Eine »Wissenschaft vom Menschen«: Max Weber und die Begründung der Sozialökonomik in der deutschsprachigen Ökonomie 1871 bis 1914 [1 ed.] 9783428490899, 9783428090891

Die vorliegende Arbeit ist eine Diskursgeschichte der deutschsprachigen Ökonomie in der Zeit von 1871 bis 1914, in der a

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Eine »Wissenschaft vom Menschen«: Max Weber und die Begründung der Sozialökonomik in der deutschsprachigen Ökonomie 1871 bis 1914 [1 ed.]
 9783428490899, 9783428090891

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Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 35

Eine „Wissenschaft vom Menschen“ Max Weber und die Begründung der Sozialökonomik in der deutschsprachigen Ökonomie 1871 bis 1914

Von

Heino Heinrich Nau

Duncker & Humblot · Berlin

HEINO

HEINRICH

NAU

Eine ..Wissenschaft vom Menschen"

Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 35

Eine „Wissenschaft vom Menschen" Max Weber und die Begründung der Sozialökonomik in der deutschsprachigen Ökonomie 1871 bis 1914

Von

Heino Heinrich Nau

Duncker & Humblot * Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Rudolf Siederleben' sehen Otto Wolff-Stiftung und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Nau, Heino Heinrich: Eine „Wissenschaft vom Menschen" : Max Weber und die Begründung der Sozialökonomik in der deutschsprachigen Ökonomie 1871 bis 1914 / von Heino Heinrich Nau. Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Sozialwissenschaftliche Schriften ; H. 35) ISBN 3-428-09089-6 NE: GT

D 61 Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 3-428-09089-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

„[...] the ideas of economists and political philosophers, both when they are right and when they are wrong, are more powerful than is commonly understood. Indeed the world is ruled by little else. Practical men, who believe themselves to be quite exempt from any intellectual influences, are usually the slaves of some defunct economist. [...] I am sure that the power of vested interests is vastly exaggerated compared with the gradual encroachment of ideas. Not, indeed, after a certain interval; for in the field of economic and political philosophy there are not many who are influenced by new theories after they are twenty-five or thirty years of age, so that the ideas which civil servants and politicians and even agitators apply to current events are not likely to be the newest. But, soon or late, it is ideas, not vested interests, which are dangerous for good or evil." John Maynard Keynes

The General Theory of Employment, Interest and Money (1936), [= The Collected Writings, Vol.VII], London 1973, pp. 383-384.

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist eine Diskursgeschichte der deutschsprachigen Ökonomie in der Zeit von 1871 bis 1914, in der anhand der Entwicklung des Konzepts der Sozialökonomik verschiedene, miteinander konfligierende Grundauffassungen ökonomischen Denkens in diesem Zeitraum dargestellt werden. Der Obertitel, „Eine 'Wissenschaft vom Menschen'", ist ein wörtliches Zitat aus der gedruckten Antrittsvorlesung Max Webers von 1895, mit dem er die Volkswirtschaftslehre seiner Zeit zu charakterisieren suchte. Dieser Titel kann gleichsam als Chiffre für den fundamentalen Wandel des Menschenbildes in der Ökonomie stehen, wie er sich in jenem Zeitraum abzuzeichnen begann. Ausgangspunkt meiner Untersuchung war das Dilemma, in welchem ich mich selbst nach einem wirtschaftswissenschaftlichen Studium in Berlin, Köln, Edinburgh (UK) und Charleston (USA) und dem anschließenden Studium der Geschichte und Philosophie in Köln und Düsseldorf befand. Bei aller Abwägung hatte ich doch zumeist den Eindruck, in „two cultures" zu Hause zu sein. Meine Sympathie für beide Wissenschaften brachte mich daher zu der Frage, warum eine in Deutschland vormals dominante kulturwissenschaftlich inspirierte Ökonomik, die versuchte, historisches und ökonomisches Denken aufeinander zu beziehen, heute kaum mehr gegenwärtig ist. Die Antwort hierauf mag nicht verwundern: Die kulturwissenschaftlich inspirierte Ökonomik wurde sukzessive von dem Konzept einer Sozialökonomik verdrängt, die sich dann ihrerseits zur Soziologie und zur Wirtschaftswissenschaft verselbständigte. Diesen Vorgang habe ich als einen innerwissenschaftlichen Rationalisierungsprozeß gedeutet, der bei allem Gewinn an theoretischer Präzision an historischem Gehalt verloren hat. Diesem Prozeß ist einerseits der Wandel des Menschenbildes in der Ökonomie - von einem in der praktischen Philosophie der aristotelischen Tradition verwurzelten zu einem positivistischen - geschuldet. Andererseits zeigt sich die beiläufige wissenschaftsorganisatorische Konsequenz dieser Entwicklung in der teilweisen Ausgliederung der Wirtschaftsgeschichte aus dem Kanon der Wirtschaftswissenschaften, die heute an einem häufig unbequemen Ort zwischen den Fakultäten piaziert ist. Die derzeitigen Grundsatzdiskussionen über Inhalte und Methoden der Wirtschaftsgeschichte sind offenbar eine zwangsläufige Folge dieses ungewissen Status. Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung einer historischen Dissertation, die von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im

8

Vorwort

Sommersemester 1995 angenommen wurde. Ohne die umfassende Unterstützung und Hilfe anderer würde diese Studie kaum in der jetzigen Form vorliegen. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Wolfgang J. Mommsen, der mir bei der Konzeption der vorliegenden Arbeit viele Freiheiten zuteil werden ließ und der den Glauben nicht aufgab, es werde schon etwas den Historikern 'Gemäßes' dabei herauskommen. Ferner danke ich dem Zweitgutachter, Herrn Professor Richard Münch, der mir bei der Überarbeitung wichtige Hinweise und Verbesserungsvorschläge gab. Für den sachlichen Gehalt der Arbeit anregende Gespräche führte ich zudem mit den Professoren Horst Baier, Roger Chickering, Werner Gephart, Herbert Giersch, M. Rainer Lepsius, Birger P. Priddat, Wolfgang Schluchter, Herrn Georg Siebeck sowie den Mitarbeitern am Historischen Seminar I I der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf, insbesondere Dr. Christoph Cornelißen, PD Dr. Wolfgang Schwentker und Dr. Manfred Wüstemeyer. Ihnen bin ich direkt wie indirekt großen Dank schuldig, auch wenn einige Gespräche schon Jahre zurückliegen sollten. Des weiteren danke ich den Mitarbeitern verschiedener Institutionen, die mich bei der Literatur- und Quellenrecherche tatkräftig unterstützten: Frau Sigrid v. Moissy von der Bayerischen Staatsbibliothek München, den Damen und Herren des ehemaligen Zentralen Staatsarchivs in Merseburg sowie des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem; Dr. Rita Aldenhoff-Hübinger, Dr. Karl-Ludwig Ay, Dr. Edith Hanke, Dr. Cornelie MeyerStoll, Dr. Birgitt Morgenbrod, Manfred Schön sowie allen ehemaligen Kollegen der Max-Weber-Edition bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Frau Altgeld von der Bibliothek des Alfred-Weber-Instituts der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg; den Angestellten der Universitätsbibliothek Düsseldorf für ihre unermüdliche Bereitschaft, mir selbst die entlegensten Literaturwünsche zu erfüllen. Für die technische Unterstützung beim Lektorieren und Erstellen der Layout-Vorlage danke ich Herrn Holger Kunst (Köln) sowie Frau Anke Kleingeist und Frau Anja Papenfuß vom Verlag Duncker & Humblot, Berlin. „Man muß im Ganzen an jemanden glauben, um ihm im Einzelnen wahrhaft Zutrauen zu schenken", heißt es im Buch der Freunde. Für den inspirierenden Gedankenaustausch und die freundschaftlichen Gespräche der zurückliegenden Jahre danke ich: Andreas Anglet, Manfred Brocker, Dorothea Hauser, John Michael Krois, Dieter Mersch, Ullrich Möll, Robert Nemecek, Andreas Thielemann und Steven Wolfe. Christiane Westphal las die Arbeit nicht nur mehrfach Korrektur, sondern gab mir auch in Phasen des (Ver)Zweifel(n)s immer das Gefühl, daß das sachliche Ergebnis dieser Arbeit den zeitlichen Aufwand wert sei. Meine Mutter und mein Vater haben auf je eigene Weise mehr Anteil an der Entstehung dieses Buches, als ich es in Worten auszudrücken vermag. Beiden ist es daher zu gleichen Teilen gewidmet.

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung 1. Das Verhältnis von ökonomischer Theorie und Geschichte in heutiger Sicht

13 13

2. Problemstellung der Arbeit

18

3. Forschungsstand

29

3.1. Die neuere dogmengeschichtliche Literatur 3.2. Neuere Forschungen zur Institutionalisierung der Nationalökonomie 3.2.1. Die Ausbildung 3.2.2. Die Gründung von Zeitschriften und Handbüchern 3.3. Nationalökonomie in Deutschland: ein 'Sonderweg'?

29 32 32 39 43

II. Gustav Schmoller: historisch-ethische Nationalökonomie als Sozialwissenschaft

49

1. Das wissenschaftliche und politisch-praktische Ziel Schmollers

55

2. Die Volkswirtschaftslehre als historisch-ethische Wissenschaft

62

2.1. Schmollers holistischer Ansatz einer 'Wissenschaft vom Menschen'

62

2.2. Idee und Funktion der Gerechtigkeit

68

3. Wissenschaftlicher Fortschritt, Wahrheit und Methode

80

3.1. Die Ausdeutung des Ganzen gesellschaftlicher Zusammenhänge

80

3.2. Das Verhältnis von wissenschaftlicher Wahrheit und Werturteilen

84

3.3. Das Verhältnis von deduktiver und induktiver Methode

87

4. Historisch-ethische Nationalökonomie als Sozialwissenschaft

89

4.1. Die psychologischen Grundkräfte gesellschaftlicher Bewegung

91

4.2. Die Idee von Fortschritt und Entwicklung

92

5. Sozial Wissenschaft als Kulturwissenschaft

94

6. Resümee

99

III. Carl Menger: Sozialwissenschaften als Menschheitswissenschaften

103

1. Die Relevanz der Grenznutzenschule für die Sozial Wissenschaften

103

2. Das Ziel sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung

108

3. Der Ausgangspunkt: Kritik an der klassischen und historischen Schule

113

4. Mengers Systematik sozialwissenschaftlicher Forschung

118

Inhaltsverzeichnis

10

4.1. Innere Systematik und äußere Klassifikation der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften

118

4.2. Der Zusammenhang von theoretischer, historischer und praktischer Forschung 5. Die zwei Grundrichtungen der theoretischen Forschung

121 125

5.1. Die realistisch-empirische Richtung theoretischer Forschung

128

5.2. Die exakte Richtung theoretischer Forschung

130

5.3. Der Zusammenhang zwischen der realistisch-empirischen und der exakten Richtung theoretischer Forschung

133

6. Mengers Methodenlehre und die geistigen Strömungen seiner Zeit

138

7. Mengers Gesellschaftstheorie

142

8. Resümee

150

IV. Der Methodenstreit und die Folgen

153

1. Probleme der historischen Einordnung

153

2. Das Vorspiel: Wagner versus Schmoller

160

3. Der Verlauf: Schmoller versus Menger

166

4. Die Folgediskussion

173

5. Die Ergebnisse

190

V. Heinrich Dietzel: Der Weg zur Sozialökonomik

196

1. Volkswirtschaftslehre versus Sozialökonomik

198

2. Theoretische Sozialökonomik als Wissenschaft

200

2.1. Das Modell einer wirtschaftlichen Verkehrsgesellschaft

202

2.2. Die Prämisse des wirtschaftlichen Prinzips

204

VI. Max Weber: Sozialökonomik zwischen Wirtschaftstheorie und Wirtschaftssoziologie

216

1. Max Weber als Nationalökonom in den 1890er Jahren

219

2. Max Webers Rekurs auf die Methodendiskussion vor 1900

223

3. Die Kritiken Max Webers

226

3.1. Die Kritik an Wilhelm Roscher und Karl Knies 3.2. Die Kritik an Gustav Schmoller und Carl Menger

226 231

4. Der Idealtypus und die Lösung des Problems der Begriffsbildung

235

5. Funktionen der Sozialökonomik

252

5.1. Sozialökonomik als Kulturwissenschaft

252

5.2. Sozialökonomik zwischen Wirtschaftstheorie und Wirtschaftssoziologie... 255 6. Politische Implikationen einer 'nationalen' Wissenschaft 6.1. Ökonomischer Nationalismus als volkswirtschaftspolitisches Ideal

271 283

Inhaltsverzeichnis 6.2. Volkswirtschaftspolitik als eine 'nationale' Wissenschaft und der 'Sinn' der Werturteilsfreiheit 6.3. Das Postulat der Wertfreiheit als Ethos empirischer Wissenschaften 7. Resümee

288 301 303

VII. Die Sozialökonomik als entzauberte Wissenschaft vom Menschen

310

Quellen- und Literaturverzeichnis

322

Personenregister

381

Sachregister

390

I. Einleitung 1. Das Verhältnis von ökonomischer Theorie und Geschichte in heutiger Sicht Die Hoffnungen zu Beginn der 1970er Jahre, daß die „Tage der oeconomica pura" in dem Maße gezählt seien, wie sich eine die „historische Dimension berücksichtigende sozialökonomische Perspektive" - im Sinne einer „allgemeinein) Historisierung der Sozialwissenschaft" - durchsetzen werde, 1 müssen im nachhinein als zu optimistisch bewertet werden. Freilich schien es während der letzten drei Jahrzehnte, als ob andererseits die Hoffnungen, den Verlauf einer Volkswirtschaft anhand operationeller ökonomischer Theorien steuern zu können, ebenfalls unerfüllbar blieben. Beide Vorstellungen bezeichnen ein Problem ökonomischer Theorien selbst: die Frage, in welchem Verhältnis soziale Wirklichkeit und ökonomische Theoriebildung zueinander stehen.2 Dieses Problem hat seit dem Aufkommen der modernen Ökonomik im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zyklisch wiederkehrend eine Rolle gespielt. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich die Kluft zwischen Theorie und Empirie in den Wirtschaftswissenschaften vergrößert, was sich am deutlichsten in ihrer „Enthistorisierung" 3 und ihrer „Entsoziologisierung" - Hans Albert 4

1 So etwa die Ausführungen von Wehler, Hans-Ulrich: Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Geschichte und Ökonomie, Königstein i.T. 2 1985, S.l 1-35, hier S.ll. 2 Vgl. Starbatty, Joachim: Theorie ohne Geschichte? Zur Rolle der Vergangenheit in der Nationalökonomie, in: Saeculum, 43 (1992), S.78-94. 3 Vgl. Schefold, Bertram: Nationalökonomie und Kulturwissenschaft: Das Konzept des Wirtschaftsstils, in: dersWirtschaftsstile, Bd.l: Studien zum Verhältnis von Ökonomie und Kultur, Frankfurt a.M. 1994, S.73-110, zur Enthistorisierung der Ökonomie bes. S.90-94. Vgl. ferner Kaufhold, Karl Heinrich: Zurück zu Schmoller? Bemerkungen zu den historischen Aspekten der Wirtschaftswissenschaften, in: Gustav Schmoller heute: die Entwicklung der Sozial Wissenschaften in Deutschland und Italien, [= Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, Beiträge 6], hrsg.v. Michael Bock,, Harald Homann u. Pierangelo Schiera , Bologna-Berlin 1989, S.89-116, hier S.89. 4 Vgl. Albert, Hans: Nationalökonomie als Soziologie. Zur Sozialwissenschaftlichen Integrationsproblematik, in: Kyklos, 13 (1960), S.l-43; ferner ders.: Die Proble-

14

I. Einleitung

setzt sich seit Ende der 1950er Jahre dafür ein, den soziologischen Charakter der theoretischen Nationalökonomie und damit ihren empirischen, falsifizierbaren Bezugsrahmen gegenüber den zunehmend dogmatischen Immunisierungstendenzen innerhalb der Disziplin zu betonen - zugunsten einer stärkeren „Mathematisierung" 5 geäußert hat. Die wissenschaftsorganisatorische

Konse-

quenz dieser Entwicklung zeigte sich in der teilweisen Ausgliederung der W i r t schaftsgeschichte aus dem Kanon der Wirtschaftswissenschaften. Gerade derjenige Bereich, der i m 19. Jahrhundert in der Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie eine herausragende Stellung innehatte, findet sich nunmehr an einem ungeklärten Ort zwischen den Fakultäten wieder und w i r d - als offenbar zwangsläufige Folge dieses ungewissen Status - von Grundsatzdiskussionen über Inhalte und Methoden heimgesucht. 6

matik der ökonomischen Perspektive, in: Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften, 117 (1961), S.438-467 sowie ders.: Modell-Denken und historische Wirklichkeit. Zur Frage des logischen Charakters der theoretischen Ökonomie, in: Ökonomisches Denken und soziale Ordnung. Festschrift für Erik Boettcher, hrsg.v. Hans Albert, Tübingen 1984, S.39-61. 5 Vgl. zur Geschichte der Wirtschaftswissenschaften aus Sicht ihrer Mathematisierung Mirowski, Philipp: The When, the How and the Why of Mathematical Expression in the History of Economic Analysis, in: Journal of Economic Perspectives, 5 (1991), S. 97-112. Zur Entwicklung und ihrer Problematik Redman , Deborah Α.: Economics and the Philosophy of Science, Oxford-New York 1991, bes. S.l 16-129. Die gängige Kritik an der Mathematisierung zusammenfassend Beed , C JKane, O.: What is the Critique of the Mathematization of Economics?, in: Kyklos, 44 (1991), S.581-612. Die Mathematisierung dagegen verteidigend siehe Buchholz, Wolfgang: Die Mathematisierung der Ökonomie - die Fragwürdigkeit einer Debatte, in: Jahrbuch für Ökonomie und Gesellschaft, [Thema: Die ökonomische Wissenschaft und ihr Betrieb], 10 (1993), S.l 1-31. Zur Problematik einer Dogmengeschichtsschreibung aus mathematischer Sicht siehe Brems, Hans: Pioneering Economic Theory, 1630-1980. A Mathematical Restatement, Baltimore-London 1986, S.ll. 6 Vgl. dazu grundsätzlich Borchardt, Knut: Wirtschaftsgeschichte: Wirtschaftswissenschaftliches Kernfach, Orchideenfach, Mauerblümchen oder nichts von dem?, in: Hermann Kellenbenz u. Hans Pohl (Hrsg.), Historia socialis et oeconomica. Festschrift für Wolfgang Zorn, Stuttgart 1987, S.l7-31. Siehe die kontroverse Debatte über den Ort und den Stellenwert der Wirtschaftsgeschichte in Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 82 (1995), S.387-422. Ferner zum Trennungsprozeß von Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie seit Ende des 19. Jahrhunderts Kaufhold, Karl Heinrich: Wirtschaftsgeschichte und ökonomische Theorien. Überlegungen zum Verhältnis von Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie am Beispiel Deutschlands, in: Geschichte heute. Positionen, Tendenzen und Probleme, hrsg.v. Gerhard Schulz, Göttingen 1973, S.256-280, bes. S.260 ff. sowie Tilly , Richard: Einige Bemerkungen zur theoretischen Basis der modernen Wirtschaftsgeschichte, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1994/1, S.131-149.

1. Das Verhältnis von ökonomischer Theorie und Geschichte in heutiger Sicht 15 Die Befürworter dieser Entwicklung sehen hierin eine notwendige 'Internationalisierung' der ökonomischen Theorie, die in der Mathematik nicht nur eine universell gültige, formale Sprache gefunden hat, sondern mit der weltweiten Dominanz der anglo-amerikanischen Ökonomik auch über eine globale, 'lebende' Sprache verfügt. 7 Die Kritiker hingegen erkennen den entscheidenden Nachteil gerade in dieser weitgehenden mathematischen Formalisierung ökonomischer Probleme: in der Formulierung einer Struktur von Konstanten, die in unveränderlichen Beziehungen zueinander stehen, wobei es die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften ist, diese Strukturen aufzudecken und in Gleichungssystemen darzustellen, die auf jedes System der Produktion und des Tausches anwendbar sind.8 Die Kritiker dieser Entwicklung hingegen erkennen in dem Versuch, die anthropomorphen, historischen Elemente in einem mathematischen Modell sukzessive zu eliminieren, um eine größere Allgemeinheit der theoretischen Aussage zu erzielen, den Verlust der ursprünglichen Intention der Sozialwissenschaften, zu denen sich ja auch die Wirtschaftswissenschaften rechnen. Sie kennzeichnen diesen Vorgang der „Abschaffung des Menschen" in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung als das Problem der „unbewältigten Sozialwissenschaften". 9 Ronald H. Coase formulierte die Vorbehalte gegenüber einer solchen Entwicklung metaphorisch: „The objection against what most economists have been doing essentially is that the theory floats in the air. It is as i f one studied the circulation of the blood without having a body." 10 Auch Robert M. Solow, der als Doyen der 'Neoklassik' gilt, gibt klar zu verstehen, es gelte in den Wirt-

7 So werden viele deutsche wirtschaftswissenschaftliche Zeitschriften mittlerweile in englischer Sprache publiziert: Kyklos. International Review of Social Sciences; die ehemalige Zeitschrift fur die gesamten Staatswissenschaften, die seit 1986 als Journal of Institutional and Theoretical Economics firmiert sowie die Zeitschrift für Nationalökonomie. 8 Bell, Daniel: Modelle und Realität im wirtschaftlichen Denken, in: Daniel Bell u. Irving Kristol (Hrsg.), Die Krise der Wirtschaftstheorie, Berlin 1984, S.58-102, hier S.60 f. Vgl. dort ferner zu den grundlegenden Zweifeln der Disziplin am „Geist des Rationalismus, aus dem sie groß geworden ist" die Ausführungen von Irving Kristol: Der Rationalismus in der Wirtschaftstheorie, in: Bell!Kristol (1984), S.253-276. 9 Eine kritische Auseinandersetzung mit der disziplinaren Isolierung und Immunisierung der Sozial Wissenschaften leistet Tenbruck, Friedrich: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen, [= Herkunft und Zukunft, Bd.2], Graz-Wien-Köln 1984. 10 Coase, Ronald H.: The New Institutional Economics, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 140 (1984), S.229-231, hier S.229.

16

I. Einleitung

schaftswissenschaften von dem Versuch Abschied zu nehmen, diese zu einer 'harten Wissenschaft', einer 'Physik der Gesellschaft' zu machen: „To get right down to it, I suspect that the attempt to construct economics as an axiomatically based hard science is doomed to fail." 11 Dieser Versuch sei deswegen zum Scheitern verurteilt, weil den Wirtschaftswissenschaften die Methoden der Naturwissenschaften, nämlich die Möglichkeit, Hypothesen zu testen, verwehrt seien: weder könnten Experimente noch isolierende Beobachtungen oder die statistische Analyse langer Zeitreihen unter stationären Bedingungen - wie in den Naturwissenschaften üblich - vorgenommen werden. So fehlt es offensichtlich an empirisch überprüfbaren Theorien, die den von Karl Popper geforderten strengen Falsifikationskriterien entsprächen.12 Das methodologisch grundsätzlich ungelöste Problem der Anwendung theoretischer Aussagen auf reale ökonomische Verhältnisse, das wir im weiteren als Transferproblem bezeichnen wollen, besteht nach wie vor darin, daß sich die Wirtschaftswissenschaften darum bemühen, wirtschaftliches Geschehen - makroökonomisch wie mikroökonomisch - erklären und prognostizieren zu wollen, wobei ein gleichsam geschichtsloses, marktwirtschaftliches System als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Manche Kritiker sehen sich dazu veranlaßt, darin das „Elend" wirtschaftswissenschaftlicher Theorien zu sehen, die sich, ohne über eine historische „Erfahrungsbasis" zu verfügen, des „Verifikationsfeldes" ihrer theoretischen Lehrsätze berauben.13 Radikale Kritiker behaupten sogar, daß die ökonomische Theorie gar nicht um die Realität, sondern nur um den „Ausbau ihrer vorwiegend mathematischen Methoden und Modelle" bemüht und wegen ihres „verfehlten Denkansatzes" unrealistisch sei.14 Die Folgen sind, so Albert, „Quasi-Theorien" und „Quasi-Invarianzen" gesellschaftlicher Modelle in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die zwar den Anspruch

11 Solow, Robert M.: Economic History and Economics, in: American Economic Review, 75 (1985), S.328-332, hier S.328. 12 Siehe zur Kritik der Anwendung der Falsifikationskriterien Karl Poppers auf ökonomische Gesetze jetzt Redman , Deborah Α.: Karl Popper's Theory of Science and Econometrics. The Rise and Decline of Social Engineering, in: Journal of Economic Issues, 28 (1994), S.67-99, vor allem S.76 f.; vgl. ferner zur Kritik problematischer Annahmen und nicht falsifizierbarer Setzungen in der Ökonomik Caldwell , Bruce: Some Problems with Falsification in Economics, in: Philosophy of the Social Sciences, 14 (1984), S.489-495. 13 Hoffmann , Walther G.: Wachstumstheorie und Wirtschaftsgeschichte, in: Wehler (1985), S.94-103, hier S.l00 f. 14 Die verschiedenen Ansätze der Kritik sind zusammengefaßt bei Vogt, Winfried: Einleitung, in: Seminar: Politische Ökonomie. Zur Kritik der herrschenden Nationalökonomie, hrsg.v. Winfried Vogt, Frankfurt a.M. 2 1977, S.7-20, hier S.12.

1. Das Verhältnis von ökonomischer Theorie und Geschichte in heutiger Sicht 17 erheben, generelle Hypothesen universeller Gültigkeit zu enthalten, implizit aber lediglich auf eine bestimmte Epoche oder einen Kulturkreis rekurrieren. 15 Der Aussagegehalt und -wert ökonomischer Lehrsätze über die Wirklichkeit muß zufolge ihrer Prämissen beschränkt sein.16 Wolle man eine realistischere Sicht gewinnen, so genüge die Mathematik allein dazu nicht, „einheitliche Analyseverfahren" müßten umfassender sein.17 Es wird daher vorgeschlagen, an die Stelle eines universell gültigen mathematischen Modells eine Vielzahl von räumlich und zeitlich begrenzten Modellen treten zu lassen, da die Gültigkeit des einzelnen Modells von dem gesellschaftlichen Zusammenhang bestimmt werde, in dem es formuliert worden ist. 18 Die opinio communis der deutschen Ökonomen geht daher davon aus, daß zwar ohne die Verwendung mathematischer Denkweisen in dieser Disziplin alles nichts ist, umgekehrt aber die Mathematik auch nicht alles sein kann, daß die „Sprache der Mathematik nur ein Werkzeug und kein Selbstzweck"19 ist. Das hier skizzierte Problem der Vermittlung zwischen ökonomischer Theorie und sozialer Wirklichkeit ist nicht neueren Datums. Es ist Bestandteil des Entstehungsprozesses der modernen Ökonomik, wie sie sich nach 1871 auch im deutschsprachigen Raum herausbildete. In den damaligen Debatten über das Verhältnis beider Bereiche sind bereits viele jener Merkmale und Lösungsvorschläge erkennbar, die für das Grundverständnis dieser Relation bis in die Gegenwart hinein prägend sind. 15 Albert, Hans: Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften, in: Logik der Sozialwissenschaften, [= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd.6 Soziologie], hrsg.v. Ernst Topitsch, Köln-Berlin 3 1966, S.126-143, hier vor allem S.131-134. 16 Vgl. dazu beispielsweise Arni , Jean-Louis: Die Kontroverse um die Realitätsnähe der Annahmen in der Ökonomie, Zürich 1989. Für die wiederaufkeimende Kritik an der Prämisse des homo oeconomicus siehe Merquior, José Guilherme: Mort à l'homo oeconomicus?, in: Europäisches Archiv für Soziologie, 21 (1980), S.372-394. Den homo oeconomicus als Rationalitätskonzept verteidigt Zintl, Reinhard: Der Homo oeconomicus: Ausnahmeerscheinung in jeder Situation oder Jedermann in Ausnahmesituationen?, in: Analyse und Kritik, 11 (1989), S.52-69. Zum theoretischen Konzept des 'Homo oeconomicus' siehe umfassend Kirchgässner, Gebhard: Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, [= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, Bd.74], Tübingen 1991. 17 Schef old, Bertram: Normative Integration der Einzeldisziplinen in gesellschaftswissenschaftlichen Fragestellungen, in: Bock/Homann/ Schiera (1989), S.251-269, hier S.252 sowie Lepenies, Wolf: „Ist es wirklich so?" Der Möglichkeitssinn in den Sozialwissenschaften, in: Neue Zürcher Zeitung v. 24./25.02.1996. 18 So Solow (1985), S.328 ff. 19 Schneider, Erich: Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der Wirtschaftswissenschaft (1918-1968), in: Weltwirtschaftliches Archiv, 102 (1969), S.157-167, hier S.164.

2 Nau

I. Einleitung

18

2. Problemstellung der Arbeit „Es gibt viele Wahrheiten, die sich eigentlich von selbst verstehen. Aber wenn sie in Frage gestellt werden, bringen sie eben deshalb am leichtesten die Menschen in Verwirrung; denn da dieselben am wenigsten darauf vorbereitet sind, zu beweisen, was sie bis dahin als das Einfachste von der Welt ansahen, so muss, um die Wahrheit wiedereinzurenken, Alles ab ovo angefasst und aus dem Fundament der Begriffe wieder in seine rechtmässige Ordnung gebracht werden." Diese Worte Ludwig Bambergers, die Heinrich Dietzel als Motto seiner wegweisenden Schrift Theoretische Socialökonomik 20 voranstellte, kennzeichnen im wesentlichen die Situation in der deutschsprachigen Ökonomik im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Bereits Joseph A. Schumpeter gab zu bedenken, daß die außergewöhnlich langen und um immer wiederkehrende Begriffsbestimmungen und Klassifikationen bemühten Einleitungen der Lehrbücher, Grundrisse und Systematiken der Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts, in denen jeder Nationalökonom zur Legitimierung seiner Berufsbezeichnung zunächst eine Standortbestimmung dieser Disziplin vornehmen mußte, zugleich auch Zeichen für die Krisen- und Umbruchstimmung einer Wissenschaft selbst sind.21 „Das war", so resümierte Schumpeter 1914, „in der Werdezeit aller Wissenschaften so und wird bei uns [d.i. in der Nationalökonomie, d.Verf.] noch lange so bleiben. Entwicklungsphasen lassen sich nicht überspringen, nicht die eines organischen Körpers, nicht politische und soziale und auch nicht wissenschaftliche. Aber das wird sich mit der Zeit von selbst geben, und dann wird es leichter fallen, die Einheitlichkeit der Grundlinien der sozialwissenschaftlichen Arbeit der letzten 150 Jahre zu überblicken." 22 Auch Ludwig von Mises sah den Übergang vom traditionellen zum modernen System sich nicht mit einem Schlage vollziehen, sondern erst allmählich: „Es brauchte geraume Zeit, bis er [der Übergang, d.Verf.] auf allen Teilgebieten des nationalökonomischen Denkens wirksam ward, und

20

Dietzel, Heinrich: Theoretische Socialökonomik, Bd.l. Einleitung. Allgemeiner Theil, Buch I., [= Lehr- und Handbuch der politischen Oekonomie, Zweite Hauptabtheilung, hrsg.v. Adolph Wagner], Leipzig 1895; das Zitat Bambergers dort S.V. 21 Schumpeters Diktum findet, wie später noch zu sehen ist, insofern seine Bestätigung, als fast alle nationalökonomischen Antrittsvorlesungen nach 1871 diesen Zustand des Fachs in Titeln wie „Aufgaben und Methoden der Nationalökonomie" reflektieren. 22 Schumpeter , Joseph Α.: Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte, in: Grundriss der Socialökonomik, I. Abteilung Historische und theoretische Grundlagen, I.Teil Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft, zweite, erweiterte Aufl., Tübingen 1924, S.19-125, hier S.125.

2. Problemstellung der Arbeit

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noch längere Zeit, bis man sich der ganzen Bedeutung des vollzogenen Umschwungs bewußt wurde. Erst dem rückschauenden Dogmenhistoriker erscheinen die Jahre, in denen Menger, Jevons und Walras mit ihren Lehren hervortraten, als der Beginn einer neuen Epoche der Geschichte unserer Wissenschaft." 23 Man hat bezüglich der Differenzierung innerhalb der deutschen Nationalökonomie und einer ihrer Verschiebungen hin zu einer historischen Soziologie am Ende des 19. Jahrhunderts von einem revolutionären Prozeß gesprochen, der im Sinne der Theorie Thomas Kuhns - als 'Paradigmenwechsel' gewertet werden kann.24 Wie Kuhn seinerzeit hervorhob, sei die einem neuen Paradigma vorausgehende Periode regelmäßig durch häufige und grundsätzliche Diskussionen über gültige Methoden, Probleme und Lösungsgrundsätze gekennzeichnet. Gleichzeitig betonte Kuhn jedoch, und dies sollte nicht vergessen werden, diese Auseinandersetzungen dienten wissenschafisintern letztlich eher dazu, „Schulen zu definieren als Übereinstimmung herbeizufuhren". 25 Auch in der ökonomischen Dogmengeschichte ist ein Wechsel der Lehrmeinungen häufig dann festzustellen, wenn unter veränderten historischen Bedingungen die Zeitgebundenheit, also die Relativität einer Theorie zutage tritt. Ein solcher Wandel der Anschauungen läßt sich zeitlich selten eindeutig bestimmen. Gegenströmungen entstehen oft schon zusammen mit der später herrschenden Lehre, und ihre Durchsetzung muß nicht durch epochale Ereignisse bestimmt werden, sondern erstreckt sich unter Umständen über jahrzehntelange Auseinandersetzungen. In dieser Sicht kann man idealtypisch das Aufkommen der sogenannten ökonomischen Klassik und des Wirtschaftsliberalismus im 18. Jahrhundert als eine Reaktion auf den Merkantilismus, die Hinwendung zur historischen Methode der Nationalökonomie im 19. Jahrhundert wiederum als Gegenströmung zu einer die sozialen Probleme unzureichend berücksichtigenden rational-deduktiven Methode der ökonomischen Klassik verstehen. Das Versagen sowohl der historischen als auch der klassischen Analyse bei der Lösung ökonomischer Probleme nach dem Ersten Weltkrieg ließe sich sodann als Grund für die Entstehung der General Theory von John Maynard Keynes deu-

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Mises , Ludwig v.: Grundprobleme der Nationalökonomie. Untersuchungen über Verfahren, Aufgaben und Inhalt der Wirtschafts- und Gesellschaftslehre, Jena 1933, S.67 Anm. 24 So etwa Kruse, Volker: Von der historischen Nationalökonomie zur historischen Soziologie. Ein Paradigmenwechsel in den deutschen Sozialwissenschaften um 1900, in: Zeitschrift für Soziologie, 19 (1990), S. 149-165, hier die These S.149 f. 25 Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um ein Postskriptum erweiterte Auflage, Frankfurt a.M. 10 1989, S.62.

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I. Einleitung

ten, 26 ohne indes den Gedanken vollkommen aufgeben zu müssen, daß im Grunde alle diese Strömungen zur selben Zeit präsent sind, ja, einander in gewisser Weise durchdringen. Sie heben sich im dialektischen Sinne des Wortes gegenseitig auf. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hatte der sogenannte 'Methodenstreit' in der deutschsprachigen Ökonomik mit seinen methodologischen und epistemologischen Fragestellungen die Geister in seinen Bann geschlagen, bis die nach 1871 zunächst scharf akzentuierten theoretischen Standpunkte sich nicht nur allmählich einander annäherten, sondern in Gestalt der sogenannten 'Neoklassik' 27 - der Begriff wurde als Bezeichnung für Ökonomen, die an die klassische Schule in der Folge David Ricardos anknüpften, von dem amerikanischen Ökonomen Thorstein Veblen in einem Aufsatz aus dem Jahre 1900 geprägt; dennoch konnte er sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg in der ökonomischen Terminologie allgemein durchsetzen28 - ein einheitliches Theoriegebäude in der Ökonomik entstand, das in der Lage war, die Elemente historischen Denkens in der deutschen Nationalökonomie sukzessive zu elimieren. 29 Man kann durchaus davon sprechen, daß sich die Nationalökonomie als Disziplin im Zuge dieser Entwicklung international zu einer Diskursgemeinschaft entwickelt hat. Mit der Durchsetzung des neoklassischen Paradigmas vollzog sich jedenfalls eine Verengung des Wissenschaftsbegriffs der Wirtschaftswissenschaften, die deren Pro-

26 Vgl. Winkel, Harald: Der Umschwung der wirtschaftswissenschaftlichen Auffassungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert. Eigentum und industrielle Entwicklung, Wettbewerbsordnung und Wettbewerbsrecht, [= Studien zur Rechtswissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts, Bd.4], hrsg.v. Helmut Coing u. Walter Wilhelm, Frankfurt a.M. 1979, S.3-18, bes. S.3. 27 Siehe zur Entwicklung der „Neoklassik" in Großbritannien, der Schweiz, Österreich und Schweden Hennings, Klaus! Samuels, Warren J. (eds.): Neoclassical Economic Theory 1870 to 1930, Boston-Dordrecht-London 1990. Zur Problematik des Begriffs dort insbesondere Samuels, S.12. 28 Vgl. zur Geschichte des Begriffs Aspromourgos, Tony: On the origins of the term „neoclassical", in: Cambridge Journal of Economics, 10 (1986), S.265-270. Siehe auch zum Verhältnis von Klassik und Neoklassik und zur allgemeinen Differenzierung der Begriffe Kalmbach, PeterIKurz, Heinz Dieter: Klassik, Neoklassik und Neuklassik, in: Jahrbuch für Ökonomie und Gesellschaft, 1 (1983), S.57-102. 29 Siehe zur Lage der deutschen theoretischen Nationalökonomie und ihrer Ablösung vom Historismus im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die Studie von Kurz, Heinz: Die deutsche theoretische Nationalökonomie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen Klassik und Neoklassik, in: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie, [= Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. Bd.ll5/VIII], hrsg.v. Bertram Schefold, Berlin 1989, S.l 1-61, hier insbesondere S.l 1-27.

2. Problemstellung der Arbeit

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fessionalisierung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts forcierte. 30 So ersetzte der englische Ökonom Alfred Marshall, einer der ersten, dem die Bezeichnung 'Neoklassiker' zugeschrieben wurde, 1890 in seinem grundlegenden Werk Principles of Economics 31 für die Disziplin den im englischen Sprachraum älteren Begriff der „political economy" durch denjenigen der „economics".32 Gleichzeitig wurden die traditionell breitgefächerten Forschungsansätze dieser gegen Ende des 19. Jahrhunderts „noch elastische(n) und jung(en)" Wissenschaft, die „auf der Grenze der verschiedenen gelehrten Provinzen" 33 lag, in andere, gegebenenfalls sogar eigenständige Disziplinen verdrängt. Der Keim für die Trennung zwischen gesellschaftswissenschaftlicher Arbeit und ökonomischer Forschung war somit gesetzt. Eugen von Böhm-Bawerk, der zu den renommiertesten ökonomischen Denkern in der Zeit bis 1914 zählte,34 bemerkte einmal zu diesem Vorgang, es habe sich um einen „Kampf 4 gehandelt, „von dem eine spätere Generation wahrscheinlich garnicht mehr begreifen werde, daß er jemals habe geführt werden können" 35 . Es wurde immer wieder behauptet, die Methodenkontroverse sei in der Hauptsache auf eine bloße „Betonungsverschiedenheit" 36 zurückzuführen,

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Vgl. Blaug, Mark: Was There a Marginal Revolution, in: The Marginal Revolution in Economics, ed. by R.D. Collison Black, A.W. Coats u. Craufurd D.W. Goodwin , Durham NC 1973, S.3-14, hier S.14. 31 Vgl. Marshall, Alfred: Principles of Economics, London 1890. 32 Siehe zu den bahnbrechenden Auswirkungen dieses Vorgangs für das Selbstverständnis der Wirtschaftswissenschaften Collini , Stefan/ Winch, DonaldJ Burrow, John: That Noble Science of Politics. A Study in nineteenth-century intellectual history, Cambridge 1983, insbesondere S.312-337. 33 So das Urteil Max Webers kurz vor seinem Amtsantritt als Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaften an der Universität Freiburg im Jahre 1894; zitiert nach Weber, Marianne: Max Weber. Ein Lebensbild, München-Zürich 1989, S.212. 34 Für Schumpeter ist er gar „einer der größten in der Geschichte der Nationalökonomie". Siehe Schumpeter Joseph Α.: Eugen v. Böhm-Bawerk, in: ders., Dogmenhistorische und Biographische Aufsätze, Tübingen 1954, S.82-99, hier S.82. Vgl. zur Bedeutung Böhm-Bawerks bis zur Jahrhundertwende Tomo, Shigeki: Eugen von BöhmBawerk. Ein großer österreichischer Nationalökonom zwischen Theorie und Praxis, [= Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie, Bd.5], Marburg 1994, S.ll sowie zu seiner Bedeutung in der heutigen Wirtschaftswissenschaft Weizsäcker, Carl Christian v.: Rechte und Verhältnisse in der modernen Wirtschaftslehre. Eugen v. Böhm-Bawerk-Vorlesung, in: Kyklos, 34 (1981), S.345-376. 35 Böhm-Bawerk, Eugen v.: Zur Literaturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 54 (1890), S.75-95, hier S.95. 36 Brinkmann, Carl: Gustav Schmoller und die Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 1937, S.140.

I. Einleitung

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die sich nach 1900, der theoretischen und methodologischen Kontroversen müde, zugunsten von „vorbehaltlosen Ausgleichsbestrebungen" abschwächte, sofern diese „nur logisch abgesichert schienen".37 Dieser Auffassung ist jedoch mit Erwin von Beckerath entgegenzuhalten, daß der Methodenstreit in der deutschsprachigen Ökonomik, wie er sich aus der Polemik zwischen den beiden Protagonisten Gustav Schmoller und Carl Menger entwickelte, zwar den „dramatischen Höhepunkt" in diesem „ K a m p f bildete, doch letztlich nur eine Episode in einer Auseinandersetzung darstellte, die schon „Jahrzehnte gewährt hatte und einen der spannungsreichsten Kontraste in der geistigen Geschichte des 19ten Jahrhunderts" widerspiegelte. 38 Auch Hans Albert erkennt im sogenannten ersten Methodenstreit zwischen Carl Menger und Gustav Schmoller nur einen kleinen Ausschnitt einer Debatte über die „Allgemeinheit postulierter Gesetzmäßigkeit" und die „historische Wandelbarkeit aller sozialer Erscheinungen". 39 Der Methodenstreit ist demnach weder ein Spezifikum der Nationalökonomie, obwohl er auch hier seine Fortsetzung fand, 40 noch ein Novum der Wissenschaftslehre; analoge Auseinandersetzungen auf verwandten wissenschaftlichen Gebieten sind bis heute zu beobachten.41 Er ist nicht nur eine Folge der 'Erklären:^Verstehen-Kontroverse', wie sie spätestens seit den 1880er Jahren in den um Selbstverständnis ringenden Geistes- respektive Kulturwissenschaften, die sich gegenüber den aufstrebenden Naturwissenschaften abzugrenzen wünschten, stattfand. 42 Gleichermaßen ist er auch Anzeichen einer „zweifache[n] epistemo-

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Dies hebt etwa Brandt am Beispiel des enorm erfolgreichen Lehrbuchs Theoretische Sozialökonomie von Gustav Cassel hervor, das 1918 in Deutschland erschien. Brandt, Karl: Entwicklungslinien der deutschen Volkswirtschaftslehre in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Jahrbücher fur Nationalökonomie und Statistik, 206 (1989), S.295-306, hier S.299. 38 Beckerath, Erwin v.: Heinrich Dietzel als Nationalökonom und Soziologe, [= Kriegsvorträge der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Heft 135], Bonn 1944, S.7. 39 Albert, Hans: Der Gesetzesbegriff im ökonomischen Denken, in: Macht und ökonomisches Gesetz, [= Schriften des Vereins für Socialpolitik. Verhandlungen auf der Jubiläumstagung in Bonn 1972, N.F. Bd.74/I], hrsg.v. Hans K. Schneider u. Christian Watrin, I.Halbbd., Berlin 1973, S.l29-162, hier S.l37. 40 Vgl. Pagenstecher, Ulrich: Verstehen und Erklären in der Nationalökonomie: Methodenkontroversen 1930-1985, Nürnberg 1987, bes. S.6 f. 41 Vgl. diesbezüglich die facherübergreifende Studie von Homann, Harald: Gesetz und Wirklichkeit in den Sozialwissenschaften. Vom Methodenstreit zum Positivismusstreit, Phil. Diss. Tübingen 1989. 42 Vgl. Apel, Karl-Otto: Die Erklären: Verstehen-Kontro verse in transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt a.M. 1979, zur Begründung verstehender „Geistes"- bzw.

2. Problemstellung der Arbeit

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logische[n] Krise" 43 , die die innere Krise der zerfallenden Staatswissenschaften einerseits sowie die Krise des Paradigmas der historischen Schulen oder, wie im Aufgreifen eines polemischen Abgrenzungsbegriffs auch häufig gesagt wird, des „Historismus" 44 , der im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer der wirkmächtigsten Geistesströmungen in Deutschland geworden war 45 , andererseits umfaßt. Der Versuch der Sozialwissenschaften, sich als wissenschaftlicher Diskurs innerhalb der Staatswissenschaften zu etablieren, wurde - in Anlehnung an C.P. Snows These der „two cultures" 46 - als das Heraufkommen einer dritten Wissenschaftskultur zwischen Naturwissenschaft und Literatur oder, auf Deutschland bezogen, zwischen Natur- und Geisteswissenschaft beschrieben.47 Im Kern ging es um die Frage: Was ist das Wesen der Sozialwissenschaft? Ist sie überhaupt eine eigenständige Wissenschaft und, wenn ja, wohin gehört sie? Ist sie eine Natur- oder eine Geisteswissenschaft, ist sie eine Gesetzeswissenschaft oder eine Historik? In der vorliegenden Arbeit soll gezeigt werden, daß sich in dieser Kontroverse seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entscheidende Positionen des modernen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Selbstverständnisses herausgebildet oder bereits vorhandene epistemologische Ansätze y .Järt haben; und es ließe sich zeigen, daß sich ein vergleichbarer Vorgang auch in Großbritannien, Frankreich 48 und den USA 49 abspielte. Auch wenn Wagner aus

„Kulturwissenschaften" bes. S.35-44. Einen guten Überblick zur Erklären :VerstehenKontroverse in ihrer besonderen Relevanz für die Geschichtswissenschaft bietet Haussmann, Thomas: Erklären und Verstehen: Zur Theorie und Pragmatik der Geschichtswissenschaft. Mit einer Fallstudie über die Geschichtsschreibung zum deutschen Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt a.M. 1991. 43 Von einer solchen spricht Rossi , Pietro: Vom Historismus zur historischen Sozialwissenschaft. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1985, Frankfurt a.M. 1987, S.22. 44 Siehe zu den „Historismus"-Debatten - in der deutschen Nationalökonomie äußerst verkürzend auf die Schmoller-Menger-Kontroverse eingeengt - Wittkau, Annette: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 1992, S.61-79. 45 So etwa Kruse, der davon ausgeht, daß der Historismus als „erkenntnistheoretisch-methodologisches Leitbild" seit den 1870er Jahren infolge des Vordringens von Positivismus, theoretischer Nationalökonomie und Marxismus in die Krise gerät. Vgl. Kruse (1990), S.149f. 46 Zu den Thesen C.P. Snows und der von ihnen ausgelösten Debatte vgl. Kreuzer, Helmut (Hrsg.): Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C.P. Snows These in der Diskussion, München 31987. 47 Vgl. Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985, S.U. 48 Siehe die zeitgenössische Studie von Waha, Raymond de: Die Nationalökonomie in Frankreich, Stuttgart 1910.

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I. Einleitung

institutionengeschichtlicher Sicht geltend macht, die wissenschaftliche Legitimierung der Sozialwissenschaften habe sich in Europa zeitlich nicht ganz synchron vollzogen,50 so trifft dieses Urteil meines Erachtens für die Entstehungsphase der modernen Ökonomik nur in Teilen zu. Daß es sich hierbei nicht nur um ein nationales Phänomen handelte, ist gerade an der Rezeption erkennbar, die die deutschen Kontroversen in Italien, Frankreich, England und den USA fanden und vice versa. So griff man immer wieder - etwa als Anhänger der historischen Schule - auf Argumente seiner ausländischen Kollegen zurück, was sicher auch als Indiz für die Internationalität der jeweiligen Disziplinen, deren Forschungsstand damals zumindest noch überschaubar war, interpretiert werden kann.51 Im deutschen Sprachraum vollzog sich die methodologische Arbeit, die sich gegen starke traditionelle Bestände des historistischen Denkens zu bewähren hatte, zwar langwieriger, in der Intensität der Auseinandersetzung jedoch eindringlicher als im Ausland. Der Methodenstreit in der deutschsprachigen Ökonomik kann demnach als das jeweilige Bemühen verstanden werden, die Grundpositionen in dieser noch relativ jungen und lange Zeit ohne feste Disziplingrenzen verfahrenden Wissenschaft zu bestimmen. Das heißt für die Ökonomik zunächst einmal, innerhalb der sich in diverse Einzeldisziplinen auflösenden Staatswissenschaft - einen solchen Auflösungsprozeß, aus dem sich folglich auch die ' Sozialwissenschaften ' konstituieren, erkennt von Kempski vor allem in der „Entleerung des Begriffs der Staatswissenschaft" selbst, der „Hand in Hand mit der Entleerung der staatsrechtlichen Begriffe von ihren politischen Gehalten"52 gehe - neben der Staatslehre (der Politikwissenschaft) und der Rechtswissenschaft eine eigenständige

49 Zu den Methodendiskussionen in den USA während der 1880er und 1890er Jahre vgl. die kurze, aber sehr informative Skizze von Baumol, William J.: On Method in U.S. Economics a Centuiy Earlier, in: The American Economic Review, 75 (1985), S. 1-12. 50 Vgl. die Studie von Wagner, Peter: Sozialwissenschaften und Staat. Frankreich, Italien, Deutschland 1870-1980, [= Theorie und Gesellschaft, Bd. 17], Frankfurt a.M.New York 1990, bes. S.l04. 51 Den Gedanken- und Meinungsaustausch sowie die Fachrezeption der deutschen Nationalökonomie in den USA aus zeitgenössischer Sicht dokumentiert der Beitrag von Farnam, Henry W.: Deutsch-Amerikanische Beziehungen in der Volkswirtschaftslehre, in: Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im 19. Jahrhundert. Gustav Schmoller zur siebzigsten Wiederkehr seines Geburtstages, dargebracht von S.P. Altmann u.a., 1 .Teil, Beitrag XVIII, Leipzig 1908, S.l-31. 52 Kempski, Jürgen v.: Stein, Schmoller, Weber und die Einheit der Sozialwissenschaft, in: Systeme und Methoden in den Wirtschafts- und Sozial Wissenschaften. Festschrift für Erwin v. Beckerath zum 75.Geburtstag, hrsg.v. Norbert Kloten, Wilhelm Krelle, Heinz Müller u. Fritz Neumark, Tübingen 1964, S. 191-206, hier S.l99.

2. Problemstellung der Arbeit

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Position zu beziehen. Eine selbständige Wissenschaft konnte hingegen nur dort bestehen, wo, wie Max Weber in Anlehnung an Carl Menger für seine Zeit einmal prägend formulierte, „mit neuer Methode einem neuen Problem nachgegangen wird und dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte eröffnen" 53. Denn mit der Kritik der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie an den Annahmen und stillschweigenden Voraussetzungen der Klassik, die eine Ablösung des klassischen ökonomischen Paradigmas zum Ziel haben sollte, schien die Nationalökonomie in Deutschland in diesem frühen Stadium der Formierung in Gefahr zu geraten, ihre noch recht schwache Eigenständigkeit zu verlieren und, wie viele Nationalökonomen befürchteten, in eine Art 'Geschichtsschreibung' aufgelöst zu werden. 54 Die hier vorliegende Studie will einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten, inwieweit sich das Profil der deutschsprachigen Ökonomik als einer selbständigen Disziplin in ihren Methodendiskussionen seit den 1870ern schärfen konnte, welche einschneidenden Zäsuren verzeichnet wurden und in welchen neuen Kontext sich das Fach selbst verortet hat. Anhand der Herausbildung der methodologischen Ansätze von Gustav Schmoller (1838-1917), Carl Menger (18401921), Heinrich Dietzel (1858-1935) und Max Weber (1864-1920) soll gezeigt werden, wie sich das methodologische Selbstverständnis der deutschsprachigen Ökonomik innerhalb einer Generation grundlegend ändern konnte. Sie alle markieren als 'opinion leaders' jeweils Positionen, die die langsame Emanzipation der Nationalökonomie aus den Staatswissenschaften - und damit den Niedergang des Selbstverständnisses der Staatswissenschaften als einer 'ganzheitlichen', alle 'Wissenschaften von der Staatskunst' umfassenden Disziplin - bis 1914 anzeigen. Es wird hierbei zu zeigen sein, daß sich der Topos der Nationalökonomie als einer 'Wissenschaft vom Menschen' in seinem Bedeutungsgehalt sukzessive von seinen Anfängen in der moralisch-praktischen Philosophie der aristoteli-

53 Weber, Max: Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg.v. Johannes Winckelmann, Tübingen 7 1988, S. 146-214, hier S.166. 54 Max Weber sprach in seinen nationalökonomischen Vorlesungen in den 1890er Jahren stellvertretend für viele die Befürchtung aus, daß der Historismus in der Nationalökonomie nicht nur die „methodische Selbständigkeit", sondern, schlimmer noch, auch die „Selbständigkeit ihres Stoffs", d.h. ihr Erkenntnisgebiet, opfere. Damit verlöre die Nationalökonomie ihre Eigenständigkeit als Disziplin und drohe, „mit der Geschichte zu verschwimmen". BSB München, Ana 446, O M 3, B1.201 R.

I. Einleitung

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sehen Tradition, 5 5 die von Schmoller und der historischen Schule i n Teilen noch aufrechterhalten wurde, emanzipiert. 5 6 Letzteres w i r d insbesondere i n M a x Webers Verständnis der ' Sozialökonomik' als einer Kulturwissenschaft deutlich. 5 7 Es w i r d dann ferner zu zeigen sein, wie in diesem Wandel der Bedeutung einer einstmals auf die praktische Lebensführung ausgerichteten Wissenschaft bereits der Kern jenes Verselbständigungsprozesses sichtbar wird, der oben kurz skizziert wurde und der die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Geschichte, Ethik und Politik in der Ökonomik erst so scharf akzentuieren konnte. Der allmähliche Verdrängungsprozeß des ursprünglich aristotelisch wie auch idealistisch geprägten Fundaments der Staatswissenschaften durch ein positivistisches Wissenschaftsverständnis, das die sozialwissenschaftliche Professionalisierung und disziplinare Separierung begünstigte, vollzog sich nicht konfliktlos. Das Selbstverständnis der Sozialwissenschaften sollte sich nach 1871

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Aristoteles selbst gibt in der Nikomachischen Ethik das methodologische Selbstverständnis und politische Ziel der „Wissenschaft vom menschlichen Leben", wie sie für die deutsche Staatswissenschaft im 19. Jahrhundert noch bindend sein sollte, vor, indem er darauf reflektiert, daß für ihn wie für Piaton Ethik und Politik prinzipiell ein „methodos" seien. Das Endziel der „Staatskunst" umfasse das Ziel aller anderen Künste - d.h. auch der Ökonomik als Kunst der Haushaltsführung - und sei daher für den Menschen das oberste Gut. Somit sei das zu erstrebende Ziel für den Einzelnen und das Gemeinwesen identisch. Ebendies ist der Gegenstand der „Wissenschaften vom Staat". Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, [= Aristoteles Werke, Bd.6], Darmstadt 1991, 1094 b u. 1181 b. Siehe als materialreichen Beleg die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Antike in der Moderne: Aristoteles in der Ökonomie des 19.Jahrhunderts" an der Universität Hamburg, insbesondere die Publikationen von Birger P. Priddat. 56 So setzt sich Max Weber mit der Konzeption der platonischen und aristotelischen Staatswissenschaft, die er für ideologisch verbrämt hielt, in seinen Vorlesungen über Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik seit Mitte der 1890er Jahre kritisch auseinander. Siehe etwa BSB München, Ana 446, O M 3, Bl.170-173. 57 Zwar spricht auch Weber in seiner Antrittsrede von der Volkswirtschaftslehre als einer „Wissenschaft vom Menschen" (Weber (1895), S.l7), doch will er dies in dem Sinne verstanden wissen, daß sie eine „Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben", eben eine „Sozialwissenschaft" oder „Soziologie" sei (so in seiner Theorievorlesung von 1898. GStA Berlin, I.HA, Rep.92, NI. Max Weber, Nr.31, Bd.l, B1.126). Deren Gegenstandsbereich, die sozialen Beziehungen der Menschen zueinander, seien jetzt in erster Linie „anthropozentrisch" orientiert, sofern sie nach der kausalen Bedeutung menschlicher Handlungen fragen und zwar in dem rein formalen Sinne, daß der handelnde Mensch, soweit er streng rational handelt, die Zurechnung konkreter Erfolge zu konkreten Ursachen vornimmt. Dies ist für Weber nunmehr die auf die wissenschaftliche Technik reduzierte Aufgabe der Sozialökonomik als Sozialwissenschaft. Weber (1906), S.270.

2. Problemstellung der Arbeit

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insbesondere im sogenannten 'Methoden-' und 'Werturteilsstreit' klären. Der 'Werturteilsstreit' konnte als Grundlagenreflexion hinsichtlich der Frage des Verhältnisses von Politik (Praxis) und Wissenschaft (Theorie) bezeichnet werden.58 Die verschiedenen weltanschaulichen Positionen sollten, im Bemühen eine spezifisch sozialwissenschaftliche Methode zu formulieren, die den Anforderungen der Erklärung der modernen Industriegesellschaft gerecht werden konnte, auch im sogenannten 'Methodenstreit' aufeinandertreffen. In der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen, daß der 'Methoden-' und der 'Werturteilsstreit' zeitlich wie systematisch als interdependent angesehen werden müssen und daß ihr Zusammenhang konstitutiv für das heutige Verständnis der deutschsprachigen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften geworden ist. Es soll mit einem von der Quellenlage vorgegebenen Schwerpunkt für die Jahre zwischen 1881 und 1914 demnach gezeigt werden: - inwieweit der 'Werturteilsstreit' bereits in der sozialwissenschaftlichen Literatur vor 1900 ausgetragen worden ist und in welchem Zusammenhang er mit dem 'Methodenstreit' stand. - inwieweit beide Debatten dazu dienten, die Wirtschaftswissenschaft als Sozialökonomik aus der holistisch orientierten Gesellschaftswissenschaft der historisch-ethischen Schule zu emanzipieren. - in welcher Weise die Ergebnisse dieser Konflikte anfänglich die Formulierung von Webers kulturwissenschaftlich orientierter Sozialökonomik prägten, bis auch er die Sozialökonomik in eine Wirtschaftstheorie, eine Wirtschaftssoziologie und eine Wirtschaftsgeschichte auflöste. Damit will die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten (1) zum Problem des Verhältnisses von 'Erkenntnis' und 'Interesse', Politik und Praxis in den deutschsprachigen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in der Zeit von 1871 bis 1914, (2) zur Frühphase von Max Webers bislang wenig beachteter wissenschaftlichen Sozialisation, und schließlich (3) zur Rolle Max Webers in der Vermittlung von traditionellem staatswissenschaftlichen und neuem kulturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis.

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So war etwa Spranger 1914 der Meinung, der Werturteilsstreit bezeichne nicht nur ein fachinternes Problem der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, sondern stelle eine „allgemeine Grundfrage aller Geisteswissenschaften" dar. Spranger, Eduard: Die Stellung der Werturteile in der Nationalökonomie, in: Schmollers Jahrbuch, 38 (1914), S.557-581, hier S.557 Anm.l.

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I. Einleitung

Archivalisch stützt sich die Arbeit auf den wissenschaftlichen Nachlaß von Max Weber in der Bayerischen Staatsbibliothek München und im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, der von der Forschung bislang entweder nur spärlich (Berlin) oder gar nicht (Deponate München) ausgewertet wurde. In der Folge dieser Nachforschungen ist es gelungen, bislang verschollen geglaubte Manuskripte Webers - etwa zu den frühen Vorlesungen zu Beginn der 1890er Jahre in Berlin - wiederzuentdecken, die eine eindeutige Verortung Webers in dieser Debatte erlauben. Der wissenschaftliche Nachlaß besteht im wesentlichen aus den Vorlesungsmanuskripten, Vorlesungsnachschriften seiner Studenten, Vorarbeiten zu Aufsätzen, Kritiken an Kollegen, Exzerpten wissenschaftlicher Arbeiten und Korrespondenzen, wobei sich die Fülle des Materials auf die Jahre 1894 bis 1907 konzentriert. Neben dem Rückgriff auf die sekundäre Auswertung des 1988 freigegebenen, für die Wissenschaftsgeschichte der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nach 1871 äußerst wichtigen Nachlasses von Carl Menger 59 an der Duke University, Durham NC - wurden die für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften dieser Zeit maßgeblichen Zeitschriften ausgewertet. Der Verfasser verfolgt in dieser Arbeit weder einen institutionengeschichtlichen noch einen wissenschaftssoziologischen oder gelehrtenpolitischen Ansatz. Es wird vielmehr in einer Diskursgeschichte erörtert, inwieweit die konkurrierenden Ansätze in den jeweiligen 'Wissenschaftsanschauungen' verwurzelt waren, wie diese Anschauungen problematisch und dementsprechend modifiziert wurden. Er ist sich hierbei der grundsätzlichen Problematik diskursgeschichtlicher Studien bewußt.60 Es ist dem Verfasser im folgenden daher auch weniger daran gelegen, die jeweiligen sozioökonomischen Ansätze als richtig oder falsch zu bewerten. 61 Die Diskursgeschichte bietet hier vielmehr die Möglich-

59 Siehe hierzu die Ausführungen von Barnett, Mason: The papers of Carl Menger in the Special Collections Department, William R. Perkins Library, Duke University, in: Carl Menger and his legacy in economics, [= Annual Supplement to History of Political Economy, Vol.22], ed. by Bruce J. Caldwell , Durham-London 1990, S.l5-28. 60 Zum Konzept von Diskursgeschichte und ihrer Problematik grundlegend Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 2 1992, zum Problem der Vorstellung der „idealen Wahrheit", der „immanenten Rationalität" und der „Ethik der Erkenntnis" bes. S.30 ff.; ferner ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 7 1988, S. 165-168. 61 Siehe zu den Geltungsproblemen der Rationalität wissenschaftlicher Erkenntnis als normativer Maßstab für die Wissenschaftsgeschichte Krohn, Wolfgang: Die Wissenschaftsgeschichte in der Wissenschaft. Zu einer Historiographie der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in: Geschichtsdiskurs, Bd.l: Grundlagen und Methoden der Histo-

3. Forschungsstand

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keit zu zeigen, wie die Kanonisierung sogenannter klassischer Texte als ein „Vehikel zeitgenössischer Theorie" 62 dienen konnte und sich ein bestimmter 'Diskurs' in einer Disziplin in einem Zeitraum durchsetzte. Das Dilemma, Geschichte überhaupt von einer Perspektive aus schreiben zu müssen, drückt im übertragenen Sinn die Problematik des Methoden- und Werturteilsstreit aus. „Daher", so Schumpeter, „bringt jede Abhandlung, die den 'jüngeren Stand der Forschung' darzustellen versucht, im Grunde genommen nur die Methoden, Probleme und Resultate, die historisch bedingt sind und ihren Sinn erst den Zeitumständen verdanken, aus denen sie geboren wurden. Mit anderen Worten: Der jüngste Stand der Wissenschaft ist historisch bedingt und läßt sich nur dann in befriedigender Form darstellen, wenn diese historische Bedingtheit zum Ausdruck gebracht wird." 63

3. Forschungsstand 3.1. Die neuere dogmengeschichtliche Literatur Die ökonomische Dogmengeschichte an den Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultäten deutscher Universitäten ist heute zum Stiefkind geworden, nachdem sie noch wenigstens bis 1960 als disziplinares Forschungsprogramm betrachtet worden war 64 und mit einer beachtlichen Zahl deutschsprachiger Publikationen sowohl zur Geschichte der Wirtschaftstheorie 65 als auch zur

riographiegeschichte, hrsg.v. Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen u. Ernst Schulin, Frankfurt a.M. 1993, S.271-290, bes. S.283. 62 Zur Problematik der Geschichtsschreibung speziell „ökonomischer Diskurse" siehe Tribe , Keith: The 'Histories' of Economic Discourse, in: ders ., Genealogies of Capitalism, Atlantic Highlands 1981, S. 121-152, hier S. 151 f.; ders.: Land, Labour, and Economic Discourse, London-Boston 1978, S.5-23 sowie ders. : Strategies of Economic Order. German economic discourse, 1750-1950, Cambridge 1995, S.l-8. 63 Schumpeter , Joseph Α.: Geschichte der ökonomischen Analyse. Nach dem Manuskript hrsg.v. Elizabeth B. Schumpeter , mit einem Vorwort versehen v. Fritz Karl Mann, Bd.II, [= Grundriss der Sozialwissenschaften, Bd.6/II], Göttingen 1965, S.33. 64 So seinerzeit Schulz, Bruno: Die Geschichte der Volkswirtschaftslehre im Lehrbetrieb deutscher Universitäten und einiges zur Problematik, in: O. Stammer u. K.C. Thalheim (Hrsg.), Festgabe für Friedrich Bülow zum 70.Geburtstag, Berlin 1960, S.358. 65 Für die Zeit nach 1945 sind hervorzuheben die Studien von Kruse, Alfred: Geschichte der volkswirtschaftlichen Theorien, München 1948; Stavenhagen, Gerhard: Geschichte der Wirschaftstheorie, [= Grundriss der Sozial Wissenschaft, Bd.2], Göttin-

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I. Einleitung

Geschichte wirtschaftspolitischer Ideen66 aufwarten konnte. Während dieses Wissenschaftsgebiet in den USA und Großbritannien, in Italien, Frankreich und Japan längst als selbständiger Zweig der Wirtschaftswissenschaften etabliert ist, beginnt man sich in Deutschland erst nach dreißig Jahren wieder der Geltung zu erinnern, die es zuvor innegehabt hatte.67 Auch wenn im Verein für Socialpolitik, der prestigeträchtigsten und traditionsreichsten Organisation deutscher Wirtschaftswissenschaftler, 1980 ein Ausschuß für 'Dogmengeschichte' eingerichtet wurde, 68 kann dessen Bestehen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Geschichte der ökonomischen Theorie heute ein vergleichsweise kümmerliches Dasein gerade in der akademischen Lehre fristet. Die ersten zaghaften Versuche, die Dogmengeschichte wieder in der Forschung zu etablieren, haben sich noch nicht in den Curricula niedergeschlagen.69 Im Gegensatz etwa zum angloamerikanischen Sprachraum existieren bislang auch keine eigenständigen theoriegeschichtlich orientierten Publikationsorgane. 70 Nur wenige deutsche wirtschaftswissenschaftliche Zeitschriften publizieren dogmengeschichtliche Aufsätze - so etwa die Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. Der Trend zur Wissenschaftsgeschichte scheint aber wieder in diese Richtung zu weisen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß neuere theoriegeschichtliche Gesamtdarstellungen heute hauptsächlich in englischer Sprache zur Verfügung stehen.71

gen 2 1957 sowie Schneider, Erich: Einführung in die Wirtschaftstheorie, IV.Teil Ausgewählte Kapitel der Geschichte der Wirtschaftstheorie, l.Bd., Tübingen 1962. 66 Vgl. Stark, Werner: Die Geschichte der Volkswirtschaftslehre in ihrer Beziehung zur sozialen Entwicklung, Dordrecht 1960 sowie die Studie von Salin, Edgar: Politische Ökonomie. Geschichte der wirtschaftspolitischen Ideen von Piaton bis zur Gegenwart, Tübingen-Zürich 51967. 67 Vgl. Priddat, Birger P.: Literaturüberblick - Theorie- bzw. Dogmengeschichte der Ökonomie, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium, 6 (1991), S.316-317. 68 Vgl. Schefold, Bertram: The Revival of Economic Thought in Germany: The Dogmenhistorischer Ausschuss, in: History of Political Economy, 26 (1994), S.327-335 sowie die Berichts-Bände „Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie", [= Schriften des Vereins für Socialpolitik. Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, N.F. Bd. 115/1 ff.], Berlin 1980 ff. 69 Vgl. Krauth, Wolf-Hagen: Disziplingeschichte als Form wissenschaftlicher Selbstreflexion. Das Beispiel der Nationalökonomie, in: Geschichte und Gesellschaft, 4 (1978), S.498-519. Ein Blick in die Vorlesungsverzeichnisse deutscher Universitäten der 1980er und frühen 1990er Jahre bestätigt Krauths Ergebnisse auch noch für die jüngere Zeit. 70 Publikationen der „American Association of the History of Economic Theory" sind deren „Annual Reports" und die Zeitschrift „History of Political Economy". 71 Unter den zahlreichen neueren Publikationen die wichtigsten Niehans , Jürg: History of Economic Theory. Classical Contributions 1720-1980, Baltimore 1990; Deane, Phyllis: The State and the Economic System: An Introduction to the History of Political

3. Forschungsstand

31

I n Deutschland w i r d nach und nach versucht, diese Lücke m i t biographischen Überblicken zu einzelnen ökonomischen Klassikern 7 2 sowie theoriegeschichtlichen Darlegungen der Werke selbst 73 zu schließen. Stärker ideengeschichtlich orientierte, Werk und Person i m Kontext der jeweiligen Epochen interpretierende Darstellungen hingegen bleiben noch recht selten. 74 Dies ist u m so bedauerlicher, als die Wissenschaftsgeschichte der Ökonomik eine Orientierung bieten kann, die es uns heute erlaubt, die oftmals parallellaufenden theoretischen Ansätze der zeitgenössischen Ökonomik einzuordnen, indem sie ihre ideengeschichtliche Herkunft offenlegt. A n ihrer Geschichte lassen sich die Brüche und Risse sowie - dies sollte nicht vergessen werden - die Optionen eines alternativen historischen Verlaufs aufzeigen. 75 Über die i m Zeitablauf feststellbare Zyklizität von Problemstellungen und Lösungsansätzen histo-

Economy, Oxford-New York 1988; sowie das monumentale, aus dem Nachlaß veröffentlichte Werk des nach 1933 in die USA exilierten österreichischen Ökonomen Pribram , Karl: A History of Economic Reasoning, Baltimore-London 1983 (dt. 1992). Für die moderne Dogmengeschichte der Ökonomik wichtig sind die Reihen von Blaug, Mark (ed.): Schools of Thought in Economics, Aldershot 1989 ff. sowie Samuels, Warren J. (ed.): Research in the History of Economic Thought and Methodology. A Research Annual, Greenwich-London 1983 if. Eher als Studienbuch geeignet Screpanti, Ernesto/Zamagni, Stefano: Outline of the History of Economic Thought, Oxford 1995. 72 Vgl. Star batty, Joachim (Hrsg.): Klassiker des ökonomischen Denkens, 2 Bde., München 1989; vgl. ebenso den Sammelband von Recktenwald, Horst Claus (Hrsg.): Geschichte der Politischen Ökonomie. Eine Einführung in Lebensbildern, Stuttgart 1971. 73 Eine Theoriegeschichte bieten Ott, Alfred E ./Winkel, Harald: Geschichte der theoretischen Volkswirtschaftslehre, [= Grundriss der Sozialwissenschaft, Bd.31], Göttingen 1985; eine sehr kurze, sich auf die Darstellung einiger Ansätze beschränkende Einführung bietet Issing, Othmar (Hrsg.): Geschichte der Nationalökonomie, München 31994. 74 Zur Geschichte der deutschen Nationalökonomie im 19. und 20. Jahrhundert siehe Brandt, Karl: Geschichte der deutschen Volkswirtschaftslehre, Bd.2: Vom Historismus bis zur Neoklassik, Freiburg 1993; ferner Winkel, Harald: Die deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrhundert, [= Erträge der Forschung, Bd.74], Darmstadt 1977 sowie ders. : Die Volkswirtschaftslehre der neueren Zeit, [= Erträge der Forschung, Bd. 18], Darmstadt 31985. Aus marxistischer Sicht, auf der Suche nach dem „reaktionären sozialökonomischen Denken" dieser Zeit siehe die Studie von Krause, Werner/Rudolph, Günther: Grundlinien des ökonomischen Denkens in Deutschland 1848 bis 1945, [= Akademie der Wissenschaften der DDR. Schriften des Zentralinstituts für Wirtschaftswissenschaften, Nr.4], Berlin 1980. 75 Trotz seiner 'genialischen Einseitigkeiten' bleibt das Fragment gebliebene Werk von Schumpeter (1965) gerade in dieser Hinsicht einmalig.

32

I. Einleitung

risiert und relativiert sie den Absolutheitsanspruch, mit dem manche ökonomische Theorie heute vorgetragen wird. 76

3.2. Neuere Forschungen zur Institutionalisierung der Nationalökonomie 3.2.1. Die Ausbildung Es liegt nahe, daß ein geistes- oder sozialwissenschaftliches Fach nicht ausschließlich durch seine Problemstellung zu einer eigenständigen Wissenschaft wird, sondern auch seine Institutionalisierung als akademische Disziplin von großer Bedeutung ist. So analysiert etwa vom Bruch ein für den Institutionalisierungs- und Professionalisierungsprozeß in Deutschland zentrales Spannungsverhältnis zwischen „Verberuflichung" und „Verwissenschaftlichung". 77 Verberuflichung meint ein berufsspezifisches und staatlich patentiertes, durch Examensabschlüsse (Diplome, Patente, Titel) nachgewiesenes Fachwissen,78 während Verwissenschaftlichung auf eine „ A u t o n o m i e relativ praxisfreier Wissenschaft" abzielt, die durch „Prozesse der Differenzierung und Spezialisierung von Teilgebieten", gerade etwa hinsichtlich der Methodik und Terminologie, mittels Lehrstühlen und Instituten sowie anhand von Zeitschriften und Handbüchern erreicht wird. 79

76 Vgl. Holub, Hans Werner/Köhler, Andreas/Tappeiner, Gottfried: Zum Erkenntniswert der zeitgenössischen Dogmengeschichte. Eine quantitative Untersuchung anhand der Darstellung der Physiokratie in deutschsprachigen Lehrbüchern, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 208 (1991), S.525-534, hier S.525. Über Sinn und Zweck dogmengeschichtlicher Untersuchungen heute siehe auch Backhaus, Jürgen: Theoriegeschichte - wozu? Eine theoretische und empirische Untersuchung, in: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie, [= Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. 115/III], hrsg.v. Harald Scherf, Berlin 1984, S.139-167. Für den angloamerikanischen Raum ferner Schabas, Margret: Breaking Away: History of Economics as History of Science, in: History of Political Economy, 24 (1992), S.l87-203 mit anschließender Diskussion S.204-247. 77 Vgl. vom Bruch, Rüdiger: Die Professionalisierung der akademisch gebildeten Volkswirte in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Karl-Ernst Jeismann (Hrsg.), Bildung, Staat, Gesellschaft im 19.Jahrhundert, Stuttgart 1989, S.361-386, hier S.363. 78 Über die Kriterien der „Professionalisierung" allgemein Rüschemeyer, Dietrich: Professionalisierung. Theoretische Probleme für die vergleichende Geschichtsforschung, in: Geschichte und Gesellschaft, 6 (1980), S.311-325. 79 vom Bruch (1989a), S.363 f.

3. Forschungsstand

33

Die organisatorische Restrukturierung der deutschen Universität im Verlauf des 19. Jahrhunderts hin zu einer forschungsorientierten Institution ist auch an der Nationalökonomie nicht spurlos vorübergegangen. Der Prozeß institutionellen Übergangs vollzog sich an den deutschen Universitäten allmählich am Beginn des 19. Jahrhunderts von der Kameralistik zur Nationalökonomie. Um 1820 setzte bereits die Trennung der Nationalökonomie von den nunmehr als 'naturwissenschaftlich' gekennzeichneten Fächern ein, während zuvor im Ausbildungsgang der Kameralisten beides miteinander verknüpft worden war. 80 Der Übergang zu einer eigenständigen Disziplin spiegelte sich anfangs in den Lehrplänen nur in dem Umstand wider, daß verschiedene staatswissenschaftliche Fächer selbständig nebeneinander existieren konnten, ohne auf einander eingehen zu müssen.81 Die Ausbildung der Nationalökonomen erfolgte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dann im Rahmen der juristisch-historischen Staatswissenschaften, die in Teilen zumindest noch „im extrem praxisverhafteten enzyklopädischen Fächerspektrum der Kameralwissenschaften des 18. Jahrhunderts" 82 wurzelten. Als Staatswissenschaften galten in Deutschland das öffentliche Recht, die sich nach und nach als Universitätsfach etablierende Statistik sowie die Nationalökonomie; letztere vor allem in ihren Teilgebieten der Volkswirtschaftspolitik und der Finanzwissenschaften. Karl Heinrich Rau (1792-1870), der entschiedenste Vertreter der klassischen Wirtschaftslehren in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 83 gliederte die nationalökonomische Universitätsausbildung als Politische Ökonomie - Rau verwendete den Terminus Politische

80

Vgl. hierzu Timm, Albrecht: Von der Kameralistik zur Nationalökonomie. Eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung in den Spuren von Hermann Aubin, in: Festschrift für Hermann Aubin zum 80.Geburtstag, hrsg.v. Otto Brunner, Hermann Kellenbenz, Erich Maschke u. Wolfgang Zorn, Bd.l, Wiesbaden 1965, S.358-374, hier S.373. 81 Vgl. zum Konstituierungsprozeß der frühen „Nationalökonomie" in den Curricula deutscher Universitäten Tribe, Keith: Governing Economy. The Reformation of German Economic Discourse 1750-1840, Cambridge 1988; dort insbesondere das Kapitel „Der Mensch und seine Bedürfnisse: the constitution of Nationalökonomie", S. 149-182. 82 Eine wichtige, zeitgenössische Quelle zur Stellung der Nationalökonomie innerhalb der Staatswissenschaften ist die Studie von Stieda, Wilhelm: Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft, [= Abhandlungen d. Philolog.-Histor. Klasse d. Kgl. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften, Bd.25.2], Leipzig 1906. 83 Zur frühen Rezeption der englischen Klassik in Deutschland, die zumindest bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts einen gewissen Einfluß hatte, siehe Winkel, Harald: Adam Smith und die deutsche Nationalökonomie 1776-1820. Zur Rezeption der englischen Klassik, in: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie, [= Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. Bd.l 15/V], hrsg.v. Harald Scherf, Berlin 1985, S.81-109. 3 Nau

I. Einleitung

34

Ökonomie 84 wahrscheinlich in Anlehnung an die Schriften von Jean Baptiste Say auch in seinem dreibändigen Lehrbuch der politischen Ökonomie 85 , Heidelberg 1826-1837 - in die Fächer Volkswirtschaftslehre, Volkswirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft, die als die drei wirtschaftswissenschaftlichen Hauptkollegien 'Allgemeine' oder 'Theoretische' Volkswirtschaftslehre, 'Praktische' Volkswirtschaftslehre (Volkswirtschaftspolitik) und Finanzwissenschaft an fast allen Universitäten für die Lehrpraxis maßgeblich86 wurden und die Lehrstuhlbezeichnungen zum Teil bis heute prägen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts beherrschten innerhalb der Staatswissenschaften - Hentschel plädiert allerdings gegen die Verwendung eines inhaltlich konsistenten Begriffs der Staatswissenschaft für das 19. Jahrhundert und verweist auf ihre heterogene, regional unterschiedliche Ausrichtung 87 - die juristischen Kernfächer mit einem volkswirtschaftlichen Anhang die Disziplin. Ihr oblag die höhere Beamtenausbildung, so daß die Betonung einer stärker juridifizierten Ausbildung nahelag.88 Nach und nach wurde deren Ausbildung durch die Aufnahme stärker gesellschaftswissenschaftlich orientierter Elemente dem wissenschaftlichen mainstream angepaßt.89 Für Nationalökonomen gab es bis 1914 weder eigenständige Abschlußprüfiingen noch Diplome; das Berufsziel war nach wie vor der höhere Verwal-

84

Siehe den Hinweis bei Stollberg, Gunnar: Zur Geschichte des Begriffs „Politische Ökonomie", in: Zeitschrift für Nationalökonomie und Statistik, 192 (1972), S.l-33, hier S.17. Zur Begriffsgeschichte des Wortes „Wirtschaft" allgemein Stoltenberg, Hans L.: Zur Geschichte des Wortes Wirtschaft, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 148(1938), S.556-561. 85 Siehe zur Bedeutung von Raus „Lehrbuch der Politischen Oekonomie" in der Formierungsphase der deutschen Nationalökonomie Tribe (1988), S. 183-201. 86 Zu dieser Systematisierung vgl. Lexis , Wilhelm: Systematisierung, Richtungen und Methoden der Volkswirtschaftslehre, in: Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im 19. Jahrhundert, Gustav Schmoller zur siebzigsten Wiederkehr seines Geburtstages, dargebracht von S.P. Altmann u.a., 1 .Teil, Beitrag I, S.l-45, hier S.4; ferner Mayr, Georg v.: Begriff und Gliederung der Staatswissenschaft. Zur Einführung in deren Studium, Tübingen 1910, S.82-108. 87 Vgl. Hentschel, Volker: Die Staatswissenschaften an den deutschen Universitäten im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 1 (1978), S. 181-200. 88 Siehe zu dieser Entwicklung die Studie von Tribe, Keith: Cameralism and the Science of Government, in: Journal of Modern History, 56 (1984), S.263-284, bes. S.282. 89 Vgl. jetzt die deutsche Übersetzung der Studie von Schiera, Pierangelo: Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992, bes. S.136-173.

3. Forschungsstand

35

tungsbeamte, nach Möglichkeit mit einer volkswirtschaftlichen Promotion und den beiden juristischen Staatsexamina. 90 Sogar die Berufsbezeichnung Ökonom war während des gesamten 19. Jahrhunderts keineswegs für die Nationalökonomen, sondern für die Agrarwissenschaften reserviert. 91 Erst m i t der „ K o m m u nalisierung" 9 2 nach 1880 und der zunehmenden Organisierung gewerblicher Unternehmer in Fach- und Zentralverbänden 93 zwischen 1890 und 1900 stiegen die Berufsaussichten auch für Nationalökonomen ohne juristisches Staatsexamen. So darf es nicht wundern, daß die Nationalökonomie als eine vagabundierende akademische Disziplin in einem unklaren Unter- oder Überordnungsverhältnis zwischen den Fakultäten wechselte. 94 Sie war in Heidelberg - die wirtschaftlichen Fächer wurden in Heidelberg in kameralistischer Tradition zunächst unter der Bezeichnung Staatswirtschaft, von 1841 bis 1934 dann unter der Bezeichnung Staats- und Kameralwissenschaften angekündigt 9 5 - in der

90

Über die höhere Beamtenausbildung in den Staatswissenschaften in Preußen siehe Lindenfeld, David F.: The Education of Prussian Higher Civil Servants in the Staatswissenschaften, 1897-1914, in: Erik Volkmar Heyen (Hrsg.), Historische Soziologie der Rechtswissenschaft, Frankfurt 1986, S.202-225; ferner Lindenfeld, David F.: The Decline of Polizeiwissenschaft: Continuity and Change in the Study of Administration in German Universities during the 19th Century, in: Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte, 1 (1989), S. 141-159. 91 Vgl. Häuser, Karl: Historical School and „Methodenstreit", in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 144/2 (1988), S.532-542, hier S.533. Wie sehr ökonomisches Denken zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch in der „Haushaltsökonomie" der Agrarwissenschaften wurzelte, zeigt Gray, Marion W.: From the Household Economy to „Rational Agriculture". The Establishment of Liberal Ideals in German Agricultural Thought, in: Konrad H. Jarausch u. L.E. Jones (Hrsg.), In Search of a Liberal Germany, New York-Oxford-München 1990, S.25-54, hier S.29 ff. 92 Diese Entwicklung am Beispiel des Ruhrgebiets untersucht Krabbe, Wolfgang R.: Kommunalpolitik und Industrialisierung. Die Entfaltung der städtischen Leistungsverwaltung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1986. 93 Vgl. die zeitgenössische Studie von Krueger, Hermann Edwin: Historische und kritische Untersuchungen über die freien Interessenvertretungen von Industrie, Handel und Gewerbe in Deutschland, insbesondere die Fach-, Zweck- und Zentralverbände gewerblicher Unternehmer, in: Schmollers Jahrbuch, 32 (1908), S.1581-1614. 94 Vgl. vom Bruch, Rüdiger: Historiker und Nationalökonomen im Wilhelminischen Deutschland, in: Klaus Schwabe (Hrsg.), Deutsche Hochschullehrer als Elite 18151945, [= Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte, Bd. 17], Boppard a.Rh. 1988, S.105-150, hier S.l 17. 95 Siehe zur Einordnung der „staatswirtschaftlichen Sektion" in die Philosophische Fakultät an der Universität Heidelberg Hentschel, Volker: Die Wirtschaftswissenschaften als akademische Disziplin an der Universität Heidelberg 1822-1924, in: Die Institutionalisierung der Nationalökonomie an deutschen Universitäten. Zur Erinnerung an Klaus Hinrich Hennings (1937-1986), hrsg.v. Norbert Waszek, St.Katharinen 1988, S. 192-232.

36

I. Einleitung

philosophischen Fakultät, dann in Würzburg, Freiburg 96 und Straßburg in der juristischen, in München97, Tübingen98 und Berlin 99 hingegen in einer gesonderten staatswirtschaftlichen respektive staatswissenschaftlichen Fakultät - es wurde dann von wirtschaftlichen Staatswissenschaften gesprochen - untergebracht. Erst in Frankfurt a.M. wurde in der Weimarer Republik dann von einer Wirtschafts· und Sozialwissenschaftlichen Fakultät gesprochen. 100 Zur Zeit des Methodenstreits befand sich die deutsche Nationalökonomie jedenfalls noch auf dem Weg zu ihrer Unabhängigkeit.101 Doch war sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts zumindest im Begriff, ein festes Berufsbild ihrer Wissenschaft zu entwickeln, deren Aufgabenbeschreibung durch die institutionellen Positionen in der Universität - etwa in Form von Lehrstuhltitulierungen - bestimmt wurde, die zunehmend auch zur „Formierung von Wissenszusammenhängen über die einzelnen Institutionen hinaus, in Disziplinen, dienten" 102 . Schon vor 1914 vorbereitet, hatte sich unmittelbar nach Kriegsende ein grundlegender Umschwung innerhalb der Staatswissenschaften vollzogen. Die Nationalökonomie emanzipierte sich aus dem Kanon der gesamten Staatswissenschaften zu einer „disziplinar verselbständigten modernen Wirtschaftswis-

96 Der Übergang der Nationalökonomie aus der Philosophischen in die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät erfolgte in Freiburg auf Antrag von Max Weber erst 1896. Siehe Dietze, Constantin v.: Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Freiburg in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts, in: HansJulius Wolff, Aus der Geschichte der Rechts- und Staatswissenschaften in Freiburg i.Br., Freiburg i.Br. 1957, S.81-94, hier S.81. Siehe ferner die Studie von Biesenbach, Wilhelm: Die Entwicklung der Nationalökonomie an der Universität Freiburg i.Br. 17681896. Eine dogmengeschichtliche Analyse, Freiburg 1969, insbesondere S.213 ff. 97 Vgl. etwa Pechmann, Hubert v.: Geschichte der Staatswirtschaftlichen Fakultät, in: Laetitia Boehm u. Johannes Spörl (Hrsg.), Die Ludwig-Maximilian-Universität in ihren Fakultäten, Bd.l, Berlin 1972, S.127-183, für unsere Zeit relevant S.145-160. 98 Vgl. Born, Karl Erich: Geschichte der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Tübingen 1817-1967. Staatswirtschaftliche Fakultät - Staatswissenschaftliche Fakultät - Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, Tübingen 1967. 99 Vgl. Schmölders, Günter: Die Wirtschaftlichen Staatswissenschaften an der Universität Berlin von der Reichsgründung bis 1945, in: H. Leussink, E. Neumann u. G. Kolowski (Hrsg.), Studium Berolinense, Bd.2, Berlin 1960, S. 152-173. 100 Vgl. Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Frankfurt am Main. Erinnerungen an die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät und an die Anfänge des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität, hrsg. u. eingeleitet von Bertram Schef old, Marburg 1989. 101 Vgl. Schremmer, Eckart: Zur Geschichte der Gegenwart der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und ihrer Institute an der Universität Heidelberg, Heidelberg 1985. 102 Wagner, Peter ( 1990), S. 131.

3. Forschungsstand

37

senschafì" 103 , wobei die historische Schule der Nationalökonomie von stärker theoretisch orientierten Strömungen wie der Neoklassik verdrängt wurde. Dieser Vorgang w i r d in der Forschung etwas verkürzend i n der Formel „ V o n der historischen Schule zur neo-liberalen Theorie" 1 0 4 zusammengefaßt. A l s methodische Konsequenz dieser paradigmatischen Veränderung einerseits, als Folge der durch die Auflagen des Versailler Vertrags vorgegebenen und durch die Inflation

erforderten neuen wirtschaftspolitischen Prioritäten andererseits verla-

gerten sich dementsprechend die Forschungsschwerpunkte in der Nationalökonomie von der historischen Deskription und Statistik 1 0 5 zu einer stärker marktorientierten, theoretischen Prognostik 1 0 6 . Während für den Prozeß der Emanzipation der Soziologie aus dem Kanon der Staatswissenschaften und ihre Institutionalisierung bereits Erklärungsansätze vorliegen, 1 0 7 ist die vergleichbare Entwicklung der Nationalökonomie zu einer selbständigen Disziplin bislang nicht umfassend dargestellt worden. Gerade in professionalisierungsgeschichtlichen Forschungen sind die deutschen Volkswirte bis zum Ersten Weltkrieg bislang noch kaum berücksichtigt, 1 0 8 wohinge-

103

vom Bruch (1989a), S.372. So etwa Gorges , Irmela: Sozialforschung in der Weimarer Republik 1918-1933. Gesellschaftliche Einflüsse auf Themen- und Methodenwahl des Vereins für Socialpolitik, der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und des Kölner Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften, [= Hochschulschriften Sozialwissenschaften, Bde.22/23], Frankfurt a.M. 1986, S.694. 105 Vgl. für die Zeit bis 1914 Schäfer, Ulla G.: Historische Nationalökonomie und Sozialstatistik als Gesellschaftswissenschaft. Forschungen zur Vorgeschichte der theoretischen Soziologie und der empirischen Sozialforschung in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, [= Neue Wirtschaftsgeschichte, Bd.2], Köln-Wien 1971; siehe ferner Gorges , Irmela: Sozialforschung in Deutschland 1872-1914. Gesellschaftliche Einflüsse auf Themen- und Methodenwahl des Vereins für Socialpolitik, [= Schriften des Wissenschaftszentrums Berlin, Bd. 14], Königstein i.T. 1980. 106 Zur theoretisch orientierten Wirtschaftswissenschaft in der Weimarer Republik unter ideologiekritischen Aspekten siehe Krohn, Claus-Dieter: Wirtschaftstheorien als politische Interessen. Die akademische Nationalökonomie in Deutschland 1918-1933, Frankfurt a.M. 1981. 107 Insbesondere Käsler weist in seiner Studie über die Enstehungs-Milieus der deutschen Soziologie auf die Herauslösung dieses Fachs aus den wirtschaftlichen Staatswissenschaften hin. Vgl. Käsler, Dirk: Die frühe deutsche Soziologie 1909-1934 und ihre Entstehungs-Milieus, Opladen 1984; ferner die wichtige Studie von Stölting, Erhard: Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, [= Soziologische Studien, Bd.46], Berlin 1986. Eine Literatur- und Problemübersicht bietet vom Bruch, Rüdiger: Moderne Wissenschaftsgeschichte als Bildungs-, Sozial- und Disziplingeschichte. Das Beispiel der frühen deutschen Soziologie, in: Historische Zeitschrift 242 (1986), S.361-371. 108 Eine Übersicht der Forschungslage bei vom Bruch (1989a), S.361-386. 104

38

I. Einleitung

gen für die Entwicklung in Frankreich 1 0 9 - w o h l aufgrund der größeren Zentralisierung der Institutionen - sowie für Großbritannien 1 1 0 und die U S A 1 1 1 - dort aufgrund der zentralen Stellung der American

Economic

Association

-, ein-

schlägige Literatur bereits vorliegt. So weist etwa Lenger darauf hin, daß die wissenschaftsgeschichtlichen Bemühungen der Ökonomen i m Vergleich zu dem „ B o o m " i n der Soziologie äußerst bescheiden ausfallen. 112 Er fordert daher i n erster L i n i e eine Wissenschaftsgeschichte aus dem „ B l i c k w i n k e l einer noch zu schreibenden Sozialgeschichte der Gelehrten zwischen wilhelminischem Kaiserreich und nationalsozialistischer D i k t a t u r " 1 1 3 , eine Forderung, der er mittlerweile durch eine Biogra-

109 Vgl. mit weiterführender Literatur Alcouffe, Alain: The institutionalization of political economy in French universities: 1819-1896, in: History of Political Economy, 21 (1989), S.313-344; hinsichtlich der unterschiedlichen ökonomischen „Schulen" in Frankreich in den 1880ern siehe die zeitgenössische Auseinandersetzung zwischen de Foville und Gide. Vgl. de Foville, Alexandre: The Economic Movement in France, in: The Quarterly Journal of Economics, IV (1890), S.222-232 und die direkte Antwort hierauf von Gide, Charles: The Economic Schools and the Teaching of Political Economy in France, in: Political Science Quarterly, V (1890), S.603-635. 110 Vgl. hierzu den Sammelband von Kadish , Alon/7W6e, Keith (eds.): The market for political economy: The advent of economics in British university culture, 18501905, London-New York 1993; ferner Koot, Gerald M.: English Historical Economics, 1870-1926, Cambridge 1988 sowie O'Brien , Dan ? J Presley, John R. (eds.): Pioneers of Modern Economics in Britain, London 1981; spezieller Maloney, John: Marshall, Cunningham, and the emerging economics profession, in: Economic History Review, 29 (1976), S.440-451; als zeitgenössischer Überblick interessant Foxwell, U.S.: The Economic Movement in England, in: Quarterly Journal of Economics, 2 (1887), S.84-103. 111 Zur Geschichte der Professionalisierung der Nationalökonomie im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in den USA anhand der Geschichte der „American Economic Association" siehe Coates, A.W.: The American Economic Association and the Economics Profession, in: Journal of Economic Literature, 23 (1985), S. 1697-1727 sowie bereits früher ders. : The First Two Decades of the American Economic Association, in: American Economic Review, 50 (1960), S.555-574; ferner Church, Robert L.: Economists as Experts: The Rise of an Academic Profession in the United States, 1870-1920, in: The University in Society, Vol.11: Europe, Scotland, and the United States from the sixteenth to the twentieth century, ed. by Lawrence Stone, Princeton 1974. Die verschiedenen ökonomischen „Schulen" und ihre Häupter stellt überzeugend dar Bronfenbrenner, Martin: Early American Leaders - Institutional and Critical Traditions, in: The American Economic Review, 75 (1985), S. 13-27. 112 Vgl. Lenger, Friedrich: Wissenschaftsgeschichte und die Geschichte der Gelehrten 1890-1933: Von der historischen Kulturwissenschaft zur Soziologie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 17 (1992), S. 150-180, hier S.169. 113 Lenger (1992), S.150.

3. Forschungsstand

39

phie Werner Sombarts selber nachgekommen ist. 1 1 4 Stärker auf die 'Gelehrtenp o l i t i k ' ausgerichtet, den „Prozeß der wissenschaftlichen Rezeption gesellschaftlicher Phänomene unter Maßgabe bestimmter gesellschaftlicher Interessen" berücksichtigend, gibt die Studie von Krüger zudem Aufschluß über die politischen Auseinandersetzungen in der deutschen Nationalökonomie i n der Phase von 1900 bis 1918. 1 1 5 Eine sich auf die quantitative Diskursschilderung beschränkende, eine Deutungsperspektive vernachlässigende Übersicht ökonomischer Themata in den sozialwissenschaftlichen Zeitschriften i m Deutschen Kaiserreich bietet Wallgärtner 1 1 6 .

3.2.2. Die Gründung

von Zeitschriften

und

Handbüchern

Die Gründung ökonomischer Fachzeitschriften sowie die Herausgabe von Handbüchern und Kompendien diente der Nationalökonomie auch dazu, ihr disziplinares Profil zu präzisieren. 117 Bis in die späten 1880er Jahre gab es i m Deutschen Reich nur fünf Zeitschriften, die sich m i t nationalökonomischen Sachverhalten i m engeren Sinne beschäftigten. Neben die 1844 gegründete Zeitschrift

für

die gesamte Staatswissenschaft

m

traten die 1863 gegründeten

114 Lenger, Friedrich: Werner Sombart 1863-1941. Eine Biographie, München 1994, bes. S.10. Siehe ferner die die Methodenprobleme einer „historischen Sozialtheorie" besser berücksichtigende Arbeit von Appel, Michael: Werner Sombart. Historiker und Theoretiker des modernen Kapitalismus, Marburg 1992, bes. S.89-102 u. 115-177. 115 Vgl. Krüger, Dieter: Nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland, [= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd.58], Göttingen 1983, hier S.ll. 116 Wallgärtner, Gisela: Der soziologische Diskurs im Kaiserreich. Auswertung sozialwissenschaftlicher Zeitschriften, [= Beiträge zur Geschichte der Soziologie, Bd.2], Hamburg 1991. 117 Siehe zur Funktion der Entstehung eigenständiger Publikationsorgane in der Nationalökonomie Stölting (1986), S.l44-159. Zur Vor- und Frühgeschichte der „Zeitungswissenschaft" im späten deutschen Kaiserreich unter besonderer Berücksichtigung nationalökonomischer und historischer Zeitschriften gleichfalls vom Bruch, Rüdiger: Zeitungswissenschaft zwischen Historie und Nationalökonomie. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Publizistik als Wissenschaft im späten deutschen Kaiserreich, in: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, 25 (1980), S.579-607. 118 Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (ZgS), hrsg.v. Robert ν. M ohi, später von Georg v. Schönberg, ab 1892 von Albert E.F. Schäffle, Glashütten i.T. 1844 ff, später Tübingen 1873 ff. Der Wandel des Selbstveständnisses der ZgS in den letzten 150 Jahren, läßt sich sehr gut an den jeweiligen Vorworten ihrer Herausgeber verfolgen. Zunächst stand die ZgS stellvertretend für die Etablierung der Staatswissenschaften, die sich die „wissenschaftliche Erörterung der sämmtlichen Aufgaben des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens zur Aufgabe" gemacht hatte; so Robert v. Mohl: Vorwort, in:

I. Einleitung

40 Jahrbücher für Nationalökonomie für

Volkswirtschaft

und Statistik

und Culturgeschichte

119

sowie die Vierteljahresschrift

- die Vierteljahresschrift wurde dann

1903 mit der von Stephan Bauer und anderen gegründeten Zeitschrift Social- und Wirtschaftsgeschichte, zur Vierteljahresschrift

für

sowie 1871 das Jahrbuch für im Deutschen Reich 121.

für

die zwischen 1893 und 1899 erschienen war,

Sozial-

und

Wirtschaftsgeschichte

Gesetzgebung,

Verwaltung

1884 folgte m i t dem Finanzarchiv

die sich ausschließlich „finanzwissenschaftlichen

fusioniert 1 2 0 -

und Volkswirtschaft die erste Zeitschrift,

Fragen" widmen sollte. 1 2 2

1888 kam m i t dem von Heinrich Braun gegründeten Archiv für soziale Gesetzgebung

und Statistik

123

eine weitere, allerdings stärker auf die Sozialstatistik

und die 'soziale Bewegung' konzentrierte Zeitschrift hinzu.

ZgS 1 (1844), S.3-6. Zur Geschichte der Zeitschrift bis in die 1930er Jahre und gleichzeitig Ausdruck der Bedeutung der Staatswissenschaften in der frühen NS-Zeit Huber, Ernst Rudolf: Die Deutsche Staatswissenschaft, in: ZgS, 95 (1935), S.l-65. Zur Geschichte der Zeitschrift nach 1945 als Ausdruck des Verlusts der Funktionsbedeutung der Staatswissenschaften Richter, Rudolf: Gesamte Staatswissenschaft? Anmerkungen des neuen Herausgebers, in: ZgS, 134 (1978), S.III-V sowie zur Geschichte vor allem nach 1945 Sauermann, Heinz: Die gesamte Staatswissenschaft im Spiegel dieser Zeitschrift, in: ZgS, 134 (1978), S. 1-14. Zum 150-jährigen Jubiläum jetzt bereits aus amerikanischer Sicht Hutchison , Terence W.: From Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (ZgS) to Journal of Institutional and Theoretical Economics (JITE), 1844-1994, in: ZgS, 150(1994), S.l-10. 119 Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, hrsg.v. Bruno Hildebrand, fortgeführt von Johannes Conrad u.a., Jena 1863 ff. 120 Vierteljahresschrift für Volkswirtschaft und Culturgeschichte, hrsg.v. Julius Faucher u.a., Berlin 1 (1863) - 30 (1893). Zur Vor- und Frühgeschichte der VSWG siehe Zorn, Wolfgang: „Volkswirtschaft und Kulturgeschichte" und „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte". Zwei Zeitschriften in der Vorgeschichte der VSWG 1863-1900, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 72 (1985), S.457-475; siehe früher bereits Aubin , Hermann: Zum 50.Band der Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: ebenda, 50 (1963), S.l-24. 121 Das Jahrbuch hieß 1871 zunächst Jahrbuch fur Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des Deutschen Reichs, wurde aber interessanterweise 1877 in Jahrbuch fur Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich - gegründet von Franz v. Holtzendorff hrsg. zusammen mit Lujo Brentano - umbenannt, was eine Änderung des Publikationsschwerpunktes zugunsten der Volkswirtschaftslehre zumindest im Titel andeutet. Seit 1878 ff. übernahm dann Gustav Schmoller die Herausgeberschaft [= Schmollers Jahrbuch]. 122 Finanzarchiv. Zeitschrift für das gesamte Finanzwesen, hrsg.v. Georg Schanz, Stuttgart 1884 ff. 123 Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. Vierteljahresschrift zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder, hrsg.v. Heinrich Braun, Berlin 1 (1888) - 18 (1904). Die Zeitschrift wurde ab 1904 unter der Ägide von Edgar Joffe,

3. Forschungsstand

41

Die Gründungswelle der hauptsächlich auf die Wirtschaftstheorie ausgerichteten Zeitschriften setzte weltweit erst gegen Ende der 1880er Jahre ein, als mit der Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung™, dem Publikationsorgan der sogenannten 'Wiener' oder 'österreichischen' (Grenznutzen-)Schule - bis zum Methodenstreit zwischen Carl Menger und Gustav Schmoller wurde nicht zwischen der deutschen und der österreichischen Nationalökonomie unterschieden 125, da in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 'österreichische' Nationalökonomen selten waren und die Politische Ökonomie, die in Östereich zu jener Zeit noch in der juristischen Fakultät untergebracht war, zumeist von aus Deutschland stammenden Wissenschaftlern gelehrt wurde 126 -, erstmals auch im deutschsprachigen Raum eine Zeitschrift in Erscheinung trat, die sich mit 'theoretischen' Fragestellungen im heutigen Sinne auseinandersetzte. In der programmatischen Einführung wies das Gründungsmitglied Eugen von Böhm-Bawerk zwar, wie Herausgeber anderer nationalökonomischer Zeitschriften auch, auf die „socialpolitischen Aufgaben" hin, die durch die fortschreitende Industrialisierung mit ihren die gesellschaftlichen Grundfesten erschütternden Folgen zu lösen seien. Doch anders als bis dahin üblich, beabsichtigte er „Theorie und Praxis" stärker aufeinander zu beziehen.127 Im gleichen Zeitraum wurden auch in Frankreich 128, in Großbritannien 129 und den USA

Werner Sombart und Max Weber als Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Tübingen 1904 ff., fortgeführt. 124 Zeitschrift fiir Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Organ der Gesellschaft Österreichischer Volkswirte, hrsg.v. Eugen v. Böhm-Bawerk u.a., Prag-WienLeipzig 1892 ff. 125 Vgl. Häuser , Karl: Historical School and „Methodenstreit", in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 144/2 (1988), S.532-542, hier S.534. 126 Vgl. Hayek , Friedrich August v.: Einleitung, in: Carl Menger, Gesammelte Werke, hrsg. von Friedrich A. v. Hayek, Bd.l., Tübingen21968, S.XI. 127 Vgl. Böhm-Bawerk, Eugen v.: Unsere Aufgaben, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, 1 (1892), S.l-10, hier S.2-4. 128 Revue d'Economie Politique, hrsg.v. Charles Gide , Alfred Jourdan, Edmond Vil· ley, Léon Duguit, Paris 1887 ff. Dort heißt es von den Herausgebern einleitend in „Notre Programme": „Voici bientôt dix ans que l'économie politique a pris place dans l'enseignement régulier de nos Facultés de droit. C'est là que presque tous les jeunes gens qui se destinent aus carrières judiciaires, administratives, politiques [...] sont initiés aux principes de cette science." Vgl. ebd., S. 1-2. Siehe weiterführend zum Studium der Wirtschaftswissenschaften in Frankreich Jourdan , Alfred: De l'enseignement de l'économie politique, in: Revue d'Économie Politique, 1 (1887), S.3-31. 129 The Economic Journal The Journal of the British Economic Association, ed. by Francis Y. Edgeworth, London 1891 ff.

I. Einleitung

42

- zunächst in Gestalt der Publikationsorgane der Harvard University 130 und der University of Chicago 131 - Zeitschriften mit der gleichen Intention ins Leben gerufen, so daß man für die Zeit zwischen 1886 und 1892 durchaus von einem Take-off des modernen volkswirtschaftlichen Zeitschriftenwesens sprechen kann. Dieser Take-off der ökonomischen Zeitschriftengründungen zwischen 1886 und 1892 koinzidiert mit dem Schwerpunkt der Methodenauseinandersetzungen, so daß die Vermutung eines engen Zusammenhangs zwischen beiden Entwicklungen naheliegt. Jedenfalls treten einige der Wortführer des Methodenstreits, wie etwa Gustav Schmoller oder Eugen von Böhm-Bawerk, sofern sie sich in einer Verteidigungsposition befanden, als Zeitschriftenherausgeber oder, sofern sie den Part der Neuerer einnahmen, als Zeitschriftengründer auf. In den Vorworten und einleitenden Aufsätzen dieser Zeitschriften wurde immer wieder auf die Umbruchphase und das Krisenbewußtsein verwiesen, worin sich die Nationalökonomie befinde. Neben der Entstehung neuer Zeitschriften zeigt das Aufkommen von Nachschlage· und Sammelwerken international an, daß diese Disziplin bemüht war, ihre Ergebnisse nicht nur für die Praxis gut faßbar zu präsentieren, sondern auch die verstreuten wissenschaftlichen Einzelleistungen zu versammeln. Als „wahrer Ausdruck der historischen Schule", wie Menger später resümierte, kam zunächst das Handbuch der Politischen Oekonomie 132 auf den Markt. In den 1890er Jahren entstand in Deutschland nachfolgend mit dem Handwörterbuch der Staatswissenschaften 133 ein Nachschlagewerk, das das stupende staatswissenschaftliche Wissen des 19. Jahrhunderts konzise zusammenfassen wollte. Gegen Ende der 1890er Jahre erschien dann ergänzend das Wörterbuch der Volkswirtschaft 134. Mit Palgrave 's Dictionary of Political Economy 135 und dem

130

The Quarterly Journal of Economics , ed. by The Harvard University, New York 1886-87 ff.; siehe dort die Einführung von Dunbar , Charles F.: The Reaction in Political Economy, in: QJE, 1 (1886/87), S.l-27. 131 The Journal of Political Economy , ed. by The University of Chicago, Chicago 1892-93 ff. Zur Lage der Disziplin in den USA vgl. den zeitgenössischen Überblick von Laughlin, Lawrence J.: The Study of Political Economy in the United States, in: JPE, 1 (1892), S. 1-19. 132 Handbuch der Politischen Oekonomie, hrsg.v. Georg von Schönberg, 2 Bde. in 3 Teilbde., Tübingen 1882. 133 Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hrsg.v. Johannes Conrad, Ludwig Elster, Wilhelm Lexis u. Edgar Loening, 6 Bde., 2 Supplementbände, Jena 1890-1897. 134 Wörterbuch der Volkswirtschaft, hrsg.v. Ludwig Elster, 2 Bde., Jena 1898. 135 Dictionary of Political Economy. Containing articles on the main subjects dealt with by economic writers, and short notices of deceased English, American, and foreign

3. Forschungsstand

43

von Léon Say herausgegebenen Nouveau dictionnaire d'économie politique 136 entstanden in der Folge auch im englisch- und französischsprachigen Raum Kompendien ähnlicher Art.

3.3. Nationalökonomie in Deutschland: ein 'Sonderweg'? Die Frage nach den Ursachen für die Entstehung der Nationalökonomie in Deutschland wird hier nicht zu beantworten versucht. 137 Oft wird jedoch in Anspielung auf die These vom 'deutschen Sonderweg' auf die „Sonderentwicklung" 138 auch der deutschen Nationalökonomie verwiesen, die im Zusammenhang mit der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte - vor allem den prägenden Einflüssen des Historismus und der Romantik auf die deutsche Staatslehre - vornehmlich dort als eigenständig gesehen wird, wo sie „historisch [...] und national" 139 eingestellt war. Diese deutsche Sonderentwicklung ließe sich sehr gut anhand der „ A u s strahlung der 'historischen Schule'" im 19. und 20.Jahrhundert darstellen. 140 Insbesondere könnte die Wirkung der Historischen Schule institutionengeschichtlich in den Staatswissenschaften verfolgt werden, deren Geschichte im langen 19. Jahrhundert trotz mehrfacher Ankündigungen noch nicht erschienen

economists and their chief contributions to economic literature, ed. by Robert Harry Inglis Palgrave, London 1891. 136 Nouveau dictionnaire d'économie politique , publiée par Léon Say , Paris 1891-92. 137 Die möglichen geistesgeschichtlichen Ursachen dieser Entstehung zwischen 1750 und 1850 untersucht ein Reinhart Kosellecks Konzept der „Sattelzeit" anknüpfend Hüther, Michael: Die „Sattelzeitgerechte" Entstehung der Nationalökonomie. Ein Beitrag zur Dogmengeschichte, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 205 (1988), S.l50-162. Für Großbritannien siehe die Studie von Winch , Donald: Riehes and Poverty: Intellectual History of Political Economy in Britain, 1750-1834, Cambridge 1996. 138 So etwa Riha, Thomas J.F.: German Political Economy: The History of an Alternative Economics, [= Sonderdruck des International Journal of Social Economics, Vol.12, No.3/4/5], Bradford 1985, S.7. Siehe auch das Vorwort von Karl Brandt , ebd. S.3. 139 So Suräny-Unger, Theo: Die Entwicklung der theoretischen Volkswirtschaftslehre im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, Jena 1927, S.7 f. 140 Allerdings bleibt deren Geschichte nach wie vor ein Desiderat der Forschung. So die Feststellung von Tenbruck, Friedrich H.: Zusammenfassung und Vorblick, in: Schiera/Tenbruck (1989), S.255.

I. Einleitung

44

ist. 1 4 1 Da insbesondere die ältere Ökonomik eng m i t den Staatswissenschaften verbunden war, sind auch die in den Nachbardisziplinen - insbesondere der Politikwissenschaft - erschienenen Studien aufschlußreich. 142 Eine eindeutige Fixierung und eine „systematisch-schlüssige Klassifizierung" der Staatswissenschaften ist in Deutschland aufgrund ihrer „changierenden Inhalte" allerdings nur schwer möglich. 1 4 3 Trotz ähnlicher Konzepte hat sich i m Ausland auf Grund anderer wissenschafis- und geistesgeschichtlicher Traditionen - erste Studien liegen für Italien 1 4 4 , Großbritannien 1 4 5 und die U S A 1 4 6 , j a sogar für Japan 1 4 7 bereits vor - nichts Gleichartiges durchsetzen können.

141

So etwa die mehrfach angekündigte, bisher leider noch nicht erschienene Habilitationsschrift von vom Bruch, Rüdiger: Von der Kameralistik zur Wirtschaftswissenschaft. Studien zur Geschichte der deutschen Nationalökonomie als Staatswissenschaft (1727-1923), Habilitationsschrift München 1986. 142 Vgl. hierzu die klassische Studie von Maier, Hans: Die ältere deutsche Staatsund Verwaltungslehre, München 3 1986, zur Stellung der Nationalökonomie gegenüber ihren Vorläufern dort S.247-254; siehe ferner ders.: Politische Wissenschaft in Deutschland. Lehre und Wirkung, München 21985, S.31-67 u. 103-121. 143 Vgl. vom Bruch, Rüdiger: Zur Historisierung der Staatswissenschaften. Von der Kameralistik zur historischen Schule der Nationalökonomie, in: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, 8 (1985), S. 131-146, hier S.133. 144 Siehe zu weiterführender Literatur Moretti, Mauro: La storiografia italiana postunitaria fra tradizione e rinnovamento: temi, carenze, prospettive, in: Schiera/Tenbruck (1989), S.55-94; ferner Gozzi, Gustavo: Ideologia liberale e politica sociale: il socialismo della cattedra in Italia, in: Schiera/Tenbruck (1989), S.181-216 sowie Pegoretti, Giovanni: Economia: Scienza, Storia e Accademia, in: BocklHomann!Schiera (1989), S.271-292. 145 Vgl. Hutchison, Timothy W.: Economists and Economics Policy in Britain after 1870, in: Mark Blaug (ed.), The History of Economic Thought, [= The International Library of Critical Writings in Economics, Vol.6], Brookfield 1990, S. 164-188. 146 Für die Rezeption der Historischen Schule der Nationalökonomie in England und den USA und die Verbindungen zur Entstehung des amerikanischen Institutionalismus siehe Senn, Peter R : Gustav Schmoller auf englisch: Welche Spuren hat er hinterlassen, in: Gustav von Schmoller und die Probleme von heute, hrsg.v. Jürgen G. Backhaus, [= Volkswirtschaftliche Schriften, Heft 430], Berlin 1993, S.27-79; ferner Balabkins, Nicholas W.: Not by Theory alone... The Economics of Gustav von Schmoller and Its Legacy to America, [= Volkswirtschaftliche Schriften, Heft 382], Berlin 1988. 147 Zur Rezeption der deutschen sozialreformatorischen Bewegung in der japanischen Nationalökonomie vgl. Schwentker, Wolfgang: Fremde Gelehrte. Japanische Nationalökonomen und Sozialreformer im Kaiserreich, in: Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, hrsg.v. Gangolf Hübinger u. Wolfgang J. Mommsen, Frankfurt a.M. 1993, S.172197 sowie die Literaturhinweise S.238-241. Zur Bedeutung der Historischen Schule der Nationalökonomie für die japanische und deutsche Sozialwissenschaft vgl. auch Williams, David: Japan: Beyond the End of History, London-New York 1994. Williams geht sogar soweit zu sagen, daß das „post-American century [...] has been thus far more the century of Friedrich List than of Adam Smith".(64) Ferner betont er „the unrivalled

3. Forschungsstand

45

Die Modernisierung der deutschen ökonomischen Theorie beginnt zwar nach 1800 mit der Rezeption der schottisch-englischen Marktwirtschaftstheorie, die die Freiheit des individuellen wirtschaftlichen Handelns zum Fundament ihrer Wissenschaft erhob, durch die Tradition der kameralistischen Ökonomie. Jedoch ergaben sich von vorneherein 'Modernisierungsprobleme', da mit dem Übergang vom Kameralismus zur Nationalökonomie eine Neuorientierung des Begriffs der wirtschaftlichen Ordnung einherging, die die Reflexion der politischen und verfassungsrechtlichen Bedingungen notwendig involvierte. 148 So bezeichnete die Kameralistik in ihrem Verhältnis zum Staat in den 1820er Jahren etwas andereres, als dies noch die kameralwissenschaftlichen Doktrinen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts formulierten: Staat und Gesellschaft hatten mit dem Wandel der ökonomischen und sozialen Strukturen nach 1800 aufgehört, Synonyme zu sein, so daß sich auch die nationalökonomischen Auffassungen von der Rolle des Staates in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland erheblich zu verändern begannen.149 Wie Schmidt konstatiert, blieb zwar insbesondere die Allokationsfunktion des Staates gleich, doch intensivierte sich die Stabilisierungsfunktion: durch die Bereitstellung von Kollektivgütern sollten wirtschaftliche Entwicklung und Staatsform stabilisiert werden. Ältere kameralistische und naturrechtlich begründete Verwaltungslehren des frühmodernen Anstaltsstaates wurden in der Folge durch den individuellen Gleichheitsgrundsatz formalisierter Rechtswissenschaften wie auch durch die theoretische Begründung der modernen Nationalökonomie obsolet.150 Aus demselben wissenschaftlichen Umfeld entstanden nach der bürgerlichen Revolution von 1848 parallel die Gesellschaftswissenschaften 151 als eine Disziplin, die sich mit dem Prozeß der bürgerlichen Vergesellschaftung befaßt. Im

importance of the German Historical School for any Westerner who would grasp the nature of [...] economics in its German or Japanese guise".(121) 148 Vgl. hierzu Priddat, Birger P.: Der nur halbe Smith: Modernisierungsschwierigkeiten der deutschen Nationalökonomie im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1992/2, Berlin 1993, S.l47-167, hier S.147 f. 149 Vgl. Schmidt, Karl-Heinz: Die wirtschaftliche Entwicklung und die nationalökonomischen Auffassungen zur Rolle des Staates in der 1.Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Studien zur ökonomischen Theorie, [= Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. Bd.l 15/VI], hrsg.v. Harald Scherf, Berlin 1988, S.65-104, hier S.103. 150 Vgl. vom Bruch, Rüdiger: Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert, in: Neue Politische Literatur, 37 (1992), S.434-439, hier S.434. 151 Zu Entstehung und Verständnis des Begriffs der „Gesellschaftswissenschaften" von Robert von Mohl bis Gustav Rilmelin vgl. Angermann, Erich: Robert v. Mohl 1799-1875. Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten, [= Politica. Abhandlungen und Texte zur politischen Wissenschaft, Bd.8], Neuwied 1962, S.330-387.

I. Einleitung

46

Vordergrund stand die Beschäftigung mit den Folgen der industriellen Revolution, weil diese gesellschaftliche Veränderungen zeitigte, die von den tragenden bürgerlichen Schichten als potentiell staats- und gesellschaftsgefährdend angesehen wurden 152 . Es war in erster Linie die „soziale Frage" 153 als Problem der nationalen Organisation der bürgerlichen Gesellschaft, die den entscheidenden Anstoß zu ihrer Entstehung gab, gleichzeitig aber auch dazu führte, daß sich die Historische Schule der Nationalökonomie in Deutschland gegenüber den Anhängern der 'klassischen Lehre' durchsetzen konnte. Der Hegemonieverlust dieser Schule in den 1870er Jahren scheint vor allem mit ihrer schwindenden Fähigkeit einherzugehen, die wirtschaftliche Realität adäquat zu erfassen und hieraus wirtschaftspolitische Vorschläge abzuleiten; statt dessen wurde ihre Position immer ideologischer und inflexibler. „In the 1860s and 1870s [...]", so Backhouse, „political economy came under attack from a variety of sources. Political economy had become, rightly or wrongly, associated with doctrinaire laissez faire, but with the increasing concern with social questions, and the increasing calls for state intervention, such an attitude seemed less appropriate." 154 Mit dem Ziel der „sozialen Reform" hingegen konnten die historisch orientierten Staatswissenschaften die politische Perspektive von außen nach innen verlagern. Sie erweiterten damit die großen politischen Themen von der „nationalen" auf die „soziale Frage" 155 , deren Wechselwirkung - zumindest bis zur Jahrhundertwende - als „bürgerliche Sozialreform" das Interesse gerade der Nationalökonomie beherrschen sollte. 156 Mit der Gründung des deutschen Nationalstaats wurden dann jene Institutionen geschaffen, die von entscheidender diskursorganisierender Bedeutung werden sollten. So wurde speziell die Ge-

152

Über die Gründe der Entstehung der Sozialwissenschaften in Deutschland siehe König, René: Soziologie in Deutschland. Begründer, Verfechter, Verächter, München 1987, S.23-89. 153 Zur Bedeutung der „socialen Frage" für die Entstehung der Gesellschafts- und Sozialwissenschaften in Deutschland siehe Pankoke, Eckart: Sociale Bewegung Sociale Frage - Sociale Politik. Grundfragen der deutschen „Socialwissenschaft" im 19. Jahrhundert, [= Industrielle Welt, Bd. 12], Stuttgart 1970, S. 101-166. 154 Backhouse, Roger: A History of Modern Economic Analysis, Oxford 1985, S.43f. 155 Pankoke zeigt anregend, wie insbesondere in Deutschland Begriff und Verhältnisse der „Socialpolitik" entstanden sind; Pankoke (1970), S. 167-170. Ferner zur Entstehung des „Sozialstaatsgedankens" Ritter, Gerhard Α.: Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München21991, S.67-87. 156 Dazu umfassend vom Bruch, Rüdiger: Bürgerliche Sozialreform im deutschen Kaiserreich, in: ders. (Hrsg.), 'Weder Kommunismus noch Kapitalismus'. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985, S.61-179.

3. Forschungsstand

47

schichte des Vereins für Socialpolitik, einer primär sozialreformerischen Organisation, von der Gründung im Jahr 1872 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs als eine Geschichte der Ausdifferenzierung eines solchen Diskurses in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Deutschland gedeutet.157 In den 1890er Jahren wurde der bis dahin dominierende sozialpolitische Diskurs zunächst von einem kulturkritischen Diskurs überlagert und schließlich weitgehend abgelöst. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich die deutsche Nationalökonomie der Historischen Schule dann mehr und mehr als Kulturwissenschaft. Das heißt, soziale Reformbewegung und entstehende Kulturwissenschaft wurden zu einer Art „sozialen Kultur" miteinander verwoben. 158 Während einerseits das urspünglich sowohl aristotelisch wie auch naturrechtlich gefüllte staatswissenschaftliche Fundament sukzessive von einer theoretischen Ökonomik überlagert worden war und die wirtschaftswissenschaftliche Professionalisierung und disziplinare Separierung begünstigte159, wurde andererseits im Begriff der 'Kulturwissenschaften' auf eine Gemeinsamkeit verwiesen, an der alle Einzelwissenschaften teilhaben konnten, wodurch dem Begriff durchaus eine identitäts- und integrationsstiftende Funktion zukam. 160 Es liegt nahe, daß die von den 1870er Jahren bis 1914 stattfindenden Debatten über die Ideale und Ziele in der Nationalökonomie, die auf eine Neubestimmung des Faches abzielten, Ausdruck dieser Stimmung sind. Sie erschütter-

157

Vgl. hierzu die immer noch wichtige Darlegung dieser Geschichte von Lindenlaub, der intensiv auf den Zusammenhang von Methoden- und Theoriedebatten und Institutionalisierung der Nationalökonomie im Wilhelminismus eingeht; Lindenlaub, Dieter: Richtungskämpfe im Verein für Socialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich von Beginn des „Neuen Kurses" bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1890-1914), [= Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 52], 2 Bde., Wiesbaden 1967. Ferner die eher marginale Ergänzung zur Frühund Vorgeschichte des 'Vereins für Socialpolitik' von Plessen, Marie-Luise v.: Die Wirksamkeit des Vereins für Sozialpolitik von 1872-1890, Berlin 1975. 158 Daß bei diesem Vorgang der Kulturbegriff vor allem einen „integrationswissenschaftlichen Charakter" annahm, zeigen vom Bruch, Rüdiger/Gra/ Friedrich-Wilhelm/ Hübinger, Gangolf: Einleitung: Kulturbegriff, Kulturkritik und Kulturwissenschaften um 1900, in: dies. (Hrsg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989, S.9-24, bes. S.16. 159 Vgl. vom Bruch, Rüdiger: Historiographiegeschichte als Sozialgeschichte. Geschichtswissenschaft und Gesellschaftswissenschaft, in: Küttler/Rüsen/Schulin (1993), 257-270, hier S.260 f. 160 Vgl. Koselleck, Reinhart: Wie sozial ist der Geist der Wissenschaften? Zur Abgrenzung der Sozial- und Geisteswissenschaften, in: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, hrsg.v. Wolfgang Frühwald, Hans Robert Jauß, Reinhart Koselleck, Jürgen Mittelstraß u. Burkhart Steinwachs, Frankfurt a.M. 1991, S.l 12-141, hier S.l36.

I. Einleitung

48

ten das Selbstverständnis der deutschen Volkswirtschaftslehre historischer Prägung als einer „wertesetzenden gesellschaftspolitischen Leitdisziplin" 161 nachhaltig. Insbesondere Max Weber hat die historische Schule in ihrem Verständnis als 'Meinungsführungswissenschaft' angegriffen und ihre Kompetenz zur gesellschaftlichen 'Gegenwartsdiagnose', d.h. ihre Fähigkeit, über die fachlichen Grenzen hinaus eine wissenschaftlich fundierte, allgemeinverbindliche Gesellschaftsdeutung und Ethik zu vertreten, in Zweifel gezogen.162 Wie im folgenden zu zeigen sein wird, gab es eine Tradition kulturwissenschaftlich inspirierter Sozialökonomik in Deutschland, die heute freilich kaum mehr gegenwärtig ist. Sie in ihren wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten wieder sichtbar zu machen, ist das Anliegen der vorliegenden Arbeit.

161

Vgl. Aldenhoffl Rita: Nationalökonomie und Kulturwerte um 1900, in: vom Bruch! Graß Hübinger (1989), S.45-62, hier S.47. 162 Aldenhoff ( 1989), S.49.

I I . Gustav Schmoller: historisch-ethische Nationalökonomie als Sozialwissenschaft Das Interesse an Gustav Schmoller (1838-1917) 1 und der jüngeren historischen Schule der deutschen Nationalökonomie ist i n den letzten Jahren wiedererwacht 2 , nachdem er in den 1960er Jahren gar als "toter H u n d " 3 bezeichnet worden war. Sofern Ökonomen heute m i t seinem Namen überhaupt noch etwas verbinden können, 4 ist dies bestenfalls seinem starken "sozialpolitischen Engagement" 5 zu verdanken. Das verwundert eigentlich, w e i l Schmoller in der Zeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik 6 und des Dritten Reichs 7 als einer der

1 Zu Leben und Werk Gustav Schmollers siehe Winkel, Harald: Gustav von Schmoller (1838-1917), in: Klassiker des ökonomischen Denkens, II.Band: Von Karl Marx bis John Maynard Keynes, hrsg.v. Joachim Starbatty, München 1989, S.97-118; ferner Brinkmann, Carl: Art. Schmoller, Gustav, in: Handwörterbuch der Sozial Wissenschaften, Bd.9, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1956, S.135-137. 2 Dieses Interesse hat sich in einer Reihe von Tagungen und Publikationen aus Anlaß des 150.Geburtstages von Gustav Schmoller bekundet. So etwa die Sammelbände Gustav von Schmoller und die Probleme von heute, hrsg.v. Backhaus (1993); Gustav Schmoller in seiner Zeit: die Entstehung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien, hrsg.v. Schiera! Tenbruck (1989) sowie Gustav Schmoller heute: die Entwicklung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien, hrsg.v. BockJHomann/ Schiera (1989). 3 Zitiert bei von Kempski, der jedoch zugleich die historische Revision dieses Urteils voraussah; siehe Kempski (1964), S.200. 4 Auch Häuser beklagt, daß "der fraglos einflußreichste und bedeutendste deutsche Nationalökonom seiner Zeit" nicht einmal dem Namen nach bei heutigen Studenten bekannt sei; siehe Häuser, Karl: o.T., in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 146 (1990), S.374-377, hier S.374. 5 Siehe exemplarisch zur Stellung Schmollers in der heutigen Wirtschaftswissenschaft Krumbachner, Josef: Gustav von Schmoller - Begründer des jüngeren Historismus, in: Das Wirtschaftsstudium, 10 (1991), S.689-693, hier S.689. Zu Schmoller als Sozialpolitiker und seiner Relevanz für die heutige Sozialpolitik vgl. jetzt mit ausführlicher Literatur Hansen, Reginald: Gustav Schmoller und die Sozialpolitik heute, in: Backhaus (1993), S.l 11-182. 6 Siehe zur Bedeutung Schmollers in der Weimarer Republik die Debatte zwischen Herkner, Salin und von Below. Vgl. Herkner, Heinrich: Zur Stellung Gustav Schmollers in der Geschichte der Nationalökonomie, in: Schmollers Jahrbuch, 47 (1924), S.3-10; Salin, Edgar: Zur Stellung Gustav Schmollers in der Geschichte der Nationalökonomie,

4 Nau

50

II. Gustav Schmoller

großen schulbildenden Nationalökonomen seiner Epoche angesehen wurde, dessen ganzheitliches Ökonomieverständnis als 'traditionsbildend' für die deutsche Verwaltungsbürokratie galt. Lütge charakterisierte Schmoller sogar als jemanden, der in Deutschland "erst die entscheidende Wendung" zugunsten der Sozialpolitik herbeigeführt und diese wissenschaftlich begründet habe.8 Freilich blieb Lütge nicht verborgen, daß die in Schmollers Wissenschaftspraxis grundlegende Verbindung von historischen Studien, ökonomischer Grundlagenreflexion und sozialpolitischen Forderungen mit dem Postulat wissenschaftlicher Unabhängigkeit nicht vereinbar war. 9 Schmollers Selbstverständnis als Gelehrter und Politiker in einer Person, für das Friedrich Meinecke rückblickend auch und gerade im Hinblick auf Schmoller - den Begriff des "Gelehrtenpolitikers" 10 geprägt hat, ist der Ausdruck einer Wissenschaftsauffassung, die sich niemals damit abfinden wollte, Wissenschaft und Praxis, Erkenntnis und Interesse als verschiedene Wertsphären zu akzeptieren. Ihren praktischen Niederschlag fand diese Ausrichtung in verschiedenen sozialpolitischen Organisationen, in denen Schmoller, sofern er sie nicht selber mitgegründet hatte, eine maßgebliche Rolle spielte.11 Unter diesen kam dem Verein für Socialpolitik, der

in: Schmollers Jahrbuch, 48 (1924), S.307-314 sowie Below , Georg v.: Zur Stellung G. Schmollers in der Geschichte der Nationalökonomie, in: Schmollers Jahrbuch, 48 (1924), S.315-324. 7 Symptomatisch für das Fortleben und die Rezeption der Schmollerschen Nationalökonomie im Dritten Reich ist der Sammelband, der anläßlich seines 100.Geburtstags von Arthur Spiethoff herausgegeben wurde. Unter den Autoren findet sich eine Reihe von Nationalökonomen, die die Traditionen der historischen Schule vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis ins Dritte Reich fortgeschrieben haben. Vgl. Spiethoff Arthur (Hrsg.): Gustav von Schmoller und die deutsche geschichtliche Volkswirtschaftslehre. Festgabe zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages 24. Juni 1938, Berlin 1938. 8 Lütge, Friedrich: Gustav von Schmoller als Sozialpolitiker, in: Spiethoff (1938), S.201. 9 Lütge (1938), S.202. 10 Meinecke, Friedrich: Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik, in: Historische Zeitschrift, 125/126 (1922), S.248-283, hier S.251 u. 261-270. 11 Genannt seien der Evangelisch-soziale Kongreß, die Gesellschaft fiir Soziale Reform, der Deutsche Verein fiir öffentliche Gesundheitspflege, der Deutsche Verein Jur Armenpflege und Wohltätigkeit sowie die Zentralstelle für Volkswohlfahrt. Eine Übersicht aller organisatorischen Aktivitäten und weitere Erläuterungen bei vom Bruch, Rüdiger: Gustav Schmoller, in: Berlinische Lebensbilder. Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber, [= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd.60], hrsg.v. Wilhelm Treue u. Karlfried Gründer, Bd.3, Berlin 1987, S. 174-193, hier S.179.

II. Gustav Schmoller wichtigsten Interessenvertretung deutscher Nationalökonomen nach 1872, eine herausragende Stellung zu. 12 Der Beginn eines Verlustes dieser sogenannten "Schmoller-Tradition" in der Nationalökonomie der Weimarer Republik wird von einigen Autoren auf die zunehmende Bedeutung der ökonomischen Theorie 13 zurückgeführt, deren Themen in der Zeit nach 1914 vornehmlich durch die Probleme der Organisation der Kriegswirtschaft und der nach Kriegsende grassierenden Inflation bestimmt wurden. 14 Neoklassische, stärker modelltheoretisch orientierte ökonomische Ansätze konnten die politischen Bedürfnisse, zumal in Fragen der Wert-, Preis-, Geld- oder Konjunkturtheorie, besser befriedigen als dies der historischen Schule mit ihrem Methodenarsenal, das sich vornehmlich auf die Durchführung realistisch-empirischer Studien bezog, hätte gelingen können.15 Schmollers historische Methode der Nationalökonomie mußte unter diesen Verhältnissen wegen ihrer vermeintlichen Theoriefeindlichkeit 16 zwangsläufig auch in der politischen Praxis an Einfluß verlieren und in der Disziplin selbst zunehmend auf geringeres Verständnis treffen. 17 Schmoller hat das Dilemma des Zwischen-denStühlen-Sitzens in einer Zeit des wissenschaftlichen und politischen Umbruchs

12

S.84 ff.

Zur Rolle Schmollers im Verein für Socialpolitik siehe Lindenlaub (1967),

13 Schneider behauptete sogar, daß eine theoretische Wirtschaftswissenschaft, die den Namen wirklich verdiente, vor dem I.Weltkrieg in Deutschland gar nicht existent gewesen sei. Vgl. Schneider, Erich: Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der Wirtschaftswissenschaft (1918-1968), in: Weltwirtschaftliches Archiv, 102 (1969), S.157167, hier S.157. 14 So vom Bruch, Rüdiger: Weiterführung der Schmollerschen und Lamprechtschen Traditionen in der Weimarer Republik?, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, 1 (1992), S.27-40, bes. S.3034. Die personelle Kontinuität der Lehrstuhlbesetzungen durch Vertreter der historischen Schule in der Weimarer Republik ist bisher jedoch sozialhistorisch noch zu wenig untersucht worden, um diesbezüglich ein sicheres Urteil zu fällen. 15 Stellvertretend können vor allem die Publikationen der schwedischen Ökonomen Knut Wicksell und Gustav Cassel genannt werden, die nach 1900 in der Zeitschrift fur die gesamten Staatswissenschaften erschienen. 16 Immerhin weisen Ott und Winkel gelegentlich darauf hin, daß Schmoller die Begründung seines nationalökonomischen Ansatzes nur "vorzugsweise", aber nicht ausschließlich in der Geschichte suchen wollte. Andererseits hielten es beide nicht für notwendig, in ihrer Theoriegeschichte der historischen Schule ein eigenes Kapitel einzuräumen, sondern berücksichtigen diese nur hinsichtlich ihrer Rezeption der ökonomischen Klassik. Vgl. Ott!Winkel (1985), S. 126 f. u. 217 f. 17 Zur Rezeptionsgeschichte siehe Anderson, Pauline R : Gustav von Schmoller, in: Deutsche Historiker, hrsg.v. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1973, S. 147-173, bes. S.147 f.

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II. Gustav Schmoller

selbst empfunden und gab sich bezüglich seiner künftigen Wirkung denn auch keinen Illusionen hin: "Ob das künftige Urteil dahin gehen werde, daß ich als Historiker gescheitert, weil ich zugleich Nationalökonom war, als Nationalökonom, weil ich nicht aufhören konnte, Historiker zu sein, muß ich dahingestellt sein lassen. Ich kann nur beides zugleich sein und bilde mir ein, das Beste, was ich zu leisten vermag, dieser Verbindung zu danken."18 Dabei dürfte es gerade an Schmollers 'realistischem' Wissenschaftsverständnis liegen, daß er heute in einigen Zirkeln der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wieder in das Blickfeld geraten ist. Häufig wird hierbei auf das Urteil Schumpeters rekurriert, der Schmoller einmal konzedierte, sich insbesondere durch seine wirtschaftshistorischen Studien um das Verständnis ökonomischer Theorie verdient gemacht zu haben, indem er durch das Aufzeigen von Unregelmäßigkeiten zwischen theoretischer Aussage und empirischer Studie die Wechselwirkung zwischen beiden hervorgehoben und somit eine Modifizierung bestehender Theorien angestrebt habe. Diese sogenannte "Konkretisierungstendenz" 19 volkswirtschaftlich-realistischer Forschung präzisiere die Wirklichkeitsaussagen ökonomischer Theorien und weise zugleich deren "relative Bedeutung" 20 auf. Schmollers Programm sei folglich das "Begreifen der Geschichte aus der Geschichte" und sein Zielpunkt eine "einheitliche Soziologie oder Sozialwissenschaft als gedanklich ('theoretisch') verarbeitete Universalgeschichte". 21 Wie immer man heute zu Schumpeters Urteil stehen mag, Titel wie Gustav Schmoller and the Problems of Today 22 und Die andere Ökonomie 23 weisen zumindest darauf hin, daß durch den Nachweis der Historizität ökonomischer Gegenstandsbereiche und ihrer Theorien an "Schmollers Erbe" 24 in der Absicht 18 Schmoller, Gustav: Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungsund Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, S.VII. 19 Schumpeter (1954), S.l78. 20 Schumpeter (1954), S. 185. 21 Schumpeter ( 1954), S. 193. 22 Vgl. neben den in Anm.2 genannten Titeln ebenfalls Hutchison , Terence W.: Gustav Schmoller and the Problems of Today, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 144 (1988), S.527-531. 23 Vgl. Priddat, Birger P.: Die andere Ökonomie. Eine neue Einschätzung von Gustav von Schmollers Versuch einer "ethisch-historischen" Nationalökonomie im 19. Jahrhundert, [= Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie, Bd.2], Marburg 1995, S.21. 24 Dohm, Horst: "Mit Theorie allein kommt man nicht aus". Rückgriff auf Gustav Schmoller, in: FAZ, Nr.227, 29.November 1993, S.l8.

II. Gustav Schmoller wiederangeknüpft werden soll, der disziplinaren Selbstbeschränkung entgegenzuwirken. 2 5 Insbesondere Schmollers Bemühung, die Nationalökonomie als eine "historisch-ethische" Disziplin aufzufassen, deutet auf das fundamentale Problem des Verhältnisses von Ökonomie und Ethik hin. I n jüngster Zeit steht erneut zur Debatte, in welcher Weise die Ethik in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zur Geltung kommen soll. Eine Überlegung, aus der inzwischen m i t der sogenannten Wirtschaftsethik

16

ein eigenes Forschungsgebiet geworden ist,

das, etwa i n den U S A in der Bewegung der sogenannten

Kommunitaristen l\

unmittelbare politische Auswirkungen hat. Dieser Rekurs auf Fragen und Probleme einer 'ethischen' Orientierung, wie sie für das Verständnis der Nationalökonomie als einer "moral science" nicht nur von der historischen Schule der Nationalökonomie noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als selbstverständ-

25 Das gilt sogar für die an Traditionen nicht arme allgemeine Steuerlehre, in der Schmollers Beitrag zur Festlegung eines Einkommenssteuerbegriffs gewürdigt worden ist. Siehe Hansen, Reginald: Gustav Schmollers Beitrag zur allgemeinen Steuerlehre. Rückblick und Besinnung zum 150.Geburtstag von Gustav Schmoller, in: Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, 205 (1988), S.443-456, bes. S.443 f. 26 Zum Begriff siehe den Artikel von Homann, Karl: Wirtschaftsethik, in: Lexikon der Wirtschaftsethik, hrsg.v. Georges Enderle, Karl Homann„ Martin Honecker, Walter Kerber u. Horst Steinmann, Freiburg-Basel-Wien 1993, Sp. 1285-1296. Von der umfangreichen Literatur der letzten Jahre seien exemplarisch folgende Sammelbände genannt, die das weite Spektrum der Fragestellung erkennen lassen; Homann, Karl (Hrsg.): Aktuelle Probleme der Wirtschaftsethik, [= Schriften des Vereins für Sozialpolitik, N.F. Bd.211], Berlin 1992; Ulrich, Peter (Hrsg.): Auf der Suche nach einer modernen Wirtschaftsethik, Bern-Stuttgart 1990; Koslowski, Peter/Matthiesen, Christian (Hrsg.): Ökonomie und Ethik: Moral des Marktes oder Kritik der reinen ökonomischen Vernunft, Freiburg 1990; Hesse, Helmut (Hrsg.): Wirtschaftswissenschaft und Ethik, [= Schriften d. Vereins f. Socialpolitik, N.F. Bd. 171], Berlin 1988; Enderle, Georges (Hrsg.): Ethik und Wirtschaftswissenschaft, [Schriften d. Vereins f. Socialpolitik, N.F. Bd. 147], Berlin 1985 sowie die zahlreichen Publikationen von Koslowski, der erneut auf die Notwendigkeit einer "Ethik des Kapitalismus" hingewiesen hat. Vgl. Koslowski, Peter: Ethik des Kapitalismus, [= Walter Eucken Institut, Vorträge und Aufsätze, Bd.87], Tübingen 1986. 27 Vgl. stellvertretend für diese Bewegung und ihr Programm Etzioni, Amitai: Jenseits des Egoismus-Prinzips. Ein neues Bild von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Stuttgart 1994, bes. S. 19-57. Es ist interessant zu sehen, wie Etzioni dort anhand der Kritik des Nutzen-Konzepts der modernen Ökonomik eine "neue Synthese" oder ein "neues Paradigma" fordert, ohne die Traditionen der historisch-ethischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts zu kennen. Zu Positionen des Kommunitarismus und seiner Auseinandersetzung mit dem Liberalismus siehe jetzt Honneth, Axel (Hrsg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1993.

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II. Gustav Schmoller

lieh angesehen worden war, legte es aus deutscher Sicht daher nahe, sich mit Schmollers Position noch einmal auseinanderzusetzen.28 Läßt man Schmollers wissenschaftliche Arbeit Revue passieren, so kristallisieren sich im wesentlichen zwei Schwerpunkte seiner Forschungstätigkeit heraus29: zum einen historisch-realistische Einzelforschungen zu Fragen der Institutionalisierung auf verschiedenen Gebieten der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung, zum anderen Arbeiten zur Begründung einer eigenständigen nationalökonomischen Doktrin, die an den Vorbildern der historischen Schulen und des Positivismus des 19. Jahrhunderts orientiert waren. 30 Erstere schlugen sich unter anderem in der 1878 von Schmoller gegründeten Reihe der Staats- und Socialwissenschaftlichen Forschungen 31 sowie in der bei der Preussischen Akademie der Wissenschaften initiierten Edition der Acta Borussica 32 zur preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, die gelegentlich als der Durchbruch der Verwaltungsgeschichtsschreibung in Deutschland bezeichnet wurde, nieder. 33 Will man hingegen Schmollers volkswirtschaftliche Doktrin rekonstruieren, so muß man sie im Zusammenhang seines umfassenderen gesellschaftstheoretischen Konzepts sehen, das nicht zu Unrecht als ein Sammelsurium aus unterschiedlichsten Diskussionssträngen seiner Epoche, als "the inseparability of 28 Vgl. die Ausführungen von Seifert, Eberhard K.: Kultur versus Natur? Anmerkungen zu einer Grundfrage der Wirtschaftsethik. Ein Jahrhundert nach Schmoller, in: Backhaus (Hrsg.) (1993), S.223-249, bes. S.224. 29 Vgl. das Vorwort des Herausgebers in Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode, hrsg.v. August Skalweit, Frankfurt a.M. 1949, S.4. 30 Am Ende der überarbeiteten Fassung seines Artikels "Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode" in der dritten Auflage des Handwörterbuch(s) der Staatswissenschaften von 1911 resümiert Schmoller, es habe "drei Episoden" seines wissenschaftlichen Lebens gegeben, die methodologischen Studien gewidmet gewesen seien, nämlich von 1862-1865, 1888-1891 und 1910-1911. Siehe Schmoller (1949), S. 105. 31 Vgl. Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen. Hrsg.v. Gustav Schmoller und Max Sering, 23 Bde./152 Hefte, Leipzig 1878-1910. 32 Zur Geschichte der Entstehung und Bedeutung der Acta Borussica siehe Treue, Wilhelm: Die Acta Borussica - Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert - zwischen ihrer Gründung im Jahre 1887 und der Reprint-Ausgabe von 1986/87, Berlin 1987; ferner Heinrich, Gerd: Acta Borussica. Ein Rückblick nach hundert Jahren, in: Peter Baumgart u. Gerd Heinrich (Hrsg.), Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jh., Bd. 16/2, Hamburg-Berlin 1982, S.VII-XXXVII. 33 Vgl. vom Bruch (1987), S.l78 f.; ferner Dilcher, Gerhard: Der lange Weg zum Verwaltungsstaat, in: Historische Zeitschrift, 242 (1986), S.99-109.

1. Das wissenschaftliche und politisch-praktische Ziel Schmollers

55

economics, history, and political science" bezeichnet worden ist, die eine Einsicht in die Natur der "mutual concatenation of all social phenomena" ermöglichen sollte.34 Die Melange aus idealistisch und romantisch verbrämten Etatismus, Historismus sowie biologischem und ethischem Evolutionismus läßt bei allem Methodenwirrwarr bisweilen vergessen, daß Schmoller nicht um die "formale, sondern [um] die materiale Erkenntnis" 35 gesellschaftlicher Zusammenhänge bemüht war, die er als die entscheidende Aufgabe einer historisch-ethischen Volkswirtschaftslehre ansah.

1. Das wissenschaftliche und politisch-praktische Ziel Schmollers Schmoller hat sein wissenschaftliches Hauptziel unter Betonung der Tradition der 'älteren' historischen Schule der Nationalökonomie 1887 in seiner Antrittsrede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften deutlich hervorgehoben: "Es schwebte mir immer die Aufgabe vor, das wirklich zu leisten und zu vollenden, was Hildebrand, Knies und Roscher in der deutschen Nationalökonomie versucht haben: Diese Wissenschaft gänzlich loszulösen von der Dogmatik der englisch-französischen Utilitätsphilosophie, sie auf einen anderen, psychologisch und historisch tiefer und sicherer begründeten Boden zu stellen." 36 Dieses Motiv findet sich bereits bei dem jungen Schmoller, der, bezogen auf die Situation der deutschen Nationalökonomie in den 1860er Jahren, über die Anhänger der englischen und französischen Klassik in Deutschland vernichtend urteilte, daß die Zunahme an dogmatischem Scharfsinn in deren volkswirtschaftlichen Darstellungen sie nicht davor bewahren konnte, den Kontakt zur Wirklichkeit zu verlieren und somit "immer mehr zu gänzlich anschauungs- und farblosen, spintisierenden, abstrakten, einteilenden, definierenden Stubengelehrten, zu phantastischen Sozialisten, zu kalkulierenden Mathematikern, zu doktrinären, breitspurigen Theoretikern naturrechtlicher Robinsonaden zu werden". 37 Für Schmoller war damit die "geistige Schwindsucht eines von der Empirie

34

Balabkins (\9Μ), S.65. Ρ fister, Bernhard: Die Entwicklung zum Idealtypus. Eine methodologische Untersuchung über das Verhältnis von Theorie und Geschichte bei Menger, Schmoller und Max Weber, Tübingen 1928, S.55. 36 Zitiert nach vom Bruch (1987), S. 187. 37 Zitiert nach Skalweit (1949), S.3. 35

II. Gustav Schmoller

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gänzlich losgelösten Rationalismus" eingetreten. 38 Die abstrakte "Manchesterschule" habe sich nur einer "hohlen Theorie", "abstrakten Begriffsspielereien" und "dilettantischen Konstruktionen" bedient, die sich von der Beobachtung der Bedürfnisse des praktischen Lebens weit entfernt hätte. Mit einem "praktischen Idealismus" sei diese Schule zwar einst gestartet, aber als "eine mammonistische Klassenwaffe der Kapitalisten und als ein gelehrtes Spielzeug weltflüchtiger Stubengelehrter" habe sie geendet.39 In der politischen Praxis der zwei Jahrzehnte von 1860 bis 1880 ist die wirtschaftsliberalistische Weltanschauung der deutschen Freihändler für diese Kritik repräsentativ, 40 die für Schmoller unter Verkennung der psychologischen, sozialen und sittlichen Vorbedingungen jedes konkreten volkswirtschaftlichen Zustandes das wirtschaftliche Leben aus abstrakten Motiven abzuleiten trachteten.41 Schuld war in erster Linie das "abstrakte Schuldogma" der ökonomischen Klassik, die die "unbedingte Harmonie aller Privatinteressen" und die "unbedingte Berechtigung jedes wirtschaftlichen Egoismus" predigte und damit glaubte, auf die Frage nach dem geglückten menschlichen Leben keine allgemeingültige, gesellschaftlich verbindliche Antwort geben zu müssen. Das Glücksstreben der Menschen wurde nach Schmoller so zu einer je individuellen, allein dem Subjekt zukommenden Aufgabe, die durch keine noch so diffuse Allgemeinwohlbestimmung ersetzt werden konnte. Für Schmoller reduzierte sich hierbei alle Parteibildung bezüglich der Stellungnahme zu den großen politischen Fragen in den Staatswissenschaften auf die antinomisch sich gegenüberstehenden Prinzipien von Individualismus und Kollektivismus, eine Sichtweise, die die Staatswissenschaften von Anbeginn thematisch durchzieht. 42 Der Liberalismus als das Prinzip des Individualismus habe sich zwar politisch als ein befreiendes Moment erwiesen und neben dem Schutz individueller Rechte, wie persönlicher Freiheit und freier Bewegung,

38

Skalweit ( 1949), S.3. Schmoller, Gustav: Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 1 .Teil, Leipzig 1900, S.94. 40 Vgl. hierzu grundlegend Hentschel, Volker: Die deutschen Freihändler und der volkswirtschaftliche Kongreß 1858 bis 1885, [= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, Bd. 16], Stuttgart 1975, S.50 ff.; aus dogmengeschichtlicher Sicht Winkel{ 1977), S.38-49. 41 Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19.Jahrhundert. Statistische und nationalökonomische Untersuchungen, Halle 1870, Vorrede, S.X ff. 42 Siehe ausführlich Dietzel, Heinrich: Art. Individualismus, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.IV., Jena21900, S.1328-1345. 39

1. Das wissenschaftliche und politisch-praktische Ziel Schmollers

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auch eine Verfassung und eine Selbstverwaltung verwirklicht, die als unantastbares Gemeingut selbst konservativer Regierungen betrachtet werden mußte, doch sei sein Programm gerade in ökonomischer Sicht durch die Durchführung des Freihandels und der Gewerbefreiheit erfüllt. Daher, so Schmoller in einer sophistischen Wendung, habe sich "der Liberalismus in seiner alten Bedeutung überlebt." 43 Denn ein in allen Bereichen sich entfaltender Individualismus, der sich in seiner negativen Form als "Egoismus", als "blinder roher Kampf der Individuen" zu erkennen gebe, mußte das öffentliche und soziale Leben bedrohen. Dies rührte nach Schmoller vor allem von dem rationalistischen Wissenschaftsverständnis her, dem die liberalistische wie die sozialistische Nationalökonomie folgten 44 und das von einer "abstrakten Menschennatur" ausgehend ein objektives System der Volkswirtschaft konstruieren zu können glaubte. Die Hauptschwäche der individualistischen wie der sozialistischen Theorien lag darin, eine von Staat und Recht losgelöste abstrakte Wirtschaftsgesellschaft zu fingieren und mit ihr rechnen zu wollen. 45 Beide Vorstellungen, so Schmoller, blieben jedoch Ideologien, welche direkt auf neue Ideale des Gesellschaftslebens und der Rechts- und Wirtschaftsinstitutionen abzielten. Die Konsequenz dieser Sichtweise konnte für ihn folgerichtig nur zweierlei sein: zum einen müsse sich der Staat als intervenierende Institution verteilender Gerechtigkeit aus dem Bereich der individuellen Lebensführung nach und nach entfernen; zum anderen aber könne man, wenn es wirklich nur Einzelwirtschaften, individuelles Kapital und individuelles Einkommen gebe, wie die klassische Schule immer behauptete, streng genommen nicht mehr von der Wirtschaft eines 'Volkes', von einer Volkswirtschaft sprechen. Diesem Zustand der Realitätsferne, in dem sich die deutsche Nationalökonomie nach 1860 zu befinden schien, konnte nach Schmoller zwangsläufig nur eines entgegengesetzt werden: die energische Rückwendung zur empirischen

43 Schmoller, Gustav: Ueber Zweck und Ziele des Jahrbuchs, in: Schmollers Jahrbuch, 5 (1881), S. 1-18, hier S.10. 44 Beide seien daher in direkter Linie Ausläufer eines rationalistischen Wissenschaftsverständnisses, "Zwillingsschwestern eines unhistorischen Rationalismus, als die abständigen letzten Reste der eudämonistischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts". Schmoller, Gustav: Wechselnde Theorien und feststehende Wahrheiten im Gebiete der Staats- und Socialwissenschaften und die heutige deutsche Volkswirtschaftslehre. Rede bei Antritt des Rektorats gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin am 15.Oktober 1897, in: ders., Über einige Grundfragen der Socialpolitik und der Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1898, S.315-343, S.325. 45 Schmoller (1898b), S.325.

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II. Gustav Schmoller

Forschung. 'Realistisch-empirische' Forschung meinte eine auf Detailstudien beruhende Beschreibung sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse, die eine notwendige Voraussetzung für die Lösung politischer Gegenwartsfragen darstellte. In dieser Vorgehensweise unterschied Schmoller seinen historischen Ansatz von demjenigen der 'älteren' historischen Schule, die unter dem Einfluß des Idealismus noch zu rasch habe generalisieren wollen und vorschnell zu einer abstrakten Begriffsbildung gekommen sei, wohingegen er intendierte, erst auf der Grundlage einer polyhistorischen Datensammlung zur Spezialuntersuchung der einzelnen "Epochen, Völker und Wirtschaftszustände" überzugehen, um danach eine Begriffsbildung vornehmen zu können.46 Man kann die Neigung, die vorherrschenden Probleme dieser Zeit, welche sich hinter dem Schlagwort der "sozialen Frage" 47 verbergen, wissenschaftlich zu thematisieren, sicherlich mit dem seit den 1860er Jahren erwachenden "realistischen Lebensgefühl" erklären, das sukzessive eine stärker idealistisch geprägte Wissenschaftskultur verabschiedete.48 "Wer unter den heute Lebenden", so Schmoller 1897 diesen Umschwung charakterisierend, "die deutschen Universitäten schon in den fünfziger und sechziger Jahren kennen lernte, weiß, daß noch damals in der älteren Generation diese Tendenzen vorwalteten. Jeder Gebildete stand damals noch unter dem Zauber dieser Urbanen, feinfühlig universal gebildeten, idealistisch oder romantisch gefärbten alten Herren. [...] Aber die Gelehrten jener Zeit waren nicht frei von Romantik, von einem Idealismus, der zu viel wollte, und darum der Forschung hinderlich wurde. Die bloße Spekulation, das Herausspinnen von Begriffen herrschte zu sehr vor." 49 Daher mußte nach Schmoller eine andere geistige und wissenschaftliche Strömung folgen: eine nüchternere, kritischere, eine jüngere Gelehrtengeneration, die den

46 So verlange diese Wissenschaft zunächst wirtschaftsgeschichtliche Monographien und die Verknüpfung moderner Spezialuntersuchungen mit ihren historischen Wurzeln. Sie wolle lieber zunächst den Werdegang der einzelnen Wirtschaftsinstitutionen als den der ganzen Volkswirtschaft und der universellen Weltwirtschaft erklären. Schmoller (1900/1904), 1 .Teil, S.120. 47 Siehe hierzu Müssiggang, Albert: Die soziale Frage in der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, Tübingen 1968. 48 Vgl. Mommsen, Wolfgang J.: Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde 1870-1918. Kultur und Politik im deutschen Kaisserreich, Frankfurt a.M. 1994, S.82. Siehe zur Vermittlung von Idealismus und Materialismus in der deutschen Philosophie zur Zeit der "Neuen Ära" Köhncke, Klaus Christian: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a.M. 1986, S.168 ff. 49 Schmoller, Gustav: Zwanzig Jahre deutscher Politik (1897-1917). Aufsätze und Vorträge, München-Leipzig 1920, S.204.

1. Das wissenschaftliche und politisch-praktische Ziel Schmollers

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Hunger nach empirischer Forschung stillte. Kurzum: "Der Realismus verlangte sein Recht gegenüber den Übeln eines absterbenden Idealismus." 5 0 Diese realistisch-empirischen Forschungen sollten den "großen Gedanken des Zusammenhangs aller sozialen Probleme" 5 1 i n der Absicht festhalten, eine "ethische Begründung der Nationalökonomie" 5 2 zu ermöglichen und so ein wissenschaftliches Gegengewicht gegenüber der utilitaristischen Ethik des W i r t schaftsliberalismus zu schaffen. Insbesondere sollte die Funktion des Staates als Regulator gesellschaftlichen Lebens gesichert und somit der Fragmentierung des wirtschaftlich-kulturellen Zusammenhangs einer Gesellschaft entgegengewirkt werden. In Schmollers sozialpolitischer Erstlingsschrift Die Arbeiterfragedie

er in

seiner Erinnerung gleichsam als Programm für den 1872 gegründeten Verein für bezeichnen sollte, 5 4 w i r d diese "ethische Grundlage der National-

Socialpolitik ökonomie"

55

ihrer Idee nach genauer formuliert: "Alles menschliche Handeln

nun ist ein gegenseitig bedingtes, ein Compromiß zwischen den verschiedenen Aufgaben und Zwecken des Menschen, die Einfügung jeder einzelnen Hand-

50

Schmoller (1920), S.204. Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Statistische und nationalökonomische Untersuchungen, Halle 1870, S.XII f. 52 Schmoller (1870), S.XIII. 53 Der Begriff "Arbeiterfrage" sollte, wie Pankoke hervorhebt, die "sociale Frage" als gesellschaftliche Systemfrage nicht ins Grundsätzliche heben, sondern die Kehre von einer programmatischen "socialen Frage" zu einer pragmatischen "Arbeiterfrage" im Sinne der "Socialpolitik als Realpolitik" vollziehen. Vgl. Pankoke, Eckart: Historisches Verstehen und geschichtliche Verantwortung. Zur historisch-ethischen Schule Gustav Schmollers, in: Schiera! Tenbruck (1989), S. 17-53, hier S.23. 54 "Im Sommer 1864", so Schmoller, "war ich zum letzten Male länger in Heilbronn, arbeitete da meine ersten Kolleghefte für Halle und den Artikel für die Preußischen Jahrbücher 'Die sociale Frage' aus, der als Programm gelten konnte für die Nationalökonomen und Sozialpolitiker die sich später im Verein für Socialpolitik sammelten." Vgl. Schmoller, Gustav v.: Meine Heilbronner Jugendjahre, in: Kalender für Schwäbische Literatur und Kunst, o.O. 1918, S.61. 55 Skalweit macht darauf aufmerksam, daß Schmoller schon unmittelbar nach seiner Tübinger Dissertation {Die nationalökonomischen Ansichten in Deutschland während der Reformation, 1860) und noch vor seiner Berufung auf einen Lehrstuhl nach Halle (1864) plante, ein Buch über Ethik und Methodologie in ihrem Verhältnis zur Nationalökonomie zu schreiben. Dieses Vorhaben wurde zwar nicht in dieser Form realisiert, die Idee aber ist in dem Sammelband Zur Litteraturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften (1888) durchaus noch zu finden - vornehmlich in den Studien Friedrich Schillers ethischer und kulturgeschichtlicher Standpunkt (1863) und Johann Gottlieb Fichte. Eine Studie aus dem Gebiete der Ethik und der Nationalökonomie (1864-65). Vgl. den Hinweis bei Skalweit (1949), S.4. 51

II. Gustav Schmoller

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lung wie des einzelnen Menschen in den richtigen Zusammenhang des Ganzen. In diesem von Sitte und Recht vermittelten Zusammenhang besteht alles Ethische."56 So hing der wahre Fortschritt im ökonomischen Leben von seinem inneren Zusammenhang mit allen übrigen Lebensgebieten und Zwecken, von der "gesamten ethischen Cultur" ab. Eben diese Kultur war für Schmoller letztlich die "ethische Grundlage der Nationalökonomie"57. Dieser innere Zusammenhang war notwendig in einer Zeit des "allgemeinen Gährungsprozesses", des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs, wie er sich symptomatisch in der Krise des Handwerks im Übergang zum Industriezeitalter 58 oder in den Debatten im Verein für Socialpolitik um den Stellenwert des Arbeitsvertrags 59 zwischen den besitzlosen Klassen der Industriearbeiter und den Fabrikbesitzern später zeigte. Diese Krise als Folge des rapide zunehmenden Bevölkerungswachstums, der Landflucht, der Entwicklung der Technik und des Verkehrswesens, der Verlegung alter und der Entstehung neuer Industriestandorte und der daraus folgenden radikalen Veränderung volkswirtschaftlicher und betrieblicher Strukturen hat die "moderne soziale Frage" 60 geschaffen. Ihre Bewältigung sollte mittels einer geeigneten Sozialpolitik erfolgen. 61 Auf die "individualistische Epoche" mußte nach Schmoller jetzt eine "sozialpolitisch-reformatorische" oder "centralistische" 62 folgen, eine "Zeit der Reform, der Gesetzgebung auf sozialem Gebiet, eine Zeit der Zusammenfassung

56

Schmoller, Gustav: Die Arbeiterfrage, in: Preußische Jahrbücher, X I V (1864), Teil I, S.393-424, hier S.417. 57 Schmoller, Gustav: Die Arbeiterfrage, in: Preußische Jahrbücher, X V (1864-65), Teil III, S.32-63, hier S.62 f. 58 Siehe zur sozialgeschichtlichen Darlegung dieser Krise Lenger, Friedrich: Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800, Frankfurt a.M. 1988, S.l 10-114. 59 Vgl. Teuteberg, Hans-Jürgen: Die Doktrin des ökonomischen Liberalismus und ihre Gegner dargestellt an der prinzipiellen Erörterung des Arbeitsvertrages im 'Verein für Socialpolitik' 1872-1905, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Bd. II Die rechtliche Verselbständigung der Austauschverhältnisse vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung und Doktrin, hrsg.v. Helmut Coing u. Walter Wilhelm, [= Studien zur Rechtswissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts, Bd.2], Frankfurt a.M. 1977, S.47-73, hier S.52. 60 Schmoller (1870), S.660 f. 61 Vgl. O'Brien, John C.: Gustav von Schmoller: Social Economist, in: International Journal of Social Economics, 16/11 (1989), S. 17-45, bes. S.32-38; ferner Backhaus, Jürgen G.: Gustav von Schmoller and Social Economics, in: International Journal of Social Economics, 16/11 (1989), S.6-16. 62 Schmoller (1881a), S.l4.

1. Das wissenschaftliche und politisch-praktische Ziel Schmollers

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aller Kräfte", die die gesamte Volkswirtschaft immer mehr auf den "Boden des Rechts und der Gerechtigkeit" 63 stellte. Fassen wir zusammen: Die in den 1860er und 1870er Jahren in Deutschland vorherrschende klassische ökonomische Doktrin, die eine wirtschaftsliberalistische Position vertrat, konnte nach Schmoller die durch den Industrialisierungsprozeß evozierten neuen sozialen und ökonomischen Herausforderungen aufgrund ihrer Vorstellung eines selbsttätig wirkenden, invarianten Gesellschaftsmechanismus, der nach der Mandevilleschen Formel der private vices, public benefits glaubte, durch die egoistische Verfolgung privater Interessen das Gemeinwohl optimieren zu können, nicht adäquat beantworten. Weder war sie in der Lage, anhand ihres Methodenarsenals und ihrer Lehrsätze die gesellschaftliche Wirklichkeit angemessen widerzugeben, noch ermöglichte sie, die sich in Auflösung befindlichen gesellschaftlichen Traditionen in ein wissenschaftliches Konzept einzubinden, das diesen Auflösungsprozeß hätte erklären und verstehen können. Der Grund ihres Scheiterns lag vornehmlich in der fehlenden ethischen Fundierung der Volkswirtschaftslehre und dem mangelnden Verständnis ihrer historischen Gebundenheit. Deswegen sollte diese privatwirtschaftliche Betrachtung durch eine "volkswirtschaftliche" ersetzt werden, 64 in der die "großen Fragen der Gegenwart" zwar durchaus theoretisch angegangen werden durften, ihre Ergebnisse aber zugleich "als Leuchte dem praktischen Leben" hätten dienen können.65 Für Schmoller war es geradezu ein sittliches Postulat, die wissenschaftlich gewonnene Erkenntnis in den Zusammenhang der Ziele des menschlichen Lebens überhaupt zu stellen, der über die Ziele einzelner Individuen hinausreiche: "Der Jurist und der Historiker, der staatswissenschaftliche und philosophische Denker kann nur als Sohn seiner Zeit und seines Volkes fühlen und denken; die Ideale [...] sind nicht seine Erzeugnisse, sondern die der ihn umgebenden Gesellschaft; er steht um so höher, je mehr er nicht sein individuelles Leben, sondern das Leben seines Volkes, seiner Zeit, das Leben der Menschheit in seinem 63

Schmoller (1881 a), S. 16. Vgl. zu dieser weit verbreiteten Ansicht innerhalb der historischen Schule der Nationalökonomie die Studie von Gehrig, Hans: Die Begründung des Prinzips der Sozialreform. Eine literarisch-historische Untersuchung über Manchestertum und Kathedersozialismus, [= Sozialwissenschaftliche Studien, Heft 2], Jena 1914, S.275 ff., bes. S.279. 65 Dieser Gedanke kommt am deutlichsten in Schmollers programmatischem Aufsatz "Ueber Zweck und Ziele des Jahrbuchs", den er anläßlich der Übernahme der Herausgebertätigkeit des Jahrbuchs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 1881 verfaßte, zum Ausdruck. Vgl. Schmoller (1881a), S.2. 64

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Herzen trägt und auslebt."66 So ist der Wissenschaftler fiir Schmoller immer schon selbst ein Teil des Problems, welches er untersuchen und erkennen will.

2. Die Volkswirtschaftslehre als historisch-ethische Wissenschaft 2.1. Schmollers holistischer Ansatz einer 'Wissenschaft vom Menschen' Das ganzheitliche Verständnis der Volkswirtschaftslehre als einer Wissenschaft, die nicht nur ökonomische, sondern im wesentlichen auch kulturelle und ethische Beweggründe menschlichen Handelns zu untersuchen habe, kommt 1874 in Schmollers Erwiderung auf die Streitschrift Heinrich von Treitschkes, Der Socialismus und seine Gönner* 1, in der jener die Ausführungen Schmollers zur Beziehung von Staat und sozialer Frage 68 kritisierte, zum Ausdruck. 69 Eine Gesellschaft, so betonte Treitschke in seiner Kritik an Schmollers sozialpolitischen Thesen, die nicht die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Ordnung als unantastbar ansehe, verliere ihre Widerstandskraft gegenüber der Sozialdemokratie als einer potentiell staatsgefährdenden Bewegung.70 Gerade weil die historische Schule anstrebe, alle politischen Institutionen in den "Fluß der Zeit zu stellen", d.h. in ihrer historischen Geltung zu relativieren, sei der "frechen Willkür" des Sozialismus kein Einhalt mehr geboten, weil die Institution des Staates nicht mehr als eine feste Bastion gegen diese Herausforderung dienen könne. 66

Schmoller (1881a), S.3. Treitschke, Heinrich v.: Der Socialismus und seine Gönner. Nebst einem Sendschreiben an Gustav Schmoller, Berlin 1875; zuerst in: Preußische Jahrbücher, X X X I V (1874), S.67-110 u. S.248-301. Siehe ferner Treitschkes Erwiderung auf Schmollers Repliken Treitschke, Heinrich v.: Die gerechte Vertheilung der Güter. Offener Brief an Gustav Schmoller, in: Preußische Jahrbücher, X X X V (1875), S.409-447. 68 Vgl. Schmoller, Gustav: Die sociale Frage und der preußische Staat, in: Preußische Jahrbücher, X X I I I (1874), S.323-342. 69 Müssiggang macht zu Recht darauf aufmerksam, daß in dem Disput zwischen Schmoller und Treitschke die Konfrontation zweier ideologischer Prinzipien zur Lösung der "sozialen Frage" ausgetragen worden ist. Vgl. Müssiggang (1968), S.137. Zum Treitschke-Schmoller-Streit siehe ferner Small , A.W.: The Schmoller-TreitschkeControversy, in: The American Journal of Sociology, 30 (1924/25), S.49 ff. 70 Siehe bereits die Kritik Treitschkes an den Vertretern der frühen Sozialwissenschaften in Deutschland (v. Stein, v. Mohl, Riehl) in seiner Habilitationsschrift. Vgl. Treitschke, Heinrich v.: Die Gesellschaftswissenschaften. Ein kritischer Versuch (1859), Halle a.d.S. 21927. Siehe hierzu die Ausführungen von Riedel, Manfred: Der Staatsbegriff der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zur klassisch-politischen Philosophie, in: Der Staat, 2 (1963), S.41-63, hier S.45 ff. 67

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Schmoller hielt Treitschke entgegen, daß er in dem bloßen Fortbestand einer Institution keinen sittlichen Vorzug erkennen könne.71 Im Gegenteil war die Gesellschaft für ihn doch gerade ein Mechanismus, der sich mit Hilfe sozialtechnokratischer Mittel regeln ließe. Insbesondere die Sozialpolitik gab als ein Instrument der Versittlichung von Herrschaft ein gutes Beispiel für die Veränderbarkeit einer Wirtschaftsordnung ab.72 Wichtiger jedoch als die bloße Institution des Staates war dasjenige, worin dieser letztlich gründe, nämlich "die Gemeinsamkeit der Sprache, der Geschichte, der Erinnerungen, der Sitten und Ideen", die auf der Grundlage gemeinsamer "psychologischer Triebe" eine "GefÜhlsund Ideenwelt", eine "objektiv gewordene gemeinsame Lebensordnung" bildeten.73 "Es ist", so Schmoller, "das gemeinsame Ethos, wie der Grieche das in Sitte und Recht krystallisirte sittlich-geistige Gemeinbewußtsein nannte, das alle Handlungen der Menschen also auch die wirthschaftlichen beeinflusst." 74 Der Begriff des Ethos ist für Schmollers Verständnis der Volkswirtschaftslehre zentral. Er kennzeichnet die durch sittliche und moralische Normen bestimmte Art eines Menschen oder eines Volkes, Überzeugungen und Verhaltensweisen zu erwerben. Diese Fähigkeit ist nicht nur in der naturgegebenen Vernunft des Menschen begründet, sondern auch durch Gewohnheit, Übung und Anpassung an Traditionen befestigt und legitimiert. In dieser doppelten Herkunft liegt die wesentliche kulturanthropologische Konnotation, in der mit Ethos die Gesamtheit der von einem Volk als verbindlich gelebten Leitbilder und Verhaltensmuster bezeichnet wird. Man könnte diesen Vorgang mit Bubner die "gesellschaftliche Institution des Ethos" 75 nennen. Das Ethos stellt das dar,

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Schmoller, Gustav: Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft. Ein offenes Sendschreiben an Herrn Professor Heinrich von Treitschke, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 23 (1874), S.225-349 u. 24 (1875), S.81-119; wieder abgedruckt in ders. : Über einige Grundfragen der Socialpolitik und der Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1898, S.l-211, hier S.40 f. Dort findet sich auch das TreitschkeZitat. 72 "Die neuere Technik, die großen Maschinen sind uns unentbehrlich; die Frauenund Kinderarbeit aber, die Art der bestehenden Arbeitsverträge, die Art, wie das Gesamtprodukt der Fabrikindustrie verteilt wird [...] - das alles ist nicht mit den technischen Tatsachen des Maschinenbetriebs an sich gegeben, das hängt von Sitte und Recht, von den Kulturideen der Zeit ab." Schmoller (1874b), S.55. 73 Schmoller (1874b), S.254. 74 Schmoller (1874b), S.254. 75 Bubner, Rüdiger: Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, Frankfurt a.M. 1984, S.l79. Bubner charakterisiert dort treffend: "Die Ausbildung des Ethos sorgt dafür, daß die durch Wiederholung eingeschliffenen Handlungsvollzüge im großen und ganzen der Kontingenz trotzen, der sie im Einzelfall nie zu entrinnen vermögen. Indem die Praxis sich zu gewissen Formen des Ethos organisiert, macht sie die Kontingenz zu

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was Schmoller als 'den einheitlichen Volksgeist', eine innere psychisch-moralische Verbindung von Menschen76 bezeichnet: "Eine Summe einheitlicher Gefühle beseelt das Volk, eine Summe einheitlicher Vorstellungen ist über die Schwelle des nationalen Bewußtseins getreten und erzeugt das, was wir den 'einheitlichen Volksgeist' nennen; er drückt sich in einheitlichen Sitten, Strebungen und Willensakten aus, beherrscht das Tun und Treiben aller einzelnen, auch nach ihrer wirtschaftlichen Seite."77 Ähnlich wie bei Wilhelm Roscher und Karl Knies soll nun das Präfix Volk in der Bezeichnung Volkswirtschaft die Sprach- und Kultureinheit einer nationalen Wirtschaft ausdrücken, die als "Einheit der Sitten" verstanden wird. 78 Die Volkswirtschaft ist die wirtschaftliche Seite der Entstehung des "gesellschaftlichen Körpers", der "wirtschaftliche Inbegriff der in einem Staate vorhandenen, teils neben-, teils übereinander stehenden und aufeinander angewiesenen Einzel- und Korporationswirtschaften". 79 Die Bezeichnung Volkswirtschaft 80 ist für Schmoller demzufolge ein organischer Begriff, der nicht nur alle Einzelwirtschaften eines Volkes umfaßt: Er ist mehr als die Summe seiner Teile! Er bezieht sich nicht allein auf die psychologische Begründung selbstsüchtigen Zweckstrebens, wie Schmoller dies allen Anhängern der ökonomischen Klassik unterstellt, 81 sondern auf das Ethos eines Volkes, weil auch die wirtschaftliche Lebensordnung - als eine historisch gewordene - im 'sittlich-geistigen Gemeinbewußtsein' gründen muß. Das Ethos resultiert aus den anthropologisch ineiner vernachlässigwerten Größe. Im Schutze jener biegsamen Formen wird Praxisvollzug wieder und wieder möglich, gleichgültig wie die unabsehbare Konstellation der Randbedingungen von Fall zu Fall aussehen mag. Ethos depotenziert Kontingenz. " 76 Schmoller (1949), S.10 f. 77 Schmoller (1949), S.l l. 78 "Das Wort 'Volk'", so Schmoller, "ist dabei gebraucht einerseits als der Inbegriff der Vorstellungen über das, was die Glieder eines populus, einer natio eint, andererseits als der Stellvertreter für alle Arten innerer psychisch-moralischer Verbindung von Menschen." Schmoller (1949), S.10. 79 Schmoller {\9A9\ S.10 u. 12. 80 Schmoller weist auf den von ihm bewußt vollzogenen Wechsel von der noch kameralistisch geprägten Disziplinbezeichnung 'Staatswirtschaftslehre' zu 'Volkswirtschaftslehre' hin. Während die Bezeichnung 'Staatswirtschaft' den Eindruck hatte erwecken können, als ob die Staatsgewalt alle wirtschaftlichen Prozesse zu lenken hätte und in Schmollers Vorstellung damit wohl in zu starke Nähe zu sozialistischen Ideen gerückt war, verweise der Begriff 4 Volkswirtschaft' auf eine gesamtgesellschaftliche Konnotation. 81 Vgl. Schmoller (1874b), S.43 f., Anm.l. Schmoller sieht vor allem die Lehre Adam Smiths psychologisch fundiert: "Die ganze Lehre vom Egoismus als der Triebkraft der Volkswirtschaft ist nichts als ein roher Versuch, sich mit dem Bedürfnis einer psychologischen Begründung der Nationalökonomie abzufinden."

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Varianten psychischen Triebkräften, zu denen auch die wirtschaftliche Tätigkeit zählt, wie aus den Üblichkeiten volkswirtschaftlicher Abläufe, die immer schon durch die historisch gegebenen Lebensordnungen, die Traditionen eines Volkes bestimmt sind.82 Eine Volkswirtschaft, deren bestimmende Faktoren in den psychologischen und sozio-historischen Elementen gesehen werden, darf somit nicht, wie es in der klassischen Theorie üblich war, einer ihre Teilbereiche isolierenden Analyse unterzogen werden, sondern muß deren stete Wechselwirkung berücksichtigen. Das Aufgabenfeld der Wissenschaft von einer solchermaßen charakterisierten Volkswirtschaft, einer Volkswirtschaftslehre, kann demnach nicht nur ein weitgespanntes sein, sondern muß einer notwendig ganzheitlichen oder, mit dem niederländischen Sozialphilosophen J.C. Smuts zu reden, einer holistischen Weltanschauung83 folgen. Denn auch für Schmoller streben alle kulturellen "Daseinsformen" danach, "Ganzheiten" zu sein, wobei die neu entstehende Ganzheit immer schon eine alte in ihren Bestandteilen enthält, ohne sich jedoch in ihr zu erschöpfen: Sie ist ein "wesenhaft Neues".84 So ist das "höchste konkrete Ganze" bei Schmoller das "Volk" oder, wie bei Knies, die "Persönlichkeit". "Sie [die Volkswirtschaftslehre, d.Verf.] ist die Wissenschaft, welche die volkswirtschaftlichen Erscheinungen beschreiben, definieren und aus Ursachen erklären sowie als ein zusammenhängendes Ganzes begreifen will" 8 5 . In ihrer Beschreibung der Arbeitsteilung und -organisation, des Verkehrs, der Einkommensverteilung analysiert sie eine "Statik der gegenwärtigen wirtschaftlichen Kulturwelt", eine Art "durchschnittliche Verfassung" derselben.86 Die Volkswirtschaftslehre soll aber nicht nur "statisch" die Formen wirtschaftlicher Organisation beschreiben, sondern auch dynamisch die kausale Entwicklung der Formen und die historische Aufeinanderfolge wirtschaftlicher Vorgänge erklären. 87 Sie soll einerseits die volkswirtschaftlichen Erscheinungen der Kulturwelt zunächst äußerlich in den Zusammenhang natürlicher, d.h. kulturgeographischer, biologischer, und kultur-anthropologischer Entwicklung stellen, die gleichsam die Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Abläufe sind. Diese natür-

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Schmoller hebt hervor, daß das "psychologische Element" in der Volkswirtschaftslehre für ihn durchaus dasselbe meine wie das "ethische". Denn "die psychologischen Faktoren sind die Quelle dessen, was ich meine, das Ethos ist das Produkt". Schmoller (1874b), S.43 Anm.l. 83 Vgl. Smuts , Jan Christiaan: Die holistische Welt, Berlin 1938. 84 Smuts (1938), S.X u. XVI. 85 Schmoller (1949), S.14. 86 Schmoller ( 1949), S. 15. 87 Schmoller (\9A9), S.15. 5 Nau

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liehe Entwicklung muß in der Folge aber in den Zusammenhang der gesellschaftlich-historischen, politisch-moralischen und psychologischen Verfaßtheit der Menschheit in ihrer Epoche gebracht werden, um das "Werden" einer Volkswirtschaft nachvollziehen zu können.88 In einem Ausblick am Schluß seines Grundriss(es) der Volkswirtschaftslehre stellt Schmoller die Forderung nach einer ganzheitlich orientierten Volkswirtschaftslehre noch einmal in den Kontext seines sozialpolitischen Anliegens als Volkswirt. Die neuere wirtschaftliche Kultur, die ihren adäquaten Ausdruck in einer entwickelten Geldwirtschaft und ihren modus vivendi in der vollen Entfaltung des Erwerbstriebs gefunden habe, ist nach Schmoller Ausdruck der Ausbildung der Individualität des modernen Menschen, der in seiner Subjektivität erst die geistige und politische Kultur - etwa auch in Form volkswirtschaftlicher Institutionen - geschaffen habe, der man den gesellschaftlichen Fortschritt verdanke. Die Kehrseite dieser Entwicklung sei jedoch die Verselbständigung des individualisierten Erwerbstriebs mit seinen negativen Folgen der sozialen Habsüchtigkeit, der sozialen Kämpfe und politischen Korruption, die fernab des eigentlichen Telos die Dialektik dieser Entwicklung vor Augen führten. Daher gehöre es zu den genuinen Aufgaben der Volkswirtschaftslehre, nicht nur durch das Aufzeigen der historischen Entwicklung die "Aufgabe des Fortschritts" zu verstehen, sondern auch durch das Aufzeigen wirtschaftspolitischer Maßnahmen die Möglichkeit ihrer Regulierung und Korrektur durch soziale Reformen zu ermöglichen. Genau dies ist für Schmoller die "psychologisch-moralische Grundfrage der Volkswirtschaftslehre" 89. Schmoller schwebte das vor, was Wilhelm Dilthey als die "Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat"90 bezeichnete, ein Topos, der auf die aristotelische Tradition der Wissenschaft von der menschlichen Lebensführung rekurrierte, der in der Literatur des 18. Jahrhunderts aber bereits in einer anthropologischen Konnotation verwendet wurde. 91 Im 19. Jahrhundert sollte er gegenüber der von Materialismus und Rationalismus induzierten Gefahr einer positivistischen Zerfledderung ihres Sujets noch einmal die Zusammenge88

Schmoller (\9^9\ S.6. Schmoller ( 1900/04), 2.Teil, S.678. 90 Dilthey , Wilhelm: Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.V.: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, Leipzig-Berlin 2 1924, S.31-73. 91 Vgl. Schings, Hans-Jürgen (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, [= Germanistische Symposien Berichtsbände, XV], Stuttgart-Weimar 1994. 89

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hörigkeit der Staats- und Gesellschaftswissenschaften aufgrund einer anthropologischen und psycho-physischen Grunddisposition des Menschen formulieren. Die Nationalökonomie als eine Wissenschaft vom Menschen sollte sich die Aufgabe setzen, die Entwicklung von Sitte, Recht und Institutionen zu verstehen, die "Gesamtwirkung seelischer Kräfte" zu erkennen, um damit dem Menschen Orientierung in einer immer komplexer werdenden Wirklichkeit zu geben und ihm seinen "Platz in der Geschichte" zuzuweisen.92 Denn immer stünden theoretische Überlegungen in einem Nexus zu politisch-praktischen Verhältnissen, weshalb Erkenntnisse der Gesellschaftstheorien auch immer "halb politischpraktische, halb theoretische Leistungen" seien: "Das letzte Ziel aller Erkenntnis ist eben ein praktisches; der Wille bleibt immer der Regent und Herrscher über den Intellekt." 93 Die große Leistung der historisch-ethischen Schule der Nationalökonomie bestand für Schmoller deswegen darin, "das Verhältnis des Menschen in Bezug auf den Erwerb, Besitz, Gebrauch der irdischen Güter" nicht "von den Bedingungen des Raumes, der Zeit und der Nationalität", deren Begründung "nicht allein, aber vorzugsweise in der Geschichte" gefunden werden konnte, getrennt zu haben.94 Da die Kulturwerte sich wandeln, muß die Ökonomie ein Teil einer allgemeinen Wissenschaft von der Kultur werden, deren Kenntnis den Horizont bildet, vor dem sich die Frage der ethischen Rechtfertigung überhaupt erst sinnvoll stellen läßt.95 Mit ihren auf die Psychologie und die Ethik gestützten volkswirtschaftlich-historischen Untersuchungen stellte die historische Schule die Volkswirtschaftslehre wieder in den Zusammenhang der Kultur: "Die heutige Volkswirtschaftslehre ist zu einer historischen und ethischen Staats- und Gesellschaftsauffassung im Gegensatz zum Rationalismus und Materialismus gekommen. Sie ist aus einer bloßen Markt- und Tauschlehre, einer Art Geschäftsnationalökonomie, welche zur Klassenwaffe der Besitzenden zu werden drohte, wieder eine große moralisch-politische Wissenschaft geworden, welche neben der

92

Schmoller ( 1898b), S.322. Schmoller (1898b), S.335. 94 Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der nationalökonomischen Ansichten in Deutschland während der Reformationsperiode, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 16 (1860), S.461-716, hier S.462 f. 95 So bei Roscher: "Wir verstehen die Nationalökonomik, Volkswirtschaftslehre, die Lehre von den Entwicklungsgesetzen der Volkswirtschaft, des wirtschaftlichen Volkslebens. [...] Sie knüpft sich, wie alle Wissenschaften vom Volksleben, einerseits an die Betrachtung des einzelnen Menschen an; sie erweitert sich auf der anderen Seite zur Erforschung der ganzen Menschheit." Roscher, Wilhelm: Ansichten der Volkswirtschaft aus dem geschichtlichen Standpunkt, Bd.l, Leipzig-Heidelberg 31878, S.30. 93

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Produktion die Verteilung der Güter, neben den Werterscheinungen die volkswirtschaftlichen Institutionen untersucht, welche statt der Güter- und Kapitalwelt wieder den Menschen in den Mittelpunkt der Wirtschaft stellt." 96 Wie für Wilhelm Roscher wird auch für Schmoller die dringendste politisch-praktische Aufgabe der 'Wissenschaft vom Menschen', über dem Reichtum nicht den Menschen selbst zu vergessen, was bei Albert E.F. Schaefïle auf die Formel von der "chrematistischen zur ethisch-anthropologischen" 97 Wissenschaft gebracht worden war. Und damit erscheint sie ihren Verfechtern letztlich als geeignet, jene "socialen Fragen" zu beantworten, die dem "kommenden Jahrhundert" seine Signatur aufprägen würden, wie nämlich "Individual- und Gesamtinteressen, Freiheit und Gerechtigkeit, Besitz und Arbeit, die aristokratische Stellung der Mächtigen und Reichen und die demokratische der Massen zu versöhnen sei-

2.2. Idee und Funktion der Gerechtigkeit Nach Schmoller schafft sich der Mensch durch seine Fähigkeit zu einer sittlichen Lebensführung in der Natur eine zweite Welt: die "Welt der Kultur", und die Kultur ist "die ewig neue Offenbarung des Geistes im natürlichen Leben" 99 . Zu dieser Welt der Kultur gehöre auch die Volkswirtschaft, 100 die "stets zugleich ein Stück Naturgestaltung durch den Menschen und ein Stück Kulturgestaltung durch die fühlende, denkende, handelnde, organisierte Gesellschaft" 101 sei. Die Sitte bilde hierbei jene konstitutive Grundlage der Kultur, ohne die eine Wirtschaftsgesellschaft nicht bestehen könne, ohne sie gebe es "keinen Markt,

96

Schmoller (1898b), S.337 f. Schaeffle, Albert E.F.: Mensch und Gut in der Volkswirtschaft, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1885, S.l58 ff., hier S. 161. Vgl. zu Schäffles Position auch Priddat, Birger P.: Produktion und Gesittung. Über Ethik und Ökonomie. Das Aristotelische Design einer sittlichen Ökonomie in der 2.Hälfte des 19. Jahrhunderts bei A.E.F. Schaeffle, [= Diskussionsbeiträge und Berichte des Instituts für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg, Schriften Nr.9], Hamburg 1986; wiederabgedruckt in ders. : Der ethische Ton der Allokation. Elemente der Aristotelischen Ethik und Politik in der deutschen Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts, [= Nomos Universitätsschriften Wirtschaft, Bd.6], Baden-Baden 1991, S.l45-180. 98 Schmoller (\ 898b), S.342. 99 Schmoller (1900/04), l.Teil, S.l87. 100 Schmoller (1874b), S.47. 101 Schmoller (1949), S.l5. 97

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keinen Tausch, keinen Geldverkehr, keine Arbeitsteilung [...] kein Staatswesen." 102 Die Sitten eines Volkes manifestieren sich nach Schmoller in Institutionen, wobei der Begriff der Institution in einem denkbar weitgefaßten Zusammenhang verwendet wird. Er kann die geläufigen Formen wie den Markt, die Unternehmen oder den Staat umfassen, aber auch sittliche Konventionen und habituelle Eigenarten. In diesem Zusammenhang erkennt Schmoller zunächst zweierlei. Methodisch gesehen erhält er ein Untersuchungsobjekt volkswirtschaftlicher Forschung, die historisch vorgehen muß, um den Wandel der Institutionen erfassen zu können. Gesellschaftspolitisch gesehen findet Schmoller in Institutionen eine konkrete gesellschaftliche Konstellation vor, die überhaupt sozialer Reform zugänglich ist. Das Korrektiv zum "einmal Gewordenen" von Institutionen bildet für Schmoller die "Idee der Gerechtigkeit" als das "Grundprinzip der Sozialreform schlechthin"103. Die Notwendigkeit eines derartigen Korrektivs sieht Schmoller in Abgrenzung zur Gerechtigkeitsvorstellung der klassischen Nationalökonomie.104 Kann es eine gerechte Verteilung wirtschaftlicher Güter geben, wenn die naturrechtliche Vorstellung der "natürlichen Freiheit und Gerechtigkeit" aller vorherrscht, die David Ricardo in den prinzipiell gleichen Voraussetzungen erkennt, die jeweiligen Glücksvorstellungen in freier, individueller Konkurrenz zu erfüllen? 105 Kann es eine Verteilungsgerechtigkeit geben, wenn die Güterverteilung über den Markt in Form eines Ausgleichs von Angebot und Nachfrage gewährleistet, die Einkommensverteilung letztlich durch die "Kraft und das Glück des Einzelnen" vorgenommen wird und der freie Verkehr als das "Analogon des Darwinschen Kampfes ums Dasein" 106 erscheint? Der Fehler der ricardianischen Verteilungslehre liegt für Schmoller vornehmlich darin, eine historisch begrenzte Erscheinung vorschnell generalisiert zu haben. Das Menschenbild der klassischen Schule unterstelle zwar einen universellen Typus, doch hypostasiere sie lediglich den Typus einer bestimmten Wirt-

102

Schmoller (1874b), S.47. Vgl. Seifert, Eberhard K : Schmoller on Justice - Today, in: International Journal of Social Economics, 16/11 (1989), S.69-92. 104 Siehe hierzu insbesondere Priddat , Birger P.: Schmoller on Ethics and Economics, in: International Journal of Social Economics, 16/11 (1989), S.47-68. 105 Vgl. Schmoller, Gustav: Die Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft, in: Schmollers Jahrbuch, 5 (1881), S.19-54, hier S.19 f. 106 Schmoller (1881b), S.34. 103

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schaftsordnung, nämlich den der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft. 107 Damit bilde die klassische Theorie freilich nicht die anthropologische Substanz des Wirtschaftsmenschen, nicht seine überzeitliche Konstitution schlechthin ab, sondern nur den auf die selbstsüchtige Optimierung seiner BefÜrfhisbefriedigung ausgerichteten Typus des wirtschaftlich Handelnden. Gerade in seiner egoistischen Haltung ist dieser Typus der Ausdruck einer Epoche der Konkurrenz, des Klassenkampfs, des Profits. Diese Sichtweise suggerierte für Schmoller denn auch sozialpolitische Machtlosigkeit und ethische Gleichgültigkeit, da, was prätendierte, ewig zu währen, sich letztlich jeder Reform verschließen mußte. Die Verquickung von theoretischer Determinierung und sozialpolitischer Ohnmacht ist somit verantwortlich dafür, daß die "reine Theorie" der Klassik für die historische Schule zur Ideologie des modernen Kapitalismus, zur Apologie von Egoismus, zur Theorie der - im Wortsinne - herrschenden Interessen wurde. 108 Das für die Gerechtigkeit konstitutive Prinzip der Gleichheit bestehe für die klassische Schule in der Proportionalität der Rechte und Pflichten der Wirtschaftssubjekte; darum unterstelle sie zur Abwägung aller Eigenschaften ein "Durchschnittsresultat aller Menschen"109. Gleiche Rechte sind für Schmoller hingegen nur zu gewährleisten, sofern tatsächlich gleiche Eigenschaften die Möglichkeit gleicher Leistung ermöglichen. Die Beurteilung, ob und inwieweit diese gleichen Voraussetzungen quantitativ und qualitativ gegeben sind, ist aber theoretisch - im Sinne von objektiv - nicht möglich, sondern unterliegt psychologischen Einflüssen. Schmoller erkennt in diesen eine "rhythmische Massenbewegung"110, in der "konventionelle herrschende Werthmaßstäbe" die Basis für eine objektiv gültige Vorstellung von Gerechtigkeit bildeten: "Jede Zeit hat konventionell herrschende Werthmaßstäbe über Eigenschaften und Handlungen, Tugenden und Laster der Menschen."111 Alle letzten Gerechtigskeitsentscheidungen lägen "im Gemüthsleben, im innersten Centrum des menschlichen See-

107

Vgl. zu Schmollers Kritik an den Irrtümern des ökonomischen Liberalismus Reheis, Fritz: The Just State: Observations on Gustav von Schmoller's Political Theory, in: International Journal of Social Economics, 16/11 (1989), S.93-100, hier S.93 f.; siehe ferner dazu den Diskussionsbeitrag von Seifert, Eberhard K : Comment on Dr.Reheis' Article, in: International Journal of Social Economics, 16/11 (1989), S. 101-105. io« Ygj Prisching, Manfred: Schmollers Gesellschaftstheorie, in: BocklHomannl Schiera (1989), S.185-219, hier S.195. 109 Schmoller {1881b), S.27. 110 Während die ökonomische Klassik darin lediglich ein "psychologisches Chaos" erblicke. Schmoller (1881b), S.29. 111 Schmoller (1881 b), S.29.

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lenlebens"112. Die Legitimität volkswirtschaftlicher Institutionen ist demnach nur dann gegeben, wenn diese eine Konsequenz der 'erfühlten Gerechtigkeit' verkörpern: "Was sind die volkswirtschaftlichen Institutionen aber anderes als ein Produkt menschlicher Gefühle und Gedanken, menschlichen Handelns, menschlicher Sitte und menschlichen Rechts?"113 Aber auch die 'erfühlte Gerechtigkeit' bedarf in einem Zeitalter, das durch den Übergang der herrschenden Konventionen von der Kleingemeinschaft Familie - auf die entstehenden Großgemeinschaften - Unternehmungen - gekennzeichnet ist, eines regulativen Prinzips, das in einer neuen 'sittlichen Gemeinschaft' aufgehoben ist. Die wirtschaftliche Interessenverfolgung, die egoistische Befriedigung privater Interessen wie auch die sittliche Selbstdisziplinierung sollen Hand in Hand mit dem Ziel ihrer kulturellen Verschmelzung gehen: "Und darin liegt ja", so Schmoller, "der Gegensatz zwischen sittlichem und wirtschaftlichem Werthe. In der gewöhnlichen wirtschaftlichen Werthschätzung haben Thätigkeiten und Erzeugnisse in dem Maße Werth, als die Einzelnen sie zur Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfiiisse begehren. Von der sittlichen Werthschätzung, von der das Urteil über das Gerechte ausgeht, empfangen die Thätigkeiten der Einzelnen ihren Werth nach dem inneren Zweck des Ganzen [...] Beide Werthschätzungen gehen im Leben nebeneinander her, bekämpfen und beeinflussen sich [...] Sie nähern sich in dem Maße, als die Menschen vollkommener werden." 114 Das handlungsleitende Prinzip dieser Annäherung ist die "Idee der Gerechtigkeit", die in ihrem Fortschreiten sich selbst verwirklicht. 115 Die Vehikel dieser Entwicklung sind die praktischen Institute "Sitte und Recht", mittels derer sich über Generationen hinweg Vorstellungen von Gerechtigkeit in einer Gesellschaft erhalten lassen.116 Sie perpetuieren die Frage nach der gerechten Verteilung durch ihre bloße Existenz, indem ihnen gleichermaßen auch die Macht zukommt, Zuwiderhandlungen - sei es moralisch nach innen, sei es rechtlich nach außen - zu sanktionieren. Ein Gedanke, der an die Gerechtigkeitsvorstellung der Rechts- und Staatslehre des preußischen Konservativismus eines Friedrich Julius Stahl erinnert, der in der Gerechtigkeit gleichfalls eine Idee sah, die dem

112

Schmoller (1881b), S.32. Schmoller ( 1881b), S.37. 114 Schmoller ( 1881b), S.41. 115 Brinkmann (1937), S.53-63. 116 "Sitte und Recht sind es, welche den sittlichen Ideen Dauer und Stetigkeit verleihen, die Übereinstimmung größerer Massen von Menschen über das Sein sollende herbeizuführen." Schmoller (1881b), S.43. 113

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gesamten Recht zur Grundlage dient und ihm "das Siegel der Unverbrüchlichkeit erteilt". Auch hier ist sie eine sittliche Garantiemacht, die "auf unverbrüchliche Aufrechterhaltung einer gegebenen ethischen Ordnung" gerichtet ist, indem sie zwei Funktionen erfüllt: die der "schützenden Macht, die das erteilte Recht sowohl den anderen Menschen als ihr selbst gegenüber unverletzbar verbürgt" und die der "vergeltenden Macht, die je nach Erfüllung oder Übertretung Lohn oder Strafe verhängt". 117 Für Schmoller sichert das Recht die Existenz der Individuen und der Gemeinschaft, indem es Normen festschreibt, die zugleich den Freiraum bilden, in dem sich die Kreativität der Menschen entfalten kann. Die dem Recht zugrundeliegenden "Werthurteile" müssen sich jedoch zu einem festen konventionellen Maßstab verdichtet haben, der als "mittlerer einfacher Ausdruck für an sich komplizierte mannigfache Verhältnisse" 118 dienen kann. Schmoller betrachtet das begrifflich formale, positive Recht als Ausdruck der Konventionalisierung bloßen Rechtsgefühls. Dabei bleibt sich Schmoller der Paradoxien dieses, wie er nicht müde wurde zu beteuern, zivilisatorischen Fortschritts, der den Individuen in einer immer arbeitsteiligeren und verflochteneren Gesellschaft Freiräume schafft, durchaus bewußt. Denn in der Absicht, eine "durchschnittliche Gerechtigkeit" zu erhalten, muß im Verfahren z.B. der Rechtsgüterabwägung ein Kompromiß gefunden werden, der durchaus auch materielle Ungerechtigkeit beinhalten kann, denn "die Mechanik des positiven Rechts begrenzt jede Durchführung der materiellen Gerechtigkeit. Es giebt nur ein formales Recht um den Preis theilweiser materieller Ungerechtigkeit." 119 Eine ähnliche Ambivalenz ist nach Schmoller auch der Arbeitsteilung selbst beschieden, die zwar einerseits die Menschen von den Dingen selbst unabhängiger mache, andererseits aber ihre wechselseitige Abhängigkeit steigere. 120 Die anonymisierten Verhältnisse einer entwickelten Geldwirtschaft verlieren dann auch die sozio-kulturelle Kontrolle und Bindung, die in einfacheren Gesellschaftsformationen noch wirksam sind. Mit der Verringerung der sozialen Kontrolle von Kleingruppen geht gleichfalls das unmittelbare Verantwortungsgefühl des Einzelnen verloren: die sittlichen Verpflichtungen aus den wechselseitigen sozialen Bindungen erlöschen. An ihre Stelle treten die Institutionen. 117 Zitiert nach Loos, F JSchreiber, H.-LJWelzel, H.: Art. Gerechtigkeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.3, Darmstadt 1974, S.329-338, hier S.335. 118 Schmoller {1881b), S.45. 119 Schmoller {1881b), S.45. 120 Schmoller (1874a), S.76.

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Volkswirtschaftliche Institutionen, d.h. "Komplexe von Regeln der Sitte und des Rechts, welche Gruppen zusammen arbeitender und zusammen lebender Menschen nach bestimmten Seiten hin beherrschen" 121, müssen mit den "jeweils herrschenden" sittlichen und "religiösen" Idealvorstellungen der Gerechtigkeit in Einklang stehen.122 Die historische Veränderlichkeit von Institutionen123 führt daher nicht zu einer politischen Indifferenz, wie Treitschke befürchtete, nicht zu einer passiven Akklamation des einmal Gewordenen; sie ist kein Zeichen menschlicher Ohnmacht gegenüber einem geheimnisvollen Prozeß der Vergesellschaftung, wie er sich hinter der 'invisible hand' eines Adam Smith vielleicht verbergen mochte. Vielmehr überträgt sie den Individuen Verantwortlichkeit, weil sie die Chance eröffnet und, vor allem, die Verpflichtung auferlegt, eigene Wertvorstellungen in den gesellschaftlichen Formierungsprozeß in dem Bewußtsein einfließen zu lassen, der 'Gerechtigkeit' zu dienen. Die "soziale Reform" einer Gesellschaft ist daher keine Aufgabe unter vielen. Sie ist die eigentliche sittliche Aufgabe einer Gesellschaft: "Die dauernden gemeinsamen Zwecke schaffen die Organe. Je höher die Kultur steigt, desto mannigfaltiger wird ihre Zahl und ihre Gestaltung, desto häufiger treten neben die gewordenen die gewillkürten Organe; aus tastenden Versuchen gehen dauernde Bildungen hervor" 124 . So gestaltet sich für Schmoller alles sittliche Leben als ein nie ruhender psychischer Prozess, eine stete Umsetzung von Gefühlen in Vorstellungen und Urteilen, die sich wiederum in Handlungen vollziehen. Dieser Prozeß muß durch die stete Wiederholung gleicher Fälle und gleicher Beurteilung für die Menschen zu einem festen Maßstab der Beurteilung werden, der in seiner praktischen Anwendung gleichsam zur "Durchschnittsregel" 125 allen Handelns wird.

121

Schmoller (1881b), S.49. Schmoller (1900/04), l.Teil, S.61 f. 123 "Die volkswirtschaftliche Organisation jedes Volkes ist kein Naturprodukt, wie man so lange gefaselt, sie ist hauptsächlich ein Produkt der jeweiligen sittlichen Anschauungen über das, was im Verhältnis der verschiedenen sozialen Klassen zu einander das Rechte, das Gerechte sei. Jeder Fortschritt in der volkswirtschaftlichen Organisation war bisher ein Sieg sittlicher Ideen und wird es auch in Zukunft bleiben." Schmoller, Gustav: Zur Social- und Gewerbepolitik der Gegenwart. Reden und Aufsätze, Leipzig 1890, S.55f. 124 Schmoller (1900/04), l.Teil, S.62. 125 Marianne Weber wendet in ihrer Dissertation gegen Schmoller ein, er unterscheide nicht hinreichend zwischen Sitte, Recht und Moral: "Dass Sitte, Recht, Moral nichts innerlich Verschiedenes sind, daß alle drei sittliche Regeln des Handelns geben, die nur verschiedene Executoren: die öffentliche Meinung, den staatlichen Rechtszwang, die innere Selbstbeherrschung haben", sei unhaltbar. Unabhängig von jeder Definition a priori 122

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Diese Regeln erhalten durch Kontroll- und Strafapparate - z.B. Gesetze und Gerichte - ihren autoritativen Charakter. "Sie schärfen täglich und stündlich das Sittliche ein, sie sind gleichsam die geprägte Münze des Sittlichen, die stets umlaufend, stets gebietend und verbietend jede Handlung und jeden Schritt begleitet." 126 In diesem Konzept sittlicher Vergesellschaftung erscheint die Moral nicht als externe oder interne Restriktion wirtschaftlichen Verhaltens, sondern als kollektiv gewähltes, rationales Interesse an gemeinschaftlicher Selbstbindung, als Recht und Moral in Institutionenregeln kodifiziert. An die Stelle der geschichtlichen Gewalt - im Sinne der institutionenlosen Anarchie - sollte die institutionelle "Gestalt" treten. Diese institutionelle Disziplinierung "geschichtlicher Gewalt" ist Schmollers Gegenentwurf zum Geschichtsdeterminismus sozialistischer Provenienz, der den wirtschaftlichen Fortschrittsprozeß geschichtsphilosophisch als einen Verfallsprozeß begreift: "Wenn so die ganze wirthschaftliche Klassenbildung", so Schmoller, "aus Unrecht und Gewalt entspringt, ist die ganze hierauf fußende wirthschaftliche Entwicklung eine beklagenswerthe, muß alles Bestehende vernichtet, ein Neubau aus frischer Wurzel begonnen werden, wenn es besser werden soll?" 127 Schmoller gesteht zwar gegenüber dieser Interpretation durchaus ein, daß der ökonomische Fortschritt ambivalente Züge trägt. Einerseits gebe es ohne Fortschritt keine materielle und kulturelle Verbesserung; andererseits verändere der Fortschritt auch die bestehende sittliche Gemeinschaft und schafft Verteilungskämpfe. "Jeder große Fortschritt, der eine Nation mit vorher ungeahnten Reichtümern überschüttete, bringt die ganze Gesittung des Volkes in Fluß, verändert in der Regel alle bisherigen Gewohnheiten des Handels, des Güteraustausches,

zeige uns die "Beobachtung des realen Lebens [...] einschneidende Konflikte und Widersprüche zwischen dem der 'Sitte' und dem 'öffentlichen Bewußtsein' gemäßen, also heteronom motivierten Verhalten und dem wahrhaft autonomen, nur von der eigenen Stimme diktierten Handeln, das allein das Prädikat 'sittlich' verdient und häufig einen Bruch mit der 'Sitte', wie einen Bruch mit dem positiven Recht [...] verlangt." So könne gerade die kulturgeschichtlich bedingte "Durchschnittsmeinung" weder bezüglich einer Handlungstheorie normativen Gehalt, noch bezüglich einer Erkenntnistheorie einen logischen Wahrheitswert haben. Diese Kritik ist ihr offensichtlich von Max Weber nahegebracht worden, der in seinen Vorlesungen der 1890er Jahre hierauf Bezug nimmt. Vgl. Weber, Marianne: Fichte's Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx'schen Doktrin, [= Volkwirtschaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen, 4.Bd., Heft 3], Tübingen-Freiburg i.Br.-Leipzig 1900, S.28 Anm.2. 126 Schmoller {1900/04), l.Teil, S.49. 127 Schmoller, Gustav: Die sociale Frage und der preußische Staat, in: Zur Socialund Gewerbepolitik der Gegenwart. Reden und Aufsätze, Leipzig 1890, S.37-63.

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des gesellschaftlichen Zusammenwirkens. Die alten sittlichen Bande und Vorstellungen sind gelöst; das Gleichgewicht der sittlichen Kräfte stellt sich nicht sofort wieder her." 128 Und dieser Wandel vollziehe sich durchaus nicht immer friedlich: "Es gibt keinen Fortschritt in den Institutionen ohne gewisse sociale Kämpfe." 129 Eben diese Erkenntnis lehrt aber, daß man sich der 'sozialen Frage' durch soziale Reform annehmen muß; gerade um der sozialistischen Bewegung die Speerspitze zu brechen. Denn nach der Logik dieser Argumentation wird der revolutionären Bewegung ihr Movens geraubt, wenn die soziale Frage gelöst ist. Die Arbeiterbewegung könnte durch eine kluge Politik reformistisch ausgerichtet werden: "Die ganze Gefahr der Socialdemokratie ist gebrochen, wenn man sie dahin bringt, sich auf den Boden der Thatsachen zu stellen und um einzelne praktische Reformen zu kämpfen." 130 Mit der fortschreitenden Kultivierung gesellschaftlicher Institutionen sollte in Schmollers Sicht denn auch eine Pazifizierung der Gesellschaft einhergehen.131 Alle Institutionen liefen letztlich im Staat als der "Herzkammer" des gesellschaftlich-sittlichen Lebens zusammen, der als Gesetzgeber und Verwalter den größten direkten Einfluß auf Sitte und Recht ausübe und - als neutrale Kraft über den sozialen Klassen stehend - die Handlungsfreiheit der Individuen verbürge. Die Objektivität des Beamtentums und die ausgleichende, historisch legitimierte und legitimierende Macht eines sozialen Königtums - das Schmoller insbesondere im Regiment Friedrich Wilhelms I. erkennen wollte - als die beiden öffentlichen Repräsentanten des Staates sollten den sozialen Frieden zwischen den Klassen gewährleisten. 132 Diese Vorstellung greift Bismarcks stabilisierungspolitischer Sozialgesetzgebung der frühen 1880er Jahre insofern vor, als machtpolitisches Vorgehen durch ein 'sittlich-kulturelles' Konzept eines neuen 'Gesellschaftsvertrags' legitimiert wird. Durch die Überzeugung von der historischen Kontinuität des kulturellen Fortschritts im Staat konnte Schmoller demnach methodisch seine historischen Studien, die diesen kulturellen Fortschritt dokumentieren sollten, und seine sozialpolitischen Anschauungen in einer auf historisch-ethischen Grundlagen beruhenden Volkswirtschaftslehre verknüpfen. 133 Prisching merkt mit Recht an, daß dieses "Bilderbuchmodell eines

128

Schmoller ( 1890), S.42. Schmoller (1881b), S.50. 130 Schmoller Ab), S.191 f. 131 Schmoller (\m), S.242. 132 Vgl. Wittrock, Gerhard: Die Kathedersozialisten bis zur Eisenacher Versammlung 1872, Berlin 1939, S.84-88. 133 Siehe zu dieser "unlöslichen Verbindung" die Erörterungen von Kaufhold, Karl Heinrich: Gustav von Schmoller (1838-1917) als Historiker, Wirtschafts- und Sozial129

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gerechten Legalsystems und überparteilicher, gemeinwohlbedachter Machthaber" freilich nur durch einen "massiven sozialethischen Fortschrittsglauben" begründet werden konnte. 134 Max Weber hat sich in seiner Antrittsvorlesung daher radikal gegen jenen "anwachsenden Chorus" von "Wald- und Wiesenpolitikern" gewandt135 sowie gegen jene "ebenso menschlich liebenswürdige und achtungswerte, dennoch aber unsäglich spießbürgerliche Erweichung des Gemütes, welche politische Ideale durch 'ethische' ersetzen" zu können glaube und diese wieder "harmlos mit optimistischen Glückshoffhungen" identifiziere. 136 Diese Äußerung war allem Anschein nach vor allem gegen Schmoller und dessen Anhänger gerichtet, der bei der Übernahme des Jahrbuch(s) für Volkswirtschaft, Verwaltung und Rechtspflege im Deutschen Reich der Volkswirtschaftslehre vindizierte: "Wie der Chor in der Tragödie der Alten soll sie nicht selbst handeln [...] sondern sie [ihre Ideale, d.Verf.] messen an dem Maßstab der höchsten Ideale der Zeit". 137 Rekapitulieren wir: Die 'Idee der Gerechtigkeit' besteht für Schmoller aus notwendigen psychischen Vorgängen, die das volkswirtschaftliche Leben beeinflussen. Sie ist das Erzeugnis unserer sittlichen Anlagen und unseres logischen Denkens. Die praktische Auswirkung dieser Idee manifestiert sich in Institutionen, die Handlungsorientierungen über die Zeitläufte hinweg bewahren. Die 'Frage nach der Gerechtigkeit' ist diesen Institutionen inhärent. Eine Veränderung der Institutionen im Sinne dieser Fragestellung ist somit stets ein sittlicher Fortschritt, eine äußere Projektion innerer Kultivierung und Zivilisierung einer Gesellschaft. Die Institutionentheorie Schmollers versucht offensichtlich in der Tradition von Hegels Rechtsphilosophie und des preußisch-konservativen Etatismus, in der Institution der "gemeinschaftlichen Veranstaltung des gemeinsamen Interes-

politiker und Nationalökonom, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 75 (1988), S.217-252, bes. S.236-241. 134 Prisching( 1993), S.212. 135 Gemeint war wahrscheinlich die "Gesellschaft für Ethische Kultur" um Friedrich Wilhelm Förster und Georg von Gizycki; vgl. hierzu die Kommentare von Rita Aldenhoff in: Max Weber, Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1892-1899, [= M W G 1/4], hrsg.v. Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff, 2.Halbband, S.573, Anm.58 u. S.538, Anm.12. 136 Weber, Max: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Akademische Antrittsrede (1895), in: Weber (1892-99), S.542-574, hier S.573. 137 Schmoller (mU), S.9.

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ses" die sittliche "Aufsicht und Vorsorge der öffentlichen Macht" 138 durch die Bürokratie zu begründen. Der 'historisch-ethische' Aspekt dient hierbei vor allem der Erfassung der empirischen Geltung von Normen in der Gesellschaft. Schmoller faßt diese Normen unter dem Begriff der "Sittlichkeit" zusammen. Während die "Sittlichkeit" als Ausdruck einer gerechten Ordnung sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen angesehen werden kann, wird die praktizierte "Sitte" einer Gesellschaft z.B. durch die Volkswirtschaftslehre anhand der ökonomischen Situation der Arbeiterschaft empirisch festgestellt. Sitte und Recht als "krystallisiertes sittlich-geistiges Gemeinschaftsbewußtsein" deuten nach Schmollers Verständnis die Existenz der, wie man heute sagen würde, kulturellen 'Mentalität' eines Volkes an, die ihre normative Kraft in der Ausbildung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Institutionen zu entfalten hat. Die gesellschaftliche Norm wird damit als ein in Staats- und Volksbewußtsein vorweg verankerter Gemeinsinn - gleichsam als ein prinzipielles Bewußtsein sozialer Verpflichtung - verstanden, den eine kluge Politik, auch eine Volkswirtschaftspolitik, zu erkennen hat. So können die im Prozeß der sozialen Differenzierung einer dynamischen Industriegesellschaft wirkenden divergierenden Geschwindigkeiten gesellschaftlicher Entwicklung in ihren Folgen durch eine gerechte Verteilung des Volkswohlstands gemildert werden. An die Stelle rationaler, individueller Nutzenentscheidungen tritt die sozio-kulturelle, habituell verfestigte Disposition des Rechts- und Sozialempfindens, das in der richtigen Kombination von persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung, von Gerechtigkeit und Gleichheit dem Individuum das gute Handeln vorschreibt. In deutscher staatsrechtlicher Tradition setzt Schmoller dabei immer schon den Staat als Rechtsinstitut für alle Entscheidungen und Regelungen öffentlicher Wohlfahrt voraus: Gerechtigkeit wird in objektiver Gestalt faßbar in der Konstruktion des Staates als Ausdruck des sittlichen Lebens. Der Staat als Rechtsstaat ist, mit Hegel zu sprechen, die "Wirklichkeit der konkreten Freiheit" 139 , in der sich das Einzelne mit dem Allgemeinen in substantieller Einheit verbunden und erhalten weiß. Er ist der Höhepunkt einer kulturgeschichtlichen Entwicklung zur 'Sittlichkeit'. Die Sittlichkeit als historisch gewordene Geltung von Normen und Werten wird damit zur Handlungsorientierung aller institutionellen Änderungen.

138

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatsrecht im Grundrisse, [= Werke, Bd.7], Frankfurt a.M. 1986, § 236, S.384 f. 139 Ebd., § 260, S.406.

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Das Problem der Ordnung von Politik und Ökonomie, von Recht und Moral besteht - als das Problem der modernen Gesellschaft schlechthin - für Schmoller hauptsächlich in einem Zustand permanenter Unsicherheit darüber, was die Menschen in ihrem selbstsüchtigen Machtstreben tun werden. Unter den Bedingungen heteronomer Moralvorstellungen muß jeder Handelnde gewärtig sein, die Zwecke seiner Gegenüber falsch einzuschätzen. Er wird unsicher gegenüber der Kontingenz der Zwecke aller anderen, d.h. der Gesellschaft. 140 Institutionen hingegen ermöglichen eine Konformität und damit Berechenbarkeit der Erwartungen. Eine Theorie normativ verbindlicher, menschlicher Verhaltenserwartungen kann folglich in einer Theorie gesellschaftlicher Institutionen am besten geleistet werden. Der subjektiven Willkür einer Individualmoral des freien Markthandelns der klassischen Schule ist daher die allgemeine, im Staat verkörperte Sittlichkeit übergeordnet; und der rein subjektiven Selbstbestimmung des Individuums ist die Objektivierung der Freiheit in den Institutionen vorzuziehen, weil Institutionen ein Medium stabiler Intersubjektivität darstellen, diese Intersubjektivität aber etwas höheres ist als eine bloße Subjektivität. Allein Institutionen verbürgen die Wirklichkeit des sittlichen Rechts, wohingegen im Tndividualhandeln' immer wieder subjektive Entscheidungsträger auf sich selbst verwiesen sind und damit Gefahr laufen, der Selbstsucht zu erliegen. Auch wenn Schmoller sich der institutionalistischen Sichtweise der Hegelschen Rechtsphilosophie nicht vorbehaltlos anschließt, so steht er doch in ihrem langen Schatten, wenn er mit ihrem "bürgerlichen Versittlichungstelos", der Affirmation und vernünftigen Anerkennung des "allgemeinen Sittlichen" im Staat und demgemäß der staatswirtschaftlichen Lösung der "socialen Frage" übereinstimmt.141 Das sozialökonomische Telos ist für Schmoller die 'Idee der Gerechtigkeit', die die ökonomische Verteilungsgerechtigkeit mit den kulturellen Grundmustern der "Sittlichkeit" in Einklang bringt. In der Theorie des organischen Staates - d.h. der Reflexion der gesellschaftlichen Stabilisierung durch Vereine, Genossenschaften, Assoziationen aller Klassen - zieht Schmoller folglich das sittlich-kulturell gebundene Gemeinschaftshandeln dem durch das ma-

140 Vgl. Priddat, Birger P.: Die Einführung der Unsicherheit in die Moderne. Telosschwund und ökonomische Allokation. Von Pascal zu Adam Smith, in: Archiv für Kulturgeschichte, 75 (1993), S.419-444, bes. S.428. 141 Auf den Zusammenhang zwischen der sozialen Reform, wie sie der jüngeren historischen Schule - insbesondere Schmoller - vorschwebte und den Vorstellungen Hegels von einer sozialen Allokation volkswirtschaftlicher Produktion verweist Priddat, Birger P.: Hegel als Ökonom, [= Volkswirtschaftliche Schriften, Heft 403], Berlin 1990, S.183.

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terielle Selbstinteresse gesteuerten Gesellschaftshandeln vor. 142 Es ist der Versuch, der wirtschaftlichen Verhaltensrationalität institutionelle Grenzen zu setzen, um mit Hilfe der 'Sittlichkeit' in einer sich fragmentierenden Gesellschaft einen Gemeinsinn zu retten. Industrieller Fortschritt, der mit einem gesellschaftlichen Umbruch einhergeht, und kulturelle Tradition lassen sich auf diese Weise miteinander versöhnen. Der Integrationswille dieser wissenschaftlichen und sozialpolitischen Aufgabe entspringt nicht nur dem Verlangen nach einem Palliativ gegen die vielbeschworenen Gefahren der 'sozialen Frage', sondern ist, analog zu einer Interpretation Theodor Schieders, auch ein Symbol für das geschichtliche Legitimationsbedürfiiis des sich nach 1871 vereinheitlichenden deutschen Nationalstaats, der in einer "Kulturnation" durch die Einbindung und Harmonisierung der deutschen Vergangenheit anhand eines 'nationalen Rechts' 143 , einer 'nationalen Literaturgeschichte' 144 und, nicht zu vergessen, eben auch einer 'National-Ökonomie' seine Vollendung finden sollte. Eine nationale Ökonomie konnte zudem ihre Grundlage in einer 'Volks-Wirtschaftslehre' finden, die sie in die Kontinuität der Geschichte eines Volkes stellte, aus der sie letztlich ihre Legitimation und, wohlverstanden, ihre Aufgabe gewann.

142

Vgl. Priddat, Birger P.: Der Staat, die Ökonomie und die Gesellschaft. Entwicklungen des ökonomischen Institutionenbegriffs im 19. und 20. Jahrhundert, in: Die Rationalität politischer Institutionen. Interdisziplinäre Perspektiven, hrsg.v. Gerhard Göhler, Kurt Lenk, Rainer Schmalz-Bruns, Baden-Baden 1990, S.l89-206, bes. S.l94. 143 Vgl. die Überlegungen bezüglich der Diskussionen in den Rechtswissenschaften nach 1871 bei Schieder, Theodor: Kultur, Wissenschaft und Wissenschaftspolitik im Deutschen Kaiserreich, in: Medizin, Wissenschaft, Technik und das Zweite Deutsche Kaiserreich, hrsg.v. Gunter Mann u. Rolf Winau, Göttingen 1977, S.9-34, hier 27 f. Ferner Stolleis, Michael: Die Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2.Bd.: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800-1914, München 1992, S.455-459. 144 Vgl. hierzu umfassend Fohrmann, Jürgen: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989, bes. S.258 f. Ferner Weimar, Klaus: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhundert, München 1989. Die neueren Ergebnisse der Forschung siehe bei Fohrmann, Jürgen/Voßkamp, Wilhelm (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart-Weimar 1994.

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3. Wissenschaftlicher Fortschritt, Wahrheit und Methode Im folgenden gilt es offenzulegen, warum Schmoller die Unterstellung einer gesellschaftlichen 'Ganzheit' methodisch vonnöten hielt; wie er sich deren Deutung vorstellte; welchen Wahrheitsgehalt oder -anspruch Aussagen über die gesellschaftliche Ganzheit haben können und in welchem Verhältnis sie notwendigerweise zu Werturteilen stehen. Letztlich fragen wir, in welchem Verhältnis die induktive und deduktive Methode für Schmoller bei der Gewinnung dieser Aussagen stehen und welche Funktion ihnen in seiner Gesellschaftstheorie jeweils zukommt.

3.1. Die Ausdeutung des Ganzen gesellschaftlicher Zusammenhänge In seiner akademischen Antrittsrede zur Übernahme des Rektorats der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität im Jahre 1897, die Schmoller selbst als Präzisierung und Schärfung seines methodologischen und wissenschaftlichen Standpunktes ansah,145 stellte er die Idee des Fortschritts in den Wissenschaften als die "große Prinzipienfrage" der Staats- und Socialwissenschaflen, ja "jeder empirischen Wissenschaft überhaupt" heraus. Zur Klärung der Idee des wissenschaftlichen Fortschritts müsse jedoch zunächst das Verhältnis von "historisch wechselnden Theorien" und "feststehenden Wahrheiten" herausgearbeitet werden. 146 Alle Versuche der modernen empirischen Wissenschaften, die Wirklichkeit in ihren Zusammenhängen zu erkennen, gingen von der Voraussetzung aus, es müsse dem Wissenschaflter zumindest innerhalb selbst gesetzter Grenzen prinzipiell möglich sein, die "volle Wahrheit" zu ergründen, d.h. die "innere Natur der Dinge" anhand ihrer Ursachen festzustellen. Als Kriterium dieser "vollen Wahrheit" galt ihm die Bedingung der wiederkehrenden empirischen Bestätigung einmal erlangter Resultate, die als Ausgangspunkte für die Theorieformulierung dienten. Diese Theorien selbst seien "vorläufige Versuche der Formulierung des unvollkommenen Wissens". Die Unvollkommenheit des Wissens zeige sich eben

145

Siehe die Vorrede Schmollers in Schmoller (1898a), S.VI-VII. Schmoller (1898b), S.317. Siehe hierzu die Kritik von Oncken, August: New Tendencies in German Economics, in: Economic Journal, 9 (1899), S.462-469. 146

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darin, daß verschiedene Formulierungen eines Sachverhalts nebeneinander möglich seien. Die jeweiligen Theorien seien folgerichtig nur Annäherungen an die "volle Wahrheit", obgleich man mit dem Voranschreiten methodischer Forschung, d.h. mit vollendeter Beobachtung und Beschreibung - was einer fortschreitenden empirischen Detailkenntnis entspricht - sowie deren Kausalerklärung die Fehlerquellen vermindere. 147 Der Weg sei dabei derjenige der wissenschaftlichen Arbeitsteilung. Für Schmoller war dieser wissenschaftliche Differenzierungsprozeß zugleich aber ein paradoxer Zustand. Denn je weiter die wissenschaftliche Arbeitsteilung dringe, desto schwieriger, ja zunehmend unmöglich werde es für den einzelnen Wissenschaftler, alle Details zu einem streng wissenschaftlichen Ganzen zu verknüpfen. 148 Die Hoffnung liege freilich darin, daß das, was der Einzelne nicht zu erreichen vermag, die Menschheit über Generationen hinweg erzielt: die sukzessive Annäherung und letztlich Erlangung der "vollen Wahrheit"! Diese regulative Idee der wissenschaftlichen Wahrheitsgewinnung deckt sich im wesentlichen mit den Wahrheitskriterien der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diesen positivistisch orientierten Einzelwissenschaften, den "jüngeren speziellen Wissenschaften", stellt Schmoller die "älteren universalen Wissenschaften" (Staatswissenschaften) gegenüber, die noch den Versuch unternommen hätten, die "Grundkräfte der Seele"149 zu erfassen, d.h. die Elemente des menschlichen Trieblebens auf psychologischem, ethischem und politischem Gebiet ihrem innersten Wesen nach zu verstehen. Während sich die "speziellen Wissenschaften" in ihrer "mikroskopischen Beschränkung" in dem Prozeß der Wahrheitsfindung gleichwohl ein Bild vom 'Ganzen' zu machen haben, entziehen sich ihnen dennoch die "letzten Fragen" gesicherter empirischer Erkenntnis.

147

Schmoller (1898b), S.319. Ein Vorgang, den Georg Simmel, der bemerkenswerterweise in Schmollers Seminar studierte, später in ähnlicher Skizzierung als die "Tragödie der Kultur" bezeichnen sollte. Siehe Simmel, Georg: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: ders., Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas, Berlin 2 1986, S.195219, bes. S.215. 149 Schmoller (1898b), S.322. Die "Grundkräfte der Seele" ist ein Topos, der in den methodologischen Auseinandersetzungen seit den 1880ern immer wieder als die eigentliche methodologische Unklarheit Schmollers hervorgehoben wurde, da er den Prozeß menschlichen Verstehens auf das Agieren psychologischer Kräfte zurückführte, die in ihrer Eigenart aber an keiner Stelle klar beschrieben werden. Siehe vor allem die Kritik Heinrich Dietzels, unten Kap.V. 148

6 Nau

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Wie kann man aber von einem Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis sprechen, ohne über einen geeigneten Maßstab 'objektiver' Beurteilung dieser Erkenntnis selbst zu verfügen? Und wie kann man z.B. in den Naturwissenschaften über einzelne Naturvorgänge universell gültige Kenntnis erlangen, ohne einen festen Begriff der "Natur" vorauszusetzen? Es ist daher für Schmoller eine petitio principii, zu glauben, die Voraussetzungen einer Wissenschaft mit den Erkenntnismitteln dieser Wissenschaft selbst darlegen zu können. Und da man über die letzten Fragen innerhalb der Wissenschaften keine Einheit erzielen kann, könne dem "Wechselspiel der Weltanschauungen" kein Einhalt geboten werden. Das soll nicht heißen, daß Schmoller den exakten Wissenschaften, zu denen er auch die Nationalökonomie, die Statistik, die Anthropologie und exakte Psychologie, ja selbst die Historik zählte, keine Berechtigung zuerkannte. Ganz im Gegenteil, er sympathisierte mit den Vorstellungen Comtes, daß die metaphysischen Staats- und Gesellschaftslehren nach und nach durch exakte Erkenntis verdrängt werden würden. Im Gegensatz zu Comte allerdings sah Schmoller diesen Substitutionsprozeß positivistischer Durchdringung durch eine wissenschaftliche Selbstreflexion gezügelt, weil eine positivistische Wissenschaftsauffassung immer zum Ziel haben müsse, eine "Kette der mechanischen Kausalität [...] bis zu ihren letzten Gliedern zu verfolgen" 150 . Gerade die zeitgenössische Gesellschaftslehre aber sei in ihrer Theoriebildung noch keineswegs zu einer sicheren Erklärung aller gesellschaftlichen Zustände gelangt und bedürfe daher immer, gleichsam als Anfangsgrund mechanistischer, sozialteleologischer Erklärung, der metaphysischen Annahme eines "vorhergehenden, bereits harmonisch geordneten Zustandes der Welt und der Gesellschaft" 151, der außerhalb jeglicher kausalen Erklärung stehe. Die exakte Wissenschaft muß daher zunächst eine Erklärung neben sich dulden, die vom Bild eines Ganzen ausgeht, das das Einzelne in seinen Zusammenhängen erst begreifbar und ausdeutbar mache. Diese Vorstellungen vom Ganzen sind für Schmoller, wie oben dargelegt, die sittliche Idee der Gerechtigkeit, die "teleologisch" die Ideen des Fortschritts und der Vervollkommnung determinieren. Wie alle Regeln der Sitte und des Rechts, wie alle Systeme der Moral und der Politik gründe diese Bestimmung im Ethos eines Volkes, das durch den "unwiderstehlichen Einheitsdrang der Vernunft" 152 erfaßt werden kann. Jedes Wis-

150 151 152

Schmoller (1881a), S.4. Schmoller (1881a), S.4. Schmoller S.5.

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senschaftssystem muß daher sein Gleichgewicht zwischen "Wissen und Glauben" in der Absicht finden, die Welt einheitlich zu verstehen. Keines dieser Systeme kann demnach auf gänzlich exakter Grundlage beruhen, denn die Ideale aller teleologischen Ganzheitsbetrachtung sind notwendig einseitige: "Alle sogenannten politischen, moralischen, volkswirtschaftlichen und sozialen Prinzipien sind nicht sowohl Resultate der exakten Wissenschaft, als abgeleitete Einzellehren der System- und Weltanschauungen, der Schulen und Parteien." 153 Hierin liegt die "Wurzel für alle religiösen, ethischen, politischen, nationalökonomischen Systeme", die uns die "Ideale", welche unserem Handeln Zwecke vorgeben, liefern. 154 In dieser 'teleologischen' Betrachtung erkennt Schmoller ein berechtigtes Reflexionsprinzip, gar ein "heuristisches Hilfsmittel", das als eine "symbolisierende Ergänzung" der empirisch-positivistisch vorgehenden Wissenschaft zur Seite treten muß: "Es ist der Versuch einer Ausdeutung des Ganzen und seiner Zwecke. Die Vorstellung, daß die Welt eine einheitliche sei, daß es ein Stufenreich der Natur und der Geschichte, einen Fortschritt und eine Vervollkommnung, eine Entwickelung gebe, ist in der Hauptsache nur so zu gewinnen."155 Der teleologischen Betrachtung gelinge es, eine Summe von Erscheinungen, deren inneren kausalen Zusammenhang wir noch nicht kennen, als ein Ganzes zu begreifen, ohne daß der einheitlich ordnende Gedanke selbst ein "Zweckgedanke" sein müsse; genau dies scheidet für Schmoller die teleologische Betrachtung von einer systematischen. Ethische Systeme beruhen für Schmoller auf einem "Glauben, auf einem Fürwahrhalten gewisser letzter Prinzipien" 156 . Dieses Fürwahrhalten entsteht unter bestimmten realen und psychologischen Voraussetzungen bei den gleichen Menschen mit ähnlicher Notwendigkeit wie das Wissen der Erfahrungswelt. Gerade weil die "höchsten Prinzipien" in Frage stehen, gibt dieses Fürwahrhalten dem Menschen "eine Gewißheit, die zum Handeln befähigt", 157 die

153

Schmoller {mia), S.S. Schmoller (1949), S.72. 155 Schmoller (1949), S.23. 156 Ein Gedanke, der etwa zeitgleich, wenn auch in stringenterer Formulierung von den Vertretern des amerikanischen Pragmatismus geäußert wurde. Vgl. etwa Peirce, Charles Sanders: Die Festlegung einer Überzeugung (1877), in: ders.: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hrsg.v. Karl-Otto Apel, Frankfurt a.M. 4 1991, S. 149-181; siehe ferner James, William: Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden, Hamburg 1977, vor allem die 6.Vorlesung "Der Wahrheitsbegriff des Pragmatismus", S.l23-150. 157 Schmoller (1949), S.24. 154

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aber keine empirische Wahrheit darstellt. Dennoch erscheint eine Synthese der empirischen Erfahrungen, eine Erklärung des Ganzen prinzipiell möglich, die "ein Volk, eine Zeit, ein Menschenleben als Ganzes begreift, welche von reicher Erfahrung ausgeht, in welcher sich vollendete Sachkenntnis mit künstlerischer Intuition verbindet, kann sie sich der wirklichen Erkenntnis so nähern, daß sie für unsere Zwecke mit ihr zusammenfällt." 158 Auch wenn Schmoller durchaus eine Pluralität verschiedener Weltanschauungen anerkennt, die verschiedene Lebensideale ermöglichen, so glaubt er doch, daß die fortschreitende Erkenntnis der Natur und der Geschichte im Begriff stehe, diese kontrastierenden Anschauungen zu beseitigen, so daß die "Ethik immer mehr zugleich zu einer Erfahrungswissenschaft des Seienden" werde, aus der heraus nunmehr die einzelnen Teile als "besondere Wissenschaften vom Staate, vom Rechte, von der Volkswirtschaft" 159 sich loslösen könnten. Alle Theorien und Systeme der Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik gehen demnach notwendigerweise von einem geschlossenen Weltbild aus, das von der jeweiligen Interpretation des Geschichtsverlaufs aus entworfen wird. "Nur wer sich über die großen Institutionen des Staates, des Privatrechts, der wirtschaftlichen Organisation ein konkretes Entwicklungsbild im ganzen macht, kann sagen, wohin die Zukunft treiben werde und solle." 160 Alle Weltanschauungen, seien es die "staatssozialistischen" Ideale Adolph Wagners, die "gewerkvereinlichen" Lujo Brentanos oder diejenigen der radikalen Fabier beruhen demnach auf Urteilen, die aus diesen Welt- und Geschichtsbildern deduziert wurden. Sie sind lediglich Annäherungswerte und enthalten kein Kriterium der Wahrheit, das eine "vollendete Wissenschaft" in Anspruch nehmen müßte.

3.2. Das Verhältnis von wissenschaftlicher Wahrheit und Werturteilen Die strenge Wissenschaft aber muß nach unumstößlichen Wahrheiten suchen. Sie muß daher ihre Untersuchungen strikt auf das Einzelne beschränken, um in den induktiv gewonnenen Ergebnissen der Detailforschung ein ausreichendes Material zur Formulierung von Kausalitätsreihen zu erhalten, deren Geltung, wie in den modernen Naturwissenschaften und unabhängig von wechselnden Weltanschauungen, für alle Zeiten feststehen, denn "die exakte Wissen-

158 159 160

Schmoller {1949), S.25. Schmoller (1949), S.24. Schmoller {1949), S.28.

3. Wissenschaftlicher Fortschritt, Wahrheit und Methode

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schaft wandelt nicht mit den Glaubenssystemen wechselnder Weltanschauungen und Parteiungen. 1,161 Je mehr sich die Wissenschaft dieses Prozesses bewußt werde, desto mehr verzichte sie darauf, "Ideale aufzustellen, ein Sollen zu lehren"; denn dieses geht immer nur "aus dem Zusammenhang des Ganzen hervor." 162 Da das "letzte Ziel aller Erkenntnis", so Schmollers Credo, aber immer "ein praktisches" bleibe, werde man nicht davon absehen können, eine Ganzheit vorauszusetzen und somit Sollenssätze vorgeben zu müssen. Es kann für Schmoller demnach gar nicht vermieden werden, daß sich in die letzten wissenschaftlichen Schlüsse als "leitende Motive stets ethische Wertvorstellungen und teleologische Weltbilder über den Gang der menschlichen Geschichte und das Schicksal des betreffenden Staates" einmischen müssen.163 Auch wenn es das Streben wissenschaftlicher Forschung ist, die Spekulation nach und nach zugunsten eines "unverrückbaren Wissens" zu verdrängen, so bekennt sich Schmoller dennoch ausdrücklich, gerade im Wissen um das Fehlen einer exakten Methode zur Beantwortung "praktischer Fragen und Probleme", dazu, gemäß "unseren sittlichen Idealen, die über aller exakten Wissenschaft liegen", Werturteile zu fällen, ohne die sozialer, politischer oder ökonomischer Fortschritt in der Praxis nicht gewährleistet werden kann. Denn wie könnte man eine gültige Sozialpolitik betreiben, wenn man auf die in der unvorhersehbaren Zukunft liegenden exakten Wahrheiten warten wollte, um deren Handlungsanweisungen zu vollziehen? Deshalb kann es für Schmoller keine praktische Wirksamkeit außerhalb des Glaubens an gewisse Ideale geben: "Alle praktische staatswissenschaftliche Erörterung ist deshalb auch angelehnt an irgend welche Systeme des Glaubens, der sittlichen Weltanschauung, d.h. sie ist in irgendwelcher Beziehung, auch wenn sie noch so sehr auf die Resultate exakter Forschung sich stützt, Parteisache; sie hängt mit ihrem letzten Anker an diesem tiefsten sittlichen Untergrund menschlichen Handelns und zielt mit ihren letzten Zielen auf Beeinflussung des Handelns Dritter, auf Parteibildung und auf Parteiführung." 164 Daher kann, ja gerade soll "die Wissenschaft nicht partei- und farblos" 165 sein, ein Topos, den Carl Menger in seinen Untersuchungen gebrauchte und der die gesamte methodologische Auseinandersetzung bis zum sogenannten Werturteilsstreit beherrschen sollte. 161

Schmoller (1881a), S.7. Allerdings räumt Schmoller ein, daß das Gebiet exakten Wissens zumindest in der Nationalökonomie lediglich in Wert- und Preisuntersuchungen erste Ergebnisse erzielt hätte. 162 Schmoller (1949), S.29. 163 Schmoller (1949), S.l7. 164 Schmoller (1949), S.8. 165 Schmoller ( 1949), S.9.

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In der 1911 überarbeiteten Fassung seines Handwörterbuch-Artikels machte Schmoller auf den Werturteilsstreit mit Max Weber und Werner Sombart eingehend noch einmal deutlich, es gehe ihm nicht darum, "subjektive Werturteile", die sich auf Klassen-, Partei- oder Interessenurteile stützten, als unumgänglich für jede wissenschaftliche Forschung herauszustellen. Vielmehr sei ihm am Sieg "objektiver Werturteile", an denen "große Gemeinschaften, Völker, Zeitalter, ja die ganze Kulturwelt" hingen, über diese einseitigen sittlichen und politischen Ideale in der Volkswirtschaftslehre gelegen; denn die "Wertgefühle wie die Werturteile können irren;; aber die Kulturentwicklung, die Arbeit aller Religionen und aller Wissenschaften, aller Sitte und alles Rechts hat die Wertgefühle und Werturteile auf allen Lebensgebieten nach und nach immer mehr geläutert, zu immer richtigeren Wegweisern des Lebens-, des Gesellschaftsförderlichen gemacht".166 Alle Werturteile zusammen bildeten die "Kulturwerte", unter denen der "sittliche Wert" nach Schmoller den Mittelpunkt darstellt. Das "sittliche Werturteil" entwickele sich also historisch durch die empirische Kenntnis der technischen, ökonomischen und politischen Kausalverhältnisse menschlicher Handlungen und gesellschaftlicher Institutionen sowie deren kultureller Bedeutung. Demnach ist der "Hauptinhalt alles individuellen und gesellschaftlichen Lebens" die "sittliche Zwecksetzung und sittlich-kulturelle Ausreifung der Werturteile". 167 Freilich kann es nicht ausbleiben, daß auch der "wirtschaftliche Wert", der alle wirtschaftlichen Mittel gemäß seinen Zwecken klassifiziert und auswählt, letztlich von dieser sittlichen Zwecksetzung überlagert wird, die damit auch in den Bereich der Wert- und Preisurteile hineinwirkt. Otto Liebmann betonte 1904 auf Schmoller bezogen denn auch: "Ein teleologischer, mithin Wertunterschiede, Werturteile, Wertschätzungen voraussetzender und in sich schließender Begriff ist [...] der Gedanke des Fortschritts. Er bedeutet nicht bloße Veränderung, bloßes Weiterrücken und Fürbaßgehen, sondern im Gegensatz zum Rückschritt ein Besserwerden, eine Höherentwicklung [...] ein Sichannähern an irgend welches wünschenswerte, wertvolle Ziel (telos)" 168 . Eine solche teleologisch konzipierte Gesellschaftswissenschaft wird demnach stets den jeweiligen Staatszweck zu erweitern trachten, denn der berufene Träger einer autoritativen Beeinflussung des Wirtschaftslebens unter der Herrschaft der 'sittlichen Idee' ist der Staat.

166

Schmoller (1949), S.78. Schmoller {1949), S.79. 168 Liebmann, Otto: Gedanken und Tathsachen. Philosophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien, Bd.2, Straßburg 1904, S.474. 167

3. Wissenschaftlicher Fortschritt, Wahrheit und Methode

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3.3. Das Verhältnis von deduktiver und induktiver Methode Wir können nunmehr verschiedene Schlußfolgerungen hinsichtlich der in der Volkswirtschaftslehre anzuwendenden Methode ziehen. Aus der Notwendigkeit der Formulierung von Werturteilen über wirtschaftliche Erscheinungen bestimmt sich auch die Aufgabe und Funktion sowie das Verhältnis von deduktiver und induktiver Methode zueinander. Der Volkswirt fällt zunächst Urteile über historische Erscheinungen mit Hilfe von Deduktionen aus "Welt- und Geschichtsbildern", die zwar lediglich "Annäherungswerte" und "vorläufige Versuche" darstellen, die "volle Wahrheit" zu erschließen, andererseits jedoch die subjektiven Zwecke der Forschung - die Forschungsrichtung - vorgeben. Weil er subjektive Zwecke verfolgt, kann er nicht über ein objektives Wahrheitskriterium verfügen. 169 Dieses Wahrheitskriterium liegt allein in der exakten Beobachtung, Beschreibung und kausalen Erklärung einzelner wirtschaftlicher Vorgänge, d.h. in der induktiven Gewinnung von Erkenntnissen, die die Wirklichkeit in ihrem Ist-Zustand abbilden. Mit Hilfe der Induktion, durch intensive Detailstudien, gewinnen wir positives Wissen im Sinne von "feststehenden Wahrheiten", die sich sukzessive der "vollen Wahrheit" annähern. 'Feststehende Wahrheiten' im Bereich der empirischen Wissenschaften heißen 'Theorien', die durch fortwährende empirische Bestätigung ihre Gültigkeit behalten. Diese Wahrheiten sind falsifizierbar. Einzelne Bestandteile falsifizierter Theorien jedoch behalten ihre Geltung und gehen in die neue Theorieformulierung ein. Wenn man so möchte, besteht hierin Schmollers "evolutorisches Wissenschaftsverständnis" 170, denn die Komposition einmal als wahr erkannter Theorieelemente nähert sich der "vollen Wahrheit". Diese zu erlangen, ist der 'Sinn' wissenschaftlicher Forschung. Sind feststehende Wahrheiten einmal erlangt, läßt sich von hier aus wiederum deduktiv auf einzelne wirtschaftliche Zusammenhänge zurückschließen. "Ich glaube", so Schmoller, "man wird einfach sagen können: je einfachere Gegenstände eine Wissenschaft behandelt, je weiter sie bereits in ihren Resultaten gekommen ist, desto vollendetere Begriffe hat sie, desto leichter kann sie ihre Gesetze und obersten Wahrheiten in ihre Begriffe und Definitionen aufnehmen und daraus alles Weitere ableiten. Je komplizierter

169

Schmoller (1949), S.29. So plädiert z.B. Recktenwald dafür, Schmollers "historischen" Ansatz als "Grundlage für eine (noch ausstehende) evolutorische Theorie" in den Wirtschaftswissenschaften zu verwenden. Siehe Recktenwald, Horst Claus: Schmoller im Lichte moderner Analyse. Versuch einer Neubewertung, in: ders. (Hrsg.), Vademecum zu einem Klassiker der Historischen Methode in der ökonomischen Wissenschaft, Düsseldorf 1989, S.5-23, hier S.23. 170

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der Gegenstand einer Wissenschaft aber wird, desto weiter ist sie von diesem Ideal entfernt." 171 Induktion und Deduktion verweisen damit wechselseitig aufeinander. Die Deduktion gibt der Induktion den Forschungszweck vor, die Induktion gewinnt positives Wissen, das zu feststehenden Wahrheiten führt, aus denen dann wieder deduktiv auf alle einzelnen Bestandteile dieses Gebiets rückgeschlossen werden kann. Deutung und Empirie, Kausalbetrachtung und Teleologie vermengen sich. "Der ganze Gegensatz von dem wir hier sprechen, ist nicht der der induktiven und deduktiven Methode [...] Wir betonen an dieser Stelle blos, daß alle Wissenschaft induktiv und deduktiv zugleich verfahren muß und daß nur die einzelne Wissenschaft [...] etwas mehr deduktiv oder induktiv verfahren wird und muß. Der Gegensatz, von dem wir hier sprechen, ist die Untersuchung von Ursachen, die Erklärung aus Ursachen einerseits und die Zusammenfassung alles Geschehenden zu Systemen andererseits, die den Maßstab und die Richtschnur des Handelns für alles menschliche Geschehen vom Standpunkt gewisser Ideale abgeben."172 Da die Erkenntnis für Schmoller immer "theoretisch-praktischer Natur" 173 ist, wird der Streit der Theorien und der Schulen untereinander solange fortdauern, bis die "volle Wahrheit" erreicht ist. 174 Solange wird man - gleich einem Anfangspunkt jeglicher Theorieformulierung - eine Ganzheit metaphysisch unterstellen müssen. "Aus den Bruchstücken wirklicher Erkenntnis läßt sich zunächst nur durch Hypothesen und teleologische Konstruktionen ein Ganzes machen. Aber ein solches ist nötig, weil der Einheitsdrang unseres Selbstbewußtseins nur so zur Ruhe kommt, und weil nur durch geschlossene, einheitliche Systeme der menschliche Wille praktisch geleitet werden kann." 175 Diese metaphysische Bezugnahme beruht freilich auf einem polyvalenten Wertekosmos. Es gibt kein objektives Kriterium der Richtigkeit der jeweiligen Wertsetzung. Die Entscheidung für oder gegen eine solche Theorie ist jedoch von höchster praktischer Bedeutung. "Der nie ruhende Kampf dieser Systeme und Theorien hat eine kaum zu überschätzende praktische Bedeutung; die jeweilig zur Herr-

171

Schmoller ( 1949), S.48. Schmoller ( 1881 a), S.6. 173 Schmoller (1949), S.21. 174 Schmoller läßt allerdings offen, ob dieses Ziel jemals ganz erreicht werden kann. Ganzheit heißt zuletzt auch immer das Ganze der 'Schöpfung', die für Schmoller nicht zu schauen ist, deren Annahme der Mensch aber dennoch bedarf, um Sinnhaftigkeit in der Welt zu finden. 175 Schmoller ( 1900/04), l.Teil, S.81. 172

4. Historisch-ethische Nationalökonomie als Sozialwissenschaft

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schaft kommenden Theorien übernehmen die Führung in der Politik und die Umgestaltung der Gesellschaft [...] Die späteren Systeme und Theorien enthalten einen steigenden Anteil gesicherten Wissens neben ihren vergänglichen Bestandteilen."176

4. Historisch-ethische Nationalökonomie als Sozialwissenschaft Auch wenn Schmoller keine 'Universalwissenschaft' anstreben wollte, so sollte sich die Volkswirtschaftslehre doch nicht in einer isolierten staatswissenschaftlichen Disziplin erschöpfen. "Wenn ich einmal sagte, die politische Ökonomie, als Sammelbegriff für eine Reihe von Wissenschaften, werde sich umzuwandeln haben in die Sozialwissenschaft, so konnte ich nichts anderes meinen, als daß alle Staats- und Sozialwissenschaften gewisse gemeinsame Grundlagen und einheitliche Ursachen soziologischer und psychisch-ethischer Art haben." 177 Die Volkswirtschaftslehre sollte mehr sein; nämlich eine Synthese aller auf die Wirtschaft zielenden Disziplinen. Daher konnte sie nicht lediglich Volkswirtschaftslehre bleiben, sondern mußte sich zu einer Gesellschaftswissenschaft ausdehnen: "Die Nationalökonomie ist heute nur Wissenschaft, sofern sie sich zur Gesellschaftslehre erweitert, und in dem Maße, als sie dieses tut. Ihr ganzer Ausgangspunkt darf nicht mehr das Individuum und seine technische Produktion sein, sondern die Gesellschaft und ihre historische Entwicklung; ihre Ausführungen müssen Untersuchungen über die gesellschaftlichen Erscheinungsformen des wirtschaftlichen Lebens sein; sie hat in erster Linie zu handeln von den wirtschaftlichen Organen und den wirtschaftlichen Institutionen [...] wie sie sich historisch entwickelt haben oder wie sie praktisch im Zusammenhang und nebeneinander stehen."178 Die Untersuchung des Entstehens der alles gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben beherrschenden "Regeln", die in gemeinsamen psychisch-sozialen Grundkräften und ethischen Sollenssätzen wurzeln, ist für Schmoller die eigentliche Aufgabe der historisch-ethischen Volkswirtschaftslehre. Sie soll die Gesamtheit der gesellschaftlichen Erschei-

176

Schmoller ( 1900/04), l.Teil, S.81. Schmoller (1949), S.54. 178 Schmoller, Gustav: Rezension des "Handbuch der politischen Ökonomie", hrsg.v. Georg v. Schönberg, Tübingen 1882, in: Schmollers Jahrbuch, 1882, S.1379-1387, hier S.1382. 177

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nungen "als ein zusammenhängendes, natürlich geistiges, kausales System von Erscheinungen" 179 schildern. Diese neue Gesellschaftslehre sollte nicht, wie seinerzeit Robert von Mohl angestrebt hatte, einige in Staatslehre, Statistik und Nationalökonomie nicht recht unterzubringende Erörterungen über die Gesellschaft sammeln, sondern die Gesamtheit der gesellschaftlichen Erscheinungen als ein zusammenhängendes natürlich-geistiges System verstehen. Das Bemühen, für die Sozialwissenschaften eine allgemeine Grundlage zu gewinnen, hat in Schmollers Sicht zu jenen letzten umfassenden Systementwürfen geführt, wie sie in den Werken von Auguste Comte 180 , in Spencers Soziologie 181 , in Schäffles Bau und Leben des sozialen Körpers 182 zu finden sind: den Aufbau der menschlichen Gesellschaft aus einer Wurzel und ihre Entwicklung aus verschiedenen Triebkräften. Diese "ontologische Fiktion" 183 beruht in Schmollers Vorstellung auf der funktionalen Integration aller Teile eines sozialen Systems in einer historischgenetischen Zusammengehörigkeit. Einheit und Ganzheit einer Volkswirtschaft sind für Schmoller damit mehr als eine bloße Metapher: für alle Teile gibt es einheitliche psychische und materielle Kräfte, die streng miteinander verbunden sind. Handlungsmotive, Sitten und Institutionen entspringen diesen Grundkräften. Sie bedingen einander und stehen fortwährend in Wechselwirkung: Handlungsmotive prägen Sitten und Institutionen, letztere wiederum konditionieren als innere und äußere Objektivationen' Handlungsmotive. Deswegen können wirtschaftliche Vorgänge in einer Volkswirtschaft - etwa die Allokation knapper Ressourcen - nie unabhängig oder isoliert von allen anderen kulturellen Einflüssen gesehen werden, da sie ein Reflex dieser gesellschaftlichen Zusammenhänge sind. 184

179

Schmoller (1900/04), l.Teil, S.72. Vgl. Comte , Auguste: Cours de la philosophie positive, 6 Bde., Paris 1830-42. 181 Vgl. Spencer, Herbert: Einleitung in das Studium der Sociologie, 2 Theile, nach der zweiten Auflage des Originals hrsg.v. H. Marquardsen, [= Internationale wissenschaftliche Bibliothek], Leipzig 1875. 182 Vgl. Schäffle, Albert Eberhard Friedrich: Bau und Leben des socialen Körpers, 4 Bde., Tübingen21881. 183 Meyer , Willi: Schmoller's Research Programme, His Psychology, and the Autonomy of Social Sciences, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 144/3 (1988), S.570. Meyer erkennt darin Schmollers "metaphysische Prinzipien". 184 Vgl. Betz, K.H.: How does the German Historical School fit?, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 144/3 (1988), S.413. Betz spricht in diesem Zusammenhang ebenfalls von einem "methodological holism". 180

4. Historisch-ethische Nationalökonomie als Sozialwissenschat

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4.1. Die psychologischen Grundkräfte gesellschaftlicher Bewegung Die psychologischen Grundkräfte - als die allem gesellschaftlichen Handeln unterliegenden Grundelemente - und die sozialen Institutionen - als historisch gewordene und historisch vermittelte Formationen dieser Grundkräfte - stellen für Schmoller also die eigentlichen Erkenntnisobjekte der Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie dar. Die Charakteristiken der menschlichen Natur und Naturkräfte bewirken "natürlich-technische" und "geistig-sittliche Ursachenreihen" des wirtschaftlichen Handelns, das komplexe und instabile Ergebnisse hervorbringt. Während die natürlich-technischen Vorgänge, d.h. biologisch-organische und psycho-physische Komplexe, wie die Wirkung von Klima, Boden, Geographie, Flora und Fauna auf wirtschaftliche Handlungen, aufgrund ihrer relativen Einfachheit vermeintlich leicht zu beobachten und zu erklären sind, stellt die psychologische Darlegung geistig-sittlicher Handlungsmotive wegen ihrer Komplexität die eigentliche Herausforderung für die Volkswirtschaftslehre dar. Sie ist das wichtigste Desiderat gesellschaftswissenschaftlicher Forschung. 185 Die wirtschaftliche Welt verdankt ihre Existenz also in erster Linie Kräften, die sich dem Menschen als Gefühle und Triebe, als Vorstellungen und Zwecke, als Handlungen und habituelle Richtungen des Willens darstellen. Psychologie und Ethik untersuchen das ganze dieser Kräfte, weswegen die Nationalökonomie als eine "psychologische oder auch eine ethische Wissenschaft" bezeichnet werden kann. 186 Wissenschaftlicher Fortschritt kann für Schmoller innerhalb der Nationalökonomie deshalb nur dann erzielt werden, wenn eine adäquate Verstehenslehre, eine beschreibende und zergliedernde Psychologie menschlichen Handelns formuliert worden ist. Sind die psychischen Kategorien erst geschaffen, die die einheitlichen psychischen Vorgänge erklären, dann können auch die ineinander verwobenen "Kollektivkräfte" der verschiedenen sozialen Triebe analysiert werden. 187 Nun erst kann eine adäquate Gesellschaftslehre sozialer Institutionen geschaffen werden. Da aber die "letzten Prinzipien" dieser psychischen Vorgänge, ihre kompliziertesten psychisch-ethischen Ursachen noch wenig geklärt seien, müßten vorläufig noch einfachere "psychologische Detailuntersuchungen" durchgeführt werden. "Kurz, so wahr der Satz ist, daß eine bereits vollendete individuelle und Massenpsychologie der Nationalökonomie die Möglichkeit biete, sich überwiegend der Deduktion zu bedienen, so wenig rei-

185 186 187

Schmoller (1949), S.31, 51 u. 90 f. Schmoller (1949), S.52. Schmoller ( 1949), S.53.

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chen bei dem jetzigen Zustand der Psychologie die vorhandenen Wahrheiten aus; sie sind erst zu finden und zwar teilweise mit Hilfe psychologischvolkswirtschaftlicher Induktionen." 188

4.2. Die Idee von Fortschritt und Entwicklung Im kulturellen und sozialen Entwicklungs- und Fortschrittsdenken, wie es mit dem Aufkommen des französischen und englischen Positivismus in den 1860er Jahren in Deutschland Einzug gehalten hatte, sah Schmoller die "beherrschende wissenschaftliche Idee" seines Zeitalters. Die "Wissenschaft der Gegenwart", so Schmoller 1904, "und der Glaube der gebildeten Völker nimmt heute überwiegend den Fortschritt und die Einheit der menschlichen Entwicklung an. Wir gehen von diesem Glauben aus. Wir haben uns in unserem ganzen Werke auf den entwicklungsgeschichtlichen Standpunkt gestellt." 189 Auch der Wandel der Gesellschaft unterliegt diesem Fortschrittsgesetz: "Ich sehe ein ewig gleichbleibendes vor allem in den physischen elementaren Prozessen der Natur, sonst überall sehe ich Fortschritt und glaube an ihn." 190 Die kulturelle Realisierung dieses Fortschritts ist ein physiologischer Prozeß. Dieser Prozeß, der einem Lebenszyklus ähnelt, durchläuft verschiedene Phasen, die sich in Schmollers Idee von den Stufen der wirtschaftlichen Entwicklung konkretisierten. 191 Schmoller entwickelte seine Vorstellungen in seiner Studie über das "Merkantilsystem" und betonte dabei den Zusammenhang des wirtschaftlichen Lebens mit den wesentlichen und leitenden Organen des sozialen und politischen Lebens überhaupt: "[...] ich meine die Anlehnung der jeweiligen wesentlichen wirtschaftlich-sozialen Einrichtungen an die wichtigsten oder an einzelne wichtige politische Körper" 192 .

188

Schmoller ( 1949), S.65. Schmoller (1900/04), 2. Teil, S.747. 190 Schmoller (1874b), S.40; siehe ebenfalls die Ausführungen in Schmoller (1900/04), 2.Teil, S.639 ff. 191 Wie Kellenbenz hervorhebt, war die Konstruktion von "Wirtschaftstufen" ein Lieblingsthema der deutschen Nationalökonomie dieser Zeit. Vgl. Kellenbenz, Hermann: Art. "Wirtschaftstufen", in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 12, Tübingen-Göttingen 1965, S.260-269, zu Schmollerbes. S.263. 192 Schmoller, Gustav: Das Merkantilsystem, in: ders., Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, S.l-60, hier S.2. 189

4. Historisch-ethische Nationalökonomie als Sozialwissenschaft

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Mit der Vermengung sozialer und biologischer Evolutionskategorien im Sinne Lamarcks und Herbert Spencers erweckt Schmoller den Eindruck, als ob soziale Prozesse biologisch tranferierbar seien.193 "Durch die Vererbung", so Schmoller, "wird das in jeder Generation hinzugefügte Erziehungskapital gleichsam fixiert, dauernd der Folgezeit überliefert [...] Wenn so die Vererbung den Menschen nicht emporhöbe, so müßte jede Generation von neuem beginnen, so würden wir heute noch auf dem Standpunkte roher Wilder stehen."194 Schmoller war sich zwar der Unvollkommenheit der "heutigen Vererbungslehre" durchaus bewußt, spricht aber ähnlich wie Spencer vom Einfluß der Vererbung körperlicher und geistiger Eigenschaften auf die Klassenbildung: "Ich weiß wohl, daß über die Vererbung der von den Eltern erworbenen Eigenschaften heute ein noch nicht ausgetragener Streit bestehe, aber auch daß sie von keiner Seite ganz geleugnet werde. Das zu tun, hieße den Fortschritt der Menschheit vom Wilden zum Kulturmenschen negieren." 195 Es sei eine Modeliebhaberei des Radikalismus, alle Erblichkeit menschlicher Eigenschaften zu leugnen oder als unerheblich darzustellen und alle menschliche Verschiedenheit ausschließlich auf Erziehung, Institutionen, Eigentumsverteilung zurückzuführen. Je mehr die Sozialwissenschaft sich mit den Ergebnissen der Biologie vertraut mache, desto höher werte sie die Vererbungseinflüsse. Es liege darin nichts anderes als die Anerkennung des Zusammenhangs der Generationen. 196 Thorstein Vehlen hob diesbezüglich zu Recht hervor, daß sich Schmollers Ansatz sowohl hinsichtlich der Einstellung gegenüber der ökonomischen Theorie als auch hinsichtlich des Entwicklungsgedankens von der älteren historischen Schule, vor allem Roscherscher Prägung, doch wesentlich unterscheidet. "It is", so Veblen, "only by giving a very broad meaning to the term that this latest development of the science can be called 'historical' economics. It is Darwinian rather than Hegelian, although with the ear-marks of the Hegelian affiliation visible now and again; and it is 'historical' only in the sense similar to 193

So etwa Pribram (1983), S.217. Schmoller, Gustav: Rezension von Karl Bücher, Die Entstehung der Volkswirtschaft, in: Schmollers Jahrbuch, 17 (1893), S.1261 f. 195 Schmoller, Gustav: Die soziale Frage. Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf, München-Leipzig 1918, S.l55 f. Und weiter: "Ich muß daher bei dem allgemeinen Satze bleiben, daß neben dem Rassentypus die großen historischen Scheidungen des Berufs und der Arbeit als Anstoß zur sozialen Klassenbildung mitgewirkt haben, daß jedenfalls für jede empirische Untersuchung der Klassen die psychologischen Eigenschaften, die mit Beruf und Arbeit der Individuen sich ergeben, und die sich häufig durch Vererbung fixiert und gesteigert haben, den Ausgangspunkt, das eigentlich sichere Fundament bilden." 196 Schmoller (1918), S.l57. 194

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that in which a Darwinian account of the evolution of economic institutions might be called historical." 197 Schmoller beabsichtige eher eine Theorie des Ursprungs, Wachstums, Bestehens und der Veränderung von Institutionen, sofern diese ökonomisch relevant oder ökonomisch bedingt seien. Das ökonomische Geschehen ist für Schmoller demnach ein Prozeß des ethisch-biologischen Fortschritts, der sich in gerechteren Institutionen niederschlägt, durch die wiederum die Menschen zu "höheren Formen des Daseins" erzogen werden. 198 So endet auch der Grundriß der Volkswirtschaftslehre in der Schlußapotheose: "Es wird die Zeit kommen, da alle guten und normal entwikkelten Menschen einen anständigen Erwerbstrieb und das Streben nach Individualität, Selbstbehauptung, Ichbejahung verstehen werden zu verbinden mit vollendeter Gerechtigkeit und höchstem Gemeinsinn. Hoffentlich ist der Weg dazu nicht so lang wie der war, der von den Brutalitäten der körperlichen Kraftmenschen zum heutigen Kulturmenschen führte." 199 Die Fortschrittsidee ist für Schmoller demnach weit mehr als das optimistische Lebensgefühl seiner Epoche: Sie ist der rote Faden seines Denkens. Die Menschheitsgeschichte ist als der Prozeß der fortwährenden Kultivierung des Menschen hin zu höheren Formen der materiellen wie immateriellen Kultur begreifbar. 200 Schmollers Lehre von der gleichzeitigen Entwicklung von Kultur und Sittlichkeit harmonisiert somit den durch wirtschaftliche Innovationen bewirkten gesellschaftlichen Wandel. 201

5. Sozialwissenschaft als Kulturwissenschaft Schmollers Weltbild ist geprägt von einem Primat der Kultur in dem Sinn, in dem Tenbruck allgemein die bürgerliche Kultur in der Phase ihrer "kulturellen

197

Vehlen, Thorstein: Gustav Schmoller's Economics, in: Quarterly Journal of Economics, X V I (1902), S.69-93, hier S.80 f.; wiederabgedruckt in: Gustav Schmoller (1838-1917) and Werner Sombart (1863-1941), ed. by Mark Blaug, [= Pioneers in Economics Series, Vol.30], Aldershot-Brookfield 1992, S. 1-25, hier S. 12 f. 198 Zum Begriff der "ethisch-biologischen Fortschrittsidee" im Werk Schmollers siehe die Ausführungen von Euchen, Walter: Wissenschaft im Stile Schmollers, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 52 (1940), S.476. 199 Schmoller (1900/04), 2.Teil, S.678. 200 Vgl. Menzer, Paul: Gustav von Schmollers Lehre von der Entwicklung, in: Spiethoff (1938), S. 82-89. 201 Prisching (\993), S.198.

5. Sozial Wissenschaft als Kulturwissenschaft

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Vergesellschaftung" charakterisierte: nämlich nicht als ein Eigenreich geistiger und künstlerischer Objektivationen allein, sondern als der Ort und das Medium sozialer Verständigung über die Wirklichkeit, auf die es Einfluß zu nehmen galt. 202 Nicht zuletzt deswegen steht für Tenbruck die Person Schmollers stellvertretend für die Entstehung und Formation einer eigenständigen Sozialwissenschaft in Deutschland.203 Schmollers 'historische Methode' kann hierbei als der Versuch angesehen werden, wirtschaftliches Handeln - neben politischem, rechtlichem und sittlichem - in einer Totalität von Kulturerscheinungen zu verorten. 204 Die Geschichte ist dabei nicht nur eine Abfolge individueller Geschehnisse; die ethischen und kulturellen Verhaltenserwartungen und Lebensordnungen sind für Schmoller weder ganz allgemein noch ganz individuell, sondern ein historisch sich entwickelnder Konnex von allgemeinen Normen und individuellen Wertungen, deren Ineinandergreifen durch Beobachtung nachvollziehbar ist. Volkswirtschaftslehre als ethische und kulturelle Ökonomie, so hebt Koslowski hervor, ist deshalb verstehende Kultur- und Sozialwissenschaft, die in den Bereich des Verstehens nicht nur das als allgemein und naturhaft unterstellte psychologische Motiv des Erwerbsstrebens einschließt, sondern in ihre Theoriebildung auch Ethik und Kultur einbezieht und somit sowohl den historisch vermittelten Sinnzusammenhang eines epochentypischen 'Wirtschaftsstils' 205 als auch die durch Werte und Normen bestimmte 'Sittlichkeit' berücksichtigt. 206 Die Ethik erscheint der 'historisch-ethischen Nationalökonomie' als eine Weise rationalen Handelns, die den subjektiven und objektiven Sinnzusammenhang um-

202

Vgl. Tenbruck, Friedrich H.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen-Wiesbaden 1989, S.266 f. 203 Vgl. Tenbruck, Friedrich H.: Zusammenfassung und Vorblick, in: Schiera! Tenbruck (1989), S.254. Dennoch ist sich vom Bruch sicher: "Eine Renaissance, wie sie in den letzten beiden Jahrzehnten für die methodisch-begrifflichen Leistungen von Otto Hintze und Max Weber erfolgte, ist kaum zu erwarten, da Schmoller die Einheit der Wissenschaft nicht in einem analytisch fruchtbaren Methodenarsenal, sondern in einer realhistorischen Zusammenschau der Fachgegenstände erblickte." vom Bruch, Rüdiger: Gustav Schmoller, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S.219-238, hier S.228. 204 Vgl. vom Bruch, Rüdiger: Nationalökonomie zwischen Wissenschaft und öffentlicher Meinung im Spiegel Gustav Schmollers, in: Schiera/Tenbruck(1989), S.l69. 205 Vgl. bereits die Hervorhebung des jeweiligen "Kulturstils" bei Spiethoff, Arthur: Gustav von Schmoller und die anschauliche Theorie der Volkswirtschaft, in: Spiethoff (1938), S.16-35, hierS.19. 206 Vgl. Koslowski, Peter: Der ökonomische Zwischenbau. Volkswirtschaftslehre als Ethische und Kulturelle Ökonomie, in: Bock/Homanni Schiera (1989), S.185-221, hier S.193.

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fassender interpretiert und die Handlungssituation und das Selbstinteresse des einzelnen weiter faßt als die ökonomische Rationalität eines rein eigeninteressierten und nutzenorientierten Handelns. Sie erweitert den subjektiven Sinnzusammenhang auf die durch die Kultur vermittelten ethischen Werte und Zwecke der Gemeinschaft. 207 Die 'historisch-ethische Volkswirtschaftslehre' steht daher nicht in direktem Gegensatz zur ökonomischen Theorie, sondern ist deren notwendige Vervollständigung. Wenn nämlich, so Schmollers Überlegung, der Gegenstand ökonomischer Betrachtung - das wirtschaftliche Handeln - eine ethische, kulturelle und religiöse Dimension aufweist, muß auch die dieses Handeln erklärende ökonomische Theorie ethische, kulturelle und religiöse Sinnzusammenhänge einschließen. Und das bedeutet wiederum, den subjektiven Sinnzusammenhang des wirtschaftenden Menschen in den objektiven, alle Bestimmungsfaktoren einschließenden Sinnzusammenhang der ihn umgebenden kulturellen Welt einzuordnen. Die Formen des Ethos und der Kultur sind geschichtlich vermittelt; notwendigerweise ist es dann auch das konkrete wirtschaftliche Handeln. Die Welt der Ideen, der Religion und des Rechts ist für Schmoller 'Ereignis'. Der Zugang zu dieser Welt ist daher nicht allein die Einsicht in etwas universell Gültiges, Übergeschichtliches, sondern das 'Erleben' von sich ereignendem Werden. Die sinnhafte Rekonstruktion von Wirklichkeit in den Gesellschaftswissenschaften wird für Schmoller, in enger Anlehnung an Dilthey, demnach prinzipiell durch das ganzheitliche Erleben des Individuums als historischem Subjekt ermöglicht: "Die Gesellschaft ist unsere Welt. Das Spiel der Wechselwirkungen in ihr leben wir mit. Das Bild ihres Zustandes sind wir genötigt, in immer regsamen Werturteilen zu meistern, mit nie ruhendem Antrieb des Willens in der Vorstellung umzugestalten. Daher besteht an sich ein unmittelbares Verständnis für sie, ein direktes praktisches und theoretisches Verhalten ihr gegenüber." 208 Die Eigenerfahrung führt uns zum Verständnis des Zusammenhangs des geschichtlich Gewordenen, wie uns andererseits durch die geschichtliche Erfahrung das menschliche Sein und sein unerschöpflicher Sinn näherrückt. Die psychische Motivation ist die Triebkraft der Geschichte, während das psychologische Verstehen den Kausalzusammenhang der Geschichte öffnet. Deshalb können auch keine bleibenden, unveränderlichen Begriffe geschaffen werden. Diese müssen vielmehr, gerade weil sie von "beweglichen", sich än-

207 208

Koslowski (1989), S.194. Schmoller {1888a), S.298.

5. Sozialwissenschaft als Kulturwissenschaft

97

dernden Objekten abgeleitet werden, selbst das Merkmal der Veränderlichkeit in sich tragen. 209 Sicherlich kann man, wie Rothacker, in Schmoller einen "Abkömmling von 'Glaubensphilosophie' und Idealismus" sehen, dessen Vorstellungen eine "pantheistische Metaphysifizierung" des Erlebens begünstigen.210 Schmoller betonte zwar die wichtige Einsicht, alle schöpferische Poiesis, alle kulturelle und wirtschaftliche Produktion sei zeitbezogen. Man gewinnt aber den Eindruck, als ob er zeitweise die Zeitbezogenheit des Geistigen zu einer Zeitlichkeit des absoluten Geistes selbst, eben des "Zeitgeistes" und des "Volksgeistes", metaphysifiziert. 211 So ist es gewiß auch die "idealistisch verstandene Vernunft", die er sich historisch in Volksgeister aufgespalten vorstellt, wenn er die "ideale Humanität und nicht die rein zoologische Art" des Menschen meint. 212 Er stellt die Geschichtlichkeit der Kultur nicht nur fest, sondern er überhöht und verklärt sie damit normativ. Kultur und Geschichte werden zum kryptoreligiösen 'ganz Anderen' der Natur, zur Erlösung vom Allgemeinen und immer Wiederkehrenden. Schmoller muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß man seine Neigung zur Ablehnung jeder Form von Universalismus außer dem Universalismus seiner Methode 'historistisch' nennt, weil der unterstellte völlige Individualismus zwangsläufig eine metaphysische Geschichtlichkeit des Seins annehmen muß, in die alle Züge der Wirklichkeit eingebunden sind. Schmoller hatte letztlich kein klares Verständnis von der logischen Funktion nomologischer Hypothesen für die Entdeckung wissenschaftlicher Aussagen. Er glaubte an einfache Ursache-Wirkung-Zusammenhänge. Ausgehend von 'sicheren, vollendeten Beobachtungen', die lediglich zu definieren und zu klassifizieren seien, sollte die kausale Erklärung ihrer Zusammenhänge erfolgen. In der historischen Beschreibung und Beobachtung freilich liegt bereits das Problem. 213 Denn in der Absicht, Phänomene in ihrer Mannigfaltigkeit zu beschreiben, bedarf es bereits eines vorhandenen Begriffsarsenals und hypothetischer Annahmen über die Zusammenhänge dieser Phänomene selbst. Wilhelm Dilthey 209

Zu den Problemen der Begriffsbildung bei Schmoller siehe Mitscherlich, mar: Die Lehre von der beweglichen und starren Begriffen. Erläutert an der schaftswissenschaft, [= Geisteswissenschaftliche Forschungen, Heft 1], Stuttgart S.129 ff. u. 149. 2,0 Rothacker, Erich: Historismus, in: Spiethoff (1938), S.4-15, hier S.5. 211 Koslowski (1989), S.208. 212 Rothacker (1938), S.5. 213 Bereits Schumpeter bemerkt, daß Schmollers beliebte Gleichsetzung "empirischen Arbeitsweise" mit der "Induktion" unhaltbar sei. Siehe Schumpeter S. 166. 7 Nau

WaldeWirt1936,

seiner (1954),

II. Gustav Schmoller

98

hob in seiner Rezension des Grundriss(es) der Volkswirtschaftslehre genau auf jenen hermeneutischen Zirkel ab, den Schmollers wissenschaftliche Arbeit eigentlich immer bewußt unterstellte. "Die Beschreibung", so Dilthey, "welche sich auf die Beobachtung gründet, bedarf der Begriffsbildung; der Begriff und seine Definition setzt eine Klassifikation der Erscheinungen voraus; soll nun diese eine Gesamtheit derselben planvoll ordnen, sollen die Begriffe das Wesentliche der Tatsachen aussprechen, welche sie repräsentieren, dann setzen sie bereits die Erkenntnis des Ganzen voraus. So entsteht ein Zirkel. Es ist im Grunde ein künstlerischer Vorgang, in welchem die Macht, die Universalität und der objektive Charakter der Intuitionen den Wert des Ergebnisses bestimmen." 214 Schmoller ahnte dieses Transferproblem 215 wissenschaftlicher Erkenntnis zumindest, wenn er davon sprach, daß die drei geistigen Operationen empirischer Wissenschaft (Beobachtung-Beschreibung-Erklärung) stets ineinander übergreifen: "[...] der erste Schritt der Beobachtung setzt schon richtige Namen und Klassifikation voraus; jede gute Beobachtung gibt Kausalerklärungen." 216 Gleichwohl stellte die empirische Beobachtung von Motiven wirtschaftlicher Handlungen sowie deren Verlauf und deren Ergebnisse für ihn keine Schwierigkeit dar: "Der Motive unserer Handlungen werden wir uns direkt durch Beobachtung unseren eigenen Seelenlebens bewußt; von uns schließen wir auf andere." 217 Und letztlich war es doch die künstlerische Poiesis, die auch in den Wissenschaften den Zusammenhang zwischen Detailkenntnis und Weltanschauung vermittelt: "Aber eine Synthese, welche ein Volk, eine Zeit, ein Menschenleben als Ganzes begreift, welche von reicher Erfahrung ausgeht, in welcher sich vollendete Sachkenntnis mit künstlerischer Intuition verbindet, kann sich der wirklichen Erkenntnis so nähern, daß sie für unsere Zwecke mit ihr zusammenfällt." 218

2.4

Dilthey , Wilhelm: Zu Schmollers Grundriss der Volkswirtschaftslehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.l 1, Stuttgart-Göttingen21960, S.254-258, hier S.258. 2.5 Vgl. Dopfer, Kurt: How Historical is Schmoller's Economic Theory, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 144/3 (1988), S.553-569; siehe zum Transferproblem insbesondere S.557 ff. 216 Schmoller ( 1949), S.24. 217 Schmoller (1949), S.24. Da es, wie Albert konstatiert, in diesem Verfahren keine "inhalts wachsenden Argumente" für Schmoller gibt, existiert im engeren Sinne auch keine richtige "induktive Methode" - im Sinne einer induktiven Logik - als heuristischer Verweis zur Formulierung empirischer Generalisationen. Siehe zur weiteren Kritik Albert, Hans: Kritik der reinen Erkenntnislehre. Das Erkenntnisproblem in realistischer Perspektive, [= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, Bd.53], Tübingen 1987, S.81 f. 218 Schmoller ( 1949), S.25.

6. Resümee

99

6. Resümee Einerseits bestätigt sich in Schmollers Werk, was Shionoya über die historische Schule der deutschen Nationalökonomie als Ganze gesagt hat, daß sie nämlich die beiden "vorwissenschaftlichen Wurzeln", Politik und Philosophie, zu Leitsternen der historischen Forschung nimmt. 219 Andererseits aber ging Schmoller von einer ganzheitlichen Vorstellung einer Gesellschaftslehre aus, die einen Positionenwechsel von der politisch-philosophisch orientierten Staatswissenschaft eines Heinrich von Treitschke zu einer historisch orientierten Gesellschaftswissenschaft in der Richtung von Lorenz von Stein und Robert von Mohl vollzieht. Wie letztere, so versuchte auch Schmoller immer noch die Einheit der 'Wissenschaften vom Menschen' zu retten, indem er die neueren Erkenntnisse der Kulturanthropologie, der Kulturgeographie, der Biologie und anderer in eine humanistisch ausgerichtete Wissenschaft, eine 'Kulturwissenschaft' einzubinden suchte. Schmollers sozialreformerischer Anspruch, dessen Ziel eine größere Verteilungsgerechtigkeit gewesen ist, determiniert - ganz in dieser Tradition stehend seine "pragmatisch-ethische" Wissenschaft. 220 Den Zerfallsprozeß der 'Staatswissenschaften' und die damit einhergehende Emanzipierung der Nationalökonomie und der Soziologie als eigenständige Disziplinen hielt Schmoller damit jedoch nicht auf. Schmollers Zeitgenossen haben seine Bemühungen um eine stärker historisch-realistisch orientierte sozialwissenschaftliche Forschung, die ökonomische Abläufe in ihren kulturellen Zusammenhängen verstehen wollte, durchaus zu schätzen gewußt. So heuchelte Max Weber 1908 in einem Schreiben aus Anlaß von Schmollers 70. Geburtstag keineswegs, als er lobend hervorhob: "In einer Zeit des dürrsten ökonomischen Rationalismus haben Sie historischem Denken in unserer Wissenschaft eine Stütze bereitet, wie sie es in gleicher Weise und

219 Vgl. Shionoya, Yuichi: Schmollers Forschungsprogramm - Eine methodologische Würdigung, in: Horst Claus Recktenwald (Hrsg.), Vademecum zu einem Klassiker der Historischen Methode in der ökonomischen Theorie, Düsseldorf 1989, S.55-76, hier S.56. 220 Das Wissenschaftsanliegen Schmollers im Bewußtsein seiner öffentlichen Wirksamkeit sieht vom Bruch daher im wesentlichen durch drei Kriterien bestimmt: den nationalpädagogischen Anspruch universaler Wahrheit, befreit von materiellen Sonderinteressen und verankert im sittlichen Medium der Vernunft, die Unabhängigkeit und Distanz von Partikularinteressen und, damit einhergehend, eine Ethisierung der Macht in Form des höheren Staatsbeamtentums. Vgl. vom Bruch (1989b), S.l75 f.

100

II. Gustav Schmoller

gleichem Maße bei keiner anderen Nation gefunden hatte und bis heute nicht hat [...] Daß die Zeit für theoretische Arbeiten wieder reif werden konnte, daß überhaupt ein mächtiger Bau voll Erkenntnis und historischer Durchdringung, psychologischer Analyse und philosophischer Gestaltung vor uns steht, den wir Jüngere nun wieder versuchen dürfen, mit den Mitteln theoretischer Begriffsbildung weiter zu bearbeiten, das alles danken wir schließlich vornehmlich Ihrer jahrzehntelangen, unvergleichlich erfolgreichen Arbeit." 221 Dieses Lob muß allerdings im rechten Licht gesehen werden. Schmoller war zwar einer derjenigen, die Max Weber den Weg kulturwissenschaftlicher Forschung gewiesen haben, doch hat er keine geeignete Methode und keine theoretische Begriffsbildung hinterlassen. Darauf verweist Weber explizit in einem Schreiben an Georg von Below, der 1904 mit seiner Aufsatzreihe Zur Würdigung der historischen Schule der Nationalökonomie 222 eine vernichtende Kritik an der wissenschaftlichen Methodik der sogenannten Schmoller-Schule übte: "Sehr geehrter Herr Kollege! Ich danke sehr für Ihren freundlichen Brief, besonders, daß Sie meine Bemerkungen bezüglich SCHMOLLERS freundlich aufgenommen haben, - die Sie ja schließlich als 'unberufen' hätten ablehnen können. Sie waren bei mir wesentlich dadurch veranlaßt, daß ich nicht gern als 'Höfling' gelten wollte, wenn ich seinerzeit SCHMOLLER im ganzen doch anders behandeln werde, obwohl ich - wie ich das den Kollegen hier ausdrücklich gesagt habe - in allem einzelnen Sie im Recht finde [...] Es ist und bleibt ein Skandal, daß hier (wie bei SOMBART) eine wirklich sachliche Kritik aus unserem Fach heraus nicht erfolgt und alles Ihnen überlassen bleibt". 223

221 Reden und Ansprachen gehalten am 24.Juni 1908 bei der Feier von Gustav Schmollers 70.Geburtstag, als Ms. gedruckt Altenburg 1908, S.67 f. Hier zitiert nach Herkner (1924), S.9. 222 Below, Georg v.: Zur Würdigung der historischen Schule der Nationalökonomie, in: Zeitschrift für Socialwissenschaften, 7 (1904), S.l45-185, S.221-237, S.304-329, S.367-391, S.451-466, S.654-659, S.710-716 u. S.787-804. 223 Brief Max Webers an Georg von Below vom 19.Juli 1904; zitiert nach Below, Georg v.: "Entstehung der Volkswirtschaft" und meine "Probleme der Wirtschaftsgeschichte", in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 16 (1922), S.443-449, hier S.449.

6. Resümee

101

Schmoller war, so kann man resümieren, in seinen wissenschaftlichen Anschauungen sicherlich ein "Synkretist", aber nicht, wie Walter Eucken interpretierte, weil dies ein "Zeichen der Auflösung geistiger Kultur" 224 in einer Zeit gesellschaftlichen Wandels gewesen wäre, sondern weil Schmoller als "Übergangsmensch"225 die Einflüsse der verschiedenen geistigen Strömungen von Idealismus, Positivismus und Historismus in ein alle Umbrüche harmonisierendes Entwicklungsmodell zwingen wollte. Schmoller war Idealist bezüglich seiner Staatsvorstellung; er war Positivist bezüglich seiner Vorstellung von der Gewinnung exakter, wissenschaftlicher Erkenntnisse; und er war Historist bezüglich seines Grundverständnisses historischer Entwicklung. Diese für das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts nicht ungewöhnliche Gemengelage mußte naheliegenderweise eine ganz eigenartige, heute schwer nachvollziehbare Synthese wissenschaftlicher Anschauungen ergeben. Georg Simmel hat in seiner Kritik von Schmollers Grundriß der Volkswirtschaftslehre diese Eigenart als symptomatisch für die in den 1830er und 1840er Jahren geborene Gelehrtengeneration, die angesichts der Antinomien des 'modernen Lebens' noch die Harmonie und den Optimismus der "großen Synthese" aufzeigen wollte, treffend analysiert. Was Simmel aus (wissens-)soziologischer Sicht an Schmollers Position demnach stärker faszinierte als dessen kulturwissenschafllich-methodologischen Überlegungen, war die in seinen Darlegungen sich verallgemeinernde "Weltanschauung", das erkenntnisleitende "Lebensgefühl" dieser Generation, die Simmel kulturkritisch diagnostizierte: "Diese Synthese aller historischen Elemente, um ein einzelnes zu begreifen, ist die Spiegelung einer subjektivgeistigen Stimmung: auf jeder Seite spürt man den Kampf des ordnenden, nur durch die Ordnung sich selbst erhaltenden Geistes gegen die in jedem Augenblick drohende Überwältigung durch die Fülle der Wirklichkeit [...]. Dieses Wechselspiel zwischen dem Zuströmen des Materials und der synthetischen Einheit, die ihm immer wie mit einem Kommandostab entgegentritt, dieser im-

224 225

Eucken (1940), S.503.

Der Ausdruck "Übergangsmenschen" geht auf den naturalistischen Schriftsteller Hermann Conradi zurück, der 1889, ein Jahr nach der Thronbesteigung von Wilhelm II., von seinen Zeitgenossen als einer "Generation der Übergangsmenschen" sprach, um den Wandel, der sich in dieser Epoche vollzöge, als einen entscheidenden Umbruch zu bezeichnen. Vgl. Doerry, Martin: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim-München 1986, S.9.

102

II. Gustav Schmoller

mer zu erneuernde Sieg der Einheit über die Masse, ist ein höchst reizvolles Schauspiel. Freilich würde es so harmonisch nicht verlaufen, wenn es nicht als Ganzes von einer Weltanschauung, die man nur als optimistisch bezeichnen kann, getragen würde." 226

226

Simmel, Georg: Einige Bemerkungen zu Schmollers "Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre", in: Allgemeine Zeitung, Nr.222, Beilage, München 28.9.1900, S.l-3, hier S.3.

I I I . Carl Menger: Sozialwissenschaften als Menschheitswissenschaften 1. Die Relevanz der Grenznutzenschule für die Sozialwissenschaften Carl Menger 1 (1840-1921) gilt als der Gründer 2 der sogenannten „österreichischen Grenznutzenschule" 3 bzw. „Wiener

Schule" 4 . Ä h n l i c h wie die

'Schmoller-Schule' i m Deutschen Kaiserreich konnte sie durch ihre Nähe zur österreichischen Verwaltungsbürokratie, deren Ministerämter nicht selten ehemalige Professoren der Volkswirtschaftslehre der Universität W i e n innehatten von Wieser, von Böhm-Bawerk, Schumpeter z.B. waren österreichische Handels- oder Finanzminister -, Nachwuchskräfte in hohe Beamtenstellen bringen. Besser als jener gelang es ihr jedoch innerhalb von vier Gelehrtengenerationen zwischen 1871 und 1950 sukzessive, personelle Kontinuität und Theorietradi-

1

Zur Biographie Mengers siehe Wieser, Friedrich: Karl Menger, in: Neue österreichische Biographie, Bd.I, Wien 1923, S.84-92; ferner Streissler, Erich: Carl Menger (1840-1921), in: Starbatty (1989), Bd.2, S.l 19-134, 315 f., 333-335. Zur Bedeutung Mengers in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften siehe den Sammelband von Blaug, Mark (Hrsg.): Carl Menger (1840-1921), [= Pioneers in Economics, Vol.26], Aldershot-Brookfield 1992; ferner Sweezy, Alan R.: Collected Works of Carl Menger, in: Quarterly Journal of Economics, 50 (1936), S.719-730. 2 Vgl. Bloch , Henri-Simon: Carl Menger: The Founder of the Austrian School, in: Journal of Political Economy, 48 (1940), S.428-433. 3 Zu den Entstehungszusammenhängen der Grenznutzenschule in Österreich siehe Streissler, Erich: Menger, Böhm-Bawerk, and Wieser: The Origins of the Austrian School, in: Hennings! Samuels (1990), S.l51-189. Eine etwas schematische Erklärung liefert ferner Wysocki, Josef: Entstehungszusammenhänge der „Wiener Schule", in: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie, [= Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. Bd.ll5/VI], hrsg.v. Harald Scherf, Berlin 1988, S.171-186. 4 Siehe zur Genealogie der „österreichischen Schule" der Nationalökonomie Hayek, Friedrich A. v.: Art. Wiener Schule, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd.XII, Göttingen 1965, S.68-71; ferner ders. : Einleitung, in: Carl Menger, Gesammelte Werke, hrsg. und mit einer Einleitung und einem Schriftenverzeichnis versehen von F.A. Hayek, Bd.I, Tübingen 1968, S.VII-XXXVI, hier S.XIX ff.

III. Carl Menger

104

tion in einen Zusammenhang zu bringen, 5 der für jede sogenannte 'Schulbildung' charakteristisch und ausschlaggebend ist. 6 O b w o h l Carl Menger i n seiner Habilitationsschrift Grundsätze wirtschaftslehre

1

der Volks-

die Grenznutzentheorie zum ersten M a l formulierte, eine Lei-

stung, die unabhängig von Menger auch W i l l i a m Stanley Jevons 8 i n Cambridge und Léon Walras 9 in Lausanne etwa zeitgleich erbrachten, 10 prägte erst ein Schüler Mengers, Friedrich von Wieser, den Ausdruck „Grenznutzen" 1 1 i n seiner 1884 erschienenen Habilitationsschrift Über den Ursprung gesetze des wirthschaftlichen die Wertthematik Werth

13

Werthes.

noch ausführlicher

12

und die Haupt-

Dessen fünf Jahre später erschienene, behandelnde

Schrift Der

natürliche

war dann die erste nationalökonomische Abhandlung i m deutschen

Sprachraum, die eine substitutionale Produktionstheorie formulierte und den von Menger noch unsystematisch verwendeten B e g r i f f der „Knappheit" oder „notwendigen Sparsamkeit" in die ökonomische Theorie einband. 1 4

5 Siehe hierzu Streissler, Erich: The Menger Tradition, in: Carl Menger and the Austrian School of Economics, ed. by John R. Hicks and Wilhelm Weber , Oxford 1973, S.226-232. 6 Zu den (gelehrten-)politischen Auswirkungen dieser Schule siehe Streissler, Erich: The Intellectual and Political Impact of the Austrian School of Economics, in: History of European Ideas, 9 (1988), S.191-204, bes. S.197-201. 7 Menger, Carl: Grundsätze der Volkswirtschaftslehre. Erster, Allgemeiner Theil, Wien 1871. 8 Jevons , William Stanley: Theory of Political Economy, London-New York 1871 9 Walras , Léon: Eléments d'économie politique pure ou théorie de la richesse sociale, 2 Bde., Lausanne 1874-1877. 10 Siehe Niehans, Jürg: Multiple Entdeckungen in der Wirtschaftstheorie, [= Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte, Heft 1, Jg. 1992], München 1992, S.9. 11 Zur Entstehung des englischen Begriffs „marginalism" siehe Howey, Richard S.: The Origins of Marginalism, in: History of Political Economy, 4 (1972), S.281-302. Zum sozialen Kontext der „marginal utility theory" in Großbritannien der 1870er Jahre siehe Coats , A.W.: The Economic and Social Context of the Marginal Revolution of the 1870's, in: History of Political Economy, 4 (1972), S.303-324. 12 „Die Größe des Werthes der Productivgüter wird durch den geringsten Grenznutzen bestimmt, der in irgendeinem Productionszweige wirtschaftlicher Weise noch erreicht werden kann." Wieser, Friedrich v.: Über den Ursprung und die Hauptgesetze des wirthschaftlichen Werthes, Wien 1884, S.149. Die erste Erwähnung des Begriffs ebendort S.128. 13 Wieser, Friedrich v.: Der natürliche Werth, Wien 1889, bes. S.12, wo Wieser den Begriff „Grenznutzen" für sich reklamiert. 14 Streissler, Erich: Arma virumque cano. Friedrich von Wieser, der Sänger als Ökonom, in: Die Wiener Schule der Nationalökonomie, hrsg.v. Norbert Leser,

1. Die Relevanz der Grenznutzenschule für die Sozialwissenschaften

105

Die Bedeutung der Grenznutzentheorie lag vornehmlich darin, daß sie den „Archetypus" 15 einer Theorie darstellte, die das verkehrswirtschaftliche Problem der möglichst effizienten Allokation knapper Ressourcen lösen wollte, das seit Robert Malthus' pessimistischer Bevölkerungstheorie ein Anliegen nahezu jeder ökonomischen Theorie war. Zum ersten Mal wurde die Ökonomik hierbei zu einer Wissenschaft, die sich mit der Beziehung zwischen eindeutig vorgegebenen Zielen und einem gegebenen Vorrat an Mitteln mit diversen Verwendungen befaßte. Winch behauptet deswegen, erst die Grenznutzenschule habe eine klare Konzeption dessen entwickelt, was man heute „ökonomisch" im wirtschaftlichen Verhalten von Individuen nennt.16 Denn hiermit sei sie zum „ A u s gangspunkt für ökonomisches Theoretisieren schlechthin"17 geworden, da erst mit der Verengung der Grenzen wissenschaftlicher Aussagen auf das, was mit Hilfe deduktiver Methoden erklärbar gewesen sei, die Ökonomik von einem „professionellen Standpunkt" aus hätte verteidigt werden können.18 Man wird sicherlich zu Recht behaupten dürfen, daß erst mit der rapiden Veränderung des ökonomischen Umfeldes nach 1871 - in erster Linie also der Differenzierung der Arbeitswelt mit dem Aufkommen der neuen Berufsgruppe der Angestellten, dem wachsenden Konsum und den neuen Konsumgewohnheiten aufgrund höherer Kaufkraft und, infolgedessen, differenzierteren LohnPreis-Strukturen -, zum einen die Schwachstelle der Theorie der ökonomischen Klassik, das sogenannte 'Wert-Paradoxon' 19, deutlich aufgezeigt wurde, und zum anderen die sozio-ökonomische Grundlage für eine sinnvolle Anwendung

[= Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für neuere österreichische Geistesgeschichte, Bd.3], Wien-Köln-Graz 1986, S.59-82, hier S.72 f. 15 Vgl. Blaug, Mark: Systematische Theoriegeschichte der Ökonomie, Bd.3, München 1975, S.l2 f. 16 Vgl. Winch, Donald: Marginalism and the Boundaries of Economic Science, in: The Marginal Revolution in Economics. Interpretation and Evaluation, ed. by R.D. Collison Black, A.W. Coats and Craufurd D.W. Goodwin, Durham NC 1973, S.59-77, hier S.59. 17 Rothschild, Kurt W.: Die Wiener Schule im Verhältnis zur klassischen Nationalökonomie, unter besonderer Berücksichtigung von Carl Menger, in: Leser (1993), S.l 127, hier S.26. 18 Winch (1973), S.76. 19 Vgl. z.B. Hutchison, Timothy W.: The 'Marginal Revolution' and the Decline and Fall of English Classical Political Economy, in: History of Political Economy, 4 (1972), S.442-468. Siehe auch zu Menger als „Überwinder der Ricardianischen Theorie" Schumpeter, Joseph Α.: Carl Menger, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik, N.F. 1 (1921), S.l97-206, in: Schumpeter (1954), S.l 18-127, hier S.123.

106

III. Carl Menger

und einen konsistenten Ausbau der Grenznutzentheorie sicherlich gegeben war. 20 Im Zentrum der Grenznutzentheorie steht die „Entdeckung der Nachfrageseite" und deren Rolle als wichtigster kausaler Faktor in der Wert- und Preistheorie, 21 die in der Nationalökonomie einen Wandel der ökonomischen Perspektive vom Produktions- zum Tauschprozeß ermöglichte und folgerichtig die Markttransaktion selbst in den Vordergrund ökonomischer Analyse rückte. Statt, wie die klassische Theorie, von den objektiven Daten der Produktion auszugehen der Arbeitszeit und den Produktionskosten -, welche die relativen Preise allein bestimmen sollten und denen eine kaufkräftige Nachfrage sich dementsprechend anzupassen hatte, wurde nunmehr, vice versa, der ausschlaggebende Faktor der Warenpreise beim Konsumenten selbst gesucht, dessen durch Kaufkraft gedeckte Bedürfnisse allein bestimmen sollten, ob ein Produkt 'Wert' besitzt, d.h. 'Nutzen' stiftet oder nicht. Der Wert eines ökonomischen Guts wurde damit als eine subjektive Größe angesehen, die den Anstoß zur Wertund Preisbildung am Markt auf die Nachfrageseite - d.h. die Konsumenten verlagerte, an die sich die Angebotsseite - d.h. die Produzenten - 'passiv' anzupassen hatte. Die Hinwendung zur Nachfrageseite lenkte die Aufmerksamkeit also auf die subjektiven Bewertungen und Entscheidungen eines konsumierenden Individuums am Markt. Damit sollten der wirtschaftliche Tauschwert aus dem privatwirtschaftlichen Gebrauchswert und demnach die volkswirtschaftlichen Bildungen überhaupt aus den Wertschätzungen der Individuen abgeleitet werden. Im Gegensatz zur klassischen Lehre können in der Grenznutzentheorie die Menschen als höchst ungleich bezüglich ihrer individuellen Bedürfhisse und Fähigkeiten angesehen werden, von denen die Preise und Mengen der am Markt umgesetzten Güter abhängen. Damit drückt jedes Wirtschaftssubjekt in gewisser Hinsicht durch sein Handeln dem Wirtschaftsgeschehen den Stempel seiner

20

Vgl. hierzu die Debatte zwischen Birken, der in dem Zusammenhang zwischen der Entstehung der Grenznutzentheorie und der sich entfaltenden Industriegesellschaft einen „major cultural shift" in Westeuropa und den USA erblickt, und Lipkis, der diese These aus wirtschaftshistorischer Sicht kritisiert. Birken, Lawrence: From macroeconomics to microeconomics: the marginalist revolution in sociocultural perspective, in: History of Political Economy, 20 (1988), S.251-264, bes. S.259 sowie die Einwände von Lipkis, J.M.: Historians and the History of Economic Thought: A Response to Lawrence Birken, in: History of Political Economy, 25 (1993), S.85-113 und die Antwort von Birken, Lawrence: Intellectual History and the Histoiy of Economic Thought: A Reply to J.M. Lipkis, in: Histoiy of Political Economy, 26 (1994), S.501-508. 21 Hayek (\96%), S.XV-XVIII.

1. Die Relevanz der Grenznutzenschule für die Sozialwissenschaften

107

Individualität auf. Genau dies betont die subjektive Wertlehre. Der Wert ist nicht mehr, wie in der klassischen Wertlehre, eine den Gütern inhärente Substanz, sondern die Wertschätzung weist nunmehr den Gütern den Wert mittels eines 'geistigen Akts' zu. „Unser Objekt ist", wie Wieser einmal hervorhob, „einfach das Bewußtsein des wirtschaftenden Menschen mit seinem Schatz an allgemeiner Erfahrung, d.h. jener Erfahrung, die jeder Praktiker besitzt und die daher auch jeder Theoretiker als Praktiker in sich bereit findet, ohne daß er sie erst mit besonderen wissenschaftlichen Methoden zu sammeln brauchte." 22 Die ökonomische Analyse wird mit Hilfe einfacher psychologischer - Bewertung der letzten, zur Befriedigung eines subjektiv empfundenen Bedürfnisses noch ausreichenden Einheit, des sogenannten „Grenznutzen(s)" 23 - und entscheidungstheoretischer Ansätze - Maximierung des Nutzens in einem rationalen Entscheidungskalkül anhand des Modells eines ,giorno oeconomicus"24 - durchgeführt. Die Formulierung dieser Methode, der später so genannte „methodologische Individualismus" 25 , grenzte die österreichische Grenznutzenschule jedenfalls auch wissenschaftstheoretisch scharf vom wissenschaftlichen Sozialismus und der historischen Schule ab, da politische, historische oder soziale Konstellationen für die Theorieformulierung nur noch indirekt eine Rolle spielen sollten. Lachmann wies darauf hin, diese „theoretische Methode der Sinndeutung typischer Handlungsverläufe mit Hilfe typischer Denkschemen", wie es z.B. Wirtschaftspläne sind, könne als „geisteswissenschaftlicher Denkstil der österreichischen Schule"26 gedeutet werden, 27 in deren Vordergrund das theoretische Interesse an der Wirtschaftsrechnung des Wirtschaftssubjekts stehe.28

22

Wieser, Friedrich v.: Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, in: ders., Gesammelte Abhandlungen, hrsg.v. Friedrich A. v. Hayek , Tübingen 1929, S.l0-34, hier S.16. 23 Zur ausführlichen Darlegung siehe Rosenstein-Rodan, P.N.: Art. Grenznutzen, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Jena 4 1927, S.l 190-1223. Vgl. ferner Rosner, Peter: Was heißt 'subjektive Schätzung* in der Österreichischen Schule?, in: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie. Die Darstellung der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaften in der Belletristik, [= Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. Bd.I 15/XI], hrsg.v. Harald Scherf Berlin 1992, S.301-321. 24 Rothschild (Ì9&6), S.21 f. 25 Vgl. Katterle, Siegfried: Methodologischer Individualismus and Beyond, in: Das Menschenbild der ökonomischen Theorie: zur Natur des Menschen, hrsg.v. Bernd Biervert u. Martin Held, Frankfurt a.M. 1991, S.l32-152. 26 Lachmann, Ludwig M.: Die geistesgeschichtliche Bedeutung der österreichischen Schule, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, 26 (1966), S. 152-167, hier S.152. Siehe auch Leube, Kurt R.: Bemerkungen zur methodologischen Position der Österreichischen Schule der Nationalökonomie innerhalb der Sozialwissenschaften, in: Kurt R. Leube u.

108

III. Carl Menger

Die Grenznutzentheorie besitzt neben der wissenschaftstheoretischen insofern auch eine soziologische Relevanz, als sie spezifische soziale Gruppen betrachtet, die aus der freien Assoziierung von Individuen hervorgehen, die sich auf der Basis der Einschätzung gemeinsamer ökonomischer Interessen zusammenfinden. Soziale Klassen entstehen nicht mehr, wie im Marxismus, auf der Basis von Produktionsbeziehungen oder, wie in der klassischen Nationalökonomie, auf der Basis von Verteilungsbeziehungen, sondern auf der Grundlage der Wertschätzung gemeinsamer Kauf- oder Verkaufsinteressen eines bestimmten Gutes als Mittel der Verbesserung der Austauschbeziehungen, die die Individuen jeweils anstreben. „It is", wie Clarke den Gegensatz zum Marxismus hervorhebt, „now economic interest that underlies the formation of classes not the existence of classes that underlies the conflict of interest." 29 Im folgenden soll anhand der Schriften Mengers rekonstruiert werden, welche Rolle die Mengersche Methodologie in bezug auf die Formulierung seiner Sozialtheorie spielte und inwiefern diese Relation den Kern für ein verändertes Verständnis der Sozialwissenschaft als einer 'Menschheitswissenschaft' bildete, das für die Entstehung einer eigenständigen Soziologie und Ökonomik in Deutschland mithin konstitutiv werden sollte.

2. Das Ziel sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung Mengers Ziel in den Grundsätze(n) der Volkswirtschaftslehre? 0 war es zunächst, die ökonomische Theorie seiner Zeit durch eine stringente Preistheorie, die Zins, Lohn und Rente unter einem einheitlichen Gesichtspunkt erklären

Andreas Pribersky (Hrsg.), Krise und Exodus. Österreichische Sozialwissenschaften in Mitteleuropa, Wien 1995, S.23-37, hier S.30-32. 27 Lachmann, Ludwig M.: Marktprozeß und Erwartungen. Studien zur Theorie der Marktwirtschaft, München-Wien 1984, S.53. 28 Vgl. auch Böhm, Stephan: Austrian Economics - Geschichte und philosophische Wurzeln, in: Wirtschaftspolitische Blätter, 28 (1981), S.l 19-129, hier S.l 19 ff. 29 Clarke , Simon: Marx, Marginalism and Modern Sociology. From Adam Smith to Max Weber, London 1982, S. 190. 30 Menger (1871). Zur Entstehungsgeschichte der „Grundsätze" siehe Kauder, Emil (Hrsg.): Carl Mengers erster Entwurf zu seinem Hauptwerk 'Grundsätze'. Geschrieben als Anmerkungen zu den 'Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre' von Karl Heinrich Rau, Vorwort v. Yuzo Morita, Bibliothek der Hitosubashi Universität, Tokio 1963; darin Yamada, Yuzo: On the First Draft of Carl Menger's Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, ebd., S.XVII-XXIV. Ferner Yagi, Kiichiro: Carl Menger's Grundsätze in the Making, in: History of Political Economy, 25 (1993), S.697-724.

2. Das Ziel sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung

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sollte, auf eine solide Grundlage zu stellen.31 Da aber, wie Menger bemängelte, selbst die „elementarsten Probleme" der Erklärung „wirthschaftlichen Handelns" noch nicht gelöst seien und damit die wissenschaftliche Fundierung jeglicher ökonomischen Betrachtung überhaupt noch fehle, 32 sah er vor aller ökonomischen Theorieformulierung sein vordringlichstes Ziel in der „Begründung einer Methodologie der Sozialwissenschaften" 33, die er gar als die wichtigste Aufgabe der Erkenntnistheorie seiner Zeit bezeichnete. Deshalb wurde bereits des öfteren zu Recht daraufhingewiesen, der theoretische Teil in Mengers Werk müsse im Lichte des methodologischen gesehen werden, da beide aufs engste miteinander verknüpft seien.34 Und in der Tat: Menger hat seine Methodenlehre geschrieben, weil er den Erkenntniswert seiner Grundsätze, den theoretischen gegenüber dem historischen Ansatz in der Nationalökonomie rechtfertigen wollte. 35 In der 1889 verfaßten Einleitung der erst postum erschienenen zweiten Auflage der „Grundsätze" charakterisierte Carl Menger rückblickend die doppelte Frontstellung, in der er sich nach 1871 gegenüber den Vertretern der historischen wie denen der klassischen Schule befunden habe. „Hier [im deutschsprachigen Raum, d. Verf.] war seit dem Beginne der vierziger Jahre, insbesondere aber in den letzten zwei Dezennien ein einseitiger Historismus der akademischen Vertreter der Nationalökonomie zur Herrschaft gelangt, welcher theoretischen Forschungen auf dem Gebiete der Volkswirtschaft nur geringes Interesse

31 Menger (1871), S.X u. S.143. Zur Bedeutung dieser Schrift für die Nationalökonomie siehe Hayek, Friedrich A. v.: Die Stellung von Mengers „Grundsätzen" in der Geschichte der Volkswirtschaftslehre, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, 32 (1972), S.3-9. 32 Da die „Erforschung der empirischen Grundlagen" der Volkswirtschaftslehre in der zeitgenössischen Literatur entweder keine Berücksichtigung gefunden habe oder lediglich ein „unfruchtbares Bemühen" gewesen sei. Menger (1871), S.V-VIL 33 Menger, Carl: Grundzüge einer Klassifikation der Wirtschaftswissenschaften, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, N.F. 19 (1889), S.465-496, hier S.489. 34 So Alter , Max: What do we know about Menger?, in: Carl Menger and his legacy in economics, ed. by Bruce J. Caldwell, [= Annual Supplement to volume 22 of the History of Political Economy Journal], Durham-London 1990, S.313-348, hier S.317. 35 Vgl. Wieser (1923), S.85. So darf es nicht wundern, daß mehr als die Hälfte der „Grundsätze" Problemen gewidmet ist, die erst durch die Konzeption einer subjektiven Wertlehre und einer Neuformulierung wirtschaftlicher Begriffe zu ihrem eigentlichen Ziel führte. Selbst Wilhelm Roscher billigte Menger eine „auf gründliche Dogmengeschichte gestützte [...] oft recht fruchtbare Begriffsanalyse" zu, obwohl er Menger, der ihm immerhin die „Grundsätze" gewidmet hatte, in seiner „Geschichte der NationalOekonomik" lediglich im Anhang erwähnte. Siehe Roscher, Wilhelm: Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland, München 1874, S.l040.

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III. Carl Menger

entgegenbrachte, ja infolge methodologischer Vorurteile der Wirtschaftstheorie überhaupt widerstrebte. [...] Dazu waren die Mißerfolge der Freihandelsschule getreten, welche auch auf tiefgehende theoretische Irrtümer der Smithschen Schule zurückwiesen und nicht nur das Mißtrauen gegen die herrschende Theorie, sondern gegen die Theorie überhaupt steigerten, während die großen Erfolge der historischen Schule auf dem Gebiete der Sprachforschung und der Jurisprudenz die gelehrten Volkswirte zur Nachahmung anregten." 36 Obwohl Menger die wissenschaftlichen Leistungen der klassischen Schule, die ein geschlossenes ökonomisches Theoriegebäude und damit ein Aussagensystem über wirtschaftliche Zusammenhänge hinterlassen hatte, sehr wohl zu schätzen wußte, richtete sich seine Kritik gleichwohl immer wieder ausdrücklich gegen zwei ihrer theoretischen Prämissen: zum einen gegen das undifferenzierte Gesellschaftsbild, das ihr zugrunde liege, zum anderen gegen die seiner Auffassung nach zu einseitige Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf sozialwissenschaftlichem Gebiet. Menger stand nach eigener Einschätzung daher „in strengem Gegensatz zur Smithschen Theorie" und bemühte sich, diese als „erfahrungswidrig" zu beseitigen.37 „Ich hatte", so Menger, „mir zur Aufgabe gesetzt, die von mir als irrtümlich erkannten Theorien des A. Smith zu widerlegen und an ihre Stelle neue zu setzen. Ich suchte auf dem Wege einer neuen Analyse der Wirtschaftserscheinungen die herrschende, der Erfahrung widersprechende Theorie zu beseitigen und eine neue, mit der Erfahrung des gemeinen Lebens übereinstimmende an ihre Stelle zu setzen."38 Dabei glaubte Menger auf seine Weise ein größerer 'Realist' zu sein als die historischen Volkswirte, die die „Parallelismen" der historischen Entwicklung der Völker als „Entwicklungsgesetze der Volkswirtschaft" dargestellt und dabei ihre „dogmati-

36 Siehe Menger, Carl: Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, hrsg. v. Karl Menger, mit einem Geleitwort v. Richard Schüller, Wien-Leipzig21923, S.VII f. 37 In der Einleitung seiner 1883 erschienenen Schrift Untersuchungen beschreibt Menger die Problemlage zum ersten Mal deutlich. Das Streben der Forschung beginne „mit der immer deutlicher zu Tage tretenden Erkenntnis, dass die nationalökonomische Theorie, wie sie aus den Händen Adam Smith's und seiner Schüler" hervorgegangen sei, der „gesicherten Grundlage" entbehre, daß selbst die „elementarsten Probleme" derselben keine „befriedigende Lösung" gefunden hätten. Schon vor dem Auftreten der historischen Schule deutscher Volkswirte hätte die Ueberzeugung immer mehr an Verbreitung gewonnen, daß der bis dahin „vorherrschende Glaube an die Vollendung unserer Wissenschaft" - ein Seitenhieb auf J. St. Mill - ein „falscher" sei und daß somit vielmehr die Sozial Wissenschaft einer „tiefgehenden Umgestaltung" bedürfe. Menger, Carl: Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der Politischen Oekonomie insbesondere, Leipzig 1883, S.XIII. 38 Menger (1883), S.VIII.

2. Das Ziel sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung

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sehen Darstellungen" dem „haltlosen Eklektizismus" der von Menger ja gerade als erfahrungswidrig und unrealistisch bezeichnenden ökonomischen Klassik entlehnt hätten.39 So ergab sich für Menger die Paradoxie, daß die Hauptanklage der historischen Schule gegenüber der ökonomischen Klassik deren angeblich übertriebener individualistischer Ansatz war, den Menger daselbst aber gerade nicht konsequent ausgeführt sah. Menger und seine Schüler sahen sich somit mit einer Situation konfrontiert, in der sie die historische Schule als 'nicht-theoretisch', die ökonomische Klassik hingegen als 'unrealistisch' verwerfen mußten. Und auch der sich etwas früher formierende wissenschaftliche Sozialismus stellte für die, wie sie sich selber nannten, 'Reform-Ökonomen' der Grenznutzenschule keine Alternative dar: „Bei den Klassikern", so von Wieser retrospektiv, „konnten wir nicht bleiben, [...] aber ebensowenig konnten wir uns den Sozialisten zuwenden, denn es war uns deutlich, daß sie, indem sie die Klassiker zu Ende dachten, eben nur deren Irrtümer zu Ende dachten."40 In diesem Spannungsfeld der langsamen Auflösung des sogenannten 'klassischen Paradigmas' einerseits, also jener Verlaufsform der Interpretation moderner gesellschaftlicher Verhältnisse, die ausgehend von Adam Smith über David Ricardo zu John Stuart M i l l führte 41, und der Entstehung und Durchsetzung der 'Historischen Schule' 42 in Deutschland andererseits suchte Menger nach einem

39

Menger (1883), S.VIII. Wieser (1923), S.88. Zur Auseinandersetzung zwischen der Grenznutzenschule sowie den Vertretern der klassischen und sozialistischen Wirtschaftslehre siehe jetzt Kurz, Heinz D.: Marginalism, Classicism and Socialism in German-speaking Countries, 1871-1932, in: Socialism and Marginalism in Economics 1870-1930, ed. by Ian Steedman, [Routledge Studies in the History of Economics, Vol.2], London-New York 1995, S.7-86. 41 Siehe zur sukzessiven Ablösung des 'klassischen Paradigmas' Rothschild (1986), S.l 1-27. 42 Der Ausdruck „Historische Schule" wurde anfänglich von Adolph Wagner und später von Joseph A. Schumpeter unterteilt in „Ältere Historische Schule", repräsentiert durch die Autoren Bruno Hildebrand, Wilhelm Roscher und Karl Knies, „Jüngere Historische Schule", repräsentiert durch Gustav Schmoller und seine Schüler sowie „Jüngste Historische Schule" mit Arthur Spiethoff, Werner Sombart und Max Weber. Als „soziologisches Phänomen" betrachtet, wollte Schumpeter jedoch nur die „Schmoller-Schule" gelten lassen. Vgl. Schumpeter (1965), S.987-1002; zur chronologischen und sytematischen Unterteilung Adolph Wagners siehe Wagner, Adolph: Lehrund Handbuch der politischen Oekonomie. Erste Hauptabtheilung: Grundlegung der politischen Oekonomie. Erster Theil. Grundlagen der Volkswirtschaft, 1.Halbband, 2.Kap., § 15. Die deutsche Historisch-nationalökonomische Richtung, Leipzig 3 1892, S.46 ff. 40

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III. Carl Menger

dritten Weg. Dieser sollte die „Reform der höchsten Prinzipien unserer Wissenschaft" und eine „Eröffnung neuer Zweige der theoretischen Forschung" ermöglichen, in dem er an die Vorarbeiten der Ökonomik eines Rau, Hermann und Mangoldt anknüpfte. 43 Mengers Grundsätze schienen daher für einige Nationalökonomen der „feste archimedische Punkt" zu sein, von dem aus ein solcher Weg beschritten werden konnte.44 Das wissenschaftliche Umfeld für die Grundsätze war jedoch zur Zeit ihres Erscheinens nicht günstig, da die theoretische Forschung in der Nationalökonomie seit den 1870ern zugunsten von statistischen und historischen Untersuchungen zunehmend in den Hintergrund getreten war. 45 Ihre Publikation fiel damit in eine Zeit, in der die grundlegenden Erörterungen Mengers in Deutschland keine oder doch nur wenig Aufmerksamkeit fanden. 46 Menger hielt es deswegen für notwendig, ihren Erkenntniswert zu rechtfertigen, indem er die wirtschaftstheoretische klar gegenüber der wirtschaftshistorischen Forschung abgrenzte. 47 In einer Abhandlung, in der seine in verschiedenen Schriften verstreuten Anmerkungen zur Wissenschaftstheorie Eingang finden sollten, verwirklichte er diese Intention.48 Seit Beginn der 1880er überarbeitete Menger daher die Grundsätze, die ohnehin nur als der erste, einführende Teil einer auf vier Bände angelegten Allgemeinen theoretischen Volkswirtschaftslehre oder, besser noch, eines Systems der Volkswirtschaftslehre fungieren sollte,49 mit dem Ziel, seine Wirtschaftstheorie in einen weiteren sozialwissenschaftlichen, ja,

43

Menger (1883), S.XIV. Siehe zur Tradition deutscher Ökonomik, auf die Menger sich hier bezieht, Streissler, Erich: The influence of German economics on the work of Menger and Marshall, in: Caldwell (1990), S.31-68; ferner Streissler (1989), S. 123-127. 44 Wieser ( 1923), S.88. 45 Winkel (1977), S. 102. 46 Siehe die Auswahl einzelner Rezensionen und Kritiken von Mengers „Grundsätzen" und seine Reaktion darauf bei Boos, Margarete: Die Wissenschaftstheorie Carl Mengers. Biographische und ideengeschichtliche Zusammenhänge, [= Sozialwissenschaftliches Forum, Bd.23], Wien-Köln-Graz 1986, S.21 ff. 47 Vgl. Wieser (1923), S.85. Alter geht sogar so weit, die Kritik Mengers an der historischen Schule allein auf die Mißachtung seiner „Grundsätze" zurückzuführen. Alter (1990b), S.323. 48 Siehe Kauder, Emil: Aus Mengers nachgelassenen Papieren, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 89 (1962), S.l-28, hier S.5 f. 49 In einer Bleistiftnotiz trug Menger die Titel des geplanten Gesamtwerks ein. Die „Grundsätze" sollten dabei den I. Allgemeinen Teil darstellen; es folgten: II. Teil: Kapitalzins, Arbeitslohn, Grundrente, Einkommen, Kredit, Papiergeld; III. Praktischer Teil: Theorie der Produktion und des Handels; IV. Teil: Kritik der gegenwärtigen Volkswirtschaft und Vorschläge zur sozialen Reform." Näheres hierzu bei Menger, Karl: Einleitung des Herausgebers, in: Carl Menger (1923), S.V-VI.

3. Der Ausgangspunkt: Kritik an der klassischen und historischen Schule

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mehr noch, 'menschheitswissenschaftlichen' Zusammenhang einzubetten. In der 1883 erscheinenden Schrift Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und der Politischen Oekonomie insbesondere, deren Erscheinen den sogenannten „Methodenstreit" in den deutschen Sozialwissenschaften auslösen sollte,50 fanden Mengers Überlegungen hinsichtlich der Methodologie der Sozialwissenschaften schließlich ihren Niederschlag.

3. Der Ausgangspunkt: Kritik an der klassischen und historischen Schule Wie bereits angedeutet, erkannte Menger den Hauptfehler der klassischen Schule in der Folge von Adam Smith in deren statischem Gesellschaftsbild, das die Volkswirtschaft als ein bloßes „Nebeneinander von isolierten Individualwirtschaften" 51 betrachtete, deren gesellschaftliches Gefüge durch einen Gesellschaftsvertrag kodifiziert werden sollte. Diese „unstatthafte Fiktion", eine Wirtschaftsgesellschaft allein aus der Sicht einzelner Teile zu konstruieren, 52 zeugte nach Menger von einem Kardinalproblem der französischen Aufklärungsepoche - d.h. des Physiokratismus und seiner Geschichtsphilosophie -, nämlich der „mechanischen Übertragung" naturwissenschaftlicher Methoden auf das Feld der Volkswirtschaftspolitik, welche die historisch-genetisch entstehenden Institutionen der Volkswirtschaft außer acht ließ. 53 So sieht Menger das Fundamentalproblem der klassischen Schule in ihrem „einseitigen, rationalistischen Liberalismus", der von gesellschaftlichen Selbststeuerungsprozessen ausgehe, die eine unsichtbare Hand schon zu richten wisse. Diese allein auf die Wohlfahrt eines abstrakten Wirtschaftsmenschen bedachte Volkswirtschaftspolitik übersah nach Menger dabei die „lebendigen, berechtigten Interessen der Gegenwart", die in der sozialen Frage ihren gesellschaftlichen Ausdruck fänden. 54 Hier tritt andeutungsweise die Vorstellung Mengers von der Unfähigkeit eines freien, nicht staatlich reglementierten Marktes zutage, die Probleme der sozialen Frage zu lösen. Auch wenn Streissler glaubt, Menger sei ein „classical li-

50 51 52 53 54

8 Nau

Siehe unten, Kapitel IV. Mertger (1883), S.233. Menger (m3% S.236. Menger (1883), S.200 f. Menger (m3), S.207.

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III. Carl Menger

beral of the purest water with a much smaller agenda for the state in mind than even Adam Smith" gewesen,55 so läßt die Kritik Mengers an der klassischen Schule doch eine andere Interpretation seiner gesellschaftspolitischen Ansichten zu. Böhm weist meines Erachtens zu Recht daraufhin, daß Menger zwar als ein Liberaler, nicht aber als ein bedingungsloser 'laissez-faire' Liberaler bezeichnet werden kann, sondern eher einen Mittelweg zwischen den moralphilosophischen Vorstellungen von Adam Smith und den Reformvorstellungen eines österreichischen „Josephinismus" gegangen ist; 56 eine Anschauung übrigens, die gerade bei den Anhängern der liberalen Parteien in der k.u.k. Monarchie nicht wenig verbreitet war und großen Einfluß auf deren wirtschaftspolitische Ausrichtung hatte.57 Kirzner belegt, wie sich mit dieser Position einer 'mittleren Linie' dann einerseits für die Verteilungseffizienz von Märkten plädieren, andererseits aber auch für sinnvolle Staatsinterventionen zur Erhöhung der Verteilungsgerechtigkeit eintreten läßt.58 Freilich bot der „abstracte unempirische Schematismus" der klassische Lehre genug Anhaltspunkte für eine wissenschaftliche Kritik, 59 wie sie seit den 1840er Jahren von Vertretern der älteren historischen Schule (von Roscher, Hildebrand und Knies) vehement geübt worden war, 60 indem sie sich der Erforschung der Geschichte und der Statistik in der Absicht zuwandten, die Entwicklung der

55 Zu den politischen Einstellungen Mengers siehe Streissler, Erich: Carl Menger on economic policy: the lectures to Crown Prince Rudolf, in: Caldwell (1990), S.l07-130, hier S. 110. 56 Vgl. Böhm, Stephan: The Political Economy of the Austrian School, in: Gli economisti e la politica economica, a cura di Piero Roggi, Napoli 1985, S.243-260, hier S.256. 57 Siehe zum Verhältnis von 'laissez-faire'-Politik und Staatsinterventionismus, Liberalismus und ökonomischem Konservativismus im Österreichischen Kaiserreich Höbelt, Lothar: Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882-1918, München 1993, S.200-218 u. S.351-359. 58 Vgl. Kirzner, Israel M.: Menger, classical liberalism, and the Austrian School of economics, in: Caldwell (1990), S.93-106, hier S.93. 59 Vgl. Menger, Carl: Die Social-Theorien der classischen National-Oekonomie und die moderne Wirtschaftspolitik, in: ders., Gesammelte Werke, Bd.III, S.219-257, bes. S.221 ff. 60 Siehe Menger, Carl: Nachruf auf Wilhelm Roscher, Neue Freie Presse, 16.Juni 1894, in: ders. : Gesammelte Werke, Bd.III, S.273-281, hier S.276. Menger bezieht sich auf Wilhelm Roschers Kritik an den wissenschaftlichen Vertretern des „Manchesterliberalismus", wie er in Deutschland vor allem von der Freihandelsschule, die im „Kongreß deutscher Volkswirte" ihre institutionelle Vertretung, in der „Vierteljahresschrift für Volkswirtschaft, Politik und Kulturgeschichte" (seit 1863) ihr Publikationsorgan und in John Prince-Smith einen ihrer Hauptvertreter hatte. Vgl. Winkel (1977), S.38 ff.

3. Der Ausgangspunkt: Kritik an der klassischen und historischen Schule

115

verschiedenen Sozialphänomene aus Politik, Wirtschaft und Ethik in einer „Collektivbetrachtung" empirisch aufzuzeigen. Die „Typen und typischen Relationen" dieser Phänomene sollten in ihrer „vollen empirischen Wirklichkeit" mit dem Ziel dargestellt werden, die Wirtschaftspolitik auf eine realistische Grundlage zu stellen, um der sozialen Frage besser gerecht werden zu können. Hierin bestand für Menger die zentrale methodologische Idee der historischen Schule. Wie kann aber eine sichere empirische Basis und somit sichere Erkenntnis in den Sozialwissenschaften erlangt werden? Nach Menger ist diese Basis für die historische Schule bereits durch genaue und vollständige Beobachtung der „Collektivphänomene" konstituiert. Allerdings bilden diese „Collektivphänomene" uns nicht die „Myriaden" von Phänomenen in ihrer Individualität ab. Die historische Schule löst dieses Problem in Mengers Augen dadurch, daß sie von der „Fiktion eines organischen Ganzen"61 eines Volkes ausgehe, in dem gewisse Phänomene eine „historische Entwicklung" vollzögen, die Parallelen zu vergangenen und demnach auch zukünftigen Ereignissen bildeten. Diese „Parallelismen der Wirthschafisgeschichte" 62, die Menger insbesondere Roscher unterstellt, böten aus Sicht der historischen Schule eine „strenge Gesetzmäßigkeit"63, mittels derer sich eine auf Voraussicht setzende Wirtschaftspolitik betreiben lasse.64 Für Menger entgeht die historische Schule jedoch nicht dem Problem, daß eine präzise Beobachtung immer schon Begriffe voraussetzt, weil die in Beobachtungssätzen formulierten Wahrnehmungen in Klassen zusammengefaßt werden müssen, d.h. „Typen" geschaffen werden, denen Namen, d.h. Begriffe zugeordnet werden. 65 Deshalb setze bereits die „Idee von Gesetzen" die Bildung von Typen, die bestimmten Erscheinungsformen entsprechen, voraus. „Gesetze" beschreiben für Menger niemals den Zusammenhang von konkreten Erscheinungen, sondern stets den von Erscheinungsformen. Somit ist „schon aus die-

61

Menger (1883), S.87. Menger (1883), S.225 ff. 63 Menger (1883), S.l25 Anm.42. 64 Menger kritisiert hier die Aussagen von Knies: „Im Gegensatz zu dem Absolutismus der Theorie beruht die historische Auffassung der politischen Oekonomie auf dem Grundsatze, dass, wie die wirthschaftlichen Lebenszustände, so auch die Theorie der politischen Oekonomie ein Ergebnis der geschichtlichen Entwickelung ist [...] dass sie auch die allgemeinen Gesetze in dem allgemeinen Theile der Nationalökonomie nicht anders denn als geschichtliche Explication und fortschreitende Manifestation der Wahrheit darstellen". Knies, Karl: Politische Oekonomie nach geschichtlicher Methode, Leipzig 1853, S.l9; hier zitiert nach Menger (1883), S.l20. 65 Menger {1883), S.34. 62

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III. Carl Menger

sem Grunde eine Abstraktion von gewissen Merkmalen der Erscheinungen in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit unausweichlich".66 Indem sie diesen Sachverhalt verkenne, begehe die historische Schule den „Fehler des Perpetualismus" 67 , da sie immerzu der Formulierung eines Begriffes hinterherlaufe, der durch seine neuerliche Modifikationen inhaltlich nie zu fassen sein werde. Sie verfalle in ihrer Begriffsbildung in einen regressus ad infinitum. 68 Wissenschaftliche Forschung läßt sich somit nicht nach den Kriterien eines empirischen Realismus durch das Verfahren einer empirischen Induktion, die die „volle empirische Wirklichkeit" abzubilden strebt, beurteilen. Historische Erkenntnisse dieser Art können daher für praktische Belange weder eine „Voraussicht noch eine Beherrschung* 9 realer Zusammenhänge bieten, sondern nur das Material präsentieren, anhand dessen „Gesetze der Erscheinungen" festzustellen sind.70 Quantitative Untersuchungen in den Sozialwissenschaften müssen daher immer schon auf der Basis eines exakten Vorverständnisses des Untersuchungsgegenstandes vorgenommen werden. Die Erkenntnis der ökonomischen Wirklichkeit verlangt geradezu eine vorempirische, qualitative Kategorisierung der Realität, bevor eine quantitativ-empirische Untersuchung anhand von Hypothesen beginnen kann. Letztlich kritisiert Menger die „Selbsttäuschung"71 der historischen Schule, die die Berechtigung der exakten Forschung auf dem Gebiet der Nationalökonomie leugne, gleichzeitig jedoch in ihren systematischen Darstellungen auf deren Ergebnissen aufbaue. 72 Dieser „Eklektizismus" der Methodologie sei nur möglich, wenn man die Aufgaben der Wirtschaftsgeschichte und -statistik mit denjenigen der Politischen Ökonomie gleichsetze, was als Symptom des noch unentwickelten Zustands der Nationalökonomie in Deutschland 66

Menger ( 1883), S.68. Menger (1883), S.l 12. 68 Menger (XMl), S.l7. 69 Menger ( 1883), S.5. 70 Menger (1883), S.28. 71 Menger, Carl: Zur Kritik der Politischen Oekonomie, [= Separatdruck aus Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Bd.XIV], Wien 1887, in: ders., Gesammelte Werke, Bd.III Kleinere Schriften zur Methode und Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Tübingen21970, S.99-131, hier S.l30. 72 „Es gehört zu den auffälligsten Einseitigkeiten der geschichtsphilosophischen Richtung in der Politischen Oekonomie", so Menger in Bezug auf Roscher, „dass die Vertreter derselben einerseits 'Naturgesetze' der Volkswirtschaft, ja zum Teil überhaupt 'Gesetze der Volkswirtschaft' läugnen, andererseits aber nicht nur Entwicklungsgesetze der Volkswirtschaft überhaupt anerkennen, sondern denselben bisweilen sogar den Charakter von 'Naturgesetzen' vindizieren." Menger (1883), S.125 Anm.42. 67

3. Der Ausgangspunkt: Kritik an der klassischen und historischen Schule

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gedeutet werden könne.73 Die historische Schule beginge damit den Fehler, die Grenzen zwischen der historischen und der theoretischen Erkenntnis in der Sozialwissenschaft verwischt zu haben.74 Sie habe nicht verstanden, daß es neben den „empirischen Gesetzen" auch „exacte Gesetze" rationaler ökonomischer Zweckbeziehungen, z.B. Gesetze der Wirtschaftlichkeit, gibt, die die Angriffe gegen den „Absolutismus der Theorie" als unbegründet erscheinen lassen.75 Mit der Vermengung historisch-statistischer, theoretischer und praktischer Erkenntnisse, die zu einer „Verkennung der elementarsten Grundlagen der Wissenschaftslehre" 76 führte, habe die historische Schule denn auch das wissenschaftliche Ziel verfehlt, welches anzustreben sie vorgegeben hatte: die Lösung der sozialen Frage mit Hilfe der Erkenntnisse der Wirtschafts- und Sozialpolitik. 77 Der eigentliche Gegensatz der Gelehrtenschulen beruhte daher für Menger nicht in einem Gegensatz zwischen empirischer und rationalistischer oder zwischen induktiver und deduktiver Forschung; denn, wie er geradezu beschwörend immer wieder beteuerte, sowohl die Vertreter der historischen wie der klassischen als auch diejenigen der Grenznutzenschule hätten in der ,JErfahrun,g" die „notwendige Grundlage für die Erforschung der realen Erscheinungen und ihrer Gesetze und beide auch in der Induktion und Deduktion innig zusammengehörige, sich gegenseitig stützende und ergänzende Erkenntnismittel" erkannt. 78 Der Gegensatz besteht für Menger in Wahrheit in der verschiedenen Auffassung über die „Ziele der Forschung und das System der Aufgaben" 79 in den Sozialwissenschaften.

73

74 75 76 77 78

79

Menger {1883), S.l9.

Menger Menger Menger Menger

(1883), S.l7-23 (1883), S.5. (1883), S.l 10. (1883), S.23.

Menger (Ì&94), S.279.

Menger (1894), S.279.

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III. Carl Menger

4. Mengers Systematik sozialwissenschaftlicher Forschung 4.1. Innere Systematik und äußere Klassifikation der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Das System der Aufgaben 80, die die Sozialforschung in der Volkswirtschaft zu lösen hat, war für Menger aufs engste mit der Frage nach der Klassifikation der Wirtschaftswissenschaften selbst verknüpft. 81 Hierzu führte er einige Differenzierungen durch, die zum Verständnis seiner Theorie unabdingbar sind. Die Hauptunterscheidung nimmt Menger im Bereich der Erfahrungs- oder WirklichkeitsWissenschaften vor. Diese werden jeweils der ,flatur ihrer Objekte" entsprechend in die Naturwissenschaften einerseits und die Menschheitswissenschaften andererseits eingeteilt. Die „Menschheitswissenschaften" lassen sich weiter untergliedern in Rechts-, Staats- und Sozialwissenschaften. 82 Ein Teil der Sozialwissenschaften wiederum ist die Politische Ökonomie, die dann den Oberbegriff für die historische, theoretische und praktische Nationalökonomie bildet. 83 In den Natur- und Menschheitswissenschaften gelten freilich dieselben Methoden der Wirklichkeitserkenntnis. Diese Methoden lassen sich hinsichtlich der formalen Natur ihrer Wahrheiten" in zwei Grundrichtungen unterscheiden: zum einen die auf Erkenntnis der individuellen, „