Einführung in den neueren deutschen Vers : Von Luther bis zur Gegenwart : Eine Vorlesung 3476006514

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Einführung in den neueren deutschen Vers : Von Luther bis zur Gegenwart : Eine Vorlesung
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ALFRED BEHRMANN

Einführung in den neueren deutschen Vers VON LUTHER BIS ZUR GEGENWART Eine Vorlesung

B. METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG STUTTGART

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ChoralStimmen< sind die Instrumentierung. Die Sprache selbst ist dabei >gestisch«. Ihre syntaktisch-rhetorische Kontur, auch ihre musikalische (im angedeuteten Sinn): der Grad ihrer formalen Schlüssigkeit erhöht sich noch durch die Bindung an den Vers. Metrisch ist der Vers, bei aller Lebhaftigkeit des Rhythmus, von der ersten bis zur letz­ ten Silbe mit der größten Strenge und Regelmäßigkeit gebaut. (Einzige Ausnahme, die wohl auf schlichtem Versehen beruht: der Vers Z. 8-11 mit einem überzähligen sechsten Fuß.) Beides, Lebendigkeit und Strenge, erscheinen am deutlichsten, wo ein einziger Vers auf mehrere Sprecher verteilt wird. 1

8.

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F. Was macht | des Prin | zen Durch | laucht ! f H. A r | thur! P. Hier! | H. Ich glaub’\ Du bist des Teufels!!

Vers und Takte werden hier durch die Grenzen der Rede zerschnitten; ihre Bruchstücke entfallen auf mehrere Sprecher. Alle Akzente sind strikt nach der Regel gesetzt. Es sind strenge metrische Verse, aber von solcher >NatürlichkeitIch glaube« statt Ich glaub’j, am Verscharakter der betreffenden Zeile gar nichts änderte (weibliche Kadenz statt männlicher). Der Eindruck ist der des Leichten, Schnellen, Natürlichen. Der Vers ist datent«. P. (heimlich)\lfer: die | berGölz! | W'ds! ich! | G. fhr, ja! | Wer sonst !\ P. Vom Platz | nicht soll | ich - ! G. (heimlich) Frei | lieh! .. F. N ü n ! \ H (Ich soll vom Platz nicht -?< statt Vom Platz nicht soll ich - ?), das Versgefüge intakt lassen. Die Ver­ wandlung der Verse in Prosa ist deshalb so lehrreich, weil sich am Wortlaut kaum etwas ändert. Was sich ändert, nämlich entspannt, ist der Rhythmus. Die metrischen Akzente, die der Vers den natürlichen hinzufügt, fallen weg. Als Prosa lautet der Anfang: Wer, lieber Gölz? Rhythmisch ein Choriambus, vielleicht mit schwächerem Schlußglied: XX X X. Der Vers ist anders. Die Zeichensetzung läßt keinen Zweifel daran: Wer! (Fra­ gezeichen). Lieber Gölz! (Ausrufezeichen). Zäsuren und Nachdruck modellieren die 41

wenigen Worte. Der Auftakt ist so beschwert, daß in der Tat ein Spondeus entsteht. De Vers verbietet aber, daß die erste überschwere Silbe den folgenden allen Nachdruck ent zieht. Sie schwächt vielleicht die zweite; spätestens bei Gölz! aber ist der Jambus wiede: fest: Wer? lieber Gölz! Ähnlich beim Schluß. Der Prosaduktus wäre: Nun, habt Ihr? ein Amphibrachys, zwei leichte Silben um eine schwere, vielleicht ein Nebenton auf de: ersten: Nun, habt Ihr?. Das Metrum fordert an dieser Stelle die Umkehrung des Amphi brachys, den Kretikus: XXX. Der Vers erzwingt nun die Vermittlung des natürlicher Akzents mit dem metrischen, ein energisches Nun? | Habt Ihr?, worin der Unmut des Feldherrn sich plastisch in drei geballten Akzenten entlädt. Ähnlich im Innern des Verses: Was? ich? Ihr, ja! Auch diese Fälle entsprechen dem Typus des Auftakts, denn dank der syntaktischen Fügung wird jedes Kolon (hier immer ein Versfuß) mit seiner stark gegliederten Komma-Formation zum Vers en miniature. Anders gesagt: der Vers zerlegt sich in Kola, die Kola in Kommata von so ausgeprägter rhythmischer Eigenständigkeit {Was? | ich? | | ihr, | ja), daß all diese kurzen, heftig herausgestoßenen Satzfetzen - meistens Silben - nur noch wie durch Zufall in das Sche­ ma des Verses zu passen scheinen. In Wahrheit sind sie höchst bewußt gesetzt, d.h. vom Metrum des Verses gelenkt. Gerade wo sich der Vers der Prosa nähert, ja, wie es scheint, zur Prosa Übertritt, wird kunstvoll, etwa durch die Vortragszeichen der Interpunktion, am Versgepräge festgehalten. Kunstvoll, nicht mechanisch: >Nun, habt Ihr?< verlöre sich nicht nur aus dem Metrum, es wäre auch schlaffer, spannungsloser als das drängende, ungeduldige Stakkato des Verses: Ntin? Habt ihr? Diese organisierende und lenkende Funktion des Verses - weit ab vom vielgelästerten Jambentrott, dem Ti-tam Ti-tam der Epigonen - gibt der Sprache jene elastische Festig­ keit, die den Stil dieser Dichtung im ganzen bezeichnet. Die Beispiele lehren, wie wenig damit gesagt ist, daß diese oder jene Dichtung in fünf­ füßigen Jamben geschrieben sei. Selbst die Bezeichnung >Blankvers im klassischen Dra­ ma« gibt keinen Begriff, der andre als die allergröbsten Gemeinsamkeiten in den Versen Lessings, Goethes oder Kleists erfaßt, nämlich fünf- oder sechsmal ti- und fünfmal tarn. Was dabei unbezeichnet bleibt, ist das Relief, der Grad der Plastizität, durch den sich der Vers von der Prosa abhebt, in die man ihn auflösen kann. Im Nathan geht es um Tole­ ranz, den Sieg der Vernunft über die häßlichste Art von Leidenschaft, den Fanatismus. Die Sprache ist weithin diskursiv, es wird erörtert, bewiesen, widerlegt. Der Stil ist der zum Lehren geeignete, die schlichteste der klassischen drei Arten, das genus humile. In der Iphigenie, wo alle wie die Götter reden, ist es die höchste, das genus sublime. Bei Kleist wird die mittlere Lage, das genus medium, nach unten wie nach oben verlassen. Der Ausdruck spannt sich von der trockensten Sachlichkeit, etwa bei der Befehlsaus­ gabe, bis zur erregtesten Leidenschaft, ja zum Paroxysmus in den Ausbrüchen des Prinzen. Entsprechend verschieden fällt in den drei Stücken die Versprägung aus. Die Unter­ schiede sind faßbar und beschreibbar als Unterschiede im Rhythmus. Das Verhältnis von Satz und Vers, also der Zusammenfall oder das Auseinandertreten syntaktischer und metrischer Fügung, Zeilenstil, milder oder harter Sprung, kurze oder lange Kola, starke oder schwache Zäsuren, viele oder wenige, glatter oder gestauter Gang, also normale 42

oder beschwerte Senkungen, im Auftakt oder im Innern, anders gesagt: seltnes oder häufiges Hinzutreten von metrischen Akzenten zu den sprachlichen, sprachlichen zu den metrischen - erst wenn dies beachtet wird, ist der Vers in seiner rhythmischen Ge­ stalt zu erfassen, der Blankvers eines Dichters oder eines Werkes von dem eines andern charakteristisch zu unterscheiden. Es versteht sich, daß eine Verslehre erst dann ihrer Aufgabe gerecht wird, wenn sie Verse individualisierend zu beschreiben lehrt. N ur so ist ein Verständnis anzubahnen, das über den Vers auf die Dichtung dringt.

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IV. DAS SONETT

Wir befassen uns mit dem Sonett. Daß dies in einiger Ausführlichkeit geschieht, hat meh­ rere Gründe. Es liefert uns in der Form, die wir den Romantikern verdanken, ein Beispiel für den gereimten jambischen Fünfheber als Äquivalent des endecasillabo. Es zeigt uns in besonderer Reinheit einen Aufbau, dem wir schon begegnet sind, die Kanzonenform. Zugleich vertritt es am eindrucksvollsten die Formen, die wir aus dem Romanischen ent­ lehnt haben und die in Deutschland seit der Renaissance so wichtig werden wie die hei­ mischen und die später übernommenen antiken. Viertens verdient das Sonett besondere Aufmerksamkeit wegen seiner weiten zeitlichen und örtlichen Verbreitung in Europa, was uns zwingt, das französische und italienische Muster zu sondern, die beide zu ver­ schiedenen Zeiten und in unterschiedlicher Weise auf das deutsche gewirkt haben. Fünf­ tens schließlich sind die Spielarten in dieser Form so zahlreich und so prägnant, daß eine ganze Morphologie, ja eine Philosophie der lyrischen Form daraus entwickelt werden könnte. Entstanden ist das Sonett am sizilischen Stauferhof um 1230.' Die kanonische Form, die sich in Italien herausbildete, hat vierzehn Verse, acht im Aufgesang mit seinen beiden Stollen, den Vierzeilern, sechs im Abgesang. Die Tendenz zur Gliederung auch des Ab­ gesangs in zwei symmetrische Teile ist früh zu erkennen. Der Oktave aus zwei Quartet­ ten als Vorsatz folgt also das Sextett aus zwei Terzetten als Nachsatz. Versmaß ist im Italienischen der Elfsilbler, seit dem späten 18. Jahrhundert im Deut­ schen nachgebildet als fünffüßiger Jambus mit obligatem weiblichen Ausgang. Die vorherrschende Reimstellung in der Oktave ist a b b a a b b a, im Sextett c d e c d e oder, mit zwei Reimen statt dreier - auf Dantes Terzine verweisend c d c d c d. Es gibt andere Formen des Reims im Sextett, doch sind die genannten in Italien und später auch in Deutschland die gebräuchlichsten. Oktave und Sextett sind durch einen tieferen Einschnitt voneinander getrennt als di beiden Hälften, in die sie sich gliedern. Formal ist das bedingt durch ihren verschiedener Umfang und die verschiedenartige Reimstellung: Klammerreim in der Oktave, ver­ schränkter oder durchflochtener Reim im Sextett. Dieser Einschnitt ist bedeutsam für den inneren Aufbau, da hier der lyrische Vorgang oder die Gedankenführung i. a. ihren Wendepunkt hat. Die Aufnahme des Sonetts in Frankreich ergab verschiedne, teilweise sprachbedingte Abwandlungen, die für die spätere Aufnahme in Deutschland entscheidend wurden. Denn französische und holländische Muster waren für die frühen deutschen Sonettisten von größerer Bedeutung als italienische. Bei Ronsard setzt sich der Wechsel des Reim­ geschlechts anstelle der obligaten weiblichen Reime des Italienischen als feste Regel durch. Ronsard ist es auch, der neben den vers commun, die natürliche Entsprechung 1 Vgl. meinen Aufsatz Variationen einer Form: das Sonett. In: DVjs. 59 (1985) 1-28. Zum Sonett s. H. Welti: Geschichte des Sonettes in der deutschen Dichtung (1884); W. Mönch: Das Sonett. Ge­ stalt und Geschichte (1955); H.-J. Schlütter: Sonett (1979).

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des endecasillabo, (und schließlich über ihn) den Alexandriner stellt. Beides wird im Lauf des 17. Jahrhunderts in Deutschland zur Norm, der Alexandriner - in seiner starren deutschen Form - als Tribut ans bewunderte französische Vorbild, der Wechsel des Reimgeschlechts, weil auch im Deutschen die Beschränkung auf weibliche Reime eine Mühe erfordert, die dem Italienischen fremd ist, weil dort auch die Endungen reimen. Hier liegen also prosodische Unterschiede vor, die das Italienische einerseits und das Französische und Deutsche andrerseits voneinander trennen. Man bedenke nur, um ein beliebiges Beispiel anzuführen, daß italienische Adverbien in der Regel weiblich enden, französische männlich: veramente, vraiment. Das Deutsche muß auch da, wo an entspre­ chender Stelle eine weibliche Bildung erscheint, die Stammsilbe reimen: wahrlich, kann also nicht, wie das Italienische, etwa bei veramente und falsamente, Wörter durch den Reim verbinden, deren Stamm - und folglich deren Sinn - am Reim gar nicht teilnimmt, sondern ihn der Endung, dem Suffix als reinem Formelement überläßt. Andre Beispiele für italienische Wörter, deren Bedeutungsträger im Reim nicht erscheinen, sind etwa amare / odiare (lieben / hassen) oder ridendo / piangendo (lachend / weinend). Wir betrachten zuerst ein Barocksonett, das die Abweichungen vom italienischen Muster aus Frankreich übernimmt. Es stammt von Hofmann von Hofmannswaldau, aus dem Jahr 1695, und ist mit Sonnet. Vergänglichkeit der Schönheit überschrieben. In der Auswahl von Hofmannswaldaus Gedichten, die Manfred Windfuhr herausgegeben hat,234 eröffnet es die Gruppe der »Vergänglichkeitsgedichte«. Es schickte sich besser für die »galanten« oder am besten für einen eigenen Abschnitt, die kapriziösen Gedichte. Inner­ lich und äußerlich ist alles daran französisch.

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ES wird der bleiche tod mit seiner kalten hand Dir endlich mit der zeit umb deine brüste streichen / Der liebliche corall der Uppen wird verbleichen; Der schultern warmer schnee wird werden kalter sand / Der äugen süsser blitz / die kr äffte deiner hand/ Für welchen solches fä llt56/ die werden zeitlich* weichen / Das haar / das itzund kan des goldes glantz erreichen / Tilgt endlich tag und jahr als ein gemeines band. Der wohlgesetzte fu ß / die lieblichen gebärden / Die werden theils zu staub / theils nichts und nichtig werden / D enn5 opfert keiner mehr der gottheit deinerpracht. Diß und noch mehr als diß muß endlich untergehen / Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen / Dieweil es die natur aus diamant gemacht?

2 Stuttgart 1964. 3 Denen solches widerfährt. 4 bald. 5 Dann. 6 Benjamin Neukirchs Anthologie Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen [...] Ge­ dichte erster theil [...](1697). N DL, N F 1 (1961) 46. Das Folgende nach meiner Einf. in die Analyse von Verstexten (21974) 71-73.

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Es fängt sehr bieder mit der Mahnung an, die Geliebte möge die Vergänglichkeit ihres schönen Leibes bedenken, die bilder- und wortreich beschworen wird. Das Gedicht be­ handelt also einen Topos, ein altes, vielfach aufgegriffenes Thema, bei dem der Leser sich fragt, ob es auf ein memento mori hinausläuft, die christliche Besinnung auf die höheren Werte des Geistes und der Seele, oder auf das Horazische carpe diem, die heidnische Er­ munterung zum Lebensgenuß, solange der Leib noch jung genug ist. Die vorletzte Zeile, Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen, scheint das hertz dem Leib und seinem Zau­ ber als das Höhere gegenüberzustellen. Noch ist die Tendenz der ersten dreizehn Verse offen. Man könnte meinen, es sei an die Verewigung des hertzens durch die Verse des Dichters gedacht. Da kommt, wie ein Querschläger, der unerwartete Schluß: Dieweil es die natur aus diamant gemacht. Erst das vorletzte Wort gibt den Sinn frei, und auch das noch auf durchtriebene Art. Denn der diamant ist Inbild ebensowohl der Leuchtkraft und Unzerstörbarkeit wie der Härte, und das letzte ist hier gemeint: das kalte, steinerne hertz, das unerweichliche. Ein neuer Topos ist da: die Hartherzigkeit der Geliebten, zu der im diamanten die Bildspra­ che plötzlich umkippt. Man nennt eine solche überraschende und witzige Wendung, die in epigrammatischer Zuspitzung die Rede belebt, ein Concetto. Es bildet in diesem Fall die raison d’être des ganzen Gedichts. Solch Witz ist romanisch, ist gallisch. Das Franzö­ sische an diesen Versen ist unverkennbar, im Aufbau wie in der äußeren Form. Es ist ein Alexandrinersonett mit geregeltem, hier mit alternierendem Wechsel von männlichem und weiblichem Reim nach dem Schema a b b a, a b b a; c c d, e e d. Die Reimstellung in der Oktave ist normal, nach italienischen wie nach französischen und deutschen Begriffen. Im Sextett dagegen ist sie typisch französisch. Es ist der Schweif­ reim, eine Form, die in Frankreich beliebt war, weil es üblich wurde, nicht m eh r als einen unbegleiteten Reim in einem Terzett zu dulden, was die klassische italienische Fol­ ge c d e c d e, den verschränkten Reim, ausschließt und die Bildung von Reimpaaren begünstigt, die italienischem Brauch widerstrebt. Die vorliegende Form mit zwei Reim­ paaren im Sextett verdankt sich Ronsard. Neben diesen äußeren Merkmalen ist der ganze Bau >französischnd Hoh’! Meer! Hügel! Berge! Felß! wer kan die Pein ertragen ? Schluck ahgrund! ach schluck’ eyn! die nichts denn ewig klagen. Je vnd Eh! Schreckliche Geister der tunckelen holen / Ihr die jhr martert vnd Marter erduldet 10 Kan denn der ewigen Ewigkeit Fewer / nimmermehr hüssen dis was jhr verschuldet! O grausamm’ Angst / stets sterben sonder sterben / Diß ist die Flamme der grimmigen Rache / die der erhitzete Zorn angeblasen: Hier ist der Fluch der vnendlichen Straffe; hier ist das jmmerdar wachsende rasen: O Mensch! Verdirb / vmb hier nicht zuverderben."

10 G. v. Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur (61979) 487. 11 Andreae Gryphii Sonnette: Das Ander Buch. N r XLVII. Zit. nach A. G. Gesamtausg. der deutschsprachigen Werke I (1963) 91.

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Schon im Druckbild erscheint das Bizarre der metrischen Form. Der Alexandriner ist zwar nicht völlig verschwunden, tritt aber zurück vor anderen Versen, von denen über­ kurze und überlange hervorstechen. Es nimmt zunächst wunder, daß der ausgeprägte Sinn des Barock für das Kanonische, Ordnungsbegründende und Gesetzverbürgende der Form einen solchen Eingriff in die geheiligte Überlieferung duldet. Im Jahr, da das Sonett im Druck erschien, vollendete der Dichter sein erstes Trauer­ spiel. Es enthält eine Szene, worin ein Zauberer einen höllischen Geist beschwört. Die Rede, in der das geschieht, verläßt den Alexandriner als Norm, mischt ihn hin und wie­ der noch ein, bewegt sich aber in Versen wechselnden Umfangs und wechselnden Metrums vom jambischen Zweiheber bis zum daktylischen Achtheber.12 Hiervon nahm die Konvention ihren Ausgang, deren Grund auch den metrischen Wechsel im Sonett Die Holle erklärt. Wo die Sphäre des Natürlichen verlassen und eine jenseitige Welt, nämlich die schreckensvolle der höllischen Geister beschworen wird, drückt sich das Wüste und Verkehrte jener Welt in der ruhelosen >Unordnung< des Versmaßes aus. Die Hölle, die dem Leser oder H örer so eindrucksvoll, d. h. so schrecklich wie mög­ lich vorgestellt werden soll, verlangt nach Farben und Tönen, die das Arsenal der übli­ chen barocken Stilmittel im Grunde nicht hergibt. Die naheliegenden sind benutzt: das Summationsschema (v. 2/3), die Bild-Ballung (congeries,13v. 6,1. Halbvers), die paradoxe Hyperbel: sterben sonder sterben (v. 11), das Paradox: Verdirb / vm b hier nicht zuverder­ ben ly. 14). Die stärkste Wirkung geht aber nicht von Figuren und Bildern aus, sondern von der metrischen Form. Der emphatische Ruf Ach! vnd weh!, der das Sonett eröffnet, ist mit so viel Bedeutung geladen, daß ihm zugemutet wird, den ganzen ersten Vers zu füllen und das Muster für alle Rahmenverse der Quartette zu bilden. Als extremer Kurzvers - katalektischer Ditrochäus - kontrastiert er ausdrucksvoll mit den langen Binnenversen der Quartette, den einzigen Alexandrinern des Sonetts, die durch häufige schwere Füllung von Senkungssilben - in jedem Auftakt, zweimal auch im >Auftakt< von Abversen (v. 2/3) - und das Staccato der kurzen, ein- oder zweisilbigen Aufzählungsglieder derselben grammatischen Form (Substantiva im Nominativ) besonders voll und aus­ ladend wirken. Schärfer noch hebt sich der Kurzvers, der die Oktave beschließt, von dem überlangen ab, der das Sextett eröffnet, einem achttaktigen Daktylus, geteilt in zwei katalektische viertaktige Halbverse ( x x x x x x x x x x x | x x x x x x x x x x x ) . Er bildet das Muster der Anfangs- und Mittelverse in den Terzetten, denen als Schlußvers jeweils ein hyperkatalektischer >gemeiner Vers< (vers commun), also wiederum eine Abweichung von der Norm des Alexandriners, folgt ( X X X X X X X X X X X ) . Damit sind nicht nur, was ungewöhnlich genug ist, verschiedene Taktgeschlechter - Trochäen, Jamben, Daktylen - und Verse verschiedensten Umfangs - vom Drei- bis zum Zweiundzwanzigsilbler - in die vierzehn Zeilen gestellt: den 68 Silben der Oktave steht ein Übergewicht von 112 Silben im Sextett gegenüber. Das übliche Umfangsverhält-

12 Andreae Gryphii Leo Armenius [...] (1650) IV 2. S. Anm. 11, V (1965) 64-66. 13 Siehe H. Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik (21963) § 80.

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nis (100 : 76 bzw. 7414) ist damit verkehrt, die Hölle, in der sich die Ordnung des Geschaf­ fenen umkehrt, in der Umkehrung der Sonettproportionen zitiert. Das Abbilden ist also weitgehend der Form übertragen. Sie leistet es durch hartes rhythmisches Stoßen, wo das Metrum gemessenen Wechsel als Norm unterlegt (v. 2, 3), durch den Sprung vom ersten zum zweiten Quartett (Ach vergeh! II Tieff’ und H oh’!), durch den harten Bruch zwischen dem bündigen Schluß der Oktave (Je vnd Eh!) und dem ruhelosen daktylischen Laufen zu Beginn des Sextetts, in dem das jmmerdar wach­ sende rasen sich ausdrückt, schließlich durch die Verkehrung des Umfangs von Auf­ gesang und Abgesang. Solche Verstöße gewinnen ihren Ausdruckswert aus der Erwartung einer Norm, die hundertfach erfüllt sein muß, damit ihr Bruch als Schock wirken kann. Die Spannungen und Paradoxien des Gedichts sollen den Leser aufrütteln zu dem Entschluß, lieber zu verderben, d. h. einen schuldlosen irdischen Tod zu sterben, als die endlose Agonie der Verdammnis, ein sterben sonder sterben, zu erdulden. Der Dreißigjährige Krieg, 1646 im 28. Jahr, mag dem Dichter nicht nur die Bilder eines jmmerdar wachsenden rasens und die Hölle als brennendes Thema aufgedrungen, er mag ihm auch den Sinn für die Symbolik der Form, nämlich der von gesetzter und zerstörter Ordnung, geschärft haben. Das 17. Jahrhundert hat eine Fülle von Sonetten hervorgebracht. Das 18. Jahrhundert ist dem Sonett nicht sonderlich günstig. Erst Bürger und sein Schüler August Wilhelm Schlegel verhelfen ihm zu neuem Leben, ja entfesseln eine Sonettenwut, von der auch Goethe ergriffen wird. Ihr Muster ist das italienische Sonett in der Form, wie sie beson­ ders Petrarca in den 317 Sonetten seines Canzoniere (X47Q/72) herausgebildet hat. Vers­ maß ist der fünffüßige Jambus als Entsprechung des endecasillabo, bei Schlegel, dem Goethe sich anschließt, mit obligatem weiblichen Ausgang, wie im Italienischen. Die alternance, der geregelte Wechsel von weiblichen und männlichen Reimen, verschwindet also - ein Verlust, wie Johann Heinrich Voß erklärte.15 Sein Argument ist prosodisch. Er hält die ausschließlich gebrauchten weiblichen Reime des Italienischen für eine Schwäche, die aus der Weichheit der italienischen Sprache herrühre. Es sei falsch, dem reicheren und kräftigeren Deutschen eine Regel aufzubürden, die im Italienischen als Folge eines Mangels erscheine. Schlegel behauptet hingegen, die Kürze des Sonetts erfor­ dere, »daß jede Stelle durch das Vollkommenste in ihrer Art« zu füllen sei.16 Der weibli­ che Reim erscheint ihm sonorer und prächtiger als der männliche. Wir betrachten ein Sonett von Goethe aus dem Jahr 1802, das in den Werk- und Ge­ dichtausgaben ohne Titel erscheint. Es gehört zur Gattung des poetologischen Gedichts: ein Sonett über die Kunst des Sonetts.

14 Je nachdem die Reimpaare oder die in einem Terzett allein stehenden Reime weiblich schließen: 76 bzw. 74 Silben. 15 In seiner Rezension von Bürgers Sonetten. JA LZ, 4. Juni 1808, Sp. 436. S. hierzu Schlütter (Anm. 1), S. 18. 16 Vorlesung über das Sonett (Winter 1803/04), Ms. S. 324ff. Zit. bei Welti (s. Anm. 1), S. 247.

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Natur und Kunst sie scheinen sich zu fliehen, Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden; Der Widerwille ist auch mir verschwunden, Und beide scheinen gleich mich anzuziehen. 5

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Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen! Und wenn wir erst in abgemess’nen Stunden Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden, Mag frei Natur im Herzen wieder glühen. So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen: Vergebens werden ungebundne Geister Nach der Vollendung reiner Höhe streben. Wer Großes will muß sich zusammenraffen; ln der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, Und das Gesetz nur kann uns Freiheit gebenß

Das Gedankliche, das Eröffnen, Durchführen und Abschließen eines Themas, der durchsichtige stufenartige Aufbau, der jeweils ein Moment der Beobachtung, Erfahrung oder Erkenntnis in ein Bauelement einschließt, bewirkt ein Ethos, das Heinrich Welti als lyrische Didaktik gekennzeichnet hat.1718 Die drei Wörter, mit denen das Gedicht beginnt, Natur und Kunst, bilden zugleich den thematischen Kern, wobei Natur ein >natürliches< Hervorbringen von Kunst bedeu­ tet. Es treten sich damit eine unwillkürliche und eine mehr gebundne, regelgemäße Form der Produktivität gegenüber. Was dem Dichter am Ende die Kunst so anziehend macht wie die Natur, ist die Aussicht, durch die Kunst hindurch zu einer zweiten, höheren Natur zu gelangen. Der Neueinsatz im Sextett erhebt die poetische Übung, die Impuls und Regel mit­ einander versöhnt, zum Gleichnis. Das Meistern des Handwerks, durch Fleiß zur zwei­ ten N atur geworden und durch Geist zur Kunst erhöht, wird ein Beispiel aller Bildung. Die Sprache strafft sich, wird knapp, fest, gnomisch. Dem Spruchhaften, das sie so mü­ helos annimmt, verdanken wir ein geflügeltes Wort: In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister. Doch nicht nur, daß der Ausdruck horazisch wird in seiner gediegenen Kür­ ze: der Begriff der Bildung, den der Abgesang einführt, gewinnt zum Schluß philosophi­ sche Prägnanz. In einer Schillerschen Wendung kommt die Natur mit der Freiheit und die Kunst mit dem Gesetz überein. Das Schaffen von Kunst wird zum Gleichnis für menschliches Leben. Und das Sonett, ein lyrisches Gebilde, wird philosophisch. Die Form dieses Gedichts ist die strengste, wenigstens die regelmäßigste, die ein Sonett im Deutschen annehmen kann. Regelmäßig bezüglich der Kadenz (durchgehend weiblich), der Reimzahl (nur zwei in der Oktave), der Reimstellung (umarmend und da­ mit identisch in beiden Quartetten). Im Sextett ist mit c d e c d e aus den Mustern, die Petrarca kanonisiert hat, das geläufigste gewählt. 17 WA IV 129 (HA I 245). 18 Geschichte des Sonettes (s. Anm. 1), S. 42.

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Von Kunstfehlern sind die Verse frei. Weder findet sich der künstliche zweisilbige Reim vom Typus >fliehetVitium< und dem, was dazu »auch übel klinget«.) Wo dem Reim alles Flüchtige abgeht, jene Beiläufigkeit, die er in Endungen und Suffixen hat, kann seine Häufung gezwungen, ja aufdringlich wirken. Dies zumal bei aneinander­ stoßenden Klammerreimen, wo sich leicht der Eindruck einer mechanischen Starre er­ gibt. Mitunter empfindet das O hr gerade an diesem Punkt des Sonetts, dem einzigen »Reimeck« in einer Blockfuge, ein Abtönen eher als schön. Dann jedenfalls, wenn es nicht aus Unvermögen, sondern absichtlich erfolgt. Das ist hier der Fall. Denn die Reimvarian­ ten sind geordnet auf die Quartette verteilt - I: ie, II: « - , so daß der Klang von einem zum andren leicht variiert, nicht aber in jedem einzelnen wechselt, was dem Reimzwil­ ling die genaue Entsprechung entziehen und im ganzen Aufgesang die Klarheit der Klangverteilung beeinträchtigen müßte. Namentlich im 20. Jahrhundert entsteht eine Form, die man als deutsches Sonett be­ zeichnet. Sie läßt im zweiten Quartett neue Reime und überall einen Wechsel von weibli­ chen und männlichen Ausgängen zu, in der strafferen Form einen regelmäßigen. Schema ist also a b b a, c d d c; e f g, e f g. Die Freiheiten werden oft noch weiter getrieben: Kreuz- oder Paarreim statt umarmenden Reims in der Oktave, andre Reimstellung im zweiten Quartett als im ersten, also etwa a b b a , c d c d oder a b a b , c c d d usw. Dies in deutschen Gedichten, doch auch in Übersetzungen von Sonetten, die strenger gebaut sind, etwa in petrarkischer Form. Daneben gibt es Sonette, die zwischen italienischem und deutschem Typus vermitteln. Ihre Besonderheit gibt Aufschluß über die Gestal­ tungsabsicht. Wir wählen als Beispiel ein Sonett von 1910, Georg Heyms Louis Capet Die Trommeln schallen am Schafott im Kreis, Das wie ein Sarg steht, schwarz mit Tuch verschlagen. Drauf steht der Block. Dabei der offene Schrägen19 Für seinen Leib. Das Fallbeil glitzert weiß.

19 Der Schrägen ist eigentlich »ein Gestell aus schräg od. kreuzweise gegeneinander gerichteten Stäben« (Wahrig), auch eine »Totenbahre« (Duden). Hier die hölzerne Platte, an die der Verurteilte stehend geschnallt und dann »schräg« in die Waagerechte herabgesenkt wird, so daß er bäuchlings unter dem Fallbeil liegt.

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Von vollen Dächern flattern rot Standarten. Die Rufer schrein der Fensterplätze Preis. Im Winter ist es. Doch dem Volk wird heiß, Es drängt sich murrend vor. Man läßt es warten. Da hört man Lärm. Er steigt. Das Schreien braust. A u f seinem Karren kommt Capet, bedreckt, Mit Kot beworfen, und das Haar zerzaust. Man schleift ihn schnell herauf. Er wird gestreckt. Der Kopf liegt a u f dem Block. Das Fallbeil saust. Blut speit sein Hals, der fest im Loche steckt.20

Der 10. August 1792, der Tag des Tuileriensturms, beseitigte in Frankreich mit dem Königtum den letzten Rest der alten Verfassung. Der König wurde verhaftet und suspen­ diert. Es folgten Prozeß, Anklage und Urteil. Am Vormittag des 21. Dezember 1793, kurz nach zehn Uhr, bestieg der letzte Nachkomme der Kapetinger, der Frankreich regiert hatte, der Bourbone Ludwig XVI., als Bürger Louis Capet auf dem Revolutions­ platz inmitten einer großen Menschenmenge das Schafott und wurde geköpft. Den Stil des Gedichts bestimmt die Wucht der kurzen, gedrungenen Sätze. Kein Versblock, der weniger als vier, einer, der sechs aneinandergekeilte Hauptsätze um­ schließt. Sechs Sätze, fünf davon Hauptsätze, zwängen sich allein ins letzte Terzett. Ein einzelner Vers nimmt zwei (v. 7, 8,12,13), ja drei Hauptsätze in sich auf (v. 9). Lakonisch ist nicht nur der Satzbau. Auch der Gestus, mit dem benannt, gereiht, gefügt wird, die mise-en-scene hat die Knappheit und gespannte Kraft des genus durum, eines Stils, stei­ nern, aber vibrierend, wie in Shakespeares Coriolan. (Kennzeichnend die rhythmische Härte durch Senkungsbeschwerung im Auftakt: v. 14 Blut speit, ähnlich v. 3 D rauf steht, im Versinnern: v. 2 Sarg steht, schwärz, v. 13 Der Köpf liegt.') Der Reim erweist das Gedicht als >deutsches< Sonett, freilich mit einigen Besonderhei­ ten. Anstelle der im Italienischen geforderten weiblichen Reime herrscht nicht, wie üb­ lich, in allen Teilen geregelter Wechsel von weiblichen und männlichen oder, umgekehrt, von männlichen und weiblichen Reimen. Der findet sich nur in der Oktave, das Sextett hingegen hat durchweg männlichen Reim. Der Klammerreim, als häufigste Form in den Quartetten auch hier verwendet, macht nicht von der üblichen Freiheit Gebrauch, im zweiten Quartett die Reime zu wechseln (a b b a, c d d c). Vielmehr erscheint der Außen­ reim des ersten Quartetts als Innenreim des zweiten (a b b a, c a a c), ein Zug, den die Assonanz der übrigen Reime - verschlagen / Schrägen - Standarten / warten - noch hör­ bar verstärkt. Nähert sich das Gedicht damit der strengen italienischen Form, so zeigt auch die Art, wie der Reim im Sextett behandelt ist, eine Strenge, die eher dem geschloßnen italie­ nischen Typus entspricht als dem offenen deutschen. Ein durchflochtener Zweireim (d e d e d e) bindet nämlich den Abgesang terzinenförmig zusammen. Die Einheit, die

20 Georg Heym. Ausgew. von K. L. Schneider und G. Martens (1971) 21 f. (Der Text in K. L. Schneiders Gesamtausgabe der Dichtungen und Schriften Georg Heyms, I [1964] 87, ist fehlerhaft.)

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so entsteht, erhöht den Eindruck des Unerbittlichen, womit sich das Ende des Königs und damit der alten Ordnung vollzieht. Das Reimgeschlecht allerdings, der feste männli­ che Versschluß - vereint mit der Vielzahl knapper ein- oder zweisilbiger Wörter - verleiht dem Sextett eine Kantigkeit, die nur das >deutsche< Sonett als möglichen Umriß enthält. Dies Kantige ist Ausdruck der Wucht, einer heftigen Nüchternheit, die Sachen, Men­ schen, Vorgänge zusammenzwingt wie Steine zu einem Bau. Die Struktur des Sonetts ist nicht genutzt, um lyrischen Ausdruck oder die >musikalische< Durchführung eines Gedankens zu organisieren, sondern tektonisch. Die Quaderform mit ihrem Flächenund Liniengefüge gibt den Grund ab zu einem Bauen aus sinnträchtigen Bildern, zur Kunstfigur. Dem strengen Herrschen der Geschichte, das politisch wie poetisch zum Bild wird in der Tötung des Königs, entspricht das Sonett. Daher die Mittelstellung des Gedichts zwischen italienischer und deutscher Gestalt. Neigt der Reim im Bauplan zur Geschlossenheit des Italienischen, behauptet er in der Verskadenz die Freiheit des Deut­ schen zum Ausdruck entschiedener Härte. Wir kommen zu einem letzten Beispiel, einer sehr eigenwilligen Form des Sonetts, dem Stück XXII aus dem ersten Teil der Sonette an Orpheus, die Rilke 1922 schrieb. Es ist ein Gedicht, dessen metrische Analyse die genaueste Aufmerksamkeit fordert. WIR sind die Treibenden. Aber den Schritt der Zeit, nehmt ihn als Kleinigkeit im immer Bleibenden. 5

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Alles das Eilende wird schon vorüber sein; denn das Verweilende erst weiht uns ein. Knaben, o werft den Mut nicht in die Schnelligkeit, nicht in den Flugversuch. Alles ist ausgeruht: D unkel und Helligkeit, Blume und Buch.2'

Wir haben das Barocksonett A u ff Ihre Gesundheit als madrigalisch bezeichnet. Die Fra­ ge liegt nahe, ob nicht das vorliegende zum gleichen Typus gehört. Sein Vers ist kurz, kürzer noch als der Vierheber in jenem Gedicht: ein Zwei- und Dreiheber; die rhythmi­ sche Beweglichkeit - in Daktylen und dreisilbigen Reimen - noch größer; der Reim ge­ lockert: vier Reime statt zweier in der Oktave, erst Klammer-, dann Kreuzreim. Die Antwort lautet, daß zwar beiden Gedichten eine Entfernung von der Norm des Sonetts, auch in ähnlicher Richtung, nämlich auf Leichtigkeit und Sanglichkeit, eignet, daß aber

21 Sämtl. Werke I (1955) 745.

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der Vers, der Grund seiner Wahl, die Art seiner Wirkung jeweils andere sind und daher verschiedne Bezeichnungen für beide Sonette geraten erscheinen. A u ff Ihre Gesundheit ist ein geselliges Stück. Das Konventionelle, das solche Erzeug­ nisse kennzeichnet, verbirgt es nicht. Das Versmaß, wie sehr es sich rhythmisch differen­ ziert, bleibt als Schema dem üblichen, Sonett wie Madrigal beherrschenden Alternieren von Hebung und Senkung verpflichtet. Die Lockerung, das Sanglich-Gelöste, bleibt im Umkreis des Witzig-Tändelnden. Es dient dem Vergnügen von Kennern, die spieleri­ schen Umgang mit Formen, eine anmutige Kleinigkeit wie dies ins Madrigal verschobne Sonett zu schätzen wissen. Wir sind die Treibenden ist nicht ein geselliges, sondern ein dem Einzelnen zugespro­ chenes Stück, auch wenn mit Wir die Menschen und mit Knaben die Jugend als Ganzes gemeint und angerufen sind. Bei allem Schwebenden ist der Ton ein suggestiver, be­ schwörender Ton. Die sprachlichen Mittel - man möchte von musikalischen sprechen sind jene des Liedes, eines Liedes, dessen Gangart von fern ans Ungebundene sanglicher Formen erinnert. Dies auf die subtile, ja virtuose Art des romantischen Kunstlieds. Zum Schwebenden, das seine Liedhaftigkeit ausmacht, verhilft dem Gedicht das Oszillieren des Metrums. Daß der Rhythmus das Metrum an verschiedenen Stellen um­ spielt, ist natürlich. Daß er dagegen die metrische Form, die ihn tragen sollte, verdunkelt, mehrdeutig macht, ist bemerkenswert. Ungewöhnlich für ein Sonett, selbst für ein Kurzverssonett, ist bereits die Art, wie die Taktzahl hier schwankt. Denn nicht nur lösen sich Zwei- und Dreitakter ab: die Verse 8 und 14, die Schlußverse der Oktave und des Sextetts, sind verkürzt - Zweitakter, wo die Erwartung, geleitet vom Wechselprinzip, auf Drei­ takter zählt. Mehr noch: das Metrum selbst bleibt nicht fest. Neben Verse, die durchweg daktylisch gebaut sind - Wir sind die Treibenden (so v. 4, 5, 7, 10, 13) - treten solche, die trochäisch schließen, obwohl sie daktylisch beginnen: Aber den Schritt der Zeit (so v. 3, 6, 9, 11, 12). Ihnen entsprechen die erwähnten verknappten Verse 8 und 14. Zumindest ist diese Annahme möglich. Zwar läßt sich v. 14, für sich betrachtet, als gekürzte Daktylenzeile verstehn (Blume und Büch ...), doch legt der trochäische Schluß des Reimzwillings (v. 11) nahe, auch hier trochäischen >Stamm< zu vermuten. Vers 8 tendiert darüber hinaus durch seine rhythmische Gestalt als Ganzes zur Alternation und wäre insofern als jam­ bisch zu deuten (erst weiht uns ein). Soll jambisch das Metrum bezeichnen (und nicht nur den Rhythmus an dieser vereinzelten Stelle), so wäre freilich nach Parallelen in ande­ ren Versen zu suchen. Ein Beispiel böte v. 4: im immer Bleibenden. Nimmt man Anaklasis an, wie sie gern im Eingang von alternierenden Versen erscheint, so könnte v. 11 als durchgehende Jambenzeile erscheinen: nicht in den Flugversuch. Andre Verse, wie der sechste, erlaubten solche Deutung: wird schön vorüber sein. Freilich wirkt auf v. 11 der Sog von v. 10, der ein reiner Daktylenvers ist (nicht in die Schnelligkeit) und den Rhyth­ mus im Eingang des folgenden anaphorischen Zwillings (nicht in den ...) auch als Metrum befestigt. Den Daktylus als metrisches Muster zu nehmen liegt deshalb schon iahe, weil kein anderer Eingang grundsätzlich ein anderes fordert, Fälle wie erst weiht ms ein ..., im immer Bleibenden also rhythmische Versetzungen, nicht metrische Alterlativen des Daktylus darstellen. Ein Beispiel bietet der erwähnte v. 10 mit seinem prägenden Einfluß auf den folgenden 55

Vers. Zur Anapher (nicht in die ... / nicht in den ...) tritt eine weitere Form von Parallelis­ mus: die Gleichheit der dreiteiligen Wortkörper in Schnelligkeit und Flugversuch. Beides sind Wörter, deren natürliche rhythmische Gestalt der Daktylus ist. Beide zeigen zu­ gleich ein Übergewicht der letzten Silbe über die vorletzte (XXX), das hinreicht, um die Wörter im Vers als Trochäen zu brauchen (XXX). Trotz ihrer rhythmischen Zwillingsgestalt ist das erste daktylisch gedacht: es reimt mit Helligkeit, das zweite trochäisch: es reimt mit Büch. Dieselbe Erscheinung ist auch sonst zu beobachten. Ein Wort, das Schnelligkeit im Rhythmischen aufs engste entspricht, Kleinigkeit (v. 3), ist, metrisch gesehen, ein (katalektischer) Ditrochäus: es reimt mit Zeit, wird aber zugleich in seiner daktylischen Naturform durch umgebende echte Daktylenreime gestärkt: Treibenden / Bleibenden. So in v. 6 (vor)iiber sein, das zwischen Eilende und Verweilende unwillkürlich daktylisch erscheint, metrisch aber zweihebig ist (Reimzwilling: ein). Zwischen dem Schein­ daktylus Flugversuch und dem echten Daktylus Helligkeit nimmt sich ausgeruht (v. 12) gleichfalls daktylisch aus, zumal auf diese Weise der Eindruck einer vollständigen Daktylenzeile entsteht (Alles ist dusgeruht)', metrisch schließt die Zeile aber betont: -ruht (Reimzwilling: Mut). Diese real daktylischen männlichen Schlüsse könnten bei längeren Versen den Reim­ klang schwächen, weil eine beiläufige (nebentonige) Silbe den Reim trägt, die eher an­ klingt und mitklingt als >bautGesangreimen< vom Ende des einen Verses zum Anfang des übernächsten: Tönen Geigen, Klarinetten Und sie scheinen den graziösen Amoretten zu entströmen Dazu tritt ein Reichtum von Klangbeziehungen aller Art, die den Reim ersetzen, ja mehr als ersetzen, da sie nicht mechanisch eintreten, sondern überraschend. Die einfachsten sind Assonanzen wie gewoben/entworfen, Flieder/ihnen, graziösen/entströmen, wozu auch Formen wie Füßen/Stufen oder lieblich/sechzig gehören. Subtiler sind solche, die innerhalb eines Verses die Mitte mit dem Ende assonieren lassen: Nelken wiegen sich im Winde oder die Mitte eines Verses mit dem Ausgang des nächsten verbinden: Wappen nimmermehr vergoldet, Sphinxe, durch das Dickicht schimmernd [.] Die entschiedenste Abkehr vom Reim erfolgte aber nicht in den Trochäen der Anakreon­ tiker, sondern in der Ode und im Hexameter. Es war Klopstock, der diese Formen zwar nicht als erster verwandte, doch bahnbrechend und vorbildlich wirkte. Seine Abkehr von der Reimdichtung und die Hinwendung zu antiken Mustern bedeutete nach seinem eig­ nen Verständnis einen Bruch und einen völligen Neubeginn in der deutschen Dichtung. Neu war sein Bild vom Dichter. Er war nicht mehr der Verseschmied, der Unterhaltungs-, Belehrungs- und Gelegenheitspoet, wie ihn die Zeit bis dahin gekannt hatte, auch nicht der gelehrte dichtende Antiquar, sondern der ergriffene Sänger, der vom Höchsten sprach: Freundschaft, Vaterland, Unsterblichkeit, Gott. Die Hinwendung zur Antike ge­ schah, weil Klopstock eine Strenge dort fand, eine Zucht und Reinheit der Sprache, die ihm geeignet schien, die Dichtung der Deutschen zu ihrer höchsten Möglichkeit zu füh­ ren. Die Antike war nicht das einzige Vorbild, wenn auch das höchste. In seinem Aufsatz Von der Sprache der Poesie (1758) schrieb Klopstock: »Der deutsche Poet, der zu unsern Zeiten schreibt, findet eine Sprache, die männlich, gedankenvoll, oft kurz, und selbst nicht ohne die Reize derjenigen Annehmlichkeit ist, die einen fruchtbaren Boden schmückt, wenn sie mit sparsamer Ueberlegung vertheilt wird. [...] Sie kann gleichwohl, wie mich deucht, auf zwo Arten noch weiter ausgebildet werden. Die eine ist: Ihre Skri­ benten [...] gehen auf dem Wege fort, den L u th er, O p itz und H a lle r [...] zuerst be­ treten haben. Die andre Art ist: Sie ahmen der griechischen Sprache, der römischen und einigen unserer Nachbarn nach: jenen, weil sie durch Meister gebildet worden sind, de­ ren Werke in allen Jahrhunderten Muster bleiben werden; und diesen, in so fern sie theils von jenen ersten Mustern gelernt haben, theils eigne Schönheiten besitzen.«7 Am Ende des Aufsatzes heißt es: »Die feurige bildervolle Kürze der hebräischen Sprache; die Fülle und die angemeßnen feinen Bestimmungen der griechischen; den Anstand, die Würde und den hohen Ton der römischen; die Stärke und die Kühnheit der englischen; die Bieg­ samkeit und die Annehmlichkeit der italienischen; und die Lebhaftigkeit und sorgfältige 7 Von der Sprache der Poesie (1758). Klopstocks sämmtl. Werke X (1855) 211.

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Richtigkeit der französischen, wird die männliche und ungekünstelte deutsche Sprache desto glücklicher erreichen, je freier die Art und je reifer die Wahl seyn werden, womit sie nachahmen wird.«8 Die Antike betreffend, hält sich Klopstock zum einen an die Ode, zum anderen an den Hexameter. Wir befassen uns zunächst mit der Ode. Die Ode - das Wort bedeutet Gesang - ist ein feierliches Lied in hohem Stil. In Griechenland erscheint sie in den Formen der pindarischen und der äolischen Ode. Die pindarische Ode ist ein Chor­ lied von triadischem Bau: eine Strophe (CTTQOtprj), eine gleichgebaute Gegenstrophe (övxicrtpotpf)) und eine anders gebaute Epode (¿JttuÖög) schließen sich zu einer Gruppe zusammen, die beliebig oft wiederholt werden kann. (Die Triadengliederung entspricht also der Form des Aufgesangs aus zwei gleichgebauten Stollen mit einem anders gebau­ ten Abgesang.) Die pindarische Ode hat in der römischen Dichtung keine Nachfolge ge­ funden; ebensowenig bei Klopstock. Erst Hölderlin wird auf Pindar zurückgehn. Die zweite Form der griechischen Ode ist die monodische. Sie wird von einem einzelnen zur Begleitung eines Saiteninstruments, des Barbiton oder der Leier, gesungen und besteht aus vierzeiligen Strophen beliebiger Zahl, die alle identisch gebaut sind. Diese Form der Ode ist von den Römern, von Catull und Horaz, übernommen worden und hat in dieser Gestalt, als horazische Ode, auf die modernen europäischen Literaturen gewirkt. Auch Klopstocks Vorbild ist vor allem Horaz. Die drei wichtigsten Formen der monodischen Ode sind die sapphische, die alkäische und die asklepiadeische, benannt nach den Dichtern, von denen sie stammen: Sappho, Alkaios, Asklepiades. Als asklepiadeisch faßt man mehrere Varianten eines Strophen­ typus zusammen, insgesamt fünf (die Zählungen in den Handbüchern wechseln). Wich­ tig im Deutschen sind die zweite und vor allem die dritte asklepiadeische Strophe. Wir wenden uns zunächst der sapphischen Ode zu und betrachten sie anhand eines berühm­ ten Beispiels. Das Nächstliegende wäre ein Gedicht der Sappho selbst. Aber wer kann noch griechisch? Glücklicherweise besitzen wir eins ihrer schönsten Lieder in einer römischen Fassung. Ich meine das rtLveTcii poi xijvog 1005 üeoioiv [Phäinetai moi kanos isos theoisin],9 das Catull übersetzt und weitergebildet hat. Ich zitiere das Gedicht im lateinischen Original und in einer Übersetzung von Werner Eisenhut, die den Vorteil hat, größtmögliche Treue mit dem Erhalten der metrischen Form zu verbinden. Zuvor noch eine Bemerkung zum Sprechen. Wie Sie wissen, vermeidet der antike Vers den Hiat. Wo also Vokale auf der Wortgrenze Zusammenstößen, wird einer, in der Regel der erste, elidiert. Der Fall tritt im dritten Vers der zweiten Strophe bei Lesbi(a) aspexi und im zweiten Vers der letzten Strophe bei oti(o) exultas ein. Einer ähnlichen Regel un­ terliegt die Verbindung von Vokal und Nasal vor dem vokalischen Anlaut eines folgenden Worts. Der Fall tritt zweimal in der letzten Strophe ein: molestum est, das zu molestumst zusammengezogen, und otium et, das wie normaler Hiat behandelt, also zu oti(um) et verknappt wird. Eine Schwierigkeit beim Vortrag lateinischer Verse liegt weiterhin darin, daß der natür8 S. 214. 9 »Jener scheint mir den Göttern gleich.« Sappho. Ed. M. Treu (21958) 24 (f.) mit Übersetzung. Dass, in Catull. Ed. W. Eisenhut (51960) 188 (f.).

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liehe Wortakzent und der metrische Akzent, also die Hebung, immer wieder auseinan­ dertreten und erst im Versschluß zusammenfallen. Ich nenne als Beispiel das Wort >sitzend< in v. 3, sedens, dessen Wortakzent auf der ersten Silbe liegt, die im Vers eine Sen­ kungssilbe ist, nämlich kurz, während die zweite, in der Prosa unbetonte, eine Hebungs­ silbe ist, nämlich lang. Ein guterVortrag darf weder den natürlichen noch den metrischen Akzent verwischen, weder also sedens noch sedens artikulieren, sondern sedens, mit dem Iktus auf der ersten und dem vollen Austönen der Länge in der zweiten Silbe. Anders und doch ähnlich bei dem Wort >lachend< in v. 5: ridentem. Es hat den Sprachakzent auf der zweiten Silbe und behält ihn auch im Vers; -den- ist zwar lang (es folgen zwei Konso­ nanten, n und t, auf das kurze e), doch ist die Länge eine Senkungslänge, während die umgebenden Silben ri- und -tem nicht nur lang, sondern auch Hebungslängen sind. Ich muß also die Mittelsilbe iktieren, doch alle drei Silben, wie Moritz sagt, »gehörig austö­ nen lassen«. Hier nun die Ode. Ille mi par esse deo videtur, Ule, si fas est, superare divos, qui sedens adversus identidem te spectat et audit dulce ridentem, misero quod omnis eripit sensus mihi: nam simul te, Lesbia, aspexi, nihil est super mi lingua sed torpet, tenuis sub artus flamma demanat, sonitu suopte tintinant aures, gemina teguntur lumina nocte. otium, Catulle, tibi molestum est: otio exultas nimiumque gestis. otium et reges prius et beatas perdidit urbes. Göttergleich, so will es mir scheinen, ja der Steht noch über Göttern - wenn dies kein Frevel Wer des öftern dir gegenübersitzt, dich ansieht und hört, wie Reizend süß du lachst, was mich Armen aller Sinne gleich beraubt; denn wenn ich einmal dich Nur erblicke, Lesbia, kann ich nicht mehr ... sprechen .. Schwer und lahm wird mir dann die Zunge, wie von Flammen, so durchrieselt es mich. Die Ohren Klingen mir und brausen. Es wird mir schwarz wie Nacht vor den Augen. 78

Mußezeit bekommt dir nicht gut, Catullus, Muße macht zu dreist dich und übermütig. Muße hat schon glückliche Herrn und Städte völlig vernichtet.'0 Das Schema der Strophe ist leicht erklärt: drei gleichgebaute längere Verse, sapphische Elfsilbler, >HendekasyllaboiTrennungdorthinraubenGewöhnung< und >Durchbrechung< sind metrisch iden­ tisch. Ob zwischen den Vokalen des Auftakts und der Hebung ein einziger Konsonant steht oder sich die Stimme durch eine Barriere von vier Konsonanten hindurcharbeiten muß, ist ohne Belang. Bei uns gibt also die Poesie »nicht allen, sondern nur allen bedeu­ tendem Silben [...] ein gleiches Interesse«.47 Wir messen nicht Silben gegeneinander ab, sondern Ideen. Die Musik liegt mehr in den Gedanken als im Versbau, und die Kunst besteht darin, die Begriffe so zu ordnen, daß sie einander gleichsam die Waage halten. Wir wägen also, wo die Alten messen. »Es kömmt [...] bei der Bestimmung [...] unsrer Silben nicht im geringsten auf die Buchstaben der einzelnen Laute, woraus sie bestehen, sondern bloß auf ihre Stellung neben einer bedeutenderen oder unbedeutenderen Silbe, an.«48 Daraus folgt für Moritz, daß die Regeln unsrer Prosodie aus der Grammatik zu schöpfen seien, «in sofern dieselbe die Beschaffenheit der einzelnen Redetheile, und ihre Unterordnung, nach dem Gewicht ihrer Bedeutung, lehrt [.. ,]«.49 Voß ist mit Moritz darin einig, daß die Alten zu übertreffen seien, wenn es gelinge, die Vorzüge des antiken und des deutschen Verses miteinander zu verbinden. Wir müß­ ten dazu den Bedeutungen, der Musik der Gedanken die Sorgfalt widmen, die unsre Sprache als Gedankensprache erfordert, und zugleich die sinnliche Schönheit, den Wohl­ laut erzeugen, der die Verse der Alten so hinreißend macht. Ich wüßte nichts Beßres an dieser Stelle, als Verse zu zitieren, die solchem Anspruch genügen: den Eingang von H öl­ derlins Elegie Brod und Wein: Rings um ruhet die Stadt; still wird die erleuchtete Gasse, Und, mit Fakeln geschmükt, rauschen die Wagen hinweg. Satt gehn heim von Freuden des Tags zu ruhen die Menschen, Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt Wohlzufrieden zu Haus; leer steht von Trauben und Blumen, Und von Werken der H and ruht der geschäfftige Markt. Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vielleicht, daß Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit; und die Brunnen Immerquillend und frisch rauschen an duftendem Beet. Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Gloken, Und der Stunden gedenk rufet ein Wächter die Zahl. Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf, Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond, Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt, Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns, Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen, Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf 46 47 48 49 50

S. S. S. S. S.

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Anm. Anm. Anm. Anm. Anm.

26, 26, 26, 26, 12.

S. S. S. S.

18. 125. 126. 246.

VIII. DER FREIE RHYTHMUS

Wir haben die Gebiete des heimischen, romanisierenden und antikisierenden Verses im Überblick oder jedenfalls im Ausschnitt gemustert. Das Betreten eines vierten Gebiets, des Gebietes der Freien Verse, könnte als Übergang in völliges Neuland erscheinen, so als träte man aus dem Raum der Überlieferung in das Offene einer schrankenlosen Frei­ heit. Eine Darstellung, die diesen Eindruck erweckte, wäre ungeschichtlich und damit falsch. Sicher, der Eindruck des Regellosen drängt sich auf, einer völligen Willkür, beim Gedanken an die unabsehbare Menge dessen, was unter diesem Namen erscheint. Schon die Sprache lehnt sich dagegen auf, die vom Ungebundenen, der Prosa, den Vers als ge­ bundene Rede abhebt. Es gibt nur mehr oder weniger gebundene Verse, und auch die weniger gebundnen sind nicht ohne Regel. Daß auch Freie Verse sich binden, woran sie sich binden und was die Bindung für ihre Gestalt bedeutet, erweist am klarsten der Freie Rhythmus oder, wie er zuweilen genannt wird, der eigenrhythmische Vers1 als strengster unter den zahlreichen Typen Freier Ver­ se. Daß der Verscharakter innerhalb eines Versmaßes wechseln, daß derselbe Vers der Prosa näher oder ferner stehen kann, hatten der Blankvers und selbst ein höher organi­ sierter Vers wie der Hexameter gelehrt. Die erste Bestimmung, die von Freien Rhythmen zu geben wäre, müßte lauten: Freie Rhythmen sind prosafern, ihr Verscharakter ist stark herausgebildet, sie erscheinen ausschließlich in hoher Dichtung, vorzugsweise in odischen, hymnischen oder dithyrambischen Stücken. Der Hinweis auf einige Beispiele mag genügen: Die Frühlingsfeier von Klopstock, die Hymnen des jungen Goethe wie Wand­ rers Sturmlied oder Mahomets Gesang, Hölderlins späte Hymnen, Der Rhein etwa oder Der Ister, Rilkes Duineser Elegien, Benns Karyatide, Bobrowskis Stromgedicht, Ingeborg Bachmanns An die Sonne. Entstanden, wie schon angedeutet, ist der Freie Rhythmus bei Klopstock. Klopstock übernahm zunächst und variierte dann eine Vielzahl antiker Strophen, ging zur Erfin­ dung eigener Strophen über und löste sich schließlich von der Strophe, indem er an der Vierzeiligkeit der Versgruppen zwar festhielt, die Gruppen aber nicht mehr durch ein gemeinsames metrisches Muster miteinander verband. (Schließlich gab er hier und da so­ gar die Vierzeiligkeit auf.) Die Tendenz zur Individualisierung, die in der Erfindung eige­ ner Strophenformen zum Ausdruck kommt, überträgt sich vom ganzen Gedicht auf die einzelne Strophe, die dadurch zur Scheinstrophe wird. Die Gestalt eines einzelnen Ver­ ses wiederholt sich also nicht von Strophe zu Strophe. Der Eingangsvers der ersten Scheinstrophe kann ausnehmend knapp, der Eingangsvers der zweiten ausnehmend breit sein usf. Die Formtypen, die so entstehen, vom überlieferten antiken Muster und dessen 1 Eigenrhythmischer Vers wäre als genauere Bezeichnung vorzuziehn, wenn darunter nicht leicht auch andere Arten Freier Verse verstanden werden könnten, von denen sich .Freie Rhythmen», dank dieser historisch gewordenen Bezeichnung, als so lch e abheben, deren Herkunft vom einge­ deutschten antiken Vers noch klar zu ersehen ist.

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Variation über die frei erfundene Strophe zum scheinstrophischen und schließlich zum unregelmäßig gegliederten freirhythmischen Gedicht ergeben nicht eine Folge, in der die freiere Form die gebundnere jeweils ersetzt, sondern die Typen verteilen sich unchrono­ logisch über das ganze lyrische Werk. Klopstock entscheidet also, welche der verschiednen Formen im besonderen Fall die geeignetste ist. Wir betrachten ein Gedicht, das als Hymne zu bezeichnen wäre. Die Hymne ist eine gesteigerte Form der Ode. Der Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer hat die Ode fol­ gendermaßen gekennzeichnet: »ein hoch erregter Gesang wesentlich erhabenen Inhalts in kunstreichen Strophen und kühn abspringender Komposition.«2 Diese Bestimmung trifft nicht auf alle Oden, sicher aber auf jenen Typus zu, den Karl Vietor den enthusiasti­ schen nennt. So ist das Kapitel seiner Geschichte der deutschen Ode überschrieben, in dem er Klopstock behandelt.3 Der Unterschied zwischen der enthusiastischen Ode und der Hymne ist rein formal. Die Ode ist strophisch gebaut, die Hymne freirhythmisch, in Scheinstrophen oder Partien verschiedenen Umfangs. Klopstocks Absicht ging auf die Erregung eines begeisterten religiösen Gefühls. Zu seinen Vorbildern gehörten neben den Lyrikern der Antike, ja noch vor und über ihnen die Bibel, vor allem die Lobpsalmen Davids. Sie galten schon in früherer Zeit als beson­ ders reine Form der geistlichen Ode, denn sie waren hebräische Poesie. Musterhaft für Klopstock waren nicht die Nachdichtungen der Psalmen, die neuere Dichter in Versen versucht hatten - aus der richtigen Einsicht, daß Verse des Originals in der Übersetzung durch Verse wiedergegeben werden sollten, sondern die Prosa Martin Luthers. Klop­ stock verehrte ihn als ersten klassischen Schriftsteller der Nation und versuchte, die Kraft und energische Kühnheit von Luthers Prosa in den Stil seiner hymnischen Verse zu übertragen. Andre Anregungen, die er aufnahm, waren die poetische Prosa Ossians, Miltons rhetorisches Pathos und die Sprache der Empfindsamkeit. Diese unterschiedli­ chen Ausdrucksformen zu verschmelzen war am ehesten möglich im Freien Rhythmus, der biegsamsten Versart, die Klopstock zur Verfügung stand. Hier ein Beispiel von 1766: Das große Halleluja Ehre sey dem Hocherhabnen, dem Ersten, dem Vater der Schöpfung! Dem unsre Psalme stammeln, Obgleich der wunderbare Er Unaussprechlich, und undenkbar ist. 5

Eine Flamme von dem Altar an dem Thron Ist in unsere Seele geströmt! Wir freuen uns Himmelsfreuden, Daß wir sind, und über Ihn erstaunen können!

2 Aesthetik VI (Ü923) 230 (§ 890). 3 21961, S. 110-132.

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15

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Ehre sey ihm auch von uns an den Gräbern hier,* Obwohl an seines Thrones letzten Stufen Des Erzengels niedergeworfne Krone456 Und seines Preisgesangs Wonne tönt. Ehre sey, und Dank, und Preis dem Hocherhabnen, dem Ersten, Der nicht begann, und nicht aufhören wird! Der sogar des Staubes Bewohnern gab, Nicht aufzuhören. Ehre dem Wunderbaren, Der unzählbare Welten in den Ozean der Unendlichkeit aussäte! Und sie füllete mit Heerscharen Unsterblicher, Daß Ihn sie liebten, und selig wären durch Ihn! Ehre dir! Ehre dir! Ehre dir! Hocherhabner Erster! Vater der Schöpfung! Unaussprechlicher! Undenkbarer^

Ein Gedicht, das ganz von Ton und Gebärde des preisenden Anrufs bestimmt ist. Für ein Höchstmaß an Ausdruck genügt ein Kleinstes an gedanklichem Kern, der den Aus­ druck trägt - eher als daß er ihn lenkt: >Ehre sei Gott, obgleich er unaussprechlich ist - Ehre auch von uns, die wir sterblich sind und gleichwohl nicht aufhören werden.< Regieren soll nicht der Gedanke oder das Bild, sondern allein das Gefühl, dessen Träger die Stimme des Preisenden ist. Es ist ein musikalisches Prinzip, dem das Ganze gehorcht; es dient dazu, den Leser in die hymnische Begeisterung der Verse hineinzureißen. Zwar deutet sich die Herkunft der Freien Rhythmen aus der Ode in der scheinstrophi­ schen Vierzeiligkeit der Partien mit der starken rhetorischen Profilierung durch die Anapher noch an {Ehre sey in allen Partien außer der zweiten), doch sind Zeilen- und Versgruppenbau - gekennzeichnet durch große Spannungen zwischen langen und über­ langen Zeilen (20 Silben [v. 18]) und extrem kurzen (5 Silben [v. 16, 23]) - grundsätzlich frei. Diese Freiheit hat der Dichter betont. V. 19 heißt nicht: Lind sie füllte mit Heerscha­ ren ..., sondern bewußt: Und sie füllete mit Heerschaaren, so daß der Vers, entgegen den Möglichkeiten der Ode, nicht nur mit doppeltem Auftakt beginnt, sondern auch dreifache Senkung enthält: fullëtë mit. Daß ein beweglicher Vortrag mit vielgliedrigen Senkungen beabsichtigt ist, macht der Dichter v. 18 durch entsprechende Zeichen noch deutlich: Der unzählbare Welten in den Ozean (oder sogar, mit vierfacher Senkung: in den Ôzëan dër Ünéndlichkeit [...]?). Der Schluß vers zeigt dieselbe Erscheinung - zu­ mindest die Möglichkeit, sie auch hier zu vermuten: Unaussprechlicher! Ündénkbarer! 4 D.h. von uns Sterblichen. 5 Dem Erzengel, der sich niedergeworfen hat, um anzubeten, ist die Krone auf die letzten Stufen des Thrones gerollt. 6 Klopstocks Werke I (1798) 227f. Die Untersuchung nach dem Abschnitt »Hymnische Rhetorik« in meiner Einf. in die Analyse von Versierten (21974) 59-62.

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(ebenso in v. 4). Wie an dieser Stelle ganz deutlich, zwingt die syntaktische Ordnung auch sonst, die reichgefüllte Senkung durch Pause zu gliedern: Welten und sie fullete

in den Özean

J mit Heerschaaren

Vortragszeichen - und zwar Phrasierungszeichen, wie dies - sind auch die ungrammati­ schen Kommata in den Versen 4, 8, 13, 14 und 20. Ihre Wirkung ist von doppelter Art. Mehr noch als im antiken Vers Dihärese und feste Zäsur erhöhen sie, dank ihrer beweg­ lichen Stellung, das Versprofil. Gleichzeitig kommt in ihnen der hymnische Gestus, die Haltung der Ergriffenheit besonders rein und deutlich zum Ausdruck. Jedesmal ver­ stärkt der Nach-satz, der mit neuem Atem und neuer Begeisterung einsetzt, durch Ver­ tiefen, Uberbieten oder triumphierendes Häufen die innere Bewegung: Unaussprechlich undenkbar; sind - erstaunen können; Ehre - Dank - Preis; nicht begann - nicht aufhören wird; liebten - selig wären. Der Reichtum an rhythmischer Erfindung, von dem wir hier sprechen, erscheint auch deutlich in der beweglichen Vielfalt der Gangart. Senkungshäufung steht Doppelhebung ({.rzengel, äussäte, Heerschäaren) gegenüber - mitunter im selben Vers (18, 19); voller Form (unsere, füllete) die verkürzte, synkopierte (Hocherhabnen, Hocherhabner, unsre, niedergeworfne), eindeutiger, metrisch fester Figur (Vater der Schöpfung [Adoneus]) die lockere, mehrdeutige (undenkbar - undenkbar!). Die Bewegung erhält durch diesen Wechsel etwas Freies, Schwebendes, das bald an die Rhythmik des Hexameters (v. 1: Ehre sey dem Hocherhabnen, dem Ersten, dem Vater der Schöpfung!), bald an die der Ode (v. 10 [verlängerter alkäischer Neunsilbler]: obwohl an seines Thrones letzten Stufen, v. 23 [Adoneus]: Vater der Schöpfung), bald auch an die von Luthers Bibelüber­ setzung erinnert (v. 13: Ehre sey, und Dank, und Preis - »ehre vnd preis vnd lob« [Off 5, 12]). An diesem Vers, der dem preisenden Ton der Lobpsalmen wohl am nächsten kommt, wird zugleich die rhetorische Bauform erkennbar. Er lautet nicht: Ehre, und Dank, und Preis sey ..., sondern: Ehre sey, und Dank, und Preis. Das Abweichen von der gewöhnli­ chen Wortstellung, das Hyperbaton,7 ist zunächst, als Erscheinung des ordo artificialis,8 eine Funktion des ornatus.9 Es hebt die Sprache aus der natürlichen Sphäre des Vertrau­ ten und Erwarteten in die künstliche des hohen Stils. Gleichzeitig ermöglicht es jenes >Nach-setzen< in einem begeisterten triumphierenden Häufen, von dem wir eben spra­ chen. Drittens bewahrt es die Figur der Anapher (Ehre sey), die die Partien 1, 3 und 4 verbindet und die sich verkürzt in die folgenden fortsetzt (Ehre). Als Ganzes ist der Vers, in der Mitte des Gedichts, seine Achse. Er variiert den Anfangsvers: ist siebentaktig wie er, wiederholt zum größten Teil seinen Wortlaut und schließt, wie er, mit der Kadenz des Hexameters oder der sapphischen Ode, dem Adoneus: Vater der Schöpfung (Hocher)habnen, dem Ersten f

, '

7

7 Siehe H. Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik (31967) § 331. 8 S. Anm. 7, § 47, 2. 9 S. Anm. 7, § 162.

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Als Achse stellt er die Brücke zur Schlußpartie her, die den Anfangs- und Schlußvers der Eingangspartie (und, mit der Anfangszeile, auch die Achsenzeile des Gedichts) the­ matisch wiederholt. Hier, in der Fanfare des Schlusses, sind die Elemente des Anfangs aus ihrer syntaktischen Verbindung gelöst und nur noch als jauchzende Rufe aneinander­ gereiht. So gewinnt das Ganze den Zusammenhalt einer Ringkomposition, die durch Mittelachse und anaphorische Klammerbildung zugleich verstrebt und gegliedert er­ scheint. Halleluja kommt vom hebräischen hallal: jauchzen, jubeln, preisen. Der Dichter hat sein Jauchzen, das frei daherzuströmen scheint, vor Auflösung und Eintönigkeit durch feste Anlage und sorgfältig herausgebildeten rhythmischen Wechsel bewahrt. Die Rhythmen sind insofern frei, als sie in vielgliedrigen Senkungen und Komposita mit Doppelhebung Formen bilden, die nicht in der klassischen Ode vorgeprägt, sondern eher vom Luther-Deutsch der Bibelübersetzung angeregt sind. Sie binden sich andrer­ seits in einzelnen Versen oder Verssegmenten an die Muster antiker Verse, sei es der Ode, sei es des Hexameters, zurück, so daß der Umriß der antiken Form durch die freiere Form der deutschen Hymne hindurchscheint. Unser zweites Beispiel für Freie Rhythmen ist ein Gedicht Gottfried Benns. Es vertritt einen Typus, der weit von Klopstocks Hymne entfernt ist und den Steinhagen in die Nähe der tragischen Ode setzt. Entstehung und literarischer Hintergrund des Gedichts sind ausführlich in seinem Buch über die Statischen Gedichte Gottfried Benns behandelt, auf das ich hier verweise, vor allem wegen der mustergültigen Analyse, die der Verfasser in dem Abschnitt über die lyrische Form an den Versen dieses Gedichts als freirhythmi­ schen oder, wie er auch sagt, als eigenrhythmischen durchführt. Benn entnahm den Stoff seines Gedichts den Metamorphosen Ovids (Buch XI, v. 1-53) in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß. Dort wird geschildert, wie Orpheus nach dem Verlust Eurydikes die thrakischen Wälder durchzieht und mit seinen Klagen erfüllt, bis ihn ein Schwarm von Mänaden anfällt, die ihn hassen, weil er die Frauen verschmäht, und die ihn mit Steinen, Asten und aufgelesenem Ackergerät er­ schlagen. Orpheus’ Leier, die Dinge, Tiere und Menschen, ja Götter bezwingen kann, verliert ihre Macht, sobald ihr Klang vom Geschrei der Mänaden übertönt wird. Thema­ tisch bestimmend ist bei Benn das Motiv der Treue zur verlornen Eurydike. Orpheus’ Tod

5

Wie du mich zurückläßt, Liebste Von Erebos gestoßen, dem unwirtlichen Rhodope Wald herziehend, zweifarbige Beeren, rotglühendes Obst Belaubung schaffend, die Leier schlagend den Daumen an der Saite! 109

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Drei Jahre schon im Nordsturm! An Totes zu denken, ist süß, so Entfernte, man hört die Stimme reiner, fühlt die Küsse, die flüchtigen und die tiefen doch du irrend bei den Schatten! Wie du mich zurückläßt anstürmen die Flußnymphen, anwinken die Felsenschönen, gurren: »im öden Wald nur Faune und Schratte, doch du, Sänger, Aufwölber von Bronzelicht, Schwalbenhimmeln fort die Töne Vergessen -!* - drohen - /

30

Und eine starrt so seltsam. Und eine Große, Gefleckte, bunthäutig (»gelber Mohn») lockt unter Demut, Keuschheitsandeutungen bei hemmungsloser Lust - (Purpur im Kelch der Liebe -!) vergeblich! drohen -!

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Nein, du sollst nicht verrinnen, du sollst nicht übergehn in Iole, Dryope, Prokne, die Züge nicht vermischen mit Atalanta, daß ich womöglich Eurydike stammle bei Lais doch: drohen - ! und nun die Steine nicht mehr der Stimme folgend, dem Sänger, mit Moos sich hüllend, die Äste laubbeschwichtigt, die Hacken ährenbesänftigt -: nackte Haune -Z10

10 Ovid hat »rastri graves«, Voß übersetzt »Lastende Haun«. Statt Hau’n (für Hauen) hat Benn Haun’ gelesen und dies zu Haune ergänzt. Vgl. hierzu die Anmerkung in meiner Einführung (s. Anm. 6), S. 90 f. D ort auch über das Verhältnis Benns zur Vossischen Übersetzung (S. 85 f. und S. 91).

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nun wehrlos dem Wurf der Hündinnen, der wüsten 50

nun schon die Wimper naß, der Gaumen blutet und nun die Leier hinab den Fluß die Ufer tönen -

Das Gedicht ist in sieben Partien gegliedert, von denen die letzte in kleinere Stücke zer­ fällt. Außerdem sind an drei Stellen (vv. 26, 33, 40) verknüpfende Einzelverse in die Abschnittsfugen gesetzt. Die dritte Partie schließt durch Wiederholung der Themazeile an die erste an. Andrerseits binden sich die dritte bis fünfte Partie durch das wiederkeh­ rende drohen zusammen, das gliedert und zugleich verspannt. So wird die dritte Partie zum Gelenk, worin der Monolog des Orpheus und die äußere Handlung sich begegnen. Technisch ist dies bewirkt durch das Zitat: die Exposition der Handlung ragt mit ihm in den Monolog hinein. Die fünfte Partie schließt an die zweite an: Thema ist die erinner­ te Eurydike, die nun wie etwas Bedrohtes beschworen wird. Mit der sechsten Partie löst der lyrische Bericht den Monolog des Orpheus ab. Der Macht seines Gesangs in der er­ sten Partie entspricht in der sechsten die Ohnmacht. Danach >zerfällt< der Bau: der letzte Abschnitt, die Zerstückelung schildernd, wirkt auch selbst wie zerstückt. Dies enge und genaue Beziehungsgeflecht ersetzt die Gliederung durch Strophen oder Scheinstrophen, die hier fehlt. Wie die Partien die Strophen, so muß im einzelnen Vers der Freie Rhythmus die Ordnung des festen wiederkehrenden Metrums ersetzen. »Für die Bestimmung der dreien Rhythmem im Unterschied [...] zum metrisch gegliederten Vers«, schreibt Harald Steinhagen, »ist es daher äußerst wichtig, zu untersuchen, nach welchen Gesetzen die Versfugen und von daher die Betonungsverhältnisse im Versinnern geregelt sind.«112 Seien die Zeilengrenze und die Akzentverhältnisse im Zeileninnern ver­ ständlich und sinnvoll behandelt, dann dränge beim Lesen der individuelle Rhythmus des Verses von selbst hervor, der dem Vers seine Einheit und seinen Verscharakter sichert, obwohl ein vorgegebenes Metrum fehlt. Ich folge Steinhagen bei seiner Darstellung der sprachlichen Mittel, durch die der Verscharakter in diesem Gedicht herausgebildet wird. Es sind 1. die rhythmische Profi­ lierung durch Zeilenbrechung, 2. die emphatische Akzentuierung, 3. die Durchsetzung mit metrischen Floskeln. 1. Zum rhythmischen Profil. Die Verse 41 f. läse man, zumal sie enjambieren, als Prosa vermutlich mit folgender Betonung: und nun die Steine nicht mehr der Stimme folgend »Die Negation, das wichtigste Wort der Aussage, steht hier im Schatten des betonten Substantivs >Steinevergessene< Schlaf der Natur (erfordert) b: die Hilfe durch den Anruf des Gotts. Von den Elementen der Natur, die die eröffnende Partie benennt (Baum, Vogel, Fels, Strom, Fisch, Wälder), sind in der entsprechenden dritten nur drei wiederaufgenommen, die jeweils als Vertretung des mineralischen, pflanzlichen und tierischen Bereichs figurie­ ren (Steine, Vögel, Bäume). Dabei tritt der Schlaf als die wesentliche, von der Dichtung nicht mit eingefangene Dimension am stärksten hervor. Vom Klang her: dreimalige Wie­ derholung auf kürzestem Raum, wie von der Anordnung her: signifikante Stellung am Anfang und am Ende des Verses, das Ganze in der Mitte des Abschnitts:

17 Ges. Werke I (Berlin 1987) 143. Die Untersuchung nach dem Abschnitt »Gedicht in Freien Rhythmen« in meiner Einführung (s. Anm. 6), S. 41—44. 18 Studien zur Dichtung des Absoluten (1968) 173.

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der Steine Schlaf, den Schlaf der Vögel im Flug, der Bäume Schlaf Es bietet sich an, die Metrik der Verse überhaupt von hier aus zu deuten. Sie ist frei, doch läßt sich ein odisches Element auch in ihr ohne Mühe erkennen. Metrisches Prinzip ist der jambo-trochäische Gang mit daktylischer Lockerung (Vogel im), Wechsel von auftaktigen und auftaktlosen Versen, einsilbiger Auftakt. Der Blick auf das Ganze bestätigt dies. Z. 18, die als einzige mit doppeltem Auftakt beginnt (und im Fleisch) ist zusammen mit der Zeile davor als gebrochner Vers zu verstehn; ebenso wie gerecht (Z. 10) mit Z. 9. Wenn dies gilt, enthält das ganze Gedicht keinen einzigen eintaktigen Vers, sondern nur den Wechsel von Zwei- und Dreitaktern. Zwar findet sich Hebungsprall (v. 11 Und wer lehrt mich, v. 4 zieht, grün), doch keine einzige dreisilbige Senkung: ein Gedicht von strengem versmäßigen Bau - eindeutig skandierbar. Alle angeführten Eigenschaften sind Eigenschaften, die in den Nachbildungen der be­ kanntesten antiken Odenstrophen wiederkehren: jambo-trochäischer Gang mit daktyli­ scher Lockerung, Hebungsprall, Wechsel von auftaktigen und auftaktlosen Versen, ein­ silbiger Auftakt, zweitaktiger Vers als kürzeste Zeile. Die Ähnlichkeit geht aber weiter. Alle Partien schließen mit odischen Floskeln, die ersten beiden mit dem Choriambus, dem charakteristischen Bauelement des asklepiadeischen Verses (Wälder herab, enden / gerecht), die letzten beiden mit dem Adoneus, der Schlußzeile der sapphischen Strophe (geht ihre Rede, warten ein wenig). Auch im Innern der vier Partien erscheinen immer wieder, wie rhythmische Leitmotive, diese Formeln: Vogel im Flug | rötlichen Fels | grün, und den Fisch | was ich vergaß | Vögel im Flug | war da ein Gott - Rauch, wenn es dunkelt | möchte nicht enden | könnte mich rufen. Den antiken Verhältnissen in den verbreitetsten Odenformen - sapphischer, alkäischer, asklepiadeischer - entspricht auch die Möglichkeit, über die Zeilengrenze hinweg den Zusammenstoß von drei betonten Silben herzustellen und so einen besonderen rhythmischen Ausdruckswert zu gewinnen: wo der Ström / zieht, grün. Da kein vollständiges Muster vorliegt, wird es dem Dichter im übrigen leicht, die Zei­ lenbrechung als subtiles Ausdrucksmittel zu benutzen. Der Ode gegenüber hat hier die freie Form sogar die größeren Möglichkeiten. Der Verhalt im Enjambement z.B. ist im­ mer von Bedeutung. So bringt er neben der Betonung, die er unvermeidlich hervorruft, ein leises Dehnen der Überraschung mit sich: es ist / ein Spiel-, es möchte nicht enden / gerecht. Kunstvoll betont er den Schlaf an der schon zitierten Stelle, indem er dreimal dieses unerwartete und bedeutungsvolle Wort von seinen Attributen trennt und es da­ durch heraushebt: der Steine / Schlaf usw. Ein sehr ausdrucksvolles Zögern und damit ein Retardieren des Tempos überhaupt bringt die Brechung der letzten Zeilen in das Ge­ dicht: ich würd umhergehn, ich würd warten ein wenig [,] 118

wobei die Synkope zum Schlußvers (würd / warten) den Verhalt aus der Zeile davor noch vertieft, so daß die Bewegung im Ritardando eines zögernden, sozusagen bescheidenen Verharrens zur Ruhe kommt. Vertritt Das große Halleluja als Hymne eine gesteigerte Form der enthusiastischen Ode und Orpheus’ Tod der tragischen, so ließe sich Immer zu benennen der elegischen Ode zuordnen. Daß solche Zuordnungen möglich sind, trotz der unübersehbaren Unter­ schiede zwischen diesen Gedichten, erklärt sich aus der Nähe des Freien Rhythmus, in dem sie alle geschrieben sind, zur Sprache, zu den Fügungen, dem Profil und damit dem Ethos der Ode. Alle stehen im hohen Ton, denn alle greifen ein hohes Thema auf: Preis des Schöpfers, Tod eines Halbgotts, die Verantwortung des Dichters. Klopstock ordnet seine Verse zu vierzeiligen Scheinstrophen, Benn und Bobrowski fügen die ihren zu Partien ähnlichen Umfangs mit deutlich hervortretenden äußeren und inneren Bezügen. Klopstock ballt gelegentlich, lockert aber auch den Gang seiner Verse durch doppelten Auftakt und vielsilbige Senkungen zu einem breiten rezitativischen oder tokkatenartigen Ausgreifen; Benn konzentriert ihn, entsprechend dem dramati­ schen Vorgang, durch Stauen in Doppelhebungen und Akzentmassierung; Bobrowski gibt ihm die ruhige Bewegung der gehaltneren Formen, etwa wie in Klopstocks Mein Wäldchen, gemäß der Nachdenklichkeit seines bescheidenen Sprechens. Die Beispiele zeigen, was ja nicht wundernimmt, die Verschiedenartigkeit des Aus­ drucks in Freien Rhythmen. Sie zeigen aber auch, daß, ungeachtet der verschiedenen Ausprägungen, die diese Versart zuläßt, die Verpflichtung durch das antike Vor-Bild ein hohes Maß an bewußter künstlerischer Durchbildung fordert.

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IX. DER FREIE VERS

Wir haben die Betrachtung des Freien Verses mit der ältesten und strengsten jener For­ men begonnen, die man unter diesem Namen begreift, dem Freien Rhythmus. Klopstock, als Lyriker vor allem Odendichter, hatte den Übergang von der Ode zur freirhyth­ mischen Hymne vollzogen, um in dieser bewegteren Form dem schnellen Wechsel des Gefühls in jedem Vers den ihm allein angemessenen Ausdruck zu schaffen. Bei Bobrowski, der sich auf Klopstock als seinen »Zuchtmeister« beruft, sind reine Oden selten; was vorherrscht, ist der Freie Rhythmus.' Bobrowski benutzt ihn nicht, um die Grenzen der Ode auf noch stärkeren Ausdruck hin zu durchbrechen wie Klopstock, sondern umge­ kehrt, um auch in verhaltenen Gedichten die Strenge des odischen Stils zu wahren. Freier Rhythmus nicht aus Ungenügen an einer zu festen Form, sondern im Gegenteil als Wi­ derpart zu Formen, die frei, aber nicht fest und zuchtvoll genug sind. Freie Rhythmen, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts geschrieben werden, grenzen sich anders von ihrer Umgebung ab als Freie Rhythmen, die zweihundert Jahre später entstehen. Im Gegen­ satz zu Bobrowski ist von Benn überhaupt keine Ode bekannt, wohl aber Gedichte in Freien Rhythmen - neben vielen in andern Arten Freier Verse. Der Freie Rhythmus ist bei diesem Dichter die Form, mit der er antiken Formen am nächsten kommt. Nicht zu­ fällig weisen ihn Stücke mit griechischem Thema oder griechischer Szene auf wie Orpheus’ Tod oder die frühe Karyatide (1916). Bei Formen, die als Freie Verse, nicht aber als Freie Rhythmen zu bezeichnen sind, ergibt sich die Frage nach den Gründen ihrer Entstehung. Eine Vor- oder Nebenform, die hier Interesse verdient, ist das Prosagedicht. Schon im 18. Jahrhundert gibt es in Deutschland poetische Stücke in rhythmisierter Prosa wie Toblers berühmten, Goethe zugeschriebenen Hymnus Die Natur, entstanden um 1782,12 die dem poème en prose in Frankreich vorausgehn. Hier war es Aloysius Bertrand, der diese Form zuerst mit sei­ nem Gaspard de la nuit, erschienen 1842, zu literarischem Ansehen brachte. Das Werk ist in sechs Bücher gegliedert, jedes von sieben bis elf Prosagedichten. Die Gedichte be­ stehn aus sechs Partien (couplets)3 von oft nur drei bis vier Zeilen. Die Knappheit der 1 »Zuchtmeister«: Ges. Werke (Berlin 1987) IV 335. Reine Oden: »die griechische Ode in der von Klopstock bis Hölderlin versuchten Eindeutschung. In dieser Form also, in der alkäischen, sapphischen Strophe entstanden meine ersten Versuche.« (Ebd., S. 480). Freier Rhythmus: »in einer äußer­ lich freien Form - die allerdings für Leute, die von Metrik etwas verstehen, ziemlich deutlich die griechischen Odenstrophen und Versschemata verrät.« (Ebd.) Vgl. die Analyse von Bobrowskis Ge­ dicht Immer zu benennen in meiner Einf. in die Analyse von Verstexten (21974) 41-44, auch in mei­ nen Facetten. Untersuchungen zum Werk Johannes Bobrowskis (1977) 65—70. 2 Goethes Werke. HA XIII 45-47. 3 Der Deutsche könnte meinen, das Wort couplet bezeichne die Herkunft dieser Abschnitte aus dem Reimpaar, etwa des Alexandriners, und weise damit die Doppelzeile als heimliches Muster aus. Dem steht nicht nur der größere Umfang der meisten Abschnitte entgegen, sondern auch die um­ fassendere Bedeutung des französischen Worts: »Chaque strophe [!] faisant partie d’une chanson [...], tirade en général« (Petit Larousse).

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Form erfordert ein Höchstmaß an Dichte des Ausdrucks und sprachlicher Präzision. Hier ein Beispiel aus dem zweiten Buch, der Anfang der Mittemachtsmesse'. La bonne dame et le noble sire de Chateuvieux rompaient le pain du soir, M. l’A umônier bénissant la table, quand se fit entendre un bruit de sabots à la porte. C ’étaient des petits enfants qui chantèrent un noëlf Die größten französischen Lyriker von Baudelaire über Rimbaud und Mallarmé bis zu Saint-John Perse haben Prosagedichte geschrieben. Ursprung des poème en prose war das Bedürfnis, dem dichterischen Impuls eine Form zu schaffen, die ihn unmittelbarer in sich aufnähme als das starrere Gedicht. Offensichtlich war das Bedürfnis in Frank­ reich stark, denn trotz mancher Lockerungen blieb selbst in der Romantik der französi­ sche Vers - allein durch den unantastbaren Reim - noch fester gebunden als in Deutsch­ land oder selbst in Italien. In Deutschland begünstigte die romantische Forderung nach Verschmelzung der Gattungen das Prosagedicht.5 Ließe sich sagen, daß Freie Verse entstehn, wenn ein Prosagedicht in vershafte Zeilen zerlegt wird? Von der historischen Entwicklung und von der Sache her lautet die Ant4 Ed. Paris 1962, p. 109. Die Edle Frau und der Wohlgeborene Herr von Chateauvieux nahmen gerade das Abendbrot ein, und der Kaplan sprach den Segen über die Tafel, als vor der Tür Getrappel von Hollschuhen erscholl und eine Schar von Kindern ein Weihnachtslied anstimmte. (A. B.: Gaspard de la nuit. Üb. von J. Buchmann [1978] 69) Hier, als hundert Jahre jüngeres Beispiel, ein Abschnitt (verset) aus Vents (1946) von Saint-John Perse: Ah! quand les peuples périssaient par excès de sagesse, que vaine fu t notre vision! ...L a ravenelle et la joubarbe enchantaient vos murailles. La terre contait ses Roi René. Et dans ses grands Comtats où le blé prit ses aises, dispersant feux et braises aux grandes orgues des Dimanches, le ravissement des femmes aux fenêtres mêlait encore aux carrosseries du songe le bruit d ’attelages des grillons ... (IV 5). Ah! als die Völker verdarben an einem Unmaaß [sic] von Weisheit, wie wenig galt euch unser Ge­ sicht! ... Goldlack und Hauswurz verzauberten die Mauern eurer Städte. Die Erde erzählte ihre Mären von König René. Und in jenen großen Freigrafschaften, wo das Getreide sich behagte, Feuer und Gluten verschwendend a u f den großen Orgeln der Sonntage, klang dem Entzücken der Frauen in den Fenstern ein Wagengeläute der Grillen noch an den Karossen des Traumes ... S.-J. P.: Winde (zweispr.), dt. von F. Kemp (1964) 142f. 5 Das Prosagedicht gehört in den Bereich der Lyrik, nicht in den des Verses. Es kann ihm hier nicht nachgegangen werden. Daß französische Beispiele zitiert sind, hängt mit der klareren Rolle und kohärenteren Geschichte dieser Form in Frankreich zusammen. Für das deutsche Prosagedicht sei auf die Schrift dieses Titels von Ulrich Fülleborn (1970) verwiesen (darin auch Hinweise auf Litera­ tur zum französischen poème en prose [S. 6f.]; ferner auf Fülleborns Anthologien Deutsche Prosa­ gedichte vom 18. Jahrhundert bis zur Jahrhundertwende (1985) und Deutsche Prosagedichte des 20. Jahrhunderts (1976). Zur Unmöglichkeit, das Gedicht in Freien Versen genetisch aus dem Prosa­ gedicht als dessen Zerlegung in Verszeilen herzuleiten, s. Fülleborns Bemerkungen zu den Hymnen an die Nacht (Das deutsche Prosagedicht, S. 16f.; zu Baudelaire dort S. 11). Zum Unterschied zwi­ schen Vers und Prosa in der Zone, wo beide vermeintlich ineinander übergehen, sagt Fülleborn: »Das Versgedicht, auch das freieste, lebt von der Spannung zwischen [...] einmaliger sprachlicher Prägung und tradierten formalen Elementen. Selbst wo aus der Spannung nahezu Identität gewor­ den zu sein scheint, tritt in der äußeren Gestalt [...] noch die strengere Form der Verslyrik hervor. [...] Wirklich freie Rhythmen gäbe es demnach allein im Gedicht in Prosa« (S. 13). »DerTerminus >Prosagedicht< soll nur dann gebraucht werden, wenn der betreffende Text keinen Gesetzmäßigkei­ ten unterliegt, die sich in gleicher oder ähnlicher Weise normierend auswirken wie der Vers« (S. 15).

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wort: nein. Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé schreiben Verse o d e r Prosagedichte, eins oder das andre, nicht aber, als Zwischenform, jene reimlosen, metrisch nur leicht stili­ sierten Verse, die man in Deutschland als Freie Verse kennt und die es inzwischen wie überall so auch in Frankreich gibt. Baudelaire wäre vermutlich befremdet gewesen, hätte man die Abteilung seiner poetischen Prosa in einzelne versähnliche Zeilen, gleichsam in Scheinverse, erwogen. Denn seine Texte sind vom Duktus des Ganzen, vielleicht vom Absatz oder vom Satz her entworfen, nicht von der Einheit des einzelnen Verses. Anders als im Freien Vers, dessen Grundmuster die einzelne Zeile ist, kann sich ein Spannungs­ verhältnis zwischen der Satzgliederung und der Versgliederung in seiner Prosa nicht bil­ den. Man muß also das Prosagedicht und das Gedicht in Freien Versen - französisch und englisch vers libres6 - als verschiedene Formen auseinanderhalten. Das Bedürfnis, Freie Verse zu schreiben, stellt sich ein, wenn ein Autor den überliefer­ ten metrischen Vers als Beengung empfindet, als zu mechanisch, zu wenig fähig, eine Un­ mittelbarkeit des Ausdrucks, eine Härte oder Nüchternheit herzugeben, die dem Dich­ ter vorschwebt. Insofern das Ungenügen aus herrschenden Konventionen herrührt, liegt der gleiche Grund vor wie im 18. Jahrhundert beim Verzicht auf den Reim. Mit dem wichtigen Unterschied, daß der Verzicht auf den Reim die Ansprüche an die stilistische Durchbildung des Verses erhöhte und nicht, wie oft bei Freien Versen des 20. Jahrhun­ derts, senkte. Die Problematik, die hier vorliegt, ist in England früher erörtert worden als bei uns. Sie hat sich niedergeschlagen in Eliots Reflections on >Vers libre< (1917) und Pounds A Retrospect (1918),7 die kurz zu berühren sind. Als Pound 1912 den Imagismus kreierte, gehörte zu den Grundsätzen dieser Schule »to compose in the sequence of the musical phrase, not in sequence of a métronome«.8 Beim Gebrauchen einer überlieferten Form sollte der Dichter das, was er zu sagen habe, nicht in sie hineinstopfen und die verblei­ benden Lücken mit breiigem Gerede füllen. Aus der Sicht von 1917 ergab sich bei Pound und Eliot der Eindruck, daß vor Mißver­ ständnissen zu warnen sei. Übereinstimmend erklärten sie, daß die Forderung eines >freien< Verses kein Schlachtruf nach Freiheit sei, denn in der Kunst gebe es keine Freiheit - »No vers is libre for the man who wants to do a good job«9 - , ja daß die Trennung zwischen traditionellem Vers und Freiem Vers gar nicht existiere, denn es gebe nur gute Verse, schlechte Verse und Chaos. Freiheit sei wahre Freiheit nur, wenn sie vor dem H in­ tergrund einer künstlichen Begrenzung erscheine. Bei guten Freien Versen gehe man ent­ weder von einer einfachen Form wie dem Blankvers aus und setze sich ständig von ihr ab oder gehe von gar keiner Form aus und nähere sich ständig einer einfachen Form an. 6 Das Wort hat eine doppelte Bedeutung. Es meint ursprünglich - in Frankreich - gereimte Verse wechselnder Länge, wie sie etwa Moliere in seinem Amphitryon verwendet. Das deutsche Gegen­ stück wäre der sog. Faust- oder Madrigalvers. Die moderne Bedeutung ist die von »reimlosen Ver­ sen mit unregelmäßigen Rhythmen« (Brecht). 7 Eliots Reflections in To Criticize the Critic (1965) 183-188; Pounds Retrospect in Literary Essays o f E. P. (1954) 3-14. 8 Retrospect (s. Anm. 7), p. 3. 9 Pound zitiert diese Worte Eliots mit nachdrücklicher Zustimmung in Retrospect (s. Anm. 7), p. 12.

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Das Verwerfen des Reims sei nicht ein Sprung in die Leichtigkeit; im Gegenteil, es erlege der Sprache eine strengere Zucht auf. Ohne den Reim würden Erfolg oder Mißerfolg bei der Wortwahl, bei Bildung und Anordnung der Sätze sogleich viel erkennbarer. Es zeige sich, daß Sprache und Kadenzierung in vielen Freien Versen so schal und abgedro­ schen seien wie bei den älteren regelmäßigen, und zwar ohne die Entschuldigung, die Worte seien hineingetan, um einen metrischen Rahmen zu füllen oder das Geräusch eines Reimes herzustellen. Die symmetrischen Formen hätten ihren bestimmten Zweck, auch der Reimvers werde seinen Platz nicht verlieren. Der Künstler solle alle Formen und alle Systeme der Metrik beherrschen und Freie Vese nur dann schreiben, wenn der Eigenrhythmus des sich entfaltenden Gebildes schöner sei als der einer vorgegebenen Form. Pound und Eliot stehen also zwischen oder über den Lagern (wie Benn und Brecht), und jedes Lager hat, wie stets bei solchen Auseinandersetzungen, den stärksten Rückhalt an den schwächsten Vertretern der anderen Seite. Betrachten wir einige Beispiele aus dem deutschen Bereich. Brecht schrieb 1938 in einer Aufzeichnung Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen (worunter er Freie Verse versteht): »Mitunter wurde mir, wenn ich reimlose Lyrik veröffentlichte, die Frage gestellt, wie ich dazu käme, so was als Lyrik auszugeben. [...] Die Frage ist berechtigt, weil Lyrik, wenn sie schon auf den Reim verzichtet, doch gewohntermaßen wenigstens einen festen Rhythmus [Brecht meint: ein Metrum] bietet. Viele meiner letzten lyrischen Arbeiten zeigen weder Reim noch festen Rhythmus. Meine Antwort, warum ich sie als lyrisch bezeichne, ist: weil sie zwar keinen regelmäßigen, aber doch einen (wechselnden, synkopierten, gestischen) Rhythmus haben.«10Was unter gestischem Rhythmus zu ver­ stehn ist, erläutert er folgendermaßen: »Die Sprache [soll] ganz dem Gestus der spre­ chenden Person folgen. Ich will ein Beispiel geben. Der Satz der Bibel >Reiße das Auge aus, das dich ärgert< hat einen Gestus unterlegt, den des Befehls, aber er ist doch nicht rein gestisch ausgedrückt, da >das dich ärgert« eigentlich noch einen anderen Gestus hat, der nicht zum Ausdruck kommt, nämlich den einer Begründung. Rein gestisch ausge­ drückt, heißt der Satz (und Luther, der >dem Volk aufs Maul sah«, formt ihn auch so): >Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus!« Man sieht wohl auf den ersten Blick, daß diese Formulierung gestisch viel reicher und reiner ist. Der erste Satz enthält eine Annahme, und das Eigentümliche, Besondere in ihr kann im Tonfall voll ausgedrückt werden. Dann kommt eine kleine Pause der Ratlosigkeit und erst dann der verblüffende Rat.«11 Das Gestische also ist eine Sache des »Tonfalls«, den der Vers bewahren, ja besonders »reich« und »rein« herausbilden soll. Zur Schwierigkeit, die selbst ein so biegsames Metrum wie der Blankvers dieser Forderung entgegenstellt, sagt Brecht, von seiner Marlowe-Bearbei­ tung, dem Leben Eduards des Zweiten, sprechend: »Ich benötigte gehobene Sprache, aber mir widerstand die ölige Glätte des üblichen fünffüßigen Jambus. Ich brauchte Rhythmus, aber nicht das übliche Klappern.«12 »Sehr regelmäßige Rhythmen hatten auf mich eine mir unangenehme einlullende, einschläfernde Wirkung [...], man verfiel in 10 Ges. Werke (Frankfurt/M. 1967) XIX 395. 11 S. Anm. 10, S. 398. 12 S. Anm. 10, S. 396.

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eine Art Trance, von der man sich vorstellen konnte, daß sie einmal hatte erregend wir­ ken können; jetzt tat sie das nicht mehr.«13 Brecht bezieht sich dann auf seine Deutschen Satiren, die er vor dem Krieg für den deutschen Freiheitssender schrieb. »Der Reim«, sagt er, »schien mir nicht angebracht, da er dem Gedicht leicht etwas In-sich-Geschlossenes, am O hr Vorübergehendes verleiht. Regelmäßige Rhythmen mit ihrem gleichmäßi­ gen Fall haken sich ebenfalls nicht genügend ein und verlangen Umschreibungen, viele aktuelle Ausdrücke gehen nicht hinein: der Tonfall der direkten, momentanen Rede war nötig. Reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen schien mir geeignet.«14 Brecht zi­ tiert ein Beispiel und bemerkt dazu, ganz im Sinne Pounds: »Diese freie Art, den Vers zu behandeln, ist, wie zugegeben werden muß, eine große Verführung zur Formlosig­ keit: Die Güte der Rhythmisierung ist nicht einmal so weit garantiert wie bei regelmäßi­ ger Rhythmisierung (wo allerdings gut abgezählte Versfüße auch noch keine Rhythmi­ sierung ergeben). Der Beweis der Güte des Puddings liegt eben im Essen.«1516 Ich zitiere statt des Beispiels aus den Deutschen Satiren ein anderes aus der Deutschen Kriegsfibel: D IE O BEREN Haben sich in einem Zimmer versammelt. Mann a u f der Straße Laß alle Hoffnung fahren. Die Regierungen schreiben Nichtangriffspakte. Kleiner Mann Schreibe dein Testament^' Die Versstilisierung ist ganz in die Organisation der einfachen Sätze zurückgezogen. Zwei Vierzeiler aus jeweils zwei Sätzen, verteilt auf jeweils zwei Zeilen. Das erste Verspaar enthält einen kurzen Aussagesatz, beginnend mit dem für sich gestellten Subjekt, das durch die Versfuge, die ihm folgt, wie eine Überschrift wirkt: D IE O BEREN | parallel dazu: Die Regierungen | mit der Vervollständigung des Satzes im jeweils folgen­ den Vers: Haben sich in einem Zimmer versammelt . . Schreiben Nichtangriffspakte. Im zweiten Verspaar jeweils eine Anrede im ersten Vers: Mann a u f der Straße | ... Klei­ ner Mann | mit der Aufforderung im zweiten: Laß alle Hoffnung fahren ..., Schreibe dein Testament. Stimmführung, Pausen, Akzentverteilung, alles dient der Herausbildung eines festen sprachlichen Profils, unterstützt durch metrische Floskeln, wie sie in Freien Rhythmen auftreten, den Adoneus: Mann a u f der Straße, den Kretikus: Kleiner Mann (jeweils in einem einzelnen Vers), das jambisch alternierende Dante-Zitat: Laß alle H off­ nungfahren und das genau dem Ausgang des Glykoneus, des Schlußverses der asklepia-

13 S. Anm. 10, S. 403 (Nachtrag). 14 S. Anm. 10, S. 403. Ganz ähnlich bezeichnet Pound 1917 den Vers und den Ausdruck, der ihm vorschwebt: »austere, direct, free from emotional slither«. (S. Anm. 7, p. 12.) 15 S. Anm. 10, S. 402. 16 S. Anm. 10, IX 663.

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deischen Strophe, entsprechende Schreibe dein Testament (womit die Verspartie jeweils schließt). Ganz anders als das zitierte Stück aus der Kriegsfibel nimmt sich Brechts Erwartung des zweiten Fünfjahrplans aus der Zeit um 1932 aus. Gegenüber der knappen, mageren Form der KriegsfibelNerse ein ausladendes, schwungvolles Gebilde, das zwar versucht, sich nüchtern zu geben, doch das Pathos seiner vollstimmigen agoralen Rhetorik am En­ de ungehemmt ausströmt. Die Funktion des formalen Halts, in herkömmlicher Lyrik von Metrum und Strophe, oft auch vom Reim versehn, ist hier der rhetorischen Organi­ sation des Affekts übertragen. Erwartung des zweiten Fünfjahrplans In der Zeit zunehmender Verwirrung über den ganzen Planeten hin Erwarten wir den zweiten Plan Des ersten kommunistischen Gemeinwesens. 5

10

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Dieser Plan sieht nicht vor Eine Rangordnung aller Stände fü r die Ewigkeit Oder eine glanzvolle Organisation des Hungers Oder die Disziplin der Ausgebeuteten Sondern die restlose Befriedigung der Bedürfnisse aller Nach verständlichen Gesichtspunkten. Nicht von der Kraft der Rasse Nicht von der Erleuchtung des Führers Nicht von besonderen Listen, übermenschlichen Wundern Sondern von einem einfachen Plan Ausführbar von jedem Volk jedweder Rasse Begründet a u f schlichte Überlegungen, die jeder anstellen kann Der kein Ausbeuter ist noch ein Unterdrücker Erwarten wir alles.17

Hier wird nicht ein ursprünglich strengerer Vers durch Auflockern der Prosa genähert, sondern umgekehrt ursprüngliche Prosa durch stilisierende Gliederung zum Vers über­ höht. Die Abteilung des Textes in Verszeilen, der Einhalt am Ende jeder Zeile, der streng beobachtet ist, die Bündelung von Verszeilen zu deutlich gegliederten, d.h. rhetorisch durchgebildeten Partien - alles erzwingt eine Stimmführung und Atemgebung, die den Vortrag dieser >Rede< zu einem Vortrag von Versen macht: langsamer, nachdrücklicher, mit gleichmäßigeren Hebungsabständen und Tongipfeln und mit markanteren Zäsuren, als es beim Prosavortrag der Fall wäre. Rhetorik, die diese Verse prägt und sie kaum als lyrisches Gebilde empfinden läßt, ist ein Werkzeug öffentlicher Wirkung. Meidet der Autor einerseits um dieser Wirkung wil­ len das Schwebende, Abgehobene des Gedichts, so überhöht er andrerseits aus demsel­

17 S. Anm. 10, VIII 406. Die folgende Analyse nach dem Abschnitt »Agorale Rhetorik« in meiner Einführung (s. Anm. 1), S. 63-66.

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ben Grund die Prosa zum Vers. Der Text hat etwas Schallendes, weithin Vernehmliches. Er ist leichter von einer Tribüne herab bei einer Massenversammlung im Freien gespro­ chen oder gerufen zu denken als in der Stube von einem einzelnen gelesen. Er appelliert an das, was jedermann wichtig sein muß: die Erwartung der Befriedigung seiner Bedürf­ nisse. Damit ist das Wünschenswerte und Vernünftige dem Hassenswerten (Z. 5-7) und Nicht-Vernünftigen, der verblasenen Mystik des Feindes (Z. 10-12), gegenübergesetzt. Die Botschaft ist einfach: um so leichter muß es sein, sie wirkungsvoll zu verkünden. Zunächst wird das Einfache vor den Hintergrund des Verworrnen gestellt: In der Zeit zunehmender Verwirrung über den ganzen Planeten hin. Mit einem einfachen Satz, lapi­ dar und plakativ, ist das Thema gesetzt, das die Botschaft entwickelt.Im Zielpunkt dieses Satzes steht das Wort Erwarten wir alles. Damit ist eine Ringkomposition gegeben, die sich als dreistufiger Zyklus entfaltet. Jede Stufe enthält das Schlüsselwort Plan, jede fol­ gende ist größer als die vorhergehende, womit die Komposition dem Gesetz der wach­ senden Glieder18 gehorcht, und die Glieder 2 und 3 verhalten sich zueinander wie paral­ lel geordnete Stollen mit charakteristischer Schwellung im Schlußglied. Thematisch ist der erste >Stollen wie erwähnt, vom Gedanken des Wünschenswerten, der zweite vom Gedanken des Vernünftigen beherrscht. Die Parallelität liegt in der adversativen syntakti­ schen Anlage beider Partien: nicht / Oder / Oder - Sondern; Nicht von (der) / Nicht von (der) / Nicht von - Sondern von. Auch hier ist die Regel der wachsenden Glieder befolgt. Leitet das erste Sondern ein Gefüge von nur zwei Zeilen ein, so das zweite eins von fünf. Steht im ersten Fall das Verb voran (sieht nicht vor), folgt es im zweiten nach (Erwarten wir alles), so daß sich vom Satzbau her zwischen den >Stollen< die weitere Klammer des Chiasmus ergibt. Die chiastische Endstellung des Verbs im zweiten Stollen bewirkt zudem, daß das lang und frei ausschwingende letzte syntaktische Element einen emphatischen Abschluß erhält. Er wird noch verstärkt durch die Suggestivität der rhyth­ mischen Floskel, in der die Schlußzeile steht, des Adoneus: Erwarten wir alles. Auffallend ist die Verteilung der metrischen Floskeln. Entfällt auf den Block v. 1-9 eine einzige, der Adoneus v. 8: Bedürfnisse aller, enthält der zweite Block (v. 10-17) acht, im Ausgang und im Innern der Verse, im Inneren jeweils an markanter Stelle. Im Durchschnitt entfällt also auf jeden der acht Verse des zweiten Teils ein Adoneus oder Choriambus. Im Ausgang: v. 11 Erleuchtung des Führers, v. 12 übermenschlichen Wun­ dern, v. 13 einfachen Plan, v. 14 jedweder Rasse, v. 17 Erwarten wir alles, im Innern: v. 10 Nicht von der Kraft ('der Rasse), n . 12 besonderen Listen (Komma), v. 16 (Der kein) Aus­ beuter ist ('noch ein Unterdrücker). Daß diese Formeln nicht unterlaufen, sondern ge­ wollt sind, zeigt sich da, wo sie als Varianten von Näherliegendem erscheinen. In v. 14 heißt es nicht: von jedem Volk jeder Rasse, sondern, mit Adoneus am Ende, von jedem Volk jedweder Rasse; v. 16 lautet nicht: der kein Ausbeuter noch ein Unterdrücker ist, sondern, mit Choriambus am Ende des ersten Kolons: Der kein Ausbeuter is t' noch ein Unterdrücker. Die rhetorischen Kunstmittel - Zyklik, Dreistufigkeit, wachsende Glieder, Parallelis­ mus, Anapher, Chiasmus, metrische Floskeln - sind nicht als Schmuck verwandt (er hät­ te hier eher verdeckt und zerstreut), sondern als Werkzeug der Profilierung. Sie verleihen 18 Vgl. H. Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik (21963) § 53, 1a.

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der Rede das Griffige und Gerundete, das Weithin-Schallende eines Pathos, das sich gibt, als sei es aus nichts geboren als Nüchternheit und Vernunft. Wir gehn über zu einigen Beispielen Freier Verse aus dem Werk Gottfried Benns, das öffentlich mit der berühmten Morgue von 1912 beginnt, einem Zyklus von fünf kurzen Stücken. Das erste lautet: Kleine Aster

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Ein ersoffener Bierfahrer wurde a u f den Tisch gestemmt. Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster zwischen die Zähne geklemmt. Als ich von der Brust aus unter der Haut mit einem langen Messer Zunge und Gaumen herausschnitt, muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt in das nebenliegende Gehirn. Ich packte sie ihm in die Brusthöhle zwischen die Holzwolle, als man zunähte. Trinke dich satt in deiner Vase! Ruhe sanft, Kleine Aster! ”

Die Morgue, das Leichenschauhaus, war in Wilhelminischer Zeit und ist bis heute kein O rt, von dem man Anregungen für lyrische Dichtung erwartet. Natürlich war das Thema eine Provokation. Der Naturalismus hatte dergleichen angebahnt, wenn auch eher im Drama und in erzählender Prosa als im Gedicht. Was hier geschah, war der Ver­ such, der Lyrik eine neue Dimension zu erschließen, thematisch und damit, notwendig, formal. Denn alle Stücke des Zyklus in herkömmlicher Form zu halten, in festem Metrum, in regelmäßigen Reimstrophen gar, hätte den Eindruck des Zynischen, der sich ohnehin daraus ergibt, ins Mesquine und Schnöde gesteigert. Bemerkenswerterweise folgt auf das dritte Stück, den Mittelteil, der mit einem zynischen Kalauer schließt, ein Gedicht, in dem sich Widerwärtiges mit Zügen entschiedener Schönheit durchdringt: Sie aber lag und schlief wie eine Braut: am Saume ihres Glücks der ersten Liebe und wie vorm Aufbruch vieler Himmelfahrten des jungen warmen Blutes. [. ..]1920 Das ganze Gedicht ist im Blankvers geschrieben, dessen einzige Unregelmäßigkeit in zwei verkürzten Zeilen liegt. Das Schlußgedicht21 besteht aus drei im Kreuzreim gehalte­ 19 Ges. Werke III (1960) 7. 20 Negerbraut (s. Anm. 19), S. 9. 21 Requiem (s. Anm. 19), S. 10.

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nen vierzeiligen Strophen aus jambischen Fünfhebern, die von lyrischer Glätte allerdings denkbar entfernt sind. Der Zyklus bewegt sich damit vom Freivers über den Blankvers zu Reimvers und Strophe: ein sehr überlegter Aufbau, der die lyrischen Züge gegen das Ende verdichtet und damit dem Sachlichen, der kaltschnäuzigen Härte ein Gegen­ gewicht schafft. Kleine Aster beginnt mit einem Satz, der eher aus einem Roman wie Berlin Alexan­ derplatz stammen könnte als aus einem lyrischen Gedicht: Ein ersoffener Bierfahrer wurde a u f den Tisch gestemmt - eine Mischung des Saloppen (ersoffener) und Drasti­ schen (gestemmt), so prosaisch wie möglich. Kein metrischer Schritt, nicht mal eine be­ stimmte rhythmische Gangart kündigt sich an. Auf die Doppelsenkung in ersoffener folgt das Wort Bierfährer, sperrig mit seinem Prall von Haupt- und Nebenhebung, eine Figur, die sich eindeutiger Skansion entzieht und gegen die Glätte des Alternierens sträubt. Der Typus erscheint noch viermal, in hellila (v. 2), Brusthöhle (v. 9), Holzwolle (v. 10), zünähte (v. 11), wozu als ähnliche Formen weibliche Versausgänge mit beschwer­ ter Senkung treten: Brüst aus (v. 3), herdusschnitt (v. 6). Auf Bierfährer, das Wort mit dem stärksten Ton in der ersten Zeile, folgen bis zum nächsten volltonigen Wort (Tisch) vier Silben, wurde a u f den, von denen zwar die erste etwas markierter, doch kaum prägnant genug ist für einen wirklichen Vollton, so daß die ganze Wortgruppe zwischen den entfernten Hochtonstellen in eine viergliedrige Sen­ kung rutscht. Der Vers hängt rhythmisch durch und strafft sich erst wieder am Ende, bei Tisch gestemmt. Die schwächliche Zäsur nach Bierfahrer hilft auch nicht den Vers profilieren. Ähnlich der zweite Vers mit seinen sechs oder sieben Hebungen, der in der Mitte ins Schlingern gerät und sich gleichfalls erst am Ende, nämlich in der letzten H e­ bung, strafft. Der Reim v. 1/3 - gestemmt / geklemmt - sollte die Straffung noch stärken, doch schwächt ihn der weite Abstand zwischen den Reimwörtern: es sind 22 Silben, die sie trennen. Überhaupt hat der Reim, sporadisch, wie er sich einstellt, nichts Bauendes, sondern etwas Beiläufiges, so daß er dem Hörer leicht entgeht. Er tritt auch nirgends mehr rein auf: herausschnitt und glitt (v. 6/7) können, streng genommen, nicht reimen, denn glitt ist Hebungs-, -schnitt ist Senkungssilbe. Alles andre sind Assonanzen wie glitt - Gehirn (v. 7/8), Vase - Aster (v. 12-14) oder nicht einmal das wie -höhle und -wolle (v. 9/10) und aus und Haut (v. 3/4), von denen das erste in der Senkung, das zweite in der Hebung steht. Die Versabteilung ist denkbar schlicht. Sie folgt der Satzgliederung und bricht bei län­ geren Sätzen die Zeilen so, daß adverbiale Bestimmungen, die natürliche syntaktische Einheiten bilden, eine Verszeile füllen: unter der Haut / mit einem langen Messer (v. 4/5), in das nebenliegende Gehirn (v. 8), zwischen die Holzwolle (v. 10). Die Gliederung erhält auf diese Weise etwas Leichtes, das Vershafte mehr Andeutendes als wirklich Herausbildendes. Bemerkenswert ist allerdings die rhythmische Behandlung der letzten drei Verse. Die drei, die ihnen vorausgehn (v. 9-11), schließen alle auf jene dreisilbigen Wörter mit Doppelhebung, die rhythmisch besonders sperrig wirken: Brusthöhle, Holzwolle, zünähte. Die letzten drei sind >eben< kadenziert: Vase, sanft, Aster, und jeder der drei letzten Verse ist deutlich gefügt, leicht zu skandieren und me­ trisch klar. Man könnte den letzten als jambisch mit anaklastischem Eingang verstehn, rhythmisch also als Choriambus mit jambischem Fortgang: Trinke dich satt ' in deiner 128

Váse; den vorletzten als Kretikus: Rúhe sanft; den letzten als Ditrochäus: Kléine Áster. Rhythmisch lebendiger und dem Ethos der Verse gemäßer ist freilich ein Vortrag, der die letzten beiden Zeilen mit Auftakt nimmt: Rühe sanft, kleine Áster mit Anapäst im vorletzten und hyperkatalektischem Anapäst im letzten Vers, so daß sich am Ende, über die letzte Versgrenze hinweg, ein Adoneus einstellt: sanft / kleine Áster. Wie immer phrasiert, die letzten drei Verse geben der Bewegung des Gedichts entschie­ den ein festes rhythmisches Profil. Das zweite Stück der Morgue: Schöne Jugend

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Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte, sah so angeknabbert aus. Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig. Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell fand man ein Nest -von jungen Ratten. Ein kleines Schwesterchen lag tot. Die andern lebten von Leber und Niere, tranken das kalte Blut und hatten hier eine schöne Jugend verlebt. Und schön und schnell kam auch ihr Tod: Man w arf sie allesamt ins Wasser. Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!22

Das Gedicht ist fester in seinem metrischen Bau als das erste. Im Zusammenhang des Zyklus ergibt sich der Eindruck, als bereiteten sich in ihm die Blankverse des vierten Stücks schon vor, nicht die Fünfhebigkeit, doch der Jambengang. Vier der zwölf Verse sind jambische Vierheber (v. 6, v. 10-12). Zwei weitre lassen sich gleichfalls als jambische Vierheber deuten, die anaklastisch beginnen (v. 5, v. 8). Wiederum zwei erscheinen als Varianten davon: v. 2 ohne Auftakt, trochäisch, v. 9 mit anaklastischem Eingang und dop­ pelter Senkung im vorletzten Takt. Tragend wird dieses Gerüst zumal am Ende: die letz­ ten drei Verse sind reine vierhebige Jamben (der Schlußvers anaklastisch). Deutliche Ab­ weichungen von diesem Muster liegen am Anfang vor, im sechshebigen ersten und im vielhebigen dritten Vers, beide von 16 Silben. Doch sind auch diese Verse metrisch nicht ganz so sperrig wie die Anfangsverse der Kleinen Aster. Die Akzentballung in der Mitte des dritten Verses, Brúst aufbräch, ist leichter in einem vershaften Vortrag zu verwirk­ lichen wegen der tiefen rhythmischen Zäsur und der wenigen schwachtonigen Silben, die folgen. Sicher ist auch hier die Nähe zur Prosa gewahrt. Daß v. 8 nach hatten endet, geschieht wohl nicht, um einen Reim auf Ratten zu bilden, das zu weit entfernt liegt (v. 5) und in hatten nur einen schwachen Zwilling hätte, als vielmehr, um dem folgenden hier am 22 S. Anm. 19, S. 8.

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Anfang des nächsten Verses, also in signifikanter Stellung, den Ton zu sichern. Neben dem Zeilensprung, der so entsteht, ist der Sprung v. 4/5 - der einzige andre - noch gelin­ der. Er zerlegt einen längeren Satz in seine natürlichen Hälften. Die Versfügung schließt sich also der Satzfügung an, was gleichfalls dazu beiträgt, den Verscharakter zu dämpfen, diskret zu halten. Sein Hervorheben müßte den Widerspruch zum Inhalt der Verse als groteske Dissonanz offenbaren. Ich gehe über zu einem weitren, ganz anderen Beispiel Freier Verse aus dem Werk Gottfried Benns. Es vertritt eine Art von Gedicht, die Benn entwickelt und nach­ ahmungsfähig gemacht hat, die lyrische Kurzbiographie, das Personengedicht. Bobrowski und Enzensberger sind ihm in diesem Genre gefolgt. Chopin

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Nicht sehr ergiebig im Gespräch, Ansichten waren nicht seine Stärke. Ansichten reden drum herum, wenn Delacroix Theorien entwickelte, wurde er unruhig, er seinerseits konnte die Notturnos nicht begründen. Schwacher Liebhaber; Schatten in Nohant, wo George Sands Kinder keine erzieherischen Ratschläge •von ihm annahmen. Brustkrank in jener Form mit Blutungen und Narbenbildung, die sich lange hinzieht; stiller Tod im Gegensatz zu einem mit Schmerzparoxysmen oder durch Gewehrsalven: man rückte den Flügel (Erard) an die Tür und Delphine Potocka sang ihm in der letzten Stunde ein Veilchenlied. Nach England reiste er mit drei Flügeln: Pleyel, Erard, Broadwood, spielte fü r zwanzig Guineen abends eine Viertelstunde bei Rothschilds, Wellingtons, im Strafford House und vor zahllosen Hosenbändern; verdunkelt von Müdigkeit und Todesnähe kehrte er heim a u f den Square d ’Orléans.

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Dann verbrennt er seine Skizzen und Manuskripte, nur keine Restbestände, Fragmente, Notizen, diese verräterischen Einblicke sagte zum Schluß: »Meine Versuche sind nach Maßgabe dessen vollendet, was mir zu erreichen möglich war.» Spielen sollte jeder Finger mit der seinem Bau entsprechenden Kraft, der vierte ist der schwächste (nur siamesisch zum Mittelfinger). Wenn er begann, lagen sie a u f e, fis, gis, h, c. Wer je bestimmte Präludien von ihm hörte, sei es in Landhäusern oder in einem Höhengelände oder aus offenen Ferrassentüren beispielsweise aus einem Sanatorium, wird es schwer vergessen. Nie eine Oper komponiert, keine Symphonie, nur diese tragischen Progressionen aus artistischer Überzeugung und mit einer kleinen H a n d 1'’

Das Gedicht - ich erkläre es dazu und halte es unter Benns Gedichten für ein besonders schönes - stellt den extremsten Fall von Freien Versen dar, den wir hier mustern. Das ist insofern bemerkenswert, als es Benn in seine Statischen Gedichte aufgenommen hat, jene Sammlung, die dem strengen Kunstbegriff, den er in der reifen Zeit seines Schaffens herausbildet, am reinsten entsprechen sollte. Loser Vers und Statik schließen sich also für Benn nicht aus. Das lange Gedicht ist in sieben Partien ungleichen Umfangs, zusam­ men von 56 Versen, gegliedert. Der kürzeste Vers ist drei-, der längste fünfzehnsilbig, die Hebungen schwanken zwischen zwei und sechs. Es gibt keinen Reim, kein dominie­ rendes Metrum, wenn auch metrische Floskeln, deren Wirkung schwer bestimmbar er­ scheint. Der Verseingang ist wechselnd gebildet, ohne Auftakt: stiller Tod (v. 15), mit ein­ fachem Auftakt: ein Veilchenlied (v. 22), mit doppeltem: die Notturnos (v. 6). O ft ist nicht zu entscheiden, wie der Eingang eines Verses, wie überhaupt sein metrischer Rahmen gedacht ist. Vers 1 ließe sich metrisch als vierhebiger Jambus verstehn. Nicht séhr ergiebig im Gespräch [.] 23 S. Anm. 19, S. 188-190.

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Rhythmisch allerdings wäre er so zu phrasieren: Nicht sehr ergiebig ' im Gespräch [.] Ein Versuch, die rhythmische Stilisierung an ein vermutetes Muster zu binden und diesem einen prägenden Einfluß auf den Vortrag einzuräumen, dürfte wohl scheitern. Die Andeutungen metrischer Struktur sind zu schwach, zu wenig kohärent, um den Vor­ trag zu lenken. Das zeigt sich neben anderem am häufigen Auftreten eines Wortkörpers, den wir aus Orpheus’ Tod und Kleine Aster kennen: Ansichten, unruhig, Liebhaber, Ratschläge ännühmen, Gewéhrsàlven, zahllosen, Éinblicke, Landhäusern mit ihren Ver­ wandten Brustkrank und hinzieht-, daneben im Hebungsprall: George Sands Kinder; mit dréi Flügeln; Erärd, Broadwood; begann, lägen sie oder der Aufzählung ... e, fis, gis, h, c, die metrisch als jambisch gelten muß: a u f é,fis, gis, h, c, rhythmisch aber, nach Auf­ takt, spondeisch, genauer: als fortgesetzter Hebungsprall ausfällt: a u f é, fis, gis, h, c. Metrische Floskeln, die in Freien Rhythmen die Ode >zitierenunechter< Daktylus vorliegt. Die Choriamben - (Erard) an die Tür; kehrte er heim; Square d’Orléans; sagte zum Schluß; entsprechenden Kraft - sind deutlicher als die Adoneus-Figuren, besonders am Schluß der Mittelpartie, wo zwei kurze Verse hintereinander choriambisch enden: kehrte er heim a u f den Square d ’Orléans. Anders als bei Orpheus’ Tod spielen die Figuren des Adoneus und Choriambus im Versinnern bei diesem Gedicht eine schattenhafte Rolle, so daß es genügt, die wenigen Fälle zu nennen, die halbwegs vernehmlich werden: den Adoneus im ersten Vers: Nicht sehr ergiebig (im Gespräch), den Choriambus in der Aufzählung v. 24 Pleyel, Erard (Broad132

wood). Einmal stellt sich eine Floskelkette her, die einen ganzen Vers durchzieht: (man) rückte den Flügel (Adoneus) (Erard) an die Tür (Choriambus). Das Geheimnis dieser Verse, der Grund, warum es Verse sind, obgleich sich die Versstilisierung in der gewohnten Form nur schwach darin ausprägt, liegt in dem Gleich­ gewicht, das sich immer wieder zwischen Partien größerer und geringerer Versnähe her­ stellt. Formelbeherrschten Strecken wie den zitierten Versen man rückte den Flügel (Erard) an die Tür oder kehrte er heim a u f den Square d ’Orléans stehen solche wie die am Ende der zweiten Partie (v. 9ff.) gegenüber: wo George Sands Kinder keine erzieherischen Ratschläge von ihm annahmen. Betrachten wir den ersten Vers nach den Regeln der von Moritz aus der Grammatik ge­ schöpften Prosodie, dann ergibt sich, daß der Name George als Substantiv gegenüber der Konjunktion wo betont, der Zuname Sand gegenüber dem Vornamen George noch betonter und das Substantiv Kinder als Trägerwort des Genitivattributs George Sands am stärksten betont ist. Diese stauende Folge dreier betonter Silben in einem kurzen Vers kontrastiert mit dem folgenden längeren Vers, der, als Prosa gelesen, nur zwei herausge­ hobene Tonstellen hat und als Vers kaum anders zu sprechen ist, so daß ein dreifacher Auftakt und dreifache Senkung entstehn: keine erzieherischen Ratschläge und im letzten: von ihm annahmen [,] ein doppelter Auftakt und Doppelhebung nebeneinander. Das sind Rhythmen, die einem vershaften Vortrag stark widerstreben. Sie wechseln mit solchen, die ihn zwanglos erlauben: und Delphine Potocka sang ihm in der letzten Stunde ein Veilchenlied [,] wo über die Versgrenze hinweg ein Glykoneus entsteht: letzten Stunde/ ein Veilchenlied. Man hat den stilistischen Duktus eines Gedichts wie Chopin als Parlando bezeichnet. Die Kunst im Parlandogedicht besteht also darin, prosanahe Partien mit versnahen zu 133

durchsetzen, das Abgleiten in bare Prosa durch eine Tournüre zu verhindern, die den Prosatonfall immer wieder auffängt, ihn nicht verwischt, wo er vorherrscht, ihm andrer­ seits aber die völlige Herrschaft bestreitet. Diese Kunst dürfte zu den schwierigsten ge­ hören, die auf dem Gebiet des Verses zu lernen sind: vom Dichter, vom Vortragenden, vom Philologen, der Dichtung und Vortrag untersucht.24

24 Pound schrieb über sein eignes Parlando: »1 have gone as far as can profitably be gone in the other direction [away from the drum-beat] (and perhaps too far). [...] I do not think one can use to any advantage rhythms much more tenuous and imperceptible than some 1 have used.« (S. Anm. 7, p. 12 f.)

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X. WAS IST E IN VERS?

Es ist Zeit, an den Versuch einer Definition des Verses zu denken. Das erst jetzt zu tun ist sinnvoll, denn er sollte so ausfallen, daß selbst Verse wie die wirklich äußerst freien in Benns Chopin davon erfaßt und nicht, wenn auch nur unausdrücklich, davon ausge­ schlossen werden. Natürlich liegt dem Vorsatz, so zu verfahren, die Entscheidung vor­ aus, das Parlando Gottfried Benns für den Vers zu retten, statt es, aus Systemzwang, zu einem Gebilde aus Unversen erklären zu müssen. Denn »warum«, um mit Karl Philipp Moritz zu reden, »sollen wir [...] nicht die vortrefflichsten Verse unsrer vortrefflichsten Dichter auf alle Weise zu retten suchen, und die Freiheit, welche sie sich in irgend einer Versart verstattet haben, nicht gelten lassen [...]?«* Nicht jedermanns Verse, wohlge­ merkt, sondern die der Vortrefflichsten, und auch da nicht alle, sondern wiederum die vortrefflichsten. Die Wörterbücher haben wenig Schwierigkeiten mit der Definition des Verses. Der Duden (1986), enttäuschend wie gewöhnlich, nennt ihn zutreffend, aber nichtssagend die »Zeile oder Strophe eines Gedichts«, Wahrig in seinem Wörterbuch der deutschen Sprache (1987) die »durch das Metrum gegliederte [...] Einheit einer Dichtung in gebun­ dener Rede, Zeile einer Strophe«. Die Wörterbücher der großen europäischen Kultur­ sprachen stimmen darin überein, daß sie dem Begriff des Metrums die Bildung nach bestimmten (und zwar unterschiedlichen) Regeln hinzufügen: »selon certaines règles« (Larousse, 1985), »secondo regole fisse« (Palazzi, 1986), »according to rules of prosody« (Shorter Oxford English Dictionary, 1973). Palazzi verzeichnet unter »verso« sogar: »versi liberi, non legati da rima o da ritmo regolare«. Freie Verse, nicht durch Reim oder regelmäßigen Rhythmus gebunden. Ich habe hier nicht die Zeit, auch nur die wichtigsten literaturwissenschaftlichen Fach­ wörterbücher im Hinblick auf ihre Versdefinition vergleichend zu mustern - ein auf­ schlußreiches Unternehmen für ein Seminar über Fragen der Versforschung. Interessant wäre die Frage, ob und in welchem Maß die Definitionen die jüngere und jüngste Ent­ wicklung des Verses spiegeln. Der Blick auf zwei verbreitete Werke dieser Art, Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur (6. Aufl. 1979) und das Metzler Literatur Lexikon (1984) zeigt, daß Heuslers Definition des Verses als »takthaltigefr] Rede« nicht durch­ gedrungen ist, aber auch nichts von vergleichbarer Handlichkeit sie ersetzt hat. Vorsich­ tig spricht Wilpert von »Wiederkehr der hervorgehobenen [...] Silben in annähernd glei­ chen Abständen«, Eberhard Däschler in Metzlers Literatur Lexikon von »Steigerung und Überhöhung des Sprachrhythmus durch die Einschränkung auf rhythmische, sich wiederholende Grundmuster, die gerade dadurch stark konturiert erscheinen«. Das Bedürfnis, ein verläßliches Kriterium zu haben, das die Scheidung von Vers und Nichtvers erlaubt, ist allzu verständlich. Denn die Erklärung, die Wolfgang Kayser im ersten Satz seiner vielgelesenen Kleinen deutschen Versschule (zuerst 1946) gibt, ist bis 1 Versuch einer deutschen Prosodie (1786) 190.

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zum Grotesken naiv. »Unser Auge«, schreibt Kayser, »sagt uns schnell, was Verse sind. Wenn auf einer Seite um das Gedruckte herum viel weißer Raum ist, dann haben wir es gewiß mit Versen zu tun.«23So einfach ist das also. Freie Verse jenseits des Freien Rhythmus interessieren Kayser nicht, sie kommen in seinem Lehrgang nicht vor. In dem Abschnitt »Gänzlich unregelmäßige Füllung« des Kapitels über die »Zeile«, wo man ihre Behandlung vermutet, erscheinen der Knittelvers und der Freie Rhythmus - eine Zusam­ menstellung von wahrhaft komischer Wirkung. Der dritte Satz der Versschule lautet: »Statt langer theoretischer Erörterungen, was ein Vers sei, wollen wir uns gleich ans H ö­ ren machen und wahrnehmen, was im Verse geschieht.« Ein Versuch, den Verscharakter des Verses an jener heiklen Grenze zu bestimmen, wo er zur Prosa neigt oder nur leicht als Flachrelief aus der Prosa hervordringt, unterbleibt: das Grenzgebiet wird nicht betre­ ten. Vermutlich sollte dem Leser die Beschäftigung mit komplizierten Fragen erspart bleiben - ein Prinzip, das den großen Erfolg der Kleinen Versschule entschieden begün­ stigt: sie liegt in 23. Auflage vor. Was spricht gegen Heuslers Definition des Verses als takthaltiger Rede? Erstens der Zweifel an der Übertragbarkeit des Taktes, eines musikalischen Begriffs, auf die Spra­ che? Zweitens die Verschiebung der Problematik, die dadurch eintritt, daß e in e r das Vorhandensein eines Taktgerüsts bestreitet, wo es ein andrer behauptet und mit Hilfe eines subtilen oder raffinierten Systems von Pausen, Vorhalten, Synkopen, Triolen usw. der Sprache des Textes entlockt. Aus der Ablehnung der Takthaltigkeit einer Rede als Kriterium ihres Verscharakters und dem Fehlen einer anderen Eigenschaft, die als Ersatz dafür eintreten könnte, ergibt sich der mißliche, theoretisch unbefriedigende Umstand, daß Fälle auftreten, in denen tatsächlich die graphische Darstellung auf dem Papier dar­ über entscheidet, ob etwas Prosa ist oder Vers. »Es kann die >Melodie< sein,« schreiben René Wellek und Austin Warren in ihrer Theory o f Literature (1942), »das heißt die Folge der Tonhöhen, die in bestimmten freien Versen vielleicht das einzige Unterscheidungs­ merkmal ist, das den Vers von der Prosa trennt. Erkennen wir nicht aus dem Zusammen­ hang oder der Druckweise, die uns darauf aufmerksam macht, ob freie Verse als Verse gelesen werden sollen, dann könnten wir sie ebensogut als Prosa lesen und sie wahr­ scheinlich auch nicht von ihr unterscheiden. Können sie aber als Verse gelesen werden, dann werden sie anders gelesen, d.h. in einer anderen Modulation. Die russischen For­ malisten haben bis ins einzelne nachgewiesen, daß [...] der Vers aufhört, Vers zu sein, und lediglich zur rhythmischen Prosa wird, wenn wir die Modulation beseitigen.«4 Die Frage, ob etwas Vers sei oder nicht, bleibt damit dem Bereich eines objektiven Kri­ teriums entrückt. Denn selbst wenn man die Modulation, also die Führung der Stimme zwischen wechselnden Tonhöhen,5 durch ein Moment ersetzt, das weniger der Subjekti­ vität des einzelnen Sprechers unterliegt, sagen wir durch rhythmische Straffung, das Heraustreiben prägnanter Akzente: so bleibt es dabei, daß einem Sprecher als Vers zu 2 231987, S. 9. 3 Vgl. den Artikel »Verslehre« von A. Kelletat in D. Krywalski (Hrsg.): Handwörterbuch zur Lite­ raturwissenschaft (21976) 501. 4 Theorie der Literatur (’1963) 149. 5 Die Verbform des von Wellek / Warren gebrauchen Worts, modulate, wird im Concise OED defi­ niert als »Adjust or Vary tone or pitch of (speaking voice)«.

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retten gelingt, was im Mund eines anderen zu Prosa zerfällt, ein Hörer als Vers in sich aufnimmt, was der nächste als Prosa empfindet. Immerhin ist mit dieser Auskunft - Vers ist, was, als Vers geschrieben oder gedruckt, einen vershaften Vortrag erlaubt - die Be­ stimmung von der Ebene scheinbarer Objektivität (Takthaltigkeit) auf jene Ebne verla­ gert, wo die Entscheidung, wie verbindlich nun immer, auch wirklich, nämlich hörbar, erfolgt. Wir erinnern uns an die Einsicht Wilhelm von Humboldts, wonach alles »auf die Deklamationsgrundsätze anfkommt]. Diese allein können die Prosodie begründen«.6 Für Freie Verse gilt dieser Satz in besonderem Maß, und wir sollten bedenken, daß ein Wandel des menschlichen Empfindens beim Hören von Versen so deutlich ist wie beim Hören von Musik. Quart und Quint, vollkommene Intervalle in der Harmonielehre des Mittelalters, gelten in der Klassik als leer; mit der Terz steht es umgekehrt. Das 16. Jahr­ hundert fand sich mit Tonbeugungen ab, dem 17. waren sie ein Greuel. Das 17. Jahrhun­ dert setzte sein Versideal in den gereimten alternierenden Vers, das 18. begehrte z.T. in reimlosen antikischen Versen und Freien Rhythmen dagegen auf. Bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts war die Norm der metrisch gebundene Vers, heut ist es umgekehrt. Es ist nur natürlich, daß die Frage der Versdefinition sich neu und anders stellt, wenn der Vers, dem sie gilt, ein anderer wird. Der Philologe hat der Dichtung zu folgen, nicht die Dichtung dem Philologen, der sich lächerlich macht, wenn er das Amt des Gesetzgebers und Richters beansprucht, wo er zu untersuchen und zu unterscheiden hat. Das heißt nicht, daß er zum Vers keine Meinung und kein Urteil hätte. Im Gegenteil, sein Unter­ scheiden zwischen guten und schlechten Versen, kühnen und schlampigen oder gar kei­ nen ist stets zugleich ein Entscheid, ein Urteil. Was ihn dazu befähigt, mehr vielleicht als die meisten zeitgenössischen Kritiker, ist historisches Wissen. Wer Klopstock und Hölderlin kennt, wird nicht versuchen, Kriterien, die sich beim Studium der Verse dieser Dichter ergeben, unbesehen und unterschiedslos auf alle folgende Dichtung zu übertra­ gen. Er wird aber, andrerseits, ein Bewußtsein davon haben, welche Möglichkeiten der Ausbildung dem deutschen Vers erschlossen sind, welche Vollkommenheit in ihm mög­ lich war oder ist. War, weil die Gegenwart ihre Verwirklichung nicht mehr zuläßt. Ist, weil wir zu unwissend oder stumpf geworden sind, um sie noch wahrzunehmen. (Ich erwähne als Beispiel den Hiat.) Dagegen sind andere, neue Möglichkeiten erschienen, die erst heute, auf Grund einer gewandelten Sprache und einer veränderten Auffassung von Dichtung, verwirklicht werden können. Zu diesen Möglichkeiten gehört das Parlan­ do, der entspannte Vers, den Gottfried Benn —wie neben und nach ihm auch andre in gewagter Nähe zur Prosa als Verstyp den vorhandenen Typen hinzugefügt hat. Um ihn als Vers zu legitimieren (und damit seinen Anspruch, bei der Versdefinition berücksichtigt zu werden), mag es gut sein, noch einmal an die Definition des Blank­ verses zu erinnern. Man kann den Blankvers abstrakt und schematisch als fünffüßigen reimlosen Jambus mit freier Zäsur und freier Kadenz bezeichnen. Von dieser Definition her ist jede Erscheinung, die dem Jambenklippklapp nicht entspricht, und sei es ein blo­ ßer beschwerter Auftakt, als Beugung der Norm zu beschreiben, zu rechtfertigen, zu entschuldigen. Ganz anders bei einer Definition, die vom Blankvers in Shakespeares spä­ teren Dramen ausgeht: einer pragmatischen Definition, die ein hohes Maß an Unregel6 S. o. S. 12.

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mäßigkeit bei der Erfüllung des Schemas von vornherein in sich aufnimmt, so daß verlän­ gerte und verkürzte Verse, Verse mit doppeltem Auftakt und doppelter Senkung oder Hebungsprall usw. nicht eigens von Fall zu Fall als mehr oder minder gerechtfertigte Ausnahmen zu Buche schlagen, sondern als normale Erscheinungen gelten, die der Rein­ heit des Verses nicht nur nichts anhaben, sondern im Gegenteil seine Kraft und Leben­ digkeit ausmachen. Schon Moritz hatte erklärt: »Die Versart kann ja jambisch seyn, ohne daß jeder Vers gerade aus lauter reinen Jamben bestehen darf [d.h. muß]. Wie unter­ mischt waren nicht bei den Alten das jambische und andere Versmaße?« Der Vers gewin­ ne dadurch »an Energie und Schönheit des Ausdrucks«. »Mag sich denn das jambische Versmaaß doch durch den Spondeus, Daktylus, Anapäst, Bachius7 und Schwerfall,89der Absicht des Dichters gemäß, hindurchwälzen, wie es wolle, wenn es nur immer zu sich selbst wieder zurückkehrt [...]«.’ Ähnlich Peter Hacks, der zum Blankvers bemerkt: »Als Regel für den möglichen Grad rhythmischer Freiheit kann gelten: Jede Abweichung vom Schema ist erlaubt, solange das Schema im O hr des Hörenden nicht verlorengeht.«10 Auf den Freien Vers übertragen, bedeutet das: Der Verscharakter des Ganzen bleibt gewahrt, solange zwischen prosanahe Zeilen immer noch Zeilen von erkennbarer Versprägung treten, die ein Zerfließen in Prosa verhindern. Die Versprägung dieser Zeilen bewirkt auch, daß im Vortrag ein Ausgleich zwischen Zeilen geringeren und stärkeren Verscharakters erfolgt, und zwar zugunsten der letzteren. Dies nicht, indem in jeder Zei­ le durch Annähern an ein skandierbares Muster das Gespenst eines Verses beschworen wird, sondern dadurch, daß gleichsam neutrale Zeilen in leichter vershafter Stilisierung erscheinen: Nicht sehr ergiebig ' im Gespräch (Adoneus, Zäsur, Anapäst) und den prosa­ nahen ein Höchstmaß an rhythmischer Artikulation durch entsprechende Stimm­ führung zuteil wird, so daß die Prosa darin zwar unter dem Vers, nicht aber unter dem Niveau einer Sprache bleibt, von der es möglich ist, in jedem Augenblick zum durchge­ stalteten Vers zu gelangen. Eine Definition, die Freie Verse mit einschließt, ist demnach folgende: Vers ist, was in Verszeilen auftritt und einen vershaften Vortrag mindestens zuläßt, in der Regel be­ günstigt und fordert. Vershaft ist ein Vortrag, der dem Text ein höheres Maß an rhythmi­ scher Konturierung erteilt als der Prosa: breiteres Tempo, tiefere Pausen, mehr Tonstel­ len (Haupt- und Nebenakzente), mehr Ebenmaß bei ihrer Verteilung, mehr Modulation, d.h. mehr Spielraum zwischen Höhe und Tiefe in der Tongebung. Ausgeschlossen aus dem Bereich des Verses bleibt durch diese Definition, was sich vershaftem Vortrag verschließt, weil die Anordnung in Verszeilen eine vershafte Gliede­ rung der Sprache nicht darstellt, sondern nur vortäuscht. Der Grund für die Unmöglich­ keit, etwas vershaft zu sprechen und damit als Vers zu erweisen, ist häufig nicht, daß der Gegenstand zu prosaisch wäre - Brecht und Benn z. B. haben genügend unpoetische Ge­ genstände in wirklichen Versen behandelt sondern daß der Sprache die innere Span­ nung fehlt, die den Vers aus der Prosa hervortreibt, ihm die größere Dichte, das höhere 7 »Stürmer« __ ). S. Anm. 1, S. 57. 8 »Palimbachius« (__ w ) S. Anm. 1 und 7. 9 S. Anm. 1, S. 189f. 10 Über den Vers in [Heiner] Müllers Umsiedlerin-Fragment. In P. H.: Das Poetische (1972) 50.

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spezifische Gewicht gibt, das ihn von der Prosa, bei aller Nähe, die er im übrigen zu ihr halten mag, unterscheidet. Soviel zur Definition des Verses, die theoretisch unbefriedigend sein mag, aber den Vorzug hat, der Sache keine Gewalt anzutun, sie andrerseits auch nicht ins Unverbind­ lich-Beliebige aufzulösen. Wenn das Kriterium - die Möglichkeit eines vershaften Vor­ trags als differentia specifica zwischen Vers und Unvers - nicht hinreichend objektivier­ bar ist, so teilt es diese Eigenschaft mit vielen Erscheinungen nicht nur der Verslehre und der Philologie, sondern jeder Disziplin, die ästhetische Gegenstände untersucht. Eric Donald Hirsch hat in seinem Buch Validity in Interpretation dem Umstand Rechnung getragen, daß Schlüsse und Beweise in den verstehenden Wissenschaften nicht in gleicher Weise erfolgen wie in den Naturwissenschaften. Sie liefern als Ergebnis nicht Wahrheit, sondern Evidenz, und einziges Kriterium für Evidenz ist die Zustimmung einer mög­ lichst großen Zahl von Urteilsfähigen als Mitvollziehern der Schlußfolgerung. An­ gesichts des Grades an Gewißheit, der so zu erreichen ist, zieht Hirsch den Begriff der Geltungsprüfung (validation) dem der Wahrheitsbestätigung (verification) vor. Er sagt: »Etwas verifizieren heißt zeigen, daß eine Schlußfolgerung richtig ist; etwas auf seine Geltung prüfen heißt zeigen, daß eine Schlußfolgerung auf der Grundlage der bekannten Tatsachen wahrscheinlich richtig ist.«11 »Das Ziel des Interpreten ist einfach dies: zu zei­ gen, daß eine gegebene Auslegung wahrscheinlicher ist als andere.«12 Damit wird man sich auch bei einer Definition des Verses begnügen müssen. Ein Blick auf die derzeitige Verfassung des Verses im deutschen Sprachgebiet, ein Blick also auf die Verse lebender deutscher Autoren läßt Unterschiede, vor allem zwischen der DDR und den übrigen deutschsprachigen Ländern, erkennen. Es kann nicht Aufgabe einer Einführung in die Verslehre sein, diesen Unterschieden nachzugehn. Ich will nur andeuten, daß Verse, die in der DDR geschrieben werden, i.a. ein höheres Bewußtsein der deutschen Verstradition verraten als das, was im Westen und namentlich in der Bun­ desrepublik an Versen erscheint. Wer diese Verse in einem Querschnitt mustert, wie ihn Anthologien oder Sammelwerke bieten, etwa Band 6 der Gedichte and Interpretationen, erschienen bei Reclam 1982, dem fällt zuerst das erdrückende Übergewicht der Freien Verse ins Auge. Band 5 dieser Sammlung, der Vom Naturalismus bis zur Jahrhundert­ mitte überschrieben ist und die klassische Moderne umfaßt, bietet da ein ganz anderes Bild, einen Reichtum und eine Formenvielfalt, der gegenüber die Lyrik der letzten Jahr­ zehnte als Verarmung erscheint. Die Gründe dafür zu untersuchen ist dieses Kolleg, wie­ derum, nicht der Ort. Auch hier nur ein Hinweis. Brecht hatte die Frage gestellt: »In den finsteren Zeiten / Wird da auch gesungen werden?« und die Antwort gegeben: »Da wird auch gesungen werden. / Von den finsteren Zeiten.«13 Die finsteren Zeiten haben weder Brecht noch Benn, um nur diese zu nennen, am Singen gehindert, und wo sie von Finsternis sangen, was jeder der beiden genügend getan hat, da geschah es - in seiner höchsten Form - auf kunstvolle und insofern auf lichtvolle Art. Auf die Frage, warum die 11 1967, p. 171. 12 P. 236. 13 Ges. Werke (1967) IX 641.

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Autoren der Gegenwart fast ausschließlich in Freien Versen schrieben, würden sie selber wohl antworten: weil die Zeit des Pathos vorbei und der einzig brauchbare Vers für den Ausdruck heutigen Befindens der am wenigsten emphatische, der prosanahe, saloppe, eben der Freie Vers sei. Ingeborg Bachmann, Johannes Bobrowski, Paul Celan hätten vielleicht, als letzte, emphatische, gelegentlich sogar pathetische Gedichte noch schrei­ ben können; heute wirke dergleichen überspannt und démodé. Das kann man gelten las­ sen; nur drängt sich der Gedanke auf, daß hinter dem Plädoyer gegen Pathos und Emphase die Auffassung steht, die Kunst —und also die Verskunst - habe den Zeitgeist zu spiegeln, je reiner desto besser, und wenn die Zeiten banal seien, wie unsre, dann sei die reinste und ehrlichste Kunst die banalste. Alles Nichtbanale ist demnach H okus­ pokus, Geflunker, fauler Zauber, und die ehrgeizigen Lyriker zittern, die Kritiker könn­ ten Kuckuck rufen. Was aber den Vers, den Freien Vers betrifft, so regt sich ein weiterer Verdacht, der Verdacht, die Verseschreiber hielten ihn für leicht zu schreiben. (Woher sonst ihre erstaunliche Fruchtbarkeit?) Ich hoffe, ich habe das Gegenteil gezeigt. Der Freie Vers erfordert ein Höchstmaß an Takt, Disziplin und Kunstverstand. Er ist der Vers, der alles das ersetzen, d.h. aus sich heraus schaffen muß, was im regelmäßigen an Figur und Bewegung schon angelegt ist. Die Nähe zur Prosa, die der Freie Vers so oft sucht, ist eine große Gefahr. Ein Nachlassen der Spannung, der Kontrolle durch das in­ nere Ohr, und die Sprache sackt ab, die Linie verschwimmt. Nichts unerträglicher als der konturlose prosaische Brei, durch den wir seit Jahren waten, wenn wir die D oku­ mente zeitgenössischer Sensibilität über uns ergehen lassen. Hölderlin begann mit gereimten strophischen Gedichten in der Nachfolge Schillers, ging über zu antiken Formen, zu Oden und Elegien, in der Nachfolge Klopstocks und vollendete seine Dichtung in den Freien Rhythmen der späten Hymnen, der Vaterländi­ schen Gesänge. Wer Hölderlins Gedichte kennt, weiß, daß dieser Weg kein Weg der nachlassenden, sondern der zunehmenden Formspannung ist, daß nichts schwerer war, als in Freien Rhythmen jenen Grad der sprachlichen Durchbildung, der Sicherheit und Festigkeit des Verses und der Komposition des ganzen Gedichts zu erreichen, der selbst noch die Oden und Elegien an innerer Plastizität übertrifft. Ich nenne Hölderlin als Bei­ spiel eines Dichters, der es sich schwerer machte, als er seine Formen lockerte. Die Freien Rhythmen der Duineser Elegien wären ein anderes Beispiel. Auch deren Verse sind durchgebildeter und kunstvoller als die regelmäßigen Verse in Rilkes früheren Zyklen, etwa den Neuen Gedichten. Man könnte also freirhythmische Gedichte und Gedichte in Freien Versen daraufhin prüfen, welche Vers- und Kompositionsmuster, welche formalen Erfindungen in ihnen ersetzen, vielleicht sogar übertreffen, was andre Gedichte an Halt und Bestimmtheit aus überlieferten Formen ziehen. Wenn der Vers, das Gedicht nicht abnehmen soll, muß ein Widerstand gefunden werden, an dem ihr Leben sich kräftigt. Jedem Gedicht in Freien Versen diesen Widerstand von neuem zu schaffen, jedem seine eigne bestimmte Figur zu erfinden macht das Arbeiten daran so erschöpfend, daß zwischenein, gleichsam zur Erholung, in einer überlieferten Form zu schreiben für den gewissenhaften Dichter eine Versuchung sein muß - müßte, der er kaum widersteht. Hiergegen ließe sich einwenden, daß das Schreiben in vorgegebenen Formen nur dann eine Erleichterung darstellt, wenn ihre Beherrschung sich von selbst versteht, nicht aber, 140

als Ungewohntes, mit besonderen Risiken verbunden ist (was bei Schreibern von nichts als Freien Versen mitunter befürchtet werden kann). Denn natürlich ergeben, wie Brecht bemerkte, »gut abgezählte Versfüße [...] noch keine Rhythmisierung«,14 und von der Aufgabe formaler Erfindung, im Rhythmischen wie auch sonst, befreit den Dichter die Übernahme einer vorgegebenen Form keineswegs. Auch sie ist etwas, was als Widerstand wirkt (nicht nur als Hilfe), etwas, wozu der Autor in ein Verhältnis dialektischer Span­ nung tritt, um vorhandenes Allgemeines und entstehendes Besonderes miteinander zu durchdringen. Eine Erleichterung ist der Übergang von Freien Versen zu gebundnen ferner nur dann, wenn der Anspruch an die formale Gediegenheit des Freien Verses so hoch ist, wie man ihn heute nur selten noch spannt. Denn die Kritiker wachen darüber, daß Verse den Zeit­ geist verkörpern, und gerade dies gelingt, nach allgemeiner Überzeugung, in wenig durchgebildeten Versen besser als in solchen von einiger Tournüre. Gelegentliche Fra­ gen, warum in diesen oder jenen Gedichten die Verse schlössen, wo sie schließen, der Zweifel, ob es wahrhafte Verse seien, besagen dagegen nicht viel. Denn selbst grammati­ sche Fehler, die ein vielgelesener Kritiker, der die herrschenden Urteilsmaßstäbe wohl gut vertritt, an Gedichten bemängelt, hindern ihn nicht, dem Autor ganz ernsthaft eine Rezension zu widmen.15 Nein, zur Bildung von Urteilsmaßstäben trägt die heutige Kri­ tik, was Verse angeht, nichts bei; schon deshalb nicht, weil sie von Versen als Versen kaum redet. Doch wo gerate ich hin? Die Entscheidung für Freie Verse statt gebundener kann verschieden begründet, die Begründung verschieden einleuchtend sein. Die einleuchtendste ist die, daß der Gegen­ stand in ein Mißverhältnis zur Form geriete, wenn man ihn anders faßte als in Freie Verse. Was die Wahl des Verses für die Wirkung einer Dichtung bedeutet, erhellt sehr eindrucks­ voll aus Goethes Äußerung, die Römischen Elegien hätten sich in einem andren Vers als im naiven der antiken Elegie, etwa in dem von Byrons Don Juan, ganz verrucht ausge­ nommen.16 Brechts Erklärung für die Wahl des Freien Verses in seinen Deutschen Satiren leuchtet unmittelbar ein. Ein Moment darin war, daß ein weniger direkter, nackter Vers zu viele Umschreibungen forderte, sich also, so könnte man sagen, poetisch erweichte. Das Argument ist alt. Schon Lessing benutzte es, um zu erklären, warum er seine Fabeln nicht, wie ältere Dichter, wie Lafontaine, in Versen, sondern in Prosa verfasse. »Ich habe«, schrieb er, »die Versification nie so in meiner Gewalt gehabt, daß ich auf keine Weise besorgen dürfen [d. h. müssen], das Sylbenmaaß und der Reim werde hier und da den Meister über mich spielen. Geschähe das, so wäre es ja um die Kürze gethan, und vielleicht noch um mehr wesentliche Eigenschaften der guten Fabel.«17 Die poetische Diktion, der Verszwang, der Reimzwang verleiten zu Füllseln, zu Schnörkeln und Ab­ weichungen vom geraden Ausdruck, die den Ernst der Sache, in diesem Fall der morali­ schen Lehre, beeinträchtigen. Nicht nur die Beeinträchtigung einer Lehre, die im Vers vermittelt werden soll und die als solche etwas Außerdichterisches bleibt, auch der Vers 14 15 16 17

S. Anm. 13, XIX 402. J. P. Wallmann über J. Schenks Café Américain (sic) in: Der Tagesspiegel (Berlin), 28. 7.1985. J. P. Eckermann: Gespräche mit Goethe (Berlin u. Weimar 41987) 77 (25. 2. 1824). G. E. Lessings Sämtl. Schriften VII (31891) 472 f.

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selbst als Körper des Gedichteten kann in Gefahr geraten, durch das Konventionelle der Form entkräftet zu werden. Der Freie Vers ist weniger vom Abgleiten ins Verschnörkelte oder Betuliche gefährdet. Ich gebe einige Beispiele. Zunächst ein Gedicht von Günter Eich aus dem Jahr 1947, das in der Lyrik als Muster dessen gilt, was nach dem Zweiten Weltkrieg literarischer Kahlschlag hieß. Es ist umso bemerkenswerter, als es von einem Dichter stammt, der nicht erst nach dem Krieg zu schreiben begann, sondern schon 1930 mit Gedichten aus dem Umkreis der Naturlyrik Oskar Loerkes und Wilhelm Lehmanns hervorgetreten war; wie er auch später, beein­ druckt vom Surrealismus, Gedichte schrieb, die keineswegs von Realismus geprägt sind. Inventur Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen. 5

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Konservenbüchse: Mein Teller, mein Becher, ich hab in das Weißblech den Namen geritzt. Geritzt hier mit diesem kostbaren Nagel, den vor begehrlichen Augen ich berge. Im Brotbeutel sind ein Paar wollene Socken und einiges, was ich niemand verrate, so dient es als Kissen nachts meinem Kopf. Die Pappe hier liegt zwischen mir und der Erde. Die Bleistiftmine lieb ich am meisten: Tags schreibt sie mir 'Verse, die nachts ich erdacht.

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Dies ist mein Notizbuch, dies meine Zeltbahn, dies ist mein Handtuch, dies ist mein Zwirn.™

18 Erstdruck in H. W. Richter (Hrsg.): Deine Söhne, Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener (1947). Zit. Nach G. E.: Ges. Werke (1973) I 35.

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Man hat viel Aufhebens gemacht von der Kargheit, dem Lakonismus dieses >armen< Ge­ dichts, dessen Thema die kümmerlichen, aber kostbaren Habseligkeiten des Kriegs­ gefangenen sind. Dem heutigen Leser erscheinen die Verse durchaus nicht so dürr und prosaisch wie den Lesern der ersten Nachkriegszeit. Im Gegenteil, wir sind eher geneigt, noch Rüschen und Fransen zu sehen, wo man früher nur Kahlschlag bemerkte. Der Bau ist klar und fest: vierzeilige reimlose Strophen. Selbst das Metrum ist relativ fest, jede Zeile entschieden skandierbar. Es sind füllungsfreie Zweiheber mit freier Kadenz. Die wenigen Ausnahmen von dieser Regel, die dreihebigen Verse 1, 14 und 25, fallen dagegen nicht ins Gewicht. V. 14, ein Paar wollene Socken, ließe sich zweihebig deuten, wenn ein Paar als doppelter Auftakt genommen wird.19 Die Verse 1 und 25, die wirkliche Drei­ heber sind, lassen sich ebenfalls auf das Schema des Zweihebers zurückführen, nämlich als rhythmische Versetzung aus der Skansion Dies ist meine Mütze und Dies ist mein Notizbuch.20 Das ist, nach heutigen Begriffen, eine erstaunliche metrische Stabilität. Der Eindruck ist unabweisbar, daß der Autor mit einiger Anstrengung bemüht ist, von etwas Gewohntem loszukommen, und das nur mit halbem Erfolg. Den Übergang von seiner Vorkriegs- zur Nachkriegslyrik hat man als »Entpoetisierung durch Verzicht auf Reim, Metrum und Strophe« beschrieben, als »Entzauberung und Reduktion [...] auf ein sprö­ deres, härteres Sprechen«.21 Dem Inventur-Gedicht, das die Wende am schärfsten mar­ kiert, ist zugleich ein »deutlich liedartigejr] Charakter« zugesprochen worden; wenn man auch zweifeln möchte, ob die Mittelstellung zwischen den Formen des Volkslieds und des Dithyrambus, die es einnehmen soll, eine zutreffende Kennzeichnung ist.22 Ein andres Stück aus demselben Jahr zeigt den Verfasser gleichsam beim ersten Schritt auf den Zustand hin, den er danach - vielleicht nicht zeitlich, aber formal - mit Inventur erreicht. Das Gedicht, Latrine, ist ebenfalls strophisch gehalten, in füllungsfreien Drei­ hebern mit geregeltem Wechsel von weiblichem und männlichem Ausgang und Reim, der allerdings halbiert, nämlich auf die männlichen Kadenzen beschränkt ist: Latrine Über stinkendem Graben, Papier voll Blut und Urin, umschwirrt von funkelnden Fliegen, hocke ich in den Knien, den Blick a u f bewaldete Ufer, Gärten, gestrandetes Boot. In den Schlamm der Verwesung klatscht der versteinte Kot.

19 SoJ. Zenke: Poetische Ordnung als Ordnung des Poeten. Günter Eichs »Inventur». In: W. Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen VI (1982) 76. 20 Zenke (s. Anm. 19) schreibt: »Insgesamt dreimal realisieren wir bei sinnakzentuierter Lesung eine dreisilbige Senkung [...] in der Versmitte.« Der dritte Vers dieses Typus, neben den Versen 1 und 25, soll v. 23 sein. 21 O. Knörrich: Die deutsche Lyrik der Gegenwart (1971) 199. 22 Zenke (s. Anm. 19), S. 74.

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Irr mir im Ohre schallen Verse von Hölderlin. In schneeiger Reinheit spiegeln Wolken sich im Urin. »Geh aber nun und grüße die schöne Garonne -< Unter den schwankenden Füßen schwimmen die Wolken davon.23 Das Bestreben, die Verse poetisch abzumagern, führte bei Inventur zur Tilgung des Reims. Eine radikale Abmagerungskur hätte auch jene Fettpolster beseitigt, die sich un­ ter der Epidermis dieser Verse noch halten. Am reinsten prägt den stilistischen Duktus, der offensichtlich erstrebt wird, die Schlußstrophe aus: Dies ist mein Notizbuch, dies meine Zeltbahn, dies ist mein Handtuch, dies ist mein Zwirn. Selbst der Scheinreim von -buch und -tuch in den Senkungssilben der Versschlüsse ver­ schwindet im Gestus des trockenen Vorzeigens und Hersagens. Ähnlich spröde die Ein­ gangsstrophe. Doch schon die nächste enthält in den letzten beiden Versen eine Abwei­ chung von der einfachsten syntaktischen Form: ich hab den Namen / in das Weißblech geritzt. Statt dessen: Ich hab in das Weißblech / den Namen geritzt. Weißblech ist da­ durch hervorgehoben, daß es aus der Mitte des Verses, wohin es bei natürlicher Wort­ folge geriete, in die Endstellung rückt, an die signifikante Stelle, was dem Verscharakter gegenüber dem der natürlichen Wortfolge aufhilft. Ähnlich und deutlicher noch in der nächsten Strophe. Statt >den ich vor begehrlichen / Augen verstecke< nicht nur, poetischer, berge, sondern, aus Verszwang, in künstlicher Wortstellung: den vor begehr­ lichen /Augen ich berge. Noch weiter geht darin die vorletzte Strophe. Statt Tags schreibt sie mir Verse, die ich nachts erdacht hab(e): die nachts ich erdacht, mit rundem assonierendem Choriambus, mit der altmodischen Aussparung des Hilfsverbs - einem über­ ständigen Poetizismus - und mit der gestelzten, ebenfalls poetizistischen Inversion von Adverb und Subjekt. Diese Reste aus dem Stilarsenal des 19. Jahrhunderts desavouieren die Nüchternheit, die hier erstrebt wird. Sie nehmen sich aus wie die Deichsel an den ersten Automobilen, die, funktional überflüssig, ja störend, noch immer an die guten alten Pferde erinnert. Ich gehe über zu einem Gedicht von Friedrich Christian Delius, das 1965 erschien. Der Freie Vers, der sich bei Inventur noch nicht einstellen wollte, obwohl ihn Sujet und erstrebter Duktus schon fordern, ist inzwischen die Norm.

23 Ges. Werke (1973) I 36f.

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Von den Bäumen Von den Bäumen in Steglitz Sammelte ich alle Zettel, die nach entflogenen Wellensittichen suchten. So wurde ich Ornithologe.24 Es ist ein Epigramm. So heißt ein »Sinngedicht, [...] oft mit satirischem Inhalt und über­ raschender Sinndeutung [...] in der Schlußpointe. [...] Erwartung (Spannungserregung) und Aufschluß (überraschende Lösung)«25 sind, nach Lessing,26 die Kennzeichen des witzigen Epigramms. Hier wird die Erwartung in einem vierzeiligen Vordersatz erregt. Steglitz, Zettel, Wellensittiche - kein Ziel kommt in Sicht, keine Richtung deutet sich an; es entsteht also Spannung. Sie erhöht sich in der Pause und löst sich in der überraschen­ den witzigen Wendung am Schluß. Alles ist mit dem geringsten verbalen und syntakti­ schen Aufwand gesagt, schmucklos, in natürlicher Wortfolge. Die Versstilisierung ist denkbar schwach. Einzige formale Bindung ist der etwa gleiche Umfang der Zeilen (zwei bis drei Ikten je Zeile). Der Adoneus in Bäumen in Steglitz und -Sittiche suchten wird gar nicht hörbar in der Beiläufigkeit dieses Sprechens, so wenig wie die Daktylen am Schluß: So wurde ich Ornithologe. Ungeniert erscheint der Hiat: sammelte ich, wurde ich, dessen diskrete Vermeidung in manchen Freien Versen zu den wenigen Annäherun­ gen an die Reinheit des strengeren Verses gehört. Das Gedicht hat gerade den Umfang, den ein Distichon faßt. Man kann es sich leicht in dieser Form denken, etwa auf folgende Art: Steglitz’ Bäume beraubt ich, Zettel um Zettel mir sammelnd, Flüchtigem Sittich geweiht; so - wurd ich Ornitholog. Vielleicht hätte im vorigen Jahrhundert ein Klassizist das Thema auf diese Weise behan­ delt.27 Man sieht, warum es 1965 anders, warum es frei behandelt wurde. Was Brecht so lästig war, die Umschreibungen, die das Versmaß erzwingt, das Behäbige, Teigige, das dadurch entsteht, sollte vermieden werden: die gekünstelte Wortwahl (beraubtf’], ge­ weiht), das Stutzen hier (Sittich) und Breitdrücken dort (mir sammelnd), um nur ja die vorgezeichnete Form zu erfüllen. Die Verse sollten trocken sein, lässig, hingeworfen. Natürlich kann man fragen, ob die Enthaltsamkeit gegenüber der Tournüre, die hier zum Ausdruck kommt, als allgemeines Prinzip den Vers nicht zerstört. Ein Epigramm von fünf Zeilen ist kurz genug, um die Gestaltung dem Witz zu überlassen und den Vers fast ganz davon zu entbinden. Die Massen auch längerer Gedichte in diesem Stil, die seit 1965 erschienen sind, haben die Frage verschärft. Wir mustern ein zweites Epigramm, ein Jahr später erschienen, 1966, von Günter Kunert: 24 25 26 27

Kerbholz (1965) 60. G. v. Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur (61979) 222 f. S. Anm. 17, XI (31895) 220. Vermutlich mit >ward< für >wurd ich Ornitholog«.

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A

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u n n ö t ig e n

L

u x u s

herzustellen verbot was die Leute Lampen nennen König Tharsos von Xantos der von Geburt Blinde.1* Man könnte das knappe Satzgefüge, aus dem das Epigramm besteht, in der Wortfolge entspannen. Etwa so: König Tharsos von Xantos, der von Geburt Blinde, verbot als un­ nötigen Luxus herzustellen, was die Leute Lampen nennen. Es wäre nun Prosa. Doch nicht nur das. Aus der Entfaltung des Zusammenhangs würde der Schluß vorhersehbar. Die Pointe wäre zerstört, zumindest geschwächt. In der Versform wird die Erklärung des Verbots verzögert bis zum letzten Vers, der nichts enthält als das entscheidende Wort Blind. Nicht nur blind muß König Tharsos sein, sondern blind geboren, damit sein Un­ mut verständlich wird. So werden die Glieder der Apposition zu seinem Namen und Titel, der [...] Blinde, durch die wichtige Ergänzung von Geburt getrennt, die sich, als eigener Vers, dazwischenschiebt: König Tharsos von Xantos der von Geburt Blinde. [...] der, als Relativpronomen eigentlich unbetont, gewinnt durch die signifikante Stel­ lung am Versende und die kleine Pause, die der Verssprung erfordert, um als solcher hör­ bar zu werden, genügend Nachdruck, um die wichtige Ergänzung schon am Eingang zu akzentuieren. Zusätzlich zu seiner Isolierung in einem eigenen Vers am Ende des Ge­ dichts wird das Schlüsselwort Blinde durch den Hebungsprall betont, der auf der Gren­ ze der letzten beiden Verse entsteht. der von Gebürt Blinde. Den Eingang kennzeichnet der Doppelakzent auf dem zentralen Wort des ersten Verses : Als unnötigen Luxus Semantisch ein Pleonasmus - jeder Luxus ist unnötig -, müßte das Attribut die sonst so knapp gehaltenen Verse im Ausdruck erweichen, wenn es nicht dazu diente, in der Tauto­ logie den Unmut des Königs zu unterstreichen. Als Rhythmus wird dieser Unmut plastisch in dem doppelt akzentuierten unnötig. Die Spitzenstellung dieser Aussage, die Eröffnung des Gedichts mit ihr verstärkt den Gestus des Unmuts, läßt das Verbot als Ausdruck eines ungeduldigen Zorns erscheinen. Der zweite Vers enthält als zentrales Wort das Wort verbot, dem das unsinnige Herstellen vorangeht und das überflüssig H er­ gestellte folgt. Dies heißt nicht einfach Lampen, sondern was die Leute / Lampen nen28 Verkündigung des Wetters (1966) 21.

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nen. Der König kennt es nur vom Hörensagen und empört sich dagegen als gegen eine Narrheit der Leute. Die Versbrechung hinter Leute exponiert dieses Wort ebenso wie das folgende, Lampen, auf zweifache Art: durch signifikante Stellung am Ausgang und Eingang von Versen und durch kurzen Einhalt oder Zögern beim Herausbilden des Enjambements. All diese Mittel geben dem Verbot, obwohl es nicht als direkte Rede, sondern als Be­ richt erscheint, den Gestus seiner Herkunft aus dem unwilligen Gemüt des Tharsos. Sei­ ne angeborene Blindheit, gepaart mit seiner Königsmacht, lassen ihn ein nützliches und notwendiges Licht, das Kunst-Licht, mit dem Bannfluch belegen. Die metaphorische Dimension dieser sprechenden Verse bedarf nicht der Erläuterung. Der Freie Vers ist streng in den Dienst des Ausdrucks, der knappen plastischen Ver­ deutlichung genommen. Seine Fügung in Satzbau, Wortstellung und Zeilenbrechung folgt einer Logik, die jedes Satzzeichen entbehrlich, ja überflüssig macht. Anders als Von den Bäumen ist dies ein Epigramm, in dem der Vers, der Freie Vers, nicht gewählt ist, damit Betulichkeit unterbleibt (die leicht bei einem gewichtlosen Sujet in regelmäßigen Versen aufkommt), sondern damit der schreckliche Ernst der Kunstfeindlichkeit, von dem die Verse handeln, nicht durch >Kunst< verharmlost wird. Ich bringe als letztes das Beispiel eines Gedichts in Freien Versen, das den gebundenen Vers, die Strophe und selbst den Reim suggeriert, indem es Äquivalente herstellt, die de­ ren Funktion übernehmen. Hier wird weder der Preis des Konventionellen gezahlt, den die strenge Form zwar nicht fordert, aber häufig erhält, noch der Preis der Abdankung des Verses und damit der lyrischen Sprache zugunsten der Talmi-Konfektion eines Ver­ ses, der nur so tut, als wäre er einer. Das Gedicht, 1960 erschienen, ist von Enzensberger. rache fü r ein gläsernes herz I

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II

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III 15

erde, auch du bist nicht sicher vor uns: deine venen aus glimmer und malm, dein balg aus bleiglanz und tuff, und in der feurigen mulde, tief unter gneis und magnetkies ruht heikel, hell und geheim dein herz, erde, auch du bist nicht mehr gefeit: dein gläsernes herz, wenn es zerspringt, birst dein basaltener leib, ein schindaas rauchend aus pech, aus muschelkalk und pluton, erde, aber dein brustkorb schwirrt von drosseln und drosseln voll: wer an dein herz rührt. so steigen sie scharweis auf, den glaser zu suchen, er wohnt in den schwarzen nebeln der galaxie, 147

IV 20

erdherz, der dich geblasen hat aus seinem glashauch, dankt es dem zornigen schwärm, der schwarze glaser, verbirgt im nebelglanz seinen gram und weiß keine rache.29

Wie bei vielen Gedichten seit der Romantik beruht die Wirkung auch hier in überwie­ gendem Maß auf der Magie von Bild und Musik. Selbst in der Abwandlung hat das Mär­ chenmotiv vom gläsernen Herzen noch genügend beschwörende Kraft, um den Bann auf pluton und magnetkies zu werfen. Die zersprengte Erde und der Glasbläser, der ihr Herz blies, drohende Wirklichkeit und Mythengefabel verschmelzen in freien, aber wirklichen und ausdrucksvollen Versen. Alle Partien sind auf sechs Verse, alle Verse auf zwei bis vier Takte beschränkt. Alle Kadenzen, mit der bezeichnenden Ausnahme der letzten (vielleicht auch der von v. 15 und 20) sind männlich. Alle vier Partien sind durch Anapher verknüpft (erde bzw. erd-), die ersten beiden sogar durch fast identischen Eingang (erde, auch du bist nicht)-, die letz­ te ist durch Variation noch betont (erdherz). Die Zeilen sind fest gebaut und deutlich begrenzt, meist sind Versbau und Satzbau im Einklang. Wo sie auseinandertreten, ist der Versschluß als natürlicher gliedernder Einschnitt benutzt, z. B. v. 5/6. Innerhalb der Par­ tien ist der Reim, wenn auch nicht als strenges Prinzip, durch Assonanzen oder die ande­ re Form des Halbreims, den unreinen Reim, >vertretenreim< - um ihn so zu nennen - steht nicht für sich. In allen Partien, beson­ ders der ersten und letzten, sind Alliterationen und Korrespondenzen, Brücken und Echos als Bindemittel verwandt, z.B.: I

venen aus glimmer und malm

mit neun Sonorlauten: sieben Nasalen (n, m) und zwei Liquiden (l); balg aus bleiglanz mit Korrespondenz von Vokal (a) und Konsonanten (b, l, g) bzw. Konsonantenverbin­ dung (lg, gl, bl)-, gneis und magnetkies mit zweifachem gn in gneis und magnet und dem Echo von gneis in kies; heikel, hell und geheim dein herz mit dreifachem ei und vierfachem h; II

birst dein basaltener leib

29 Landessprache (1960) 69.

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mit doppeltem ei, dem zentralen starken doppelten a in basaltener und mehrfachem b-, III

steigen/ scharweis/ glaser/ schwarzen/ galaxie-,

zweimal ei, fünfmal a, dreimal [/]; IV

geblasen/ glas(hauch)/ schwärm/ schwarze glaser/ (nebel)glanz/ gram:

siebenmal a, oft in ähnlicher Einbindung: -blas, glas-, glas, -glanz, schwärm, schwarz--, oder die Musik des o in einem einzelnen Vers (14): von drosseln und drosseln voll. So ist die Wirkung der Strophe durch festgelegte Zeilenzahl, geregelten Umfang der Zeile und weitgehend geregelte Kadenz, durch anaphorische Klammerbildung, Reimersatz und ein dichtes Netz von Klangkorrespondenzen im Innern der Verse auf andre Weise erzielt. Die Wirkung, die weder auf Emphase noch auf Mechanik beruht, sondern das Ansehen des Unwillkürlichen hat, ist eher noch stärker als jene der üblichen Strophe. Die hier gemusterten Beispiele zeigen also den Freien Vers in höchst verschiedener Prägung. Das früheste, Inventur von 1947, ist noch in metrischen Versen, nämlich in fül­ lungsfreien Zweihebern, gleichsam in halben Knittelversen, und in Strophen geschrie­ ben. Spuren von Liedhaftigkeit, die sich stilistisch in überholten poetischen Wendungen darstellen, liegen dabei in Streit mit dem Gestus eines trockenen Vorzeigens und Herzäh­ lens. Der Eindruck des Zwitterhaften, der sich daraus ergibt, rührt von der Wahl eines Verses her, der das falsche lyrische Idiom begünstigt. Inventur ist ein Gedicht, das einen reineren Ausdruck gefunden hätte, wenn es in Freien Versen geschrieben worden wäre etwa von jener Art, wie sie Brecht bei einem derartigen Thema bevorzugt hätte. Ein sol­ cher Vers stand dem Autor 1946/47, als er das Gedicht schrieb, noch nicht zur Verfügung. 1965, zwei Jahrzehnte später, als das nächste Gedicht, Von den Bäumen, erschien, war der Freie Vers das Übliche - so sehr, daß ein geregelter Vers, wenn er nicht gerade in parodistischer Absicht erschien, wie bei Rühmkorf, in der tonangebenden Lyrik antiquiert wirken mußte. Wie der Freie Vers gehandhabt wurde, hing vom Thema, hing aber natür­ lich auch ab vom Anspruch des einzelnen Dichters. Von den Bäumen ist anspruchslos, ein lockeres Stück. Der Vers, der nicht als Schema erscheinen soll, erscheint darin als Schemen. Ganz anders bei Günter Kunert, der den Vers in seinem Epigramm aufs äußer­ ste spannt, um das Thema prägnant und schlagend zu behandeln. Das zuletzt betrachtete Stück, Enzensbergers rache fü r ein gläsernes herz von 1960, bewegt sich in einer Sprache, die den poetischen Vers nicht verleugnet oder umgeht, son­ dern festhält, um die Wirkung eines ausgeprägten lyrischen Gedichts zu erreichen. Auch das ist möglich in Freien Versen.

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XL WIE SPRICHT M AN VERSE?

Ist Versesprechen eine Sache, die den Philologen betrifft und nicht vielmehr den Rezita­ tor, den Schauspieler? Darf sich, so möchte der Laie fragen, die Gelehrsamkeit einmischen, wo allein das Gefühl entscheidet, ein besonderer, nicht weiter erklärbarer Takt? Über die Zuständigkeit des Philologen wäre viel zu sagen. Schon die Analyse, die mit rationalem Werkzeug in ein Gedicht eindringt, ist manchem fatal. Denn Dichtung sei für alle da; der Philologe verfehle sie, wenn er eine Spezialität daraus mache. Es gibt auch andere Stimmen, und glücklicherweise sind solche von Dichtern darunter.1* Was Versesprechen angeht, ist die Zuständigkeit des Philologen in besonderem Maße herausgefordert. Denn wer wenn nicht der Philologe sollte befinden, was ein Vers ist und was nicht? Und wie zu zeigen war, hängt dieser Befund bei manchen Versen von ihrer Fähigkeit ab, sich als Verse sprechen zu lassen. Muß also der Philologe ein Spezialist im Versvortrag sein? Er muß es. Womit nicht gemeint ist, daß er als Virtuose zu glänzen habe. Er muß es in dem bescheidenen Sinn, daß sein Vortrag die Gliederung der Verse dem Hörenden vernehmbar macht. Vom Vortragskünstler mag er an Stimmgewalt und deklamatorischer Bravour übertroffen werden: er wird es sein, der die verdunkelte Zäsur beachtet, die ein zusammengesetztes Wort zerlegt, und den geschleiften Spondeus her­ ausbildet, wo ein >natürlicher< Vortrag den Vers verunstalten müßte. Ist also das Versesprechen als eigene Kunst zu erlernen und zu üben? Wagner, über­ zeugt, der Vortrag mache den Redner, muß sich ermahnen lassen, kein schellenlauter Tor zu sein: Es trägt Verstand und rechter Sinn Mit wenig Kunst sich selber vor. Wie Cicero, wie Quintilian und ihr Humanistengefolge vertraut er den Künsten des Schauspielers, der nicht spricht, sondern deklamiert, mit Pathos und Verve. Fausts Ver­ weis in Ehren, doch war er selbst nicht eben noch laut und pathetisch genug, um Wagner glauben zu machen, er rezitiere ein griechisch Trauerspiel? Leider bleibt die Frage, ob auch dies ein Geschäft sei, das mit wenig Kunst zu bewerkstelligen ist, unerörtert. Man darf es aber bezweifeln. Fürs Latein jedenfalls ist Kunst unerläßlich. In einem Aufsatz über die Musik der Dichtung beruft sich T. S. Eliot auf die Ansicht einiger Philologen, wonach der ältere lateinische Vers ein Akzentvers und nicht ein quantitierender Vers gewesen, dann vom 1 Sie schreiben über Dichtung und abstraktes Denken (Valéry, Œuvres I 1314-39), Lyrik und Logik oder Logik der Lyrik, behaupten: Der Lyriker braucht die Vernunft nicht zu fürchten, denken Über das Zerpflücken von Gedichten äußerst nüchtern (Brecht, Ges. Werke XIX 385-7, 389-393) und erklären: »Dem Mitglied des Browning-Lesezirkels mag die Diskussion von Dichtern über Dich­ tung trocken, technisch und eng erscheinen. Das heißt nur, daß die Ausübenden geklärt und auf Tatsachen reduziert haben, was das Mitglied bloß in der verschwommensten Form genießen kann.« (Eliot, Sei. Essays [31951] 31).

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Einfluß einer ganz anderen Sprache, des Griechischen, überlagert und schließlich in Ge­ dichten wie dem Pervigilium Veneris und den frühchristlichen Hymnen zu etwas wie seiner Ursprungsform zurückgekehrt sei. Treffe dies zu, fährt Eliot fort, dann müsse das Publikum zur Zeit des Vergil einen Teil seines Vergnügens an der Dichtung aus dem Mit­ einander verschiedener Verssysteme, aus ihrem Kontrapunkt gezogen haben - wenn die­ ser Sachverhalt dem Publikum auch kaum bewußt geworden sei.2 Bis heute liegt die Schwierigkeit beim Sprechen klassischer lateinischer Verse darin, die Ordnung aus langen und kurzen Silben hörbar zu machen, die den Vers als solchen begründet, ohne den Wörtern ihren natürlichen Tonfall zu rauben. Wir erinnern uns: eine Senkungssilbe wie cä- in cano, ich singe, muß kurz gesprochen werden und doch, als marcato, den Akzent behalten, der ihr natürlicherweise zukommt. Umgekehrt muß eine Hebungssilbe als solche durch Aushalten des Tons, durch sostenuto, hervorgehoben werden, auch wenn sie natürlicherweise nicht betont, aber lang ist (-nö) - ohne deswegen den natürlichen Akzent der Senkungssilbe an sich zu reißen. Wer je, durch schlechte Pra­ xis verdorben, zum späten Versuch genötigt war, das barbarische Verkrüppeln lateini­ scher Wörter im Vers zu beenden und das reizvolle, aber schwierige Doppelspiel von Wortakzent und Versakzent zu inszenieren: Arma virumque cano der weiß, daß jedes Deuten auf irgendeine Natur, an die man sich halten möge, nur belustigen könnte. Kein Vers ist >natürlichdarstellendes< Sprechen sein, das die Sinnbezüge der Verse mit ihrer Klangform nicht erdrückt und verschüttet, sondern durchdringt. Der Sinnstruktur kann ein Vortrag nur durch Deutlichkeit dienen, durch Hörbarmachen der syntaktischen und metrischen Ordnung. Wie der Klang, wird auch der Sinn durch Über­ pointieren nicht verdeutlicht, sondern entstellt. Gelingt es, durch Wahl des richtigen Tempos, durch richtig bemessene Pausen und sinnentsprechende Stimmführung die Semantik sich gleichsam entfalten zu lassen, so, daß die Obertöne voll dabei mitschwingen, entfaltet der Klang sich meistens von selbst - da jedenfalls, wo er den Versen einge­ staltet und nicht bloß aufgesetzt ist. Der Sprechende geht am besten von einer mittleren Lage aus, beim Ton wie beim Tem­ po, in einer Tournüre, die sich lockern und straffen läßt, ohne im einen oder andern Fall bereits ein Extrem, also die Alltagssprache oder den Gesang zu erreichen. Die Gangart: ein moderato, das nach beiden Seiten verlassen werden kann, ohne daß die Worte ent­ weder auseinanderfallen oder ineinander verfließen. Die Stretta auch der bravourösesten Arie darf nicht derart rasant werden, daß kein Phrasieren dabei mehr gelingt. Als schärf­ stes mögliches Tempo muß also jenes gelten, das ein klares Artikulieren der Wörter noch zuläßt. Die erste und letzte Frage bei allem Versesprechen ist die Frage nach dem Verhältnis von Metrum und Rhythmus. Fallen sie zusammen, ist die Stärke der Hebungsmarkie­ rung eine Sache des Takts. Alle Hebungen gleich stark zu beschweren wird nur geraten (und nur erträglich) sein, wo für kurze Zeit ein martellato oder besondre Gemessenheit eintreten soll. Länger beibehalten, verfällt solch Vortrag zu bloßer Skansion. Differen­ zieren der Hebungsstärken muß verhindern, daß der Rhythmus dem Metrum erliegt. Schwieriger steht es, wo der Rhythmus zum Metrum über längere Zeit in starke Span­ nung tritt. Zwar lebt der Vers aus solcher Spannung, doch droht sie zu erlahmen, wo die Bindung des Rhythmus an das Metrum vom O hr nicht immer wieder bemerkt wird. Um die Verflüchtigung des Metrums in der scheinbaren Freiheit des Rhythmus zu ver­ hindern, muß der Versakzent neben dem natürlichen markiert, der natürliche Akzent als versetzter gekennzeichnet werden. Anaklasis, etwa am Eingang eines jambischen Ver­ ses, darf nicht als bloßer Trochäus, sie muß >spondeisch< erfolgen, mit schwebender Be­ tonung: Furchtbar. Am schwierigsten für den Sprechenden wird das Verhältnis von Wortakzent und Vers­ akzent da, wo es nicht mit dem von Rhythmus und Metrum zusammenfällt, weil ein vor­ gegebenes Metrum fehlt: bei Freien Versen. Verse ohne Metrum, wenn es dergleichen gäbe, könnten etwa keine Versetzung enthalten. Ein Trochäus wird erst dadurch als Ge­ genschlag (Anaklasis) erfaßbar, daß dem Ohr, von der Hörerwartung geleitet, an seiner Stelle ein Jambus vorschwebt. Daß auch in Freien Versen, zumindest in Freien Rhyth­ men, Anaklasis eintreten kann, beweist, daß sie Verse sind, also metrisch - wie immer fließend - geordnet. Friedrich Beißner hat als Regel an Hölderlins freirhythmischen Ver­ sen nachgewiesen, daß sie stets mit Auftakt beginnen und daß, wo diese Regel durchbro21 H. Ball: Ges. Gedichte (1963), S. 28.

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chen scheint, Anaklasis vorliegt, die der folgende Takt als solche erweist, indem er zur Norm des steigenden Metrums zurückkehrt. Für den Vortrag bedeutet dies, daß die Spannung am Eingang des Verses herausgebildet werden muß, denn Hölderlin bedient sich dieses Mittels nicht nach Belieben, um Abwechslung zu schaffen, sondern um in­ haltliche Akzente in rhythmische umzusetzen. Beißner schreibt: »Es ist nun nicht bloß eine mehr oder minder interessante theoretische Feststellung, daß zum Beispiel der Vers des Rhein-Gesangs (151, 5): >Glücklich geboren, wie jener?< mit schwebender Betonung einsetzt. Vielmehr ist die metrische Gestaltung [...] ein Anzeichen dafür, daß [...] hier nicht mehr im Ton ruhiger Erörterung, sondern mit jauchzender Emphasis zu sprechen ist [.. .].«22 Es gibt andere Formen metrisch-rhythmischer Fügung in Freien Versen, die den Spre­ chenden bei seinem Vortrag zur Nachzeichnung anhalten. Wiederum wird dies am deut­ lichsten bei den Freien Rhythmen. Sie führen Elemente der Ode und andrer strenger Formen wie des Hexameters oder des Distichons mit und verfestigen sie, vorzugsweise am Eingang und Ausgang des Verses, zu metrischen Floskeln. Erst wo solche Floskeln in ihrem Umriß erkannt sind, wird es möglich, sie als odische, hymnische oder elegische >Zitate< zu sprechen und Versen, die vermeintlich frei sind, jenes Maß an rhythmischem Profil zu geben, das sie von wirklich freien, also ungestalten unterscheidet. Oft ist das einzige oder doch wichtigste Moment in Freien Versen, an dem der Vortrag sich ausrichten kann, das Verhältnis von Satzbau und Versbau. Wo beide auseinandertre­ ten, Sätze die Versgrenze überschreiten, Versgrenzen den Satz und manchmal das Wort in befremdende Teile zerlegen, dient das, sofern es bewußt und mit Kunst geschieht, der Sinnverdichtung und dem Steigern des Ausdrucks. Indem er neue Zäsuren, eben die des Verses, der Versgrenze, den Satzzäsuren hinzufügt, erhöht der Stil das sprachliche Relief, reißt auf, treibt heraus, spannt, ballt: durch tiefe und gewaltsame Schnitte, enge Hoch­ tonabstände, ein- oder mehrfachen Hebungsprall usw. Verse wie die hier vorausgesetzten, also sehr gespannte, verlangen vom Sprechenden vor allem die Kunst der exakten Phrasierung, die Fähigkeit, Pausen zu machen, die den Vers in seiner Gliederung und seiner Erstreckung markieren, ohne den Zusammenhang, sei es des Satzes oder des Sinns, zu zerreißen. Das schließt die Kunst ein, im Zeilensprung die Versgrenze auch dann zu bezeichnen, oft mehr durch Zögern als durch wirklichen Einschnitt, wenn der Satz, im Hakenstil, schon gleich nach dem folgenden Verseingang endet. Die Versgrenze in Freien Versen ist deshalb besonders bedeutsam, weil sie niemals mechanisch erreicht wird wie in Versen von vorgegebenem Umfang. Die Form eines Ver­ ses, der sich Zeile für Zeile von neuem erschafft, ist nur zu begreifen als Körper einer inneren, einer Sinnstruktur. Da diese Struktur bei ihrem Eingehn in Sprache auf keine vorgezeichnete Form stößt und somit durch nichts Außeres begrenzt und bedingt wird, muß sie selbst ihre äußere Form sein, sich schließen, indem sie sich auslegt. Die Vers­ grenze eines fünffüßigen Jambus mag ohne Einhalt überschritten werden: der Hörer merkt an der Überlänge der fortlaufenden Metren, daß hier ein Vers enjambiert. Ein Freier Vers, der die Versgrenze ohne Einhalt überschritte, wäre vom Hörer in seinem

22 Einführung in Hölderlins Lyrik. KSA II 504.

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Umfang - und damit als Vers, der erst durch Selbstbegrenzung zum Vers wird - nicht mehr erfaßbar. Man darf also sagen, daß Freie Verse, die ein Bezeichnen der Versgrenze im Vortrag nicht dulden, weil sie dabei zerbrächen, entweder überhaupt keine oder keine vortrags­ fähigen Verse sind. Keine Verse sind es, wenn sie auch sonst einem Vortrag widerstreben, der plastischer verfährt als der Vortrag von Prosa: langsamer, mit stärkerer Betonung der Hebungssilben und einem Streben nach gleichmäßigen Abständen zwischen ihnen, mit längeren Pausen bei Satz- und Sinnzäsuren, kurz, mit mehr Nachdruck beim Herausbil­ den des sprachlichen Reliefs. Daß hier und da ein kunstvoll verfahrender Sprecher ein Gebilde als Versgebilde noch retten kann, das im Vortrag eines andern zu Prosa zerfällt, mag die Herausforderung kennzeichnen, die im Versesprechen als Aufgabe liegt. Verfehl­ ter Ehrgeiz, der Vorsatz nämlich, gewaltsam zum Vers zu machen, was keiner ist, erzielt auf der andern Seite die Wirkung, die Friedrich Torberg voraussah, als er schrieb: Seit ich ln einem literaturkritischen Aufsatz Ein Zitat von Peter Weiß gelesen habe Welches besagt »... daß in einem zurückgebliebenen Kolonialland das Proletariat eher die Macht ergreift als in den entwickelten westlichen Ländern« Und seit ich Demselben Aufsatz entnommen habe Daß es sich hier um Verse handelt Schreibe ich nur noch Verse.13 Doch gibt es Verse, die sicherlich Verse sind, wenn auch der Dichter selbst, im Vortrag, ihre Fügung durch Andeuten der Zeilengrenzen nicht nachzeichnen kann: Denk dir: deine eigne H and hat dies wieder ins Leben empor­ gelittene Stück bewohnbarer Erde gehalten.14 Die Zeile teilt hier weniger den Vers als seine Bestandteile ab - nach Rücksichten des Sinnes, die mit phonetischen nicht zu vereinen, ja, die ihnen entgegengesetzt sind. So treten bestimmte und unbestimmte Artikel auf, die für sich eine Zeile füllen und ihrem 23 Einsichten. In: Die Welt der Literatur. Jg. 6, 19. 6. 1969, S. 5. 24 P. Celan: Gedichte II (1975) 227.

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Bezugswort abgesondert voranstehn. Hier, bei Celan, ist der Zustand erreicht, den die Partituren Adrian Leverkühns am Ende seines Schaffens bezeichnen. Sie sind mehr dazu gemacht, mit dem Auge aufgenommen zu werden als zu erklingen, und in Wahrheit kaum noch zu spielen. Mindestens vor einigen Gedichten Celans muß die Frage, wie sie zu sprechen seien, unergiebig und sinnlos wirken. Dann jedenfalls, wenn der Zweck des Sprechens die Selbstverständigung des Sprechenden über das Gelesene ist, wobei die Klanggestalt, zumal die metrisch-rhythmische Gliederung, als sinnliches Moment in das Verständnis, es mitprägend, eingeht. Natürlich dient das Sprechen von Versen noch anderen Zwecken. Es gibt aber keinen, der ohne die Erfüllung dieses ersten zu denken wäre. Mein Verständnis eines Gedichts einem andern nahebringen, soweit der Vortrag ein geeignetes Mittel dazu ist, bedeutet das Ergebnis eines Prozesses - jenes der Aneignung - darstellen. Ich sollte also die Verse, die ich vortrage, auswendig, mehr noch: ich sollte sie inwendig wissen, wie ein Pianist, der für andere spielt, seinen Part in- und auswendig kennt. Da die Aneignung eine Begegnung des Fremden, nämlich des Textes, und des Eignen, nämlich des Sprechenden, darstellt, kann sie als Beispiel all jener Bemühungen gelten, die Bildung heißen. Wer nichts in das Fremde hineinträgt, hat auch nichts, keine Hände, womit er es fassen könnte; wer nichts davon annimmt, erfährt keinen Zuwachs. Insofern das Sprechen ein Akt der Selbsterziehung ist, muß das Ziel sein, sich selbst dem Fremden zu öffnen, nicht um überwältigt zu werden, sondern um im Fremden das Eigne zu finden. Naturgemäß wird der Umgang mit Versen vor allem ein Umgang mit Versen der eige­ nen Sprache sein. Es wäre aber zu wünschen, daß auch fremde Verse darin eingeschlossen würden. Vom Wert des Versuchs, die Verse der klassischen Sprachen zu sprechen - wirk­ lich zu sprechen, nicht nur herunterzuklopfen -, war schon die Rede. Auch die neueren Sprachen sind in dieser Hinsicht von Wert. Ihre Verse zu hören, zu studieren, auswendig zu lernen und mindestens versuchsweise zu sprechen ist ein Geschäft, das einer Entdekkung gleichkommt. In glücklichen Fällen führt es zum Heimatrecht in einem entdeckten Land. Auch lassen sich Dinge dabei lernen, die das Sprechen von Versen der eigenen Sprache befruchten können. Hat die Selbstbelehrung bei diesen Erwägungen im Vordergrund gestanden, sei ab­ schließend noch ein Wort über die Wirkung gesagt, die das Versesprechen auf andre aus­ übt, besser: die man den anderen wünscht. Denn man spricht, wie man möchte, daß vor einem selbst gesprochen wird, und insofern - auch insofern - hängen Sprechen und H ö­ ren zusammen. Als erwünschter Sprecher muß gelten, wer H örer zum anschließenden Lesen bewegt. Daß mancher dies erreicht, indem er mit viel Geklingel für den Gegen­ stand seines Vortrags wirbt, steht auf einem anderen Blatt. Wir wissen, daß die Klassiker­ rezeption - sagen wir die des Faust - eine Geschichte von Mißverständnissen ist und daß es, um diese Mißverständnisse zu verbreiten, Vermittler geben mußte, die bei ihrem Pub­ likum in Ansehen standen und Beifall genossen. Das ist beim Versesprechen nicht an­ ders: die Sache kann auf sich beruhn. Freilich soll der Sprecher für das, was er vorträgt, auch werben, doch nicht, indem er es hochjubelt wie eine faule Aktie. Er soll es wirken lassen, wobei das Maß und die Art der Wirkung bezogen werden von der mythischen Instanz des idealen Hörers. 158

Der ideale Hörer ist einer, der die Texte kennt und sich nichts vormachen läßt. Der die Texte in dem präzisen Sinne kennt, daß er ein Hörbild von ihnen hat: das Ergebnis des eigenen Sprechens, an dem er das Sprechen anderer mißt. Er will nicht hingerissen sein von der persönlichen Note< des Sprechers, sondern hören, wie sich dessen Klang­ bild zum eigenen Hörbild verhält. Entdeckt er im Vortrag des Sprechers Nuancen, die sein eignes Hörbild an Sinnfälligkeit übertreffen, wird er sie dankbar begrüßen; denn die Verse, die er zu kennen meinte, haben sich dadurch als genauer, kühner, reicher, schö­ ner erwiesen. Mehr ist von keinem Vortrag zu erwarten.25 Soviel über das Versesprechen als philologische Obliegenheit. Es mag gut sein, dem Thema noch einige Gedanken zu widmen, die über das Pflichtmäßige hinausgehn. Wie man weiß, sind Übungen zur Gehörbildung und eine gewisse Fertigkeit im Klavierspiel für den Studenten der Musikwissenschaft unabdingbar. Er wird genötigt, seinem Gegen­ stand, der Musik, auch von der sinnlichen Seite her gerecht zu werden, um auszuschlie­ ßen, daß ein reiner musikalischer Philologe aus ihm wird. Der Philologiestudent mag zwar Übungen in Sprecherziehung besuchen, wenn es ihm gutdünkt, grundsätzlich aber kann sein Verhältnis zur Sprache so unsinnlich bleiben wie irgend möglich. Auch dem künftigen Lehrer bleibt der Nachweis erspart, daß er Prosa und Verse wenigstens so zu sprechen weiß, daß er seine Schüler nicht verdirbt. Was sich darin ausdrückt, ist jene Ver­ nachlässigung des Sinnlichen im Umgang mit Sprache, die bis zur musischen Verwahr­ losung geht und die dem 18. Jahrhundert als das Merkmal erschien, das den modernen Menschen vom Menschen der Antike unterscheidet. Mit einer Art von wehmütigem Neid bewunderte man jene verlorene Einheit der kör­ perlichen, geistigen und musischen Anlagen, die den Griechen und in geringerem Maß den Römern vergönnt war und der man selbst nur mühsam, durch bewußte Anstren­ gung, hoffen durfte nahezukommen. Man wußte, daß der griechische Lyriker zugleich der Komponist seiner Verse war, die er selbst als ausübender Musiker vortrug, wie der Dramatiker der Regisseur seiner Stücke war, deren Dialoge und Chöre kein anderer als er selbst mit den Schauspielern probte. Auch im provenzalischenTrobador, im höfischen Minnesinger und noch in einem Renaissancepoeten wie Ronsard stellt sich die Einheit von Dichter, Komponist und ausübendem Künstler dar, deren Faszination nicht denkbar ist ohne die durchgebildete Kunst des Vortrags. In der Antike war Lesen lautes Lesen; die stumme Lektüre ist eine späte Erscheinung. In seinem Essay Dorische Welt schreibt Gottfried Benn: »Eine öffentliche, eine physio­ logische Welt. Man liest laut, das wendet sich an die Funktionen der Ohren, des Kehl­ kopfs, eine Periode war ein körperliches Ganzes: was man in einem Atem sagen konnte. Lesen - das erarbeitete der ganze Organismus [...].«26 Noch im 18. Jahrhundert, als stummes Lesen schon die Regel war, gab es den Vortrag im Kreis der gemeinsam Lesen­ den, das Lesen im Wechsel, das Lesen mit verteilten Rollen, das Liebhabertheater. Von Vossens Vortrag war hier die Rede. Man mag an Tieck denken, den Brentano das größte mimische Talent genannt hat, das je die Bühne nicht betreten;27 der Schauspieler Pius 25 Die Vorlesung folgt bis hierher meinem Aufsatz Über das Sprechen von Versen in SM 64 (1984) 917-30. Vgl. J. Günther: Der lesende Celan. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 20. 12. 1967. 26 Ges. Werke I 265. 27 C. Brentano: Briefe I (1951) 203.

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Alexander Wolf - kein überschwenglicher Mensch - nannte den vorlesenden Tieck »Deutschlands bestes Theater«.28 In unserm Jahrhundert stellte Paul Valéry mit einer Sängerin ein Experiment an: er ließ sie Verse Ronsards sprechen - jenes Ronsard, der seine Gedichte sang und sich selbst dazu auf der Laute begleitete. Valéry verfiel darauf, weil er eine Stimme suchte, die voll­ kommen über ihr Register verfügte, von größerem Umfang als die gewöhnliche: eine kundige, lebendige Stimme, bewußter, genauer im Ansatz, reicher an Klang, achtsamer auf Tempi und Pausen, bestimmter im Wechsel des Tons als die Stimme, die sonst für das Sprechen von Versen zur Verfügung steht.29 Er schrieb: »Das Bestreben, die Dich­ tung auf den Gesang zu beziehen, scheint mir im Grundsatz richtig und dem Ursprung wie dem Wesen unserer Kunst gemäß.«30 Als seine Arbeit an der schwierigen Jeune Parque, einem Gedicht nach dem Muster des musikalischen Rezitativs, ins Stocken gera­ ten und fast schon aufgegeben war, erfuhr er eine unverhoffte Bestärkung in dem Wunsch, sie fortzusetzen. Er las, was ein deutscher Prinz über die französische Tragödin Rachel geschrieben hatte: über die Reinheit ihrer Diktion, den biegsamen metallischen Klang ihrer Altstimme, die zwei Oktaven umfaßte und deren kraftvolle und genaue Modulation der Prinz für einzelne Verse mit Angabe der Tonhöhen und exakter Be­ schreibung der Agogik in seinen Erinnerungen festgehalten hatte. Das Verständnis der Beziehungen zwischen Atem, Rhythmus, Satzbau und Betonungen, das dabei zutage trat, schreibt Valéry, habe ihn unmittelbar interessiert und mittelbar erleuchtet; es sei die erwünschteste Hilfe gewesen.31 Hier also hat sich ein Dichter für seine Arbeit von dem Muster eines vollkommenen Vortrags inspirieren lassen. Das war möglich, weil ihm sein Gedicht als etwas Sinnliches, im Medium einer Stimme zu Leben und Wirkung Gelan­ gendes vorschwebte. Angesichts solcher Tatsache, die sich leicht durch andre eindrucksvolle Beispiele bele­ gen ließe, erscheint die Gleichgültigkeit der Philologen, der >Liebhaber des Wortes