Einführung in die Geschichtswissenschaft [6., Aufl. Reprint 2019]
 9783110863833, 9783110061017

Table of contents :
Inhalt
Die geschichtlichen Wissenschaften und die Geschichtswissenschaft
Vorläufiges über Möglichkeiten und Grenzen geschichtlicher Erkenntnis
Das Studium der Geschichte
Die Gesdiiditsquellen und die Hilfs- und Nachbarwissenschaften der Geschichte
Quellenkritik: Kritik des Textes und Kritik der Quellenaussagen
Das geschichtliche Verstehen und die Sinndeutung der geschichtlichen Vorgänge
Aufgaben der historischen Darstellung
Abkürzungen
Literatur
Verzeichnis der in erster Linie lesenswerten Geschichtswerke
Selbstbiographien, Memoiren, Briefwechsel und Gespräche
Verzeichnis vorbildlicher kritischer Untersuchungen
Nachwort
Register

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Einführung in die Geschichtswissenschaft von

Prof. Dr. Paul Kirn t

6. Auflage von

Prof. Dr. Joadiim Leusdiner

Sammlung Göschen Band 270

Walter de Gruyter • Berlin • N e w York • 1972 vormals G. J. Göschen'sdie Verlagshandlung • J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit 8c Comp.

© Copyright 1972 by Walter de Gruyter & C o . , vormals G . J . Göschen'sche Verlagsnandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — K a r l J . Trübner — Veit & C o m p . , Berlin 30. — Alle Rechte, einschließlich der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. — Drude: Werner Hildebrand o H G , Berlin 65 — Printed in Germany.

ISBN 3 11 006101 5

Inhalt Die geschichtlichen Wissenschaften und die Geschichtswissenschaft Vorläufiges über Möglichkeit und Grenzen geschichtlicher Erkenntnis Das Studium der Geschichte Die Geschichtsquellen und die Hilfs- und Nachbarwissenschaften der Geschichte 1. Die Geschichtsquellen 2. Die geschichtlichen Hilfswissenschaften 3. Teilgebiete und Nachbarwissenschaften der Gesdiichte Quellenkritik: Kritik des Textes und Kritik der Quellenaussagen . . . 1. Textkritik 2. Kritik der Quellenaussagen Das geschichtliche Verstehen und die Sinndeutung der geschichtlichen Vorgänge . . . 1. Begreifen, Erklären, Verstehen 2. Mögliche Standpunkte für die Sinndeutung der geschichtlichen Vorgänge . a) Der sogenannte Positivismus b) Historismus c) Die drei Grundtypen der Weltanschauung . . . Aufgaben der historischen Darstellung 1. Das Regest 2. Die Untersuchung 3. Die Biographie 4. Die Geschichte einer Sache oder eines Kulturgebietes 5. Die Volksgeschichte 6. Das Zeitalter 7. Weltgeschichte Abkürzungen Literatur Verzeichnis der in erster Linie lesenswerten Geschichtswerke Selbstbiographien, Memoiren, Briefwechsel und Gespräche Verzeichnis vorbildlicher kritischer Untersuchungen . . . Nachwort Register

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Die geschichtlichen Wissenschaften und die Geschichtswissenschaft Ohne Kenntnis des Vergangenen ist nicht n u r die höhere Geisteskultur u n d e n k b a r , selbst die Praxis des täglichen Lebens k a n n ihrer nicht entraten. W e r von den Ereignissen der letztvergangenen M o n a t e u n d J a h r e nichts behalten u n d aufgeschrieben hätte, könnte nicht einmal eine Steuererklärung abgeben oder seinen Lebenslauf abfassen. Wer gar Ahnenforschung treiben w i l l , muß schon ein gutes Stück in die Vergangenheit zurückgehen. U n t e r U m ständen h a t er schon einige M ü h e festzustellen, was sich hinter uns f r e m d gewordenen Berufsbezeichnungen verbirgt. U m die Papiere aufzuspüren, aus denen er die Angaben über seine V o r f a h r e n e n t n i m m t , m u ß er sich einige Kenntnis der f r ü h e r e n Behördenorganisation u n d Zivilstandsregisterführung verschaffen. Es w i r d ihm auch auffallen, daß die Schriftzüge v o n ehemals den heutigen nicht gleichen. Schon eine solche gelegentliche Einkehr bei der Vergangenheit bringt uns A u f g a b e n nahe, wie sie die Geschichtswissenschaft alle Tage bearbeitet. Jede U n t e r w e i s u n g in einem Sonderfach greift auf die Geschichte dieses Faches zurück. Ein Unterricht in Elektrizitätslehre geht nicht vorüber an den Entdeckungen von Galvani, Volta u n d Franklin. N i e m a n d erörtert die Lehre v o m freien Fall, ohne Galilei zu erwähnen, und schon an einer ziemlich f r ü h e n Stelle seines Ausbildungsweges begegnet der Schüler in der Geometrie der Gestalt des P y thagoras. N i e m a n d w i r d ein tüchtiger Offizier, w e n n er sich nicht mit dem Verlauf der Schlachten von Leuthen, Leipzig, Königgrätz, Sedan u n d neueren beschäftigt hat. Selbst die Kenntnis der Schlacht von Cannae k a n n ihm nicht erspart bleiben. So k o m m t es, daß es eine sehr erhebliche A n z a h l geschichtlicher Wissenschaften geben müßte, selbst wenn keine allgemeine Geschichtswissenschaft vorhanden wäre. Ja, m a n k a n n die Frage aufwerfen, ob dieser überhaupt

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noch Raum genug übrigbliebe, ob sie nicht angesichts der Vielheit geschichtlicher Facharbeiten am Ende zu entbehren sei. Sie ist es schon darum nicht, weil sie bei ihren Untersuchungen eine andere Blickrichtung innehält als die geschichtlich arbeitenden Spezialwissenschaften. Der heutige Jurist, Bildhauer oder Praktiker des Verkehrslebens fragt: Was hat das Recht, die Bildhauerkunst, das Verkehrswesen für eine Vergangenheit? Der allgemeine Historiker dagegen fragt: Was hatte die Vergangenheit f ü r ein Recht, was f ü r eine Bildhauerkunst, wie sah ihr Verkehrswesen aus? Das Gesamtbild einer bestimmten Zeitperiode würde aus den Bemühungen jener geschichtlichen Gelegenheitsarbeiter nie entstehen, das Verbindende zwischen den Äußerungen des Zeitgeistes auf den verschiedenen Lebensgebieten nicht sichtbar hervortreten. Noch auf einem anderen Wege gelangen wir dahin, die Notwendigkeit einer allgemeinen Geschichtswissenschaft uns klarzumachen. Wir machen nämlich immer wieder die Erfahrung, daß die Angaben über Vergangenes, die wir zusammentragen wollen, nicht so bequem dargeboten werden wie reife Früchte, die man nur vom Baum zu pflücken braucht. Bisweilen widersprechen sie einander, in anderen Fällen scheint eindeutig klar zu sein, wie wir sie zu verstehen haben, aber im Fortgang der Untersuchung zeigt sich, daß die nächstliegende Deutung falsch war. Zwei Beispiele sollen das veranschaulichen. Die Universität Graz erhielt von Papst Sixtus V. eine Bestätigungsurkunde, ausgestellt am 1. Januar 1585. Aber damals war Sixtus noch nicht Papst, sein Vorgänger Gregor XIII., der erst am 10. April 1585 gestorben ist, war noch am Leben. Um die Lösung zu finden, muß man wissen: Die päpstliche Kanzlei begann damals das Jahr nicht wie wir mit dem 1. Januar, sondern erst mit dem darauffolgenden 1. März. Unsere Urkunde ist demnach vom 1. Januar 1586. Während in diesem Falle sich gleich zu Beginn wenigstens herausstellte, daß eine besondere Schwierigkeit vorliegt, scheint im folgenden auf den ersten Blick

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Die geschichtl. Wissenschaften u. d. Geschichtswissenschaft

alles in bester Ordnung. Jemand geht auf die Suche nach den frühesten Spuren von Artillerie in den mittelalterlichen Stadtrechnungen und stößt auf einen Büchsenmeister. Den hält er f ü r den Kommandeur oder Ingenieur der Artillerie. In Wirklichkeit ist es ein reitender Bote, der in seiner Büchse die städtischen Briefe befördert. Aus solchen Erfahrungen erwächst die Erkenntnis, daß alle Gelegenheitshistoriker die Hilfe des Berufshistorikers nicht ohne Schaden entbehren können. Die erforderliche allgemeine Geschichtswissenschaft ist aber mehr als nur eine Helferin in gelegentlich auftretenden Nöten. Sie hat Methoden entwickelt, wie man zu sicherer historischer Erkenntnis gelangen kann, und hat Möglichkeit, Wert und Grenzen solcher Erkenntnisse untersucht. Diese Seite der Sache soll uns im folgenden beschäftigen. Wir stimmen dabei aus voller Überzeugung jenem Franzosen zu, der einmal äußerte: Nichts ist praktischer als die Theorie. Er meinte damit: Die Theorie ist dazu da, daß die praktischen Versuche nicht planlos angestellt, sondern den Bedingungen möglichen Erfolges von vornherein angepaßt werden. Bei solchem Bemühen kann uns der Gedanke anspornen, daß dem Historiker bei der Arbeitsteilung, die in der Gesellschaft stattgefunden hat, eine wichtige Aufgabe zugefallen ist. Durch seine Arbeit müssen die geschichtlichen Vorstellungen der Mitbürger und die Antriebe für das tätige Leben, die daraus entspringen, tragfähigen Grund und feste Richtung erhalten. Denn jeder, mag er der Geschichtswissenschaft noch so fern stehen, bildet sich eine Meinung vom Ablauf der Volksgeschichte und der Völkergeschichte, von ihren bewegenden Kräften, ihren glücklichen und beklagenswerten Ereignissen. Entweder begnügen sich alle mit ungezügelten Einfällen, oder der Laie vertraut dem Fachmann, dessen Pflicht und zugleich größte Freude es ist, um die beste für Menschen mögliche Erkenntnis des Geschichtsverlaufs zu ringen. Die allgemeine Geschichtswissenschaft steht und fällt mit dem Nachweis, daß es eine wissenschaftliche Methode gibt,

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mit deren Hilfe sichere oder annähernd sichere Kunde über Vergangenes gewonnen werden kann. Das ist so wichtig, daß wir im Recht waren, von ihrer Methode zu sprechen, bevor wir ihren Gegenstand erörterten. Nun versuchen wir sie zu definieren, wodurch wir ganz von selbst auf ihren Gegenstand hingelenkt werden. Was verstehen wir unter Geschichte? Willi Hellpach liefert uns den Satz: „Geschichte ist die bewußte Gestaltung menschlichen Gemeinschaftslebens aus schöpferischem Willen" 1 ). Das läßt aufhorchen, weil es neu und eigenwillig klingt. Denken wir länger darüber nach, so will es uns scheinen, als fände nicht alles, was zur Geschichte gehört, in dieser Begriffsbestimmung Platz. Auch würden wir eine solche vorziehen, die alle drei Bedeutungen des Wortes Geschichte umfaßte: 1. Geschehen, 2. Darstellung des Geschehens, 3. Wissenschaft vom Geschehen. Ginge es nur um die Wissenschaft, so könnten wir uns Wilhelm Bauer anschließen, der sagt: „Geschichte ist die Wissenschaft, die die Erscheinungen des Lebens zu beschreiben und nachfühlend zu erklären sucht, soweit es sich um Veränderungen handelt, die das Verhältnis des Menschen zu den verschiedenen gesellschaftlichen Gesamtheiten mit sich bringt, indem sie diese vom Standpunkt ihrer Wirkung auf die Folgezeit oder mit Rücksicht auf ihre typischen Eigenschaften auswählt und ihr Hauptaugenmerk auf solche Veränderungen richtet, die in der Zeit und im Raum unwiederholbar sind" 2 ). Jedes einzelne Satzglied ist hier wohl überlegt, man glaubt zu fühlen, wie der Verfasser mit Zusätzen hier und Einschränkungen da das Ganze allmählich zustandegebracht hat. Trotzdem wird mancher mehr Gefallen finden an der Formulierung, die Johan Huizinga vorschlägt: „Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt" 3 ). Hier verdient gerade dies Beifall, daß er Ausdrücke von geringerer Schärfe und demgemäß weiterer Fassungskraft gewählt ' ) Die W e l t als Gesdiidite, B d . 6 (1940), 250. E i n f ü h r u n g in das S t u d i u m d e r Gesdiichte, S . 17. ' ) Wege der K u l t u r g e s d i i d i t e (1961), S . 86. s)

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D i e geschichtl. Wissenschaften u. d. Geschichtswissenschaft

hat. Wenn Geschichte eine geistige Form genannt wird, ist angedeutet, daß sie auf Maßstäbe und Gesichtspunkte hin orientiert ist, daß keinesfalls der gesamte Wust des Geschehens überhaupt in sie aufgenommen werden soll. Wird das auswählende und betrachtende Subjekt Kultur genannt, so drückt dies aus, daß auch der einzelne Forscher als Glied seines Volkes, als Kind seiner Zeit, ergriffen von überpersönlichen Mächten sein Werk vollbringt. Wenn endlich die Auseinandersetzung mit dem Vergangenen als „sich Rechenschaft ablegen" bezeichnet wird, so fällt unter diesen weiten Begriff eine schlichte Aufzeichnung und ein Bericht öffentlicher oder privater N a t u r ebensogut wie kritisch-wissenschaftliche Untersuchungen. Mit dem Gesagten haben wir uns noch nicht auf eine bestimmte Antwort festgelegt hinsichtlich der Frage, ob die staatliche Seite des Völkerlebens allein oder wenigstens vorwiegend im Mittelpunkt der historischen Arbeit stehen soll oder ob es angemessener sei, Kulturgeschichte zu treiben. Der Streit hierüber hat seit 1888 des öfteren die Geister in Bewegung gesetzt. Nicht zufällig brach er gerade damals aus, als das Zeitalter Bismarcks zu Ende ging. Vorher hatte die noch ungelöste Aufgabe der deutschen Einigung die Vorherrschaft der politischen Geschichte gesichert. So ähnlich wie im Zeitalter Ludwigs X V . Voltaire im Kreise der Schriftsteller eine Lanze dafür brach, die hergebrachte Staatengeschichte durch Kulturgeschichte zu ersetzen, so stritten sich nun in Deutschland die Universitätsprofessoren um das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte. Man muß sich dabei vor Augen halten, daß die Geschichte als selbständiges Lehrfach der Hochschulen damals noch gar nicht so sehr alt war. Noch zu Kants Zeiten vereinigte in Königsberg ein Professor die zwei Fächer „Eloquenz" und Geschichte so, daß er neben einer Vorlesung über lateinische Rhetorik oder Stilistik und der Erklärung eines römischen Schriftstellers ein Kolleg über die halbe Weltgeschichte las. In einem Semester die Weltgeschichte bis zu Christi Geburt, im folgenden die ganze seitherige Weltgeschichte in jeweils zwei Wochenstunden vorzutragen, diese Kunst, die seither

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abhanden kam, nannten viele unserer Vorgänger im 17. und 18. Jahrhundert ihr eigen. Die Sonderung der geschichtlichen Lehrstühle für alte, mittlere und neuere Geschichte (wobei nach lobenswerter Tradition zwei Lehrkräfte für mittlere und neuere Geschichte zugleich tätig sind) ist erst um 1900 in Deutschland ganz durchgeführt worden. Erst recht w a r in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Geographie noch nicht im Besitz eigener Lehrstühle; sie trat zumeist noch in Personalunion mit Geschichte auf. Als im Jahre 1888 Dietrich Schäfer in einer Tübinger Antrittsvorlesung über „Das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte" für den Vorrang der Geschichte von Staat und Volk eingetreten war, erwiderte ihm Eberhard Gothein in einer Schrift über „Die Aufgaben der Kulturgeschichte". Später stellten sich — neben der Mehrzahl der Historiker, die stillschweigend zustimmte — Georg von Below und Hermann Oncken auf Schäfers Seite, während die Kulturgeschichte in Karl Lamprecht, Walter Goetz, Alfons Dopsch und dem Leidener Professor Johan Huizinga ihre Vorkämpfer fand. Solange es sich nur darum handelte, auf welchem Stoff der Hauptnachdruck liegen sollte — wollte doch keiner der Gegner die anders gerichtete Arbeitsweise mit Stumpf und Stiel ausrotten —, regte der Streit zum Nachdenken an, ohne großen Zwiespalt in die Gelehrtenwelt hineinzutragen. Karl Lamprecht machte aus dem Grenzstreit insofern einen Methodenstreit, als er dazu fortschritt, auf Grund der damals herrschenden Psychologie eine Stufenfolge geistiger Entwicklungsperioden aufzustellen, die, wie er meinte, jede Volkskultur gesetzmäßig durchläuft. Wenn er seinen Gedanken gelegentlich einmal überspitzt vortrug, konnte er sagen, die Griechen, die Deutschen, die Japaner und die Marotse (am oberen Sambesi) hätten eine in allem Wesentlichen gleiche Entwicklung durchlaufen. Im Grunde war damit aus dem ursprünglichen Grenzstreit ein Streit der Weltanschauungen geworden. Als sol-

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dien hat ihn dann Christoph Steding später noch einmal aufleben lassen 1 ). Indem wir uns das Eingehen auf Lamprechts universale Entwicklungstheorie für später aufsparen, stellen wir einige Sätze zusammen, die das Problem von mehreren Seiten beleuchten. 1. Es sollte höchstens um Vorrang, nicht um Alleinherrschaft der einen oder anderen Geschichtsbehandlung gestritten werden. Man darf auch nie vergessen, daß Staat und Kultur keine Gegensätze sind, vielmehr der Staat in engster Wechselwirkung mit den wesentlichsten Seiten der Kultur steht. 2. Unerträglich wäre eine Verdrängung der politischen Geschichte durch andere Betrachtungsweisen. Praktisch sollte man stets dies im Auge behalten: die Universität hätte, wenn die Historiker die politische Geschichte beiseite setzten, immerhin noch in den Juristen, Sozialwissenschaftlern und Politologen Fachmänner für das Staatliche. Auf allen allgemeinbildenden Schulen aber ist der Geschichtslehrer unzweideutig der zunächst Verantwortliche für die Einführung in das politische Denken. Wollte er sich auf die Kultur- oder, wie man oft auch sagt, auf die Geistesgeschichte beschränken, so fiele die politische Geschichte ganz aus. Für die Geistesgeschichte aber sorgen bereits der Deutschlehrer und die Lehrer der alten und neuen Sprachen ebenso gut, wie es der Geschichtslehrer kann. 3. Das Recht und die Pflicht des Historikers, mehr als nur die politische Geschichte darzubieten, wachsen in dem Maße, als er imstande ist, übergreifende Tatbestände und Gesichtspunkte nachzuweisen, die eine Vielzahl von Kulturgebieten durchziehen und Querverbindungen zwischen diesen erkennen lassen. Wer glaubt, beweisen zu können, daß in einem bestimmten Zeitalter äußere und innere Politik, Wirtschaft und soziales Leben, Wissenschaft, Religion und alle Künste ein einheitliches Gepräge getragen haben — etwa ein individualistisches oder ein barockes oder ein *) C h r i s t o p h S t e d i n g , D a s Reich u n d die K r a n k h e i t der europäisdien K u l t u r . H a m b u r g 1938. Das Buch ist v o l l s u b j e k t i v e r W i l l k ü r , daher nickt zu empfehlen.

Die geschichtl. Wissenschaften u. d. Geschichtswissenschaft

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von der Aufklärung bestimmtes —, der hat die Pflicht und selbstverständlidi aus das Recht, dies in Untersuchung und Darstellung zu erhärten. 4. Vor einer Erweiterung des Arbeitsfeldes ins Grenzenlose warnt die Beobachtung, daß gemeinhin die ganz weit gespannten Kulturgeschichten, Universalgeschichten, oder wie sie heißen, nur einen verhältnismäßig geringen wissenschaftlichen Wert haben. Die besten kultur- bzw. geistesgeschichtlichen Werke schufen Jacob Burckhardt für die Griechen und für die italienische Renaissance, weil er in der Kunstgeschichte Fachmann und in die Geschichte der Literatur sehr tief eingedrungen war, Johan Huizinga für Burgund, für das deutsche Mittelalter Albert Hauck als unübertrefflicher Kenner des kirchlichen Lebens (und was war im Mittelalter nicht von der Kirche berührt?), Georg Dehio als Kunsthistoriker und, noch immer lesenswert, Gustav Freytag mit seinen „Bildern aus der deutschen Vergangenheit"; das 18. Jahrhundert behandelte vortrefflieh Hermann Hettner, weil er zwei Fachgebiete, die Kunst- wie die Literaturgeschichte, wirklich beherrschte. Auf der anderen Seite können Ganzheiten nie voll verstanden werden, wenn man nur ein Stück von ihnen darstellt. Zur Hanse gehören nicht bloß ihr Handel und ihre Politik, sondern auch ihre Kunstleistungen. 5. Für die Darstellung der Geschichte muß die Entscheidung, wieviel sie von der nichtstaatlichen Kultur in sich aufnehmen soll, von Fall zu Fall getroffen werden. Zum Verständnis solcher Völker und Zeiten, die uns fern liegen, bedarf es immer eines weiteren Ausholens im Kulturgeschichtlichen. Geschichtswerke über das Altertum haben von jeher diesen Grundsatz befolgt, ein Mann wie Ranke wußte mit feinem Takt Hinweise auf die Zeitkultur gleichsam im Vorübergehen zu geben. Mit Recht hat er auch in seiner Schrift über Serbien und die Türkei im 19. Jahrhundert über das rein Politische weit hinausgegriffen. 6. Wertvolle Geschichtsdarstellungen, die einen bleibenden Platz im deutschen Schrifttum beanspruchen, bedürfen künstlerischer Form. Dazu gehört u. a., daß sie nicht ange-

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häufte Notizen ausschütten, sondern einen geschlossenen Gedankengang vorführen. Auch darin liegt eine Richtschnur, die hilft, eine Auswahl zu treffen zwischen dem, was aufgenommen werden, und dem, was beiseite bleiben soll. 7. Dem Studierenden ist zu raten, daß er die politische Geschichte und die dafür unentbehrliche Verfassungsgeschichte samt den geschichtlichen Hilfswissenschaften in den Vordergrund stelle. Geistesgeschichte treibt jeder Historiker noch außerdem in Gestalt seiner philologischen Nebenfächer oder der Kunstgeschichte u. dgl. Ein Studium, das geradewegs auf Kulturgeschichte als ausschließliches Ziel zusteuert, ist nicht ungefährlich. Auch heute noch geht der sicherste Weg zu einer großen Leistung auf diesem Gebiet nicht durch ein universales Universitätsinstitut, in dem alle Teilgebiete der Kultur studiert werden sollen und das sich wie eine Universität im kleinen ausnimmt, sondern durch die Hörsäle bedeutender Fachvertreter mehrerer Fakultäten.

Vorläufiges über Möglichkeiten und Grenzen geschichtlicher Erkenntnis Am besten erforschen kann man den in vielen gleichen Exemplaren vorhandenen Gegenstand und den beliebig oft wiederholbaren Vorgang. Die von der Geschichtswissenschaft behandelten Größen sind strenggenommen alle nur ein einziges Mal vorhanden, nein: vorhanden gewesen; kein historischer Vorgang darf einem zweiten völlig gleich gesetzt werden. (Dementsprechend sind alle Teilstrecken der historischen Zeit zwar gleich lang, aber in allem Wesentlichen grundverschieden.) Daher konnte Jacob Burckhardt die Geschichte die unwissenschaftlichste aller Wissenschaften nennen. Am Gegenbild der Naturwissenschaften können wir uns dies am besten klarmachen. Sie haben weithin den Vorteil, eine Unmenge gleicher Exemplare untersuchen zu können.

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Es gibt nun einmal viel mehr Kaninchen und Meerschweinchen als Staatenbünde und Renaissancen. Die Naturwissenschaft kann experimentieren, die Geschichte nicht. Was heißt experimentieren? Einen Faktor herausisolieren und somit den Rückschluß aus der Wirkung auf die Ursache zur Gewißheit erheben. Dies ist es, was der Geschichte versagt ist. Da der Vergleich nahe verwandter Stücke den Hauptinhalt der historischen Methode ausmacht, steht sie überall da auf unsicherem Grunde, wo sie über Vergleichsstücke nicht oder nicht in genügender Zahl verfügt. Jene einzige frühlangobardische Urkunde, die abwechselnd als Original und dann wieder als Abschrift erklärt wurde, oder jene Kapelle mit ovalem Grundriß auf der Marienfeste in Würzburg, über deren Entstehungszeit die widersprechendsten Annahmen geäußert wurden, sind solche Dinge, die die Wissenschaft nicht recht bewältigen kann. Gegenüber isolierten Vorgangsreihen ist sie nicht viel besser daran. Daher ist jedem, der die Geschichte eines Volkes im tieferen Sinne verstehen will, zu raten, daß er sich auch mit anderen Volksgeschichten vertraut macht. Dies war vorauszuschicken, um den Leser auf die besonderen Schwierigkeiten des Gegenstandes hinzuweisen. Wir haben schon vom Erklären und Verstehen gesprochen, aber wir müssen uns vorher der Tatsachen bemächtigen, die es zu erklären und zu verstehen gilt. Wo sind diese Tatsachen? Wir müssen antworten:, Sie sind nicht mehr da. Geschichte ist also die Wissenschaft von einem nicht mehr vorhandenen Gegenstande. Wie kann sie unter solchen Umständen ihren Aussagen Sicherheit verleihen 1. gegen Unwissenheit, 2. gegen Irrtum, 3 gegen Betrug? Gegen die Erkenntnis kann sich kein Mensch sträuben, daß auch die scharfsinnigste Forschung jene Vorgänge nicht mehr ermitteln kann, die sich abspielten, ohne eine Spur zu hinterlassen. Schon die Ahnenforschung bei bür-

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gerlichen Familien pflegt, wenn sie ein Stück weit in die Vorzeit eingedrungen ist, zu jenen Männern zu kommen, von denen nur zu berichten bleibt, was Geliert jenem Greise nachrühmt: „Er lebte, nahm ein Weib und starb." Noch ein paar Schritte weiter, und sie greift ganz ins Leere. Bei völligem Versagen der Quellen ist die Wissenschaft machtlos. Gefährdet ist sie, wo die Quellen spärlich und nur in äußerst zufälliger Auslese erhalten sind. So wurde noch bis vor kurzer Zeit gelehrt, bis zum Jahre 591 folgten einander eine ganze Anzahl von fränkischen Kriegen gegen die Langobarden; mit diesem Jahr aber breche die Reihe für 150 Jahre ab. Dieser Auffassung hat Robert Holtzmann mit Recht entgegengehalten, nicht die fränkisch-langobardischen Kriege, sondern das große Geschichtswerk des Gregor von Tours breche 591 ab. Da kein gleich vollständiges für die anschließenden Jahrzehnte uns vorliegt, ist es in hohem Grade wahrscheinlich, daß uns über jene Kriege nur die weitere Überlieferung fehlt 1 ). Gegen Irrtum ist die Geschichte so wenig wie irgendeine andere Wissenschaft, ja wohl noch weniger als viele andere gefeit. Es ist ein offenes Geheimnis, daß eine Anzahl von Behauptungen, die ehemals im Geschichtsunterricht gelehrt wurden, heute als Irrtümer gelten. Wir wissen, daß die sagenhaften Erzählungen aus der römischen Königszeit nicht als beglaubigte Geschichte gelten können, daß Heinrich I. keine Städte gegründet hat, daß das Heilige Römische Reich deutscher Nation nicht im Jahre 962 entstand, daß Luther seine Rede in Worms nicht mit den Worten schloß: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen." Aber so lange die Bemühungen, den überlieferten Geschichtsstoff immer von neuem kritisch zu überprüfen, nicht eingestellt werden — und darauf kann nicht verzichtet werden —, so lange werden zu den Punkten, in denen uns die fortschreitende Wissenschaft zum Umlernen genötigt hat, noch neue hinzukommen, in denen wir ebenfalls umlernen müssen. ') Robert H o l t z m a n n in . D a s Reich", Festsdirift f ü r Johannes H a l l e r . Stuttgart 1940, S. 119.

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Noch größer ist die Gefahr, daß wir das Opfer von Geschichtsfälschungen werden. Von der ältesten orientalischen Geschichte bis in unsere Gegenwart zieht sich eine endlose Kette angeblicher Geschichtsquellen, die hergestellt worden sind, um die Nachwelt zu betrügen. Von den in der Humanistenzeit gefälschten und dem Priester Berossos (er lebte im 3. Jahrh. v. Chr. in Babylon; echt sind einige Fragmente) zugeschriebenen Texten über den sog. Phrygier Dares, der als angeblicher Zeitgenosse den Trojanischen Krieg beschrieb, über die Konstantinische Schenkung und die unter dem Namen des Pseudoisidor bekannten, großenteils falschen Kirchenrechtsquellen, das Privilegium maius (das, angeblich von 1156 datiert, in der Mitte des 14. Jahrh. angefertigt wurde, um die Landesherrschaft der Habsburger zu verstärken) und ungezählte falsche Urkunden für Kirchen und Klöster geht es weiter zum apokryphen Politischen Testament Peters des Großen und bis zu den vielen neueren Fälschungen, von denen ein gut Teil auf Rechnung gelehrter Eitelkeit kommt. Diese Liste könnte um ein Vielfaches verlängert werden. Ergänzen kann man sie durch den Hinweis auf gefälschte Altertümer. Berühmte Fälle sind die sog. Tiara des Saitaphernes (eines Königs, der im 2. vorchristlichen Jahrhundert über den wahrscheinlich skythischen Stamm der Saier herrschte). 1 0 0 0 0 0 Franks hat dasLouvremuseum für sie bezahlt. Später stellte sich heraus, daß ein aus Odessa stammender Israel Rachumowski sie angefertigt hatte. Für die angeblich zeitgenössische Büste des Renaissancedichters Benivieni zahlte dasselbe Museum 1 7 0 0 0 Franks. Als Zweifel an der Echtheit auftauchten, wurde ein Preis von 15 000 Franken für die Lösung der Frage ausgeschrieben. Ihn verdiente sich der Fälscher — ein Florentiner namens Bastianini — , indem er mitteilte, er sei der Hersteller und habe einen Tabakarbeiter als Modell benutzt. Wer im historischen Fach nicht selber gearbeitet hat und von solchen Dingen hört, kann leicht dem Gedanken Raum geben, am Ende sei die ganze überlieferte Weltgeschichte oder seien große Teile davon ein einziger großer Betrug. Es

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ist für das Bestehen unserer geistigen Welt nicht gleichgültig, ob ein solcher Verdacht der Verfälschung unserer gesamten Geschichte glatt abgewiesen werden kann oder ob wir uns seiner nur mit zweifelhaftem Erfolge erwehren. Noch einmal sei daran erinnert, daß wir von vornherein zugegeben haben, unser Geschichtsbild sei lückenhaft, nicht frei von Irrtümern, und es könnten sich unter den heute als echt geltenden Dokumenten solche befinden, die später einmal als Fälschung erwiesen werden. Ebenso sicher ist auf der anderen Seite, daß das eine oder andere Stück, das im Übereifer von der kritischen Wissenschaft für falsch erklärt wurde, sich im Laufe der Zeit als echt herausstellen wird. Daß aber unsere Gesamtvorstellung vom Geschichtsverlauf nicht von A bis Z Dichtung oder Betrug sein kann, läßt sich durch eine Fülle von Tatsachen und Überlegungen erweisen. Zunächst greifen wir aus der großen Zahl von Untersuchungen über falsche Urkunden irgendeine heraus und lesen sie aufmerksam. Wie geht der Verfasser vor? Genau wie jemand, der den Nachweis erbringen wollte, daß ein uns vorliegender Geldschein gefälscht ist. Wie in diesem Falle zu zeigen wäre, daß der zu untersuchende Schein in mehreren — auf den ersten Blick vielleicht kaum ins Auge fallenden — Merkmalen abweicht von allen anderen Geldscheinen des gleichen Typus, so wird hier gezeigt, daß die fragliche Urkunde in soundso viel Merkmalen der äußeren Ausstattung und der Textgestaltung von den uns erreichbaren gleichzeitigen Urkunden desselben Ausstellers abweicht. Bei genügender wissenschaftlicher Erfahrung kann man auf die Unechtheit der nicht normgemäßen Urkunde schließen. Wenn wir Glück haben, liegt der Fall so, daß der Fälscher grobe Verstöße begangen hat, aus denen wir sehen, daß er z. B. über die Regierungszeit oder den Aufenthaltsort des Urkundenausstellers oder andere wesentliche Tatsachen nicht Bescheid wußte. Vielleicht gelingt auch der Nachweis, daß der Fälscher mehrere ihm gut zugängliche (etwa in seinem eigenen Klosterarchiv liegende) echte Ur-

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künden als Muster benutzt hat. Was dort in einem sinnvollen Zusammenhang steht, wirkt in seinem P r o d u k t widersinnig. Derartige Untersuchungen liefern uns ein doppeltes Ergebnis: 1. daß das untersuchte Stück eine Fälschung ist, 2. daß die herangezogenen Vergleichsstücke echt sind. Auf diesen zweiten P u n k t aber kommt f ü r unsere augenblickliche Fragestellung alles an. Wiederholen wir dies mit einer Mehrzahl derartiger Schriften, so gewinnen wir schon ein gewisses Zutrauen zu dem, was die Wissenschaft als gesicherte Geschichtstatsachen betrachtet. Gewaltig verstärkt wird dieses Zutrauen, wenn wir die Querverbindungen der verschiedenen Geschichtsquellen untereinander betrachten oder unser Augenmerk auf die Wege richten, auf denen die einzelnen geschichtlichen Überlieferungen bis zu uns gelangt sind. Um uns hiervon zu überzeugen, wollen wir einmal die Frage aufwerfen, ob die gemeinhin geglaubte Römerherrschaft über das südliche und westliche Deutschland in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung nicht durch falsche Quellen vorgetäuscht worden sein könnte. Wer uns auf griechische und lateinische Historiker hinweist, die von ihr berichten, kann damit die Zweifel noch nicht beseitigen. Wer bürgt dafür, daß sie uns nicht irreführen? Weiter wird man die große Zahl römischer Inschriften aus diesen Gebieten namhaft machen. Auch hier kann sich das Mißtrauen zum Wort melden und sagen: Sind sie auch gewiß echt? Nein, ein gewisser Bruchteil ist nachweislich unecht, aber eben das ist ein günstiger Umstand: er verbürgt die Echtheit der anderen. Weiter haben wir die ganze Fülle der Bodenfunde. Soll man wirklich glauben, sie wären, um uns irrezuführen, erst vergraben worden? U n d wäre es selbst der Fall, so kommen doch immer neue gleichartige Funde zutage, auch hilft der Vergleich mit dem, was die vielen römischen Provinzen von Britannien bis nach Spanien, Afrika, dem Balkan, Syrien, Arabien und Ägypten hin an römischen Altertümern aufzuweisen haben, das Gefundene sichern. Schließlich verbindet sich damit die Eigenart vieler aus der lateinischen Sprache abgeleiteter Ortsnamen wie Kirn,

E m i u h r u n ß in d i e G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t

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Köln (Colonia Agrippina) und Trier (Augusta Trevirorum), Vilbel (Villa bella) und Bonames (Bona mansio), die eben nur auf jenem Boden sich finden, den die Quellen zum ehemaligen römischen Herrschaftsgebiet rechnen. Das Vorhandensein zahlreicher Lehnwörter lateinischer Herkunft in unserer Sprache (z. B. schreiben, kaufen, Mauer, Ziegel) liefert zwar keinen zwingenden Schluß auf politische Herrschaft der Römer über Teile des heutigen Deutschland, sondern nur auf nachhaltigen Kultureinfluß, aber wir haben auch keinen Anlaß, die Tatsächlichkeit jener politischen Herrschaft durch weitere Beweise zu erhärten. Ein ähnliches Gedankenexperiment aus der mittelalterlichen Geschichte möge folgen. Die neuere Geschichte können wir hier beiseite lassen, denn ihr gegenüber ist ja auch so radikaler Zweifel niemals geäußert worden. Wohl aber wurde allen Ernstes die Behauptung gewagt, das, was uns bis heute als gesicherte Tatsachen der deutschen Geschichte im Mittelalter gilt, sei durch einen riesigen Betrug, den die Papstkirche im 15. Jahrhundert in Szene gesetzt habe, aufgezeichnet worden 1 ). Nehmen wir einen Augenblick an, es wäre wirklich so. Die Werke eines so wichtigen Geschichtsschreibers aus der Frühzeit Friedrichs Barbarossas wie des Bischofs Otto von Freising wären eine spätere Fälschung. Was wäre damit behauptet? Damit wäre behauptet, die Fälscher hätten sich die Mühe gemacht, an die 45 Handschriften anzufertigen und äußerlich so auszustatten, daß sie ganz verschiedenen Schreibschulen und verschiedenen Jahrhunderten anzugehören scheinen. Sie hätten es überdies so eingerichtet, daß ein Teil davon wie eine ältere Fassung, ein anderer wie eine von demselben Verfasser später vorgenommenen Neubearbeitung wirkt. Und endlich hätten sie noch einzelne Handschriften hergestellt, in denen der Text durch Zusätze ergänzt wird, in denen die Weifen ver' ) D i e s e M e i n u n g verfocht Wilhelm K a m m e i e r 1935—39 zahl k u r z e r Broschüren m i t T i t e l n w i e » D i e Fälschung schichte". Ich h a b e e t w a f ü n f s o r g f ä l t i g gelesen. Z . Z t . erreichbar, d o d i entsinne idi m i d i v o l l e r D e u t l i c h k e i t , daß a l l g e m e i n g ü l t i g e n L e h r e n v o n der S c h r i f t e n t w i c k l u n g w e n i g v e r t r a u e n s w ü r d i g z u bezeichnen.

in einer g a n z e n A n der deutschen G e s i n d sie m i r nicht K . so w e i t geht, die im M i t t e l a l t e r als

Möglichkeit und Grenzen geschichtlicher Erkenntnis

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herrlicht werden, und andere, deren Zusätze die Wittelsbacher rühmend hervorheben. Noch nicht genug damit. Wer mit solchen Gedanken spielt und Zweifel äußert gegen die nach Ansicht der Zunftgelehrten in ihren Grundzügen wohlbekannte Entwicklung der Buchschrift im Mittelalter, der muß eigentlich bis zu der absurden Behauptung fortschreiten, daß jene angebliche Fälschergenossensdiaft noch Hunderte von juristischen Handschriften und Tausende von Bibelhandschriften angefertigt habe bloß zu dem Zwecke, daß jenes Bild von der Schriftentwicklung, das die geschichtlichen Handschriften bieten, eine scheinbare Stütze erhalte. Wer nämlich die Gesamtfälschung der Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters behaupten wollte, ohne diesen letzten Schritt auch noch zu tun, wäre sofort dadurch zu widerlegen, daß man ihm erwiderte: „Gut. Solange ein Verdacht gegen die historischen Handschriften besteht, ist es ein leichtes, diese vorerst beiseite zu lassen und mit Hilfe der juristischen und der Bibelhandschriften die zeitliche Entwicklung der Schrift in den mittelalterlichen Jahrhunderten einwandfrei klarzulegen. Nach dem Ergebnis beurteilen wir dann die geschichtlichen Handschriften." Damit wäre der unumstößliche Beweis für die äußere Echtheit aller der Textzeugen gegeben, die uns nicht als Abschriften aus späterer Zeit gelten. Denn ein Werk kann nicht im 15. Jahrhundert verfaßt sein, wenn es schon in Handschriften des 12. Jahrhunderts erhalten ist. Daraus geht für jeden Urteilsfähigen hervor, auf wessen Seite die einwandfreie wissenschaftliche Methode ist. Endlich ist noch an eins zu erinnern: Zum Bestand unserer Geschichtsquellen kommen alle Tage neue Stücke hinzu. Bauarbeiten legen im Boden versteckte Gebäudereste bloß. Ein alter Buchdeckel platzt, man findet beschriebene Pergamentblätter, die als Füllmaterial darin stecken, und entziffert sie. Sie bestätigen das Geschichtsbild, das aus anderen Quellen gewonnen ist. Sollen wir annehmen, jene Gebäudereste und diese Pergamentzettel seien vor Jahrhunderten von bösartigen Fälschern versteckt worden mit der Berechnung, wir würden sie eines Tages entdecken und 2»

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Das Studium der Geschichte

dadurch erst recht in ein künstlich angelegtes Lügennetz verstrickt werden? Nein! Mit Recht hat Karl Brandi einmal bemerkt: In der Geschichtswissenschaft hat die Kontrolle durch nachfolgende Funde etwa denselben Wert wie anderwärts das Experiment. So kommen wir zu dem Schluß: Der Gedanke, ob nicht ein Riesenbetrug die Weltgeschichte entstelle, mag einmal gründlich erwogen werden. Wer jedoch nach solcher Prüfung an die Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit oder Tatsächlichkeit dieses großen Betruges glaubt, macht sich lächerlich. Das Studium der Geschichte Die Geschichtswissenschaft ist nicht systematisch aufgebaut, wie z. B. die Geometrie. Das hat seine besonderen Nachteile, aber auch wieder Vorzüge. Wer Geometrie lernen oder lehren will, kann nicht darüber im Zweifel sein, daß erst die Dreieckslehre abgemacht sein muß, bevor das Vier-, Fünf- und n-Eck an die Reihe kommen, daß die Planimetrie der Stereometrie voranzugehen hat. Das verleiht den Lehrgängen und Lehrbüchern eine gewisse Gleichförmigkeit; wer die Schule wechselt, wird anderwärts schnell herausfinden, an welcher Stelle eines fremden Lehrkursus er einzusetzen hat. Ganz anders die Geschichtswissenschaft. Wollte jemand sagen, sie verhalte sich mindestens insofern gleich, als hier doch offenbar der durch die Zeitrechnung vorgeschriebene Gang eingehalten werden müsse, also die Vorgeschichte und die Geschichte des Altertums an den Anfang zu stellen seien, Mittelalter und Neuzeit Fortsetzung und Schluß darzustellen hätten, so daß es sich dann nur noch darum handeln könne, die Hilfs- und Nachbarwissenschaften der Geschichte sinnvoll auf die einzelnen Abschnitte des Lehrgangs zu verteilen, so wäre zu antworten, daß das keineswegs notwendig und auch kaum durchführbar ist. Derjenige Student, der seine ganze Studienzeit an einer einzigen Universität verbringt, findet schwerlich immer gerade jene Vorlesungen angeboten, die ein solches Hören der ganzen Weltgeschichte in einer Reihe aufein-

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anderfolgender Semester möglich machten. Er fährt nicht schlechter, wenn er sich an das Dargebotene hält, mag er so auch die Römische Geschichte vor der Griechischen und die Stauferzeit vor der Geschichte der sogenannten Völkerwanderung hören. Daß jemand über alle Zeitabschnitte Vorlesungen hören müsse, wird nicht erwartet. Dem Aufmerksamen wird nicht entgehen, daß die Vorlesung vor dem Buche einiges voraus hat. Sie wird im allgemeinen die neuesten Ergebnisse der Wissenschaft rascher in sich aufnehmen als ein Buch — der langsame Herstellungsprozeß der Bücher erklärt diesen Unterschied ohne weiteres; sie kann auch besser in schwebende Streitfragen einführen und im Hörer einen mehr persönlichen Eindruck zurücklassen, der fester im Gedächtnis haftet als die Erinnerung an Gelesenes. Wer die Universität wechselt, wird noch stärker durch das zufällige Angebot von Vorlesungen sich bestimmen lassen müssen. Ja, es ist geradezu davor zu warnen, daß man am neuen Orte nur auf die Wichtigkeit der Stoffe sehe, wenn man seinen Stundenplan zusammenstellt. Viel mehr kommt es darauf an, auf alle Fälle die führenden Gelehrten zu hören, von denen man sich die größte Förderung versprechen kann, sollte man deswegen auch eine Vorlesung über einen schon früher gehörten Gegenstand in Kauf nehmen müssen. Auch von den Seminarübungen gilt, daß sehr viel auf den Meister und die Methode, weniger auf den Gegenstand ankommt. Kann man sich unter dem angekündigten Thema einer solchen Übung nichts sehr Anziehendes vorstellen, so traue man dem Veranstalter zu, daß er gute Gründe für seine Wahl gehabt haben wird. Ganz falsch aber wäre es, nach dem Vorstehenden anzunehmen, wir wollten die Frage: Wie wird man Historiker? beantworten: Indem man geschichtliche Vorlesungen hört und sich ihren Inhalt einprägt. Nein, dazu gehört viel mehr. Das Wichtigste ist, daß man so früh als möglich Fühlung mit den Quellen sucht und sie sein Leben lang aufrechterhält. Stellen wir uns einen Augenblick vor, man hätte uns gefragt: Wie wird man Kunsthistoriker? Wie wird man Ken-

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ner der Kunst Albrecht Dürers? Nichts könnte verkehrter sein als der Rat, alles käme auf Vorlesungshören und Bücherlesen an; zuerst müsse man alles Einschlägige lesen, dann sei es an der Zeit, die Werke des Künstlers aufzusuchen. Vielmehr wird fast das umgekehrte Verfahren zu empfehlen sein. Sehen lernen ist die große Aufgabe. Die großen Kunstwerke früh sehen und immer wieder sehen, das stehe im Mittelpunkt. Daneben wohl auch lesen und Kenntnisse aller Art sammeln, aber nicht die Originalwerke ansehen, um die Bücher zu verstehen, sondern die Bücher lesen, um die Originale recht zu erfassen. Die Unbefangenheit des Schauenden wird durch zu frühes Hinhören auf das, was andere gesehen und empfunden haben wollen, zerstört. Gerade sie aber kann neue wissenschaftliche Erkenntnisse erschließen. Wir gehen ja auch nicht ins Konzert, um festzustellen, ob der Zeitungskritiker Mozart richtig beurteilt hat, sondern um wieder einmal Mozart auf uns wirken zu lassen. Was für den Kunsthistoriker die Originale sind, sind für den Historiker die Quellen. Daher soll den eigentlichen Mittelpunkt des Studiums das Lesen von Quellen und das Erlernen der Methode bilden. Die Methode lernt man am besten durch Besuch von Seminarübungen, Durcharbeiten der dort gestellten Aufgaben und Befolgen der dort gegebenen Anregungen. Audi zum tieferen Eindringen in die Quellen wird man dort Anleitung erhalten. Indessen kann und soll der einzelne für sich ebenfalls Quellen lesen. Und er soll sich dabei den Ratschlag zunutze machen, den einer der erfolgreichsten Quellenleser, Jacob Burckhardt, einst seinen Studenten gab: immer so zu lesen, als gelte es, den vorliegenden Text zum erstenmal für die Wissenschaft auszubeuten, also sich ganz freizumachen von der lähmenden Vorstellung, alles, was ein spätgeborener Anfänger daraus entnehmen könne, sei doch sicherlich schon längst von gelehrteren Köpfen beobachtet und ausgewertet. Nein, man soll — nach Burckhardt — immer denken: „Es kann sein, daß im Thukydides z. B. eine Tatsache ersten Ranges liegt, die

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wird" 1 ).

erst in hundert Jahren jemand bemerken Diese Privatlektüre von Quellen wird zunächst zwar nicht so sehr auf die Gewinnung von Einzelheiten für eine Spezialarbeit ausgehen als auf vollständige Kenntnis größerer Werke, denn eben hierzu können Seminarübungen unmöglich Zeit erübrigen. Diese ausgedehnte Quellenlektüre darf deutsche Übersetzungen der fremdsprachlichen Texte benutzen. Nur muß dann auch eine tüchtige Menge Stoff bewältigt werden. Wer einen Autor auf lateinisch gelesen hätte, kann in der gleichen Zeit bequem zehn in der Übersetzung kennenlernen. Indessen soll damit nicht gesagt sein, die Lektüre der Ubersetzung sei gerade so gut wie die Lektüre des Originals. Wohin wir kämen, wenn ein derartiger Grundsatz sich durchsetzte, zeigt folgendes hübsche Beispiel. Ein Neger, George Padmore, schrieb in englischer Sprache ein Buch voller Anklagen über die Behandlung der Neger durch ihre weißen Herren. Unter dem Titel: Afrika unter dem Joch der Weißen erschien eine deutsche Übersetzung davon. Hier steht zu lesen, das Elend der Schwarzen sei noch gesteigert worden durch die Erfindung des Baumwollschnapses im Jahr 1793. Die geschäftige Phantasie des Lesers stellt sich unter diesem widerlichen Namen leicht einen teuflischen Trank vor. Aber sie geht in die Irre. Im Original steht cotton gin, und das bedeutet die Baumwoll-Entkörnungsmaschine. Ähnliches Mißgeschick kann jeden Tag passieren, wenn man sich blindlings den Übersetzern anvertraut. Der Historiker muß für das Verständnis der Quellen wie der neueren wissenschaftlichen Literatur gründliche und ausgedehnte Sprachkenntnisse besitzen und sie ständig erweitern. Ohne Latein wäre er ganz unbrauchbar; nicht nur Altertum und Mittelalter wären ihm verschlossen, selbst den Text des Westfälischen Friedens könnte er nicht ohne fremde Hilfe, die leicht irreführt, verstehen. Dabei sage er sich, daß Griechisch für das Altertum und weite Teile des Mittelalters unentbehrlich ist. Wer dem Englischen und ' ) Weltgeschichtliche B e t r a c h t u n g e n . B e r l i n u. S t u t t g a r t 1 9 0 5 , das u n m i t t e l b a r V o r a n g e h e n d e u n d F o l g e n d e ist sehr l e s e n s w e r t .

S.

20.

Auch

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Das Studium der Geschichte

dem Französischen hilflos gegenübersteht, ist auch kein Historiker. Und auch damit ist der Kreis des Wünschenswerten noch längst nicht umschrieben. Unter den Sprachen, zu denen man vom Germanischen oder Romanischen her keinen schweren Zugang hat, sind Niederländisch und Italienisch nebst Spanisch und Portugiesisch für viele geschichtliche Arbeiten notwindig. Wer Rankes große Werke liest und dabei die Anmerkungen nicht überschlägt, findet darin so viele italienische Sätze, deren Sinn sich teils aus den Mitteilungen in Rankes Text, teils aus dem Lateinischen oder Französischen ohne weiteres ergibt, daß er nicht mehr sehr viel Mühe aufwenden muß, um richtig Italienisch zu lernen. Auf die skandinavischen Sprachen und auf die stets zunehmende Bedeutung des Russischen nebst seinen slawischen Verwandten sei noch hingewiesen. Der ideale Historiker muß schon viel in sich aufnehmen. Dem Anfänger ist zu raten, jedenfalls Sprachstudien nachdrücklich zu betreiben. Wenn er den Mut hat, über das im allgemeinen Übliche hinauszugehen, werden seine Herkunft, vielleicht auch der künftige Wirkungskreis, für den er sich vorbereitet, seine Entschlüsse leiten. Der Holsteiner z. B. wird sich auch sprachlich auf die skandinavische Geschichte einstellen, der an Ostfragen Interessierte auf die russische und polnische usw. Im Lateinischen, Französischen und Englischen sollte jeder zu Hause sein. Neben der Quellenlektüre, die uns zu einem Exkurs über das Sprachenlernen verführt hat, wird die Lektüre bedeutender Geschidotswerke einen erheblichen Raum einnehmen müssen. Welche jeweils die bedeutendsten über ein bestimmtes Teilgebiet der Geschichte sind, sagt eine Tabelle im Anhang. Wer sie zu Rate zieht, sichert sich gegen die Gefahr, Mühe auf ein Buch zu verwenden, das wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen ist. Ebenso wichtig ist zu wissen, wie man lesen soll. Tatsachen aus den Büchern zu lernen, ist nicht der einzige Zweck. Man lege sich während des Lesens Fragen vor wie diese: Wie gliedert der Verfasser seinen Stoff? Ist diese Gliederung neu, und wird sie durch

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seine Darstellung bestätigt? Welchen Einfluß hat seine Weltanschauung auf Auswahl und Beurteilung des Mitgeteilten? Wie stellt er sich zu seinen Vorgängern? Man lese nicht gleichgültig über geographische Angaben hinweg, sondern benutze ständig den Atlas. Den Inhalt des Gelesenen wird man oft — wäre die Zeit nicht kostbar, so müßte es heißen immer — in einem kurzen Auszug festhalten. Besonders wichtig ist dies 1. bei klassischen Werken, deren ganzer Aufbau verstanden sein will und zu deren Grundgedanken man noch öfter zurückkehrt, 2. bei solchen Büchern, die uns nur vorübergehend und unter besonders günstigen Umständen zugänglich sind, so daß wir wohl oder übel später mit dem Auszug arbeiten müssen, wo das Werk selbst einen besseren Dienst täte. Bei Büchern, deren Hauptverdienst in einer schwer übersichtlichen Stoffsammlung besteht, kann man sich die Mühe des vollständigen Exzerpierens sparen, indem man nur das vom Arbeitsziel Geforderte notiert. So wenig wie das Hören der Vorlesungen muß die geschichtliche Lektüre mit dem grauen Altertum beginnen und mit der jüngsten Gegenwart endigen. Wir möchten ein ganz anderes Verfahren empfehlen. Man erkundige sich so früh wie möglich nach dem Gegenstand, der in den geschichtlichen Übungen des kommenden Semesters behandelt werden soll. Ob dies nun die Zeit des Cäsar und Pompejus oder der Investiturstreit ist oder die Französische Revolution, jedenfalls lese man, tunlichst bevor diese Übungen beginnen, eines der maßgebenden Bücher über den gewählten Stoff. Das wird sich sehr lohnen. Geschieht es nicht, dann leidet die Mitarbeit im Seminar an dem lästigen Übelstand, daß der Student immer nur den Punkt sieht, der kritisch untersucht werden soll, und die weitere Umgebung, in der dieser steht und ohne die man ihn nicht recht erfassen kann, ihm fremd bleibt. Mit dem Lesen von Geschichtsbüchern ist es nicht getan. Ein tüchtiger Historiker muß sich in weiten Bereichen der Dichtung auskennen. Die Bedeutung der deutschen und der fremden Klassiker versteht sich von selbst. Wer als mittel-

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alterlicher Historiker ernst genommen sein will, wird Dantes Divina Commedia nicht ungelesen lassen. Wer seinen Schülern vom Goldenen Jahrhundert der spanischen Kultur erzählt, wird, wenn er es nicht schon vorher tat, den Don Quixote lesen, damit er von diesem köstlichen Buch nicht zu reden braucht wie der Blinde von der Farbe. Und so wird jeder eine Menge ebenso wichtiger wie erfreulicher Pflichten auf seinem Wege finden. Wer einsieht, daß ihm die Kenntnis der dichterischen Kunstwerke unentbehrlich ist, um die Vergangenheit zu verstehen, wird auch für die Werke der bildenden Kunst aufgeschlossen sein. Auch sie sind ja Geschichtsquellen. Man suche sie so oft als möglich auf, wozu Reisen und Wanderungen die beste Gelegenheit bieten. Das Reisen und Wandern muß man dem Historiker aus vielen Gründen auf das dringendste empfehlen. Neben den städtischen Sehenswürdigkeiten locken die ländlichen und landschaftlichen. Noch tiefer als die Mehrzahl der aus Büchern gewonnenen Kenntnisse haftet es im Gedächtnis, wenn man einmal auf der Stadtmauer von Nördlingen entlang gegangen ist, im Kreuzgang der St. Viktorskirche in Xanten und in den Ruinen des Kaiserpalastes in Trier verweilt oder vom Turm der Petrikirche auf Lübeck herabgesehen hat. Mehrere große Historiker sind große Wanderer gewesen. So Ferdinand Gregorovius und vor allem Heinrich von Treitschke, von dem das schöne Wort stammt: „Man muß jeden Winkel Deutschlands durchstöbern, wenn man über deutsche Geschichte schreiben will." Er hat ganz recht: nirgends geht der Historiker leer aus. Aus solchen Reiseeindrücken kommen dann wieder Anregungen für Arbeit und Lektüre. Ober Kunstwerke, die uns ergriffen haben, möchten wir auch etwas hören oder lesen, und so wird mancher, der Kunstgeschichte nicht schon als Nebenfach betreibt, Lust bekommen, eine Vorlesung aus diesem Gebiet zu hören oder ein einschlägiges Buch zu lesen. Hier wollen wir zwar zureden, aber mit der Einschränkung: Bücher aus Nachbarfächern soll man lesen, aber nur die hervorragenden. Das Mittelmäßige und Un-

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bedeutende würde uns zu viel Zeit kosten; es zu kennen, haben wir ja keine Verpflichtung. Der Leser wünscht nun vielleicht, nachdem so vieles Notwendige und Wünschenswerte zur Sprache kam, noch klar umrissene Aussagen über das Ziel des Studiums und die Art, wie man sich auf Prüfungen vorbereiten soll. Niemand könnte daran denken, vom Studenten zu verlangen, daß er die Weltgeschichte in ihrem ganzen Umfang quellenmäßig studiert habe, denn dazu würden mehrere Menschenleben nicht ausreichen. Das höchste Ziel, das wir vernünftigerweise dem Studium stecken können, ist, so viel zu lernen, daß man grundsätzlich imstande wäre, jeden Punkt der überlieferten Geschichte unabhängig durch eigene Quellenforschung zu erhellen. Das klingt vielleicht anspruchsvoll. Wenn man indessen vom Physiker erwartet, daß er die verschiedensten Aufgaben experimentell lösen könne, so ist es nicht unbillig, vom Historiker derartiges zu verlangen. Zugleich ist damit ausgesprochen, daß ein Auswendiglernen großer Stoffmassen nicht gefordert wird. Die beste Vorbereitung auf das Examen ist ein gründliches Studium. Den Gedächtnisstoff kann man nicht entbehren, aber er ist nicht die Hauptsache. Das, was den Kandidaten im Verlauf seiner Studienzeit am stärksten gefesselt hat und worin er sich durch eigene Arbeit einen Grundstode von Kenntnissen angeeignet hat, wird den Mittelpunkt der Prüfung bilden. Denn es ist altes, sehr berechtigtes Herkommen, daß der Student vorwiegend nach den Geschichtsperioden gefragt wird, die er selber als seine Spezialgebiete bezeichnet. Gewöhnlich wird das so gehandhabt, daß er mindestens einen Zeitabschnitt aus dem Altertum, einen aus dem Mittelalter und einen aus der Neuzeit wählt, z. B. Perserkriege, Stauferzeit, Absolutismus. Natürlich können auch sachlich bestimmte Teilgebiete ausgesucht werden, wie römisches Heerwesen, städtische Wirtschaftsgeschichte im Mittelalter, Ideenlehre der neueren Revolutionen. Jedenfalls soll der Prüfling Gelegenheit finden, sich über solche Gegenstände auszusprechen, die ihm vertraut sind, wo er über die Quellengrundlage und über bedeut-

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Das Studium der Geschichte

samere wissenschaftliche Streitfragen Auskunft geben kann. Geht man an die eigentliche Examensvorbereitung heran, so hüte man sich von einer Überladung des Gedächtnisses mit N a m e n und Zahlen, die einem bis gestern noch gänzlich fremd waren und nun naturgemäß nicht recht haften wollen, aber desto mehr den Lernenden beunruhigen. Will man sich eine größere Entwicklungsreihe vergegenwärtigen, etwa Wachstum und Zerfall des römischen Weltreiches, die deutschen Königswahlen im Mittelalter oder die deutsch-englischen Beziehungen im 19. Jahrhundert, so stelle man f ü r jede nicht eine möglichst ausführliche, sondern eine möglichst knappe Tabelle auf und suche sich diese einzuprägen. Für diesen Zweck ist es besser zu versuchen, ob man nicht mit drei oder vier N a m e n und Zahlen auskommt, die entscheidende Wendepunkte bezeichnen, als 20 oder mehr Tatsachen zusammenzutragen und das Gedächtnis damit zu quälen. Uberhaupt hängt viel davon ab, daß man in den letzten Wochen und Tagen nicht nur Arbeit leistet, sondern sich auch Entspannung gönnt. Es soll nicht bewiesen werden, was der Mensch alles leisten kann, wenn er sich vollkommen auf das Auswendiglernen verlegt, sondern es soll sich zeigen, daß der Prüfling über ein gewisses M a ß von Kenntnissen verfügt, vor allem aber imstande ist, in einem Wechselgespräch seine ersten Aussagen zu ergänzen, zu berichtigen, zu weiteren Tatsachen in Beziehung zu setzen und so eine gewisse Fähigkeit zu wissenschaftlicher Gedankenbildung nachzuweisen. Mit den Prüfungen sind zumeist auch sogenannte Klausurarbeiten verbunden. Wer den Magister- oder Doktorgrad erwerben will, muß bekanntlich eine wissenschaftliche Abhandlung über einen noch nicht abschließend erörterten Gegenstand ausarbeiten. An beides sollte man nicht ohne Vorbereitung herangehen. Dabei ist nicht an das fachwissenschaftliche Lernen gedacht — davon war ja schon genügend die Rede —, sondern an die Übung im Schreiben. Es mag dahingestellt bleiben, ob die höheren Schulen ihren Zöglingen jenen Grad von Gewandtheit im schriftlichen Gebrauch

Die Geschichtsquellen

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der deutschen Sprache anerziehen, der eigentlich gefordert w e r d e n m ü ß t e . W e n n es der Fall sein sollte, so geht das E r lernte z. T . wieder verloren w ä h r e n d der Studienzeit, in der das A u f n e h m e n die Selbsttätigkeit stark in den H i n t e r g r u n d d r ä n g t . D a r u m empfiehlt es sich, schon in den f r ü h e r e n Semestern sich im Schreiben eines guten Stils zu üben. D a nicht viel Zeit d a f ü r a u f g e w e n d e t werden k a n n , nutze m a n die Lektüre, u m sich über die G r ü n d e k l a r z u w e r d e n , w o durch in einem Fall der Stil gefällig, im anderen u n e r f r e u lich w i r k t . Wer nicht d a z u k o m m t , einen großen A u f s a t z zu verfassen, schreibe einen kleinen, u n d w e r auch dazu zu stark beschäftigt ist, überlege sich, welche Disposition einem Stoff, den er genau kennt, am besten angemessen wäre. Blickt er noch gelegentlich in ein W e r k über guten deutschen Stil hinein, so ist schon das Wesentliche erreicht: er h a t gelernt, seine G e d a n k e n auf die Sprachform zu richten u n d befindet sich auf einem Wege, auf dem er — so hoffen wir — beständig fortschreiten k a n n u n d wird.

D i e Gesdiiditsquellen und die Hilfs- und Nachbarwissenschaften der Geschichte 1. Die

Geschichtsquellen

Schon mehrfach w a r v o n Geschichtsquellen die Rede, ohne d a ß wir erläutert hätten, was eigentlich d a r u n t e r zu verstehen sei. Quellen nennen wir alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gew o n n e n werden k a n n . D a ß dabei Texte zu e r w ä h n e n sind, leuchtet ohne weiteres ein. Bei Gegenständen brauchen wir nur an Steinbeile u n d Fibeln zu denken, dann sind w i r im Bilde. W a r u m aber gehören noch Tatsachen dazu? N u n , eine Tatsache, die einen Einblick in die Vergangenheit ermöglicht, ist z. B. die heutige Verbreitung der englischen Sprache über die Welt oder die heutige Verbreitung des niedersächsischen Bauernhauses. Für gewisse geschichtliche Untersuchungen müssen diese Tatsachen mit vielen ande-

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Die Geschichtsquellen

ren verglichen und ausgewertet werden, infolgedessen sind sie Geschichtsquellen. Die Einteilung der Geschichtsquellen kann nach vier Gesichtspunkten vorgenommen werden: a) nach dem Ursprung (ob zeitgenössisch oder entfernt; einheimisch oder fremd; unmittelbar oder mittelbar; privat oder öffentlich), b) nach dem Inhalt (Quelle für Geschichte des Krieges, der Rechtspflege, der Verwaltung, der Wirtschaft, der Kunst, der Religion usw.), c) nach dem Zweck (Bericht, Chronik, Urkunde, Brief), d) nach dem Erkenntniswert (Überrest oder Tradition) 1 ). Zu diesem zuletzt angeführten Gegensatzpaar ist noch etwas zu sagen. Unter Tradition ist alles zu verstehen, was aus der Absicht entspringt, der Mit- oder Nachwelt Kunde von Geschehenem zu übermitteln. Alle übrigen Quellen fallen unter den Begriff Überreste, vom steinzeitlichen Tongefäß bis zum Blüthnerflügel und vom Schulheft eines ABC-Schützen bis zu Goethes Faust. Denn es gibt auch Schriftquellen, die zu den Überresten zählen. Ja, auch das kann uns an dem — von gewissen Forschern bestrittenen •— Wert dieser Unterscheidung nicht irremachen, daß ein und dasselbe Stück gleichzeitig zur Tradition und zu den Überresten gehören kann. So sind z. B. das althochdeutsche Ludwigslied und Goethes Kampagne in Frankreich Tradition, soweit wir sie nach den sachlichen Mitteilungen über die Normannenschlacht bei Saucourt im Jahr 882 bzw. über den Feldzug gegen das revolutionäre Frankreich 1792 befragen. Richten wir unsere Aufmerksamkeit dagegen ausschließlich auf die Einstellung des Dichters zum Vaterland, zum König, zum Feind, zum Krieg, so sind beide Werke für uns Überrest. Um uns von der unendlichen Mannigfaltigkeit der Geschichtsquellen eine annähernde Vorstellung zu verschaffen, zählen wir einiges aus ihrer reichen Fülle auf. Da tritt uns unter den Überresten zu allererst entgegen das Land selbst mit den Resten menschlicher Arbeit, die es D i e verschiedenen Einteilungsmöglidikeiten erörtert A. von B r a n d t , Werkzeug des Historikers. S t u t t g a r t 1958, S. 58 ff.

Die Gesdiichtsquellen

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umwandelte durch Rodung, durch Anlage von Gräben, Kanälen und Wehrbauten. Aus der heutigen Landschaft die Urlandschaft zu rekonstruieren, ist eine Aufgabe, die im wesentlichen die Naturforscher und Geographen zum Nutzen geschichtlicher Betrachtung leisten. Dann folgen Reste von menschlichen Skeletten, Geräte, Schmuckstücke, Waffen, Kunstwerke. Diesen konkreten Überresten stehen die abstrakten gegenüber, zu allererst die Sprachen und die sicheren Tatsachen über deren gegenseitige Verwandtschaft. Ihnen schließen sich die Namen von Völkern, Personen, Ortschaften und Fluren an, wobei niemals die heute übliche Form allein betrachtet werden darf, sondern stets die älteste Gestalt ermittelt werden muß 1 ). Das heutige Dombühl z. B. würde einen zur Deutung Gerichtshügel verlocken, wenn nicht die früheren Formen eindeutig ergäben, daß Tannbühl = Tannhügel gemeint ist. Das ganze weite Gebiet des Brauchtums haben wir zu den abstrakten Überresten zu reciinen. Wir verlassen nun bewußt diese Einteilung und zählen im folgenden aus den vielen Arten und Typen der schriftlichen Quellen vor allem diejenigen auf, die älteren Kulturstufen angehören und daher dem, der sich noch nicht quellenmäßig mit Geschichte befaßt hat, nicht geläufig sind. Zu den Quellen der alten Geschichte gehören außer den griechischen und römischen Geschichtsschreibern u. a. die Papyri, d. h. die auf zwei Schichten von aufeinander gepreßten Streifen aus dem Stengelmark der Papyrusstaude geschriebenen Texte, und die Ostraka, d. h. die auf Tonscherben aufgezeichneten Notizen. Das Mittelalter hat vor allem Annalen und Chroniken hervorgebracht. Annalen sind von Hause aus formlos aneinandergereihte knappe historische Nachrichten, oft geben sie zu einer Jahreszahl einen einzigen kurzen Satz, ja, manchmal verzichten sie auch darauf und begnügen sich, 0 Im Vorbeigehen sei auf E d w a r d Schröder, N a m e n k u n d e , Göttingen 1938, und Peter von Polenz, Landschafts- und Bezirksnamen im frühmittelalterlidien Deutschland, Marburg 1961, verwiesen. Aus diesen Büdiern k a n n der H i s t o riker sehr viel lernen.

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Die Geschichtsquellen

ganz wie unsere Geschichtstabellen, mit Stichworten. Im Laufe der Zeit wird kein so scharfer Unterschied zwischen Annalen und Chroniken mehr gemacht. Dann tragen auch breit darstellende Werke den Titel Annalen. Chroniken sind Geschichtsbücher, deren Verfasser (im Gegensatz zu den Annalisten) ihren Namen nennen und ihren literarischen Ehrgeiz, mögen sie ihn auch hinter herkömmlichen Demutswendungen verstecken, dadurch bekunden, daß sie ihrem Werk einen Widmungsbrief vorausschicken und einen durchdachten Aufbau geben. Neben ihnen treten Biographien auf, die aber selten — wie einst im Altertum — Könige oder sonst hervorragende Männer in weltlichen Stellungen behandeln, vielmehr mit Vorliebe Heilige verherrlichen. Wie zu allen Zeiten spielen Briefe als Geschichtsquellen auch im Mittelalter eine Rolle. Freilich dienen die antiken wie die mittelalterlichen Briefe nicht dem ungehemmten privaten Mitteilungsbedürfnis. Man spürt ihnen an, daß sie nach schulmäßig erlernten Regeln abgefaßt sind, daß auch geistig hochstehende Briefschreiber die Genugtuung darüber, daß sie sich in diesem enggezogenen Rahmen leidlich gewandt bewegen, nicht ganz verleugnen können. Eine große Menge von Quellengattungen steht im Dienst des Rechtslebens. Gerade sie sind verhältnismäßig gut erhalten, denn sie behielten über die Dauer des einzelnen Menschenlebens Gültigkeit, während so vieles andere, was für uns Nachlebende unschätzbar wäre, achtlos der Vernichtung preisgegeben wurde. Die Hunderttausende von mittelalterlichen Urkunden sind eben darum auf uns gekommen, weil sie den Empfängern und ihren Erben Rechte verbrieften, deren Nachweis immer von Zeit zu Zeit notwendig und nur durch Vorzeigen der Originalurkunde oder einer beglaubigten Abschrift erbracht werden konnte. Neben den Originalurkunden spielen eine wichtige Rolle Urkundenregister und Kopialbücher. Unter jenen verstehen wir Bücher, in die vorwiegend auslaufende Urkunden eines und desselben Ausstellers, unter diesen Bücher, in die in der Regel eingelaufene, für einen und denselben Empfänger bestimmte Urkunden eingetragen

Die Gescfaichtsquellea

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sind. In dem Zeitraum, in dem das Ausstellen von privaten Urkunden sehr selten war — es ist das vorwiegend das 10. Jahrhundert —, sind oftmals die Einträge in sogenannte Traditionsbücher die einzige Beurkundung von Grundstücksübertragungen gewesen. Dazu kommen die großen Aufzeichnungen der Volks- und Stammesrechte, wie sie Westgoten, Burgunder, Ostgoten, Langobarden, salische und ribuarische Franken, Sachsen, Angelsachsen, Friesen, Thüringer, Bayern und Schwaben hinterlassen haben, und die viele Bände füllenden (und doch nur zu einem kleinen Bruchteil gedruckten) Weistümer. Darunter versteht man Aufzeichnungen über Recht, das nicht etwa im Augenblick neu beschlossen wird, vielmehr seit alters gilt und von den Kundigen von Zeit zu Zeit „gewiesen" wird. Im Worte selbst liegt keine Einschränkung auf einen bestimmten, etwa den bäuerlichen Rechtskreis. In der Tat gibt es Hunderte von sogenannten Reichsweistümern, d. h. Niederschriften über die allerverschiedensten Rechtsverhältnisse, wie sie der König von seiner fürstlichen Umgebung erfragt hat. Aber die überwiegende Masse der Weistümer beschäftigt sich mit den Rechten und Pflichten der Bauern und ihrer Grundherrschaften. Typisch mittelalterlich sind unter den Quellen zur Wirtschaftsgeschichte, denen wir uns hiermit genähert haben, die Aufzeichnungen, die eine Grundherrschaft über die ihr gehörigen Grundstücke und die ihr zustehenden Abgaben und Leistungen unterrichten, im frühen Mittelalter im Westfrankenreich Polyptycha, später allgemein Urbare genannt. Urbar bedeutet soviel wie Ertrag. Endlich ist der Totenbücher zu gedenken, in denen zu den einzelnen Kalendertagen die Namen der Insassen und Wohltäter einer geistlichen Anstalt verzeichnet wurden, die jeweils an diesem Tage gestorben waren und im Gebet berücksichtigt oder mit einer Seelenmesse bedacht werden sollten. Verbrüderungsbücher nennen die Namen aller derer, die in eine Gebetsverbrüderung eingetreten sind, wie solche im Mittelalter sich um ein besonders berühmtes Kloster oft weit über die Landesgrenzen hinaus bildeten. Kirn,

E i n f ü h r u n g in die Geschichtswissenschaft

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Die Geschichtsquellen

An die Spitze der für die frühe Neuzeit typischen Quellen sind die klassischen Erzeugnisse der in Italien sich bildenden Diplomatie zu stellen, die Depeschen und Relationen. Beides sind von Gesandten aufgesetzte Schriftstücke, aber zwisdien ihnen besteht ein wesentlicher Unterschied: Die Depeschen sind, wie wir es dem Namen entsprechend erwarten, die ursprünglichen Mitteilungen, mit denen der im Ausland lebende Gesandte seinen heimischen Herrscher oder seine vorgesetzte Behörde auf dem laufenden hält. Relationen aber sind kunstvoll ausgearbeitete Gesamtüberblicke über das Kräftespiel der hohen Politik und insbesondere die politische Haltung derjenigen Macht, bei der der Gesandte einige Jahre akkreditiert war. Die berühmtesten Relationen stammen von venezianischen Gesandten und wurden dort nach Rückkehr von dem Gesandtschaftsposten vor dem versammelten Senat vorgelesen. Hingerissen von der Farbenfülle dieser Zeitgemälde und noch mehr von dem reifen Geist kühl-sachlicher politischer Weltbetrachtung, der aus ihnen spricht, hat Leopold von Ranke in seinen ersten epochemachenden Büchern immer neue Aufschlüsse aus diesen Relationen mitgeteilt, die er zunächst in den Bibliotheken von Berlin und Wien, dann aber da, wo sie in unerschöpflicher Fülle zu finden waren, im Archiv zu Venedig aufsuchte 1 ). Sonstige charakteristische Quellen der neueren Zeit sind schnell aufgezählt. Eine große Rolle spielen natürlich die vielfältigen Verwaltungsakten. Da sind ferner die Einblattdrucke und Flugschriften, Zeitschriften und Zeitungen. Während bedeutende Selbstbiographien auch schon aus dem Altertum vorliegen und dem Mittelalter keineswegs fehlen, sind die eigentlichen Memoiren handelnder Staatsmänner für die Neuzeit charakteristisch. So bedenklich es wäre, wollte der Historiker ihre Aussagen unkritisch nacherzählen, so erwünscht ist es, daß er fleißig in diesen QuelVgl. Ranke, Werte Bd. 35/36, S. VI—XII und Bd. 42, 172—175. Ferner Willy Andreas, Scaatskunsc und Diplomatie der Venetianer im Spiegel ihrer Gesandcsdiaftsberichce. Leipzig 1943.

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len liest, die dem blassen Stoff geschichtlichen Wissens erst die rechte Farbe des Lebens verleihen. Um dem angehenden Geschichtsstudenten einige Ratschläge zur Lektüre solcher Memoiren zu geben, ist eine kleine Auswahl von Buchtiteln im Anhang mitgeteilt. 2. Die geschichtlichen Hilfswissenschaften Wenn wir uns an dieser Stelle darauf besinnen, womit wir uns im vorliegenden Kapitel beschäftigt haben, so ertappen wir uns dabei, daß wir uns mit einer der geschichtlichen Hilfswissenschaften einließen, nämlich mit der Quellenkunde. Dabei blieben wir aber im allgemeinen. Die spezielle Quellenkunde, für die hier kein Raum ist, würde uns die Frage beantworten: Welche Quellen gilt es für den oder jenen Zeitabschnitt, für dieses oder jenes Sachgebiet heranzuziehen? Für diesen Zweck nennen wir kurz die wesentlichsten Hilfsmittel. Die Quellen zur griechischen und zur römischen Geschichte sind knapp angeführt jeweils vor den einzelnen Abschnitten von Hermann Bengtson, Griechische Geschichte von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit, 2. Aufl., München 1960 und von dems., Grundriß der römischen Geschichte mit Quellenkunde I: Republik und Kaiserzeit bis 284 n. Chr., München 1966; vgl. ferner H. Bengtson, Einführung in die alte Geschichte, 5. Aufl., 1965, Arthur Rosenberg, Einleitung und Quellenkunde zur römischen Geschichte, Berlin 1921, und Alfred Heuß, Römische Geschichte, Braunschweig 1960. Für die deutsche Geschichte des Mittelalters ist das Hauptwerk Wilhelm Wattenbad}, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, 1. Band, 7. Auflage, Berlin 1904, 2. Rand, 6. Auflage, 1894; für die Merowinger- und Karolingerzeit jetzt neubearbeitet durch Wilhelm Levison und Heinz Löwe, Weimar 1952 bis 1963 mit einem Beiheft über die Rechtsquellen von

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Rudolf Buchner; bis zum Investiturstreit Neubearbeitung herausgegeben von Robert Holtzmann, 4 Hefte seit 1938. Knapper, nützlich besonders für die dort noch nicht behandelten Zeiträume ist Karl Jacob, Quellenkunde der dt. Geschichte im Mittelalter, 3 Bde., Sammlung Göschen Nr. 279, 280, 284, 6. Aufl. 1959 ff. Über die deutsche Geschichte hinaus führt R. C. van Caenegem, Kurze Quellenkunde des Westeuropäischen Mittelalters, Göttingen 1964. Für die Zeit nach dem Sturz der Staufer ist maßgebend Ottokar Lorenz, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter seit der Mitte des 13. Jhs., 2 Bde., 3. Aufl. Berlin 1886f.; daneben auch Max Jansen, Quellen und Historiographie der dt. Geschichte bis 1500, 2. Aufl. v. L. Schmitz-Kallenberg, 1914. Unentbehrlich für das Auffinden der Quellen ist immer nodi August Potthast, Bibliotheca histórica medii aevi. Wegweiser durch die Geschichtswerke des europäischen Mittelalters bis 1500,2Bde.,2. Aufl.Berlin 1896; derl.Band einer Neubearbeitung ist 1962 unter dem Titel „Repertorium Fontium Historiae Medii Aevi" erschienen. Minder gut ist für die Quellenkunde zur neueren Geschichte gesorgt. Nur folgende Werke bilden rühmliche Ausnahmen: Nach Inhalt und Methode haben noch immer außerordentliche Bedeutung die Ausführungen des Altmeisters Ranke, denen er den Titel gab: Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber. Sie erschienen 1824 als Anhang zu seiner Schrift über die germanisch-romanischen Völker. Vieles bringt Gustav Wolf, Einführung in das Studium der neueren Geschichte, 1910. Vor allem ist das Zeitalter der Reformation durch zwei sehr verdienstliche Werke erschlossen: Gustav Wolf, Quellenkunde der dt. Reformationsgeschichte, 3 Bände, Gotha 1917—1923; Franz Schnabel, Deutschlands geschichtliche Quellen und Darstellungen der Neuzeit. Bd. 1 (1500 bis 1550), Leipzig und Berlin 1931. Das zuletzt genannte Buch liest sich spannend. Im Gegensatz hierzu stehen die Bibliographien, die nur zum Nachschlagen dienen und für die Quellen, aber auch

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für die Darstellungen zur Geschichte die nötigen Buchtitel verzeichnen: Als Bücherkunden sind am bequemsten zu benutzen, wenn auch nicht immer zuverlässig, Günther Franz, Bücherkunde zur deutschen Geschichte, München 1951, und Bücherkunde zur Weltgeschichte vom Untergang des römischen Weltreiches bis zur Gegenwart, München 1956. Reiche Buchtitel sind mitgeteilt in allen Bänden der Cambridge Ancient History, Cambridge Medieval History und Cambridge Modern History, (dagegen leider nicht in der New Cambridge Modern History), ferner in der Historia Mundi. Für die deutsche Geschichte ist die grundlegende Bibliographie: Dahlmann-Waitz, Quellenkunde der deutschen Geschichte, 9. Auflage, in Verbindung mit 53 Gelehrten herausgegeben von Hermann Haering, Leipzig 1931; abgekürzt DW. Die 10. Aufl., herausgegeben im Max-Planck Institut für Geschichte von Hermann Heimpel u. Herbert Geuss, erscheint seit 1965 in Lieferungen. Will man Quellen und Literatur für irgendein Thema der deutschen Geschichte zusammentragen, so wird man zuerst hier suchen. Was da etwa noch fehlt, findet man teils schon beim Lesen der so ermittelten Bücher und Aufsätze, teils indem man daneben noch laufende Bibliographien und Zeitschriften befragt, um damit die Lücke zwischen etwa 1930 (das bis dahin Erschienene verzeichnet der DW) und heute auszufüllen. Für diesen Zweck sind die wichtigste laufende Bibliographie die Jahresberichte für dt. Geschichte, hrsg. seit 1927 (darin sind die Neuerscheinungen seit 1925 besprochen), N. F. seit 1952 (ab 1949); für die Lücke 1939—45 vgl. W. Holtzmann — G. Ritter (Hrsg.), Die deutsche Geschichtswissenschaft im Zweiten Weltkrieg, Bibliogr. d. hist. Schrifttums dt. Autoren 1939—1945, Marburg 1951. An Zeitschriften wird man heranziehen die Historische Zeitschrift, Historische Vierteljahrsschrift (1938 eingegangen), Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, für das Mittelalter das Deutsche Archiv für Erforschung des Mittelalters (bis 1935 Neues Archiv der Gesellschaft für ältere dt.

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Geschichtskunde genannt) und die Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte (in drei Abteilungen gegliedert: Germanistische, Romanistische, Kanonistische Abt.), sowie für die neueste Geschichte die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte mit der in Beilage dazu erscheinenden umfangreichen Bibliographie. Wichtige Buchbesprechungen — auch über das historische Fach hinàus — bietet die Deutsche Literaturzeitung. Unentbehrlich sind schließlich die Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung und die Blätter für deutsche Landesgeschichte1). Die International Bibliography of Historical Sciences (seit 1930 für die ab 1926 erschienenen Veröffentlichungen herausgegeben) greift über die deutsche Geschichte hinaus. Für die Geschichte unserer westlichen Nachbarn leisten den besten Dienst die französische Revue historique und die English Historical Review. Viel mehr bibliographische Angaben, als der Titel erwarten läßt, bietet die in Löwen erscheinende Revue d'histoire ecclésiastique. Wer spezifisch marxistische Literatur sucht und die entsprechende Geschichtsauffassung studieren will, wird die in Ost-Berlin erscheinende Zeitschrift für Geschichtswissenschaft benutzen. Das Angeführte mag den meisten genügen, den Bedarf des Anfängers schon weit übersteigen. Indes wollen wir doch darauf verweisen, daß in einzelnen Fällen weder die fertigen noch die laufenden Bibliographien den Wissensdurst des Forschers stillen. Tritt nämlich die Notwendigkeit ein, für eine Untersuchung auch die letzten noch ungedruckten Dokumente aufzuspüren, so müssen wir die Literatur über die Archive2) studieren, vor allem aber aus einer schon erworbenen Kenntnis des Gegenstandes heraus ermitteln, wohin wir uns zu wenden haben. Als gutes Beispiel für ein solches Verfahren kann die Abhandlung dienen, in der Paul Kalkoff 1912 darlegte, woher man etwa neue Aufschlüsse über Luthers römischen Prozeß gewinnen könnte 3 ). Da stellte er Fragen wie diese: Welche Ge1 2

) D i e Abkürzungen für diese Zeitschriften findet der Leser a u f S . 112. ) V g l . dazu A d o l f Brenneke — W o l f gang Leesdi, Ardiivkunde, Leipzig 1953. ) Paul K a l k o f f , Zu Luthers römischen P r o z e ß . G o t h a 1912.

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richtshöfe in Rom waren für Luthers Sache zuständig? Wohin sind deren Akten gekommen? Wo ist heute das Archiv der obersten Leitung des Dominikanerordens? Wo finden sich möglicherweise noch Briefe von Personen, die sich mit jenem Prozeß befaßten? Die Hilfswissenschaft der Quellenkunde hat es mit allen Arten von Quellen zu tun, aber es ist natürlich, daß die schriftlichen Quellen in ihr bei weitem den breitesten Raum einnehmen. Das wird dadurch wieder ausgeglichen, daß den gegenständlichen Quellen eigene Hilfswissenschaften zugeordnet sind. Sie werden ausgewertet von der Vor- und Frühgeschichte, der Archäologie und der Kunstgeschichte. Ohne deren Hilfe kann man solche stummen Quellen nicht zum Reden bringen. Wenn wir derart vornehme Wissensgebiete keck Hilfswissenschaften nennen, brauchen wir wohl das Mißverständnis nicht zu fürchten, wir wollten sie damit als Wissenschaften zweiten Ranges kennzeichnen, die kein Mann von Geschmack zu einem andern Zweck betreiben könne, als eben um eine Vor- und Hilfsarbeit für den Historiker zu erledigen. Vielmehr liegt es so: jedes Fach kann bald selbständig betrieben werden, bald, wenn die Zielsetzung sich geändert hat, als Hilfswissenschaft für ein anderes dienen. So kann z. B. jede Art von Philologie als Hilfswissenschaft der Geschichte und umgekehrt diese als Hilfswissenschaft für philologische Studien in Anspruch genommen werden. Spricht man ohne näheren Zusatz von geschichtlichen Hilfswissenschaften, so ist ein ganz bestimmter Kreis von Wissensgebieten gemeint, nämlich: Paläographie, Urkunden- und Aktenlehre, Chronologie, Siegel-, Wappenund Münzkunde. Es sind diejenigen Disziplinen, die zum unmittelbaren Verständnis geschriebener Quellen erforderlich sind. Die Paläographie ist die Lehre von der Entwicklung unserer abendländischen Schrift. Keiner, dem Gelegenheit geboten wird, sie zu erlernen, sollte das versäumen. Denn es ist nun einmal so, daß ein ganz erheblicher Teil unserer Geschichtsquellen niemals gedruckt werden wird. Zum

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Verständnis der gedruckten Texte ist die Paläographie aber durchaus nicht unnütz. Ganz im Gegenteil1). Zur sachgemäßen Beurteilung solcher Texte, die in alter oder neuer und neuester Zeit durch Lesefehler entstellt wurden, zum Erraten des Richtigen auf Grund einer falsch überlieferten Lesart bedarf es solider paläographischer Kenntnisse. Paläographische Beobachtungen halfen die Königinhofer Handschrift, die angeblich sehr alte tschechische Gedichte enthält, als modernes Machwerk entlarven. Es stellte sich auch heraus, daß zu den Miniaturen Berliner Blau verwendet ist, eine erst 1704 erfundene Farbe. Zugleich hat es einen eigenen Reiz, sich darin zu vertiefen, wie die Buchstaben gesetzmäßigen Stilwandlungen unterworfen wurden, und zu erkennen, inwiefern etwa ein romanisches M einem romanischen Tisch oder Stuhl und ein barockes M einem barocken Tisch oder Stuhl ähnlich sieht. Also selbst der geistesgeschichtlich Interessierte kommt bei der Paläographie auf seine Kosten. Man lernt dieses Fach in Übungen gründlicher und leichter, als wenn man auf Bücher angewiesen ist. Eine gute Ubersicht findet man im Handbuch der Bibliothekswissenschaft hg. v. Fritz Milkau, Bd. 1, 2. Aufl. 1950; auch Berthold Bretholz im Grundriß der Geschichtswissenschaft, 3. Aufl., Leipzig u. Berlin 1926, und Bernhard Bischoff in: Dt. Philologie im Aufriß, herausgegeben v. W. Stammler, Bd. 1, 2. Aufl. 1957, sind als gute Einführungen zu benutzen. Das beste Tafelwerk zum Eindringen in paläographische Probleme ist immer noch Franz Steffens, Lateinische Paläographie, 2. Aufl. 1929. Das umfassendste Werk, mit dessen Hilfe man die Schriftgeschichte, und zwar die der einzelnen deutschen Landschaften — verdienstvollerweise auch östlich der Elbe — studieren kann, sind die von Anton Chroust herausgegebenen Monumenta palaeographica (fast 700 vorzüglich wiedergegebene Schriftstücke), 3 Serien, München 1899 ff. Für Texte in deutscher Sprache ist maßgebend Erich Petzet und Otto Glauning, Deutsche Schrifttafeln des 9. bis 16. Jahr]

) Schon oben S . 18 f . hat uns die Paläographie einen großen Dienst geleistet.

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hunderts, 5 Bde., München 1910 bis 1930. Wichtig ist auch Joh. Ftcker und Otto Winckelmann, Handschriftenproben des 16. Jahrh. nach Straßburger Originalen, Straßburg 1902. Was die Paläographie für die literarischen Texte leistet, erfüllt die Urkundenlehre oder Diplomatik für die Urkunden. Den Ausdruck Urkunde sollte man nicht, wie es vielfach vorkommt, zur Bezeichnung beliebiger Quellen verwenden, sondern ihn ausschließlich solchen Schriftstükken vorbehalten, die zum Abschluß eines Rechtsgeschäfts oder zum Zeugnis über ein solches dienen und mit entsprechenden Beglaubigungsmitteln versehen sind. Die ersten Leistungen auf dem Gebiet der Diplomatik sind von praktisch-juristischen Bedürfnissen hervorgerufen worden, als es galt, die Echtheit oder Unechtheit von Urkunden festzustellen, die in einem Prozesse als Beweismittel vorgebracht wurden. Wenn man weiß, wie hoch der Anteil ganz oder teilweise gefälschter Stüdke am Gesamtbestande der heute noch vorhandenen mittelalterlichen Urkunden ist, kann man ermessen, wie lange die Wissenschaft hier dringend notwendige Arbeit zu verrichten hatte, bis die Lage in den Hauptzügen geklärt war. Damit soll indes nicht gesagt sein, daß nicht heutigentages noch mancherlei ungelöste Aufgaben beständen. Inzwischen aber hat die Diplomatik eine Menge von Fragen aufgeworfen und untersucht, die ihr ein weit über die ursprünglich allein gesuchte Entscheidung über echt oder unecht hinausreichendes Interesse verleihen und einen bedeutsamen Einblick in Technik und Geist der Staatsverwaltung im Mittelalter gestatten. Das Verfahren, mit dessen Hilfe die Diplomatik nach und nach zu sicheren Ergebnissen gelangte, ist der Vergleich von möglichst vielen Urkunden, und es läßt sich leicht denken, wie sehr die Ausbreitung und Verbilligung der Photographie fördernd und umwälzend gewirkt hat. Seitdem ist der Forscher nicht mehr darauf angewiesen, außer den Stücken, die etwa ein einziges Archiv beherbergt, mehr oder minder gut gelungene Durchzeichnungen und seine Erinnerungen an auswärts gesehene Originale dem

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Vergleich zugrunde zu legen. Eine richtig angelegte Untersuchung wird immer zunächst die äußeren Merkmale auszuschöpfen suchen, also Pergament oder Papier (man nennt das den Beschreibstoff), Schrift und Monogramm, Kanzleivermerke, Siegel u. ä. prüfen. Wer anders vorgeht und sich vorschnell eine Meinung darüber bildet, ob er zum Inhalt im ganzen oder zu einzelnen Teilen Zutrauen hat oder nicht, kann bis zu dem Grade die Unbefangenheit verlieren, daß er äußere Kennzeichen übersieht, die ihn auf eine andere Spur hätten leiten können. Bei den unzähligen Urkunden, die nicht mehr als wirkliche oder angebliche Originale existieren, fallen ja diese Merkmale ganz aus. Aber auch hier gilt, daß die sprachliche Form erst untersucht sein muß, bevor man zum Inhalt Stellung nimmt. Sind Entwürfe und Konzepte erhalten, womöglich solche, die eine Reihe von Abänderungen des ursprünglichen Textes erkennen lassen, so kann die diplomatische Forschung das vollauf leisten, was ihr als ideales Ziel stets vorschwebt: die Urkunde nicht als etwas Fertiges hinzunehmen, sondern ihren Werdegang Schritt für Schritt zu verfolgen. Was für die Urkunden des Mittelalters gilt, gilt auch für die Akten der Neuzeit. Man sehe sich einmal Bismarcks Entlassungsgesuch an, von dem die erste und die letzte Seite als Faksimile dem 8. Band der (alten) Propyläen-Weltgeschichte (zwischen S. 376 und 377) beigegeben ist. Wie viel mehr sagt ein solches Blatt als ein glatter Abdruck des endgültigen Wortlauts! H a t man erst einen Blick dafür bekommen, was für reiche Aufschlüsse Urkunden und Akten dem Forscher geben, so wird man auch beim Lesen großer Geschichts werke sich immer von neuem überzeugen, daß die urkundliche und aktenmäßige Grundlage eine wesentlich verstärkte Sicherheit bedeutet gegenüber dem, was nur in erzählenden Quellen berichtet wird. An den drei frühesten Hauptwerken Rankes ist folgende Steigerung zu erkennen: Seine Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1534 beruhen auf gedruckten Scriptores ( = erzählenden Quellen), die Geschichte der Päpste auf ungedruckten Relationen. Bei der Deutschen Geschichte im

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Zeitalter der Reformation ging er nodh einen Schritt weiter: er schrieb sie großenteils nach den Akten. Audi die Urkundenlehre ist besser im Hochschulunterricht als aus einsamem Bücherstudium zu erlernen. Die wissenschaftlich besten und lesbarsten Darstellungen verfaßte für die Köhigsurkunden Wilhelm Erben 1907, für die Privaturkunden Oswald Redlich 1911 (beide imHdBMNG) und für die Papsturkunden Ludwig Schmitz-Kallenberg (2. Aufl. 1913 in MeistGr.). Förderlich ist auch Richard Hellbergers Allgemeine Urkundenlehre für Deutschland und Italien (1921; ebenfalls in MeistGr.; gedrängte Darstellung auf einem vom Verleger äußerst knapp bemessenen Raum). Das zweibändige Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien von Harry Bresslau (2./3. Aufl. Berlin 1958 bis 1960) ist für Forschungszwecke unentbehrlich, eignet sich aber weniger zur zusammenhängenden Lektüre. Als Urkunden* und Aktenlehre der Neuzeit ist das Buch von Heinrich Otto Meisner, 2. Aufl. Leipzig 1952, zu nennen. Da die Urkunden zumeist besiegelt sind und zum Verständnis der Siegel wiederum die Wappenkunde unentbehrlich ist, sind die Fächer Sphragistik oder Siegelkunde und Heraldik oder Wappenkunde gewissermaßen nächste Nachbarn der Urkundenlehre. Das Wichtigste über sie erfährt man wiederum aus dem HdB MNG, wo 1914 Wilhelm Ewald die Siegelkunde und (weniger gut) Felix Hauptmann die Wappenkunde bearbeitet haben, und aus MeistGr., wo Theodor Ilgen und Erich Gritzner die entsprechenden Abschnitte 1912 verfaßten. Der Heraldik steht wieder die Münzkunde oder Numismatik nahe, die vor allem der Wirtschaftshistoriker nicht entbehren kann. Im HdB MNG ist sie 1926 von Arnold Luschin von Ebengreuth und Ferdinand Friedensburg dargestellt. Gute Dienste tun auch das Wörterbuch der Münzkunde von Fr. Frhr. v. Schrötter, Berlin 1930, sowie Arthur Suhle, Deutsche Münz- und Geldgeschichte von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert, Berlin 1955, und Hans Gebhart, Numismatik und Geldgeschichte, Heidelberg 1949.

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Als Zeitschrift wichtig sind die Hamburger Beiträge zur Numismatik, hg. v. Walter Hävernick. Noch einmal aber müssen wir insofern zur Diplomatik zurücklenken, als die Zeitrechnungslehre oder Chronologie in engstem Zusammenhang mit den Urkunden steht. Sie ist für die praktische Arbeit nicht zu entbehren, denn die Zeitangaben in Urkunden (und erzählenden Quellen) sind dem Ungeübten keineswegs immer klar verständlich. Darüber hinaus bringt sie den Historiker in Berührung mit naturwissenschaftlichen Tatsachen und Überlegungen, und schließlich hat sie eine hochinteressante geistesgeschichtliche Seite — ist doch ein Stück des Kampfes der christlichen Religion gegen die antik-heidnische und gegen die germanische aus den Benennungen der Wochentage abzulesen. So darf der Student sich von einer Belehrung über die wesentlidien Tatsachen der Chronologie, die nicht notwendig als trokkene Wissenschaft gelten muß, allerhand versprechen. Als kurzen Hinweis darauf, was sie etwa zu bieten hat, seien vier Tatsachen angeführt, die man gemeinhin nicht zu wissen pflegt: 1. Die siebentägige Woche taucht zuerst im ersten Jahrhundert n. Chr. auf. 2. Das Weihnachtsfest wird erst seit rund 350 am 25. Dezember gefeiert. 3. Vor 1680 hat niemand konsequent Jahre von Christi Geburt gezählt. 4. In England galt bis 1751 der 25. März als Jahresanfang. Man muß also bis zu diesem Zeitpunkt die von den Quellen überlieferten Tagesdaten vom 1. Januar bis 24. März mit der nächstfolgenden Jahreszahl versehen, um den Einklang mit unserem Kalender herzustellen. (Vgl. oben S. 5 die Bemerkung über die Jahreszählungen in Papsturkunden.) Eine lesbare knappe Darstellung der Chronologie lieferte Hermann Grotefend (ein Enkel des Georg Friedrich Grotefend, dem es 1802 gelang, die Keilschrift zu entziffern) in Meisters Grundriß der Geschichtswissenschaft, 2 Aufl. 1912. Die darin enthaltenen Tabellen helfen ebenso wie die

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in Hans Lietzmann, Zeitrechnung der röm. Kaiserzeit, des Mittelalters und der Neuzeit, 3. Aufl. 1957 (Sammlung Göschen N r . 1085) auch zum Auffinden vieler Daten. Wer vorzugsweise im Mittelalter arbeitet, wird Grotefends Taschenbuch der Zeitrechnung des dt. Mittelalters und der Neuzeit (10. Aufl. hrsg. von Th. Ulrich, Hannover 1960) nicht entbehren können, weil darin die Heiligentage des Kalenders bei weitem eingehender verzeichnet sind. Häufig wird auch dieser sogenannte „kleine Grotefend" nicht ausreichen und des gleichen Verfassers zweibändige Zeitrechnung des dt. Mittelalters und der Neuzeit, Hannover 1891 bis 1898, herangezogen werden müssen; sie zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß darin die Heiligentage für alle deutschen Diözesen gesondert mitgeteilt werden. Mit Hilfe dieser Übersichten kann man viele sonst unverständliche Zeitangaben klären. Wer ohne vorangehende Beschäftigung mit den Grundlagen der Chronologie einzelne Daten aufschlagen will, findet eine für normale Fälle ausreichende Anleitung dazu im „kleinen Grotefend" S. 130 ff. Eine für den Anfänger außerordentlich geeignete Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften insgesamt gibt A. von Brandt, Werkzeug des Historikers, 4. Aufl. 1966 (Urban-Bücher Nr. 33); darin auch treffliche Literaturangaben. 3. Teilgebiete und Nachbarwissenschaften der Geschichte Diejenigen Fächer, die man einigermaßen beherrschen muß, um die schriftlichen und gegenständlichen Geschichtsquellen sachgemäß zu deuten, lassen sich leichter vollständig aufzählen als jene, die in einem Verhältnis gegenseitigen Austausches mit der Geschichtswissenschaft stehen oder eines ihrer zahlreichen Teilgebiete zum Gegenstand haben. Zu der ersten Gruppe rechnen wir vor allem die historische Geographie. An keiner Stelle seiner Arbeit kann der Historiker sie entbehren. Ein vielseitig verwendbares Erzeugnis dieser Wissenschaft sind historische Karten. Solche in einwandfreier Form herzustellen, bedarf mühseliger

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und zeitraubender Untersuchungen, wie sie ein einzelner Forsdier kaum unternehmen kann. Daher ist es sehr zu begrüßen, daß die vielen in den deutschen Ländern bestehenden historischen Kommissionen und Vereine wohl ausnahmslos historische Kartenwerke herausgeben oder vorbereiten. Auch wer sich darauf beschränken darf, die Früchte solcher Arbeit zu genießen, bedarf dazu umfangreicheren Wissens und größerer Vorsicht, als gemeinhin geglaubt wird. Nehmen wir einmal an, wir hätten eine Karte des mittelalterlichen Königsgutes im Rheinland vor uns und außerhalb des Rheinlandes wären königliche Güter nicht eingezeichnet, obwohl die Karte an den Rändern erhebliche Teile der Nachbarlandschaften zeigte. Bedeutet das, daß dort keine Königsgüter vorhanden waren, oder ist grundsätzlich in solchen Fällen alles Nachbarland außerhalb der Provinzgrenze leer gelassen worden? Nun, diese Frage beantwortet sich leicht durch einen Blick auf die übrigen Karten und vielleicht in die Vorbemerkungen zum Atlas. Wollen wir aber weiter aus der Karte das Königsgut für einen bestimmten Termin ablesen, sagen wir für 1152, den Regierungsantritt Barbarossas, so müssen wir wissen: Was verstand der Kartenzeichner unter „mittelalterlich"? H a t er etwa durch beigesetzte Zahlen jedesmal vermerkt, seit wann am genannten Ort Königsgut bezeugt ist, und auch gegebenenfalls, wann einzelne Güter vom König aus der Hand gegeben wurden? Mit anderen Worten: Wir werden meist die wissenschaftlichen Unterlagen ermitteln müssen, die der Kartenzeichner bildlich auszudrücken strebte. Tatsächlich pflegen gute Geschichtsatlanten diese anzuführen. D a eine Karte nur ausnahmsweise Angaben, die auf wohlbegründeter Vermutung beruhen, anders eintragen kann als solche, die völlig sicher überliefert sind, werden wir oft die angeführte Literatur noch selber durcharbeiten müssen. Also bedienen wir uns der modernen historischen Karte nicht wie einer Quelle, sondern wie einer Darstellung und gehen nötigenfalls auf deren Quellen zurück. Das ist der Grund, weshalb wir oben (S. 29) zwar die Verbreitung der englischen Sprache über die Welt und

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die Verbreitung des niedersädisischen Bauernhauses als Tatsachen von Quellenwert angeführt, uns aber gehütet haben zu sagen: eine Karte, die diese Erscheinungen darstelle, sei für uns Quelle. Das wäre dann der Fall, wenn der auf der Karte dargestellte Tatbestand nicht mehr existierte. So ist z. B. eine wertvolle Quelle für die Geschichte Pommerns jene Karte, die die Schweden aufgenommen haben, als sie im Dreißigjährigen Kriege Herren Vorpommerns geworden waren. Den damaligen Stand der Besiedlung kann man aus ihr kennen lernen, in der Landschaft direkt beobachten kann man ihn nicht mehr. Wie leicht man in Irrtümer verfällt, wenn man die Aussagen einer Karte ohne Kenntnis ihres Zustandekommens leichtgläubig verwertet, lehrt folgendes Beispiel: In einem Geschichtsatlas sind die Grenzen der römischen Provinz Rhaetia dargestellt. Jemand sieht das und verkündet frohlockend : sie decken sich auf der Strecke, die ihn interessiert, haarscharf mit denen einer mittelalterlichen Diözese und liefern einen neuen Beweis dafür, daß Grenzen der Römerzeit oft in kirchlichen Grenzen des Mittelalters weiterleben. Wie peinlich muß es ihm sein, nachträglich zu erfahren, daß der Kartenzeidbner jene Ubereinstimmung der Grenzen als gesicherte Tatsache vorausgesetzt und eben einfach die Diözesangrenze gezeichnet und Provinzgrenze benannt hat! Es liegt also ein Zirkelschluß von seltener Schönheit vor 1 ). Während die historische Geographie für das Altertum schon von Rudolf Kiepert (1818—1899) vorbildlich gepflegt wurde, sind für Mittelalter und Neuzeit noch keine voll befriedigenden Gesamtdarstellungen vorhanden. Eine vortreffliche Einführung schrieb Rudolf Kötzschke 1906 in Meisters Grundriß. In Below u. Meineckes Handbuch hat Konrad Kretschmer 1904 die historische Geographie behandelt, in der „Geschichte der führenden Völker" Hugo Hassinger über die geographischen Grundlagen der Geschichte geschrieben (2. Aufl. 1953). Unter den historischen I h n dedtte auf Richard Heuberger in seinem Budie Rätien im Altertum und Frühmittelalter. Bd. 1, Innsbruck 1932, bes. S. 99.

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Atlanten ist der von Spruner und Menke (3. Aufl. 1880) noch immer unentbehrlich; von neueren, auch methodisch modernen sind vor allem zu empfehlen der Große historische Weltatlas, der in drei Bänden in München seit 1954 erscheint (1: Vorgeschichte und Altertum, 3. Aufl. 1958; 3: Neuzeit, 2. Aufl. 1962) und dem auch Erläuterungen beigegeben sind (Teil 1, 3. Aufl. 1958), und Westertnanns Atlas zur Weltgeschichte, 4. Aufl. Braunschweig 1963; daneben kürzer Putzger, Hist. Weltatlas, 88. Aufl. Bielefeld 1965. Ähnliche Aufmerksamkeit wie die historische Geographie verdienen die Bevölkerungsgeschicbte und die mit ihr zusammenhängende Genealogie oder Sippenkunde. Eine Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1913, die die Volkszahl als Faktor und Gradmesser der historischen Entwicklung behandelte, schloß mit dem Satz: „Erst wenn dieser Weg durchmessen sein wird (d. h. alle noch erreichbaren oder erschließbaren Angaben über Bevölkerungszahlen in historischer Zeit ausgewertet s i n d ) , . . . kann die Geschichte das werden, was sie heute noch nicht ist, wenigstens noch nicht im vollen Sinne des Wortes, was sie aber werden muß, eine Wissenschaft"1). Das ist stark übertrieben. Aber man muß zugeben, daß wir im Verstehen der ursächlichen Zusammenhänge ein gutes Stück weiterkämen, wenn wir die größtmögliche Klarheit über die Bevölkerungsbewegung in der Vergangenheit besäßen. Grundlegendes Material dazu findet man in Ernst Kirsten u. a., Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte, 2. Aufl. Würzburg 1957. Nicht etwa nur als Anleitung, wie man die eigene Familiengeschichte erforschen kann, sondern mehr noch, um gewisse grundlegende Einsichten in die Volksgeschichte zu gewinnen, lohnt sich eine Beschäftigung mit der Genealogie. Wenn man erst einmal versucht hat, die eine oder andere Ahnentafel oder Nachkommenschaftstafel aufzustellen und auf eine Erscheinung wie den Ahnenverlust gestoßen ist und darüber nachgedacht hat, ist man der Lebenswirklichkeit Volk näher gekommen. Eine kurze Darstellung gab ') K a r l Beloth in H Z 111 (1913), 337.

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Otto Forst de Battaglia, Wissenschaftliche Genealogie, Bern 1948 (Sammlung Dalp Nr. 57). Tiefer führt in die Probleme ein Friedr.v.Klocke, Die Entwicklung der Genealogie vom Ende des 19. bis z. Mitte des 20. Jhdts., Schellenberg b. Berchtesgaden 1950. Als Tafelwerk zur Genealogie haben sich besonders bewährt die Stammtafeln zur Geschichte der europäischen Staaten von Wilhelm Karl Prinz v. Isenburg, 2. Aufl., Marburg 1953 ff. Als das erste und zugleich wichtigste unter den Teilgebieten der Geschichte ist die Rechts- und Verfassungsgeschichte zu nennen, die Lehre von den Formen und Kräften des staatlichen Lebens in vergangener Zeit. Es ist nicht stark übertrieben, wenn man sagt, sie verleihe der sonst bloß erzählenden Geschichte erst klare Konturen; jene zeigt das Was des Geschehens, diese fügt das Wie hinzu, und damit nähern wir uns auch einigermaßen dem Warum. Diese Rechts- und Verfassungsgesdiidite denken wir uns nicht engherzig auf ein Lebensgebiet beschränkt; sie darf und muß vieles aus der Verwaltungs-, der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in sich aufnehmen. Aus Büchern allein ist sie schwer zu erlernen. Man höre schon innerhalb der ersten drei Semester eine Vorlesung darüber, die den Anfänger besser durch die unendlichen Klippen von Streitfragen hindurchsteuert und ihm vielleicht auch durch Interpretation besonders wichtiger Quellenstellen Hilfen gibt und ihn zum eigenen Arbeiten auf diesem dornigen Boden anleitet. Zum Lesen kann man — mit dem Vorbehalt, daß knappe Übersichten eher zum Wiederholen als zum ersten Eindringen geeignet sind — folgende Werke empfehlen: Claudius Frhr. v. Schwerin, Grundzüge der dt. Rechtsgeschichte, 4. Aufl. v. H. Thieme, 1950; Hans Fehr, Dt. Rechtsgeschichte, 6. Aufl. 1962; als „Lernbuch" Heinrich Mitteis, Dt. Rechtsgeschichte, 9. Aufl. v. H. Lieberich, 1965. Nur die germanische und die fränkische Zeit behandelt das trotz manchen inzwischen überholten Einzeläußerungen im ganzen vortreffliche Buch von Heinrich Brunner, Dt. Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 1906—28, 2 Bde., der zweite durch v. Schwerin neu bearbeitet. Das genauere Studium Kirn,

Einführung

in d i e G e s d i i d i t s w i s s e n s d i a f t

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yon Einzelfragen wird stets durch Zurückgehen auf die klassische Dt. Verfassungsgeschichte [bis 2. 12. Jh.] von Georg Waitz (8 Bde., Neudruck 1953—55) gefördert werden. Die vollständigste Zusammenfassung der älteren Forschung bietet Riebard Schröders Lehrbuch der dt. Rechtsgeschichte (7. Aufl. v. E. Frhr. v. Künßberg, Berlin u. Leipzig 1932). Von neueren Gesamtdarstellungen ist vor allem zu benutzen Hermann Conrad, Dt. Rechtsgeschichte, bisher 2 Bde., Karlsruhe (2. Aufl.) 1962 u. 1966. Auf die Neuzeit beschränkt sich Fritz Härtung, Dt. Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 7. Aufl. 1959. Speziell mit der Zeit seit der Französischen Revolution befaßt sich die große Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 von Ernst Rudolf Huber (1957 ff.), von der drei Bände vorliegen, dazu drei Bände mit Dokumenten (1961—66). — Von spezielleren Werken sind am wichtigsten und übrigens gut lesbar Rudolf Hühner, Grundzüge des dt. Privatrechts, 5. Aufl. Leipzig 1930; Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967; Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. Göttingen 1965. Für das Kirchenrecht ist heranzuziehen Hans Erich Feine, Kirchl. Rechtsgeschichte I, 4. Aufl. Weimar 1964. Die Wirtschaftsgeschichte bleibt, auch wenn man sich von ihrer da und dort beliebten Überschätzung fernhält, ein sehr wichtiges Gebiet. Kein Unbefangener wird in der Wirtschaft die vorherrschende oder gar allein treibende Kraft der geschichtlichen Bewegungen sehen, aber zu ihren wichtigen Bedingungen gehört sie ohne Zweifel. Ihre Quellen laden den allgemein Interessierten nur ausnahmsweise zu genußreichem Lesen ein: die Lebensgeschichte jenes Godric aus Norfolk, der als Hausierer begann, seefahrender Kaufmann wurde und als Heiliger 1170 endete 1 ), oder die Lebensbeschreibungen hansischer Kaufleute fesseln durch menschlich interessante Züge. Ein altes Kaufmannsbüchlein wird den meisten Lesern nur durch eine gute Einleitung und reichliche Anmerkungen mundgerecht ') W . V o g e l , E i n s e e f a h r e n d e r K a u f m a n n u m 1100, H a n s . G e s d i i d i t s b l . 1912.

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gemacht werden können, und bändeweise Zollregister zu lesen ist nur Sache des Forschers, der aus dem Stoff etwas gestalten will. D a andererseits auch wesentliche Veränderungen im wirtschaftlichen Gefüge nur ausnahmsweise und bruchstückhaft in den allgemeinen Geschiditsquellen zur Sprache kommen, erhalten die modernen Darstellungen ein erhöhtes Gewicht. Erst in ihnen werden jene Veränderungen uns sichtbar und lebendig. Solche Werke sind: Für die antike Wirtschaftsgeschichte Tenney Frank, An Economic Survey of Ancient Rome, 5 Bde., Baltimore 1933—40. Nicht ganz so ausführlich ist Michael Rostovtzeff, Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich, 2 Bde. Leipzig 1931; bedeutend auch sein ebenfalls ins Deutsche übersetztes fundamentales Alterswerk Gesellsdiafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt, 3 Bände, Darmstadt " " ' :n Wirtschaftsgeschichte erscheint Economic History of Europe; daneben sind unentbehrlich Josef Kulischer, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, 2 Bde., 2. Aufl. München 1958, und Hans Haussherr, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, 3. Aufl. Köln 1960. Für die deutsche Geschichte vermittelt einen guten Überblick Friedrich Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 3. Aufl., Berlin 1966. Für das Mittelalter sind die besten Zusammenfassungen Rudolf Kötzschke, Grundzüge der deutschen Wirtschaftsgeschichte bis zum 17. Jahrhundert, 2. Aufl., 1921 (Meist.Gr.) und derselbe, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, Jena 1924. Sehr wertvoll und gut lesbar sind ferner Walter Stein, Handels- und Verkehrsgeschichte der deutschen Kaiserzeit, Berlin 1922; Aloys Schulte, Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien, 2 Bde., Leipzig 1900; derselbe, Die Ravensburger Handelsgesellschaft, 3 Bde., Stuttgart, Berlin 1923; Adolf Schaube, Handelsgeschichte der romanischen Völker des Mittelmeergebiets bis zum Ende der Kreuzzüge, München und Berlin 1906 (HdB M N G ) ; Gustav Stolper u. a., Deutsche Wirtschaft seit 1870, 2. Aufl. Tübingen 1964. 4*

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Teilgebiete und Nachbarwissensdiaften

Schon des öfteren mußten wir, wenn wir v.on der Ausbildung des Historikers sprachen, der Kunstgeschichte gedenken. Es wäre Zeitverschwendung, wollten wir erst nachweisen, daß die einem Volk und einer Zeit innewohnenden Kräfte ihren feinsten Ausdruck im künstlerischen Schaffen finden, in den bildenden Künsten, aber auch in Dichtung und Musik. So wie also der Kunsthistoriker sich um geschichtliche Allgemeinbildung und Kenntnis der historischen Methode bemühen muß, so der gewöhnliche Historiker um kunstgeschichtliche Bildung. Daher wollen wir hier nur noch ein paar Hauptwerke nennen, aus denen besonders wertvolle Eindrücke zu gewinnen sind. Als Gesamtdarstellung ist Georg Dehio, Geschichte der dt. Kunst, 4. Aufl., 3 Doppelbände, dazu ein vierter von Gustav Pauli, Berlin 1930—34, nicht übertroffen. Sodann greife man zu den Schriften von Heinrich Wölfflin, vor allem Grundbegriffe der Kunstwissenschaft (1915), Die klassische Kunst (behandelt die italienische Renaissance, 1899) und Die Kunst Albrecht Dürers (1905); alle seither in vielen Auflagen. Das weite Gebiet der Wissenschaftsgeschichte kann hier natürlich auch nicht andeutend durchmessen werden. Es liegt auf der Hand, daß die dem Historiker zumeist fernerliegende Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik in Zukunft stärkere Beachtung erheischen wird. Von den geisteswissenschaftlichen Fächern liegt uns unser eigenes am nächsten. Wir arbeiten uns in seine Geschichte immer tiefer hinein, indem wir nadi und nach das Beste, was an Forschungen und Darstellungen vorliegt, lesen. Die Werke, die ihren Werdegang ganz oder teilweise behandeln, sind S. 113 f. angeführt. Zu den besten Werken über Wissenschaftsgeschichte zählt auch ohne Zweifel das Lehrbuch der Geschichte der Philosophie von Wilhelm Windelband, neu bearb. von H. Heimsoeth, 15. Aufl., Tübingen 1957. Unsere Übersicht über die Teilgebiete der Geschichte bliebe ein Bruchstück, erwähnten wir nicht noch zum Schluß

Teilgebiete und Nachbarwissensdiaften

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die Religions- und Kirchengeschichte. Im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation vom Geist konfessioneller Einseitigkeit weithin beherrscht, hat die Kirchengeschichte doch eben im Dienst dieses Geistes viel zur Entwicklung der historisch-kritischen Methode beigetragen. Vollends hat sie später, in allen christlichen Ländern gepflegt, hervorragende Werke in großer Zahl hervorgebracht. Die beste Einführung gibt jetzt Bernd Moeller, Geschichte des Christentums in Grundzügen, Göttingen 1965; als moderne Handbücher sind die noch nicht abgeschlossenen Werke Die Kirche in ihrer Geschichte (erscheint in abgeschlossenen Lieferungen seit 1961) und das maßgebende katholische Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. v. H. Jedin (Freiburg, seit 1962) zu nennen. Für die Geschichte der alten Kirche ist Karl Müllers Lehrbuch der Kirchengeschichte, Bd. 1 (3. Aufl., Tübingen 1941) durch selbständige Forschung das führende Buch. Daneben besitzen wir in Hans Lietzmanns Geschichte der Alten Kirche, 4 Bde., 3.—4. Aufl., Berlin 1961, eine gleichfalls vorzügliche Darstellung, die noch dazu fesselnd geschrieben ist. Ein ausgezeichnetes Lehrbuch der Geschichte der christlichen Kirche im Frühmittelalter verfaßte 1921 Hans v. Schubert. Das eigentliche Meisterwerk aber für das Mittelalter ist unfraglich die Kirchengeschichte Deutschlands von Albert Hauck (8. Aufl., Berlin 1954), in fünf Bänden bis ins Zeitalter des Konstanzer Konzils reichend. Es gibt nicht leicht ein geschichtliches Buch, dessen Verfasser mehr Quellen mit größerer Sorfalt gelesen hätte, es ist voll von originellen Gedanken, und doch tritt der Schriftsteller — darin eben liegt seine Größe — überall hinter der Sache zurück. Der beste Gewinn beim Lesen wäre, wenn etwas von jenem idealen Verhältnis zu den Quellen vom Verfasser auf den Leser überginge. Glänzend geschrieben, aber nicht frei von gewissen Einseitigkeiten ist das Werk von Johannes Haller, Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit, 5 Bde., 2. Aufl. 1950 bis 1953. Für die Reformationszeit sind mehrere vortreffliche Werke von Heinrich Boehmer zu nennen, vor allem Luther

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Quellenkritik: Kritik d. Textes u. d. Quellenaussagen

im Liebte der neueren Forschung, 4. Aufl., Leipzig 1918, Der junge Luther, 5. Aufl., hrsg. v. H . Bornkamm, Stuttgart 1962, und seine Biographie des Ignatius von Loyola, die man unter dem Titel: Studien zur Geschichte der Gesellschaft Jesu, I, 1914 findet (Neudruck 1951, herausgegeben von Hans Leube). Weitere Titel im bibliographischen Anhang. Noch vieles Gute blieb unerwähnt und muß es bleiben, denn es sollte hier wie bei allen Ratschlägen, die unser Büchlein enthält, nur einiges vom Wichtigsten genannt werden. Quellenkritik: Kritik des Textes und Kritik der Quellenaussagen Wir wissen nun, was Quellen sind und wie man sie findet. Auch haben wir. die Hilfswissenschaften, die zu ihrer Auswertung unentbehrlich sind, flüchtig kennengelernt. Die gegenständlichen Quellen, um die ja Archäologen, Kunsthistoriker u. a. m. sich bemühen, können für den Augenblick beiseite bleiben. Wir fragen nun: Wie ermitteln wir den Quellentext aus den Handschriften? Wie stellen wir Echtheit und Unechtheit der Quelle im ganzen oder in einzelnen Teilen fest? Wie gelangen wir von abgeleiteten Quellen zu den ursprünglichen? Sind erst diese Vorfragen abgemacht, so wenden wir uns zur Hauptfrage: Wie ermitteln wir aus den Quellenaussagen die geschichtlichen Vorgänge? 1.

Textkritik»)

Ein erheblicher Bruchteil der Quellentexte kam nicht in ursprünglicher Gestalt auf uns. Mitunter haben wir nur eine späte Uberlieferung — sei es Handschrift oder Druck —, und ein mehr oder weniger bestimmter Verdacht läßt uns l ) L i t e r a t u r ü b e r p h i l o l o g i s c h e T e x t k r i t i k n e n n t W i l h e l m B a u e r S. 214. P a u l M a a s , T e x t k r i t i k . 2. A u f l . L e i p z i g 1950.

Textkritik

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vermuten, daß die Form nicht ursprünglich sei. Oft haben wir viele Handschriften, die in wesentlichen Punkten so stark voneinander abweichen, daß eine oder mehrere absichtliche Umgestaltungen des Textes vor sich gegangen sein müssen. Dann ist es unsere Aufgabe zu ermitteln, welches die älteste Fassung ist, in welcher Reihenfolge die späteren entstanden, ob diese alle oder teilweise vom ursprünglichen Verfasser herrühren u. dgl. Kleine Abweichungen vom ursprünglichen Text sind bei allen Abschriften etwas Alltägliches, da ja erst der Druck, weil er mechanisch geschieht, die genaue Übereinstimmung aller Exemplare einer Auflage wenigstens als Regelfall ermöglichte. Wo eine Masse alter Handschriften eines und desselben Werkes vorliegt, gilt es, die nähere oder fernere Verwandtschaft jeder einzelnen mit dem erhaltenen oder erschlossenen Urexemplar des Verfassers (der Philologe sagt dafür: dem Ardietypus) festzustellen. Wie die Verwandtschaft von Personen kann man auch eine solche Textverwandtschaft im Bilde eines Stammbaumes darstellen. Veränderungen, die mit der Urform eines Textes vorgenommen wurden, werden zumeist formale und inhaltliche Bedeutung haben, d. h. eine jüngere Fassung, die formell dadurch gekennzeichnet ist, daß sie durch Zusätze an mehreren Stellen erweitert wurde, läßt etwa eben an diesen Stellen erkennen, daß der Verfasser jeweils aus einer Quelle schöpft, die ihm erst nach Abschluß der älteren Fassung zu Gesicht kam. So können formale und inhaltliche Beobachtungen sich gegenseitig stützen. Der Idealfall wäre, daß man bei einer verhältnismäßig großen Zahl abweichender Textfassungen durch Würdigung aller paläographischen, sprachlichen und inhaltlichen Anhaltspunkte bei jeder Handschrift den Grund finden, warum etwas zugesetzt oder fortgelassen wurde, und auch hinreichend sicher den Zeitpunkt und Urheber der Änderungen bezeichnen könnte. Weil dies bei der Lebensgeschichte des Heiligen Lullus, die Lampert von Hersfeld schrieb, weitgehend zutrifft, wollen wir deren Überlieferungformen durchsprechen. Da-

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Quellenkritik: Kritik d. Textes u. d. Quellenaussagen

bei schicken wir ganz ehrlich voraus, daß diese Vita des Lullus fast keinen Quellenwert hat. Lullus starb nämlich 786, und Lampert schrieb fast 300 Jahre später, ohne aus Quellen zu schöpfen, die wir nicht ebenfalls noch besäßen 1 ). Das Ergebnis einer näheren Untersuchung sieht so aus: Von den acht Handschriften ist eine unter den Augen des Verfassers selbst entstanden: die Handschrift 1 (heute in Maihingen). Überall da, wo die späteren Handschriften Erweiterungen enthalten, sind in dieser Zeichen angebracht; vermutlich sollten sie hinweisen auf Zusätze, die vorläufig auf eingelegte, heute verlorene Blätter geschrieben waren. Handschrift 1 endet mitten in einem Satz. Von ihr hängen fünf weitere ab, die ungefähr gleich lauten, aber den verstümmelten Schlußsatz ganz weglassen: diese nennen wir l a , l.b, 1 c, 1 d, 1 e; bis auf l c (in Zwettl) und l d (in Melk) liegen sie alle in München. Den durch Zusätze erweiterten Text — der Stilvergleich ergibt, daß der Verfasser ihn selbst erweiterte — bietet die Handschrift 2 a in Trier. Noch eine zweite (2 b in Erlangen) bietet diese Textgestalt, ihr fehlen aber am Schluß die Kapitel 19 bis 27. In diesen Abschnitten erhebt Lampert nämlich Vorwürfe gegen Fulda. Nach Ausweis seines übrigen Inhalts ist aber Codex 2 b, eine Sammelhandschrift, zum Gebrauch in Fulda bestimmt gewesen. So erklärt sich die Weglassung am Schluß. Vergegenwärtigen wir uns nun, wieviel sicheres Wissen wir damit gewonnen haben über Dinge, die nicht überliefert, sondern von uns erschlossen sind. Wir kennen den Verfasser, obwohl die Handschriften ihn nicht nennen. Wir dürfen ihm auch die erweiterte Ausgabe zuschreiben; sie ist nicht nur durch die Stilgleichheit gekennzeichnet, Lampert selbst zitiert die Vita Lulli in einem seiner späteren Werke eben in der zweiten Fassung2). Wir wissen auch ziemlich genau die Abfassungszeit: zwischen 1063 und 1075. Denn Lampert hat hier eine Schrift des *) Vgl. Lamperti Hersfeldensis Opera ed. Oswald Holder-Egger. H a n n o v e r 1894. U n d dazu Wattenbach-Holtzmann, 3. H e f t , S. 459 f. 2 ) S. 347 der Ausgabe von Holder-Egger.

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Textkritik

Otloh von St. Emmeram benutzt, die dieser zwischen 1062 und 1066 abfaßte, und Lamberts Selbstzitat stammt wohl aus dem Jahre 1076. Endlich haben wir den Grund der Verkürzung in 2 b richtig erkannt. Bildlich ist das Abhängigkeitsverhältnis so darzustellen: 1 (eigenhändig)

la

X A

X Jb

X A

Je

Jd

je

2 (eigenhändig,) A 2» 2 b

So findet es sich in der Ausgabe. Wer nicht auf den ersten Blick den Grund einsieht, weshalb 3 als X bezeichnete verlorene Zwischenglieder darin erscheinen, findet ihn wohl nach einigem Nachdenken: weil sich so am besten die engere Verwandtschaft zwischen zwei Handschriftenpaaren erklärt. Nicht immer geht alles so glatt auf. Aber daraus, daß oftmals die Anhaltspunkte fehlen, die uns zu sicheren Ergebnissen hinleiten, kann man der Methode keinen Vorwurf machen. Ganz im Einklang mit dem, was wir oben (S. 42) als den Kern der diplomatischen Methode bezeichnet haben, können wir sagen: Die Textkritik und die Quellenanalyse müssen darauf hinarbeiten, den Text nidit als fertige Größe hinzunehmen, sondern in seinem Entstehen zu verfolgen 1 ). Und was uns hier erstmalig entgegentrat, werden wir als eine im Mittelalter verbreitete Erscheinung beobachten: daß der Autor das gleiche Werk in mehr als einer Fassung bearbeitet hat. Ähnlich wie heute die Mitteilung des Verlegers, eine Auflage sei vergiffen, den Verfasser zwingt zu überlegen, ob er die neue Auflage erheblich ändern soll, konnte damals der Wunsch an*) Wer dies lieber an einem neuzeitlichen Beispiel versudit, studiere das Werden des Textes von Bismardcs Erinnerung und Gedanke mit H i l f e der Friedrichsruher Ausgabe.

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Quellenkritik: Kritik d. Textes u. d. Quellenaussagen

gesehener Männer wirken, sich eine Abschrift eines Werkes herstellen zu lassen. Und genau wie heute die seit der ersten Niederschrift erschienene Literatur oft eine Umarbeitung nötig macht, beobachten wir Entsprechendes im Mittelalter. So hat der hennegauisdie Geschichtsschreiber Jean Froissart in seiner Chronik die großen Schlachten von Cricy (1346.) und Maupertuis (1356) zunächst nur nach englischen Gewährsmännern geschildert, während er später auch französische heranzog. Und der höchst originelle Giraldus de Barri aus Wales hat den verschiedenen „Auflagen" seiner Werke auch verschiedene Vorreden beigegeben, in denen er gelegentlich offen ausspricht, welche Rücksichten ihm früher größere Zurückhaltung auferlegten 1 ). Ähnlich klare und einleuchtende Ergebnisse liefert ein Vergleich der drei Handschriftenklassen, in denen uns Rahewins Fortsetzung der Taten Friedrich Barbarossas (Gesta Friderici imperatoris) überliefert ist. Deutlich in die Augen fallende Unterschiede trennen die drei Klassen. Die A-Klasse deutet viele Eigennamen nur durch einen Anfangsbuchstaben oder durch N an, bringt von Briefen und Urkunden oft nur die ersten Worte. B und C weichen schon in der Kapiteleinteilung ab. Die B-Handschriften fügen am Schluß einen Anhang über die Jahre 1160 bis ca. 1170 hinzu (in der Ausgabe S. 347 ff.). In C ist der ursprüngliche Text noch stärker überarbeitet als in B. Sind diese Tatsachen richtig erkannt, so darf man mit dem Herausgeber folgern: A ist der ursprüngliche Entwurf des Verfassers. Wo B und C gegen A zusammengehen, haben wir die endgültige, wo A entweder mit B oder mit C übereinstimmt, die ursprüngliche Lesart vor uns2). Große Not machen dem Historiker die vielen Irrtümer und Lesefehler, die in den Abschriften von Abschriften — das pflegt ja die große Masse unserer Texte zu sein — sich einschlichen und dann immer weiter fortpflanzten. So liest man in der Frankengeschichte des Gregor von Tours, ') Vgl. Paul K i r n , Aus der Frühzeit des Nationalgefühls, Leipzig 1943, S. 102. *) Siehe die Ausgabe von G . Waitz und B. v. Simson 1912, bes. X X V I I ff.

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Buch 2, Kapitel 9, wo von den Anfängen des fränkischen Volkes die Rede ist, den Satz Nam cum multa de eis Denn während von ihnen Sulpici Alexandri narret die Geschichte des Sulpicius historia, non tarnen regem Alexander viel erzählt, nennt primum eorum Valentinus Valentinus doch nicht ihren nominat, sed duces eos ersten König, sondern sagt, 1 sie hätten unter Herzögen habuisse dicit ). gestanden. Das kann nicht der richtige Text sein, denn es ist sinnlos, auf die Ausführlichkeit eines Geschichtswerkes hinzuweisen und fortzufahren, daß ein anderes die Angabe eines fränkischen Königs unterlasse. Sicherlich war irgendwie ausgedrückt, man vermisse beim Sulpicius Alexander jene Angabe. Während zwei Handschriftenklassen den Fehler aufweisen, lesen die übrigen anstatt Valentinus richtig ullatinus (statt des klassischen ullatenus); im Satzzusammenhang zu übersetzen: [nennt er doch] an keiner Stelle. In anderen Fällen ist das Richtige nicht einfach in einer Anzahl von Handschriften gegeben, sondern muß erraten und durch den Nachweis, daß das Wort oder die Wendung der fraglichen Zeit und womöglich dem Autor geläufig war, gestützt werden. Völlig unzulässig ist es, wenn man eine Textstelle, die einen klaren und vernünftigen Sinn gibt, der überdies durch die Angaben anderer Quellen gestützt wird, gewaltsam ändert und dabei nicht einmal dem Sprachgebraudi Rechnung trägt. Dies ließ sich Karl Bauer zuschulden kommen bei seiner Behandlung der Quellenaussagen über die Hinrichtung der 4500 Sachsen bei Verden im Jahr 782. Dazu berichten nicht weniger als vier Annalenwerke: die ausgelieferten Sachsen wurden enthauptet (decollati sunt). An Stelle des vorletzten Wortes, erklärt er, müsse delocati gelesen werden und das heiße: sie wurden ausgesiedelt. Nun haben wir aber eine Menge Nachrichten über die von Karl d. Gr. befohlenen Umsiedl ) G r c g o r i i T u r o n c n s i b H i s t o r i a F r a n c o r u m ed. A r n d t S. 72 m i t N o t e c ; e d . K r u s c h S. 52 m i t N o t e d . V g l . H V 27, 684 N . 2 0 .

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Quellenkritik: Kritik d. Textes u. d. Quellenaussagen

lungen, die mit abwechselnden Ausdrücken von der Sache reden, aber kein einziges Mal delocare verwenden 1 ). Schon hieran scheitert seine auch sonst unhaltbare Auslegung der Stelle. Natürlich wollen wir damit nicht der einseitigen Meinung Vorschub leisten, als hätte die Philologie bei der Verbesserung schlecht überlieferter Stellen das erste und letzte Wort zu sprechen. Mehr als das erste Wort sollte man ihr nicht zugestehen. D a n n muß man auch die allgemeine Lebenserfahrung, mitunter auch technische Spezialkenntnisse zur Geltung kommen lassen. Sonst kann es einem gehen wie jenem Gelehrten, der in einem griechischen Papyrus aus Ägypten geschrieben fand, daß H e u geliefert werden soll ngog anog . . , und das verstümmelte letzte Wort ergänzte: -tgog a:logiiv = zur Aussaat. Das Richtige sah Ulrich Wildken: es m u ß heißen: nötig nnogor = im Austausch gegen Getreide. Denn H e u kann nie zur Aussaat benutzt worden sein, selbst nicht im grauesten Altertum 2 ). Der Historiker muß alle Feinheiten moderner Textausgaben verstehen. Dazu gehört nicht viel weniger als nötig wäre, sie selber herzustellen. Auch wer sich mehr der kulturgeschichtlichen Arbeitsweise zuwendet, kann diese Schulung nicht entbehren und die daraus folgenden Vorsichtsmaßregeln nicht außer acht lassen. Er muß auch allen Spürsinn darauf verwenden festzustellen, wo eine Quelle ältere Schriften wörtlich zitiert bzw. ausschreibt. Es hatte sehr günstige Folgen, daß bereits in den Anfängen der Monumenta Germaniae auf den Vorschlag des Rechtshistorikers Karl Friedrich Eichhorn der Grundsatz angenommen wurde, für solche aus einer Vorlage übernommene Stellen Kleindruck anzuwenden. Soldie Kennzeichnung der Stellen, die nicht das geistige Eigentum ihres Verfassers sind, S i c s i n d z u s a m m e n g e s t e l l t bei G e o r g W a i t z , D e u t s c h e V e r f a s s u n g s g e schidite. B d . 3. 2. A u f l . S. 140 N . 1 u . S. 141. V g l . d i e gegen B a u e r g e r i c h t e t e A b h a n d l u n g v o n E r w i n R u n d n a g e l H Z 157 (1938), die auch w e i t e r e L i t e r a t u r anführt. J a h r b u c h f ü r G e s e t z g e b u n g , V e r w a l t u n g u n d V o l k s w i r t s c h a f t im d t . Reich, B d . 45, 2. H e f t , S . 90 N . 5.

Kritik der Quellenaussagen

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erspart allen, die mit der Ausgabe arbeiten müssen, zeitraubende Umwege, m i t u n t e r auch böse Fehlschlüsse. Ü b e r nicht e r k a n n t e Bibelzitate u n d die durch das Nichterkennen verursachten Mißverständnisse w ä r e viel zu sagen. So gibt es eine Untersuchung, die ergründen will, ob der K a m p f , den P h i l i p p der Schöne v o n Frankreich f ü r die Freiheit des weltlichen Staates von päpstlicher Bevormundung f ü h r t e , sich geistiger W a f f e n bedient habe, die schon der S t a u f e r Friedrich I I . zwei Menschenalter f r ü h e r in seinem ähnlich gerichteten K a m p f e v e r w a n d t e . Ein H a u p t beweis d a f ü r , d a ß dies tatsächlich der Fall sei, soll darin liegen, d a ß a u f f a l l e n d e wörtliche A n k l ä n g e der Staatsschreiben Friedrichs u n d Philipps zu beobachten sind. Es sind bei näherem Zusehen bloß gleiche Bibelzitate, u n d damit löst sich der scheinbare Beweis in nichts auf 1 ). 2. Kritik

der

Quellenaussagen

W i r nehmen an, die H a n d s c h r i f t e n sind gesichert, der beste erreichbare Text ist hergestellt, die Echtheit im ganzen steht außer Zweifel. N u n erhebt sich die Frage: Wie h a t der A u t o r seine Kenntnisse erworben? W o schreibt er erhaltene Quellen aus, w o verlorene? W o h a t er mündliche G e w ä h r s m ä n n e r ? W a s s t a m m t aus eigenem Erleben? D a mit treiben w i r Quellenanalyse. Wie in den bisherigen A u s f ü h r u n g e n machen w i r uns auch weiterhin diese Sachverhalte am besten an mittelalterlichen Beispielen klar. H i e r treten sie am schärfsten hervor. D e n n die Quellen zur alten Geschichte müssen doch z u m weitaus größten Teil aus mittelalterlichen H a n d s c h r i f ten entnommen werden, und in der N e u z e i t spielen neben den A k t e n die erzählenden Quellen mehr eine Nebenrolle, zudem sind seit der Verbreitung des Buchdrucks die Verhältnisse hier viel übersichtlicher. Wer also solche methodischen Kunstgriffe an mittelalterlichem Stoff erlernt hat, w i r d sie sinngemäß auf jeden andern übertragen können — ') Helene Wieruszowski: Vom Imperium zum nationalen K ö n i g t u m . M ü n chen 1933, S. 9 1 . D a z u d i e K r i t i k des V e r f a s s e r s in J a h r e s b . f . d t . G e s d i i c h t e 9/10, (1933/34) S. 281.

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Quellenkritik: Kritik d. Textes u. d. Quellenaussagen

und vielleicht hie und da die Erfahrung machen, daß es keine bessere Vorbereitung für die historisch-kritische Arbeit überhaupt gibt. Gerade die mittelalterlichen Geschichtsschreiber haben vielfach das, was sie in ihren Vorlagen fanden, wörtlich übernommen. Es wäre zu wenig, wenn man sagen wollte: das galt nicht als unerlaubt, die Achtung vor dem Urheberrecht an Schriftwerken w a r nicht wie bei uns entwickelt. Es kommt geradezu vor, daß ein Schriftsteller sich entschuldigt, weil er außer dem, was er maßgebenden Autoritäten entnehmen konnte, wagt, auch eigene Gedanken vorzubringen. Beobachten wir wörtliche Entlehnungen, so gilt es zu ermitteln, ob A den B ausschreibt oder umgekehrt oder ob am Ende beide aus der gleichen (möglicherweise auch aus mehr als einer) Quelle schöpfen. Schon aus diesem Grunde dürfen wir nie unterlassen, die Abfassungszeit jedes einzelnen Werkes — womöglich wieder für die einzelnen Teile, aus denen es besteht — festzustellen. Je genauer wir diese kennen, desto mehr vereinfacht sich die Frage nach den möglichen Abhängigkeiten. Haben wir erkannt, in welcher Weise eine Quelle eine auch uns bekannte Vorlage benutzt — sklavisch abschreibend oder frei gestaltend —, so haben wir einen wertvollen Fingerzeig, wie sie sich solchen Vorlagen gegenüber verhalten mag, die wir nicht mehr besitzen. Das Aufspüren verlorener Quellen ist darum eine unvermeidliche Aufgabe, weil wir versuchen müssen, den zwischen den erhaltenen Quellen bestehenden Zusammenhang zu ermitteln. Überzeugend ist z. B. folgender Schluß: Beda erwähnt in seiner Kirchengeschichte zwei Sonnenfinsternisse, die nachweislich nicht in Britannien, wohl aber in den Mittelmeerländern zu beobachten waren. Also hat er eine aus Italien stammende Chronik als Quelle benutzt 1 ). Wo eine Mehrzahl erhaltener Quellen offensichtlich eine einzige verlorene ausschreibt, kann man diese verlorene mit einiger Sicherheit wiederherstellen. Dies leistete Wil*) W i l h . Levison, A u s rheinischer u n d fränkischer F r ü h z e i t . Düsseldorf 1948, S. 369 f .

Kritik der Quellenaussagen

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heim v. Giesebrecht 1841 für die Annalen des nordbairischen Klosters Nieder-Altaich. Ein unerwarteter Handschriftenfund von 1867 bestätigte seine Ergebnisse im wesentlichen. Paul Scheffer-Boichorst stellte 1870 die Annalen von Paderborn in ähnlicher Weise wieder her 1 ). Es ist wohl denkbar, daß ein Laie im Aufwand von so viel Scharfsinn für die Ermittlung verlorener Quellen eine unbegreifliche Zeitversäumnis sieht. Je mehr man dagegen in die Forschung eindringt, desto besser erkennt man: es hängt doch viel davon ab. Wir veranschaulichen das an einem Beispiel. Jeder spricht von der Schlacht im Teutoburger Wald. Woher hat das Gebirge, woher die Schlacht ihren Namen? Das Gebirge ist nicht etwa seit jenen fernen Tagen bis heute von den Anwohnern so genannt worden. Erst im Zeitalter der Romantik ist durch die gelehrte Forschung der Name wieder in Übung gekommen. Und nur eine Quelle aus dem Altertum erwähnt jenen Namen: Tacitus, und zwar da, wo er erzählt, wie Germanicus die Gebeine der in der Varusschlacht Gefallenen bestatten ließ (Annales I 60). Nun schreibt aber Tacitus ca. 116, d . h . mehr als hundert Jahre nach dem Ereignis. Wollten wir uns nicht darum kümmern, wer sein Gewährsmann an dieser Stelle ist, so müßten wir darauf verzichten zu wissen, ob der Name auf einer guten Überlieferung beruht und historisch brauchbar ist. Erst die kritische Durchleuchtung der Grundlagen eines erzählenden Geschichtswerks gestattet die richtige Verwertung seiner Angaben. Nicht selten führt sie zu dem Ergebnis, daß deren Wert erheblich schwankt je nach dem Abschnitt, in dem sie stehen. Bei so großen geschichtlichen Kompilationen wie der römischen Geschichte des Livius würde das Außerachtlassen der kritischen Grundsätze zu besonders augenfälligen Fehlern führen. Über die mündlichen Gewährsmänner, die einem Berichterstatter Nachrichten zutrugen, kann man nicht immer so sicher urteilen. Immerhin treten sie gelegentlich hervor. So hat Wolfram von den Steinen richtig erkannt, daß man ') V g l . W a t t e n b a c h - H o l t z m a n n 1, 545 f. u n d 584 ff.

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Quellenkritik: Kritik d. Textes u. d. Quellenaussagen

den Bericht über die Bekehrung und Taufe Chlodwigs, den Gregor von Tours bietet, nicht einfach beiseite schieben darf, als hätte er neben einigen Briefen, die dem Ereignis viel näher stehen, keinerlei Bedeutung. Man merkt ihm noch an, daß er auf Chrotechilde, die Gemahlin des Frankenkönigs zurückgeht. Diese brachte mehr als dreißig Jahre in Tours zu und starb dort 544, also nur 29 Jahre bevor Gregor sein Bischofsamt in Tours antrat. Überlebende aus ihrer Umgebung werden dem Geschichtsschreiber den Hergang so geschildert haben, wie sie ihn zu erzählen pflegte 1 ). Als der russische Historiker Jegorov die Berichte des Helmold von Bosau über die ersten deutschen Siedlungen in Holstein und Mecklenburg überscharf angegriffen hatte, wies Bernhard Schmeidler in seiner treffenden Erwiderung darauf hin, daß der gute Pfarrer von Bosau am Plöner See — das w a r Helmold nämlich — zwar die Großen der Erde nicht persönlich kannte und daher von ihnen keine Informationen empfing, wohl aber treulich aufzeichnete, was ihm kleine Leute, Bauern, reisige Knechte und Troßbuben, zutrugen 2 ). Fast in gleichem Maße wie von den benutzten Vorlagen hängt der historische Wert einer Quelle von der literarischen Tradition ab, in der sie steht. Das Stilgesetz einer literarischen Gattung und die Nachahmung bestimmter Vorbilder färben die Mitteilungen so stark, daß wir irregehen, solange diese Tatsache nicht erkannt ist. Wo dieses Nachahmen geradezu in Abschreiben ausartet, handelt es sich um eine Erscheinung, die wir schon mehrfach erwähnten. Sie ist im Mittelalter häufig. So hat z.B. Herbord das, was er über des Bischofs Otto von Bamberg Tugenden und Grundsätze mitteilt, fast wörtlich aus Cicero, De officiis abgeschrieben 3 ). Ferner hat Rahewin da, wo er Barbarossas Kämpfe in Oberitalien erzählt, ganze Schlachtschilderungen, aber auch eine angebliche Rede des Kaisers ' ) M Ö I G E r g ä n z u n g s b a n d 12 (1933), S. 417 ff. 2 ) Ober die G l a u b w ü r d i g k e i t H e l m o l d s u n d die I n t e r p r e t a t i o n u. Benutzung m i t t e l a l t e r l i d i e r Schriftsteller, N A . 50 (1933). s ) P h . J a f f i , Bibliotheca rerum G e r m a n i c a r u m 5, 710 f.

Kritik der Quellenaussagen

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über die Disziplin aus dem Jüdischen Krieg des Flavius Josephus herübergenommen 1 ). An anderen Stellen folgt er nicht einem alten Schriftsteller, sondern mischt kunstvoll die Lesefrüchte aus vielen. Fast noch mehr Aufmerksamkeit erheischen die Fälle, in denen die freiere Nachahmung eines Musters vorliegt (und je mehr wir auf sie achten, desto mehr wird es uns gelingen, hie und da ausgeschriebene Stellen zu entdecken, die noch keiner vor uns gefunden hat). Denn hier bedarf es noch größeren Taktes zu bestimmen, ob die Nachahmung den Erzähler überhaupt und wie weit sie ihn von der Linie eines sachlich genauen Berichtes abzulenken vermochte. Wir erinnern daran, daß die bei mittelalterlichen Geschichtsschreibern mitgeteilten Reden nicht mehr Zutrauen verdienen als die in antiken Quellen, und zwar aus denselben Gründen, vor allem aber erwähnen wir Einhards Verhältnis zu Sueton. Gewiß ist, daß Einhard seine Biographie Karls d. Gr. nicht in der Form geschrieben hätte, die er ihr gab, wäre er nicht mit den Kaiserbiographien jenes alten Römers bekanntgeworden. Und sicherlich müßten wir zu unserem lebhaften Bedauern eine Reihe anschaulicher Züge aus der Lebensführung des großen Kaisers missen, die zu erwähnen Einhard nicht aus eigenem Antrieb, sondern durch das Beispiel Suetons sich angeregt sah. Daß aber trotz dem formgebenden Vorbilde eine Verzeichnung des Kaisers ins allgemein Imperatorenhafte nicht stattgefunden hat, empfindet schon der unbefangene Leser, und die neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigen es ihm 2 ). Während unsere früheren Bemerkungen zur inhaltlichen Quellenkritik der Frage galten: Wieviel konnte der Verfasser von den wahren Hergängen berichten?, müssen wir nun die andere Frage stellen: Wieviel wollte er davon berichten? Nachdem wir uns um seine Sachkenntnis und sein literarisches Können bemüht haben, forschen wir nach dem Zweck seiner Schriftstellern und seiner Tendenz. *) O t t o n i s et R a h e w i n i G e s t a F r i d c r i c i i m p e r a t o r i s , e d . W a i t z et v . S i m s o n . H a n n o v e r 1912, l i e f e r t in d e n A n m e r k u n g e n d i e Belege, z . B . S . 208. 2 ) S . H e l l m a n n in H V 27 (1932). H a n s P y r i t z in D V j s d i r . 15 (1937). H . B e u m a n n in A r c h . f . K u l t u r g e s d i . 33 (1951). Kirn,

E i n f ü h r u n g in d i e G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t

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Q u e l l e n k r i t i k : K r i t i k d. T e x t e s u. d . Q u e l l e n a u s s a g e n

Geschichtsquellen mit aufdringlicher Tendenz verraten sich dem Leser schon mit den ersten Zeilen. Gefährlicher werden dem historischen Urteil solche, die ihre Einseitigkeit klug zu verbergen wissen. Und wenn auch diese früher oder später erkannt ist, bleibt doch die Unsicherheit, bis zu welchem Grade die tatsächlichen Mitteilungen tendenziös entstellt sind, sofern nicht auch Quellen aus dem gegnerischen Lager uns zur Verfügung stehen. In der römischen Geschichte würde vielleicht manches anders aussehen, hätten wir ebenso ausführliche Darstellungen aus der Feder von Karthagern, Galliern und Germanen. Daß wir die Sachsenkriege Karls d. Gr. nur nach fränkischen Berichten zeichnen können, ist ebenfalls nachteilig. Im Grunde kehrt eine ähnliche Unsicherheit auch in den hellbeleuchteten Zeiten reicher Überlieferung wieder, sobald ein einzelnes Ereignis oder ein bestimmter Zug nur von einem einzigen Gewährsmann gemeldet wird. D a wird man als kritische Maßstäbe nur die Möglichkeit und innere Wahrscheinlichkeit des Vorgangs und den „Leumund" des Zeugen verwenden können. Wenn wir Glück haben, findet sich vielleicht in dem beargwöhnten Bericht ein Umstand, an den der Erzähler selbst nicht glaubte, den wir aber auf Grund unseres heutigen Wissens als beste Beglaubigung gelten lassen müssen. Dahin gehört z. B.: Herodot will den Phönikern, die Afrika umsegelten, nicht glauben, daß sie die Sonne schließlich zur rechten Hand aufgehen sahen (IV Der normale Fall ist, daß sich Berichte verschiedener Herkunft, Tendenz und Qualität ergänzen, etwa erzählende Werke, aus mehreren Parteilagern, dazu Urkunden, Briefe, geheime und öffentliche diplomatische Schreiben, Gedichte, Zeitungen, Münzen, Bildwerke, darunter etwa Karikaturen usw. Dann müssen wir zuerst Echtheit und Entstehungsgeschichte jeder einzelnen Quelle untersuchen und hierauf deren Aussagen miteinander kombinieren. Das Auftreten von Widersprüchen darf uns dabei nicht verblüffen. Bewegte Zeiten, wie wir sie augenblicklich durchleben, *) Dieses Beispiel findet sich bei Erslev, Historische Technik, S. 76.

Kritik der Quellenaussagen

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liefern täglich von neuem den Beweis, daß sogar intelligente und wahrheitsliebende Menschen Vorgänge, die sie unter günstigen Umständen mit lebhafter Aufmerksamkeit beobachten, mit auffallenden Abweichungen, ja starken Widersprüchen zu erzählen pflegen. Wie man praktisch von den Quellenaussagen zu den geschiditlichen Tatsachen vordringt, l'ernt man am besten in Seminarübungen oder durch zweckmäßig gewählte Lektüre. Was den Anfänger leicht verwirrt, aber auch den wissenschaftlich Gefestigten noch stört und verdrießt, ist die unübersehbare Zahl der mittelmäßigen Untersuchungen, die entweder infolge einer unglücklichen Quellenlage oder — das ist der eigentliche Grund des Mißbehagens — infolge nicht einwandfreier Beweisführung im Leser das Gefühl hinterlassen, daß er vielleicht im einzelnen dies und das gelernt hat, aber der These, die das eigentliche Anliegen des Verfassers bildet, nicht zustimmen kann. Muß man viel dergleichen lesen, so kann einem der Verdacht aufsteigen, es gebe am Ende gar keine Methode, um sichere historische Beweise zu führen. H a t doch selbst Goethe einmal geäußert: „Es geht wirklich ins Komische, wenn man . . . von längst Vergangenem sich mit Gewißheit überzeugen will" (an Zelter 27. 3. 1824). Aus der Sackgasse, in die man so gerät, führt der Vorschlag heraus, den wir hier machen wollen. Man lese ohne Rücksicht darauf, ob die Entscheidung der darin aufgeworfenen Frage uns nun eben sehr zu Herzen geht oder nicht, einige Untersuchungen, die methodisch vorzüglich gelungen sind und die H a n d eines Meisters verraten. Das wirkt befreiend. Hier schließt jedes Stück der Beweisführung sich lückenlos an da,s vonangehende, wir folgen mit Freude und Bewunderung und legen das Buch nicht gequält und beunruhigt, sondern froh und bereichert aus der Hand. Es kann auch nichts schaden, wenn wir die Gegenprobe machen und uns die eine oder andere mißlungene Abhandlung vornehmen, der auch der Anfänger unschwer anmerkt, daß sie entweder durch willkürliche Voraussetzungen oder durch logische Verstöße keine haltbaren 5»

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Quellenkritik: Kritik d. Textes u. d. Quellenaussagen

Ergebnisse erzielt. Krasse Fälle sind ja im Guten wie im Schlechten wesentlich leichter zu beurteilen als Durchschnittsleistungen. Und nach unseren Beobachtungen ist nicht wenig gewonnen, wenn der Student auf solche Weise lernt, sich ein wenig auf das eigene Urteil in wissenschaftlichen Fragen zu verlassen. Ihn dazu zu erziehen ist der eigentliche Sinn der fadiwissenschaftlichen Ausbildung. Es ist aber sehr wohl denkbar, daß er in den ersten Semestern mehr als einmal in arge Zweifel gerät, ob er selber den wissenschaftlichen Anforderungen genügen könne, wenn er vom Katheder wissenschaftliche Arbeiten verurteilen hört, die von namhaften Verfassern herrühren. Vielleicht sagt er sich als kluger Kopf außerdem, daß dasselbe, was an der Universität X als irrig bezeichnet wird, in Y in milderem Licht erscheint, ja daß der streng urteilende Professor in X vor seinem Kollegen in Y schwer tadellos besteht. Derartige, nicht völlig unberechtigte Gedankengänge werden dann die sachgemäße Grenze niciit überschreiten, wenn man sich zunädist einmal davon überzeugt, daß das Urteil der Kenner über Meisterleistungen auf der einen Seite und Pfuschertum auf der anderen doch ziemlich gut übereinstimmt. Im Anhang finden sich Vorschläge für eine solche Lektüre. Um schließlich denen entgegenzukommen, die gern allgemeine Regeln für den Schluß von den Quellenaussagen auf die Wirklichkeit schwarz auf weiß vor sich sehen möchten, führen wir in Anlehnung an unsere Vorgänger einige Grundsätze an. Doch sei vorher noch ausdrücklich darauf verwiesen, daß die im Rahmen hilfswissenschaftlicher, vornehmlich diplomatischer Untersuchungen angewendeten Methoden immer mit in Rechnung gestellt werden müssen, wenn man über den möglichen Sicherheitsgrad historischer Kritik urteilen will. 1. Die abgeleiteten Quellen, deren Vorlagen wir besitzen, zählen nicht mit. Ihre bewußten Abweidlungen fallen nur dann ins Gewicht, wenn der Verfasser auch als selbständiger Zeuge gelten kann oder der Grund der von ihm vorgenommenen Veränderung einleuchtet.

Kritik der Quellenaussagen

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2. Für das ganze Verfahren gelten die Regeln des Zeugenverhörs. Man unterscheide dabei zwischen Vorgängen, die jeder Berichterstatter, der guten Willens war, annähernd richtig wiedergeben konnte, und verwickeiteren, die schwerlich einer ganz vollständig und treffend darzustellen vermochte. Eine Hauptregel des Zeugenverhörs spricht ein Satz Adolf Rhombergs aus, der sich in Wilhelm Bauers Einführung in das Studium der Gesdiichte zitiert findet 1 ): „Wenn zwei oder mehrere zeitgenössische Augen- oder Ohrenzeugen unabhängig voneinander ein und dasselbe Faktum mit mehreren gleichen Details berichten, die zum Faktum nicht in einem notwendigen oder gewöhnlichen, sondern in einem nur zufälligen Zusammenhange stehen, dann müssen die übereinstimmenden Berichte, insoweit sie übereinstimmen, wahr sein, wenn die Tatsache samt den betreffenden Details so klar wahrnehmbar war, daß über dieselbe keine Täuschung möglich wurde." Natürlich gilt auch den historischen wie den gerichtlichen Zeugenaussagen gegenüber, daß das der Natur der Sache nach Unmögliche durch solche Aussagen nicht zur Tatsache gestempelt werden kann. Daß Hannibal auf seinem Marsch über die Alpen einen Felsen durch Anwendung von Essig mürbe gemacht habe, was uns Livius bekanntlich glauben machen will (XXI 37), wäre auch dann keine historische Tatsache, wenn es fünf voneinander unabhängige Zeugen erzählten. 3. Man muß streng unterscheiden zwischen miteinander verträglichen Abweichungen und unvereinbaren Widersprüchen der Quellenaussagen. 4. Im allgemeinen wird man sich nicht dazu entschließen, Einzelheiten bald aus diesem, bald aus jenem Bericht in ein neues Ganzes zu verarbeiten, wenn jene Berichte von Grundvoraussetzungen ausgehen, die einander vollkommen widersprechen. Zumal dann nicht, wenn wir die eine Voraussetzung als zutreffend, die andere als verkehrt er*) S. 334 nach A. Rhomberg, D i e Erhebung der Gesdiichte zum Range einer Wissenschaft (1883) 21.

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D a s geschichtliche Verstehen

weisen können. Z . B . : Die Reise einer historischen Persönlichkeit wird von einer Quelle als Seefahrt, von einer andern als Landreise geschildert. Daß es nur eine Seefahrt gewesen sein kann, steht anderweitig fest. Damit fallen alle Einzelangaben, die der Bericht über die Landreise mitteilt. 5. Wie das Zeugenverhör wird auch die Quellenkritik die volle Wirklichkeit der untersuchten Vorgänge nicht mehr ermitteln können, wie die gerichtliche Untersuchung wird auch die historische gelegentlich mit einem non liquet enden. Wie eng die hier gezogenen Schranken sind, wird der am besten ermessen, der bei alledem nicht vergißt, welchen weiten Spielraum das Irrationale in der Geschehenswirklichkeit hat. Man kann auch sagen: Darüber ist sich der Historismus weit klarer als der Pragmatismus. Von diesen weltanschaulichen Hintergründen der historischen Methode reden wir im folgenden Kapitel. Das geschichtliche Verstehen und die Sinndeutung der geschichtlichen Vorgänge 1. Begreifen, Erklären,

Verstehen

Wahrheiten werden begriffen, z. B. der Pythagoreische Lehrsatz. Wirklichkeiten werden erklärt, z. B. Blitz und Donner. Dichtungen wie der Faust, Persönlichkeiten (historische wie Cäsar und Napoleon, dichterische wie Medea oder Tasso), Taten wie Luthers Verbrennung der Bannbulle oder Yorcks Kapitulation von Tauroggen, geistige K r ä f t e wie der Geist der deutschen Reformation oder der Geist der Scharen Cromwells — alle diese müssen verstanden werden. In diese Persönlichkeiten und Kräfte kann man sich hineindenken, während sich niemand in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Hypotenusenquadrats oder einer mit positiver Elektrizität geladenen Wolke hineindenken kann. Der Historiker muß gewiß allerlei begreifen und erklären. Aber das dringlichste Anliegen f ü r seine Wissenschaft ist das Verstehen. Das verdeutlicht Erich

Begreifen, E r k l ä r e n , Verstehen

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Rothacker mit den Worten: „Wo wir u n s . . . genötigt sehen, ein nicht restlos in Begriffe auflösbares und nicht restlos erklärbares Individuallebendiges zu suchen, da glauben wir Versuchen echten Verstehens... zu begegnen" 1 ). Das Verstehen benutzt zwar streckenweise die rationalen Wege des Begreifens und Erklärens, muß aber dann den „Sprung ins Irrationale" tun. Verstehen heißt den Sinnzusammenhang erkennen, der Sein und Tun eines Menschen oder einer Gemeinschaft verbindet. Die wirren Handlungen eines Geisteskranken entziehen sich dem Verstehen. Wie schon bemerkt, ist das geistige Verfahren dasselbe, ob eine in der geschichtlichen Wirklichkeit gegebene oder eine vom Dichter geschaffene Gestalt verstanden werden soll. J a , die Gestalten des Dichters erschließen sich uns darum leichter, weil sie von einem Verstehenden geschaffen und auf das Verstehen hin angelegt sind. Wilhelm Dilthey sagt einmal darüber: „ N u r der Zusammenhang zwischen Motiv und Handlung ist uns in klarem Bewußtsein gegeben. Daher ist der Charakter des Menschen diesem selbst ein Geheimnis, welches ihm nur seine Handlungsweise teilweise sichtbar macht. Durchsichtigkeit des Zusammenhangs zwischen Charakter, Motiv und Handlung eignet den Gestalten des Dichters, nicht der Anschauung des wirklichen Lebens, und so liegt auch das Ästhetische in der Erscheinung des wirklichen Menschen darin, daß über seinen Handlungen noch ein Abglanz der hervorbringenden Seele leuchtender als über denen der anderen Menschen liegt" 2 ). Für das Verstehen von Personen und ihren Handlungen gilt der Schillersche Vers: „Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben, Willst du die andern verstehn, blick in dein eigenes Herz" 3 ). Dieses Wechselverhältnis, das jeweils voraussetzt, daß ein vollkommenes Verstehen, sei es der andern, sei es des 2 s

L o g i k u. S y s t e m a t i k 124. ) E i n l e i t u n g in die G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n , 1883, S . 78. ) D e r Schlüssel, Werke ( C o t t a ) 1, 275.

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Das geschichtliche Verstehen

eigenen Wesens, schon erreicht sei, setzt uns nicht in Erstaunen. Finden wir doch dasselbe Wechselverhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Wir treiben Geschichte, um aus der Vergangenheit heraus die Gegenwart zu verstehen. Zugleich aber gilt: Die Vergangenheit bliebe uns ewig unverständlich, stünde uns nicht das Gegenwartserlebnis zur Verfügung, mit dessen Hilfe wir die Spuren ehemaligen Lebens deuten. Eine Eigentümlichkeit aller Versuche des Verstehens ist, daß auch der vorläufige und noch ganz unvollkommene Versuch ein abgeschlossenes Bild zu liefern scheint, nicht vereinzelte Punkte auf einer sonst noch leeren Fläche, sondern einen geschlossenen Umriß. Treten neue Beobachtungen hinzu, so kann es geschehen, daß das frühere Bild ausgelöscht und durch ein neues ersetzt wird. Die Individuen, die wir zu verstehen suchen, vergleichen wir unwillkürlich mit Typen, genau so wie wir unter dem Zwang, den Verlauf eines Flusses (den wir durch eine Zeichnung weit besser veranschaulichen) mit Worten zu beschreiben, Begriffe wie gerade Linie, Halbkreis, rechter Winkel verwenden würden, nicht weil ein Fluß in der Natur in solchen Kurven sich bewegte, sondern weil sie das nächste zur Hand liegende Verständigungsmittel wären. Eduard Spranger hat gezeigt, wie wir zu den einfachsten und für unsern Zweck brauchbarsten Typen gelangen. E r nennt sie Lebensformen 1 ). Der Ausdruck begegnet uns übrigens sehr häufig in Rankes Schriften. Unterscheiden wir sechs große Wertgebiete der Kultur und denken wir uns Menschentypen, deren gesamtes Bestreben jeweils einseitig auf die Werte eines solchen Gebietes gerichtet ist, so erhalten wir sechs Lebensformen: den theoretischen, den ökonomischen, den ästhetischen, den sozialen, den politischen und den religiösen Menschen. Dem ersten ist die Wissenschaft alles; ihr ordnet er Wirtschaft, Kunst, soziale Umgebung, Politik und Religion unter. Der zweite strebt nur nach wirtschaftlichem Gewinn, dem alles andere dienen muß, und entsprechend verhalten sich die übrigen. >) Eduard Spranger, Lebensformen. 1914. 8. A u f l . , 1950.

Begreifen, Erklären, Verstehen

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Das Wesentliche ist nun, daß diese Lebensformen durch die das jeweilige Zeitalter bewegenden Kräfte ihre besondere Prägung erhalten. Der militärische und politische Macht erstrebende Mensch ist immer durch denselben Grundtrieb charakterisiert, aber seine Erscheinung muß sich anders gestalten im Zeitalter Cäsars als im Zeitalter Wallensteins oder Friedrichs d. Gr. Wer der Wissenschaft die höchsten Altäre errichten möchte, erscheint anders in der Zeit des Aristoteles als in der des Leibniz. Dieselben einseitigen Willensrichtungen, die hier am Einzelmenschen verfolgt sind, verwirklichen sich zeitweise bis zu einem gewissen Grade in ganzen Völkern. Uberzüchtung der theoretischen Triebe kann ein Volk der Denker und Dichter (im ungünstigen Sinne) hervorbringen, ein Übermaß des Erwerbssinnes ein Krämervolk. Wie das Individuum ist auch das Volk durch solche Einseitigkeit gefährdet. Man darf freilich nicht vergessen, daß solche Typen der Verständigung noch besser dienen als dem Verständnis. Denn es bleibt richtig, was schon die alten Griechen wußten, daß die Götter alle Dinge mit Eigennamen nennen würden. Der Historiker aber soll das nur einmal Dagewesene mit Ausdrücken beschreiben, die am Alltäglichen gebildet und jedermann verständlich sind. Sonst würde die Sprache aufhören, ein Verständigungsmittel zu sein. Man wird ferner beachten müssen, daß die einzelnen Seiten des Kulturlebens in ganz verschiedenem Grade zeitgebunden sind. An den Wissenschaften läßt sich das besonders leicht erläutern. Es gibt vielleicht solche Wissenschaften, in denen jeder, der sie durch Forschung weiterführen will, genau an dem Punkt ansetzen muß, wo der Vorgänger aufhörte. In anderen besteht die Möglichkeit, an zeitlich sehr weit entfernte Vorgänger anzuknüpfen. Ein Philosoph kann sich an Kant anschließen, aber es kann ebensogut auch Leibniz oder Piaton oder Heraklit sein, dem er das Beste verdankt. Ein Dichter mag Rilke zum Vorbild nehmen oder Jean Paul, aber ebenso kann es Dante oder Pindar sein, der ihn begeistert. Daraus ergibt sich,

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Das geschichtliche Verstehen

daß Verstehen durchaus etwas anderes ist als das Verfolgen einer Überlieferungskette, in der jedes Glied nur mit dem unmittelbar vorhergehenden und dem unmittelbar folgenden verbunden wäre. Und man kann auch hieran ermessen, daß ein überspannter Entwicklungsbegriff die Tatsachen vergewaltigt, weil er die geistige Freiheit des schöpferischen Menschen verkennt. Auf Jacob Burckhardt geht eine andere Typenbildung zurück. In seiner Griechischen Kulturgeschichte las man zum erstenmal vom hellenischen Menschen in seiner zeitlichen Entwicklung. Nacheinander werden dort behandelt: I. Der heroische Mensch; II. Der koloniale und agonale Mensch; III. Der Mensch des 5. Jahrhunderts; IV. Der Mensch des 4. Jahrhunderts; V. Der hellenistische Mensch. Seitdem haben sich die „Menschen" verzehn-, wenn nicht verhundertfacht. Der staufische, der gotische, der barocke, der nordische, der ostische Mensch ist aufgetaucht, sogar die Einheitslösung des mittelalterlichen Menschen hat Anklang gefunden 1 ). Sprangers Typenbildung ist ein Erkenntnismittel, Burckhardt prägt eine Form für gewonnene Erkenntnis. Jener sucht die allgemeinen Begriffe so weit zu differenzieren, daß sie geeignet werden, Individuelles zu beschreiben. Dieser verallgemeinert individuelle Beobachtungen so weit, daß der Umriß eines Typus sichtbar wird. Ist man einmal darauf aufmerksam geworden, wie bedeutsam das Verstehen der geschichtlichen Gestalten ist, dann wird man sich gern bei der Lektüre danach umtun, wie verschieden ein und dieselbe Größe von den verschiedenen Historikern verstanden wurde. Man frage etwa: Wie verstand Treitschke Metternich und wie versteht ihn v. Srbik? Wie verstanden Treitschke, Max Lehmann, Meinecke und Gerhard Ritter den Freiherrn vom Stein? In vielen Fällen wird der Versuch des Verstehens darauf hinauslaufen, den in den Quellen zerstreuten, keineswegs von Widersprüchen freien Stoff, der uns gegeben ist, einer einheitlichen Deutung vom Seelischen her zu unterwerfen. *) E i n e ä h n l i c h e A u f z ä h l u n g g i b t K a r l H e u s s i , D i e K r i s i s des H i s t o r i s m u s (1932) 33 m i t N . 2.

Begreifen, Erklären, Verstehen

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Es wird dann darauf ankommen, weder infolge allzu großer Zurückhaltung in unverbundenen Einzelzügen stecken zu bleiben noch um der erwünschten Geschlossenheit des Bildes willen das Gegebene umzubiegen oder wegzudeuten. Als Beispiel sei kurz das Bild Friedrichs des Weisen in der historischen Literatur angeführt. Von diesem Kurfürsten von Sachsen (1486—1525) ist aus den unmittelbaren Quellen schwer ein deutliches Bild zu gewinnen. Privatbriefe, wie er sie an seinen Bruder Johann schrieb, sind leider sehr unergiebig. Sie enthalten manche harmlos unpolitische Bemerkung und enthüllen mehr sein Interesse an Turnierwesen, J a g d und höfischen Vorkommnissen als seine Haltung gegenüber den entscheidenden Fragen der Zeit. J a , er spricht es mehrfach aus, daß er die wichtigsten Gedanken dem Papier nicht anzuvertrauen wage. Was aus Geschäftsakten und Rechnungsbüchern zu entnehmen ist, bleibt auch zum guten Teil an der Oberfläche, jedenfalls bietet es mehr Belege für sein Interesse an Kunst und Wissenschaft, für seine landesväterliche Fürsorge für geistliche Anstalten, zumal das Allerheiligenstift in Wittenberg und die dort von ihm gesammelten Reliquien als für seinen Einfluß auf Kaiser und Reich. Von seinen drei Testamenten zeigen ihn zwei als ängstlich korrekten und wahrhaft frommen Katholiken, der sich auf die Verdienste seiner Schutzheiligen gläubig verläßt; aus dem dritten und letzten spricht eine schlichte Frömmigkeit, die Heiligen bleiben unerwähnt. Von den Zeitgenossen schildert ihn der päpstliche Nuntius Aleander als den „sächsischen Fuchs", der rede, als läge ihm nichts ferner als eine Parteinahme für den Erzketzer Luther, während er diesem heimlich auf jede Weise Vorschub leiste. Der Hofgeistliche Georg Spalatin dagegen zeichnet ihn in dem Lebensbild, das er für den Neffen des Kurfürsten schrieb, als vielerfahrenen, vorsichtigen, ja ängstlichen, Krieg und Verwicklungen scheuenden Fürsten. Er erklärt, Friedrich sei Luther gegenüber anfangs sehr zurückhaltend gewesen, langsam und allmählich habe er mehr Zutrauen gefaßt und ihn zuletzt „fast wohl leiden" können.

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Das geschichtliche Verstehen

An dieses von Spalatin entworfene Charakterbild schloß sich Ranke im wesentlichen an, als er — gerade auch aus wettinischen Akten gründlich über alle Zeitumstände unterrichtet — in seiner deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation das Wesen dieses Fürsten zeichnete und seine religiösen Anliegen zu umschreiben suchte. Ähnlich verhielt sich 1881 Theodor Kolde. Er machte die Zurückhaltung, die Friedrich Luther gegenüber übte, verständlich durch reichliche Aktenmitteilungen über Friedrichs Interesse am Klosterwesen und dessen Reform und überhaupt seine aktive Teilnahme an allen Versuchen, die katholische Frömmigkeit zu beleben, wie sie die dreißig Regierungsjahre vor Luthers Auftreten ausfüllten. Ganz anders sah und schildert Paul Kalkoff den sächsischen Kurfürsten. In den zahlreichen Arbeiten, die er veröffentlichte, entwarf er in fortgesetzter Steigerung der zunächst ungewohnten Züge das Bild eines überragenden Politikers, der von früh an mit Luther vollkommen einig, konsequent und energisch die Sache des Reformators durch alle Krisen hindurch rettet. Spalatin, erklärt Kalkoff, habe seinen Herrn nicht verstanden und sei in die entscheidenden Dinge nicht eingeweiht worden. Als darauf der Verfasser des vorliegenden Büchleins, nochmals ungedruckte Quellen heranziehend, diese Frage von neuem aufnahm, ergab sich ihm: Kalkoff hat manche Quellen unzulässig interpretiert. So hat Friedrich z. B. niemals weder dem Wortlaut noch dem Sinne nach geschrieben: Luthers Sache ist Gottes Sache. Spalatins Darstellung darf man nicht einfach beiseiteschieben. Sie wird um so mehr das Richtige treffen, als sie ja geschrieben ist in einer Zeit und für Leser, die viel lieber das Gegenteil gehört hätten: nämlich es hätte stets das engste Einvernehmen zwischen Kurfürst und Professor geherrscht. Friedrich hatte zwar politischen Ehrgeiz so gut wie andere — ein neues wichtiges Zeugnis belegt das —, aber er wagte nie einen großen Einsatz. Er hing an den Reliquien noch bis in seine letzten Lebensjahre — auch dies ist aus einem früher nicht benutzten Schreiben zu entnehmen — und setzte sich doch in seinem

Standpunkte für die Sinndeutung

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Bestreben, Luthers Auslieferung an die Kurie zu verhindern, den größten Gefahren aus. So sind die von Kalkoff gezeichneten Züge — die freilich ein viel einheitlicheres Verstehen ermöglicht hätten — wieder weggewischt und der „Mensch mit seinem Widerspruch" wieder zutage gekommen 1 ). Nicht alle Größen und Vorkommnisse, mit denen die Geschichtswissenschaft es zu tun hat, sind geeignet, verstanden zu werden. Große Veränderungen etwa, die nicht im geschlossenen Zusammenhang eines Volkes sich abspielen, sondern aus dem Zusammenwirken von Naturkräften und einer Vielzahl geschichtlicher Faktoren, die z. T . sogar gegeneinander gerichtet sein mögen, hervorgehen, können nicht so verstanden werden wie das Handeln eines Staatsmannes oder einer Partei. Doch kann man eine Deutung ihres Sinnes versuchen, nicht als ob eine einzige, ihnen von vornherein innewohnende und sie ausschließlich hervortreibende Kraft entdeckt werden sollte, neben der alle andern als niditig anzusehen wären, sondern als Vorschlag, das, was sie im weltgeschichtlichen Zusammenhang bedeuten, auf eine knappe Formel zu bringen. Das Wort Sinngebung wird besser vermieden, denn wer wollte so anmaßend sein, der Vergangenheit, die unabänderlich und abgeschlossen hinter uns liegt, einen Sinn zu geben? Es liefe doch höchstens darauf hinaus, ihr einen Sinn unterzuschieben. 2. Mögliche Standpunkte für die Sinndeutung der geschichtlichen Vorgänge Auch wer es wollte, könnte nicht auf die Sinndeutung der geschichtlichen Vorgänge verzichten. Der einzelne kann es nicht, denn er richtet sein Handeln so ein, als wäre ihm der Sinn des geschichtlichen Werdens bekannt. Erst recht kann ein Volk nicht darauf verzichten. Die Wissenschaft kann es ebenfalls nicht. *) Die ältere Literatur bei Paul Kirn, Friedrich der Weise und die Kirdie. Leipzig 1926, und D ¥ 10 156.

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Das gesdiiditliche Verstehen

Ja, die geschichtliche Bewegung selbst ist immer wieder vorgetrieben worden durch solche Sinndeutung, die geschichtliches Leben erzeugt. Man kann das nicht besser ausdrücken, als es Adolf Harnack gelegentlich getan hat, anknüpfend an die preußische Niederlage von Jena 1806: „Alles kam darauf an, wie man damals diese Niederlage deutete, als zufälliges Ereignis oder als notwendiges Geschick oder als verdiente Strafe, als den Anfang des Endes oder als die letzte furchtbare Mahnung an das Vaterland, in einmütiger Kraft sich zu erheben. Die Tatsache selbst ist stumm und brutal; aber der Geist deutet die Tatsache, und je nach dem Ausfall dieser Deutung bildet er eine neue Geschichte"1). Die Möglichkeiten solcher Geschichtsdeutung sind naturgemäß erheblich vielgestaltiger als die Möglichkeiten der Interpretation einer einzelnen Quellenstelle oder der konkreten Tatsachenforschung. Größere Zusammenhänge bieten so viele Deutungsmöglichkeiten, daß kein Verständiger auf die Einigung der Gelehrten darüber reclinen oder gar warten wird. Es kann auch nicht fruchtbar darüber gesprochen werden, ohne daß zuvor ein Uberblick über die weltanschaulichen Standpunkte gewonnen ist, die man bei solchen Deutungsversuchen einnehmen kann 2 ). a) Der sogenannte Positivismus Ein weit verbreiteter Sprachgebrauch bezeichnet diejenigen, die nur gesicherte Tatsachen gelten lassen wollen und am liebsten bei ihnen stehenbleiben, sich also tunlichst jeden Höhenflug ins Reich der Idee versagen, als Positivisten. Verbindet sich diese Haltung mit einer unerfreulichen Enge des Horizontes, so kommt jene Karikatur heraus, auf die die Verse Goethes zielen, der Kopf, „Der immerfort an schalem Zeuge klebt, Mit gier'ger Hand nach Schätzen gräbt Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet!" >) R e d e n u n d A u f s ä t z e 1 (1904) U . -) U b e r z a h l r e i c h e V e r s u d i e d e r G e s c h i c h t s d e u t u n g a u s n e u e s t e r Z e i t u n d ihre theoretischen G r u n d l a g e n orientiert Klaus Z i m m e r m a n n , Über einige Prob l e m e d e r g e g e n w ä r t i g e n G e s c h i d i t s p h i l o s o p h i e , S a e c u l u m 14 (1963).

Standpunkte für die Sinndeutung

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Diesen Sprachgebrauch sollte man vermeiden, denn er f ü h r t irre. Die Väter des Positivismus wollten zwar streng kritisch gewonnene Erkenntnis bieten und sich darauf beschränken, waren aber u n d wurden zunehmend Dogmatiker und Konstrukteure. Ihr Ziel w a r : die Gesetze des Geschichtsverlaufs zu finden und danach das H a n d e l n einzurichten. Den Leuten aber, die man heute mißbräuchlich Positivisten nennt, sind „Gesetze" der Geschichte ein Greuel. Also tut man besser, nur Auguste Comte (1798 bis 1857) und die Geschichtsschreiber Hippolyte Taine (1828 bis 1893) und H e n r y Thomas Buckle (1824 bis 1862) sowie deren Gesinnungsgenossen mit dem Namen, den sie selber sich beilegten, als Positivisten, zu bezeichnen. Für die jeder verallgemeinernden Formel mißtrauisch, ja, feindselig gegenüberstehenden Historiker wäre moderne Nominalisten die treffendste Bezeichnung. Denn sie wiederholen dieselbe geistige Haltung, die den nominalistischen Philosophen des Mittelalters eigentümlich war. Doch ist dies Wort nur eingeweihten Kreisen geläufig, und daher reden wir besser von Empiristen. Die Gegner der eigentlichen Positivisten sind die Metaphysiker, die Gegner der Empiristen alle, die das Ziel der Geschichtsdeutung in der Ermittlung von Gesetzen, der Verwirklichung von Werten u. dgl. sehen, denen eben das Geschehen auf etwas hindeutet, das noch wesentlicher ist als der Tatsachenablauf selber, und die die letzte Aufgabe der Geschichtswissenschaft erst da gelöst sehen, wo man sich über die bloße Schilderung des Tatsachenablaufs erhebt. b) Historismus So recht in Mode gekommen ist der Ausdruck Historismus erst nach dem ersten Weltkriege. Bekannt war er schon früher. Die Nachschlagewerke des ausgehenden 19. Jahrhunderts verzeichnen ihn. Der früheste Beleg, der sich bis jetzt fand, ist von 1839 1 ). Historismus bezeichnet zunächst im Gegensatz zu Naturalismus eine Weltanschauung, die ') Vgl. HZ. 168 (1943) 439.

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Das geschichtliche Verstehen

den Menschen, seine Geistesentwicklung und seine Kulturschöpfungen in den Mittelpunkt stellt, nicht die Natur. Wenn eine Zeitschrift sich „Die Welt als Geschichte" nennt, bekennt sie sich zum Programm des Historismus. Der Historismus steht ferner im Gegensatz zum Pragmatismus. Er nimmt damit die durch die Romantik vertiefte geistige Bewegung auf, die sich nicht begnügt, geschichtliche Vorgänge aus den Beschlüssen der handelnden Personen zu erklären und die Weltgeschichte als eine Beispielsammlung zu betrachten, die Regeln des Verhaltens bei der Wiederkehr ähnlicher Lagen an die Hand gibt. Er macht Ernst mit der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der geschichtlichen Tatsachen und entwickelt ein Feingefühl für die sozusagen perspektivischen Unterschiede der Zeitalter. Seine Gegner werfen dem Historismus vor, er relativiere alles, begnüge sich mit dem Zuschauen und lähme die Handlungsfreudigkeit. Ernst Troeltsch spricht einmal von einem „lediglich passiv betrachtenden, geistreich vergleichenden und schließlich stumpfsinnig lernenden Historismus" 1 ). Daß dies notwendig in seinem Wesen liege, wird niemand beweisen können. Der Historismus verträgt sich schlecht mit dem Kausalmonismus. Er verwendet einen Kausalbegriff, der die quantitative Gleichheit von Ursache und Wirkung bewußt preisgegeben hat. Causa aequat e f f e c t u m gilt nur für den mechanischen Kausalbegriff; der biologische und der geistigsittliche Kausalbegriff können diese Gleichsetzung nicht aufrechterhalten 2 ). Ebenso hat er seinen eigenen Zeitbegriff 3 ). Dem naturwissenschaftlichen Zeitbegriff kommt es nur auf die Dauer an. Der Zeitbegriff des Historismus bringt es mit sich, daß kein Jahrhundert dem andern und kein Jahrzehnt dem andern gleich ist. Ganz in seinem Sinne erläuterte Goethe 1 ) Der H i s t . und seine Probleme 724. Zur A b w e h r solcher A n g r i f f e k a n n auch dienen, w a s w i r unten S . 88 f. über O b j e k t i v i t ä t a u s f ü h r e n . 2 ) Meinedce, K a u s a l i t ä t e n u n d "Werte in der Geschichte, i n : W e r k e 4. Stuttgart 1959. a ) Troeltsch, H i s t o r i s m u s 644 u. 658.

Standpunkte für die Sinndeutung

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in der Einleitung zu Dichtung und Wahrheit die Aufgabe der Biographie: „Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als den Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt, daß man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und seine Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein"4). Der alte Positivismus Comtes und seiner Schule hat sich überlebt. Das, was wir Empirismus oder modernen Nominalismus nannten, kann aus achtungswertem Eifer um die Reinerhaltung der Wissenschaft hervorgehen und als Korrektur überschwenglicher Konstruktionen gute Dienste leisten; den geistigen Hunger des die Geschichte enträtselnden Menschen befriedigt es nicht. Wollten wir den Historismus ablehnen, so würden wir damit den geistigen Reichtum, den die historische Arbeit seit Herder und Ranke erschlossen hat, preisgeben, nidit nur einzelne Ergebnisse — solche werden unaufhörlich überholt und durch andere ersetzt —, sondern die ganze Sehschärfe, die in dieser langen Erziehungsarbeit gewonnen wurde. Wir mußten uns hier schon überzeugen und werden fernerhin noch deutlicher erkennen, daß durch bloße Quellenkritik und durch psychologisches Verstehen noch kein geschlossenes Geschichtsbild zustande kommt, daß der Historiker seinen Gegenstand nicht einfach abbildet, sondern — auch wo er sich dessen wenig oder gar nicht bewußt ist — mit Hilfe gewisser vorgegebener Kategorien „erzeugt", wie Kant dies von den Naturwissenschaften einleuchtend bewiesen hat. Es ist daher unumgänglich, daß wir die zur Verknüpfung und Deutung der Tatsachen vom Historiker verwandten Begriffe untersuchen. Dabei wird es wesentlich darauf ankommen, die weltanschaulichen Grundlagen festzustellen, auf denen sie erwachsen sind. ' ) W e r k e , J u b i l ä u m s a u s g a b e 22, 6. Kirn,

E i n f ü h r u n g in d i e Geschichtswissenschaft

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Das geschichtliche Verstehen

M i t z w e i v o n den nunmehr z u erörternden G r u n d t y p e n der Weltanschauung k a n n sich der H i s t o r i k e r sehr w o h l verbinden. D e s h a l b u n d weil die Schlagwörter Positivismus u n d H i s t o r i s m u s dem angehenden H i s t o r i k e r auf Schritt u n d T r i t t begegnen, mußte v o n beiden die R e d e sein, b e v o r wir jene in ihrer Weise erschöpfende Einteilung der Weltanschauungen behandeln. c) D i e drei G r u n d t y p e n der Weltanschauung (nach D i l t h e y ) A l l e möglichen o d e r alle in klassischer A u s p r ä g u n g einm a l formulierten Weltanschauungen hier a u f z u z ä h l e n , verbietet sich aus vielen G r ü n d e n . D a h e r k o m m t uns der Versuch sehr zustatten, d e n Wilhelm D i l t h e y 1911 machte, die verschiedenen Weltanschauungen a u f die G r u n d t y p e n zur ü c k z u f ü h r e n : den N a t u r a l i s m u s , den kämpferischen I d e a lismus ( w o f ü r er dualistischer I d e a l i s m u s o d e r I d e a l i s m u s der Freiheit sagt) u n d den o b j e k t i v e n I d e a l i s m u s 1 ) . W a s N a t u r a l i s m u s ist, e r k l ä r t sich v o n selbst: die Weltanschauu n g , der die N a t u r letzten G r u n d des Seienden u n d höchste N o r m des Sollens bedeutet, die jedes V o n - d e r - N a t u r - W e g streben in „höhere S p h ä r e n " als I r r t u m oder V e r i r r u n g a b lehnt. D e n kämpferischen I d e a l i s m u s charakterisiert a m besten Schillers V e r s : „ A u s dem L e b e n heraus sind der W e g e z w e i dir g e ö f f n e t : Z u m I d e a l e f ü h r t einer, der a n d r e z u m T o d . Siehe, d a ß du bei Zeit noch frei a u f dem ersten entspringest, E h e die P a r z e m i t Z w a n g dich a u f dem a n d e r n e n t f ü h r t " 2 ) . W ä h r e n d Schiller diese F o r m des I d e a l i s m u s mit jeder F a s e r seines D a s e i n s v e r k ö r p e r t , k a n n m a n G o e t h e nicht ebenso ausschließlich f ü r den o b j e k t i v e n I d e a l i s m u s in A n spruch nehmen. Höchstens in gewissen Abschnitten seines Lebens h a t t e es ihm die F o r m e l Deus sive natura a n g e t a n . E t w a w e n n er a n J a c o b i schreibt: „Dich hat G o t t mit der M e t a p h y s i k gestraft u n d dir einen P f a h l ins Fleisch gesetzt, D i e T y p e n der W e l t a n s d i a u u n g , im S a m m e l b a n d ( 1 9 1 1 ) ; w i e d e r h o l t in G e s a m m e l t e Werke, B d . 8 (1931). 2 ) D i e idealische F r e i h e i t . W e r k e ( C o t t a ) 1, 272.

„Weltanschauung"

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mich dagegen mit der Physik gesegnet,. damit es mir im Anschauen seiner Werke wohl werde" (1786 Mai 5). Und auch sein Verhältnis zu Schiller konnte ihm ganz unter diesem Gegensatz erscheinen. So sagte er: „Er predigt das Evangelium der Freiheit, ich wollte die Rechte der Natur nicht verkürzt wissen" 1 ). In anderen Lebensperioden wiederum wimmelt es bei ihm von dualistischen Aussprüchen. Aber auch ungefähr gleichzeitig mit jenem angeführten Briefe an Jacobi, nämlich 1785, bekennt er in den Geheimnissen: „Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, Befreit der Mensch sich, der sich überwindet." Immerhin finden sich bei Goethe viele Stellen, die den Standpunkt des objektiven Idealismus ausdrücken. Für diesen ist der Weltprozeß nicht wie für jenen ein tragischer Kampf, in dem das Gute und Edle auch unterliegen könnte, sondern eine zwar nicht kampflose, aber doch unaufhaltsame Entwicklung, die mit Harmonie und Erfüllung alles tüchtigen Strebens enden muß. Das hat uns schon zu der Frage geführt: Wie stellen sich diese drei Grundhaltungen zur Geschichte? Der Naturalismus „erklärt" Ideale und ideale Größen. Er bemüht sich nachzuweisen, daß sie „eigentlich" etwas anderes sind: Abstraktionen aus der Erfahrung, Klugheitsund Nützlichkeitsregeln, Reste vorwissenschaftlicher Weltanschauung, am Ende gar Narkotika und Lebenslügen 2 ). Seine Nähe zur Naturwissenschaft (älteren Stils) gibt ihm eine Vorliebe für das Aufsuchen von „Gesetzen" der Geschichte. Naturalistisch (oder, wenn man so will, übertrieben morphologisch) ist der Ausspruch Karl Julius Belochs: „Wir hätten eine klassische Literatur, auch wenn Goethe nie gelebt hätte"; denn wo das Entwicklungsgesetz alles ist, bleibt kein Raum für den schöpferischen Einzelmenschen. 1 ) Goethes Werke, Jubiläumsausgabe 39, 32. 2 ) Rothacker, Logik und Systematik 51. Unsere gesamten Ausführungen über das Geschichtsdenken von diesen drei Standpunkten aus wären ohne Rothadcers Arbeiten nicht möglich und sdiließen sich eng an diese an.

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Bedeutender sind die Namen derer, die die eine oder andere Form des Idealismus verkörpern. Als Vertreter des kämpferischen Idealismus kann man noch Fichte und Treitschke, als objektive Idealisten Hegel und Ranke betrachten. Wo der kämpferische Idealist Werte sieht, um die man kämpft, erblickt der objektive Idealist Güter, die im Kosmos existieren. Wo jener eine Ethik des Sollens verkündet, entwickelt dieser eine Ethik des Seins. Ist jenem der Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Lüge Inhalt des historischen Geschehens, das Heldentum seine bewegende Kraft, so sind für diesen Entfaltung, Entwicklung, Gleichgewicht und Harmonie die beherrschenden Kategorien. Während jener dem Durchbruch des Neuen, den Revolutionen seine Aufmerksamkeit zuwendet, steht für diesen das organische Werden und Wachsen im Mittelpunkt, alle Katastrophentheorien lehnt er ab und wiederholt den alten Satz Natura non facit saltufn, wozu Heinrich Böhmer einmal treffend bemerkte: „Die Natur macht Sprünge, obwohl es ihr die Philosophen ausdrücklich verboten haben." Jener sieht mit dem Helden die Ideen siegen und unterliegen, dieser tröstet sich damit, daß durch die „List der Vernunft" die Kraft, die stets das Böse will, gezwungen werden kann, das Gute zu schaffen. Der Gegensatz zwischen den beiden Formen des Idealismus erstreckt sich auch auf ihre Stellung zum Kausalproblem. So wichtig es für den kämpferischen Idealismus ist, so sehr tritt es für den objektiven Idealismus zurück hinter die Vorstellung, daß die Einzelerscheinung das Ganze ausdrückt. In welchem der drei angedeuteten Lager der einzelne Historiker seinen Platz zu wählen hat, muß er selbst wissen. Uns scheint eine wirklichkeitsnahe Geschichtsauffassung durch den kämpferischen Idealismus am sichersten gewahrt. Er braucht das Irrationale und Lebensfeindliche nicht zu verschweigen, zu leugnen oder als „faule Existenz" fortzudeuten. In diesem Weltbild finden jene zwei Großmächte der Weltgeschichte ihren Platz, deren Außerachtlassen

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Treitschke der sog. klassischen Schule der Nationalökonomie zum Vorwurf machte: die Dummheit und die Sünde 1 ). Wer einmal Rothadkers Ausführungen gelesen hat über den engen Zusammenhang, der zwischen dem weltanschaulichen Standpunkt und der historischen Begriffssprache besteht, wird sich vornehmen, selber künftig sorgfältig darauf zu achten, daß er nicht Worte gedankenlos gebraucht, die seiner Gesamthaltung zuwiderlaufen 2 ). Auf zwei gefährliche Klippen sei besonders hingewiesen. Eine bildet das Wort E i n f l u ß . Es ist naturalistisch. Wäre der Mensch, das Volk, die einen Einfluß erfahren, ein neutrales Gefäß, in das man Beliebiges hineingießen kann, so wäre der Ausdruck gerechtfertigt. Sehen wir aber mit dem Idealismus in dem geschichtlich handelnden Menschen und Volk ein von geistiger Eigenkraft erfülltes Wesen, so befriedigt uns das Wort Einfluß nicht. Unendlich viel besser ist Begegnung. Schön sagt darüber Wolf gang Schadewaldt: „Ich verstehe . . . unter Begegnung ein Zusammentreffen zu guter Stunde, wo wir uns in einer unsagbaren Mischung von Hingabe und Selbstbehauptung im anderen wiederfinden und, indem jenes andere Wesen sich erschließt, uns zugleich in unserem eigensten Selbst erweckt, geläutert und erhoben wissen" 3 ). Die zweite Klippe ist das Wort E n t w i c k l u n g . Es eignet sich nur für Größen mit einem inneren Wachstumsgesetz, die eine allmähliche, organisch bedingte Ausformung bis zur vollendeten Gestalt erfahren 4 ). So wird man mit Recht von der Entwicklung des gotischen Stils, des Minnesangs oder der athenisdien Verfassung reden. Auch da indessen ist es nicht derselbe Entwicklungsbegriff, den wir anwenden, wenn wir die Entwicklung des Sdimetter') Deutsche Geschichte 5, 449. ! ) Wer die hier erhobene Forderung als allzu streng beurteilen mödite, lese nach, w i e schon Goethe einem Naturforscher den entsprechenden Fehler v o r hielt. Werke (Jubiläumsausgabe) 39, 244. s ) Windlelmann und H o m e r . Leipzig 1941 S. 6. ') D i e von Erich Brandenburg noch hinzugefügte Bedingung, d a ß diese Gebilde schließlich verblühen und absterben, empfinde ich nicht als notwendig. Vgl. dessen Sdirift: Der Begriff der Entwicklung und seine A n w e n d u n g auf die Geschichte. Berichte d. Sädis. A k a d . Phil. hist. K l . 93. H e f t 4. Leipzig 1941.

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lings aus der Raupe behaupten. Dazu sagt Karl Heussi richtig: „Bildet er (der Historiker) die Reihe a b c d, so haben zwar diese Größen ihre Entsprechung im Gegenüber (— d. h. im historischen Stoff —), sie treten dort aber nicht in dieser Isolierung und in diesem unmittelbaren Anschluß aneinander auf, sondern inmitten unzählbarer anderer Faktoren. Darum ist es ein täuschender Schein, daß die von dem Historiker gedachte Größe b sich unmittelbar aus a, c sich unmittelbar aus b usw. entwickelt habe" 1 ). Darüber aber kann gar kein Zweifel sein, daß eine Unmenge historischer Tatsachenreihen, die nüchtern betrachtet aus Stoß und Gegenstoß bestehen, kaum schiefer bezeichnet werden können, als wenn man sie mit dem Worte Entwicklung zusammenfaßt. Die übrigen Kategorien der historischen Bewegung — zunächst etwa Ablauf, Durchbruch, schöpferische Tat — ähnlich zu besprechen, besteht kein Anlaß 2 ). Wesentlich ist jedoch, sich einzugestehen, daß sie ähnlich wie die von Kant besprochenen Kategorien der transzendentalen Logik nicht aus dem Erfahrungsstoff abgelesen werden, sondern vorgegeben sind und unsere Auffassung erst möglich machen, daß wir also mit Recht auf sie als ein Mittel der Sinndeutung der geschichtlichen Tatsachen hinweisen. Wie stark in der Tat der forschende und darstellende Historiker schon mit der Sinndeutung beschäftigt ist, ergibt sich weiter, wenn wir die Auslese ins Auge fassen, die er unter dem Überlieferungsstoff vornimmt. Wer alles Überlieferte mitteilen wollte, wäre kein Historiker. Was kann er bei seiner Auslese ohne Schaden weglassen, was verdient mitgeteilt zu werden? Wegbleiben soll das Unbedeutende, aufgenommen werden das Bedeutende, insofern es entweder an sich groß oder typisch ist und darum an Stelle vieler anderer Elemente stehen kann. Wie aber scheiden wir das Bedeutende vom Unbedeutenden? Dazu bedürfen wir der Sachkenntnis in den einzelnen Lebensgebie2

Krisis des Historismus 84. ) Vgl. darüber H e i n z Heimsoeth, Geschiditsphilosophie, Bonn 1948.

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ten und unterwerfen uns den dort geltenden Wertmaßstäben. Wer eifersüchtig auf die Autonomie seiner Wissenschaft bedacht ist, mag ein solches Zugeständnis nur mit Bedauern machen. Aber ersparen kann man es ihm nicht. Will der Historiker in einer Darstellung auch die Namen der großen Mathematiker und Physiker einer Zeit erwähnen, so muß er die von den mathematischen und physikalischen Fachleuten als groß anerkannten nennen; er besitzt keinen anderen Maßstab, den er anwenden könnte. Wer diesem Zwang dadurch ausweichen wollte, daß er sagte, nicht die vollbrachte Leistung, sondern die räumlich und zeitlich fühlbare Wirkung verdiene den Maßstab abzugeben, würde unsern ersten Satz nicht widerlegen, sondern ergänzen. Denn eins besteht sehr gut neben dem andern. Wollten wir aber das gefährliche Zugeständnis machen, der Erfolg entscheide unter allen Umständen über die historische Größe, so würden wir dem von seinen Zeitgenossen verkannten Genie, das erst von Späterlebenden nach Verdienst gewürdigt wurde, die Größe absprechen. Es bleibt also dabei, daß der Historiker bei seiner Auslese Maßstäbe anzuwenden gezwungen ist, die er vorfindet. J e dichter das erhaltene Quellenmaterial ist und je weniger sich darin die überragende Bedeutung einzelner Punkte aufdrängt, desto schwerer gestaltet sich die Entscheidung. Selbst bei geistesgeschichtlichen Themen wird man nicht allein die überzeitliche Bedeutung der Männer und Leistungen berücksichtigen dürfen. Für die Aufklärungsphilosophie in Deutschland ist Christian Wolff zu charakteristisch, als daß er neben dem unendlich überlegenen Leibniz unerwähnt bleiben dürfte, und ähnlich steht in der Aufklärungsliteratur Friedrich Nicolai neben Lessing. Dem gewissenhaften Historiker wird auch gelegentlich der Gedanke aufsteigen, wie viele im stillen vollbrachte Leistungen kühl verschwiegen werden. Pestalozzi hat sich zu ihrem Anwalt gemacht, und Herbert Cysarz schreibt von ihnen: „Es kann gar nicht genug zugunsten jener namenlosen Anständigen getan und gedacht werden,

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für die die große Geschichte oft so blutwenig übrig zu haben scheint. Sie sind das Salz der Erde, das ö l an den Achsen der Staats- und Kriegsmaschinen und das Rückgrat jedes Volkskörpers. Sie geben den Geschehenskräften Wucht und Weite, eine Tapferkeit ohne Rücksicht auf den Erfolg. Allerwege handeln sie über sich selbst hinaus, bereiten sie den andern das Feld. In ihrem Tun liegt mehr als etwa nur der beste Dienst, den der Unschöpferische dem Schöpfergeist leisten kann" 1 ). Damit haben wir die Forderung anerkannt, daß der Historiker gerecht sei. Wir meinen, er muß auch sachlich sein, d.h. nach der viel umstrittenen Objektivität streben. Man drücke sich nicht um die Schwierigkeit mit Hilfe der banalen Behauptung, daß die volle Objektivität nie erreicht werden könnte. Es geht ja zunächst darum, ob man sich ihr so weit als möglich nähern soll. Wer dies durch den Hinweis auf die Unmöglichkeit der vollen Verwirklichung abzutun glaubte, gliche einem Schiffskapitän, der sagte: Es ist unmöglich, genau auf der mathematischen Linie des gewählten Kurses quer über den Ozean zu fahren. Also schleudern wir den Kompaß ins Meer und steuern wild darauf los! Die Unmöglichkeit der buchstäblichen Erfüllung eines Gebots entbindet nicht von der Pflicht der bestmöglichen Erfüllung. Der Forscher soll seinem Auftraggeber, seinem Volk und der wissenschaftlichen Welt so sachlich berichten wie ein örtlicher Truppenführer seinem Vorgesetzten über Stellung, Stärke, Bewaffnung und Kampfkraft der feindlichen Truppe. Der Feldherr darf nicht irregeführt oder angelogen werden. Er will nicht hören, der Feind sei schwach, schlecht bewaffnet und feige, wenn das Gegenteil der Fall ist. Ob er auf Grund der eingegangenen Meldungen vorsichtige oder kühne Entschlüsse faßt, steht bei ihm. Dafür trägt nicht der objektive Berichterstatter die Verantwortung. Man erziehe sich selbst zur Objektivität. Das ist nicht gleichbedeutend mit Standpunktlosigkeit. Der Geograph, der Deutschland glühend liebt, zeichnet es doch im gleichen >) H e r b e r t Cvsarz, Das Unsterbliche. 1940. S . 66 f.

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Maßstab und unter Verwendung derselben Darstellungsmittel auf die Landkarte wie die Nachbarstaaten. Es gibt auch eine Karikatur der Objektivität. Wir alle kennen sie und ihre Gefahren. Sie hat kein Recht, sich auf die eigentlich Großen der Wissenschaft zu berufen. Rankes Objektivität äußert sich im wesentlichen in einem offenen Sinn, der bereit ist, sich an allem zu freuen, was groß und kraftvoll eine bestimmte Form des Lebens verkörpert. Darin ist er dem echten Künstler verwandt. Man kann ihn leicht mißverstehen, wenn man sich allein an das vielberufene Wort aus seiner Englischen Geschichte hält: „Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulösdien, um nur die Dinge reden zu lassen" 1 ). Schon das „gleichsam" sollte zur Vorsicht mahnen. Schwerlich hätte Ranke diesen starken Ausdruck gewählt, hätte er ihn nicht bewußt oder unbewußt einem Franzosen nachgesprochen, in dessen rhetorischer Sprache er keine so schroffe Bedeutung hat. Augustin Thierry schrieb 1827 in der Vorrede zur Buchausgabe seiner Lettres sur l'histoire de France: „Ich wollte den demokratischen Charakter der Enstehung der Kommunen aufzeigen und glaubte, es gelinge mir am besten en m'effagant moimeme et en laissant parier les faits." Das bedeutet etwa: indem ich mich mit einer Rolle zweiten Ranges begnüge und bescheiden hinter die Tatsachen zurücktrete. Ranke kannte Thierry persönlich, schätzte seine Bücher und kam öfter auf ihn zu sprechen2). Schließlich hat Ranke selbst aufs deutlichste gesagt, wie er das „mein Selbst gleichsam auslöschen" verstanden wissen wollte. In einem Brief von 1828 heißt es: „Die rechte Freude ist sich vergessen, sich hingeben, sein selber besser bewußt werden in dem Größeren"»). So wie der Historiker bei der Auslese einzelne Punkte aus der Umgebung herauslöst, in der sie in den Quellen ') Werke 15, 103. ) Werke 51/52, S. 595; 53/54, S. 344, 380. Fucter, Gesdiidite d. neueren Historiographie 448 trifft nicht ganz das Richtige. R a n k e bat 1827 brieflich Varnhagen von Ense um den 1. Band von Thierry. Siehe H a n s F. H e l m o l t , Rankes Leben u. Wirken. 1921. S. 34. >) Werke 53/54, S. 2.10. !

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auftreten, bringt er sie auch in neue Zusammenhänge, in denen die Überlieferung sie nicht zeigt. Auch hier liegen schwierige Probleme der Methode. Der Geschichtsphilosoph muß sich fragen: Ist das nur ein Anordnen-im Sinn des pragmatischen Verfahrens? Oder zwingt uns eine im Sinne der kantischen Philosophie verstandene apriorische Kategorie zu derartiger Verknüpfung? Oder können wir den Anspruch erheben, den wirklichen Zusammenhang, wie er einst obwaltete, denkend wiederherzustellen? 1 ) Ein paar konkrete Beispiele sind vielleicht willkommen. H a t der Brief Theoderichs d. Gr. an Chlodwig, der durch Cassiodor, Variae II 41, überliefert ist, etwas mit jenem Sieg des Frankenkönigs über die Alamannen zu tun, der bei ihm den Entschluß auslöste, Christ zu werden? Wenn es der Fall ist, lassen sich wichtige Folgerungen daraus für den gesamten Vorgang ziehen 2 ). J e weiter der Bogen gespannt wird zwischen zwei gegebenen Punkten, desto mehr Raum bleibt dem Zweifel. Man überlege: Mit welchem Recht haben Max Weber und Ernst Troeltsch einen inneren Zusammenhang zwischen Calvinismus und Kapitalismus behauptet? 3 ). Oder gar: Ist es richtig, Wanderungen, von denen Vorgeschichte oder Geschichte melden, mit Klimaschwankungen in Verbindung zu bringen? Läßt sich zeigen, daß periodische Klimaschwankungen gelegentlich ein verstärktes Auftreten der Malaria in den südlichen Ländern und dieses wieder das Scheitern von Romzügen unserer mittelalterlichen Vorfahren verursachten? 4 ) Alle solchen Verknüpfungen sind zunächst Arbeitshypothesen. Im günstigen Falle bestätigen sie sich nachträglich durch Evidenz, d. h. eine ganze Reihe von Erscheinungen treten, wenn man die Hypothese als richtig voraussetzt, in *) S o ähnlich Troeltsch, H i s t o r i s m u s 672. ! ) S i e h e z . B . A . v a n de V i j v e r in R e v u e beige de p h i l o l . et d ' h i s t o i r e 15 (1936) und 16 (1937). ä ) D W 9496.