

Vgl. P. Pokorný, Anfang des Evangeliums, 241 f.; ders., Markusevangelium (ANRW), 2005 ff.; H. Baarlink, Anfängliches Evangelium, 60 ff.291 ff.; G. Rau, Markus-Evangelium, 2046 u. a.; M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 90–97; s. auch D. Dormeyer, Die Kompositionsmetapher „Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes“ Mk 1.1, NTS 33 (1987), 452–468; ders., Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte (Lit. § 1.4), 199 ff.; E.-M. Becker, Markus-Evangelium, 102–111. 267 Vgl. die Belege bei G. Arnold, Mk 1,1 und Eröffnungswendungen in griechischen und lateinischen Schriften, ZNW 68 (1977), 123–127. Zu literarisch-theologischen Argumenten hinsichtlich des Bezugs von „Anfang“ auf die Ankunft Johannes des Täufers s. J. K. Elliott, Mark and the Teaching of Jesus: An Examination of lógos and euaggélion, in: Sayings of Jesus: Canonical and Non-Canonical (FS T. Baarda), Leiden 1997, 37–45. 268 Vgl. Mk 14,22–25 mit 6,30–44; 8,1–10.

6.2 Das Markusevangelium

403

Wor te des Herrn sind Worte des irdischen Jesus, der mit dem auferstandenen Herrn identisch ist, der seit Ostern die christliche Gemeinde konstituiert und der das Ziel der Wege Gottes mit den Menschen verkörpert. Weil nur der irdische Jesus auf nachprüfbare Weise zu erreichen ist – zumindest in dem Maße wie jede geschichtliche Persönlichkeit –, bietet seine Geschichte die notwendige Ergänzung für jede Verehrung des lebendigen Herrn (kýrios). Die Gegenwart der Kirche lebt von seiner Macht. Doch Markus will noch etwas Weiteres hervorheben: Um die gegenwärtige Wirkung Christi verstehen zu können, muss sich ein Christ mit der Vergangenheit Jesu befassen. Der irdische Jesus ist der hermeneutische Schlüssel zum auferstandenen Christus.269 Die theologische Leistung des Markus wird noch deutlicher durch einen Vergleich mit der paulinischen Theologie. Auch der Apostel verfolgte die Rückbindung an den irdischen Jesus durch seine Betonung des Kreuzes Christi (1Kor 1,23), die vor allem in den Korintherbriefen die nachösterliche Frömmigkeit vor einem unkontrollierten Enthusiasmus schützen sollte (§ 5.12.5). Eine solche theologische Position bot allerdings noch keine hinreichende Motivation, um die Jesusüberlieferungen in einer Sammlung und Auswahl integrierend für die späteren Generationen zusammenzustellen. Paulus beurteilte zumindest einige Überlieferungen der Jesusworte, z. B. vom Berge versetzenden Glauben (1Kor 13,2; § 5.6.2.5b), und offensichtlich die meisten Wunderzählungen mit Vorbehalten (1Kor 1,22; s. Anm. 248; § 5.12.2). Durch die Hervorhebung des Kreuzes Christi wollte der Apostel die Fülle der Menschlichkeit Jesu betonen, aber faktisch führte diese Konzentration auf den Tod Jesu zum Nachlassen des Interesses an seinem Leben. Diese Tendenz begann in den 50-er Jahren des 1. Jh.s. Doch war die paulinische Theologie auf längere Zeit nicht in der Lage, dem Doketismus zu wehren, der dem irdischen Jesus nur einen „scheinbaren“ Leib zubilligte und damit die Bedeutung seiner menschlichen Existenz minderte. Die Maxime, dass der irdische Jesus270 die Verkündigung des im Geiste erreichbaren und kommenden Herrn vor Missbrauch schützt, wird noch grundsätzlicher erst um 100 n. Chr. in 1Joh 4,1–6 als Bekenntnis zu seiner Inkarnation formuliert, „dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist“ (§ 1.4.5; § 7.1.7). Zwischen Paulus und dem 1. Johannesbrief steht das Markusevangelium. Markus verknüpfte die Herrnworte mit der Geschichte des irdischen Lebens Jesu.271 Jede Neuinterpretation und Ergänzung, Umdeutung oder falsche Überlieferung wur269

Vgl. G. Ebeling, Theologie und Verkündigung (HUTh 1), Tübingen 1962, 52. Dies gilt besonders für das Markusevangelium. 270 Im Sinn der Jesustraditionen, nicht im Sinn des gegenwärtigen Begriffs des Historischen. Das Gemeinsame ist jedenfalls die Funktion der Rückbindung. 271 Vgl. J. Roloff, Das Markusevangelium als Geschichtsdarstellung, 92; D. Dormeyer, Evangelium als literarische und theologische Gattung, 123 ff.

404

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

de dadurch erschwert. Diese enge Rückbindung war ein Gewinn. Auf der anderen Seite gab es mehrere Situationen, für die die „markinische“ Kirche kein Herrnwort als Richtlinie hatte und deshalb auf die Deutung durch ein persönliches Zeugnis, eine Predigt, theologische Reflexion, paränetische Applikation, einen Kommentar usw. angewiesen war. Was mit dem irdischen Jesus verbunden war, verlangte in seiner gegenwärtigen Bedeutsamkeit nach einer neuen Interpretation, einer Auslegung, einem Metatext, der von der Geschichte Jesu ausging und in seinem Sinn Orientierung und Wegweisung bieten konnte. Das Evangelium als Buch gewann eine ähnliche Autorität wie das Gesetz und die Propheten im synagogalen Gottesdienst und in den Anfängen der christlichen Predigt (s. Anm. 156). Eine solche Funktion der Evangelien ist seit Irenäus von Lyon (um 180 n. Chr.) belegt, zeichnete sich aber schon in der liturgischen Verwendung der Evangelien als Schriftlesung um 150 n. Chr. bei Justin ab (apol. I,66,3; 67,3). Markus schuf mit seinem Evangelium also indirekt die Grundlage, auf der später die Kirche mit der Idee des christlichen Kanons aufbauen konnte (§ 3). Diese Entwicklung war alles andere als selbstverständlich. Nur unsere kanonische Sicht kann diesen Prozess in der Rückschau für einen natürlichen Weg halten. Für Paulus hatte das Kreuz Jesu zwar eine grundlegende Bedeutung, entscheidend für das Leben der Gemeinden – auch der paulinischen – war aber der präsente und auferstandene Herr. Worte des irdischen Jesus, z. B. die Einsetzung des Herrnmahls, zitiert der Apostel deshalb als Worte des erhöhten Kyrios (1Kor 11,23; § 5.6.2.5b). Analoges gilt für die Logienquelle (§ 6.1.5.2–4) und für das Thomasevangelium (§ 6.1.6.1), die das Kreuz Jesu nicht hervorheben. Auf die Logienüberlieferung, die als alternative Gattung zu den Evangelien noch lange nach der Entstehung des Kanons in der Kirche einflussreich war, wurde bereits hingewiesen (§ 6.1.5.4).272 Damit können wir als Ertrag festhalten: Die Evangelien stellen als Grundlage des Kanons keine bloß sammlerische Integration früherer Traditionen dar. Sie lassen schon einen Umbruch erkennen, der zum großen Teil das Ergebnis bewusster Entscheidungen war. Sie banden das Evangelium von der Auferstehung an den irdischen Jesus. Zugleich gingen sie davon aus, dass die eschatologische Bedeutung seiner Worte und Taten sich erst von Ostern her in ihrer ganzen Reichweite erschließt. 6.2.7

Die Christologie des Markus

Die Christologie ist im Markusevangelium ein integrierender Bestandteil des erzählten Geschehens, das Himmel und Erde verbindet, mit der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu anfängt und in der angekündigten Auferstehung Jesu gipfelt. Im Unter-

272

7.2.4).

Vgl. auch die Johannesapokalypse als „Offenbarung Jesu Christi“ Apk 1,1 (§ 7.2.2;

6.2 Das Markusevangelium

405

schied zu der argumentativen Briefliteratur kommentieren hier die christologischen Titel das Erzählte und charakterisieren indirekt die Hauptpersonen und Gruppen. Darum ist es erforderlich, Herkunft und Bedeutung der Titel „Sohn Gottes“, „Menschensohn“ und „Davidssohn“ über ihren Gebrauch im Markusevangelium hinaus zu skizzieren. 6.2.7.1

Sohn Davids

Jesus wird von mehreren Juden als „Sohn Davids“ betrachtet (Mk 10,47; 12,35–37). Vordergründig richtet sich die Frage nach der Davidssohnschaft auf seine leibliche Abstammung aus der Nachkommenschaft Davids, die bereits Paulus in Röm 1,3 aus einer alten bekenntnisartigen Formel übernommen hat: „ek spérmatos Davíd katá sárka“ = „aus der Nachkommenschaft Davids nach dem Fleisch“ (§ 5.6.1.2).273 Diese Herkunft wird auch in den beiden unterschiedlichen Stammbäumen Jesu bei Matthäus und Lukas274 vorausgesetzt und entspricht einer alten Überlieferung aus der Familie Jesu, die Hegesipp (2. Hälfte 2. Jh.) bezeugt (Eus. h.e. 3,12.19 f.). Der Hinweis auf die davidische Abstammung ist älter als die Vorstellung der Jungfrauengeburt,275 die die wesenhafte Gottverbundenheit Jesu zum Ausdruck bringt und sich mit seiner Gottessohnschaft (§ 6.2.7.3) berührt. In Röm 15,12 bezieht Paulus das Zitat aus Jes 11,10 LXX mit der Verheißung eines messianischen Herrschers für die Völker aus der „Wurzel Isais“,276 des Vaters Davids,277 auf Christus. Damit ist Jesus nicht nur ein „Spross Davids“ seiner leiblichen Herkunft nach (Röm 1,3), sondern der verheißene davidische „Messias“ (Christus; § 5.6.1.1).278 Schon in der Zeit nach dem Exil war „der Gesalbte des Herrn“ zum Hoffnungsträger einer kommenden Heilszeit geworden, der die nationale und religiöse Integrität Israels wiederherstellen und später die Befreiung von der römischen Fremdherrschaft bringen sollte. So wurde nach PsSal 17,21.32 (1. Jh. v. Chr.) – einem für die Christologie traditionsgeschichtlich wichtigen Text – der „Sohn Davids“ sehnsüchtig als messianischer „König“ für Israel erwartet. Nach der lukanischen Geburtsankündigung wird Gott ihm „den Thron seines Vaters David geben“ (Lk 1,32).

273

Vgl. 2Tim 2,8, aber auch Joh 7,42 (§ 7.1.5.1e). Mt 1,1.6.17; Lk 3,31; vgl. Mt 1,20; Lk 1,27. 275 Mt 1,18; Lk 1,35 (§ 6.3.3.3d; 6.4.5.3a). 276 Vgl. Sir 47,22; Apk 5,5; 22,16; vgl. Ch. Böttrich, „O Christe Morgensterne ...“ Apk 22,16 vor dem Hintergrund alttestamentlicher Königsideologie, in: W. Kraus / K.-W. Niebuhr (Hg.), Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie (WUNT 162), Tübingen 2003, 211–250, hier 223–224. 277 Vgl. Jes 11,1; Ps 72,20; Lk 3,32. 278 Vgl. 2Sam 7,12; Jes 11,1 ff. (vgl. 4Q161 8–10 III 18–22); Jer 23,5; 33,15; 4Q174 III 10– 13; 4Q252 1 V; PsSal 17,4.21; vgl. M. Pietsch, „Dieser ist der Sproß Davids ...“ (WMANT 100), Neukirchen-Vluyn 2003. 274

406

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Vor diesem messianischen Hintergrund stilisiert Markus die Heilung des Bartimäus als Nachfolgegeschichte mit herrscherlicher Audienz,279 in welcher der Blinde Jesus als „Sohn Davids“, d. h. als messianischen König, um Erbarmen anfleht (Mk 10,47 f.). Schritt für Schritt wird bei Markus von dieser Stelle der Erzählung an das Messiasgeheimnis (§ 6.2.7.4) aufgelöst.280 Unmittelbar anschließend begrüßt nach dem markinischen Aufriss die Menge beim Einzug in Jerusalem in der Person Jesu „das kommende Reich unseres Vaters David“ (Mk 11,10). Damit wird der Einzug als eine königlich-messianische Zeichenhandlung gedeutet, die schon den Anbruch der eschatologischen Königsherrschaft Gottes darstellt. Ob dieser davidisch-messianische Anspruch auf Jesus selber zurückgeht oder von der nachösterlichen Gemeinde in die Zeit des irdischen Auftretens Jesu zurückprojiziert wurde (§ 6.2.7.4), ist in der exegetischen Literatur umstritten. In den anderen Evangelien wird diese Würde noch sehr viel deutlicher artikuliert: In Mt 21,9 wird Jesus als „Sohn Davids“ bezeichnet, in Lk 19,38 als „kommender König“, in Joh 12,13 als „König Israels“ (Zeph 3,15 LXX). Wegen des messianisch-davidischen Anspruchs wird Jesus auf Betreiben des Hohen Rats von Pilatus zum Tod verurteilt und hingerichtet, wie die Kreuzesinschrift historisch zutreffend bestätigt: „König der Juden“ (Mk 15,1–15.26). In dieser Bezeichnung kommt die messianische Bedeutung Jesu als des Nachfolgers Davids pointiert zum Ausdruck. Die Tötungsabsicht hat eine längere Vorgeschichte in den Konflikten mit den Pharisäern (3,6). Bei den Hohepriestern und Schriftgelehrten (11,18; vgl. 14,1) wurde sie provoziert durch die Tempelreinigung Jesu (11,15–17),281 die als ostentativer Angriff auf den Tempelkult aufgefasst wurde (vgl. 14,58 mit 13,2).282 Der Titel „Sohn Davids“ begegnet bei Markus sonst nur noch in der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Messianität und Davidssohnschaft. Jesus beantwortet sie durch das Zitat aus Ps 110,1 im Sinn einer Identifizierung (Mk 12,35.37; § 5.5.1). Als Sohn Davids ist Jesus nicht nur dessen Nachkomme, sondern der in der Schrift verheißene Messias.

279

Vgl. H.-J. Eckstein, Glaube und Sehen (s. Anm. 234), 90 f. In den anderen Evangelien ist die Messiasfrage schon von Anfang an beherrschend; vgl. M. Hengel, Jesus der Messias Israels, in: ders. / A. M. Schwemer, Der messianische Anspruch (Lit. § 5.6.1), 16 (vgl. 45–63). 281 In Joh 2,14 ff. wird die Tempelreinigung durch Jesus programmatisch an den Anfang gestellt und damit zum Ausgangspunkt seines ganzen Wirkens gemacht (§ 7.1.1.1). 282 Vgl. G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), (380) f.: „Jesu symbolische Handlung gegen den Tempelkult und seine Prophetie gegen den Tempel gehören sachlich zusammen.“ J. Ådna, Jesu Stellung zum Tempel. Die Tempelaktion und das Tempelwort als Ausdruck der messianischen Sendung (WUNT II/119), Tübingen 2000; A. M. Schwemer, a.a.O., 221–223 (vgl. 147 f.). 280

6.2 Das Markusevangelium

407

In den anderen Evangelien283 betont Matthäus den gewaltlos friedlichen Charakter dieses Davididen (§ 6.3.3.1). Außerdem akzentuiert Matthäus den Davidssohntitel dadurch, dass Jesus sich vor allem bei Heilungen als der Messias Israels erweist, der sich erbarmt (s. Anm. 238).284 Johannes vermeidet den Titel „Sohn Davids“, spricht stattdessen aber – den messianischen Charakter verstärkend – vom „König Israels“.285 Wenn er bei der Kreuzesinschrift ergänzend auf die Dreisprachigkeit hinweist (Joh 19,20), steht Hebräisch für die im Land übliche Sprache des jüdischen Volks, Latein für die Amtssprache der römischen Reichsverwaltung und Griechisch für die Verständigungssprache der damaligen Welt. Durch die dreisprachige Inschrift wird der universale Anspruch des Christusgeschehens betont, auch wenn das Reich Jesu nicht von dieser Welt ist (Joh 18,36; § 7.1.5.1e).

6.2.7.2

Menschensohn

Der Menschensohntitel ist eine eigenartig rätselhafte, für griechische Ohren an sich unverständliche Chiffre, die in wörtlicher Übersetzung heißt: „der Sohn des Menschen“ (griech. ho hyiós toú anthrṓpou, aram. bar nāschā). Der Titel ist – mit wenigen Ausnahmen286 – auf die Evangelien beschränkt und begegnet hier 81-mal ausschließlich im Munde Jesu. Die Charakterisierung als Menschensohn stammt weder aus der Bekenntnis- noch aus der Verkündigungssprache, mit der sich jemand zu ihm bekennt oder über ihn redet.287 Vielmehr erweist sich der Menschensohntitel als die häufigste Selbstbezeichnung, mit der Jesus von seiner eigenen Person spricht. Üblicherweise wird der Gebrauch in drei Gruppen aufgeteilt: a) Die Worte vom gegenwärtig (oder auf Erden) wirkenden Menschensohn aus Mk 2,10 (Sündenvergebung); Mk 2,28 (Sabbatbruch) sowie aus der Logienquelle Lk 9,58 Q (Heimatlosigkeit); Lk 7,34 Q (Fresser und Weinsäufer); Lk 12,10 Q (Worte gegen den Menschensohn und gegen den heiligen Geist). b) Die Worte vom leidenden Menschensohn, nämlich die Leidensankündigungen (Mk 8,31; 9,31; 10,33) und das Lösegeldlogion (Mk 10,45 par. Mt 20,28). c) Die Worte vom kommenden Menschensohn als dem eschatologischen Richter, zunächst Mk 8,38 (Schämen vor den Menschen) und Lk 12,8 Q (Bekennen vor den 283

Der Davidssohntitel begegnet 9-mal bei Matthäus (1,1; 9,27; 12,23; 15,22; 20,30.31; 21,9.15), je 3-mal bei Markus (10,47.48; 12,35) und Lukas (18,38.39; 20,41), aber nicht bei Q. 284 Vgl. Ch. Burger, Jesus als Davidssohn (FRLANT 98), Göttingen 1970, 72–106; U. Luz, EKK I/2, 59–61. 285 Joh 1,49; 12,13 (Berufung; Zeph 3,15 LXX); vgl. als „König der Juden“ 18,33.39; 19,3.21, aber auch 6,15 (§ 5.6.1.1); vgl. A. M. Schwemer, Jesus Christus als Prophet, König und Priester. Das munus triplex und die frühe Christologie, in: M. Hengel / dies., Der messianische Anspruch (Lit. § 5.6.1), 165–230, hier 219–221 (vgl. 60 f.). 286 Joh 12,34; vgl. sonst nur Apg 7,56 und dreimal – ohne Artikel – in Schriftzitaten von Dan 7,13 (Apk 1,13; 14,14; vgl. so auch Joh 5,27) und Ps 8,5 (Hebr 2,6). 287 Vgl. Davidssohn (§ 6.2.7.1), Messias (§ 5.6.1.1), Sohn Gottes (§ 5.6.1.2; 6.2.7.3) oder Kyrios (§ 5.6.1.3).

408

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Menschen), dann – von zentraler Bedeutung – im Verhör vor dem Hohen Rat (Synedrium) Mk 14,62 mit dem Sitzen zur Rechten Gottes (Ps 110,1) und dem Kommen auf den Wolken (Dan 7,13 f.).288 Auf diese Parusie spielt bei Lukas auch schon sein Kommen wie der Blitz (Lk 17,24) mit den typologische Bezügen zu Jona (11,30 Q), Noah (17,26) und Lot (17,28–30) an. Bedeutung und Herkunft des Menschensohntitels waren in der Evangelienforschung seit dem zweiten Weltkrieg sehr umstritten. Besonders heftig diskutiert wurde die Historizität, d. h. die Frage, welche dieser drei Gruppen von Menschensohnworten auf Jesus selber zurückgehen. Inzwischen scheint sich jedoch eine Verständigung auch über den jesuanischen Ursprung abzuzeichnen:289 Ausgangspunkt ist Dan 7,13 (ca. 167–164 v. Chr.) mit der nächtlichen Vision einer hoheitlichen, eschatologischen Richtergestalt, die mit den Wolken des Himmels kommt „wie eines Menschen Sohn“ (aram. „bar nāsch“, griech. „hyiós anthrṓpou“). Der Menschensohn ist hier kein Titel, sondern wird als Gestalt zum Vergleich („wie“) herangezogen. Das Motiv wird in zwei apokalyptischen Texten aufgenommen, nämlich in den Bilderreden des äthiopischen Henochbuchs (1. Jh. v. oder n. Chr.)290 und 4Esr 13,3 (1. Jh. n. Chr.). Im Unterschied zu Dan 7,13 verwendet Jesus die Chiffre nicht als Vergleich („wie“), sondern als Selbstbezeichnung. Da die Wendung aramäische Wurzeln hat und in allen Traditionen der Jesusüberlieferung vorkommt,291 geht ihr Gebrauch vermutlich auf Jesus selber zurück. Inhaltlich ist strittig, ob der Menschensohntitel das Personalpronomen der 1. Person ersetzen (vgl. Lk 12,8 Q)292 oder – wahrschein288

Das Kommen auf den Wolken erwähnen nur Mk 14,62 par. Mt 26,64; vgl. Mk 13,26. Aus der umfangreichen Literatur vgl. C. Colpe, Art. ho hyiós toú anthrṓpou, ThWNT VIII, 1969, 403–481; V. Hampel, Menschensohn und historischer Jesus, Neukirchen-Vluyn 1990; D. Sänger (Hg.), Gottessohn und Menschensohn (BThSt 67), Neukirchen-Vluyn 2004 sowie die instruktiven Überblicke von P. Stuhlmacher, Theologie 1 (Lit. § 1), 107–125, und G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 470–480, bes. 479, deren Deutung M. Hengel, Jesus der Messias Israels (s. Anm. 280), 11.65–68 Anm. 260, zustimmend zitiert: „Jesus sprach sowohl vom gegenwärtigen wie vom zukünftigen Menschensohn. Er verband den alltagssprachlichen Ausdruck ‚Menschensohn‘ mit der visionssprachlichen Tradition von einem ‚menschensohnähnlichen‘ Himmelswesen. Durch diese Verbindung wurde der Alltagsausdruck aufgewertet, der visionssprachliche Vergleich mit einem Menschensohn aber durch die direkte Bezeichnung ‚Menschensohn‘ ersetzt. Kein Engel, kein himmlisches Wesen, keiner, der nur wie ein Mensch war, sondern ein konkreter Mensch wird dessen Rolle im hereinbrechenden Reich Gottes übernehmen: Jesus selbst. Er ist zugleich gegenwärtiger und zukünftiger ‚Mensch‘. Dieser ‚doppelte‘ Menschensohnbegriff ist eine Analogie zur ‚doppelten‘ Reich-Gottes-Eschatologie.“ 290 1Hen 37–71, vor allem 46,1 f.4; 62,5.7 u. ö. 291 Mk 2,10.28; 8,31.38; 9,31; 10,33.45; 14,62 u. ö.; Q (Lk 7,34; 9,58; 11,30; 12,10; 17,24.26.30); MtS 10,23; 25,31–46; LkS 18,8; Joh (s. Anm. 294); EvThom 86. 292 In 2Kor 12,2–4 kann auch Paulus von sich in der 3. Person reden. 289

6.2 Das Markusevangelium

409

licher – das eschatologische Geheimnis seines messianischen Selbstverständnisses zum Ausdruck bringen soll. Vermutlich benutzte Jesus diesen noch nicht fest geprägten Titel, um seinen messianischen Anspruch zu umschreiben.293 Die christologische Pointe liegt in der Verbindung der drei genannten Gruppen, d. h. in der paradoxen Verschränkung von eschatologischer Hoheit und präsentischer Hingabe, Vollmacht und Niedrigkeit, dem Weg in die Passion und der Parusie in Kraft.294 Erst in der Alten Kirche wurde der Menschensohntitel im Sinn der Zwei-Naturen-Lehre auf die menschliche Existenz Jesu bezogen, was dem neutestamentlichen Sprachgebrauch gegenüber eine Neuerung darstellt und sich im Barnabasbrief (12,10; um 130 n. Chr.) durch den Gegensatz zum „Sohn Gottes“ abzeichnet.

6.2.7.3

Sohn Gottes

Der entscheidende messianische Titel ist bei Markus der „Sohn Gottes“ (hyiós theoú; vgl. Röm 1,3 f.; § 5.6.1.2). Schon eine flüchtige Betrachtung der Stellen, an denen Jesus als „Sohn“ (Gottes) bezeichnet wird, nämlich am Anfang (1,11), in der Mitte (9,7) und am Ende (15,39) des Evangeliums, zeigt, dass jener Titel Jesu sowohl in der Theologie als auch in der literarischen Komposition des ganzen Buchs eine zentrale Funktion hat.295 Sachlich kor respondiert der Sohnestitel der Bezeichnung Gottes als „Vaters“, die auf die familiäre, vertraut innige Anrede durch Jesus in Gethsemane zurückgeht (aram. abbá; Mk 14,36), im Abbaruf von der christlichen Gemeinde übernommen wurde (Röm 8,15; Gal 4,6) und auch dem Vaterunser zugrunde liegt (Mt 6,9 par. Lk 11,2 Q; § 6.3.4.3b). An den zwei ersten Schlüsselstellen erzählt Markus, dass eine Stimme vom Himmel – Gott selbst – zu Jesus gesprochen habe: „Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“ Am Anfang bei der Taufe hört jene Stimme nur Jesus selbst (1,11), sodass von seiner spezifischen Würde und Sendung nur Jesus, Gott und der Leser wissen, der den Weg Jesu aufmerksam verfolgen soll. In der Mitte des Evangeliums werden bei der Verklärung auch drei Jünger Zeugen dieser Stimme (9,7): „Das ist mein lieber Sohn; den sollt ihr hören!“ Es handelt sich offensichtlich um eine Korrektur der Meinungen, die in 8,27–30 auf die Frage nach der Identität Jesu geäußert 293 Zur messianischen Auslegung von Dan 7,13 im frühen 1. Jh. n. Chr. vgl. W. Horbury, The Messianic Associations of ‚The Son of Man‘, in: ders., Messianism (Lit. § 5.6.1), 125– 155. 294 Zum Menschensohn bei Matthäus vgl. den Exkurs von U. Luz, EKK I/2, 497–503, zur Weiterentwicklung bei Johannes durch die Verbindung mit dem Ab- und Aufsteigen (Joh 1,51; 3,13 f.; 6,62; vgl. V.33.38.41 f.50 f.) sowie seiner Erhöhung (3,14; 8,28; 12,32.34) und Verherrlichung (12,23; 13,31) Ch. Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,1, 85 f.; R. E. Brown, Introduction to John (Lit. § 7.1), 252–259. 295 In einigen Handschriften taucht der Titel Sohn Gottes auch schon im ersten Vers auf (§ 6.2.2).

410

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

wurden. Es war besonders das Messiasbekenntnis des Petrus (8,29): „Du bist der Christus!“, das bei Markus keineswegs eindeutig gelobt, sondern als menschliches Ansinnen abgetan wird (8,33): „Geh von mir Satan ...“ Damit unterscheidet sich die Bezeichnung „Sohn Gottes“ bei Markus und auch schon in der Sohnesformel (Röm 1,3 f.) von den damaligen Bildern des Messias, die unter den Anhängern Jesu verbreitet waren, z. B. als Wundertäter. Erst bei der Kreuzigung am Schluss des Evangeliums, als Jesus schon tot ist und sein Erlösungswerk vollbracht hat, erklingt ein Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes aus dem Mund eines Menschen, nämlich des römischen Hauptmanns. Dieser Heide repräsentiert in der Sicht des Evangelisten die Christen – konkret die Heidenchristen. Sein Ausruf: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ (15,39) blickt in einer Vergangenheitsaussage (griech. Impf. ḗn = er war) auf das ganze, nunmehr abgeschlossene Leben und Sterben Jesu zurück. Für Markus handelt es sich um das Urbekenntnis des christlichen Glaubens, das im Gekreuzigten den Retter erkennt. Mit dieser Perspektive wird Jesus schon in der Überschrift als „Sohn Gottes“ vorgestellt (1,1). Das Markusevangelium verfolgt also von Anfang an das Ziel, das Bekenntnis „Jesus ist der Sohn Gottes“ zu veranschaulichen. Dieses Vorhaben bestimmt auch die Gestaltung des Evangeliums im Sinn der anagnṓrisis (lat. recognitio = Wiedererkennung), die als dramatisches Mittel bereits von dem griechischen Philosophen Aristoteles (385–322 v. Chr.) in seiner Poetik beschrieben wurde (po. 452a): Andere Personen kennen in einem Drama die wahre Identität des Protagonisten noch nicht, die den Zuschauern schon ganz am Anfang mitgeteilt wird. Die Zuschauer – im „erzählten Drama“ des Evangeliums die Leser bzw. Hörer – lernen die Relevanz kennen, die die Identität des Protagonisten für ihr eigenes Leben hat. Beliebt war die Anagnorisis vor allem im griechischen Drama (§ 2.2.5) und später im griechischen Roman. Auch in anderen christlichen Texten aus nachneutestamentlicher Zeit findet sie Nachahmer (Pseudo-Clemens; Die Taten der Zwölf Apostel aus NHC VI,1).296 Außer diesen drei feierlichen Aussagen über den Sohn Gottes lässt Markus an anderer Stelle auch die unreinen Geister Jesus mit demselben Titel anreden (3,11; 5,7). In diesem Fall handelt es sich um seine negative Anwendung, die der Bekämpfung Jesu dienen soll, da die Kenntnis des wahren „Namens“ nach magischen Vorstellungen die Macht über seinen Träger garantieren kann. Jesus erweist in beiden Fällen eine größere Macht als das opponierende Böse. In der Komposition des Evangeliums kann der Leser aber schon vorher bei der Versuchung (1,12 f.) erkennen, dass Jesus als der Sohn Gottes dem Druck Satans erfolgreich Widerstand leistet. Deshalb kommt die Versuchungsgeschichte gleich nach der ersten himmlischen Deklaration bei der Taufe: „Du bist mein geliebter Sohn“ (1,11). Jesus wird mit der bestandenen Versuchung zum neuen Menschen, dem eschatologischen Antityp zu Adam, der die

296

Vgl. W. Schneemelcher, NTApo6 II, 368 ff.439 ff.

6.2 Das Markusevangelium

411

Feindschaft der Schlange überwunden hat und mit den Tieren in Frieden zusammenlebt.297 Indem Jesus sich nach der Darstellung des Markus beim Verhör vor dem Synedrium „Messias“ und „Sohn des Hochgelobten (Gottes)“ nennen lässt (14,61b–62a) und sich gleichzeitig als „Menschensohn“ bezeichnet (14,62b), geschieht eine auffällige Häufung von messianischen Titeln, die in der markinischen Gemeinde bekannt waren. An diesem Knotenpunkt werden die bisher gesponnenen Fäden gebündelt, nämlich das Bekenntnis zur Messianität Jesu als „Christus“ (§ 5.6.1.1), die Offenbarung seiner Beziehung zum göttlichen Vater als „Sohn Gottes“ und seine Selbstbezeichnung als eschatologisch wiederkommender „Menschensohn“ (§ 6.2.7.2). Markus bindet alle diese Titel bewusst an den bald darauf zur Kreuzigung verurteilten Jesus, um dem Leser zu bezeugen, dass es der Sohn Gottes ist, der da starb und der die anderen retten kann: Sein Blut wurde für viele vergossen (14,23 f.). Diejenigen, die sich nicht zu ihm bekennen, entdecken diese soteriologische Bedeutung nicht, sondern urteilen nur oberflächlich: Anderen hat er geholfen, sich selbst aber kann er nicht helfen (15,31b). Und doch ist eben diese Erkenntnis die größte der paradoxen Wahrheiten, die für Markus, sein Denken und seinen Stil bezeichnend sind: Jesus half wirklich anderen, er rettete sie als Heiland. Gerade um sie zu retten, konnte er sich selbst nicht helfen. Sonst würde er nach der Theologie des Markus den sterblichen Menschen keine Hoffnung bringen, wie das Lösegeldlogion zeigt (10,45; § 6.2.7.5). Dahinter steht der unabänderliche Heilswille Gottes, der in dem göttlichen „Muss“ der ersten Leidensankündigung zum Ausdruck kommt, dass der Menschensohn leiden und sterben „muss“ („deí“; 8,31).298 Diese Komposition ist der erste Schritt, durch den Markus die ältere Christologie mit einer eigenen Interpretation versieht. Fazit: Jesus wird als „Sohn Gottes“ geschildert, damit der Leser falsche Vorstellungen vermeiden kann. Er soll von Anfang an wissen, dass Gott sich zu Jesus als seinem Sohn bekennt. Während Jesus nach der alten Bekenntnisformel in Röm 1,3 f. zum Gottessohn in seiner ganzen Machtfülle erst mit der Auferstehung eingesetzt wurde, weiß der Leser des Markusevangeliums bereits seit Mk 1,11, dass er während seiner ganzen öffentlichen Tätigkeit als Sohn Gottes wirkte. Das wahre christliche Bekenntnis aus dem Mund des Hauptmanns (15,39) wird als Bejahung jener beiden aus dem Himmel erklingenden Äußerungen (1,11; 9,7) dargestellt. Das Motiv, die wahre Identität Jesu als des Sohnes Gottes kennenzulernen, erweist sich als das wichtigste literarische Instrument, das Markus zur Gestaltung seines Evangeliums

297 Vgl. Mk 1,13 mit Gen 2,19 f.; 3,15; Jes 11,6–9; vgl. Ph. Vielhauer, Erwägungen zur Christologie des Markusevangeliums, 206–209, und erneut W. Telford, The Theology of the Gospel of Mark, 98 ff. 298 Vgl. außer Mk 8,31 parr. (s. Anm. 171) auch Lk 17,25; 24,7.26.44.46; Apg 3,21; 17,3 und Joh 3,14; 12,34.

412

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

einsetzt. Seine Absicht ist es, gerade den gekreuzigten Jesus als den Sohn Gottes zu bekennen. Durch diese Verflechtung verbindet der Evangelist die narrativen Traditionen der Passionsgeschichte mit der Überlieferung vom stellvertretenden Tod Jesu im Lösegeldwort (10,45) und der Herrnmahlsüberlieferung (14,24). Da das Markusevangelium den Gottessohn zielstrebig mit dem Gekreuzigten identifiziert, wurde sein Verfasser für ein Vertreter der paulinischen Theologie gehalten. Sehr wahrscheinlich hat Markus von Paulus gehört und auch einige Grundzüge seiner Theologie gekannt.299 Aber Markus unterscheidet sich von Paulus durch seine Auffassung, dass er die Geschichte des irdischen Jesus als Voraussetzung für die Deutung des Evangeliums von seiner Auferstehung begreift. Im Markusevangelium finden wir eine neue Deutung der vorpaulinischen Pistisformel aus 1Kor 15,3b– 5, dass Christus gestorben und auferstanden ist (§ 5.6.2.1). 6.2.7.4

Das Messiasgeheimnis

 William Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien (1901), Göttingen 31963; Hans J. Ebeling, Das Messiasgeheimnis und die Botschaft des Marcus-Evangeliums (BZNW 19), Berlin 1939; Ulrich Luz, Das Geheimnismotiv und die markinische Christologie, ZNW 56 (1965), 9–30; G. Minette de Tillesse, Le Secret Messianique dans l’Évangile de Marc (LeDiv 47), Paris 1968; Günther Haufe, Erwägungen zum Ursprung der sog. Parabeltheorie des Markus 4,11–12, EvTh 32 (1972), 413–421; Heikki Räisänen, Die Parabeltheorie im Markusevangelium (SESJ 26), Helsinki 1973; ders., Das „Messiasgeheimnis“ im Markusevangelium (SESJ 28), Helsinki 1976; Bernd Kollmann, Jesu Schweigegebote an die Dämonen, ZNW 82 (1991), 267–273.

Mit dem Terminus „Messiasgeheimnis“ wird eine Theorie bezeichnet, die von William Wrede (1901) aufgestellt wurde und im Markusevangelium eng mit dem eben charakterisierten Mittel der Anagnorisis (§ 6.2.7.3) verbunden ist. Dabei ist zu differenzieren zwischen a) den im Text beobachteten Phänomenen, b) der Deutung Wredes, c) der historischen Herleitung der einzelnen Motive und d) deren Neuinterpretation durch Markus. a) Drei Textbeobachtungen: Erstens wird Jesus mit seiner Botschaft und seinem Handeln im Markusevangelium weder von seinen Schülern300 noch von seinen Gegnern (bes. 15,31b–32) verstanden (sog. Jüngerunverständnis). Zweitens fordert Jesus sowohl die Jünger als auch die Dämonen wiederholt auf, über seine Sendung und

299 Nach M. Hengel, Jesus der Messias Israels (s. Anm. 280), 69 f. geht die paulinische Rechtfertigung des Sünders letztlich auf Jesu messianisches Handeln in der Sündenvergebung zurück (Mk 2,5.17b; Lk 7,47 f.). 30 0 Mk 4,13 (Gleichnisse); 4,40 f. (Sturmstillung); 6,52 (Seewandel); 7,18 (Reinheit); 8,27– 33; 9,5 f.30–32; 10,32–34 (Petrusbekenntnis, Verklärung und 1.–3. Leidensankündigung).

6.2 Das Markusevangelium

413

seine Werke zu schweigen (sog. Schweigegebote).301 Drittens bezeichnet die sog. Parabeltheorie,302 die den Sinn der Gleichnisrede Jesu erläutert (4,10–12), die Gleichnisse als „Geheimnis (mystḗrion) des Reiches Gottes“, das nur von den eingeweihten Jüngern verstanden wird, den Außenstehenden aber als Rätselrede verschlossen bleibt. Dass die Gleichnisse das Verstehen erleichtern sollen, bei vielen aber nicht zum Glauben führen, war für die Anhänger Jesu eine bittere Erfahrung. Diese Zurückweisung wird in 4,12 mit dem Zitat aus Jes 6,9 f. als Bestätigung der Ankündigung bei der Berufung Jesajas erklärt, dass diese Menschen zwar sehen und hören, aber nicht verstehen, sich nicht bekehren und keine Vergebung erfahren. b) Wredes Deutung: William Wrede (1901) betrachtete die Schweigegebote, die Parabeltheorie und das Unverständnis der Jünger als die drei tragenden Elemente seiner Theorie des Messiasgeheimnisses. Demnach sei das Messiasgeheimnis schon bald nach Ostern entstanden, als die ersten Christen ihr Bekenntnis zum Auferstandenen mit der Wirklichkeit des irdischen Lebens Jesu harmonisieren mussten, das nach Wredes Meinung noch einen unmessianischen Charakter hatte und erst nach Ostern messianische Züge beigelegt bekam (9,9).303 c) Der historische Hintergrund: In Wirklichkeit hatten die einzelnen Elemente dessen, was Wrede für ein einheitliches Phänomen hielt, recht unterschiedliche Wurzeln. Von den Schweigegeboten gehörten einige unmittelbar zum Exorzismus und sollten geheim halten, was die Dämonen bei Jesus an Vollmacht erkannt haben (z. B. 1,25.34). Andere sollten bei einer Heilung in der ältesten Tradition die Unaufhaltsamkeit der Macht Jesu illustrieren (7,36a; vgl. 5,43; 8,26), die trotz des Schweigegebots weiterwirkt (1,45; 5,20; 7,36b). Auch die sog. Parabeltheorie (4,10–12) hat nichts mit der Idee des Messiasgeheimnisses zu tun, sondern spiegelt nur die Ablehnung der Botschaft Jesu durch seine Zeitgenossen wider (Exkurs 7e). Das Zitat aus Jes 6,9 f. („die Sehenden sehen ... und bekehren sich nicht“) erklärt jene Zurückweisung als Unverständnis, das von Gott vorgesehen ist.304 d) Die Neuinterpretation des Markus: Alle drei Motive deutete Markus bei der Gestaltung seines „Evangeliums“ direkt oder indirekt um, jedoch anders als Wrede es sich gedacht hat. Mit den drei genannten Motiven wollte der Evangelist nicht das

301

Mk 1,25.34.44 (Kapernaum); 3,12 (Summarium); 5,43 (Tochter des Jairus); 7,36 (Heilung des Taubstummen); 8,26 (Blindenheilung); 8,30 (Petrusbekenntnis); 9,9 (Verklärung). 302 Eigentlich müsste sie Gleichnistheorie heißen, weil in Mk 4 keine Parabeln, sondern nur Gleichnisse im engeren Sinn erzählt werden (vgl. Anm. 253). 303 Vgl. W. Wrede, Das Messiasgeheimnis, 229. 304 Vgl. das Zitat von Jes 6,9 f. auch in Röm 11,7 f. (§ 5.16.5d); Joh 12,40 (§ 7.1.5.3c); Apg 28,26 (§ 6.4.5.2).

414

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

angeblich unmessianische Auftreten Jesu nachösterlich mit einer messianischen Interpretation versehen, sondern die Erzählung der Geschichte Jesu von Anfang an in den Dienst der Anagnorisis-Strategie stellen: Die wahre Erkenntnis der Identität Jesu ist vor der Passion und vor Ostern noch gar nicht möglich, sondern erschließt sich erst durch seine Auferstehung (vgl. 9,9). So dient die sog. Parabeltheorie bei Markus nicht mehr nur zur Bestätigung der christlichen Gruppenidentität angesichts der Ablehnung Jesu von außen, sondern zugleich als Aufforderung an die Christen, das Geheimnis des von Jesus verkündigten Reiches Gottes im Glauben anzunehmen. In diesem Sinn wird das Gleichnis vom Sämann anschließend allegorisierend auf die Situation der Gemeinde gedeutet, die auf das Wort Jesu hören soll (Mk 4,13 ff.). Auch mit dem Motiv der unverständigen Jünger wollte Markus den Taten Jesu nicht, wie Wrede sich es vorstellte, sekundär eine messianische Bedeutung beilegen, sondern die nachösterliche Tendenz zur Darstellung Jesu als eines wundertätigen Heilands eindämmen, die seine Passion vernachlässigt.305 Schon Jesus selber wollte durch seine Schweigegebote verhindern, dass er als Wundertäter bekannt würde (so z. B. 5,43; 7,36 und bes. 9,9). Sonst wäre es nicht möglich, das Evangelium als ein umfassendes literarisches Zeugnis von Jesus zu gestalten, in dem seine Geschichte der Reihe nach erzählt wird: Die Geschichte vom Kreuzestod und das Zeugnis von der Auferstehung stehen als das eigentliche Evangelium am Ende – erst am Ende.306 Alle Erzählschritte sind also der inneren Logik des Lebens, Sterbens und Auferstehens Jesu untergeordnet.307 Zu diesem Zweck versah Markus auch einige Schweigegebote mit einer neuen Deutung, um das Offenbarwerden Jesu hinauszuzögern (z. B. 3,12). Entscheidend ist, dass der Leser erkennt: Erst das Bekenntnis zu Jesus, das den Kreuzestod und die Auferstehung bezeugt, ist das Gottgewollte, das Evangelium, die gute Botschaft vom endgültigen Heil.308 Markus schreibt sein Evangelium, um klar zu machen, wer die Zukunft hat, wer das eschatologische Heil Gottes repräsentiert und garantiert. Die authentische Ver305 Mk 6,52 (Seewandel); 8,27–33; 9,5 f.30–32; 10,32–34 (Petrusbekenntnis, Verklärung, Leidensweissagungen). 306 Deshalb wird das Jüngerunverständnis in 8,17–21 rekapituliert, bevor mit dem Petrusbekenntnis das Erkennen der Messianität Jesu einsetzt, das ohne den Weg in die Passion unvollkommen bleibt. Erst mit dem Einzug in Jerusalem (11,1 ff.), der durch die Heilung des blinden Bartimäus vorbereitet wird (10,46–52; vgl. 8,22–26), klärt sich das Geheimnis seiner messianischen Sendung. Die Erkenntnis seiner Gottessohnschaft erschließt sich erst am Kreuz (15,39), auch das Schweigegebot für die Jünger wird erst für die Zeit nach Ostern aufgehoben (9,9). 307 Betont durch E. K. Broadhead, Naming Jesus. Titular Christology in the Gospel of Mark (JSNTSS 175), Sheffield 1999; W. Telford, The Theology of Mark, 40 ff. 308 Diejenigen, die die literarische Strategie des Markus nicht anerkennen, unterschätzen auch die Funktion des Messiasgeheimnisses: H. Räisänen, Das „Messiasgeheimnis“, 16 f.; R. Pesch, HThK 2,2, 39 ff.

6.2 Das Markusevangelium

415

kündigung des Heils ist erst nach der Passion und nach Ostern möglich, wie die Analyse des „euaggélion“-Begriffs bei Markus gezeigt hat (§ 6.2.6.1).309 Auch die Konzeption des Messiasgeheimnisses ist ein Teil der markinischen Strategie, mit der der Verfasser alle vorösterlichen Traditionen aus der Sicht der Passion und Osterverkündigung erzählt. Diese literarische Gestaltung kann als eine Art Kreuzestheologie bezeichnet werden. 6.2.7.5

Die markinische Kreuzestheologie

Mit dem Terminus „Kreuzestheologie“ wird meist die paulinische Verkündigung charakterisiert, weil das „Wort vom Kreuz“ wegen seiner Heilsbedeutung für den Apostel fundamental ist (1Kor 1,18 ff.; § 5.12.5e). Da aber auch Markus sein ganzes Evangelium, vor allem ab dem Petrusbekenntnis (8,29), direkt auf die Kreuzigung ausrichtet, kann hier ebenfalls von einer Kreuzestheologie gesprochen werden, allerdings in einem anderen Sinn als in der paulinischen Kreuzeslehre.310 Das Kreuz wird neu interpretiert (s. Anm. 299). Im Garten Gethsemane (Mk 14,32–42)311 erlebt Jesus die tiefste menschliche Todesangst, die schon die Gottverlassenheit am Kreuz vorbereitet (s. Anm. 313). Dabei ist es bezeichnend, dass die intensive Gottesanrede „Abba“ (§ 5.6.1.2) in Gethsemane gerade dort und nur dort überliefert wird, wo dieses Verhältnis zum Vater so radikal in Frage gestellt ist. In allem Ringen hält Jesus bedingungslos an Gott als seinem Vater fest. Dass Gottes Wille geschieht, ist bei Markus nicht der Gegenstand einer Bitte, sondern die selbstverständliche Voraussetzung des ganzen Gebets, die durch die objektive Negation (griech. „ou“, nicht: „mḗ“) als Tatbestand festgestellt wird. In dieser ungeheuerlichen, allem Augenschein widersprechenden Gottesgewissheit, dass Gottes Wille als der Wille des Vaters ein guter Wille ist, bewährt sich Jesus in seiner ohnmächtigen Stunde am vollkommensten als Sohn. Diese unlösbare Bindung an den Vater zum Ausdruck zu bringen, ist bei Markus das primäre Anliegen der Gethsemane-Perikope. Das Versagen der Jünger bildet nur die Folie zu dieser hinreißenden erzählerischen Darstellung. Ebendiese theologische Härte der markinischen Darstellung wird schon innerhalb des Neuen Testaments von anderen Autoren als unerträglich empfunden – und entschärft. Dass der Wille 309 In analoger Weise vermag auch bei Johannes erst der Para klet die volle Wahrheit von Ostern her zu erschließen (Joh 2,17.22; 10,6; 16,12 ff.25 ff.; § 7.1.5.2a). 310 Vgl. Th. K. Heckel, Der Gekreuzigte bei Paulus und im Markusevangelium, BZ 46 (2002), 190–204. 311 Vgl. R. Feldmeier, Die Krisis des Gottessohnes. Die Gethsemaneerzählung als Schlüssel zur Markuspassion (WUNT II/21), Tübingen 1987, und zur Rezeptionsgeschichte J. Frey, Leidenskampf und Himmelsreise. Das Berliner Evangelienfragment (Papyrus Berolinensis 22220), BZ 46 (2002), 71–96, bes. 85 ff., der auch auf die Gethsemane-Szene im „Unbekannten Berliner Evangelium“ (UBE) eingeht (§ 6.1.6.5).

416

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Gottes geschieht, wird bei Matthäus (26,42) im zweiten Gebet Jesu bereits unter dem Einfluss des Vaterunsers (6,10) redaktionell zu einer vorbildhaften Bitte um eine schrittweise Einwilligung in den göttlichen (Heils-)Willen durch den Sohn abgemildert: „Dein Wille geschehe!“ Am Ende ist Jesus zwar von den Jüngern verlassen, im Gebet aber mit dem Vater vereint. Die bei Markus vorausgesetzte Allmacht Gottes (Mk 14,36: „alles ist dir möglich“) wird zur Einschränkungsklausel: „wenn es dir möglich ist“ (Mt 26,39). Bei Lukas (22,42) ist Jesus in seinem Beten durch die Abwehr des eigenen Unwillens (griech. „mḗ“) nur noch ein Vorbild für die Ergebung in Gottes Willen, die schon die Versuchungen (V.28–30) und die Bewährung derer im Blick hat, die Jesus nachfolgen (V.39; vgl. Apg 21,14; Lk 1,38). Von der verzehrenden Traurigkeit, dem Zittern und Zagen Jesu (Mk 14,33 f.) ist nichts mehr übrig geblieben. Hebr 5,7 f. hält in einer Anspielung auf die Gethsemanegeschichte zwar am Flehen und Schreien Jesu mit Tränen fest, ist zur Ermutigung seiner Adressaten aber stark paränetisch ausgerichtet und zielt schon ganz auf die Erhörungsgewissheit durch die Errettung aus dem Tod in der Auferstehung Jesu (§ 8.5.3b). Johannes ersetzt im Aufriss seines Evangeliums den Gebetskampf in Gethsemane durch das sog. hohepriesterliche Gebet in Kap. 17, erwähnt in 12,27 f. aber (analog zu Mk 14,34) die Klage Jesu über die Erschütterung seiner Seele. Inhaltlich verknüpft Johannes das Gebet mit dem für seine Christologie zentralen Motiv der „Stunde“.312 Außerdem formt er es in eine Bitte um die Verherrlichung um, sodass Gethsemane- und Verklä rungsgeschichte (Mk 9,2–10; 14,32–42) zu einer einzigen Szene verschmolzen werden. Eine Anspielung auf das Gebet in Gethsemane enthält auch die Kelchmetapher in Joh 18,11 (vgl. Mk 14,36).

Am Kreuz (Mk 15,33–39) verliert Jesus alles – sowohl sein Leben als auch seine Hoffnungen. Sein Vertrauen zu Gott begrenzt sich auf die elementare Beziehung, in der er ihm mit dem Zitat von Ps 22,2 seine Verzweiflung vorhält: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“313 Nur in diesem paradoxen Sinn, dass er sich selbst in der letzten, tiefsten Verlassenheit mit der Warum-Frage noch an Gott wendet und damit selbst in der Form der Klage noch an „seinem“ (!) Gott festhält, bleibt er der Sohn Gottes. Mit dieser Schilderung betont Markus das Menschsein Jesu:314 Jene Szenen in Gethsemane und bei der Kreuzigung dürfen nicht durch die vorzeitige Proklamation der Göttlichkeit Jesu abgeschwächt werden. Die Gottverlassenheit ertrug Jesus stellvertretend. Seit Ostern wissen seine Jünger, dass er eigentlich nicht verlassen war. Als der Sohn Gottes starb er „für viele“ (vgl. Mk 10,45). Diese Deutung der Gottverlassenheit ist eine kühne Interpretation der Stellvertretung, die in der alten Tradition vom Herrnmahl angelegt war (Mk 14,24). Jede Auslegung, die Markus bloß für einen Sammler hält, verkennt die Nacherzählung des inneren Kampfes Jesu, von der die anderen Evangelien Abstriche machten. Die anderen

312

Vgl. Joh 12,23 ff.; 13,1; 17,1; vgl. Mk 14,41: „die Stunde ist gekommen“. In Ps 22,23 erfolgt zwar der Übergang zum Gotteslob, aber davon ist am Kreuz noch nicht die Rede. 314 Vgl. A. Z. Collins, From Noble Death to crucified Messiah (Lit. § 6.2.4.1), 486. 313

6.2 Das Markusevangelium

417

Evangelisten, die kanonischen und die nichtkanonischen, hielten die Tiefe und innere Spannung dieser Darstellung nicht durch. Ähnlich wie in der Gethsemaneperikope wird auch bei der Kreuzigung die theologische Radikalität abgemildert: Matthäus (27,46) bewahrt zwar als einziger unter den Evangelisten den Verlassenheitsruf Jesu aus Mk 15,34 = Ps 22,2, betont aber schon die souveräne Freiwilligkeit seines Machtverzichts (Mt 26,52 f.). Lukas (23,34.46) stilisiert Jesus stattdessen durch die Fürbitte für seine Henker315 sowie das Zitat aus Ps 31,6 („In deine Hände lege ich meinen Geist“), dem Abendgebet eines gläubigen Juden, bereits als frommen Beter, der sein Leben in die Hand Gottes gibt, d. h. dessen Macht anvertraut. Durch die Vergebungsbitte und durch das Psalmzitat wird Jesus zum Vorbild für Stephanus, der sich im Martyrium an den „Herrn Jesus“ wendet und damit in der lukanischen Darstellung die Heilsbedeutung von dessen Sterben anerkennt (Apg 7,56.59 f.). Offensichtlich befürchtete Lukas, dass seine hellenistischen Leser aus dem alttestamentlichen Motiv der Gottesklage ein Scheitern Jesu heraushören könnten. Aber durch die Fürbitte zeichnet er Jesus als den Sünderheiland, der selbst im Tod für seine Feinde betet (§ 6.4.5.3d). Johannes hält gegenüber allen, die bezweifeln, dass Jesus „im Fleisch gekommen ist“ (1Joh 4,2 f.; 2Joh 7), dezidiert an der Realität der Inkarnation und des Todes Jesu fest (Joh 1,14; 19,28.34), doch verbindet er in dem bewusst doppelsinnig gebrauchten Verb „erhöhen“ (hypsoún) das Erhöhtwerden ans Kreuz aufs engste mit der Erhöhung zum himmlischen Vater und der Verherrlichung zum ewigen Leben.316

Die ganze Darstellung des Markusevangeliums gipfelt im Kreuzigungsbericht und dem Auferstehungszeugnis (Mk 16,6): „Er ist auferstanden“. Aber was nach Ostern immer noch aussteht, ist die Parusie, d. h. das Kommen des Menschensohns, das Jesus in der Endzeitrede angekündigt hat (13,26 f.). Dieser Zeitpunkt, an dem die universale und sichtbare Vollendung der Welt eintreffen wird, kann nicht berechnet werden. Deshalb bleibt trotz der relativ bald erwar teten Wiederkehr Jesu (13,30) nur die Aufforderung: „Gebt acht“ (blépete; 13,5.9.23.33) und „Wachet“ (grēgoreíte; 13,35.37). Diesen Appell bezieht Markus in der Endzeitrede Jesu zugleich auf die Situation der Gemeinde, die sich anders verhalten soll als die Jünger in Gethsemane, die einschlafen, ihn im Stich lassen und fliehen (14,34–41.50). Entscheidend ist, dass der endzeitliche Richter schon bekannt ist.317 In seinem „Wort“ ist die eschatologische Zeit der Fülle der Gaben bereits vorweggenommen (4,20; 10,30). Auf diese Weise setzt sich Markus mit dem Problem der Parusieverzögerung auseinander. 6.2.8

Jüngerschaft als Nachfolge

 Hans Dieter Betz, Nachfolge und Nachahmung Jesu Christi im Neuen Testament (BHTh 37), Tübingen 1967; Martin Hengel, Nachfolge und Charisma (BZNW 39), Berlin 1968; Gerd 315 316 317

Die Fürbitte in Lk 23,34 ist textkritisch unsicher; vgl. 6,27 f.36 f. Joh 3,14 f.; 12,23–34; 18,32 (§ 7.1.5.1a). Mk 8,38 (Nachfolgewort); 10,29–31 (Lohn der Nachfolge); vgl. 9,1–8 (Verklärung).

418

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Theißen, Soziologie der Jesusbewegung (TEH 194), München 1977, 51988; ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 1979, 31989; Jürgen Roloff, Die Kirche im Neuen Testament (GNT 10), Göttingen 1993; Ulrich Luz, Art. Nachfolge Jesu I, TRE 23, 1994, 678–686; Robert C. Tannehill, Die Jünger im Markusevangelium – die Funktion einer Erzählfigur, in: Ferdinand Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums (SBS 118/119), Stuttgart 1985, 37–66; Thomas Schmeller, Brechungen. Urchristliche Wandercharismatiker im Prisma soziologisch orientierter Exegese (SBS 136), Stuttgart 1989; Gerd Theißen, Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte, Gütersloh 2004.

Jüngerschaft und Nachfolge sind in allen Evangelien durchgehend von großer Bedeutung, zunächst im Auftreten des irdischen Jesus, zugleich aber auch schon als Spiegelbild der Glaubenden und der christlichen Gemeinden, für die sie geschrieben sind. a) Die Nachfolge der Jünger: Der Ausdruck „Jünger“ (mathētḗs) heißt wörtlich übersetzt „Schüler“. Vorbild ist trotz mancher Berührungen weder das jüdische Lehrhaus, wie es Paulus zu Füßen des Gamaliel erlebt hat (Apg 22,3), noch die provozierende Bedürfnislosigkeit kynischer Wanderphilosophen (§ 6.1.5.3), sondern die charismatische Berufung des Elisa durch den Propheten Elia (1Kön 19,19–21).318 Wie bei dieser Prophetenberufung beruht auch die Jüngerschaft nicht auf der freien Entscheidung, sich einem Meister anzuschließen, sondern auf dem Ruf Jesu, der selber zum Jünger beruft (Mk 1,16–20; 2,14). Diese Aufforderung zur Nachfolge ist nach Markus kein Appell zu einem schulmäßigen Lehren und Lernen, sondern bindet das ganze Leben an die Person Jesu.319 Damit wird die Nachfolge zum Inbegriff christlicher Existenz.320 Statt wie Jesus selber Lehrer bzw. Rabbi321 zu werden oder gar als „Nachfolger“ an dessen Stelle zu treten, geht es um ein rückhaltloses, zunächst wörtlich verstandenes „Nachfolgen“ (akoloutheín) und „Hinterhergehen“ (opísō = hinterher),322 das ein Umherziehen „mit ihm“ einschließt (Mk 3,14; 5,18). Diese radikale Form der Nachfolge unterscheidet sich vom Hinterherlaufen der Volksmenge,323 so sehr diese bei Matthäus dazu eingeladen wird, bei Jesus Ruhe zu finden, d. h. zum messianischen Heil zu gelangen (MtS 11,28–30;324 vgl. auch Joh 6,35: „wer zu mir kommt ...“).

318

M. Hengel, Nachfolge und Charisma, 5.18–20. Mk 1,18.20 (Berufung der ersten Jünger); 2,14 (Levi); 3,14 (Berufung der Zwölf). 320 Mk 8,34 (Logion von der Selbstverleugnung und dem Kreuztragen); 10,21 (der reiche Jüngling). 321 Joh 1,38; vgl. Mk 9,5; 10,17 u. ö. 322 Mk 1,17 f.20; 8,34; vgl. 1Kön 19,20 f. (hebr. hālak ’acharê). 323 Mk 3,7 f.; Mt 4,25; 8,1 u. ö. 324 J. R. C. Cousland, The Crowds in the Gospel of Matthew (Lit. § 6.3), 145–173, hier 159–163. 319

6.2 Das Markusevangelium

419

Die Nachfolge bedeutet den kompromisslosen Abbruch aller bisherigen sozialen Verpflichtungen und familiären Bindungen.325 Demgegenüber werden diejenigen als die wahren Angehörigen Jesu, als „familia Dei“,326 dargestellt, die Gottes Willen tun.327 Dafür eröffnet die Nachfolge eine Lebensgemeinschaft „mit Jesus“ (Mk 3,14; 5,18), die eine völlige Schicksalsgemeinschaft – bis hin zu einem möglichen Martyrium – einschließt.328 Der Nachfolgegedanke steht von der ersten Jüngerberufung an ganz im Dienst der eschatologisch anbrechenden Gottesherrschaft (Mk 1,14–20).329 Er hat die Aussendung für die missionarische Arbeit zur Konsequenz.330 Die Familien-, Heimat- und Besitzlosigkeit führt – besonders in der Logienquelle (§ 6.1.5.3e) – zur Spannung mit sesshaften Jesusanhängern, wie Gerd Theißen zutreffend beobachtet hat. Dennoch hat seine These vom „zweigestuften Ethos“ zwischen Wanderradikalen als den eigentlichen Trägern der Jesusbewegung und ortsfesten Sympathisanten zu Recht Kritik herausgefordert.331 Denn Petrus war verheiratet (Mk 1,30; 1Kor 9,5), Jesus bejahte die Ehe,332 und die Aufforderung an den reichen Jüngling (10,17 ff.) wird nirgends zu einer generellen Forderung nach einem vollständigen Besitzverzicht ausgeweitet. Für eine Zwei-Stufen-Ethik (wie später etwa im Mönchtum) gibt es in der älteren Jesusüberlieferung keine Anhaltspunkte, und die gezielte Begrenzung einzelner Forderungen auf die eine oder andere Gruppierung lässt sich nicht nachweisen. Vor allem sind die ortsansässigen Adressaten nicht nur als potenzielle Sympathisanten, sondern als das eschatologische Gottesvolk angesprochen, dem die Botschaft der anbrechenden Gottesherrschaft gilt. Um ebendiese Kunde ganz Israel zu bringen, war die Wanderexistenz für den Zwölferkreis und weitere Einzelpersonen notwendig. Die Aufforderungen der Aussendungsrede (Lk 10,1–12 Q) sind daher als prophetische Zeichen zu verstehen, die das Volk Israel auf das kommende Gottesreich hinweisen sollten. Diese Mission konnte sich bei Petrus, Philippus, Paulus und seinen Mitarbeitern sehr verschiedenartig gestalten. Wandermissionare (Mt 10,41) sind in Syrien noch am Ende des 1. Jh.s bezeugt – freilich mit der Einschränkung, dass wer länger als ein, notfalls zwei Tage bleibt, ein falscher Prophet ist (Did 11–13). Doch war die Wanderexistenz selbst beim Zwölferkreis nicht von Dauer. Schon bald haben die Zwölf sich in Jerusalem niedergelassen und als Leitungsgremium

325

Mk 1,18.20; 10,28–30; Lk 9,57–62 Q; vgl. 14,26 Q; 18,29 f. Q; 1Kön 19,20 f. Vgl. Mt 23,8(–10): „Einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder.“ 327 So Mk 3,20 f.31–35 und betont Mt 7,21; 12,50 ( § 6.3.3.2). 328 Mk 8,31–38; Mt 10,30 f.; Lk 14,27. 329 Auch in der Logienquelle folgt der Auftrag zur Verkündigung von Gottes Reich unmittelbar auf die Sprüche von der Heimatlosigkeit in der Nachfolge Jesu (Lk 9,2; 9,57–62; 10,9.11; 18,29 f.). 330 Mk 1,17 (Berufung von Petrus und Andreas); 3,14 (Berufung der Zwölf); 6,7.12 f. (Aussendung der Zwölf). 331 Vgl. G. Theißen, Soziologie, 23; ders., Jesusbewegung, 86.89, und zur Kritik Th. Schmeller, Brechungen, 69; J. Roloff, Kirche, 43–46; U. Luz, Art. Nachfolge Jesu I, TRE 23, 680–684; R. Deines, Gerechtigkeit (§ 6.3), 169.444.446.450 f. 332 Mk 10,2–12 (Ehescheidung); vgl. die Hochzeitssymbolik in 2,19 u. ö. 326

420

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

das Leben der Urgemeinde geprägt.333 Daher gilt: Auch wer zu Hause bleibt, soll sich nach Lukas an der Lehre der Apostel und der Praxis der Urgemeinde ein Beispiel nehmen (Apg 2,42–47; 4,32–37). Oder matthäisch ausgedrückt soll er den „Weg der Gerechtigkeit“ (Mt 21,32) bzw. den Weg zur Vollkommenheit (19,21) gehen, mit dem der junge Reiche an die Vollkommenheit der Feindesliebe in der Bergpredigt erinnert wird (5,48; § 6.3.4.1–2).

b) Die Nachfolge der Glaubenden: Das buchstäblich konkrete Verständnis der Jüngerschaft als Nachfolge im Sinn des Hinterhergehens war nur bis zum Tod Jesu möglich. Nach seiner Auferstehung wurde eine tiefgreifende Wandlung zu einem neuen, übertragenen Verständnis der Nachfolge erforderlich. Schon in den synoptischen Evangelien ist zu beobachten, wie der Nachfolgegedanke transformiert, auf die nachösterliche Glaubensexistenz hin geöffnet und zu einer umfassenden Chiffre für das ganze christliche Leben verallgemeinert wird – z. B. durch den Zusatz in dem Nachfolgelogion: „der nehme sein Kreuz auf sich täglich“ (Lk 9,23 di ff. Mk 8,34). Schon Markus hält in Gestalt der Jünger dem Leser „sein Spiegelbild“ vor, das entweder zur Identifikation einlädt oder zur Distanzierung, zur Selbstkritik und zum Entwickeln einer positiven Alternative herausfordert.334 Aus dem wörtlich verstandenen Hinter-Jesus-Hergehen der Jünger auf dem Weg in die Passion wird auf diese Weise bei Markus (und Matthäus335) zugleich ein Leiden „wie Jesus“. Erst in dieser weiterentwickelten Form war es möglich, dass der Glaube in den Evangelien nach Ostern am Motiv der Nachfolge festhalten und sich auch weiterhin an den Jüngern orientieren konnte.336 Nachfolge- und Jüngerschaftsterminologie bleiben im Wesentlichen auf die Evangelien beschränkt. Allein in 1Petr 2,21 wird der Terminus „nachfolgen“ explizit auf die nachösterliche Gemeinde übertragen, um die befremdlichen Erfahrungen sozialer Anfeindung als Nachvollzug der Leiden Christi „in seinen Fußspuren“ zu begreifen (§ 8.6.3b; vgl. auch Apk 14,4). Statt vom Ruf in die Nachfolge spricht Paulus gelegentlich von der Nachahmung Christi, die – lateinisch ausgedrückt – in der Imitatio Christi eine größere Wirkungsgeschichte entfal-

333 Vgl. Lk 6,12–16 (Berufung der Zwölf); Apg 1,13; 6,1–6 (Wahl der Sieben; vgl. Gal 1,18; 2,9: Jakobus, Petrus und Johannes als „Säulen“). 334 Vgl. R. C. Tannehill, Die Jünger im Markusevangelium, 37–66, hier 52. 335 Vgl. U. Luz, EKK I/2, 154–156.159 f.; ders., Art. Nachfolge Jesu I, TRE 23, 683 f. 336 In der Apostelgeschichte verwendet Lukas „akoloutheín“ nicht mehr für den Nachfolgegedanken, dafür die Bezeichnung „Jünger“ (mathētḗs) als Umschreibung für die Christen (Apg 6,1 f.7; 9,1.10.19; 11,26.29 u. ö.) oder spricht vom Christsein als Glauben (Apg 2,44; 6,5.7; 11,21.24; 14,22; 16,5; 19,18; 21,20 u. ö.). Bei Johannes sind die Kap. 13–17 literarisch so gestaltet, dass mit den Jüngern zugleich die Gläubigen späterer Generationen angesprochen werden. Schon bei der ersten Berufung wird das Nachfolgen der Jünger in Joh 1,37 f.40.43 mit dem Glauben des Nathanael in V.50 parallelisiert, beim Lichtwort (8,12) ist das „Nachfolgen“ bereits ein Synonym für das „Glauben“ (vgl. 12,26 sowie 10,4 f.27; vgl. U. Heckel, Hirtenamt [Lit. § 7.1], 7–23.125).

6.2 Das Markusevangelium

421

tet hat als der wörtlich verstandene Nachfolgegedanke aus den Evangelien.337 In der Sache bezeichnet Paulus die Konformität der christlichen Existenz mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen eher durch das neue Sein „in“ oder „mit Christus“.338

c) Berufung und Aussendung: Die Berufung der ersten vier Jünger – Petrus und sein Bruder Andreas sowie die beiden Zebedäussöhne Jakobus und Johannes – geschah Markus zufolge unmittelbar nach Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa weg von ihrer Arbeit beim Fischen.339 Dabei gibt Jesus ihrem bisherigen Beruf durch das Menschenfischerwort in origineller Weise eine völlig neue positive Deutung (Mk 1,16 f.).340 Petrus wird zum Wortführer der Jünger und gehört fortan zusammen mit den Zebedaiden Jakobus und Johannes zu den engsten Vertrauten Jesu.341 Sein Bruder Andreas erlangt nach den Synoptikern keine besondere Bedeutung, nur im Johannesevangelium vermittelt sein Zeugnis die Berufung des Petrus, der damit an die zweite Stelle rückt (Joh 1,40–44; vgl. 6,8; 12,22). Die Konstituierung des Zwölferkreises (Mk 3,13–19) stellt Markus als eine Zeichenhandlung dar, in der Jesus diese Jünger „eingesetzt“ (epoíēsen = gemacht) hat. Damit werden sie für eine besondere Aufgabe ausgewählt, in einer engen Beziehung an die Person Jesu gebunden und in den drei Bootszenen auch äußerlich von der Volksmenge abgesetzt.342 Sie sind nicht der heilige Rest Israels (wie die Gemeinschaft von Qumran; CD 1,4), sondern entsprechen den zwölf Stämmen des eschatologischen Gottesvolks. Sie verkörpern zeichenhaft die Erneuerung bzw. Wiederherstellung Israels. Nach einer Überlieferung der Logienquelle werden sie bei der Parusie über die zwölf Stämme Israels richten (Lk 22,30 Q; vgl. 1QS 8,1–4). In einer weiteren Szene werden die Zwölf von Jesus ausgesandt (apostéllein = senden). Die Aussendung geschieht zur Verkündigung und zur Heilung von Kranken (Mk 6,6b–13; vgl. 3,14 f.). Sie erfolgt paarweise. Der Aposteltitel wird in diesem Zusammenhang von Markus noch nicht verwendet,343 sondern erst von Lukas bei der Berufung eingeführt, in der Aussendungsrede wieder aufgenommen und auf den Zwölferkreis eingegrenzt.344 Ebenso wie bei Lukas sind auch bei Matthäus (10,1 f.) 337

1Kor 11,1; 1Thess 1,6; vgl. auch Phil 2,5–11 (§ 5.14.6a). Röm 6,3 ff.; vgl. auch 2Kor 4,7 ff.; 13,4; Phil 3,10 f. (§ 5.6.1.1). 339 Mk 1,16–20; vgl. auch 2,14 Levi am Zoll. 340 Vgl. M. Hengel, Nachfolge und Charisma, 85 f. 341 Mk 5,37; 9,2 (Verklärung); 13,3 (Endzeitrede); 14,33 (Gethsemane) sowie 10,35 (Zebedaidenbitte). 342 Mk 4,35–41 (Sturmstillung); 6,45–52 (Seewandel); 8,14–21. 343 Vgl. aber Mk [3,14]; 6,30. 344 Lk 6,13 (Berufung); 9,1 f.10 (Aussendung und Speisung der 5000); Apg 1,2; 6,2.6; vgl. J. Frey, Apostelbegriff, Apostelamt und Apostolizität, in: Th. Schneider / G. Wenz (Hg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge I. Grundlagen und Grundfragen, Freiburg u. a. 2004, 91–188, hier 138–149. 338

422

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

„die zwölf Jünger“ zugleich „die zwölf Apostel“. Durch die Aussendung erhält das Jüngerbild missionstheologische Züge, die sich über die Grenzen Israels hinaus in der Heidenmission fortsetzen (§ 6.2.3). Nach Lk 10,1–12 sendet Jesus außerdem noch andere zweiundsiebzig Jünger345 aus in Anspielung auf die zweiundsiebzig Völker in Gen 10 LXX. Der Jüngerkreis ist nicht auf die Zwölfergruppe beschränkt, sondern offen für weitere Anhänger Jesu. Schon die Berufung des Levi (Mk 2,13 ff.) führt nicht in derselben Weise zur Nachfolge wie beim Zwölferkreis mit seiner Wanderexistenz, sondern zur Rückkehr in das eigene Haus. Aber sie hat bei Levi die Tischgemeinschaft mit Sündern und Zöllnern zur Folge. Darüber hinaus werden genannt Joseph von Arimathäa, ein pharisäisches Mitglied des Synedriums (Mk 15,42–47), Lazarus mit seinen Schwestern Maria und Martha (Lk 10,38 ff.; Joh 11,1 ff.) oder Maria Magdalena, Johanna, Susanna und die anderen Frauen, die von Jesus geheilt wurden und ihn mit ihrem Besitz unterstützen (Lk 8,1–3). d) Das Bild der Jünger bei Markus: Der älteste Evangelist346 verrät noch kein so ausgeprägt ekklesiologisches Interesse wie Lukas oder Matthäus. Aber er entwirft ein realistisches Jüngerbild, in dem auch die Gläubigen der nachösterlichen Zeit ihre eigenen Probleme wiedererkennen können.347 Im Einzelnen ist Petrus der mit Abstand wichtigste und am häufigsten erwähnte Sprecher der Jünger (8,29.32 f. u. ö.), der als erster und letzter im Evangelium namentlich genannt wird (1,16; 16,7; s. Anm. 135). Durch das Wortspiel mit dem Beinamen „Kephas“ (aram.) bzw. „Petros“ (griech.) und seiner Wortbedeutung „Stein, Fels“ wird er besonders hervorgehoben.348 In seiner Persönlichkeit wird er treffend charakterisiert durch eine Mischung von Treue und Versagen (14,37), eifrigem Bekennen (8,29) und feigem Verleugnen (14,29– 31.54.66–72) bis hin zur Flucht zusammen mit allen (14,50). Selbst Judas, der Jesus verraten hat, wird nicht verschwiegen.349 Umso stärker ist der positive Kontrast durch nachahmenswerte Figuren wie den einst blinden Bartimäus, der als Geheilter Jesus auf dem Weg in die Passion nachfolgt (10,52), die Frau, die ihn salbt (14,7 f.), Simon von Kyrene, der das Kreuz trägt (15,21), der Hauptmann, der Jesus als Gottessohn bekennt (15,39), und Joseph von Arimathäa, der sich um das Begräbnis Jesu kümmert (15,42 ff.).

345

Statt „zweiundsiebzig“ haben andere Textzeugen „siebzig“. Vgl. E. Best, Following Jesus. Discipleship in the Gospel of Mark (JSNT.S 4), Sheffield 1981; P. Kristen, Familie, Kreuz und Leben. Nachfolge Jesu nach Q und dem Markusevangelium (MThSt 42), Marburg 1995. 347 Vgl. R. C. Tannehill, Die Jünger im Markusevangelium, 37–66. 348 Mk 3,16 (Berufung); vgl. Joh 1,42; Mt 16,18 (Felsenwort); vgl. M. Hengel, Petrus (s. Anm. 135), 21–44. 349 Mk 3,19 (Berufung); 14,10.18.21.43–45 (Passionsgeschichte). 346

6.2 Das Markusevangelium

423

Ein für das Markusevangelium charakteristischer Zug ist das Unverständnis der Jünger (s. Anm. 300 ff.), in dem der Evangelist seinen Adressaten einen kritischen Spiegel vorhält. Markus setzt dieses Motiv vom Jüngerunverständnis konsequent ein, um den Weg Jesu in die Passion als die Geschichte des wahren messianischen Gottessohns darzustellen und gegen falsche Erwartungen der Gläubigen abzugrenzen, die bloß an seiner Vollmacht und Wunder tätigkeit interessiert sind. Angesichts vielfältiger Missverständnisse und Verkürzungen des Jesusbildes durch die Glaubenden betont Markus die paradoxe Verbindung von Hoheit und Leiden, Niedrigkeit und Vollmacht. Im dreifachen Schlafen der Jünger in Gethsemane gipfelt das Jüngerunverständnis, das bei den drei Leidensweissagungen sichtbar geworden war.350 Markus verbindet die Jüngerschaft pointiert mit der Kreuzesnachfolge: Auf die erste Leidensankündigung folgt das Wort Jesu von der Selbstverleugnung und dem Kreuztragen (Mk 8,31–38). Nach der zweiten Weissagung hält Jesus dem Rangstreit der Jünger, wer der Größte sei, das Dienersein entgegen (9,30–37). Und nach der dritten erwidert er die Zebedaidenbitte um einen Vorzugsplatz im Himmel an seiner Seite schließlich mit dem Lösegeldwort, das schon auf den Tod anspielt (10,32–45). Als positives Gegenstück werden daraufhin dem blinden Bartimäus die Augen geöffnet, so dass dieser dem messianischen Davidssohn auf dem Weg in die Passion folgt (10,46 ff.). Wenn das Markusevangelium tatsächlich in Rom abgefasst wurde (§ 6.2.3), könnten bei dem Leiden bis hin zum Martyrium lebhafte Erinnerungen an die erst wenige Jahre zurückliegende Christenverfolgung unter Kaiser Nero (64 n. Chr.) anklingen, in der Petrus starb.351 In der Endzeitrede (Mk 13,5–29) wirken in den Repressalien der jüdischen und heidnischen Umgebung die noch frischen Erinnerungen an den Jüdischen Krieg (66–70 n. Chr.) und die neronischen Verfolgungen nach (§ 6.2.3; vgl. 4,17; 10,30).352 e) Das Jüngerbild in den anderen Evangelien: Matthäus übernimmt die markinische Konzeption der Jüngerschaft und Leidensnachfolge, die er zwei Jahrzehnte später in der Bergpredigt (5,13–16: Salz der Erde, Licht der Welt) und der Aussendungsrede (Kap. 10) missionarisch-ekklesiologisch weiterentwickelt und ethisch noch enger an das Tun des göttlichen Willens bindet (§ 6.3.3.2). Erhalten bleiben die ambivalenten Züge in der Persönlichkeit des Petrus,353 den Matthäus durch Auslassungen und Hin-

350

Vgl. Mk 14,34–42 mit 8,32 f.; 9,32 ff.; 10,35 ff. (s. Anm. 311 ff.317). Vgl. Mk 8,34 f. mit 15,21; 10,38 f. Zu den möglichen Anspielungen auf die Christenverfolgungen in Rom vgl. M. Hengel, Entstehungszeit und Situation des Markusevangeliums (s. Anm. 149), 43 f. 352 Vgl. M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 78 f.85.190–193. 353 Vgl. zum Petrusbild der Evangelien R. Feldmeier (s. Anm. 135), die gut lesbare Gesamtdarstellung von Ch. Böttrich (s. Anm. 135), hier bes. 235–243 sowie die historische Neubewertung als einzigartige, alle anderen Apostel überragende Autorität (neben Paulus) durch M. Hengel, Der unterschätzte Petrus (s. Anm. 135). 351

424

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

zufügungen354 verstärkt als grundlegende ekklesiale Integrationsgestalt und maßgeblichen Jünger darstellt (§ 6.3.4.3c). Das ekklesiologische Interesse des Matthäus zeigt sich auch darin, dass er als einziger der vier Evangelisten zweimal den Terminus „ekklēsía“ gebraucht, und zwar einerseits umfassend für die ganze „Kirche“ (Mt 16,18), andererseits für die örtliche „Gemeindeversammlung“ (18,17; § 6.3.4.3a). Lukas arbeitet mit einer zweifachen Konstruktion: Zum einen reduziert er den vorösterlichen Jüngerkreis faktisch auf die Zwölf.355 Zum andern identifiziert er diese Zwölf mit dem nachösterlichen Kreis der Apostel. Für die Nachwahl des Matthias werden zwei Kriterien genannt, die ein Apostel erfüllen muss, nämlich dass er die Weggemeinschaft mit dem irdischen Jesus teilte und ein Zeuge der Auferstehung Jesu innerhalb der vierzig Tage zwischen Ostern und Himmelfahrt wurde (Apg 1,21 f.; vgl. 1,2 f.). Damit ist der Zwölferkreis als Symbol für das endzeitliche Gottesvolk vollständig rekonstituiert und das „Nachfolgen“ (akoloutheín) im wörtlichen Sinn auf die Erdenzeit Jesu beschränkt (§ 6.4.5.2). In der Aussendungsrede betont Lukas (10,4) demonstrativ die radikale Armut (§ 6.4.5.4b) bei der Ausrüstung der Wandermissionare durch den Verzicht auf Geldbeutel, Vorratstasche und Schuhe. Ihre Rückkehr schließt jedoch das Ende ihrer Wanderschaft ein (10,17), das nach der Himmelfahrt Jesu durch das Bleiben der Jünger in Jerusalem bestätigt wird (24,49; Apg 1,13). Aus der Berufung der Zwölf in die unmittelbare Nachfolge auf dem Weg mit Jesus ist durch die Verheißung des Auferstandenen in einem weiteren Sinn die Aussendung der Zeugen kraft des heiligen Geistes geworden (Apg 1,8; vgl. 13,1–3). In der Apostelgeschichte gelten die Zwölf als Garanten der Jesusüberlieferung (Apg 2,22 f.; 4,10 u. ö.) und der Lehrtradition (2,42). Sie bilden das Leitungsgremium der Jerusalemer Urgemeinde (6,1–6) mit Petrus als Sprecher.356 Noch stärker als die anderen Evangelisten präsentiert der Erzähler Lukas ihn als Prototyp eines Jüngers, doch mildert er die negativen Züge ab: Petrus ist der Erstberufene und Erstbeauftragte,357 der Erstbekenner (Lk 9,20), der Erstempfänger einer Erscheinung des Auferstandenen (24,34; vgl. 1Kor 15,4 f.), der Erstverkündiger der Auferstehungsbotschaft (Apg 2,14–36) und der erste Wegbereiter für die Völker mission (10 f.), die Paulus weiterführen wird (13,1 ff.). Als der Zebedaide Jakobus durch Agrippa I. 43 n. Chr. das Martyrium erlitt (12,2), wurde der Zwölferkreis nicht mehr ergänzt. Nach dem Apostelkonvent (Apg 15) wird der Zwölferkreis nicht mehr erwähnt, sondern durch die Presbyterverfassung abgelöst, die aus dem palästinischen Judentum stammt (11,30; vgl. 15,2.4.6.22 f.; 16,4; Exkurs 12). Da Petrus in diesen Verfolgungen die Stadt verlassen musste, übernahm der Herrnbruder Jakobus358 als charismatische Autorität die Leitung der Jerusalemer Gemeinde.359 354

MtS 14,28–31 (Petrus auf dem Wasser); 16,17–19 (Felsenwort); 17,24–27 (Tempelsteuer). 355 Lk 6,12–16 (Berufung); vgl. Mk [3,14]; 6,30; Mt 10,2; Apk 21,14 (§ 7.2.5). 356 Apg 1,13; 2,14.37; 5,29; 15,7; vgl. Gal 1,18. 357 Der Fischzug des Petrus (Lk 5,1–11) ersetzt die Berufung der Vier (Mk 1,16–18) und hat eine nachösterliche Parallele in Joh 21,1–11. Ergänzt ist der Auftrag an Petrus in Lk 22,32: „stärke deine Brüder“ (vgl. Apg 14,21 f.; 15,32.41; 16,4 f.; 18,23). 358 Vgl. M. Hengel, Jakobus der Herrenbruder – der erste Papst?, in: ders., Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 549–582; W. Pratscher, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition (FRLANT 139), Göttingen 1987. 359 Apg 12,17; 15,13; 21,18 mit Presbytern (§ 6.4.5.2); beim Apostelkonvent steht Petrus in

6.2 Das Markusevangelium

425

Damit ist Lukas der einzige, der das Bild der zwölf Apostel zielstrebig auf die späteren Amtsträger der Gemeinde ausrichtet, während die anderen Evangelisten im Jüngerbild eher die Fragen und Erfahrungen ihrer zeitgenössischen Gläubigen einfließen lassen. Lukas reduziert die Jüngerzahl aber nicht auf die Zwölf, sondern erwähnt noch weitere Jünger bei der Aussendung der Zweiundsiebzig (Lk 10,1) und in der Apostelgeschichte (s. Anm. 336), hebt die Frauen im Gefolge Jesu namentlich hervor (8,1–3) und betont redaktionell das Kreuztragen in der Nachfolge für „alle“ und „täglich“ (9,23). Obwohl der Aposteltitel für das Selbstverständnis des Paulus von konstitutiver Bedeutung ist (§ 5.8.2), zählt er nach der lukanischen Definition (s. Anm. 355) nicht zum Kreis der Apostel, sondern fungiert als „der dreizehnte Zeuge“ (Christoph Burchard), von dem wir freilich mehr erfahren als von allen anderen, die Lukas Apostel nennt (§ 6.4.6b). Bei Johannes wird Petrus im Unterschied zu den Synoptikern erst an zweiter Stelle durch das Zeugnis des Andreas berufen, wie es für spätere Generationen typisch ist (Joh 1,40–42). Außerdem wird er durch den idealisierten Jünger überragt, den Jesus liebt (§ 7.1.6b). Der Zwölferkreis tritt in seiner Bedeutung zurück (6,67.70f; 20,24), selbst die Geschichte seiner Berufung und Aussendung wird nicht mehr erzählt, da die Jünger im Johannesevangelium zugleich schon die Gläubigen der nachösterlichen Kirche mitverkörpern (§ 7.1.3). Wer Jesus nachfolgt, geht nicht mehr wie die ersten Jünger im physischen Sinn hinter ihm her, sondern folgt dem Ruf des guten Hirten (10,4.27; § 7.1.5.3) und hat in ihm das Licht (8,12), den Weg, die Wahrheit und das Leben (14,6). „Nachfolgen“ ist zum Synonym für „glauben“ geworden. Es schließt die dienende Hingabe des Lebens ein (12,25 f.), für Petrus das Martyrium (13,36 f.). Der Nachfolgeruf des Auferstandenen in Kap. 21,18 f.22 schlägt den Bogen zurück zur Berufung der ersten Jünger (1,37–43).360 Damit schließt sich der Kreis, die nachösterlichen Gläubigen sollen sich in der Darstellung der Jünger aus den Erdentagen Jesu wiederfinden.

6.2.9

Das Liebesgebot

Da Nachfolge und Jüngerschaft die ganze Existenz umfassen, haben sie ethische Konsequenzen. Ethische Fragen zur Ehe, zum Umgang mit Kindern und zum Besitz werden in Mk 10,1–31 gebündelt (gelegentlich als „Katechismus“ bezeichnet). Am Ende erinnert Jesus den reichen Jüngling an die zweite Tafel des Dekalogs (Mk 10,19 parr.; vgl. Röm 13,9), die Matthäus redaktionell durch das Gebot der Nächstenliebe ergänzt (Mt 19,19; vgl. Lev 19,18). Auf die Frage eines Schriftgelehrten, welches das wichtigste Gebot sei, antwortet Jesus in Mk 12,28–34 mit dem zweifachen Liebesgebot. In diesem Doppelgebot wird das jüdische Glaubensbekenntnis „Höre Israel ...“ aus Dtn 6,4 f.361 als Ausdruck der

Gal 2,9 deshalb nur noch an zweiter Stelle hinter Jakobus, vgl. U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik (Lit. § 7.1), 8.58–62.149. 360 U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik (Lit. § 7.1), 7–23.113 f.125–127.139– 141.158–164.172–174. 361 Matthäus und Lukas lassen Dtn 6,4 f. aus, um die universale Gültigkeit des Doppelgebots zu betonen.

426

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Gottesliebe mit dem Gebot der Nächstenliebe aus dem Heiligkeitsgesetz in Lev 19,18362 kombiniert. Noch deutlicher wird von Matthäus explizit hervorgehoben, dass in diesen beiden Geboten das ganze Gesetz und die Propheten zusammengefasst sind.363 Für die Ethik Jesu ist das Liebesgebot von zentraler Bedeutung. Quer durch das Neue Testament wird es in unterschiedlichen Situationen immer wieder neu akzentuiert:364 Lukas konkretisiert das doppelte Liebesgebot in seiner Parallelüberlieferung auf zweifache Weise: Zum einen fügt er die Beispielgeschichte vom barmherzigen Samariter an, zum anderen lässt er die Geschichte von Maria und Martha als Kommentar zum ersten Gebot folgen. Damit werden Gottes- und Nächstenliebe auch erzählerisch miteinander verklammert (LkS 10,25–37.38–42). Der Samariter verkörpert den Typus des sonst verachteten Fremden, der sich hier aber erbarmt und als Einziger das Notwendige tut. Sein Beispiel zeigt, dass die Nächstenliebe anders als bei dem vorbeigehenden Priester und Leviten nicht auf die eigenen Volksoder Glaubensgenossen eingeengt werden darf. Der „Nächste“ ist derjenige Mensch, der in einer konkreten Situation unmittelbar Hilfe braucht und dem der fromme Fragesteller selber zum „Nächsten“ werden soll. So ist die Liebe nicht nur eine Frage der Gefühlsregung, Gesinnung, Haltung oder Einstellung. Vielmehr geht es um das Tun, das dem göttlichen Willen in der Tora entspricht und dem Mitmenschen in seiner Notlage hilft (Lk 10,28 f.36 f.). Johannes365 charakterisiert das Liebesgebot als ein „neues Gebot“, das Jesus zum Auftakt der Abschiedsreden den Jüngern gibt, damit sie an diesem Verhalten untereinander auch von „allen“ Außenstehenden erkannt werden können (Joh 13,34 f.; 15,12.17). „Neu“ ist dieses Gebot, weil es erstens nicht mehr alttestamentlich aus der Schrift hergeleitet, sondern ganz christologisch allein auf die Autorität Jesu zurückgeführt wird. Zweitens wird es durch das vorbildliche Beispiel seiner Liebe und Hingabe soteriologisch begründet (13,1.15; § 7.1.5.1a). Und drittens wird es ekklesiologisch zum Erkennungszeichen der eschatologisch neuen Heilsgemeinschaft erklärt, durch das auch Außenstehende für den Glauben gewonnen werden sollen (§ 7.1.5.3). Bei Paulus erfährt die Nächstenliebe durch die Rechtfertigungslehre eine hermeneutisch tiefgreifende Neuinterpretation: Sie ist die erste Frucht des Geistes, in ihr erfüllt sich die eigentliche Intention der ganzen Tora (Röm 13,8–10; Gal 5,13 f.22).366 Im Römerbrief gilt das Gebot der Nächstenliebe – soweit es möglich ist – jedem Menschen, nicht zuletzt den Verfolgern, deren Bosheit mit Gutem überwunden werden soll (Röm 12,14.17–21). Im Galaterbrief kümmert die Liebe sich angesichts der Spannungen in der Gemeinde besonders um die Mit-

362 Vgl. zu Lev 19,18 außer Mk 12,31.33 parr. auch Mt 5,43; 19,19 sowie Röm 13,9; Gal 5,14 als Zusam menfassung der Tora und Jak 2,5.8 als „königliches Gesetz“, das der Herrschaft Gottes am meisten entspricht. 363 Mt 22,40; vgl. auch die goldene Regel 7,12 (§ 6.3.3.2). 364 Vgl. Th. Söding u. a., Art. Liebe, ThBLNT2, 1318–1334; G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 311–358, bes. 339–349, oder W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments (GNT 4), Göttingen 21989, 73–93, als neuere Übersicht H. Löhr, Ethik und Tugendlehre, in: J. Zangenberg (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur 3, Neukirchen-Vluyn 2005, 151–180. 365 Vgl. Ch. Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,2, 36 f.119–122. 366 Siehe § 5.11.4c; 5.16.5c; vgl. auch die Liebe als Ziel der Unterweisung in 1Tim 1,5.

6.2 Das Markusevangelium

427

glieder der eigenen Glaubensgemeinschaft: „Lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen“ (Gal 6,10 Luther). Im Hohenlied der Liebe (1Kor 13) preist Paulus diese den Korinthern gegenüber im Kontext der Charismen als die größte aller Geistesgaben (§ 5.12.1). Die Zusammengehörigkeit von Gottes-367 und Bruderliebe wird vor allem im 1. Johannesbrief betont und auf die Liebe Gottes in Christus zurückgeführt (1Joh 4,7–21), weil die Gemeinschaft durch christologische Irrlehre auseinander zu brechen droht (§ 7.1.5.3; 7.1.7). Ansonsten tritt die Nächstenliebe in den Vordergrund (Röm 13,8–10;368 Gal 5,14; Jak 2,8),369 die je nach Gemeindesituation anders zugespitzt wird. Bei religiöser Anfeindung von außen treten das Vergeltungsverbot (Mt 5,38–42 Q)370 und die Feindesliebe (Mt 5,43–48 Q; § 6.3.4.1–2) in den Vordergrund, bei innergemeindlichen Problemen die Bruderliebe.371 Diese unterschiedliche Ausrichtung lässt sich auch schematisierend vereinfacht darstellen:

Gott (Dtn 6,4 f.)

Liebesgebot

Bruder Freund

Feind bei innergemeindlichen Problemen

Nächster (Lev 19,18)

in der Außenbeziehung

Verfolger

in jeder Situation Abb. 24: Die unterschiedliche Akzentuierung des Liebesgebots

367

Vgl. 1Kor 2,9; 8,3; Röm 8,28; Jak 1,12; 2,5 und die Christusliebe in 1Kor 16,22. Vgl. die Bruderliebe (Röm 12,10; [15,2]; 1Thess 4,9 [vgl. 5,14]; [Gal 5,13 f.; 6,10]) und Rücksichtnahme der Starken auf die Schwachen (Röm 14,15; 1Kor 8,1 ff.); vgl. auch Kol 3,14; Eph 4,2 und weiter Anm. 371. 369 Vgl. aber in Jak 2,5 die Verheißung der Königsherrschaft Gottes „denen, die ihn lieben“ (§ 8.8.2c). 370 Vgl. auch das Vergeltungsverbot angesichts der Verfolgungssituation in Röm 12,17 (vgl. das Segnen der Ver folger in V.14 mit der Feindesliebe in Lk 6,27 f. Q sowie die Überwindung des Bösen durch das Gute in Röm 12,21); 1Tess 5,15 (vgl. die Leiden in 2,14); 1Petr 3,9 (§ 8.6.3b) und als paulinische Lebenspraxis 1Kor 4,12. 371 Vgl. Anm. 368 sowie angesichts der erwähnten Spaltungen in den johanneischen Gemeinden Joh 13,34 f.; 15,12 f.; 1Joh 2,10 f.; 3,11 ff.; 4,20 f. u. ö. (§ 7.1.5.3), die Bruderliebe in Hebr 13,1 angesichts der innergemeindlichen Ermüdungserscheinungen (§ 8.5.3c Ende) und die Bruderliebe bei den äußeren Anfeindungen in 1Petr 1,22; 2,17; 3,8 (§ 8.6.3b); vgl. auch die Liebe untereinander in Joh 13,34 f.; 15,12.l7; Röm 12,10; 13,8; 1Thess 4,9. 368

428

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

6.2.10

Der offene Schluss

In den für die Rekonstruktion des Urtextes entscheidenden Handschriften endet das Evangelium mit Mk 16,8: „Sie (die Frauen) fürchteten sich nämlich“ (ephoboúnto gár). Diese Worte bilden den ursprünglichen Abschluss des Evangeliums. Es bleibt eine tiefe, heilige Furcht angesichts der Einsicht, dass nicht der Tod, sondern der Gott des Lebens das letzte Wort behält und in der Auferweckung Jesu das Geheimnis Gottes offenbar geworden ist. Vor einer solch ungeheuerlichen Botschaft können die Frauen nur in ehrfürchtiges Staunen, in Gottesfurcht versinken.372 Den Einwand, dass ein Buch nicht mit einem „gár“ (denn, nämlich) enden kann, widerlegte Pieter W. van der Horst durch einen Hinweis auf den Schlusssatz des 32. Traktats von Plotin (Enneaden V,5).373 Inzwischen entfaltete J. Lee Magness eine Deutung des offenen Schlusses, nach der eine neue Wirklichkeit manchmal nur als das Nicht-Gesagte und nur durch Konnotationen des Signalisierten mitgeteilt werden kann, wenn ihre Ideologisierung vermieden werden soll.374 Die Effizienz einer solchen literarischen Strategie zeigt das Buch Jona, das zur liturgischen Lesung am Jom Kippur gehörte, dem großen Versöhnungstag. Einen ähnlich offenen Schluss besitzen die lukanischen Schriften mit dem Ende der Apostelgeschichte und unter den kleineren Einheiten das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,32). In dieser Hinsicht ist das Markusevangelium ein modernes Buch, das den Leser zur Mitarbeit einlädt. Doch dürfen wir nicht vergessen, dass der Hörer zunächst eine christliche Gemeinde war, die ihre Mitarbeit in dem Bekenntnis zur Glaubensformel sah, die am Ende erklingt. 1982 publizierten David M. Rhoads und Donald M. Michie ihr Buch „Mark as Story“,375 in dem sie das Markusevangelium konsequent als literarisches Gesamtwerk untersuchen, das aus der Sicht des Lesers betrachtet werden soll, und zwar sowohl in seiner narrativen Grundstruktur (story) als auch hinsichtlich der argumentativen Dimension (discourse). Die bedeutendste Einsicht dieser eher populären als wissenschaftlichen Schrift besteht in der Betonung der literarischen Endgestalt des Texts, die die Ausgangsbasis der exegetischen Untersuchung bildet und die von einer bewussten Entscheidung des Autors abhängig ist. Das Problem ist jedoch, dass es zu den merkwürdigsten Fähigkeiten der Sprache gehört, dass sie nicht nur die Sprachwelt hervorbringt, in der wir leben. Die Sprache vermag auch das Bewusstsein für Dimensionen der Wirklichkeit aufzunehmen, die sich sprachlich nicht adäquat beschreiben lassen. Die Sprache hat auch eine referen-

372

Vgl. M. Matjaž, Furcht und Gotteserfahrung. Die Bedeutung des Furchtmotivs für die Christologie des Markus (fzb 91), Würzburg 1999, 308 f. 373 Vgl. P. W. van der Horst, Can a Book End with gár?, JThS 23 (1972), 121–124. 374 Vgl. J. Lee Magness, Sense and Absence. Structure and Suspension in the Ending of Mark’s Gospel (SBL SS), Atlanta, GA 1986, Kap. II. 375 Untertitel: An Introduction to the Narrative of a Gospel, Philadelphia, PA.

6.3 Das Matthäusevangelium

429

tielle Funktion, die auf ein konkretes Geschehen hinweist, das sich manchmal nur schwer in Worte fassen lässt (§ 1.4.5). Häufig drückt der Text selbst aus, dass die Norm seiner authentischen Deutung nicht der Leser ist, sondern das Ereignis, von dem der Text Zeugnis ablegt. Die Überschrift in Mk 1,1 bezeichnet das ganze Buch als „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“, d. h. als gute Nachricht vom Anbruch des Reiches Gottes, das mit der Geschichte Jesu und der Osterbotschaft von seiner Auferstehung begonnen hat. In dieses Geschehen will der Verfasser durch den offenen Schluss auch den Leser bzw. Hörer miteinbeziehen. Diese Intention des Autors muss ernstgenommen werden. Sie berechtigt und verpflichtet die exegetische Arbeit, die Texte sowohl mit literarischen als auch mit historischen Fragestellungen zu untersuchen. Diese Kombination von Rückbindung an die Geschichte Jesu und Leserorientierung macht gerade die Lektüre der klassischen Kommentare manchmal für die Gegenwart so spannend.

6.3

Das Matthäusevangelium

 Kommentare: Ernst Lohmeyer (/ Hans Werner Schmauch), KEK (Sonderband), 41967; Erich Klostermann, HNT 4, 41971; Walter Grundmann, ThHK 1, 71992; Joachim Gnilka, HThK 1,1–2, 21988. 1988; Pierre Bonnard, CNT, 21970; Eduard Schweizer, NTD 2, 41986; Robert H. Gundry, Matthew, Grand Rapids 21994; Georg Strecker, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar, Göttingen 1984; Rudolf Schnackenburg, NEB, 21991. 1987; Alexander Sand, RNT, 1986; William D. Davies / Dale C. Allison, ICC, 3 Bde., 1988. 1991. 1998; Ulrich Luz, EKK 1,1–4, (1985) 21992. 1990. 1997. 2002; Ulrich Luck, ZBK 1, 1993; Douglas R. Hare, Interp, 1993; Hubert Frankemölle, Matthäus-Kommentar I–II, Düsseldorf 1997. 21999; Hans Dieter Betz, Hermeneia (Kap. 6–7), 1995; Donald Senior, Matthew (ANTC), Nashville, TN 1998; Wolfgang Wiefel, ThHK 1, 1998; Reinhard Feldmeier (Hg.), Salz der Erde. Zugänge zur Bergpredigt, Göttingen 1998.  Monographien und Aufsätze: George D. Kilpatrick, The Origins of the Gospel according to Matthew, Oxford 1946; Krister Stendahl, The School of St. Matthew, Philadelphia, PA 2 1968; Günther Bornkamm / Gerhard Barth / Heinz J. Held, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium (WMANT 1), Neukirchen 71975; Wolfgang Trilling, Das wahre Israel (EThSt 7), Leipzig 1959 (= StANT 10, München 31967); Rolf Walker, Die Heilsgeschichte im ersten Evangelium (FRLANT 91), 1967; M. Didier (Hg.), L’Évangile selon Matthieu, Gembloux 1972; Georg Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit (FRLANT 82), Göttingen 31971; Eduard Schweizer, Matthäus und seine Gemeinde (SBS 71), Stuttgart 1974; Ingo Broer, Freiheit vom Gesetz und Radikalisierung des Gesetzes (SBS 98), Stuttgart 1980; Joachim Lange (Hg.), Das Matthäus-Evangelium (WdF 525), Darmstadt 1980 (Aufsatzsammlung); Jack D. Kingsbury, Matthew. Structure, Christology, Kingdom, Philadelphia, PA 21989; ders., Matthew as Story, Philadelphia, PA 21988; Raymond E. Brown, The Birth of the Messiah, New York 1977, 21993; John P. Meier, The Vision of Matthew, New York 1979; Hans Dieter Betz, Studien zur Bergpredigt, Tübingen 1985; Graham Stanton, The Origin and Purpose of Matthew’s Gospel,

430

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

ANRW 25.3, Berlin 1985, 1889–1951 (Forschungsbericht); Hans Hübner, Das Gesetz in der synoptischen Tradition, Göttingen 21986; Martin Hengel, Zur matthäischen Bergpredigt und ihrem jüdischen Hintergrund, in: Judaica, Hellenistica et Christiana. KS II (WUNT 109), Tübingen 1999, 219–292; David R. Bauer, The Structure of Matthew’s Gospel (JSNTSS 31), Sheffield 1988; Josef Ernst, Matthäus. Ein theologisches Porträt, Düsseldorf 1989; David B. Howell, Matthew’s Inclusive Story (JSNTSS 42); Alexander Sand, Das Matthäus-Evangelium (EF 275), Darmstadt 1991 (Forschungsbericht); Detlev Dormeyer, Mt 1,1 als Überschrift zur Gattung und Christologie des Matthäusevangeliums, in: The Four Gospels 1992 (FS Frans Neirynck) (BEThL 100), Leuven 1992, 1361–1383; Ulrich Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen 1993; ders., Der Antijudaismus im Matthäusevangelium als historisches und theologisches Problem, EvTh 53 (1993), 310–327; Anthony J. Saldarini, Matthew’s Christian-Jewish Community, Chicago 1994; Raymond E. Brown, The Death of the Messiah I–II, New York 1994; Hans Klein, Bewährung im Glauben. Studien zum Grundgut des Evangeliums nach Matthäus (BThSt 26), Neukirchen 1996; Petri Luomanen, Entering the Kingdom of Heaven (WUNT II/101), Tübingen 1998; Boris Repschinski, The Controversy Stories in the Gospel of Matthew (FRLANT 189), Göttingen 2000; Christoph Landmesser, Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott. Ein exegetischer Beitrag zum Konzept der matthäischen Soteriologie im Anschluss an Mt 9,9–13 (WUNT 133), Tübingen 2001; J. Robert C. Cousland, The Crowds in the Gospel of Matthew (SNT 102), Leiden u. a. 2002; Lidija Novakovic, Messiah, the Healer of the Sick. A Study of Jesus as the Son of David in the Gospel of Matthew (WUNT II/170), Tübingen 2003; Detlev Dormeyer, Die Rollen von Volk, Jüngern und Gegnern im Matthäusevangelium, in: R. Kampling (Hg.), Das Matthäusevangelium (FS H. Frankemölle), Paderborn etc. 2004, 105–128; Paul Foster, Community, Law and Mission in Matthew’s Gospel (WUNT II/177), Tübingen 2004; Roland Deines, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Christologie (WUNT 177), Tübingen 2004; Ulrich Luz, Studies in Matthew, Grand Rapids, MI / Cambridge, UK 2005.

6.3.1

Sprache, Gliederung und Inhalt

Es ist schwierig zu bestimmen, ob Matthäus oder Lukas der erste Nachfolger des Markus als Verfasser einer neuen Bearbeitung der Geschichte Jesu war. Vieles deutet auf die zeitliche Priorität des Lukas hin. Sicher erscheint nur, dass beide unabhängig voneinander das Markusevangelium bearbeiteten. Diese parallele Rezeption spricht nicht nur für die grundlegende Bedeutung des Markusevangeliums, sondern auch für seine unverzügliche geographische Verbreitung und unumstrittene theologische Anerkennung im frühen Christentum. Deutlich ist auch, dass Lukas die Gattung „Evangelium“ in seinem zweibändigen Werk (Lk und Apg) weiter entfaltete als Matthäus. Deshalb werden wir ohne Rücksicht auf die zeitliche Reihenfolge der Entstehung zunächst das Matthäusevangelium behandeln. Jedenfalls ist es das umfassendste der Evangelien, das durch seine katechetisch geschickte Gestaltung auch in der Kirchengeschichte die größte Wirkung entfaltet hat.376 376

Vgl. den großartigen Kommentar von U. Luz, EKK I/1–4 (mit Exkursen, Zusammen-

6.3 Das Matthäusevangelium

431

An der Sprache des Matthäusevangeliums fällt die Beeinflussung durch die Septuaginta auf, die in den Schriftzitaten sowie in Grammatik, Stil und Denken hervortritt. Dieser Einfluss erklärt die Semitismen, die bei Matthäus häufiger zu finden sind als in anderen griechischen Texten jener Zeit (§ 6.2.5). Im Unterschied zu Markus bearbeitete Matthäus mehr Material und musste die Erzählungen gegenüber seinen Quellen kürzen. Vermutlich wollte er sein Werk auf eine einzige Rolle, d. h. auf ein „Buch“ (bíblos; Mt 1,1), begrenzen (§ 4.1). Für den Wortschatz des Matthäus sind einige literarische Elemente bezeichnend (meist Konjunktionen und Partikeln wie z. B. idoú = siehe!), mit deren Hilfe er die markinische Erzählung dem Stil der Septuaginta angleicht. Außerdem finden sich durch die jüdische Tradition beeinflusste Worte wie „Himmelreich“ statt „Reich Gottes“, das griechische „laós“ für das Gottesvolk (hebr. ‘am) und „éthnē“ für die Heiden (hebr. gôjim). Typisch für die matthäische Theologie sind vor allem Ausdrücke wie „Gerechtigkeit“ (dikaiosýnē), „Wille (Gottes)“ (thélēma), „ich aber sage (euch)“, „Herr“ (kýrios, als messianischer Titel), „lernen“ (manthánein), „Lohn“ (misthós), „Ankunft“ bzw. „Wiederkunft“ (parousía) usw.377 Der Verfasser des Matthäusevangeliums konnte sich bei der Komposition seines Werkes an Markus orientieren.378 Dessen Vorlage erweiterte er durch ausgedehnte Reden Jesu, arbeitete die Logienquelle (Q) ein und fügte weitere Stoffe, das Sondergut (MtS),379 hinzu. Die Worte Jesu stellte er zu größeren Redeeinheiten zusammen und verlieh ihnen dadurch ein besonderes Gewicht. Außerdem ergänzte er Erzählungen am Ende und am Anfang des Buchs. Für die theologische Konzeption des Matthäus erhellend sind die Eingangs- und Schlusspassagen des Evangeliums. Am Ende erzählt Matthäus von der Begegnung der Jünger mit dem auferstandenen Jesus in Galiläa auf dem Berg (28,16–20). In diesen Sätzen gipfelt sein Buch. Hier werden die wichtigsten Aussagen des ganzen Evangeliums resümiert, deren Eigenart durch einen Vergleich mit dem Markusevangelium noch deutlicher hervortritt. Schon die Perikope vom leeren Grab ist, anders fassungen und Wirkungsgeschichte), als Überblick P. Stuhlmacher, Theologie 2 (Lit. § 1), 150–174; F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 518–546, ferner den Literaturbericht von A. Lindemann, ThR 70 (2005), 174–216.338–382. 377 Näheres s. U. Luz, EKK 2I/1, 57 ff.; M. Reiser, Sprache (Lit. § 2.1.4), 56–58. 378 Ausgelassen sind außer Einzelversen das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29), die Heilung des Blinden von Bethsaida (Mk 8,22–26) und das Scherflein der Witwe (Mk 12,41 f.). 379 Sondergut sind der Heilandsruf für die Mühseligen (11,28–30), die Gleichnisse vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30.36–43), vom Schatz und der Perle (13,44–46), vom Fischnetz (13,47–50), das Felsenwort an Petrus (16,17–19), die Gleichnisse vom Schalksknecht (18,23–35), den Arbeitern im Weinberg (20,1–16), den ungleichen Söhnen (21,28–32), den zehn Jungfrauen (25,1–13) und dem Weltgericht (25,31–46).

432

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

als bei Markus, direkt mit der Erzählung von der Erscheinung des Auferstandenen verbunden (28,1–10). Auch die heilige Furcht verschließt nicht, anders als in Mk 16,8, den Mund der Frauen. Vor allem wird die bei Markus (16,7) erst für Galiläa verheißene Begegnung von Matthäus in den letzten Versen erzählerisch zu einer eigenen Szene auf dem Berg ausgestaltet (Mt 28,16–20). Dabei fand auch ein Element der Jesustradition anderer Art Eingang in die markinische Gestalt der Jesuserzählung: die Schilderung der Begegnungen mit Jesus als dem auferstandenen, lebendigen Herrn und die Wiedergabe seiner Worte. Doch verrät der Auferstandene bei dieser Gelegenheit keine geheime Lehre, die in seinen irdischen Tagen den anderen Menschen unbekannt geblieben wäre, sondern er beauftragt die Jünger, seine ihnen bereits bekannten Gebote weiterzugeben: „... und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe“ (28,20a). Dieser Auftrag ist in der matthäischen Erzählstrategie ein zusammenfassender Kommentar, der auch die Logienquelle (§ 6.1.5) in das Matthäusevangelium integriert. Die Logienquelle hat im Thomasevangelium und anderen späteren Spruchsammlungen des lebendigen Herrn eine Parallele (§ 6.1.5.4), wird bei Matthäus durch dieses Wort des Auferstandenen aber mit dem irdischen Leben Jesu verbunden. Mit dem Hinweis auf die Vollständigkeit der Lehre („alles“) beansprucht Matthäus eine exklusive Bedeutung gegenüber allen (!) anderen Berichten, sodass er sein Werk als vollständige Quelle der Worte des irdischen Jesus an seine Jünger verstanden wissen will.380 Zu Beginn des Evangeliums ergänzt Matthäus den markinischen Text um einen Zyklus von Erzählungen, der sich auf die Geburt Jesu bezieht (1,1–2,23). Durch diese Vorgeschichten sollte das Buch den antiken Biographien angenähert werden (§ 2.2.4). Die markinische Erzählung über den Tag in Kapernaum (Mk 1,21–38) hat Matthäus aufgeteilt, stark gekürzt und als Nachwort zum Prolog genutzt (Mt 4,23). So entstand der erste Teil (Mt 1,1–4,22), der mit dem zweiten durch die Zusammenfassung der Tätigkeit Jesu in 4,23–25 verbunden ist (transitus = Übergang, Überleitung). Eine ähnliche Zusammenfassung in 9,35–38 ergibt eine Rahmung der Kap. 5–9 als eines ersten Höhepunkts mit der Bergpredigt und den Wundertaten Jesu. Die zweite Zusammenfassung leitet zugleich die Rede vor den Jüngern ein, die mit der Berufung der Zwölf beginnt (10,1 ff.) und mit der Berufung der ersten vier Jünger (4,18–22) eine weitere Rahmung der Kap. 5–9 darstellt. Den nächsten Höhepunkt bilden die Gleichnisse in Kap. 13 (Exkurs 7), mit denen Matthäus nach der ersten Jüngerberufung (Mt 4,18–22) zum ersten Mal wieder einen größeren zusammenhängenden Komplex aus Mk 4 aufnimmt, den Anbruch des Himmelreichs in dieser Welt beleuchtet und die damit verbundenen Konflikte aufzeigt.

380

Vgl. Th. K. Heckel, Evangelium (Lit. § 3), 71–73.

6.3 Das Matthäusevangelium

433

Ähnlich wie im Markusevangelium (Mk 8,27 ff.) beginnt ein bedeutender Abschnitt mit dem Petrusbekenntnis (Mt 16,13–20). Doch wird Jesus hier nicht nur wie bei Markus als „Messias“ (Christus) angesprochen, sondern darüber hinaus schon redaktionell aus nachösterlicher Perspektive als „Sohn des lebendigen Gottes“ bezeichnet. Wie bei Markus bewegt sich von diesem Moment an alles auf die Passion zu.381 Für die Kompositionstechnik bezeichnend sind die längeren Reden, in denen Matthäus die Worte Jesu bündelt: die Bergpredigt (Mt 5–7), die Aussendungsrede (10), die Gleichnisrede (13), die Gemeinderede (18), die Endzeitrede (24 f.), aber auch die Worte gegen die Pharisäer in Kap. 23. Die Machttaten Jesu stellt Matthäus vor allem in Kap. 8 und 9 zusammen. Durch die fast gleich lautenden Zusammenfassungen (4,23; 9,35) und die beiden Berufungsgeschichten (4,18–22; 10,1–4) verklammert er die Bergpredigt (5–7) und die Wunder Jesu (8 f.; vgl. 11,2: „die Taten des Christus“) zu einer in sich abgerundeten Einheit: Christus ist „der Messias des Wortes“ und „der Messias der Tat“.382 Einige Kernsätze (Regeln, Axiome, Sprichwörter), die im Kontext als Schlüsselaussagen auffallen, wie z. B. die bessere Gerechtigkeit (5,20), das Vergeben (6,14 f.), die goldene Regel (7,12) oder die Worte vom Verlorengehen (18,10.14), dienen den Lesern bzw. Hörern zur Orientierung im Text. Sie wiederholen Kerngedanken des Evangeliums und heben ihre Bedeutung für das Leben der Gläubigen hervor. Die Kohärenz des Evangeliums wird auch durch zahlreiche Schriftzitate gestärkt sowie durch einzelne Sätze, die ein später behandeltes Thema ankündigen. So klingt z. B. in 3,15, wo Jesus bei der Taufe von der Gerechtigkeit spricht, die erfüllt werden muss, ein Motiv an, das in der Bergpredigt in den Worten von der besseren Gerechtigkeit des Himmelreichs wieder aufgenommen wird (5,17–20).383 Dennoch bilden die Lehre und Verkündigung Jesu nicht das Kompositionsprinzip. Gerade seine Reden, besonders die Gleichnisse, bekräftigen nur das, was als dramatische Geschichte Jesu erzählt wird. Die Reden sind in sein ganzes Handeln eingebettet und auch kompositorisch über das ganze Evangelium verteilt. Seine Worte und Taten gehören zusammen. Gerade am Anfang und am Ende verbinden sie die Erde mit dem Himmel und seinem Reich.384 381 Zu diesen Beobachtungen s. den Kommentar von U. Luz; vgl. auch W. Schenk, Die Sprache des Matthäus: die Text-Konstituenten in ihren makro- und mikrostrukturellen Relationen, Göttingen 1987. 382 J. Schniewind, NTD 2, 36. 383 Vgl. programmatisch R. Deines, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias, 121–181.257–451, bes. 447ff (abschließende Überlegungen zu Mt 5,17–20; 6,1.33) und 634– 654 (Ergebnis). 384 Vgl. J. D. Kingsbury, Matthew. Structure, Christology, Kingdom, Philadelphia 1975, 21989.

434

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Vor allem der Schluss des Evangeliums und die fünf Reden Jesu, in denen direkt oder indirekt vom Himmelreich die Rede ist, zeigen, wie bewusst Matthäus den Aufbau seines Evangeliums gestaltet hat. An diesen Stellen treten die Hauptstränge der theologischen Gesamtkonzeption besonders deutlich hervor. Ansonsten lässt sich sehr schwer entscheiden, ob Matthäus bei seinem Werk noch weitere abgegrenzte Texteinheiten im Sinn hatte. Deswegen legen wir im Folgenden nur eine grobe Gliederung des Evangeliums in Textabschnitte vor, die sich nach dem einleitenden ersten Teil um die großen Reden gruppieren. Da der Markusstoff ziemlich komplett übernommen wurde, wiederholt die nachstehende Tabelle nicht alle Inhalte, sondern beschränkt sich auf die wichtigsten Hinweise, an welchen Stellen Matthäus im Aufbau seines Evangeliums der Markusvorlage folgt bzw. davon abweicht. Hervorgehoben werden der Stoff der Logienquelle (Q) und das Matthäussondergut (MtS). Tabellarische Übersicht s. S. 436f. 1,1–4,22 Einleitender (1.) Teil: Die Vorstellung des Protagonisten Der erste Teil umfasst die Überschrift (1,1), Jesu Stammbaum von Abraham über David (im Unterschied zur lukanischen Rückführung auf Adam), die Geburt in Bethlehem, die Weisen (Magier) aus dem Morgenland (2,1–12), die Flucht nach Ägypten und den Kindermord des Herodes, die Rückkehr aus Ägypten und die Übersiedlung nach Nazareth, das Auftreten Johannes des Täufers mit seiner Predigt (Q) und der Taufe Jesu (Kap. 3), die Versuchungen (erweiterte Fassung – aus Q?), Jesu anfängliches Wirken in Galiläa (Kapernaum) und die Berufung der ersten vier Jünger (4,1–22). 4,23–7,29 Zweiter Teil: Die Proklamation der besseren Gerechtigkeit Der zweite Teil besteht aus der Bergpredigt385 (1. Rede Jesu, zumeist Q, zum Teil MtS). Diese schiebt Matthäus nach der Lehre Jesu in Mk 1,21 ein, sodass die Aussage über seine Vollmacht aus Mk 1,22 nun den Abschluss der Rede bildet. Die Bergpredigt beginnt mit den Seligpreisungen, die von Matthäus aus der Logienquelle übernommen wurden (5,3–12)386 und in die Worte an die Jünger als Salz der Erde und Licht der Welt übergehen (5,13–16). Im Zentrum steht die Lehre von der besseren Gerechtigkeit mit den sechs Antithesen (5,17–43) sowie von den drei jüdischen Tugenden Almosen, Gebet (mit dem Vaterunser als Mitte der Bergpredigt) und Fasten (6,1–18). Dann lässt Matthäus Aussagen folgen über die Gefahr des Sorgens (6,19– 34), die das Vaterunser, besonders die Bitte um das tägliche Brot, das Kommen des Reiches und die Erfüllung des göttlichen Willens kommentieren, das Richten über 385 Die Bezeichnung „Bergpredigt“ ist belegt seit Augustin, De sermone Domini in monte (393/94 n. Chr.) (CChr.SL 35, ed. A. Mutzenbecher, Turnholt 1967; DÜ A. Schmitt, Augustinus zur Bergpredigt, St. Ottilien 1952). 386 Vgl. H. D. Betz, Die Makarismen der Bergpredigt, in: ders., Studien zur Bergpredigt, 17–33, wiederabgedruckt in: ders., Synoptische Studien, Tübingen 1992, 92–110.

6.3 Das Matthäusevangelium

435

andere (7,1–5), die Gebetserhörung (Nachtrag zum Vaterunser) und die goldene Regel, die durch den Hinweis auf das Gesetz und die Propheten den Hauptteil der Bergpredigt einrahmt (vgl. 7,12 mit 5,17). Den Abschluss (7,13–29) bilden die mahnenden Worte von den zwei Wegen, dem Baum und den Früchten, den wahren Jüngern (vom Herr-Herr-Sagen) sowie das Gleichnis vom Hausbau. 8,1–11,30 Dritter Teil: Die Machttaten Jesu Der dritte Teil enthält vor allem Wunder (8 f.) und die Aussendungsrede (Kap. 10). Die Machttaten stehen im Gegensatz zur Perspektive des Leidens, das bereits im Wort über die Nachfolge angedeutet wird (8,18–22 Q). Matthäus erzählt die Heilungen des Aussätzigen, des Dieners des Hauptmanns von Kapernaum (Q), der Schwiegermutter des Petrus und vieler Besessener, die Sturmstillung, die Heilung der zwei besessenen Gadarener, des Gelähmten, der Tochter des Jaïrus, zweier Blinder und eines Stummen. Eingeschoben sind kurze Sprüche oder Erzählungen über den Anteil der Heiden am Himmelreich (8,11 f. Q), den Ernst der Nachfolge (Q), die Berufung des Zöllners Matthäus (9,9–13 – in Mk 2,14 heißt er Levi) und das Fasten. In Kap. 10 folgt nach der Berufung der Zwölf die 2. Rede Jesu, die die Aussendung der Jünger zur Verkündigung des Himmelreichs schildert. Im 11. Kapitel wird Jesus mit Johannes dem Täufer verglichen, und nach einer Warnung an die galiläischen Städte schließen sich der hymnisch-jubelnde Lobpreis des himmlischen Vaters (Mt 11,25–27 Q) und der Heilandsruf für die Mühseligen und Beladenen an (MtS 11,28–30). 12,1–16,12 Vierter Teil: Der Konflikt dieser Welt mit dem Himmelreich In diesem Komplex erzählt Matthäus vor allem von Streitgesprächen und Konfliktszenen. Zunächst geht es um die Bedeutung des Ruhetags beim Ährenraufen und bei der Heilung der verdorrten Hand am Sabbat (12,1–14). Dann folgen das Streitgespräch über den Bund mit Beelzebul und die Sprüche über die Sünde gegen den heiligen Geist, über die Zeichenforderung der Pharisäer (Zeichen des Jona), über die Rückkehr des bösen Geists und über die wahren Verwandten Jesu mit dem Schlüsselwort vom Tun des göttlichen Willens (12,46–50). Unterbrochen wird der Erzählfluss in Kap. 13 durch die Gleichnisse vom Himmelreich (3. Rede Jesu), die gegenüber Mk 4 erweitert sind um die Gleichnisse vom Unkraut unter dem Weizen, vom Schatz im Acker, von der Perle und vom Fischnetz. Von nun an folgt Matthäus wieder dem markinischen Aufriss (Mt 13,53 ff. par. Mk 6,1 ff.), den er mit dem Einschub der Bergpredigt in Kap. 5 ff. verlassen hatte. An die Ablehnung Jesu in Nazareth (Mt 13,53–58) und den Tod Johannes des Täufers (14,3–12) schließen sich diverse Wunder und Streitgespräche an, darunter Speisungen, Heilungen, Jesus und der sinkende Petrus auf dem See (14,22–33), der große Streit über Reinheit und Unreinheit nach der Tradition der Väter (15,1–20 par. Mk 7,1–23) und die Warnung vor dem Sauerteig, d. h. der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer (16,5–12). Diese Frontstellung beginnt schon mit dem Todesbeschluss der Gegner nach den ersten beiden Streitgesprächen (12,14; vgl. Mk 3,6).

436

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

1,1–4,22 1,1–2,23 3,1–17 4,1–22

Einleitender (1.) Teil: Die Vorstellung des Protagonisten Überschrift, Stammbaum (Abraham – David – Jesus) und Geburt Jesu Johannes der Täufer (z. T. Q; vgl. 11,1–19; 14,1–12) und Taufe Jesu Versuchung (z. T. Q), Auftreten in Galiläa (Kapernaum) mit Jüngerberufung

4,23–7,29

Zweiter Teil: Die Proklamation der besseren Gerechtigkeit

5–7 5,3–16 5,17–6,18 6,19–7,12 7,13–27 8,1–11,30 8 f.

Bergpredigt = 1. Rede Jesu (zumeist Q, z. T. MtS; vor Mk 1,22 eingefügt) Seligpreisungen, Salz der Erde, Licht der Welt Die bessere Gerechtigkeit: die sechs Antithesen und die drei jüdischen Tugenden Almosen, Gebet (Vaterunser), Fasten Vom Sorgen, Richten, Beten und die goldene Regel Schlussmahnungen: Wege, Baum, Herr-Herr-Sagen, Hausbau Dritter Teil: Die Machttaten Jesu Machttaten (hauptsächlich Heilungen aus Mk 1 f.; 4 f., einige Logien aus Q)

10

Aussendungsrede = 2. Rede Jesu (z. T. Q) mit der Berufung der Zwölf

11,1–19 11,20–24 11,25–27 11,28–30

Jesus und Johannes der Täufer (z. T. Q) Weherufe über die Städte Galiläas (Q) Jubelruf mit Lobpreis des himmlischen Vaters (Q) Heilandsruf an die Mühseligen und Beladenen (MtS)

12,1–16,12 12,1–50

Vierter Teil: Der Konflikt dieser Welt mit dem Himmelreich Streitgespräche und Worte über den Sabbat, Beelzebulkontroverse, die Sünde gegen den heiligen Geist, das Zeichen des Jona, die Rückkehr des bösen Geists und die wahren Verwandten Jesu (die, die den Willen Gottes tun)

13,1–52 Gleichnisse = 3. Rede Jesu (par. Mk 4) 13,24–30.36–43 Vom Unkraut unter dem Weizen (MtS) 13,44–46 Vom Schatz im Acker und von der Perle (MtS) 13,47–50 Vom Fischnetz (MtS) 13,53–58 14,1–12 14,13–16,12

Ablehnung Jesu in Nazareth (ab hier wieder par. Mk 6,1ff.) Tod Johannes des Täufers Wunder und Streitgespräche (15,1–20 Reinheit; vgl. Mk 7,1–23)

16,13 – 20,34 Fünfter Teil: Von Cäsarea Philippi nach Jerusalem Im fünften Teil mit der Gemeinderede (Kap. 18) beschreibt Matthäus, wie Jesus seinen Weg ins Leiden geht und über die Nachfolge der Jünger spricht, die ebenfalls ihr Kreuz zu tragen haben. Erzählt werden: Petrusbekenntnis, erste Leidensankündi-

6.3 Das Matthäusevangelium

16,13–20,34 16,13–17,27

437

Fünfter Teil: Von Cäsarea Philippi nach Jerusalem (par. Mk 8,27– 10,52) Petrusbekenntnis, 1. (vgl. 2. u. 3.) Leidensankündigung, Kreuzesnachfolge, Verklärung Jesu (17,1–9), Tempelsteuer (MtS)

18

Gemeinderede = 4. Rede Jesu: Rangstreit der Jünger, Gleichnis vom verlorenen Schaf (Q), Zurechtweisung in der Gemeinde, Versammlung im Namen Jesu, Kernsatz vom Vergeben mit dem Gleichnis vom Schalksknecht (MtS)

19,1–20,34

(par. Mk 10) Jüngerbelehrungen über Ehe, Kinder (Handauflegung), Eigentum (der reiche Jüngling), Arbeiter im Weinberg (MtS 20,1–16)

21–25

23,37–39

Sechster Teil: Die Abrechnung mit Gegnern in Jerusalem (par. Mk 11–13) Einzug in Jerusalem, Tempelreinigung, Verfluchung des Feigenbaums usw. Gleichnis von den beiden Söhnen (MtS) Gleichnis vom großen Abendmahl (Q?) Weherufe gegen Pharisäer und Schriftgelehrte (Mk 12,37b–40; Q; MtS) Wehklage über Jerusalem (Q)

24f. 25,1–13 25,14–30 25,31– 46

Endzeitrede = 5. Rede Jesu (par. Mk 13; Q; MtS) Gleichnis von den törichten und klugen Jungfrauen (MtS) Gleichnis von den anvertrauten Zentnern (Q?) Gleichnis vom Weltgericht (MtS)

21,1–22 21,28–32 22,1–14 23,1–36

26–28 26 f.

28 28,1–10 28,11–15 28,16–20 Redeblöcke

Siebter Teil: Passion und Auferstehung (par. Mk 14–16) Leidensgeschichte mit MtS: Selbstmord des Judas (27,1–10), Händewaschen des Pilatus (27,24 f.), „Blutwort“ (27,25), Erdbeben und Auferstehung beim Zerreißen des Tempelvorhangs (27,51–53), Wächter am Grab (27,62–66) Der Auferstandene Leeres Grab (par. Mk 16,1–8), Erscheinung Jesu vor den Frauen Betrug der Hohepriester (MtS; vgl. 27,62–66) Taufbefehl auf dem Berg in Galiläa (MtS) kursiv Reden

gung, Wort über die Nachfolge, Verklärung Jesu (17,1 ff.), Heilung eines mondsüchtigen (epileptischen) Jungen, zweite Leidensankündigung und Gespräch über das Zahlen der Tempelsteuer (mit einer Wundergeschichte verbunden; MtS). Daran schließt sich die Rede über die Gemeinde(regeln) (4. Rede Jesu) an, die ein besonde-

438

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

res ekklesiologisches Interesse dieses Evangelisten verrät (Kap. 18): der Rangstreit, wer der Größte im Himmelreich ist, eine Warnung vor Verführung der Kleinen zum Abfall, das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Q), die Zurechtweisung in der Gemeinde, das Schlüsselwort von der kleinen Versammlung im Namen Jesu (18,20; vgl. 1,23; 28,20b)387 und der Grundsatz vom Vergeben, den Jesus durch das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger („Schalksknecht“) illustriert (MtS 18,21–35; vgl. 6,12.14 f.). Nach der Gemeinderede folgen (par. Mk 10) Geschichten und Sprüche über Ehe, Kinder (mit Handauflegung) und Besitz („der reiche Jüngling“), das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (MtS 20,1–16), die dritte Leidensankündigung, die törichte Bitte der Söhne des Zebedäus um einen Vorzugsplatz im Himmel an der Seite Jesu und die Heilung der zwei Blinden bei Jericho (statt des Bartimäus Mk 10,46–52). 21–25 Sechster Teil: Die Abrechnung Jesu mit den Gegnern in Jerusalem Die Abfolge der Perikopen entspricht dem Markusevangelium (Mk 11 – 13), doch ist in Mt 23 eine Rede gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten eingeschoben (aus Mk 12,37b–40, MtS, Q). Dann schließt sich die um Q-Stoffe erweiterte synoptische Apokalypse an (24,1–25,46 = 5. Rede Jesu). Diese gipfelt in Kap. 25 in den drei Gleichnissen von den Jungfrauen (MtS), den anvertrauten Zentnern (Q?; daher die Redensart von den Talenten, d. h. Fähigkeiten eines Menschen) und dem Weltgericht (MtS). 26–28 Siebter Teil: Passion und Auferstehung In der eigentlichen Passionsgeschichte erzählt Mt 26,1 ff. über Mk 14–16 hinaus vom Suizid des Judas (27,1–10), von der Intervention der Frau des Pilatus (27,19), von der Distanzierung des Pilatus durch das Waschen der Hände in Unschuld (27,24 f.) und der Schuldübernahme durch das ganze Volk in dem „Blutwort“ (27,25), vom Erdbeben und der Auferstehung der Toten schon beim Zerreißen des Tempelvorhangs (27,51–53) sowie von der Grabwache (27,62–66). Im Schlusskapitel ergänzt Matthäus gegenüber Markus die Erscheinung Jesu vor den Frauen (28,9 f.) sowie den Betrug der Hohepriester, die den Leichnam Jesu stehlen wollten (28,11–15). Den abschließenden Höhepunkt bildet die Erscheinung in Galiläa (28,16–20) mit dem Wort von der göttlichen Macht: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ (28,18). Daraus leitet Matthäus den Taufbefehl ab, einen Schlüsseltext zur Mission, Katechese und Taufe.388 Am Schluss steht die Zusage der bleibenden Gegenwart des Auferstandenen, dem bevollmächtigten Herrscher über Himmel und Erde, bis zum Ende der Welt (28,20b). Die letzten Erzählungen hat Matthäus redaktionell gestaltet 387 Das Wort verspricht die Präsenz Jesu als des Repräsentanten Gottes in jeder christlichen Gemeinde, wenn sie einig im Gebet ist. Dadurch wird die Bedeutung des (zur Zeit des „Matthäus“ zerstörten) Tempels gemindert. 388 Seinen „Siegeszug“ als Missionsbefehl hat er aber erst im 19. Jh. angetreten; vgl. U. Luz, EKK I/4, 444–447.

6.3 Das Matthäusevangelium

439

im Stil der damaligen Biographien außerordentlicher Persönlichkeiten (bzw. der Geschichtsschreibung).389 6.3.2

Der Text

Bruchstücke des Matthäusevangeliums aus der Zeit um das Jahr 200390 sind auf den Papyri p64 und p67 erhalten, deren Teile (einzelne Wörter aus Mt 3 und 5) in Barcelona und (Bruchstücke von Mt 26) im Magdalen College in Oxford aufbewahrt werden. Ein wenig jünger ist der Papyrus p77 (Mt 23,30–39). Aus dem 3. Jh. stammen die Papyri p1, p70 und p45 (Pap. Chester-Beatty). Der älteste kontinuierliche Beleg auf Pergament ist der Kodex Sinaiticus aus dem 4. Jh.391 Andere alte, neu bearbeitete Textzeugen sind die Papyri p101 (3. Jh., Mt 3,10–12; 3,16–4,2), p102 (3./4. Jh., Mt 4,11 f.; 4,22 f.), p103 (3./4. Jh., Mt 13,55 f.; 14,3–5) und p104 (2. Jh., Mt 21,34–37; 21,43–45). Unter den Textabweichungen innerhalb der Überlieferung des griechischen Texts sind die Doxologie des Vaterunsers (6,13) und die durch die lukanische Parallele beeinflussten Ergänzungen zu den Worten über die Feindesliebe (5,44) am bedeutendsten. Zu den besonders bemerkenswerten Handschriften des Matthäusevangeliums gehört ein aus dem 4. Jh. stammender Kodex, der die Kapitel 5–28 enthält und im mittelägyptischen Dialekt des Koptischen geschrieben wurde (Crosby-Schøyen-Codex). Dieser Text geht auf eine griechische Vorlage zurück, die eine singuläre Textform bietet und für die es im Codex D (05) mit dem Text der Apostelgeschichte eine gewisse Analogie gibt (§ 4.2.5.4). 6.3.3

Die Theologie des Matthäus

Durch das Geschick des Matthäus in der Durchgestaltung und Neukomposition überlieferter Stoffe tritt sein theologisches Profil an einigen Punkten besonders deutlich hervor.

389 S. bes. U. Luz, Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangelium im Lichte griechischer Literatur, ZNW 84 (1993), 153–177. 390 C. P. Thiede versuchte die Fragmente um das Jahr 70 zu datieren (C. P. Thiede / M. d’Ancona, Der Jesus-Papyrus, Reinbek b. Hamburg, 1997 [DÜ]); vgl. dagegen die Rez. von J. K. Elliott, NovT 38 (1996), 393–9; C. Parker, Was Matthew Written before 50 CE? The Magdalen Papyrus of Matthew, ET 107 (1995), 22–25. 391 Zu den Papyrusfragmenten s. J. K. Elliott, Six New Papyri of Matthew’s Gospel, NovT 41 (1999), 105–107.

440

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

6.3.3.1

Die Überschrift

Die Worte „Das Buch der (Ursprungs-)Geschichte (bíblos genéseōs) Jesu Christi, des Davids- und Abrahamssohns“ sind als Überschrift für das ganze Buch gedacht.392 Der Ausdruck „bíblos genéseōs“ könnte zwar auch mit der Übersetzung „Stammbaum“393 wiedergegeben werden und sich nur auf den ersten Teil mit der Geburtsgeschichte beziehen.394 Da Matthäus aber das Markusevangelium kannte, versah er sein Buch in analoger Weise mit einer Überschrift,395 die sich wie in Mk 1,1 wahrscheinlich auf das ganze Werk bezieht (§ 6.2.6.1d). Im Unterschied zu Markus fängt die Erzählung der Geschichte Jesu bei Matthäus bereits mit der Geburt Jesu, indirekt sogar mit Abraham und David an. Matthäus setzt bei seinen Lesern die Kenntnis der Sohnesformel aus Röm 1,3 f. (§ 5.6.1.1–2) voraus, in der Jesus als Sohn Davids (§ 6.2.7.1) und Sohn Gottes (§ 5.6.1.2) bezeichnet wird. Aus dieser alten Bekenntnisformel folgt, dass Jesus mit der Präsentation als Sohn Davids in Mt 1,1 dem Leser schon als der künftige Sohn Gottes bekannt ist.396 Mit der Abstammung von David (1,1.6) wird der Anspruch Jesu als Messias Israels der jüdischen Tradition gegenüber legitimiert. Zugleich wird Jesus als der wahre, barmherzig heilende (Exkurs 6c), gewaltlos friedliche Davidide (21,1–9) dem gewalttätigen Despoten Herodes (2,1 ff.) gegenübergestellt. Im Vordergrund steht für Matthäus das Bild des „sanftmütigen“ (praýs 11,29; 21,5) messianischen Königs aus Sach 9,9 (redaktionell ergänzt), der vor den Magiern (Mt 2,6) durch das Zitat aus Mi 5,3 als Hirte Israels eingeführt wird (s. Anm. 432). Als eschatologischer Davidssohn erfüllt er die Gerechtigkeit (3,15), die die Tora mit den Propheten fordert und ermöglicht (5,17).397 Schwieriger ist die Deutung der Abrahamssohnschaft (Mt 1,1 f.): Da Abraham in der jüdischen Tradition als Vater der Proselyten gilt (§ 5.11.4), soll mit seinem Namen vermutlich als weiteres Kernthema des Matthäusevangeliums die Wendung des Heils von Israel zu den Heiden vorbereitet werden.398 Diese universalistische Tendenz wird im Stammbaum durch die vier Frauen Tamar, Ruth, Rahab und die Frau des Uria unterstützt, die in der frühjüdischen Tradition als Nichtjüdinnen gelten. 392

E. Lohmeyer übersetzt die ersten Worte des Matthäusevangeliums „Das Buch des Ursprungs“, KEK I,2, z.St. 393 E. Schweizer, NTD 2, 7 f. 394 So bes. U. Luz in seinem Kommentar: „Urkunde des Ursprungs“. 395 Das am Anfang stehende Wort „bíblos“ ist in der Septuaginta als Bezeichnung der ganzen Schrift gut belegt: Tob 1,1; Nah 1,1; Bar 1,1.3; Sir-Prolog (§ 2.1.1). Vgl. D. Dormeyer, Mt 1,1 als Überschrift zur Gattung, 1367 ff. 396 Vgl. 2Sam 7,12–14; Ps 2,7 und Mt 2,15 (Zitat Hos 11,1); 3,17 (Taufe); 14,33 (Jünger beim Seewandel Jesu); 16,16 (Petrusbekenntnis); 17,5 (Verklärung); 26,63 (vor dem Hohen Rat); 27,43.54 (Kreuzigung) u. ö. (vgl. § 5.6.1.2; 6.2.7.3). 397 Vgl. R. Deines, Gerechtigkeit, 469–500, bes. 497 ff. 398 Mt 28,19; vgl. 10,5 f.; 24,14 (s. Anm. 426 ff.450.504 ff.517 f.).

6.3 Das Matthäusevangelium

441

Das Wort „génesis“ drückt aus, dass die Offenbarung Jesu als Sohn Gottes und Herr ihre Vorgeschichte und damit ihren Anfang hat. Sowohl Mk 1,1 mit dem Ausdruck „archḗ“ (Anfang; vgl. Gen 1,1; Joh 1,1) als auch Mt 1,1 mit dem Terminus „génesis“ (Ursprungsgeschichte) spielen auf das erste Buch Mose an und erheben dadurch indirekt einen Anspruch auf eine kanonische Anerkennung ihrer Bücher. Diese Bezüge besagen nicht, dass Matthäus ein Bild ungebrochener heilsgeschichtlicher Kontinuität skizzieren will.399 Eher sieht er im Buch Genesis eine Analogie (den „týpos“) zu seinem eigenen Werk, das ebenfalls bei den Ursprüngen einsetzt. 3.3.3.2

Die fünf Reden Jesu

Eigentlich berichtet Matthäus von sechs Reden Jesu. Denn zu den in der Inhaltsübersicht durchlaufend nummerierten Reden kommt noch die Polemik gegen die Pharisäer in Mt 23 hinzu. Im Unterschied zu den übrigen fünf endet diese allerdings nicht mit der Formel „als Jesus diese Rede (Gebote, Gleichnisse) vollendet hatte“.400 Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass Matthäus den durch Jesus geoffenbarten guten Willen Gottes absichtlich in fünf Reden zusammenfasst, weil die Zahl „fünf“ schon im Judentum mit den fünf Büchern des Gesetzes (Gen–Dtn) verbunden war und analog auch der Psalter in fünf Bücher gegliedert wurde.401 Vor allem die sechs Antithesen der Bergpredigt mit ihren Schriftzitaten (5,21–48) bringen den wahren Gotteswillen (7,21; 12,50) zum Ausdruck. „Das Gesetz und die Propheten“ versteht Matthäus als die Zusam menfassung der gesamten Schrift (des Alten Testaments), d. h. als prophetische Verheißung und verbindliche Forderung Gottes in der Tora. Die unverbrüchliche Gültigkeit des Gesetzes und der Propheten, „bis alles geschieht“ – die Parusie eingeschlossen (5,18) –, wird bis zum Jota und kleinsten Häkchen betont (5,17–19; s. Anm. 383). Durch die goldene Regel (7,12) wird dieser Anspruch der Schrift rekapituliert (vgl. 22,40) und in der ersten und letzten Antithese durch das Verbot des Zürnens (5,21–26) mit seiner positiven Entsprechung im Gebot der Feindesliebe (5,43–48) gerahmt. Die Einleitung „Ihr habt gehört, dass (den Alten) gesagt ist“ wendet sich sowohl gegen Gebote für die Sinaigeneration402 als auch gegen deren Auslegung in der Synagoge. Umso stärker wird durch die Antithese „ich aber sage euch“ die einzigartige Lehrautorität Jesu hervorgehoben, der den göttlichen Liebeswillen durch seine radikalisierende Interpretation nicht aufweicht, sondern „erfüllt“, d. h. ver-

399 So aber G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, 97–107; ders., Das Geschichtsverständnis des Matthäus (1966), in: J. Lange (Hg.), Das Matthäus-Evangelium, 326–349; vgl. auch R. Walker, Heilsgeschichte, 145. 40 0 Mt 7,28; 11,1; 13,53; 19,1; 26,1; im 20. Jh. bildete diese Beobachtung die Grundvoraussetzung der Rekonstruktion matthäischer Kompositionsstrategie, vgl. F. W. Bacon, Studies in Matthew, London 1930. 401 Dies geschieht durch die doxologischen Schlussformeln in Ps 41,14; 72,18 f.; 89,53; 106,48. 402 Mt 5,31 = Dtn 24,1 (Ehescheidung); Mt 5,38 = Ex 21,24; Lev 24,20; Dtn 19,21 (Auge um Auge, Zahn um Zahn).

442

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

wirklicht (vgl. 5,17 mit 3,15). Die Vordersätze schützen das menschliche Zusammenleben vor den zerstörerischen Mächten des Bösen, knüpfen am Tötungsverbot an (5,21), stärken die rechtliche Stellung der Frau in der Ehe (5,27–32) und begrenzen die Spirale der Gewalt403 durch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (5,38). Problematisch werden diese Vordersätze, sobald sie zur Legitimation von Lieblosigkeit oder Vergeltung missbraucht werden, etwa als Freibrief zur Lüge außerhalb des Eides (5,33–37). Dagegen wendet sich das Vergeltungsverbot Jesu durch einen provokativen Kontrast, der die Gesetzmäßigkeit von Gewalt und Gegengewalt auf brechen soll (5,38–42). Wenn am Ende die Aufforderung zur Feindesliebe auf die Vollkommenheit404 des himmlischen Vaters zurückgreift, macht das Liebesgebot in seiner radikalsten Form deutlich, „daß angesichts des Ja Gottes zu uns das Nein zum Mitmenschen nicht mehr das letzte Wort bleiben kann. Nicht ‚wie du mir, so ich dir‘, sondern ‚wie Gott mir, so ich dir‘ – das ist das ‚vollkommene‘ Verhalten der Nachfolger Jesu Christi“.405

Gegen die Analogie zwischen den fünf Büchern der Tora und den fünf Reden Jesu wird manchmal eingewandt, dass keine von ihnen eine direkte Verbindung mit der Person des Mose herstellt, auch wenn sein Name bei Matthäus in anderen Zusammenhängen fünfmal erwähnt wird. Aber es wird z. B. nicht gesagt, dass es sich bei der Gestalt Jesu um einen „neuen Mose“ handelt. Ohne Zweifel ist Jesus für Matthäus mehr als Mose (vgl. Mt 17,1–8) und mehr als Salomo, der weise König (12,42). Jesus ist der endzeitliche Richter und Herrscher der Welt,406 der mit dem himmlischen Vater aufs Engste verbunden ist (11,25–30). Bis auf die Aussendungsrede in Kap. 10 gipfeln alle Reden in einer deutlichen Ankündigung des Endgerichts.407 Auch sonst werden Wendungen z. B. vom Heulen und Zähneknirschen408 oder ewigen (Höllen-)Feuer409 durch Wiederholung eingeschärft. Diese Dominanz der Gerichtsthematik ist ein Erbe der Logienquelle (Q), denn bei Markus ist die Paränese mit dem drohenden Gericht Gottes weit weniger ausgeprägt. Die fünf feierlich abgeschlossenen Reden betrachtet Matthäus als eine für die Jünger verbindliche Unterweisung des Messias, der Mose übertrifft. Ähnlich wie die Tora für die Juden bieten sie für alle Christen (einschließlich der Heidenchristen) eine Orientierung im Leben, eine Richtlinie (hebr. tôrāh).410 Diese Lehre wird durch 403

Vgl. die 7- bzw. 77-fache Rache in Gen 2,24. Vgl. Lk 6,36 Q: Barmherzigkeit. 405 So R. Feldmeier, Salz der Erde, (37–)54; vgl. P. Pokorný, Die Bergpredigt / Feldrede als supra-ethisches System, in: K. Wengst (Hg.), JA und NEIN (FS W. Schrage), NeukirchenVluyn 1998, 181–193. 406 Mt 25,31–46 (Weltgericht); 26,63 f. (vor dem Hohen Rat); 28,18–20 (Taufbefehl). 407 Mt 7,13–23 (Bergpredigt); 13,37.43.47–50 (Gleichnisrede); 18,23–35 (Gemeinderede); 25,31–46 (Weltgericht). 408 Mt 8,12; 13,42.50; 22,13; 24,51; 25,30. 409 Vgl. Mt 5,22; 13,42; 18,8 f.; 25,41 u. ö. 410 Zur Bedeutung der fünf Reden in der Theologie des Matthäus s. G. A. Kennedy, New Testament Interpretation through Rhetorical Criticism, Chapel Hill, NC 1984, 39–72. 404

6.3 Das Matthäusevangelium

443

den Missions- und Taufbefehl (28,20a) rekapituliert: „Alles, was ich euch befohlen habe.“ D.h. alles, was der auferstandene Jesus Christus auf dem Berg – wie einst JHWH auf dem Sinai (Ex 20,18) – in der von Gott erteilten Vollmacht (exousía; 28,18b) bekräftigt, sind seine fünf Reden. So wird Jesus von Anfang an als der machtvolle Lehrer411 dargestellt (7,28 f.), dessen Vollmacht durch seine Machttaten bestätigt (9,6.8) und am Ende universaleschatologisch auf den ganzen Kosmos („im Himmel und auf Erden“) ausgeweitet wird (28,18). Seine erste Tat ist die Berufung der vier Jünger (4,18–22), die mit der Berufung der Zwölf (10,1–4) eine Rahmung der Kap. 5–9 (Bergpredigt, Wunder) ergibt. Auf die Berufung folgt in Kap. 10 die Aussendung der Zwölf, die im Missionsauftrag wieder aufgenommen wird („gehet hin“) und im Taufbefehl („machet zu Jüngern“) ihre Fortsetzung findet (28,19). Diese ekklesiologische Perspektive der Aussendungsrede wird schon in den Wundererzählungen durch die Worte Jesu über die Nachfolge (8,18–23), die Berufung des Matthäus (9,9–13) und den Hinweis auf die Notwendigkeit vieler Arbeiter für die große Ernte (9,36–38) vorbereitet. In 10,1 übergibt Jesus den Zwölf die Macht, die er selber in Wort (7,29) und Tat (9,6.8) ausübt, verbunden mit dem analogen Auftrag zur Verkündigung des Himmelreichs und zur Heilung der Kranken (10,7 f.). Dem Bild des Lehrers korrespondiert bei den Jüngern nicht einfach ihre Lerngemeinschaft als Schüler, sondern (wie bei Markus) ein Leben in der Nachfolge Jesu (§ 6.2.8a.d.f). Indem Matthäus das Motiv der Jüngerschaft („machet zu Jüngern“) als ekklesiologischen Schlüsselbegriff im Missionsbefehl wieder aufnimmt (28,19), bestimmt er die Existenz aller Getauften (nicht nur der Zwölf) durch den bleibend gültigen, verbindlichen Ruf Jesu in die Nachfolge.412 Dazu gehört die Weitergabe der Lehre Jesu mit dem „Evangelium vom Reich“413 und mit den Geboten (28,20a), die zum „Tun“ (poieín)414 des göttlichen Willens415 und der Gerechtigkeit (6,1; vgl. 5,20) auffordern. So stellt schon die Bergpredigt nicht einfach eine allgemein gültige Zusammenfassung der Ethik Jesu dar, sondern präziser ausgedrückt eine Jüngerethik, die die Anhänger Jesu durch die Metaphern vom Salz der Erde und vom Licht der Welt (5,13–16) in ihren Auftrag als Boten des Himmelreichs einweist. In dieser missionarischen Existenz stehen ihre „guten Werke“ (5,16) als Werbung im Dienst der 411 Zu Jesus als dem einen Lehrer (Mt 23,8) vgl. R. Deines, Gerechtigkeit, 401–412, im Anschluss an R. Riesner, Jesus als Lehrer (WUNT II/7), Tübingen 31988, und die grundlegende Arbeit von S. Byrskog, Jesus the Only Teacher (CB.NT 24), Stockholm 1994. 412 Mt 8,22; 9,9; 19,21. 413 Vgl. die Rahmenverse Mt 4,23; 9,35; 11,1; 13,54 und bes. 5,2.19; 7,28 f. Nur Matthäus erwähnt das „Evangelium vom Reich“ (4,23; 9,35; 24,14), um durch diese Wortverbindung die Basileia – noch unmittelbarer als bei Markus – als den zentralen Inhalt des Evangeliums zu qualifizieren. 414 Mt 7,21.24.26; vgl. 13,41; 16,27, aber auch schon die guten Werke in 5,16. 415 Mt 7,21; 12,50 (s. Anm. 491.529).

444

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

urchristlichen Mission. Sie sollen „die Werke des Messias (Christus)“ (11,2; vgl. 5–9) durch die Verkündigung des Himmelreichs in Wort und Tat (10,7 f.) weitertragen und so die von dem messianischen Davidssohn erfüllte Gerechtigkeit (3,15; 5,17) ausbreiten (5,20; 6,1.33).416 Die Nachfolge schließt auch Gefährdungen und Anfeindungen um des Glaubens willen ein,417 die mit dem Wort vom Kreuztragen (10,38) in der Aussendungsrede im Aufriss des ersten Evangeliums schon früher anklingen als bei Lukas (14,35 Q) oder Markus (8,34 ff.). Damit erhält die Jüngerschaft bei Matthäus eine bemerkenswert starke ekklesiologische Ausrichtung, auch wenn der Terminus „ekklēsía“ erst später (16,18; 18,17) eingeführt wird (§ 6.3.4.3). Da die fünf Reden den Willen Gottes offenbaren, war es für Matthäus nicht möglich, das markinische Messiasgeheimnis (§ 6.2.7.4) als Mittel der theologischen und kompositionellen Gestaltung zu respektieren. Die Geburtsgeschichte macht von Anfang an klar, dass Jesus der verheißene und erwartete messianische Davidssohn ist (1,18–25). Aus dem Messias, dessen Wirken bei Markus noch im Verborgenen geschieht, wird im Matthäusevangelium der „Messias in Niedrigkeit“.418 Dementsprechend ist auch aus dem markinischen Jünger unverständnis (§ 6.2.8d) bei Matthäus ein überwundenes Zwischenstadium geworden. Diese Weiterentwicklung schließt keineswegs aus, dass Zweifel (Mt 14,31; 28,17) und Kleinglaube (s. Anm. 487) gerade von Matthäus als fortdauerndes Problem realistisch gesehen und in der Gestalt des sinkenden Petrus eindringlich bearbeitet werden (14,31).419 6.3.3.3

Die Erfüllungszitate und die matthäische Christologie

a) Die Erfüllungszitate: An insgesamt zehn Stellen begegnen uns Schriftzitate, die durch eine stereotype Formel eingeleitet werden: „Dies ist geschehen (gemacht, getan worden), damit erfüllt würde (dadurch wurde erfüllt), was gesagt ist durch den Propheten ...“420 Diese Zitate werden Zitate der Erfüllung oder auch Reflexionszitate genannt,421 weil sie sich meist auf eine Geschichte Jesu beziehen, die als schriftgemäß legitimiert werden soll. Durch ihre Häufung in der Vorgeschichte machen sie 416 Diesen missionarischen Charakter der Jüngerethik betont R. Deines, Gerechtigkeit, 178–181.235–256.441–446.644 f. im Unterschied zu einer allgemeinen Ethik ebenso wie gegenüber dem späteren Zwei-Stufen-Modell, das zwischen den Räten (lat. consilia) für Mönche oder Kleriker und den Zehn Geboten für die ‚gewöhnlichen‘ Christen unterscheidet, für Matthäus aber unvorstellbar ist. 417 Mt 5,10–13.44 (Seligpreisungen, Feindesliebe); 10,17–25 (Aussendungsrede); 13,21 (Gleichnisdeutung); 23,34 (Pharisäerrede); 24,9 (Endzeitrede). 418 G. Bornkamm, Enderwartung und Kirche im Matthäusevangelium, in: G. Bornkamm u. a., Überlieferung 13–52, bes. 29–35. 419 Vgl. Th. K. Heckel, Evangelium (Lit. § 3), 73–75. 420 Mt 1,22 f.; 2,15.17 f.23; 4,14–16; 8,17; 12,17–21; 13,35; 21,4 f. und 27,9; vgl. ähnlich 2,5; 3,3 und 13,14. 421 Vgl. den Exkurs „Die Erfüllungszitate“ bei U. Luz, EKK 2I/1, 189–199 (vgl. I/4, 462).

6.3 Das Matthäusevangelium

445

deutlich, dass die Geschichte Jesu von Anfang an die Vollendung dessen ist, was im Gesetz und den Propheten angelegt war (§ 2.1.3a). Da der Wortlaut der zitierten Stellen nicht immer der Septuaginta entspricht und manchmal Gemeinsamkeiten mit der hebräischen Vorlage aufweist, könnte Matthäus Texte benutzt haben, die eine Gruppe christlicher Schriftgelehrter zusammengestellt hatte. Krister Stendahl spricht von einer christlichen Schule,422 und Charles H. Dodd nennt die Schriftzitate, die zu christlichem Gebrauch geeignet sind, testimonia (Zeugnisse, Beweise).423 Dass solche Sammlungen biblischer Texte in jener Zeit existierten, belegen für den jüdischen Bereich die Qumrantexte (und die Christen lebten am Anfang als jüdische Gruppe).424 Ob auch Matthäus eine solche Testimoniensammlung verwendet hat, ist allerdings offen. Matthäus wählte jene Zitate in der theologischen Absicht, dass der Leser in der Geschichte Jesu Christi die entscheidende Äußerung des Willens Gottes erkennt. Es handelt sich nicht um die Schlüsseltexte der Schrift (des christlichen Alten Testaments), sondern um Texte, die deutlich machen, wie die Schrift unter einem neuen Aspekt verstanden werden kann: im Horizont der Glaubenserfahrung, dass mit Jesus der Sohn Gottes gekommen ist. Dieser Anspruch gilt, auch wenn mit der Ankunft Jesu die messianische Zeit nur zeichenhaft angebrochen ist und die Verkündigung von Jesus als dem Messias Anstoß erregt (11,1–6 Q). Nach matthäischem Verständnis ist Gott in Jesus mit den Menschen, er ist der „Immanuel“, „das heißt übersetzt ‚Gott mit uns‘“ (1,23; Zitat Jes 7,14 LXX). Wie die Gestalt aus den GottesknechtsLiedern Deuterojesajas trägt Jesus die menschlichen Schwächen.425 Die machtpolitischen Erwartungen, die in einigen jüdischen Texten wie z. B. PsSal 17,21–25 (1. Jh. v. Chr.) mit dem Messias aus dem Haus Davids „mit eisernem Zepter“ verbunden waren, gehören nicht zum Messias Jesus (Jesus Christus). Mit der betonten Anknüpfung an die alttestamentliche Tradition verbindet sich bei Matthäus zugleich ein intensives Interesse an den Heiden: b) Die Öffnung zu den Heiden: Während die Offenbarung der Königsherrschaft Gottes bei den alttestamentlichen Propheten in ihrem israelzentrierten Denken vielfach mit der Bestrafung der Heiden einhergeht,426 unterstreicht Matthäus, dass die Reich–Gottes–Verkündigung Jesu eine große Hoffnung auch für die anderen Völker

422

Vgl. K. Stendahl, The School of St. Matthew, 183 ff. Vgl. C. H. Dodd, According to the Scriptures, London 1952; G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, 82 ff. 424 Vgl. 4Q174 = Florilegium (Zitat 2Sam 7,14, Verheißung des messianischen Sohnes); 4Q175 = Testimonia, aber vielleicht auch stichwortartig verbundene Sammlungen, z. B. mit dem Motiv des Steins in Mt 21,42 parr.; Apg 4,11; Röm 9,33; Eph 2,20; 1Petr 2,4.6–8. 425 Mt 8,17 = Jes 53,4; Mt 12,18–21 = Jes 42,1–4; vgl. auch Mt 21,5 = Sach 9,9. 426 Ob 18–21; Dan 2,44b; vgl. 1QM 12,3–16; Sib 3,50 ff. 423

446

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

bedeutet und schon in der Schrift vorbereitet ist.427 Dementsprechend schließt das Evangelium mit dem Missionsbefehl, der alle Völker zum Ziel hat (28,19; vgl. 24,13 f.). Diese universale Öffnung wird schon mit dem Hinweis auf Abraham in der Überschrift angedeutet (s. Anm. 398) und in der Bergpredigt in den Worten vom „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ weitergeführt (5,13–16). Sie wird noch verstärkt durch die heilsgeschichtliche Wende von der Sendung, die zunächst ausschließlich dem Haus Israel gilt (10,5 f.; 15,24), aber aufgrund der Ablehnung durch die geistigen Führer, vor allem die Pharisäer (§ 6.3.4.1), zu einer weltweiten Mission wird.428 c) Die Christologie: Die in der matthäischen Gemeinde unbestrittene Autorität der Schrift (§ 2.1.3a.c) wurde im Gespräch mit der Synagoge zum Problem durch die exklusive Inanspruchnahme für Christus. Matthäus verstand die Schrift nicht nur in ihrem Grundzeugnis heilsgeschichtlich als Vorgeschichte der Geschichte Jesu Christi (§ 6.3.3.1). Er interpretierte auch ihre einzelnen Texte aus einer dezidiert christologischen Perspektive und bezog ihre Aussagen direkt auf Jesus als den verheißenen Messias und Gottessohn. Die dabei implizierte hermeneutische Voraussetzung, dass erst Jesus die Schrift recht zu verstehen lehrt, erregte vor allem den Widerspruch der Pharisäer (s.u.). In der Darstellung Jesu übernahm Matthäus von Markus die zentrale Bedeutung des Gottessohntitels (§ 6.2.7.3). Doch charakterisiert er Jesus nicht nur als Messias, sondern zugleich als bevollmächtigten Lehrer, der durch seine Interpretation (§ 6.3.3.2) erst das angemessene Verständnis der Offenbarung Gottes in der Schrift ermöglicht (5,17–20; vgl. 7,12; 22,40).429 Die Heilungen verbindet Matthäus verstärkt mit der Vorstellung Jesu als dem messianischen Davidssohn (§ 6.3.3.1), der um sein Erbarmen angefleht wird.430 Die Wunder Jesu präsentiert er als Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen, wie die Zitate aus den deuterojesajanischen Liedern vom leidenden Gottesknecht belegen sollen, der den Menschen ihre Krankheiten abgenommen hat (Mt 8,17 = Jes 53,4) und die Hoffnung der Heiden ist (Mt 12,17–21 = Jes 427

Mt 4,15 f. = Zitat Jes 8,23–9,1; Mt 8,11 Q; vgl. F. Wilk, Jesus und die Völker (Lit. § 6.2), 83 ff.240 ff. 428 Vgl. 28,19 mit 2,1–12 (die Weisen; § 6.3.3.4); 8,5–13 (Hauptmann von Kapernaum); 15,21–28 (kanaanäische Frau); 21,43; 22,7–10; 24,14; 26,13; vgl. J. Roloff, Kirche (Lit. § 6.2.8), 148–154; P. Foster, Community, 218–252. 429 Nach R. Deines, Gerechtigkeit, 287, ist die Kanon- bzw. Integritätsformel in Mt 5,17 nicht als antiquarisch-konservierende Treue zum Buchstaben zu verstehen, sondern „mit der Präambel eines neuen Vertrages zu vergleichen, der das bisherige Vertragsgeschehen positiv voraussetzt und gleichzeitig die vertragskonforme Einlösung der im bestehenden Vertrag formulierten Zukunftsklauseln ankündigt“ (Hervorhebung R.D.). 430 Mt 12,23 (Exorzismus); 15,22 (kanaanäische Frau); 21,14 f.; vgl. 9,27; 20,30 f. (Blindenheilungen).

6.3 Das Matthäusevangelium

447

42,1–4). Außerdem bezeichnet Matthäus in der Täuferanfrage die Heilungen Jesu als „Werke des Christus (Messias)“ und identifiziert sie als Verwirklichung der prophetisch-apokalyptischen Verheißungen bei Jesaja431 (Mt 11,2–6 Q).432 So „erfüllt“ Jesus aus matthäischer Sicht nicht nur „das Gesetz“, sondern auch „die Propheten“ (5,17; vgl. 3,15) und damit die gesamte Glaubens- und Offenbarungsgeschichte Israels. Jesus erschließt die tiefere Bedeutung der Schrift, die er in den fünf Reden entfaltet (§ 6.3.3.2) und im Doppelgebot der Liebe zusammenfasst (22,36–40). Er repräsentiert das Reich Gottes, das er in den Gleichnissen verkündigt (13,16; Exkurs 7). Er realisiert die Gerechtigkeit (3,15; 5,17), die er in der Bergpredigt verspricht (5,6) und verlangt (5,20; 6,1.33). Deswegen kann das Gleichnis vom Weltgericht (25,31–46; s. Anm. 504 ff.), das die Menschen nach der Barmherzigkeit im Umgang mit den Leidenden beurteilt, als Vorwegnahme der eschatologischen Vollendung der Wege Gottes verstanden werden. Das Evangelium besteht nach Mt 28,20b – anders als in der markinischen Osterverkündigung (§ 6.2.7.4d) – in der Zusage der Präsenz Jesu, in der er durch Gebete erreichbar ist: „Ich bin bei euch alle Tage.“ Darauf spielt schon der Name „Immanuel“ an, d. h. „Gott mit uns“ (1,23), und ebenso die Gemeinderede: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (18,20). Der stellvertretende Tod Jesu (20,28: „Lösegeld für viele“) wird im Sinn der Abendmahlstheologie (26,26–28) verstanden, wie sie bei Markus überliefert ist (§ 5.6.2.3b).433 Dabei betont Matthäus das Opfer Jesu, das die Kultordnung Israels auf hebt und bei der Abfassung des Evangeliums nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.) erst recht hervorgehoben wird. Indem Matthäus beim Kelchwort den Sinn des Blutvergießens redaktionell expliziert: „zur Vergebung der Sünden“ (26,28), verstärkt er ein zentrales Motiv des ganzen Evangeliums. Schon in der Erklärung des Namens „Jesus“434 wird die Vergebung christologisch begründet: „Denn er wird sein Volk von ihren Sünden erretten“ (1,21).435 Damit dieses Verzeihen auch im persönlichen Umgang miteinander Gestalt gewinnt, wird es durch das 431

Jes 26,19; 29,18; 35,5 f.; 42,18; 61,1. Vgl. 4Q521 2 II. L. Novakovic, Messiah, the Healer of the Sick. A Study of Jesus as the Son of David in the Gospel of Matthew (WUNT II/170), Tübingen 2003, 77–184, bes. 96–109, verweist auf Salomo als Exorzist in der jüdischen Tradition (Josephus Ant. 8,42–49; 11Q11; TestSal), doch denkt J. R. C. Cousland, Crowds, 86–98.169–171.175–199, bes. 184–191, angesichts vielfach festgestellter Unterschiede und der matthäischen Vorliebe für die Hirtenmetaphorik (2,6; 9,36; 10,6; 15,24; 18,12; 26,31; vgl. 4Q504 4; 521 2 II,13; PsSal 17,40) zu Recht eher an den verheißenen Davididen aus der Hirtenrede in Hes 34,4.13 f.23 f. und 37,24 f. (vgl. Jes 42,1–4 in Mt 12,18–21 zwischen zwei Heilungen). 433 Vgl. Mk 10,45 (Lösegeldwort); 14,24 (Abendmahl; Exkurs 5). 434 Aus hebr. „Ješû’a“ als Kurzform von „Jehôšû’a“ = „JHWH ist Hilfe“. 435 Vgl. Mt 9,2.5 f. (Gelähmtenheilung), aber auch die Ironie in 27,40.42, ferner Mt 21,9 „Hosanna“ als griech. Transskription des aram. „hôša‘ nā“ bzw. hebr. „hôšiā‘h nā“ („hilf 432

448

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Vaterunser (6,12.14 f.; s. Anm. 533) und die Gemeinderede (18,21–35; s. Anm. 488) bekräftigt. Anders als bei Markus (1,4) und Lukas (3,3) wird die Vergebung nicht mit der Taufe (§ 5.6.2.2b), sondern mit der Feier des Abendmahls verbunden (Mt 26,28; § 5.6.2.3e). Durch den einmaligen Opfertod Jesu am Kreuz hat Gott einen Bund (26,28)436 „zur Vergebung der Sünden“ gestiftet, der in jeder eucharistischen Mahlfeier aktualisiert wird.437 Mit den beiden Imperativen „esst“ und „trinkt“ (26,26 f.) verstärkt Matthäus redaktionell die Aufforderung an alle, am Mahl teilzunehmen. Durch den Zuspruch der Vergebung werden auch diejenigen gesättigt, die zu Beginn der Bergpredigt für ihr Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit selig gepriesen wurden (5,6). Indem die Gläubigen sich in seinem Namen zur Feier des Abendmahls versammeln, wird Jesus in seiner Gemeinde präsent (18,20).438 Auch wenn die Parusie Christi sich verzögert, wartet die Gemeinde wachsam auf dessen Wiederkunft, wie das Gleichnis von den Jungfrauen bestätigt (25,1–13).439 Am Ende der Zeiten wird er als der Menschensohn (§ 6.2.7.2) und Weltrichter erscheinen (s. Anm. 406 ff.).440 d) Die Jungfrauengeburt: Matthäus und Lukas (1,27.35a; § 6.4.5.3a) vertreten die Ansicht, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde (Mt 1,18.23). Matthäus begründet diese Auffassung mit der Geburtsankündigung in Jes 7,14 LXX, in der die Septuaginta das hebräische Wort „’almāh“ (junge Frau) mit „par thénos“ (Jungfrau) wiedergibt. Auf diese Weise bringt der Evangelist die Vorstellung von der wesenhaften Verbindung Jesu mit Gott zum Ausdruck, die auch in der Proskynese (Kniefall) der Magier (2,2.11) sowie der Frauen und Jünger vor dem Auferstandenen sichtbar wird (28,9.17).441 Die Jungfrauengeburt sollten wir aber nicht als biologische Aussage über den Zeugungsvorgang verstehen, sondern in einem metaphorischen

doch“) aus Ps 118,25; vgl. Lk 2,11; Apg 13,23; vgl. K. Seybold, Der Segen und andere liturgische Worte aus der hebräischen Bibel, Zürich 2004, 97–103. 436 Angespielt wird auf den Bundesschluss in Ex 24,8 (wie in Hebr 9,20), nicht auf den neuen Bund von Jer 31,31ff (wie bei Paulus in 1Kor 11,25 und Lk 22,20); vgl. § 5.6.2.3b. 437 Vgl. P. Luomanen, Entering the Kingdom, 283 ff. 438 Vgl. P. Pokorný, „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen ...“ (Mt 18,20), in: B. Ego / A. Lange / P. Pilhofer (Hg.), Gemeinde ohne Tempel (WUNT 108), Tübingen 1999, 477–488. 439 Vgl. K. P. Donfried, The Allegory of the Ten Virgins (Matt 25:1–13), JBL 93 (1974), 415–428. 440 Vgl. D. C. Sim, Apocalyptic Eschatology in the Gospel of Matthew (SNTSMS 88), Cambridge 1996, 247 f. 441 Vgl. Mt 14,33 sowie 8,2; 9,18; 15,25; 20,20; vgl. L. Hurtado, Lord Jesus Christ (Lit. § 5.6.1), 337 f., außerdem M. Müller, Proskynese und Christologie nach Matthäus, in: M. Karrer u. a. (Hg.), Kirche und Volk Gottes (FS J. Roloff), Neukirchen-Vluyn 2000, 210–224.

6.3 Das Matthäusevangelium

449

Sinn auf das Wesen der Person Jesu in seinem einzigartigen Gottesverhältnis als „Sohn Gottes“ beziehen (Lk 1,35b). Diese Aussage entspricht der alten Bekenntnistradition in Röm 1,4 und der Himmelsstimme bei der Taufe Jesu (Mk 1,11; § 5.6.1.2). Mit dem Motiv der Jungfrauengeburt verdeutlicht Matthäus, dass Jesus der „Immanuel“ ist, der „Gott mit uns“ (Mt 1,23 = Jes 7,14): Sein ganzes Wirken hat einen göttlichen Ursprung und verdankt sich der schöpferischen Macht des heiligen Geistes (Mt 1,20; Lk 1,35). Durch diese Herleitung will Matthäus sagen, dass Jesus von Gott beauftragt ist, das Gottesvolk von der Sünde zu erlösen (Mt 1,21). Jesus verkörpert den wahren Menschen, der alle Gerechtigkeit erfüllt (3,15). Darin unterscheidet sich Jesus von den anderen Menschen, die ihre Bestimmung zu einem Leben nach dem Willen Gottes durch ihre Sünden verfehlen. Die Übertragung der Sünde stellten sich die Zeitgenossen damals gegenständlich-biologisch vor.442 Demgegenüber wurde die Jungfrauengeburt (Parthenogenese) von Matthäus als Befreiung von einer Lebensweise verstanden, die sich an der heilvollen göttlichen Gerechtigkeitsordnung vergeht. Mit dieser Absicht, das Leben Jesu als eine ganz vom Geist Gottes bestimmte Existenz zu charakterisieren, wurde die Jungfrauengeburt in das christliche Grundbekenntnis aufgenommen. Die vergegenständlichende Deutung, die die göttliche Urheberschaft im Wirken Jesu als biologische Aussage über die Abstammung bzw. Zeugung Jesu interpretiert, ist historisch und theologisch sekundär. Paulus, Markus und Johannes (einschließlich der von ihnen zitierten ältesten christlichen Überlieferungen) konnten den Glauben an Jesus als den Überwinder der Sünde auch ohne die Vorstellung einer biologisch bzw. (aus heutiger Sicht) gynäkologisch verstandenen Parthenogenese ausdrücken. Die Art und Weise, wie man sich die Wahrheit dieser Glaubensaussage vorstellt, kann niemandem aufgezwungen werden.443 6.3.3.4 Die Bedeutung des Anfangs und des Schlusses Das erste Reflexionszitat (1,22 f.; s. Anm. 421) beruft sich auf das prophetische Wort aus Jes 7,14, das die Geburt eines königlichen Sohns ankündigt, dessen Sendung durch seinen hebräischen Namen „Immanuel“ („Gott mit uns“) bezeichnet wird (Jes 8,8.10). Am Schluss des Matthäusevangeliums lesen wir die Verheißung des erhöhten Jesus, der eine göttliche Vollmacht (exousía) besitzt (28,18):444 „... ich bin mit

442 Vgl. Ps 51,7: „Siehe, ich bin als Sünder geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen.“ Der Ausdruck „Erbsünde“ entstammt nicht biblischem Sprachgebrauch, sondern geht auf Augustin zurück, der „eph hṓ pántes hḗmarton“ in Röm 5,12 nicht im Sinn von „epí toúto hóti“ (weil alle sündigten) auflöst, sondern erklärt, „dass alle in jenem ersten Menschen gesündigt haben, als er sündigte, und dass von daher durch die Geburt die Sünde vererbt wird.“ 443 Vgl. R. E. Brown, The Birth of the Messiah, 517 ff.; ders., Introduction, 219. 444 Vgl. Mt 11,27, aber auch Dan 7,14; Röm 1,4.

450

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

euch alle Tage bis an das Ende der Welt“ (28,20b).445 Damit geht das Wort über Immanuel in Erfüllung.446 Der gekreuzigte und auferstandene Jesus ist in der Geschichte noch nicht als der endzeitliche Menschensohn-Weltenrichter präsent (wie z. B. MtS 25,31–46), aber er ist schon in der Verkündigung, der Lehre, den Sakramenten und der Mission gegenwärtig. Er ist überall dort, wo seine Lehre eingehalten wird (28,20a). Bei Matthäus fehlt – im Unterschied zu Lukas (§ 6.4.5.3b) oder Johannes (§ 7.1.5.2a) – eine ausgestaltete Pneumatologie. Jesus ist da, wo es die Kirche gibt, die sich in seinem Namen versammelt (18,20)447 und in seinem Sinn „Frucht bringt“.448 Auf diese Weise verkörpert die Kirche nach Matthäus das wahre Israel, in dem „Gott mit uns“ ist (1,23).449 Am Anfang und am Ende wird die Absicht des ganzen Buchs gebündelt durch die umfassende Verheißung, die in dem inzwischen Erzählten ihren Grund hat. Jesus ist dort, wo seine Lehre befolgt wird, die er in der Botschaft vom Anbruch des Himmelreichs und dessen Gerechtigkeit ausführt (s. Anm. 413f.), in den fünf Reden darlegt (§ 6.3.3.2), im zweifachen Liebesgebot zusammenfasst (22,36–40; vgl. 7,12) und durch sein Leben tatkräftig verwirklicht (3,15; 5,17). Um dieser Botschaft Jesu willen schrieb Matthäus sein Evangelium. Die Entsprechungen zwischen Anfang und Ende sind zahlreich: Am Anfang kommen, durch einen Stern geführt, die Weisen aus dem Morgenland450 nach Bethlehem (2,1–12). Sie erscheinen als Vorläufer der Heiden und bilden das positive Gegenstück zum Erschrecken „ganz Jerusalems“ mit seinen geistigen Führern (2,3 f.). Indem sie vor Jesus „niederfallen“ (proskyneín), demonstrieren sie ihre Anerkennung, dass Jesus die Erfüllung aller Weisheit und „Lehre“ für die Welt bringt, dass er der „Stern aus Jakob“ ist, den Bileam prophezeite (Num 24,17). Am Ende schließt das Matthäusevangelium mit einer Szene, in der die Jünger vor Jesus ebenso niederfallen (28,17; vgl. 14,33). Nun sendet er sie in die Welt aus, damit sie alle Völker in seiner Weisheit unterrichten und durch die Taufe ebenfalls zu Jüngern machen (28,19 f.). Schon zu Beginn beruft er als erste Tat seine Schüler (4,18 ff.), um sie in der Aussendungsrede 445 Mehrere solche Entsprechungen verfolgt D. Patte, The Gospel according to Matthew. A Structural Commentary on Matthew’s Faith, Philadelphia, PA 1987, 402 u. a. 446 Vgl. D. D. Kupp, Matthew’s Emmanuel (SNTS MS 90), Cambridge 1996, bes. 176 ff.220. 447 Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 255–259. 448 „Frucht“ (karpós) ist ein beliebtes Wort von Matthäus (3,8–10; 7,16–20; 13,8.22 f.26; 21,19.34.41.43), das auch als Metapher für die Ergebnisse der Mission benutzt wird. Es handelt sich überwiegend, aber nicht ausschließlich um eine ethische Angelegenheit. In den entscheidenden Texten, die aus Q stammen, hängt die Frucht von der Wurzel ab, d. h. meist vom Glauben und seiner Verankerung in Gott (Mt 7,16 ff. Q). 449 Vgl. W. Trilling, Das wahre Israel, 97 ff. 450 In der kirchlichen Tradition wurden sie wegen der Geschenke Gold, Weihrauch, Myrrhe zu drei Königen.

6.3 Das Matthäusevangelium

451

mit der Verkündigung des Himmelreichs in Israel zu beauftragen (10,5 ff.). Am Ende schickt er sie zu den heidnischen Völkern, da sein Gebot der Liebe in der Barmherzigkeit Gottes (s. Anm. 500) verankert ist und allen Menschen gilt, wie der Ausblick auf die universale Verwirklichung der Barmherzigkeit beim Weltgericht zeigt (25,31–46; s. Anm. 504 ff.). Die Proskynese der Jünger vor dem Auferstandenen (28,17) steht im Kontrast zur Proskynese, durch die der Satan bei der Versuchung von Jesus religiöse Verehrung fordert (4,8–10; s. Anm. 441). Der Lohn sollen „alle Reiche der Welt sein“. Jesus widersteht, und von diesem Augenblick ab zeichnet sich sein Weg in den Tod am Kreuz ab. Doch sein ganzes Leben ist der Weg des Erlösers, wie schon der Name „Jesus“ verrät, der auf die Befreiung von den Sünden anspielt (1,21; s. Anm. 435). Dabei ist es für den toratreuen Matthäus wichtig, dass Jesus in der Situation der Versuchung den Satan dreimal durch ein Schriftwort aus dem Deuteronomium besiegt (Dtn 8,3; 6,16; 6,13), auf diese Weise die in der Taufe zugesprochene Gottessohnschaft bewährt (vgl. Mt 4,3.5 mit 3,17) und durch seinen Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot – auch ethisch vorbildhaft – seine Gerechtigkeit erweist (3,15). Am Schluss wird er selbst – wohl kaum zufällig wiederum auf einem (hohen) Berg (vgl. 4,8 mit 28,16) – erneut zum Gegenstand der Proskynese (28,17; vgl. Anm. 441). Statt der zeitlichen Macht auf Erden, die ihm der Satan versprochen hatte (4,8), erhält er am Ende „alle Gewalt (nicht nur auf Erden, sondern) im Himmel und auf Erden“ (28,18b). Dieser Vers wird durch ein Passivum divinum eingeleitet („mir ist gegeben“), das den Juden half, das Aussprechen des göttlichen Namens zu vermeiden. Ebenso umgeht Matthäus die Erwähnung Gottes, indem er stets vom „Himmelreich“ statt vom Reich Gottes spricht.451 Jesus, der die vom Teufel angebotene Macht ablehnte, bekommt die Ermächtigung von Gott selbst. Deswegen ist er berechtigt, dem bekennenden Petrus (16,19) und der ganzen christlichen Gemeinde (18,18) „die Schlüssel des Himmelreichs“ zu geben. In der Schlussperikope kehren nicht nur Motive des Anfangs wieder, sondern werden auch andere Aussagen des Matthäusevangeliums in Andeutungen aufgenommen: Auf einem hohen Berg hat Jesus mit Worten der Schrift der Versuchung durch den Teufel widerstanden (4,8–10), auf dem Berg hat er seine längste Rede vorgetragen (5,1) und auf dem Berg beauftragt er nun seine Schüler, seine Lehre zu verbreiten (28,16). So ähnelt das Matthäusevangelium einer Ein-Pfeiler-Brücke, die durch eine Stütze gehalten wird, welche auf der einen Seite außerhalb der eigentlichen Brücke liegt (s. Abb.25): Alles, was erzählt wird (Geburt, die Weisen, Versuchung ...), was in den Reden zusammengestellt ist und was zur Lehre und Mission der Kirche gehört, tendiert zu einem Fixpunkt, der in Mt 28 außerhalb der irdischen Lebenszeit Jesu liegt. 451

nis).

Vgl. z. B. Mk 1,15 par. Mt 4,17 (Predigt Jesu); Mk 4,30 par. Mt 13,31 (Senfkorngleich-

452

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte 28,16–20

1,22 f.

2,1–12

4,1–11

5–7

„Immanuel“

10

13

18

24 f.

„mitten unter ihnen“

„bei euch“

Reden bzw. Worte Jesu Abb. 25: Der Fixpunkt des Matthäusevangeliums

Der Schluss hängt nicht in der Luft. Alles ist fest im Auftrag Gottes verankert, der dem auferstandenen Jesus anvertraut wurde.452 6.3.4

Der Abfassungszweck

Der äußere Anlass zur Abfassung des Matthäusevangeliums bestand in dem Wunsch, ein Buch zu schreiben, das mehrere christliche Traditionen und literarische Zeugnisse (s. Anm. 379) für das Vorlesen und die Auslegung im Gottesdienst umfassend vereinigen sollte, d. h. für Gemeindeleiter, Lehrer und Schriftgelehrte als primäre Zielgruppe.453 Offensichtlich wurde das Matthäusevangelium mit der Absicht geschrieben, das Markusevangelium zu ersetzen. Sonst hätte sein Verfasser nicht das gesamte Werk seines Vorgängers integriert, ohne es zumindest indirekt als übernommenes Ganzes zu kennzeichnen, wie es z. B. im Prolog Lk 1,1–4 geschieht.454 Dieses Vorhaben, seine älteren Vorlagen überflüssig zu machen, ist Matthäus aber nicht gelungen, auch wenn sein Buch in der späteren Wirkungsgeschichte das Markusevangelium weit in den Schatten stellte.455 Im christlichen Kanon trat es an die erste Stelle, weil es die Geburtsgeschichte enthält, die Lehre Jesu in größeren Redekomplexen bündelt, in den Missionsbefehl für alle Völker mündet und durch die Über452

Zu den Themen der Schlussperikope s. D. R. Bauer, The Structure of Matthew’s Gospel, 111 ff. 453 Vgl. R. Deines, Gerechtigkeit, 41–93, bes. 84 ff.92.100.165–168.178–181.405– 407.639 f. 454 S. Anm. 380; vgl. Th. K. Heckel, Evangelium (Lit. § 3), 22.78. 455 M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 39.42 f.71 f.76 f.

6.3 Das Matthäusevangelium

453

schrift an das alttestamentliche Buch Genesis erinnert. Eine besondere Wirkung erreichte das Matthäusevangelium durch die Bergpredigt in der ganzen Kirchengeschichte bis in die Gegenwart.456 Innerkirchlich beruht seine Autorität auf dem Felsenwort Jesu an Petrus (Mt 16,18 f.; s. Anm. 541).457 Matthäus hat dem Evangelium sein eigenes Gepräge gegeben. Eine auffällige Widersprüchlichkeit zeigt sich in der Spannung zwischen der scharfen Polemik gegen die Schriftgelehrten in Kap. 23 und der Neuformulierung des mosaischen Gesetzes im Kontext der Königsherrschaft Gottes in 5,17–20. Nur eine Analyse der sozialen und religiösen Lage der matthäischen Gemeinden kann die wirkliche Bedeutung dieser Paradoxie verständlich machen. Diese gegenläufigen Tendenzen erklären sich aus der Situation der judenchristlich geprägten Gemeinden zur Abfassungszeit des Evangeliums um 90 n. Chr. (s. Anm. 550 ff.). Der Bruch mit der Synagoge ist bereits vollzogen, wie die distanzierende Rede von „ihren“ bzw. „euren“ Synagogen verrät (s. Anm. 473). Aber die Trennung kann noch nicht lange zurückliegen, da die inneren Verletzungen in der Polemik gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt 23) noch heftig nachwirken. In dieser neuen Lage steht Matthäus unter einem enormen Legitimationszwang. Deshalb verrät er einerseits ein großes Interesse an der Kontinuität der Jesusgeschichte zur jüdischen Tradition, indem er selbstbewusst mit Hilfe der Tora demonstriert, dass im Kommen Jesu sowohl die Forderungen des Gesetzes als auch die Verheißungen der Propheten erfüllt sind (s. Anm. 420 ff.). Andererseits führt die äußere Trennung inhaltlich zu einer verstärkten Abgrenzung, die durch Erfahrungen lokaler Verfolgung (s. Anm. 417) veranlasst wurde und in Kap. 23 in den Weherufen gegen die Pharisäer gipfelt. 6.3.4.1

Die Auseinandersetzung mit den Pharisäern und den Paulinisten

a) Die Polemik gegen die Pharisäer: Die Abgrenzung in Kap. 23 ist außerordentlich scharf, erst recht, wenn man die Verwurzelung des Matthäusevangeliums in der jüdischen Kultur und Religion bedenkt. Wahrscheinlich hat Matthäus die übernommenen polemischen Texte, die die Pharisäer vor allem des Selbstbetrugs beschuldigen, selber durch Aussagen über ihre moralischen Fehler noch weiter zugespitzt (z. B. 456 Zur Wirkung in der deutschsprachigen Forschung vgl. U. Berner, Die Bergpredigt (GThA 12), Göttingen 1979, 31985; dies., Art. Bergpredigt II, RGG4 1, 1311–1314 (Lit.); R. Deines, Gerechtigkeit, 1–18. 457 Zur Wirkungsgeschichte s. W.-D. Kähler, Die Rezeption des Matthäusevangeliums in der Zeit vor Irenäus (UNT 2,24), Tübingen 1978, und S. A. Kealy, Matthew’s Gospel and the History of Biblical Interpretation 1–2, Leinston, NY 1997 (nur als Materialsammlung brauchbar). „Die Matthäus-Kommentare aus der griechischen Kirche“ (TU 57) gab J. Reuss heraus. Einer komplexen Darstellung der Wirkungsgeschichte sind insbesondere die letzten Bände des Kommentars von U. Luz gewidmet.

454

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

23,27–31). Auffällig ist – nicht zuletzt angesichts des matthäischen Interesses an der Lehre (28,20a) –, dass er den Titel und offensichtlich auch das Amt eines Meisters (Rabbi) oder Lehrers (23,8 ff.) ablehnt458 bzw. für Jesus als den einen wahren Lehrer reserviert.459 Diese Abgrenzung steht im Zusammenhang mit der beginnenden Neuformierung des Judentums durch die Rabbinen, d. h. die führenden jüdischen Lehrer nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. Mit der Einrichtung der Schule in Jabne (Jamnia, bei Jaffa) wurden die Schriftgelehrten zur geistigen und z. T. auch organisatorischen Elite Israels, die einige Funktionen des Hohen Rats und der Priesterschaft übernahm. Aus der pharisäischen Tradition ist später das rabbinische Judentum (§ 2.1.2) als vorherrschende Strömung hervorgegangen. Ein historisch zuverlässiges Bild der pharisäischen Bewegung460 ist schwer zu rekonstruieren, da die Pharisäer erstmals im Neuen Testament (99-mal) und bei Josephus (44-mal) bezeugt sind. Josephus (Ant. 13,171 f.) berichtet von den Pharisäern seit der Zeit des Makkabäers Jonathan, der 152–143 v. Chr. Hohepriester war. In den übrigen frühjüdischen Schriften sind sie erst in der Mischna (etwa 220 n. Chr. abgeschlossen) nachweisbar. In Qumrantexten werden sie umschrieben und kritisiert als diejenigen, „die glatte Dinge suchen“, d. h. das Volk durch eine verführerische Schriftauslegung für sich gewinnen wollen.461 Vor allem fehlen sichere und authentische pharisäische Selbstzeugnisse. Mit der Zuordnung von Texten in diese Tradition ist die Forschung zurückhaltender geworden, pharisäische Herkunft wird heute lediglich für die Psalmen Salomos (1. Jh. v. Chr.) angenommen, wahrscheinlich auch für das 4. Esrabuch (1. Jh. n. Chr.). Mit Nachdruck wurde von den Pharisäern das Studium der Tora mit „Gewissenhaftigkeit“ gefordert (griech. akríbeia),462 um zu erkennen, was der Mensch durch Gottes Bund an Verpflichtungen eingeht, wie es auch Paulus aus seiner pharisäischen Vergangenheit berichtet (Gal 1,13 f.; Phil 3,6; Apg 22,3; 26,5). Daraus erwuchs eine Frömmigkeit und Lebenspraxis, die sich am Gesetz und den „Überlieferungen der Väter“ bzw. „Alten“ orientierte.463 In ihrem Streben nach „Gerechtigkeit“464 waren die Pharisäer eine Heiligungsbewegung. Dazu gehörte die Hochschätzung der Sabbatheiligung, für die die Heilungen Jesu am Sabbat eine Provokation darstellten.465 Ihr Fasten zweimal die Woche war Ausdruck intensiver Frömmigkeit.466 In 458 Vgl. U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik (Lit. § 7.1), 39 f.; R. Deines Gerechtigkeit, 165–168.405–407. 459 Mt 4,23; 5,2; 7,29 u. ö.; s. Anm. 411. 460 Vgl. R. Deines, Die Pharisäer (WUNT 101), Tübingen 1997, oder mit einem knappen Überblick ders., Art. Pharisäer, ThBLNT2 2, 2000, 1455–1468 (Lit.), sowie zum matthäischen Kontext U. Luz, EKK I/3, 353–366. 461 CD 1,18 f.; 1QH 2,15.32; 4,7–10; 4QpNah u. ö.; vgl. L. H. Schiffman, Pharisees and Sadducees in Pesher Nahum, in: Minªah le-Naªum (FS N. M. Sarna), hg. v. M. Brettler u. a. (JSOT.S 154), Sheffield 1993, 272–290. 462 Vgl. im Deutschen das Fremdwort „Akribie“. 463 Jos. Ant. 13,296 f.408; Mk 7,1–5; Mt 23,2 f.; Gal 1,14. 464 Jos. Ant. 13,289–291; 14,176; Bell. 2,162 f.; Lk 16,15; 18,14. 465 Mk 2,23 f f.; 3,1 ff.; Lk 14,1 ff.; Joh 9,1 ff. (Exkurs 6b). 466 Lk 18,12; vgl. Mk 2,18 par. Mt 9,14 sowie PsSal 3,7 f.; Megillat Ta´anit (Fastenrolle).

6.3 Das Matthäusevangelium

455

Übereinstimmung mit der Tora gaben sie den Zehnten für jede Art von Ernteertrag (Mt 23,23 Q; Lk 18,12). Ebenso achteten sie die Reinheitsgebote im Blick auf Vorrats- und Kochgefäße sowie den eigenen Körper, z. B. durch das Waschen der Hände vor dem Essen (Mk 7,1 ff.; Mt 23,25 f. Q). Ihre Motivation entsprach dem alttestamentlichen Heiligkeitsgesetz, heilig zu sein, wie Gott selber heilig ist (Lev 11,44 f.; 19,2 u. ö.). Gerade an diesen Punkten der Sabbat-, Fasten- und Reinheitsvorschriften entzündeten sich Konflikte mit Jesus. Häufig werden Pharisäer und Schriftgelehrte gemeinsam erwähnt. Doch gilt es zwischen beiden zu unterscheiden, da es sich bei den Pharisäern um die Vertreter einer religiösen Strömung handelt. Das Wort „Schriftgelehrter“ hingegen ist eine Berufsbezeichnung. Die Schriftgelehrten waren ausgebildet zur autoritativen Auslegung des göttlichen Gesetzes. Deshalb traten sie in Streitgesprächen Jesus gegenüber.467 Das Verhältnis der Pharisäer zu Jesus war keineswegs allein durch Feindschaft geprägt, wie die – nur von Lukas berichteten – Einladungen an Jesus zeigen.468 Die wichtigste Gruppierung neben den Pharisäern waren die Sadduzäer, von denen sie sich in mehrfacher Hinsicht unterscheiden: Während die Sadduzäer bloß die biblischen Gesetze, d. h. allein den Pentateuch, als verbindlich anerkannten, hatten für die Pharisäer auch solche „Vorschriften“ (griech. nómima) einen hohen Stellenwert, die nur aus der mündlichen Lehrüberlieferung der Väter stammten und nicht in den „Gesetzen“ (griech. nómoi) des Mose aufgeschrieben waren (Jos. Ant. 13,293–298). Als Priesteradel besaßen die Sadduzäer das Vertrauen der wohlhabenden Oberschicht, während die Pharisäer eine Volkspartei waren und die Menge auf ihrer Seite hatten (Ant. 13,298). So ist es wohl kein Zufall, dass trotz aller vorangegangenen Konflikte im eigentlichen Passionsbericht keine Pharisäer erwähnt werden, während im Synedrium die Fraktion um den Hohepriester mehrheitlich sadduzäisch geprägt war (Apg 4,1). Die Spannung zwischen Jesus und den Sadduzäern (Mt 3,7; 16,1.6.11) ging vermutlich auf seine Tempelkritik zurück, die in seiner Tempelreinigung und dem Wort vom Abreißen des Tempels zum Ausdruck kommt (Mk 11,15–19; vgl. 13,2; 14,58). Den Glauben an die Auferstehung der Toten lehnten die Sadduzäer ab (Mk 12,18–27; Apg 23,8), ihre eschatologische Hoffnung konzentrierte sich auf die politisch-nationale Erneuerung des davidischen Reichs.469 Die Pharisäer dagegen lehrten die Auferstehung (Apg 23,8; 26,5–8), sodass sich in diesem Punkt eine größere Nähe zur Jesusbewegung ergab (§ 5.6.2.1; 5.10.2). Die Sadduzäer waren eine religiös-politische Gruppe innerhalb des Judentums vom 2. Jh. v. Chr. bis zum 1. Jh. n. Chr. Ihr Name kommt vielleicht von dem Priester Zadok, der unter Salomo Hohepriester war (2Kön 2). Die ersten Berichte über die Sadduzäer stammen von Josephus (Ant. 13,5,9) und beziehen sich auf die Zeit der Makkabäer (Hasmonäer) unter Jonathan (160–143 v. Chr.), der ab 152 Hohepriester war. Die Sadduzäer unterstützten die Hasmonäer, obwohl diese als Nicht-Zadokiden (d. h. ohne priesterliche Abstammung) das Amt des Hohepriesters usurpiert hatten. Denn die Hasmonäer garantierten den Sadduzäern ihre führende Stellung als aristokratische Gruppe in Israel. Erst die Königin Salome Alexandra (76– 69 v. Chr.) stellte sich auf die Seite der Reformbewegung des Pharisäer (Jos. Bell. 1,5,1–3). 467 468

Mk 2,6; 3,22; 12,28. Lk 7,36 ff.; 11,37 ff. 14,1; vgl. auch 13,31 sowie das Gespräch mit Nikodemus in Joh

3,1 ff. 469 Vgl. R. Deines, Art. Sadduzäer, Calwer Bibellexikon 2 (Lit. § 12f), 1158 f., H.-F. Weiß, Art. Sadduzäer, TRE 29, 589–594, ausführlicher G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener (SBS 144), Stuttgart 1991.

456

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Herodes der Große (37–4 v. Chr.) versuchte, den Einfluss beider Gruppen zu begrenzen. Größere Macht, einschließlich des hohepriesterlichen Amts, erreichten die Sadduzäer unter der Herrschaft der Römer (seit 63 v. Chr.), die die sadduzäische Religionspar tei als stabilisierendes Element betrachteten. Nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels verloren die Sadduzäer an Bedeutung.

Nach dem Fall Jerusalems (70 n. Chr.) versuchte die pharisäische Religionspartei, die Einheit des Judentums durch die Neuformulierung einer einheitlichen Konzeption der Gebotserfüllung zu bewahren, da die Tempelzerstörung die traditionelle Torafrömmigkeit einschließlich der sühnenden Funktion der Opfer nicht mehr zuließ.470 Angesichts dieses verstärkten Ringens um die Tora wurden die Christen (Judenchristen) innerhalb der Synagoge in besonderer Weise als Störfaktor empfunden.471 Es kam zu einem sich steigernden dramatischen Konflikt, dessen Spuren in den älteren Schichten von Mt 23 deutlich spürbar sind472 und der zum Hinausdrängen der Christen aus der Synagoge führte. Die matthäische Gemeinde war in der Zeit, in der das Evangelium entstand, nicht mehr Teil der Synagoge.473 Einerseits kritisiert Matthäus die Pharisäer mit scharfer Polemik, andrerseits stellt er ihnen Jesus als vollmächtigen Lehrer (§ 6.3.3.2), messianischen Davidssohn (s. Anm. 397) und wahren Hirten Israels (s. Anm. 432) gegenüber, der sein Volk, die notleidende Herde, lehrt, heilt (s. Anm. 476), nährt474 und hütet.475 Durch die Wunder erweist Jesus sich als der barm470 Zur Lage der matthäischen Gemeinde s. K. Pantle-Schieber, Anmerkungen zur Auseinandersetzung von ekklēsía und Judentum im Matthäusevangelium, ZNW 80 (1989), 145– 152, dort 153 ff.; E.-J. Vledder, Conflict in the Miracle Stories (JSNTSS 152), Sheffield 1997, 245 f.; M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 194–201. 471 Vgl. U. Luz, EKK 2I/1, 85 ff.; R. E. Brown, Introduction, 212 ff. 472 Vgl. K. G. C. Newport, The Sources and Sitz im Leben of Matthew 23 (JSNTSS 123), Sheffield 1995, 183 ff. 473 Vgl. W. Trilling, G. Strecker oder K. Stendahl (S. XI). P. Foster, Community, 4 f.254 f., verweist auf den Diebstahl des Leichnams Jesu als Gerücht „bei Juden bis auf den heutigen Tag“ (28,15), die Tempelsteuer (17,24–27) und die distanzierende Rede von „ihren“ / „euren“ Synagogen (4,23; 9,35; 10,17; 12,9; 13,54; 23,34 mit den Parallelen beim Synagogenausschluss in Joh 9,22.34; 12,42; 16,2). Nach R. Hummel, Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judentum im Matthäusevangelium (BEvTh 33), München 1966, 28 ff.159 ff., wirkte die matthäische Gruppe noch innerhalb der Synagoge. Eines der wichtigsten Argumente ist die Wundergeschichte von der Zahlung der Tempelsteuer (MtS 17,24–27). Wenn wir allerdings bedenken, dass Matthäus auch ältere Traditionen seiner Gemeinde aufnahm, entfällt diese Geschichte als Argument für die matthäische Gruppe als Teil der Synagoge. Die Hummelsche Position (intra muros) wird in neuerer Zeit von A. J. Saldarini, J. A. Overman, B. Repschinski, M. Vahrenholt, S. von Dobbeler u. a. vertreten (vgl. den kritischen Überblick bei P. Foster, Community, 22–79 und R. Deines, Gerechtigkeit, 22 f.). 474 Mt 14,13–21 (Speisung der 5000); 15,32–39 (Speisung der 4000). 475 Vgl. die Hirtenmetaphorik in Mt 2,6 (Zitat 2Sam 5,2); 9,36 (das Volk wie Schafe ohne Hirten); 10,6 (Aussendung zu den verlorenen Schafen aus dem Haus Israel); 15,24 („Ich bin

6.3 Das Matthäusevangelium

457

herzige Davidssohn und Messias Israels.476 Da Jesus mit seinem Wirken aber nicht nur Anhänger fand, sondern auch auf Gegner stieß, begann nach Matthäus bereits mit dem Auftreten Jesu die Spaltung in Israel,477 sodass die Anfänge der Jüngergemeinde schon auf jene Zeit zurückgehen.478 Zwischen der Ablehnung durch die Pharisäer und dem radikalen Ruf Jesu an die Jünger zur Nachfolge steht im Matthäusevangelium die Volksmenge wie eine hirtenlose Herde. Sie folgt Jesus479 und reagiert auf seine vollmächtigen Worte und messianischen Taten mit Erstaunen,480 (Ehr-)Furcht (9,8) und Gotteslob.481 Erst am Ende lässt die Menge sich von den Hohepriestern und den Mitgliedern des Hohen Rats (Synedrium) überreden, die Hinrichtung Jesu zu fordern (27,20). Matthäus schildert hier die Ereignisse beim Tod Jesu, lässt dabei aber schon die Verhältnisse der Abfassungszeit um 90 n. Chr. (s. Anm. 550 ff.) in die Erzählung einfließen. Daher übernimmt die Volksmenge in der matthäischen Darstellung durch die Selbstverfluchung die Verantwortung für den Tod Jesu und in der Konsequenz auch für das fürchterliche Blutbad während des Jüdischen Kriegs (66–70 n. Chr.): „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ (27,25). Mit dem, was Matthäus über die Menge sagt, meint er eigentlich das jüdische Volk seiner Tage, in dem er wegen des wachsenden Einflusses der Pharisäer die verlorenen Schafe des Hauses Israel sieht, die keinen Hirten haben (9,36; 10,6). Dennoch bleibt Israel für Matthäus das Volk Gottes und damit Adressat der Sendung (15,24). Auch über die Abfassungszeit hinaus bleiben „alle“ durch den Heilandsruf (11,28–30) eingeladen, bei Jesus die messianische Ruhe, d. h. das Heil, zu finden: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken ...“482 nur gesandt zu den verlorenen Schafen Israels“); 18,12 (Gleichnis vom verlorenen Schaf); 26,31; vgl. Hes 34 (Hirtenrede). 476 Mt 9,27 (Blindenheilung); 12,23 (Exorzismus); 15,22 (kanaanäische Frau); 21,9.15 (Einzug; § 6.2.7.1). 477 Mt 8,10 (Jesus über den Hauptmann von Kapernaum: „Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden!“); 9,2–17.33 f. („So etwas ist noch nie in Israel gesehen worden.“); 12,9–14 (Heilung der verdorrten Hand am Sabbat); 12,22–45; 21,14–16. 478 Vgl. das Motiv des Nachfolgens in Mt 9,9 (Levi); 9,27 (zwei Blinde); 12,15 (große Menge); 14,13 (Volk); 20,34 (zwei Blinde bei Jericho). 479 Mt 8,1 (nach der Bergpredigt); 14,13 (vor der Speisung der 5000); 19,2 (nach der Gemeinderede); 20,29 (vor der Heilung der beiden Blinden bei Jericho). 480 Mt 7,28 f.; 19,25; 22,33 und 9,33; 15,31. 481 Mt 9,8 (Heilung des Gelähmten); 15,31(Heilungen); vgl. 21,8 f. (Einzug in Jerusalem). 482 So J. R. C. Cousland, Crowds, 99–203.263–304, bes.159–163, hier 304: „Matthew’s situation ... is extra-muros but very much focussed on those who are still intra-muros“ (vgl. dazu R. Deines, ThBeitr 35 [2004], 114–116, sowie P. Foster, Community, 260). Vgl. B. Repschinski, Controversy Stories, 327–332, auch wenn seine Hypothese von der matthäischen Gemeinde „within the walls of Judaism“ (341) nicht überzeugt, da das Verhältnis zur Heidenmission ungeklärt bleibt (348; vgl. die Kritik von P. Foster, Community, 22 f.65–76.78.253).

458

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Das Bemühen der Judenchristen, sich von den Pharisäern abzugrenzen und gleichzeitig Juden zu bleiben, musste – ähnlich wie im Egerton-Papyrus (§ 6.1.6.4) – mit einer Überbetonung der Grundpfeiler der jüdischen Religion einhergehen. In dieser Spannung zwischen Traditionsverankerung und Pharisäerpolemik versuchte Matthäus den aus der Synagoge vertriebenen Judenchristen zu einer neuen Identität als Kirche zu verhelfen. Die eigenständige Existenz der neuen christlichen Gemeinden wurde von den pharisäischen Führern bekämpft, steht bei Matthäus durch das betonte Festhalten an den Eigenheiten jüdischer Frömmigkeit aber immer noch in der Kontinuität mit der Geschichte Israels. Der Evangelist hat mit der pharisäischen Führerschaft gebrochen, aber nicht mit dem jüdischen Volk.483 Hier liegt einer der tieferen Gründe für die an der Oberfläche sichtbare Widersprüchlichkeit im Matthäusevangelium zwischen der Treue zur jüdischen Tradition und der Abgrenzung von den Pharisäern als den führenden jüdischen Vertretern. Zugleich wird eine äußerst problematische Kehrseite des matthäischen Drängens auf eine „bessere“, „größere“ Gerechtigkeit (5,20; 6,1) erkennbar, die das Selbstverständnis als „komparativische Identität“ durch die Überbietung einer anderen, schlechteren, geringeren Gerechtigkeit definiert und so ein kollektives Feindbild mitverursacht hat, das schwerlich mit dem Gebot der Feindesliebe (5,43–48) in Einklang zu bringen ist.484 Dies gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass mit der Feindschaft nicht so sehr persönliche Gegnerschaft, sondern primär die Erfahrung religiöser Ablehnung und Verfolgung um Jesu willen gemeint ist, d. h. aufgrund des Glaubens (s. Anm. 417). Die Gerechtigkeit der Pharisäer bleibt zwar unter den Bedingungen des alten Äons anerkannt. Ihre „Sünde“ besteht nach Matthäus aber darin, dass sie die Zeichen der Zeit nicht erkennen und darum nicht den Weg der Gerechtigkeit finden (21,32), der zum Himmelreich führt, bzw. andere davon abhalten, sich auf diesen Weg einzulassen (23,13). Von Jesu Kommen an ist die pharisäische Gerechtigkeit nicht mehr ausreichend, bis dahin war sie es jedoch. In der Wirkungsgeschichte hatte diese matthäische Polemik die fatale Folge, dass die Pharisäer zur negativen Chiffre für Scheinheiligkeit, Heuchelei und Selbstgerechtigkeit werden konnten.485 b) Die innere Bedrohung der Gemeinden: Die Spannung zwischen der Treue zur Tora und der Polemik gegen die Pharisäer wird noch verschärft durch die Lage der

483

Anders U. Luz, EKK 2I/1, 85–98, der zu wenig zwischen dem Volk und den Führern differenziert. 484 R. Feldmeier, Salz der Erde, (100–)101. 485 Vgl. R. Deines in einem Brief bei U. Luz, EKK I/3, 349: „In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s sind die Pharisäer ... für die liberalen Protestanten, was sie selbst nicht sein möchten: Katholisch, orthodox oder pietistisch.“

6.3 Das Matthäusevangelium

459

christlichen Gemeinden, nämlich durch das Nachlassen der Spannkraft im Glauben und in der Liebe.486 Matthäus übernimmt den Ausdruck „Kleinglauben“ aus der Logienquelle, der dort 1-mal im Abschnitt über das Sorgen (Mt 6,30 Q) belegt ist und zu einem matthäischen Vorzugswort wird.487 Ein Synonym für den Kleinglauben ist der „Zweifel“ (14,31; vgl. 28,17). Den Gegensatz bildet der große Glauben (15,28), der nicht zweifelt (21,21). Der Evangelist benützt diese Wortgruppe für das Erlahmen des Glaubens, das in der zweiten Generation z. B. auch in den Ermüdungserscheinungen der Christen im Hebräerbrief sichtbar wird (§ 8.5.2). Aus der doppelten Herausforderung gegenüber den Pharisäern und angesichts des nachlassenden Engagements innerhalb der Gemeinde ist auch zu erklären, dass Matthäus bei der Liebe die Äußerungen Jesu in zweifacher Weise zuspitzt: Einerseits betont er in den Außenbeziehungen das Gebot der Feindesliebe (s. Anm. 404.484), andererseits rückt er gruppenintern mit dem Gleichnis vom Schalksknecht die Vergebungsbereitschaft ins Zentrum (MtS 18,21–35; vgl. 6,12.14 f.). Vielleicht hebt Matthäus auch deshalb so sehr auf die Vergebung ab,488 weil es nach den Auseinandersetzungen zwischen Jesusanhängern und pharisäisch beeinflussten Juden nicht zuletzt für die Neubekehrten mancherlei persönliche Verletzungen bei der Integration in die christliche Gemeinde aufzuarbeiten gab. Da von jüdischer und judenchristlicher Seite der Vorwurf der „Sünde“ (anomía) erhoben wurde, die sich nicht an die Tora hält,489 drängt Matthäus zudem erst recht auf die „Früchte“ des Glaubens (s. Anm. 448) im Tun der guten Werke, wie es sonst nur im Jakobusbrief geschieht (§ 8.8.2–3). c) Die Auseinandersetzung mit den Paulinisten: Da die innerjüdische Diskussion um den Toragehorsam zwischen Jesus und seinen Widersachern zur Abfassungszeit des Evangeliums um 90 n. Chr. (s. Anm. 550 ff.) schon der Vergangenheit angehörte, benutzte Matthäus die positiven Elemente des jüdischen Erbes wahrscheinlich nicht nur zur Legitimation der christlichen Lehre gegenüber den Pharisäern, sondern darüber hinaus noch zu einer weiteren Abgrenzung. Vermutlich sah er auf der anderen Seite eine Gefahr im paulinischen Christentum, das seiner Meinung nach die Bedeutung der Werke für den Glauben nicht hinreichend beachtete. Vielleicht lernte Matthäus, als er wohl in Syrien (s. Anm. 552) sein Evangelium niederschrieb, die pauli486 Den inneren Zusammenhang dieser doppelten Bedrohung betont R. Feldmeier, Salz der Erde, 90–107. 487 Vgl. Mt 8,26 (Sturmstillung); 14,31 (sinkender Petrus); 16,8 (Warnung vor der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer); 17,20 (Heilung eines mondsüchtigen Jungen). 488 Vgl. das Versöhnen mit dem Bruder in der ersten Antithese Mt 5,23–25: „solang du mit ihm noch auf dem Weg (sc. zum Gottesdienst) bist“. 489 Matthäus ist der einzige Evangelist, der den Terminus „anomía“ verwendet (7,23; 13,41; 23,28; 24,12).

460

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

nische Theologie schon in einer sekundären Interpretation kennen. Denn wir wissen, dass Paulus in der syrischen Metropole Antiochien einen Konflikt mit Petrus hatte (Gal 2,11–14), der ihn zur Ausformulierung der Rechtfertigungslehre provozierte (§ 5.11.4). Allerdings konnte der Apostel seine Meinung unter den Judenchristen von Antiochia offensichtlich nicht durchsetzen und mied später die Missionsgebiete antiochenischer Christen. Unter ihnen galt er als Häretiker. Ein Misstrauen gegen das paulinische Christentum könnte in Antiochien lebendig geblieben sein und die matthäische Darstellung beeinflusst haben. Die Polemik gegen den Paulinismus ist auch für den Jakobusbrief bezeichnend, der wahrscheinlich ebenfalls in Syrien verfasst wurde (§ 8.8.2–3), wo auch das Matthäusevangelium entstanden sein dürfte (s. Anm. 552). Die Betonung der Frömmigkeit, die eine praktizierte Gerechtigkeit verlangt, kehrt in der Didache wieder, einer christlichen Gemeindeordnung (Ende 1. Jh.), die wie das Matthäusevangelium und der Jakobusbrief in Syrien verortet wird (§ 6.3.5). Die Notiz in 2Petr 3,16, nach der einige Menschen die Lehre des Paulus zur eigenen Verdammnis verdrehen, bezeugt, dass der eben skizzierte Streit um die paulinische Theologie einige Jahrzehnte später in weiten Teilen der Kirche keine bloße Spekulation ist (§ 8.7.2).490

Schon Paulus selber gibt zu erkennen, dass er sich eines möglichen Missbrauchs seiner Theologie bewusst war (z. B. Röm 6,1). Erst im letzten Viertel des 1. Jh.s wurde der Paulinismus zu einem der theologischen Kristallisationspunkte der kirchlichen Lehre und gewann im 2. Jh. die Oberhand (§ 5.9). Vor dieser zweifachen Folie des Pharisäismus und Paulinismus wird verständlich, dass Matthäus das Frucht-Bringen (s. Anm. 448) und Tun des göttlichen Willens (s. Anm. 400 ff.414) stark hervorhebt. Deshalb warnt Jesus im Matthäusevangelium vor den falschen Propheten (7,15–20; 24,10–12), die keine guten Früchte bringen und durch ihre falsche Lehre der „Sünde“ (anomía; 7,23; 13,41) Vorschub leisten, die den Willen Gottes aus der Tora missachtet und die Liebe bei vielen „erkalten“ lässt (24,11f.). Aus dem gleichen Grund wandelt Matthäus (7,21) auch die aus der Logienquelle (Lk 6,46 Q) stammende Aufforderung Jesu zur Nachfolge in eine Warnung vor einer Frömmigkeit um, die sich einseitig auf die liturgische Anbetung des Herrn (kýrios) konzentriert: „Nicht jeder, der zu mir sagt ,Herr, Herr!‘, wird ins Himmelreich hineinkommen, sondern der, der den Willen meines Vaters in den Himmeln tut!“491 Diese Abgrenzung scheint sich gegen eine oberflächliche, geradezu magische Auffassung der paulinischen Schlüsselaussage aus Röm 10,9 zu wenden: „Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen 490

Diese Annahme wird auch durch die Tatsache unterstützt, dass der zur Gnosis neigende Valentinus sich in der Mitte des 2. Jh.s für einen Paulinisten halten konnte (Belege bei E. Pagels, The Gnostic Paul, Philadelphia, PA 1973) und dass der von Pseudo-Clemens verfasste Roman eine scharfe antipaulinische Polemik enthält (Recogn. 1,70,1; vgl. W. Schneemelcher, NTApo6 II, 445). 491 S. Anm. 400 ff.414.529 f.; vgl. U. Luz, EKK I/1, z.St.

6.3 Das Matthäusevangelium

461

glaubst, dass Gott ihn von den Toten erweckt hat, so wirst du gerettet.“492 Die Gegner haben sich zwar durch ihre Dämonenaustreibungen legitimiert (vgl. Mt 10,8), nach Matthäus verstoßen sie in ihrer Beziehung zu den Armen jedoch gegen die Lehre Jesu und werden deswegen als Übeltäter angesehen. Damit stellt sich die Frage nach dem Verständnis der „Gerechtigkeit“ (dikaiosýnē), die sowohl bei Matthäus493 als auch bei Paulus (§ 5.11.3c; 5.16.5a) von zentraler Bedeutung ist. Diese Frage gehört zu den schwierigsten Problemen der neutestamentlichen Theologie. Sie verlangt eine sorgfältig differenzierende Wahrnehmung sowohl des konkreten Wortgebrauchs als auch der Entstehungssituation des jeweiligen Texts. Gemeinsam ist beiden Autoren die Prägung durch die alttestamentlichjüdische Tradition, die auch Paulus aus seiner pharisäischen Ausbildung vertraut war.494 „Gerechtigkeit“ beschreibt im biblischen Sprachgebrauch nicht einfach die Eigenschaft einer Person, sondern ist der neutestamentliche Begriff für das rechte Verhältnis des Einzelnen zu Gott und zu seinen Mitmenschen. Er schließt ein ethisches Verhalten ein, das dem göttlichen Willen entspricht und sowohl der Gemeinschaft mit Gott als auch der Gemeinschaft mit anderen Menschen gerecht wird.495 „Gerecht sein“ heißt deshalb sowohl in der Beziehung zu Gott als auch im Verhältnis zu den Mitmenschen „jemandem gerecht werden“ (oder eben etwas schuldig bleiben). Innerhalb dieser gemeinsamen Tradition verwenden Paulus und Matthäus den Terminus „dikaiosýnē“ jedoch in einer unterschiedlichen Front- und Fragestellung. Dem Apostel geht es angesichts der Konflikte zwischen Juden- und Heidenchristen in der ersten Generation um die theologische Frage, welche soteriologische Bedeutung die von der Tora geforderten Werke für das Erlangen des ewigen Lebens haben, nachdem Christus stellvertretend für alle zur Vergebung der Sünden gestorben ist (§ 5.11.3–4; 5.16.5a). Der Evangelist hingegen attackiert mit einer gänzlich anderen Stoßrichtung in paränetischer Absicht bei der zweiten Generation den Mangel an guten Taten, die er als „Frucht“ des Glaubens erwartet. Die Weisungen Jesu führen bei Matthäus zu einer verstärkten Kritik an der Folgenlosigkeit der Nachfolge. Dennoch darf man den Inhalt des Worts „dikaiosýnē“ bei Matthäus nicht, wie es bei Georg Strecker, Ulrich Luz u. a. teilweise geschieht, ethisch auf ein „Christentum der Tat“ verkürzen.496 Denn so sehr Matthäus auf das „Tun“ (poieín) der Gerechtig492 In der Perikope von der Syrophönizierin tilgte Matthäus die Anspielung auf das heilbringende Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn durch Auslassung des Lexems „um dieses Wortes willen“ (Mt 15,28; vgl. Mk 7,28 f.). 493 Vgl. grundlegend R. Deines, Gerechtigkeit, bes. 121–181.413–451, bes. 447 ff.634– 654. 494 Phil 3,5; Apg 23,6; 26,5 (§ 5.8.2). 495 Vgl. z. B. die messianischen Erwartungen an ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit in § 5.6.1.1. 496 Zur Auslegungsgeschichte vgl. R. Deines, Gerechtigkeit, hier bes. 3–18.641.

462

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

keit und des göttlichen Willens dringt (s. Anm. 414), bleibt die Rede vom „Erfüllen“ (plēroún) der Gerechtigkeit Jesus vorbehalten (3,15; 5,17). Dieser brachte als der messianische Davidssohn (s. Anm. 397) die Rettung (s. Anm. 435), welche die Schrift, bestehend aus Gesetz und Propheten, angekündigt hatte. So ist das Verb „plēroún“ bei Matthäus kein nomistischer (gesetzlicher) Terminus für das Halten der Gebote,497 sondern ein heilsgeschichtlicher Ausdruck, bei dem das prophetische Element ein klares Übergewicht hat. Diese prophetisch-heilsgeschichtliche Bedeutung wird durch den Wortgebrauch in den Reflexionszitaten (s. Anm. 420 ff.) bestätigt.498 Schon die Selbstvorstellung, in der Jesus in 5,17 den Zweck seiner Sendung nennt, verweist auf die eschatologische Erfüllung des Heils, das Tora und Propheten verheißen haben. An dieser eschatologisch-überfließenden Gerechtigkeit bekommen die Anhänger Jesu Anteil. Sie soll das Handeln der Jünger in Wort und Tat bestimmen (s. Anm. 416). In diesem Sinn appelliert Matthäus an das Verhalten der Menschen als „unsere“ bzw. „eure“ Gerechtigkeit (5,20; 6,1). Dagegen verwendet Paulus die „Gerechtigkeit Gottes“ (Röm 1,17) als soteriologischen Zentralbegriff seiner Rechtfertigungslehre in dem Sinn für das göttliche Heilshandeln, dass Gott gerecht ist und gerecht macht, indem er den Sünder aufgrund des Sühnetods Jesu allein aus Gnade freispricht (Röm 3,21–26; § 5.16.5a). Dementsprechend verbindet der Apostel die Gerechtigkeit im Blick auf seine soteriologische Ausgangsfrage mit dem Glauben, der das Heil empfängt, während Matthäus aus der von Christus erfüllten Gerechtigkeit paränetisch ein entsprechendes Tun der Gebote ableitet, wie es Jesus gelehrt hat. Doch dürfen diese Unterschiede nicht zu schiefen Alternativen verzerrt werden: Auch für Matthäus ist das Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit (Mt 5,6) von einer eschatologischen Verheißung getragen (vgl. 6,33) und die Gerechtigkeit von Anfang an unlösbar mit der prophezeiten Erfüllung des göttlichen Heilswillens im Auftreten Jesu verknüpft (3,15). Andererseits hat die Gerechtigkeit gerade bei Paulus ethische Konsequenzen (Röm 6,12 ff.; § 5.16.5c). Deshalb betont der Apostel, dass die Rechtfertigung im Glauben durch den Geist schon gegenwärtige Realität ist, während im ersten Evangelium das Heil zwar gleichfalls allen Völkern gilt, für den einzelnen Menschen jedoch bis zum Endgericht ungewiss bleibt.499 Allerdings darf 497

Zum Gesetz s. Anm. 509 ff. Vgl. Mt 11,13 mit der Lk 16,16 Q gegenüber umgestellten singulären Wortreihenfolge: „alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt“. 499 C. Landmesser, Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott (WUNT 133), Tübingen 2000, spricht hier von einer „sekundären Konditionierung“, doch bleibt nach der Besprechung von R. Feldmeier, ThLZ 127 (2002), 1188–1190, die Frage, welche Missverständnisse der Gnadenbotschaft den mit dem „Kleinglauben“ und der „Gesetzlosigkeit“ in seinen Gemeinden ringenden Verfasser des Evangeliums bewogen haben, so stark neben den Zuspruch den Anspruch zu setzen, zumal selbst Paulus neben den soteriologischen Spitzensätzen wie Röm 5,1 oder 2Kor 5,17 auch deutliche Warnungen aussprechen kann (vgl. Gal 6,7–9 oder 1Kor 498

6.3 Das Matthäusevangelium

463

nicht übersehen werden, dass auch bei Matthäus das göttliche Handeln von der Barmherzigkeit des himmlischen Vaters motiviert und getragen ist (s. Anm. 500). Für die Theologie des Matthäus ist bezeichnend, dass er – ältere Jesus-Überlieferungen aufnehmend – nicht nur einen tätigen Glauben fordert, sondern diesen Appell konsequent aus der Barmherzigkeit Gottes herleitet. In der Bergpredigt ist das Bild des himmlischen Vaters ganz von der göttlichen Barmherzigkeit bestimmt.500 Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (MtS 20,1–16) ist ein eindeutiger Beleg für diese göttliche Güte. Auch die in den Gemeinden eingeführten Ordnungen und Vollmachten501 werden in der Gemeinderede (Kap. 18) durch die Rahmung mit sorgsam ausgewählten Texten neu interpretiert: Sowohl das Gleichnis vom verlorenen Schaf, das gesucht und mit Freude aufgenommen wird (18,10–14 Q), als auch der Spruch über die unbegrenzte Vergebung (18,21–22) mit seiner Illustration durch das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht (MtS 18,23–35) sollen eine rein gesetzliche Anwendung der Regeln des Gemeindelebens verhindern. Nicht ohne Grund begegnet gerade in Streitgesprächen mit den Pharisäern das Zitat aus Hos 6,6: „Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer“ (Mt 9,13; 12,7). Die Abhängigkeit von der Vergebung Gottes schließt den Moralismus aus. Barmherzigkeit ist keine moralistische Forderung, sondern ein Verhalten, das von Matthäus für realistisch gehalten wird, weil es dem göttlichen Erbarmen mit den Menschen entspricht, die Sünder sind. Hier ist Matthäus nicht weit von der paulinischen Position entfernt, selbst wenn er sie auf andere Weise und in einem anderen Milieu ausdrückt. Der größte Unterschied besteht darin, dass der Glaube für Paulus im völligen Vertrauen auf die Gnade Gottes und in einer umfassenden Identifizierung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus besteht. Alles andere ist von diesem Glauben abhängig, sodass die ethischen Aufforderungen für den Apostel keinen zweiten Pol neben der Heilslehre bilden, sondern der Glaube in der Liebe tätig ist (Gal 5,6). Matthäus hingegen beschreibt die Wirkung des barmherzigen Gottes in einem noch engeren Zusammenhang, zu dem sowohl der Glaube als auch die guten Werke gehören und je nach Situation das eine oder andere in den Vordergrund tritt.502 Die eigentliche theologische Leistung des Matthäus besteht nicht in der ausgewogenen Abgrenzung gegen die beiden aus seiner Sicht gefährlichen theologischen Positionen des Pharisäismus und des Paulinismus. Sein Hauptverdienst liegt darin, dass er im Unterschied zu anderen judenchristlichen Positionen wie der Logienquelle

6,9 f.; 10,12; Gal 5,21). Vgl. auch die Kritik an der Konditionierungsthese durch R. Deines, Gerechtigkeit, 430 f. 50 0 Mt 5,16.45.48; 6,9.14.26.32; 7,11.21 u. ö. 501 Vgl. die sog. Schlüsselgewalt der Repräsentanten der Gemeinde (Mt 16,19; 18,18; vgl. 18,15–17). 502 Vgl. P. Christian, Jesus und seine geringsten Brüder (EThSt 12), Leipzig 1975, 25.36.59: Die „geringsten Brüder“ sind Notleidende aus allen Völkern.

464

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

(§ 6.1.5.3) oder dem Papyrus Egerton (§ 6.1.6.4) in der Darstellung Jesu nicht bei einer israelzentrierten Sicht der Heilsgeschichte und dem Festhalten an der jüdischen Torafrömmigkeit stehen bleibt. Matthäus geht über diese älteren Positionen hinaus und hebt die Wendung zu den Heiden hervor, die er im Gebot und der Verheißung des auferstandenen Jesus begründet sieht (Mt 28,19; s. Anm. 398). d) Die Rezeption der Logienquelle: Als weitere Besonderheit verband Matthäus die radikale Frömmigkeit der Wanderpropheten in der Logienquelle (s. Anm. 545)503 mit der Petrus-Tradition, die auf das Osterbekenntnis (1Kor 15,3b–5) zurückgeht und im Markusevangelium erzählerisch entfaltet wird (§ 6.2.6.1; 6.2.7.3). Durch diese Verknüpfung baute Matthäus eine Brücke von den jüdischen Wurzeln, die in der Logienquelle bewahrt sind (§ 6.1.5.3d), zur späteren Weltkirche, in der auch die Heidenchristen ihren Platz haben (§ 6.3.4.3). e) Das Weltgericht: Oft ging man davon aus, dass Matthäus beim Weltgericht in 25,31–46 die Frage nach dem Heil der Heiden aufgriff, die durch die Verkündigung des Evangeliums nicht erreicht wurden.504 Mit „pánta éthnē“ sind hier jedoch nicht nur die Heiden (Nicht-Juden), sondern wirklich „alle Völker“ gemeint, d. h. alle Menschen. Denn das 25. Kapitel betrifft die Endzeit, also das, was am Ende der Welt (28,20) geschehen wird. Auch die „Völker“ (éthnē) in 25,32 sind daher die Heiden, die schon die Gelegenheit hatten, die Lehre Jesu zu hören und getauft zu werden (28,19 f.). Die „geringsten Brüder“ (25,40) könnten zwar mit den Jüngern Jesu als den „Geringen“ (10,42) identisch sein.505 Doch ist die Ausschließlichkeit, mit der die Barmherzigkeit zum Maßstab gemacht wird, ebenso auffällig wie das Motiv der Unwissenheit, mit der die Vollstrecker den göttlichen Willen tun. Auf diese Weise deutet Matthäus an, dass im neuen Äon der Glaube durch das Sehen ersetzt wird und die Hoffnung zur Erfüllung kommt, aber Barmherzigkeit und Liebe bleiben werden. Texte mit derartigen Visionen506 schützen den Glauben vor Ideologisierung. Nicht nur das Gesetz, sondern die gesamte Lehre Jesu einschließlich ihrer Verheißungen ist im Doppelgebot der Liebe enthalten, in dem das Gesetz und die Propheten gebündelt sind (22,40; vgl. 7,12). Die Eschatologie, die mit der Auffassung der Weltgerichtsszene (25,31–46) als einer universalen ethischen Regel verbunden bleibt, bedeutet jedoch keine Abwertung des Ostergeschehens und auch keine Ablehnung der 503

U. Luz, Die Erfüllung des Gesetzes bei Matthäus, ZThK 75 (1978), 398–435, bes. 431. Dieser sog. exklusive Interpretationstyp, nach dem das Gericht in Mt 25,31–46 nur die Heiden betrifft, wurde jüngst durch D. R. Hare, Interp, z.St., vertreten. Zur Diskussion s. U. Luz, EKK I/3, z.St. 505 So J. Mánek, Mit wem identifiziert sich Jesus? Eine exegetische Rekonstruktion ad Matt 25:31–46, in: B. Lindars / S. S. Smalley, Christ and Spirit in the New Testament, Cambridge 1973, 15–25. 506 Vgl. auch in den paulinischen Briefen z. B. das Hohelied der Liebe in 1Kor 13. 504

6.3 Das Matthäusevangelium

465

nachösterlichen Theologie. Denn ohne die Lehre des irdischen Jesus wäre diese Perspektive der Barmherzigkeit (s. Anm. 500) nicht erkennbar und ohne seine Auferweckung durch Gott könnte sie nicht als Weg zum Heil gelten. Die Spannung zwischen einerseits der göttlichen Barmherzigkeit und Schuldvergebung (s. Anm. 435.500) und andererseits dem drohenden Gericht mit Zähneklappern und Feuer (s. Anm. 408 f.) aufzulösen, liegt nicht im matthäischen Interesse. Gott bleibt der barmherzige Vater. Aber der Evangelist will der Gefahr entgegentreten, dass man den Glauben bewusst verleugnet (10,32 f.), wie Judas es durch den Verrat an Jesus tat,507 oder verkehrt wie die falschen Christusse und Propheten (24,5.11.24) oder vielleicht auch einschlafen lässt wie die törichten Jungfrauen (25,1– 13). Der Nachdruck liegt freilich darauf, durch die Nächstenliebe, die Menschlichkeit, die Humanität – wir müssen besonders an die hellenistische Tugend der „philanthrōpía“ (Menschenfreundlichkeit) denken – für den Glauben an Christus zu gewinnen. Es handelt sich nicht um eine Interpretation des Evangeliums als Humanität, sondern als eine spezifisch christliche Verheißung für den Humanismus, der durch den Glauben an die Gerechtigkeit motiviert ist, die Jesus verwirklicht hat. Wie die Magier mit ihrer Weisheit aus dem Osten in der Gestalt Jesu den Immanuel suchen (2,1–12; § 6.3.3.4), so wird die allgemein anerkannte praktische Humanität aufs tiefste in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus verankert: „damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (5,16; s. Anm. 416). Anders als Paulus, anders auch als Lukas und Johannes stellt Matthäus das Evangelium in den umfassenden Horizont der Weltgeschichte – Zeichen einer großen und authentischen Theologie. Wenn wir diese theologische Leistung des Matthäus begreifen, werden auch einige andere Züge seiner Theologie verständlich werden. 6.3.4.2

Die Ethik

a) Das Liebesgebot: In der Ethik übernahm Matthäus (ähnlich wie Lukas) Jesu Aufforderung zur Feindesliebe (Mt 5,43–48) aus der Logienquelle (Q), die vor allem Erfahrungen der Anfeindung um des Glaubens willen (s. Anm. 404.484) erwidert (§ 6.1.5.3e). Sie ist allerdings nicht moralistisch motiviert, wie oft angenommen wird und wie es für ihre Wirkungsgeschichte bezeichnend ist (s. Anm. 496). Es handelt sich um die Applikation des Doppelgebots der Liebe (22,37–40; § 6.2.9), das die Beziehung zwischen Gott und Mensch betriff. Die Liebe zu Gott ist die angemessene Antwort des Menschen auf die Erfahrung der göttlichen Barmherzigkeit (s. Anm. 500). Die Liebe zu Gott bewährt sich im liebevollen Umgang mit den Mitmenschen, denen die Barmherzigkeit des himmlischen Vaters ebenfalls gilt (18,27.33.35; vgl. 6,14). Deshalb findet die Aufforderung zur Gottesliebe ihre direkte Entsprechung im Appell an die Nächstenliebe, wie sie auch die goldene Regel zur 507

Mt 10,4 (Berufung); 26,14–16.47–50; 27,3–10 (Passionsgeschichte).

466

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Maxime erhebt, die nun – im Sinn der Feindesliebe – positiv508 formuliert ist (7,12): „Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“509 b) Das Verständnis der Tora: Die Barmherzigkeit ist das Wichtigste am Gesetz (23,23), wie auch das bereits erwähnte Zitat aus Hos 6,6 zeigt (9,13; 12,7; s. Anm. 500 ff.). Dass sie dieses Gebot kennen, aber nicht halten, wird in völlig gegensätzlicher Stoßrichtung den Pharisäern mit ihrer Gesetzlichkeit (Kap. 23) ebenso vorgehalten wie den falschen Propheten (24,11 f.), die den Willen Gottes missachten und durch ihr Wirken bei vielen Gläubigen zum Erkalten der Liebe führen. Lehre und Lebenspraxis, Verheißung und Verpflichtung, Anspruch und Wirklichkeit, Wortund Tatzeugnis dürfen nicht auseinanderfallen. Das zweifache Liebesgebot wird bei Matthäus redaktionell durch die feierliche Aussage Jesu ergänzt, dass an diesen beiden Geboten das ganze Gesetz und die Propheten (die jüdische Schrift) „hängen“ (22,40; vgl. 7,12). Damit macht Matthäus die Deutung der gesamten Tora einschließlich jedes Häkchens (Mt 5,18 Q) auf ähnliche Weise von der Lehre Jesu abhängig, wie er die messianischen Erwartungen durch die Erfüllungszitate mit dessen Geschichte verknüpft. D.h. ebenso wie in der Christologie (§ 6.3.3.3c) liefert auch in der Ethik Jesus mit seiner Interpretation den hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis der Schrift, wie es die Antithesen der Bergpredigt exemplarisch vorführen (s. Anm. 402 ff.). Jesus selber ist der Hermeneut, der erst das Verständnis des Gesetzes recht erschließt. Durch die Orientierung am Liebesgebot lässt sich die Frage, ob Jesus die Tora verschärft oder abgeschwächt hat, nicht im Sinn einer Entscheidungsfrage auffassen, die alternativ zu beantworten wäre. Ausschlaggebend ist die eschatologische Erfüllung der von den Propheten verheißenen Gerechtigkeit durch Jesus (3,15; 5,17; s. Anm. 493 ff.). Aus ihr ergibt sich die Forderung nach einer Praxis (s. Anm. 414), die dem göttlichen Liebeswillen entspricht (7,12; 22,34–40). Nach diesem Maßstab barmherziger Liebe kann einerseits die Einhaltung ritueller Pflichten bei den Sabbat(12,1–14), Reinheits- (23,25 f.; vgl. 15,1 ff.), Opfer- (5,23 f.) und Zehntgeboten (23,23) gelockert werden, was zu Konflikten mit den Pharisäern führt. Andererseits wird zugleich das Verbot des Tötens, des Ehebruchs und des Schwörens in den Antithesen ethisch radikalisiert (s. Anm. 402 ff.). Ebenso wird das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18 = Mt 22,39) zielstrebig auf die Feindesliebe ausgeweitet, mit der Erfahrungen religiöser Ablehnung positiv erwidert werden sollen (5,44; s. Anm. 404.484). 508

Vgl. die negative Formulierung in nichtchristlichen Belegen: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ 509 Vgl. in den Antithesen (s. Anm. 405) das Verbot des Zürnens (5,21–26), den Verzicht auf Vergeltung (5,38–42) und die Feindesliebe (5,45.48), aber auch die Vergebungsbereitschaft in der Gemeinde (6,12.14 f.; 18,21 ff.) und die Barmherzigkeit als das Wichtigste am Gesetz (23,23), damit die Liebe nicht „erkaltet“ (24,12).

6.3 Das Matthäusevangelium

467

Als „Transformation der Tora durch das Evangelium“ hat Roland Deines (S. 645) dieses christologisch neu qualifizierte Verständnis des Gesetzes und der Gerechtigkeit treffend dargestellt. Weil „Gesetz und Propheten“ durch die Sendung Christi erfüllt sind (5,17),510 ist für die Zukunft nur noch von den Geboten Jesu die Rede. Die Tora erscheint nirgendwo mehr als verpflichtende Norm unabhängig von Jesu Lehre und Auslegung.511 Durch diese Bindung an die Person Jesu unterscheidet sich Matthäus von der Betonung der Barmherzigkeit Gottes bei seinem Zeitgenossen Jochanan ben Zakkai, dem jüdischen Führer nach dem Fall Jerusalems.512 Diese theologische Orientierung ermöglichte es der zweiten und weiteren Generationen, sich von den kultischen Geboten des mosaischen Gesetzes zu befreien, die die matthäische Gemeinde noch zu halten schien (z. B. 23,23 das Verzehnten der Minze). Doch gehört die ursprünglich jüdische Frömmigkeitspraxis von Almosen, Gebet und Fasten auch weiterhin zu den religiösen Pflichten der Christen (6,1–18). Einer eigenen Überlegung bedarf noch die Beschneidung. Diese galt für den jüdischen Glauben seit dem Exil als Zeichen des Bundes (Gen 17,10–14.23–27) und wurde am achten Tag nach der Geburt513 durch das Abtrennen der Vorhaut am männlichen Glied vollzogen. Sie stellte als Voraussetzung für die Teilnahme am Passamahl (Ex 12,48 f.) und für die kultische Reinheit (Lev 12,3; vgl. V.1–8) eine wichtige Forderung der Tora dar.514 Bei Matthäus wird die Beschneidung nicht thematisiert, sodass wir nicht wissen, ob sie von seinen Adressaten noch praktiziert wurde.515 Das Schweigen deutet jedoch darauf hin, dass man sie nicht als Problem 510

Nicht nur bei Paulus, sondern auch bei Matthäus hat das Gesetz keine soteriologische Qualität. Ein beträchtlicher Unterschied bleibt in der geschichtlichen Interpretation der Tora. „Dass der Mensch vom Gesetz befreit werden muss, dass das Gesetz geradezu feindlich auftritt und der Mensch ihm nur durch den Tod entkommt, hätte Matthäus vermutlich nicht geschrieben (aber: Hätte Jesus so etwas gesagt?)“ (R. Deines, Gerechtigkeit, 651). Im Unterschied zu Paulus ist das Gesetz nicht „nur noch Zuchtmeister auf Christus hin, Anreizer und Anrechner der Sünde“, sondern für Matthäus „war es (und bleibt es auch in der Rückschau) Gottes gute Gabe und guter Weg für Israel bis zum Anbruch der Königsherrschaft Gottes“ (652). Anders als bei Paulus führt der Weg zu Jesus jedoch „nicht gegen das Gesetz, sondern über die ‚Tora‘ als Gesamtheit des Willens Gottes“ (653). 511 R. Deines, Gerechtigkeit, 402 f.447 f.645–651, der hier eine Nähe zum „Gesetz Christi“ in Gal 6,2 feststellt. 512 U. Luz, EKK 2I/1, 98 f. 513 Vgl. Gen 17,10–12 (Abraham); Lev 12,3 (Beschneidungsgebot); Lk 1,59 (Johannes der Täufer); 2,21 (Jesus); Phil 3,5 (Paulus). 514 Vgl. A. Blaschke, Beschneidung (TANZ 28), Tübingen 1998, bes. 318–322.360.487– 490. 515 So zu Recht P. Foster, Community, 257 mit Anm. 14, in seiner Erwiderung gegen D. C. Sim, The Gospel of Matthew and Christian Judaism, Edinburgh 1999, 299, der Toragehorsam mit Beschneidung (!), Zehnt, Reinheit und Sabbatobservanz annimmt: „The Matthaean community was therefore Jewish.“

468

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

empfand. D.h. offensichtlich wurde sie weder mit Nachdruck eingefordert, wie es bei den Makkabäern (167 v. Chr.) und im Bar-Kokhba-Aufstand (132–135 n. Chr.) als Bekenntniszeichen oder in Qumran metaphorisch als Sinnbild rechter Frömmigkeit geschah, noch wurde sie vehement bekämpft, wie es im Galaterbrief der Fall ist.516 In der Heidenmission hat Matthäus die Beschneidung jedenfalls nicht mehr verlangt,517 da nun die Taufe (§ 5.6.2.2e) als Initiationsritus bereits eine äquivalente Funktion ausübt (28,19; vgl. Kol 2,11 f.).518 c) Die Bergpredigt: Sie ist grundlegend für das Programm einer Jüngerethik in der Nachfolge Jesu (s. Anm. 412 ff.). In ihr werden ältere Traditionen stärker ethisch akzentuiert. An älteren Überlieferungen hat Matthäus in der Bergpredigt meist die Logienquelle – im Aufbau weitgehend parallel zur Feldrede Lk 6,20–49 – verwendet. Bei drei Antithesen (5,21 f.27 f.33–37), nämlich der ersten, zweiten und vierten vom Töten, Ehebrechen und Schwören (s. Anm. 402 ff.), übernahm er wahrscheinlich bereits eine schriftliche Vorlage. Dasselbe gilt für die drei Fröm migkeitsregeln zum Almosengeben, Beten und Fasten (6,1–18). Hier fügt der Evangelist nur in 6,9–13 das Vaterunser (§ 6.3.4.3b) aus der Logienquelle (Lk 11,2–4 Q) ein, das auch die Bitte um die Erfüllung des göttlichen Willens in einem entsprechenden ethischen Handeln einschließt. Ansonsten scheint Matthäus die Bergpredigt als Ganzes selbst gestaltet zu haben.519

In der Fassung der lukanischen Feldrede waren die Seligpreisungen noch in einer direkten Anrede (2. Pers.) als pure Zusage an die Armen formuliert („Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert ... die ihr jetzt weint“; Lk 6,20b. ff.). Matthäus dagegen verallgemeinert die Seligpreisungen (3. Pers.) zu einer Verheißung für diejenigen, die sich schon für Christus entschieden haben und dadurch auch innerlich qualifiziert sind: „Selig sind, die im Geist arm (demütig) sind ... die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten ... die Barmherzigen ...“ (Mt 5,5 ff.). So verbindet Matthäus die Zusage des Himmelreichs (5,3.10) in seiner Umarbeitung mit einer doppelten Tendenz: Einerseits betreibt er die Verinnerlichung, 516

Für Paulus gehört die Beschneidung zu den Vorzügen seiner jüdischen Herkunft (Phil 3,5), aber er protestiert gegen sie als heilsnotwendige Forderung für Heidenchristen (Gal 6,12 f.15; vgl. 2,3; 5,2 f.6; § 5.11.3a). 517 Nach A. Blaschke, Beschneidung (s. Anm. 514), 466 f., dürfte Matthäus die Beschneidung der Judenchristen vertreten (vgl. 5,17–20), von Heidenchristen aber allein die Taufe gefordert haben (28,19). 518 Vgl. analog zu Apg 10,1–11,18 (§ 6.4.5.2b) F. Avemarie, Tauferzählungen (Lit. § 6.4), 351.396.448. 519 Vgl. G. Strecker, Bergpredigt, 181 ff. Nach H.-D. Betz bearbeitete Matthäus in der Bergpredigt noch eine judenchristliche Quelle: Eine judenchristliche Kult-Didache in Matthäus 6,1–18, in: ders., Synoptische Studien, Tübingen 1992, 127–139; zur Kritik an dieser These vgl. R. Deines, Gerechtigkeit, 32–39.449.

6.3 Das Matthäusevangelium

469

Habitualisierung und Spiritualisierung des äußeren Zustands zu einer inneren Haltung „im Geist“, andererseits verstärkt er die Paränetisierung zu einer verallgemeinernden ethischen Ermahnung, die zu einem gottentsprechenden Verhalten in Gerechtigkeit (s. Anm. 416.493 ff.), Sanftmut, Barmherzigkeit (s. Anm. 500 ff.547) und Frieden auffordert. Gleichzeitig finden wir im Aufbau der Seligpreisungen symmetrische Züge, die für das Verständnis aufschlussreich sind: Die Makarismen (Seligpreisungen) sind in zwei Gruppen zu je vier Gliedern gestaltet (5,3–6 und 5,7–10) mit einer weiteren Seligpreisung in der zweiten Person am Ende (5,11 f.). Die erste und die letzte der acht Seligpreisungen bekräftigen die Zugehörigkeit zum Himmelreich (5,3.10), während der Abschluss der beiden Vierer-Gruppen jeweils die Gerechtigkeit mit einem Achtergewicht versieht (5,6.10). Auf diese Weise ist das Verständnis der Gerechtigkeit von vornherein mit der göttlichen Königsherrschaft verflochten. Diese eschatologische Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit des barmherzigen Gottes (20,15),520 die mit Jesus in diese Welt einbricht. Wie diese Gerechtigkeit sich im ethischen Verhalten konkret auswirkt, wird vor allem in den sechs Antithesen entfaltet, die wir bereits besprochen haben (s. Anm. 402 ff. sowie § 6.3.4.2b). 6.3.4.3 Die Ekklesiologie (einschließlich Vaterunser) a) Das Kirchenverständnis: Das Bild der Kirche steht bei Matthäus in enger Verbindung zum Leben der Gemeinden.521 Als einziger unter den Evangelisten verwendet er den Terminus „ekklēsía“, und zwar sowohl umfassend für die „Gesamtkirche“ im Sinn einer endzeitlichen Glaubensgemeinschaft im Felsenwort an Petrus (16,18) als auch konkret für die örtliche „Gemeindeversammlung“ in der Gemeinderede (18,17). Er bejaht die ekklesialen Institutionen und liturgischen Traditionen, die er in den Gemeinden vorfindet,522 stellt sie jedoch in einen neuen Deutungsrahmen. Matthäus versteht die Kirche als das neue Israel, dem das Reich Gottes gehört und das Früchte bringt (21,43; s. Anm. 449 f.). Als das messianische Volk trägt die Kirche

520

Vgl. M. J. Fiedler, „Gerechtigkeit“ im Matthäus-Evangelium (ThV VIII), Berlin 1977, 63–75, bes. 71–73. Nach R. Deines, Gerechtigkeit, 137–181, ist die Gerechtigkeit hier nicht wie vielfach angenommen ausschließlich ein aktives menschliches Verhalten, sondern zunächst als Gabe oder eschatologisches Erfüllungsgeschehen im Sinn einer erfüllten Gerechtigkeit zu verstehen, die die Beauftragung der Jünger einschließt und eine missionarische Jüngerethik zum Ziel hat, um andere Menschen für das Reich Gottes zu gewinnen (vgl. 443–446). 521 Vgl. E. Schweizer, Matthäus und seine Gemeinde; A. J. Saldarini, Matthew’s Christian-Jewish Com munity; S. H. Brooks, Matthew’s Community (JSNTSS 16), Sheffield 1987; J. Roloff, Kirche (Lit. § 6.2.8), 144–168. 522 S. Anm. 433 ff. (Abendmahl); Anm. 447 (Gottesdienst); Anm. 491 (Kyriosbekenntnis); Anm. 518 (Taufe).

470

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

die Lehre des Messias Jesus weiter (§ 6.3.3.2). Es handelt sich um eine geschwisterliche Gemeinschaft (23,8): „Ihr seid alle Brüder.“ Ihre Mitglieder sind getauft (28,19; § 5.6.2.2e), bekennen Jesus als Sohn des lebendigen Gottes (16,16; vgl. 14,33) und sind verpflichtet, seine Gebote zu halten (28,20a). Dafür verspricht er seine bleibende Gegenwart (28,20b; s. Anm. 445 ff.). Das österliche Bekenntnis zur Auferstehung Jesu wird im Missionsbefehl nicht wiederholt, bleibt aber dessen Voraussetzung, weil hier der Auferstandene redet. Analoges gilt für die Ausführungen zum Endgericht in Mt 25 (s. Anm. 504 ff.). Die Gläubigen sind eine offene Gruppe und bedeuten für ihre Umgebung – ganz auf der Linie des Missionsbefehls – so viel wie das Salz in einer Mahlzeit (5,13) bzw. das Licht für die Welt (5,14; s. Anm. 416). b) Das Vaterunser: Was zum Profil der matthäischen Kirche gehört, zeigt auch ein Vergleich zwischen den liturgisch relevanten Texten in QLk und QMt. Beim Vaterunser523 verhält es sich im Blick auf die Unterschiede zwischen lukanischer Kurzform (Lk 11,2–4) und matthäischer Langfassung (Mt 6,9–13) wie auch sonst in der Logienquelle: der Umfang wird von Lukas treuer bewahrt, der Wortlaut eher von Matthäus (vgl. Did 8,2). Das Vaterunser geht auf Jesus zurück. Ursprünglich war es auf Aramäisch formuliert worden. Es besticht durch seine schnörkellose Schlichtheit und Eindringlichkeit. Im Aufbau und der Sache nach bildet es das Zentrum der Bergpredigt (Mt 5 – 7). In beiden Evangelien steht es im Kontext des Gebets (Mt 6,5–15 bzw. Lk 11,1–13), bei Matthäus als Gebetsanweisung Jesu: „So sollt ihr beten“ (Mt 6,9), bei Lukas als Antwort auf die Bitte der Jünger: „Herr, lehre uns beten“ (Lk 11,1). Wir bieten die Übersetzung von Marc Philonenko (s. Anm. 523) und heben die Unterschiede zwischen beiden Fassungen kursiv hervor (s. S. 471). Die Vateranrede bringt die einzigartige Gottesnähe zum Ausdruck, in der Jesus gelebt hat und in die er durch dieses Gebet die Gläubigen einbezieht. In Gethsemane hat er mit der aramäischen Anrede „Abba“ Gott als seinen „Vater“ angefleht (Mk 14,36). Mit denselben Worten rufen die griechischsprechenden Gemeinden: „Abba, lieber Vater“ (Röm 8,15; Gal 4,6; § 5.6.1.2). Immer wieder verweist Matthäus auf die Barmherzigkeit des himmlischen Vaters (Anm. 500). Die Anrede wurde von Matthäus durch den zweifachen Zusatz „unser“ und „in den Himmeln“ zu einer liturgisch voller klingenden Form ausgestaltet. Das Possessivpronomen „unser“ betont die Zugehörigkeit der Glaubenden zu Gott. Der Plural sprengt den Rahmen individualistischer Privatfrömmigkeit (vgl. V.6: „Kämmerlein“). Er schließt die Betenden in der Anrede durch das Gegenüber zum göttlichen Vater im gemeinsamen „Wir“ als Gemeinschaft der Kinder Gottes („familia Dei“) zusammen, was auf die zum Gottes523 Vgl. zum Ganzen M. Philonenko, Das Vaterunser (UTB), Tübingen 2002, dessen These mit der Aufteilung zwischen dem Gebet Jesu (Du-Bitten) und der Unterweisung für die Gemeinde (Wir-Bitten) jedoch nicht überzeugt. Vgl. weitere Literatur bei H. Schwier, Art. Vaterunser, RGG4 6, 893–896.

6.3 Das Matthäusevangelium

471

Lukas 11,2–4

Matthäus 6,9–13

Anrede

Vater!

Du-Bitten

Dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! ---

1. 2. 3.

Wir-Bitten

Gib uns jeden Tag unser Brot für morgen! Erlasse uns unsere Sünden, denn wir selbst erlassen jedem, der in unserer Schuld steht! Und lass uns nicht in die Prüfung geraten! ---

4.

Unser Vater, der du in den Himmeln bist! Dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe! Wie im Himmel, so auch auf der Erde. Gib uns heute unser Brot für morgen! Erlasse uns unsere Schulden, wie wir selbst unseren Schuldnern erlassen haben! Und lass uns nicht in die Prüfung geraten, sondern erlöse uns von dem Bösen!

5.

6. 7.

kursiv: Unterschiede dienst versammelte Gemeinde als Sitz im Leben hindeutet (18,20). Die Vateranrede vermittelt eine besondere Gottesnähe, doch betont die Erwähnung der „Himmel“ (Plural) zugleich die Transzendenz und Souveränität, Überlegenheit und Unverfügbarkeit Gottes (wie engl. „heaven“ für das Jenseits im Unterschied zu „sky“ für den physikalisch sichtbaren Himmel). Nach der Anrede folgen zwei Strophen mit drei parallel gebauten Sätzen. Den ersten Block bilden die drei gottbezogenen Du-Bitten („dein“), die den Menschen zu Gott öffnen. In der ersten Bitte geht es um die Heiligung des göttlichen Namens. Dieser dient als Ersatzbezeichnung für das Tetragramm JHWH, das für jüdische Zeitgenossen auszusprechen tabu war. Inhaltlich umfasst die Bitte drei Aspekte: Erstens appelliert sie an Gott, er solle seine Heiligkeit unter den Völkern bekannt und sichtbar machen.524 Zweitens impliziert sie eine Selbstaufforderung an die betenden Menschen zum Gotteslob.525 Der Lobpreis des göttlichen Namens ist das positive Gegenstück zu dessen Missbrauch, den der Dekalog untersagt (Ex 20,7; Dtn 5,11). Gepriesen wird dieser Name, wo zwei oder drei im Namen Jesu versammelt sind (Mt 18,20).526 524

Lev 10,3; Ez 36,22 f.; 38,23. Vgl. in Mt 6,13 v.l. die aus Did 8,2 (nach dem Vorbild von 1Chr 29,11–13) sekundär ergänzte Schlussdoxologie sowie die Hymnen Phil 2,6–11 (§ 5.14.5); Kol 15–20 (vgl. 3,16); 1Tim 3,16; Hebr 1,1–4 (§ 5.6.2.4); 1Petr 2,21–25; Lk 1,46–55.68–79; 2,14.29–32 (§ 6.4.1c; 6.4.5.3f); Joh 1,1–18 (§ 7.1.5.1a); Apk 5, 9 ff. usw. (§ 7.2.6). 526 Vgl. die „Qedushat ha-Shem“ (Heiligung des Namens) in der dritten Benediktion im 525

472

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Drittens schließt diese Bitte den Gedanken der „Heiligung“ ein, d. h. einer Lebensführung, die in ethischer Hinsicht der göttlichen Heiligkeit entspricht.527 In den letzten beiden Aspekten erstreckt sich die Bitte an Gott zugleich auf das Handeln der Menschen. Die zweite Bitte fleht das eschatologische Kommen des Reiches Gottes herbei, d. h. den endgültigen Anbruch seiner „Königsherrschaft“ (basileía). Durch das Possessivpronomen „dein“ wird das Reich Gottes mit der Vateranrede verbunden. Die „Basileia“ ist nicht einfach das Reich Gottes als eines Königs, sondern genaugenommen das Reich des himmlischen Vaters (s. Anm. 500). Das Reich Gottes ist im Himmel bereits ewige Gegenwart, wird auf Erden aber schon jetzt sichtbar (Mt 3,15; 12,28) in der Verkündigung Jesu (4,17) mit seinen Reden (§ 6.3.3.2), seinen Gleichnissen (Kap. 13; Exkurs 7) und Wundern (Kap. 8 f.; Exkurs 6).528 Die dritte Bitte wird nur bei Matthäus (oder in der ihm vorliegenden Tradition) erwähnt. Sie verlangt die Erfüllung des göttlichen Heilswillens im Blick auf die ganze Welt, zu deren Wohl und Heil: Wie es sich bei Gott und den Engeln im Himmel verhält, so soll es auch auf der Erde unter den Menschen Realität werden. Der Wille Gottes soll nach Matthäus nicht nur in der Sorge um die Kleinen (18,14) und im Gebet Jesu in Gethsemane als der göttliche Heilswille anerkannt werden (26,42; § 6.2.7.5). Er soll auch ethisch im Tun der Gebote befolgt werden,529 die nach den Worten Jesu im Liebesgebot gebündelt sind.530 Dieser Wille Gottes besteht fort, bis die Macht Christi am Ende der Welt nicht nur im Himmel, sondern auch „auf Erden“ vollkommen sein wird (28,18.20). Sodann folgt die zweite Strophe mit den drei Wir-Bitten („uns“, „unser“). Durch das pluralische „Wir“ wird der Beter nicht als isoliertes Ich gesehen, sondern stets in den Zusammenhang seiner sozialen Bezüge und religiösen Gemeinschaft, d. h. der Gemeinde (s. Anm. 521 f.), gestellt. Die Wir-Bitten beziehen sich auf die wichtigsten

„Shemone Esre“ (Achtzehnbittengebet): „Heilig bist du und furchtbar dein Name, und kein Gott ist außer dir. Gepriesen seist du JHWH, heiliger Gott“ (Übers. nach P. Billerbeck, Kommentar [Lit. § 12e], 211). 527 Vgl. Lev 11,44 f.; 19,2; 20,7.26 sowie 1Petr 1,15 f., aber auch Röm 6,19–22; 1Thess 4,3 f f. Zur Ethik bei Matthäus vgl. § 6.3.4.2. 528 Die ersten beiden Bitten wirken wie eine Zusammenfassung des jüdischen „Qaddišh“, des (Heilig-)Gebets, am Ende des Synagogengottesdiensts: „Groß gemacht werde und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er geschaffen hat nach seinem Willen. Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft in euren Lebzeiten und in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel in Eile und in naher Zeit. Und sprechet: Amen. Es sei sein großer Name gepriesen für die Ewigkeit und für die Ewigkeiten der Ewigkeiten“ (Üs. M. Philonenko, 25). 529 Mt 7,21; 12,50 (s. Anm. 400 ff.414). 530 Mt 5,17–19; 7,12; 22,37–40 (s. Anm. 509).

6.3 Das Matthäusevangelium

473

Grunderfordernisse für das Auskommen. Es geht um die Sorgen des täglichen Lebens, denen Gottes tägliche Fürsorge gilt (vgl. 6,19 ff.: Vom Sorgen). Die vierte Bitte hat das Brot zum Gegenstand (vgl. 6,25 f.31–34), das für den größten Teil der Bevölkerung damals noch weitaus mehr als bei uns heute das mit Abstand wichtigste Grundnahrungsmittel war. Die Brotbitte ist wegen der Wortbedeutung des Adjektivs „epoúsios“ rätselhaft, hieß ursprünglich aber vermutlich: „Gib uns heute unser Brot für morgen!“531 Im Hintergrund steht die Situation des Tagelöhners, der noch nicht weiß, wovon er am folgenden Tag leben soll. Es geht ums Überleben, nicht um Reichtümer.532 Die fünfte Bitte bezieht sich auf die Vergebung der „Schulden“, d. h. im religiösen Sinn der Verfehlungen und Sünden.533 Das Verzeihen ist eine Notwendigkeit für jede religiöse und soziale Gemeinschaft, erhält im Kontext des Matthäusevangeliums aber einen besonderen Stellenwert. Die Vergebung wird von Matthäus durch eine Perfektform als vorher zu erfüllende Bedingung eingeführt („wie auch wir vergeben haben unseren Schuldnern“)534 und in der an das Gebet anschließenden Begründung („denn“) noch einmal eigens hervorgehoben (6,14 f.). In der Gemeinderede, die auf den Sitz der Vergebungsthematik im Zusammenleben der Gläubigen hinweist, wird das Erlassen der Schulden mit dem Schalksknechtsgleichnis (MtS 18,21–35) als zentrales Anliegen wiederaufgenommen und bei der Deutung des Abendmahls durch den redaktionellen Zusatz „zur Vergebung der Sünden“ bekräftigt (26,28; s. Anm. 435). Diese mehrfache Wiederaufnahme zeigt, dass die Vergebungsbitte bei Matthäus für das Miteinander der Gemeindeglieder von großer Bedeutung ist (s. Anm. 488). Bei der gängigen Übersetzung der sechsten Bitte „und führe uns nicht in Versuchung“ ist weder das Wort „Versuchung“ noch das Verbum „führen“ eine angemessene Wiedergabe des Griechischen. Die Bitte besagt nicht, dass Gott in Versuchung führt – Jak 1,13 betont: „Gott selbst stellt niemanden auf die Probe.“ Die Bitte meint vielmehr: Mach, dass wir nicht auf die Probe gestellt werden; lass nicht zu, dass wir in die Prüfung geraten.535 Daher formuliert diese Bitte den Wunsch, in Schwierigkeiten wie Not, Krankheit, Anfeindung oder Verfolgung (s. Anm. 417) den Glauben an Gott bzw. die Hoffnung auf sein Reich nicht preiszugeben. 531

Lukas (11,3) verallgemeinert: „täglich“ (§ 6.4.5.2b Ende). Zum Brot als Grundnahrungsmittel vgl. K. Berger, Manna, Mehl und Sauerteig. Korn und Brot im Alltag der frühen Christen, Stuttgart 1993. 533 Matthäus (6,12) verwendet hier den finanztechnischen Ausdruck „opheílēma“ (Schuld), in der Wiederaufnahme (6,14 f.) dagegen den Terminus „paráptōma“ (Fehltritt, Vergehen, Sünde), Lukas (11,4) stattdessen das umfassende neutestamentliche Wort „hamartía“ (Verfehlung, Sünde). 534 Bei Lukas vgl. Jesus und die Sünderin (7,36–50) sowie Pharisäer und Zöllner (18,9–14; § 6.4.5.3d). 535 Vgl. 1Kor 10,13 und die Versuchung bei Abraham (Gen 22,1) oder Hiob (1,6–12; 2,1– 6), aber auch Apk 3,10. 532

474

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Es folgt – wiederum nur bei Matthäus anzutreffen536 – noch die Bitte um die Erlösung vom Bösen. Dieses Wort kann im Griechischen (wie im Deutschen) entweder als Maskulinum („der Böse“)537 oder als Neutrum („das Böse“)538 aufgefasst werden. Deshalb lässt sich die Bitte um die Bewahrung vor der Macht des Bösen nicht auf den Teufel eingrenzen, sondern umfasst potenziell jede Art von schlechten Erfahrungen, Übel und Leid.539 Alles in allem will Jesus im Matthäusevangelium mit dem Vaterunser die Gläubigen darin bestärken, dass die Barmherzigkeit des himmlischen Vaters (s. Anm. 500) die alltägliche Existenz bestimmt, für das Lebensnotwendige sorgt und zur Bewährung im ethischen Verhalten anleitet. Durch seine zentrale Stellung – wohl kaum zufällig genau in der Mitte der Rede – erweist sich das Vaterunser mit vielfältigen Motivverbindungen als Herzstück der Bergpredigt: Vater (s. Anm. 500), Reich (5,3.10.19 f.; 6,33; 7,21), Wille (7,21), Vergebung (6,14 f.; vgl. 5,23–25). Die letzten Begriffe zeigen, dass das Vaterunser auch eine ethische Relevanz hat. Das Gebet wird aber nicht moralisch für die Paränese instrumentalisiert. Vielmehr verschmelzen Beten und Handeln in der Weise zu einer Einheit, dass der Vater im Himmel die treibende Kraft bleibt, die das menschliche Leben bis in sein ethisches Verhalten hinein bestimmt. Mit den einzelnen Bitten rufen die Betenden Gott um die Vollendung seines Heils auf Erden an. Dazu gehört auch die Erfüllung des Liebesgebots, dessen Verwirklichung ein wichtiger Aspekt des göttlichen Willens ist (s. Anm. 529 f.). Im Vaterunser zeigt sich – wie bei der triadischen540 Taufformel (28,19; s. Anm. 518) und dem Abendmahl (s. Anm. 433 ff.) – ein starkes Interesse des Matthäus an der liturgischen Praxis der Gemeinde, das die Didache, die erste christliche Gemeindeordnung (Ende 1. Jh.), wenig später weiterführen wird (vgl. Did 7–10): Did 8,2 ergänzt die Schlussdoxologie, die bei Matthäus in den meisten Handschriften fehlt (§ 4.3.3), aber der jüdischen Gebetspraxis entsprach (vgl. als Vorbild 2Chr 29,11–13) und deshalb nicht schriftlich festgehalten zu werden brauchte (vgl. 2Tim 4,18). Did 8,3 appelliert an die Praxis: „Dreimal am Tag betet so.“ c) Die Bedeutung des Petrus: Im Streit mit der Synagoge und bei der Hinwendung zur Mission ist für die matthäische Kirche Petrus (§ 6.2.8e) die wichtigste Apostelgestalt. Matthäus übernimmt das markinische Bild von Petrus und verleiht ihm noch größeres Gewicht. Dass das Markusevangelium in die matthäischen Gemeinden vor536

In Luthers Katechismus wird dieser Abschluss als siebte Bitte gezählt. So in der Deutung des Gleichnisses vom Sämann Mt 13,19. 538 So in der Anspielung auf die Vaterunserbitte in 2Tim 4,18; Did 10,5. 539 Vgl. auch Joh 17,15; 2Thess 3,3. 540 Zu dem bereits von Paulus geläufigen trinitarischen Gefälle vgl. 1Kor 12,4–6 (§ 5.12.1); 2Kor 13,13 (§ 5.13.1); (Phil 2,1); Gal 4,4–6 (§ 5.11.1); Eph 4,4–6. 537

6.3 Das Matthäusevangelium

475

gedrungen war, stellt bereits einen Einbruch dieses für Heidenchristen bestimmten Werks in die judenchristlichen Ordnungen und Traditionen dar. Das Markusevangelium gründet ganz im Osterbekenntnis, das durch die Pistisformel eng mit der Person des Petrus verbunden ist (1Kor 15,3b–5; § 5.6.2.1). Daran konnte Matthäus anknüpfen, auch in seiner Darstellung des Petrus. Das Versagen des Petrus und der Jünger (§ 6.2.8e)541 verschweigt Matthäus nicht. Doch stilisiert er dessen Bekenntnis zum Messias (Christus) schon als ein vorbildliches Osterbekenntnis zum „Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16,16b). Dadurch wird Petrus zum Grundstein der Kirche (vgl. das Wortspiel Pétros – pétra = Fels): „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“ (Mt 16,18). Protestanten dürfen diese fundamentale Aussage nicht abmildern, indem sie die durch den Petrusnamen vorgegebene Verbindung zwischen der Person dieses Jüngers und dem Motiv des Felsen auflösen. Katholiken müssen dagegen anerkennen, dass das Felsenwort kein besonderes Petrusamt begründet, sondern die Einmaligkeit der Autorität des Petrus hervorhebt, die die Bedeutung aller anderen Apostel bei weitem überragt.542 Außerdem schreibt Matthäus die Binde- und Löse-Vollmacht neben Petrus auch der christlichen Gemeinde zu (vgl. 16,19 mit 18,18). Über diese grundlegende Autorität hinaus ist Petrus im Matthäusevangelium zugleich der Prototyp eines christlichen Lehrers, der durch sein Bekenntnis zu Christus als dem Sohn Gottes zu einem einzigartigen Beispiel eines Jüngers wird (vgl. 16,16 mit 14,33). Durch seine Auslegung der Worte Jesu schließt er den Zugang zum Himmelreich auf (16,19) – im Gegensatz zu den pharisäischen Schriftgelehrten, die es vor den Menschen verschließen (23,13). Die Funktion des Petrus ist bei Matthäus noch nicht zu einem örtlichen oder gesamtkirchlichen Amt institutionalisiert und lässt auch keine Ansätze einer Nachfolgeregelung erkennen.543

541

Das Bild der Jünger, die versagen und dennoch eine so große Aufgabe anvertraut bekommen, hängt mit der matthäischen Auffassung der Vergebung Gottes und mit seinem nichtelitä ren Verständnis der Kirche zusammen. Das Bild des Jüngers ist transparent, der Leser soll in ihm sich selbst erkennen. Vgl. U. Luz, Die Jünger im Matthäusevangelium (1971), in: J. Lange (Hg.), Das Matthäus-Evangelium, 377–413, bes. 390; R. A. Edwards, Matthew’s Narrative Portrait of Disciples, Harrisburg, PA 1997, bes. 142. 542 Da „die apostolischen Zeugen (sc. Petrus, Paulus und Johannes) selbst einzigartig und in ihrer Autorität nicht ersetzbar oder fortsetzbar (sind)“, folgert M. Hengel, Der unterschätzte Petrus, Tübingen 2006, 162: „Es gibt daher auch kein ‚Petrusamt‘, das sich in der Geschichte weiterentwickelt und immer neue, wachsende autoritative Ansprüche erheben kann. Gerade die verschiedenen Petrustexte, die wie Mt 16,18 f., Lk 22,31 f. oder Joh 21,15–18 den Besucher der Petruskirche beeindrucken, weisen in Wirklichkeit auf den besonderen, einmaligen ‚apostolischen Dienst‘ zurück, den der ‚Felsenmann‘ der werdenden Kirche geleistet hat.“ 543 Vgl. Anm. 542. Diese Einschränkung bedeutet nicht die Ablehnung der einen oder anderen Auffassung von der Führung der Kirche, sondern verlangt nur, dass ihre Begründung mit der Schrift behutsamer umgehen muss. Zum Problem vgl. P. Hoffmann, Der Petrus-Pri-

476

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Beim Seewandel ist der sinkende Petrus (MtS 14,28–31) ein repräsentatives Beispiel, dass Jesus zwar nicht vor den Stürmen des Lebens bewahrt, der Glaubende im Meer der Bedrohung und des Zweifels aber durch das Vertrauen auf die universale Macht Jesu (28,18) und durch das von den Psalmen inspirierte Gebet Hilfe erfährt: Jesus streckt die Hand aus und holt ihn „ins Boot“ (14,31 f.). Durch die anschließende Proskynese der Jünger, die sich im „Schiff der Gemeinde“ noch viel besser vorstellen lässt als in einem Boot auf dem eben noch stürmischen See, wird die ganze Szene mit dem Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes für die Situation der Gläubigen transparent.544 d) Die Zusammensetzung der Gemeinde: In der Gemeinde gab es offensichtlich Spannungen zwischen einer radikaleren Gruppe, die – im Anschluss an die Wandercharismatiker der Logienquelle (§ 6.1.5.3e) – die Nachfolge konsequenter praktizierten (10,5–15.41 f.), und anderen Gemeindegliedern, die eine laxere, weniger rigorose Haltung vertraten (§ 6.2.8a). Darum warnt Jesus in der matthäischen Gemeinderede vor dem Größer-sein-Wollen im Himmelreich (18,1–5). Dafür betont er die Gemeinschaft, in der die Stärkeren auf die Kleinen, Niedrigen, Verachteten Rücksicht nehmen sollen, denen die göttliche Barm herzigkeit in besonderer Weise gilt und die im Blick auf das endgültige Heil nicht verloren gehen dürfen (18,6.10–14).545 Das intensive Ringen um die Kleinen soll den Umgang in der Gemeinde ebenso bestimmen wie die Bereitschaft zur Vergebung (18,1–35). Matthäus war bestrebt, das Erbe der Wanderpropheten zu bewahren, deren Auftreten sich zur Abfassungszeit bereits dem Ende zuzuneigen schien (vgl. Did 11,8–12). Da Matthäus bei ihnen eine Mischung aus Konservativismus (Gesetzesfrömmigkeit) und einer durch den Geist inspirierten Leidensbereitschaft (Mt 10,20 Q) beobachtete,546 versuchte er ihre Tendenz zu einem elitären Selbstbewusstsein als die Treuesten in der Nachfolge zu verändern. Deshalb stellt er die christliche Gemeinde als eine Gemeinschaft von scheiternden und doch vom Herrn beauftragten Jüngern dar. Obwohl die Jünger in der Aussendungsrede die Befähigung zum Heilen erhalten (10,1), erstreckt sich ihre Beauftragung am Ende nicht mehr auf die Wundertätigkeit, sondern beschränkt sich – vielleicht auch als kritische Korrektur zum Einfluss charismatischer Wanderpropheten – auf das Lehren und Tun dessen, was Jesus gesagt hat (28,19 f.). Das Ergebnis war das Bild einer Kirche, die später „corpus permixtum“ genannt wurde. Neben den bekennenden Christen gehören zur Gemeinde – an Petrus exemp-

mat im Matthäusevangelium (1974), in: J. Lange (Hg.), Das Matthäus-Evangelium, 415–440; U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik (Lit. § 7.1), 166–169. 544 Vgl. U. Luz, EKK I/2, 410 f. 545 Vgl. bes. den Kommentar von U. Luz, EKK I/3, z.St. 546 Vgl. D. Hare, The Theme of Jewish Prosecution of Christians in the Gospel according to St. Matthew (SNTSMS 6), Cambridge 1967, 96 ff.

6.3 Das Matthäusevangelium

477

larisch dargestellt (s. Anm. 544) – auch zweifelnde Menschen (14,31; vgl. 28,17), die wegen ihres nachlassenden Glaubens eine besondere Aufmerksamkeit verlangen (vgl. Anm. 487). Die Kirche darf nicht durch eigenmächtige Kirchenzucht Säuberungen durchführen, die die Frucht mehr beschädigen könnten als der Unglaube: Dieses Anliegen kommt im Gleichnis vom Unkraut und Weizen zum Ausdruck (MtS 13,24–30; vgl. V.36–43). Es passt zur Erwartung Jesu als Weltenrichter, der die Trennung erst am Ende der Zeiten vornehmen wird.547 Das entscheidende Kriterium bildet die Liebe, die den Geringsten erwiesen wird (25,40.45). So dient das Gleichnis vom Weltgericht (MtS) als Appell an die Liebe ebenso den Leidenden zum Trost wie den Überheblichen als Mahnung zur Barmherzigkeit. Analog erzählt Matthäus das Gleichnis vom großen Mahl als Geschichte einer königlichen Hochzeit, bei der Böse und Gute um den Tisch versammelt sind (22,1–14 Q?). Dort fügt er noch eine zweite Pointe hinzu, indem diejenigen Gäste, die kein hochzeitliches Gewand haben, die also nicht wissen, was die Einladung bedeutet, vom König zum Tod verurteilt werden. Die endgültige Entscheidung wird bei Matthäus dem Endgericht überlassen. Sogar bei der Erscheinung des Auferstandenen und während seiner Anbetung zweifeln einige Jünger (28,17). Doch erhalten sie alle den Missionsauftrag. Matthäus verlässt sich auf die Kraft des Wortes Jesu bzw. des Zeugnisses von ihm und – im Unterschied zu Paulus – auf die warnende Wirkung des verkündigten Endgerichts. Matthäus schätzt den gesunden Konservativismus seiner judenchristlich geprägten Gemeinde im Blick auf den Toragehorsam, aber er gibt ihm durch die Öffnung für die Heiden eine neue Ausrichtung (s. Anm. 503). Es handelt sich um eine Mission, die vor allem in der Katechese besteht, die der Unterweisung in der Lehre des Messias dient (28,19 f.; § 6.3.3.2). 6.3.5

Verfasser, Zeit und Ort der Entstehung

a) Verfasser: Wie das Markusevangelium wurde das Matthäusevangelium ursprünglich ohne Verfasserangabe aufgeschrieben und benutzt. In beiden Fällen ging man von der Voraussetzung aus, dass Jesus in und durch dieses Buch selbst spricht. Während das Markusevangelium möglicherweise von einem Begleiter des Petrus stammt (§ 6.2.3a), wurde das Matthäusevangelium als anonyme Schrift verfasst. Der Notiz des Papias (Eus. h.e. 3,39,16)548 können wir entnehmen, dass das Buch schon am Anfang des 2. Jh.s mit dem Namen des Matthäus in Verbindung gebracht wurde. Diese traditionelle Behauptung, nach der es sich um den Apostel Matthäus handeln soll, kann kaum verifiziert werden. Eher handelt es sich um einen Versuch, 547

Mt 7,21–23; 13,49 f.; 16,27; 25,31–46. Die altkirchlichen Texte finden sich im Anhang von K. Aland (Hg.), Synopsis (Lit. § 12a), die Papiasfragmente mit Übersetzung bei A. Lindemann / H. Paulsen, Die Apostolischen Väter (Lit. § 12c), 286–303, hier 294 f. 548

478

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

nach dem Tod der Apostel ihr Erbe literarisch weiterleben zu lassen. Und da man dieses Evangelium keinem der bekannten Apostel zuschreiben konnte, weil deren Erbe bekannt war, brachte es die fromme Tradition mit weniger bekannten Schülern Jesu in Verbindung. In Mt 9,9 tritt der aus Mk 2,14 bekannte Zöllner Levi unter dem Namen Matthäus auf und wird dadurch mit dem Jünger Matthäus aus der Zwölferliste in Mt 10,3 identifiziert. Eine solche Annäherung unbekannter Personen an den Kreis Jesu ist für Matthäus bezeichnend. So wird z. B. Salome aus Mk 15,40 in Mt 27,56 zur Mutter der Zebedaiden Jakobus und Johannes. Historisch ist eine Verfasserschaft des Jüngers Matthäus aber eher unwahrscheinlich, da ein Augenzeuge wohl kaum das Markusevangelium so konsequent als schriftliche Vorlage für sein literarisches Zeugnis heranziehen würde. Jedenfalls war der Evangelist in der Schrift gut belesen (§ 6.3.3.3c) und offensichtlich ein Judenchrist, wahrscheinlich sogar ein christlicher Schriftgelehrter.549 b) Datierung: Da das Matthäusevangelium vom Markusevangelium abhängig ist (§ 6.1.4.2), muss es zeitlich nach dem Jüdischen Krieg (66–70 n. Chr.) entstanden sein,550 und zwar in einer Phase, in der die Christen nicht mehr nur an einigen Orten und gelegentlich, sondern offensichtlich planmäßig aus den Synagogen als Häretiker (hebr. mînîm) herausgedrängt wurden (s. Anm. 471 ff.). Der terminus ante quem ist die Zitierung des Matthäusevangeliums im Polykarpbrief,551 der um 110–115 n. Chr. in Smyrna entstanden ist. Die möglichen Anspielungen in 1Clem 24,5 (= Mt 13,3–9) oder 1Petr 3,14 (= Mt 5,10) sind umstritten. Daher ist von einer Entstehung in den 80-er Jahren oder wegen der vorangeschrittenen Neuformierung des pharisäischen Judentums eher um 90 n. Chr. auszugehen. c) Entstehungsort: Auch dieser ist unbekannt. Er muss ein Zentrum griechisch sprechender Juden gewesen sein, von dem aus sich das Matthäusevangelium gut ausbreiten konnte. Da Syrien in Mt 4,24 erwähnt und Jesus als „Nazōraíos“ bezeichnet wird (2,23; 26,71) – ein Ausdruck, der später in Syrien benutzt wurde –, ist Syrien als 549

Vgl. Mt 13,52; 23,34 und dazu M. Hengel, Zur matthäischen Bergpredigt und ihrem jüdischen Hintergrund, ThR 52 (1987), 346 (= ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. KS II, 238): „Der unbekannte Autor des 1. Evangeliums ist – darin Paulus vergleichbar – ein Wanderer zwischen zwei Welten. Er hat vermutlich eine palästinisch-jüdische schriftgelehrte ‚Grundausbildung‘ erhalten und versteht sich selbst, in schroffer Antithese zu den jüdisch-pharisäischen ‚Weisen‘, als christlicher ‚Schriftgelehrter‘, wobei er freilich der palästinisch-jüdischen (und judenchristlichen) Tradition noch nähersteht als sein aus Cilicien stammender ‚Kollege‘ Paulus. Kein Wunder, daß gerade sein Werk einem oder gar mehreren judenchristlichen Evangelien zugrunde gelegt wurde und stark auf das Judenchristentum eingewirkt hat.“ Für einen Heidenchristen hält ihn G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, 35. 550 Vgl. als Anspielungen auf die Zerstörung Jerusalems z. B. auch Mt 23,38 oder 22,7. 551 Pol 2,3 = Mt 7,2; 5,3.10; Pol 7,2 = Mt 6,13; 26,41.

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

479

Entstehungsort zu vermuten. In der Metropole Antiochien ist die Existenz einer griechisch sprechenden judenchristlichen Gemeinde belegt (Apg 11,19–26). Dort ist das Matthäusevangelium bei Ignatius (110–114 n. Chr.) erstmals bezeugt.552 Für Syrien spricht auch die Rezeption des Matthäusevangeliums in der Didache, einer frühchristlichen Gemeindeordnung (Ende 1. Jh.), die vermutlich ebenfalls aus Syrien stammt. Auch die anderen in der neueren Forschung vorgeschlagenen Entstehungsorte (Phönizien, Cäsarea Philippi, Pella) liegen im syrisch-palästinischen Grenzbereich.

6.4

Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

 Kommentare zum Lukasevangelium: Erich Klostermann, HNT 5, 31975; Walter Grundmann, ThHK 3, 91989; Heinz Schürmann, HThK III 1.2/1 (Kap. 1–11), 31984; Eduard Schweizer, NTD 3, 21986; Earl E. Ellis, NCBC, 21974; Josef Ernst, RNT, 1977; Gerhard Schneider, ÖTK 3.1–2, 31984; Ian H. Marshall, NIGTC, 1978 (Neudruck 1998); Walter Schmithals, ZBK 3.1, 1980; Joseph A. Fitzmyer, AncB 28.28A, 1981. 1985; Wolfgang Wiefel, ThHK 3, 1987; Leopold Sabourin, L’Évangile de Luc, Rom 1987; François Bovon, EKK 3,1 ff., 1989 ff.; Craig A. Evans, NIBC 3, Peabody, MA 1990; Durell L. Bock, BECNT, I–II 1994. 1996; Christopher M. Tuckett, NTGuides, 1996; Rainer Dillmann / César Mora Paz, Das Lukasevangelium. Ein Kommentar für die Praxis, Stuttgart 2000; Hans Klein, KEK 1,3, 2006.  Kommentare zur Apostelgeschichte: Frederic J. Foakes-Jackson / Kirsopp Lake (Hg.), The Beginnings of Christianity 1–5, London 1920–1933; Ernst Haenchen, KEK III, 71977; Hans Conzelmann, HNT 7, 21972; Otto Bauernfeind, Kommentar und Studien zur Apostelgeschichte (WUNT 22), Tübingen 1980; Gerhard Schneider, HThK V,1–2, 1980. 1982; Walter Schmithals, ZBK 3.2, 1982; Alfons Weiser, ÖTK 5,1–2, 21989. 1985; Gottfried Schille, ThHk 5, 31990; Rudolf Pesch, EKK V,1–2, 1986; Jürgen Roloff, NTD 5, 21988; Gerd Lüdemann, Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte, Göttingen 1987; Charles K. Barrett, ICC 5,1–2, 1994. 1998; Joseph A. Fitzmyer, AncB 31, 1998; Jacob Jervell, KEK III, 1998; Detlev Dormeyer / Florencio Galindo, Die Apostelgeschichte, Stuttgart 2003.  Monographien und Aufsätze zum Lukasevangelium und zur Apostelgeschichte: Martin Dibelius, Aufsätze zur Apostelgeschichte (FRLANT 609), Göttingen 31957; Philipp Vielhauer, Zum „Paulinismus“ der Apostelgeschichte (1950/51), in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament (TB 31), München 1965, 9–27; Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas (BHTh 17), Tübingen 71993; Eduard Lohse, Lukas als Theologe der Heilsgeschichte (1954), in: Georg Braumann, Das Lukas-Evangelium, Darmstadt 1974, 64–90; Ulrich Wilckens, Die Missionsreden der Apostelgeschichte (WMANT 5), Neukirchen 1961; William C. Robinson Jr., Der Weg des Herrn. Studien zur Geschichte und Eschatologie im LukasEvangelium (ThF 36), Hamburg – Bergstedt 1964; Claus-Peter März, Das Wort Gottes bei Lukas (EThSt 11), Leipzig 1974; Erich Gräßer, Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte (BZNW 22), Berlin 21960; Hans-Joachim Degenhardt, Lukas – Evangelist der Armen, Stuttgart 1965; Helmut Flender, Heil und 552

Vgl. IgnSm 1,1 = Mt 3,15; IgnSm 6,1 = Mt 19,12; IgnPol 2,2 = Mt 10,16.

480

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Geschichte in der Theologie des Lukas (BEvTh 41), München 1965; Traugott Holtz, Untersuchungen über die alttestamentlichen Zitate bei Lukas (TU 104), Berlin 1968; Charles H. Talbert, Die antidoketische Frontstellung der lukanischen Christologie (1968), zuletzt in: Georg Braumann, Das Lukas-Evangelium, Darmstadt 1974, 354–377; Martin Rese, Alttestamentliche Motive in der Christologie des Lukas (StNT 1), Gütersloh 1969; Christoph Burchard, Der dreizehnte Zeuge. Traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas’ Darstellung der Frühzeit des Paulus (FRLANT 103), Göttingen 1970; Ulrich Busse, Die Wunder des Propheten Jesus (FzB 24), Stuttgart 21979; Gerhard Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu. Untersuchungen zu den Himmelfahrts- und Erhöhungstexten bei Lukas (StANT 26), München 1971; Timm Schramm, Der Markus-Stoff bei Lukas (MSSNTS 14), Cambridge 1971; Eckhard Plümacher, Lukas als hellenistischer Schriftsteller (StUNT 9), Göttingen 1972; Jacob Jervell, Luke and the People of God, Minneapolis, MN 1972; Jakob Kremer, Pfingstbericht und Pfingstgeschehen (SBS 63/64), Stuttgart 1973; Frans Neirynck (Hg.), L’Évangile de Luc (Mem. Lucien Cerfaux) (BEThL 32), Leuven 21989; Georg Braumann (Hg.), Das LukasEvangelium (WdF 280), Darmstadt 1974 (Texte zur Forschungsgeschichte); Charles H. Talbert, Literary Pattern. Theological Themes and the Genre of Luke-Acts (SBLMS 20), Missoula, MT 1974; Walter Radl, Paulus und Jesus im lukanischen Doppelwerk (EHS T 23/49), Frankfurt (M.) 1975; Ward Gasque, A History of the Criticism of the Acts of the Apostels (BGE 17), Tübingen 1975 (Forschungsgeschichte); Gerhard Lohfink, Die Sammlung Israels. Eine Untersuchung zur lukanischen Ekklesiologie (StANT 39), München 1975; Raymond E. Brown, The Birth of the Messiah, New York 1977, 21993; François Bovon, Luc, le Théologien, Genf 21988 (Forschungsgeschichte); Martin Hengel, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 21984; Jakob Kremer (Hg.), Les Actes des Apôtres (BEThL 48), Gembloux / Leuven 1979; Jürgen Roloff, Die Paulusdarstellung des Lukas, EvTh 39 (1979), 510–531; Johannes M. Nützel, Jesus als Offenbarer Gottes nach den lukanischen Schriften (FzB 39), Würzburg 1980; Joachim Jeremias, Die Sprache des Lukasevangeliums (KEK Sonderb.), Göttingen 1980; Wolfgang Schrage, Ethik des Neuen Testaments (NTD Erg. 4), Göttingen 21989; Robert Maddox, The Purpose of Luke-Acts (FRLANT 126), Göttingen 1982; David P. Seccombe, Possesions and the Poor in Luke Acts (NTVB 69), Linz 1982; Jens W. Taeger, Der Mensch und sein Heil (StNT 14), Gütersloh 1982; Martin Rese, Das Lukas-Evangelium. Ein Forschungsbericht, ANRW II,25,3, Berlin 1984, 2258–2328; François Bovon, Lukas in neuer Sicht (BThSt 8), Neukirchen 1985; Josef Ernst, Lukas. Ein theologisches Portrait, Düsseldorf 1985; Friedrich W. Horn, Glaube und Handeln in der Theologie des Lukas (GTA 26), Göttingen 1986; Robert C. Tannehill, The Narrative Unity of Luke-Acts I–II, I Philadelphia, PA 1986; II Minneapolis, MN 1990; Philip F. Esler, Community and Gospel in Luke-Acts (SNTSMS 57), Cambridge 1987; Jack T. Sanders, The Jews in Luke-Acts, Philadelphia, PA 1987; Matthias Klinghardt, Das lukanische Verständnis des Gesetzes (WUNT II/32), Tübingen 1988; Colin J. Hemer, The Book of Acts in the Setting of the Hellenistic History (WUNT 49), Tübingen 1989; Gottfried Nebe, Prophetische Züge im Bilde Jesu bei Lukas (BWANT 127), Stuttgart 1989; Claus Bussmann / Walter Radl (Hg.), Der Treue Gottes trauen. Beiträge zum Werk des Lukas (FS Gerhard Schneider), Freiburg 1991, dort besonders Martin Rese, „Die Juden“ im lukanischen Doppelwerk, 61–79; Claus J. Thornton, Der Zeuge des Zeugen. Lukas als Historiker der Paulusreisen (WUNT 56), Tübingen 1991; Jerome A. Neyrey (Hg.), The Social World of LukeActs, Peabody, MA 1991; Heikki Räisänen, The Prodigal Gentile and His Jewish Christian Brother, Lk 14,11–32, in: The Four Gospels (FS Frans Neirynck), Leuven 1992, 1617–1636; Ian H. Marshall, The Acts of the Apostles, Sheffield 1992; Manfred Korn, Die Geschichte

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

481

Jesu in veränderter Zeit. Studien zur bleibenden Bedeutung Jesu im lukanischen Doppelwerk (WUNT II/51), Tübingen 1993; Wolfgang Pöhlmann, Der verlorene Sohn und das Haus: Studien zu Lukas 15,11–32 (WUNT 68), Tübingen 1993; Raymond E. Brown, The Death of the Messiah I–II, London 1994; Helmut Merkel, Israel im lukanischen Werk, NTS 40 (1994), 371–398; Michael Wolter, „Reich Gottes“ bei Lukas, NTS 41 (1995), 541–563; Alexander Prieur, Die Verkündigung der Gottesherrschaft. Exegetische Studien zum lukanischen Verständnis der basileía toū́ theoū́ (WUNT II/89), Tübingen 1996; Walter Radl, Der Ursprung Jesu. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu Luk 1–2 (HBS 7), Freiburg (Br.) 1996; Kim Paffenroth, The Story of Jesus According to L (JSNTSS 147), Sheffield 1997; Petr Pokorný, Theologie der lukanischen Schriften (FRLANT 174), Göttingen 1998; Stanley E. Porter, The Paul of the Acts (WUNT 115), Tübingen 1999; David Lee, Luke’s Stories of Jesus (JSNTSS 185), Sheffield 1999; Erich Gräßer, Forschungen zur Apostelgeschichte (WUNT 137), Tübingen 2001; Friedrich Avemarie, Die Tauferzählungen der Apostelgeschichte (Lit. § 5.6.2.2); Christoph Heil, Lukas und Q (BZNW 111), Berlin / New York 2003; Eckhard Plümacher, Geschichte und Geschichten (WUNT 170), Tübingen 2004; Hans Klein, Lukasstudien (FRLANT 209), Göttingen 2005; Ulrike Mittmann-Richert, Der Sühnetod des Gottesknechts. Jesaja 53 im Lukasevangelium (WUNT), Tübingen 2007.

6.4.1

Das lukanische Doppelwerk, seine Absicht und seine Quellen

a) Die Absicht: Für die Zeit nach dem Fall Jerusalems (70 n. Chr.) und nach der Vertreibung der Christen aus der Synagoge ist es bezeichnend, dass in zwei unabhängigen Gebieten der werdenden Kirche, nämlich dem matthäischen und dem lukanischen Bereich, einerseits die Logienquelle (Q) und das Markusevangelium bekannt waren, andererseits aber gleichzeitig das Bedürfnis bestand, ein umfassendes Dokument vom Leben und der Lehre Jesu Christi zu schaffen. Matthäus und Lukas – so wird traditionell der Verfasser der beiden an Theophilus gerichteten Bücher genannt (Lk 1,1–4; Apg 1,1–3) – reagierten unabhängig voneinander mit ihren literarischen Werken auf dieses Bedürfnis.553 Diese Ausgangssituation spricht für eine rasche Akzeptanz des Markusevangeliums, die nicht nur seine geographische Verbreitung, sondern vor allem seine inhaltliche Anerkennung in verschiedenen Bereichen der Kirche betraf. Die Logienquelle war älter und wurde von Wanderpropheten überliefert, verbreitet, interpretiert und kommentiert (§ 6.1.6.3e). Die Verbindung von Markusevangelium und Logienquelle durch Lukas lässt eine Tendenz zur Integration erkennen, die in jeder lebensfähigen Bewegung auf die explosiven Anfänge folgen muss. In der Kirche wurde das Bedürfnis nach einem umfassenden literarischen Grundtext durch die Schwierigkeiten mit

553 Vgl. zum Ganzen P. Pokorný, Theologie der lukanischen Schriften, aber auch P. Stuhlmacher, Theologie 2 (Lit. § 1), 174–199; F. Hahn, Theologie II (Lit. § 1), 547–583, als neuere Kommentare zum Evangelium F. Bovon, EKK III/1 ff., und J. A. Fitzmyer, AncB 28/28A, zur Apostelgeschichte bes. C. K. Barrett, ICC.

482

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

der mündlichen Überlieferung verstärkt. Ihre gemeinschaftstiftende Funktion konnten mündlich überlieferte Stoffe bei der Kommunikation über große Entfernungen nie so gut ausüben wie in einer Umgebung, die zu Fuß erreichbar war. b) Das lukanische Doppelwerk: Das Osterbekenntnis diente auch Lukas als Grundlage. Lukas übernahm von Markus die Auffassung der Biographie Jesu als einer Geschichte, die zum Osterzeugnis als dem eigentlichen Evangelium tendiert (§ 6.2.6.1). In Apg 1,1 bezeichnet er seinen ersten Band (das Evangelium) als Erzählung von all dem, was Jesus zu tun „begonnen hat“ (ḗrxato). Daraus folgt, dass das eigentliche, die Kirche begründende Geschehen mit Ostern anfängt. Die Integration war also kein literarischer und theologischer Kompromiss: Vielmehr musste die Logienquelle in den Rahmen des Markusevangeliums eingefügt werden.554 Lukas bringt im Prolog seines Werks (Lk 1,1–4) zum Ausdruck, dass er mehrere Vorgänger hatte, die „versucht haben (epecheírēsan), das unter uns Geschehene zu erzählen“ (§ 6.1.2; 6.1.3).555 Wenn man diese Eingangserklärung mit der Verwendung desselben Verbs in Apg 19,13 vergleicht, muss Lukas seine Vorgänger mit kritischen Augen betrachtet haben. Er selbst war bestrebt, alles „wieder neu“ bzw. „von Anfang an“ (ánōthen) zu überprüfen und „der Reihenfolge nach“ (kathexḗs) zu erzählen, damit die Leser, die durch Theophilus repräsentiert werden, den „sicheren Grund“ (aspháleia) der Lehre erfahren, in der sie unterrichtet werden. Dieses Wort vom Erkennen der zuverlässigen Grundlage verrät, dass Lukas die Möglichkeit des Missbrauchs der christlichen Lehre und vielleicht auch der von ihm benutzten Quellen sah. Meist wird in diesem Zusammenhang an den Doketismus (von griech. dokeín = scheinen) gedacht, eine häretisch beurteilte Lehre, nach der Jesus nur scheinbar in Gestalt eines Menschen erschienen sei und den Tod bloß zum Schein erlitten habe, wie es bald danach die Anhänger der Gnosis (§ 7.1.4d) vertraten.556 Für Lukas war eine solche Auseinandersetzung jedoch nur ein Teil seines groß angelegten Programms. Vor allem war er bemüht, der Kirche bei ihrer Suche nach Orientierung in der Weltgeschichte zu helfen. Zu diesem Zweck verband er das Sammeln von Jesusüberlieferungen mit der Absicht der Lehre und Verkündigung,557 die er für die außerjüdische hellenistische Welt, d. h. für heidenchristliche Gemeinden (s. Anm. 781), 554 Diese Art der Integration findet in der Didache, einer christlichen Gemeindeordnung (Ende 1. Jh.), ihre liturgische Parallele: Den Wanderpropheten, die die Worte des Herrn interpretierten und tradierten, wurde ein Platz in der Liturgie zugewiesen (Did 10,7; 11–15). Vgl. U. Heckel, Hirtenamt (Lit. § 7.1), 29–33.150 f. 555 Wörtlich: „eine Erzählung (diḗgēsis) zusammenzustellen.“ 556 Vgl. stellvertretend für alle, die Lukas für antidoketisch halten, Ch. H. Talbert (Die antidoketische Frontstellung). Lukas sah diese Gefahr, doch bestand darin kaum sein Hauptanliegen. 557 Lukas benutzt beide Male den Ausdruck „lógos“ = „Wort“ (so z. B. Lk 1,2; Apg 4,4; 18,11).

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

483

neu formulierte. Schon der Prolog verrät die für Lukas charakteristische Verbindung von theologischem und historischem Interesse: Theologisches Geschichtsverständnis und historische Darstellung, Augenzeugenschaft und Glaubenszeugnis fallen hier in einer Weise zusammen, wie es in der Moderne kaum noch nachvollziehbar ist. Das lukanische Doppelwerk weist viele Gemeinsamkeiten mit der hellenistischen Gattung der Biographie (Lk) und der Geschichtsschreibung (Apg) auf. Dennoch musste es in einer hellenistischen Umgebung auch befremdlich wirken. Denn seine Art der Darstellung war eine völlige Neuerung. Die Verbindung zweier so unterschiedlicher Schriften mit einer einzigen Person, die in beiden Büchern der eigentliche Träger des Geschehens ist und doch in jedem Teil auf eine ganz andere Weise wirkt, war ohne Zweifel etwas prinzipiell Neues. Weil das „unter uns Geschehene“ (Lk 1,1) die Mission ist (§ 6.4.5.2), muss sich der Prolog des Evangeliums auf beide Bücher beziehen.558 Zwischen ihrer Abfassung kann ein gewisser zeitlicher Abstand liegen. Die Absicht, ein solches Werk zu schreiben, hatte Lukas allerdings von Anfang an. Die Unterschiede in der kurzen Periode zwischen Auferstehung und Himmelfahrt, in deren Schilderung sich beide Bücher überschneiden,559 können nicht als Gegenargument benutzt werden. Denn es handelt sich um eine narrative Neuakzentuierung aufgrund der geänderten Erzählperspektive, die in der Geschichtsschreibung nicht ungewöhnlich ist. In den theologisch entscheidenden Aussagen stimmen beide Abschnitte über die Himmelfahrt überein. Da nach Apg 1,1 das Lukasevangelium den Anfang der Worte und Taten Jesu schildert, muss das zweite Buch die Fortsetzung bilden. Sein Inhalt sind nicht einfach „die Taten der Apostel“ (práxeis apostólōn), wie der Titel nahelegt,560 sondern das Wirken des erhöhten Herrn, der im Himmel weilt („oben“) und auf Erden durch seine vom Geist inspirierten Zeugen tätig ist. Diese Fortsetzung ist das Neue, das Markus nicht vorgegeben und auch Matthäus noch nicht gewagt hat. Matthäus erzählt nur das bei Markus Verheißene, nämlich die Begegnung mit dem Auferstandenen (Mk 16,7). Darüber hinaus deutet Matthäus das, was Lukas durch die Ausbreitung des Evangeliums in der Apostelge-

558

Vgl. I. H. Marshall, Acts and the „Former Treatise“, in: B. W. Winter / A. D. Clarke (Hg.), The Book of Acts in Its First Century Setting I, Grand Rapids, MI 1993, 163–182, dort 180; T. Bergholz, Aufbau des lukanischen Doppelwerkes (EHS.T 545), Frankfurt a. M. 1995, bes. 61 ff.; P. Pokorný, Lukas 1,1–4 als Prolog zum lukanischen Doppelwerk, in: Warszawskie studia teologiczne 10 (FS K. Romaniuk), 1997, 271–276. 559 Lk 24,50 ff.; Apg 1,2.9–11; vgl. 13,31. 560 Der Titel ist in den großen Majuskeln gut bezeugt. Er begegnet erstmalig bei Irenäus (um 180 n. Chr.), haer. 3,13,3, wird aber meist für sekundär gehalten, weil der Aposteltitel Paulus als wichtigstem Hauptakteur neben Petrus vorenthalten bleibt (§ 6.2.8e). Da die Einwände gegen die Ursprünglichkeit der Überschrift am Ende des 2. Jh.s aber ebenfalls „schwer verständlich“ sind, rechnet J. Jervell, KEK, 56(–58), damit, „dass der Titel auf Lukas selbst zurückgeht“; vgl. ebenso M. Hengel, Gospels (Lit. § 3), 103 mit Anm. 428.

484

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

schichte entfaltet, nur in einer kurzen Schlussszene mit dem Missionsauftrag an (Mt 28,16–20). Nach dem zweiten Weltkrieg bezeichnete Philipp Vielhauer (1950/51) im Anschluss an Franz Overbeck (1837–1905) den lukanischen Entwurf als eine Verfallserscheinung, weil die Einmaligkeit Jesu durch die Vergeschichtlichung abgeschwächt werde.561 Dieser Vorwurf ist jedoch ein Anachronismus, der die literarische Strategie und Theologie des Lukas am Werk des Paulus misst, der im Verlauf der Apostelgeschichte eine große Bedeutung erhält.562 Lukas war ein selbstständiger Denker, der Teile der paulinischen Theologie kannte und deren Bedeutung frühzeitig einzuschätzen wusste. Seine theologische und literarische Leistung kann nicht nach dem Maß der Übereinstimmung mit der paulinischen Theologie, sondern nur an seiner Bearbeitung der Quellen gemessen werden, die er benutzte (§ 6.4.6b).563 Lukas hatte offensichtlich nicht vor, mehrere Bände einer Kirchengeschichte zu schreiben (§ 6.4.5.1). Seine Intention war es, modellhaft die erste, die apostolische Antwort auf die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu, den neuen „Anfang“, zu schildern, der mit Pfingsten begonnen hat (Apg 11,15). Der Verfasser teilt dem Leser indirekt mit, dass Paulus in Rom (28,14 ff.) den Tod fand (20,25.38). Aber durch den in Bezug auf Paulus offenen Schluss macht er deutlich, dass das Entscheidende die Verkündigung des Reiches Gottes und die mit Jesus verbundene Unterweisung ist (Apg 28,31).564 Jesus, nicht Paulus, ist der Hauptakteur. Die beiden Bücher des Lukas haben nicht nur eine Ähnlichkeit mit der hellenistischen Historiographie. Sie wurden auch zum narrativen Rückgrat für den späteren Kanon des Neuen Testaments, das ein Pendant zum narrativen Rahmen der Schrift (des Alten Testaments) darstellt (§ 3.6).

561

Vgl. Ph. Vielhauer, „Paulinismus“, 25 ff. Dabei war es gerade Lukas, der durch seine Schilderung der Taten des Paulus in der Apostelgeschichte entscheidend zur herausragenden Bedeutung des Corpus Paulinum im christlichen Kanon beitrug. 563 Einen theologiegeschichtlich erhellenden Rückblick auf die Grundfragen und -positionen der Acta-Forschung des 20. Jh.s gibt E. Gräßer, Forschungen zur Apostelgeschichte (WUNT 137), Tübingen 2001, 1–47; vgl. auch die Besprechung des Acta-Kommentars von J. Jervell durch M. Hengel, Der Jude Paulus und sein Volk, ThR 66 (2001), 338–368, der außer der Forschungsgeschichte einen Kurzkommentar zur Apostelgeschichte bietet. 564 Unser Bild der vier Evangelien, die ähnlich konzipiert sind, entstand erst in einer späteren Etappe der Kanonisierung: Das Lukasevangelium wurde in der Reihenfolge der kanonischen Schriften relativ bald von der Apostelgeschichte getrennt (§ 3.6) und das Markusevangelium durch den sekundären Ariston-Schluss (16,9–20; § 6.2.2) den anderen kanonischen Evangelien angepasst. 562

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

485

c) Die Quellen: Für das Lukasevangelium war außer dem Markusevangelium (§ 6.2) und der Logienquelle (§ 6.1.5) auch die lukanische Sonderquelle565 bedeutsam. Nach Kim Paffenroth566 bestand diese aus Gleichnissen Jesu, war also ebenfalls eine Spruchsammlung. Diese Vermutung ist eine plausible Hypothese. Nur wenige Argumente sprechen dafür, dass das lukanische Sondergut ein größeres und durchkomponiertes literarisches Ganzes – der sog. Proto-Lukas – war, wie Burnett H. Streeter567 und in modifizierter Form Friedrich Rehkopf568 sowie mit der Hypothese einer mehrstufigen Entfaltung der synoptischen Evangelien Marie-Émile Boismard und Pierre Benoit annahmen.569 Die Hymnen in Lk 1,46–55 (Magnificat), 1,68–79 (Benedictus) und 2,29–32 (Nunc dimittis), die nach der lateinischen Übersetzung der Anfangsworte benannt sind, werden vielfach auf Traditionen zurückgeführt, die zunächst mit Johannes dem Täufer verbunden waren. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich bei Magnificat und Benedictus um ursprünglich christliche Hymnen handelt, in denen die Geburtsweissagungen aus Jes 7,14; 9,1–6; 11,1–10 direkt auf die Geburt Jesu bezogen wurden.570 In der Apostelgeschichte können wir – außer mit mündlichen Traditionen – mit einer antiochenischen Quelle rechnen, die Adolf von Harnack (1851–1930) erkannte und die Lukas in Apg 2,1–15,35 mehrmals benutzte.571 Die „Wir“-Abschnitte (ab 565 Zum Sondergut gehören: Vorgeschichte (Lk 1 f.), Antrittspredigt in Nazareth (4,16– 30), Fischzug des Petrus (5,1–11), Auferweckung des Jünglings von Nain (7,11–17), Salbung Jesu durch die Sünderin (7,36–50), Frauen im Gefolge (8,1–3), Maria und Martha (10,38–42), Heilung der verkrüppelten Frau (13,10–17) und des Wassersüchtigen am Sabbat (14,1–6) sowie der zehn Aussätzigen (17,11–19), Zachäus (19,1–10). Die Sondergutsgleichnisse handeln vom barmherzigen Samariter (10,29–37), bittenden Freund (11,5–8), reichen Toren (12,16–21), unfruchtbaren Feigenbaum (13,6–9), verlorenen Groschen und verlorenen Sohn (15,8–10.11–32), ungerechten Haushalter (16,1–12), reichen Mann und armen Lazarus (16,19–31), Knechtslohn (17,7–10), Richter und Witwe (18,1–8), Pharisäer und Zöllner (18,9–14). 566 K. Paffenroth, The Story of Jesus according to L, Sheffield 1997, 149 ff. 567 Vgl. B. H. Streeter, The Four Gospels (Lit. § 4.1), 200. 568 Vgl. F. Rehkopf, Die lukanische Sonderquelle (WUNT 5), Tübingen 1959, vgl. J. Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 41967, 91 ff. 569 Vgl. P. Benoit / M. É. Boismard, Synopse de quatre évangiles, en français II: Commentaire par M. É. Boismard avec la collaboration de A. Lamouille et P. Sandevoir, Paris 1972. Was die Vorstufen des Lukasevangeliums betrifft, argumentierten sie mit einer Evangelienharmonie aus dem Spätmittelalter, die die Evangelienhar monie Justins widerspiegeln soll. 570 Vgl. U. Richert-Mittmann, Magnifikat und Benediktus, (WUNT II/90), Tübingen 1996. 571 G. Schille, ThHK, 15 ff. arbeitet mit der Hypothese mehrerer Lokalquellen; C. K. Barrett, ICC, I, 51 f.; II, xxiv, nimmt vier (nicht notwendig literarische) Informationsquellen mit Lokaltraditionen an; J. Jervell, KEK, 62–72, ver mutet „keine durchgehende schriftliche Quelle“, aber „persönliche Aufzeichnungen“ von Lukas als Reisegefährten des Paulus, ansonsten „reiche mündliche Quellen“.

486

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Kap. 16) bei den Paulusreisen572 können aus dem Bericht eines Augenzeugen stammen, aber sie wurden von Lukas in jedem Fall literarisch bearbeitet. Die erste Person wurde auch in der hellenistischen Literatur als dramatisches Stilmittel benutzt (z. B. Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon I,3,1).573 Die 24 Reden umfassen fast ein Drittel der Apostelgeschichte. Sie geben nicht die wirklich gehaltenen Reden wieder, enthalten aber ältere Traditionen und sind in ihrer jetzigen literarischen Komposition von Lukas gestaltet. Wie alle antiken Historiker nutzt Lukas die Reden als Darstellungsmittel, um die Bedeutung des Geschehens klarer herauszuarbeiten.574 6.4.2

Sprache und Komposition

Im Unterschied zum einfachen Stil des Markus (§ 6.2.5) schreibt Lukas in einem literarisch gehobenen hellenistischen Griechisch (Koinḗ).575 Dieses sprachliche Niveau ist besonders in der Apostelgeschichte zu erkennen, in der Lukas weniger schriftliche Quellen zur Verfügung hatte und den Text freier gestalten konnte. Die aus der Tradition übernommenen Perikopen gibt er in seinem eigenen Sprachstil wieder. Nachdem das Markusevangelium in breiteren Kreisen der Kirche als Autorität anerkannt war, konnten weitere Teile der mündlichen Tradition literarisch bearbeitet werden. 572 Apg 16,10–17 (Überfahrt Troas – Philippi); 20,5–15 (Rückfahrt Philippi – Troas – Milet); 21,1–18 (Weiterreise Milet – Cäsarea – Jerusalem); 27,1–28,16 (Romreise). 573 Belege bei E. Plümacher, Wirklichkeitserfahrung und Geschichtsschreibung bei Lukas, ZNW 68 (1974), 11 f. (= ders., Geschichte und Geschichten, 96 f.); J. Roloff, NTD 5, 358 f.; P. Pokorný, Die Romfahrt des Paulus und der antike Roman, ZNW 64 (1974), 233–244; ähnlich M. Dibelius, Reden der Apostelgeschichte, in: ders., Aufsätze, 120–162, dort 121 (er rechnet mit einem Itinerar). Anders W. Bindemann, Verkündigter und Verkündiger, ThLZ 114 (1989), 705–720, bes. 716 f. (er rechnet mit komplexen Einheiten). Nach J. Wehnert, Die WirPassagen der Apostelgeschichte (GTA 40), Göttingen 1989, 189.202, bearbeitete Lukas die Tradition, die von einem Augenzeugen (Silas?) stammt. Er ist allerdings mehr von der jüdischen Tradition (Daniel, Esra) beeinflusst. Dagegen sieht C.-J. Thornton, Der Zeuge des Zeugen, 117.132.141, aufgrund der altkirchlichen Zeugnisse (Irenäus) und nach einem ausführlichen Vergleich mit den Selbsterzählungen der antiken Geschichtsschreibung in den „Wir-Erzählungen der Apostelgeschichte ... einen Bericht über die wirklichen Erlebnisse des Autors“, den er mit dem Paulusmitarbeiter Lukas (Phlm 24; Kol 4,14) identifiziert (142–148.341; vgl. ebenso J. A. Fitzmyer, AncB 31, 50 f.; J. Jervell, KEK, 63, und die Diskussion bei C. K. Barrett, ICC, II, xxvii–xxx). Zum Ganzen vgl. U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 313–317. 574 Vgl. E. Plümacher, Art. Apostelgeschichte, TRE 3, 502–506; U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 317 f. 575 Vgl. M. Rese, Lukas-Evangelium, 2280 ff., sowie die sukzessiven Bemerkungen von J. Jeremias, Die Sprache des Lukasevangeliums (KEK Sonderband), Göttingen 1980, aber auch M. Reiser, Sprache (Lit. § 2.1.4), 51–55, und „Die Lukanismen der Tauferzählungen“ bei F. Avemarie, Tauferzählungen, 456–478.

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

487

Lukas ist ein ausgezeichneter Erzähler, der meisterhaft die Spannung zwischen der Zeit der erzählten Geschichte und der Zeit, die für das Lesen des Texts benötigt wird, aufzubauen versteht: Lange Zeitperioden kann er in einem einzigen Satz charakterisierend zusammenfassen (z. B. Lk 15,13), um dann das entscheidende Geschehen so darzulegen, dass die Erzählzeit länger ist als die erzählte Zeit (Zeitstreckung). Der Leser ist gezwungen, über das Ereignis intensiver nachzudenken, so dass die innere Beteiligung, das Miterleben und Sich-Hineinversetzen erhöht wird.576 Die Verlangsamung wird oft durch einen inneren Monolog (lat. soliloquium) erreicht, der etwas vom Innenleben des Protagonisten verrät.577 Der Wortschatz des Lukas ist relativ reich. Die Erzählung der Schifffahrt und des Schiffbruchs des Paulus in Apg 27 – ein solches Ereignis war ein beliebtes Thema (tópos) der hellenistischen Literatur – gehört zu den besten Schilderungen dieser Art in der antiken Literatur.578 Es handelt sich um eine großartige Darstellung eines irdischen Geschehens mit einer zweiten, religiösen Ebene: Das Wasser, das Meer und der Sturm repräsentieren die Gefahr, die die Seele auf ihrer Reise zum anderen Ufer bedroht.579 Das eindringliche „Fürchte dich nicht“ (mḗ phoboú; 27,24) und der Appell „guten Mutes zu sein“ (euthymeín)580 signalisieren die schützende Anwesenheit Gottes581 und das kommende „Heil“ (sōtēría),582 das im Mahl (27,33–36) vorweggenommen wird und eine Anspielung auf das Herrnmahl darstellt. Lukas komponierte das erste Buch (Evangelium) aus größeren Einheiten seiner Quellen, wobei er (anders als Matthäus; § 6.3.1) die Vorlagen in großen Blöcken übernahm, diese allerdings tiefer interpretierte. Um seine eigenen, relativ umfangreichen Stoffe unterzubringen, musste er das Markusevangelium um mehr als ein Drittel kürzen, am radikalsten in der „großen Auslassung“ von Mk 6,45–8,26 nach Lk 9,17 (§ 6.1.4.2). Ab der Einsetzung des Herrnmahls Lk 22,14 zeigen sich mehrere Veränderungen gegenüber der Markusvorlage z. B. beim Abendmahl (§ 5.6.2.3) sowie auffällige Übereinstimmungen mit dem johanneischen Passionsbericht (§ 7.1.3). Dafür integrierte Lukas die Stoffe der Logienquelle (Q) und des Sonderguts (LkS) 576

Vgl. E. Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 31968, 22 f. Im Gleichnis vom reichen Kornbauern (LkS 12,18–19) begegnen wir sogar einem äußerst wirksamen inneren Monolog. Vgl. B. Heininger, Metapher, Erzählstruktur und szenischdramatische Gestaltung in den Sondergleichnissen bei Lukas (NTA 29), Münster 1991, 32 ff.78 f.; P. Sellew, Interior Monoloque as a Narrative Device in the Parabels of Luke, JBL 111 (1992), 239–253. 578 Mit einer Kenntnis von Vergils Aeneis rechnet M. Palmer Bonz, The Past as Legacy, Philadelphia, PA 2000. 579 Vgl. Lk 8,22–25 parr. (Sturmstillung). 580 Apg 27,22.36; vgl. „thársei“ = „sei getrost“ (23,11). 581 Vgl. Jes 41,10; Tob 7,17; JosAs 14,11 und weitere Belege bei P. Pokorný, Romreise (s. Anm. 573). 582 Apg 27,34; vgl. 27,44; 28,1. 577

488

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

vor allem in der „großen Einschaltung“ 9,51–18,14 innerhalb des „Reiseberichts“.583 Ebenso verfährt er bei der „kleinen Einschaltung“ 6,20–8,3 mit der Feldrede, die als kürzere Parallele zur Bergpredigt (Mt 5–7) hauptsächlich Q-Überlieferungen wiedergibt. Schematisch kann die lukanische Arbeit mit den Quellen folgendermaßen dargestellt werden: aus LkS und Q

aus Mk

1,1–4,30 Vorgeschichte bis zur Antrittspredigt

-----

-----

4,31–6,19 < par. Mk 1,21–3,19 >

6,20–8,3 kleine Einschaltung ab Feldrede

-----

-----

8,4–9,50 < par. Mk 4,1–9,40 > > ohne 6,45–8,25 (große Auslassung)
-----

19,29–22,13 < par. Mk 11,1–14,16 >

22,14–24,53

par. Mk 14–16 / Joh

6.4.3

Gliederung und Inhalt

In der Mitte der beiden Bücher – am Ende des Evangeliums und zu Beginn der Apostelgeschichte – steht die Auferstehung Jesu und seine Himmelfahrt. In der Trennung dieser beiden Ereignisse unterscheidet sich Lukas von den alten Formeln in Röm 1,3 f. oder 1Tim 3,16 und auch Mt 28,16–20, in denen die Auferstehung mit der Erhöhung zusammenfällt. 6.4.3.1

Das Lukasevangelium

Auf den Prolog, die Geburtsgeschichte und die Vorgeschichte folgt der Beginn der öffentlichen Tätigkeit Jesu (Lk 4,14 f.) mit der Predigt in Nazareth, die Lukas zu einer programmatischen Rede ausbaut. Die große Einschaltung (9,51–19,27) ist auch kompositionell gut erkennbar als „Reisebericht“ gestaltet, der sich über mehr als ein Drittel des Evangeliums erstreckt. Mit Hilfe des Wegmotivs fügt Lukas im Reisebericht das außermarkinische Material aus der Logienquelle (Q) und aus dem Sondergut (LkS; s. Anm. 565) in einen fortlaufenden Erzählzusammenhang ein. Da der Reisebericht den Mittelteil des Evangeliums bildet, zerfällt die lukanische Schilderung der Tätigkeit Jesu in drei Hauptabschnitte (Galiläa – Reisebericht – Jerusalem) sowie die 583 Innerhalb des großen Einschubs 9,51–18,14 gibt es noch kleinere Einheiten, die aus Markus übernommen wurden. Sie bestimmen aber nicht die Struktur der Erzählung, die von Markus unabhängig ist.

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

489

Vorgeschichte. Nach dem Reisebericht folgen in Anlehnung an die Markusvorlage der Schlussteil mit den Auseinandersetzungen in Jerusalem sowie der Passionsgeschichte und den Ostererscheinungen, die Lukas mit der Himmelfahrt Jesu und der Rück kehr der Jünger in den Jerusalemer Tempel enden lässt. Wie schon bei Matthäus wiederholt die nachfolgende Gliederungsübersicht nicht den gesamten Markusstoff, sondern macht nur auf die kompositionellen Änderungen aufmerksam, kennzeichnet die Überlieferungen der Logienquelle (Q) und hebt das wichtigste Lukassondergut (LkS) hervor. Tabellarische Übersicht s. S. 490f. 1,1–4 Prolog (Vorwort) mit Widmung an Theophilus 1,5 – 4,13 Erster Teil: Die Vorgeschichte Johannes der Täufer repräsentiert die Periode des Gesetzes und der Propheten. Er kommt als Sohn eines Priesters, Zacharias, auf die Welt und wirkt als Prophet. Seine Mutter Elisabeth segnet Maria, die Mutter Jesu (1,42b; der Grundbestandteil des späteren katholischen Gebets „Ave Maria“), und grüßt sie als die Mutter ihres Herrn.584 Maria, durch den heiligen Geist schwanger geworden (1,35), singt das „Magnificat“ (1,46–55), Zacharias das „Benedictus“ (1,68–79). Dabei fällt auf, dass Jesus in der Vorgeschichte mit Johannes dem Täufer parallelisiert, Johannes „Prophet des Höchsten“ genannt (1,76), aber durch Jesus als „Sohn des Höchsten“ (1,32) und „Heiland“ (2,11) übertroffen wird. Jesus wird in der Davidstadt Bethlehem geboren585 und von den Hirten als Messias Israels begrüßt, der den Menschen Gottes Wohlgefallen bringt und mit dem Lobpreis der Engel („Gloria“; 2,14) besungen wird (2,1 ff.). Nach seiner Darstellung im Tempel folgt das „Nunc dimittis“ (2,29–32) des Simeon, und die Familie Jesu kehrt nach Nazareth zurück. Als Zwölfjähriger kommt Jesus noch einmal nach Jerusalem und lehrt im Tempel. Mit dem Auftreten Johannes des Täufers, der Jesus tauft (3,1–20), und mit der erweiterten Erzählung von der Versuchung Jesu (4,1–13 Q?) endet die Vorgeschichte, die sich in Jerusalem, in Bethlehem und in der Wüste am Jordan abspielt. Dazwischen ist der Stammbaum Jesu eingeschoben, der – im Unterschied zur matthäischen Herleitung von Abraham und David – bis Adam zurückreicht und die Geschichte Jesu in einen universalen Rahmen stellt (3,23–38).

584

Da Johannes in seiner Zeit bekannter war als Jesus, mussten die Christen die Bedeutung Jesu u. a. über ihre Beziehung zu Johannes definieren. Dadurch wurde Johannes aus der Sicht ihres Glaubens zum Vorgänger Jesu. 585 Ochs und Esel werden häufig an der Weihnachtskrippe dargestellt, kommen in Lk 2 aber nicht vor, sondern stammen aus Jes 1,3: Sie kennen die Krippe ihres Herrn im Unterschied zu seinem Volk.

490

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

1,1–4

Prolog (Vorwort) mit Widmung an Theophilus

1,5–4,13 1

Erster Teil: Die Vorgeschichte Ankündigung Johannes des Täufers, Elisabeth und Maria, „Magnificat“ der Maria, „Benedictus“ des Zacharias Geburt Jesu in der Davidstadt Bethlehem mit dem „Gloria“ der Engel, Darstellung und Lehre Jesu im Tempel, „Nunc dimittis“ des Simeon Johannes der Täufer mit „Standespredigt“ (z. T. Q; LkS; vgl. 7,18–35) Taufe Jesu, Stammbaum (Jesus – Adam), Versuchung (z. T. Q)

2

3,1–20 3,21–4,13 4,14–9,50 4,16–30

5,1–11

6,17–49

Zweiter Teil: Das Wirken Jesu in Galiläa Antrittspredigt Jesu mit Jes 61,1 f. (vgl. erst Mk 6,1–6) (4,31–6,16 par. Mk 1,14–3,19) Fischzug des Petrus (LkS; statt der Berufung der ersten Jünger Mk 1,16–20) Feldrede (kürzere Parallele der Bergpredigt Mt 5–7; Q) < kleine Einschaltung Lk 6,20–8,3 nach der Berufung in Mk 3,19 >

7,1–10 7,11–17 7,18–35 7,36–50

Heilung des Dieners des Hauptmanns von Kapernaum (Q) Auferweckung des Sohns der Witwe zu Nain (LkS) Sprüche zu Johannes dem Täufer (z.T. Q) Salbung durch die Sünderin (vgl. Mk 14,3–9 erst zu Beginn der Passion) < Ende der kleinen Einschaltung Lk 6,20–8,3 >

8,4–9,50

Gleichnisse, Wunder usw. (par. Mk 4,1–9,41) > nach 9,17 große Auslassung von Mk 6,45–8,26


9,51–13,21 Jüngerschaft und Mission 9,51–56 Aufbruch nach Jerusalem und Ablehnung durch Samariter 10,1–12.17–20 Zweite (vgl. 9,1–6) Aussendung der 72 Jünger und Rückkehr 10,21–24 Lobpreis des Vaters (Q) und Seligpreisung der Jünger (Q) 10,25–37 Gleichnis vom barmherzigen Samariter (LkS) 10,38–42 Maria und Martha (LkS) 11,1–13

Vom Gebet: Vaterunser (Q), Gleichnis vom bittenden Freund (LkS)

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte 12,13–34 12,35–48

13,10–17 13,22–17,10 14 15 16,1–13 16,14–18 16,16 16,19–31 17,7–10 17,11–19,27 17,12–19 18,1–14

491

Habsucht mit Gleichnis vom reichen Tor (LkS) und Sorgen (Q) Wachsamkeit (Q; LkS) und Umkehr: Turm von Siloah und Gleichnis vom Feigenbaum (13,1–9; vgl. die Verfluchung Mk 11,12–14) Heilung der verkrümmten Frau am Sabbat (LkS) Rettung des Verlorenen Sprüche über den Gast, Gleichnis vom großen Festmahl (14,15–24 Q?) Gleichnisse vom Verlorenen: Schaf (Q), Drachme (LkS), Sohn (LkS) Gleichnis vom unehrlichen Verwalter (LkS), Sprüche über das Geld Worte über das Gesetz und die Gerechtigkeit vor Gott Schlüsselsatz: mit Johannes dem Täufer enden Gesetz und Propheten, es folgt die Zeit der Verkündigung des Reiches Gottes Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (LkS) Gleichnis vom Knechtslohn (LkS) Jüngerschaft und Enderwartung Heilung der zehn Aussätzigen mit dem dankbaren Samariter (LkS) Gleichnisse von Richter und Witwe (LkS), Pharisäer und Zöllner (LkS) < Ende der großen Einschaltung 9,51–18,14 >

18,15 ff. 19,1–10 19,11–27 19,28–21,38 19,28–21,4 19,41–44 21,5–36 22–24 22–23

24 24,1–12 24,13–49 24,50–53 kursiv Reden

„Lasst die Kinder zu mir ...“, reicher Jüngling (par. Mk 10,13 ff.) Zachäus (LkS) Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (Q?) Vierter Teil: Auseinandersetzungen in Jerusalem (par. Mk 11–13) Einzug in Jerusalem, Tempelreinigung, Streitgespräche (par. Mk 11 f.) Jesus weint über die Zerstörung Jerusalems (LkS; statt der Verfluchung des Feigenbaums Mk 11,12–14; vgl. als Gleichnis Lk 13,6–9) Endzeitrede (par. Mk 13) Fünfter Teil: Passion und Auferstehung (par. Mk 14–16) Leidensgeschichte (par. Mk 14–15) mit LkS: Abendmahl als Passamahl, Verhör vor Herodes (23,6–12), Unschuldserklärung für Jesus durch Pilatus (23,13–16), die beiden Räuber am Kreuz (23,39–43) Der Auferstandene Leeres Grab (par. Mk 16,1–8), Erscheinung Jesu vor den Frauen Erscheinungen Jesu vor den Emmausjüngern (LkS) und den Elf Himmelfahrt Jesu in Jerusalem (LkS; par. Apg 1,1–14) Redeblöcke

kleine und große Einschaltung

492

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

4,14–9,50 Zweiter Teil: Das Wirken Jesu in Galiläa Die Erzählung von der Antrittspredigt Jesu in Nazareth (4,16–30) wird anders als bei Markus (Mk 6,1–6) nicht erst nach einigen Berufungen, Streitgesprächen, Gleichnissen und Wundern gehalten, sondern mit dem Zitat aus Jes 61,1 f. richtungweisend an den Beginn des Auftretens Jesu vorgezogen. Mit dem Hinweis auf das Wirken Elias im Gebiet von Sidon und auf die Heilung des Syrers Naaman durch Elisa wird bereits die Heidenmission vorausgesagt (Lk 4,26 f.) und schon der Widerstand angedeutet, den die Tätigkeit Jesu hervorrufen wird. In 4,31–6,16 übernimmt Lukas den markinischen Aufriss, ersetzt aber die Berufung der ersten Jünger durch den Fischzug des Petrus (5,1–11; vgl. Joh 21,1–11; § 6.2.8e). Daran schließt sich die Feldrede an (6,20–49), eine kürzere Parallele zur matthäischen Bergpredigt (Mt 5–7 Q). Es handelt sich um ein „ebenes Feld“ (Lk 6,17), da es im Reich Gottes nach der Predigt des Johannes (3,5; Zitat Jes 40,3–5) keine Täler und keine Berge geben wird. Aus Q wird in Lk 7,1–10 noch die Perikope von der Heilung des Dieners des Hauptmanns von Kapernaum eingefügt. Es folgen die Auferweckung des Sohns der Witwe zu Nain (LkS 7,11–17) und eine Sammlung von Sprüchen, die Johannes den Täufer betreffen (7,18–35). Die Salbung durch die Sünderin (7,36–50) hat zwar ihre Parallele in der Salbung in Betanien in Mk 14,3–9, ist hier jedoch von der Passionsgeschichte losgelöst und konzentriert sich auf das für Lukas typische Motiv der Vergebung. Kap. 8 und 9 geben den markinischen Stoff wieder (par. Mk 4,1–9,41), insbesondere Gleichnisse und Wunder. Nach 9,17 erfolgt die „große Auslassung“ (Mk 6,45–8,26), bevor es mit Petrusbekenntnis, Leidensankündigung, Nachfolgewort und Verklärungsgeschichte wieder parallel zu Mk 8,27 ff. weitergeht. 9,51–19,27 Dritter Teil: Der Weg nach Jerusalem In diesem Block mit dem „Reisebericht“ hat Lukas einen Großteil des Q-Stoffs und Sonderguts integriert. Indem er in 9,51; 13,22 und 17,11 den Weg Jesu nach Jerusalem hervorhebt, ergibt sich eine Unterteilung in drei Abschnitte über Jüngerschaft und Mission (9,51–13,21), über die Rettung des Verlorenen (13,22–17,10) sowie über Jüngerschaft und Enderwartung (17,11–19,26). Darüber hinaus sind als thematische Schwerpunkte erkennbar das doppelte Liebesgebot (10,25–42), das Gebet (11,1–13), Habsucht und Sorgen (12,13–34), die Einladung zu einem Festmahl (14,7–24) sowie die drei Gleichnisse vom Verlorenen (Kap. 15). Lukas eröffnet den Reisebericht mit einer Erzählung, wie Jesus nach dem Aufbruch in einem samaritanischen Dorf eine Herberge verweigert wird (9,51–56). Jesus bestraft die Ablehnung nicht und geht weiter seinen Weg, der ein Weg des Leidens ist. Der Leser weiß aber bereits, dass dieser Weg nicht mit dem Tod enden, sonderndie Himmelfahrt (análēmpsis; 9,51; vgl. 24,50 f.) zur Folge haben wird. Die beiden

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

493

Berichte über die zweite Aussendung der Jünger (der Zweiundsiebzig; 10,1–12 Q)586 und über deren Rückkehr (10,17–20) nehmen schon die Heidenmission vorweg. Bald nach Jesu Lobpreis des Vaters (Q) stellt ein Schriftgelehrter die Frage nach dem Hauptgebot nicht wie bei Markus (Mk 12,28–34) erst in Jerusalem, sondern schon auf der Wanderung mitten in Samarien. Jesus antwortet mit dem doppelten Liebesgebot (Lk 10,25–29; § 6.2.9), das Lukas durch seine Stoffanordnung mit zwei Geschichten veranschaulicht: Zum einen erzählt Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter als Beispiel zupackender Nächstenliebe (LkS 10,25–37; Lev 19,18): „Er hatte Mitleid, es jammerte ihn (splanchnízesthai) ... So geh hin und tu desgleichen!“ Zum anderen folgt die Begegnung mit Maria und Martha (LkS 10,38–42), in der Jesus als Kommentar zum Gebot der Gottesliebe (Dtn 6,5) vor einem Aktivismus warnt, der nicht im Hören des Wortes verankert ist. Kap. 11–12 enthalten Aussagen über das Gebet (11,1–13) mit dem Vaterunser (11,2–4) und dem Gleichnis vom bittenden Freund (LkS 11,5–8), die Geschichte von Jesus und Beelzebul (Mk, Q), die Rede gegen die Pharisäer (11,37–12,1), das Gleichnis vom reichen Kornbauern (LkS 12,16 ff.) mit der Warnung vor falschem Sorgen (Kommentar zum Vaterunser; Q) und Aufforderungen zur eschatologischen Wachsamkeit. Der zweite Teil des Reiseberichts zur Rettung des Verlorenen (13,22–17,10) gibt in Kap. 14 überwiegend Q-Stoff wieder: Nach der Heilung des Wassersüchtigen am Sabbat erzählt Jesus – durch Sprüche über die Mahlgemeinschaft eingeleitet – das Gleichnis vom großen Festmahl (14,15–24 Q?). Das 15. Kapitel besteht aus drei Gleichnissen vom Verlorenen: Vom verlorenen Schaf (Q), von der verlorenen Drachme (LkS) sowie vom verlorenen Sohn und seinem barmherzigen Vater (LkS 15,11– 32), das als Mitte des Evangeliums von Lukas zu einer bedeutenden theologischen Aussage ausgebaut wurde. Das Gleichnis vom unehrlichen Verwalter (LkS 16,1–8) ist mit weiteren Sprüchen über das Thema Geld verbunden. Jesus äußert verschiedene Worte über das Gesetz und die Gerechtigkeit vor Gott, von denen 16,16 eine Schlüsselposition innehat: Mit Johannes dem Täufer endet die Zeit des Gesetzes und der Propheten, es folgt die Zeit der Verkündigung des Reiches Gottes. Danach erzählt Jesus das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (LkS 16,19–31). Kap. 17 enthält eine Warnung vor Versuchungen, Aussagen über die Vergebung und die Kraft des Glaubens sowie das Gleichnis vom Knechtslohn (LkS 17,1–10) als Appell an die Gemeindeleiter. Der dritte Teil des Reiseberichts wendet sich der Jüngerschaft und der Enderwartung zu (17,11–19,27). Er beginnt in Samarien und Galiläa mit der Heilung der zehn Aussätzigen, von denen nur der dankbare Samariter umkehrt und Gott preist (LkS 17,11–19), und mit Worten über das Kommen des Menschensohns (Q). Im 18. Kapitel erzählt Jesus die Sondergutsgleichnisse vom Richter und der Witwe (LkS 18,1–8) 586

Die Aussendung der Zwölf in Lk 9,1–6 folgt der Vorlage in Mk 6,7–13, während die Aussendungsrede in Mt 10,1–16 eine Kombination aus Q und Markus darstellt.

494

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

sowie vom Pharisäer und Zöllner (LkS 18,9–14). Von 18,15 an folgt Lukas in seinem Reisebericht wieder der Markusvorlage mit dem Jesuswort: „Lasset die Kinder zu mir kommen“ (par. Mk 10,13 ff.), allerdings ohne Segenshandlung oder Handauflegung, die für Taufen und Beauftragungen in Apg 8,17 f.; 19,6 bzw. 6,6; 13,3 reserviert bleibt. Kap. 19 beginnt mit der Geschichte von der Begegnung Jesu mit dem Zöllner Zachäus, die in dem Satz gipfelt: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist“ (19,10). Das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (19,11–27 Q?), aus der die Redewendung „mit seinem Pfund wuchern“ (= seine Begabung nutzen) stammt, schließt den Reisebericht ab. 19,28–21,38 Vierter Teil: Auseinandersetzungen in Jerusalem Vom Einzug in Jerusalem an (19,28 ff.) übernimmt Lukas den Stoff des Markusevangeliums (Mk 11 ff.), ergänzt durch die Klage über die Zerstörung Jerusalems (LkS 19,41–44). 22–24 Fünfter Teil: Passion und Auferstehung Mit 22,1 beginnt die eigentliche Leidensgeschichte parallel zu Mk 14,1 ff., aber ohne die Salbung in Betanien, die vielleicht schon in Lk 7,36–50 verarbeitet ist: Beim Abendmahl betont Lukas am stärksten unter den Synoptikern, dass es ein Passamahl war (22,15). Die Passionsgeschichte ergänzt Lukas durch das Verhör vor Herodes (LkS 23,6–12), die Unschuldserklärung für Jesus durch Pilatus (LkS 23,13–16) und die Aufforderung an die Frauen zur Klage über ihr eigenes Schicksal (LkS 23,27–31). Bei der Kreuzigung kommentiert Lukas den markinischen Stoff (LkS 23,39–43): Der auf der rechten Seite Jesu gekreuzigte Übeltäter (Schächer, Räuber) tut Buße und bekommt von Jesus verheißen, dass er „heute“ mit ihm im Paradies sein wird (23,43). Statt „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34 = Ps 22,2) sagt Jesus als letztes Wort am Kreuz: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ (23,46 = Ps 31,6; § 6.2.7.5). In Kap. 24 erweitert Lukas den Tag nach der Auferstehung mit der Auffindung des leeren Grabes bei Markus durch das Sondergut vom Blick des Petrus in das Grabesinnere (24,12; vgl. Joh 20,5–10), die Begegnung des Auferstandenen mit den Emmausjüngern (LkS 24,13–35), die Erscheinung vor den Jüngern und die Himmelfahrt, die bereits in 9,51 als Ziel der Reise genannt worden war (LkS; vgl. Apg 1,1–14). Dieser Abschluss ist der Übergang zum zweiten Bericht (lógos), der Apostelgeschichte. Statt wie Mk 16,7 mit dem Ausblick nach Galiläa oder Mt 28,16 ff. mit dem Missionsbefehl auf dem galiläischen Berg aufzuhören, endet Lk 24 mit der Himmelfahrtszene in Betanien östlich von Jerusalem und der Rückkehr der Jünger in diese Stadt, in der Apg 1 neu einsetzen wird. 6.4.3.2

Die Apostelgeschichte

Die Gliederung der Apostelgeschichte wird in 1,8 angedeutet mit den Etappen der christlichen Mission von Jerusalem (2,1–8,3) über Samarien (8,4–11,18) bis ans Ende

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

495

der Erde. Dieses Ende sieht Lukas in den Reisen des Paulus von Antiochien (11,19– 15,35) über Kleinasien und Griechenland (15,36–19,20) bis nach Rom erreicht (19,21–28,31). Der Blick auf eine Landkarte mit den Reisen des Paulus erleichtert die Orientierung. Tabellarische Übersicht s. S. 496f. 1,1–26 Einleitung Auf den Prolog folgt in 1,8 eine knappe Inhaltsangabe der Apostelgeschichte: Der Auferstandene beauftragt die Apostel, Zeugen des Herrn in Jerusalem, Judäa, Samaria und „bis an das Ende der Erde“ zu sein. Nach der Himmelfahrt wird der Kreis der Zwölf ergänzt durch die Nachwahl des Matthias anstelle des Judas (1,15–26). 2,1–8,3 Erster Teil: Die Verbreitung des Evangeliums in Jerusalem Lukas erzählt von einem neuen Anfang an Pfingsten mit der Predigt des Petrus (2,14–40). Er schildert das Leben der Urgemeinde, das sich durch die Lehre der Apostel, die Gütergemeinschaft, das Brotbrechen bei der Eucharistie und das Gebet auszeichnet (2,42–47). Nach dieser ersten Charakterisierung des Gemeindelebens folgen die Heilung eines Gelähmten durch Petrus, dessen Predigt im Tempel, der Bericht von Johannes und Petrus vor dem Hohen Rat (Synedrium), die zweite Charakterisierung der Urgemeinde mit Gebet (4,23–31) und Gütergemeinschaft (4,32– 37), die Strafe für den Betrug von Hananias und Saphira (5,1–11) und die Wunder der Apostel (5,12–16). Die Jünger werden verhaftet und vor dem Hohen Rat verhört, vor dem Petrus eine Rede hält („Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“; 5,29). Gamaliels Rat (5,34 ff.), die Zeit werde es zeigen, ob das Werk der Apostel von Gott ist, wird als die ideale Lösung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden dargestellt. In Kap. 6 erzählt Lukas von der Wahl der Sieben (Stephanus, Philippus u. a.) als Leitungskreis der griechischsprechenden Judenchristen und von den Vorwürfen einiger Diasporajuden gegen Stephanus, er polemisiere gegen den Tempel und das Gesetz, wenn er sage, Jesus von Nazareth werde diese Stätte zerstören und die mosaischen Satzungen ändern. Daraufhin hält Stephanus in Kap. 7 vor dem Hohen Rat eine große Rede, in der er seine Sicht der Geschichte von Gottes Heilshandeln an Israel seit Abraham darlegt und es als Irrtum kritisiert, zu meinen, der Jerusalemer Tempel sei der Wohnort Gottes in dieser Welt. Daraufhin wird er gesteinigt und erleidet das Martyrium. Zum ersten Mal wird Saulus (Paulus) erwähnt (7,58; 8,1). Danach berichtet Lukas über die Verfolgung der Gemeinde in Jerusalem. 8,4–11,18 Zweiter Teil: Die Ausbreitung des Evangeliums in Samarien Die Verfolgung führt paradoxerweise zur Ausbreitung des Christentums: Philippus missioniert in Samarien (8,4 ff.), die Apostel Petrus und Johannes vollenden seine Arbeit durch ihre Bitten um den heiligen Geist, es folgen der Konflikt mit Simon Magus aus Samarien sowie die Bekehrung und Taufe des Finanzministers („Kämmerers“) aus Äthiopien (8,26–40). Nach seinem Damaskuserlebnis, d. h. seiner Be-

496

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

1,1–26 1,1–3 1,4–14 1,15–26 2,1–8,3 2,1–41 2,42–47 3,1–26 4,1–22 5 6,1–7 6,8–7,60

Einleitung Vorwort (Prolog) für Theophilus (vgl. Lk 1,1–4) Beauftragung der Apostel und Himmelfahrt in Jerusalem (vgl. Lk 24,50–53) Ergänzung des Zwölferkreises durch Matthias Erster Teil: Die Verbreitung des Evangeliums in Jerusalem Pfingsten mit Pfingstpredigt des Petrus Urgemeinde (vgl. 4,32–37; ferner 4,23–5,16) Heilung eines Gelähmten und Predigt des Petrus im Tempel Johannes und Petrus vor dem Synedrium (vgl. 5,17–42) Hananias und Saphira, apostolische Wunder, Verhaftung der Jünger und Verhör vor dem Synedrium mit Petrusrede, Rat des Gamaliel Wahl der sieben „Diakone“ als Leitungskreis der Hellenisten Stephanus mit Stephanusrede

8,4–11,18 8,4–40 9,1–31 9,32 – 11,18

Zweiter Teil: Die Ausbreitung des Evangeliums in Samarien Philippus in Samarien, der Magier Simon, Taufe des Kämmerers Bekehrung des Saulus (ca. 33 n. Chr.; vgl. 22,6–16; 26,12–18) Petrus in Lydda (Gelähmtenheilung) und Joppe (Auferweckung), Taufe des Hauptmanns Kornelius mit Petrusrede (Kap. 10)

11,19–15,35 11,19–30 12

Dritter Teil: Die Mission in Antiochien Die ersten Christen in Antiochien Verfolgung der Jerusalemer Gemeinde durch Herodes (Agrippa I.), Tod des Jakobus und Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis (43 n. Chr.) Sog. 1. Missionsreise des Paulus von Antiochien nach Zypern (Bekehrung des Sergius Paulus) und Südgalatien mit Missionsrede (46–47 n. Chr.) Apostelkonvent in Jerusalem mit Aposteldekret (48 n. Chr.; vgl. Gal 2,1– 10)

13,1–14,28

15,1–35 15,36 – 19,20 15,36–18,22 15,36–41 16,1–10 16,11–40 17 17,16–33 18,1–17 18,23–19,20

Vierter Teil: Die Mission in Kleinasien und Griechenland Sog. 2. Missionsreise rund um das Ägäische Meer (49–51 n. Chr.) Trennung von Barnabas in Antiochien Kleinasien (Timotheus als Mitarbeiter) Philippi (Lydia, Magd mit Wahrsagegeist, Paulus im Gefängnis) Thessalonich (politische Anklage) und Beröa (freundliche Aufnahme) Athen mit Areopagrede Eineinhalb Jahre in Korinth (50–51 n. Chr.; dann Reisebericht) Sog. 3. Missionsreise, zwei Jahre in Ephesus (18,23–19,20; 53–55 n. Chr.), dort Apollos (18,24–28) und die Johannesjünger (19,1–6)

19,21–28,31 19,21–21,14 19,21 f. 19,23–40 20,1–12

Fünfter Teil: Die Ausbreitung des Wortes des Herrn bis nach Rom Weg des Paulus nach Jerusalem Entschluss zur Reise nach Jerusalem und Rom Ephesus: Aufruhr der Silberschmiede mit Demetrius Makedonien und Troas (Totenerweckung, Paulus leitet Gottesdienst)

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

497

20,17–38 Milet: Abschiedsrede an die Ältesten von Ephesus 21,15 – 26,32 Verhaftung und Prozess in Jerusalem (57 n. Chr.) mit drei Verteidigungsreden (22,1–21; 24,10–21; 26,1–23) 27 – 28 Romreise mit Schiffbruch vor Kreta und Aufenthalt in Malta kursiv

Reden bzw. Predigten

fett

Reisestationen des Paulus

kehrung (9,1–19; erste Schilderung), bleibt Saulus in dieser Stadt, predigt und reist nach Jerusalem (vgl. Gal 1,17), Petrus kommt nach Lydda (Heilung eines Gelähmten) und Joppe (Auferweckung der Tabita). Aufgrund einer Vision geht Petrus nach Cäsarea, um – zu Beginn der Heidenmission – den gottesfürchtigen heidnischen Offizier Kornelius zu taufen (10,34–43; Petrusrede). In Jerusalem begründet er seine Entscheidung mit dem Hinweis, dass der Geist gewirkt hat wie am „Anfang“ (11,15). 11,19–15,35 Dritter Teil: Die Mission in Antiochien Lukas schildert die Situation der ersten Christen in Antiochien, der Hauptstadt der römischen Provinz Syrien. In Kap. 12 berichtet er über die Verfolgung durch Herodes (Herodes Agrippa I.), die Hinrichtung des Zebedaiden Jakobus, die wundersame Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis und den schmählichen Tod des Herodes. In Kap. 13 beginnt die sog. erste Missionsreise,587 von der an Saulus den Namen Paulus (13,9) trägt. Von Antiochien aus reist er mit Barnabas auf die Insel Zypern (Umkehr des Statthalters Sergius Paulus) und nach Antiochien in Pisidien im Süden der heutigen Türkei. Dort hebt Paulus in einer Missionsrede hervor, dass er wie die Apostel vom Herrn den Auftrag erhalten hat, das Heil bis an die Enden der Erde zu bringen (13,47 zitiert Jes 49,6; vgl. 1,8; Lk 2,32). Die Reise geht weiter nach Ikonion und Lystra, wo Paulus und Barnabas als Götter verehrt werden. In Kap. 15 folgt der Apostelkonvent588 in Jerusalem (vgl. Gal 2,1–10) mit dem Aposteldekret (15,20.29). 15,36–19,20 Vierter Teil: Die Mission in Kleinasien und Griechenland Die zweite Missionsreise führt Paulus rund um die Ägäis, d. h. von Antiochien aus (15,35) über Kleinasien und Troas nach Philippi als erste Station auf europäischem Boden (16,11–40), wo sich Folgendes ereignet: Bekehrung der Purpurhändlerin Lydia, Heilung der Magd mit Wahrsagegeist, Verhaftung und wundersame Befreiung von Paulus und Silas aus dem Gefängnis, Taufe des Kerkermeisters und Tischgemeinschaft mit ihm. Dann reist Paulus weiter nach Thessalonich (17,1 ff.: politische Anklage gegen Paulus), Beröa (freundliche Aufnahme des Evangeliums), Athen (programmatische Predigt auf dem Areopag) und Korinth (18,1–17), wo Paulus über 18 Monate bleibt (18,11). Anschließend kehrt er über Ephesus an den Ausgangspunkt 587 Die Zählung der Missionsreisen ist insofern irreführend, als Paulus eigentlich ständig in den neu gegründeten Gemeinden lebte und nur wenige Besuche in Jerusalem und Antiochien machte (§ 5.8.2b). 588 Zur Bezeichnung „Apostelkonzil“ s. § 5.8.1.

498

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

seiner Reise nach Antiochien zurück und besucht Jerusalem. 18,23–19,20 schildert Lukas die dritte Missionsreise, auf der Paulus für zwei Jahre (19,10) nach Ephesus kommt, wo inzwischen Apollos wirkte, der nur die Johannestaufe kannte. „So breitete sich das Wort aus durch die Kraft des Herrn und wurde mächtig“ (19,20). 19,21–28,31 Fünfter Teil: Die Ausbreitung des Wortes bis nach Rom Paulus entscheidet sich, nach Jerusalem und Rom zu reisen (19,21 f.). Der Goldschmied Demetrius organisiert gegen ihn in Ephesus eine Demonstration im Namen der Göttin Artemis (Diana). Paulus reist nach Makedonien in Nordgriechenland (20,1 ff.) und kehrt über Troas und Milet zurück, wo er vor den Ältesten der christlichen Gemeinde von Ephesus als eine Art Testament seine Abschiedsrede hält: „So habt nun Acht auf euch selbst und auf die ganze Herde ... Geben ist seliger als nehmen“ (20,28.35). Über Cäsarea reist er trotz der Warnungen nach Jerusalem, wo er mit Verlegenheit aufgenommen wird, seine jüdische Rechtgläubigkeit beweisen soll und über das Aposteldekret (15,20.29) informiert wird (21,25!). Während seines Aufenthalts im Tempel versucht die Menge, ihn wegen der angeblichen Entweihung des Tempels durch den Heidenchristen Trophimus als Begleiter zu töten (vgl. die Anklage gegen Stephanus in 6,13). Die römische Polizeitruppe verhaftet ihn, rettet dadurch aber zugleich sein Leben. Unter ihrem Schutz trägt er seine Verteidigungsrede im Tempel vor (erste Apologie, zweite Schilderung seiner Bekehrung; 22,6–16), wird dann vor den Hohen Rat gestellt, wo er sich durch seine frühere Treue der pharisäischen Partei gegenüber verteidigt und schließlich unter scharfen Schutzmaßnahmen nach Cäsarea überführt wird. Vor dem Statthalter Felix wird er vom Hohenpriester Hananias beschuldigt. Er verteidigt sich vor Felix (zweite Apologie 24,10–21) und legt später, unter dem Statthalter Festus, als römischer Bürger Berufung an den Kaiser ein. Bevor er nach Rom eskortiert wird, begegnet er König Agrippa (Herodes Agrippa II.) und hält vor ihm eine Rede (dritte Apologie [26,1–23] mit der dritten Schilderung seiner Bekehrung; V.12–18), die in den Worten vom Messias gipfelt, der wie in der Schrift verheißen nach dem Tod und der Auferstehung seinem Volk Israel und den Heiden das Licht verkünden werde (26,23). Dann wird er als Gefangener über Lyzien und Kreta nach Rom transportiert. Im großen Sturm und nach dem Schiffbruch wird er zusammen mit den anderen Passagieren am Ufer von Malta gerettet und gelangt nach Rom, wo er, wenn auch als Gefangener, unbehindert zwei Jahre lang predigen kann (28,16–31). 6.4.4

Der Text

Das Lukasevangelium ist in mehreren alten Handschriften erhalten. Der ägyptische Text ist durch p75 (Bodmer Pap. XVII), Kodex a (Sinaiticus), B (Vaticanus) und C repräsentiert. In den anderen Textgruppen (§ 4.3.2) gehört das Lukasevangelium zum festen Bestandteil der Handschriften.

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

499

Die wichtigsten Abweichungen der Textüberlieferung vom rekonstruierten Urtext sind „Dein heiliger Geist komme über uns und reinige uns“ (700, Egerton 2610) statt „Dein Reich komme“ im Vaterunser (Lk 11,2), das Fehlen des ersten Teils der Einsetzung des Herrnmahls in Lk 22,19b–20 (D [Codex Bezae] und einige Handschriften der Itala) sowie das Gespräch Jesu mit dem Arbeiter am Sabbat (Lk 6,4 D). Eine besondere theologische Bedeutung besitzen die Worte vom Schutzengel und vom Blutschweiß in Gethsemane (22,43 f.), die von der Mehrheit der Handschriften bezeugt werden und doch in einer nicht unbedeutenden Gruppe fehlen (einschl. p75, A). Ähnlich verhält es sich mit dem Wort Jesu am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34a; vgl. Apg 7,60). Vermutlich wurde jene Aussage von manchen Lesern als störend empfunden und darum von einigen Abschreibern getilgt. Weniger wahrscheinlich ist, dass es sich um spätere Einschübe handelt.589 Bei der Apostelgeschichte überliefert neben dem Text der ältesten Majuskeln (p45, 47 p , B, a) der westliche Text (vor allem D) eine abweichende längere Fassung, die an manchen Stellen einer Paraphrase ähnelt. Die Unterschiede sind nicht nur stilistischer, sondern auch sachlicher Art mit zusätzlichen Informationen über Personen und Orte, manchmal sogar mit einer theologischen Modifikation: Das Aposteldekret wird z. B. ethisch aufgefasst: „Blut“ statt „Ersticktes“ in Apg 15,20.29; 21,25, sodass nicht mehr „Blutgenuss“, sondern Blutvergießen im Sinn des 5. Dekaloggebots gemeint ist. Damit hängt auch die Hinzufügung der „Goldenen Regel“ in 15,29 zusammen, „anderen nicht zu tun, was man nicht will, dass es einem selbst geschieht“ (vgl. Mt 7,12; Lk 6,31). Da der westliche Text bereits durch ein Fragment von Apg 23 (p48 Florenz) aus dem 3. Jh. vertreten ist, muss die westliche Lesung spätestens am Anfang des 3. Jh.s entstanden sein. Es handelt sich um eine Bearbeitung des Urtexts (nicht durch die Hand des Lukas, wie dies z. B. F. Blaß behauptete),590 die auf die Entwicklung der Kirche im heidnischen Milieu reagierte und in Syrien entstand.591 6.4.5 6.4.5.1

Die Theologie des Lukas Das Zeitverständnis

Schon durch die Fortsetzung des Evangeliums in der Apostelgeschichte wird bei Lukas eine Veränderung im Zeitverständnis sichtbar. Markus betrachtete das Auftreten Jesu und die christliche Mission als Vorspiel zur Endzeit, selbst wenn er dieses Anfangsstadium als eine längere Zeitperiode ansah (§ 6.1.6.4). Grundsätzlich bedeu589

So B. M. Metzger, Textual Commentary (Lit. § 4), z.St. Erneut vertreten von É. Boismard / A. Lamouille, Le Texte Occidental des Actes des Apôtres I–II, Paris 1984. 591 So B. Aland, Entstehung, Charakter und Herkunft des sogenannten westlichen Textes (EThL 62), 1986, 5–65. 590

500

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

tete für Markus das Jesusgeschehen das Ende der Geschichte. Zumindest in der literarischen Gestalt seines Werks übernahm auch Matthäus dieselbe Auffassung: Jesus steht am Ende der Geschichte. Lukas hingegen betrachtete in seinem zweiteiligen Werk das Auftreten Jesu als Mitte der Geschichte. Vor Jesus liegt die Zeit des Gesetzes und der Propheten, die durch Lk 1 und 2 repräsentiert ist und mit Johannes dem Täufer aufhört (Lk 16,16). Es folgt die Zeit der Mission, der Verkündigung des Reiches Gottes und der Botschaft von Jesus als dem Herrn, die ein bedeutender Einschnitt der Geschichte ist. Hans Conzelmann brachte dieses Zeitverständnis durch den Titel seines Buchs „Die Mitte der Zeit“ (1954) zum Ausdruck. Er untersuchte die lukanische Darstellung der Zeit Jesu, in der das Reich Gottes in der Person Jesu auf der Erde präsent war592 und der Teufel verschwand (Lk 4,13 bis 22,3). Conzelmann kombinierte die Dreiteilung der Geschichtszeit (die Zeit Israels – die Zeit Jesu – die Zeit der Kirche) mit einer geographischen Dreiteilung des Geschichte Jesu, in deren Mitte im sog. „Reisebericht“ der Weg Jesu nach Jerusalem erzählt wird (9,51–19,27).593 Conzelmanns Entwurf leistete einen irreversiblen Beitrag, provozierte aber auch kritische Reaktionen,594 da die Heilszeit bereits mit Johannes dem Täufer als dem letzten Propheten und unmittelbaren Vorläufer Jesu anzubrechen beginnt (3,1 ff.; Apg 1,21 f.). Auch die Parallelisierung der Geburtsgeschichten von Johannes und Jesus in Lk 1 f. widerspricht einer Zuordnung zu unterschiedlichen Epochen der Heilsgeschichte. Außerdem ist in 16,16 nur von einer Zweiteilung die Rede, da Gesetz und Propheten abgeschlossen sind und mit der Evangeliumsverkündigung bereits die Verwirklichung des Reiches Gottes einsetzt.595 Bezeichnend für die Zeit Jesu ist die Verkündigung des Evangeliums. Lukas vermeidet zwar das Substantiv „euaggélion“,596 das in der Markusvorlage (1,14 f.) als Inbegriff der Heilsbotschaft vom Reich Gottes gilt (§ 6.2.6.1). Aber er gebraucht als einziger Evangelist das Verbum „euaggelízesthai“, und zwar als Vorzugswort (Lk 10-mal; Apg 15-mal), das er aus der Antwort Jesu auf die Täuferanfrage übernimmt (Lk 7,22 Q) und in der Antrittspredigt (4,18) durch das Zitat aus Jes 61,1 f. grundlegend als messianische Erfüllung prophetischer 592

Lk 4,18–21 (Antrittspredigt mit Jes 61,1 f.); 6,20 ff. (Seligpreisungen); 11,20 Q: „wenn ich durch Gottes Finger Dämonen austreibe“; 17,21: „mitten unter euch“. 593 Vgl. H. Conzelmann, Mitte der Zeit, 53 ff. 594 Vgl. W. G. Kümmel, „Das Gesetz und die Propheten gehen bis Johannes“, in: G. Braumann (Hg.), Das Lukasevangelium (WdF 280), Darmstadt 1974, 398–415; A. Prieur, Die Verkündigung der Gottesherrschaft, bes. 234–241.244 f.; P. Stuhlmacher, Theologie 2 (Lit. § 1), 185 f. 595 Vgl. Lk 4,43; 8,1; Apg 8,12 u. ö. 596 Lukas verwendet es nur für die Botschaft von Petrus (Apg 15,7) und Paulus „von der Gnade Gottes“ (20,24). Vielleicht spart er das Substantiv aus, um Konflikte mit der römischen Macht zu vermeiden, die „euaggélion“ für ihre Propaganda ebenfalls benutzte (so – allerdings im Plural – die Inschrift von Priene; § 6.2.6.1).

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

501

Verheißungen einführt.597 Diese zweite Epoche dauert noch die ganze Apostelgeschichte über an in der Verkündigung der Gottesherrschaft, durch die der göttliche Heilsplan in Tod, Auferweckung und Erhöhung Christi realisiert wird.598 Anders als Conzelmann vermutete, wird man daher nicht von einer Drei-, sondern nur von einer Zweiteilung der Geschichte reden können, in der mit dem Auftreten Jesu das Reich Gottes anbricht. Nach Conzelmann hatte Lukas die Tendenz, Ereignisse, die sich der historischen Verifizierung entziehen, in den sukzessiven Geschichtsablauf einzuordnen. Dadurch sollte eine historische Stütze des Glaubens geschaffen werden. Eine ähnliche Gefahr sah in der Apostelgeschichte Erich Gräßer.599 Die Tendenz des Lukas kann allerdings auch positiv verstanden werden, nämlich als ein Versuch, die ständige Beziehung zwischen der menschlichen Geschichte und der Welt Gottes auszudrücken: Die Auferstehung Jesu ist nach dieser These nicht mit seiner Erhöhung (Himmelfahrt) identisch, sie wird als eine wunderhafte Wiederbelebung aufgefasst.600 Sie ist nicht (wie bei Paulus; § 5.10.3) der Anfang des Eschatons, sondern ein Eingriff Gottes in diese Geschichte. Der Auferstandene bleibt noch auf der Erde (Apg 1,3). Die Geschichten von seiner Begegnung mit den Jüngern demonstrieren das Wesen der Abendmahlsgemeinschaft (Lk 24,29 f.) und bestätigen die Identität des auferstandenen Herrn mit dem irdischen Jesus (24,39–43). Das Verhalten (nicht das Schicksal!) des Auferstandenen entspricht der Lehre Jesu und dem Verhalten in seinen Erdentagen. Um das Leben des Auferstandenen möglichst eng mit seiner irdischen Existenz zu verklammern, mussten die Apostel als authentische Erstzeugen nicht nur die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus beglaubigen, sondern auch seine irdischen Schüler sein (Apg 1,21 f.). Aus demselben Grund konnte Lukas Paulus nicht als „Apostel“ bezeichnen, sondern nur von seinen Taten berichten, weil er die apostolische Sendung „bis ans Ende der Erde“ (1,8) übernahm und weiterführte (13,47). Erst nach einer Zeitspanne von vierzig Tagen geschieht für den auferstandenen Jesus die Himmelfahrt. In der älteren Tradition (Röm 1,3 f.; 1Tim 3,16) und noch im Matthäusevangelium (28,16–20) ist die Erhöhung mit der Auferstehung identisch (s. Anm. 600). Nach einer weiteren kurzen Zeitperiode folgt bei Lukas Pfingsten als 597 Vgl. Apg 10,36 sowie Jes 52,7; 61,1 f. und 4Q521 2 II,12; 11QMelch II,15–18; s. Anm. 682 f. 598 Lk 24,47 f.; Apg 1,8; 28,23.31. 599 Vgl. E. Gräßer, Parusieverzögerung, 216 f. 60 0 Dagegen hält A. W. Zwiep, The Ascension of the Messiah in Lukan Christology (NT.S 87), Leiden 1997, oder zusammenfassend: Assumptus est in caelum, in: F. Avemarie / H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung – Resurrection (WUNT 135), Tübingen 2001, 323–349, die Himmelfahrt Jesu nicht für seine Erhöhung zur Rechten Gottes, sondern für eine Entrückungserzählung bei der letzten nachösterlichen Erscheinung, die in der Tradition der Entrückung Elias steht und weiterhin mit der Erwartung seiner Parusie verbunden bleibt.

502

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Anfang der öffentlichen Anbetung und Verkündigung Jesu.601 Auch in der Apostelgeschichte sind die einzelnen Etappen deutlich unterschieden und werden doch in ihrer Abfolge der Reihe nach geschildert. So ergibt sich ein lukanisches Bild der Geschichte, das aus der Perspektive Gottes dargestellt wird: Alte Propheten – Johannes der Täufer – das Leben Jesu – Leiden und Tod – Auferstehung – Himmelfahrt – Pfingsten – Kirche aus Juden – Kirche mit griechisch erzogenen Juden (Stephanus) – Kirche mit den Gottesfürchtigen (Kornelius) – Heidenmission des Paulus.602 Selbstverständlich stellt auch Lukas nicht nur den Fortgang der Geschichte in der Mission dar. Auch er erwartete die Äonenwende: Am Ende erfolgt die Wiederherstellung des Alls, wie es die Propheten vorhergesagt haben (Apg 3,21; vgl. 1,6).603 Erst dann geschieht die Vollendung der Geschichte. Das Entscheidende ist nicht mehr, dass Jesus den Weg in das kommende Reich Gottes eröffnet, sondern dass er schon jetzt in der Geschichte das Reich Gottes repräsentiert und als der erhöhte Herr auch später in der Geschichte erreichbar bleibt.604 Das Problem der Verzögerung der zunächst unmittelbar erwarteten eschatologischen Wende („... sie meinten, das Reich Gottes werde sich gleich offenbaren“; Lk 19,11; vgl. Apg 1,6–8) wird also nicht nur durch einen neuen Geschichtsentwurf gelöst. Diese neue Sicht der Geschichte ist nur auf den ersten Blick das Besondere an der lukanischen Lösung. Entscheidend ist die ständige Möglichkeit, mit dem auferstandenen Herrn durch den Geist zu kommunizieren – im Gebet, beim Herrnmahl, in der Verkündigung (s. Anm. 641 ff.645 ff.). Dadurch wird die irdische Präsenz des Reiches Gottes, die in Jesus Wirklichkeit war, in die Gegenwart hinein vermittelt (Lk 17,21: „mitten unter euch“). Wo das Herrnmahl gefeiert wird, da ereignet sich beim Essen des Brots das Reich Gottes schon innerhalb dieses Äons, wie Jesus beim Festmahlsgleichnis sagt (14,15.17): „Selig ist, der das Brot isst im Reich Gottes! … Kommt, denn es ist alles bereit!“ Damit hängt auch die lukanische Lösung des Problems der persönlichen Hoffnung im Tod zusammen.605 Lukas übernahm aus jüdischen Quellen das Modell der 601

Dadurch schuf Lukas die Voraussetzung für die Gestaltung des Kirchenjahrs, vor allem des Weihnachts- und Osterfestkreises mit Pfingsten; vgl. die liturgische Verwendung der Hymnen (s. Anm. 570) und des Gloria (2,14). 602 Ernstzunehmen ist der Vorschlag von G. Schneider, nach dem die heilsgeschichtliche Einordnung der Geschichte Jesu schon durch das „kathexḗs“ (in guter Ordnung) in Lk 1,3 angekündigt wird: Zur Bedeutung des kathexḗs im lukanischen Doppelwerk (1977), in: ders., Lukas, Der Theologe der Heilsgeschichte (BBB 59), Königstein / Bonn 1985, 31–34. 603 Vgl. S. Hagene, Zeiten der Wiederherstellung. Studien zur lukanischen Geschichtstheologie als Soteriologie (NTA NF 42), Münster 2003. 604 Damit hat Lukas indirekt die Voraussetzungen für die später von Dionysius Exiguus (ca. 470–540) eingeführte christliche Zeitrechnung geschaffen. 605 Vgl. bei Paulus § 5.10.2.

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

503

vorläufigen Aufteilung der Verstorbenen gleich nach dem Tod zwischen dem Hades (hebr. še’ôl) oder dem Paradies (hebr. ‘edæn), wie das Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus (16,22 ff.) oder das Wort Jesu vom Paradies an den Mitgekreuzigten (23,43) zeigen. Hier geschieht schon eine vorläufige Teilnahme an den guten Gaben des Reiches Gottes, die im Himmel bereitgestellt sind.606 Doch ist dieser Zustand keineswegs mit der endgültigen Ankunft des Reiches Gottes identisch.607 Allerdings handelt es sich nicht um eine asoziale Individualisierung der Hoffnung. Gerade die Gleichnisse vom reichen Kornbauern (12,16–21) und vom armen Lazarus (16,19–31) illustrieren deutlich, welche Konsequenzen die individuelle Hoffnung für das soziale Verhalten hat.608 Die Veränderungen im Zeit- und Geschichtsverständnis bestimmen auch das Bild der Kirche auf ihrem Weg von Israel zu den Heiden: 6.4.5.2

Das Volk Gottes (Ekklesiologie und Pneumatologie)

Die Apostelgeschichte endet mit dem Zeugnis des Paulus vor den römischen Juden, die in ihrer Reaktion gespalten sind. Paulus erklärt, dass die Heilsbotschaft zu den Heiden gesandt ist.609 Schon im Evangelium tritt zur Aussendung der Zwölf (Lk 9,1–6) als Repräsentanten der zwölf Stämme Israels (22,30 Q) die Aussendung der Zweiundsiebzig610 (10,1–12; § 6.2.8c), die auf die zweiundsiebzig Völker in Gen 10 LXX anspielt und im Missionsauftrag für alle Völker (Lk 24,47) von Jerusalem „bis ans Ende der Erde“ fortgeführt wird (Apg 1,8; 13,47).611 Zur Abfassungszeit des lukanischen Doppelwerks waren die Christen bereits aus der Synagoge verdrängt, wie die Erfahrungen der Ablehnung von jüdischer Seite in der Apostelgeschichte erkennen lassen (s. Anm. 622 f.634 ff.). Dabei betont Lukas einerseits die jüdische Herkunft der Kirche,612 andererseits das Ende der Zeit Israels, das seine Aufgabe erfüllt hat. Wir beginnen a) mit dem Verhältnis der Christen zu Israel, um uns dann b) der Verselbstständigung des kirchlichen Lebens in den neuen Gemeinden und c) deren Stellung im weltgeschichtlichen Zusammenhang zuzuwenden.

606

Lk 10,20; 12,10; 16,9.22 ff.; 23,43. Vgl. F. Bovon, Luc, le théologien, 70. 608 Vgl. J. T. Caroll, Response to the End of the History. Eschatology and Situation in Luke-Acts (SBL.DS 92), Atlanta, GA 1988, 60 ff. 609 Apg 28,28; vgl. 13,46; 18,6. 610 Statt „zweiundsiebzig“ haben andere Textzeugen „siebzig“. 611 Vgl. F. Wilk, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker (Lit. § 6.2), 154 ff.242 ff. 612 Vgl. zum Ganzen J. Roloff, Kirche (Lit. § 6.2.8), 190–221. 607

504

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

a) Die Kontinuität zu Israel: Vor allem in der Vorgeschichte wird Jesus als der Messias des alttestamentlichen Volkes Gottes eingeführt.613 Nach Pfingsten lassen sich Tausende von Juden, einschließlich vieler Priester, taufen.614 Im Jerusalemer Tempel beginnt und endet das Evangelium.615 Auch in Apg 1,4.8.12 behält diese Stadt als Ausgangspunkt der Mission eine zentrale Bedeutung,616 während Galiläa-Traditionen ausgeblendet werden.617 Der eine Gott (Lk 18,19) bleibt der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.618 Bis zum Ende der Apostelgeschichte setzt die Verkündigung des Wortes zunächst bei Israel bzw. den Juden ein,619 ehe beim Hauptmann Kornelius die Gottesfürchtigen als Adressaten hinzutreten620 und den Heiden die Tür geöffnet wird (Apg 10,45 u. ö.). Paulus sucht zuerst die Synagogen auf,621 bevor er dort Widerstand erfährt622 und sich den Heiden zuwendet623 oder auf einem öffentlichen Platz wie dem Areopag in Athen auftritt (17,16 ff.). Die Zeugen Jesu handeln nicht gegen die Juden und ihre Sitten (28,17). Paulus wird noch nach seiner Bekehrung als einstmals treuer Pharisäer dargestellt (23,6). Selbst der Anfang der Heidenmission ist beim Gottesfürchtigen Kornelius mit der Person des Petrus verbunden (10,1–11,18), einem der Zwölf, die die Kontinuität zum alttestamentlichen Gottesvolk der zwölf Stämme Israels (Lk 22,30 Q) garantieren. Die Aufnahme der Traditionen Israels ist nach Lukas für die Kirche unentbehrlich. Sie bedeutet vor allem die Aufnahme der Schrift (§ 2.1.3). Sowohl Jesus als auch die Christen studieren sie (Lk 2,46; Apg 17,11). Die Predigten Jesu (s. Anm. 681 ff.) – auch die des Auferstandenen – gehen genauso von der Schrift aus624 wie die Predigten der Apostel (Apg 2,14 ff.). In der Passion Jesu erfüllen sich die prophetischen Voraussagen der Schrift, deren Sinn erst der Auferstandene erschließt (Lk 24,27– 27.44–47).625 Sogar die Ausgießung des Geistes geschieht nach der prophetischen Ankündigung (vgl. Joel 3,1–5 [§ 2.1.5] in Apg 2,16b–21.39) und ebenso die Verkün613

Lk 1,32 (Thron Davids); 2,4.11 (Stadt Davids); 2,26 ff. (der Christus des Herrn); vgl. 24,21 („der Israel erlösen werde“); Apg 2,24 ff. u. a. 614 Apg 2,41; 6,7; 21,20. 615 Lk 1,5 ff.; 24,47 ff.; vgl. die Darstellung Jesu (2,22 ff.) und den Zwölfjährigen im Tempel (2,41 ff.), die Tempelreinigung (19,45–48), das Lehren (21,37 f.) und die täglichen Aufenthalte im Tempel (22,53), aber auch Jerusalem am Beginn des Reiseberichts (9,51) und als Ausgangspunkt der Mission (24,47: „Fangt an in Jerusalem“). 616 Vgl. Apg 1–7, bes. 2,42–47; 3,1; 5,42, ferner 8,14.25; 11; 15; 19,21; 22,17–21 u. ö. 617 Vgl. hingegen die Erwähnung Galiläas in Mk 16,7; Mt 28,7.10.16; Joh 21. 618 Lk 20,37 (Sadduzäerfrage nach der Auferstehung); Apg 3,13; 7,32. 619 Apg 2,22; 3,12; 13,16.26; 28,17.23. 620 Apg 10,35 (Kornelius); 13,16.26 u. ö. 621 Apg 9,20 (Damaskus); 13,5.14.42 f. u. ö. (Zypern und Antiochien in Pisidien). 622 Apg 13,50; 14,2 f. (Ikonion); 19,8–10 (Ephesus). 623 Apg 13,45–47; 18,4–6 (Korinth); 28,25–28 (Rom); vgl. 17,1 ff. 624 Lk 4,16 ff. (Antrittspredigt); 24,25–27.44–47 (Leidensvoraussagen der Schrift). 625 Vgl. die dritte Leidensankündigung (Lk 18,31–33), aber auch das „deí“ („muss“) in Lk

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

505

digung des Heils für die Heiden (vgl. Jes 49,6 in Apg 13,47). Die ganze Schrift wird von Lukas mit Vorliebe unter dem Sammelbegriff „die Propheten“626 subsumiert und damit primär als Ankündigung des Christusgeschehens aufgefasst.627 Die Sendung Christi wird (wie in Gal 3 f.; § 5.11.4b) als Erfüllung der Nachkommenverheißung an Abraham verstanden (Apg 3,25 f.), jedoch mit einem bezeichnenden Unterschied: Während für Paulus der Kreuzestod Jesu die Äonenwende von der Existenz unter dem Fluch des Gesetzes zum Leben im Segen gebracht hat (§ 5.11.3b), betont Lukas die Kontinuität des Bundes, den Gott mit Abraham geschlossen hat (vgl. Apg 7,2 ff.). Deshalb zielt die lukanische Petrusrede nicht (wie das Zitat derselben Segensverheißung in Gal 3,8; § 5.11.4b) auf die „(Heiden-)Völker“ (éthnē), sondern wendet sich wortspielartig an die Israeliten: Als „Volksstämme“ (patriaí) sollen sie dem mit ihrem „Stammvater“ Abraham (patḗr) geschlossenen Bund gerade dadurch treu bleiben, dass sie Christus als den verheißenen Nachkommen und Messias Israels anerkennen.628

Als die ersten Heiden zum Glauben an Christus gelangten, stellte sich für die Judenchristen das Problem, dass sie nach ihren jüdischen Vorstellungen durch den Kontakt mit Heiden unrein werden und nicht mehr in die Nähe des heiligen Gottes kommen, d. h. am Kult teilnehmen durften. Deshalb wird den christgläubigen Heiden als Erleichterung der jüdischen Pflichten nur das auferlegt, was den Gottesfürchtigen629 im Umfeld der Synagoge erlaubt war, ohne rituell „unrein“ zu werden (vgl. die kultischen Minimalforderungen des Heiligkeitsgesetzes Lev 17 ff.). In diesem Sinn ist auch das Aposteldekret zu verstehen (Apg 15,20.29; 21,25), das zum Schutz der judenchristlichen Gläubigen vor Verunreinigung durch Nicht-Juden von den Heidenchristen bloß den Verzicht auf den Genuss von nicht rituell geschlachtetem Fleisch und auf Eheschließungen innerhalb der Blutsverwandtschaft nach Lev 17 f. verlangte. Nach Lukas wurde dieses Aposteldekret selbst von Paulus anerkannt (Apg 15,12– 25).630

2,49 (Zwölfjährige im Tempel); 4,43; 9,22 (erste Leidensankündigung); 13,33; 17,25; 22,37 (nach dem Abendmahl); 24,7 (zwei Männer am Grab) 24,26.44 (der Auferstandene). 626 Vgl. Lk 1,70; 13,28; 24,25 (vgl. V.27); Apg 3,18–24; 10,43; 13,27; 26,27 (vgl. V.22); vgl. § 2.1.5. 627 Daher ist es paradox, dass Markion (Mitte 2. Jh.; § 3.3b) gerade die lukanischen Schriften zum grundlegenden Teil seines antijüdischen Kanons machte. 628 Vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 94–99.238 f.; ders., Art. Segen, ThBLNT2 2, 1636. 629 Die Gottesfürchtigen sympathisierten mit der jüdischen Religion, galten ohne die Beschneidung aber nicht als Juden im Vollsinne, sondern als Heiden; vgl. B. Wander, Gottesfürchtige und Sympathisanten. Studien zum heidnischen Umfeld von Diasporasynagogen (WUNT 104), Tübingen 1998. 630 Paulus erwähnt das Aposteldekret in Gal 2,1–10 jedoch nicht, sondern betont, dass ihm „nichts weiter auferlegt“ wurde außer der Kollektensammlung (Gal 2,6.10; § 5.8.2; 5.11.3a; 5.11.4a); vgl. J. Wehnert, Die Reinheit des „christlichen Gottesvolkes“ aus Juden und Heiden (WMANT 173), Göttingen 1997, bes. 128–130.

506

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Lukas betonte und machte sich auch theologisch zunutze, dass nur ein Teil der damaligen Jerusalemer Juden für die Hinrichtung Jesu verantwortlich war. Zunächst stand das Volk auf der Seite Jesu,631 doch als es sich in der Forderung nach der Hinrichtung Jesu und der Freilassung des Barabbas in Lk 23,18 mit seinen Führern solidarisierte, geschah dies nach dem Urteil des Lukas „aus Unwissenheit“ (Apg 3,17). Diese judenfreundliche Dimension der lukanischen Theologie veranlasste einige Forscher (Jacob Jervell, Matthias Klinghardt) zu der Annahme, dass bei Lukas die ganze Kirche aus einem äußeren Kreis der Gottesfürchtigen (s. Anm. 629) bestehe, die der Synagoge zumindest innerlich verbunden waren.632 Diese Vermutung ist jedoch eine einseitige Sicht:633 Denn zum einen wird das neue Volk Gottes in der Abschiedsrede des Paulus (Apg 20,28) schon als ganzes „ekklēsía“ (Kirche) genannt. Diese ist aber weder mit dem neuen oder erneuerten Israel noch mit dem Reich Gottes identisch. Die Existenz der „ekklēsía“ wird durch das Blut Jesu, d. h. seinen Tod, begründet und setzt bereits die Vorstellung von einer Zeit zwischen der Ankunft des Messias und dem Kommen des Reiches Gottes (bzw. des neuen Äons) voraus. Diese neue christliche Sicht der eigenen Situation als einer Existenz zwischen den Zeiten war in den Erwartungen Israels noch unbekannt (§ 5.6.2.1; 5.10.3). Zum anderen gibt es in der Apostelgeschichte deutliche Zeichen jüdischer Ablehnung,634 wenn Lukas von der Vertreibung des Paulus aus den Synagogen berichtet635 und am Ende die Verstockungsankündigung aus Jes 6,9 f. zitiert (Apg 28,24–28) – nicht ohne freilich darauf hinzuweisen, dass einige führende Juden sich überzeugen ließen.636 So ist auch die Kirche ein neues Gebilde, das in die Zeit zwischen der Offenbarung des wahren Messias und der vollen Ankunft des Reiches Gottes als Wiederherstellung des Alls (Apg 1,6; 3,21) gehört.

631

Vgl. Lk 19,48; 21,38 sowie 20,19; 22,2. Vgl. J. Jervell, Luke and the People of God, 41–74.143.188; M. Klinghardt, Gesetz, 123, 212.267. 633 Vgl. die kritische Würdigung von Jervells Kommentar zur Apostelgeschichte durch M. Hengel (s. Anm. 563). 634 Apg 7,58 f. (Steinigung des Stephanus); 8,1; 9,1 f. (Saulus als Christenverfolger). 635 Vgl. Apg 13,45–52 (Antiochien in Pisidien); 14,2–5 (Ikonion); 17,5 ff. (Thessalonich); 18,4–6 (Korinth), besonders das Staubabschütteln (13,51; 18,6) als Zeichen für den Abbruch jeglicher Gemeinschaft. 636 Vgl. dasselbe Zitat aus Jes 6,9 f. in Mk 4,10–12 (sog. Parabeltheorie beim Messiasgeheimnis; § 6.2.7.4); Joh 12,39 f. (§ 7.1.5.3c); Röm 11,7 f. (§ 5.16.5d); zur Verstockungsproblematik vgl. M. Theobald, Mit verbundenen Augen. Kirche und Synagoge nach dem Neuen Testament, in: Studien (Lit. § 5.16), 367–395, hier bes. 378–386. 632

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

507

Israel wird nicht abgelehnt, und das Versagen der Juden bedeutet keinen Abstrich an Gottes Plänen,637 weil der Tod Jesu vorherbestimmt war (Lk 17,25; Apg 2,23). Das Versagen betrifft nicht Israel in seiner Geschichte. Es betrifft nach Lukas nur die Juden, die Jesus nicht aufgenommen haben. Grundsätzlich gilt, dass die Juden als Kinder Gottes die älteren Geschwister der Christen sind. Diese bleibende Verbundenheit mit Israel verdeutlicht Lukas z. B. mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,25–32): Indem der (himmlische) Vater dem älteren Sohn638 in der Erzählung feierlich erklärt: „Alles, was mein ist, das ist dein“, behandelt er ihn gleich wie den jüngeren Sohn. Die Juden, die durch den älteren Bruder verkörpert werden, bleiben immer Kinder des himmlischen Vaters. In der Gestalt des jüngeren Sohns ermahnt Lukas die Christen, die Juden als ihre älteren Brüder zu respektieren.639 Der für die Kirche gebrauchte Ausdruck „ekklēsía“ war in der Septuaginta eine Bezeichnung für die „Versammlung“ Israels (hebr. qāhāl),640 im Griechischen zugleich ein allgemein bekannter Terminus für die „Volksversammlung“ einer griechischen Polis (vgl. Apg 19,39; § 5.4). In semantischer Hinsicht ist diese Konnotation der Volksversammlung für die Leser des lukanischen Werks entscheidend: Die Öffentlichkeit der Volksversammlung entspricht der Absicht des Verfassers, den öffentlichen Anspruch christlicher Verkündigung hervorzuheben (Apg 26,25; 28,31: metá pásēs parrēsías = mit allem Freimut). Weil Jesus in seiner Evangeliumsverkündigung (Lk 4,43; 8,1 u. ö.) das Reich Gottes vor weggenommen hat (Lk 17,21: „das Reich Gottes ist mitten unter euch“),641 ist die Verkündigung des göttlichen Heilsplans unlösbar mit der Erinnerung an seine Person verknüpft (Apg 28,31).642 Der eigentliche Auftrag der Kirche ist die Verkündigung des Reiches Gottes mit Jesus als Herrn und Heiland. Die Funktion eines

637 Das ist der Sinn des göttlichen „dei“ („muss“) z. B. in Lk 22,37; Apg 1,16 (s. Anm. 625) s. Ch.-H. Cosgrove, The Divine deí in Luke-Acts, NT 26 (1984), 167–190. 638 Dass der ältere Sohn einen Juden darstellt, wird nicht bezweifelt. Die Frage ist nur, ob er einen nichtchristlichen Juden oder einen Judenchristen verkörpern soll. Das änderte sich in der Überlieferung des Gleichnisses. 639 Dies ist keine Anleitung zur Judenmission, denn es handelt sich um eine katechetische, nicht um eine missionarische Schrift. Die Erzählung sollte den Christen klar machen, dass sie in Bezug auf die Juden ihre jüngeren Brüder sind. 640 In Qumran hat dieses Wort für die endzeitliche Versammlung Gottes eine stark eschatologische Konnotation. 641 Die alte Lutherübersetzung „... ist inwendig in euch“ wird heute nicht mehr vertreten. 642 Allein Lukas verbindet das „Reich Gottes“ mit Verben des Redens; vgl. A. Prieur, Die Verkündigung der Gottesherrschaft, bes. 4 f.75.83.244 f.279–283.

508

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

„Zeugen“ (mártys) haben die zwölf Apostel,643 außerdem Paulus.644 Mehr als diese dreizehn Zeugen gibt es bei Lukas nicht. b) Das christliche Gemeindeleben: Neben der Kontinuität mit Israel arbeitet Lukas die zunehmende Verselbstständigung der frühen Christenheit als Religionsgemeinschaft heraus, die insbesondere im Aufbau neuer Gemeindestrukturen und in der Ausgestaltung eigener liturgischer Elemente sichtbar wird. Grundlegend für das gottesdienstliche Leben der Gemeinde ist nach dem Ideal der Jerusalemer Urgemeinde in Apg 2,42 das beharrliche Festhalten an vier wesentlichen Elementen: „der Lehre der Apostel (d. h. ihrer Christusverkündigung; 5,28) und der Gemeinschaft (einschl. Gütergemeinschaft; vgl. 2,44 f.; 4,32–37), dem (eucharistischen) Brotbrechen (§ 5.6.2.3) und den Gebeten (2,46 f.)“. Damit verliert der Tempel in Jerusalem seine Bedeutung als Opferstätte,645 aber er bleibt noch ein Ort der Lehre646 und des Gebets.647 Umso wichtiger werden dafür die privaten Häuser (20,20), in denen man sich zum Gottesdienst und (eucharistischen) Mahl versammelt.648 Dies geschieht in Jerusalem „täglich“ (Apg 2,46), sonst „am ersten Tag der Woche“ (Apg 20,7; 1Kor 16,2), dem Tag der Auferstehung Jesu (Lk 24,1 parr.). Auch dass diese Treffen am Sonntag stattfinden (nicht am jüdischen Sabbat), deutet auf den Prozess einer religiösen Neukonstitution der Christen als Religionsgemeinschaft durch die Etablierung eigenständiger gottesdienstlicher Riten hin. In keinem der anderen Evangelien wird dem Gebet eine so große Bedeutung zugemessen wie bei Lukas. Schon in der Vorgeschichte sind die Hymnen eine lukanische Besonderheit (s. Anm. 570.601). Im Leben Jesu begegnet das Gebet redaktionell ergänzt an den entscheidenden Punkten als Erfahrung der Gottverbundenheit649 und damit zugleich als Vorbild für die Gläubigen.650 Dementsprechend wird in Lk 11,1 ff.

643

Lk 24,48; Apg 1,8.22; 5,32 u. ö. Apg 22,15; 26,16; vgl. 18,5; 20,21.24; 23,11; 28,23; vgl. die Exkurse bei Ch. Burchard, Der dreizehnte Zeuge, 130–135; A. Prieur, Gottesherrschaft, 50–59. 645 Lk 1,5 ff. (Zacharias); vgl. stattdessen 22,19 f. (Abendmahl; § 5.6.2.3e). 646 Lk 19,47 (Jesus nach der Tempelreinigung); 21,37 (vor der Passionsgeschichte); Apg 5,21.25.42 (die Apostel); 21,28.39 ff. (Paulus). 647 Lk 19,46 (Tempelreinigung); 24,53 (nach der Himmelfahrt); Apg 2,46 (Urgemeinde); 3,1.8 f. (Petrus und Johannes bei der Heilung eines Gelähmten); 22,17; 24,11 (Paulus). 648 Apg 2,42–47; 5,42; 20,7–12; vgl. R. W. Gehring, Hausgemeinde und Mission (BWM 9), Gießen 2000, 128–219. 649 Vgl. Lk 3,21 (vor der Taufe Jesu); 5,16 (nach der Heilung eines Aussätzigen); 6,12 (vor der Auswahl der Zwölf); 9,18 (vor dem Petrusbekenntnis); 9,28 f. (Verklärung Jesu); 11,1 (vor dem Vaterunser); 23,46 (Zitat von Ps 31,6 am Kreuz) – alles Stellen lukanischer Redaktion. 650 Vgl. die Fürbitte als Form der Feindesliebe (Lk 6,27 f.36 f.) und das Gebet in der Passion Jesu (23,34.46) mit dem Stephanusmartyrium (Apg 7,56.59 f.; s. Anm. 739), aber auch die Fürbitte Jesu für den Glauben des Petrus und den Auftrag, die Brüder zu stärken (Lk 22,32). 644

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

509

mit einer kürzeren Form des Vaterunsers paränetisch zum Beten ermuntert651 und in der Apostelgeschichte wiederholt vom Gebet im Leben der Gemeinde berichtet.652 In besonderer Weise betont Lukas den Lobpreis und Dank an Gott.653 Im Blick auf die Pneumatologie (s. Anm. 695 ff.) ist bemerkenswert, dass Lukas bei der Gebetserhörung die Zusage der guten Gaben durch die Verheißung des heiligen Geistes als der wichtigsten Gabe konkretisiert (vgl. Lk 11,13 mit Mt 7,11). Die zwölf Apostel bilden in der Jerusalemer Urgemeinde zunächst prototypisch den „Gründungsvorstand“ (Apg 6,1–6), doch werden sie nach dem Apostelkonvent als Leitungsgremium nicht mehr erwähnt (zuletzt 16,4). Ihre Leitungsfunktion wird nun von den Presbytern654 mit Jakobus an der Spitze (21,18) übernommen (§ 6.2.8e). In Apg 6,1–6 erweckt Lukas den Eindruck, als hätten die Apostel die Sieben ins Diakonenamt eingesetzt (vgl. Phil 1,1; § 5.14.6). Da Stephanus (6,8 ff.) und Philippus (8,5 ff.; 21,8) aber nur als Träger der Verkündigung hervortreten (21,8: „Evangelist“), ging es historisch – statt um die Aufteilung zwischen kerygmatischen und diakonischen Aufgaben – eher um die Lösung des Sprachproblems zwischen griechischund aramäischsprechenden Gemeindegliedern. Mit dem Siebenerkreis wurde ein neues Leitungsgremium für die Hellenisten institutionalisiert, d. h. für die griechischsprechenden Teile der Gemeinde.655 Die Bedeutung der sozialen Verantwortung in der Armenfürsorge wird dadurch nicht geschmälert (s. Anm. 690ff.). In Apg 20 hält Paulus als exemplarischer Gemeindeleiter nach einer langen Predigt die eucharistische Mahlfeier (20,7–12). Anschließend spricht er in seiner Abschiedsparänese die Presbyter von Ephesus als Episkopen („Aufseher“)656 auf ihre Verantwortung an, die Gemeinde Gottes zu weiden und vor Irrlehrern zu schützen (20,17.28–30).657 Da Ephesus der Sitz der Paulusschule ist,658 sind mit diesem Vermächtnis auch die Leiter anderer Gemeinden im paulinischen Einflussbereich ange651

Siehe § 6.3.4.3b; vgl. Lk 6,27 f. (Fürbitte für Feinde); 18,1–14 (Gleichnisse von der bittenden Witwe, dem Pharisäer und Zöllner). 652 Lk 24,52 f.; Apg 1,14.24 (Jünger); 2,42.46 f. (Urgemeinde); 4,24–31; 6,4; 12,5 u. ö. 653 Vgl. stets lukanisch Lk 5,25 (Gelähmter); 13,13 (verkrüppelte Frau); 17,15 f. (dankbarer Samariter); 18,43 (Blindenheilung), aber auch 1,46 (Magnificat); 1,64.68 (Benedictus); 2,13 f.20 (Engel und Hirten); 2,28 (Simeon); 7,16 (Auferweckung in Nain); 19,37 (Einzug in Jerusalem); 23,47 (Hauptmann am Kreuz); 24,53 (Jünger im Tempel) sowie Apg 2,47 (Urgemeinde); 3,8 f.; 4,21; 10,46; 11,18; 13,48; 21,20. 654 Apg 11,30; 15,2 ff.; 16,4. 655 Vgl. M. Hengel, Zwischen Jesus und Paulus. Die „Hellenisten“, die „Sieben“ und Stephanus (Apg 6,1–15; 7,54–83), in: Paulus und Jakobus (Lit. § 5), 1–67. 656 D.h. hier örtliche Gemeindeleiter, noch nicht „Bischöfe“ mit überregionalem Anspruch (Exkurs 12). 657 Zu den Ämtern vgl. Exkurs 12 sowie U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik (Lit. § 7.1), 38.56–66.166 f. 658 Siehe § 8.2.8; vgl. P. Trebilco, Ephesus (Lit. § 5.8.1), 172–196.

510

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

sprochen. Für das Verständnis der lukanischen Theologie bleibt festzuhalten, dass die Existenz der Kirche – geradezu paulinisch klingend – soteriologisch durch den Tod Jesu („durch sein eigenes Blut“) begründet wird.659 Bei der Taufe (§ 5.6.2.2e) übernahm Lukas die paulinische Auffassung vom Mitsterben mit Christus, wie ein Vergleich der Metapher vom Anziehen des Gewandes und der Rede vom Totsein und Lebendigwerden im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,22.24.32) mit den Taufaussagen in Gal 3,27; Röm 6,1–11 (§ 5.6.2.2d) erkennen lässt.660 Besonders drängend war für Lukas die Frage, wie das Verhältnis zwischen dem rituellen Vollzug mit Wasser und dem Wirken des Geistes zu bestimmen ist. Das Ausgießen des Geistes war nach dem Zitat von Joel 3,1–5 in der Pfingstpredigt des Petrus (Apg 2,17 ff.) für die Endzeit verheißen. Deshalb haben die ersten Christen die Wirkungen des heiligen Geistes in ihren Gemeinden als Hinweis auf den Anbruch des Eschatons aufgefasst. Der Geist befähigte zum Reden „in Zungen“, d. h. zur Glossolalie (Zungenrede),661 die sowohl den ekstatischen Lobpreis der großen Taten Gottes (Apg 2,4.11; 10,46) als auch die prophetisch inspirierte Verkündigung (2,4; 19,6) umfasst. Schon bald erwies sich das Wirken des Geistes für die frühe Christenheit jedoch als ein Phänomen, mit dem umzugehen schwierig war, wie das entsetzte Erstaunen und die Ratlosigkeit der Anwesenden sowie der von einigen geäußerte Spott über das Pfingstereignis verraten: „Sie sind voll von süßem Wein“ (Apg 2,1–13; zur Pneumatologie s. Anm. 682 ff.). Dieser Spott der Außenstehenden, die selber nicht vom Geist erfüllt waren, bestätigt in der Pfingstgeschichte das Wirken des heiligen Geistes in der gottesdienstlichen Versammlung. Lukas deutete die Glossolalie (Zungenrede) – anders als Paulus in 1Kor 14 (§ 15.12.1) – nicht als unverständliche Sprache der Engel (1Kor 13,1: „Engelszungen“), sondern interpretierte sie als verständliche Verkündigung in den Fremdsprachen, die damals rund um das Mittelmeer gesprochen wurden.662 Lukas versuchte, die Taufe so eng wie möglich mit der Gabe des Geistes zu verbinden.663 Nach einer alten vorpaulinischen Tradition werden durch das Eintauchen 659

Vgl. Apg 20,28 mit Röm 3,25; 5,9; 1Kor 10,16; 11,27 (s. Anm. 760 ff.). Vgl. auch Kol 2,12 f.; 3,9 f.; Eph 2,1–10; 4,22–24. 661 Vgl. § 5.12.1 zu 1Kor 12–14. 662 Vgl. J. Kremer, Pfingstbericht, 272. 663 Im Idealfall des äthiopischen Kämmerers kam der Geist herab, als der Getaufte aus dem Wasser stieg, und begann zu wirken (Apg 8,39), wie es sich urbildlich-modellhaft bei der Taufe Jesu ereignet hatte (Lk 3,21 f.; § 5.6.2.2c). Wo die Wassertaufe bereits durchgeführt worden war, musste der Geist möglichst bald durch die apostolische Handauflegung hinzukommen (Apg 8,15–17). Hatte jemand den Geist schon empfangen, so wurde dessen Gabe durch die Wassertaufe bestätigt (Apg 10,45.47 f.). Zur Handauflegung vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 319–348, bes. 329–331. Als sich in der Alten Kirche die Säuglingstaufe durchsetzte (§ 6.2.1 Anm. 126), wurde die postbaptismale Handauflegung in der Firmung verselbstständigt 660

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

511

und Emporsteigen in der Taufe Tod und Auferstehung symbolisch vergegenwärtigt (Röm 6,3–5; § 5.6.2.2b). Außerdem erfolgt nach urchristlicher Vorstellung bei der Taufe die Geistmitteilung (1Kor 12,13; § 5.6.2.2c).664 Durch die enge Verbindung von Geistmitteilung und Wasserritus versuchte Lukas die enthusiastisch-vieldeutigen Züge des Geistwirkens aus der Anfangszeit mit einem klar verständlichen Bekenntnis zum auferstandenen Christus zu verknüpfen. Der erste Taufappell erfolgt bereits in der Pfingstpredigt des Petrus (Apg 2,38 f. – das lukanische Pendant zum Taufbefehl in Mt 28,19). Diese Aufforderung des Petrus zur Taufe mit Buße, Sündenvergebung und Geistempfang entspricht zwar unverkennbar dem theologischen Profil des Lukas, doch wird eine christliche Taufpraxis bereits bei der Damaskusvision des Paulus für die frühen 30-er Jahre bezeugt (Apg 9,18)665 und auch durch die anderen Tauferzählungen der Apostelgeschichte bestätigt. Schon die Paulusbriefe setzen die Taufe als selbstverständlich geübte Praxis voraus (§ 5.6.2.2b). Für die Anfangszeit der Kirche war die Bekehrungstaufe typisch.666 Die Taufe des Kornelius (Apg 10,1–11,18) ist zugleich ein Präzedenzfall für die Völkermission: Von nun an dient die Taufe als Initiationsritus (vgl. 2,41) zur uneingeschränkten Aufnahme der Gläubigen und formellen Integration in das Gemeindeleben einschließlich Gastfreundschaft, Tisch- und auch eucharistischer Mahlgemeinschaft. Damit tritt die christliche Taufe als funktionales Äquivalent an die Stelle der Beschneidung im Judentum.667 Wenn mit den Neubekehrten ihr „Haus“ getauft wird,668 dürften im Sozialgefüge einer antiken Großfamilie (Exkurs 11) die unmündigen Kinder eher einbezogen als ausgeschlossen gewesen sein, obgleich Lukas nirgends eine Kindertaufe erwähnt.669 Ein Sonderfall ist die Nachtaufe der Johannesjünger in Ephesus, die weder auf den Namen Jesu getauft noch mit dem heiligen Geist erfüllt waren (Apg 19,1–7).

und später auch von den Reformatoren bei der Konfirmation übernommen; vgl. U. Heckel, Kasualien als Segenshandlungen. Eine theologische Grundlegung der kirchlichen Passageriten, US 58 (2003), 188–204, hier 192–194.319 (Korrekturnachtrag der Redaktion). 664 Apg 2,38; 8,15–17; (9,17 f.); 10,45.47 f.; 19,2–6 (§ 5.6.2.2c). 665 Vgl. 1Kor 12,13: „wir alle sind getauft“. 666 Apg 8,12 f. (Simon u. a.); 8,36–38 (Äthiopier); 16,14 f. (Lydia); 16,30–34 (Gefängnisaufseher); 18,8 (Krispus). 667 Vgl. Kol 2,11 f.; vgl. auch die Beschneidung von Johannes und Jesus (Lk 1,59; 2,21) mit der Taufe Jesu (3,21 f.); vgl. F. Avemarie, Tauferzählungen, 351.396.448. 668 Apg 10,24.27; 11,14 (Kornelius); 16,15 (Lydia); 16,31–33 (Kerkermeister); 18,8 (Krispus) sowie 1Kor 1,16 (Stephanas). 669 Vgl. F. Avemarie, Tauferzählungen, bes. 100–103 zur Oikos-Formel, 394–398 die Auswertung zu Kornelius, 406–412 den Vergleich mit Paulus und 441–455 den Ertrag der ganzen Arbeit.

512

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Beim Herrnmahl (§ 5.6.2.3e) hebt Lukas redaktionell einerseits die Kontinuität mit dem Passamahl hervor (Lk 22,15–18), andererseits durch den Wiederholungsbefehl „Das tut zu meinem Gedächtnis“ (22,19) die Einsetzung der eucharistischen Mahlfeier als eines neuen christlichen Ritus. Dementsprechend wird die Eucharistie nach der Apostelgeschichte in den ersten Gemeinden praktiziert.670 Durch die gemeinsame Feier wird das Heil vergegenwärtigt, das in Christus präsent ist und das im Reich Gottes endgültig verwirklicht werden wird.671 Das eucharistische Mahl ist „der Kern des religiösen Lebens der Urkirche, die Quelle des eschatologischen Jubels (Apg 2,46), aber auch die Verpflichtung zur Treue gegenüber dem Herrn und zur brüderlichen Gemeinschaft, die sich im Liebesmahl bekundet“.672 Bei den Emmausjüngern (Lk 24,13–35) wird die Präsenz Jesu durch das Brotbrechen zur erkennbaren Wirklichkeit (24,30 f.; vgl. schon die Bitte dieser Jünger in V. 29: „bleibe bei uns“). Lukas signalisiert dem Leser diese Funktion der Vergegenwärtigung des Heils noch auf einer zweiten Ebene durch indirekte semantische Hinweise. Die bedeutendsten Aussagen über das Wirken des irdischen Jesus, die das Heil im Reich Gottes vergegenwärtigen, werden mehrfach durch das Signalwort „heute“ (sḗmeron) hervorgehoben. Stets ist diese pointierte Zeitangabe mit einer konkreten Situation verbunden, aber sie bleibt ewig gültig: „Heute ist euch der Heiland geboren“ (Weihnachtsgeschichte Lk 2,11), „Heute ist dieses Schriftwort erfüllt vor euren Ohren“ (Antrittspredigt Jesu Lk 4,21), „Heute ist diesem Haus Heil widerfahren“ (zu Zachäus Lk 19,9; vgl. V.5) und „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (zu dem Mitgekreuzigten; Lk 23,43).673 Dieses eindringliche „Heute“674 ist ein bemerkenswertes Beispiel für die theologische Prägung der Sprache eines Makrotexts.675 Mit der Beschränkung des „Sḗmeron“ auf die Zeit des irdischen Jesus hängt es vielleicht zusammen, dass in der lukanischen Version des Vaterunsers die Zeitangabe „heute“ durch das verallgemeinernde Wort „täglich“ ersetzt wird: „Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag“ (Lk 11,3; § 6.3.4.3b). 670 Apg 2,42.46 (Jerusalemer Urgemeinde); 20,7–12 (Paulus in Troas); 27,35 (nach dem Schiffbruch vor Malta). 671 Lk 22,16.18; vgl. 13,29 (Zu-Tisch-Sitzen im Reich Gottes); 14,15 ff. (Gleichnis vom Abendmahl). 672 R. Schnackenburg, Die Kirche im Neuen Testament (QD 14), Freiburg 21969, 62; vgl. J. Ernst, Lukas, 48. 673 S. Anm. 704 ff. Die westliche Texttradition von Lk 3,22 bezeugt die himmlische Stimme bei der Taufe Jesu mit den Worten aus Ps 2,7: „Du bist mein Sohn, heute (sḗmeron) habe ich dich gezeugt.“ 674 Vgl. auch Hebr 3,7–4,13 (Zitat Ps 95,7 f.; § 8.5.3c). 675 Vgl. P. Pokorný, Theologie der lukanischen Schriften, 69 ff., dort auch zu den zwei Ausnahmen Lk 16,19; 19,47, die mit der diachronen Mehrdimensionalität des Texts zusammenhängen.

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

513

Das „Heute“ der irdischen Präsenz Jesu gehört aus der Sicht der Hörer schon der Vergangenheit an, aber es wird durch das Vorlesen des Evangeliums im Gottesdienst neu vergegenwärtigt. Auch in der Liturgie werden einige Ereignisse aktualisiert, indem Lukas sie als „täglich“ bzw. „Tag für Tag“ (kath’ hēméran) wiederholte Praxis darstellt: in der Vaterunserbitte um das „tägliche Brot“ (Lk 11,3), in der Verkündigung: „er redete täglich“ (Apg 17,17; vgl. 5,42: pásan hēméran), in der Eucharistie: „Und sie waren täglich einmütig im Tempel und brachen das Brot“ (Apg 2,46), in der Mission: „Der Herr fügte täglich zur Gemeinde die Geretteten hinzu“ (Apg 2,47; 16,5), im Lesen der Bibel: „Sie forschten täglich in der Schrift“ (Apg 17,11), im sozialen Dienst der „täglichen“ (kathēmerinós) Fürsorge (Apg 6,1) und in der Selbstverleugnung: „er trage sein Kreuz täglich“ (Lk 9,23). Das „Heute“ der irdischen Existenz Jesu bleibt nicht Vergangenheit. Es wird durch das „tägliche“ Leben der Kirche immer wieder vergegenwärtigt, aktualisiert und institutionalisiert. c) Die Kirche in der Weltgeschichte: Mit der Sendung der Kirche als des endzeitlichen Volkes Gottes hängt die missionarische Öffnung zusammen, welche die Grenzen Israels überschreitet und das Ende der Erde erreichen soll. Der paradoxe Schluss der Apostelgeschichte, dass Paulus zu seiner Gerichtsverhandlung nach Rom gebracht wird und so gerade als Gefangener das Wort Gottes in die Hauptstadt des römischen Weltreichs bringt (Apg 28,16 ff.), macht deutlich, dass der Erfüllung des apostolischen Auftrags nichts mehr im Wege steht. Die Kirche befindet sich nach Lukas am Übergang, ihre Anfänge gehen noch auf die Zeit Israels zurück, aber in der Evangeliumsverkündigung hat sie schon teil am Reich Gottes. Sie ist auch „räumlich“ eine Brücke von den Juden zur übrigen Welt. Durch die Erzählungen von ihrer Ausbreitung wird der Weg der Mission in der Apostelgeschichte narrativ umgesetzt. Dieser universale Horizont wird noch durch die Synchronismen, d. h. Angaben über die Gleichzeitigkeit von Ereignissen, unterstützt, die das Berichtete in einen weltgeschichtlichen Zusammenhang stellen. Solche Synchronismen sind in der griechischen Geschichtsschreibung nicht unüblich, fallen bei Lukas aber besonders auf. Er betont das zeitliche Zusammentreffen der Geburt Jesu mit einer Verordnung, die der römische Kaiser Augustus zum Eintragen in die Steuerlisten erließ (Lk 2,1 f.). Auch das Auftreten von Johannes dem Täufer fällt mit dem fünfzehnten Regierungsjahr des Kaisers Tiberius zusammen (3,1 f.; vgl. Jer 1,2 f.).676 Die sonst noch wenig bekannte Geschichte der Kirche wird durch diese zeitliche Verknüpfung in die Weltgeschichte eingegliedert. Doch der Leser weiß, dass die Geschichte von der Ausbrei-

676 Zur Datierungsproblematik und Chronologie des Lebens Jesu vgl. R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 31–52; G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 147–152; P. Stuhlmacher, Theologie 2 (Lit. § 1), 183 f.

514

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

tung des Evangeliums die eigentliche (wenn auch nicht auffällige) Achse des Weltgeschehens ist. Nach Ansicht des Lukas ist das, was die Kirche täglich vermittelt, die Erfüllung der höchsten Werte menschlicher Kultur. Die Sünde der Menschen besteht seiner Meinung nach nicht in der Verkehrtheit ihrer moralischen Normen, sondern in der Unfähigkeit, ihren Normen zu folgen. Die beiden Grundregeln des menschlichen Verhaltens gegenüber Gott und den Mitmenschen werden in der Apostelgeschichte einerseits durch den Komparativ „mállon ḗ“ („mehr als“) mit zwei analog strukturierten Sätzen formuliert, andererseits in Anlehnung an heidnische Klassiker ausgedrückt. Christlichem und heidnischem Denken gemeinsam ist das (so nur bei Lukas vorkommende) „mehr als“ (mállon ḗ) in der Petrusrede vor dem Hohen Rat: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29; 4,19) – ein fast wörtliches Zitat der Worte des Sokrates aus Platons Apologie „... werde ich lieber (mállon) Gott gehorchen als (ḗ) euch“ (apol. 29C).677 Die zweite Grundregel wird in der Abschiedsrede des Paulus erwähnt: „Geben ist seliger als (mállon ḗ) nehmen“ (Apg 20,35) – ein fester Bestandteil stoischer Philosophie (Seneca ep. 81,17).678 Lukas verstand die Tradition Jesu als die Verwirklichung der höchsten Ideen der Menschheit. Die Realisierung dieses Ideals vermittelt die Kirche der Welt, indem sie das Wort von Jesus Christus verkündigt. 6.4.5.3

Christologie und Soteriologie

Beim Vordringen des Evangeliums in die heidnische Gesellschaft möchte Lukas im Blick auf Christus die vorhandenen Überlieferungen von Jesus festhalten (Lk 1,1–4). Zugleich hält er eine Neuinterpretation der ältesten Zeugnisse für erforderlich, die die Heilsbedeutung Jesu in einer heidnischen Umgebung für heidenchristliche Adressaten (s. Anm. 781) verständlich macht, die nicht mit der jüdischen Tradition vertraut sind. Wir beginnen a–c) mit den christologischen Hoheitstiteln „Sohn Gottes“, messianischer „Prophet“ und „Heiland“, fahren fort mit d) der Neuinterpretation der Heilsbedeutung des stellvertretenden Todes Jesu, e) einer Auslegung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn und f) einer Charakterisierung der lukanischen Christologie, bevor wir g) mit einem Zwischenresümee schließen. a) Sohn Gottes: Im Lukasevangelium ist Jesus (ebenso wie bei Markus; § 6.2.7.3) der „Sohn Gottes“, allerdings zugleich auch in dem Sinne, dass er ein positives Pendant zu Adam, dem ungehorsamen Sohn Gottes, ist. Lukas führt den Stammbaum Jesu 677 Vgl. H. Hommel, Herrenworte im Lichte sokratischer Überlieferung, ZNW 57 (1966), 1–23. Zur Bedeutung dieser beiden Maximen s. P. Pokorný, Theologie der lukanischen Schriften, 64 ff. 678 Weitere Belege bei P. Pokorný, Theologie der lukanischen Schriften, 64 f.; E. Prast, Presbyter und Evangelium in nachapostolischer Zeit (FzB 29), Stuttgart 1979, 156.

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

515

auf Adam als (ersten) Sohn Gottes zurück (3,38: „Adam Gottes“), sodass Jesus als der neue Adam den wahren Menschen verkörpert.679 Damit wird das Auftreten Jesu von Anfang an in eine universale Perspektive gestellt, die die ganze Menschheit betrifft. Die Bedeutung dieser Genealogie wird dadurch eingeschränkt, dass Jesus nach 3,23 nur von den Menschen für einen Sohn Josefs (vgl. 4,22b) gehalten werden sollte (hōs enomízeto = wie man annahm). Diese Korrektur hängt mit der Vorstellung von der jungfräulichen Geburt Jesu zusammen, die in Lk 1,26–38 (bes. V.35) angekündigt wird. Die in der Weihnachtsgeschichte (2,1 ff.) bearbeiteten Traditionen scheinen von einer Jungfrauengeburt nichts zu wissen. Auch Paulus und Markus erwähnen diesen Gedanken nicht. Aber die sachliche Analogie in Mt 1,20 bestätigt, dass die Idee einer Jungfrauengeburt in der zweiten christlichen Generation breiteren Widerhall fand. Wir haben bei Matthäus (§ 6.3.3.3d) schon die theologische Berechtigung für diese Auffassung erwähnt, dass Jesus nicht durch die Sünde des Ungehorsams und der Ungerechtigkeit beeinflusst war. Lukas verstand als hellenistischer Mensch die Jungfrauengeburt als eine Aussage, die die Beziehung zu Gott betrifft. Der Bezug zu Gott wird auch durch die Rede von der Überschattung (Lk 1,27.35) umschrieben. Damit geht das ganze Wirken Christi letztlich auf die schöpferische Kraft des heiligen Geistes (s. Anm. 695) zurück.680 Der Gedanke der Jungfrauengeburt führt den Leser zur Erkenntnis der wahren Sendung Jesu. Aber für Jesus bringt die Vorstellung der Jungfrauengeburt einen Gehorsamskonflikt mit sich. Denn auf den Vorwurf Marias: „Mein Kind, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht“, antwortet der Zwölfjährige im Tempel, dass er in dem sein muss, was seines Vaters ist (Lk 2,48 f.). Der Gehorsam Gott, dem himmlischen Vater, gegenüber hat Vorrang (vgl. Apg 5,29). Worin sein göttlicher Auftrag besteht, zeigen die nächsten Titel: b) Der messianische Prophet: Jesus wird von Lukas nicht nur als „Lehrer“,681 sondern vor allem als messianischer „Prophet“ dargestellt.682 Schon in der Antrittspre679

Aus stilistischen Gründen kann es sich nicht um eine Inclusio handeln, die Lk 3,23 mit 3,38 verbinden sollte: „er war ein Sohn (wie man annahm Josefs ... des Adams) Gottes“; so aber z. B. J. Fitzmyer, AncB 28a, z.St. 680 Vgl. J. Kremer, „Dieser ist der Sohn Gottes“. Bibeltheologische Erwägungen zur Bedeutung von „Sohn Gottes“ im lukanischen Doppelwerk, in: C. Bussmann / W. Radl, Der Treue Gottes trauen, 137–157, dort 142 f.; R. E. Brown, The Birth of the Messiah (Lit. § 4.3), 290. 681 Vgl. „didáskalos“ (Lk 7,40; 11,45; 12,13; 19,39; 21,7) oder „epistátes“ (5,5; 8,24; 9,33.49; 17,13). 682 Vgl. Lk 7,16 (in der Auferweckung des Jünglings in Nain hat Jesus weit Größeres getan als die Propheten Elia und Elisa in 1Kön 17,10–12.17–24; 2Kön 4,18–37); Lk 7,39; 13,33; 24,19 und 11,46 ff. Q; vgl. das Zitat von der Ankündigung eines Propheten wie Mose aus Dtn 18,15– 18 in Apg 3,22 f.; 7,37; vgl. U. Busse, Die Wunder des Propheten Jesus (FzB 24), Stuttgart

516

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

digt Jesu (Lk 4,16–19)683 legt Lukas ihm mit Jes 61,1 f. einen prophetischen Text als Lesung in den Mund, der ihn durch die Salbung mit dem heiligen Geist (vgl. Apg 10,38) als messianische Gestalt der Endzeit ausweist (§ 5.6.1.1). Dementsprechend beantwortet Jesus die Anfrage Johannes des Täufers (Lk 7,22 Q) mit Wendungen aus dem Jesajabuch,684 die sein Handeln als messianische Erfüllung der prophetischen Verheißungen charakterisieren.685 Mit diesem Zitat aus Jes 61,1 f. sind zwei Linien angelegt: Zum Ersten ist Jesus gesandt, das Evangelium vom Reich Gottes den Armen, Gefangenen, Blinden und Zerschlagenen zu verkündigen.686 Ihnen gilt nach der lukanischen Darstellung die Par teinahme Jesu in den vier Seligpreisungen (6,20–23 Q) und den vier Weherufen der Feldrede (LkS 6,24–26). Dieses Eintreten für die Armen wird in den Gleichnissen vom reichen Mann und armen Lazarus (LkS 16,19–31) sowie von der Einladung zum großen Abendmahl (14,21) anschaulich ausgeführt (vgl. LkS 14,12–14). Besondere Aufmerksamkeit widmet Lukas den Frauen. Schon in der Vorgeschichte erzählt er von Elisabeth, Maria (Kap. 1 f.) und Hanna (2,36–38). Im weiteren Verlauf berichtet er von der Heilung von Maria Magdalena, Johanna und Susanna687 sowie vom Gespräch Jesu mit Maria und Martha (10,38–42), aber auch von der Vergebung für die Sünderin, die Jesus salbt (7,36–50), und der Heilung der verkrümmten Frau (LkS 13,10–17). Die Auferweckung des einzigen Sohns einer Witwe in Nain (LkS 7,11–17) erwähnt Lukas unmittelbar vor der Antwort an den Täufer, dass Lahme gehen und Tote aufstehen (7,22).688 Gerade Frauen erfahren die Fürsorge Jesu. Vor allem im Sondergut berichtet Lukas über die Zuwendung Jesu zu den Zöllnern, insbesondere Levi (5,27–32) und Zachäus (LkS 19,1–10).689 Die Zöllner waren verhasst, weil sie als freie Unternehmer und (Unter-)Pächter der Zollbezirke von den

2

1979; U. Busse, Das Nazareth-Manifest Jesu (SBS 91), Stuttgart 1977; G. Nebe, Prophetische Züge im Bild Jesu bei Lukas (BWANT 127), Stuttgart u. a. 1989; P. Pokorný, Theologie der lukanischen Schriften, 117 f. 683 Dass Jesus hier nach jüdischer Gewohnheit am Sabbat in der Synagoge am Gottesdienst teilnimmt, ist ein weiteres Zeichen der Kontinuität (§ 6.4.5.2a). 684 Jes 29,18; 35 f.; 42,18; 26,19; 61,1. 685 Vgl. Jes 52,7; 61,1 auch in 11QMelch II,15–18; 4Q521 2 II,12–14; vgl. J. Zimmermann, Messianische Texte (Lit. § 5.6.1), 343–365.377–389.389–412; M. Hengel / A. M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu (Lit. § 5.6.1), 41–43.122–125.209–212. 686 Vgl. Jes 61,1 mit Lk 4,18.43; 8,1 (s. Anm. 596). 687 Lk 8,2 f.; vgl. 23,49.55; 24,10. 688 Vgl. auch Lk 15,8–10 (Gleichnis vom verlorenen Groschen); 24,22.24 (Hinweis der Emmausjünger auf die Frauen am Grab); Apg 1,14; 12,12; 16,14 f. (Lydia); 17,34; 18,2.18.26 (Priszilla); 21,9 u. ö. 689 Vgl. das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18,9–14) sowie „alle Zöllner und Sünder“ als Zuhörer bei den Gleichnissen vom Verlorenen (15,1 ff.).

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

517

eingetriebenen Abgaben nur einen Teil abliefern mussten, den Rest aber in die eigene Kasse wirtschafteten. Außerdem standen sie im Dienst der römischen Besatzungsmacht und galten durch ihre Kontakte mit Nichtjuden als „unrein“. Nachdem Jesus im Haus des Zöllners Zachäus eingekehrt ist, wird als Quintessenz des ganzen Evangeliums resümiert, dass der Menschensohn gekommen ist, zu suchen und zu retten, was verloren ist (19,10; s. Anm. 704). Diesen Menschen Gott nahezubringen und sie zur Umkehr zu einem Leben im Sinn und in der Gemeinschaft Gottes zu bewegen, ist der Zweck der Sendung Jesu. Im Unterschied zu den Seligpreisungen in Mt 5,3 ff. wird die Armut in der Feldrede (Lk 6,20 ff.) nicht spiritualisiert (§ 6.3.4.2c). Die Warnung vor Habsucht und den Gefahren des Reichtums (LkS 12,13–21) verbindet Lukas mit der Aufforderung, vom eigenen Besitz abzugeben und die materielle Unterstützung Notleidenden oder sozial Schwachen zugute kommen zu lassen.690 Diese Verantwortung für die Armen wurde in der Gütergemeinschaft691 und Witwenfürsorge (Apg 6,1–3) der Urgemeinde modellhaft praktiziert, in der Spende aus Antiochien für die hungernden Christen in Judäa fortgeführt692 und in der Abschiedsrede des Paulus den Gemeindeältesten von Ephesus (Apg 20,35) eigens ans Herz gelegt (§ 6.4.5.4b) Verachtet waren zur Zeit Jesu auch die Samariter,693 die bei Markus nicht erwähnt werden und nach der Aussendungsrede in Mt 10,5 von den Jüngern zu meiden sind. Die Samariter waren verhasst, weil sie nur die fünf Bücher Mose anerkannten und – statt im Jerusalemer Tempel – ihren zentralen Kultort auf dem Berg Garizim (Joh 4,21) hatten. Bei Lukas beginnt der Weg Jesu nach Jerusalem in einem samaritischen Dorf (Lk 9,52). In einem Sondergutsgleichnis wird ein barmherzigen Samariter als Musterbeispiel tätiger Nächstenliebe dem Versagen eines Priesters und eines Leviten gegenübergestellt (LkS 10,29–37). Und nach der Heilung der zehn Aussätzigen ist es allein der dankbare Samariter, der umkehrt und Gott preist (LkS 17,11–19).694 So können bei Lukas selbst solche sonst verachteten Menschen außerhalb der eigenen Gemeinschaft durch ihr Verhalten für Christen zum Vorbild werden. Zum Zweiten ergibt sich aus der Bezugnahme auf die Geistsalbung nach Jes 61,1 die Bedeutung des heiligen Geistes für das lukanische Christusbild.695 Die Geistsal-

690 Lk 11,41; 12,33 f. Q (Schatz im Himmel); 14,12–14 (Einladung der Armen); 16,9; 18,22 parr. (Schatz im Himmel beim reichen Jüngling); 19,8 (Zachäus). 691 Apg 2,42.44 f.; 4,32–5,11. 692 Apg 11,27–30; 12,25; 24,17; vgl. die Jerusalemkollekte in Gal 2,10; 1Kor 16,1–4; 2Kor 8 f.; Röm 15,25–28. 693 Die Bezeichnung „Samaritaner“ ist durch die Vulgata („Samaritani“) beeinflusst. 694 Vgl. M. Böhm, Samarien und die Samaritai bei Lukas (WUNT II/111), Tübingen 1999. 695 Lk 1,35 (Überschatten); 3,22 (Taufe); 4,1.14.18 (Versuchung); 10,21 (Lobpreis des Vaters); 23,46 (Zitat Ps 31,6); Apg 10,38 (Geistsalbung).

518

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

bung setzt sich fort in der Verheißung des Geistes,696 der von Pfingsten an (Apg 2,33.38 f.) die Zeugen des Evangeliums erfüllt.697 So ist es der heilige Geist, der in der ganzen Apostelgeschichte die missionarische Ausbreitung der christlichen Botschaft initiiert und bewirkt, führt und leitet,698 indem er zu Philippus und Petrus spricht (8,29; 10,19), die Aussendung von Barnabas und Paulus als Missionare veranlasst (13,2–4), das Aposteldekret beschließen lässt (15,28), die Presbyter als Episkopen einsetzt (20,28) oder Philippus nach vollzogener Taufe entrückt (8,39; s. Anm. 660ff.). Damit hat neben den johanneischen Schriften (§ 7.1.5.2a) unter den Evangelisten vor allem Lukas eine eigene Pneumatologie entwickelt. c) Heiland (sōtḗr): Eine besondere Bedeutung kommt bei Lukas dem Titel „Retter, Heiland“ (sōtḗr) zu.699 Der Ausdruck hängt mit der Wortfamilie „sōtēría“ (Heil, Rettung) zusammen, die Lukas gerne verwendet.700 Der Titel „sōtḗr“ ist nicht christlichen Ursprungs, sondern war schon seit Jahrhunderten verbreitet. In der griechischen Welt war „sōtḗr“ ein Beiname hellenistischer Könige bei den Ptolemäern und Seleukiden (3–2. Jh. v. Chr.), später auch des römischen Kaisers Hadrian (117–138 n. Chr.), ein Ehrentitel verdienter Lehrer wie Epikur (342–270 v. Chr.), vor allem aber ein Beiname von Heroen, z. B. Herakles, und Göttern wie Zeus, den Mysteriengottheiten Serapis und Isis oder dem Heilgott Asklepios. In der Septuaginta (§ 2.1.4) wurde diese Bezeichnung auch für Gott als Helfer in der Not benutzt.701 Das Heil ist mit Jesus gekommen, so wird es zu Beginn des Lukasevangeliums in den Hymnen angekündigt702 und am Ende der Apostelgeschichte rekapituliert (Apg 28,28). In der Tradition der „ḗlthon“-Sprüche Jesu703 wird bei Zachäus mit einer typisch lukanischen Formulierung erklärt, dass „der Menschensohn gekommen ist, zu suchen und zu

696

Lk 24,48 f.; Apg 1,4.8; vgl. die analoge Funktion der Beistandszusage in Mt 28,20. Vgl. Apg 4,8 (Petrus); 4,31 (Gemeinde); 6,3 (die Sieben); 6,5 (Jünger); 6,10 (Stephanus); 7,55.59 (Stephanus); 9,17 (Paulus); 11,24 (Barnabas); 13,9 (Saulus = Paulus); 13,52 (Jünger); 18,25 (Apollos). 698 Vgl. Apg 2,3 f.; 5,32; 8,29.39; 10,19.44 f.; 11,12.15; 13,2.4; 15,8.28; 16,6 f.; 19,21 (?); 20,22 f.28; 21,11. 699 Lk 2,11 (Geburt Jesu); Apg 5,31 (Petrus vor dem Synedrium); 13,23 (Paulus in Pisidien). 70 0 Lk 1,69.71.77 (Benedictus); 19,9 (Zachäus); Apg 4,12; 13,26.47 (Missionsrede des Paulus); 16,17; vgl. „sōtḗrion“ Lk 2,30; 3,6; Apg 28,28. 701 Vgl. z. B. Ps 23,5 LXX; Sap 16,7; vgl. Lk 1,47; 1Tim 1,1; Tit 1,3 u. ö. 702 Lk 1,69.71.77 (Benedictus), 2,30 (Nunc dimittis). 703 Diese mit dem Signalwort „ḗ lthon“ (ich bin gekommen) gebildeten Sprüche fassen die Bedeutung Jesu zusam men. Es handelt sich um Stücke der jesuanischen Tradition, die unter dem Einfluss von Ostern als Zusam menfassung seiner ganzen Wirkung auf Erden (mit der späteren Begrifflichkeit: der Inkarnation) gedacht sind. 697

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

519

retten (sṓsai),704 was verloren ist.“705 Die vom selben Stamm abgeleitete Wortfamilie „sōtḗr, sṓzein, diasṓzein, sōtēría, sōtḗrion“ bezeichnet eine Dachkategorie, unter der der Evangelist die heilvolle Bedeutung Jesu und den endzeitlichen Horizont menschlicher Hoffnung zusammenfasst. Lukas braucht einen solchen Oberbegriff, um die älteren christlichen Bekenntnisse zu bündeln, besonders das Auferstehungskerygma als Kern der Missionspredigten,706 die Aussagen über das Kreuz Jesu707 und die Überlieferung von der Einsetzung des Herrnmahls (Lk 22,14–20). Der Evangelist ist sich dessen bewusst, dass diese Traditionen für Heidenchristen in einer hellenistischen Umgebung interpretationsbedürftig sind, weil sie entweder durch die Auferweckung Jesu mit der jüdisch-apokalyptischen Erwartung oder durch die Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer mit dem Jerusalemer Tempelkult verbunden waren (vgl. 1Kor 15,3b–5; § 5.6.2.1).708 Deswegen interpretierte er einerseits den umfassenden Horizont der urchristlichen Auferstehungsverkündigung durch die selbstständige Betonung der Himmelfahrt Jesu (in der Schlüsselposition „oben“),709 andererseits die soteriologische Bedeutung Jesu durch den Titel „Heiland“.710 d) Die Heilsbedeutung Jesu: Auch den Begriff der „Sünde“ deutet Lukas anders als Paulus. Bei Paulus kann der Mensch Gott erkennen (Röm 1,20 ff.; 2,1 ff.), er lebt jedoch in dem verdorbenen Bereich des „Fleisches“ (sárx) unter der Sünde als einer bösen Macht (Röm 7,5), aus deren Einfluss er nur durch das Opfer Christi errettet werden kann (§ 5.16.5a–b). Lukas fasst die Sünde eher als „Unkenntnis“ (ágnoia) auf,711 die allerdings eine zum Tode führende Entfremdung von Gott zur Folge hat. Ihre Überwindung ist nicht bloß eine Frage der Belehrung, sondern bedarf der göttlichen Rettung, des Heils, durch Christus (s. Anm. 704 ff.). Auf der Seite des Men-

704

M. Luther übersetzt „selig zu machen“; vgl. die redaktionell hervorgehobene Verspottung Jesu in 23,35.37.39 mit dem Versprechen für den einen Räuber: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (V.43; s. Anm. 673). 705 Lk 19,10 (Zachäus); vgl. 15,4–9.17.24.32 (Gleichnisse vom Verlorenen). 706 Apg 3,15 (Petrus im Tempel); 5,30 (Petrus vor dem Hohen Rat); 17,31 (Areopagrede) u. a. 707 Lk 24,20 (Emmausjünger); Apg 2,23 (Pfingstpredigt des Petrus); 4,10 (Petrus vor dem Hohen Rat). 708 Vgl. P. Pokorný, Der Evangelist Lukas als Interpret älterer Bekenntnistraditionen, NAWG.PH 2004 Nr.1. 709 Interessante Beobachtungen zum lukanischen Jesusbild bietet D. Lee, Luke’s Stories of Jesus, bes. 202 ff. Da er jedoch von der Voraussetzung einer kanonisch-literarischen Lesung ausgeht (H. Frei), die die theologisch gedeutete Diachronie (ältere Bekenntnisse) ausblendet, ist das Gesamtergebnis auffällig mager. 710 Vgl. auch Phil 3,20 (§ 5.14.6c); Eph 5,23; 2Tim 1,10; Tit 1,4 u. ö. (§ 8.4.2); Joh 4,42; 1Joh 4,14 (§ 7.1.5.1a). 711 Apg 3,17; vgl. 13,27; 17,23.30.

520

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

schen verlangt sie Buße, d. h. die Umkehr712 des Sünders.713 Gottes Barm herzigkeit und menschliche Buße führen zwar auch im Judentum zum Heil.714 Doch hat Lukas die göttliche Barmherzigkeit in der Vergebung so sehr radikalisiert, dass wir von einem qualitativen Unterschied sprechen können. Schon die Aussage Jesu, nach der er „gekommen ist“, nicht die Gerechten, sondern die Sünder zur Buße zu rufen (5,32), sprengt die Kategorien des Judentums. Im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (LkS 18,9–14) erkennen wir die Tiefe der lukanischen Auffassung: Der fromme Pharisäer verkörpert den Menschen, der „auf sich selbst vertraut“ (V.9) und „zu sich betet“ (V.11 nach p75, B u. a.), also den Gott gegenüber tief entfremdeten Menschen. Dagegen wird der Zöllner, der seine Sünden bekennt und um das Erbarmen Gottes bittet, als der eigentlich Gerechte, d. h. Gerecht-Gewordene, dargestellt, der „gerechtfertigt“ (dedikaiōménos) nach Hause geht, d. h. Gottes Wohlgefallen hat (V.13 f.). In analoger Weise spricht Jesus der Sünderin, die ihn salbt, die Vergebung durch den Glauben zu (7,36–50). Ebenso beantwortet er die flehentliche Anrufung des mitgekreuzigten Räubers („denk an mich“) durch die Verheißung, mit ihm ins Paradies zu gelangen (23,40–43). Die Heilsbedeutung des Todes Jesu wurde im frühen Christentum mit Hilfe des Opfergedankens aus dem jüdischen Kult als Sühne (§ 5.6.2.3b; Exkurs 2) gedeutet,715 war in diesem Sinn nach einem verbreiteten Urteil der Lukasforschung im heidnischen Milieu aber nicht mehr verständlich.716 „Wie kann ich (es verstehen), wenn mich nicht jemand anleitet?“, fragt der äthiopische Finanzminister bei der Lektüre des Lieds vom stellvertretenden Tod des Gottesknechts als Opferlamm in Jes 53 (Apg 8,26–40). Deswegen tritt in der lukanischen Heilslehre (Soteriologie) Jesus eher als Repräsentant Gottes auf: Gott ist die eigentliche Quelle des Heils, das Jesus in die Welt gebracht hat. Gott erbarmt sich der Menschen (Lk 1,78; 15,20), und Jesus ist sein Gesalbter (Apg 4,26 = Zitat Ps 2,2), der das Evangelium verkündigen soll (Anm. 682 f.). Es wäre ein Anachronismus, diese Darstellung als Subordinatianis712 Bei der Berufung des Levi ergänzt Lukas (5,32) redaktionell „zur Buße, Umkehr“ (eis metánoian); vgl. 15,7.10 (Gleichnisse vom verlorenen Schaf und Sohn); 24,47 (Erscheinung des Auferstandenen); Apg 2,38 (Taufaufforderung des Petrus); 3,19; 5,31; 8,22; 11,18; 17,30 (Areopagrede); 20,21 (Abschiedsrede des Paulus); 26,20 (Apologie des Paulus), aber auch die paulinische Abwehr von Missverständnissen in Röm 6,1; 1Kor 6,9–11; Gal 5,13–26 (§ 5.11.1; 5.11.4c; 5.16.5c). 713 Betont bei Ch. W. Stenschke, Luke’s Portrait of Gentiles Prior to Their Coming to Faith (WUNT II/108), Tübingen 1999, bes. 392 f.; S. Hagene, Zeiten der Wiederherstellung (s. Anm. 603), 149–158. 714 OdSal 33,10; Sib 3,624 ff.; Philo spec. 2,17. 715 Vgl. den großen Versöhnungstag in Lev 16. 716 Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser These und zur Neubewertung der lukanischen Interpretation des Kreuzestodes Jesu als Sühnegeschehen von Jes 53 her vgl. U. Mittmann-Richert, Der Sühnetod des Gottesknechts (WUNT), Tübingen 2006.

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

521

mus717 zu bezeichnen. Für die Heiden musste Lukas den einzigen Gott auch als Weltschöpfer verkündigen, zu dessen Familie alle Menschen gehören, wie es Lukas in der Areopagrede (Apg 17,16–33) mit dem Zitat des populären hellenistischen Dichters Arat (3. Jh. v. Chr.) Paulus in den Mund legt (phaenomena 5): „Wir sind seines (Gottes) Geschlechts“. Nur in einem solchen Rahmen konnte die Verkündigung des Heils durch Christus verständlich werden. Wegen dieser Verständnisschwierigkeiten bei den heidenchristlichen Adressaten (s. Anm. 781) behielt Lukas die alten Aussagen über den stellvertretenden Tod Jesu bloß in den liturgisch verankerten Stoffen der Herrnmahlsüberlieferung bei (22,19 f.). Doch wäre dieser Befund unvollständig ohne den Hinweis, dass Lukas als einziger Tradent der Abendmahlsüberlieferung die Stellvertretungsaussage „für euch“ sowohl beim Brot- als auch beim Kelchwort erwähnt und damit doppelt hervorhebt (§ 5.6.2.3b).718 Sonst umschreibt er den Gedanken einer stellvertretenden Bedeutung des Todes Jesu (Exkurs 2) mit anderen Worten:719 Statt der Aussage von Mk 10,45, nach der „der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele“ (vgl. Jes 53), sagt Jesus bei Lukas nur nach dem Abendmahl „... ich aber bin unter euch wie ein Dienender“ (Lk 22,27). So legt der Evangelist die zweifach betonte Stellvertretungsaussage im Blick auf den Tod Jesu als dienende Lebenshingabe aus. Einige halten die lukanische Fassung für älter.720 Da das Lösegeldwort bei Markus jedoch mit der alten Herrnmahlstradition verbunden ist,721 müssen wir eher die lukanische Umschreibung für eine jüngere Interpretation halten. Lukas vermeidet mit seiner redaktionellen Umformung des Lösegeldworts zwar eine explizite Stellvertretungsaussage. Dafür setzt er das Eintreten Jesu für andere narrativ um durch entsprechende „Inszenierungen“, indem Jesus bei der Ankündigung der Verleugnung des Petrus für dessen Glauben betet (22,32), am Kreuz für seine Henker (23,34) und im Wort vom Paradies für den einen Schächer (23,40–43). Darüber hinaus reiht er die Selbsthingabe „für euch“ (22,19 f.) erzählerisch in die Geschichten von den Mahlgemeinschaften ein, in denen Jesus „mit“ Sündern (LkS 15,2)722 isst und – wohl kaum zufällig – dem Zachäus erklärt, 717

D.h. der Sohn ist dem Vater untergeordnet, womit die Gleichstellung der Personen der Trinität gestört wird. 718 Sonst bezeichnet bei Lukas die Präposition „hypér“ eher das Leiden der Zeugen „für den Namen Jesu“ (Apg 5,41), d. h. das Leiden, dem die Zeugen des Heils ausgesetzt sind, das gerade aus der Gnade Gottes kommt; vgl. A. Weiser, Theologie des Neuen Testaments II (Studienbücher Theologie 8), Stuttgart 1993, 146. 719 Vgl. Ch. Böttrich, Proexistenz im Leben und Sterben. Jesu Tod bei Lukas, in: J. Frey / J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu (Lit. § 5.6.2.3), 413–436. 720 Für alle J. Roloff, Anfänge der soteriologischen Deutung des Todes Jesu (Mk x.45 und Lk xxii.27), NTS 19 (1972–73), 38–64, bes. 59 (Anm. 2). 721 Mk 10,45; 14,24 (Exkurs 5). 722 Vgl. Zöllner und Sünder in Lk 7,34; 15,2 sowie Levi (5,27–32) und Zachäus (19,1–10),

522

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

dass heute diesem Haus „Heil“ widerfahren ist (19,10).723 Vor allem richtet Lukas die Hingabe „für euch“ im Abendmahlskontext auf die eschatologische Vollendung der Mahlgemeinschaft aus, wenn die Verheißungen vom Kommen des Reiches Gottes erfüllt sein werden.724 Vergegenwärtigt wird die durch Jesus neu eröffnete Gemeinschaft „für euch“ durch die Gedächtnisaufforderung bei der Einsetzung des Abendmahls und in den nachösterlichen eucharistischen Mahlzeiten zunächst der Jünger, dann der Urgemeinde und auch der frühen Christenheit.725 Zugleich betont Lukas die Abhängigkeit von der Gnade Gottes, die im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (LkS 18,9–14; s. Anm. 713 ff.) und in verschiedenen Worten zum Ausdruck kommt: Erbarmen (éleos; Lk 1,54), Gnade (cháris; Lk 4,22; Apg 20,24), Wohlgefallen (eudokía; Lk 2,14), Barmherzigkeit (oiktírmōn; 6,36) und Mitleid-Haben (splanchnízesthai; 15,20). Alle diese Worte, um nur einige Beispiele zu nennen, charakterisieren Gott und gehören zu seiner Vollkommenheit (vgl. Lk 6,36 mit Mt 5,48). Als Sohn und rechtmäßiger Repräsentant dieses Gottes wird Jesus zum Heiland und Offenbarer. Die heilbringende Wirkung Jesu ergibt sich nicht nur aus seinem Tod, sondern aus seinem ganzen Leben. Im Zentrum der Heilsverkündigung Jesu steht bei Lukas die Vergebung der Sünden.726 Auch wenn das Opfer bei Lukas an Bedeutung verliert, spielt er bei der Himmelfahrt (24,50 f.) in einer eindrucksvollen Schlussszene auf den hohepriesterlichen Segen an, ohne freilich eine Hohepriesterchristologie zu entwickeln, wie sie uns im Hebräerbrief begegnet (§ 8.5.3b). Denn dass der Auferstandene sich mit einem Segen verabschiedet, erinnert durch die erhobenen Hände (Lev 9,22; Sir 50,20 f.) an den aaronitischen Segen (Num 6,22–27) und fasst das ganze Heilswirken Jesu als Erfüllung einer priesterlichen Aufgabe zusammen: „Jesus tut, was der Priester (sc. Zacharias; U.H.) in 1,22 nicht mehr konnte: er segnet, und zwar seine Jünger zum Dienst.“727 Für diese Aufgabe verspricht Jesus ihnen den Geist als Kraft aus der Höhe, die die Ausbreitung des Wortes in der Apostelgeschichte vorantreiben wird.728 aber auch die Sünderin (7,36–50), ferner Lk 5,33–35 (Hochzeitsmotiv bei der Fastenfrage); 14,1.7–24 (Gastmahlsgleichnis); 15,11–32 (Gleichnis vom verlorenen Sohn); vgl. weiter Anm. 688 f. 723 Vgl. Lk 5,31 f.; 7,48–50; s. Anm. 703. 724 Lk 22,16.18.29 f.; vgl. 14,15: „Selig ist, der das Brot isst im Reich Gottes!“ (§ 5.6.2.3d). 725 Vgl. Lk 24,13–35 (Emmaus); 24,41–43 (Zwölf) sowie Apg 2,42.46 f. (Jerusalemer Urgemeinde); 20,7.11 (Troas) und dazu Anm. 672 ff. 726 Vgl. Lk 1,77 f. (Benedictus); 5,27–32 (Heilung des Gelähmten und Berufung des Levi); 7,34.36–50 (Salbung durch die Sünderin); 15 (Gleichnisse vom Verlorenen); 19,1–10 (Zachäus); 24,47 (Erscheinung des Auferstandenen); Apg 2,38; 3,19; 5,31; 10,43 (Petrusreden); 13,38 (Missionsrede des Paulus). 727 E. Schweizer, NTD 3, 251; vgl. U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 77–93; ders., Art. Segen, ThBLNT2 2, 1636. 728 Vgl. Lk 24,49 mit Apg 1,4 f.8; 2,33.38 f. und Anm. 696 ff.

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

523

e) Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32): Diese Parabel (Exkurs 7b) ist im Lukasevangelium literarisch und theologisch von zentraler Bedeutung, sodass sich einige Züge der lukanischen Soteriologie mit seiner Hilfe darstellen lassen. Schon die Wahl des Themas, das im Neuen Testament noch im Gleichnis von den beiden Söhnen (Mt 21,28–31) vorkommt,729 ist für Lukas typisch. Es handelt sich um ein klassisches Thema rhetorischer Übungen, das aus verschiedenen Bearbeitungen bekannt ist.730 Auch hier demonstriert Lukas das christliche „Wort“ vor dem Hintergrund der griechischen Kultur. Der Vater repräsentiert Gott selbst, wie dem Kontext (bes. V.21) entnommen werden kann. Der jüngere Sohn, der im ersten Teil zum Problem wird, geht „in ein fernes Land“ (eis chṓran makrán; V.13), das bei Lukas immer für die heidnische Welt steht.731 Der Vater hat nichts dagegen und gibt ihm sogar das Erbe, und zwar in Form von Geld, sodass er auch im heidnischen Land unter seiner Fürsorge leben kann. Sein Versagen besteht nicht im Verlassen des väterlichen Hauses, sondern darin, dass er sein Erbe vergeudet. In der Krise, die in der Bibel oft durch eine Hungersnot dargestellt wird, erfährt er die Unbarmherzigkeit der verkehrten Gesellschaft, in der er sich früher als Konsument bewegte. Durch den Hinweis auf die Schweineschoten wird er sogar auf dieselbe Stufe wie ein Tier gestellt, das für Juden als unrein gilt. Seine Perspektive ist der Tod: „... ich verderbe (apóllymai) hier vor Hunger“ (V.17b). Dass er bisher in Entfremdung732 lebte, wird durch V.17a angedeutet: „Da ging er in sich“ (eis heautón dé elthṓn). Mit diesen Worten wird sein neues Denken und Handeln kommentiert, das durch eine alternative Vision der Gesellschaft, d. h. durch das Leben im Haus des Vaters (im Reich Gottes), motiviert ist. Dieser Bezug zum Reich Gottes wird noch durch die Anspielung auf das Vaterunser verstärkt: Alle haben das tägliche Brot (vgl. 15,17 mit 11,3). In einem inneren Monolog wird sein Sündenbekenntnis (V.18) formuliert, aber die Wirklichkeit stellt sich anders dar. Als er schon ein Stück gewandert, aber immer noch „weit entfernt“ (makrán), also noch im heidnischen Gebiet ist, sieht ihn der Vater. Dieser erbarmt sich (splanchnízesthai), läuft ihm entgegen, umarmt ihn und macht ihm deutlich, dass er sein Sohn ist. Das Sündenbekenntnis erfolgt erst als Reaktion auf die Erfahrung der Vergebung.

729 In einer gnostischen Fassung ist es auch aus den Thomasakten 108–113 als Perlenlied bekannt. 730 Vgl. W. Pöhlmann, Der Verlorene Sohn und das Haus: Studien zu Lukas 15,11–32 (WUNT 68), Tübingen 1993, 89 ff.; E. Rau, Reden in Vollmacht. Form und Anliegen der Gleichnisse Jesu (FRLANT 149), Göttingen 1990, 216 ff.; D. A. Holgate, Prodigality, Literality, and Meanness. The Prodigal Son in Graeco-Roman Perspective (JSNTS 187), Sheffield 1999. 731 Vgl. „makrán“ in Apg 2,39; 22,21. 732 Hier ist dieser Ausdruck kein Anachronismus.

524

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Die meisterhaft erzählte Begegnung enthält noch eine zweite religiöse Aussage: Der Vater sieht den Sohn, als er noch im heidnischen Land ist, und läuft ihm entgegen. Er ist auch dort durch das Gebet erreichbar, das die Sünden bekennt (V.18.21). Er nimmt ihn auf als seinen Sohn (er hat ihn nie enterbt), was durch das Festmahl bestätigt wird. Auch dem älteren Bruder, der nie die Todesangst des jüngeren erlebte und der jetzt gegen die Barmherzigkeit des Vaters rebelliert, sagt der Vater die Rechte des Sohns zu und macht ihn zum Erben seines Hauses (V.31; s. Anm. 638). In rechtlicher Sicht ist dieses Vorgehen ein Widerspruch, weil der jüngere Bruder nicht enterbt wurde, der ältere Sohn also nicht der Alleinerbe ist. In Wahrheit handelt es sich jedoch nicht um irdische Rechtsordnungen, sondern um die Ordnung des Reiches Gottes, in der alle Kinder des Vaters Mitherrscher sind (Lk 12,32; 22,29 f.). Aus der Areopagrede in Apg 17 wird der Leser später erfahren, dass alle Menschen zur Familie des himmlischen Vaters gehören (Apg 17,28 f.). Hier ist bereits zu spüren, wie weit die literarische und theologische Absicht des Lukas reicht.733 Außer dem Sündenbekenntnis (15,18.21) wird im Gleichnis noch ein weiterer Satz wiederholt: „... dieser mein Sohn (dein Bruder) war tot (nekrós) und ist wieder lebendig geworden (anézēsen)“ (15,24.32). Der Gegensatz von Tod und Leben ist innerhalb der Erzählung eine Metapher, aber die völlig parallel formulierte Wiederholung am Ende deutet darauf hin, dass hier eine theologische Schlüsselaussage über die christliche Existenz vorliegt. Es handelt sich um eine Neuinterpretation der älteren Deutung der Taufe, wie sie bereits in Röm 6,3 ff. begegnet (§ 5.6.2.2b.d). Schon bei Paulus waren Tod und Leben Auswirkungen von Sünde und Gnade (Röm 5,12–21; § 5.16.5b). Durch die Taufe geschieht das Sterben mit Christus und wird die Hoffnung auf die Auferstehung mit ihm begründet.734 Im Gleichnis erfolgt das Sterben mit Christus durch das Sündenbekenntnis und die Absage an das alte Leben, das Wort vom „lebendig werden“ eröffnet die Perspektive des Reiches Gottes. Die in Lk 15,23 f.32 beschriebene Freude ist die eschatologische Freude, die Freude am Heil.735 So interpretierte Lukas die Metapher des Opfertodes Jesu, der den Sündern zugute kommt, für die heidnischen Leser – eine Metapher, die ohne den kultischen Hintergrund des jüdischen Versöhnungstags (Lev 16; Exkurs 2) kaum zu verstehen war. Es

733 Vgl. M. Dibelius, Aufsätze zur Apostelgeschichte, 75: „Er spürte früher als andere, was der christlichen Predigt Not tat, wenn sie von den Gebildeten gehört werden sollte.“ 734 Vgl. Anm. 660. In Röm 14,9 werden für den Tod und die Auferstehung Jesu und der Menschen ähnliche Ausdrücke benutzt: apéthanen – ézēsen; nekroí – zṓntes. 735 Vgl. die Freude als lukanisches Leitmotiv in Lk 1,14; 2,10 (Geburt Jesu); 6,23 (Seligpreisungen); 8,13; 10,17.20 f. (Rückkehr der Jünger; Namen im Himmel); 13,17 (Heilung der Frau); 15,5.7.10.32 (Gleichnisse vom Verlorenen); 19,6 (Zachäus); 19,37 (Einzug); 24,41.52 (Erscheinung, Himmelfahrt); Apg 8,8; 13,52; 15,3. Die Freude kommt zum Ausdruck im Lobpreis und Dank an Gott (2,14; 24,53; s. Anm. 653).

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

525

handelt sich um eine poetisch erzählte Deutung, die jedoch theologische Konturen und deutliche Konsequenzen hat. Dennoch dürfen wir das Gleichnis nicht nur als eine Darstellung der lukanischen Lehre betrachten. Zum Gleichnis gehört Jesus selber als der Erzähler, der für den Inhalt dieser Parabel mit seinem ganzen Leben einsteht. Nach dem Lukasevangelium konfrontiert Jesus den Hörer mit Gott selbst. Das Gleichnis ist ein Teil des Geschehens, auf das es sich bezieht.736 Im Lesen bzw. Hören dieses Gleichnisses wird Gottes Heil für einen Menschen erfahrbar. Für dieses Bild von Gott als dem barmherzigen Vater tritt Jesus mit seiner ganzen Existenz ein. Die Verkündigung dieser guten Nachricht, des Evangeliums vom Reich Gottes, kostete ihn das Leben. Indem Gott ihn durch die Auferstehung rehabilitierte, bekennt dieser sich zur Botschaft vom barmherzigen Gott, die Jesus sein ganzes Leben hindurch repräsentierte (u. a. durch das Gleichnis vom verlorenen Sohn). f) Die Christologie: Durch die göttliche Präsenz im Wirken Jesu steht die Christologie der lukanischen Schriften der Christologie des Hymnus aus 1Tim 3,16 nahe (§ 8.4.2; 8.4.3b). Lukas kann diesen Hymnus gekannt haben und von ihm inspiriert worden sein, jedenfalls finden sich in ihm ähnliche Grundgedanken. Er ist ein Bekenntnis zu Christus, „der offenbart ward im Fleisch, gerecht erwiesen im Geist, erschienen den Engeln, verkündigt unter den Völkern, geglaubt in der Welt, emporgenommen in Herrlichkeit.“737

Für eine kurze Charakterisierung der Christologie in 1Tim 3,16 ist die Begrifflichkeit aus der späteren christlichen Lehre geeignet: Jesus wird in diesem Hymnus als die Offenbarung Gottes dargestellt von der Inkarnation (Joh 1,14) über die Auferstehung (Röm 1,3 f.) bis zur Aufnahme in die himmlische Herrlichkeit (Apg 1,2.11).738 Diese Christologie steht dem heutigen Menschen und seinem Denken viel näher als die kultisch motivierte Christologie des stellvertretenden Todes oder als die apokalyptische Christologie der urchristlichen Auferstehungsverkündigung, wie sie in der alten Pistisformel in 1Kor 15,3b–5 überliefert ist (§ 5.6.2.1). Aber ein solches Christusbild hat auch seine Schwachstellen: Jesus steht als der Offenbarer zu sehr an der 736

Vgl. E. Jüngel, Paulus und Jesus (HUTh 2), Tübingen 1962, 135. Übersetzung von J. Roloff, EKK 15 (Lit. § 8.4), 189; vgl. 204 f. Zur Deutung s. auch S. G. Wilson, Luke and the Pastoral Epistles, London 1979, 83. 738 Es kann allerdings sein, dass „emporgenommen“ hier nur eine Ehrung und Präsentation bezeichnet; vgl. N. Brox, Pastoralbriefe (Lit. § 6.4), 161.163 f. 737

526

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Seite Gottes. Daher erlebt er in seiner Passion bei Lukas nicht wie bei Markus die radikale Gottverlassenheit in der Warum-Frage (Mk 15,34 = Ps 22,2; § 6.2.7.5), sondern sagt stattdessen mit Ps 31,6, dem Abendgebet eines frommen Juden: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46).739 Diese Deutung der Geschichte Jesu als Offenbarung Gottes darf keineswegs als falsche Christologie, als „theologia gloriae“ (Theologie der Herrlichkeit) beurteilt werden, in der die Erfahrung des Leidens zu wenig Beachtung findet. Lukas weiß sehr wohl, dass der Weg Jesu und der Weg der Christen auf Widerstand stoßen wird: jeder hat sein Kreuz zu tragen (Lk 9,23). Auch Lukas kennt die Grenzsituationen des menschlichen Lebens beispielsweise beim verlorenen Sohn, der in seiner Verlassenheit sagt: „Ich sterbe hier vor Hunger“ (15,17),740 oder bei dem Zöllner, der im Tempel Gott um Erbarmen bittet (18,13). Der Trost in solchen Situationen besteht nicht darin, dass Jesus noch Schlimmeres für uns erlitt, sondern dass der barmherzige Gott, wie ihn Jesus offenbarte, auch diesen zweifelnden Menschen nahe ist und ihre Gebete hört. Auch dort, wo die Menschen „weit weg“ (makrán) in fremdem Milieu leben, ist Gott bei ihnen. Er ist für jeden Menschen „nicht weit“ (ou makrán; Apg 17,27), d. h. er ist auch in Not und Verzweiflung im Gebet erreichbar (s. Anm. 649). Deshalb ruft Stephanus bei seinem Martyrium Jesus als „Herrn“ an und bittet ihn nach dem Vorbild der Passionsgeschichte, seinen Geist aufzunehmen (Apg 7,59; vgl. Lk 23,46). g) Zwischenresümee: Die lukanische Neuinterpretation der älteren Christologie und Soteriologie ist nicht weniger radikal als die paulinische Rechtfertigungslehre (§ 5.11.3–4; 5.16.5a), die die Aussagen über den heilbringenden Tod Jesu neu deutete. Lukas präsentiert sich als Schöpfer eines eigenständigen Konzepts, das in seiner Bedeutung der paulinischen Theologie ebenbürtig ist. Es handelt sich um eine grundlegende Neuinterpretation, die zwar an ältere Traditionen anknüpft und nicht gegen sie polemisiert, die jedoch eine neue Etappe des christlichen Denkens darstellt. In der Exegese galt Lukas meist als Schüler des Paulus, der die wesentlichen Grundaussagen seines Meisters eigentlich nicht verstanden hat. Dieses Vorurteil wurde vielfach als Argument gegen die historische Verlässlichkeit der Tradition angeführt, Lukas sei ein Begleiter des Paulus gewesen (s. Anm. 573.753). Wenn wir aber erkennen, dass Lukas ein eigenständiger Theologe war, dessen geistige Leistung wir nicht nach dem Grad seiner Übereinstimmung mit der paulinischen Theologie beurteilen dürfen, ändert sich die Lage. Lukas bietet eine tiefsinnige Neuinterpretation der ältesten christlichen Bekenntnisaussagen vom Sühnetod und der Auferstehung. Er wusste von der theologischen Bedeutung des Paulus und gestaltete seinen 739 Vgl. J. Neyrey, The Passion according to Luke, New York / Mahwah 1985, 58: „Agonia as victorious struggle“; vgl. H.-M. Schenke / K. M. Fischer, Einleitung (Lit. § 1), 131. 740 Lutherübersetzung: „Ich verderbe hier im Hunger“.

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

527

eigenen Entwurf als komplementäres Gegenüber zum paulinischen Denken. Sein Hauptanliegen war nicht die Interpretation der paulinischen Theologie, wie sie uns z. B. im Epheserbrief begegnet (§ 8.2.7), sondern eine Entfaltung der Christologie, die die soteriologische Bedeutung Jesu für seine hellenistischen Adressaten (s. Anm. 781) nachvollziehbar macht. Ihn für einen inkonsequenten oder sogar falschen Interpreten des Paulus zu halten, ist ein Missverständnis und ein methodischer Fehltritt, weil Lukas an einem Maßstab gemessen wird, den er sich gar nicht gesetzt hat. Aus dieser Beobachtung kann die Kirche eine theologisch bedeutsame Konsequenz ziehen. Sie besteht in der Einsicht, dass der Kanon als Sammlung der Texte nicht nur die ältesten Zeugnisse enthält, sondern auch schon einen Beleg für die Notwendigkeit ihrer Neuinterpretation bietet, die Lukas für eine veränderte geistige Umgebung vorgeführt hat.741 6.4.5.4

Die Sozialethik

In der Ethik sind bei Lukas vor allem die positive Darstellung des römischen Staats, das Verhältnis zum Reichtum und die Betonung der Fürsorge für die Armen bemerkenswert. a) Das Verhältnis zur römischen Staatsmacht: Bei der Lektüre der lukanischen Schriften kann der Eindruck entstehen, der Verfasser beabsichtige eine politische Apologie des Christentums durch den Nachweis, dass die Christen keine Bedrohung für die römischen Machthaber sind.742 Pilatus erklärt als römischer Statthalter dreimal die Unschuld Jesu (Lk 23,4.14.22), und dasselbe behaupten seine Nachfolger von Paulus.743 Paulus beruft sich auf sein römisches Bürgerrecht (Apg 16,37; 22,25–28), und zweimal hören wir, dass sein Prozess um zwei Jahre vertagt wird (24,27; 28,30). Der Aufschub bedeutet, dass die Anklage gegen ihn bereits ihre rechtliche Kraft verloren hat. Aus der Auseinandersetzung mit den römischen Behörden ergibt sich scheinbar ein Kontrast zur Verkündigung des Reiches Gottes. Aber für Lukas ist das Reich Gottes kein Konkurrent zum Römischen Reich, sondern sein transzendentes Pendant. Nach Pfingsten dringt die Gottesherrschaft in die Ordnungen dieser Welt ein und stellt den Maßstab der endzeitlichen Beurteilung im Jüngsten Gericht dar. Gelegentlich wird der Vorwurf erhoben, es handle sich um eine politische Apologie des römischen Staats. Doch dieser Vorwurf lässt sich durch den Hinweis des Lukas auf den Gehorsam entschärfen, den der zwölfjährige Jesus seinen irdischen Eltern erwies (hypotássesthai; Lk 2,51). 741 Vgl. E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, zuletzt in: ders., Das Neue Testament als Kanon, Göttingen 1970, 124–133, bes. 128–131. 742 Den Ausdruck „apología“ bzw. „apologeísthai“ benutzt Lukas oft; s. H. Conzelmann, Mitte der Zeit, 128 ff. 743 Apg 23,29; 24,12 f.; 25,10 f.24 f.; 26,31 f.

528

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

Die Regel für Konflikte mit den römischen Behörden sieht jedoch anders aus als diese harmonisierend wirkende Darstellung: In Grenzsituationen hat der Gehorsam gegenüber Gott, dem himmlischen Vater, Vorrang (Apg 5,29 [s. Anm. 677]; vgl. Lk 2,48 f.). Die Loyalität zu Gott kann auch in Konflikte mit irdischen Autoritäten führen, wenn die Vertreter des römischen Staates manchmal verkehrt, d. h. gegen das von ihnen gesetzte oder akzeptierte Recht handeln. Dann muss der Christ mit Widerstand rechnen und sein alltägliches Kreuz auf sich nehmen (Lk 9,23). Bei Lukas verhält es sich demnach anders als bei Paulus, der eher mit einem wesenhaften Konflikt zwischen den Machthabern dieser Welt, die die Kreuzigung Jesu betrieben, und dem kommenden Äon rechnet (1Kor 2,6.8). Aber auch bei Paulus wird der römische Staat nicht nur negativ gesehen, sondern theologisch als Notwendigkeit anerkannt, um dem Bösen zu wehren (Röm 13,1–7; § 5.16.5e). b) Die Sozialethik: Ein Problem der Lukasauslegung scheint auch die soziale Ethik im engeren Sinn zu sein. Oberflächlich betrachtet sticht der bei Lukas mehrfach in Aussicht gestellte eschatologische Tausch ins Auge: Die Hungrigen, Armen, Niedrigen und Letzten erhalten ihre Verheißung, während die Reichen, Hohen und Ersten gewarnt werden.744 Es handelt sich meist um apokalyptisch motivierte Sprüche, die in radikal jüdischen (Essener, Qumran) und christlich-ebionitischen (Q?–Lk 14,13 f.21) Gruppen überliefert wurden, etwa von den Wander radikalen der Logienquelle (§ 6.1.6.3e; 6.2.8a). Die Armen erreichen das Ziel des Weges, weil sie nicht durch Eigentum belastet sind.745 Lukas kannte diese Tradition und schätzte sie als Gegengewicht zu den Konsumidealen der spätantiken Gesellschaft. Das Motiv des Tauschs dient bei Lukas als Verheißung für die Schwächeren und als Warnung an die Starken (s. Anm. 686 ff.). Entscheidend war für ihn der eschatologische Ausgleich:746 Mit der Antrittspredigt Jesu in Nazareth und seiner Proklamation des göttlichen Gnadenjahres beginnt das Motiv vom Heil für die Armen (Lk 4,18 f.). Es reicht über die Seligpreisungen (6,20 ff.) und Einladungen zum Mahl für die Armen (14,12– 14.21 ff.) bis zum gemeinsamen Besitz in der Urgemeinde (Apg 2,44; 4,32; s. Anm. 691 ff.). Die Tendenz zur Gütergemeinschaft wirkt fort in den armen, radikalen Gruppierungen des Judentums samt der Urchristenheit. Zugleich ist das Motiv des Tauschs ein literarisches Stilmittel des Lukas, das es ihm ermöglicht, das Christentum als Verwirklichung des platonischen „Staats“ zu präsentieren, in dem die Elite

744

Lk 1,53 (Magnificat); 6,20b.24a (Feldrede); 13,30 parr.; 14,11 Q; 16,19–31 (Lazarus); 18,14 Q. 745 Ein späterer Beleg dieser Haltung sind die gnostischen Petrusakten, NHC VI,1 3,1– 5,1; 7,25 ff.; 10,8 ff. 746 Paulus verfolgt hier einen anderen Ansatz durch die völlige Bedeutungslosigkeit aller weltlichen Unterschiede „in Christus“ (1Kor 1,26–31; 12,13; Gal 3,28; vgl. Kol 3,11; § 5.12.5e).

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

529

– die Philosophen und Kämpfer – in Besitzlosigkeit bzw. Gütergemeinschaft leben sollten (Plato rep. 3,416C–E; vgl. 5,464D.).747 Vor der Tendenz zur Korruption und Diktatur, die allen Armenbewegungen innewohnt und im Kommunismus ihre fatale geschichtliche Gestalt annahm, wird dieses Modell bei Lukas durch das Gebot aus der Feldrede geschützt: „Liebet eure Feinde“ (Lk 6,27–36; § 6.1.5.3; 6.2.9; 6.3.4.2a). Als ein innerer Widerspruch der lukanischen Sozialethik kann die Spannung zwischen dem Bild des wahren Jüngers betrachtet werden, der „alles“ aufgibt, wie Lukas redaktionell hervorhebt,748 und besitzlos lebt (Apg 2,41–47), und den anderen Christen, die den armen Brüdern nur eine Gabe „nach ihrem Vermögen“ (kathṓs euporeító tis) schicken (Apg 11,29). Lukas lobt die wohlhabenden Geschäftsleute und römischen Beamten, die Christen wurden. So erwähnt er den Statthalter Sergius Paulus, der sich bekehrte (Apg 13,7–12), oder die Purpurhändlerin Lydia, die ärmere Mitchristen in ihr Haus aufnahm (16,15). Der Oberzöllner Zachäus wird als Musterbeispiel eines Reichen geschildert, der die Hälfte seines Besitzes den Armen gab (Lk 19,8). Auch Jesus und die Jünger ließen sich nach Lukas von begüterten Frauen unterstützen (Lk 8,1–3). Diese Spannung zwischen einem gewissen Wohlstand und völligem Besitzverzicht kann theologisch749 oder soziologisch750 mit dem Unterschied zwischen den sesshaften Christen und den wandernden Missionaren erklärt werden (§ 6.1.6.3 E; 6.2.8a), die freiwillig die radikalen Forderungen auf sich nehmen (theologisch die „consilia evangelica“ [die evangelischen Räte], wie es später formuliert wurde). Da jedoch Lukas diese Unterschiede nicht erwähnt und Jesus die radikalen Forderungen an die Menge stellt (Lk 14,25 f.), musste für den Evangelisten der eben beschriebene Widerspruch unbedeutend sein. Offensichtlich war ihm das aktive soziale Engagement der Christen, das die anderen Religionen (außer dem Judentum; Dtn 15,4) nicht verlangten, so wichtig, dass ihm die relativen sozialen Unterschiede innerhalb der christlichen Gemeinden nebensächlich erschienen. Die Mysterienreligionen, die dem Christentum in den Augen der Öffentlichkeit ähnelten, weil auch sie von den Eingeweihten eine Entscheidung forderten (§ 5.4), hatten nur wenig Einfluss auf das soziale Leben ihrer Anhänger. Die Stoiker prägten das Ideal der „Menschenliebe“ (griech. philanthrōpía), das für die ganze hellenistische Kultur bezeichnend war. Diese Menschenfreundlichkeit wurde allerdings nur als Konfliktlosigkeit verstanden. In der Fürsorge für die Armen (s. Anm. 690 ff.) hatte die soziale Verantwortung der Christen dagegen einen aktiven Aspekt. Sie brachten den Gedanken der sozialen Solidarität mit den Schwachen in 747

Die nächste Parallele zu Apg 2,43 ff. und 4,32 ff. ist die Schilderung des Lebens der Pythagoräer durch den Neuplatoniker Iamblich (vit. Pyth. 30,167 f.). 748 Lk 18,22 (der reiche Jüngling); vgl. 5,11.28 (Petrus, Levi; vgl. anders Mk 1,18.20; 2,14); Lk 12,33; 14,33. 749 Vgl. H.-J. Degenhardt, Lukas – Evangelist der Armen, 211–222. 750 Vgl. G. Theißen, Soziologie der Jesusbewegung (ThEx 194), München 1977, 21 ff.

530

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

die ganze Welt und prägten dadurch das Bild der westlichen Gesellschaft. Lukas schätzte das praktische Engagement sehr. Dieses Ideal – die erste Reaktion der Schüler Jesu auf Pfingsten – wirkte in späteren Generationen und außerhalb Jerusalems weiter, besonders durch die Gastfreundschaft und die weltweit organisierten Almosen (s. Anm. 692).751 Lukas nutzte dieses radikale Bild paränetisch: Die Christen nehmen sich der Schwachen an. Auch Paulus verkörpert dieses Ideal in seiner Abschiedsrede (Apg 20,33–35). 6.4.6

Widmung, Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung

a) Widmung: Die beiden Bücher sind anonym verfasst. Und sie sind einem gewissen Theophilus gewidmet (Lk 1,3; Apg 1,1). Da sein griechischer Name übersetzt etwa „Gottlieb“ oder „Freund Gottes“ lautet, vermutete man oft, dass es sich um einen idealen Leser handelte. Die höfliche Anrede im Vokativ, die Lukas sonst nur römischen Beamten gegenüber benutzt (Apg 23,26 u. a.), deutet jedoch darauf hin, dass der Adressat eine konkrete Person war, die vielleicht die Veröffentlichung des Werks förderte. Dieser Theophilus repräsentiert zugleich eine breitere Öffentlichkeit, für die die Lehre von dem wahren Herrn indirekt bestimmt ist. b) Verfasser: Der Autor wird durch die Widmung als eine Person erkennbar, die zwar eine niedrigere Stellung als die einflussreichen Beamten und begüterten Bürger innehatte, aber doch mit ihnen kommunizieren konnte.752 Die Überschrift „Evangelium nach Lukas“ gehört nicht zum ursprünglichen Text, spiegelt aber eine alte Tradition wider (§ 3.6).753 Da Lukas kein Apostel war, kann der Name wirklich authentisch sein. Umstritten ist jedoch die seit Irenäus von Lyon um 180 n. Chr. (haer. 3,1,1; 3,14,1; um 180 n. Chr.)754 belegte Annahme, der Verfasser sei mit dem Lukas aus dem paulinischen Kreis identisch (Phlm 24; 2Tim 4,11), der nach Kol 4,14 Arzt war.755 Diese Identifizierung war vor allem in der deutschsprachigen Exegese durch die ra-

751

Zu den begüterten Christen s. M. Hengel, Eigentum und Reichtum in der frühen Kirche, Stuttgart 1973, 69 f.; E. A. Judge, The Social Pattern of Christian Groups in the First Century, London 1960, Kap. 6; W. A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur, Gütersloh 1993; Ph. E. Esler, Community and Gospel, 61 ff. 752 Vgl. G. Petzge, Das Sondergut des Evangeliums nach Lukas, Zürich 1990, 250. 753 Vgl. M. Hengel, Evangelienüberschriften (Lit. § 3), 10 f.16 ff.; ders., Gospels (Lit. § 3), 99–104. 754 Die altkirchlichen Zeugnisse finden sich im Anhang von K. Aland (Hg.), Synopsis (Lit. § 12a). 755 Belegt im Kanon Muratori (um 200; § 3.4a). Kritisch beurteilen jene Tradition z. B. Ch. Burchard, Der dreizehnte Zeuge, 157 ff.; M. Rese, Lukas-Evangelium, 2260 ff.; M. Korn, Die Geschichte Jesu, 8 ff.

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

531

dikale Lukaskritik der letzten 150 Jahre verpönt,756 wird in der neueren Acta-Forschung aber wieder zunehmend vertreten.757 In der Sache geht es um die auffällige Spannung, dass das lukanische Paulusbild unverkennbare Differenzen zum Selbstzeugnis des Apostels in den Briefen aufweist und damit Zweifel an der Zuverlässigkeit der Darstellung des Lukas hervorrief (§ 6.4.5.3g).758 Die wichtigsten Unterschiede sind: die Darstellung des Apostelkonvents (§ 5.8.2; 5.11.4a),759 das Zurücktreten der Rechtfertigungslehre (§ 5.11.3–4; 5.16.5a),760 das Anknüpfen bei der allgemeinen Religiosität in der Altarinschrift: „Dem unbekannten Gott“, das Fehlen der Kreuzestheologie761 und nicht zuletzt der widersprüchliche Gebrauch des Aposteltitels. Anders als in den Deuteropaulinen (§ 8.2.3) und den Pastoralbriefen (§ 8.4.2) wird bei Lukas nirgends die Verwendung von Briefen des Paulus sichtbar, was für eine Abfassung vor der Entstehung der Paulusbriefsammlung sprechen könnte. Aber er kennt die paulinische Theologie. Die paulinische Soteriologie tritt in den lukanischen Paulusreden in der Tat zurück, klingt in ihrer Terminologie an Stellen von besonderem kompositorischem Gewicht aber durchaus an.762 Auch das Substantiv „Evangelium“ (§ 6.2.6.1) begegnet bei Lukas nur als Inbegriff der Missionspredigt des Petrus (Apg 15,7) sowie – wohl kaum zufällig – in der Abschiedsrede des Paulus als „Evangelium von der Gnade Gottes“ (20,24).763 Wenn dieses „Wort seiner Gnade“ die Gemeinde „zu erbauen vermag“ (20,32), verwendet Lukas wiederum ein zentrales Leitmotiv speziell der paulinischen Ekklesiologie764 und mit dem „Erbe“ ebenfalls einen paulinischen Heilsbegri ff.765 Manchmal scheint es, als ob die Gnade Gottes bloß eine Ergänzung des Heils wäre, das durch das Gesetz des Mose gegeben ist (13,38). Dieser Eindruck ist aber nur eine Frage des Standpunkts, denn Lukas begriff die paulinische Rechtfertigungslehre in ihrem Grundanliegen, wie – gerade auch im Evangelium – das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (LkS 18,9–14) oder die Erzählung von der Vergebung für die Sünderin durch den Glauben (7,36–50) zeigen.766 Außerdem darf nicht übersehen werden, dass die Rechtfertigung auch in 756

Im 19. Jh. Ferdinand Christian Baur, im 20. Jh. Ph. Vielhauer, E. Haenchen u. a. (s. Anm. 561). 757 Vgl. Anm. 573.741 sowie C.-J. Thornton, Zeuge des Zeugen, 69–81.196 f.336 f.; M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 9–26; J. A. Fitzmyer, AncB 31, 50 f.; J. Jervell, KEK, 79–84. 758 Vgl. S. E. Porter, The Paul of Acts (WUNT 115), Tübingen 1999, bes. 187 ff. 759 Vgl. Apg 15,1–35, bes. V.23–29 mit Gal 2,1–10 (s. Anm. 630). 760 Apg 13,38 f. (Missionsrede); 20,28 (Abschiedsrede); vgl. auch die Beschneidung des Timotheus in Apg 16,3 mit der Kritik an der Beschneidung in Gal 2,3; 5,1–12; 6,11–16; Phil 3,2 f. 761 Vgl. Apg 17,22–31 (Areopagrede) mit Röm 1,16 ff.; 1Kor 1,18 ff. 762 Apg 13,38 f. (Missionsrede); 20,28 (Abschiedsrede); 26,17 f. (Verteidigungsrede). 763 Vgl. Apg 20,32, aber auch 13,43; 14,3 mit Gal 1,11 f.15 f.; Röm 1,1–5. 764 Vgl. Röm 14,19; 15,2; 1Kor 10,23; 14,12.26 (§ 5.12.5b); 2Kor 10,8; 12,19; 13,10. 765 Gal 3,18.26–29; 4,1–7; vgl. Röm 4,13 f.; 8,17; 1Kor 6,9 f.; 15,50; Gal 5,21 und dazu U. Heckel, Segen (Lit. § 5.7), 152–159. 766 S. Anm. 688.704 f.713; vgl. die Hervorhebung des Glaubens und der Gnade in Apg

532

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

der Paulusschule nicht mehr so im Mittelpunkt steht, sondern eher formelhaft tradiert767 und ähnlich wie bei Lukas durch den Begriff der „Rettung“ ausgedrückt wird (s. Anm. 707–737; § 8.2.7; 8.4.2). Vor allem der andersartige Gebrauch des Aposteltitels768 ist bemerkenswert: Dieser hat für das paulinische Selbstverständnis eine konstitutive Bedeutung,769 wird von Lukas aber im Wesentlichen auf den Zwölferkreis beschränkt (§ 6.2.8e). Dennoch wird der Titel Paulus nicht vorenthalten, wenn dieser in Apg 14,4.14 (aus einer älteren Tradition?) zusammen mit Barnabas als Apostel bezeichnet wird (und sei es im Sinn von Gemeindegesandten; vgl. Apg 13,2 f. mit 2Kor 8,22 f.; Phil 2,25). Diese Differenz darf jedoch nicht als Herabsetzung des Paulus missverstanden werden, da weit mehr als die Hälfte der Apostelgeschichte (ca. 3/5 des Umfangs) dem Wirken dieses Heidenmissionars gewidmet ist, wie es der besonderen Bedeutung des Paulus entspricht. Wenn Lukas den Aposteltitel für die Zwölf reserviert, so tut er dies – anders als die Gegner des Paulus in Galatien und Korinth – nicht in einer polemischen Absicht gegen Paulus, sondern aus einem positiven Interesse am Zwölferkreis.770 Da das Paulusbild nicht im Aposteltitel aufgeht, hat Lukas diese Würde Paulus nicht verweigert, sondern nur mit einer anderen, endzeitlichen Perspektive gefüllt und umso ausführlicher seine bahnbrechende Vorreiterrolle für die weltweite Mission als „auserwähltes Werkzeug“ (9,15) und „dreizehnter Zeuge“ (Christoph Burchard) dargelegt.771 Außerdem hat er der Damaskusvision durch die dreimalige Wiedergabe als Schlüsselerlebnis einen Stellenwert eingeräumt, der in der lukanischen Darstellung kaum weniger Gewicht hat als im paulinischen Selbstzeugnis.772 Trotz mancher Unterschiede treffen sich beide in der Charakterisierung des Paulus als missionarischer Sendbote, den Christus beauftragt hat, das Heil zu den Völkern zu bringen nach dem Grundsatz: „den Juden zuerst und ebenso den Griechen“ (Röm 1,16; vgl. 2,9 f.; s. Anm. 610 ff.).773

15,9.11 (Petrus auf dem Apostelkonvent), der Sündenvergebung und des Glaubens in 26,17 f. (Paulus) sowie Anm. 733 f. zu Lk 15; vgl. M. Theobald, Der Kanon von der Rechtfertigung (Gal 2,16; Röm 3,28), in: Studien (Lit. § 5.16), bes. 195–207. 767 Eph 2,8 f.; 2Tim 1,8–10; Tit 3,5–7. 768 Vgl. J. Frey, Apostelbegriff, Apostelamt und Apostolizität, in: Th. Schneider / G. Wenz (Hg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge I. Grundlagen und Grundfragen, Freiburg u. a. 2004, 91–188, hier 126–138. 769 Röm 1,1; 1Kor 9,1; 15,1–10; Gal 1,1 (§ 5.8.2b). 770 Die Zwölf gelten als Repräsentanten für das endzeitliche Gottesvolk (Lk 22,30 Q), das mit der Nachwahl des Matthias neu konstituiert wird (Apg 1,15–26; § 6.2.8e), als Garanten für die Kontinuität zum irdischen Jesus (Lk 6,12–16) sowie als ortsansässiges Leitungsgremium der Jerusalemer Urgemeinde (Apg 6,1–6; s. Anm. 654). 771 S. Anm. 644; vgl. Apg 13,47; 26,17 f. 772 Vgl. Apg 9,1–19; 22,6–21; 26,12–23 (vgl. 1Tim 1,12–16) mit Gal 1,15 f.; 1Kor 9,1; 15,8.10; Röm 1,1–5; vgl. Ch. Burchard, Der dreizehnte Zeuge, 51 ff.; Ch. Dietzfelbinger, Die Berufung des Paulus als Ursprung seiner Theologie (WMANT 58), Neukirchen-Vluyn 21989, 43ff.; F. Avemarie, Tauferzählungen, 295–339. 773 Vgl. U. Heckel, Das Bild der Heiden und die Identität der Christen bei Paulus, in: R. Feldmeier / U. Heckel (Hg.), Die Heiden. Juden, Christen und das Problem des Fremden (WUNT 70), Tübingen 1994, 269–296.

6.4 Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

533

Fazit: Lukas erweist sich in der Apostelgeschichte nicht einfach als ein gelehriger Vertreter der Paulusschule (wie etwa der Verfasser des fast gleichzeitigen Epheserbriefs), sondern als ein eigenständig denkender Erzähler, der die Ausbreitung des Wortes Gottes durch Paulus bewusst mit einer Neuinterpretation der Heilsbedeutung Jesu für seine hellenistischen Adressaten verband (s. Anm. 741.781). Die Feststellung theologischer Unterschiede zwischen den lukanischen Schriften und den Paulusbriefen schließt die relativ alte Tradition nicht aus, nach der Lukas ein Reisebegleiter des Paulus war (s. Anm. 573). Doch müssen wir uns angesichts des Mangels an Informationen über das Leben des Lukas auf sein theologisches Profil konzentrieren, das es uns ermöglicht, seinen Ort im frühesten christlichen Denken zu bestimmen. Diese Aufgabe muss methodisch die Priorität haben. Die jüdischen Bräuche kennt Lukas gut. Seine Hochschätzung der jüdischen Tradition774 legt die Annahme eines hellenistisch-jüdischen Ursprungs oder seiner Zugehörigkeit zu den Gottesfürchtigen nahe, die den äußeren Kreis um die Synagoge bildeten (s. Anm. 629).775 c) Datierung: Das Lukasevangelium dürfte etwa 75–80 n. Chr. entstanden sein, da zur Abfassungszeit das um 70 entstandene Markusevangelium schon weiter verbreitet war, die Erinnerung an die Zerstörung Jerusalems aber noch drastisch vor Augen steht (LkS 19,41–44). Die Apostelgeschichte wurde vermutlich wenig später um 80– 85 n. Chr. geschrieben. Ein noch späterer Zeitpunkt ist eher unwahrscheinlich, da die Institutionalisierung der Ämter noch nicht so weit entwickelt ist wie im Epheserbrief (§ 8.2.7) und erst recht nicht wie in den Pastoralbriefen (Exkurs 12). Auch die Irrlehrerproblematik klingt zwar an,776 erscheint aber noch nicht so bedrohlich wie im Johannesevangelium (§ 7.1.5.3; 7.1.6–7) und den Pastoralbriefen (§ 8.4.2). Außerdem ist die Reaktion auf das Hinausdrängen aus der Synagoge noch nicht so heftig wie in der matthäischen Pharisäerpolemik (§ 6.3.4.1) oder bei Johannes (§ 7.1.5.3). Wo Lukas lebte und wirkte, wissen wir nicht. Wegen der vielen Nachrichten aus Antiochien wird oft diese Hauptstadt Syriens als Entstehungsort zumindest der Apostelgeschichte angenommen.777 Wahrscheinlicher ist allerdings, dass von dort nur eine ihrer Quellen stammt (s. Anm. 571). Nach den monarchianischen Prologen 774 Vgl. die Kontinuität im Schriftgebrauch (Lk 4,16 ff.; 24,25–27.44–47), im Synagogengottesdienst (Lk 4,16; Apg 17,2), in der Bedeutung Jerusalems (Apg 1,8) und des Tempels (Lk 24,53; Apg 2,46; 3,1; 22,17; 24,12.17 f.) sowie im Festhalten am Erbe der Väter (Stephanusrede in Apg 7,2 ff.; Paulusrede in 13,16 ff.). 775 Nach R. E. Brown, Introduction, Kap. 10, war er ein Heide, der vor seiner Taufe Jude wurde. 776 Apg 20,29 f.; vgl. Eph 4,14. 777 Apg 11,19–30; 13,1–3; 14,26–28; 15,30–35; 18,22; zur Frage der Herkunft des Lukas aus Antiochien vgl. M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus (Lit. § 5.8.1), 36 f. (Anm. 131); 147 (Anm. 601); 306 (Anm. 1276).

534

6 Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

und den antimarkionitischen Evangelienprologen (Prol. ad Luc.; s. Anm. 754) schrieb Lukas das Evangelium in Griechenland. Da die geographischen und persönlichen Angaben der Apostelgeschichte gerade in Griechenland genauer und häufiger sind,778 muss diese relativ späte Tradition (4. Jh.) ernsthaft erwogen werden. Allerdings bleibt auch sie nur eine Hypothese. Auf ähnliche geographische Kenntnisse machte Cilliers Breytenbach im Zusammenhang mit einigen Teilen Kleinasiens aufmerksam.779 Doch könnten die Romreise des Paulus und die Kenntnis von seinem Tod auch nach Rom weisen.780 Da Lukas ein weit gereister Mann war, stellt die Bestimmung des Ortes (der Orte) der Entstehung seiner Schriften ein zweitrangiges Problem dar. d) Adressaten: Lukas schrieb für heidenchristliche Gemeinden, in denen die Judenchristen das Herrnmahl nicht mitfeiern wollten.781 Dieser Adressatenkreis wird auch durch die Erzählperspektive im Gleichnis vom verlorenen Sohn nahegelegt (s. Anm. 639.730 ff.).

778

Apg 16,11–14 (Makedonien); 17,1.5.14–22a.34 (Thessalonich, Athen); 18,12.17 f. (Korinth); 20,4. 779 Vgl. C. Breytenbach, Adressaten des Galaterbriefes (AGJU 38), Leiden 1996, Kap. 2. 780 Vgl. Apg 19,21; 28,16–31 und 20,25.38; 21,13 (vgl. 1Clem 5); vgl. U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 288. 781 Vgl. H. Räisänen, The Prodigal Gentile, 1625.

7 Die johanneischen Schriften

Zu den johanneischen Schriften zählen traditionell das Johannesevangelium, die drei Johannesbriefe und die Offenbarung des Johannes. Evangelium und Briefe gehören zwar unterschiedlichen Gattungen an, stehen sich in ihrer sprachlichen und theologischen Eigenart aber so nahe, dass sie gemeinsam behandelt werden (§ 7.1). Die Offenbarung nimmt in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein und bedarf einer eigenen Darstellung (§ 7.2).

7.1

Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

 Kommentare zum Johannesevangelium: Walter Bauer, HNT 6, 31933; Rudolf Bultmann, KEK II, 111978; Barnabas Lindars, NCB, 1972; Siegfried Schulz, NTD 4, 51987; Raymond E. Brown, AncB 29A.B, 1966. 1970; Charles K. Barrett, KEK – Sonderband, 1990 (DÜ); Rudolf Schnackenburg, HThK IV,1–4, 61986. 51990; Johannes Schneider, ThHK – Sonderband, 4 1989; George R. Beasley-Murray, WBC 36, 1987; Ernst Haenchen (hg. U. Busse), Das Johannesevangelium, Tübingen 1980; Jürgen Becker, ÖTK 4.1–2, 31991; David A. Carson, The Gospel according to John, Leicester / Grand Rapids 1992; Ben Witherington III, John’s Wisdom. A Commentary on the Fourth Gospel, Louisville, KT 1995; Udo Schnelle, ThHK 4, 1998; Ulrich Wilckens, NTD 4, 2000; Christian Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,1–2, 2001; Klaus Wengst, ThKNT 4,1–2, 2000.2001; Hartwig Thyen, HNT 6, 2005.  Kommentare zu den johanneischen Briefen: Hans Windisch, HNT 15/III, 31951; Rudolf Bultmann, KEK XIV, 21969; Rudolf Schnackenburg, HThK XIII,3, 61979; Pierre Bonnard, CNT, 1978; Ian H. Marshall, NICNT, 1978; Klaus Wengst, ÖTK 16, 1978; Horst Balz, NTD 10, 21980; Raymond E. Brown, AncB 30, 1982; Stephen S. Smalley, WBC 51, 1984; Gerd Schunack, ZBK 17, 1982; Werner Vogler, ThHK 17, 1993; Georg Strecker, KEK XIV, 1989; François Vouga, HNT 15,III, 1990; Hans-Josef Klauck, EKK XXIII,1–2, 1991. 1992; Johannes Beutler, RNT, 2000; John Painter, 1, 2, and 3 John, Sacra pagina 18, 2002.  Monographien und Aufsätze zu den johanneischen Schriften: Hans Windisch, Johannes und die Synoptiker, Leipzig 1926; Eduard Schweizer, EGO EIMI (FRLANT 56) (1939) 21965; Ernst Käsemann, Ketzer und Zeuge (1951), in: ders., Exegetische Versuche I (Lit. § 5.6.2.3), 168–187; Eugen Ruckstuhl, Die literarische Einheit des Johannesevangeliums (NTOA 5), Freiburg (H.) / Göttingen 21987; Charles H. Dodd, The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge 1953; ders., Historical Tradition in the Fourth Gospel, Cambridge 1963; Günther Bornkamm, Zur Interpretation des Johannes-Evangeliums, in: ders., Geschichte und Glaube I (BEvTh 48), München 1968, 104–121; Ernst Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen 1966; Helmut Koester / James M. Robinson, Entwicklungslinien (Lit. § 6.1.5); Luise Schottroff, Der Glaubende und die feindliche Welt (WMANT 37), Neukirchen 1970; Anton Dauer, Die Passionsgeschichte im Johannesevangelium (StANT 30), München 1972; James H. Charlesworth (Hg.), John and Qumran, London 1972; Karl Martin Fischer, Der johan-

536

7 Die johanneischen Schriften

neische Christus und der gnostische Erlöser, in: Karl W. Tröger, Berlin 1973, 245–266; Karl H. Rengstorf (Hg.), Johannes und sein Evangelium (WdF 82), Darmstadt 1973; Robert A. Culpepper, The Johannine School (SBLDS 26), Missoula, MT 1975; Oscar Cullmann, Der johanneische Kreis, Tübingen 1975; Marianus de Jonge (Hg.), L’Évangile de Jean, Gembloux / Leuven 1977; Elisabeth Schüssler-Fiorenza, The Quest for the Johannine School: The Apocalypse and the Fourth Gospel, NTS 23 (1977), 402–427; Robert A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel, Philadelphia 21987; Petr Pokorný, Der irdische Jesus im Johannesevangelium, NTS 30 (1984), 217–228; Walter Grundmann, Der Zeuge der Wahrheit, Berlin 1985; Udo Schnelle, Antidoketische Christologie im Johannesevangelium (FRLANT 144), Göttingen 1987; Klaus Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, München 41992; Walter Rebell, Gemeinde als Gegenwelt. Zur soziologischen und didaktischen Funktion des Johannesevangeliums (BET 20), Frankfurt (M.) 1987; Hartwig Thyen, Art. Johannesevangelium, TRE 17, 1987, 200–225; Dwight Moody Smith, Johannine Christianity, Edinburgh 1987; Michael Theobald, Die Fleischwerdung des Logos (NTA 20), Münster 1988; Jens W. Taeger, Johannesapokalypse und johanneischer Kreis (BZNW 61), Berlin 1988; Victor Hasler, Glauben und Erkennen im Johannesevangelium, EvTh 50 (1990), 279–311; William Loader, The Christology of the Fourth Gospel (BET 23), Frankfurt (M.), 21992; Robert T. Fortna, The Fourth Gospel and its Predecessors, Edinburgh 1989; Martin Hengel, Reich Christi, Reich Gottes und Weltreich im Johannesevangelium, in: Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult (WUNT 55), 1991, 163–184; Judith Lieu, The Theology of the Johannine Epistles, Cambridge 1991; Walter Schmithals, Johannesevangelium und Johannesbriefe. Forschungsgeschichte und Analyse (BZNW 64), Berlin 1992; Adelbert Denaux (Hg.), John and the Synoptics (BEThL 101), Leuven 1992; Ludger Schenke, Das Johannesevangelium, Stuttgart 1992; Christian Dietzfelbinger, Johanneischer Osterglaube (ThSt 138), Zürich 1992; Martin Hengel, Die johanneische Frage (WUNT 67), Tübingen 1993; Thomas Knöppler, Die theologia crucis des Johannesevangeliums (WMANT 69), Neukirchen-Vluyn 1994; James H. Charlesworth, The Beloved Disciple, Valley Forge 1995; Christian Dietzfelbinger, Der Abschied des Kommenden (WUNT 95), Tübingen 1995; Otfried Hofius / Hans-Christian Kammler, Johannesstudien (WUNT 88), Tübingen 1996; Andreas Obermann, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium (WUNT II/83), Tübingen 1996; Christina Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium (WUNT II/84), Tübingen 1996; Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie I–III (WUNT 96. 110. 117), Tübingen 1997. 1998. 1999; Johannes Beutler, Gesetz und Gebot in Evangelium und Briefen des Johannes, in: EΠITOAYTO (FS P. Pokorný), Prag 1998, 9–22; Michael Labahn, Jesus als Lebensspender (BZNW 98), Berlin / New York 1999; Robert Alan Culpepper / Barnabas Lindars / Ruth B. Edwards / John M. Court, The Johannine Literature, Sheffield 2000; Rainer Metzner, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT 122), Tübingen 2000; Ulrich Busse, Das Johannesevangelium. Bildlichkeit, Diskurs und Ritual (BEThL 162), Leuven 2002; Jörg Frey, Die „theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, in: Kreuzestheologie im Neuen Testament (WUNT 151), hg. v. Andreas Dettwiler / Jean Zumstein, Tübingen 2002, 169–238; Michael Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium (HBS 34), Freiburg u. a. 2002; Dwight Moody Smith, John and the Synoptics, in: James H. Charlesworth / Michael A. Daise (ed.), Light in a Spottless Mirror. Reflections on Wisdom Tradition…, Harrisburg etc. 2003, 77–91; Raymond E. Brown, An Introduction to the Gospel of John, ed. F. J. Moloney, New York 2003; Jürgen Becker, Johanneisches Christentum, Tübingen 2004; Ruben Zimmermann, Christolo-

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

537

gie der Bilder im Johannesevangelium. Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10 (WUNT 171), Tübingen 2004; Ulrich Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik, Die urchristlichen Ämter aus johanneischer Sicht (BThSt 65), Neukirchen-Vluyn 2004; Theo K. Heckel, Die Historisierung der johanneischen Theologie im Ersten Johannesbrief, NTS 50 (2004), 425–443; Jörg Frey / Udo Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive (WUNT 175), Tübingen 2004; Enno Edzard Popkes, Die Theologie der Liebe Gottes in den johanneischen Schriften (WUNT II/197), Tübingen 2005; Dieter Sänger / Ulrich Mell (Hg.), Paulus und Johannes (WUNT 198), Tübingen 2006; Jörg Frey / Jan G. van der Watt / Ruben Zimmermann, Imagery in the Gospel of John (WUNT 200), Tübingen 2006.

7.1.1 7.1.1.1

Gliederung und Inhalt Das Evangelium

Im Johannesevangelium1 finden sich die auffälligsten Umbrüche im Anschluss an den Prolog (1,1–18), nach dem 12. Kapitel am Übergang von der Offenbarung Jesu in der Welt zum Abschied von den Jüngern und nach Kap. 17, bevor mit 18,1 die eigentliche Passionsgeschichte beginnt. Ein deutlich abgesetzter Nachtrag ist Kap. 21. Die Gliederung in kleinere Einheiten ist umstritten, da Johannes einige Themen mehrfach und in unterschiedlichen Zusammenhängen behandelt. Die Gedankenführung ist spiralartig gestaltet, aber was auf den ersten Blick wie eine Wiederholung wirkt, ist bei näherer Betrachtung mit einem neuen Motiv verbunden, sodass das Problem auf einer höheren Ebene erörtert wird. Zum Beispiel gibt in 6,25–33 Gott das himmlische Brot, in 6,41–51 identifiziert Jesus sich mit dem himmlischen Brot, und in 6,52–58 ist Jesus als das himmlische Brot beim Herrnmahl präsent. Tabellarische Übersicht s. S. 538 1,1–18 Prolog Dieser ist eigentlich kein Vorwort (wie Lk 1,1–4), sondern führt programmatisch in die Christologie des Evangeliums ein. Er beginnt mit einem Hymnus auf den „Logos“, d. h. auf das „Wort“ (sc. Gottes), das – hier weit über die normale Wortbedeutung hinausgehend – als Schöpfungsmittler, Licht des Heils und Quelle der wahren Erkenntnis gepriesen wird. Es geht um die Inkarnation des präexistenten Gottesworts, von dem Johannes der Täufer Zeugnis gibt (V.6–8.15). In der Person Jesu ist „der Logos“ (das Wort) „Fleisch“ geworden (sárx egéneto), d. h. er lebte als Mensch eine irdische Existenz, in der das göttliche Wesen sichtbar wurde: „wir sahen seine Herrlichkeit“ (V.14). Die Gnade und Wahrheit, die durch das inkarnierte Wort, d. h. Jesus, geschehen sind, stehen über dem Gesetz, das durch Mose vermittelt wurde. 1 Vgl. als Gesamtdarstellung F. Hahn, Theologie I (Lit. § 1), 585–732, sowie als Kommentar Ch. Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,1–2 (mit vielen instruktiven Exkursen), zu den Briefen H.-J. Klauck, EKK XXIII/1–2.

538

7 Die johanneischen Schriften

1,1–18

Prolog: Logos-Hymnus

1,19–12,50 1,19–34 1,35–51

Erster Teil: Die Offenbarung Jesu in der Welt Zeugnis des Täufers (vgl. 1,6–8.15; 3,22–30) Die ersten Jünger

2,1–12 2,13–22

3,1–21 4,1–42 4,43–54

Erstes Zeichen: Weinwunder bei der Hochzeit in Kana Tempelreinigung (vgl. Mk 11,15–17 erst nach dem Einzug, vier Jerusalembesuche: Joh 2,13; 5,1; 7,10; 12,12, drei Passafeste: 2,13; 6,4; 11,55) Gespräch mit Nikodemus: Geboren-Werden aus Wasser und Geist Gespräch mit der Frau aus Samarien: Wasser des Lebens Zweites Zeichen: Heilung des Sohns des Beamten in Kana (vgl. Lk 7,1–10 Q)

5,1–18 5,19–47

Heilung des Gelähmten am Sabbat Die Sendung des Sohns durch den Vater

6

Brotrede Speisung der 5000 (vgl. Mk 6,32–44) Jesu Gang auf dem Wasser (V.20: „Ich bin“; vgl. Mk 6,45–52) „Ich bin das Brot des Lebens“ (V.35.41.48.51) Eucharistische Deutung Petrusbekenntnis (vgl. Mk 8,27–30)

6,1–15 6,16–21 6,22–59 6,52–58 6,66–71 7–8

Konflikte mit „den Juden“ (8,44: Teufelskindschaft; vgl. Kap. 5–11)

9,1–41 10,1–21 10,22–42

Heilung des Blindgeborenen am Sabbat (vgl. 9,5 mit 8,12: „das Licht der Welt“) Hirtenrede (V.7.9: „die Tür“; V.11.14: „der gute Hirte“) Disput über die Messianität Jesu und die Einheit mit dem Vater

11,1–44 11,45–54

Auferweckung des Lazarus (V.25 f.: „die Auferstehung und das Leben“) Todesbeschluss des Hohen Rats (11,55 drittes Passa; vgl. 2,13; 6,4)

12,1–11

Salbung in Betanien (vgl. Mk 14,3–9 erst nach dem Einzug in Mk 11,1–10) Einzug in Jerusalem (vgl. Mk 11,1–10) Jesus und die Griechen Konflikt zwischen Glaube und Unglaube (Zitat Jes 6,9 f.)

12,12–19 12,20–36 12,37–50 13–17 13,1–30 13,31–16,33 14,6 15,1 ff. 17

Zweiter Teil: Die Offenbarung Jesu vor den Jüngern Fußwaschung und Ankündigung des Verrats Abschiedsreden mit fünf Parakletsprüchen (14,16 f.26; 15,26; 16,7.13) „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ „der wahre Weinstock“ Das sog. „hohepriesterliche“ Gebet: Jesu Fürbitte für die Seinen

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe 18–20 18–19 20,1–10 20,11–29 20,11–18 20,19–23 20,24–29

Dritter Teil: Passion und Auferstehung Jesu Weg ans Kreuz Das leere Grab Erscheinungen des Auferstandenen vor Maria aus Magdala vor den Jüngern (Sendung und Geistmitteilung) vor Thomas

20,30–31

Epilog (erster Buchschluss)

21

Nachtragskapitel Fischfang am See von Tiberias (vgl. Lk 5,1–11) Weideauftrag an Petrus Petrus und der Lieblingsjünger

21,1–14 21,15–19 21,20–23 21,24–25 kursiv

539

Zweiter Buchschluss

Christushymnus Reden

Die Zeichen in Kana

Der Konflikt mit den Juden

1,19–12,50 Erster Teil: Die Offenbarung Jesu in der Welt Johannes der Täufer – er tauft Jesus hier aber nicht – bezeugt, dass Jesus das Lamm Gottes ist, das die Sünden der Welt trägt (1,29). Bei der Berufung der ersten Jünger ist eine Häufung christologischer Würdetitel bemerkenswert: Petrus bezeichnet Jesus bereits als „Messias“ (1,41) und Nathanael bekennt, dass dieser „der Sohn Gottes“ und „der König Israels“ ist (1,49). Als erstes Zeichen vollbringt Jesus ein Wunder bei der Hochzeit zu Kana, indem er als ansatzweise Vorwegnahme der kommenden Heilszeit Wasser in Wein verwandelt (2,1–12). Die Tempelreinigung (2,13–22) folgt nicht wie bei den Synoptikern erst nach dem Einzug Jesu in Jerusalem als Auslöser für den Tötungsentschluss der Hohepriester und Schriftgelehrten (Mk 11,15–18), sondern wird programmatisch an den Beginn des Auftretens Jesu vorgezogen. Sie soll zeigen, dass sein ganzes Wirken von Anfang an auf das Kreuz und die Auferstehung zuläuft. Das Gespräch mit Nikodemus handelt beim Geboren-Werden aus Wasser und Geist von der Taufe (3,3–8) und gipfelt in den Aussagen Jesu über die Liebe Gottes: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat“ (3,16). Es folgt das abschließende Zeugnis Johannes des Täufers, das von einem christlichen Standpunkt aus dessen Verhältnis zu Jesus präzisiert: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (3,30). Das Gespräch mit einer Frau aus Samarien offenbart Jesus als Wasser des Lebens (4,1–42). Die Heilung des Sohns eines königlichen Beamten (4,43–54; vgl. ähnlich Lk 7,1–10 Q) wird als Jesu zweites Zeichen in Kana geschildert und ergibt eine Ringkomposition mit Kap. 2, die auf die Bedeutung der Wunder im Johannesevangelium hinweist (Exkurs 6c).

540

7 Die johanneischen Schriften

Mit dem 5. Kapitel beginnt der Autor, vom Konflikt zwischen Jesus und den Vertretern der Juden zu erzählen, die hier als ungläubiges Gegenüber erscheinen. Auseinandersetzungen werden deutlich bei der Heilung des Kranken am Teich Bethesda an einem Sabbat (5,15 ff.), in der Warnung an diejenigen, die den Sohn nicht ehren (5,23), in der Entfaltung des Auftrags für Jesus beim Jüngsten Gericht und bei der Auferweckung der Menschen (5,19 ff.) sowie in der Erklärung, dass Mose mit Jesus einig ist (5,45 ff.). Es folgen in Kap. 6 die Geschichten von der Speisung der Fünftausend und der Erscheinung Jesu auf dem See (Epiphanieerzählung), die aus den Synoptikern bekannt sind (6,1–21; vgl. Mk 6,32–44.45–52). Daran schließt Johannes die Rede Jesu über das wahre Brot an, die die symbolische Bedeutung auf das Herrnmahl hin entfaltet und mit dem Petrusbekenntnis (6,60–71) endet, das in Mk 8,27–30 eine Parallele hat. Der Konflikt mit den Juden verschärft sich in Kap. 7 f. beim Auftreten Jesu anlässlich des Laubhüttenfests bei seinem dritten Besuch in Jerusalem (vgl. 2,13; 5,1). In einem Streitgespräch über Abraham als Vater des Volkes Gottes werden die jüdischen Gegner als Abkömmlinge des Teufels bezeichnet (8,44). Dieser Streit setzt sich fort bei der Heilung des Blindgeborenen am Sabbat (Kap. 9) und in der Rede vom guten Hirten (Kap. 10). Daraufhin wird Jesus der Gotteslästerung beschuldigt, da er durch das Einssein mit dem Vater (10,30) sich selbst mit Gott gleichstellt (5,18; 10,36). Die Perikope über die Ehebrecherin (7,53–8,11) ist ein späterer Einschub (§ 7.1.2). Nach der Auferweckung des Lazarus durch Jesus (11,1–44) entscheidet der Hohepriester Kaiphas, es sei besser, „ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe“ (11,50), während bei den Synoptikern der Todesbeschluss – historisch wohl eher zutreffend – auf die Tempelreinigung folgt (Mk 11,15–18 par.; § 6.2.7.1). Die Kaiphas-Prophetie ist Ausdruck einer typisch johanneischen Ironie, die das Missverstehen einer Aussage im äußerlich vordergründigen – hier im politischen – Sinn zugleich schon mit einer tieferen theologischen Wahrheit über die eigentliche Bedeutung Jesu2 verbindet, deren sich Kaiphas nicht bewusst ist.3 Es folgen die Salbung in Betanien (12,1–11), wo Lazarus auferweckt wurde, und der Einzug Jesu in Jerusalem (12,12–19).4 Daraufhin kündigt Jesus seinen Tod an

2 Vgl. das Kaiphaswort (Joh 11,50 f.) mit den Stellvertretungsaussagen (6,51; 10,11.15; 15,13; 17,19; s. Anm. 63). 3 Vgl. Joh 7,35 (Juden: „Wo will dieser hingehen, dass wir ihn nicht finden könnten?“; vgl. 8,22); 12,19 (Pharisäer: „Alle Welt läuft ihm nach“); 19,14 (Pilatus: „Seht, das ist euer König!“), aber auch die Fragen in 1,46 (Nathanael: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“); 4,12 (Samariterin: „Bis du mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat?“); 7,26 (Hoher Rat: ... dass er der Christus ist?“); 8,22.53 (Juden: „Bist du mehr als unser Vater Abraham, der gestorben ist?“); 9,40 (Pharisäer: „Sind wir denn auch blind?“). Vgl. R. A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel, 165 ff. 4 Vgl. Mk 11,1–10; 14,3–9 Einzug und Salbung in umgekehrter Reihenfolge.

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

541

durch den Hinweis auf „die Stunde“, die jetzt gekommen ist (12,23.27),5 dass der Menschensohn verherrlicht werde (12,23; vgl. 3,13 f.; 8,28), sowie durch das Bildwort vom sterbenden Weizenkorn (12,24). Am Ende steht die weitere Zuspitzung des Konflikts zwischen Glauben und Unglauben (12,37–50) mit dem Zitat der Verstockungsaussage aus Jes 6,9 f. Die Hohepriester wollen sogar Lazarus töten (12,10). Einen positiven Kontrast ergibt das Suchen der Griechen. Mit den „Griechen“ sind hier hellenistische Gottesfürchtige gemeint, die mit dem jüdischen Glauben sympathisieren und Jesus kennen lernen möchten (12,20 ff.). Mit den Worten „Was ich rede, das rede ich so, wie es mir der Vater gesagt hat“ (12,50) schließt der erste Hauptteil: Seit dem Prolog wurde ein Konflikt um Jesus als der Konflikt des Lichts mit der ungläubigen Welt geschildert, die die Finsternis liebt.6 13,1–17,26 Zweiter Teil: Die Offenbarung Jesu vor den Jüngern In 13,1 wird die Passionsgeschichte Jesu (18,1 ff.) vorbereitet mit dem Hinweis, dass „seine Stunde“ gekommen ist und er die Seinen geliebt hat „bis ans Ende“ (eis télos; vgl. 19,30: tetélestai = es ist vollbracht!). Nun wäscht er den Jüngern die Füße – eine symbolträchtige Handlung, die nicht nur das Leidensgeschick Jesu als einen Dienst der Liebe an den Seinen deutet, sondern auch ein Vorbild für die Liebe der Jünger untereinander darstellt (13,15). Im Aufbau des Evangeliums tritt die Fußwaschung an die Stelle, an der bei den Synoptikern die Einsetzung des Herrnmahls steht, die schon bei Markus (Mk 14,17–21) und erst recht von Lukas (Lk 22,14–38) zu einer Abschiedsrede Jesu genutzt wird. Nachdem Jesus Judas als den Verräter gekennzeichnet hat, beginnt die große Abschiedsrede, in der er seine Rückkehr zum Vater ankündigt (hypágein = hingehen) und einen anderen Parakleten, d. h. Beistand, verheißt, nämlich den heiligen Geist (13,31–14,30). Dessen Bedeutung führt Jesus in fünf Parakletsprüchen weiter aus, welche die Grundlage für die johanneische Pneumatologie bilden (14,16 f.26; 15,26; 16,7.13). Auf die Bildrede vom wahren Weinstock und seinen Reben (15,1–8) folgen weitere Verheißungen zum Wirken des Geistes, die schon der nachösterlichen Gemeinde gelten (15,26–16,33). Den Abschluss bildet das sog. hohepriesterliche Gebet Jesu7 mit der Bitte um die Einheit seiner Jünger mit dem Vater (Kap. 17). Bei den Synoptikern steht an dieser Stelle die Erzählung vom Gebet in Gethsemane (Mk 14,32–42 parr.; § 6.5.7.5).

5 Vgl. Joh 12,23; 13,1; 17,1: „die Stunde ist gekommen“, aber auch 2,4; 7,30: sie „ist noch nicht gekommen“. 6 Joh 1,4 f.9–11 (Prolog); 3,19; 8,12 (Licht der Welt); 9,5 (Blindenheilung); 12,35 f.46 (nach dem Einzug). 7 Die Bezeichnung stammt von dem Rostocker Professor David Chytraeus (1531–1600), ist aber irreführend, da Jesus bei Johannes (im Unterschied zum Hebräerbrief; § 8.5.3b) nicht als Hoherpriester stilisiert wird (vgl. allenfalls das Eintreten für die Seinen in Joh 17,9.19 f. [vgl. als „Paraklet“ = „Fürsprecher“ in 1Joh 2,1 f.] mit Hebr 7,25; 9,24 sowie Anm. 68).

542

7 Die johanneischen Schriften

18,1–20,31 Dritter Teil: Passion und Auferstehung Manche Exegeten verbinden diesen Abschnitt mit dem vorigen (ab 13,1) und begreifen beide als zweiten Teil des Evangeliums, dessen Thema die Rückkehr zum himmlischen Vater ist. Jedenfalls beginnt mit 18,1 in Anlehnung an Mk 14,1 ff. die eigentliche Passionsgeschichte mit der Verhaftung Jesu („Ich bin es“; 18,5.6.8), dem Verhör vor den Hohepriestern, der Verleugnung durch Petrus (vgl. 13,36–38), dem Verhör vor Pilatus, Verspottung, Verur teilung, Kreuzigung und Tod. Am Kreuz steht der „titulus“, die Inschrift: „Jesus von Nazareth, der König der Juden“ (19,19), dessen Kurzform INRI (lat. Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum) zum festen Bestandteil der christlichen Ikonographie geworden ist (zur Dreisprachigkeit s. § 6.2.7.1). In dieser Inschrift kommt die paradoxe Wahrheit zum Ausdruck, dass Jesus ein „König“ (basileús) ist, sein „Reich“ (basileía) aber nicht von dieser Welt stammt (18,36). Vor seinem Tod sagt Jesus: „Es ist vollbracht!“ (19,30: tetélestai). Nach einem Lanzenstich fließen Blut und Wasser aus der Seite des Verstorbenen – eine Anspielung des Erzählers auf die Taufe und das Herrnmahl. Josef von Arimathäa und Nikodemus (vgl. 3,1) bestatten ihn. Das 20. Kapitel erzählt von den Ereignissen nach der Auferstehung: Beim Wettlauf zum leeren Grab ist der Jünger, den Jesus lieb hatte, „schneller als Petrus“, der jedoch „zuerst“ ins Grab hineingeht. Jesus offenbart sich Maria von Magdala im Garten, dann zweimal den Jüngern, um sie auszusenden, mit dem heiligen Geist auszustatten und ihnen die Vollmacht zu geben, die Sünden zu erlassen und die Vergebung zu verweigern (20,21–23). Der skeptische Thomas wird von Jesus aufgefordert, sich durch das Berühren Jesu von der Realität der Auferstehung zu überzeugen. Er reagiert mit dem höchsten christologischen Bekenntnis „Mein Herr und mein Gott!“ Daraufhin erwidert Jesus (schon im Blick auf die Situation der Gläubigen nach Ostern): „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ (20,28 f.). 20,30–31 Epilog Zum Abschluss erklärt ein Nachwort (20,30 f.), dass dieses Buch nur von einem kleinen Teil der Zeichen berichtet, die Jesus getan hat. Und es nennt die Absicht, aus der heraus das ganze Evangelium geschrieben wurde: Es soll zum Glauben führen, dass Christus der Sohn Gottes ist und die Glaubenden in ihm das (sc. ewige) Leben haben. Kap. 21 bildet einen Nachtrag: Nach dem Fischfang am See Tiberias, d. h. dem See Genezareth (vgl. Lk 5,1–11), erhält Petrus den Auftrag: „Weide meine Schafe“. Daraufhin wird er in der Nachfolge auf die Spur des Lieblingsjüngers gelenkt, der in einer redaktionellen Notiz der Herausgeber („wir wissen“) als Verfasser bezeichnet wird. Mit dem 21. Kapitel, vermutlich dem letzten literarischen Werk der johanneischen Schule, hat ein johanneischer Lehrer den Ausgleich mit der in petrinischer Tradition stehenden Mehrheitskirche gesucht.8 8

Th. K. Heckel, Evangelium (Lit. § 3), 203–205.

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

7.1.1.2

543

Die Briefe

Die Briefe weisen sprachlich wie theologisch eine große Nähe zum Evangelium auf, die sich am leichtesten durch denselben Verfasser erklären lässt, wie wir später sehen werden (s. Anm. 173 ff.). Der 1. Johannesbrief hat nicht die sonst übliche Form eines Briefs mit Präskript und Schlussgrüßen (§ 5.7b), sondern beginnt ähnlich wie das Evangelium mit einem Prolog. Dieser setzt „von Anfang an“ aber nicht bei der Schöpfung ein, sondern beim Auftreten Christi. Das Briefkorpus lässt sich nur schwer gliedern, weil ein geordneter gedanklicher Aufbau nicht sichtbar wird und insbesondere dogmatische und paränetische Redeteile eng verflochten sind. Anlass sind Antichristen, d. h. Irrlehrer, die bestreiten, dass Christus im Fleisch (in menschlicher Existenz) gekommen ist (4,2 f.; vgl. 2Joh 7). 1,1–4

Prolog: Das Wort des Lebens

1,5–5,12 1,5–2,27 2,28–3,24 4,1–5,12

Hauptteil Gottesgemeinschaft und Bruderliebe Die Auseinandersetzung mit den Gegnern Die Unterscheidung der Geister

5,13–21

Epilog: Die Macht des Gebets

1,1–4 Der Prolog enthält das Zeugnis des Verfassers über das Wort des Lebens, das in der Gestalt Jesu leiblich in diese Welt kam, um den Menschen das ewige Leben und die Gemeinschaft mit Gott, dem Vater, zu ermöglichen. 1,5–5,12 Hauptteil 1,5–2,27 Gott wird als Licht und Jesus als „Fürsprecher“ (paráklētos) für die Sünder verkündigt. Bruderliebe ist die Folge. Den Gegensatz bildet die Liebe zur vergänglichen Welt und die Leugnung des Bekenntnisses, dass Jesus der Christus ist (2,22; vgl. 5,1). 2,28–3,24 Die Liebe Gottes zeigt sich in der Überwindung der Sünde und in der Bruderliebe innerhalb der Gemeinde. Dadurch werden die Werke des Teufels bekämpft. 4,1–5,12 Nicht jede Eingebung des Geistes stammt von Gott. Bei den Äußerungen des Geistes muss man unterscheiden, ob sie zum Bekenntnis führen, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist oder nicht (4,2 f.; vgl. 2Joh 7). Jedes Wirken des Geistes, das zur Leugnung der Inkarnation Christi führt, ist nicht von Gott, sondern vom Antichristen. Das Zeugnis des Geistes hat eine konkrete Gestalt in Form von Wasser und Blut, d. h. im Herrnmahl und in der Taufe: „Denn drei sind, die das bezeugen: der Geist und das Wasser und das Blut und die drei stimmen überein“ (5,7–8; zum Zusatz s. § 7.1.2). 5,13–21 Der Brief schließt mit einem Epilog über die Macht des Gebets.

544

7 Die johanneischen Schriften

Der 2. Johannesbrief hat die Form eines Briefs (§ 5.7b) mit einem Präskript (1–3). Der Verfasser wird nur mit einem Würdetitel „ho presbýteros“ (wörtl. der Ältere) genannt, d. h. hier „der Alte“. Das Schreiben ist „an die auserwählte Herrin und ihre Kinder“ gerichtet, d. h. an eine christliche Hausgemeinde (V.10). Unmittelbar auf das Präskript folgt die Aufforderung zu einem Leben nach dem Gebot der Liebe. Der Brief gipfelt in V.7 in der Warnung vor Verführern, die leugnen, dass Christus im Fleisch gekommen ist (vgl. 1Joh 4,2 f.). 2Joh 12 f. ist der Briefschluss mit Besuchswunsch und Grüßen (aber ohne Segenswunsch). Der 3. Johannesbrief ist ebenfalls ein wirklicher Brief. Nach derselben Verfasserangabe wie in 2Joh 1 wird Gajus in der Form eines antiken Privatbriefs als Adressat gelobt und aufgefordert, weiterhin diejenigen aufzunehmen, die ihm der Presbyter schickt. Diotrephes, der in der Gemeinde, an die der frühere Brief (wahrscheinlich der 2Joh) gesandt wurde, der Erste, d. h. Gemeindeleiter, sein will, nimmt die von dem Presbyter geschickten Brüder nicht auf (3Joh 9 f.). Gajus soll fest bleiben und Demetrius aufnehmen, einen weiteren Boten des Presbyters, der offensichtlich auch der Überbringer des Briefs ist. Die Verse 13–15 bilden den Briefschluss mit Besuchsabsicht, Friedenswunsch und Grüßen. 7.1.2

Der Text

Das Johannesevangelium ist in relativ umfangreichen Fragmenten auf Papyrushandschriften aus dem 3. Jh. erhalten (p106–109). Der Papyrus p66 (Pap. Bodmer II), der in die Zeit um 200 datiert wird, enthält beinahe den ganzen Text des Johannesevangeliums. Ein kleines Bruchstück, p52 (Joh 18,31–33.37 f.), kann paläographisch in die erste Hälfte des 2. Jh.s datiert werden. Es handelt sich um den Rylands-Papyrus, der in Manchester aufbewahrt wird und das älteste erhaltene Stück eines Texts des Neuen Testaments ist (Abb. 26). Ein Vergleich des Texts des Johannesevangeliums aus den alten Papyri (2./3. Jh.; § 4.2.1) und aus den ältesten Pergamenthandschriften (4./5. Jh.; § 4.2.2) mit dem Text der späteren byzantinischen Handschriften, den die klassischen Bibelübersetzungen wie z. B. die Lutherbibel9 als Vorlage benutzten (§ 4.3.4), ergibt einige bedeutende Unterschiede: In den ältesten Handschriften fehlt die Perikope von der Ehebrecherin (7,53–8,11). Sie verdankt ihre jetzige Stellung der vorangehenden Warnung des Nikodemus vor dem vorzeitigen Richten, die sie illustrieren soll. Einige byzantinische Handschriften fügen jene Perikope nach Joh 7,36 ein, andere am Ende des Evangeliums nach Joh

9

Die revidierte Ausgabe 1984 basiert auf dem heutigen Stand der Textforschung (Nestle / Aland; s. § 4.3.4).

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

545

Abb. 26: Rylands-Papyrus (p52; Joh 18,31–33.37 f.), um 125 n. Chr.

21,25 und wiederum andere am Schluss der Endzeitrede nach Lk 21,38. Sie war vielleicht auch im Evangelium der Hebräer enthalten. Es handelt sich also um eine „wandernde Perikope“, die wahrscheinlich zur ältesten Tradition gehört, aber erst nachträglich in den Kanon aufgenommen wurde. Aus der mündlichen Tradition gelangten ins Evangelium auch die Verse Joh 5,3b– 4 zur Situation des Kranken am Teich Bethesda, welche die ältesten Textzeugen nicht enthalten. Kürzlich wurde ein Blatt einer koptischen Übersetzung des Schlussteils des Johannesevangeliums entdeckt, in dem das Evangelium offensichtlich nach dem 20. Kapitel endet.10 Die bedeutendste Ergänzung gegenüber dem heute als ursprünglich rekonstruierten Text stellt im 1. Johannesbrief das Comma Johanneum („das Satzglied von Johannes“) nach 1Joh 5,7 dar. Ein Teil der lateinischen Übersetzungen vor der Vulgata, mehrere Handschriften der Vulgata (§ 4.3.3) und spätere griechische Handschriften ergänzen hier nach der Bemerkung über den Geist, das Wasser und das Blut seit dem 4. Jh. eine trinitarische Aussage über die drei, die das Zeugnis ablegen: „im Himmel, der Vater, das Wort und der heilige Geist. Und diese drei sind eins. Und drei es sind, die das Zeugnis auf der Erde ablegen: ...“ 10

Nach einer mündlichen Mitteilung von Prof. H.-G. Bethge, April 2006.

546

7 Die johanneischen Schriften

In den Kanonsverzeichnissen (§ 3.4a; 3.5a)11 tauchen alle drei johanneischen Episteln erst seit dem 4. Jh. auf. Besonders der dritte Brief fehlt im Kanon einiger christlicher Gruppen. Die zögerliche Aufnahme dieses Briefs ist jedoch nicht in der in ihm ausgesprochenen Lehre, sondern eher im Charakter eines persönlichen Schreibens begründet. 7.1.3

Die Beziehung zu den Synoptikern

Das vierte Evangelium unterscheidet sich von den synoptischen Evangelien bei aller gattungsbedingten Ähnlichkeit in mehrfacher Hinsicht durch den Stil und die inhaltliche Gestaltung: Einerseits wird die Erzählung der Geschichte Jesu mehrmals durch lange Offenbarungsreden12 und Dialoge13 unterbrochen, andererseits das übernommene Material vom Verfasser so nacherzählt, dass eine literarkritische Unterscheidung von Schichten (diachronische Analyse), wie wir sie vom Vergleich der Synoptiker (§ 6.1) kennen, kaum durchführbar ist. Dennoch lässt sich zeigen, dass der Evangelist den Aufbau des Markusevangeliums in Grundzügen kannte. Wie bereits dargestellt (§ 6.2.6), ist die markinische Zusammenstellung der älteren Stoffe in einem Evangelium mit einer fortlaufenden biographischen Erzählung keineswegs selbstverständlich für die Gestaltung christlicher Überlieferungen und daher nur als Ergebnis einer bewussten theologischen und literarischen Entscheidung zu erklären. Auch dem Verfasser des Johannesevangeliums ist nicht nur an den Offenbarungsreden Jesu gelegen, wie es seiner geistigen Einstellung und wahrscheinlich auch der Frömmigkeit seines Milieus am meisten entsprochen hätte (§ 7.1.6). Er gestaltet sein Buch auch nicht einfach als Neuinterpretation der überlieferten Wundertaten Jesu (Exkurs 6a.c), die er als „Zeichen“ deutet (sēmeía). Er wählt eine narrative Darstellungsweise, die in Joh 1,1 in klarer Anknüpfung an Gen 1,1 mit dem Signal beginnt, dass es sich hier um eine neue Bibel, um eine neue Genesis: „Am Anfang“ (en archḗ) handelt. Es folgen die Erzählungen von Johannes dem Täufer und von der Berufung der Jünger (1,35–51). Das Buch endet mit der Passion14 und Auferstehung Jesu. Johannes übernimmt also die von Markus in seinem Evangelium erfundene literarische Grundstruktur,15 deren Narrativität zur 11

Vgl. W. Schneemelcher, NTApo6 I, 27 ff. Vgl. besonders die Brotrede (Joh 6), die Hirtenrede (Kap. 10) und die Abschiedsreden (13,31–16,33). 13 Vgl. z. B. mit Nikodemus (Joh 3), der Frau aus Samarien (Kap. 4) u. ö. 14 A. Dauer, Die Passionsgeschichte im Johannesevangelium (StANT 30), München 1972, 164, nimmt an, dass schon bei der Gestaltung der Tradition der Passionsgeschichte, die dem Verfasser des vierten Evangeliums vorlag, auch die markinische Passionsgeschichte benutzt wurde. 15 C. K. Barrett, KEK, 59–71; M. Hengel, Johanneische Frage, Kap. IV,5; M. Lang, Johan12

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

547

Botschaft von Jesus gehört.16 Offensichtlich beabsichtigt er, die früheren Schriften dieser biographisch-kerygmatischen (Unter-)Gattung „Evangelium“ durch sein Werk zu kommentieren oder sogar zu ersetzen.17 In der Forschung sind auch Versuche unternommen worden, die zeitliche Priorität des Johannesevangeliums vor den Synoptikern zu begründen.18 Diese Versuche überzeugen aber nicht. Denn dann würde die Erklärung der Ähnlichkeiten in der Komposition und Gliederung zwischen dem Johannesevangelium und den Synoptikern erst recht ein Rätsel aufgeben, das nur durch die Annahme einer nachträglichen redaktionellen Anpassung des schon vorliegenden Johannesevangeliums an die erst später entstandenen synoptischen Evangelien zu lösen wäre.19 Aber selbst durch die Hypothese einer späteren Bearbeitung des Johannesevangeliums ließe sich die literarisch-theologische Eigenart der johanneischen Darstellung nicht erklären. Gegen die Hypothese der Johannespriorität spricht schon der erste Abschnitt, in dem Johannes und die Synoptiker den gleichen Stoff behandeln, nämlich das Auftreten Johannes des Täufers und die Taufe Jesu (§ 5.6.2.2a). Da die Taufe zur Vergebung der Sünden vollzogen wurde (§ 5.6.2.2a), bereitete die Taufe wegen der Sündlosigkeit Jesu der frühen Kirche großes Kopfzerbrechen. Darum werden die Erzählungen von der Taufe Jesu nicht später erfunden worden sein, sondern einen historischen Kern haben. Die Schwierigkeiten mit der Taufe Jesu sind in den unterschiedlichen Fassungen der Perikope deutlich zu erkennen: Um die Überlegenheit und Sündlosigkeit Jesu zu wahren, weist Johannes der Täufer bei Matthäus (im Unterschied zu Mk nes und die Synoptiker (FRLANT 182), Göttingen 1999, setzen das Lukasevangelium als bekannt voraus, H. Thyen, HNT 6, 4 alle drei Synoptiker. Die Kenntnis der Synoptiker bestreiten H.-M. Schenke / K. M. Fischer, Einleitung II (Lit. § 1), 183 ff. 16 Vgl. J. Frey, Eschatologie II, 206. 17 Vgl. H. Windisch, Johannes und die Synoptiker, 12ff.; J. Frey, Das Vierte Evangelium auf dem Hintergrund der älteren Evangelientradition. Zum Problem: Johannes und die Synoptiker, in: Th. Söding (Hg.), Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons (QD 203), Freiburg u. a. 2003, 60–118, sowie die forschungsgeschichtliche Einführung von J. Frey und die Beiträge von M. Labahn / M. Lang und Z. Studenovský in: J. Frey / U. Schnelle, Kontexte des Johannesevangeliums, 3–45.443–515.517–558; vgl. auch S. Schreiber, Kannte Johannes die Synoptiker? Zur aktuellen Diskussion, VuF 51 (2006), 7–24. 18 Vgl. J. A. T. Robinson, The Priority of John, London 1985, und wieder K. Berger, Im Anfang war Johannes, Stuttgart 1997; vgl. die Rezension von I. Broer, ThLZ 123 (1998), 980– 983, sowie P. L. Hofrichter (Hg.), Für und wider die Priorität des Johannesevangeliums (Theologische Texte und Studien 9), Hildesheim u. a. 2002. In Amerika war der wichtigste Vertreter P. Gardner-Smith, St. John and the Synoptic Gospels, Cambridge 1938 (Er kannte wiederum seine zahlreichen deutschen Vorgänger nicht, von denen H. Windisch [s. Anm. 17] berichtet). 19 C. H. Dodd rechnete mit der angeblichen Grundformel der Geschichte Jesu für Verkündigung und Katechese, die jedoch nicht nachweisbar ist (§ 6.2.1). Vor ihm wurde eine ähnliche Hypothese vorgelegt von A. Seeberg, Der Katechismus der Urchristenheit (ThB 26), München 1966 (Neudruck), 45 ff.

548

7 Die johanneischen Schriften

1,9–11) die Taufbitte Jesu zurück und verlangt, eher sollte Jesus ihn taufen (Mt 3,14). Deshalb erfolgt im Matthäusevangelium die Taufe erst, nachdem Jesus bekräftigt hat, dadurch alle Gerechtigkeit zu erfüllen, d. h. nach Gottes Willen als Gerechter getauft zu werden (Mt 3,15) – und eben nicht als Sünder, der der Vergebung bedarf. Für Lukas (3,21 f.) ist die Taufe Jesu bereits nur noch der erzählerische Rahmen für das Gebet Jesu, bei dem sich der Himmel öffnet. Im vierten Evangelium wagt es Johannes der Täufer überhaupt nicht, Jesus zu taufen, weshalb er im Unterschied zu den Synoptikern auch nicht mehr „der Täufer“ genannt wird. Anders als bei den Synoptikern ist er auch nicht mehr der endzeitliche Umkehrprophet und Wegbereiter Jesu, sondern er hat nur noch die Funktion des ersten wahren Zeugen, der bekennt: „Siehe, das ist das Lamm Gottes, das (sc. nicht die eigene, sondern) der Welt Sünde auf sich nimmt“ (Joh 1,29). Dass später jemand die (markinische) Taufgeschichte in die bei Johannes festgehaltene Darstellung eingetragen hätte, ist kaum denkbar. Auf der anderen Seite müssen wir zugeben, dass im Johannesevangelium relativ alte, präliterarische Traditionen zwar nicht gänzlich übernommen, aber doch eingearbeitet wurden.20 Erst durch einen literarisch und theologisch kompetenten Verfasser erhielten diese Überlieferungen eine den synoptischen Evangelien vergleichbare Gestalt,21 zu der der Autor des Johannesevangeliums durch Markus inspiriert worden sein muss. Dazu ist es nicht unbedingt notwendig, dass Johannes das Markusevangelium in schriftlicher Form vor sich liegen hatte. Möglich wäre auch, dass der Verfasser des vierten Evangeliums von ihm hörte oder von anderen Menschen über dessen Inhalt und Aufbau informiert wurde.22 Dass Johannes das Markusevangelium gekannt hat, legen die Kompositionsanalogien in der Passionsgeschichte23 und die Übereinstimmungen von Joh 6 mit der Tradition nahe, die schon Markus vielleicht in zwei Fassungen kannte oder jedenfalls zweimal bearbeitete:24 Speisung der Menge Jesus auf dem See Zeichenforderung Gespräch über das Brot Petrusbekenntnis 20

Mk 6 6,30–44 6,45–52 ––– (7,24–30) –––

Mk 8 8,1–9 8,10 8,11–13 8,14–21 8,27–30

Joh 6 6,5–13 6,16–23 6,30 6,32–59 6,66–70

Vgl. die Parallele zu Joh 5,39–47 im Papyrus Egerton (§ 6.1.7.4). Vgl. R. Schnackenburg, HThK IV,1, 31 f., die Begründung bei F. Neirynck, John and the Synoptics, in: M. de Jonge (Hg.), L’Évangile de Jean, 73–106; vgl. z. B. die Übereinstimmungen zwischen Joh 12,5.7 und Mk 14,5.6. 22 So D. Moody-Smith, Johannine Christianity, 170. 23 Vgl. die Liste der Berührungen mit den Synoptikern bei U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 540–543. 24 Vgl. I. D. Mackay, John’s Relationship with Mark. An Analysis of John 6 in the Light of Mark 6–8 (WUNT II/182), Tübingen 2004. 21

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

549

Es gibt auch stoffliche Übereinstimmungen mit Lukas, die mit dem Einfluss mündlicher Tradition erklärt werden können. Dazu gehört die Geschichte vom reichen Fischzug (Lk 5,1–11), die bei Johannes erst nach der Auferstehung erzählt wird (Joh 21,1–11). Johannes kennt die Schwestern Maria und Martha aus Betanien (Joh 11,1), von denen in Lk 10,38–42 die Rede ist. Die johanneische Erzählung von Lazarus (Joh 11,1–44), die die Hoffnung auf das ewige Leben bestätigt (11,25 f.), könnte eine Entfaltung der Geschichte vom armen Lazarus (Lk 16,19–31) sein, der ewiges Leben besitzt.25 Mit Lukas stimmen bei Johannes auch einige Züge der Passionsgeschichte überein. So konzentriert der Verfasser des vierten Evangeliums sich z. B. auf das Verhör vor Pilatus und berichtet ebenfalls von der dreifachen Erklärung der Unschuld Jesu durch Pilatus (Lk 23,4–14 f.22; Joh 18,28; 19,4.6). Ähnlich wie Lukas lässt Johannes die Notiz über die Tränkung Jesu mit Essig (Mk 15,36) aus. Diese Parallelen sind jedoch kein hinreichender Beweis für eine mit Lukas gemeinsame schriftliche Quelle.26 Dass der Verfasser des Johannesevangeliums mehrere recht bedeutende Erzählungen und Sprüche von Markus nicht übernahm, ist kein Argument gegen seine Abhängigkeit von der markinischen Grundstruktur. An einigen Stellen des Johannesevangeliums lässt sich sogar feststellen, dass Johannes synoptische Perikopen gekannt haben muss, sie aber nicht überliefert, sondern nur einzelne Motive aus ihnen verarbeitet: Z.B. wird die Taufe Jesu (§ 5.6.2.2a) nicht erzählt, aber in Joh 1,32 begegnet die Taube als Bild für den Geist, der auf Jesus herabsteigt (Mk 1,10). Johannes der Täufer ruft nicht mehr als Bußprophet zur Umkehr (Mk 1,4), sondern wird durch den Hinweis auf das Gotteslamm zum wahren Zeugen der Heilsbedeutung Jesu (Joh 1,19–29). Petrus ist zwar noch der Sprecher der Jünger, doch wird er nach Andreas erst an zweiter Stelle berufen und durch den idealen Jünger übertroffen, den Jesus lieb hatte (§ 6.2.8e). Auffällig ist auch das Zurücktreten des Zwölferkreises (Joh 6,67.70 f.; 20,24), da die Jünger die Kirche repräsentieren und in ihrer Darstellung schon verstärkt die nachösterliche Situation der Gläubigen durchschimmert.27 Die Ereignisse im Garten Gethsemane (Mk 14,32–42; § 6.2.7.5) werden nicht geschildert, doch finden sich Hinweise auf die Klage Jesu: „Jetzt ist meine Seele betrübt“ (Joh 12,27), auf den Garten jenseits des Kidrontals (18,1) und auf die Kelchmetapher (vgl. 18,11 mit Mk 14,36). Johannes ließ also viele ihm bekannte Stoffe bewusst aus. Er wollte die vorgegebene literarische Tradition durch seine christologisch begründete Umformung noch einmal neu erschließen und tiefer durchdringen. Das Fehlen einzelner Stoffe darf deshalb nicht als Beweis für deren Unkenntnis gewertet werden, sondern ist der Ausdruck einer souveränen Freiheit in der Auswahl 25

Vgl. J. Kremer, Lazarus, Stuttgart 1985, 92 f. A. Dauer, Johannes und Lukas (fzb 50), Würzburg 1984, 204.283 ff., nimmt an, dass Johannes einen Proto-Lukas und die lukanische Passionsgeschichte kannte; vgl. Anm. 15. 27 U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik, 7 f.140 f.158–164. 26

550

7 Die johanneischen Schriften

und Gestaltung älterer Überlieferungen. Von den vielen Informationen über Jesus, die Johannes kannte (Joh 20,30; vgl. 21,25), nahm er eben nur das auf, was er zur „Erkenntnis der Wahrheit“ (8,22; vgl. 14,17; 1Joh 4,6) für unentbehrlich hielt: „Damit ihr glaubt ... und das Leben habt in seinem Namen“ (20,31). Eine auffällige Gemeinsamkeit sind die Erzählungen mit einer zweiten Sinnebene, die bei Markus vorkommen. Matthäus28 hat jene Motive unterdrückt. Vielleicht hat er sie nicht begriffen oder jedenfalls nicht übernehmen wollen. Johannes hat sie dagegen verstanden und weitergeführt. So ist z. B. die indirekte Bezeichnung Jesu als das wahre Brot nach Mk 8,14–21 in Joh 6,22–59 aufgenommen und in einer Allegorie entfaltet. 7.1.4

Quellen und religionsgeschichtlicher Hintergrund

a) Alte Überlieferungen: Bei Johannes finden wir trotz seiner meditativen Einstellung auch historische Angaben über Jesus, die bei den Synoptikern nicht enthalten sind:29 Die synoptischen Evangelien berichten nur von einem Besuch Jesu in Jerusalem während seiner öffentlichen Tätigkeit, Johannes aber erzählt von vier Besuchen.30 Auch erwähnt Johannes außer dem Passafest beim Tod Jesu31 noch zwei weitere Passafeste bei der Tempelreinigung (2,13) und zu Beginn der Brotrede (6,4). Im Johannesevangelium finden sich zudem einige geographische Angaben, die bei den Synoptikern nicht vorkommen.32 Nach dem Bericht aller vier Evangelien wurde Jesus am Rüsttag zum Sabbat (Mk 15,42), d. h. an einem Freitag, gekreuzigt. Nach der Darstellung der Synoptiker war dieser Freitag der erste Tag des Passafests (15. Nisan), der auf die nächtliche Passamahlfeier folgte (§ 5.6.2.3a Petit). Johannes hingegen nennt als Todesdatum bereits den Rüsttag zum Passafest (14. Nisan), an dem die Passalämmer vor dem Fest geschlachtet wurden (18,28; 19,14.31). In der exegetischen Literatur wird meist die johanneische Datierung auf den 14. Nisan (7. April 30 n. Chr.) für historisch zutreffend

28

Trotz der Berührungen im Auftrag an Petrus (Joh 21,15–17 und Mt 16,17 f.) reichen diese Analogien nicht aus, um die Annahme einer literarischen Abhängigkeit zu begründen. 29 Zum Problem der historischen Angaben im vierten Evangelium vgl. C. H. Dodd, Historical Tradition (424 ff.), nach dessen Urteil Johannes alte Informationen aus der in seiner Gemeinde lebendigen Tradition übernahm. 30 Joh 2,13–25 (Tempelreinigung); 5,1 (Heilung am Teich Betesda); 7,10 (Laubhüttenfest); 12,12 (Einzug). 31 Joh 11,55; 12,1; 13,1; vgl. Mk 14,1 parr. u. ö. 32 Joh 1,28 (Zeugnis Johannes d.T. in Betanien); 1,44 (Berufung der ersten Jünger in Betsaida); 4,5 f. (Sychar in Samarien); 5,2 (Teich Betesda); 6,1.23 (Galiläisches Meer = See von Tiberias); 9,7.11 (Teich Siloah); 11,54 (Ephraim); 19,13 (Gabbata).

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

551

gehalten, da an einem Feiertag wie dem Passafest keine Prozesse geführt wurden.33 Johannes muss diese Angabe keineswegs aus einer schriftlichen Quelle entnommen haben. Es kann sich auch um mündliche Überlieferungen handeln. Was den Sterbetag Jesu betrifft, war bei der Auswahl aus den vorliegenden Stoffen auch die theologische Absicht von Bedeutung: Nach der Darstellung der Synoptiker war das Abendmahl ein Passamahl, bei dem Jesus Brot und Wein mit einer völlig neuen Deutung versah. Bei Johannes hingegen starb Jesus als das wahre Passalamm, dem die Knochen nicht zerbrochen werden dürfen und in dem sich Gottes Heilswille für die Menschen vollendet.34 b) Quellen: Die Antwort auf die Frage nach den im Johannesevangelium verwendeten Quellen wurde lange Zeit durch Rudolf Bultmann (1884–1976) bestimmt.35 Doch konnte sich seine Hypothese einer Quelle von Offenbarungsreden und einer Sammlung von Wundergeschichten in der sog. Zeichenquelle nicht durchsetzen. Die Annahme einer Quelle von Offenbarungsreden stellte sich als entbehrlich heraus. Es gibt zwar auffällige Parallelen zu den Ich-bin-Aussagen in dem gnostischen Traktat „Die dreigestaltige Protennoia (der Erste Gedanke)“ aus Nag Hammadi (NHC XIII,1). Aber dieser Text stammt aus späterer Zeit (um 200 n. Chr.). Auch wenn die Ich-bin-Worte zu einer älteren Schicht gehören, kann er aus methodischen Gründen nicht als Vorlage für das Johannesevangeliums betrachtet werden. Deshalb hat sich inzwischen die historische Erkenntnis weitgehend durchgesetzt, dass die gnostischen Texte nicht zu den Voraussetzungen, sondern in die Wirkungsgeschichte des vierten Evangeliums gehören. Zu den von Johannes benutzten Quellen wurde von Bultmann vor allem die Zeichenquelle36 gerechnet, die vielleicht eine Sammlung von Geschichten mit den Wundern Jesu enthielt und von Johannes als eine Zusammenstellung von „Zeichen“ (sēmeía) interpretiert wurde (zur

33

Vgl. R. Riesner, Frühzeit (Lit. § 5.8.1), 31–52, bes. 43 ff.; G. Theißen / A. Merz, Jesus (Lit. § 6.1), 152–154. 34 Joh 1,29.36; 19,36 f. (Zitat Ex 12,10.46 LXX); vgl. 1Kor 5,7 (s. Anm. 68); zum Pesachfest im Johannesevangelium vgl. Ch. Schlund, „Kein Knochen soll gebrochen werden“ (WMANT 107), Neukirchen-Vluyn 2005, oder zusammenfassend dies., Deutungen des Todes Jesu im Rahmen der Pesach-Tradition, in: J. Frey / J. Schröter, Deutungen des Todes Jesu (Lit. § 5.6.2.3), 397–411. 35 Vgl. R. Bultmann, KEK II, 78 ff., als knappen Überblick ders., Art. Johannesevangelium, RGG 3 (3. Aufl.), 840–850, ferner dessen Gesamtdeutung ders., Theologie (Lit. § 1), 354–445. Die Hypothese entfalteten seine Schüler wie H. Becker (Die Reden des Johannesevangeliums und der Stil der gnostischen Offenbarungsrede, Göttingen 1956) und einige andere Forscher (z. B. D. M. Smith). 36 Joh 3,2; 6,2.26; 7,31; 11,47; 12,37 und 20,30 f.: „noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern ...“ Die Hypothese einer solchen Quelle formulierte als erster A. Faure, Die alttestamentlichen Zitate im vierten Evangelium und die Quellenscheidungshypothese, ZNW 21 (1922), 99–121. R. Bultmann entfaltete sie in seinem großen Johanneskommentar. Als eine theologisch konzipierte und literarisch bearbeitete Schrift, die ein direkter Vorgänger des Jo-

552

7 Die johanneischen Schriften

theologischen Deutung s. Exkurs 6c). Auf eine solche Sammlung könnte die Zählung der Wunder hinweisen mit dem Weinwunder in Kana („Anfang der Zeichen“; 2,11) und der Heilung des Sohns eines königlichen Beamten („das zweite Zeichen“; 4,54). Da inzwischen von anderen Zeichen die Rede ist (2,23), erscheint es möglich, dass die Zählung der Wunder nicht vom Evangelisten stammt und er sogar die anderen Zahlenangaben beseitigte. Die ganze Sammlung könnte in der Erweckung des Lazarus (11,1–44) gegipfelt haben. Auch einige weitere Notizen über die Zeichen werden dieser Sammlung zugeschrieben. Die Existenz einer solchen Zeichenquelle wird allerdings in der neueren Forschung bezweifelt.37

Dass die Zählung der Wunder als „Anfang der Zeichen“ (2,11) und das „zweite Zeichen“ (4,54) nicht konsequenter durchgestaltet wurde, muss nicht durch eine bereits vorliegende Quelle erklärt werden, sondern hat eine theologische Funktion: Die Wunder werden miteinander verknüpft und sollen sich gegenseitig auslegen.38 Sie sind eine Manifestation der göttlichen Herrlichkeit, die nicht wie bei den Synoptikern auf das schon vorhandene Zutrauen zu Jesus reagiert,39 sondern den Glauben erst hervorbringt (2,11.23; 20,30 f.). Eine theologische Spannung zwischen der Wundertradition und den Reden Jesu besteht im Johannesevangelium nicht (§ 7.1.5.1c). Die Zählung der Wunder kann der Evangelist selbst vorgenommen haben.40 Eine ernstzunehmende Zwischenposition setzt die Annahme einer Wundertradition voraus, die Johannes in seinem Stil bearbeitete.41 c) Redaktionshypothesen: Ein besonderes Problem bilden die vielfältigen Hypothesen, die eine redaktionelle Bearbeitung des Johannesevangeliums annehmen, und zwar durch den Verfasser des 21. Kapitels. Dieser kirchliche Redaktor soll das Buch durch seine Eingriffe und den Nachtrag in Kap. 21 der entstehenden christlichen Orthodoxie angepasst haben. In der neueren Forschung42 wird eine solche Überarbeitung zunehmend in Frage gestellt43 oder als Relecture, d. h. neuerliche Lektüre, des Evangeliums verstanden, die dessen theologische Anliegen in einer veränderten Situation neu zur Geltung zu bringen versucht.44 hannesevangeliums war, betrachtet die Zeichenquelle R. T. Fortna, The Fourth Gospel and its Predecessor, 7 ff., ähnlich D. M. Smith, Johannine Christianity, 62 ff. 37 Vgl. U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 537–539. 38 H.-Ch. Kammler, Die „Zeichen“ des Auferstandenen, in: O. Hofius / ders. (Hg.), Johannesstudien, 191–211, hier 198 f. 39 Vgl. Mk 2,5 (Träger des Gelähmten); 5,34.36 (Frau mit den Blutungen und Tochter des Jairus), aber auch 6,5 f. (Ablehnung der Wundertätigkeit in Nazareth wegen des Unglaubens); vgl. Exkurs 6b. 40 Zusammenfassend s. U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 537–539. 41 Vgl. z. B. R. Schnackenburg, HThK IV,1, 51 ff. 42 Vgl. J. Frey, Eschatologie I. 43 Vgl. E. Ruckstuhl / P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannesevangelium (NTOA 17), Freiburg / Schweiz u. a. 1991. 44 Vgl. J. Zumstein, Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangeli-

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

553

Redaktionshypothesen tauchen seit dem 18. Jh. auf und spiegeln die innere Spannung wider, die im Johannesevangelium zu beobachten ist. Da diese Spannung zu einem großen Teil mit der literarischen und theologischen Absicht des Verfassers zusammenhängt, ist der Umfang einer solchen Redaktion im Einzelnen schwer zu bestimmen. Dementsprechend fallen auch die literarkritischen Urteile recht unterschiedlich aus, was nicht gerade für die Überzeugungskraft dieser Hypothesen spricht. So werden der Redaktion von manchen Forschern z. B. alle Stellen zugeschrieben, die die Menschlichkeit Jesu betonen oder vor Spaltungen warnen. Auch die Gestalt des geliebten Jüngers wird mitunter als Schöpfung des Redaktors bezeichnet.45 Alle diese Vermutungen sind schwer zu belegen. Aber sie gehen von sachlichen Beobachtungen aus, die auf eine besondere Vorgeschichte des Johannesevangeliums schließen lassen: Der Verfasser übernahm Traditionen einer judenchristlichen Gruppe und arbeitete die Erwartungen des (heterodoxen?) jüdischen Milieus ein.46 Zu ihnen gehört vor allem die Hypostasierung, die einzelne Motive wie z. B. das „Wort“ (lógos) oder den „Geist“ (paráklētos) zu einer eigenen Gestalt verselbstständigt. Dieselbe Tendenz lässt sich auch im Judentum bei der Hypostasierung der Weisheit in Spr 8,22 ff. oder Sir 24 beobachten. Der Einfluss solcher Traditionen ist vor allem beim Hymnus in Joh 1,1–18 spürbar.47 Der Endredaktion, die vielleicht erst nach einigen Jahren stattfand, können wahrscheinlich nur Kap. 21 und wenige Eingriffe in den Text zugeschrieben werden (§ 7.1.6).

um, Zürich 1999, und A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters (FRLANT 169), Göttingen 1995. 45 Vgl. H. Thyen, Entwicklungen innerhalb der johanneischen Theologie, in: M. de Jonge, L’Évangile de Jean, 259–299. Eine umfassende redaktionelle Bearbeitung wird von G. Richter, Studien zum Johannesevangelium (BU 13), Regensburg 1977, angenommen. Vgl. auch den kühnen Vorschlag von F. Siegert, Der Erstentwurf des Johannes (MJSt 16), Münster 2004, der den Erstentwurf des ursprünglichen, judenchristlichen Johannesevangeliums in deutscher Übersetzung zu rekonstruieren versucht und die dualistisch-pessimistischen Tendenzen des Antijudaismus und der Weltverneinung den Herausgebern der kanonisch gewordenen Endgestalt zuschreibt. 46 Vgl. als klassisches Beispiel für die Hypothesen zur historischen Schichtung des Johannesevangeliums M.-É. Boismard / A. Lamouille, L’Évangile de Jean, Paris 1977. Sie rechnen zwar mit schriftlichen Vorstufen und ihre Einzelergebnisse sind eigenwillig, aber die Grundtendenz der Entwicklung haben sie anschaulich formuliert. 47 Zu den gemeinsamen Traditionen der Hymnen s. § 8.2.5 (zu Kol 1,15–20). Dies schließt nicht aus, dass der Verfasser solche Hymnen redigierte und kommentierte: So z. B. O. Hofius, Struktur und Gedankengang des Logos-Hymnus in Joh 1.1–18, in: ders. / H.-Ch. Kammler, Johannesstudien, 1–23.

554

7 Die johanneischen Schriften

Die Feststellung von Gedankensprüngen im erhaltenen Text führte mehrere Forscher, besonders Rudolf Bultmann,48 zu Hypothesen über eine mögliche Blattvertauschung. Ihrer Meinung nach müsste z. B. das 5. Kapitel auf 6,59 folgen und dann schließe sich 7,15 ff. (der Streit um die Schrift) an, das 17. Kapitel würde auf 13,30 folgen usw. Dadurch würden Ungereimtheiten bei den Ortsangaben49 und vor allem in der Argumentation beseitigt. Diese Hypothese ist deshalb nicht überzeugend, weil die Verschiebungen innerhalb einer einzigen Abschrift hätten geschehen müssen, die schon ein Kodex war und deren Seiten mit vollständigen (ununterbrochenen) Sätzen schließen müssten. Die Gedankensprünge hängen also eher mit dem Stil des Verfassers zusammen.

d) Das geistige Milieu: Die religionsgeschichtliche Schule betonte zu Beginn des 20. Jh.s die Gemeinsamkeiten der johanneischen Schriften, bes. des Evangeliums, mit der Gnosis. Die Herleitung von der Gnosis übernahm Rudolf Bultmann (s. Anm. 35) mit dem Hinweis auf die im 20. Jh. populär gewordenen mandäischen Schriften.50 Bultmann ging vom gnostischen Mythos einer Erlösergestalt aus, die aus der göttlichen Lichtwelt auf die Erde gesandt wurde, um die Menschen durch die Erkenntnis des göttlichen Lichts von den dämonischen Mächten der Finsternis dieser Welt zu befreien, zu Gott zurückzukehren und die Seinen nach sich zu ziehen. Zunächst wurde von Bultmann ein starker Gegensatz zwischen jüdischen und gnostischen51 Einflüssen angenommen, doch entschärfte sich diese Alternative in der weiteren Forschung durch die Erkenntnis, dass die Mandäer alttestamentliche Traditionen bearbeiteten. Heute wissen wir, dass der gnostische Mythos keine alte orientalische Vorgeschichte besitzt, sondern erst in neutestamentlicher Zeit aufkam. Das johanneische Denken kann er nicht entscheidend beeinflusst haben. Die angeblichen Spuren der gnostischen Lehre sind in Wirklichkeit nur Gemeinsamkeiten der religiösen Rede und gehören eher zur Wirkungsgeschichte der johanneischen Theologie (s. Anm. 35). Die Ähnlichkeiten einiger Motive kamen dadurch zustande, dass johanneische Vorstellungen später auch von der Gnosis aufgenommen wurden.52 Mindestens ebenso bedeutend sind einige Motive, die den johanneischen Schriften und den Texten aus Qumran (§ 2.1.2) gemeinsam sind.53 Doch ist bei den dualisti-

48

Vgl. R. Bultmann, KEK II, 78 f.348–351. Joh 6,1 zufolge fährt Jesus über den See von Tiberias nach Galiläa zurück, wobei er vorher in Jerusalem war. 50 Die Mandäer sind eine Täufersekte, die im 1–2. Jh. n. Chr. aus Syrien nach Mesopotamien emigrierte, wo sie heute lebt. Ihre Texte stammen aus dem 3./4. Jh. n. Chr., können in den ältesten Teilen aber ins 2. Jh. reichen. 51 Die Gnosis wurde damals als eine typisch griechische Strömung betrachtet; heute überwiegt die Meinung, dass sie aus dem heterodoxen hellenistischen Judentum hervorging. 52 Vgl. Ch. Markschies, Die Gnosis, München 2001, 72 f.; ders., Art. Gnosis, RGG4 3, 1047 f. 53 Vgl. die Beiträge in J. H. Charlesworth, John and Qumran (1972), New York 21990. 49

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

555

schen Konzeptionen von Licht und Finsternis,54 Wahrheit und Lüge55 oder dem Geist der Wahrheit56 und der Zwei-Geister-Lehre (1Joh 4,6) in jedem Kontext die unterschiedliche argumentative Funktion der Gegensätze zu beachten. Außerdem ist die gemeinsame Prägung durch die jüdische Tradition zu bedenken. Diese Beobachtungen sprechen gegen eine direkte Herleitung aus den Qumrantexten.57 Das Johannesevangelium und auch die johanneischen Briefe weisen eine besondere Eigenart des theologischen Denkens auf. Deshalb brachten die Versuche, die Eigentümlichkeit der johanneischen Schriften mit vorgegebenen religiösen Denkmustern zu erklären, nur vereinzelt positive Ergebnisse. 7.1.5

Die Theologie des Johannesevangeliums

7.1.5.1

Das (fleischgewordene) Wort: Christologie und Soteriologie

a) Die Christologie: Der johanneische Prolog 1,1–18 verbindet mit dem Terminus „lógos“ (Wort) die hebräische Vorstellung des Wortes als einer schöpferischen Kraft Gottes (Gen 1,1 ff.: „Gott sprach“) und die griechische, vor allem stoische Vorstellung vom Logos als dem vernünftigen Prinzip der Weltordnung.58 Beide Strömungen gingen bereits im hellenistischen Judentum eine Verbindung ein, besonders bei Philo von Alexandrien (ca. 20/10 v. Chr.–45 n. Chr.), dem einflussreichsten jüdischen Religionsphilosophen in neutestamentlicher Zeit. Das „Wort“ (lógos) ist ein Ausdruck des göttlichen Willens und steht am Anfang der Schöpfung. Es ist Gott selbst in seiner Selbstmitteilung. Es ist den Menschen zugänglich und gleichzeitig abhängig von Gott. Es kann wie jedes andere Wort weitertradiert werden, sodass es relativ selbstständig ist, und bleibt doch mit dem verbunden, der es gesagt hat (s. Anm. 47). Der Hymnus, der den Kern von Joh 1,1–18 bildet, war in der johanneischen Gemeinde schon vor der Entstehung des vierten Evangeliums bekannt (zur Rekonstruktion s. Anm. 47). Durch seine Einbettung in den Prolog gab ihm Johannes eine neue Bedeutung. Er soll die generelle Tragweite der Geschichte Jesu zeigen: Jene Geschichte, die eine konkrete Stellung in Raum und Zeit hat, ist keine nur zufällige Wahrheit, sondern entspringt dem Wesen Gottes. Sie umfasst Schöpfung und Ge54

Joh 1,4 f.; 3,19–21; 8,12; 12,35 f.46; 1Joh 1,5–7; 2,8–11. Joh 8,44–46; 1Joh 1,6–8; 4,6. 56 Joh 14,17; 15,26; 16,13. 57 Vgl. J. Frey, Licht aus den Höhlen? Der ‚johanneische Dualismus‘ und die Texte von Qumran, in: J. Frey / U. Schnelle, Kontexte, 117–203. 58 Zum Logos-Begriff s. R. Schnackenburg, HThK IV,1, 257–269, zum Hymnus Joh 1,1– 18 O. Hofius (s. Anm. 47) und zusammenfassend H. Merkel, Johannes 1,1–18: Ein Christuspsalm und seine ältesten Bearbeitungen, in: Gottes Offenbarung in der Welt (FS H. G. Pöhlmann), Gütersloh 1998, 24–38. Zur integrativen Wirkung des Johannesevangeliums s. M. Hengel, Johanneische Frage, Kap. IV,4. 55

556

7 Die johanneischen Schriften

schichte. Während der Anfang der Geschichte Jesu im Stammbaum bei Matthäus auf Abraham (Mt 1,1 ff.) und bei Lukas auf Adam (Lk 3,38) zurückgeführt wird, erreicht diese Tendenz zur Generalisierung bei Johannes ihren Höhepunkt: Jesus existierte als „Wort“ (lógos) schon vor der Erschaffung der Welt bei Gott und war als dessen Mittler bei der Schöpfung beteiligt (1,3; vgl. Gen 1,1 ff.). Der präexistente Logos repräsentiert die Ordnung, die dem Willen Gottes entspricht (1,13). Auf die Frage nach dem Willen Gottes gibt der Prolog nur eine indirekte Antwort: Man soll an den Namen des „Wortes“ glauben, d. h. es aufnehmen (1,12 f.). Später wird vom „lógos“ als einem eigenständigen Wesen nicht mehr gesprochen, doch bringen die Offenbarungsreden Jesu das zur Darstellung, was als Gottes „Wort“ auch der Wille des Vaters ist, der erfüllt und vollendet werden soll (4,34; 6,38–40). Nachdem der Prolog bei der Präexistenz59 und Schöpfungsmittlerschaft des Logos eingesetzt hat (§ 5.6.2.4), folgt in 1,14 die Inkarnation: „Und das Wort ward Fleisch“ (kaí ho lógos sárx egéneto; vgl. 1Joh 4,2 f.; 2Joh 7). „Sárx“ hat hier (anders als das durch die Sünde verdorbene Fleisch in Röm 8,3) keine negative Konnotation und ist auch kein Gegenbegriff zum Geist oder der Seele. Die „Fleischwerdung“ meint vielmehr das völlige Eingehen in die menschliche Existenz: Der Logos wurde Mensch in seiner ganzen Geschöpflichkeit, Vergänglichkeit und Schwachheit.60 Einen Schlüssel zum Verständnis der Menschwerdung bietet die christologisch grundlegende Aussage in Joh 3,16 f., in der alte Hingabe- (Röm 4,25; 8,32)61 und Sendungsformeln (Gal 4,4 f.; Röm 8,3 f.) verarbeitet sind: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat den Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde.“ Motiviert ist dieses Geschehen durch die Liebe Gottes, die die treibende Kraft ist (1Joh 4,8–10.16; vgl. Röm 5,8; 8,31 ff.).62 Die Hingabe zielt auf den Tod Jesu am Kreuz und wird in der Ausdrucksweise variierend durch mehrere Stellver tretungsaussagen (§ 5.6.2.3b; Exkurs 2) aufgenommen.63 Auf die Kreuzigung beziehen sich auch die Aussagen über die „Erhöhung“64 59

Vgl. zur Präexistenz auch Joh 17,5 („ehe die Welt war“) sowie 1,15.30 (Johannes d.T.: „vor mir“); 8,58 (Jesus: „Ehe Abraham wurde, bin ich“) und 12,41 (bei der Berufung in Jes 6,1). 60 Vgl. analog Phil 2,6 f.; 2Kor 8,9 oder Hebr 2,14.17 f.; 4,15. 61 Vgl. auch die Selbsthingabe Jesu (§ 5.6.1.2) in Mk 10,45 sowie Gal 1,4; 2,20; Eph 5,2.25; 1Tim 2,6; Tit 2,14 und – etwas anders ausgedrückt – Joh 10,11.15.17 f.; 15,13 (s. Anm. 63). 62 Vgl. E. E. Popkes, Die Theologie der Liebe Gottes in den johanneischen Schriften. 63 Joh 6,51 („für das Leben der Welt“); 10,11.15 („für die Schafe“); 15,13 („für seine Freunde“); 17,19 (Heiligung für die Seinen); 1Joh 3,16 (Lebenshingabe „für uns“); vgl. im Sinn johanneischer Ironie auch die Prophetie des Kaiphas (11,50 f.; 18,14), ferner die Ankündigung des Petrus, sein Leben für Jesus einzusetzen (13,36–38). 64 Vgl. „hypsoún“ in Joh 3,14 (vgl. das Aufstellen der bronzenen Schlange in Num 21,8 f.);

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

557

und über die „Verherrlichung“,65 durch die das ‚Emporheben ans Kreuz‘ mit dem ‚Erhöhtwerden zu Gott‘ bei der Auferstehung und der ‚Rück kehr in die himmlische Herrlichkeit‘ als ein in sich zusammenhängendes Gesamtgeschehen begriffen wird.66 Der Weg Jesu ans Kreuz ist sein Weg zu Gott. Die göttliche Zuwendung gilt für die ganze (Menschen-)„Welt“ (3,16: kósmos), deren Sündenlast Jesus als Lamm Gottes trägt, d. h. auf sich nimmt und beseitigt (1,29.36; vgl. 19,17; Jes 53,4.7.11). Diese universale Heilsbedeutung wird durch das Täuferzeugnis angekündigt, das die Motive vom Passalamm (Ex 12) und Gottesknecht (Jes 53) vereinigt. Am Ende wird das Zeugnis des Täufers – die ganze Geschichte Jesu umschließend – durch die Todesstunde bestätigt, zu der Jesus als das wahre Passa stirbt, dessen Knochen nicht zerbrochen werden dürfen.67 Im 1. Johannesbrief (1Joh 2,2; 4,10) wird dieses Geschehen in kultischen Kategorien als „Sühne (hilasmós) für unsere Sünden“ bezeichnet (Exkurs 2). Doch auch das Evangelium enthält Züge, die auf eine opfertheologische Interpretation des Todes Jesu hinweisen. Das Sterben Jesu gilt zwar nicht als Opfer im Realsinn, weil es nicht rituell im Tempel auf einem Altar vollzogen wird, aber sein Geschick wird in den Kategorien des Opfers gedeutet. Anders ausgedrückt: Jesus ist im eigentlichen Sinn gar nicht geopfert worden, aber sein Tod wird in metaphorischer Rede als „Opfer“ interpretiert.68 Durch die Tilgung der Sünden wird Jesus zum „Retter der Welt“ (sotḗr toú kósmou; 4,42; 1Joh 4,14), sodass der Tempelkult in Jerusalem überholt ist und nun die echte Gottesanbetung durch die Glaubenden im Geist und in der Wahrheit geschieht (Joh 4,20–26). In der Brotrede wird Jesus – auf das Brotwort des Abendmahls anspielend (§ 5.6.2.3b) – durch seine stellvertretende Hingabe zum 8,28; 12,32–34; vgl. sonst nur die andere urchristliche Verwendung der Erhöhungsaussage in Phil 2,9 und Apg 2,33; 5,31 für die Inthronisation zur Rechten Gottes, bei der die Auferweckung aus dem Tod und die Erhöhung zu Gott ursprünglich als ein Akt angesehen und erst von Lukas mit der Himmelfahrt Jesu 40 Tage nach Ostern unterschieden werden (Lk 24,50 f.; Apg 1,1–11; § 6.4.5.1); vgl. den Exkurs bei Ch. Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,1, 248 f., sowie J. Frey, „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat ...“, in: M. Hengel / H. Löhr (Hg.), Schriftauslegung im antiken Judentum und Urchristentum (WUNT 73), Tübingen 1994, 153–205, bes. 185–187.200–203; Th. Knöppler, Die theologia crucis, 154–172; J. Frey, Die „theologia crucifixi“, bes. 224–231. 65 Vgl. „doxázein“ in Joh 7,39; 12,16.23.28; 13,31 f.; 17,1.5 u. ö.; vgl. den Exkurs bei Ch. Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,2, 199–206. 66 Vgl. „hypsoún“ (erhöhen) und „doxázein“ (verherrlichen) im vierten Gottesknechtlied in Jes 52,13 LXX. 67 Joh 19,36 zitiert Ex 12,10.46 LXX; vgl. 1Kor 5,7; s. Anm. 34; vgl. R. Metzner, Sünde, 115–158. 68 Zur Deutung des Todes Jesu als Opfer R. Zimmermann, „Deuten“ heißt erzählen und übertragen. Narrativität und Metaphorik als zentrale Sprachformen historischer Sinnbildung zum Tod Jesu, in: J. Frey / J. Schröter, Deutungen des Todes Jesu (Lit. § 5.6.2.3), 315–373, bes. 352 ff. und J. Frey, ebd., 25.38–41.

558

7 Die johanneischen Schriften

wahren Lebensspender, der seine Existenz „für das Leben der Welt“ gibt (6,51). Nicht mehr im Jerusalemer Tempel, sondern durch die Teilnahme an der Mahlfeier wird den Gläubigen das Heil vermittelt, das im ewigen Leben besteht.69 Auch im sog. hohepriesterlichen Gebet (s. Anm. 7) enthält die Bitte, die Seinen zu „heiligen“ (hagiázein; 17,19), einen opfertheologischen Aspekt. Dieses Heil der ganzen Welt zu bringen, bildet den Kern des Sendungsgedankens, der ein Leitmotiv johanneischer Christologie darstellt (3,16 f.; 5,24).70 Die zentrale Bedeutung der Sendungskonzeption zeigt sich daran, dass die beiden Verben für das Senden, „apostéllein“ (19-mal) und „pémpein“ (28-mal), synonym gebraucht werden und das Partizip „der mich gesandt hat“ (22-mal) als feststehendes Gottesprädikat dient (4,34; 5,30; 6,38 u. ö.). Zur Sendung gehört das Vollenden (teleioún) des Werks (4,34; 17,4), wie Jesus durch sein letztes Wort am Kreuz feststellt: „Es ist vollbracht!“71 (19,30: tetélestai).72 Auf diesen Kulminationspunkt ist schon von der Fußwaschung an beim Übergang zur Passionsgeschichte die ganze Liebe Jesu für die Seinen angelegt „bis ans Ende“ (eis télos; 13,1). Der Sendungsauftrag Jesu findet seine Fortsetzung in der Mission73 der Jünger, die zugleich die Glaubenden der nachösterlichen Gemeinde verkörpern (20,21; vgl. 4,34–38; 17,18).74 Wie Jesus der von Gott geliebte Sohn ist (3,35), der sein Leben für andere einsetzt und dadurch die Liebe des Vaters weitergibt (15,9), so sollen auch die Gläubigen der johanneischen Gemeinde(n) einander lieben (13,34).75 b) Das Schriftverständnis: Der Schrift (§ 2.1.3) hat im vierten Evangelium eine große Bedeutung, die in der Johannesexegese lange Zeit unterschätzt wurde. Die Schrift findet in Jesus als dem lebendigen Wort Gottes ihre Erfüllung:76 „Ihr er69

Joh 3,15 f.36; 11,25 f.; 20,31 u. ö. Vgl. 1Joh 4,9: „Gott hat seinen eingeborenen Sohn gesandt in die Welt, damit wir durch ihn leben“; vgl. J. A. Bühner, Der Gesandte und sein Weg im 4. Evangelium (WUNT II/2), Tübingen 1977. 71 So statt der Klage der Gottverlassenheit in Mk 15,34 par. Mt 27,46 aus Ps 22,2 oder des frommen Sterbegebets in Lk 23,46 aus Ps 31,6 (§ 6.2.7.5). 72 Eine gute Übersicht zu den Texten und Deutungen gibt J. Frey, Die „theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, 169–238; vgl. grundlegend Th. Knöppler, Die theologia crucis des Johannesevangeliums. 73 Der Terminus ist eine Ableitung von lat. „mittere“ (senden), das in der Vulgata als Übersetzung für „apostéllein“ und „pémpein“ gebraucht wird, in seiner Grundbedeutung „ziehen lassen, gehen lassen, absenden, losschicken“ heißt, seine spezifisch missionstheologische Bedeutung im Sinn der Bekehrung zum christlichen Glauben aber erst im 16. Jh. (nach der Entdeckung Amerikas) erhalten hat. 74 Vgl. U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik, 7–14.23–25.27–42.164 f. 75 Vgl. 1Joh 2,10; 3,11.23; 4,7.11. 76 Vgl. A. Obermann, Die christologische Erfüllung der Schrift, 378 ff. 70

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

559

forscht die Schriften, denn ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; und sie sind es, die von mir zeugen“ (5,39). Hier zeigt sich ein pointiert christologischer Schriftgebrauch (d. h. des Alten Testaments; vgl. 1,45). Die Schrift begegnet in zahlreichen wörtlichen Zitaten77 und Hinweisen auf Gestalten wie Abraham, Mose oder Jesaja,78 sie bildet auch den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Reden vom Brot, dem guten Hirten und dem Weinstock (Kap. 6; 10; 15). Alle diese Bezüge bestätigen: „Das Heil kommt von den Juden“ (4,22) und Jesus ist der „König Israels“.79 Johannes erkennt die Schrift nicht nur als prophetisch vorausweisendes Zeugnis für Jesus als Messias Israels an (1,41.45), sondern versteht das Alte Testament in aller Ausschließlichkeit ganz von Christus her. Dieser allein ist der hermeneutische Schlüssel, durch den sich erst die Heil und Leben schenkende Funktion der Schrift erschließt (1,17 f.). c) Die Ich-bin-Worte: In den Reden stellt sich Jesus durch die Formel „Ich bin“ (egṓ eimi) vor,80 und zwar zunächst als der Messias (4,25 f.) und dann durch weitere sieben prägnante Kernaussagen als das Brot des Lebens (6,35.41.48.51), das Licht der Welt (8,12; 9,5), die Tür zu den Schafen (10,7.9), der gute Hirte (10,11.14), die Auferstehung und das Leben (11,25), der Weg und die Wahrheit und das Leben (14,6) sowie der wahre Weinstock (15,1.5). Alle diese Aussagen weisen Jesus mit einem unerhörten Exklusivitätsanspruch eine positive Schlüsselfunktion zu. Er, nur er öffnet den Weg zum wahren Leben, zur wirklichen Gemeinschaft mit Gott: „Niemand hat Gott je gesehen, der Einziggeborene, (der) Gott (ist), der im Schoß des Vaters ist, der hat Kunde gebracht“ (1,18). Diese Aussage aus dem Prolog wird in den Abschiedsreden Jesu bekräftigt: „Niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (14,6b). In dieser Art der Selbstvorstellung Jesu zeigt sich eine Besonderheit der johanneischen Theologie, die nicht so sehr mit theologisch definierten Begriffen arbeitet, wie es Paulus etwa mit dem neuen christologischen Verständnis der „cháris“ (Gnade) als Inbegriff des Heils tut (§ 5.16.5a). Stattdessen bevorzugt Johannes eine bildhafte Redeweise,81 die elementare menschliche Grunderfahrungen und religiöse Ursymbole in ihrer ganzen Vielschichtigkeit aufnimmt. Indem er z. B. in Kap. 6 beim Brot, dem 77

Vgl. Joh 2,17 (Eifer bei der Tempelreinigung: Ps 69,10); 6,45 (Jes 54,13: „von Gott gelehrt“); 10,34 (Ps 82,6); 12,13 ff. (Einzug: Ps 118,25 f.; Sach 9,9); 12,38 ff. (Jes 53,1; 6,9 f.: Verstockung); 13,18 (im Blick auf Judas Ps 41,10: „Der mein Brot isst, tritt mich mit Füßen“); 15,25 (Ps 69,5: „Sie hassen mich ohne Grund“); 19,24.28 (Ps 22,19.22: Verteilen der Kleider, „Mich dürstet“); 19,36 f. (Ex 12,46: kein Zerbrechen der Knochen beim Passa; Sach 12,10: Durchbohren). 78 Vgl. Abraham (Joh 8,33–40.52–58), Mose (1,17; 3,14; 6,31 f.) und Jesaja (12,39–41). 79 Joh 1,49 (Nathanael); 12,13 (Einzug); 18,33.39 (Pilatus); vgl. § 5.6.1.1; 6.2.7.1. 80 Vgl. H. Thyen, Art. Ich-bin-Worte, RAC 17, 147–213. 81 Zur metaphorischen Rede vgl. § 1.3.3 sowie R. A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel, 180–198; R. Zimmermann, Christologie der Bilder; ders., Jesus im Bild Gottes, in: J.

560

7 Die johanneischen Schriften

Essen und Sattwerden immer wieder zwischen dem Bereich des Irdisch-Vergänglichen und der himmlischen Gabe des ewigen Lebens hin und her springt, entwickelt er Stück für Stück die wahre theologische Bedeutung dieser Symbole. Zugleich verankert er die Vielfalt möglicher Bedeutungsaspekte durch die Ich-bin-Worte in Christus als dem wahren Lebensspender. Die Offenheit für die symbolische Bedeutung dieser Motive macht das Johannesevangelium auch für das heutige Gespräch mit anderen Religionen interessant. Zugleich weist der Verfasser durch die Verknüpfung mit den Ich-bin-Worten in unübersehbarer Deutlichkeit und unaufgebbarer Verbindlichkeit darauf hin, dass Christus das Brot und das Licht, der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Insbesondere die Brotrede in Joh 6 ist das Musterbeispiel einer Predigt, die sich allegorisierend die ganze Bedeutungsvielfalt eines elementaren Grundnahrungsmittels zunutze macht: Mit der Speisungsgeschichte geht sie von einem Wunder Jesu aus (Exkurs 6c), identifiziert den Akteur mit Hilfe des alttestamentlichen Mannamotivs als das wahre, vom Himmel kommende Lebensbrot und entfaltet daraus ein sehr konkretes Verständnis der eucharistischen Gaben als Nahrungsmittel zum ewigen Leben. Analoges gilt für die Wasser-82 oder Lichtmetaphorik,83 aber auch die Bildreden von der Tür (10,1 ff.), dem guten Hirten84 und dem wahren Weinstock (15,1 ff.). Nicht nur historisch, sondern auch psychologisch stehen die Ich-bin-Worte im schroffen Widerspruch zu dem, was wir vom irdischen Jesus wissen, der trotz seiner Autorität, mit der er das Reich Gottes verkündigte, für seine Person selbst die ehrende Anrede „guter Meister“ ablehnte (Mk 10,17 f.). Als direkte Aufzeichnung der Worte des irdischen Jesus85 müssten wir die Ich-bin-Aussagen für Äußerungen eines krankhaft übersteigerten Selbstbewusstseins halten. Es handelt sich jedoch nicht um eine Mitschrift der Worte Jesu: Jesus hat diese Reden so nicht gehalten. Vielmehr stoßen wir hier auf eine Redegattung, die als Selbstoffenbarung bezeichnet wird. Durch solche Ich-bin-Worte konnten unterschiedliche religiöse Gruppen in der antiken Welt zum Ausdruck bringen, was ihre Gottheit für sie persönlich bedeutet, wie

Frey / U. Schnelle, Kontexte, 81–116; J. Frey / J. G. van der Watt / R. Zimmermann (Hg.), Imagery in the Gospel of John. 82 Joh 2,1–11 (Weinwunder in Kana; Exkurs 6b); 3,5 (zum Taufbezug s. Anm. 125 f.); 4,10–15 (fließendes Brunnenwasser als Symbol für die Quelle des ewigen Lebens); 7,37 f. („Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! ... von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“); 19,34 (Wasser aus der Seite des Gekreuzigten als Anspielung auf die Taufe; s. Anm. 129); ferner Apk 7,17; 21,6; 22,1.17 (Wasser des Lebens). 83 Joh 1,4 f.9; 8,12 (Licht der Welt); 9,5 ff. (Heilung des Blindgeborenen) u. ö. 84 Joh 10,11–16.26–30; vgl. U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik, 108–138 sowie Anm. 81. 85 Vgl. dazu M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium (HBS 34), Freiburg u. a. 2002.

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

561

einige religionsgeschichtliche Parallelen belegen.86 Doch bildet die Selbstvorstellung JHWHs, mit der dieser sich am brennenden Dornbusch als der eine und einzige Gott im Alten Testament offenbart hat (Ex 3,14),87 traditionsgeschichtlich wie theologisch den Ausgangspunkt für das Verständnis der Ich-bin-Worte Jesu im Johannesevangelium. Mit demselben Anspruch einer göttlichen Epiphanie erscheint Jesus in der synoptischen Erzählung vom Seewandel, wenn er sagt: „Ich bin’s; fürchtet euch nicht!“ (Mk 6,50). Diese Selbstvorstellung wird in Joh 6,20 wörtlich übernommen und bereitet den Reigen der sieben Ich-bin-Worte vor. Vor diesem alttestamentlichen Hintergrund zeigen die Ich-bin-Worte, was die johanneische Gemeinde in ihrem Glauben als wesenhafte Züge der Offenbarung Gottes in Jesus Christus erkannt hat. Das göttliche „Ich-bin“ könnte den Eindruck einer starken Ichbezogenheit erwecken. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Ich-bin-Worte wenden sich an ein Gegenüber und haben den Charakter einer eindringlichen Anrede. In pointierter Weise brechen sie das egozentrische Denken auf, das in Formulierungen aus der Perspektive der 1. Person zur Sprache kommt (§ 1.3.2). Als Offenbarungsworte vermitteln sie die Erfahrung eines „anderen“, der dem Menschen zunächst als ein anderes Ich („Nicht-Ich“) gegenübertritt. Durch die direkte Anrede wirkt die Gestalt des „Ich bin“ stärker als das Ich der Hörenden. Damit verlagert sich der Schwerpunkt vom Ich zum Du, von der Selbstbezogenheit des menschlichen Ichs zu einer anbetenden Haltung, die alle Erwartung auf das Du setzt und im Bekenntnis des Thomas gipfelt: „Mein Herr und mein Gott!“ (20,28). Es entsteht eine im biblischen Sinn gläubige Beziehung zu dem göttlichen Ich, das im Gebet als Du angeredet werden kann.88 Diese Anredefunktion ist die eigentliche Intention der Ich-bin-Aussagen Jesu im Johannesevangelium. d) Die Geschichte Jesu: In der Wirkungsgeschichte des Evangeliums schwächte die göttliche Dimension die dramatische Konkretheit der Geschichte Jesu. Jesus scheint der auf der Erde wandelnde Gott zu sein,89 dessen Weg zur Hinrichtung als Rückkehr zum himmlischen Vater geschildert wird. Aber die „Herrlichkeit“ des Vaters, d. h. die unmittelbar sichtbare Manifestation des Göttlichen, wird durch die Inkarnation in der Gestalt Jesu schon im Prolog evident: „Wir sahen seine Herrlichkeit“ (1,14). Die Kreuzigung (§ 6.2.7.5), die als „Erhöhung“ bezeichnet wird (s. Anm. 64), ist die erste Etappe seines Wegs in den Himmel, die dem Ziel seiner eigenen Verherr-

86

OdSal 17,10; Apuleius, metam. 11,5; Plutarch, de Iside 9; Ginza 58,17; 59,15; NHC XIII,1 Protennoia 35,12.24.33 usw.; vgl. weitere Belege bei E. Schweizer, EGO EIMI, 12 f.67. 87 Vgl. Jes 43,10 f.; 45,12 u. ö., aber auch die Reden der Weisheit in Spr 8,22 ff.; Sir 24. 88 Vgl. zu diesem Thema der philosophischen Hermeneutik M. Buber, Ich und Du, Leipzig 1923. 89 Vgl. E. Käsemann, Jesu letzter Wille, 22.67.

562

7 Die johanneischen Schriften

lichung dient. So wirkt die Geschichte Jesu wie eine Demonstration der göttlichen Herrlichkeit gerade in dieser Welt. Zur Verherrlichung Jesu erzählt das vierte Evangelium Wundergeschichten, von denen die Auferweckung des toten Lazarus (11,1–45) schon stark mirakulöse Züge aufweist (V.39: „er stinkt schon“). In der gegenständlichen Schilderung des Auferstandenen, der in materieller Gestalt und mit einer Wunde in seiner Seite in der Welt erscheint (20,27), erreicht diese Tendenz im Osterevangelium ihren Höhepunkt. Johannes distanziert sich nicht vom Weltbild solcher Wundergeschichten, er verschiebt jedoch ihren Schwerpunkt hin auf einen anderen Bedeutungsaspekt. Die Geschichte von Lazarus ist eine Vorabbildung der Auferweckung Jesu (Exkurs 6c) und wird zum Zeichen des ewigen Lebens (11,21–27). Die Aussage über die Inkarnation (Fleischwerdung) in Joh 1,14 könnte im gnostisch-doketischen Sinn gedeutet werden, als wäre Christus nicht wirklich in die geschöpfliche Welt eingegangen, sondern hätte seinen Leib nur zum Schein angenommen und sich in der Auferstehung wieder von ihm getrennt: Die Barriere der Materie kann nicht verhindern, dass das göttliche „Wort“ (lógos) die Menschen erreicht.90 Und doch wäre diese gnostisierende Interpretation allzu einseitig. Im Unterschied zur Gnosis impliziert die johanneische Christologie keine Entweltlichung des christlichen Lebens. Die Welt gilt im vierten Evangelium zwar als Ort der Finsternis und des Unglaubens (s. Anm. 6). Aber der Kosmos ist bei Johannes keineswegs nur die gottfeindliche Welt der Finsternis,91 der Lüge (8,44.55) und des Hasses,92 die von Satan beherrscht wird.93 Vielmehr konnte die Fleischwerdung des „Logos“ (Wortes) zu Recht in antidoketischer Weise als Wesenszug seiner menschlichen Existenz in dieser Welt aufgefasst werden: Christus ist nicht nur scheinbar Mensch geworden, sondern wirklich „im Fleisch gekommen“ (1Joh 4,1–3; 2Joh 7; § 7.1.7). Die Welt ist im Johannesevangelium eine Schöpfung des einzigen Gottes, die durch den Logos, d. h. durch das Wort als der präexistenten Seinsform Christi, entstanden ist (Joh 1,3). Trotz ihrer Sündhaftigkeit wird die Welt von Gott so sehr geliebt (3,16 f.), dass er seinen Sohn in diese Welt kommen ließ,94 um ihre Sünde wegzunehmen (1,29) und sie zu retten.95 Eine andere Sicht begegnet uns z. B. im gnostischen „Evangelium der Wahrheit“ (2./3. Jh. n. Chr.), in dem die Welt als ein Werk des Irrtums erscheint.96 In den johanneischen Schriften ist es die Liebe Gottes, die Jesus in dieser Welt offen90 Im gnostischen Evangelium der Wahrheit (NHC I,3) aus dem 2. Jh. ist auch von der Fleischwerdung des Wortes die Rede (26,8 f.), das in materieller Gestalt (ebd. 31,4 f.) berührt werden kann (ebd. 30,31; vgl. 1Joh 1,1). Weitere Belege bei F. Vouga, HbNT 15/III, 64. 91 Joh 1,5.9 (Prolog); 3,19; 8,12; 12,35.46. 92 Joh 7,7; 15,18 f.; 17,14. 93 Joh 12,31; 14,30; 16,11. 94 Joh 1,9; 3,19; 11,27; 12,46; 16,28; 18,37. 95 Joh 3,17; 12,47; vgl. Jesus als den Retter der Welt in Joh 4,42; 1Joh 4,14. 96 NHC I,3; XII,2. Der Erlöser errettet die Menschen primär aus der Materie, nicht aus der

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

563

barte und die im Liebesgebot (s. Anm. 134 ff.) weiterwirkt.97 Deswegen ist die irdische Existenz Jesu keine bloße Verkleidung in einen Scheinleib, die es ihm ermöglichte, die Menschen zu erreichen, sondern die leibhaftige Offenbarung dessen, was in dieser Welt dem Willen und dem Geist Gottes entspricht. Die gute Absicht Gottes konzentriert sich in der irdischen Geschichte Jesu. Dieses inkarnatorisch-antidoketische Gefälle zeigt sich auch in dem johanneischen Symbolismus, der die Geschichte Jesu als Vermittlung zwischen Gott und Welt deutet, wie es bereits bei der Metaphorik der Ich-bin-Aussagen sichtbar wurde (s. Anm. 81 ff.). Durch die Betonung der Inkarnation des präexistenten Logos gewinnt schon der irdische Jesus eine zentrale Bedeutung, die durch das letzte „Ich bin“ in der Passionsgeschichte bestätigt wird. Das dreifache „Ich bin“ in 18,5.6.8 wird in der exegetischen Literatur zwar meist für ein Ich-bin-Wort anderer Art gehalten, da es an dieser Stelle wirklich eine Frage seiner Gegner erwidert. In der Komposition des Johannesevangeliums erweist sich diese Antwort jedoch als Schlüssel zu den vorhergehenden Ich-bin-Aussagen. Der Weg, die Wahrheit, das Leben, der Hirte, das Licht – das alles ist in dem Mann erreichbar, den die Tempelwache als Jesus von Nazareth identifiziert und verhaftet hat. Kurz gesagt: Der Erhöhte ist kein anderer als der in dieser Welt durchbohrte Jesus (19,37). Dadurch, dass er vor seiner Auferstehung ganz in dieser Welt gelebt und sie überwunden hat (16,33; 1Joh 5,4 f.), wird die Geschichte Jesu für die Leser aktuell.98 e) Die Hoheitstitel: Jesus erscheint im Johannesevangelium als „Messias“ (Christus; § 5.6.1.1) und auch als „Menschensohn“ (§ 6.2.7.2). Vor allem aber ist er der „Sohn Gottes“ (§ 5.6.1.2), auf den die anderen christologischen Hoheitstitel konsequent ausgerichtet werden.99 Das Sohnesprädikat wird zur weitaus gehaltvollsten christologischen Hoheitsaussage (24-mal [Briefe 20-mal]),100 die häufiger vorkommt als die Titel „Christus“ (19-mal [Briefe 11-mal]) und „Menschensohn“ (13-mal) oder auch „Kyrios“ für den auferstandenen Herrn (10-mal).101 Damit wird schon aufgrund der Wortstatistik die Messianität Jesu, die im Christustitel anklingt, in ihrer Bedeutung durch die Gottessohnschaft Jesu überboten. Sünde; vgl. P. Pokorný, Das sog. Evangelium Veritatis und die Anfänge des christlichen Dogmas, Listy filologické – Folia philologica 87, 1964, 51–59. 97 Vgl. J. Beutler, Gesetz und Gebot, 14 ff. 98 Vgl. J. Frey, Eschatologie II, 261. 99 Joh 1,34.49; 10,24–30; 11,27; 20,31 u. ö.; zu den Titeln vgl. die Exkurse bei Ch. Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,1 bezüglich Menschensohn (85 f.), Christus (319–333.384–388), Sohn Gottes (329–333) sowie Herr und Gott (Bd. 4,2, 343–345), zur johanneischen Christologie L. W. Hurtado, Lord Jesus Christ (Lit. § 5.6.1), 349–426. 10 0 Das absolute „der Sohn“ 15-mal (Briefe 6-mal), die Genitivverbindung „Sohn Gottes“ 9-mal (Briefe 14-mal). 101 Joh 20,18.20.25.28; 21,7.12.15–17.21.

564

7 Die johanneischen Schriften

Allerdings spricht das Johannesevangelium nicht von der Jungfrauengeburt Jesu, wie es das Matthäus- und Lukasevangelium tun (§ 6.3.3.3d; 6.4.5.3a). Johannes überholt den Gedanken der Jungfrauengeburt nicht nur inhaltlich durch die noch viel radikaleren Vorstellungen der Präexistenz (1,1–3; § 5.6.2.4) und Schöpfungsmittlerschaft Jesu (1,3.10). Er nimmt sogar eine Polemik gegen diese erst bei Matthäus und Lukas belegte Tradition auf: „Ist dieser nicht Jesus, Josefs Sohn, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wie kann er sagen: Ich bin vom Himmel heruntergestiegen?“ (6,42). Oder: „Sagt nicht die Schrift, dass der Messias aus dem Geschlecht Davids und aus dem Ort Bethlehem kommen soll, wo David war?“ (7,42). Diese Bemerkungen zu den Eltern Jesu sowie zu seiner davidische Abstammung und zu Bethlehem als Geburtsort verraten ein Befremden über die Idee der Jungfrauengeburt. Dafür hebt Johannes den universalen Anspruch der messianischen Königsherrschaft Jesu durch die Dreisprachigkeit der Kreuzesinschrift hervor (19,20; § 6.2.7.1), auch wenn sein Reich nicht von dieser Welt ist (18,36). Der johanneische Jesus widerlegt nicht die Angaben zur Herkunft, die in den erwähnten Einwänden gegen die Jungfrauengeburt enthalten sind, sondern nimmt seinen Gegnern nur den Unglauben übel. Für sie ist es schwer zu glauben, dass der Sohn eines galiläischen Zimmermanns der himmlische Messias sein könnte. Die Vorstellung des Sohnes ist im Johannesevangelium untrennbar mit der Vorstellung des Vaters verknüpft: wo einer von beiden zur Sprache kommt, ist der andere mitgedacht. In jüngerer Zeit wird – z. B. angesichts des interreligiösen Dialogs – verstärkt nach dem Gottesbild gefragt. Für Johannes ist die Gotteslehre unlösbar mit der Christologie verbunden. Der Sohn wird als der „einzige“ (monogenḗs = einzigerzeugt, einziggeboren) eingeführt (1,14.18; 3,16.18), der mit dem Wort, dem Logos, identisch ist und schon von Anfang an bei der Erschaffung der Welt beteiligt war (1,1–3). Den Schlüssel zum Verständnis dieser Einzigartigkeit des Sohns bietet die bereits zitierte Spitzenaussage in 3,16 f., in der Johannes eine alte Hingabe- und Sendungsformel (s. Anm. 61) aufnimmt, um die Gottessohnschaft auf die Liebe Gottes zurückzuführen und durch den Sendungsgedanken (s. Anm. 70 ff.) zu entfalten (5,19– 23 f.36 f.; 8,18 u. ö.). Aus dieser Sendung ergibt sich die innigste Verbundenheit von Vater und Sohn, die in 10,30 pointiert formuliert wird: „Ich und der Vater sind eins“ (vgl. 17,11.21–23). Dieser Spitzensatz betont eine einzigartige Wesens-, Offenbarungs- und Handlungseinheit zwischen Vater und Sohn in der ganzen Geschichte Jesu.102 Die hier geäußerte Einheit entspricht dem Offenbarungsanspruch, wie er im Prolog, den Ich-bin-Worten und dem ganzen Wirken Jesu zum Ausdruck kommt: Wer den Sohn sieht, sieht den Vater, der ihn gesandt hat (12,45; 14,9). Im Sohn zeigt sich die Herrlichkeit des Vaters (1,14; 11,4; 14,13). Am Ende kehrt der Sohn zum Vater zurück in die göttliche Herrlichkeit (14,2; 16,28; 17,11).

102

Vgl. aber Joh 14,28: „Der Vater ist größer als ich“.

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

565

Diese Einheit Jesu mit dem Vater im ganzen Wesen und Offenbarungshandeln ist aus der Sicht des Johannes der eigentliche Grund für die Anklage Jesu. Von jüdischer Seite werden diese Aussagen über die Einheit als der ungeheuerliche Anspruch Jesu aufgefasst, sich selber zu Gott (10,33) bzw. Gott gleich zu machen (5,18). Daraus erwächst der Blasphemievorwurf rechtgläubiger Juden gegen Jesus (10,33.36). In der johanneischen Darstellung wird die Behauptung der Gottessohnschaft zum eigentlichen Anklagegrund, der seine Verur teilung zum Tod zur Folge hat (5,17; 19,7).103 Zuvor war die Andersartigkeit seiner Königsherrschaft gegen die messianischen Erwartungen Israels (1,49 f.; 6,15) abgegrenzt worden und ebenso gegen die politischen Befürchtungen des Pilatus (18,33 ff.; § 5.6.1.1). Doch was von Jesus mit dem Sohnestitel reklamiert wurde und den Vorwurf der Gotteslästerung provoziert hatte, wird am Ende von Thomas bekräftigt: „Mein Herr und mein Gott!“ (20,28; vgl. § 5.6.1.3). Mit dieser zweifachen Gottesprädikation schließt sich der Kreis: Das Bekenntnis zum göttlichen Rang des Auferstandenen ist nicht nur eine Antwort auf den Offenbarungscharakter der Ich-bin-Worte Jesu (s. Anm. 88). Es korrespondiert auch im Prolog mit dem Hymnus auf das göttliche Wesen des präexistenten und menschgewordenen Logos (1,1.18; s. Anm. 59 f.).104 Das Bekenntnis zu Jesus als dem „Sohn Gottes“ ist der eigentliche Ziel- und Höhepunkt, weshalb das ganze Evangelium geschrieben wurde: Wer an Jesus als den Sohn Gottes glaubt, hat in ihm das ewige Leben (20,31; vgl. 3,15 f.). f) Summa: Der Prolog setzt ein mit einem Hymnus auf die Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft Jesu (1,1–3), der als Wort Gottes (Logos) gerühmt wird und in der Inkarnation Mensch geworden ist (1,14). Die soteriologische Kernaussage in 3,16 führt die Hingabe des einziggeborenen Sohnes auf die Liebe Gottes zurück und erklärt Rettung, Heil und Leben für die ganze Welt zum Ziel seiner Sendung, die ihrerseits in der Sendung der Jünger in die Welt ihre Fortsetzung findet (17,18; 20,21; vgl. 4,34.38). Dieses Werk der Liebe ist vollendet, wenn Jesus am Kreuz sagt: „Es ist vollbracht!“ (13,1; 19,30). In der Stunde seines Todes fallen „Erhöhung“ und „Verherrlichung“ zusammen,105 d. h. das ‚Hochheben ans Kreuz‘ (8,28; 12,32 f.), das ‚Auffahren in die himmlische Welt‘ (3,13 f.; 12,32), das Hingehen zum Vater (8,21– 28; 13,1) und das ‚Eingehen in die göttliche Herrlichkeit‘ (12,23.28; 17,1.5.24). Der wichtigste christologische Titel ist der „Sohn Gottes“, der eine völlige Handlungs-, Offenbarungs- und Wesenseinheit mit dem Vater zum Ausdruck bringt: „Ich und der Vater sind eins“ (10,30; vgl. 17,11.21–23). Dieser göttliche Anspruch wird durch den Prolog angekündigt und durch die Ich-bin-Worte Jesu sowie seine Offenbarungsre103 Bei den Synoptikern wird der Tötungsbeschluss durch die Tempelreinigung veranlasst (Mk 11,15–18 par.). 104 Vgl. auch Christus als wahrhaftigen Gott in 1Joh 5,20. 105 Vgl. das Motiv der Stunde in Joh 7,30; 8,20 und 12,23.

566

7 Die johanneischen Schriften

den wieder aufgenommen. Er trägt Jesus den Vorwurf der Gotteslästerung ein (5,18; 10,33.36) und gilt als der eigentliche Grund für die Anklage, die zu seiner Hinrichtung führt (19,7). Doch am Ende erfährt dieser Anspruch nach Ostern seine Bestätigung durch das Bekenntnis des Thomas: „Mein Herr und mein Gott!“ (20,28). 7.1.5.2

Pneumatologie und Eschatologie

a) Der heilige Geist: In der vorösterlichen Zeit ist allein Jesus der Geistträger (1,32– 34; 3,34; 7,39). Doch verheißt Jesus den Jüngern in den Abschiedsreden106 für die Zeit nach seinem Weggang den heiligen Geist als einen „anderen Beistand“ (állos paráklētos; 14,16 f.26; 15,26; 16,7.13).107 Dieser Titel ist als passivisches Verbaladjektiv abgeleitet von „parakaleín“ (herbeirufen) und heißt: ‚der Herbeigerufene, Beistand, Helfer, Anwalt, Fürsprecher, Advokat‘ (die Lutherübersetzung „Tröster“ trifft diesen Bedeutungsumfang nur teilweise). Die Rede vom „anderen Parakleten“ verweist auf Jesus als ersten Parakleten zurück (vgl. 2Joh 2,1), der den heiligen Geist als Nachfolger und Stellvertreter bei den Jüngern bestimmt. Nach dem Weggang Jesu (7,39) wird der Paraklet in seinem Namen gesandt werden (14,26; 15,26; 16,7), seinen Platz „bei ihnen“ einnehmen und „in ihnen“ sein (14,16 f.).108 Jesus kündigt ihn als „Geist der Wahrheit“ an, der in der Zeit nach Ostern die Jünger in aller Wahrheit leiten wird (16,13),109 d. h. den Weg zu Christus hinführen, der selber der Weg und die Wahrheit und das Leben ist (14,6). So setzt der Paraklet fort, was Jesus in seinen Erdentagen selbst gewirkt hat. Indem Jesus den Parakleten für die Zeit nach Ostern als Repräsentanten des Auferstandenen verspricht, erhält der heilige Geist eine zur Person Jesu analoge, aber eigenständige Stellung zugewiesen. Damit zeichnet sich im Johannesevangelium schon eine personale Auffassung des heiligen Geistes bzw. des Parakleten ab, die dem Gefälle der dreigliedrigen Aussagen von 1Kor 12,4–6 (§ 5.12.1), 2Kor 13,13 (§ 5.13.1), Mt 28,19 entspricht und in der altkirchlichen Trinitätslehre weiter ausgestaltet wird.110 106 Zur Gattung vgl. einerseits M. Winter, Das Vermächtnis Jesu und die Abschiedsworte der Väter (FRLANT 161), Göttingen 1994 zur Tradition der alttestamentlich-frühjüdischen Testamentenliteratur, andererseits zum Hintergrund griechisch-römischer Trostliteratur M. Lang, Johanneische Abschiedsreden und Senecas Konsolationsliteratur, in: in: J. Frey / U. Schnelle (Hg.), Kontexte, 365–412. 107 Vgl. sonst nur noch einmal in 1Joh 2,1 für Christus als himmlischen Fürsprecher (Vulgata: advocatus) für die Sünder bei Gott (vgl. Röm 8,34; Hebr 7,25; 9,24). Zur johanneischen Parakletvorstellung im Kontext urchristlicher Geisterfahrung vgl. den Exkurs bei Ch. Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,2, 155–171, zur johanneischen Pneumatologie H.-Ch. Kammler, Jesus und der Geistparaklet, in: O. Hofius / H.-Ch. Kammler, Johannesstudien, 87–190. 108 Vgl. die Sendung Jesu (s. Anm. 70) und des Parakleten (14,26; 15,26; 16,7) in ihrer Parallelität mit der Sendung des Sohnes und des Geistes in Gal 4,4 f. 109 Man beachte das Futur „hodēgḗsei!“ 110 Dies betont F. Hahn, Theologie I (Lit. § 1), 669–671.728 f.

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

567

Der Paraklet, sagt Jesus, „wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (14,26). Damit wird das freie Wirken des Geistes (3,8: „wo er will“) in aller Eindeutigkeit an die Worte des irdischen Jesus geknüpft. Seine erinnernde Funktion erschöpft sich aber nicht im wortwörtlichen Wiederholen alter Jesuslogien, sondern gibt Zeugnis von der Person und dem Wirken Jesu von Anfang an (15,26 f.). Das Zeugnis des Parakleten stützt sich auf die Augenzeugenschaft derer, die „von Anfang an“ (15,27) dabei waren, besonders auf die Berichte des Lieblingsjüngers.111 Es wirkt weiter durch das Zeugnis der Jünger, mit denen in den Abschiedsreden in einer Art „Horizontverschmelzung“ (T. Onuki) zugleich schon die Gläubigen der nachösterlichen Gemeinde angesprochen werden. Nach Ostern wird der Paraklet die Jünger aus dem vorösterlichen Unverständnis zur vollen Erkenntnis der Wahrheit führen (16,13; vgl. 14,6). So verbinden die johanneischen Abschiedsreden wie kein anderes Evangelium die Bewahrung der Jesusüberlieferung mit einer geistgeleiteten Vergegenwärtigung, die der nachösterlichen Gemeinde erst den eigentlichen, tieferen, bisher, d. h. vor Ostern, nicht erkannten Sinn der Worte Jesu in ihrer ganzen Tragweite erschließt. Daraus erwächst bei Johannes einerseits eine ganz neue souveräne Freiheit im Umgang mit vorgegebenen Traditionen, die sich mit der Vorgehensweise der Synoptiker kaum mehr vergleichen lässt (§ 7.1.3). Andererseits ergibt sich zugleich eine strenge Bindung an das christologische Zeugnis des Parakleten, wie es im Johannesevangelium festgehalten ist (19,35; vgl. 21,24). Die geisterfüllte Rede wird an das Schrift gewordene Zeugnis über Christus gekoppelt bzw. solche „Schriftgemäßheit“ zum Kennzeichen des Geistwirkens erklärt, das den Geist der Wahrheit von den anderen Geistern der falschen Propheten unterscheidet (vgl. 1Joh 4,1–3).112 Das Wesentliche am Zeugnis des Parakleten ist seine heilschaffende Wirkung. Um durch den Glauben an den Sohn Gottes das ewige Leben zu vermitteln, wurde das ganze Evangelium aufgeschrieben (20,31), aber „der Geist ist’s, der lebendig macht“ (6,63). Ihm ist es zu verdanken, wenn ein Mensch neu „von oben“ geboren wird (3,3–7). b) Die Eschatologie: Dieses Wirken des Geistes ermöglicht es Johannes, die Gegenwärtigkeit des Heils für die Glaubenden hervorzuheben: „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hinübergegangen“ (5,24). Damit wird gesagt, dass das ewige Heil im Jüngsten Gericht – also das, was nach den jüdischen und frühchristlichen eschatologischen Vorstellungen erst am Ende der Zeit eintritt – sich bereits in der Gegenwart daran entscheidet, ob die Worte Jesu beim Hören gläubig aufgenommen oder abgelehnt werden. 25-mal lässt Johannes Jesus mit der Ein111 Joh 13,23 (beim letzten Mahl); 19,26.35 (unterm Kreuz); 20,2 (am leeren Grab); 21,7.20.24 (Nachtrag). 112 Vgl. U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik, 14–23.

568

7 Die johanneischen Schriften

leitung „Amen, Amen, ich sage euch“113 die Tragweite seiner prophetischen Worte bekräftigen, nach denen das Heil114 oder das Gericht (8,34; 10,1 u. a.) in der Geschichte Jesu bereits gegenwärtig verwirklicht sind. Die Stunde seines Todes (8,20; 12,27) ist in der Sicht des Johannes zugleich die Stunde seiner Erhöhung (12,23; 13,1; 17,1).115 Diese Bestimmung der Gegenwart als Zeit des Heils deutete Charles Harold Dodd im Rahmen seiner These von der verwirklichten Eschatologie („realized eschatology“): Was in der traditionellen, apokalyptisch geprägten Eschatologie erst für die Zukunft erwartet werde, sei bereits in der Geschichte Jesu verwirklicht und darum im Vollsinn vergegenwärtigt.116 Diese Sicht ist aber zu einseitig. In Wahrheit versucht Johannes alle Hoffnung an die Person Jesu zu binden, sodass eher von einer präsentischen Eschatologie gesprochen werden kann: Das Heil ist zwar noch nicht universal verwirklicht, aber in der Begegnung mit der Person Jesu, d. h. im Hören auf sein Wort und im Vollzug des Glaubens, geschieht die Teilhabe am ewigen Leben für die Glaubenden bereits in der Gegenwart. Wer mit Jesus in Verbindung steht, hat schon präsentisch Anteil an der zukünftigen Vollendung, am Eschaton.117 Durch diese Betonung der Gegenwärtigkeit des Heils wurde bei Johannes die Hoffnung auf die zukünftige Vollendung nicht ganz verdrängt. In dieser Hoffnung kommt vielmehr die Gewissheit der Glaubenden zum Ausdruck, schon jetzt den Messias zu kennen, mit ihm verbunden zu sein und von der ständigen Erreichbarkeit des Heils zu wissen:118 Die Christen sind keine Waisenkinder, die kurze Zeit der Abwesenheit Jesu ist vorbei. Sie erkennen ihren Heiland schon als den Erhöhten, weil der heilige Geist bei ihnen ist, auch wenn die Welt ihn nicht sieht (14,18–21; 20,19– 23).119 Die johanneischen Schriften legen den Nachdruck auf die präsentische Eschatologie. Dies hat es schon in der Alten Kirche ermöglicht, die zeitliche Dimension der christlichen Hoffnung auf die noch ausstehende Vollendung zurücktreten zu lassen. Durch die Verinnerlichung des Glaubens ergab sich ein neues Selbstverständnis, aus dem heraus die christliche Existenz in dieser Welt interpretiert werden konnte. Dieser Vorteil eines stärkeren Gegenwartsbezugs wurde allerdings mit der Gefahr der Weltflucht verbunden, die sich in der gnostischen Deutung aus der einseitig negativen Sicht des Kosmos ergab (s. Anm. 91 ff.). Deshalb wurde das Johannesevange113

Das verdoppelte „Amen, Amen“ begegnet nur bei Johannes. Joh 1,51; 5,24.25; 6,32.47.53; 8,51.58; 10,7; 16,20 u. a. 115 S. dazu J. Frey, Eschatologie II, 136. 116 C. H. Dodd, Apostolic Preaching and its Development, London 1963 (reprint), 71; Interpretation of the Fourth Gospel, 398. 117 Vgl. Ch. C. Caragounis, The Kingdom of God in John and the Synoptics, in: A. Denaux (Hg.), John and the Synoptics, 473–480, bes. 480. 118 Zu der temporalen Gestaltung der johanneischen Sprache s. bes. J. Frey, Eschatologie II, 24–57. 119 Vgl. Ch. Dietzfelbinger, Johanneischer Osterglaube, 77 f. 114

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

569

lium später unter dem Vorwurf gnostischer Verfälschung mit Kerinth, einem Lehrer in Kleinasien (um 100 n. Chr.), in Zusammenhang gebracht, nach dessen Meinung die Welt nicht von Gott erschaffen, sondern grundsätzlich von ihm getrennt ist (s. Anm. 184). Nur zu einem gewissen Grad konnte dieser Gefahr der Weltverachtung durch das Betonen der Inkarnation (1,14; s. Anm. 90 ff.) und durch die Theologie der anderen Teile des Kanons begegnet werden. 7.1.5.3

Ekklesiologie und Ethik

a) Die Ekklesiologie: Johannes begreift Jesus als den Offenbarer des Willens Gottes, dessen Erkenntnis für die Glaubenden die Errettung vom ewigen Tod, das Heil (s. Anm. 114 ff.), zur Folge hat. Die wahre Erkenntnis ist bei Johannes die gläubige Erkenntnis. Der Mensch erkennt die Wahrheit nicht durch die Vernunft, sondern durch den Glauben. Die Erkenntnis ist mit der geistigen, d. h. geistgewirkten Wiedergeburt identisch (3,3–7). Der Evangelist befürchtete offensichtlich, dass der Glaube zu oberflächlich aufgefasst werden könnte. Der wahre Glaube besteht in der Erkenntnis, dass Christus der Gesandte Gottes ist (6,69; 17,8), der Retter der Welt (4,42). Wer diesen Glauben an Christus, den Sohn Gottes, hat, der hat schon jetzt das ewige Leben.120 Daraus ergeben sich Konsequenzen für das Verständnis der gottesdienstlichen Feiern, die heute als „Sakramente“ bezeichnet werden (§ 5.6.2.2): Herrnmahl und Taufe sieht Johannes zur Abfassungszeit des Evangeliums von zwei Missverständnissen bedroht: zum einen durch ihre magische Überhöhung als Heilsmittel, zum anderen durch eine geistbewegte Geringschätzung der liturgischen Praxis. Deshalb betont er einerseits einer allzu simplen Verdinglichung des Heils gegenüber die geistige Bedeutung der Sakramente und ihre ethische Relevanz. Andererseits dringt er in Fortsetzung seiner antidoketisch-inkarnatorischen Christologie zugleich allen spiritualisierenden Tendenzen gegenüber auf den äußeren Vollzug und die persönliche Teilnahme. Johannes lässt den Bericht der Synoptiker von der Einsetzung des Herrnmahls (§ 5.6.2.3e) zwar aus. Aber er ersetzt ihn im Aufbau des Evangeliums durch die Schilderung der Fußwaschung (13,1-20). Dadurch will Johannes deutlich machen, dass jede authentische Eucharistiefeier zum gegenseitigen Dienst in der Liebe führt: „damit ihr tut, wie ich euch getan habe“ (13,15; vgl. 13,1.34; 15,12 f.). Dafür gestaltet er im 6. Kapitel das Gespräch nach der Speisung der Fünftausend als eine Deutung des Herrnmahls: Das wahre Brot des Lebens ist Jesus (6,35.51.58; s. Anm. 81). So hat die Brotrede zwar keinen direkten Bezug zum letzten Mahl und das Abschiedsmahl bei der Fußwaschung in Kap. 13 keine sakramentale Bedeutung. Aber indem die

120

Joh 3,15 (Jesus zu Nikodemus); 3,36 (Johannes der Täufer); 6,40.47 (Brotrede); 11,25– 27 (Jesus bei der Auferweckung des Lazarus); 20,31 (Epilog).

570

7 Die johanneischen Schriften

Verse 6,51c–58 (als sekundäre Einfügung?) auf die Eucharistie Bezug nehmen, bietet Joh 6 in Form einer vorösterlichen Jesusrede schon eine Belehrung über den Sinn des Herrnmahls für die nachösterliche Gemeinde und lässt damit (ähnlich wie in den Abschiedsreden; § 7.1.5.2) die zeitlichen Horizonte verschmelzen.121 Nach den Worten Jesu in der Lebensbrotrede ist es notwendig, seinen Leib zu „essen“ („phágein“, verstärkt zu „trṓgein“ = zerbeißen, zerkauen) und sein Blut zu „trinken“ (6,54.56–58). Wer davon isst und trinkt, bleibt in ihm und hat das ewige Leben. Mit dieser provozierenden Aussage, die sich schon einem magischen Totemismus (und Kannibalismus) nähert, intensiviert Johannes die innere Beziehung der Glaubenden zu Jesus. Damit misst der Evangelist dem Herrnmahl eine hohe Bedeutung zu. Er erklärt nicht nur den Sakramentsempfang für unerlässlich, sondern wehrt zugleich einem zweifachen Missverständnis: Einerseits sperrt er sich mit diesem massiven Realismus antidoketisch gegen alle spiritualisierenden Tendenzen, die den Empfang des Herrnmahls in ein bloß geistiges Geschehen auflösen. Andererseits widerspricht er mit dem Hinweis auf den Geist (6,63) einer magisch-materialistischen Auffassung, nach der das „Essen“ die Identifizierung mit dem Gegessenen bedeutet.122 Die wirkliche Eucharistie verlangt die innere Identifizierung mit Jesus.123 Die Gegner (s.u.) und die Jünger reagieren zwar unverständig: „Wie kann uns dieser sein Fleisch zu essen geben?“ (6,52) ... „Das ist ein hartes Wort!“ (6,60). Aber die Worte der Lebensbrotrede demonstrieren dem Leser den Wert dessen, was er bereits kennt: Der Auferstandene kann durch den Glauben schon jetzt erreicht werden. Im johanneischen Christuszeugnis und im leiblichen Verzehren des Lebensbrots ist der Erhöhte selber präsent, aber eben nur durch das Wirken des Geistes: „Der Geist ist’s, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts“ (6,63). Damit wird das Gefälle der johanneischen Inkarnationschristologie (§ 7.1.5.1a) völlig konsequent in das Eucharistieverständnis hinein fortgeführt124 und gegen eine Spiritualisierung durch den Doketismus der Gegner (s. Anm. 140) ebenso abgesetzt wie gegen einen Sakramentalismus, der den Stellenwert des Wortes und die Bedeutung des Geistes (Parakleten) für den Glauben gering achtet. Mit ähnlichen literarischen Mitteln und derselben theologischen Absicht wird auch die Taufe (§ 5.6.2.2e) interpretiert: Im Gespräch mit Nikodemus (3,3–5) sagt Jesus, dass der Mensch „von neuem“ (ánōthen = wörtl. „von oben her“), d. h. von Gott, geboren werden muss, um in das Reich Gottes zu gelangen.125 Nikodemus versteht diesen Gedanken nicht, doch Jesus erläutert, dass es sich um die Geburt „aus 121

Zum Herrnmahl in Joh 6 vgl. Ch. Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,1, 166–181. Vgl. EvThom 11; Hipp. phil. V,8,32. 123 Vgl. C. K. Barrett, KEK z.St.; s. bes. M. Labahn, Offenbarung in Zeichen und Wort (WUNT 2/117), Tübingen 2000, 81 ff. 124 Vgl. Joh 6,51: „Das Brot ist mein Fleisch“ mit 1,14: „Das Wort ward Fleisch“. 125 Joh 1,13; 1Joh 3,9; 4,7; 5,1.4.18. 122

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

571

Wasser und Geist“ handelt. Der äußere Vollzug durch den Wasserritus und das innere geistgewirkte Geschehen gehören unlösbar zusammen. Die Taufe ist nicht nur ein ritueller Akt, sondern muss wirklich als Neuanfang und innere Wandlung verstanden werden, die sich bei den Glaubenden auf ihre gesamte Existenz auswirkt. Sie ist eine neue Geburt,126 in der sich die Neuschaffung des Menschen vollzieht, auf die Johannes mit dem Wort „anblasen“ aus der Schöpfungserzählung bei der Mitteilung des heiligen Geistes an die Jünger anspielt (vgl. Joh 20,22 mit Gen 2,7).127 Während Lukas in der Apostelgeschichte die Geisttaufe möglichst eng an den mit Wasser vollzogenen Ritus bindet (§ 6.4.5.2b), betont Johannes in einer veränderten Situation wieder stärker die geistige Dimension der Wassertaufe, deren Wirkung er als Wiedergeburt begreift und auf eine durch den Geist vermittelte Entscheidung Gottes zurückführt.128 Jesus hat selber nicht getauft (4,2), aber von Johannes dem Täufer wird er als derjenige angekündigt, „der mit dem heiligen Geist tauft“ (1,33). Dafür soll durch den Hinweis, dass nur seine Jünger getauft haben (4,2; vgl. 3,22), die nachösterliche Taufpraxis durch ein entsprechendes Handeln zur Zeit Jesu legitimiert werden. Eine Anspielung auf die Taufe enthält auch die Salbung mit dem heiligen Geist in 1Joh 2,20.27. Von welch zentraler Bedeutung die Sakramente für Johannes sind, bestätigt die Episode vom Blut und Wasser, die am Kreuz aus Jesu Seite flossen (19,34; vgl. 1Joh 5,6–8). Sie stellt eine Allegorie der Eucharistie (Blut – Wein) und der Taufe (Wasser) dar, die beide in der Deutung des Todes Jesu als Opfer (s. Anm. 68) ihren Ursprung haben. So interpretiert Johannes das liturgische Leben der Kirche auf einer höheren Ebene.129 Die gottesdienstlichen Versammlungen der Gläubigen sind der Ort, an dem die johanneische Ekklesiologie ihren Sitz im Leben der Gemeinde hat und ethische Bewährung verlangt. An die Stelle des Opferkults im Jerusalemer Tempel tritt die Feier des christlichen Gottesdiensts. Jesus ist das wahre Passalamm (1,29.36) und macht durch seinen Tod das Schlachten der Passalämmer (s. Anm. 68) überflüssig. Die distanzierende Rede vom „Passa der Juden“130 legt den Schluss nahe, dass die johanneische Gemeinde das jüdische Passafest nicht mehr mitgefeiert hat. An seine Stelle ist nach Joh 6 das eucharistische Mahl getreten (s. Anm. 121). Die Tempelreinigung

126 127

Vgl. das Motiv der Wiedergeburt in 1Petr 1,3.23 (§ 8.6.3a); Jak 1,18 (§ 8.8.2c). Nach Tit 3,5 geschieht diese Wiedergeburt und Erneuerung durch das Bad (sc. der

Taufe). 128 Vgl. O. Hofius, Das Wunder der Wiedergeburt, in: ders. / H.-Ch. Kammler, Johannesstudien 33–80, bes. 79 f. 129 Vgl. R. E. Brown, AncB 4,I, CXI ff.; ders., Introduction to John, 229–234. 130 Joh 2,13; 11,55; vgl. 6,4 (s. Anm. 31).

572

7 Die johanneischen Schriften

geschieht als Zeichenhandlung, die das Ende des Tempels nicht wie bei den Synoptikern erst in der Passionsgeschichte ankündigt (Mk 11,15–17 parr.), sondern Jesu Kritik am Tempel schon zu Beginn des Evangeliums deutlich macht (Joh 2,14–22). Das Wort vom Einreißen und Aufrichten des Tempels (Joh 2,19) wird nicht mehr wie in Mk 14,58 auf den Jerusalemer Tempelbau bezogen, sondern auf den Leib Jesu gedeutet, d. h. auf seinen leiblichen (Opfer-)Tod und seine leibhaftige Auferstehung. Die Person Jesu wird zu einem neuen Ort endzeitlicher Gottesbegegnung, an dem der Himmel offen ist und die Engel über dem Menschensohn auf- und absteigen (1,51). Der Opferkult auf dem Garizim und in Jerusalem wird abgelöst, die wahre Anbetung des Vaters erfolgt nun ohne blutiges Opfer „im Geist und in der Wahrheit“ (4,23 f.). Die eschatologisch entscheidende Stunde ist „jetzt“ (4,23), d. h. in der Feier des Gottesdiensts. Dass die Jünger acht Tage (20,26) nach Ostern (20,1.19) wieder beieinander sind, entspricht dem Zeitraum einer Woche und macht Thomas zum Prototyp eines Gläubigen, der am sonntäglichen Gottesdienst teilnimmt (vgl. Apk 1,10; § 7.2.6). Hier bekommen die Glaubenden die Stimme des guten Hirten zu hören (10,3.16.27), der die Herde zusammenführt und ihre Einheit begründet (10,16). Die Kirche beruht nicht auf der Gemeinschaft gleichgesinnter Freunde, sondern wird durch die Selbsthingabe131 und den Ruf Jesu als des einen Hirten konstituiert (10,16). Die Einheit der Kirche lebt, wächst und vollendet sich in der Verbundenheit mit dem einen Herrn.132 Dieses Zeugnis von Christus als dem einen wahren guten Hirten weiterzugeben, wird in Kap. 21 durch den Weideauftrag an Petrus zur eigentlichen Aufgabe jeder Gemeindeleitung, deren Herausforderung nach johanneischem Verständnis primär kerygmatisch-poimenischer Art ist und sich nicht in kybernetischadministrativen Aufgaben erschöpft (21,15–17).133 Durch das Hören auf das johanneische Christuszeugnis bleiben die Gläubigen am Wort Jesu wie die Reben am Weinstock, was mit dem Motiv des Fruchtbringens schon zum Bleiben in der Liebe überleitet (15,1 ff.). b) Die Ethik: Die Liebe134 bildet den Kern der johanneischen Ethik. Die Zusage, dass die mit Christus Verbundenen schon rein sind (15,3), macht die Aufforderungen zur Liebe keineswegs überflüssig (14,15; 15,10 u. ö.). Die Liebe ist vor allem auf das Innere der Gemeinde ausgerichtet: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“ (15,13). Mit Motiven aus der hellenistischen Freundschaftsethik (15,13–15)135 wird die Liebe nach dem Vorbild der Fußwaschung (13,1– 17) durch „ein neues Gebot“ Jesu im Sinn einer Liebesgemeinschaft (13,34 f.) entfal131 132 133 134 135

Joh 10,11.15.17 f. (Hirtenrede); 15,13 (für die Freunde; s. Anm. 61.135 ff.). Vgl. Joh 10,16; 20,28 mit Eph 4,4 f. (s. Anm. 169 ff.). Vgl. U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik, 172–174.181–187. Vgl. E. E. Popkes, Die Theologie der Liebe Gottes in den johanneischen Schriften. Vgl. K. Scholtissek, „Eine größere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

573

tet und im 1. Johannesbrief noch deutlicher als Bruderliebe (s. Anm. 194 f.) gekennzeichnet.136 Damit werden einerseits Familienmetaphorik137 und Freundschaftsethos verbunden. Andererseits ist bei aller Anknüpfung an das hellenistische Freundschaftsideal für Johannes der Unterschied bezeichnend, dass die wechselseitige Liebesgemeinschaft ihren alleinigen Grund in der zuvorkommenden Liebe des Vaters und des Sohnes hat (15,9). Der eigentliche Freundschaftsdienst Jesu138 besteht in der Vollendung seiner rettend-dienenden Liebestat (13,1) und der „einseitigen“ Lebenshingabe für die Jünger (15,13). Von Sündern ist hier nicht die Rede. Aber aus dem Freundschaftsdienst Jesu folgt durchgängig der Appell an die gegenseitige Liebe (13,14.34 f.; 15,12). Diese Zuspitzung auf das Zusammenleben innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft wirkt wie eine unzulässige Begrenzung des Liebesgebots, das bei Jesus in der Feindesliebe (Mt 5,43–48 Q) direkt nach außen gerichtet war (§ 6.2.9).139 Doch dieser erste Eindruck täuscht: Die starke Betonung der Liebe innerhalb der Gemeinde ist aus der aktuellen gemeindlichen Situation zur Abfassungszeit des Evangeliums zu erklären. Die interne Ethik ist nicht als Flucht vor der Verantwortung für die Welt gedacht. Der innere Zusammenhalt der Gruppe wird nur deshalb besonders gefordert, weil die Gemeinschaft zwar auch durch den Hass der Welt von außen bedroht ist (15,18–16,4; 17,14; 1Joh 3,13), vor allem aber selber auseinanderzubrechen droht. Die Sorge vor einer Spaltung unter den Jüngern klingt am Ende der Brotrede in Joh 6,60 ff. an. Mit einer ähnlich antidoketischen Stoßrichtung werden dieselben Befürchtungen angesichts der christologischen Irrlehre in 1Joh 2,18 ff.; 4,2 auf die konkrete Situation in der johanneischen Gemeinde bezogen und dort noch sehr viel schärfer zugespitzt (§ 7.1.7). Wegen der doketischen Irrlehre, die die Inkarnation Jesu leugnet (1Joh 4,2 f.; 2Joh 7), wird nicht nur zur gegenseitigen Liebe ermahnt, sondern die Einheit der Kirche vor allem christologisch in der Einheit von Vater und Sohn verankert (10,16.30; 17,11.20– 23).140 Außerdem ist das Königtum Jesu in der Darstellung des Johannesevangeliums zwar nicht von dieser Welt, wie Jesus vor Pilatus versichert (Joh 18,36). Doch an

Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Die hellenistische Freundschaftsethik und das Johannesevangelium, in: J. Frey / U. Schnelle (Hg.), Kontexte, 413–439. 136 1Joh 2,7–11.24; 3,11–24. 137 Vgl. Joh 1,11–13 (Kinder Gottes); 19,25–27 (Sohn, Mutter); 20,17 (Brüder), aber auch die „Kinder“ in 1Joh 2,1.12.18; 3,1 f. u. ö.; 2Joh 1 sowie 2Joh13 (Schwester). 138 Vgl. im Blick auf das Freundschaftsideal in 15,13–15 auch den Kontrast zwischen Jesus als „König der Juden“ (18,33 ff.) und Pilatus als „Freund des Kaisers“ (19,12–16). 139 Vgl. Mt 5,47: „Wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?“ 140 Vgl. U. Heckel, Die Einheit der Kirche im Johannesevangelium und im Epheserbrief, in: J. Frey / U. Schnelle (Hg.), Kontexte, 613–640.

574

7 Die johanneischen Schriften

seiner Geschichte sehen wir, wie dieses Reich in die Welt eingreift.141 Auf die ganze Welt ist bei Johannes nicht nur die Botschaft Jesu (3,16; 4,42; 8,12), sondern auch die Sendung der Jünger ausgerichtet (17,18; 20,21; s. Anm. 73 ff.). Aber die Mission (s. Anm. 73) geschieht nicht mehr wie bei Paulus durch die Verkündigung in Synagogen (Apg 13,5 u. ö.) oder auf öffentlichen Plätzen wie dem Areopag (Apg 17,16 ff.; § 6.4.5.2a), sondern primär im Gespräch mit einzelnen Personen wie z. B. der Frau142 aus Samarien (4,35–38).143 Johannes und seine Gemeinde waren davon überzeugt, dass ihre gegenseitige Liebe die Ordnungen des Reiches Gottes vor der Welt demonstriert und eine missionierende Wirkung besitzt: „Daran werden alle (pántes) erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (13,35). Nicht die Mission der lauten Werbung, der Verlautbarung, sondern die Mission der Anziehungskraft, des „Schaufensters“, wird bevorzugt.144 Die großen Taten Gottes, die Jesus getan hat (5,20), sollen durch die Werke seiner nachösterlichen Gemeinde übertroffen werden: „Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und er wird noch größere als diese tun ...“ (14,12). Die Gemeinde wird mit dem Vater verbunden sein und diese Liebe der Welt (durch ihre Mission) mitteilen (14,31). Das eigentliche Subjekt jener größeren Werke bleibt aber Jesus selbst, der seinen Frieden gibt (14,27).145 c) Israel: Nach den Erfahrungen der Shoa wurde in letzter Zeit intensiv die Frage diskutiert, ob der Antijudaismus nur in die Wirkungsgeschichte des Johannesevangeliums gehört oder in diesem Werk bereits selber angelegt ist. Der Vorwurf des Antijudaismus wird traditionell mit dem Wort aus Joh 8,44 begründet: „Ihr habt den Teufel zum Vater“. Bei Johannes wendet sich diese Polemik gegen die führenden Repräsentanten des jüdischen Volks, vor allem die Pharisäer, die hier als Verkörperung des Unglaubens erscheinen, weil sie Jesus nicht als Messias anerkennen.146 Die Schärfe der Auseinandersetzung hat darin ihren Grund, dass die Christen im Johan141 Vgl. M. Hengel, Reich Christi, Reich Gottes und Weltreich im Johannesevangelium, in: ders. / A. M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult (WUNT 55), Tübingen 1991, 163–184, dort 167. 142 Vgl. zur großen Bedeutung der Frauen im vierten Evangelium: die Frau am Brunnen (4,4 ff.), Maria und Marta (11,1 ff.), die drei Frauen namens Maria unter dem Kreuz (19,25–27), Maria Magdalena am Grab (20,1.11–18). 143 Vgl. die Gespräche der Jünger (Joh 1,35 ff.), mit Nikodemus (Joh 3) und nach der Blindenheilung (Joh 9). 144 Im Gespräch mit der Systematischen Theologie bearbeitet bei J. Slabý, Trinitarische Motive der Normen des Lebens der Gemeinde nach Johannes (tschechisch), Diss., Prag 1980. 145 Zum Problem s. Ch. Dietzfelbinger, Die größeren Werke (Joh 14,12 f.), NTS 35 (1989), 27–47. 146 Vgl. Joh 1,24; 3,1; 4,1; 7,32 u. ö.; zu den Pharisäern vgl. § 6.3.4.1a und den Exkurs bei Ch. Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,1, 282–286.

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

575

nesevangelium bereits „aposynágōgoi“, d. h. aus der Synagoge ausgeschlossen sind (9,22; 12,42; 16,2). Damit hat sich die Ablehnung innerhalb weniger Jahre nach dem Hinausdrängen aus der Synagoge in der Apostelgeschichte (§ 6.4.5.2a) und der Pharisäerpolemik bei Matthäus (§ 6.3.4.1) weiter verstärkt.147 Während die Volksmenge im Matthäusevangelium noch zwischen Jesus und den Pharisäern hin und her gerissen ist, werden „die Juden“ und „die Pharisäer“ bei Johannes weitgehend gleichgesetzt. Aus dieser Entstehungssituation lässt sich auch die distanzierende Rede von „den Juden“ erklären.148 Sie ist aus den konkreten Erfahrungen mit dem Unglauben Israels zu verstehen und darf nicht im Sinn einer prädestinatianischen149 Verstockungstheorie über die Synagoge verallgemeinert werden.150 Denn dass das Heil „von den Juden“ kommt (4,22), gilt für Johannes nach wie vor als eine nicht überholte Aussage über die bleibenden Wurzeln der christlichen Gemeinde.151 d) Fazit: Grundsätzlich kann die johanneische Gruppe als eine christliche Erneuerungsbewegung betrachtet werden, die sich durch ein intensives gemeinsames Leben auszeichnete. Der Verfasser des Johannesevangeliums wollte sie durch die Verinnerlichung der Frömmigkeit stärken. Eine vertiefte Auffassung des Herrnmahls und der Taufe zu entwickeln, war in der damaligen Situation besonders wichtig, weil nach dem Ausschluss aus der Synagoge die „Sakramente“ zu einem grundlegenden Kennzeichen und wesentlichen Erfahrungsort christlicher Identität wurden (§ 5.6.2.2 Anfang).

147

Worte wie Joh 12,42 spiegeln schmerzhafte Erfahrungen jener Zeit wider. Vgl. den Tötungswillen „der“ Juden (Joh 5,16.18; 6,41; 7,1) sowie die Furcht vor „den Juden“ (7,13; 9,22; 19,38; 20,19); vgl. auch die Rede vom „Passa der Juden“ (s. Anm. 130). 149 Vgl. den Dualismus (s. Anm. 54 ff.) zwischen der Herkunft „von Gott“ oder „vom Teufel“ als Vater (8,42.44.47), „von oben“ (3,3.31; 8,23) oder „von unten“ (8,23), „von der Erde“ (3,31), „von dieser Welt“ (8,23) sowie die prädestinatianischen Aussagen über die von Gott zu Jesus Gezogenen (6,44) und die von Jesus Erwählten (15,16); vgl. die Exkurse zum Dualismus und zur Prädestination bei Ch. Dietzfelbinger, ZBK.NT 4,2, 142–144.214–217 (vgl. Bd. 1, 399–404): Die johanneischen Aussagen lösen das Rätsel des Unglaubens nicht auf, sondern überlassen es Gott, weil der Mensch zwar zur Entscheidung gerufen ist, der Glaube sich letztlich aber stets als Geschenk und Gabe ganz der göttlichen Gnade verdankt. 150 Vgl. das Zitat aus Jes 6,9 f. außer in Joh 12,39 f. auch in Röm 11,7 f. (§ 5.16.5d); Apg 28,16–31 (§ 6.4.5.2a) und Mk 4,10–12 (sog. Parabeltheorie beim Messiasgeheimnis; § 6.2.7.4); vgl. zur Verstockungsproblematik M. Theobald, Mit verbundenen Augen. Kirche und Synagoge nach dem Neuen Testament, in: Studien (Lit. § 5.16), 367–395, hier bes. 386–390. 151 Vgl. R. Schnackenburg, HThK IV,1, 146 ff.; J. Frey, Das Bild ‚der Juden‘ im Johannesevangelium und die Geschichte der johanneischen Gemeinde, in: M. Labahn u. a. (Hg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2004, 33– 53. 148

576 7.1.6

7 Die johanneischen Schriften

Johanneische Schule, Verfasser und Entstehungszeit

a) Die johanneische Schule: Vielfach wird in der exegetischen Literatur die Meinung vertreten, dass die johanneische Gemeinde bzw. die Gruppe der johanneischen Gemeinden eng mit dem syrischen Milieu in Verbindung stand, wo in den Oden Salomos oder im Dialog des Erlösers (Dial NHC III,5), beide frühes 2.Jh., eine ähnliche Tradition und eine ähnliche religiöse Sprache belegt sind. Diese These ist historisch aber kaum zu halten. Aramäische Wurzeln der johanneischen Gruppe können zwar nicht ausgeschlossen werden, aber rekonstruierbar ist nur ihre hellenistisch-jüdische Vorgeschichte, die vielleicht152 mit dem Kreis um Stephanus (Apg 6–7) zusammenhängt. Die antijüdische Polemik setzt voraus, dass der Ausschluss aus dem Synagogenverband längst vollzogen war (s. Anm. 147).153 Schon während des 1. Jh.s fasste die johanneische Christenheit in Kleinasien, besonders in Ephesus, Fuß. Auf eine Entstehung des Johannesevangeliums in Ephesus weist die altkirchliche Tradition hin, die der aus Kleinasien stammende Irenäus (um 180 n. Chr.) überliefert (haer. 3,1,1 zitiert bei Eus. h. e. 5,8,4)154 und die durch die Wirkungsgeschichte der johanneischen Schriften in Kleinasien indirekt bestätigt wird (s. u.).155 Dort entstand das Johannesevangelium,156 wahrscheinlich auch die Johannesbriefe.157 Eine Lokalisierung der johanneischen Schule in Ephesus wirft die Frage nach ihrem Verhältnis zur paulinischen Tradition auf, da die Paulusschule dort ebenfalls ihren Sitz hat (§ 8.2.8; 8.4.2). Dass es hier Berührungen gab, müssen wir aufgrund einiger auffälliger Gemeinsam keiten annehmen, die gerade diese beiden Schultraditionen verbinden. Die Aussagen von der Präexistenz des Sohnes Gottes, der in die Welt gesandt wurde (nicht gefallen ist), kennen wir bereits aus den Sendungs-158 und Hingabeformeln159 (§ 5.6.1.2). Sie sind in der entfalteten Gestalt der Hymnen auf den präexistenten Gottessohn sowohl in der paulinischen als auch in der johanneischen Schule belegt (§ 5.6.2.4), doch werden im Johannesprolog (1,1–18) erstmals Inkarna152

So bes. nach O. Cullmann, Der johanneische Kreis, 89 f.134. Vgl. M. Hengel, Johanneische Frage, Kap. V,2. 154 Die altkirchlichen Zeugnisse sind zusammengestellt im Anhang von K. Aland, Synopsis (Lit. § 12a), eine Übersetzung der hier einschlägigen Texte bietet jeweils M. Hengel, Johanneische Frage. 155 Vgl. M. Hengel, Johanneische Frage, Kap. I; U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 482 f.; P. Trebilco, Ephesus (Lit. § 5.8.1), 237–271. 156 Nach K. Wengst, Bedrängte Gemeinde, 183, entstand in Ephesus nur das 21. Kap., der Hauptteil noch in Palästina, im Süden des Reichs von Agrippa II. (Gaulanitis oder Bätanäa). Vgl. aber die Kritik von M. Hengel, Johanneische Frage, 99 f.288 ff. 157 Näheres bei H.-J. Klauck, EKK XXIII,1, 48 f. 158 Gal 4,4; Röm 8,3 und Joh 3,16 f.; 1Joh 4,9 f. 159 Röm 4,25; 8,32 und Joh 3,16 (s. Anm. 61). 153

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

577

tion160 und Schöpfungsmittlerschaft161 direkt miteinander verknüpft. Auch die scharfe Antithese vom Gesetz, das durch Mose gegeben wurde, und der Gnade, die durch Christus geschehen ist (1,17), erinnert an dieselbe Gegenüberstellung in Röm 3,21 ff. Beiden theologischen Traditionen gemeinsam ist die Deutung des Todes Jesu als eines stellver tretenden Sterbens mit den hypér-Formeln,162 die so prägnant sonst nur in der Abendmahlsüberlieferung begegnen.163 Hinzu kommt die für Paulus und Johannes charakteristische Umschreibung der christlichen Existenz mit der Formel „en Christṓ“ (in Christus).164 Auch wenn johanneisch die Schlüsselbedeutung des Glaubens165 oder die Priorität der Liebe Gottes betont wird,166 gibt es Parallelen bei Paulus (z. B. Röm 5,8; 8,31 ff.).167 In der Pneumatologie lassen sich ebenfalls bemerkenswerte Analogien erkennen in der Art und Weise, wie das Wirken des Geistes an das Christusgeschehen und an die Verkündigung gebunden wird – eine Tendenz, die bei Paulus einsetzt und von den johanneischen Schriften konsequent weitergeführt wird.168 Nirgendwo im Neuen Testament ist der Gedanke der Einheit, in der die Einheit der Christen untereinander durch die Einheit mit Christus begründet wird, von so zentraler Bedeutung wie im deuteropaulinischen Epheserbrief und dem Johannesevangelium,169 und nirgends begegnet eine so durchreflektierte Synthese von Christologie, Ekklesiologie und Amtsverständnis wie in der Hirtenmetaphorik dieser beiden Schriften.170 Andererseits springt der Unterschied ins Auge zwischen dem Apostolatsverständnis der Paulusschule, in der die Leitungsfunktion der Apostel auf die Gemeindeleiter übergeht,171 und der johanneischen Sendungskonzeption, die den Aposteltitel – von der rein technischen Verwendung in Joh 13,16 abgesehen – völlig vermeidet und stattdessen mit einem herrschaftskritischen Unterton die Sendung aller Glaubenden in die Welt hervorhebt.172 Auch wenn angesichts der theologischen Souveränität eine literarische Abhängigkeit der johanneischen Schriften von 160

2Kor 8,9; Phil 2,6–8 (§ 5.14.5). 1Kor 8,6; Kol 1,15–20; Hebr 1,2 f.10; 2,10 (§ 5.6.2.4). 162 Röm 5,7; 8,32; Gal 1,4; 2,20 und Joh 10,11.15; 15,13; 1Joh 3,16 (s. Anm. 63). 163 Mk 14,24 par. Lk 22,19 f. (§ 5.6.2.3b). 164 So z. B. Röm 8,1; 1Kor 1,30; 2Kor 5,14–17; Gal 3,26–29 und Joh 6,56; 14,20; 15,4 ff.; 17,23; 1Joh 3,6.24. 165 Joh 1,12 u. a.; 1Joh 5,13. 166 1Joh 4,10; vgl. Joh 15,16. 167 Vgl. U. Schnelle, Paulus und Johannes, EvTh 47 (1987), 212–228, zur Forschung Ch. Hoegen-Rohls, Johanneische Theologie im Kontext paulinischen Denkens, in: J. Frey / U. Schnelle (Hg.), Kontexte, 593–612. 168 Vgl. Anm. 112 mit Gal 3,2–5.14; 4,4–6; 1Kor 2,4.11–15; 14,1–40. 169 Vgl. Eph 2,11–22; 4,1–16 (§ 8.2.8) und Joh 10,16; 17,11.20–23 (s. Anm. 132). 170 Vgl. Eph 4,11; Joh 10,11–16; 21,15–17; vgl. U. Heckel, Einheit der Kirche (s. Anm. 140). 171 Vgl. Apg 6,1–6 mit 11,30; 15,2.4.6.22f; 16,4; vgl. Eph 4,11; Past; 1Petr 5,1 f. 172 Joh 4,34–38; 13,20; 17,18; 20,21 (s. Anm. 73 ff.). 161

578

7 Die johanneischen Schriften

der paulinischen Tradition nicht nachzuweisen ist, lassen diese Berührungspunkte doch auf eine geistige Auseinandersetzung der johanneischen Schule mit dem paulinischen Gedankengut schließen. Gleichwohl sind die johanneischen Schriften die einzige Textgruppe innerhalb des neutestamentlichen Kanons, die relativ unabhängig von Paulus entstanden sind. Denn das Markusevangelium ist als Entfaltung der Pistisformel in 1Kor 15,3b–5 (§ 5.6.2.1) zumindest geistig von der paulinischen Theologie beeinflusst (§ 6.2.7.5), die lukanischen Schriften interpretieren bewusst die paulinische Soteriologie neu (§ 6.4.5.3) und das Matthäusevangelium bekämpft vor allem in der Ethik einen Paulinismus, dem es an den Konsequenzen des Glaubens in den guten Werken mangelt (§ 6.3.4.1c). Dennoch lässt sich im johanneischen Denken eine Vertrautheit mit Motiven der paulinischen Theologie beobachten, die ohne direkte literarische Abhängigkeit eine Kenntnis verrät, welche leicht durch die örtliche Nähe zu der in Ephesus beheimateten Paulusschule erklärt werden kann. Doch war das johanneische Schrifttum wahrscheinlich bestrebt, das paulinische Erbe neu zu interpretieren. b) Die Verfasserfrage: Beim höchst komplexen und darum vieldiskutierten Problem der Verfasserschaft sind drei Fragen zu unterscheiden: 1. textimmanent-stilistisch nach dem Verhältnis von Evangelium und Briefen, 2. historisch nach der Gestalt des Autors und 3. chronologisch nach der Entstehungsreihenfolge der Schriften. 1. Die auffallende Nähe in Theologie, Sprache und Stil lässt sich am leichtesten durch die Annahme desselben Verfassers für alle johanneischen Schriften (außer Joh 21) erklären. Die Differenzen sind durch den Gattungsunterschied bedingt, der besteht zwischen dem Evangelium, das die Geschichte Jesu erzählt (Joh), dem christologischen Traktat (1Joh) und den Briefen (2–3Joh), die durch konkrete Konflikte veranlasst sind. Da mit dem Einfluss der Schulsprache zu rechnen ist, können wir andere Lösungen wie die Annahme von zwei Verfassern für das Evangelium und die Briefe nicht ganz ausschließen (ein eigenes Problem ist Joh 21; s.u.). Doch sind die sprachlichen Gemeinsamkeiten sehr viel ungezwungener mit dem individuellen Sprachgebrauch eines einzigen Autors (Idiolekt) zu erklären als durch die Zusatzhypothese einer durchgeformten Schulsprache (Soziolekt), die in der ganzen Antike ein „Kulturwunder“ ohne historische Analogie wäre173 (wie auch Barthianer sich trotz der gemeinsamen Prägung stilistisch vielfältig unterscheiden). Mit Gewissheit können wir es allerdings nicht sagen. Neben die rein textimmanente Stilanalyse tritt die historische Frage nach der Gestalt des Autors. 2. Der Verfasser des Johannesevangeliums ist unbekannt. Er muss ein profilierter Lehrer der johanneischen Schule gewesen sein. Der Name „Johannes“ begegnet

173

Vgl. E. Ruckstuhl / P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage (s. Anm. 43), bes. 44– 54, sowie den Forschungsüberblick bei J. Frey, Eschatologie I, 429–455.

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

579

nicht im Text, sondern erst in der Überschrift des Evangeliums (und der Briefe).174 Da der Name sich in Palästina großer Beliebtheit erfreute, stellt sich die Frage, welcher Johannes gemeint ist. In der altkirchlichen Tradition begegnen vor allem zwei Gestalten mit dem Namen Johannes, nämlich einerseits der Herrnjünger bzw. Apostel, der Sohn des Zebedäus (Mk 1,19), und andererseits der Presbyter, der Verfasser der Johannesbriefe (2Joh 1; 3Joh 1). Nach Irenäus haer. 3,1,1 (um 180 n. Chr.)175 schrieb der Herrnjünger, d. h. der Apostel (Zebedaide) Johannes, in Ephesus das Evangelium. Doch erwähnte schon Papias fast fünfzig Jahre früher in einem einzigen Satz den Herrnjünger Johannes und den Presbyter Johannes (Eus. h.e. 3,39,4).176 Die Notiz des Irenäus ist wahrscheinlich ein Missverständnis oder eine vereinfachende Neuinterpretation jener älteren Notiz des Papias. Als spätere Harmonisierung ist sie historisch äußerst unwahrscheinlich und scheidet aus. Eher könnte der bei Papias erwähnte Presbyter Johannes mit dem Presbyter aus dem 2. und 3. Johannesbrief identisch sein.177 Damit könnte es sich beim Presbyter Johannes nicht nur aufgrund des textimmanenten sprachlichen Befunds, sondern auch nach dem altkirchlichen Zeugnis um den Verfasser sowohl des Evangeliums als auch der Briefe handeln. Die fromme Umdeutung der bei Papias enthaltenen Information in die irenäische Behauptung, dass der Her rnjünger Johannes (der Zebedaide) auch der Verfasser des Johannesevangeliums sei, geschah vermutlich schon vor Irenäus. Ihr Grund könnte vielleicht in einer persönlichen Verbindung des Verfassers zum Her rnjünger Johannes liegen. Des weiteren stellt sich bei der Verfasserschaft die Frage, wer mit dem Lieblingsjünger gemeint sein könnte, d. h. dem „Jünger, den Jesus liebte“. Dieser gilt im Evangelium als der authentische Garant der johanneischen Tradition (13,23; 19,26 f.; 20,2 ff.). In Joh 21 wird er nach seinem Tod (21,22 f.) durch die Herausgeber („wir wissen“) zum Verfasser des nun bereits schriftlich vorliegenden Evangeliums erklärt (21,24). Irenäus (s. Anm. 175) zufolge war er mit dem Herrnjünger, dem Zebedaiden, identisch. Unter Exegeten diskutiert werden auch eine Identifizierung des Lieblingsjüngers mit dem namenlosen Jünger bei der Berufung (1,35 ff.), mit Nathanael (1,47 ff.; 21,2), Lazarus (11,5) oder Thomas.178 Doch konnte sich keine dieser Hypo174

Nach M. Hengel, Die Evangelienüberschriften (Lit. § 3); ders., Gospels (Lit. § 3), 48– 56.126 f., wurden Überschriften recht früh notwendig, sobald sich mehrere Evangelien im Besitz einer Gemeinde befanden und in der Gemeindebibliothek sowie beim Vorlesen im Gottesdienst gekennzeichnet werden mussten (§ 3.6). 175 Zitiert bei Eus. h.e. 5,8,4 (s. Anm. 154); vgl. die differenzierte Einordnung durch B. Mutschler, Was weiß Irenäus vom Johannesevangelium?, in: J. Frey / U. Schnelle (Hg.), Kontexte, 695–742, bes. 741 f. 176 Vgl. Text und Übersetzung bei A. Lindemann / H. Paulsen, Die Apostolischen Väter (Lit. § 12c), 290 f. 177 Vgl. M. Hengel, Johanneische Frage, Kap. II. 178 Nach J. H. Charlesworth, The Beloved Disciple, 225 ff., war es Thomas (vgl. Joh 11,16;

580

7 Die johanneischen Schriften

thesen durchsetzen, sodass wir bei dem Jünger, den Jesus liebte, von einer uns nicht näher bekannten Gestalt ausgehen müssen.179 Falls der geliebte Jünger tatsächlich eine historische Person war,180 könnte der Verfasser des Johannesevangeliums dessen Schüler gewesen sein. Jedenfalls war es die Absicht des Autors, den geliebten Jünger als ein ideales Modell der Jüngerschaft zu schildern, nicht dem Leser ein Rätsel aufzugeben. Der Verfasser des 1. Johannesbriefs ist sehr wahrscheinlich mit dem Presbyter, dem Ältesten aus dem 2. und 3. Johannesbrief, identisch.181 Da die Reihenfolge der Bücher in den Kanonverzeichnissen und späteren Abschriften durch die theologische Bedeutung, katechetische Wirkung und z. T. bloß auf Grund des Umfangs bestimmt wurde (§ 3.6), war die chronologische Reihenfolge der Johannesbriefe vermutlich eine andere, nämlich 2Joh–3Joh–1Joh.182 Diese Abfassungsreihenfolge erklärt sich aus der Entstehungssituation. Der Kreis der Gemeinden, die in ihrer Liturgie das Johannesevangelium benutzten, ist von einer Spaltung bedroht. Einige seiner Mitglieder verstehen das Evangelium doketisch. Der Presbyter schreibt einer christlichen Gemeinde, die er als die auserwählte Herrin bezeichnet, um sie vor falschen Lehrern zu warnen (2Joh). Später schreibt er einem gewissen Gajus, einem Glied der erwähnten Gemeinde, der vielleicht der Vorsteher einer Hausgemeinde ist. Er beruft sich auf seinen früheren Brief (3Joh 9), d. h. den 2. Johannesbrief, und bittet um Aufnahme seines Boten Demetrius. Zugleich warnt er vor einem gewissen Diotrephes, vielleicht dem Vorsteher einer anderen Hausgemeinde, der die ganze örtliche Gemeinde zu beherrschen strebe und die Autorität des Presbyters nicht anerkenne (3Joh).183 Da die beiden Briefe unter seinen Anhängern Zustimmung fanden, schreibt 14,5 ff.; 20,28; 21,2). Dadurch könnten Berührungen mit den Thomaspsalmen, Thomasakten und dem Thomasevangelium erklärt werden, doch würde dann die Beziehung zwischen Thomas und dem Lieblingsjünger zum Problem. 179 Außerdem ist strittig, ob der Lieblingsjünger des Evangeliums mit dem Presbyter des 2. und 3. Johannesbriefs identifiziert werden darf. Dagegen spricht, dass das Bewusstsein eines Unterschieds zwischen dem Herrnjünger Johannes und dem Presbyter Johannes, den Papias bezeugt, auch dann erhalten blieb, als die kirchliche Tradition bei Irenäus das Evangelium dem Herrnjünger, dem Apostel (Zebedaiden) Johannes, zugeschrieben hatte. 180 Für eine „Fiktion“ hält ihn A. Kragerud, Der Lieblingsjünger im Johannesevangelium, Oslo 1959, 149. 181 So H.-J. Klauck, EKK XXIII/2, 19–22. Mehrere Forscher halten sie für zwei verschiedene Personen, z. B. R. E. Brown, Introduction, 389 f.; U.Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 484– 487.492.499 f. Für den Presbyter als den Verfasser bzw. Endredaktor des Evangeliums und der Briefe plädiert M. Hengel, Johanneische Frage, Kap. IV,5. 182 Vgl. bes. W. Vogler, ThHK 17, § 8; viele Argumente für diese Reihenfolge der Briefe finden sich bei U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 484 ff. 183 W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (BHTh 10), Tübingen 1934, 97, meinte, dass Diotrephes ein Bischof war. Dies kann jedoch der Angabe des Briefs nicht entnommen werden (3Joh 9).

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

581

er einen ausführlichen Brief an breitere christliche Kreise, der die aktuellen Züge seiner spezifischen Tradition erneut zusammenfasst und Beurteilungskriterien zur Überführung der falschen Lehrer formuliert (1Joh). 3. Die Frage nach der Reihenfolge, ob das Evangelium oder die Briefe früher entstanden sind, lässt sich nur im Zusammenhang der theologiegeschichtlichen Entwicklung beantworten. In der Johannesforschung wurde lange Zeit angenommen, dass zunächst das Johannesevangelium entstanden ist und bald darauf durch den 1. Johannesbrief kommentiert werden sollte, um eine bestimmte christologische Sicht als rechtgläubig durchzusetzen. Da es sich bei den johanneischen Gemeinden um eine Erneuerungsbewegung handelte, besaßen sie ein elitäres Selbstbewusstsein. Deshalb waren sie der spezifischen Gefahr solcher Gruppen ausgesetzt, nämlich der Spaltungen. Die Offenbarungsreden machten das Evangelium für Gruppen attraktiv, die an den Aussagen des auferstandenen, lebendigen Herrn interessiert waren. Solche Gruppen ließen die Tradition vom irdischen Jesus zurücktreten (§ 6.1.5.4; 6.2.6). Die Spannungen, die sich daraus ergaben, bilden den Hintergrund der Angaben des Irenäus, dass Johannes, der Jünger des Herrn, das Evangelium geschrieben habe und gegen Kerinth polemisiere (Iren. haer. 3,11,1). Kerinth, ein christlicher Lehrer in Kleinasien (um 100 n. Chr.), vertrat eine sog. Trennungschristologie, die den irdischen Jesus und den geistigen Christus unterscheidet (Iren. haer. 1,24,4; 26,1). Später, besonders in der Gnosis, waren solche christologischen Tendenzen mit einem deutlich geringeren Interesse am Leben und Wirken des irdischen Jesus und mit dem Doketismus verbunden.184 Diese Entwicklung bezeugt jedenfalls ein Teil der Nach- und Wirkungsgeschichte des Johannesevangeliums, einschließlich der apokryphen Johannesakten (ActJoh 88b–93: der mehrgestaltige Erlöser).185 Gleich am Anfang dieser Periode entstand nach gängiger Forschungsmeinung der 1. Johannesbrief als orthodoxer Kommentar zum Johannesevangelium,186 dessen Christusglaube und die damit verbundenen Aussagen über das irdische Leben Jesu187 eine deutlich antidoketische Funktion haben.188 Zu jener Zeit ging ein großer Teil der Dissidenten einen eigenen Weg,189 der sich der eben erwähnten Unterschätzung des 184

Nach Apg 20,18–35 belegt Lukas in Gestalt eines prophetischen Worts des Paulus (vaticinium ex eventu) das Vorkommen von gefährlichen Lehrern in Ephesus (vgl. auch Eph 4,14). 185 Vgl. die Übersetzung bei W. Schneemelcher, NTApo6 II, 163 ff. 186 So bes. R. E. Brown, AncB 29, 90–92; ders., Introduction 392 f.; J. Zumstein, Zur Geschichte des johanneischen Christentums, ThLZ 122 (1997), 417–428, hier 421. 187 Z.B. 1Joh 1,1; 4,1–3; vgl. 2Joh 7. 188 Wenn F. Vouga, HbNT 15/III, 63 f., eine solche antidoketische Einstellung mit Hinweis auf ähnlich klingende gnostische Aussagen leugnet, stellt dies einen Anachronismus dar. Es handelt sich um spätere Schriften, die versuchten, sich durch Anpassung an kirchliche Aussagen in breiteren christlichen Kreisen durchzusetzen. 189 Vgl. M. Hengel, Johanneische Frage, Kap. III.

582

7 Die johanneischen Schriften

irdischen Jesus anschloss (2,16–27). Damals gehörten der Gruppe bereits mehr ehemalige Heiden als ehemalige Juden an. Als spätestes Zeugnis der johanneischen Schule wurde dem Evangelium in seiner letzten Entstehungsperiode Joh 21 als Nachtrag hinzugefügt, der in der Beziehung zwischen Petrus und dem Lieblingsjünger das Verhältnis der johanneischen Schule zur petrinischen Tradition darstellt.190 In Joh 21,22 f. ist der Tod des Lieblingsjüngers vorausgesetzt. Deshalb gilt das Nachtragskapitel als der zuletzt entstandene Text der johanneischen Schriften, der von einem unbekannten Redaktor (V. 24: „wir wissen“) abgefasst wurde. So wurde in den letzten 150 Jahren meist eine zeitliche Priorität des Evangeliums vor den Briefen vertreten. Doch formulierten in jüngerer Zeit Georg Strecker, Udo Schnelle und einige andere Forscher die schon mehrmals vertretene Hypothese einer zeitlichen Priorität der Johannesbriefe gegenüber dem Evangelium neu mit ernst zu nehmenden Argumenten:191 Z.B. kann aus der Tatsache, dass nach 1Joh 1,5.7 Gott selbst das Licht ist und nach Joh 1,4 f.; 3,19; 8,12; 12,46 u. a. Jesus das Licht ist, die Folgerung gezogen werden, dass das Johannesevangelium eine für das Christentum erst später typische nachträgliche Hervorhebung der Bedeutung Jesu vornimmt. Ebenso erfährt die Theologie der Liebe Gottes aus 1Joh 4,7–5,3 im vierten Evangelium eine konsequente christologische Zuspitzung.192 Diese traditionsgeschichtliche Entwicklung besagt noch nichts über die literarische Reihenfolge. Aber auffällig ist auch, dass im Evangelium der „Fürsprecher“ (paráklētos) mit dem Geist identifiziert wird, in 1Joh 2,1 älterer Tradition folgend hingegen mit Jesus Christus, der in Joh 14,16 den heiligen Geist als „anderen Parakleten“ ankündigt und damit analog zu 1Joh 2,1 als erster Paraklet erscheint.193 Vor allem findet sich im 1. Johannesbrief kein Zitat aus dem Evangelium, wie es bei einem „orthodoxen Kommentar“ als Ausgangspunkt der Argumentation eigentlich nahegelegen hätte. Der Briefprolog enthält zwar terminologische Anklänge an den Prolog des Evangeliums, setzt aber nicht wie 190 Die Argumente für die literarische Integrität von Joh 1–21, bes. die Analogie zwischen Joh 1,37–39 und 21,19b–23 (M. Franzmann und M. Klinger, The Call Stories of John 1 and John 21, St. Vladimir Theological Quarterly 36, 1992, 7–15), können durch eine andere Deutung der Analogie entkräftet werden: Der Verfasser gestaltete die erneuerte Berufung durch den Auferstandenen nach dem Modell der ersten Berufung. 191 Vgl. G. Strecker, KEK, 25–28; U. Schnelle, Einleitung (Lit. § 1), 501–503; die Entstehung des Johannesevangeliums nach den Briefen setzt auch M. Hengel, Johanneische Frage, Kap. IV,5, voraus. 192 Vgl. die Liebe zu Gott (1Joh 4,19–21) mit der Liebe zu Jesus (Joh 14,21.23 f.; vgl. 8,42), die gegenseitige Liebe als Gebot Gottes (1Joh 3,23 f.) mit dem neuen Gebot Jesu (Joh 13,34 f.) sowie die Unsichtbarkeit Gottes (1Joh 3,1 f.; 4,12.20), die auch im Evangelium festgehalten wird (Joh 1,18), mit der Sichtbarkeit des Vaters im Sohn (Joh 1,18; 12,45; 14,9). Vgl. E. E. Popkes, Die Theologie der Liebe Gottes, 296–305. 193 Näheres bei F. Vouga, HbNT 15/III, z.St.

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

583

dieser beim präexistenten Logos vor der Weltschöpfung ein, sondern beruft sich zur Bekämpfung der Irrlehrer194 auf die Ursprünge der johanneischen Tradition in der Augenzeugenschaft „von Anfang an“ (1Joh 1,1). Auch dass das Liebesgebot „alt“ ist (1Joh 2,7), blickt nicht auf das „neue“ Gebot in Joh 13,34 zurück (vgl. 1Joh 1,7; 2Joh 5), sondern bekräftigt dessen Tradition „von Anfang an“ (1Joh 2,7; 2Joh 6) gegen die neuen Lehren der Abtrünnigen (2Joh 7 ff.). Dieser Konflikt hat nicht nur die Briefe veranlasst, sondern auch im Evangelium Spuren hinterlassen, die hier angesichts der Erzählabsicht dieser Gattung natürlich stärker zurücktreten. Betont antidoketische Aussagen durchziehen das Evangelium von der Inkarnation im Prolog (1,14) bis zum Tod am Kreuz (s. Anm. 65 ff.) und der Begegnung des Auferstandenen mit Thomas (20,24 ff.). In 6,51–71 werden Spaltungen innerhalb der Jüngerschaft sichtbar. In 10,12 f. erscheint der Wolf als Bild für die Irrlehrer195 und der bezahlte Schafhüter, der flieht, als Metapher für Gemeindeleiter, die in dieser für die Gemeinde existenzbedrohenden Krise versagen. Aus dieser Frontstellung erklären sich auch die eindringlichen Aufforderungen zur gegenseitigen Liebe in den Abschiedsreden (13,34 f.; 15,9 ff.) und die dezidiert christologische Verankerung des Einheitsgedankens in Joh 10,16.30; 17,11.20–23.196 Dennoch bleibt die Frage der zeitlichen Folge offen. Denn auch wenn die zeitliche Priorität der Johannesbriefe plausibler erscheint, wird das Johannesevangelium immer noch vielfach als Vorlage für die Briefe vorausgesetzt.197 Damit können wir aus den Einzelbeobachtungen mit allen methodisch gebotenen Vorbehalten ein ohne Zweifel stark vereinfachtes Gesamtbild zu rekonstruieren versuchen: 1. stammen die Briefe und das Evangelium wahrscheinlich von demselben Verfasser. 2. ist dieser sowohl aus textimmanenten Gründen wegen der bemerkenswerten sprachlich-theologischen Nähe als auch nach dem äußeren Zeugnis der altkirchlichen Überlieferung bei Papias vermutlich mit dem Presbyter Johannes (2Joh 1; 3Joh 1) identisch. Dieser darf aber weder mit dem Zebedaiden noch mit dem Lieblingsjünger gleichgesetzt werden, sondern ist deren Schülergeneration zuzuordnen. 3. legen theologische Entwicklungen den Schluss nahe, dass der Autor zunächst mit seinen Briefen auf einen christologischen Konflikt reagiert (2Joh–3Joh–1Joh) und dann das Evangelium nach einer grundsätzlicheren Reflexion mit einer antidoketischen Ausrichtung niedergeschrieben hat.

194 195 196 197

1Joh 2,18 ff. (V.24!); 4,1–3. Vgl. Mt 7,15; 10,16; Apg 20,29. Vgl. U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik, 123–128. So die Werke von R. E. Brown und J. Zumstein.

584

7 Die johanneischen Schriften

4. ist Joh 21 der spätere Nachtrag eines nicht näher bekannten Herausgebers (21,24: „wir wissen“), der weder mit dem bereits verstorbenen Lieblingsjünger (21,22 f.) noch mit dem Autor des Evangeliums oder der Briefe gleichgesetzt werden darf. Jesus

Herrnjünger Johannes (Zebedaide)

Lieblingsjünger

Presbyter Johannes als Verfasser von 2Joh – 3Joh – 1Joh – Evangelium

Verfasser von Joh 21 Überlieferungsstränge Abb. 27: Der Verfasser des Johannesevangeliums und der Johannesbriefe

c) Die Datierung: Da das Johannesevangelium auf die Vertreibung aus der Synagoge in den 70-er Jahren des 1. Jh.s zurückblickt und die Distanz zu den Repräsentanten des Judentums auch im Vergleich zu Matthäus noch größer geworden ist (s. Anm. 147), kann es nicht früher als in den 80-er Jahren entstanden sein. Die ältesten Textzeugen (§ 7.1.2) in Ägypten und die möglichen Anspielungen in den Schriften der Apostolischen Väter198 sprechen für die 20-er Jahre des 2. Jh.s als terminus ante quem. Ende des 1. Jh.s ist also die wahrscheinlichste Entstehungszeit. Nicht viel früher wurden auch die Briefe, offensichtlich in relativ rascher Folge, verfasst. Die Zeitspanne zwischen den beiden kleineren Briefen war vermutlich kürzer als der Abstand zwischen ihnen und dem 1. Johannesbrief. Joh 21 wurde etwa am Anfang des 2. Jh.s hinzugefügt. Doch wird dieser Zeitraum um 100 n. Chr. nicht allzu groß gewesen sein. d) Das Weiterleben der johanneischen Schule: Die Wirkung der johanneischen Schule ist gespalten. Als soziale Größe ging die Gruppe während der ersten Hälfte des 2. Jh.s in der Mehrheitskirche auf. Zunächst übernahmen nur einige heterodoxe christliche Gruppen Gedanken aus den johanneischen Schriften: Valentinus und der Gnostiker Ptolemaius (2. Jh.) beschäftigten sich intensiv mit dem Johannesevangelium. In Kleinasien entstanden die gnostisch beeinflussten Johannesakten (2. Jh.). Auch die Montanisten, eine christliche Bewegung um den Propheten Montanus (2. Jh.), und ihre Widersacher, die Aloger, wirkten ebenfalls dort (§ 3.3c). In Syrien be198

Auch der Papyrus Egerton mahnt zur Behutsamkeit (§ 6.1.6.4).

7.1 Das Johannesevangelium und die Johannesbriefe

585

einflusste die johanneische Tradition vermutlich die Oden Salomos (2. Jh.), hier machte auch Tatian das Johannesevangelium zum Rückgrat seines Diatessarons (§ 3.3c). Auch wenn der Kreis zerfiel, haben die johanneischen Schriften sich schon in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s als Teil des christlichen Kanons durchgesetzt (§ 3.4a).199 Dies geschah z. T. gegen ihre eigene Absicht, denn der Verfasser des Johannesevangeliums hat sein ursprüngliches Ziel nicht erreicht, durch sein Werk die anderen Evangelien zu ersetzen (s. Anm. 17). Schließlich nahm das Johannesevangelium nur die vierte Stelle in der kanonischen Reihenfolge ein (§ 3.6). Das Erbe der Gruppe, die als eigenständige Strömung nicht überleben konnte, sollte aber in einem umfassenderen Rahmen eine große Bedeutung entfalten: Seit dem Anfang des 3. Jh.s wurde das Johannesevangelium zu einer wichtigen Quelle für die dogmatische Begrifflichkeit der Kirche, mit Christus als dem Logos an erster Stelle. 7.1.7

Zur Theologie der Johannesbriefe

Bei den Johannesbriefen handelt es sich um kurze Texte. Deshalb ist es kaum möglich, von einer Theologie zu sprechen. Wir können nur ihr Hauptanliegen darstellen und die theologischen Unterschiede zum Johannesevangelium herausarbeiten, mit dem sie sonst theologisch einig oder zumindest eng verwandt sind. Wenn wir z. B. die Funktion des Begriffs „bleiben“ (ménein) in den beiden Textgruppen vergleichen, so beruht im Johannesevangelium der Schwerpunkt auf dem Bleiben als der Grundbeziehung, die das ganze Leben bestimmt: Es geht um das Bleiben Gottes im Sohn (14,10), des Geistes auf dem Sohn (1,22) sowie der Menschen in Christus (6,56; 15,4) und nicht in der Dunkelheit (12,46). Im Evangelium ist dieses Bleiben mit einer grundsätzlichen Entscheidung verbunden. Dagegen betonen die Briefe im Konflikt mit den Häretikern vor allem die sichtbaren Folgen jenes Bleibens in der gegenseitige Liebe (1Joh 2,6.17; vgl. 3,17) und in der Lehre Christi (2Joh 9). Dieser Wortgebrauch spricht nur für einen direkteren Bezug auf die Auseinandersetzung mit den Gegnern, muss aber nicht auf eine spätere Etappe des johanneischen Denkens hinweisen, wie manche meinen.200 Die antidoketischen Formeln in 1Joh 4,2 f. und 2Joh 7 sollen zur Unterscheidung zwischen den wahren und falschen Propheten anleiten. Nicht jede Offenbarungsrede, nicht jede Eingebung kommt von Gott. Das Bekenntnis zum fleischgewordenen Christus ist das Kennzeichen, an dem die wahre Prophetie erkannt wird.201 Die Konsequenz bestand für den Verfasser des 1. Johannesbriefs in einer ethischen: Den ir199

Vgl. Th. K. Heckel, Evangelium (Lit. § 3), 266 ff. So z. B. E. Schweizer, Der Kirchenbegriff im Evangelium und den Briefen des Johannes, in: ders., Neotestamentica, Zürich / Stuttgart 1963, 254–271; W. Vogler, ThHK 17, 9. 201 Vgl. H.-J. Klauck, EKK XXIII/1, 38 f. 20 0

586

7 Die johanneischen Schriften

dischen Christus ernst zu nehmen heißt, die Bruderliebe zu praktizieren (1Joh 3,18). Der Anlass zu einer solchen Entfaltung der Lehre war vielleicht die Weigerung des Diotrephes, die reisenden Brüder aufzunehmen (3Joh 10). Doch wurde dadurch indirekt die Bedeutung der Geschichte Jesu unterstrichen. Nur wird jene Geschichte jetzt von einem anderen Standpunkt aus gesehen: Die Dialektik zwischen der Fleischwerdung des Wortes (Logos) und dem Sehen seiner Herrlichkeit bzw. zwischen der Herkunft Jesu von irdischen Eltern und seiner Gottessohnschaft wird durch eine weitere Dialektik ergänzt, die mit zwei Erscheinungsweisen Jesu Christi an zwei unterschiedlichen Stellen der Zeitachse rechnet: der irdische Christus, der in der Vergangenheit gewirkt hat („am Anfang“),202 und der jetzt lebendige, der im Bekenntnis und in der Liebe präsent ist. Die Äußerungen des gegenwärtigen Herrn dürfen den Worten des fleischgewordenen nicht widersprechen und umgekehrt: Es ist der inkarnierte, der in der Gegenwart bezeugt wird. Das Zeugnis von der Berührung mit der Hand in 1Joh 1,1 könnte sich auf die Erscheinung des Auferstandenen vor Thomas beziehen. Da dort jedoch das Berühren nicht zustande kommt (Joh 20,17.27) und der Kontext in 1Joh 1,1 einer solchen Deutung widerspricht, betrifft es offensichtlich das gesamte Auftreten Jesu. Wenn im Thomasevangelium (Log. 17) Jesus verspricht, den Seinen dasjenige zu geben, was „... die Hand nicht berührt hat“, wird dagegen eine andere Position vertreten:203 Das Neue, das, was (im neuen Äon) Zukunft hat, ist bei Johannes das, was durch den irdischen Jesus offenbar wurde.204 Ein weiteres Charakteristikum ist die Betonung der zukünftigen Hoffnung, die mit der Ankunft des neuen Äons verbunden ist: die futurische Eschatologie (1Joh 2,18.28). Sie kann als eine Spur des alten apokalyptischen Denkens betrachtet werden, die für die zeitliche Priorität der Johannesbriefe vor dem Evangelium sprechen könnte. Auf der anderen Seite sehen wir, dass hier das Auftreten der Antichristen, d. h. der abgespaltenen Mitglieder der johanneischen Gruppe (2,19), in einen umfassenden Rahmen gestellt wird: Die Apostasie (Abfall vom Glauben) wird als Zeichen der anbrechenden Endzeit betrachtet (vgl. 1Tim 4,1). Die johanneischen „Häretiker“ enthüllen sich als die apokalyptischen Gegner Christi. Die johanneische Kritik an den Apostaten erwies sich als wahrhaft berechtigt durch die Entdeckung, dass die fehlende theologische Rückbindung der Spiritualität an den irdischen Jesus zur einer Schwächung der sozialen Verantwortung führt. Darin lag ein wesentlicher Grund für das endgültige Versagen sowohl der hellenistischen Mysterienreligionen als auch der christlichen Doketen im Wettbewerb mit der Hauptströmung der christlichen Kirche. 202

Nicht am Anfang der Welt, wie in Joh 1,1, sondern am Anfang des Auftretens Jesu. Vgl. T. Onuki, Traditionsgeschichte von Thomas 17 und ihre christologische Relevanz, in: C. Breytenbach (Hg.), Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), Göttingen 1991, 399–415. 204 Vgl. die entgegengesetzte Deutung bei F. Vouga, HbNT 15/III, z.St. 203

7.2 Die Johannesoffenbarung

7.2

587

Die Johannesoffenbarung

 Kommentare: Ernst Lohmeyer, HNT 16, 21953; Eduard Lohse, NTD 11, 71988; Heinrich Kraft, HNT 16a, 1974; Jürgen Roloff, ZBK 18, 1984; Ulrich B. Müller, ÖTK 19, 1984; Pierre Prigent, CNT 14, Paris 1981; M. Eugene Boring, Interpretation, 1989; Heinz Giesen, RNT, 1996; David E. Aune, WBC 52A–C, 1997. 1998. 1999; Grant R. Osborne, BECNT, Grand Rapids, MI 2002.  Monographien und Aufsätze: Traugott Holtz, Die Christologie der Apokalypse des Johannes (TU 85), Berlin 21971; Klaus P. Jörns, Das hymnische Evangelium (StNT 5), Gütersloh 1971; Ulrich B. Müller, Messias und Menschensohn in jüdischen Apokalypsen und in der Offenbarung des Johannes (StNT 6), Gütersloh 1972; Elisabeth Schüssler-Fiorenza, Priester für Gott. Studien zum Herrschafts- und Priestermotiv in der Apokalypse (NTA 7), Münster 1972; Otto Böcher, Die Johannesapokalypse (EdF 41), Darmstadt 31988; August Strobel, Art. Apokalypse des Johannes, TRE 3, 1978, 174–189; Jan Lambrecht (Hg.), L’Apocalypse johannique et l’Apocalyptique dans le Nouveau Testament (BEThL 53), Leuven 1980; Peter Lampe, Die Apokalyptiker – ihre Situation und ihr Handeln, in: Eschatologie und Friedenshandeln (SBS 101), Stuttgart 1981, 59–114; Christian Wolff, Die Gemeinde des Christus in der Apokalypse des Johannes, NTS 27 (1981), 186–197; Martin Karrer, Die Johannesoffenbarung als Brief (FRLANT 140), Göttingen 1986; Elisabeth Schüssler-Fiorenza, The Book of Revelation, Philadelphia 21989; Eduard Lohse, Wie christlich ist die Offenbarung des Johannes?, NTS 34 (1988), 321–338; Jens W. Taeger, Johannesapokalypse (Lit. § 7.1); M. Eugene Boring, The Voice of Jesus in the Apocalypse of John, NT 34 (1992), 334–359; Jörg Frey, Erwägungen zum Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften des Corpus Johanneum, in: M. Hengel, Die johanneische Frage (Lit. § 7.1), 326–429; Hermann Lichtenberger, Überlegungen zum Verständnis der Johannesapokalypse, in: Jesus Christus als die Mitte der Schrift (FS O. Hofius) (BZNW 86), Berlin / New York 1997, 603–618; (Sammelband:) 1900th Anniversary of St. John’s Apocalypse. Proceedings of the ... Symposium Athens / Patmos 1995, Athen 1999 (zitiert als Proceedings ...); Peter Hirschberg, Das eschatologische Israel (WMANT 84), Neukirchen-Vluyn 1999; John M. Court, The Book of Revelation and the Johannine Apocalyptic Tradition (JSNTS 190), Sheffield 2000; Jörg Frey, Die Bildersprache der Johannesapokalypse, ZThK 98 (2001), 161–185; Gottfried Schimanowski, Die himmlische Liturgie in der Apokalypse des Johannes (WUNT II/154), Tübingen 2002; David E. Aune, Apocalypticism, Prophecy and Magic in Early Christianity (WUNT 199), Tübingen 2006.

Die Apokalypse steht wegen ihrer prophetischen Zukunftsvision am Ende des Kanons, gehört aber zu den johanneischen Schriften und ist unter ihnen die einzige, die den Namen „Johannes“ im Text selber erwähnt (Apk 1,1.4.9; 22,8).205 Sie stammt vermutlich von einem anderen Verfasser als die übrigen johanneischen Schriften (§ 7.2.7a). Sie hat die Gestalt eines brieflich stilisierten Visionsberichts. Mit seiner

205 Vgl. als Kommentar H. Giesen, RNT, oder umfassend D. E. Aune, WBC 52ABC (dreibändig), zur Einführung G. R. Osborne, BECNT, 1–49, oder F. Hahn, Theologie I (Lit. § 1), 448–475.

588

7 Die johanneischen Schriften

prophetischen Botschaft erhebt der Verfasser den Anspruch, eine Offenbarung Jesu Christi weiterzugeben. 7.2.1

Gliederung und Inhalt

Die Johannesapokalypse gliedert sich in einen ersten Abschnitt mit der Beauftragungsvision und den sieben Briefen an die sieben Gemeinden in Kleinasien – den sog. Sendschreiben (1,9–3,22) – sowie den Hauptteil mit den Visionen (4,1–22,5). Trotz dieser deutlichen Zweiteilung bleiben der visionäre Ausblick auf die Zukunft der ganzen Welt und der aktuelle Situationsbezug für die kleinasiatischen Christengemeinden durch die rezipienten-orientierte Darstellungsweise eng aufeinander bezogen. Eingebettet sind die beiden Teile in eine Einleitung (1,1–8) und einen Schlussabschnitt (22,6–21), die einen literarischen Rahmen ergeben. Der Prolog (1,1–3) setzt ein mit der Inhaltsangabe („Offenbarung Jesu Christi“) und einem Makarismus („Selig ist, wer ...“) für das Vorlesen im Gottesdienst. Der Epilog (22,6–20) resümiert den prophetischen Wahrheitsanspruch des ganzen Buchs mit der Botschaft vom baldigen Kommen Christi und bekräftigt durch eine Kanonisierungsformel die Unveränderbarkeit seines Inhalts (22,18 f.; vgl. Dtn 4,2; 13,1). Außerdem enthalten die Rahmenstücke einige charakteristische Elemente des paulinischen Briefformulars (§ 5.7b), nämlich das Präskript (1,4–6) mit der Adresse an die sieben Gemeinden in Kleinasien, mit der Salutatio („Gnade sei mit euch und Friede ...“) und mit einer Doxologie sowie das Postskript mit einem Gnadenwunsch als Schlusssegen (22,21). Von besonderer Bedeutung ist die Zahl Sieben (55-mal) nicht nur als Symbol der Vollständigkeit, sondern auch als Gliederungselement bei den sieben Sendschreiben (2,1–3,22) sowie bei den drei großen, sich steigernden Visionszyklen mit den sieben Siegeln (6,1–8,1), den sieben Posaunen (8,2–11,19) und den sieben Schalen (15,1– 16,21). Diese Siebenerreihen werden sukzessive auseinander entfaltet, doch verliert ihr strukturierender Charakter durch weitere Einschaltungen an Klarheit. Ein Spezifikum der Johannesoffenbarung sind die Elemente der himmlischen Liturgie und die himmlischen Worte, die das irdische Geschehen immer wieder aufbrechen und in der Übersicht durch einen Doppelpfeil markiert sind: