Eine Theorie der vernünftigen Übereinkunft: Zur Grundlegung des moralphilosophischen Kontraktualismus 9783839441244

This moral-philosophical essay with its theory on sensible convention takes the social contract theory further, showing

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Eine Theorie der vernünftigen Übereinkunft: Zur Grundlegung des moralphilosophischen Kontraktualismus
 9783839441244

Table of contents :
Inhalt
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
I. Grundlagen
2. Typologie und Traditionslinie des Kontraktualismus
3. Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens
4. Konstruktivistische Grundlagen
II. Der praktische Standpunkt
5. Aufbau des kontraktualistischen Standpunktes
6. Das Vernünftige und das Rationale
7. Kontraktualistische Motivation
8. Das Kantische im Kontraktualismus
III. Die vernünftige Übereinkunft
9. Gründe im Überlegungsprozess
10. Darstellung des Überlegungsprozesses
11. Das Ausschlussproblem
12. Schluss
Literaturverzeichnis
Personenregister

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André Olbrich Eine Theorie der vernünftigen Übereinkunft

Edition Moderne Postmoderne

André Olbrich, geb. 1987, lehrt und forscht an der Georg-August-Universität Göttingen. Der Politikwissenschaftler promovierte an der Freien Universität Berlin.

André Olbrich

Eine Theorie der vernünftigen Übereinkunft Zur Grundlegung des moralphilosophischen Kontraktualismus

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. Veröffentlichung der Dissertation, die im Jahr 2016 an der Freien Universität Berlin angenommen wurde; Erstgutachter: Prof. Bernd Ladwig, Zweitgutachterin: Prof. Corinna Mieth

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Katrin Herbon, Bonn Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4124-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4124-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Tabellenverzeichnis  | 9 1. Einleitung  | 11 1.1. Strömungen innerhalb der kontraktualistischen Debatte | 13 1.2. Problemstellung und wissenschaftliche Einordnung | 17 1.3. Vorgehensweise | 23

I. G rundl agen 2. Typologie und Traditionslinie des Kontraktualismus  | 37 2.1. Explanatorischer und Normativer Kontraktualismus | 40 2.2. Eine gedachte Übereinkunft | 46 2.3. Der Weg zum Kriterium des Rechten I – Hobbes und Locke | 55 2.4. Der Weg zum Kriterium des Rechten II – Rousseau und Kant | 65

3. Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens  | 77 3.1. 3.2. 3.3.

Ein moralphilosophischer Kontraktualismus | 78 Erklärung der Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens | 86 Warum Prinzipien? | 93

4. Konstruktivistische Grundlagen  | 103 4.1. Eigenschaften des Konstruktivismus | 105 4.2. Konstruktivismus – metaethisch oder normativ? | 111 4.3. Der Bereich moralischer Tatsachen | 116 4.4. Der Bereich normativer Tatsachen I – Scanlon und Rawls | 122 4.5. Der Bereich normativer Tatsachen II – Korsgaard | 129 4.6. Kontraktualismus und Gründe | 135

II. D er prak tische S tandpunk t 5. Aufbau des kontraktualistischen Standpunktes  | 141 5.1. 5.2. 5.3.

Die normativen Bedingungen der Übereinkunft | 143 Empirische Bedingungen und amoralische Vereinbarungen | 148 Der Status des praktischen Standpunktes | 155

6. Das Vernünftige und das Rationale  | 161 6.1. 6.2. 6.3. 6.4.

Trennung zwischen dem Vernünftigen und dem Rationalen | 163 Rationale Wesen und Gründe | 172 Vorstellungen dessen, was am rationalsten ist | 176 Das Vernünftige | 182

7. Kontraktualistische Motivation  | 187 7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5. 7.6.

Die skeptische Herausforderung und die hobbessche Lösung | 190 Der Wunsch nach Einigkeit mit seinen Mitmenschen | 195 Der Wunsch nach Rechtfertigung gegenüber anderen | 199 Das Ideal der vernünftigen Übereinkunft | 205 Darwalls zweitpersonales Fundament des Kontraktualismus | 216 Das Fundament der vernünftigen Übereinkunft | 225

8. Das Kantische im Kontraktualismus  | 231 8.1. Darwalls kontraktualistische Kant-Interpretation | 235 8.2. Die kantische Deutung durch Rawls | 241 8.3. Scanlon und Kant über Gründe und Rationalität | 245

III. D ie vernünftige Ü bereinkunft 9. Gründe im Überlegungsprozess  | 257 9.1. 9.2. 9.3. 9.4.

Individuelle Gründe | 258 Perspektiven und generische Gründe | 269 Intuitionen, Informationen und Konsistenz | 276 Holismus der Rechtfertigung | 283

10. Darstellung des Überlegungsprozesses  | 289 10.1. Wahrung der Verschiedenheit von Personen | 291 10.2. Das Einwand-Modell | 296 10.3. Wahrscheinlichkeiten im Überlegungsprozess | 308 10.4. Aggregation im Überlegungsprozess | 315

11. Das Ausschlussproblem  | 327 11.1. 11.2. 11.3. 11.4.

Kontraktualistische Vermeidungsstrategien | 329 Kontraktualismus und moralischer Status | 335 Die besondere Rolle von Moralbeurteilern | 345 Das gemeinsame Gut | 347

12. Schluss  | 353 12.1. Der Rahmen des Kontraktualismus | 354 12.2. Die Übereinkunft als Ziel | 359 12.3. Das kontraktualistische Verfahren | 363

Literaturverzeichnis  | 369 Personenregister  | 383

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1 – Explanatorische und normative Verwendung | 41 Tabelle 2 – Verpflichtung und Kriterium | 52 Tabelle 3 – Dimensionen des Normativen | 115 Tabelle 4 – Konstruktivistische Positionen | 134 Tabelle 5 – Maximin-Einwand | 300 Tabelle 6 – Minimax-Einwand | 302 Tabelle 7 – Erweiterter Minimax-Einwand | 303 Tabelle 8 – Erweiterter Minimax-Einwand ohne Aggregation | 305 Tabelle 9 – Arten von Wesen | 341

1. Einleitung

Ein Leben ohne Regeln des Zusammenlebens ist kaum denkbar. Noch weniger denkbar ist ein Leben ohne die Möglichkeit der Kritik an diesen Regeln. Überall begegnen uns Normen, Vorschriften, Gebote und Verbote. Die bekanntesten darunter sind Normen des positiven Rechts oder für selbstverständlich gehaltene Regeln des Miteinanders. Ebenso reichhaltig gefüllt ist unser Zusammenleben mit wechselseitigen Erwartungen, Forderungen oder auch Sanktionierungen für Fehlverhalten aller Art. Vielleicht sind wir des Öfteren mit diesen Festlegungen unzufrieden. Wir stellen uns womöglich die Frage: Weshalb darf das von mir verlangt werden? Weshalb darf mich beispielsweise ein autoritäres Regime ins Gefängnis sperren, wenn ich ausspreche, was ich denke? Können wir wirklich nur das als richtig und falsch betrachten, was faktisch kodifiziert und festgeschrieben ist, oder gibt es vielleicht überpositive moralische Rechte und Pflichten, auf die wir uns stets berufen können? Wenn es sie gibt, wie können wir sie begründen? Auf der anderen Seite sind wir nicht nur mit bereits feststehenden Normen konfrontiert, die unser Verhalten faktisch regulieren und uns Schranken auferlegen. Regelfreie Bereiche des Lebens stellen ebenfalls eine Herausforderung dar. Genauso mögen wir dann fragen, warum einer Person, die sich in Not befindet, nicht geholfen wird: Müsste es nicht eine Norm geben, die dies verlangt? Müsste man nicht verpflichtet sein zu helfen, sofern die Möglichkeit dazu besteht? In diesen Fällen üben wir uns in moralischer Kritik. Wir finden dann, dass bezüglich der Bestimmungen unseres Zusammenlebens etwas anders sein soll und dass einige Normen nicht gerechtfertigt sind, während andere durchaus gerechtfertigt wären. Was darf von mir verlangt werden und was schulde ich anderen? Wir alle haben eine mehr oder weniger ausgeprägte Vorstellung davon, was richtig und falsch, gerecht und ungerecht ist. Meistens haben wir bezüglich unserer moralischen Urteile eine bestimmte Menge an vermeintlich objektiven Überzeugungen, denen wir bis zu einem bestimmten Grad vertrauen. Wenn wir jedoch darüber nachdenken, dann ist oft nicht ganz klar, was diese Urteile eigentlich stützt und durch welche Kraft gesagt werden kann, dass einige von ihnen richtig sind, andere wiederum falsch. Wir müssen dann fragen, was eigentlich die

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Grundlage für unsere kritische Haltung gegenüber bestehenden Verhaltensregularien oder für unsere zustimmende Einstellung gegenüber Regeln ist, von denen wir überzeugt sind, dass sie bestehen sollten. Woher nehme ich die Gewissheit, dass ein Gesetz ungerecht ist, dass ein Recht bestehen muss oder dass ich verpflichtet bin zu helfen, wenn ich dies kann? Wonach wir also suchen, ist ein Maßstab für unsere Kritik und womöglich eine allerletzte Quelle der Rechtfertigung. Wir suchen eine Form der Begründung, die gewisse etablierte Normen als nicht rechtens entlarvt, andere wiederum als rechtens ausweist. Es gibt viele Möglichkeiten, auf solch einen fundamentalen Maßstab zu verweisen, doch es gibt einen, welcher aufgrund seiner Schlichtheit von großem Reiz ist, weil er auf die mögliche allgemeine Akzeptanz derjenigen verweist, für welche bestimmte Normen, Pflichten oder Vorschriften gelten sollen. Diese Arbeit verfolgt deshalb ein einziges Ziel: die philosophische Grundlegung, Verteidigung und Erklärung einer Formel, welche bestimmt, was moralisch gerechtfertigt ist. Diese Formel besagt: Ein Prinzip zur Regulierung des Zusammenlebens ist genau dann gerechtfertigt, wenn es von allen Betroffenen, welche motiviert sind, eine Übereinkunft zu erreichen, vernünftigerweise akzeptiert werden könnte. Alternative normative Theorien mögen uns beispielsweise als letzte Rechtfertigung auf den größtmöglichen Nutzen verweisen oder auf die Verallgemeinerungsfähigkeit eines moralischen Urteils. Die Rechtfertigung durch Akzeptanz ist eine weitere Möglichkeit, ein oberstes Richtmaß zu formulieren, welches darüber Auskunft gibt, was wir im Rahmen unseres Zusammenlebens gerechtfertigterweise voneinander erwarten können. Ein Richtmaß, welches darüber hinaus nicht von metaphysischen Annahmen oder dem Glauben an Gott abhängig ist. Durch diese Form der Überprüfung soll es möglich sein, die Prinzipien zu bestimmen, die für unser Verhalten mit- und gegeneinander Gültigkeit haben sollen. Prinzipien, welche überprüft werden können, sind vielleicht das Recht auf freie Meinungsäußerung oder die Pflicht, anderen zu helfen, die sich in Not befinden, wenn man dazu in der Lage ist. Eine normative Theorie, welche die Richtigkeit eines Prinzips des Zusammenlebens in letzter Instanz auf die hypothetische Übereinkunft aller Betroffenen zurückführt, wird vertragstheoretisch oder kontraktualistisch genannt. Die Idee der Rechtfertigung durch Übereinkunft ist sehr alt und findet sich bereits in der klassischen griechischen Philosophie. Ihren wirkungsgeschichtlich erfolgreichsten und innovativsten Vertreter hatte sie in der Frühen Neuzeit mit Thomas Hobbes. Ihm diente der Rückbezug auf einen Vertrag vor allem als Modell für die Legitimation politischer Herrschaft. Das von Hobbes entwickelte Konzept, dessen Kern die Idee der Autoritätslegitimation durch freiwillige Selbstbeschränkung eines jeden Individuums war und welches von einem

1. Einleitung

Gesellschaftsvertrag zur Errichtung staatlicher Zwangsgewalt ausging, prägte das gesamte philosophische Denken, welches die Begriffe der Herrschaft und Legitimität zum Gegenstand hatte. Vielfach wurde diese Idee in der Folge von Denkern aufgegriffen, von John Locke über Jean-Jacques Rousseau bis zu Immanuel Kant. Sie alle verwendeten das Vertragsargument für ihre eigenen Überlegungen, wenn auch in unterschiedlicher Form. Es war jenes Denken der freiwilligen Übereinkunft, aus dem ein starkes Argument für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erwuchs und welches die Idee der universellen Menschenrechte beförderte.

1.1. S trömungen innerhalb der kontr ak tualistischen D ebat te Mein Vorhaben einer Grundlegung und Verteidigung der kontraktualistischen Rechtfertigungsformel, wie ich sie ausgeführt habe, dient einem übergeordneten Zweck: der Aufklärung und Weiterentwicklung des Denkens einer bestimmten Strömung der Theorie des Gesellschaftsvertrages. Der Titel der Arbeit hält bereits fest, dass es nur um »eine« Theorie der Übereinkunft geht. Ich werde an eine Strömung anknüpfen, die allgemein mit Kant und Rousseau assoziiert wird. Doch um zu verstehen, was diese Strömung ausmacht, ist es erforderlich, die innerkontraktualistische Debatte darüber zu verstehen, was eine Theorie der Übereinkunft ausmacht. Unter der innerkontraktualistischen Debatte verstehe ich eine Auseinandersetzung zwischen Denkern oder Wissenschaftlern, die selbst einen bestimmten Vorschlag ausarbeiteten, wie eine kontraktualistische Theorie aufgebaut sein muss. Als außerkontraktualistische Debatte verstehe ich im weitesten Sinne diejenigen Diskussionen, welche das kontraktualistische Programm interpretieren, es stützen oder aus verschiedenen Gründen infrage stellen. Ich komme im Folgenden auf die moderne innerkontraktualistische Debatte zwischen Denkern zu sprechen, die sich als Kontraktualisten oder Vertragstheoretiker verstehen. Nach Kant setzte eine philosophiegeschichtliche Phase ein, in welcher das Rechtfertigungsmodell des Gesellschaftsvertrages im Grunde keine Rolle mehr spielte. Die Argumentationen und Begriffsformen der Vertragstheorie wurden verworfen und die normative Theoriebildung hatte im Allgemeinen einen schweren Stand (vgl. Kersting 1994: 258). Geradezu entschuldigend klingt es, wenn Alfred Voigt Mitte der 1960er Jahre im ersten Satz seiner Einleitung zu einer Sammlung kontraktualistischer Texte bemerkt: »Der Gegenstand dieser Quellensammlung wird Befremden hervorrufen oder Lächeln über eine längst abgetane Sache: jener Herrschaftsvertrag oder Urvertrag, Gesellschaftsvertrag, Sozialkontakt, Staatsvertrag, sowohl historisch unbewiesen als auch an sich unwahrscheinlich und absurd, eine legendenartige Erzählung von irgend-

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welchen Einzelmenschen, irgendwann und irgendwo, die sich in einem Vertrag zusammenschlossen, um das Gemeinwesen, den Staat zu gründen und womöglich seine näheren Bedingungen festzulegen« (Voigt 1965: 7). Erst mit John Rawls trat wieder ein Denker hervor, der normativen Fragen große Beachtung schenkte und der Vertragstheorie zu einer Renaissance verhalf.1 Diese beginnt mit der Publikation seines bahnbrechenden Werks Eine Theorie der Gerechtigkeit im Jahre 1971. Diese Arbeit hatte es zur Aufgabe, Prinzipien der Gerechtigkeit zu begründen. Als Begründungsmodell diente die die Theorie des Gesellschaftsvertrages. Ihre Rechtfertigung erhalten Prinzipien, wenn sie in einer wohlüberlegten Ausgangssituation von hypothetischen Parteien akzeptiert würden. Oft wurde sein Anspruch zitiert, »die herkömmliche Theorie des Gesellschaftsvertrags von Locke, Rousseau und Kant zu verallgemeinern und auf eine höhere Abstraktionsstufe zu heben« (Rawls 1971/1979: 12).2 Rawls erreichte die Erneuerung des Theorieprogramms des Kontraktualismus. In der Frage jedoch, wie dieses Rechtfertigungsmodell am besten zu verstehen und anzuwenden sei, waren sich selbst diejenigen nicht einig, die grundsätzlich mit dieser Wiederbelebung des Kontraktualismus einverstanden waren. In der Folge entstanden in der Auseinandersetzung mit Rawls zwei Gegenentwürfe, die mit den Namen Robert Nozick (1974/2006) und James Buchanan (1975/1984) verbunden sind. Was trennte diese Kontraktualisten? Neben den unterschiedlichen substanziellen Ergebnissen, zu denen ihre Theorien führten, war es auch ein unterschiedliches Verständnis darüber, wann etwas mit Verweis auf eine hypothetische Übereinkunft gerechtfertigt werden kann. Sie legten unterschiedliche Gedankenexperimente vor, die uns aufzeigen sollten, wann sich Menschen hypothetisch auf etwas einigen könnten. Während Rawls behauptete, eine Übereinkunft könne nur in einem anfänglichen Zustand der Gleichheit von Personen Legitimität beanspruchen, was stark an Rousseau und Kant erinnerte, so ging Nozick bereits von vorvertraglichen natürlichen Rechten auf Leben, Freiheit und Eigentum aus, wie dies in klassischer Weise von Locke vertreten wurde. Bei Nozick kann es demzufolge nur dann zur Akzeptanz institutioneller Ordnungen kommen, wenn diese natürlichen Rechte zusätzliche Absicherung benötigen. Die Ergebnisse waren dann auch recht unterschiedlich, weshalb Rawls Prinzipien der gleichen Freiheit, Chancengleichheit und mate1 | Zu dieser Auffassung siehe insbesondere Kersting (1994: 259-263). Lübbe sah eine »Auferstehung des Sozialvertrags« (1977) und Vanberg/Wippler sprachen von einer »intellektuellen Renaissance« (1986: 1) der Vertragstheorien im Anschluss an Rawls. 2 | Da es für den historischen Kontext in diesem Kapitel wichtig ist, steht in den nachfolgenden Klammern die Jahreszahl der ersten Veröffentlichung des entsprechenden Werkes, auf welches ich mich beziehe, vor der Jahreszahl der entsprechenden Ausgabe, die ich in dieser Arbeit verwende.

1. Einleitung

riellen Verteilungsgerechtigkeit als das Resultat einer Übereinkunft auswies, während Nozick einen Minimalstaat rechtfertigte, der nur die notwendigsten Sicherungsfunktionen übernehmen sollte. James Buchanan wiederum verwarf sowohl die Idee, dass eine Übereinkunft unter Gleichen stattfinden müsse, als auch die Idee, dass es vorvertragliche natürliche Rechte gebe. Er stellte sich einen völlig normfreien Ausgangszustand vor, in dem lediglich das Eigeninteresse der Parteien zu Regelungen des Zusammenlebens führte. Mit diesem Fokus rein auf das rationale Eigeninteresse folgte er der Grundauffassung von Thomas Hobbes. Jede dieser Theorien stellte damit nach einer Deutung von Peter Koller (1987: 12) »die historische Kontinuität zur Tradition der klassischen Gesellschaftsvertragsdoktrin her, da jede dieser Theorien jeweils an eines der typischen Vertragsmodelle der klassischen Doktrin anknüpft.« In dieser Phase der Wiederentdeckung des Vertragsparadigmas, wie die Zeit seit Rawls bezeichnet werden könnte, bildeten sich demzufolge scheinbar drei verschiedene kontraktualistische Strömungen heraus, doch das Denken von Nozick und Locke erwies sich für die meisten nicht als anschlussfähig. Natürliche Rechte zur Grundlage einer Theorie zu machen, wirkte wie aus einer längst vergangenen Zeit und wurde dementsprechend massiv kritisiert (vgl. Nagel 1994: Kap. 16; Kersting 1994: 316ff.). Stattdessen bildeten sich zwei Lager heraus, die heute im englischen Sprachraum häufig als Contractarians und Contractualists bezeichnet werden (vgl. Darwall 2003). Im deutschen Sprachraum ist meistens entweder einfach von hobbesschen und kantischen Kontraktualisten (benannt nach ihren jeweiligen Vorbildern) oder von individualistischem und universalistischem Kontraktualismus die Rede (vgl. Pauer-Studer 2003: Kap. 4). Die hobbessche Position der Vertragstheorien ist dadurch gekennzeichnet, dass mögliche Prinzipien des Zusammenlebens danach beurteilt werden, ob sie für das jeweilige Individuum einen rationalen Vorteil bedeuten. Stärkere normative Bedingungen für eine Übereinkunft sind im hobbesschen Modell nicht erforderlich und durch diese sparsamen Annahmen ergibt sich seine Attraktivität. Kann nachgewiesen werden, dass eine bestimmte Form von Kooperation im rationalen Eigeninteresse eines jeden liegt, dann ist sie gerechtfertigt. Dagegen setzen kantische Kontraktualisten einen stärkeren Begriff von Vernunft voraus und gehen davon aus, dass die Übereinkunft bestimmte moralische Bedingungen erfüllen muss. So soll die Übereinkunft beispielsweise unter Gleichen stattfinden, sie muss fair sein oder von einer Motivation gestützt werden, welche alle Vertragsparteien teilen. Rawls selbst gestaltete seinen sogenannten Urzustand, in welchem die Übereinkunft gedankenexperimentell nachvollzogen wird, in der Weise, dass sich Elemente beider Theorien darin wiederfanden. Die Parteien sollten einerseits ihre Entscheidung basierend auf ihrem Eigeninteresse treffen, dies aber unter der Bedingung, dass sie hinter einem sogenannten Schleier des Nichtwissens wählen, der ihnen verbirgt, welche soziale Stellung sie einmal in der Gesellschaft

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einnehmen würden. Somit wird eine Gleichheit der Parteien bezüglich ihres Wissensstandes zur Bedingung der Übereinkunft. Die Theorie der am Eigennutzen orientierten rationalen Entscheidung wurde dadurch eingeschränkt, weshalb Rawls als Stammvater für beide neueren Strömungen dienen konnte. Seine Theorie wird deshalb auch gern als »gemischte Theorie« (Nussbaum 2010: 85) des Gesellschaftsvertrags bezeichnet. Auf die Phase der Wiederentdeckung folgt, was sich als die Phase der Dominanz des hobbesschen Kontraktualismus bezeichnen lässt. In der Nachfolge von James Buchanan und in Abgrenzung zu John Rawls entwickelten sich Theorien, die das individualistische Vertragsmodell für das ausgereifteste hielten und es entsprechend verteidigten und weiterentwickelten. In diese Reihe gehören beispielsweise die bedeutenden Arbeiten von John Leslie Mackie (1977/1981), Gregory Kavka (1986) und insbesondere das heute nach wie vor maßgebliche Werk Morals by Agreement von David Gauthier (1986). Diese Kontraktualisten eint, dass sie das hobbessche Grundmodell teilten und darüber hinaus ihre Argumentation über den rein politischen Kontext erhoben und eine umfassende moralisch-politische Theorie der Rechtfertigung zu entwerfen versuchten. Gauthier gilt heute als Musterbeispiel eines umfassenden hobbesschen Kontraktualismus.3 Der kantische Kontraktualismus erhält dagegen seine Kraft vor allem in Abgrenzung zu diesem Programm. Mit seiner Abhandlung Theories of Justice (1989) kontrastierte Brian Barry die Theorien des wechselseitigen Vorteils und des kantisch inspirierten Kontraktualismus. Die Vorwürfe gegenüber Ersterem sind einschneidend: Prinzipien der Gerechtigkeit können nicht nur im Eigeninteresse fundiert sein und jeder Versuch, dies zu tun, führt zu kontraintuitiven Ergebnissen, die das Prädikat des Moralischen oder Gerechten nicht verdienen. Ohne eine angenommene Gleichheit der Parteien kann das Verhandlungsergebnis niemals akzeptabel sein, weil dies dazu führt, dass sich Stärkere gegen Schwächere durchsetzen oder bestehende Ungleichheiten festgeschrieben anstatt gerechtfertigt werden. Dies sind die allgemeinen Vorwürfe, die sehr oft gegenüber hobbesschen Vertretern des Kontraktualismus angebracht werden. Brian Barry unterscheidet sich damit sowohl von Gauthier als auch von Rawls, dessen Vertragstheorie er für zu missverständlich und umständlich hielt. Bereits in Theories of Justice beruft sich Barry auf einen bedeutenden Aufsatz von Thomas Scanlon, der in Contractualism and Utilitarianism (1982/2003) ein kontraktualistisches Modell entwarf, welches die allgemeine Akzeptanz durch eine Motivationstheorie stützte, die darin bestand, dass Personen das grundlegende Motiv teilen, sich voreinander in der Weise mit Prinzipien rechtfertigen zu wollen, dass andere dies nicht vernünftigerweise 3 | Im deutschsprachigen Raum können beispielsweise Höffe (1987) sowie Stemmer (2002) zu jener Strömung gezählt werden.

1. Einleitung

zurückweisen könnten. Barry stützte sich in seinem späteren Werk Justice as Impartiality (1995) noch ausführlicher auf diesen Gedanken. Bald darauf legte Thomas Scanlon einen ausgereifteren Vorschlag in What We Owe to Each Other (1998) vor und inspirierte damit auch Stephen Darwall (2006: Kap. 12), ein Fundament für eine kontraktualistische normative Theorie zu entwerfen.4 In der Folge vielfältiger Vorschläge, die in universalistischer Tradition stehen und sehr weitreichende Rezeption erfuhren, können wir seit Barry, wie ich meine, von einer Phase der Entwicklung universalistischer Vertragstheorien sprechen. Die kontraktualistische Debatte um das beste Verständnis einer normativen Theorie, die sich auf Übereinkunft stützt, ist damit aber nicht an ihr Ende gekommen. Es gibt noch viele weitere Vertragstheoretiker, doch bei den genannten haben wir es mit den ausgereiftesten Vorschlägen zu tun, die darüber hinaus den Diskurs um das beste Verständnis einer universalistisch inspirierten Theorie der Übereinkunft dominieren.5 Alle Vertragstheorien in rousseauisch-kantischer Tradition haben gemein, dass sie ihren Ausgang bei John Rawls finden und sich von den hobbesschen Vertretern, etwa David Gauthier, abgrenzen. Von Barry bis hin zu Darwall wurde ein Ansatz offengelegt, der eine konsistente Grundlage für die Rechtfertigung von handlungsleitenden Prinzipien bietet.

1.2. P roblemstellung und wissenschaf tliche E inordnung Es ist genau diese Strömung des rousseauisch-kantischen oder universalistischen Kontraktualismus, an welche ich mit meiner Arbeit einerseits anschließen möchte, um anderseits ihre Ideen aufzuklären und verständlicher zu machen. Denn das, was mit einem solchen Kontraktualismus gemeint ist, ist keinesfalls eindeutig. Es gibt eine große Unklarheit darüber, was eine kontraktualistische Theorie in dieser Tradition eigentlich ausmacht. Das Theorieprogramm wirkt in den wissenschaftlichen außerkontraktualistischen Debatten unscharf und schwer nachvollziehbar, ganz im Gegensatz zur hobbesschen Variante des Kontraktualismus. 4 | Weitere einflussreiche Denker, auf die ich mich beziehen werde und die ebenfalls kleinere Beiträge zur Entwicklung eines universalistischen Kontraktualismus geleistet haben, sind beispielsweise Gaus (1990) und mit Einschränkungen Nagel (1994: Kap. 5). 5 | Insbesondere Rawls, Barry und Scanlon werden immer wieder herangezogen, wenn Beispiele für den Kontraktualismus in kantischer Tradition gesucht werden. Es sind die einflussreichsten Vertreter dieser Richtung. Siehe dazu etwa Sayre-McCord (2000), Pauer-Studer (2003: Kap. 4), Herzog (2013). Für den neueren Zusammenhang mit Darwall siehe auch Pauer-Studer (2013).

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Worin bestehen diese Unklarheiten? Verträge werden gern verstanden als »soziale Instrumente, derer sich die Vertragsbeteiligten zum Zwecke der Verbesserung ihrer Nutzenposition bedienen« (Kersting 1996: 237). Dieses Verständnis greift der hobbessche Kontraktualismus auf. Der eigennützige Vorteil wird von einer universalistischen Variante aber nicht als allein ausschlaggebend für die mögliche Akzeptanz eines Individuums angesehen. Es geht auch nicht nur um die Verhandlungsmacht, die jemand in ein kooperatives Schema einbringt. Der rousseauisch-kantische Kontraktualismus ist nicht wie die Hobbesianer davon überzeugt, dass ein »Versöhnungsprojekt« (Kavka 2002) zwischen rationalem Eigeninteresse und der Moral gelingen kann. Egal wie vorzugswürdig ein moralisches Prinzip (als Vertragsinhalt) auch sein mag, es gibt immer Situationen, in denen der Bruch der Übereinkunft noch vorteilhafter erscheinen kann. Ebenso mag es für eine schwächere Partei durchaus rational sein, eine Übereinkunft einzugehen, die ihr selbst nur sehr geringe und einer anderen Partei deutlich stärkere Vorteile zugesteht. Wenn bestimmte Verhältnisse in irgendeiner Weise für alle vorteilhaft sind, sind sie dann auch gerechtfertigt? Diese Konsequenzen haben die universalistischen Vertragstheoretiker stets versucht gegenüber den hobbesschen nachzuweisen. Eine Übereinkunft kann nach ihnen nur dann stattfinden, wenn es in irgendeiner Hinsicht ein Moment gibt, welches die Parteien in eine gleiche Ausgangsposition versetzt und damit der rücksichtslosen Verfolgung eigener Interessen Grenzen gesetzt werden. Doch hier ergibt sich sogleich das schwerwiegendste Problem für die Strömung des universalistischen Kontraktualismus. Wenn dieser davon ausgeht, dass die rationale Vorteilhaftigkeit nicht hinreichend ist, sondern eine Übereinkunft auch unter bestimmten fairen oder gleichen Bedingungen zustande kommen muss, wie kann der Kontraktualismus dann noch beanspruchen, eine Theorie zu sein, welche unsere moralischen Urteile rechtfertigt und fundiert? Scheint er diese Urteile nicht vielmehr vorauszusetzen, indem er die moralische Forderung erhebt, dass eine Übereinkunft nur unter Gleichen Legitimität beanspruchen kann? Während also die hobbessche Theorie der Vorwurf trifft, dass sich Moral nicht einzig auf dem rationalen Eigeninteresse der Personen gründen lässt, so wird der universalistischen Theorie vorgehalten, dass die konstruktive Idee einer Übereinkunft redundant ist oder zumindest nicht fundamental für unsere moralischen Überlegungen sein kann. Es stellt sich die Frage, inwiefern ein »universalistischer Kontraktualismus überhaupt noch als Vertragstheorie gelten kann« (Pauer-Studer 2003: 107). Insbesondere nach Rawls kam es zu breiten Debatten darüber, inwiefern so etwas wie eine hypothetische Übereinkunft in seinem Werk überhaupt noch notwendig ist.6 6 | Zu dieser Diskussion siehe exemplarisch Ballestrem (1977), Hoerster (1977), Koller (1987: 78-93) oder Hampton (1980), wobei auch immer wieder die Diskussion im Zent-

1. Einleitung

Auch spätere Vertragstheoretiker mussten sich immer wieder dafür rechtfertigen, warum sie ihre eigene Theorie überhaupt als kontraktualistisch bezeichneten, wenn sie vom hobbesschen Modell abwichen (vgl. Barry 1996, 1998: 187-193; Scanlon 2000: 72-75).7 Dies alles könnte auch ein Streit um Worte sein, wenn es lediglich darum gehen würde, bestimmten Theorien einen bezeichnenden Namen zu verleihen und einen anderen für angemessener zu halten. Doch in Anbetracht der Nähe, welche die Ideen der kantischen Kontraktualisten aufweisen, lässt sich die gemeinsame Bezeichnung meiner Ansicht nach aufrechterhalten. Da es diese Unklarheiten gibt, wie wir dieses Theorieprogramm verstehen können, möchte ich eine spezifische Deutung dieser Theorie vornehmen, die nicht erklärt, welchem Idealbild einer Vertragstheorie sie entspricht (denn ein solches Idealbild lässt sich nur schwer festlegen), sondern die erklärt, wie die Übereinkunft konsistent am besten ausbuchstabiert werden kann. Neben der Problematik, wie das kontraktualistische Theorieprogramm verstanden werden kann oder was es ausmacht, besteht ebenso eine Unklarheit darüber, was es eigentlich mit dem Bezug auf Kant auf sich hat. Was ist am kantischen Kontraktualismus eigentlich kantisch? Ist es die Idee freier und gleicher Personen? Wenn dem so ist, dann erhalten wir diese Idee aus Kants Moralphilosophie, die sich um den kategorischen Imperativ auf baut, einem Verallgemeinerungsgrundsatz, dem es nicht um Übereinkunft geht. Kant macht vom Vertragsgedanken lediglich in seiner politischen Philosophie Gebrauch, wo es um die Legitimität von Gesetzen und Herrschaft geht. Dabei setzt er zu diesem Zweck bereits einige moralische Prämissen voraus. Die Kontraktualisten in kantischer Tradition verstehen sich aber in einem umfassenden Sinne moralphilosophisch und streben eher eine Alternative oder eine andere Deutung des kategorischen Imperativs an (vgl. Scanlon 1998: 5f.). Wie passt dies dann mit Kant zusammen? Für die einen mag Kant der adäquateste Vertreter des Kontraktualismus sein (vgl. Riley 1973), für die anderen bestehen große Zweifel, ob Kant überhaupt als kontraktualistisches Vorbild taugt (vgl. O’Neill 2012). Wie stark ist dieser Bruch zwischen Kantianismus und Kontraktualismus? Welche Nähe besteht tatsächlich? Mit der Unklarheit über das kantische Erbe und der Selbstbezeichnung Kontraktualismus geht ein Mangel des Verständnisses in der Theoriestruktur einher. War die Argumentationsfolge bei den Klassikern des vertragsrum stand, wie das vertragstheoretische Modell bei Rawls mit dessen kohärenztheoretischem Modell des Überlegungsgleichgewichts zusammenhängt. 7 | Zu denjenigen, die das kontraktualistische Rechtfertigungsverfahren in dieser Weise in Zweifel ziehen, gehören exemplarisch und besonders aufschlussreich in ihren Ausführungen Weale (1998) gegenüber Barry oder Blackburn (1999) sowie MacLeod (2001) gegenüber Scanlon.

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theoretischen Denkens noch sehr zugänglich – indem sie meist (1) aus der Beschreibung eines anschaulichen Naturzustandes bestand, (2) einem Vertragsinhalt (als Gegenstand, der gerechtfertigt werden soll) und (3) letztlich einer Argumentation, weshalb genau dieser Vertragsinhalt im beschriebenen Naturzustand gewählt werden würde (vgl. Kersting 1994: 54ff.) –, so ist diese Struktur der Theorie bei modernen Kontraktualisten nicht mehr in dieser Eindeutigkeit gegeben. Umfangreiche Naturzustandsbeschreibungen, die Verwendung finden, um gedankenexperimentell eine Einigung nachvollziehbar zu machen, sucht man bei modernen Kontraktualisten wie Barry oder Scanlon vergeblich. Sie sind (wenn überhaupt) nur sehr abstrakt und allgemein gehalten. Einige von ihnen haben versucht, die Struktur ihrer kontraktualistischen Rechtfertigung offenzulegen und deutlicher hervortreten zu lassen. Rawls hat dies getan, indem er den konstruktivistischen Rahmen seiner Theorie beschrieb (vgl. Rawls 1992b). Konstruktivistische Theorien sind nach Rawls diejenigen, die von einem Verfahren ausgehen, um Prinzipien der Gerechtigkeit zu begründen. Ein Konstruktionsverfahren ermöglicht es uns festzustellen, welche Prinzipien gerechtfertigt sind und welche nicht. Eine gedankenexperimentelle Übereinkunft sei ein solches konstruktivistisches Verfahren. Dies hat nicht unbedingt für mehr Klarheit gesorgt. Manche haben den Konstruktivismus, den Rawls als Begrifflichkeit für die Moralphilosophie adaptierte, wie Kersting einfach mit der Vertragstheorie gleichgesetzt: »Das, was Rawls jetzt ›Konstruktivismus‹ nennt, hieß in dem Buch von 1971 noch ›Vertragstheorie‹« (Kersting 1996: 257). Während Kersting Vertragstheorie und Konstruktivismus gleichsetzt, wird von O’Neill Konstruktivismus und Vertragstheorie sogar als direkter Gegensatz eingestuft (vgl. O’Neill 2003a). Dies offenbart ein grundlegendes Unverständnis bezüglich der Theorie und ihrer Begrifflichkeiten, welches ich aufzuklären gedenke. Eine kontraktualistische Theorie muss solche Missverständnisse vermeiden und benötigt eine klare Struktur, damit die Argumentationsweisen besser erfasst werden können. Neben diesem Schlaglicht von Verständnisproblemen des kontraktualistischen Rechtfertigungsmodells gibt es natürlich auch handfeste Einwände gegen einzelne Bestandteile des Kontraktualismus. Allen Theorien, die sich auf hypothetische Akzeptanz oder Zustimmung beziehen, wird gern vorgeworfen, dass eine hypothetische Übereinkunft keine tatsächliche Übereinkunft ist und demzufolge nicht die gleiche Verpflichtungswirkung haben kann. Was soll uns ein hypothetisches Konstrukt über richtig und falsch sagen können? Akzeptabilität oder Zustimmung scheint nur etwas zu sein, was in der Fantasie von kontraktualistischen Autoren besteht. Hypothetische Übereinstimmung könne uns jedenfalls nicht viel darüber sagen, was rechtens ist und was nicht. Dieser Einwand ist klassisch und wird bis in die jüngere Gegenwart diskutiert (vgl. insbesondere Dworkin 1984: 253 oder Stark 2000). Aktueller ist jedoch der Einwand, dass der Kontraktualismus in der Fokussierung auf Vertrags-

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parteien gegenüber schwächeren Individuen, etwa Menschen mit Behinderungen, ignorant oder blind ist. Haben diese Menschen etwa keinen moralischen Status? Schulden wir ihnen nicht die Achtung grundlegender Rechte? Des Weiteren drängen sich in der aktuellen Ethik-Diskussion Fragen auf, die unser Verhalten gegenüber Tieren betreffen. Haben wir ihnen gegenüber Pflichten und wenn ja, wie können wir ermitteln, welche das sind? Der Kontraktualismus scheint lediglich eine Theorie des kompetenten Moralbeurteilers zu sein, welcher dazu in der Lage ist, Verträge zu schließen, und demzufolge würden sämtliche Pflichten gegenüber solchen nicht-rationalen Wesen aus der kontraktualistischen Betrachtung einfach herausfallen, so etwa die Vorwürfe von Kymlicka (1990: 110), Nussbaum (2010 Kap. 6) oder Singer (2013: 121-123). All dies sind Probleme, die sich im Anschluss an ein kontraktualistisches Theorieprogramm ergeben, doch weshalb sollte man diesem Themenfeld heute irgendeine Bedeutung beimessen? Der Kontraktualismus lässt uns mit vielen offenen Fragen zurück, welche die Schlüssigkeit der Rechtfertigungsformel bedrohen. Deshalb umfasst das Ziel der Grundlegung der Rechtfertigungsformel zweierlei: dem universalistischen Kontraktualismus eine klarere Kontur zu geben und ihn darüber hinaus an den Stellen, wo es Unklarheiten gibt, weiterzuentwickeln. Martha Nussbaum (2010) gilt als eine aktuelle und einflussreiche Kritikerin des vertragstheoretischen Denkens, die jedoch gleichsam sagt, dass in der universalistischen Version des Kontraktualismus die Möglichkeit stecke, ein überzeugendes Begründungsprogramm zu liefern, und dass sie mit typischen Problemen (wobei für sie der Umgang mit Menschen mit Behinderungen von zentraler Bedeutung ist) besser umzugehen vermag als andere Theorievarianten. Sie selbst suchte die Lösung jedoch nicht in der Vertragstheorie, sondern knüpfte stattdessen an eine materiale Theorie des Guten in aristotelischer Tradition an. Sie hoffte dabei jedoch, dass ihre Arbeit »zukünftige Versuche, einen politischen Kontraktualismus auszuarbeiten, ergänzen und inspirieren kann« (Nussbaum 2010: 217). Wo Nussbaum den Weg abbricht und nicht zu einer kontraktualistischen Begründung einer Gerechtigkeitsvorstellung kommt, dort möchte ich den kontraktualistischen Weg konsequent zu Ende gehen und zeigen, dass der moderne Kontraktualismus ein plausibles Begründungsmodell interpersoneller Rechte und Pflichten ist.8

8 | Es ist bezeichnend, dass eine der Hauptfragen in einem Band zu aktuellen Debatten in der Moraltheorie von James Dreyer (2006) lautet, ob die Vertragstheorie ein Fundament für interpersonelle Moralität bieten kann. Ebenso bezeichnend ist, dass sich die entsprechenden Autoren in jenem Band, die sich zum Kontraktualismus äußern, Freeman (2006) und Pettit (2006), gar nicht erst mit der hobbesschen Variante auseinandersetzen, sondern in erster Linie die kantische Version der Vertragstheorie betrachten,

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Der Diskurs um die Vertragstheorie, der sich im Zuge der Arbeit von John Rawls ergeben hat, hält im Grunde bis heute an. Inzwischen gibt es jedoch eine neue Generation von kontraktualistischen Argumenten und auch eine neue Generation von Kritikern. Der Diskurs um diese besondere Klasse normativer Theorien ist heute auf eine neue Ebene gelangt. Während es sehr umfangreiche Werke zu den Kontraktualisten der Phase der Wiederentdeckung gibt, in denen sich dem Denken von Rawls, Nozick und Buchanan gewidmet wird9, so sind solche Arbeiten für die spezifische Linie des rein universalistischen Kontraktualismus noch kaum vorhanden, obwohl sie natürlich dennoch entsprechende Einzelstudien und eine breite Rezeption erfahren haben.10 Eine große zusammenführende Darstellung und Deutung ihrer Ideen ist diesen Denkern jedoch noch nicht zuteilgeworden. Ich glaube, dass ich einen sinnvollen Beitrag zur kontraktualistischen Theoriebildung leisten kann, indem ich eine vereinende Darstellung des universalistischen Kontraktualismus liefere. In einer Auf klärung und Weiterentwicklung des kontraktualistischen Denkens in rousseauisch-kantischer Tradition liegt das Ziel dieser Arbeit. Die Weiterentwicklung erfolgt durch die Bearbeitung zahlreicher Einwände, die beispielsweise von der als problematisch empfundenen hypothetischen Struktur über den Redundanz-Vorwurf bis zur Frage reichen, wer die Betroffenen in einem kontraktualistischen Überlegungsprozess sein können. Die Klarstellung dessen, womit wir es bei einem solchen Kontraktualismus zu tun haben, und die Bearbeitung einiger Probleme, die sich ihm stellen, machen den Kontraktualismus schlüssiger und konsistenter, wie ich hoffe. Andere thematische Felder müssen dabei notwendigerweise ausgespart werden, insbesondere die sehr reichhaltige und umfassende Debatte um die Kritik des Kommunitarismus an der rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit. Zwar ist die Kritik am vorausgesetzten Individualismus in der Vertragstheorie, wie sie unter anderem von Michael Sandel (1982) oder Charles Taylor (1992) geäußert wurde, alles andere als irrelevant für ein kontraktualistisches Theorieprogramm, doch glaube ich, dass einerseits in dieser Hinsicht bereits viel Forschungsarbeit geleistet wurde11 und sich andererseits die Debatte auch um die materiellen Konsequenzen des rawlsschen Liberalismus drehten. Häufig wird bei den Kritikern was dafür spricht, dass diese im Vergleich zu ihrer hobbesschen Schwesterströmung an Bedeutung gewonnen hat. 9 | Hier seien exemplarisch vor allem die sehr guten Ausarbeitungen von Koller (1987), Kley (1989) und Kersting (1994) genannt. 10 | Für Barry seien dabei insbesondere die ausführlichen Sammelbände von Kelly (1998) und Dowding et al. (2004) erwähnt sowie der Sammelband von Matravers (2003) für Scanlon genannt. 11 | Als besonders aufschlussreich sind hier zu nennen: Forst (1994, 1996), ReeseSchäfer (1997: Kap. 5) und Rechenauer (2009).

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»nicht immer exakt zwischen Kontraktualismus und Liberalismus unterschieden« (Rechenauer 2009: 63). Das Begründungsmodell und die entsprechende politische Auffassung hängen selbstverständlich traditionell eng miteinander zusammen, sind jedoch keinesfalls identisch. Darüber hinaus werde ich nur an wenigen Stellen auf die Unterschiede zu einer anderen Theorie eingehen, welche die Akzeptabilität von Betroffenen ebenfalls ins Zentrum rückt: die Diskursethik. Es gibt viele Aspekte, welche diese mit dem Kontraktualismus teilt. Der Hauptunterschied liegt meiner Auffassung nach in der Grundlegung der unterschiedlichen obersten Rechtfertigungsformeln. Ebenfalls besteht ein Unterschied, ob die Theorie monologisch verstanden werden muss, wie dies Kontraktualisten annehmen, oder ob ein dialogischer realer Diskurs mit anderen notwendig ist. An den Stellen, wo es angebracht ist, wird auf diese Unterschiede hingewiesen. Eine intensivere Beschäftigung mit dem Verhältnis von Kontraktualismus und Diskursethik hätte aber mehr Raum erfordert, was mit meinen Zielen, ein besseres Verständnis einer bestimmten Theorietradition zu gewinnen sowie darauf auf bauend eine konsistente kontraktualistische Theorie zu formulieren, nicht vereinbar gewesen wäre.12

1.3. V orgehensweise Kontraktualistische Theorien in universalistischer Tradition sind normative Theorien und diese »beinhalten Reflexionen und treffen Feststellungen über das, was sein soll. Sie begründen Wertmaßstäbe, Werturteile und Handlungsanleitungen« (Nohlen/Schultze 1995: 651). Was sind die Standards der normativen Theoriebildung? Anders als empirisch ausgerichtete Theorien sind normative Theorien nicht in gleichem Maße einer Verifikation zugänglich, die beispielsweise nur durch Beobachtung bestätigt werden müsste. Dennoch gibt es einige Standards, die auch in diesem Bereich Geltung haben und an denen ich mich im Anschluss an Schaal/Heidenreich (vgl. 2009: 35) orientiere. Dies ist erstens die Konsistenz: Die Argumentation muss stringent und möglichst widerspruchsfrei erfolgen. Dies ist zweitens die Transparenz: Die Prämissen und Vorannahmen müssen offen ersichtlich sein. Letztlich ist dies die Kenntlichkeit: Es soll klar ersichtlich sein, was die einzelnen Folgen der entsprechenden Annahmen sind, und die Argumentation muss jederzeit nachvollzogen 12 | Für eine Beschäftigung mit diesen Fragen und der Differenz zwischen Kontraktualisten und den Diskursethikern siehe unter anderem Kelly (2000), wo insbesondere der Unterschied zwischen Scanlon und Habermas zur Sprache kommt, sowie Mazous (2012), welche die Arbeiten von Rawls, Habermas und Scanlon miteinander in Beziehung setzt.

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werden können. Diese Standards sind es, welche sowohl gegenüber den kontraktualistischen Theorien als auch gegenüber meinen eigenen Ausführungen Anwendung finden müssen. Die gesamte Arbeit lässt sich als Explikation jener Formel verstehen, die ich eingangs vorangestellt habe: Ein Prinzip zur Regulierung des Zusammenlebens ist genau dann gerechtfertigt, wenn es von allen Betroffenen, welche motiviert sind, eine Übereinkunft zu erreichen, vernünftigerweise akzeptiert werden könnte. In der jüngeren Vergangenheit hat es Vorschläge gegeben, den Kontraktualismus durch eine oberste Rechtfertigungsformel zu repräsentieren (vgl. Scanlon 1998 sowie Parfit 2011: Kap. 15), wobei ich jedoch die von mir gewählte Formulierung für den klarsten und allgemeinsten Ausdruck des Theorieprogramms eines universalistischen Kontraktualismus halte. Dies soll sich durch meine Arbeit bestätigen. Ich werde in der Weise vorgehen, dass ich diese kontraktualistische Formel zugrunde lege und ihre einzelnen Bestandteile erkläre. Jeder Begriff wird erläutert und auf diese Weise ist es einfacher, meinen Darlegungen zu folgen sowie den Auf bau des Kontraktualismus nachzuvollziehen. Die Arbeit umfasst dabei drei große Komplexe. Im ersten Teil werden die Grundlagen eines moralphilosophischen Kontraktualismus ausgebreitet. Der zweite Teil behandelt den praktischen Standpunkt, von dem wir ausgehen, wenn wir die Akzeptanz eines Prinzips qualifizieren wollen, und den wir gedanklich einnehmen, wenn wir die Formel anwenden. Der dritte Teil zeigt schließlich, wie sich der kontraktualistische Überlegungsprozess nach den Prämissen des praktischen Standpunktes gestalten lässt und wie mittels des Kontraktualismus zu Prinzipien gelangt werden kann, die vernünftigerweise akzeptiert werden könnten. Die Grundlagen des rousseauisch-kantischen Kontraktualismus, welche im ersten Teil (Kapitel 2. bis 4.) ausgearbeitet werden, umfassen eine ideengeschichtliche Rekonstruktion des vertragstheoretischen Denkens, legen eine bestimmte Auffassung davon offen, was durch eine kontraktualistische Formel gerechtfertigt werden kann, und beinhalten die Struktur der Rechtfertigung, an die in der Folge angeknüpft wird. In Kapitel 2 werde ich den ideengeschichtlichen Hintergrund aufklären: Wo kommt diese Idee des Kontraktualismus her und an welches Denken kann man heute anknüpfen? Was ist der Status der kontraktualistischen Formel? Wie wurde der Bezug auf die Akzeptanz in der Vergangenheit verstanden und wie sollten wir ihn vielleicht verstehen? Ich werde einige typologische Betrachtungen anstellen. Was für Arten von Vertragstheorien gibt es und welche Art ist für den hier auszuführenden Kontraktualismus relevant? Eine wichtige Unterscheidung betrifft die normative Verwendungsweise von Vertragstheo-

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rien: Ich werde herausstellen, dass ich an ein Verständnis des Kontraktualismus anknüpfe, welches sich zum Ziel macht, das zu rechtfertigen, was sein soll, dabei aber nicht erklärt, was ist oder wie etwas zustande kommen konnte (Kapitel 2.1.). Eine andere Typologie lässt sich dahingehend entwerfen, ob wir die Übereinkunft als eine tatsächliche, eine implizite oder eine hypothetische verstehen müssen. Klarerweise besteht ein Unterschied, ob wir uns darauf berufen, dass einer Übereinkunft tatsächlich zugestimmt wird, oder ob wir uns nur fragen, was alle akzeptieren könnten. Ich werde darlegen, weshalb die kontraktualistische Formel sich auf eine hypothetische Übereinkunft bezieht. Ich erkläre somit das Wort »könnte« an der letzten Stelle der kontraktualistischen Formel und werde darlegen, was einerseits die Funktion einer hypothetischen Übereinkunft ist und andererseits, weshalb sie gegenüber anderen Varianten zu bevorzugen ist (Kapitel 2.2.). Ausgehend von diesen wichtigen typologischen Klarstellungen werde ich ein spezifisches Interpretationsschema zugrunde legen, um die ideengeschichtlichen Bezugspunkte herzustellen. Ich werde die Vertragstheoretiker von Hobbes bis Kant in der Weise interpretieren, dass sie eine bestimmte normative Formel zugrunde gelegt haben, die einerseits eine rechtfertigende und andererseits eine hypothetische Funktion hatte. Methodisch gehe ich hermeneutisch vor und verwende dafür die klassischen kontraktualistischen Werke von Hobbes bis Kant, um die Art der Verwendungsweise der Vertragstheorie offenzulegen, an die moderne Kontraktualisten anknüpften (Kapitel 2.3. und 2.4.). Kapitel 3 beschäftigt sich mit dem Gegenstand der kontraktualistischen Formel. Der Gegenstand ist das, was durch den Verweis auf eine hypothetische Akzeptanz gerechtfertigt werden soll. Dies sind die »Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens«. Welche Arten von Prinzipien sind dies und weshalb kann der Kontraktualismus auf diese spezifische Klasse moralischer Prinzipien angewandt werden? Dazu erörtere ich zuerst die Frage, worin der Bruch zwischen den Klassikern des vertragstheoretischen Denkens und ihren modernen Vertretern besteht. Ich werde vergleichend vorgehen, um den Unterschied neuerer und älterer Vertragstheorien darzulegen. Während die Klassiker vor allem die Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt zum Gegenstand hatten, wird dieser Gegenstand von vielen modernen Vertragstheoretikern auf die interpersonelle Moral beziehungsweise Gerechtigkeit ausgeweitet (Kapitel 3.1.). Anschließend beantworte ich die Frage, was diese Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens beinhalten. Dieser Bereich umfasst beispielsweise die Rechte, die wir voneinander einfordern können, oder die Pflichten, die wir gegenüber anderen haben. Ich werde argumentieren, dass die kontraktualistische Formel auf diesen spezifischen Bereich menschlicher Beziehungen angewandt werden kann. Um diesen Bereich zu präzisieren, werde ich mich an einigen Unterscheidungen bezüglich der Begriffe Moral, Ethik und Gerechtigkeit orientieren (Kapitel 3.2.). Zuletzt wende ich mich der Frage zu,

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weshalb wir uns eigentlich mit Prinzipienrechtfertigung beschäftigen sollten. Welche Vorteile bietet dies beispielsweise im Vergleich zur Beurteilung einzelner Handlungen? Dazu werde ich mich mit der Position des Partikularismus auseinandersetzen, der Prinzipienbegründung weder für notwendig noch für hinreichend hält, und ein bestimmtes Verständnis von Prinzipien aufzeigen, welches als am wenigsten problematisch erscheint (Kapitel 3.3.). Kapitel 4 betrachtet die konstruktivistischen Grundlagen einer Theorie der vernünftigen Übereinkunft. Hier kläre ich begrifflich, auf welche Weise wir im Kontraktualismus die Struktur der »Rechtfertigung« verstehen. Die konstruktivistische Auffassung besagt, dass wir über ein Konstruktionsverfahren zu unseren moralischen Urteilen gelangen. Der Kontraktualismus ist ein solches Konstruktionsverfahren. Nach ihm müssen wir uns in der Frage dessen, was gerechtfertigt ist, ein Verfahren vorstellen, in dem sich Menschen untereinander auf moralische Prinzipien einigen. Diejenigen moralischen Prinzipien, die aus diesem Einigungsverfahren hervorgehen, gelten als gerechtfertigt. Es gibt folglich keine unabhängige moralische Ordnung, die es zu entdecken gilt, sondern Moral wird von Menschen gemacht. Konstruktivistische Ansätze unterscheiden sich darin, wie dieser Konstruktionsprozess ausgestaltet werden kann, wobei der Kontraktualismus nur eine mögliche Variante ist. Was sind die allgemeinen Charakteristiken des Konstruktivismus und wie müssen wir uns ein entsprechendes Rechtfertigungsverfahren vorstellen? Ich werde zeigen, dass der Konstruktivismus drei elementare Bestandteile hat: ein Konstruktionsverfahren, einen praktischen Standpunkt, von dem aus das Verfahren erfolgt, und einen elementaren Praxisbezug (Kapitel 4.1.). Anschließend werde ich auf eine kontroverse Unterscheidung von Sharon Street eingehen, die zwischen normativem und metaethischem Konstruktivismus unterscheidet. Ich werde darlegen, dass diese Unterscheidung zu Missverständnissen führt (Kapitel 4.2.). Eine weitere Kontroverse besteht darin, wie die Ergebnisse eines konstruktivistischen Verfahrens zu interpretieren sind. Am Ende stehen moralische Prinzipien beziehungsweise Urteile über das, was richtig und falsch ist. Konstruktivisten sind unterschiedlicher Meinung, ob wir etwas über den ontologischen Status dieser Ergebnisse aussagen müssen. Sie sind sich einig, dass wir eine Vorstellung realistischer moralischer Tatsachen nicht benötigen. Uneinig sind sie jedoch darüber, ob wir diese ontologische Frage einfach aussparen können (agnostischer Konstruktivismus) oder ob wir die These vertreten müssen, dass solche moralischen Tatsachen außerhalb von uns nicht existieren können (atheistischer Konstruktivismus). Ich werde dafür argumentieren, dass es für einen konstruktivistischen Kontraktualismus hinreichend ist, die agnostische Position zu vertreten (Kapitel 4.3.). Während ich im Abschnitt 4.3. zeige, wie sich die Ergebnisse des Konstruktionsverfahrens auffassen lassen, geht es in Abschnitt 4.4. und 4.5. darum, wie die Elemente des Ausgangspunktes verständlich gemacht werden, von dem aus das Verfahren in

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Gang gesetzt wird. Jede konstruktivistische Theorie braucht einen praktischen Standpunkt, von dem aus das Konstruktionsverfahren gedanklich vollzogen werden kann. Moralische Prinzipien werden durch das Konstruktionsverfahren gerechtfertigt, doch wie wird der praktische Standpunkt gerechtfertigt, von dem aus dieses Verfahren seinen Anfang nimmt? An dieser Stelle entscheidet sich, wie weitgehend eine konstruktivistische Theorie sein kann. Enthält der praktische Standpunkt bereits moralische Prinzipien (dass beispielsweise das Verfahren fair sein muss)? Enthält er vielleicht andere normative Bestandteile (beispielsweise eine Vorstellung dessen, was am rationalsten zu tun ist)? Oder können selbst fundamentale normative Begriffe das Ergebnis eines Konstruktionsverfahrens sein? Als erstes werde ich anhand von John Rawls und Thomas Scanlon zwei kontraktualistische Vorstellungen des praktischen Standpunktes erläutern. Ihre Standpunkte enthalten moralische und normative Bedingungen und ich werde zeigen, wie sie diese versuchen zu rechtfertigen (Kapitel 4.4.). Anschließend werde ich mich mit der radikaleren Position von Christine Korsgaard auseinandersetzen, die die Vorstellung eines sehr weitgehenden Konstruktivismus vertritt. Sie hat den Anspruch, keinen normativen Begriff unerklärt zu lassen und den praktischen Standpunkt so formal wie möglich darzulegen (Kapitel 4.5.). Während Korsgaard der Auffassung ist, dass selbst der normative Begriff des Grundes konstruiert ist (das, was ich Grund habe zu tun, sei das Ergebnis eines Konstruktionsprozesses), zeige ich, dass es für einen Kontraktualismus unerlässlich ist, Gründe nicht zu konstruieren. Der praktische Standpunkt enthält die normative Vorstellung, dass Menschen danach handeln, wozu sie am meisten Grund haben. Die Gründe, die jeder einzelne Mensch hat, sind das Material, um moralische Prinzipien zu konstruieren (Kapitel 4.6.). Wie dies im Einzelnen funktioniert, wird dann im zweiten großen Komplex der Arbeit konkretisiert. Die Grundlagen sind damit jedoch ausgebreitet. Die verschiedenen Ziele des Grundlagenteils lassen sich in folgenden Fragen zusammenfassen: (1) Auf welche Elemente der Klassiker des Gesellschaftsvertrages kann ein universalistischer Kontraktualist zurückgreifen? Wie können wir eine bestimmte typologische Einordnung vornehmen, um den modernen Vertragsgedanken zu verstehen? (Kapitel 2.) (2) Was ist der Status der kontraktualistischen Formel und wie kann sich eine Theorie auf die hypothetische Akzeptanz beziehen? (Kapitel 2.2.) (3) Auf welchen Gegenstandsbereich lässt sich die Idee der Übereinkunft anwenden, auf welche Gegenstandsbereiche nicht? (Kapitel 3.) (4) Wie sieht der strukturelle Rahmen einer kontraktualistischen Rechtfertigung aus? Ist der Kontraktualismus als ein moralischer Konstruktivismus

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zu verstehen und welche Elemente kennzeichnen eine solche Auffassung? (Kapitel 4.) Nach dem Abschluss des Grundlagenteils widme ich mich im zweiten Teil der Arbeit (Kapitel 5. bis 8.) der Darlegung eines praktischen Standpunktes. Dieser praktische Standpunkt kennzeichnet die Ausgangssituation der vorgestellten hypothetischen Übereinkunft. Ich kläre vor allem, was mit dem Begriff »vernünftigerweise« sowie der »Motivation eine Übereinkunft zu erreichen« in der kontraktualistischen Formel gemeint ist. Es handelt sich dabei um grundlegende Eigenschaften, welche die Parteien einer solchen Übereinkunft mitbringen müssen, damit wir die Akzeptanz eines Prinzips hinreichend qualifizieren können. Wenn wir also überlegen, was akzeptiert werden könnte, dann stellen wir uns ein Einigungsszenario vor, an welchem Personen teilnehmen, die eine bestimmte Art von vernünftiger Denkweise sowie eine bestimmte Art von Motivation mitbringen. Kapitel 5 handelt von den typischen Elementen, die einen praktischen Standpunkt innerhalb eines kontraktualistischen Modells kennzeichnen. Ich werde erläutern, welche normativen (Kapitel 5.1.) und welche empirischen (Kapitel 5.2.) Bedingungen für den Kontraktualismus eine Rolle spielen. Gleichsam werde ich zeigen, was an einer kontraktualistischen Position problematisch ist, die nur sehr schwache normative Annahmen macht und meint, mit empirischen Bedingungen auszukommen. Zuletzt werde ich die Funktionsweise des praktischen Standpunktes aufschlüsseln. Er soll die plausible Ausgangssituation darstellen, in die wir uns hineinversetzen können, wenn wir Überlegungen über richtig und falsch anstellen. Dabei stellt sich die Frage, wie dieser praktische Standpunkt in Beziehung zu Konzeptionen anderer Kontraktualisten steht, welche die Namen »Naturzustand«, »Urzustand« oder »anfängliche Verhandlungsposition« tragen. Ich werde zeigen, dass meine Konzeption des praktischen Standpunktes eine Verallgemeinerung all dieser theoretischen Konzeptionen ist (Kapitel 5.3.). Kapitel 6 handelt von den rationalen Kapazitäten, von denen wir im praktischen Standpunkt bei möglichen Verhandlungsparteien ausgehen können. Auf welche Form des Denkens stützen sich die Parteien, wenn sie darüber nachdenken, was sie akzeptieren können und was nicht? Insbesondere universalistische Kontraktualisten berufen sich gern auf den Unterschied zwischen rationalem und vernünftigem Denken, wobei ersteres meist mit der einfachen Zweck-Mittel-Rationalität identifiziert wird, während letzteres häufig die Einbeziehung anderer Personen in die eigenen Überlegungen kennzeichnet. Universalistische Kontraktualisten glauben, dass wir diese reichhaltigere Vorstellung des Vernünftigen zugrunde legen müssen, wenn wir überhaupt von Moral sprechen wollen. Um dies darzulegen, werde ich einige Autoren besprechen, welche das praktische Denken in dieser Weise dualistisch ver-

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standen haben. Ich werde herausarbeiten, worin diese Trennung im Einzelnen besteht und weshalb sie notwendig ist (Kapitel 6.1.). Anschließend bestimme ich eine minimale Konzeption eines rationalen Wesens, welches in der Lage ist, Gründe zu geben und zu verstehen. Dies erläutere ich vor allem in Auseinandersetzung mit Thomas Scanlon (Kapitel 6.2.). Wenn es um die Akzeptanz von einem bestimmten Prinzip geht, dann wird damit einhergehend gefragt, wann etwas am rationalsten für eine Person zu akzeptieren ist. Doch wie bestimmen wir das, was am rationalsten zu tun ist? Können wir dies immer mit dem gleichsetzen, was am meisten die eigenen Interessen befördert? Ich werde mich mit dem hobbesschen Kontraktualismus auseinandersetzen, welcher diese These vertritt. Exemplarisch werde ich mich dabei mit der Position von David Gauthier beschäftigen und sie von den kantisch-rousseauischen Positionen abgrenzen (Kapitel 6.3.). Im Anschluss an die vorangegangene Diskussion werde ich dann das Vernünftige begrifflich genau bestimmen. Ich werde die These vertreten, dass dies eine Form des Denkens ist, die nicht nur die eigenen Interessen zur Grundlage hat, sondern den jeweiligen Kontext berücksichtigt, in welchem ein Individuum bestimmte Urteile fällt (Kapitel 6.4.). In Kapitel 7 werde ich der Frage nachgehen, was dieser Kontext ist, auf den sich das vernünftige Denken in moralischen Fragen bezieht. Im Anschluss an die Vertragstheoretiker John Rawls, Brian Barry und Thomas Scanlon werde ich die These dieser Denker weiterentwickeln, dass die Behandlung moralischer Fragen eine bestimmte Motivation voraussetzt, welche die Parteien mitbringen müssen. Ich werde zur Entwicklung dieses Gedankens der Notwendigkeit einer moralischen Motivation zuerst auf eine skeptische Herausforderung zu sprechen kommen, die besagt, dass moralische Urteile uns niemals zum Handeln motivieren können, wenn nicht ein bestimmter Wunsch besteht, dies zu tun. Darauf haben hobbessche Kontraktualisten eine spezifische Antwort, welche im Eigeninteresse der Person liegt, die jedoch den Gegenstandsbereich der Moral verfehlt, wie ich zeigen werde (Kapitel 7.1.). Darauffolgend werde ich eine grundlegende Idee von John Stuart Mill betrachten, welche besagt, dass Menschen über den Wunsch verfügen, mit ihren Mitmenschen einig zu sein. Dieser Wunsch war für moderne Kontraktualisten eine Inspirationsquelle in Bezug auf die moralische Motivation (Kapitel 7.2.). Kontraktualisten wie Thomas Scanlon und Brian Barry haben in der Folge das Motiv zugrunde gelegt, sich vor anderen in der Weise zu rechtfertigen, dass diese ihr Handeln vernünftigerweise akzeptieren könnten. Ich werde darlegen, was diese Idee eines solchen Motivs attraktiv macht und ein entsprechendes Ideal der Übereinkunft konzeptualisieren (Kapitel 7.3.). Anschließend beschäftige ich mich mit einigen Strategien, wie wir dieses Ideal besser bestimmen können und weshalb genau dieses Ideal die Basis moralischer Motivation sein kann (Kapitel 7.4.). Ebenso werde ich auf einen Einwand von Stephen Darwall eingehen, nach welchem wir den Kontraktualismus nicht auf einem substanziellen Wunsch oder einem Wert auf-

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bauen können, sondern dass wir ein formales Fundament benötigen. Ich werde argumentieren, dass Darwall zwar wichtige Einsichten geliefert hat, aber der Kontraktualismus dennoch auf eine substanzielle These in Form des Ideals der Übereinkunft als fundamentaler Wert angewiesen bleibt (Kapitel 7.5.). Zuletzt lege ich einige Implikationen jenes Ideals der Übereinkunft offen, welche mir im letzten Teil dazu dienen werden, eine spezifische Vorstellung eines kontraktualistischen Einigungsverfahrens auszuarbeiten (Kapitel 7.6.). Der praktische Standpunkt, der von vernünftigen und zur Übereinkunft motivierten Personen ausgeht, ist damit dargelegt. Kapitel 8 behandelt daraufhin die Kontroverse darüber, inwieweit diese kontraktualistische Grundlegung noch etwas mit den Ideen Kants zu tun hat. Obwohl Strömungen mit einer reicheren Vernunftvorstellung oder bestimmten moralischen Voraussetzungen gern als »kantischer Kontraktualismus« betitelt werden, werde ich die These vertreten, dass es gewichtige Unterschiede zwischen dem kantischen und dem kontraktualistischen Denken gibt, welche häufig vernachlässigt werden. Aber nur indem wir auf diese Differenzen hinweisen, können wir erklären, weshalb der Kontraktualismus theoretische Eigenständigkeit bewahrt und was ihn gegenüber der kantischen Moralphilosophie plausibler macht. Ich werde deshalb einige Ausführungen von Darwall (Kapitel 8.1.), Rawls (Kapitel 8.2.) und Scanlon (Kapitel 8.3.) betrachten, welche sich mit dem kantischen Denken und der Abgrenzung zum Kontraktualismus beschäftigt haben, und einige fundamentale Unterschiede herausarbeiten. Die Teilfragen dieses Abschnitts lassen sich damit folgendermaßen zusammenfassen: (1) Was ist die Funktionsweise des praktischen Standpunkts und welche Elemente muss er aufweisen? (Kapitel 5.) (2) Was für eine Form des praktischen Denkens können wir bei den Parteien der hypothetischen Übereinkunft in moralischen Fragen voraussetzen? Wie erfassen wir den Begriff des »Vernünftigen« richtig? (Kapitel 6.) (3) Welche Motivationen sollten die Parteien in einem praktischen Standpunkt mitbringen? Weshalb ist eine motivationale Komponente notwendig? (Kapitel 7.) (4) Was ist am kantischen Kontraktualismus eigentlich kantisch? Ist es überhaupt noch gerechtfertigt von einer kantischen Linie des Kontraktualismus zu sprechen? (Kapitel 8.) Teil drei der Arbeit (Kapitel 9. bis 11.) soll die Ausformung des entsprechenden Rechtfertigungsverfahrens zum Gegenstand haben, welches von den Prämissen des praktischen Standpunktes ausgeht. Er behandelt in Kapitel 9 und 10 den Begriff dessen, was wir unter diesen Bedingungen »akzeptieren« können.

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In Kapitel 11 wird der Begriff der »Betroffenen« erläutert, womit die kontraktualistische Formel vollständig ausgearbeitet ist. In Kapitel 9 werde ich über die Struktur der Gründe Aufschluss geben, welche die Parteien für und wider die Akzeptanz eines Prinzips angeben können. Ich werde ausführen, dass es nur individuelle Gründe sein können, also jene Gründe, die immer einen unmittelbaren Bezug zu einem Individuum haben. Dabei werde ich zugleich den Redundanz-Vorwurf gegen den universalistischen Kontraktualismus entkräften, der besagt, dass das kontraktualistische Rechtfertigungsverfahren unnötig sei und wir uns stattdessen direkt auf Gründe beziehen könnten. Ist dies tatsächlich möglich? Ist der Kontraktualismus redundant? (Kapitel 9.1.) Darauf folgend werde ich eine Konzeption der generischen Gründe nach Thomas Scanlon vorstellen und zeigen, weshalb sich Parteien in einem gedachten Überlegungsprozess nur auf diejenigen Gründe beziehen, die sie Kraft der Umstände haben, in denen sie sich befinden (Kapitel 9.2.). Es stellt sich dann die Frage, wie bestimmte Gründe gewichtet werden können. Sind wir bei einer entsprechenden Gewichtung auf Intuitionen angewiesen? Woher wissen wir, dass ein bestimmter Grund mehr wiegt als andere Gründe? (Kapitel 9.3.) Zuletzt widme ich mich der Frage, ob ein kontraktualistischer Überlegungsprozess immer von einem Zustand ausgehen muss, in welchem es noch überhaupt keine moralischen Prinzipien gibt, oder ob nicht auch bereits gerechtfertigte moralische Prinzipien als Grundlage für die Rechtfertigung anderer Prinzipien dienen können (Kapitel 9.4.). Kapitel 10 behandelt die Veranschaulichung des kontraktualistischen Überlegungsprozesses und legt die Implikationen der möglichen Gründe offen, die Berücksichtigung finden können. In Abgrenzung zur Theorie von John Rawls, welcher einen Vertragsschluss mit so starken Anforderungen der Unparteilichkeit einführte, dass die individuellen Gründe kaum noch von Bedeutung sind, werde ich darlegen, dass wir die Verschiedenheit von einzelnen Personen und ihre jeweiligen Gründe für die Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz berücksichtigen müssen (Kapitel 10.1.). Dies kann am ehesten ein sogenanntes EinwandModell im Anschluss an Thomas Nagel und Thomas Scanlon leisten (Kapitel 10.2.), welches von allen möglichen Prinzipien dasjenige ermittelt, welches am wenigsten inakzeptabel ist. Auf diese Weise erhalten wir die Möglichkeit, dasjenige Prinzip zu bestimmen, was von Parteien vernünftigerweise vor dem Hintergrund des Ideals der Übereinkunft akzeptiert werden könnte. Nachfolgende Überlegungen betreffen die Frage, inwieweit Wahrscheinlichkeiten bei der Beurteilung von Gründen wichtig sind. Schwächen sich Gründe oder Einwände ab, wenn das Ereignis, auf welches sie sich beziehen, weniger wahrscheinlich ist (Kapitel 10.3.)? Der letzte Abschnitt versucht dann, mit dem Problem der Zahlen umzugehen. Das bedeutet, die Frage zu stellen, ob allein die Tatsache, dass sehr viele Menschen einen bestimmten Grund haben, einen Einfluss darauf hat, was richtig und was falsch ist. Da eine Theorie der Übereinkunft auf die

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einstimmige Akzeptanz aller Betroffenen zielt, scheinen wir zu sagen, dass jede Person ein Vetorecht hat. Können wir tatsächlich keine Aggregation vornehmen? Macht es wirklich keinen Unterschied, ob beispielsweise ein einzelner Mensch Einwände vorzubringen hat oder eine Vielzahl (Kapitel 10.4.)? Kapitel 11 behandelt den letzten entscheidenden Begriff. Wer gilt als »Betroffener« und kann bei moralischen Überlegungen berücksichtigt werden? Dazu werde ich als erstes offenlegen, welche typischen Strategien Kontraktualisten in Anbetracht der moralischen Probleme verfolgten, welche sich bezüglich des Status von Tieren, Menschen mit Behinderungen oder zukünftigen Generationen stellen (Kapitel 11.1.). Anschließend werde ich mich mit der Kritik am Kontraktualismus bezüglich dieser Strategien beschäftigen. Ist der Kontraktualismus tatsächlich nicht in der Lage, ein breiteres Spektrum von Betroffenen in seine Überlegungen einzubeziehen? Warum sollte er dies überhaupt? Es wird vor allem darum gehen, welchen Betroffenen im Kontraktualismus ein moralischer Status verliehen werden kann (Kapitel 11.2.). Ich werde dann eine Unterscheidung vornehmen, die darauf basiert, dass unterschiedliche Wesen mit unterschiedlichen rationalen Fähigkeiten einen unterschiedlichen moralischen Status haben können (Kapitel 11.3.). Allein der Unterschied bezüglich des moralischen Status ist jedoch gemäß meiner Argumentation kein Grund, entsprechende Wesen in einem kontraktualistischen Überlegungsprozess nicht zu berücksichtigen (Kapitel 11.4.). Die Ziele, welche ich in diesem letzten großen Teilabschnitt verfolge, lassen sich folgendermaßen in Fragen zusammenfassen: (1) Welche Struktur haben die Gründe, die im kontraktualistischen Überlegungsprozess berücksichtigt werden? Wie können wir diese Gründe am besten beschreiben? (Kapitel 9.) (2) Welches Verfahrensmodell führt uns anschaulich zu entsprechenden Prinzipien? Wie lässt sich dahingehend bestimmen, wer den stärksten Grund für ein Prinzip oder den stärksten Einwand gegen ein Prinzip hat? Spielen dabei Wahrscheinlichkeiten oder die Anzahl der Personen eine Rolle? (Kapitel 10.) (3) Wer ist ein Betroffener? Wer kann im kontraktualistischen Überlegungsprozess berücksichtigt werden? (Kapitel 11.) Sind all diese Bestandteile des Kontraktualismus ausgebreitet und werden angemessene Antworten auf sämtliche Teilfragen gefunden, dann haben wir eine Grundlegung der kontraktualistischen Formel und eine Vorstellung davon, wie wir sie verwenden können. Wenn ich dadurch ein Mehr an Klarheit in Bezug auf das erreiche, was unter der Strömung des kantisch-rousseauischen Kontraktualismus zu verstehen ist, und einige Schwachpunkte ausräume, dann sind die bescheidenen Ziele dieser Arbeit erreicht.

I. Grundlagen

Eine moderne kontraktualistische Moraltheorie speist sich aus den Quellen der historischen Entwicklungslinie, einer bestimmten Auffassung davon, was für Arten moralischer Prinzipien rechtfertigungsfähig und -bedürftig sind, sowie aus Betrachtungen, welche Struktur der Rechtfertigung im Kontraktualismus vorliegt. Diese Bezugspunkte werden im folgenden Grundlagenteil hergestellt. Das zweite Kapitel dient einer veranschaulichenden Darstellung der Traditionslinie des Kontraktualismus, an welche ich anknüpfe. Da die Theorie des Gesellschaftsvertrags in der Vergangenheit sehr unterschiedlich betrachtet wurde und diversen Erkenntnisinteressen diente oder auf verschiedene Gegenstände bezogen war, sind einige typologische Klarstellungen erforderlich. Ich werde darlegen, dass ich die Vertragsformel in erster Linie als ein normatives hypothetisches Kriterium verstehe. Um die Traditionslinie bis zum heutigen Kontraktualismus zu ziehen, werde ich die Klassiker von Thomas Hobbes bis Immanuel Kant unter einem ganz bestimmten Aspekt betrachten. Ich werde sie so auslegen, dass sie eine Form eines kontraktualistischen Rechtfertigungskriteriums zugrunde gelegt haben. Anschließend zeige ich, was sie gemäß dieser Prämisse unter einer Zustimmung zu einem Vertrag verstanden. Dies dient der Verdeutlichung der kontraktualistischen Idee. Auch wenn es unterschiedliche Meinungen über die Interpretation der Klassiker geben mag, möchte ich bestimmte Elemente herausstellen und diese fokussiert vor dem Hintergrund meines eigenen Darlegungsversuchs einer kontraktualistischen Formel betrachten. Das dritte Kapitel konkretisiert den Gegenstand, auf welchem die kontraktualistische Rechtfertigungsformel ihre Anwendung finden kann. Ich werde zuallererst eine gebräuchliche Unterscheidung zwischen moralischen und politischen Kontraktualisten einführen. Erstere haben allgemeine Prinzipien des moralisch Rechten zum Gegenstand, letztere lediglich die Legitimierung staatlicher Zwangsgewalt. Die Prinzipien des Rechten bezeichne ich als die allgemeinen Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens. Das ist ein spezifischer Bereich interpersoneller Moralität und ich werde zeigen, was dieser Bereich beinhaltet und warum der Kontraktualismus auf ihn angewandt werden kann. Darüber hinaus behandle ich abschließend die Frage, weshalb Prinzipien statt Handlungen gerechtfertigt werden sollten. Das vierte Kapitel handelt von der allgemeinen Rechtfertigungsstruktur des Kontraktualismus. Er fällt unter jene Theorien, die sich moralische Urteile als etwas vorstellen, was von Menschen konstruiert und nicht etwa außerhalb

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ihrer selbst entdeckt wird. Es handelt sich demnach um einen kontraktualistischen Konstruktivismus. Moral wird von Menschen gemacht, wobei durch das kontraktualistische Verfahren ein Erkenntnisinstrument zur Verfügung steht, welches eine Möglichkeit bietet, um herauszufinden, was in moralischen Fragen intersubjektiv Geltung beanspruchen kann. Ich werde einige allgemeine Merkmale des Konstruktivismus herausarbeiten und dabei argumentieren, dass moralische Urteile gerechtfertigt werden können, ohne auf realistisch verstandene moralische Tatsachen zu verweisen. Darüber hinaus werde ich den kontraktualistischen Konstruktivismus von einem anderen konstruktivistischen Projekt unterscheiden, welches nicht nur die Moral, sondern schlechthin normative Gründe konstruieren möchte. Sind all diese Grundlagen erarbeitet, beginne ich in Teil II und III mit der eigentlichen Ausarbeitung des kontraktualistischen Verfahrens.

2. Typologie und Traditionslinie des Kontraktualismus

In diesem Kapitel werde ich mit den historischen Entwicklungslinien beginnen und einige typologische Klarstellungen darüber vornehmen, womit wir es bei einer Vertragstheorie zu tun haben und wie wir sie am besten verstehen können. Dabei gilt es zuallererst, einige Einschränkungen vorzunehmen: Die Tradition des Gesellschaftsvertrages ist im politischen und moralischen Denken herausragend. Eine angemessene Ideengeschichte zu schreiben, die jeden Theoretiker zu seinem Recht kommen lässt, liegt mir fern und dient auch nicht der eigentlichen Aufgabe, mit der ich mich beschäftige. Die einzelnen Kontinuitäten und Diskontinuitäten präzise nachzuzeichnen, muss Aufgabe einer umfangreichen Abhandlung in historischer Absicht bleiben und wurde darüber hinaus bereits in sehr zufriedenstellender Weise von unterschiedlichen Wissenschaftlern geleistet.1 Anstatt eine umfassende ideengeschichtliche Abhandlung zu bieten, werde ich bescheidener vorgehen und nur eine ganz spezifische Traditionslinie nachzeichnen, um die entsprechenden Anknüpfungspunkte zu meinen eigenen theoretischen Ausarbeitungen offenzulegen. Was ich anbieten möchte, ist eine fokussierte Lesart des kontraktualistischen Denkens, welche bewusst auf alles verzichtet, was die verschiedenen Vertreter neben der eigentlichen kontraktualistischen Methodologie außerdem noch hervorgebracht oder an Positionen vertreten haben. Es ist eine Lesart, die von Anfang an den Vertrag als ein Kriterium denkt, um bestimmte Handlungsweisen, Institutionen oder schlicht Prinzipien einem Rechtfertigungstest zu unterziehen. Die historische Linie, welche ich in dieser Weise zeichnen möchte, ist nicht an tatsächlichen historischen Gegebenheiten interessiert, nicht an der explanatorischen oder 1 | Eine hervorragende Überblicksdarstellung bietet vor allem Kersting (1994). Für die älteren Vertragstheorien und ihre ideengeschichtliche Entwicklung ist immer noch lesenswert Gough (1957). Für neue Vertragstheoretiker und ihrer Verknüpfung zu den Klassikern siehe auch Koller (1987).

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gar verpflichtenden Funktion von Verträgen, sondern dient einzig der Veranschaulichung eines Grundgedankens, welcher entweder explizit oder implizit bei allen kontraktualistischen Denkern zu finden ist: Die Übereinkunft als normatives und hypothetisches Kriterium dessen, was sein soll und was nicht sein soll. Jener Grundgedanke spiegelt sich in der kontraktualistischen Formel wider, welche ich darlege. Es ist aber bei Weitem nicht die einzige denkbare kontraktualistische Formel, wie sich noch herausstellen wird. Gegenüber dieser Vorgehensweise ließen sich im Vorfeld mehrere Einwände erheben. Es stellt sich die Frage der Anschlussfähigkeit der einzelnen Vertreter des Kontraktualismus. Können wir tatsächlich so unterschiedliche Autoren von Hobbes und Rousseau bis Rawls und Gauthier in eine einheitliche Traditionslinie einordnen, welche wir unter »Theorien des Gesellschaftsvertrages« zusammenfassen? Es fällt nicht schwer die vielen Brüche des Kontraktdenkens hervorzuheben und die Kontinuitäten lediglich in einer recht unbestimmten Verwendung des Begriffs »Vertrag« zu finden. Man mag deshalb behaupten, dass die Geschlossenheit des Kontraktualismus in besonderer Weise bedroht ist (vgl. Pfordten 2000: 494-497). Im Gegensatz zur utilitaristischen Schule, deren Klassiker sich problemlos in eine von John Rawls so betitelte »BES-Linie« (Rawls 2012: 539) einordnen lassen, die für die Vertreter Bentham, Edgeworth und Sidgwick steht, könnte davor zurückgeschreckt werden, von einer »HLR-Linie« für Hobbes, Locke und Rousseau zu sprechen. Die Frage wäre dann jedoch, ob es sich beim Kontraktualismus um unterschiedliche Vorschläge handelt, die alle nichts miteinander zu tun haben. Ich glaube, dass nicht viel für diese These spricht, denn natürlich gibt es Diskontinuitäten in einer Theorietradition, doch das sollte nicht davon abhalten, gemeinsame Grundlinien aufzudecken oder diese stärker in den Vordergrund zu rücken. Ein sich daran anschließender Einwand gegen die entsprechende Herangehensweise könnte lauten, dass ich lediglich eine starre Prämisse zugrunde lege und daraufhin das kontraktualistische Denken in ein ganz bestimmtes Schema presse, damit sich ein einheitliches Bild ergibt. In der Tat habe ich genau dies vor. Ich denke, dass sich eine konkrete Linie des Denkens genau dann am besten ziehen lässt, wenn ein interpretativer Korpus vorangestellt wird, also eine bestimmte Brille verwendet wird, durch welche die Schriften betrachtet werden. Dies wäre meiner Ansicht nur dann problematisch, wenn man dies einfach willkürlich herantragen würde. Stattdessen orientiere ich mich am begrifflichen Instrumentarium, welches die Theorien selbst bereitstellen. Ich werde das kontraktualistische Denken allerdings buchstäblich formelhafter betrachten, als dies vielleicht üblich ist. Ich werde in heuristischer Weise annehmen, dass die Vertragstheoretiker eine bestimmte Formel vor Augen hatten, als sie ihre Rechtfertigungen vornahmen. Eine solche Formel kann in vielerlei Weise abgewandelt werden, doch im Kern geht es immer darum, dass etwas (bei den Klassikern vor allem die staatliche Zwangsgewalt) genau dann gerechtfertigt

2. Typologie und Traditionslinie des Kontraktualismus

ist, wenn es von allen betroffenen Personen akzeptiert werden könnte. Das ist nicht weiter strittig, wirft aber von Beginn an viele Fragen auf, noch bevor der Rechtfertigungsprozess unter dieser Prämisse überhaupt beginnen kann. Denn wenn eine solche Formel der Akzeptanz zugrunde gelegt wird, dann stellen sich mindestens zwei Fragen: (1) jene, was es eigentlich bedeutet, dass alle etwas akzeptieren können und (2) jene nach den Folgen, beziehungsweise was inhaltlich von allen akzeptiert werden kann. Die Vertragstheoretiker waren in letzterer Frage häufig präziser und offener als bei der ersteren. Gerade in der letzten Frage unterscheiden sie sich dann auch am sichtbarsten, wenn beispielsweise durch das Vertragskriterium sowohl eine absolute Monarchie (Hobbes) als auch eine repräsentative Demokratie (Locke) gerechtfertigt oder eine radikaldemokratische Schlussfolgerung (Rousseau) gezogen wird. Letztlich und vor allem verstehe ich den Kontraktualismus als eine Auseinandersetzung darüber, was es bedeutet, sich in der praktischen Frage dessen, was sein soll und was nicht sein soll, auf die Zustimmung beziehungsweise Akzeptanz eines jeden Einzelnen zu berufen und die Übereinkunft als ein Kriterium zu begreifen, welches Antworten auf diese praktische Frage liefert. Meine Auseinandersetzung mit den Klassikern besteht lediglich in diesem Bezug. Zur Klärung dessen, was es eigentlich bedeutet, dass alle etwas akzeptieren können, möchte ich mich mit zwei Typen von Auffassungen bezüglich des Kontraktualismus befassen und dabei noch näher herausstellen, wie ich selbst den Kontraktualismus begreife. Ich beginne damit zu erläutern, dass ich den Kontraktualismus als eine normative und keinesfalls explanatorische Theorie verstehe. Durch das Kriterium der Übereinkunft soll erfahren werden, was sein soll und nicht, wie etwas zustande gekommen ist (Kapitel 2.1.). Des Weiteren verstehe ich das Kriterium der Übereinkunft als ein hypothetisches beziehungsweise gedachtes. Zwar können auch tatsächliche und implizite Zustimmung als Kriterien dienen, doch dies ist nicht der Kontraktualismus, an dem ich mich orientiere oder von dem ich glaube, dass er in der vertragstheoretischen Tradition im Vordergrund steht. Darüber hinaus lege ich damit fest, dass der hypothetische Vertrag keine Verpflichtungswirkung ausüben kann, wie dies tatsächliche Übereinkünfte leisten. Für ein Kriterium, anhand dessen festgestellt wird, was richtig und falsch ist, ist dies jedoch nicht weiter relevant, wie ich darlegen werde (Kapitel 2.2.). Ausgehend von diesen Erkenntnissen zeichne ich die historischen Entwicklungen nach, die den Weg beschreiben, welchen die grundlegende Idee der Akzeptanz als Kriterium bei den Klassikern genommen hat, an welche heutige moderne Kontraktualisten anknüpfen. Meiner Auffassung nach führt ein direkter Weg von den Klassikern, die den Vertrag vorzugsweise zur Staatslegitimation anwandten, zur Überlegung, diesen auch als ein allgemeines Kriterium des moralisch Rechten zu begreifen, wobei ich mich zuerst mit Hobbes und Locke (Kapitel 2.3.) und anschließend mit Rousseau und Kant (Kapitel 2.4.) auseinandersetzen werde.

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2.1. E xpl anatorischer und N ormativer K ontr ak tualismus Die Idee des Gesellschaftsvertrages wurde in der Vergangenheit auf sehr verschiedene Weise verstanden. Manche Kritik am Vertragsmodell läuft, wie ich noch zeigen werde, auch deshalb ins Leere, weil in der Vergangenheit verschiedene Ebenen miteinander vermischt wurden, die sorgsam zu trennen sind. Mit zwei dieser Ebenen werde ich mich in diesem Kapitel beschäftigen, der normativen und der explanatorischen. Ich rede ausdrücklich von einem normativen Kontraktualismus. In ihren Grundzügen ist die kontraktualistische Formel nichts weiter als eine Formel, die uns sagt, was wir tun sollen. Es ist ein Sollen, welches durch die kontraktualistische Formel gerechtfertigt wird. Das christliche Gebot »Du sollst nicht töten!« (wir können es auch das Prinzip des Tötungsverbots nennen) ist eine Norm, die uns gebietet, etwas nicht zu tun. Woher wissen wir, dass wir es nicht tun sollen? Da wir womöglich den Glauben nicht teilen und uns damit auf Gott als letzte Quelle der Rechtfertigung nicht berufen können, fragen wir in diesem Falle, ob das vorliegende Prinzip den kontraktualistischen Test der Akzeptabilität erfüllen würde. Wie dies im Einzelnen auszusehen hat, darum geht es an dieser Stelle nicht. Ich diskutiere nicht, ob ein Tötungsverbot tatsächlich akzeptabel und gerechtfertigt ist. An dieser Stelle geht es lediglich darum zu zeigen, was für einen Zweck die kontraktualistische Formel erfüllt. Wenn wir unsere Institutionen oder Handlungsgrundsätze, unsere Rechte oder Pflichten prüfen wollen, dann fragen wir, ob diese auch Gegenstand einer vernünftigen Übereinkunft sein könnten. Dieses rechtfertigungstheoretische und normative Unterfangen unterscheidet sich maßgeblich von einem anderen Zweck, mit dem die Theorie des Gesellschaftsvertrages verbunden ist und für den es historische Beispiele und aktuelle Vertreter gibt: zu explizieren, weshalb eine vorhandene Norm die Zustimmung der meisten Menschen tatsächlich findet oder gefunden hat. Letzteres Anliegen ist ein explanatorisches. Wir können eine ganz andere Frage stellen, indem wir uns auf die tatsächlich in Kraft befindlichen Rechte, Gesetze etc. beziehen und überlegen, wie diese zustande kommen konnten. Verstehen wir den Kontraktualismus in dieser Weise, dann sind die bestehenden Normen nicht gerechtfertigt, sondern nur erklärt.2 Ein moderner Vertreter eines solchen Kontraktualismus ist Brian Skyrms (1996), der über diese be2 | Natürlich kann diese Erklärung auch mit der Rechtfertigung einhergehen, wenn die Auffassung vertreten wird, dass im Nachweis, dass die entsprechenden Normen auf diese Weise zustande gekommen sind, auch eine Legitimationskraft steckt. Das ist jedoch teilweise nichts anderes, als einfach aus einem Sein ein Sollen abzuleiten. Vermischen darf man dies auch nicht mit anderen Legitimationsfragen. Beispielsweise mag ein Gesetz durch den Willen der Mehrheit zustande gekommen sein. Dies hat dann Legitimität,

2. Typologie und Traditionslinie des Kontraktualismus

stimmte Form des Gesellschaftsvertrages im Gegensatz zur normativen Form sagt: »Es gibt eine andere Tradition – beispielhaft repräsentiert durch David Hume und Jean-Jacques Rousseau –, welche andere Fragen stellt. Wie konnte sich der existierende implizite Gesellschaftsvertrag entwickeln? Wie mag er sich weiterentwickeln?« Ein so verstandener Kontraktualismus ist »eher explanatorisch als normativ« (Skyrms 1996: XI, Übersetzung des Verfassers3) und so sollten wir die unterschiedlichen Fragen und Antworten auch nicht miteinander vermischen. Wir können und müssen sie sogar trennen. Zu erklären, wie etwas zustande gekommen ist, ist etwas völlig anderes, als etwas zu rechtfertigen oder zu sagen, was sein soll.4 Die entsprechenden Unterschiede lassen sich folgendermaßen gegenüberstellen: Tabelle 1 – Explanatorische und normative Verwendung Explanatorische Verwendung

Normative Verwendung

Funktion

Erklärende Funktion

Rechtfertigende Funktion

Ebene

Sein

Sollen

Mögliche Fragen

Wie kam es zustande? Was könnte in Zukunft zustande kommen?

Wie sollte es sein? Ist das Vorhandene gerechtfertigt oder ungerechtfertigt?

Bezug zur Übereinkunft

Überprüfung des Entstehungszusammenhangs impliziter Übereinkünfte

Maßstab der allgemeinen Akzeptanz wird als kritischer Maßstab verwendet

wenn wir nachgewiesen haben, dass dieser Entscheidungsprozess auch gerechtfertigt ist beziehungsweise ein Mehrheitsprinzip den Rechtfertigungstest bestehen kann. 3 | »Übersetzung des Verfassers« wird im Folgenden mit »Übers. d. Verf.« abgekürzt. 4 | Auch Schmidt (2000: 36, vgl. auch ebd.: 103-141) folgt dieser Unterscheidung von Skyrms. Nach ihm werden in dieser Tradition Interaktionszusammenhänge analysiert: »Die rationalitätstheoretische Analyse einer Interaktionssituation soll im Rahmen eines solchen Projekts weniger eine Antwort auf die Frage geben, wie sich rationale Akteure in einer gewissen Situation verhalten sollten; es wird häufiger vielmehr davon ausgegangen, dass die entsprechende Theorie rationaler Interaktion eine hinreichend gute Beschreibung des tatsächlichen Verhaltens realer Akteure ist«. Eine ähnliche strikte Unterscheidung zwischen explanatorischem und rechtfertigendem Anliegen findet sich auch bei Morris (1996: 216).

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Gemäß Tabelle 1 unterscheiden wir zwei Verwendungsweisen des Gesellschaftsvertrages, die sich in unterschiedlichen Funktionen niederschlagen: Einerseits können wir bestehende Normen erklären, während andererseits die normative Verwendung auch eine handlungsleitende beziehungsweise rechtfertigende Funktion hat. Die Ebenen können wir klassischerweise in eine Ebene des bestehenden Seins und eine sich davon abgrenzende Ebene des Sollens einteilen. Die verschiedenen Herangehensweisen haben also einen gänzlich anderen Anwendungsbereich. Demnach unterscheiden sich auch die Fragen, die wir mit dem Kontraktualismus zu beantworten suchen: Wir fragen einmal, wie etwas zustande kam, und auf der anderen Seite, wie etwas sein soll. Beim Bezug zur Übereinkunft sehen wir am deutlichsten, wie unterschiedlich die Modelle sind. Wir müssen im Falle der erklärenden Verwendung davon ausgehen, dass es eine implizite konventionelle Übereinkunft gibt, deren Entstehung wir uns zu erschließen versuchen. Dagegen ist die Übereinkunft in normativer Hinsicht ein kritischer Maßstab, um vielleicht auch gerade solche Konventionen zu überprüfen. Ein großes Problem besteht vor allem dann, wenn die Ebenen nicht nur miteinander verwechselt, sondern vermischt werden. Mit Kliemt (1980: 32) können wir zwischen »rein explikativen«, »explikativ-legitimativen« sowie »rein legitimativen« Theorien des Sozialkontrakts unterscheiden. Nun tritt uns gerade in klassischen Theorien des Gesellschaftsvertrags »ein Geflecht von Erklärungs- und Rechtfertigungsgesichtspunkten entgegen«, denn bei ihnen »ist zeitweilig nicht klar, inwieweit sie ihre Thesen als empirische Behauptungen über Vertragssituationen verstanden wissen wollten« (Kliemt 1980: 32f.). Das macht die Interpretation der Klassiker schwierig und stellt mitunter ihre Anschlussfähigkeit infrage. Wie ich bereits kenntlich gemacht habe, werde ich die Klassiker rein im Sinne ihrer legitimativen oder rechtfertigenden Funktion lesen und nicht im Sinne der explanatorischen. Doch betrachten wir für einen Augenblick die von Skyrms angeführten Beispiele. Was zeichnet die Theorien von Hume und Rousseau aus, dass sie sich in eine rein explanatorische Tradition einordnen lassen? Rousseau hat im Gesellschaftsvertrag (1762) eine radikale Staatsrechtfertigung beziehungsweise eine Rechtfertigung der Prinzipien des Staatsrechts geliefert, die eindeutig normativ ist. Doch Rousseau könnte ein sehr gutes Beispiel dafür sein, wie beide Ebenen voneinander zu trennen sind. Denn in der Tat ist zwar der Gesellschaftsvertrag ein rechtfertigungstheoretisches Werk, doch Rousseau hat sich auch in anderer Weise des Vertragsmotivs bedient. Seine Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit (1754) enthält dieses Motiv, welches jedoch einer ganz anderen Fragestellung dient. In dieser Abhandlung verfolgt Rousseau das Ziel herauszustellen, wo der Ursprung der Ungleichheit liegt, welche er feststellt. Wohlgemerkt geht es ihm nicht um die natürliche Ungleichheit, wie wir sie in den unterschiedlichen

2. Typologie und Traditionslinie des Kontraktualismus

Körperkräften, der Intelligenz oder der Gesundheit finden. Stattdessen geht es ihm um die sittliche und politische Ungleichheit, die er so nennt, »weil sie von einer Art von Übereinkunft abhängt und durch die Einwilligung aller Menschen eingeführt oder wenigstens gebilligt worden ist« (Rousseau 1754: 191). Wenn es eine Ungleichheit gibt, die über die natürliche Ungleichheit hinausgeht, wenn es eine ungleiche Verteilung von Privilegien, Rechten, Pflichten oder Eigentum gibt, dann ist dies ein von Menschen gewollter Zustand und dieser kann nur bestehen, weil ihm eine Billigung zuteilwird. Im Gegensatz zu früheren und späteren Vertragstheoretikern zeigte Rousseau, dass vorhandene Institutionen auf einem maßlos unfairen Gesellschaftsvertrag beruhen. Er erklärt durch diese These ihr Zustandekommen: »Gleichsam unter der Hand verwandelt er ein rechtstheoretisches Modell der Tradition in ein geschichtsphilosophisches. Wollten Hobbes, Pufendorf und Locke im Ausgang vom fiktiven status naturalis die Einrichtung des Staates philosophisch rechtfertigen und seiner Herrschaft naturrechtliche Schranken setzen, dominiert den Diskurs [beziehungsweise die Abhandlung über die Ungleichheit, A.O.] ein genuin entwicklungsgeschichtliches Interesse« (Herb 2012: 34).5 Rousseau zeichnet ein beeindruckendes Bild eines Entwicklungsganges, der die bestehenden ökonomischen Ungleichheiten institutionell festigte. Die Ungleichheit, die entstand, sorgte für den Verfall der guten Tugenden und schuf einen immerwährenden Konflikt, der von Boshaftigkeit, Geiz und Ehrsucht geprägt wurde. Doch nicht nur die Armen können sich einem solchen Zustand nicht zufrieden ergeben. Auch die Reichen reflektieren und bemerken nach Rousseau, dass sie ihre Mauern nicht auf ewig gegen Raub und Aufstand schützen können: »Diese nun hatten weder tüchtige Gründe, sich zu rechtfertigen, noch Kräfte genug sich zu verteidigen. Einzelne Menschen konnten sie vielleicht unterdrücken, aber einem zusammengerotteten Haufen mussten selbst sie unterliegen« (Rousseau 1754: 245). Nach Rousseau war der beste Plan, den sie entwerfen konnten, sich die Sicherheit durch Übereinkunft zu verschaffen und die Ungleichheit damit festzuschreiben. Der beste Weg jene Vormachtstellung zu festigen, war die Möglichkeit einer Übereinkunft mit allen von denen noch Gefahr für das eigene Wohl und Eigentum ausging. So legte Rousseau einem exemplarischen Wohlhabenden, der zu den Armen spricht, folgende Worte in den Mund: »›Wir wollen uns vereinigen‹, mag er zu ihnen gesagt haben, ›wir wollen die Schwächeren vor Unterdrückung bewahren, die Ehrsüchtigen in Schranken halten und einen jeden dasjenige in Sicherheit besitzen lassen, was ihm gehört. Wir wollen Verordnungen der Gerechtigkeit und des Friedens vorschreiben, die die Menschen verpflichten sollen, mitein5 | So auch Kersting (2002: 21): In jener Abhandlung »stellt Rousseau das kontraktualistische Argument in den Rahmen einer geschichtsphilosophischen Rekonstruktion der Entstehung von Gesellschaft und Herrschaft«.

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ander verträglich zu sein« (ebd.: 246). Attraktiv mag dies für jenen Schwachen sein, der im natürlichen Zustand kaum etwas besitzt und oft bedroht ist, denn so erklärt er bereitwillig seine Zustimmung zu einer Gesellschaft, in welcher die Verteilung des Reichtums festgeschrieben wird und er zum Preis für sein Stillhalten das nötige Maß an Sicherheit erhält: »Die Gesetze und die Gesellschaften, die auf diese Art entweder wirklich entstanden oder wenigstens entstehen konnten, hielten die Armen noch fester im Zaume und den Reichen legten sie neue Kräfte bei, richteten unsere natürliche Freiheit ohne Rettung zugrunde, setzen das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit auf ewig fest, verwandelten eine geschickte Usurpation in ein unwiderrufliches Recht« (ebd.: 246f.). Es ist letztlich ein Betrugsvertrag, den uns Rousseau hier vorführt. Es ist eine Übereinkunft, welche die Schwachen einfach akzeptiert haben und immer noch akzeptieren. Ich möchte auf die reichhaltigen Aspekte, welche die Ungleichheitsabhandlung bietet, hier nicht weiter eingehen. Zweifellos ist die kultur- und gesellschaftskritische Linie, die Rousseau in diesem Werk vorführt, zu knapp in einer bloßen sozialevolutionären Darstellung erfasst, wie sie Skyrms im Auge hatte, wenn er an den explanatorischen Kontraktualismus bei Rousseau dachte. Doch anhand des Einigungsszenarios, welches uns Rousseau als eine natürliche Entwicklung präsentiert, die zu den bürgerlichen Verhältnissen führte, lässt sich veranschaulichen, was wir unter einem erklärenden Aspekt des Gesellschaftsvertrages verstehen und wie wir tatsächliche Billigung nachvollziehen können. Es ist eine exemplarische Anordnung, wie die bestehenden Verhältnisse logischerweise zustande kommen konnten. Wenden wir uns dem zweiten klassischen Vertreter des explanatorischen Vertrages zu. Im Falle Humes mag es auf den ersten Blick untypisch erscheinen, ihn mit der Tradition des Gesellschaftsvertrages überhaupt in Verbindung zu bringen, gilt er doch als einer ihrer größten Kritiker.6 Dies muss sich jedoch nicht widersprechen. Hume war sicher ein Kritiker der Verpflichtungswirkung tatsächlicher oder impliziter Verträge. Wir können durch solche Vertragsmodelle nach Hume nicht zeigen, was für Ordnungen gerechtfertigt sind, noch ist es vorstellbar, dass eine Gesellschaft aus ihnen hervorgehen könnte. Aber was wir nach Hume durchaus können, ist, ein Erklärungsmodell zu liefern, wie entsprechende gegenwärtige Verhältnisse zustande kommen konnten. Sein Ansatz will erklären, warum sich bestimmte Regelungen und Verpflichtungen natürlicherweise aus den Fähigkeiten, Leidenschaften und Verhaltensweisen von Menschen entwickeln. Was hier einer vertragstheoretischen Konzeption gleichkommen soll, ist die These, dass entsprechende Begriffe und Verpflich-

6 | Insbesondere Humes Essay Über den ursprünglichen Vertrag (1748) dient heutigen Kritikern des Kontraktualismus immer wieder als Vorlage.

2. Typologie und Traditionslinie des Kontraktualismus

tungen konventionelle Lösungen für bestimmte Probleme sind.7 Ein solcher humescher Ansatz ist nicht darauf gerichtet zu sagen, welche Normen vorzugswürdiger als andere sind. Stattdessen geht es um die entsprechenden Verhältnisse, in denen wir tatsächlich leben, und wie sie zustande kamen. Nun ergibt sich in der Betrachtung der Grundzüge eines humeschen und rousseauischen Ansatzes ein Problem, wenn wir diese Vorhaben als »Theorien des Gesellschaftsvertrags« kennzeichnen. Da sie ein rein explanatorisches Modell entfalten, unterscheiden sie sich massiv von jenen Theorien, die durch eine Übereinkunft eine Rechtfertigung liefern wollen. Genau deshalb wäre es sinnvoll, Ansätze in dieser Tradition von den Theorien des Gesellschaftsvertrages abzugrenzen und von einem »Konventionalismus« (so auch Leist 2003: 21) zu sprechen. Hume selbst hat dies getan, und genau darin lässt sich auch seine Abgrenzung zum Kontraktualismus festhalten. Mit der Übereinkunft ist an dieser Stelle kein Rechtfertigungsmodell gemeint, sondern eine Erklärung der vorhandenen Konventionen. Die Konvention ist ein unterstellter Ist-Zustand oder auch eine bestehende Harmonie. Wir können die Übereinstimmung empirisch überprüfen. Wir müssen nun einfach eine Methode finden, wie wir diesen gewachsenen Zustand erklären können. Dafür verwenden wir vielleicht Erklärungsmodelle, wie etwa die von Skyrms verwendete »evolutionäre Spieltheorie«. Ob man ein explanatorisches oder ein normatives Anliegen mit dem Kontraktualismus verbindet, ergibt sich auch daraus, für wie erfolgversprechend man das eine oder das andere hält. Der Grund, weshalb Skyrms lediglich deskriptive Aussagen macht und nichts darüber sagen möchte, wie Menschen zusammenleben sollten oder wie die gesellschaftlichen Institutionen optimal wären, beruht auf einer Skepsis gegenüber dem normativen Kontraktualismus (oder auch gegenüber der normativen Ethik allgemein), der, so seine Befürchtung, leicht ins Utopische abgleiten kann: »Ethik ist das Studium der Möglichkeiten, wie jemand leben könnte. Politische Philosophie ist das Studium, wie Gesellschaften organisiert werden können. Wenn Möglichkeit zu großzügig ausgelegt wird, haben wir eine utopische Theorie.« Skyrms mahnt daraufhin an: »Selbst jene, die darauf zielen, die Welt zu verändern, täten gut daran zu lernen, wie man sie beschreibt« (Skyrms 1996: 109, Hervorhebung im Original, Übers. d. Verf.). Skyrms ist natürlich zuzustimmen, dass normative Theorien immer Gefahr laufen, Schlösser auf Wolken zu errichten, was 7 | Zum humeschen Kontraktualismus siehe auch Sayre-McCord (1994, 2000), welcher einen humeschen Kontraktualismus als dritte Strömung neben den in kantischer und hobbesscher Tradition stehenden sieht. Ähnlich begreifen Gauthier (1979) und Sugden (2009) Hume als einen Kontraktualisten. Dies machen sie vor allem daran fest, dass Hume die These vertritt, Konventionen müssen zum gemeinsamen Vorteil sein, was sie mit Verträgen verwandt macht.

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zweifellos ein Problem ist, wenn wir normative Aussagen treffen und Kriterien entwickeln. Nicht zuletzt wurden Vertragstheoretiker auch häufig für ihre problematische Anthropologie und ihre Thesen über die empirisch zu erwartenden Handlungen kritisiert. Skyrms führt damit die skeptische Haltung eines David Hume fort, der die Vorstellung normativer Rechtfertigung zurückweist und ebenso die Möglichkeit, einen Standpunkt zu finden, von dem aus gesagt werden kann, dass wir uns unsere politischen und moralischen Prinzipien selbst geben. Doch ein solches Verständnis des philosophischen Unterfangens der Rechtfertigung würde diesem nicht vollständig gerecht werden. Es kann auch einfach einen antizipierenden Charakter haben oder als ein Prozess der Reflexion über das moralisch und politisch richtige Handeln verstanden werden. Eine solche Bescheidenheit kann ein normativer Kontraktualismus wahren und wir müssen seinen rechtfertigenden Anspruch nicht zwangsweise durch eine explikative Sozialtheorie ersetzen.8

2.2. E ine gedachte Ü bereinkunf t Nachdem ich die normative Rolle des Vertrages hervorgehoben und sie von explikativen Zusammenhängen abgegrenzt habe, will ich nun erläutern, was es mit einer hypothetischen oder gedachten Übereinkunft auf sich hat. Ich erkläre damit denjenigen Bestandteil der kontraktualistischen Formel, welcher an letzter Stelle steht. Diese Stelle besetzt das Wort »könnte« und verweist damit auf einen hypothetischen Zusammenhang. Folgt man einer verbreiteten Typologie von Vertragstheorien, so lassen diese sich danach einteilen, ob sie sich auf die Übereinkunft als ein tatsächliches, implizites oder hypothetisches Ereignis beziehen (vgl. Ballestrem 1983). Ich werde die hypothetische Übereinkunft im folgenden Kapitel von anderen Formen abgrenzen und ihre Vorzugswürdigkeit herausstellen.

8 | Es gibt zwar nicht viele, die den so verstandenen normativen Kontraktualismus durch ein rein explikatives Projekt ersetzen wollen, noch am ehesten verschreibt sich Ken Binmore einem solchen Vorgehen: »Wir sind alle Spieler im Spiel des Lebens, mit unterschiedlichen Zielen und Bestrebungen, die einen Konflikt unausweichlich machen. In einer gesunden Gesellschaft wird eine Balance zwischen diesen unterschiedlichen Zielen und Bestrebungen erreicht, sodass die Vorteile der Kooperation nicht in einem vernichtenden Kampf verloren gehen. Spieltheoretiker nennen solch eine Balance Gleichgewicht. Ein solches Gleichgewicht zu erhalten, erfordert die Existenz von gemeinhin verstandenen Konventionen darüber, wie das Verhalten koordiniert wird. Es ist solch ein System von koordinierenden Konventionen, die ich mit dem Sozialvertrag identifiziere« (Binmore 1994: 6, Hervorhebung im Original, Übers. d. Verf.).

2. Typologie und Traditionslinie des Kontraktualismus

Gegen alle drei Formen lassen sich bedeutende Einwände erheben. Wie steht es um die tatsächliche Übereinkunft? Wenn wir speziell nach der Konstitution unserer Gesellschaft oder nach moralischen Prinzipien fragen, so hat es eine solche Übereinkunft, der alle zugestimmt haben, sicher niemals gegeben. Selbst wenn es sie geben würde, müsste sie stetig erneuert werden. Denn warum sollten spätere Generationen an das gebunden sein, was heutige Menschen beschließen? Noch dazu ist nicht davon auszugehen, dass eine tatsächliche Einstimmigkeit in bestimmten Fragen überhaupt möglich ist. Implizit wiederum mag ich meine Zustimmung dadurch mitteilen, dass ich gegen die bestehenden Regularien nichts einwende, doch auch dies scheint eine zweifelhafte Rechtfertigung. Habe ich denn immer eine Wahl? Kann ich meine Heimat beispielsweise einfach verlassen, wenn ich mit den vorhandenen Gesetzen unzufrieden bin? Ist allein mein Stillhalten schon als Zustimmung zu werten, die das Bestehende als richtig ausweist? Hume hat mit seiner berüchtigten Schiffsmetapher eindrucksvoll gegen ein solches Verständnis argumentiert: »Wir könnten ebenso gut behaupten, dass ein Mann durch seinen Aufenthalt auf einem Schiff die Herrschaft des Kapitäns freiwillig anerkenne, obwohl er im Schlaf an Bord getragen wurde und ins Meer springen oder untergehen müsste, wenn er das Schiff verlassen wollte« (Hume 1748: 311). Zuletzt: Wenn es um eine hypothetische Übereinkunft geht, kann niemand zu irgendetwas verpflichtet werden. Offenbar binden doch nur tatsächliche Verträge und ich kann kaum sagen, dass ich mir dein Auto nehme, es am nächsten Tag zurückgebe und anschließend behaupte: Rein hypothetisch hättest du dem sicherlich zugestimmt. Ich halte die Kritik an tatsächlichen und impliziten Übereinkommen für berechtigt. Wirkliche Verträge haben ihre Funktion in eingeschränkten Kontexten und sind vor allem erst in bestimmten institutionellen Zusammenhängen denkbar, in denen es Sanktionssysteme gibt. Sie taugen deshalb nicht als allgemeine Kriterien, weder zur Staatslegitimation noch als allgemeines Kriterium des Rechten. Implizite Akzeptanz mag uns bestimmte Hinweise geben, inwieweit etwas tatsächlich von vielen hingenommen wird, aber eben auch nur das. Es mag in manchen Fällen sogar zynisch sein zu behaupten, dass eine Person einem Sachverhalt automatisch zustimmt, nur weil die Person faktisch nicht dagegen rebelliert hat. Die einzig sinnvolle Alternative ist die hypothetische oder gedachte Übereinkunft und ich glaube, dass sich die meisten klassischen Vertragstheoretiker in dieser Weise interpretieren lassen, fernab der Tatsache, dass sich in ihren Werken auch Bezüge zu anderen Formen der Übereinkunft finden lassen. Ich werde mich deshalb vor allem mit dem Vorwurf gegenüber der gedachten Übereinkunft auseinandersetzen. Zu diesem Zweck möchte ich als erstes eine problematische Analogie untersuchen: jene zwischen tatsächlichen und hypothetischen Übereinkünften. Demnach muss eine hypothetische Übereinkunft dieselben Funktionen erfül-

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len können wie eine tatsächliche Übereinkunft. Eine hypothetische Übereinkunft, so meine These, ist nicht einfach stellvertretend für eine tatsächliche Übereinkunft zu verstehen oder soll überhaupt ihre Funktionen erfüllen. Ein Punkt, welcher Skepsis gegenüber hypothetischen Übereinkünften hervorruft, ist der, dass die Befürchtung besteht, wir könnten durch eine solche Argumentation dubiose Behauptungen aufstellen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel, das ich bereits kurz angesprochen habe: Gehen wir davon aus, jemand würde es rechtfertigen wollen, dass er mein Auto über Nacht entwendet hat, indem er behauptet, ich hätte dieser Entwendung sicherlich zugestimmt. Immerhin habe ich ja geschlafen, nicht mitbekommen, dass etwas fehlt, und vielleicht noch Geld für das verbrauchte Benzin und den möglichen Verschleiß erhalten. Das wäre dennoch ein merkwürdiges Argument. Natürlich würde ich verlangen, dass man sich meine tatsächliche Zustimmung einholt, um mein Auto fahren zu dürfen. Es gibt jedoch Beispiele, die näher an der Wirklichkeit sind und sich auf eine hypothetische Zustimmung beziehen. Nehmen wir den Fall, dass entschieden werden muss, ob für einen nicht mehr ansprechbaren Menschen auf dem Krankenbett lebensverlängernde Maßnahmen ergriffen werden sollen. Vielleicht würden wir zur Begründung unserer Entscheidung sagen: Dem hätte die Person sicherlich zugestimmt. Nehmen wir vielleicht den Fall eines Betrunkenen, der sich von einer Brücke stürzen möchte und den wir gewaltsam davon abhalten. Ich könnte sagen: Wenn die Person bei Sinnen gewesen wäre, dann hätte sie ganz sicher zugestimmt, dass ich sie davon abhalte, oder wenn wir beide vorher darüber gesprochen hätten, was in einem solchen Fall zu tun wäre, dann hätte die Person gesagt, ich solle sie davon abhalten, eine solche Dummheit zu begehen und wenn nötig auch Gewalt anwenden (indem ich ihren Körper fixiere etc.). Im Falle des eigenen Besitzes, bei medizinischen Entscheidungen oder der Bestimmung über unseren Körper, wenden wir im Allgemeinen die Praxis der tatsächlichen Zustimmung an. Darf ich das Auto haben? Sind Sie mit der Behandlung einverstanden? Darf ich dich anfassen? Die Tatsache, dass gerade in den letzteren Beispielen die Zustimmung des Betroffenen nicht eingeholt werden kann (aufgrund von Unverfügbarkeit oder Unzurechnungsfähigkeit), zwingt uns dazu zu prüfen, was eine Person wohl hypothetisch gesagt hätte. Wir finden darin einen Ersatz für die eigentliche Einwilligung einer Person. Diese Möglichkeiten befinden sich aber in einer Grauzone, während die tatsächliche Zustimmung eher für die Norm gehalten wird. Hypothetische Zustimmung ist in diesen Fällen nur ein sehr armer Ersatz und kommt überhaupt nur deshalb infrage, weil uns die informierte Einwilligung, der wir stets den Vorzug geben würden, nicht zur Verfügung steht. Die Schwierigkeit der Berufung auf eine gedachte Übereinkunft besteht in diesem Kontext darin, dass der relevante Faktor tatsächlicher Einwilligung ignoriert wird. Wir sagen lediglich, dass die Person gegenüber unseren Handlungen ihre Zustimmung geben würde, wenn sie informiert und rational wäre.

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Die Sorge ist dann in der Tat, dass in der Verwendung einer gedachten Übereinkunft zur Rechtfertigung die tatsächliche Zustimmung der Menschen einfach beiseitegeschoben und uns ein mehr als dubioser Ersatz angeboten wird. Wie ernst müssen wir diese Sorge um die Verwendung der hypothetischen Übereinkunft in Rechtfertigungskontexten nehmen? Ist die Berufung auf eine solche Übereinkunft schlicht ein gefährliches Substitut für die tatsächliche Zustimmung, welche bestimmte Normen auch tatsächlich rechtfertigen würde? Ich glaube nicht, dass dies der Fall ist. Sehn wir uns die Frage an, ob jemand berechtigt ist, mein Auto zu entwenden. Wir würden sagen: Dies geht dann, wenn der Besitzer des Autos zustimmt. Den Hintergrund für diese Situation bildet eine komplexe Menge von bestehenden Normen bezüglich der widerrechtlichen Aneignung persönlichen Eigentums, welche die tatsächliche Zustimmung zur Regel macht. Ausnahmen sind vielleicht für den Fall erlaubt, in welchem der Absicht der Hintergrundannahmen durch ein rigides Insistieren auf tatsächliche Zustimmung nicht richtig gedient wird. Wenn jemand beispielsweise schnell ins Krankenhaus gefahren werden muss, könnten wir über die Entwendung des Autos anders denken und ein Bestehen auf tatsächliche Zustimmung für falsch halten (bis die Zustimmung eingeholt wurde, könnte der Verletzte längst verblutet sein). Wir benötigen offenbar ein Kriterium, welches uns in dieser Frage weiterhilft. Wir könnten uns fragen, ob die Norm, dass Eigentum nur unter Zustimmung übertragen werden darf, auch dann gilt, wenn jemand in Lebensgefahr ist. Sich einfach auf vertraute Normen in der Beurteilung der eigenen Handlungen zu berufen, würde bedeuten, dass bis auf wenige Fälle, in denen tatsächliche Zustimmung nicht eingeholt werden kann (medizinische Fälle beispielsweise), sämtliche moralischen Praktiken und politischen Institutionen nur dann gerechtfertigt sind, wenn tatsächliche Menschen ihnen tatsächlich zustimmen. Doch selbst eine universale tatsächliche Übereinkunft macht etwas nicht richtig, noch ist eine solche universale Übereinkunft erforderlich. In Anbetracht der Tatsache, dass jene Zustimmung oft von Ignoranz, persönlichen Vorteilen oder der unkritischen Affirmation von Normen, die uns vertraut sind, abhängt, ist tatsächliche Zustimmung weit davon entfernt, notwendig oder hinreichend für eine Rechtfertigung zu sein. Stellen wir uns noch einmal die Person vor, welche entscheiden muss, ob sie das Auto entwenden darf, um einen Verletzten so schnell wie möglich in Sicherheit oder ins Krankenhaus zu bringen. Sie weiß, dass die Regelung besteht, dass Eigentum nur durch Zustimmung übertragen werden kann. Gleichsam glaubt sie, dass es richtig ist, jemanden, der verletzt ist, so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu bringen. Was sie benötigt, ist ein Kriterium. Sie könnte sich fragen, ob es ein moralisches Prinzip gibt, welches in Hilfssituationen wie dieser Anwendung findet und von allen Betroffenen akzeptiert werden könnte. Wir müssen verstehen, dass sich tatsächliche Zustimmung und hypothetische Zustimmung auf

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unterschiedlichen Ebenen befinden. Auch eine Norm, die besagt, dass die tatsächliche Zustimmung für ein bestimmtes Verhalten (beispielsweise das Entwenden von Besitz) eingeholt werden muss, kann daraufhin überprüft werden, ob diese die Akzeptanz der Betroffenen finden könnte. Die Idee einer gedachten Übereinkunft dient nun an dieser Stelle einzig einer kritischen Absicht. Die Übereinkunft drückt den Maßstab aus, dem jede Norm, die sich über die Betroffenen erhebt, gerecht werden muss. Es geht bei dieser Idee um einen Standard für unsere tatsächliche moralische Praxis und unsere politischen Institutionen. Wenn wir versuchen, einige allgemeine Eigenschaften einer Rechtfertigungspraxis zu bestimmen, dann sind viele historisch bedingte Gründe für und gegen die Zustimmung zu bestimmten Praktiken irrelevant. Die gedachte Übereinkunft ist eben nicht nur die Stellvertretung für eine universale tatsächliche Zustimmung, sie ist nicht die zweite Wahl oder muss in irgendeiner Weise ihre Funktionen übernehmen. Sie dient uns auf einer viel grundlegenderen Ebene als Kriterium, ob beispielsweise eine Norm zu Recht etabliert ist. So können wir denn auch mit der kontraktualistischen Formel fragen, wann ein Prinzip es gebietet, die tatsächliche Zustimmung einer Person einzufordern. Wir könnten dann zu dem Ergebnis gelangen, dass die Zustimmung einer Person, die ein Auto besitzt, nicht eingeholt werden muss, wenn sie einerseits nicht da ist und andererseits dies die einzige Möglichkeit ist, ein größeres Unheil zu verhüten. In einem solchen Fall verweisen wir auf die entsprechenden Gründe, die für eine Akzeptanz sprechen, ohne eine tatsächliche Akzeptanz erforderlich zu machen. Die Analogie zwischen tatsächlicher und hypothetischer Übereinkunft ist also verfehlt. Dies hilft uns, einen konkreten Vorwurf besser zu verstehen und zu entkräften: »Hypothetische Verträge können nicht binden«, so lautet dieser alte Vorwurf gegenüber allen Vertragstheoretikern. Wie steht es denn tatsächlich um die Verbindlichkeit einer hypothetischen Vereinbarung? Dass man sich an ein solches Konstrukt halten muss, scheint doch eher abwegig. Aber ist nicht die freiheitliche Selbstbindung der normative Kern des Vertragsgedankens? In der Tat weicht die hypothetische Übereinkunft in fundamentaler Weise vom Muster tatsächlicher Verträge ab, wie ich gerade dargelegt habe. Ronald Dworkin bringt den entsprechenden Einwand auf den Punkt: »Ein hypothetischer Vertrag ist nicht einfach eine blasse Form eines wirklichen Vertrages; er ist überhaupt kein Vertrag« (Dworkin 1984: 253). Ähnlich fasst auch Henning Ottman seine Kritik am hypothetischen Vertrag zusammen: »Wer wirkliche Menschen verpflichten will, benötigt wirkliche Verträge« (Ottmann 1986: 29).9 In der Tat ist dem zuzustimmen. Hypothetische Verträge sind keine 9 | Es gibt eine ganze Reihe von Theoretikern, welche diesem Einwand gefolgt sind, neben Dworkin (1984) und Ottmann (1986) exemplarisch auch Brudney (1991), Simmons (1993: 220f.) oder Hampton (1998: 65f.).

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Quelle von Verbindlichkeit, wie es tatsächliche Verträge sind. Wenn wir beide uns auf etwas geeinigt haben, dann werden wir einander sagen: Du hast dem zugestimmt, also bist du auch verpflichtet zu tun, wozu du deine Einwilligung gegeben hast. Im Falle der hypothetischen Übereinkunft kann ich dies nicht sagen. Doch diese Funktion muss ein rechtfertigungstheoretischer Kontraktualismus interessanterweise auch überhaupt nicht erfüllen, wie ich versuchen werde zu bekräftigen. Was wird bezüglich der Prinzipienrechtfertigung durch die kontraktualistische Formel angeboten? Antwortet sie auf das Problem der Verbindlichkeit, also auf die Frage, wann ich mich an etwas zu halten habe? Wir können den Einwand, der gegenüber Theorien der hypothetischen Übereinkunft vorgebracht wird, als einen Einwand verstehen, der besagt, dass die Verbindlichkeit normativer Prinzipien nicht von der Wahrheit einer kontrafaktischen Behauptung über die Zustimmungsfähigkeit dieser Prinzipien abhängt. Stattdessen liegt sie irgendwo anders. Entscheidend ist, dass die hypothetische Übereinkunft nicht die Verpflichtung einer tatsächlichen Übereinkunft erzielen kann. Das ist richtig, doch die hypothetische Übereinkunft versucht überhaupt nicht vorzugeben, das zu erzeugen, was durch tatsächliche Zustimmung erzeugt wird. Die kontraktualistische Formel hat keine Verpflichtungswirkung, die einer tatsächlichen Übereinkunft entspricht. Sie ist lediglich ein Beurteilungskriterium. Wir verwenden es, wenn wir uns fragen, welche unserer Handlungen, Institutionen oder Normen ein Prädikat wie »gerecht«, »richtig« oder »gerechtfertigt« verdienen. Ob wir dann tatsächlich tun, was aus dieser Überlegung folgt, ob wir uns also auch an das halten, was richtig oder gerecht ist, ist eine Frage danach, warum man beispielsweise moralisch handeln sollte, also eine Frage nach einem letzten ultimativen Verpflichtungsgrund.10 In der Anwendung der kontraktualistischen Formel geht es uns allerdings erst einmal nur um die Erkenntnis dessen, was getan werden soll. Die Funktion der Übereinkunft als Kriterium kann aber selbstverständlich nicht nur von der gedachten Übereinkunft verwendet werden. In dieser Weise können wir auch tatsächliche und implizite Akzeptanz als ein Kriterium dessen sehen, was richtig ist, ohne dabei eine Verpflichtungswirkung anzu10 | Aufgrund dieses Unterschiedes zwischen Verpflichtung und Kriterium halte ich es auch für wenig sinnvoll, die Ansätze der Vertragstheorie ausschließlich in tatsächliche, implizite oder hypothetische einzuteilen, wie dies etwa bei Ballestrem (1983) und Ottman (1986) geschieht, zumindest wenn nicht zwischen der Funktion als Rechtfertigungskriterium und der Verpflichtungswirkung sinnvoll unterschieden wird, was bei Ottmann (1986: 29) explizit nicht der Fall ist. Es ist keine Kunst festzustellen, dass ein hypothetischer Vertag nicht in der Weise bindet, wie es tatsächliche Verträge tun. Die Frage ist vielmehr, ob eine gedachte Übereinkunft als Kriterium des Rechten taugt. Siehe dazu auch die Antwort auf Ottmann von Nida-Rümelin (1987).

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nehmen (vgl. Nida-Rümelin 1999: 29). Je nachdem, ob ich die tatsächliche, implizite oder hypothetische Zustimmung mit einer Verpflichtungswirkung oder einem kriterialen Anspruch versehe, vertrete ich eine ganz bestimmte These in Bezug auf das Übereinkommen. Dies sei anhand der folgenden Übersicht verdeutlicht: Tabelle 2 – Verpflichtung und Kriterium Tatsächlich

Verpflichtung

Kriterium

Implizit

Hypothetisch

Eine tatsächliche Akzeptanz eines Vertrages bindet mich daran, diesen einzuhalten.

Eine implizite Akzeptanz eines Vertrages (beispielsweise durch Symbolik) bindet mich daran, mich an diesen zu halten.

Eine hypothetische Akzeptanz zu einem Vertrag, bindet mich daran, mich an diesen zu halten.

Etwas ist gerechtfertigt, wenn es mit einem tatsächlich geschlossenen Vertrag übereinstimmt.

Etwas ist gerechtfertigt, wenn es die implizite Akzeptanz findet.

Etwas ist gerechtfertigt, wenn alle es hypothetisch akzeptieren könnten.

Die Verpflichtungsthese ist im Falle tatsächlicher Verträge am plausibelsten. Aber taugen sie auch als Kriterium? Im Falle eines tatsächlichen Vertrages orientieren wir uns beispielsweise an früher geschlossenen Verträgen, um damit heutige Zustände einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Wir können sagen: So haben wir das aber nicht vereinbart. Es ist dann nicht gerechtfertigt, so zu handeln, weil wir es festgeschrieben haben. Obwohl die kritische Funktion mit der Verpflichtungsfunktion sehr gut zusammenpasst, hat der tatsächliche Vertrag immer noch die gleichen Probleme, die ich eingangs bereits erläutert habe: Weshalb sollte ein einmal geschlossener Vertrag womöglich auch für Menschen verpflichtend sein, die später geboren wurden? Weshalb ein Kriterium akzeptieren, das in der Vergangenheit festgeschrieben wurde? Lässt sich auch unabhängig von der Existenz tatsächlicher Verträge kein Urteil über richtig und falsch treffen? Auch bei der impliziten Zustimmung ist die Verpflichtung, wie Hume bereits dargelegt hat, zweifelhaft. Gleichsam sollten wir uns fragen, weshalb beispielsweise ein Stillschweigen als symbolischer Ausdruck impliziter Zustimmung gegenüber bestimmten Regelungen als sinnvolles Kriterium gelten sollte? Ist etwas automatisch richtig oder gerecht, weil niemand widerspricht? Die Regelung, die sich auf diese Weise ihre Legiti-

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mation verschafft, muss nicht richtig sein, denn sie könnte auch nur unter eine gewisse Wahrnehmungsschwelle fallen. Im Falle der hypothetischen Übereinstimmung ist es offensichtlich, dass die These der Verpflichtungswirkung unschlüssig ist. Als Kriterium kann sie jedoch eine Funktion haben. Die Einwände bezüglich der Verpflichtungswirkung treffen somit auf die hypothetische Übereinkunft zu, aber sie treffen nicht den Kern dessen, wofür die hypothetische Übereinkunft eigentlich verwendet wird. Als gedachte Übereinkunft dient sie lediglich als Methode zur Rechtfertigung und Überprüfung. Sie ist ein Mittel zur Erkenntnis dessen, was getan werden soll, und in diesem Falle ist es irrelevant, dass hypothetische Zustimmung nicht in der Weise bindet, wie dies tatsächliche Zustimmung tun würde. Die Vertragstheoretiker, die den Vertrag als Kriterium betrachten, setzen sich lediglich der Frage aus, »wie es zu begründen sei, den fiktiven Vertrag als Kriterium gelten zu lassen; die Frage nach dem Verpflichtungscharakter des fiktiven Vertrages stellt sich hier jedoch nicht« (Nida-Rümelin 1987: 201).11 Der Mangel des Verpflichtungscharakters ruft allerdings die Frage auf, warum das, was durch die Formel der Übereinkunft gerechtfertigt wird, überhaupt irgendeine Bedeutung für mich haben soll? Weshalb sollte ich mich an die gerechtfertigten Prinzipien halten? Weshalb sollte ich überhaupt die Formel der Übereinkunft anwenden, um herauszufinden, was gerechtfertigt ist und was nicht? Das sind berechtigte Fragen und sie rütteln am normativen Fundament einer Theorie der Übereinkunft. Hier ist es hilfreich, mit einem Vorschlag von Christopher Morris zwei Arten normativer Rechtfertigung zu unterscheiden: »Rechtfertigung in Bezug auf normative Angelegenheiten kann so gedacht werden, dass hier zwei verschiedene, obwohl auch miteinander in Beziehung stehende, Probleme angegangen werden. Wir könnten uns wünschen zu wissen, was Moral (oder das Recht) von uns verlangt; wir könnten jedoch auch wissen wollen, was für Gründe wir haben, das zu tun, was von uns verlangt wird, wenn es denn solche überhaupt gibt« (Morris 1996: 218, eigene Hervorhebung, Übers. d. Verf.). Es gibt Kontraktualisten, welche beide Fragen angehen würden, also sowohl eine Antwort auf die erste inhaltliche Frage, was wir tun sollen, als auch auf die tiefere normative Frage, ob wir einen Grund haben, das zu tun, was inhaltlich von uns gefordert ist. Letztere Frage würden wir mit Bezug auf tatsächliche und impli11 | Dazu auch Rümelin et al. (2012: 197): »Für sich genommen lässt das Vertragsargument die Frage unbeantwortet, warum es sich jede Person zum Ziel machen sollte, ihr Handeln auf ein allgemein zustimmungsfähiges System von Verhaltensregeln zu gründen«. Ich selbst glaube jedoch, dass sich eine kontraktualistische Antwort auf diese Frage findet. Diese ist zwar nicht im kontraktualistischen Argument selbst begründet, also dem Überlegungsprozess als Einigungsszenario, sondern basiert auf einer spezifischen kontraktualistischen Motivationstheorie, wie ich sie in Teil II als Element des praktischen Standpunktes ausformulieren werde.

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zite Übereinkunft in der Weise beantworten: »Weil wir dem Inhalt (tatsächlich oder implizit) zugestimmt haben«. Diese Option haben wir jedoch im Falle der hypothetischen Übereinkunft nicht. Wir können nicht auf bloße Zustimmung als letzte normative Quelle verweisen. Auf was verweist eine hypothetische Übereinkunft? Sie verweist auf Folgendes: Wenn wir Gründe haben, einem bestimmten inhaltlichen Prinzip zuzustimmen, dann haben wir auch Gründe, nach diesem Prinzip zu handeln, und das nicht, weil wir nicht zugstimmt hätten, sondern weil wir anderenfalls irrational oder unvernünftig wären. Wir verweisen sowohl auf die Gründe, die einerseits für Menschen bestehen, ein bestimmtes Prinzip zu akzeptieren, als auch auf die Gründe, die kontraktualistische Formel anzunehmen. Letztere können offenbar nicht aus dem kontraktualistischen Argument selbst gewonnen werden. Ich werde darauf an anderer Stelle noch zu sprechen kommen, wenn es um die Konzeption des praktischen Standpunktes geht. Dort wird die entsprechende Frage des Grundes, den wir haben, auf eine spezifisch kontraktualistische Weise beantwortet. Hier wollte ich lediglich die Verbindlichkeitsfrage von hypothetischen Übereinkünften an sich klären, wobei ich festgestellt habe, dass die Übereinkunft ein Mittel zur Erkenntnis der inhaltlich richtigen Prinzipien ist, welche jedoch keinerlei Bindungswirkung entfalten kann, vor allem keine, die wir für gewöhnlich mit tatsächlichen Übereinkünften assoziieren. Zuletzt möchte ich kurz auf eine Kritik eingehen, welche ebenfalls den fiktionalen Charakter der Übereinkunft betrifft. Angeblich »leuchtet es ein, dass fiktive Verträge mit ihrem nur fiktiven Status stehen und fallen. Sie scheitern am einfachsten aller Tests: an dem der Realität« (Ottmann 1986: 28). Kann uns eine reine Fiktion etwas darüber sagen, was wir in der wirklichen Welt tun sollen? Ja, unbedingt! Denn wäre dies nicht der Fall, dann wäre unser Denken über richtig und falsch mehr als arm. Die verschiedensten Überlegungen in der Ethik haben kontrafaktische Annahmen zur Grundlage. Das verhält sich nicht nur im Kontraktualismus in dieser Weise, sondern ist auch Teil vieler anderer Überlegungsprozesse. Verlangt nicht auch der kategorische Imperativ nur nach derjenigen Maxime zu handeln, die zugleich ein allgemeines Gesetz werden könnte? Erfordert dies nicht gleichsam die Vorstellung, wie die Welt aussähe, wenn die Maxime tatsächlich ein allgemeines Gesetz wäre? Müssen wir nicht bei einem utilitaristischen Prinzip Vorstellungen darüber treffen, wie bestimmte Nutzensummen sich verhalten würden, wenn wir diese oder jene Entscheidung träfen? Der Kontraktualismus scheitert nicht mehr an der Realität, als es jeder andere Gedanke bezüglich richtiger Normen oder gerechter Institutionen tun würde. Zweifellos haben Kontraktualisten durch ihre ausgefallenen Gedankenexperimente den Eindruck erweckt, hier spiele sich eine reine Fiktion ab, die mit unserer jetzigen Welt nicht in Verbindung stehe, doch dem ist keineswegs so, wie ich mich noch bemühen werde zu zeigen. Was sich in den verschiedenen Gedankenexperimenten abspielt, kann man auch

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einfach als Überlegungen über Gründe verstehen, die Personen haben, wenn sie eine Übereinkunft treffen würden, und diese Gründe können auch gegenwärtig und real einleuchten. Daran ist nichts sonderlich weltfremd.

2.3. D er W eg zum K riterium des R echten I – H obbes und L ocke Ich habe in der bisherigen Darlegung zwei wichtige Unterscheidungen betrachtet. Zum einen hielt ich fest, dass ich der kontraktualistischen Formel eine normative und keine erklärende Funktion zuschreibe. Das Ziel der kontraktualistischen Formel ist eine Rechtfertigung moralischer Prinzipien. Sie ist nicht dazu gedacht, bestehende Normen bezüglich ihres Entstehungszusammenhangs zu erklären. Zum anderen legte ich dar, dass es dabei keine Probleme bereitet, auf eine hypothetische Übereinkunft zu verweisen. Sie ist in ihrer Funktionsweise nicht mit tatsächlichen oder impliziten Verträgen gleichzusetzen. Die hypothetische Übereinkunft kann als Kriterium dienen. Im Folgenden werde ich bei der Zeichnung einer Linie des Vertragsgedankens, die uns zu einem Kriterium zur Beurteilung von Prinzipien des Zusammenlebens – also einem allgemeinen Kriterium des moralisch Rechten – führt, genau diese Aspekte in den Vordergrund stellen. Dabei mag dahingestellt bleiben, ob die Vertragstheoretiker auch eine tatsächliche Akzeptanz gemeint haben könnten. Dies ist bei den entsprechenden Autoren nicht immer eindeutig und es gibt Passagen, die mal mehr und mal weniger offensichtlich auf eine andere Funktion des Vertragsargumentes hindeuten. Es gibt verschiedene Lesarten der Theorie, doch hier möchte ich nur eine einzige betrachten, um einen Entwicklungsweg zu modernen Theorien des Kontraktualismus freizulegen. Die Tradition des Gesellschaftsvertrages lässt sich als eine Linie des Denkens rekonstruieren, welche sich an einem bestimmten Gedanken abarbeitet. Es ist die Frage, was es bedeutet zu sagen, dass eine Gesellschaft, eine Ordnung, ein Prinzip oder eine Norm aus einer Übereinkunft hervorgehen könnte und deshalb gerechtfertigt ist. Was verstehen wir unter der Übereinkunft oder was verstehen wir darunter, wenn wir sagen, dass alle einem bestimmten verhaltensregulierenden Prinzip zustimmen könnten?12 Ich verstehe die Vertragstheoretiker in der Weise, dass sie eine bestimmte Rechtfertigungsformel zugrunde gelegt haben, die sich auf die Akzeptanz von etwas bezieht, und es ist genau diese Formel (und das Verständnis ihres Inhaltes), welche einen Entwicklungsprozess durchmacht und sich entsprechend wandelt. 12 | Ähnlich könnten wir die utilitaristische Tradition als die Suche nach der Antwort darauf verstehen, weshalb etwas gerechtfertigt ist, weil es den größten Nutzen hat oder was unter dem Begriff »Nutzen« zu verstehen ist.

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Für die klassischen Kontraktualisten ging es primär um die Legitimation von Herrschaft oder staatlichem Zwang, die Rechtmäßigkeit einer Verfassung oder eines Regierungssystems. Der Gegenstandsbereich ist von vornherein eingeschränkt, bietet aber die Grundlage für eine allgemeinere Theorie des Rechten. Thomas Hobbes wird klassischerweise als derjenige verstanden, der sich am konsequentesten von metaphysischen oder theologischen Begründungsstrategien verabschiedete (auch wenn sie in seinem Werk noch greif bar sind, so kommt ihnen nicht das letzte Wort in der Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt zu). Wenn die metaphysischen Begründungsstrategien wegfallen, dann gibt es für Hobbes vor allem eine Frage: Kann die Herrschaft aus einer Übereinkunft aller hervorgehen, die sich ihr unterwerfen, beziehungsweise kann die Herrschaft freiwillig gewollt sein? Dieser Gedanke lässt sich bei Hobbes folgendermaßen ausdrücken: Hobbes-Formel: Gerechtfertigt ist eine staatliche Zwangsgewalt, wenn sie als Gegenstand einer Übereinkunft von allen Betroffenen rationalerweise, im Sinne des eigenen Vorteils, akzeptiert werden könnte.13 Dies ist die normative Grundannahme und ich werde versuchen, sie zu erläutern. Als erstes meint Hobbes, dass Menschen Gründe haben, einer entsprechenden Zwangsgewalt zuzustimmen. Es wäre unter bestimmten Voraussetzungen einfach rational, sich unter eine entsprechende Ordnung zu begeben. Wird nachgewiesen, dass es für jedes potenzielle Mitglied der Gesellschaft rational ist, sich unter eine Zwangsgewalt zu stellen, dann ist eine Übereinkunft möglich, die jeder zu seinem eigenen Vorteil eingehen kann. Wenn dies der Fall ist, jeder also hypothetisch zustimmen könnte, dann ist auch die entsprechende Herrschaft gerechtfertigt. Wir können uns das folgendermaßen vorstellen: Es gibt die Möglichkeit, bestimmte Institutionen zu etablieren, welche die Macht haben, Recht durchzusetzen und bestimmte Regeln vorzugeben. Nun fragen wir uns, ob eine bestimmte Art, dies zu tun (etwa durch Zwang), gerechtfertigt ist. Dies überprüfen wir durch die hobbessche Formel der Übereinkunft. Nun fragen wir uns im Sinne von Hobbes, ob jeder einem bestimmten staatlichen Arrangement hypothetisch zustimmen könnte. Auf dieser normativen Grundlage stellen wir 13 | Diese Formel hat Ähnlichkeit mit dem, was Parfit (2011: 343) die »Formel der rationalen Übereinkunft« nennt. Exemplarisch ist auch die Formulierung der einzigen normativen Annahme bei Hobbes, welche durch Koller (1987: 18) formuliert wird: »Die normative Voraussetzung, von der er ausging, ist die, dass eine soziale Ordnung dann und nur dann allgemein akzeptabel ist, wenn sie unter den realen Bedingungen menschlicher Existenz dem vernünftigen, d.h. dem langfristigen wohlerwogenen Selbstinteresse aller Beteiligten dient«.

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unsere Überlegungen an. Hobbes geht in folgender Weise vor: Um die Rationalität nachzuweisen und zu bekräftigen, dass einer entsprechenden Herrschaftsordnung zugestimmt werden könnte oder diese Ordnung als vertraglicher Zusammenschluss von Individuen gedanklich vorstellbar ist, zeigt er, was geschehen würde, wenn die zu rechtfertigende Herrschaft nicht bestehen würde. Wie würde ein Zustand aussehen, der nicht durch staatliche Zwangsgewalt geregelt ist? An dieser Stelle kommt die Konstruktion des Naturzustandes ins Spiel und erhält ihre elementare Bedeutung. Es ist viel über dieses Konstrukt geschrieben worden. Ich meine, dass wir es so einfach wie möglich auffassen sollten, um uns den methodischen Grundgedanken vor Augen zu halten. Wir sollten ihn auch nicht mit historischen Deutungen überfrachten, ob es diesen Zustand je gegeben hat oder geben könnte. Stattdessen sollten wir Folgendes über diese Konstruktion und ihre methodische Bedeutung sagen: Dieser Zustand enthält die Gründe, die sich für jeden Einzelnen darbieten, seine Zustimmung zu geben. Sehen wir uns an, was dies im Falle von Hobbes und seiner Aufgabe der Staatslegitimation bedeutet. Abstrahieren wir das Bestehen staatlicher Institutionen, so werden wir bei Hobbes in eine Welt hineingeworfen, in der es keine Sicherheit und keine ordnenden Strukturen gibt. Hier können sich die Menschen weder ihrer selbst, ihres Leibes und Lebens noch ihres Besitzes sicher sein. Der Naturzustand bei Hobbes trägt demzufolge die Züge eines latenten Kriegszustandes, in dem die Gefahr allgegenwärtig ist. Jeder hat »ein Recht auf alles« (Hobbes 1651: XIV, 108), was einfach bedeutet, dass jeder alles beanspruchen kann, solange er die Macht hat, dies durchzusetzen, denn es gibt keine Gewalt, die Rechte zubilligen und Einschränkungen vornehmen könnte. Dieser Zustand muss zwar kein tatsächlich kriegerischer sein, doch selbst wenn keine unmittelbare Bedrohung vorhanden ist, so bleibt die Unsicherheit präsent (vgl. ebd.: XIII, 103). Es gibt aber einen Ausweg aus dieser Misere und in Anbetracht der Unerträglichkeit dieses Naturzustandes ist er für jeden eine vorteilhafte Option: Das Schließen eines Vertrages eines jeden mit einem jeden zur Einsetzung eines Souveräns, der die nötige Zwangsgewalt ausübt, um Gesetze durchzusetzen und somit der permanenten Unsicherheit des Naturzustandes ein Ende zu setzen. Die Grundzüge des hobbesschen Naturzustandes sind meiner Auffassung nach eine Form eines praktischen Standpunktes, also eines Standpunktes, von dem aus wir praktische Fragen klären, wie in diesem Falle die Frage nach legitimer Herrschaft. Je nachdem, was die Parteien auszeichnet und was ihre äußere Umwelt kennzeichnet, können wir die Überlegungsprozesse nachvollziehen und ersehen, welche Gründe für eine Vereinbarung sprechen. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass diese Gründe nicht nur irgendwelche historischen oder idealen Persönlichkeiten haben. Es sind stattdessen Gründe, die für jeden realen Menschen verfügbar sein können, um die entsprechenden gegenwärtigen Verhältnisse zu beurteilen. Zwar leben

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wir nicht unter den Bedingungen eines solchen Naturzustandes und werden es vielleicht auch nie, aber dennoch sind wir in der Lage, die entsprechenden Gründe zu erkennen, indem wir uns wegdenken, was gerechtfertigt werden soll. Dies ist in diesem Fall die Ausübung der staatlichen Zwangsgewalt. Die Gründe, welche die Menschen laut Hobbes haben, um eine entsprechende Einigung mit anderen einzugehen, hängen von den empirischen Annahmen ab, welche er voraussetzt. Dazu gehört die Postulierung, dass Menschen vor allem ihre eigenen Interessen verfolgen sowie nach Macht (vgl. ebd.: VIII, 60 und X, 69) und Selbsterhaltung streben, deren Sicherung dann auch oberster Zweck eines Gemeinwesens werden muss (vgl. ebd.: XVII, 141). Des Weiteren sind die Menschen weitestgehend gleich. Wiegen die Unterschiede in Körperkraft und Geist nur gering, so ist eine ganz bestimmte Form der Gleichheit die entscheidende: das von allen gleichermaßen ausgehende Drohpotenzial (vgl. ebd.: XIII, 102f.). Der Schwächste kann die List anwenden oder der Stärkste kann durch einen Zusammenschluss von vielen Schwächeren bedroht werden. Dies führt dazu, dass die Menschen in einem staatenlosen Zustand gleichermaßen unsicher sind und somit auch der natürliche Zustand für alle gleichermaßen unerträglich ist. Damit kann Hobbes sagen, dass jeder einen Grund hat, mit anderen eine Einigung einzugehen, die eine staatliche Zwangsgewalt etabliert, welche die entsprechende Sicherheit gewährleistet. Zusätzlich kommt er zum Ergebnis, dass nur eine absolute und uneingeschränkte Autorität tatsächlich für diese Sicherheit sorgen kann, weshalb es für jeden Einzelnen vorteilhaft wäre, eine solche Form der Herrschaft zu akzeptieren. Allein diese empirischen Annahmen und damit auch die Gründe, die Menschen dazu bewegen könnten, ein bestimmtes staatliches Arrangement zu akzeptieren, sind umstritten. Weder vermögen wir anzunehmen, dass ein Zustand ohne staatliche Gewalt tatsächlich für alle gleichermaßen problematisch ist, noch, dass auch nur annähernd die entsprechende Gleichheit herrscht, die jedem ein Drohpotenzial zukommen lässt. Wir müssten ein deutlich höheres Maß an Idealisierung vornehmen, wenn wir beispielsweise körperlich oder geistig beeinträchtigte Individuen ausnehmen. Aber lassen wir diese Problematik vorerst beiseite. Wenn wir nachsichtig sind, könnten wir eine solche Idealisierung hinnehmen. Darüber hinaus wird jedoch ein ganz bestimmtes Rationalitätsmodell vorausgesetzt, das für den Menschen gemäß Hobbes natürlich ist. Es ist eines, welches die eigeninteressierten Zwecke an die oberste Stelle setzt. Ich möchte dabei einen bestimmten Aspekt betonen, der meiner Auffassung nach entscheidend für Hobbes’ Vorstellung darüber ist, wann etwas für Menschen akzeptabel ist und wann nicht. Eine rationale Übereinkunft als Kriterium einer legitimen Staatsgewalt wird bei Hobbes im Sinne einer individuellen Vorteilsmaximierung verstanden. Das Eigeninteresse ist das, was zur Einigung und damit in die zwangsbewährte Gesellschaft treibt. Nur wenn gezeigt werden kann, dass alle, die in dieser Gesellschaft Leben werden, in

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eine vorteilhaftere Situation gebracht würden als durch den Verbleib in einem rechtlosen Naturzustand, kann das entstehende Arrangement als gerechtfertigt angesehen werden: »Somit ist allen, die die menschlichen Verhältnisse etwas aufmerksamer betrachten, durch Erfahrung klar, dass die Menschen aus freien Stücken nur zusammenkommen, weil die gemeinsamen Bedürfnisse oder die Ehrsucht sie dazu treiben«. Hobbes führt an dieser Stelle weiter aus, was wir unter einem entsprechenden Vorteil zu verstehen haben: »Denn da wir aus freiem Willen uns verbinden, so fragt man bei jeder Verbindung nach dem Gegenstand des Willens, d.h. nach dem, was jedem der sich Verbindenden dabei als Gut erscheint. Alles aber, was als Gut gilt, ist angenehm und bezieht sich entweder auf die Sinnesorgane oder auf den Geist. Alle List des Geistes ist aber entweder Ehre (oder die gute Meinung von sich selbst) oder etwas, was sich letzten Endes auf die Ehre bezieht; alles andere ist sinnlicher Natur oder dem Sinnlichen zuträglich und kann vollständig unter dem Namen des Vorteils befasst werden. Somit wird jede Verbindung nur des Vorteils oder des Ruhmes wegen, d.h. aus Liebe zu sich selbst und nicht zu den Genossen eingegangen« (Hobbes 1642: Kap. 1, 78, Hervorhebung im Original).

Hobbes spricht hier in einem Kontext, wo er den Menschen außerhalb der Gesellschaft beschreibt. Er wendet sich gegen diejenigen, die im Anschluss an Aristoteles behaupten, der Mensch wäre von Natur aus ein Gemeinschaftswesen, und erhebt den Einwand, dass sich Menschen nur dann auf eine gemeinsame Kooperation einlassen, wenn dies in ihrem Interesse liegt. Es gibt demzufolge nur einen einzigen Typus von Grund, der zu einer Akzeptanz seitens der Individuen führt. Dieser Grund ist ein eigennütziger und vorteilsmaximierender Grund. An diese Feststellung anknüpfend ist Folgendes entscheidend: Bei Hobbes ist der Raum der Gründe, die jemand hat, um sich mit anderen zu einigen, bereits in strenger Weise vorstrukturiert. Seine Darstellung dessen, was von Personen akzeptiert werden kann, ist eindimensional. Bei ihm zählt nur eine einzige Art von Gründen und zwar jene, die dem wohlverstandenen Eigeninteresse dient. Dies ist ein singuläres Verständnis, welches wir auch in anderen Theorien finden, die eine bestimmte Klasse von Gründen für allein ausschlaggebend halten. Wir könnten beispielsweise sagen, dass das maximale allgemeine Wohlergehen einen relevanten Grund für eine Zustimmung gibt oder dass perfektionistische Werte eine absolute Rolle spielen. Der Prototyp des Kontraktualismus wird klassischerweise mit dem eigennutzenmaximierenden Vorteilsstreben identifiziert. Nur Gründe, die dem individuellen Vorteil dienlich sind, können bei der Betrachtung dessen Berücksichtigung finden, worauf sich Menschen einigen würden. Weil dies so ist, kann sich Hobbes den Menschen auch als Wesen vorstellen, das seine gesamte Freiheit einem absoluten

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Souverän übergibt, der nahezu uneingeschränkt über ihn herrschen kann. Es muss nur für jeden vorteilhaft sein. Schauen wir noch einmal, was wir tun müssen, wenn wir die hobbessche Übereinkunft als ein Kriterium der Legitimität verstehen wollen. Wir stellen die Frage, ob diese Zwangsgewalt gerechtfertigt ist, unter der wir leben sollen. Wir ziehen das ab, was zu rechtfertigen ist, legen das Kriterium der rationalen Übereinkunft an und zeigen dann: Hätten wir diese Zwangsgewalt nicht, würde dies enorme Nachteile mit sich bringen. Es liegt im Interesse eines jeden, genau diese Zwangsgewalt zu wollen, sie zu akzeptieren und mit anderen Menschen gemeinsam unter ihr zu leben. In kritischer Absicht könnte jemand diese Formel theoretisch auf jede Regierung anwenden, die nicht in der Lage ist, ihn zu schützen. Jederzeit kann ich den praktischen Standpunkt einnehmen und die Gründe prüfen. Dabei könnte ich feststellen, dass bestimmte Ordnungen keinen Schutz gewährleisten. Einer Zwangsordnung kann nicht zugestimmt werden, die dazu nicht in der Lage ist. In diesem Falle wäre ich ohne diese Institution ebenso gut dran. Mir fehlen dann einfach die Gründe, sie zu akzeptieren. In diesem Falle würden diese Ordnungen das Kriterium der Übereinkunft nicht erfolgreich bestehen. Bei Hobbes wird aber das Kriterium des Vertrages zu einem stumpfen Schwert, denn verstehen wir die Gründe richtig, die er aufzeigt, so stellen wir fest, dass der Zustand ohne staatliche Gewalt so unerträglich und radikal festgeschrieben wird, dass nahezu jedes staatliche Arrangement (und sei es noch so repressiv und autoritär) immer noch als gerechtfertigt gelten kann, solange es sich vom latenten Kriegszustand noch geringfügig abhebt, also immer noch einen Vorteil und damit Gründe für diejenigen verspricht, die ihr gemeinsam zustimmen sollen. Nahezu, denn Hobbes lässt zumindest eine schwache kritische Haltung anklingen. Für Hobbes gibt es auch Rechte, die ein Individuum immer für sich beanspruchen würde und der freiwillige Verzicht auf diese Rechte niemals einen Vorteil bringt: »Objekt der Willenshandlungen jedes Menschen ist etwas Gutes für ihn selbst. Und deshalb gibt es einige Rechte, bei denen man nicht annehmen kann, dass ein Mensch sie durch irgendwelche Worte oder anderen Zeichen aufgegeben oder übertragen hat. Erstens zum Beispiel kann ein Mensch nicht das Recht aufgeben, denen Widerstand zu leisten, die ihn gewaltsam angreifen, um ihm das Leben zu nehmen, weil man nicht voraussetzen kann, dass er damit etwas Gutes für sich bezweckt. […] Und letztlich sind Motiv und Zweck, wozu diese Aufgabe oder Übertragung des Rechts eingeführt wird, nichts anderes als die Sicherheit der Person eines Menschen in Bezug auf sein Leben und die Mittel, es zu erhalten, dass er seiner nicht überdrüssig wird« (Hobbes 1651: XIV, 110f., Hervorhebung im Original).

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An der unumstößlichen Selbsterhaltung findet auch die staatliche Macht ihre Grenzen. Wenn sie diese Selbsterhaltung nicht mehr gewährleisten kann, dann ist ihr Zweck nicht mehr erfüllt. Am Kriterium der Übereinkunft würde eine solche Regierung scheitern. Genau dann wird die herrschende Ordnung delegitimiert. Denn ich würde meine Zustimmung nicht mehr geben, wenn Leib und Leben dadurch bedroht wären. Dann, so könnte Hobbes sagen, kann man genauso gut im Naturzustand verbleiben. Nichts, was man sich als persönlichen Vorteil erhofft, würde sich bewahrheiten. Der kritische Zugriff auf die staatliche Zwangsmacht bleibt somit durch das Vertragskriterium in Kraft, wenn auch in sehr schwacher Hinsicht: Noch immer könnte jemand unter dieser Regierung in höchstem Maße leiden, solange dies keinen Rückfall in den Naturzustand bedeutet, denn dieser ist bekanntlich unerträglich. Das kritische Potenzial jener normativen kontraktualistischen Bestimmung ist demzufolge einerseits durch die überzogenen und teils idealisierten Annahmen, andererseits durch die Rationalitätsannahme begrenzt, die den Raum der Gründe eindimensional vorstrukturiert, indem ein noch so kleiner Vorteil zur Akzeptanz führen muss. Es ist somit kaum verwunderlich, dass John Locke auf der Basis der Vertragstheorie zu gänzlich anderen Ergebnissen kommt als Hobbes. Sein Ziel ist es darzulegen, dass eine legitime Regierungsform nicht in einer absoluten Monarchie aufgeht oder eine völlige Selbstentäußerung der Person fordern kann. Insbesondere versucht er, ein Widerstandsrecht gegen absolute Herrschaft aufzuzeigen und damit darzulegen, dass sich die Regierung nicht nur delegitimieren kann, wenn die eigene Selbsterhaltung auf dem Spiel steht. Das Motiv der Übereinkunft teilt er allerdings mit Hobbes: Nur diejenige staatliche Zwangsgewalt kann Legitimität beanspruchen, welche aus der freien Zustimmung der unter dieser Gewalt lebenden Menschen hervorgehen könnte. Müssen wir die Form der hypothetischen Zustimmung nun ganz anders verstehen, als sie Hobbes verstanden hat? Locke teilt eine Annahme mit Hobbes, wonach die Menschen ihre Interessen rational und zu ihrem eigenen Vorteil verfolgen. In dieser Hinsicht liegen ihre Anschauungen nicht weit auseinander. Der Streit besteht aber im Nachweis der Rationalität der Zustimmung selbst, also in den entsprechenden Gründen, welche die Menschen haben. Nach Locke wäre jemand, der sich völlig selbst entäußert und unter einen absoluten Herrscher stellt, irrational, denn er tut nichts anderes, als die Gewalt, die ihm von anderen im Naturzustand angetan würde, einzutauschen gegen die Gewalt, welche die Herrschaft von oben ausübt (vgl. Locke 1689: § 93). Aber der Unterschied geht noch weit darüber hinaus. Im Falle von Locke ist die Verfolgung der eigenen Interessen eingeschränkter. Bestimmte Überlegungen, die Menschen zugunsten ihrer eigenen Zwecke anstellen können, werden von vornherein ausgenommen.

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Dies erreicht Locke durch die Bestimmung eines natürlichen Gesetzes, welches außerhalb der Vertragslogik liegt. Danach sind Leben, Freiheit und Eigentum zu wahren. Die Personen müssen demnach so vorgestellt werden, dass sie in der Verfolgung ihrer Interessen rational sind, sich aber gleichsam vernünftigerweise durch das natürliche Gesetz beschränken lassen. Ähnlich wie Hobbes zwingt uns Locke, die staatliche Zwangsgewalt wegzudenken und zu überlegen, was für Gründe es für ihre Akzeptanz gäbe, wenn sie nicht bestehen würde. Bei Locke bleibt dann allerdings kein latenter Kriegszustand übrig, sondern ein Zustand, der vom natürlichen Gesetz reguliert wird: »Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, dass niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll« (ebd.: § 6, Hervorhebung im Original). Eine Übereinkunft ist demzufolge genau dann einzugehen, wenn es zum eigenen Vorteil ist und gleichsam die Bedingungen des natürlichen Gesetzes erfüllt sind. Die entsprechende kontraktualistische Formel, die wir in Bezug auf Hobbes angewandt haben, müsste daher um das entsprechende natürliche Gesetz erweitert werden: Locke-Formel: Gerechtfertigt ist eine staatliche Zwangsgewalt, wenn sie als Gegenstand einer Übereinkunft von allen Betroffenen rationalerweise, im Sinne des eigenen Vorteils und unter Wahrung von Leben, Freiheit und Eigentum, akzeptiert werden könnte. Hatten wir bei Hobbes im Grunde nur ein Kriterium, welches sich in der rationalen Akzeptanz der betroffenen Personen niederschlug, so führt Locke weitere normative Prämissen ein, die das Zustimmungskriterium flankieren. Wie können wir das natürliche Gesetz verstehen und wo kommt es her? Nach Lockes fundamentalen Bestimmungen fällt die gesamte Menschheit unter dieses Gesetz. Es ist ein göttliches Gesetz, welches durch die Vernunft erkannt werden kann, denn durch diese von Gott gegebene Fähigkeit erfahren wir dessen Willen. Wir entnehmen der natürlichen Ordnung die göttlichen Intentionen, woraufhin wir wissen, nach welchen Grundsätzen wir handeln sollen. Locke vertritt damit eine klassische theologisch begründete Naturrechtstheorie, anhand derer sich auch jedes positive Gesetz messen lassen muss (vgl. ebd.: § 135). Da dieses Gesetz ohnehin schon immer in Kraft ist, so sieht der praktische Standpunkt, den wir einnehmen, wenn wir die staatliche Gewalt wegdenken, ganz anders aus als bei Hobbes. Es ist ein begrenzt geregelter Zustand und kein latenter Kriegszustand. Nun scheint es auszureichen, allein dieses natürliche Gesetz in Geltung zu haben, denn befolgt man es, so kann es unsere Verhältnisse des Zusammenlebens regeln. Weshalb bedarf es dann überhaupt

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noch einer Zwangsgewalt, wenn das natürliche Gesetz für jeden einsichtig ist? Ganz so einfach ist es selbstverständlich nicht, denn »obwohl das Gesetz der Natur für alle vernunftbegabten Wesen klar und verständlich ist, werden die Menschen doch durch ihr eigenes Interesse beeinflusst, und da sie außerdem nicht darüber nachdenken und es folglich auch zu wenig kennen, pflegen sie es nicht als ein Recht anzuerkennen, das in seiner Anwendung auf ihre eigenen Fälle für sie verbindlich wäre« (ebd.: § 124). Jenes Gesetz ist bekannt, aber es gibt keine Garantie, dass es auch stets Anwendung findet, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es auch mit diesem Gesetz zu Regelungskonflikten kommen kann: »Denn da das Gesetz der Natur ein ungeschriebenes Gesetz und deshalb nur in der Seele der Menschen zu finden ist, können diejenigen, die es aus Leidenschaft oder Interesse verdrehen oder falsch anwenden, nicht leicht von ihrem Irrtum überzeugt werden, wenn es keinen fest eingesetzten Richter gibt« (ebd.: § 136). Die Menschen haben demzufolge guten Grund einer staatlichen Zwangsgewalt zuzustimmen. Die Rechtssicherheit, die sie erhalten, ist ein rationaler Vorteil. Weshalb das Zustimmungskriterium wichtig ist, erschließt sich für Locke daraus, dass die Menschen ohne eine staatliche Zwangsgewalt frei, gleich und unabhängig sind. Es gibt also keine Begründung einer Herrschaft von Menschen über Menschen, die nicht am Kriterium der Übereinkunft festzumachen wäre. Freiheit ist hier die Verfügungsgewalt über sich selbst, die unabhängig von anderen ist und die einen Raum für eigene Entscheidungen und eigene Lebensführung lässt. Gleichheit wird verstanden als eine Gleichheit der Freiheit. Lässt sich diese Ansicht der natürlichen Freiheit und Gleichheit der Menschen rechtfertigen? Locke meint, nichts sei offensichtlicher als die Tatsache, dass Menschen von Geburt an frei und gleich sind. Er verweist dabei auf die gleiche Gattung und auf den Willen ihres Herrn und Meisters, also auf Gott, der niemandem »ein unzweifelhaftes Recht auf Herrschaft und Souveränität« (ebd.: § 4) verliehen hat. In Ermangelung eines solchen Zeichens hätten wir gar keine andere Möglichkeit, als die Freiheit und Gleichheit der Menschen anzuerkennen. Auf diese Weise wird ersichtlich, weshalb Locke einer politischen Ordnung nur dann Legitimität zuspricht, wenn diese sich auf die Zustimmung der freien und gleichen Individuen stützt. Ohne Zwangsgewalt sind sie an nichts gebunden außer an die Einsicht in das natürliche Gesetz. Die natürlichen Unterschiede sind für Locke dagegen nicht von Bedeutung, ihm kommt es auf eine Rechtsgleichheit im Angesicht der natürlichen Freiheit an: »Es ist […] jenes gleiche Recht, das jeder Mensch auf seine natürliche Freiheit hat, ohne dem Willen oder der Autorität irgendeines anderen Menschen unterworfen zu sein« (ebd.: § 54, Hervorhebung im Original). In Anbetracht dieser Freiheit und Gleichheit, die ohne eine staatliche Zwangsgewalt besteht, folgert Locke, dass es nur ein mögliches Kriterium geben kann:

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t »Da die Menschen […] von Natur aus alle frei, gleich und unabhängig sind, kann niemand ohne seine Einwilligung aus diesem Zustand verstoßen und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden. Die einzige Möglichkeit, mit der jemand diese natürliche Freiheit aufgibt und die Fesseln bürgerlicher Gesellschaft anlegt, liegt in der Übereinkunft mit anderen, sich zusammenzuschließen und in eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel eines behaglichen, sicheren und friedlichen Miteinanderlebens, in dem sicheren Genuss ihres Eigentums und in größter Sicherheit gegenüber allen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören« (ebd.: § 95).

Daraus folgt, dass nicht ausschließlich das natürliche Gesetz als Kriterium einer legitimen Regierung dienen kann. Ebenso ist das Zustimmungskriterium von Bedeutung. Wir könnten uns schließlich auch eine Regierung vorstellen, die das natürliche Gesetz wahrt, indem Eigentum geschützt, Freiheit aufrechterhalten und Sicherheit gewährleistet wird. Doch diese Regierung könnte gleichsam absolutistisch sein. Locke sieht aber ein parlamentarisches System vor, von dem er der Überzeugung ist, dass nur ein solches im rationalen Interesse der Menschen liegt, da diese sich nicht ihrer Möglichkeit berauben würden, die Regierung zu kontrollieren und ihren Willen zu äußern. Doch selbst wenn Locke das Vertragsmotiv als Legitimationskriterium aufrechterhält, ist es wiederum ein sehr beschränktes, da es sich ebenso auf einen eingeschränkten Raum der Gründe im Sinne individueller Vorteilsmaximierung stützt. Der Raum der Gründe, den Personen für die Zustimmung haben, wird durch das natürliche Gesetz nicht erweitert, denn es wird von Gott vorgegeben. Auch wenn Lockes Kritik an dem Verständnis von Akzeptanz einer staatlichen Zwangsgewalt an Hobbes einschlägig ist, so erreicht er dies nur unter der Prämisse eines Aufweichens der kontraktualistischen Formel. Die Formel der Übereinkunft ist nicht fundamental. Entscheidend ist die Begründung des natürlichen Gesetzes durch eine metaphysische Konzeption. In Anbetracht der Fokussierung auf individuelle Vorteilsmaximierung geht Locke über Hobbes nicht hinaus. Nicht umsonst haben viele Kritiker eingewandt, dass ein in dieser Weise verstandener Kontraktualismus in einen Klassenstaat münden muss, indem diejenigen, die im Naturzustand ihr Eigentum haben, einen solchen für diejenigen, die wenig besitzen, jederzeit so akzeptabel wie möglich machen können.14 An Lockes Vertragskonzeption ist zweierlei in besonderer Weise problematisch. Locke geht es lediglich um die Rechtfertigung einer legitimen Zwangsgewalt, doch wenn diese Legitimation von einem gottbegründeten natürlichen 14 | Für diese Kritik an Locke (aber auch Hobbes) ist immer noch einschlägig: MacPherson (1990). Eine sehr gelungene Problemdarstellung bezüglich dieser Kritik und der Möglichkeit der Rechtfertigung eines Klassenstaates bei Locke bietet Rawls (2012: besonders 234-240).

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Gesetz abhängig ist, dann steht diese Rechtfertigung auf wackligen Füßen oder wir müssen zumindest sagen, dass dem Kriterium der Übereinkunft nicht die entscheidendste Rolle zukommt. Das Eigentum ist beispielsweise eine Institution, die keinem hypothetischen Kriterium unterworfen wird, sondern vom natürlichen Gesetz abgeleitet ist (vgl. ebd.: § 25, 29). In der Tat vertritt Locke ebenso wenig wie Hobbes eine allgemeine Theorie des Rechten, in der sämtliche zwischenmenschlichen Regelungen einer kontraktualistischen Überprüfung unterzogen werden. Genau dies ist es jedoch, was wir benötigen, wenn wir den Kontraktualismus in Anbetracht der moralischen Bedingungen, die bereits vorweggenommen werden, nicht als redundant ansehen wollen. Die Frage, die sich somit im Folgenden stellen wird, ist, ob es auch einen Kontraktualismus geben kann, der ein Modell für die Rechtfertigung sämtlicher Regelungen des Zusammenlebens bietet. Bei Rousseau und Kant werden diese Weichen gestellt und sie sind es auch, welche das Kriterium der Übereinkunft nicht mehr einzig auf den rationalen Vorteil beschränken.

2.4. D er W eg zum K riterium des R echten II – R ousse au und K ant Mit Rousseau und Kant wird der Gedanke des Kriteriums des Rechten konkreter. Rousseau kennzeichnet einen Neuanfang in der vertragstheoretischen Tradition. Zum ersten Mal wird das Paradigma der Übereinkunft nicht auf einem rein individualistisch-rationalistischen Fundament erbaut. Mit gutem Gewissen kann man ihm die »Neuerfindung der neuzeitlichen Vertragstheorie« (Rehm 2006: 80) zuschreiben. Stärker noch als seine Vorgänger betont Rousseau sein Programm der Prinzipienrechtfertigung: »Ich möchte untersuchen, ob es innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung eine legitime und zuverlässige Regel für die Organisation des Staates geben kann, wenn man die Menschen so nimmt, wie sie sind, und die Gesetze so, wie sie sein könnten« (Rousseau 1762: I, S. 10). Letztlich geht es bei Rousseau also um die Erkenntnis der »vernünftigen oder wahren Prinzipien des politisch Rechten und Gerechten« (Rawls 2012: 318). Der kontraktualistische Rahmen verändert sich in der Weise, dass die ahistorische Version eines Gesellschaftsvertrages als Kriterium nun deutlich stärker zum Vorschein kommt. Wie stellt sich Rousseau das normative Kriterium des Vertrages vor und wie glaubt er, ihm Bedeutung zu verleihen? Bevor ich mich der neuen Formulierung widme, will ich fragen, ob Rousseau in ähnlicher Weise wie seine geistigen Vorgänger vorgeht. Für die Staatslegitimierung denken sich Hobbes und Locke alle Regelungen staatlichen Zwanges weg. Was sie dabei gewinnen, ist ein praktischer Standpunkt, welcher uns die Bedingungen zeigt, unter denen sich eine Vereinbarung vorgestellt werden kann. Wir

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erkennen die Gründe, welche die Parteien dazu bewegen, in einen staatlichen Zustand einzutreten. Bei Rousseau ist dieser praktische Standpunkt schwerer zu ermitteln. Interessanterweise finden wir in Rousseaus Gesellschaftsvertrag eine äußerst spärliche Betrachtung des Naturzustandes. Hier wird keine umfassende Geschichte über die mögliche Einigung erzählt – zumindest keine, die mit seinen Vorläufern vergleichbar wäre. In der Vergangenheit hat man deshalb versucht, Rousseaus Naturzustandsäußerungen, die er in der Abhandlung über die Ungleichheit trifft, mit der Konzeption des Gesellschaftsvertrages zusammenzulegen, in der Hoffnung, so die fehlende Naturzustandskonzeption ergänzen zu können. In der Rousseau-Forschung ist man sich jedoch inzwischen immer einiger, dass diese beiden Werke aufgrund ihrer unterschiedlichen Fragestellungen nicht einfach zusammengeworfen werden können.15 Wir haben Rousseaus Abhandlung über die Ungleichheit bereits bei der Unterscheidung zwischen explanatorischem und normativem Kontraktualismus kennengelernt (Kapitel 2.1.) und wir müssen im Hinterkopf behalten, dass es dort um die rein erklärende Funktion des Gesellschaftsvertrags ging. Er diente nicht als Kriterium für eine legitime Regierung oder gar für das Rechte und Gerechte. Kersting (2002: 32) drückt dies entsprechend so aus: »Während Rousseau den Kontraktualismus in seinem geschichtsphilosophischen Diskurs als Interpretationsschema für die maßgeblichen Entwicklungs- und Verrechtlichungsschritte einer liberalen Gesellschaft benutzt hat, dient ihm der Kontraktualismus jetzt als im weiteren Sinne gerechtigkeitstheoretisches, im engeren Sinne staatsrechtliches Erkenntnisverfahren«. Die geschichtsphilosophischen Aussagen müssen von den normativen Aussagen getrennt werden. Die Tatsache, dass der Naturzustand und damit auch ein ganz bestimmter Staatsgründungsakt (etwa bei Hobbes und Locke) für Rousseau in den Hintergrund treten, liegt unter anderem daran, dass er eine andere Vorstellung des vertragstheoretischen Rechtfertigungsprogramms aufzeigt. Während es bei Hobbes und Locke stellenweise so wirkt, als wäre der herrschaftliche Legitimationsakt ein einmaliges Ereignis und Ausgeburt eines entsprechenden Naturzustandes, so hat Rousseau eine viel permanentere Vorstellung vom Kriterium der Übereinkunft. Anhand des Kriteriums können wir die Organisation des Staates und seiner Gesetze einem Test unterziehen, können diese sozusagen durch ein Verfahren schicken, welches uns Gewissheit über die Legitimität verschafft: »Wenn Rousseau trotzdem seinen Gesellschaftsvertrag als ein einmaliges Ereignis darstellt, so weiß man, wie das zu verstehen ist. Es ist 15 | Zu dieser Diskussion um die kritische Abgrenzung der beiden Werke sagt auch Heyer (2006: 57): »Der Vertrag, der im 2. Discours zur Regulierung der Kriegs- und Krisensituation geschlossen wird, hat per se nichts mit dem Gesellschaftsvertrag, dem Contract Social, gemeinsam«. Damit übereinstimmend siehe auch die Betrachtungen bei Herb (2012: 34-37).

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ihm lediglich ein didaktisches Hilfsmittel, das lebendige Prinzip des Staates an einem einzigen Fall zu demonstrieren, so wie der Mediziner die Funktion des Herzens an einem einzigen seiner Schläge demonstriert – aber das Herz schlägt weiter, und das Prinzip des Staates bleibt weiter lebendig und dauernd wirkend im dauernd neu zu schließenden Gesellschaftsvertrag« (Vossler 1963: 221). Über die Gründe, die überhaupt zu einer Vereinigung der Menschen unter eine Zwangsgewalt führen, sagt Rousseau sehr wenig: Ein Zustand ohne staatliche Gewalt hat mit »Widrigkeiten« zu kämpfen, an denen die Menschen zugrunde gehen würden. Nur durch ihn können sie »neue Kräfte erzeugen« und zur »Selbsterhaltung« bleibe ihnen überhaupt kein anderes Mittel (Rousseau 1762: I, Kap. 6). Diese Probleme sind keinesfalls Schwierigkeiten, die nur zwischen den Menschen auftreten. Es ist nicht der eigennützige Wettbewerb, der zu Knappheits- und Konfliktsituationen wie bei Hobbes oder zu Schwierigkeiten der Rechtsdurchsetzung führt, wie wir sie bei Locke antreffen. Die Probleme sind äußerliche oder natürliche, die durch die entsprechende staatliche Einigung gelöst werden. Rousseaus praktischer Standpunkt, also jener Standpunkt, von dem aus wir bedenken, was akzeptiert werden könnte, ist demzufolge bereits ganz anders gelagert und von einem Kooperationswillen gekennzeichnet, der sich in Anbetracht äußerer Umstände ergibt. Folglich ist es richtig, mit Kersting zu sagen: »Rousseau entwickelt einen Kooperationskontraktualismus mit gesellschaftsgerichteter Gravitation, Hobbes und Locke hingegen entwickeln einen Konfliktregulierungskontraktualismus mit staatsgerichteter Gravitation« (Kersting 1994: 158). Wenn wir nun über die Ausgestaltung dieses Gemeinwesens, welches gewollt wird, nachdenken, so gibt es gemäß Rousseau nur eine Möglichkeit, die Gerechtigkeit der Institutionen sicherzustellen: das Kriterium der Übereinkunft. Weshalb ist es der Gesellschaftsvertrag, der uns zeigt, welche Prinzipien des Staatsrechts Legitimität beanspruchen können? Rousseau hat folgende einfache These: »Da kein Mensch von Natur aus Gewalt über seinesgleichen besitzt und Stärke kein Recht erzeugt, bleibt als Grundlage für rechtmäßige Autorität unter den Menschen nur eine Möglichkeit: Vereinbarungen« (Rousseau 1762: I, Kap. 4). Rousseau versucht im Gesellschaftsvertrag, typische Theorien über die Legitimität von Herrschaft zu entkräften. Nur weil etwas bestehe, sei es noch lange nicht rechtens, meint Rousseau. Denken wir uns die staatliche Gewalt oder die Gewalt eines Menschen über einen anderen weg, was bleibt dann übrig? Ein Mensch, der sich um seine Erhaltung kümmern muss und sein eigener Herr ist. Er kann die entsprechende Gewalt, in die er vielleicht hineingeboren wurde oder die einfach besteht, weil Staaten eben schon immer bestanden haben, akzeptieren. Aber aus welchem Grund? Die Tatsache, dass etwas einfach schon da ist, bietet keine Rechtfertigung. Ebenso kann die Akzeptanz einer Gewalt nicht aus Stärke resultieren. Das Recht der Stärke kann immer nur ein temporäres sein, denn es endet mit dem Umstand, dass die

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Macht überboten wird. Ich kann der Macht widersprechen oder ihr ausweichen, beides ist genauso legitim, wie ihr zu gehorchen. Wenn dem so ist, dann kann ich nach Rousseau nur eine einzige Quelle der Legitimität anerkennen: die eigene Zustimmung und die Einigung mit anderen. Diese Einigung wird in anderer Weise qualifiziert, als dies noch bei den individualistischen Vertragstheoretikern der Fall war. Nicht jede vorgestellte Übereinkunft kann für sich Gültigkeit beanspruchen. Ein entsprechender »Sklavenvertrag«, in dem ich all meine Rechte einseitig veräußere, scheint absurd, denn woher kämen die Gründe, eine solche Vereinbarung zu schließen? Es wäre gar ein widersprüchlicher Vertrag: »[D]er einen Seite weist er schrankenlose Macht zu, der anderen verlangt er unbegrenzten Gehorsam ab. Von einem, dem gegenüber man zu nichts verpflichtet ist, darf man alles fordern: leuchtet nicht ohne weiteres ein, dass bereits dieses völlige Fehlen eines Ersatzes oder Ausgleichs die Nichtigkeit des Aktes nach sich zieht?« (Ebd.: I, Kap. 4) Dieser Vorwurf trifft nicht nur Grotius, auf den sich Rousseau an dieser Stelle bezieht, sondern auch Hobbes. Wenn hier von »Ersatz« oder »Ausgleich« gesprochen wird, so meint Rousseau meiner Ansicht nach etwas, was die eigene Sklaverei in irgendeiner Hinsicht ebenbürtig rechtfertigen würde. Was nicht ausreicht, wäre eine kleine Kompensation, wie in etwa: »Dafür lasse ich dich am Leben«. Im Sinne der vorteilsstrebenden Auslegung von vertraglicher Übereinkunft müsste aber selbst ein solch geringer Vorteil immer noch zu einer Akzeptanz führen und damit das Arrangement rechtfertigen. Selbstverständlich kann eine rationale Vorteilhaftigkeit bei Hobbes ausgewiesen werden. Die Aufgabe der eigenen unbeschränkten Freiheit erfolgt zugunsten der Sicherheits- und Selbsterhaltungsinteressen, doch es wäre nach Rousseau ein Trugschluss anzunehmen, dass diese Gründe den Verlust der eigenen Freiheit überwiegen könnten. Ein schrankenloser Absolutismus widerspricht dem Gedanken einer freiwilligen Übereinkunft. Es wäre einerseits unklug, eine solche Vereinbarung zu treffen, andererseits untergräbt eine solche Konzeption ihre eigenen Prämissen. Wenn die Übereinkunft ihre eigenen Voraussetzungen aushöhlt, die in der freiwilligen Zustimmung liegen, dann ist sie ungültig. Die emanzipatorische Kraft des Einigungsgedankens wird von allen Vorläufern nach Rousseau maßlos verkannt, denn sie »untergraben den rechtlichen Gehalt der vertragseigentümlichen Reziprozitätsstruktur« (Kersting 1994: 152). Wenn Rousseau an eine Übereinkunft denkt, dann hat er nicht (ausschließlich) das rationale Vorteilsstreben im Sinn. Für ihn können das überhaupt keine richtigen Vereinbarungen sein, denn die Vereinbarung fordert eine Reziprozität. Nur eine wahrhaft wechselseitige Übereinkunft, in welcher einer nicht fast alles und der andere fast nichts erhält, kann auch für sich beanspruchen, von allen akzeptiert zu werden. Dies bedeutet, dass vom hobbesschen Rationalitätsmodell abgerückt werden muss. Rousseau qualifiziert die Übereinkunft noch stärker. Ich habe bereits geschildert, weshalb das Leben unter

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einer staatlichen Ordnung in Anbetracht äußerer Umstände für Rousseau als unumgänglich erscheint. Dies ist die Bedingung der Interdependenz oder wie John Rawls es ausdrückt: »Rousseau glaubt nicht, dass wir von anderen Menschen unabhängig sein können. Er sieht es als selbstverständlich an, dass wir stets in irgendeiner Form an die Gesellschaft gebunden sind und nicht ohne sie leben können« (Rawls 2012: 322). Rousseau geht so weit zu sagen, dass der Mensch nur im Zusammenleben seine menschliche Natur wahrhaft entwickeln und ausdrücken kann: »[I]n seinem Verhalten tritt die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinkts, und die Sittlichkeit prägt seine Handlungen, die ihnen zuvor fehlte. Erst jetzt, da nicht mehr der physische Trieb, sondern die Stimme der Pflicht gebietet, nicht mehr das Begehren, sondern das Rechtsempfinden, sieht sich der Mensch, der bisher nur sich selbst im Auge hatte, gezwungen, nach anderen Grundsätzen zu agieren und seine Vernunft zu befragen, ehe er seinen Neigungen Gehör schenkt« (Rousseau 1762: I, Kap. 8). Letzteres interpretiert Rawls dahingehend, dass Rousseau allen Personen »die gleiche Fähigkeit zum Gefühl für politische Gerechtigkeit und das Interesse, dementsprechend zu handeln« (Rawls 2012: 323), zuspricht. Neben der unausweichlichen Interdependenz, dem Ausdruck der eigenen Natur sowie dem Willen, nach Grundsätzen zu handeln, die wir als gerecht ansehen, kommt der unumstößliche Autonomiegedanke als alles entscheidende Kraft hinzu. Denn die freie Selbstbestimmung ist es, zu der jeder fähig ist und an der jeder ein Interesse hat. Genau deshalb stellt sich für Rousseau auch das entscheidende Problem: »Finde eine Form des Zusammenschlusses, der mit seiner ganzen gemeinsamen Kraft Person und Habe jedes einzelnen, der ihm angehört, verteidigt und beschützt und durch den dennoch jeder, indem er sich selbst mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor« (Rousseau 1762: I, Kap. 6). Mir scheint die Motivationskomponente, die bei Rousseau hinzutritt, eine entscheidende Rolle zu spielen. Eine Übereinkunft kann nur dann legitim sein, wenn sie mit Menschen geschlossen wird, die ebenso ihre Freiheit wahren und ihre Natur als gleiche Wesen mit einem Interesse an gerechten Grundsätzen ausdrücken wollen. Genau deshalb nimmt die Formel in Rousseaus Kooperationskontraktualismus folgende Form an: Rousseau-Formel: Gerechtfertigt sind genaue jene Prinzipien des Staatsrechts, welche als Gegenstand einer Übereinkunft von allen Betroffenen, die motiviert sind, miteinander zu kooperieren, um ihre Natur als freie Personen auszudrücken, rational akzeptiert werden könnten. Die grundlegende Einsicht von Rousseau ist meiner Auffassung nach, dass eine vorgestellte Übereinkunft, die einzig unter dem Paradigma des rationalen eigennützigen Vorteils stattfindet, niemals die entsprechende Reziprozitätsstruktur aufweisen kann, die wir mit Vereinbarungen verbinden. Vielleicht

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kann ich nachweisen, dass jeder einen rationalen Vorteil hat, eine Übereinkunft einzugehen, die selbst die eigene Versklavung zum Inhalt hat. Doch dies geschieht dann nur, weil jemand aus seiner willkürlich stärkeren Position den größten Nutzen herausgeschlagen hat. Was soll eine solche Ausnutzung der eigenen Stärke jedoch rechtfertigen? Rousseau zeigt uns, dass die vorgestellten Parteien eine bestimmte wechselseitige Motivation immer schon mitbringen müssen. Ich darf die Übereinkunft nicht nur als Instrument meines Vorteilsstrebens betrachten, sondern die Menschen müssen den Willen haben, mit anderen zu kooperieren und ihre Verhältnisse zu regulieren. In Rousseaus eigener Konzeption sieht dies folgendermaßen aus: Die einzige Möglichkeit, eine Einigung herbeizuführen, die ihren Namen auch verdient, besteht darin, dass der Vertragsinhalt die Wechselseitigkeit festschreibt. Dies hat die vollständige Übereignung aller eigenen Rechte an die Gemeinschaft zur Folge, von der jeder das erhält, was ihm zukommt, letztlich die Unterwerfung unter den Allgemeinwillen. Es gibt viele Kontroversen über diesen Einigungsakt. Ich selbst interpretiere ihn nicht als eine Aufgabe von Individualität oder eine vollständige Entäußerung an das Kollektive, wie es vielleicht diejenigen sagen mögen, die Rousseau für einen Vorläufer des Totalitarismus halten, sondern es werden schlicht die Bedingungen formuliert, unter denen ein gerechtes Zusammenleben miteinander überhaupt möglich ist, also ein Zustand, dem jeder vernünftigerweise zustimmen kann, ohne dass der Vertragsinhalt einseitig wird. Es ist ein Zusammenleben, in welchem der eine nicht zum Untertan des anderen wird, ein Zusammenleben, in der jede Zwangsausübung legitimiert ist. Was uns Rousseau zeigt, ist das genaue Gegenteil eines Betrugsvertrages. Es ist im Wesentlichen eine Übereinkunft, die sich der Reziprozität verschreibt: Denn »wenn jeder sich allen gibt, dann gibt sich letztlich keiner keinem; und weil man über jedes andere Mitglied das gleiche Recht erwirbt, das man ihm auch über sich einräumt, gewinnt man dabei ebensoviel, wie man abtritt, und dazu auch noch ein Mehr an Kraft, um zu bewahren, was man hat« (ebd.: I, Kap. 6). Ich will hier nicht im Einzelnen auf die spezielle staatsrechtliche Konzeption eingehen, welche Rousseau für angemessen hält. Es reicht, wenn wir festhalten: Die große Bedeutung von Rousseau liegt in einem völlig anderen Verständnis der Theorie der Übereinkunft. Meiner Ansicht nach lassen sich sowohl Hobbes als auch Locke als Denker interpretieren, die ein substanzielles Urteil darüber fällen, was Menschen für Gründe haben. Bei Hobbes sind es einzig die eigeninteressierten Gründe, die zur Verbesserung der individuellen Nutzenposition beitragen, bei Locke wiederum kommen die natürlichen Rechte von Leben, Freiheit und Eigentum hinzu, die sich diesen eigeninteressierten Gründen überstülpen. Die eigeninteressierten Gründe sind gleichzeitig jene, welche dafür sorgen, dass das gemeinsame Arrangement überhaupt in Betracht gezogen wird und die bessere Option darstellt. Ich glaube, dass

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Rousseau dies in fundamentaler Weise anders sieht. Sein Vertrag setzt eine motivationale Komponente voraus, was einer moralischen Qualifizierung der Übereinkunft gleichkommt und damit einen moralisch fairen praktischen Standpunkt ergibt. Rousseau hält die Vereinbarung nicht für eine Möglichkeit unter vielen, die sich nur als dem Eigeninteresse dienlich erweist und deshalb akzeptiert wird. Bei Rousseau verhält es sich stattdessen in der Weise, dass die Personen selbst den Wunsch haben, zu einer Einigung zu gelangen oder miteinander in Verhältnissen zu leben, die sie voreinander rechtfertigen können. Auch Immanuel Kant bezieht sich in der Nachfolge Rousseaus an vielen Stellen seiner praktischen Philosophie auf das, was die Zustimmung der Menschen finden würde oder worüber sie vernünftigerweise übereinkommen würden. Der ursprüngliche Vertrag ist jener, »auf den allein eine bürgerliche, mithin durchgängig rechtliche Verfassung unter Menschen gegründet und ein gemeines Wesen errichtet werden kann« (AA 8: 297).16 Vor allem ist die Übereinkunft jedoch ein Test, bei dem die Richtigkeit oder Gerechtigkeit einer Gesetzgebung durch die Frage bestimmt werden soll, was aus einem vereinigten Willen der Bürger hervorgehen könnte. Jene Übereinkunft sei »eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Unterthan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmt habe. Denn das ist der Probirstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes. Ist nämlich dieses so beschaffen, daß ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte (wie z.B. da eine gewisse Klasse von Unterthanen erblich den Vorzug des Herrenstandes haben sollten), so ist es nicht gerecht; ist es aber nur möglich, daß ein Volk dazu zusammen stimme, so ist es Pflicht, das Gesetz für gerecht zu halten« (AA 8: 297).

Der Vertrag ist nach Kant eine Idee. Waren andere Theoretiker in dieser Hinsicht noch missverständlich oder haben durch die Vermischung explikativer und normativer Elemente zur Verwirrung beigetragen, so ist der kritische und hypothetische Status bei Kant festgeschrieben. Kant war es, der die Idee des Sozialkontraktes, wie es Franz Neumann treffend ausdrückte, »in eine geschichtstranszendente Idee verwandelte, d.h. in ein rationales Prinzip zur Beurteilung aller empirischen Verfassungen« (Neumann 1980: 165). Wenden wir uns den verschiedenen Bestimmungen zu, welche Kant uns hier unterbreitet. Kant bietet einen hypothetischen Überlegungsprozess, welcher sich an den Gesetzgeber richtet und jenem offenbar vorbehalten ist. Um 16 | Kant wird nach der Akademieausgabe (AA) zitiert. Die erste Zahl in Klammern steht für den entsprechenden Band und die Zahl nach dem Doppelpunkt für die Seitenzahl.

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festzustellen, was für ein Gesetz für gerecht gehalten werden kann, muss er gedanklich nachvollziehen, was im Willen eines jeden Bürgers liegen könnte. Doch was ist der Wille der Bürger? Kant ist sehr vage, was den Überlegungsprozess betrifft. Wir müssen uns aber vor allem auf die Begriffe der Möglichkeit und Unmöglichkeit einer Übereinstimmung fokussieren. Die entscheidende Frage lautet: Was für Arten von Faktoren stellt sich Kant vor, die einen ursprünglichen Vertrag unmöglich machen? Es scheint mir klar zu sein, dass Kant nicht an kontingente Hindernisse denkt. Die empirische Tatsache, dass einige Menschen aus subjektiven psychologischen Gründen oder Gemütsbefindlichkeiten (wie Aberglaube, pathologisches Misstrauen oder ideologische Dogmen) ihre Zustimmung verweigern würden, bedeutet nicht, dass solch ein Vertrag unmöglich im relevanten Sinne ist. Was für Kant relevanter ist, scheint eine logische Unmöglichkeit zu sein. Für Kant ist das Richtmaß des ursprünglichen Vertrages etwas, was dem Gesetzgeber »a priori« zur Verfügung steht und auf die Widersprüchlichkeit eines Gesetzes abzielt: »Denn wenn es sich nur nicht widerspricht, daß ein ganzes Volk zu einem solchen Gesetze zusammen stimme, es mag ihm so sauer ankommen, wie es wolle: so ist es dem Rechte gemäß« (AA 8: 299). Um also bei der Anwendung des Richtmaßes gegenüber dem vorgeschlagenen Gesetz zu prüfen, ob es mit der Idee eines ursprünglichen Vertrages kompatibel ist, fragen wir danach, ob die Annahme, dass die Menschen darüber einstimmig übereinkommen würden oder nicht, widersprüchlich ist. Wann genau ist etwas in diesem Sinne widersprüchlich? Sicher ist damit nicht nur ein Widerspruch gemeint, der besagt, dass beispielsweise etwas nicht gleichzeitig verboten und erlaubt sein kann. Kant beruft sich auf die Idee eines ursprünglichen Vertrages, um zu testen, ob Gesetze oder auch Verfassungen kompatibel sind mit der Idee des Rechts und ob sie völlig konform sind mit den Anforderungen der praktischen Vernunft. Die Besonderheit des ursprünglichen Vertrages ergibt sich aus seinem Zweck: »Der Zweck nun […] ist das Recht der Menschen unter öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes Anderen Eingriff gesichert werden kann« (AA 8: 289, Hervorhebung im Original). Der Begriff des Rechts leitet sich bei Kant von dem der Freiheit ab, denn das Recht sorgt dafür, dass die Freiheit des einen mit der Freiheit des andere zusammen bestehen kann. Dies ist der ganze Zweck eines Vertrages, der bestimmte äußere Regelungen des Zusammenlebens zum Gegenstand hat. Die Idee des Rechts ist noch nicht konkret, denn aus ihr folgen noch keine genaue Institutionenordnung oder entsprechenden Gesetze. Der ursprüngliche Vertrag ist dann die weniger abstraktere Idee, anhand derer beurteilt werden kann, was die Idee des Rechts und damit den Zweck des Vertrages erfüllt. Jede Bestimmung in einer Verfassung, real oder vorgestellt, soll rational unhaltbar sein, wenn diese Bestimmung in einem ur-

2. Typologie und Traditionslinie des Kontraktualismus

sprünglichen Vertrag nicht gebilligt werden könnte, der den vereinten Willen der Menschen ausdrückt. Unglücklicherweise lassen sich bei Kant engere und weitere Arten des Verständnisses notwendiger Bedingungen für eine gedachte Übereinkunft erschließen. Nach dem engeren Verständnis ist alles, was für die Möglichkeit eines ursprünglichen Vertrages erforderlich ist, folgendes: Dass die Verfassung ein genuines System zur Regelung der äußeren Freiheit entwirft und die Gesetzgebung dem entsprechen muss. Mit der Frage, ob es einen ursprünglichen Vertrag bezüglich eines Gesetzes bestimmter Art geben könnte, prüfen wir also rein juridische Bedingungen. Wir stellen die Frage: Was ist notwendig für ein System zwingender Regeln, um eine zivile Ordnung zu konstituieren? Um dies zu bestimmen, würden wir nur auf die Idee der Rechtsstaatlichkeit zurückgreifen. Zum Beispiel würden einige vermeintlich konstitutionelle Systeme nicht akzeptiert werden, wenn sie Lücken in der Souveränitätsbestimmung haben, also uns im Grunde nicht aus einem rechtlosen Zustand herausführen und unsere äußere Freiheit nicht regeln. Diese fehlerhaften Verfassungen würden daran scheitern, die Bedingungen einer legalen Ordnung zu erfüllen. In einem weiten Verständnis zielt Kant mit dem ursprünglichen Vertrag auf einen Maßstab ab, der anspruchsvoller ist, als lediglich ein Rechtssystem im Gegensatz zu einem rechtlosen Zustand zu entwerfen. Die Frage lautet dann eher: Was für eine Verfassung oder Gesetzgebung, die wir uns erhoffen, ist moralisch vertretbar oder gerecht? Diese Frage legt die Betonung darauf, ob die legale Ordnung grundlegende moralische Prinzipien zu erfüllen hat. Die Faktoren, welche somit ausschlaggebend sind, dass ein ursprünglicher Vertrag unmöglich wird, hängen nun, so denke ich, davon ab, ob Kants Ziel in einem engeren oder weiteren Sinne aufgefasst wird. Wenn das Ziel lediglich darin besteht, ein Überprüfungsinstrument für die Etablierung eines Rechtssystems im Gegensatz zu einem rechtlosen Zustand zu bieten, dann besteht die einzige Barriere für die Möglichkeit eines ursprünglichen Vertrages darin, dass das entsprechende Rechtssystem eventuell mit der Idee einer rechtlichen Ordnung inkompatibel ist. Personen, die danach suchen, eine Rechtsordnung zu etablieren, könnten einem solchen Arrangement nicht zustimmen, weil es daran scheitert, seinem eigentlichen Zweck zu dienen und zu diesem im Widerspruch steht.17 Nehmen wir nun an, das Ziel sei es, mit der Idee des ursprünglichen Vertrages ein Richtmaß dafür zu bieten, wann eine Gesetzgebung die Standards 17 | Das einzige, was hier bei den Parteien vorausgesetzt wird, ist, diese Bedingungen zu verstehen. Mithin würde ihre Zustimmung auch rein im Sinne eines hypothetischen Imperativs zu verstehen sein. Genau deshalb kann meiner Ansicht nach Kant dann auch sagen: »Das Problem der Staatseinrichtung ist, so hart es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar« (AA 8: 366).

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der Moral unterschreitet. Dies bedeutet, dass nur diejenigen Verfassungen und Gesetze, die den Test des Vertrages erfolgreich durchlaufen, als moralisch vertretbar oder gerecht gelten können. Das Ziel ist hier nicht zu zeigen, dass eine Verfassung einen bestimmten Gehorsam einfordern kann, sondern die grundlegenden Eigenschaften identifiziert, die eine Gesetzgebung aufweisen muss, damit sie moralisch qualifizierbar ist und damit Wert ist, auf sie zu hoffen. Wenn wir somit Kritik an einer Gesetzgebung üben, dann ist es nicht nur eine Kritik im Sinne einer mangelhaften Verfassung, die dem Begriff der Rechtsstaatlichkeit nicht entspricht, sondern sie ist in einem umfassenderen Sinne kritisierbar. Was wären nun in diesem Falle die Faktoren, die eine Rolle dafür spielen, dass die Übereinkunft als möglich und nicht unmöglich gelten kann? Jede vernünftige Konstruktion der Antwort Kants muss wenigstens die grundlegenden Prinzipien des Rechts auf Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit miteinbeziehen, welche Kant in seinen politischen Schriften voraussetzt: »Diese Principien sind nicht sowohl Gesetze, die der schon errichtete Staat giebt, sondern nach denen allein eine Staatserrichtung reinen Vernunftprincipien des äußeren Menschenrechts überhaupt gemäß möglich ist« (AA 8: 290, eigene Hervorhebung). Verfassungen und Gesetze sind kritisierbar, wenn sie nicht das Resultat eines ursprünglichen Vertrages zwischen Personen sein könnten, welche diese fundamentalen Rechte besitzen. Damit sind die rationalen Standards, welche einen ursprünglichen Vertrag unmöglich machen, zugleich moralische Standards. Um zu zeigen, dass Bestimmungen inkompatibel sind, müssen die moralischen Annahmen über Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit der Person herangezogen werden. Diese werden gebraucht, um zum Beispiel erbliche politische Privilegien (vgl. AA 6: 329, 8: 297 und 351) und permanente religiöse Zwänge auszuschließen (vgl. AA 8: 39f.). Kants kontraktualistische Formel müsste also in etwa folgendermaßen formuliert werden: Kant-Formel: Gerechtfertigt sind genau jene Prinzipien des Staatsrechts, welche als Gegenstand einer Übereinkunft von allen Betroffenen unter Wahrung von Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit rational akzeptiert werden könnten. Sowohl nach dem engen als auch dem weiten Verständnis der Berufung auf den ursprünglichen Vertrag, scheint das grundlegende Muster des Vertragskriteriums bei Kant dasselbe. Das heißt, nach beiden Verständnissen werden Prinzipien des Staatsrechts verurteilt, wenn es unmöglich ist, sie als Ergebnis einer Übereinkunft anzusehen. Das weite Verständnis setzt jedoch bereits bestimmte Standards voraus, die uns sagen, zu was Personen ihre Zustimmung geben würden. Wenn es unmöglich ist, dass ein Volk zu einem bestimmten Gesetz seine Zustimmung geben könnte, dann deshalb, weil die fundamentalen Bestimmungen der Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit durch dieses

2. Typologie und Traditionslinie des Kontraktualismus

Gesetz verletzt würden. Was dies aber letztlich bedeutet, ist eine geltungslogische Nachordnung des Vertrages. Die moralischen überpositiven Voraussetzungen erhalten wir nur aus der kantischen Moralphilosophie. Eine entsprechende Deutung von Onora O’Neill (vgl. 2012: 35) hält fest, dass der Gesellschaftsvertrag ein nachgeordnetes Prinzip ist. Ihm gehen als oberstes Moralgesetz der kategorische Imperativ, welcher besagt, nur nach denjenigen Maximen zu handeln, die ich mir als allgemeines Gesetz denken kann, sowie die Idee des Rechts voraus, welches die äußere Freiheit in der Weise regelt, dass die Willkür des einen mit der Willkür des anderen zusammen bestehen kann. Die Konzeption des Gesellschaftsvertrages ist ein von diesen Prinzipien abgeleitetes konkreteres Überprüfungsinstrument für den von Kant beschriebenen Gesetzgeber. Der Vertrag erhält seine Geltung nicht durch die Ansammlung von eigennützigen Interessen oder durch eine entsprechende Motivation, sondern ist eine Folge des unbedingt geltenden Vernunftgesetzes. Die Rechtfertigung dessen, was durch den Vertrag legitimiert werden soll, findet somit auf einer vorherigen Stufe statt. Weshalb sollte der Vertrag gelten? »Die Geltungsgründe des Vertrages sind […] identisch mit den Geltungsgründen des Vernunftrechts überhaupt; und fragt man nach diesen, nach dem Grund der Verbindlichkeit des Rechts, dann verweist einen die praktische Philosophie Kants auf die Moralphilosophie, letztlich auf das Faktum der Vernunft, an dem sich der Spaten der Deduktion zurückbiegt, das für sich selbst spricht und zeugt und zusätzlicher argumentativer Begründung weder fähig noch bedürftig ist« (Kersting 1994: 211). Erweist sich jedoch diese Grundlegung bei Kant als nicht haltbar, so fällt auch die Geltung des Vertragsarguments in sich zusammen: »Der stürzende kategorische Imperativ würde dann das allgemeine Rechtsgesetz mit allen ihm anhängenden Folgeprinzipien und Folgeideen mit sich reißen« (ebd.). Für Kant ist der Vertrag somit nicht fundamental. Er ist abhängig von anderen Prinzipien. Zu den zweifellos wichtigsten Punkten, die Kants Überlegungen für die Vertragstheorie bedeuten, gehört, dass das Paradigma der individuellen Orientierung am Eigennutzen keine Verwendung findet, auch wenn dies zum Preis der Redundanz des Vertragsgedankens geschieht. Darüber hinaus hat Kant sehr klar das kontraktualistische Prinzip als ein hypothetisches Überprüfungsverfahren dargelegt und damit sämtliche Missverständnisse ausgeräumt, die seinen Vorgängern eigen waren. Ob es eine kontraktualistische Formel der Rechtfertigung des Richtigen und Gerechten geben kann, die fundamental und nicht redundant ist, ist mitunter die Aufgabe, welche uns die Tradition hinterlassen hat und welche ich hoffe lösen zu können.18 In Kapitel 8 18 | Einige Interpreten, welche das Vertragskriterium bei Kant ebenso für redundant halten, weil es keinerlei oder nur eine sehr begrenzte theoretische Funktion erfüllt, sind etwa Hespe (1995), Leist (2003) oder O’Neill (2012).

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werde ich mich noch eingehender mit Kant beschäftigen und die kontraktualistische Formel im Gegensatz zum kategorischen Imperativ behandeln. Die vorangegangene Diskussion hat jedoch gezeigt, wie sich der Kontraktualismus in seiner reinen Kriterien-Lesart verstehen lässt und welche Entwicklungen er genommen hat. In der Weise, wie die Vertragstheoretiker die Legitimierung staatlicher Zwangsgewalt oder der Prinzipien des Staatsrechts vollzogen haben, lässt sich auch eine allgemeinere kontraktualistische Theorie des Rechten ausarbeiten, welche auf interpersonelle Beziehungen angewandt wird. Dies haben einige moderne Kontraktualisten vollzogen und an diese Gedanken werde ich anknüpfen.

3. Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens

Im Folgenden wende ich mich der zweiten zentralen Begrifflichkeit, der von mir formulierten kontraktualistischen Formel zu (die erste Begrifflichkeit betraf den hypothetischen Charakter, der sich durch das »könnte« ausdrückt). Nach dieser Formel werden die »Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens« gerechtfertigt. Ich werde darlegen, was für eine besondere Klasse von Prinzipien dies ist. Zunächst ist zu sagen, dass die Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens einen deutlich weitreichenderen Rechtfertigungsgegenstand beinhalten, als dies beim klassischen Kontraktualismus der Fall war. Der klassische Kontraktualismus versteht sich ausschließlich politisch und zwar in dem Sinne, dass er sich der Aufgabe der Rechtfertigung von Herrschaft annimmt. Ich glaube, dass ein in dieser Weise verstandener Kontraktualismus sich selbst in höchstem Maße einschränkt und im Zweifel abhängig von einer Moralphilosophie bleibt, welche die Geltung des kontraktualistischen Kriteriums bestimmt. Ich werde darlegen, dass der Kontraktualismus sich auf die Regelung von Beziehungen von Menschen im Allgemeinen bezieht und somit auf eine umfassende moralisch-politische Rechtfertigung dessen, was wir voneinander erwarten und voneinander fordern können. Einige moderne Kontraktualisten haben ihre eigene Theorie in einem solchen umfassenden Sinne verstanden, wie ich zeigen werde. Nachdem ich diese Unterscheidung bezüglich des Gegenstandsbereichs in klassischen und moderneren Theorien des Gesellschaftsvertrages vorgenommen habe, werde ich genauer ausführen, welche Bereiche die Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens genau umfassen. Ich werde einige wichtige Differenzierungen vornehmen und erklären, in welchem Sinne dies Prinzipien der interpersonellen Moral oder der Gerechtigkeit sind. Dabei werde ich verdeutlichen, dass auch der moralphilosophische Anspruch des Kontraktualismus eingeschränkt ist. Er ist keine allgemeine moralische Lehre, welche sich auf alles anwenden lässt, was unter dem Begriff der Moral häufig subsu-

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miert wird. Die Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens umfassen nur den Teil der Moral, der einen engeren interpersonellen Bezug hat. Daran anschließend stellt sich die Frage, weshalb überhaupt von einer Prinzipienrechtfertigung ausgegangen werden sollte. Wäre es nicht deutlich angemessener, einzelne Handlungen zu bewerten? Wie verhält sich im Übrigen die kontraktualistische Formel, die so etwas wie ein oberstes Beurteilungsprinzip darstellt, gegenüber denjenigen Prinzipien, die es zu begründen gilt? Ich werde mich zuerst dem Gegenstandsbereich annähern, indem ich zwischen politischem und moralphilosophischem Kontraktualismus unterscheide (Kapitel 3.1.). Anschließend werde ich diesen Gegenstandsbereich präzisieren und ihn von anderen möglichen Gegenstandsbereichen oder Prinzipienarten abgrenzen (Kapitel 3.2.). Zuletzt lege ich dar, weshalb man sich überhaupt mit dem Nachdenken über Prinzipien beschäftigen sollte und welchen Vorteil dies hat (Kapitel 3.3.).

3.1. E in mor alphilosophischer K ontr ak tualismus Die Auseinandersetzung mit den klassischen Kontraktualisten hat die vertragstheoretische Argumentation vor Augen geführt. Beschränkt wird diese Argumentation jedoch einzig auf die Bedingungen der politischen und rechtlichen Gemeinschaft, wo es um Fragen der Herrschaftslegitimation und Herrschaftslimitation geht. Die Klassiker beschränkten sich auf die staatliche Zwangsgewalt, weshalb sich diese Theorien in Anbetracht ihres Gegenstandes auch als »staatsphilosophischer Kontraktualismus« (Kersting 1994: 51) bezeichnen lassen. Die Frage nach der Legitimität des Staates ist die entscheidende politikphilosophische Frage, die sich von Hobbes bis Kant stellt. Wie kann eine solche Zwangsgewalt gegenüber Menschen gerechtfertigt werden? Wenn der Mensch nicht mehr primär ein Gemeinschaftswesen ist, dann stellt sich die Frage nach den Gründen, die er hat, in einer solchen Gemeinschaft zu leben und durch diese Gemeinschaft zu etwas gezwungen zu werden. Staatliche Zwangsinstitutionen werden als etwas Konstruiertes gedacht, das von den Menschen selbst geschaffen wird und durch ihren Willen besteht. Moderne Kontraktualisten haben dieses Kriterium der Übereinkunft ausgeweitet und den Gegenstandsbereich verändert. Nicht länger ist die Übereinkunft ausschließlich auf die Staatslegitimierung oder auf die Prinzipien des Staatsrechts allein beschränkt. Nun ist der Gegenstand auf allgemeine moralische Prinzipien überhaupt gerichtet oder, wie ich es ausdrücken würde, auf den Bereich der Moral von Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens, womit sämtliche Beziehungen eingeschlossen sind, die unsere wechselseitigen Rechte und Pflichten betreffen und die wir gerechtfertigt einfordern können. Es ist demzufolge in erster Linie entscheidend, dass es um die Richtigkeit oder

3. Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens

Falschheit eines Prinzips geht, welches etwas mit unserem gegenseitigen Verhalten zu tun hat. Was darf ich vom anderen verlangen und was nicht? Die entsprechende Durchsetzung jener Prinzipien durch gerechtfertigte staatliche Institutionen ist dann der Gegenstandsbereich eines politischen Kontraktualismus. Doch welche Rechte und Pflichten haben wir überhaupt, von denen wir vielleicht wollen können, dass sie auch durch staatliche Zwangsgewalt erzwungen und gesichert werden können? Bevor ich zur näheren Erläuterung schreite, was solche Prinzipien genau bedeuten, was sie abdecken und was die Idee eines moralischen in Vorbereitung auf einen politischen Kontraktualismus bedeutet, werde ich diese Unterscheidung in den Kontext der klassischen Vertragstheorie einbetten. Für die klassischen Vertragstheoretiker stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung allgemeiner moralischer Normen nicht in dieser radikalen Weise. Das Argument der Übereinkunft hat nicht diese umfassende Bedeutung, denn in Fragen der Moral und der allgemeinen Prinzipien zur Regulierung des gegenseitigen Verhaltens folgten sie eher den traditionellen naturrechtlichen Pfaden. Erinnern wir uns beispielsweise an die Konzeption von John Locke. Sein natürliches Gesetz ist eine Aneinanderreihung von moralischen Vorschriften, die auch außerhalb jeder staatlichen Ordnung Geltung haben sollen. Der wichtige Grundsatz lautet, dass »niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll« (Locke 1689: § 6, Hervorhebung getilgt). Oder auch: Der Mensch »sollte nicht das Leben eines anderen oder, was zur Erhaltung des Lebens dient: Freiheit, Gesundheit, Glieder oder Güter wegnehmen oder verringern«. Darüber hinaus ist jeder verpflichtet, »sich selbst zu erhalten und seinen Platz nicht vorsätzlich zu verlassen« und »aus dem gleichen Grunde, und wenn seine eigene Selbsterhaltung nicht dabei auf dem Spiel steht, nach Möglichkeit auch die übrige Menschheit erhalten« (ebd., Hervorhebung getilgt). Diese moralischen Vorschriften im Sinne des natürlichen Gesetzes gelten zu allen Zeiten und für alle Menschen und sind somit auch der Maßstab, an dem sich die staatlichen Gesetze zu orientieren haben. Diese sollen bestmöglich mit dem natürlichen Gesetz zusammenstimmen. Eine Übereinkunft ist nur dann möglich, wenn diese Moralvorschriften geachtet werden. Woher bezieht das natürliche Gesetz seine Autorität? Nicht durch die Tatsache, dass wir uns alle vernünftigerweise auf diese Vorschriften einigen könnten, sondern einzig aus der Autorität Gottes. Da die Menschen Locke zufolge Gottes Eigentum sind, haben sie nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Pflicht zur Selbsterhaltung. Aus diesem natürlichen Gesetz wird nun wiederum ein Eigentumsrecht abgeleitet, denn um sich selbst zu erhalten, muss sich der Mensch etwas aneignen. Wir sehen also, dass bestimmte moralische Pflichten und Rechte oder die Institution des Eigentums keine Gegenstände einer Übereinkunft sind, sondern in ganz anderer Weise abgeleitet wurden. Locke vertritt eben keine allgemeine Vertragstheorie,

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sondern nur eine für den entsprechenden Bereich der Rechtfertigung staatlichen Zwanges und der Pflicht zum Gehorsam gegenüber diesem Zwang.1 Auch Hobbes kennt eine ganze Reihe von »natürlichen Gesetzen« wie das grundlegende Gesetz, dass »jedermann nach Frieden streben soll«, oder das daraus abgeleitete Gesetz, »diesem Recht auf alle Dinge zu entsagen und mit so viel Freiheit gegen andere zufrieden zu sein, wie er anderen gegen sich selbst zugestehen würde« (Hobbes 1651: XIV, 108). Auf diese sehr wichtigen Naturgesetze folgt noch ein ganzer Katalog, der sich von der Einhaltung von Verträgen über die Entsagung von Hochmut bis zur Verwehrung von Selbstjustiz erstreckt. Diese Gesetze folgen nicht daraus, dass sie aus einer Übereinkunft hervorgehen würden. Hobbes leitet sie sämtlich von einem einzigen Naturrecht ab: Dieses Recht ist »die Freiheit, die jeder Mensch besitzt, seine eigene Macht nach Belieben zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, zu gebrauchen und folglich alles zu tun, was er nach seiner eigenen Urteilskraft und Vernunft als das hierfür geeignetste Mittel ansieht« (ebd.: XIV, 107). Welchen Status haben diese Gesetze bei Hobbes? Eine theologische Begründung klingt zumindest in Teilen an, indem er sagt, »die Gesetze Gottes sind […] keine anderen als die Naturgesetze« (ebd.: XLIII, 495, ähnlich auch XLII). Außerdem hält er sie für »unveränderlich und ewig« (ebd.: XV, 133). Aber bei Hobbes ist diese göttliche Unterlegung nicht notwendig. Vielmehr sind es Klugheitsgebote, deren Einhaltung in Anbetracht der Unerträglichkeit des Naturzustandes für jeden rational ist. Sie dienen dem eigenen Vorteil und sind exakt dann obsolet, wenn sie dem eigenen Vorteil nicht mehr förderlich

1 | Bei Locke gibt es außerdem noch Pflichten gegenüber Gott oder Pflichten gegenüber der Familie: »Gott hat die Eltern zu den Werkzeugen seiner großen Absicht gemacht, das Menschengeschlecht und die Lebenschancen für ihre Kinder fortdauern zu lassen, und ihnen die Verpflichtung auferlegt, ihre Nachkommen zu ernähren, zu erhalten und aufzuziehen. Er hat aber auch den Kindern eine ewige Verpflichtung auferlegt, ihre Eltern zu ehren. (Locke 1689: § 66, Hervorhebung im Original); eine Pflicht, Unschuldige zu schützen: »Denn da das Grundgesetz der Natur verlangt, dass die Menschheit so weit wie möglich erhalten werden soll, ist die Sicherheit des Unschuldigen vorzuziehen, wenn schon nicht alle erhalten werden können« (ebd.: § 16). Bei der Frage des Eigentums können wir uns nach der natürlichen Vernunft oder nach der Offenbarung richten, »die sagt, dass die Menschen, nachdem sie einmal geboren sind, ein Recht auf Erhaltung haben und somit auf Speise und Trank und anderen Dingen, die die Natur für ihren Unterhalt hervorbringt«. Locke bemüht sich »darzustellen, wie Menschen zu einem Eigentum an einzelnen Teilen dessen gelangen konnten, was Gott der Menschheit gemeinsam gegeben hat, und das ohne einen ausdrücklichen Vertrag mit allen anderen Menschen« (ebd.: § 25, Hervorhebung im Original). All diese Pflichten sind also weit davon entfernt, vertragstheoretisch begründet zu werden.

3. Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens

sind. Diese von Hobbes dargebotenen Gesetze wären in Anbetracht des Ziels der Selbsterhaltung oder einer guten Lebensführung einzuhalten. Halten wir fest: Es gibt in der hobbesschen Argumentation nicht nur den Schritt vom Naturzustand zum Rechtszustand. Es findet sich noch eine moralphilosophische Argumentation dazwischen: »Auf den a-moralischen Kriegszustand ohne Recht und Gerechtigkeit folgen also zunächst der vor- und überpositive Vernunftzustand mit rechtsmoralischen und schließlich der für Hobbes entscheidende Staatszustand mit positiven Begriffen von Recht und Gerechtigkeit« (Höffe 2010a: 140). Das entscheidende politische Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass die rational einsehbaren moralischen Grundsätze zwar bestehen mögen und für Hobbes in Anbetracht der menschlichen Natur auch ewig und unveränderlich sind, aber ihre Einhaltung nicht garantiert ist. Da ich nicht sicher sein kann, dass andere sich ebenso an diese Grundsätze halten, besteht für mich kein Grund, mich zwingend an sie zu halten. Sie sind als Klugheitsgebote auch nicht in der Weise verpflichtend wie das natürliche Gesetz bei Locke. Der latente Kriegszustand bleibt bestehen, obwohl ich in meiner Klugheit erkannt habe, was eigentlich zu tun wäre. So entstehen die entsprechenden Gründe für jeden Einzelnen, eine staatliche Zwangsgewalt zu wollen und eine Übereinkunft mit anderen einzugehen: »Die Naturgesetze verpflichten in foro interno, das heißt, sie zwingen zu dem Wunsch, dass sie Platz greifen mögen; aber nicht immer in foro externo, das heißt zu ihrer Umsetzung in die Tat« (Hobbes 1651: XV, 132, Hervorhebung im Original). Damit solche Grundsätze erfüllt sind, mithin auch Vertragstreue gewährleistet werden kann, bedarf es einer Institution, die sich über die Parteien erhebt und mächtiger ist als sie, um eine Garantie zu ermöglichen und entsprechend Sanktionen auszusprechen. Genau dafür ist der Vertrag erforderlich. Bei Kant wiederum ist das Vertragskriterium ebenso auf die staatliche Dimension beschränkt. Der Kontrakt ist bei Kant noch nicht das allgemeine Kriterium des Rechten, vielmehr wird der kategorische Imperativ in einem äußerlichen Sinne realisiert, indem Zwangsgesetze aufgestellt werden. Der Vertrag setzt den kategorischen Imperativ voraus, der uns bereits a priori zur Verfügung steht, samt Rechtsgrundsatz und Vernunftrecht von Freiheit und Gleichheit. Es sind jene bereits vorvertraglich vorhandenen Rechte, Pflichten beziehungsweise Normen, die durch eine entsprechende staatliche Zwangsgewalt durchgesetzt werden. In Anbetracht dieser Überlegungen erscheint es fast, als trieben die Klassiker der Vertragstheorie ihre Idee nicht weit genug. Sie halten sich teilweise mehr an die Tradition des Naturrechts oder überführen dieses in ein Vernunftrecht. Sie halten vielleicht den Staat für etwas durch Übereinkunft Konstruiertes, nicht aber die moralischen Prinzipien des Miteinanders, die sie auf andere Art ermitteln. Die mögliche Zustimmung zu einem entsprechenden Gegenstand nimmt deshalb einen eingeschränkteren Platz in ihren Theorien ein.

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Wie Kurt Bayertz es sehr treffend ausdrückt, ist die Übereinkunft »nicht konstitutiv für die Geltung der moralischen Regeln; sie ist lediglich das Medium ihrer Durchsetzung. Anders ausgedrückt: Zustimmung oder Ablehnung betreffen nicht die moralische, sondern nur die soziale Geltung einer Regel. Die modernen Konsenstheorien der Moral hingegen führen nicht nur die soziale, sondern gerade die moralische Geltung von Normen auf Zustimmung und Konsens zurück« (Bayertz 1996: 65, Hervorhebung im Original).2 Das moderne kontraktualistische Projekt ist also in gewisser Weise deutlich umfangreicher. Wo einst die moralischen Voraussetzungen der politischen Kontraktualisten hinterfragt wurden, wird von modernen Kontraktualisten der Versuch unternommen, auch diese moralischen Voraussetzungen kontraktualistisch zu rechtfertigen. Der Gegenstandsbereich wird ausgeweitet. Nicht länger steht das staatsphilosophische Problem von Herrschaft und Zwang als einziges Problem im Fokus, stattdessen soll die Übereinkunft ein Erkenntniskriterium für Prinzipien bieten, die uns sagen, welche moralischen Rechte und Pflichten wir rechtfertigen können. Die Nachfolger von Hobbes oder Kant haben versucht, eine umfangreichere Vorstellung von Moral und Politik zu entwickeln. Eine solche Wandlung hin zum moralisch verstandenen Kontraktualismus besteht schon im Falle von John Rawls, der ein vertragstheoretisches Programm in kantischer Tradition vorlegte, dessen Begründungsanspruch sich über die Legitimitätsfragen des Staates ausweitet und zu einer allgemeineren moralischen Betrachtung gelangt.3 Nun sind weit umfassendere Prinzipien der Gerechtigkeit gemeint, welche die Verteilung von Rechten und Pflichten ebenso beinhalten wie die Verteilung von Gütern und Ämtern in einer Gesellschaft. Rawls konzentriert sich jedoch spezifisch auf die Grundstruktur der Gesellschaft, unter der er »deren wichtigste politische, soziale und wirtschaftliche Institutionen und die Art und Weise, in der sie sich zu einem ein2 | Ähnlich auch Niedringhaus (2014: 88): »Die neuzeitliche Vertragstheorie wollte Staat und Herrschaft legitimieren und das Natur- bzw. Vernunftrecht wirksam öffentlich implementieren«. An anderer Stelle heißt es: »Was ist der Gegenstand des Vertrages? Der Vertrag kann entweder Normen und Prinzipen enthalten (Rawls, Gauthier, Stemmer) oder den Staat selbst (alle neuzeitlichen Vertragstheoretiker sowie Nozick und Buchanan)« (ebd.: 85). 3 | Zu dieser Auffassung siehe auch Leist (2003: 3): »Vertragstheorien sind vor J. Rawls überwiegend staatspolitische Theorien, in klarer Abgrenzung zu solchen der Moral. Erst Rawls versucht mit seiner Theorie der Gerechtigkeit eine Synthese, unter deutlichem Vorrang der Moral gegenüber den demokratischen Institutionen«. Siehe auch Niedringhaus (2014: 90) über Rawls: »Ihn interessiert nicht die staatliche Form, sondern der moralische Inhalt der Prinzipien. Das verbindet seine Theorie mit anderen allgemeinen und umfassenden Moraltheorien, ohne dass er diesem allgemeinen und umfassenden Anspruch gerecht werden will.«

3. Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens

heitlichen, Generationen übergreifenden System sozialer Kooperation zusammenfügen« versteht (Rawls 2003: 76; vgl. auch Rawls 1979: 23, 1992a). Auf genau diese Grundstruktur werden die Prinzipien angewandt. Das vertragstheoretische Argument umfasst nicht einfach nur die Legitimität einer staatlichen Zwangsgewalt, sondern es wird allgemeiner gefragt, welche Prinzipien für die Grundstruktur der Gesellschaft vernünftigerweise akzeptiert werden könnten. Fürs erste möchte ich nur aufzeigen, dass der Gegenstand, auf welchen das Kriterium der Übereinkunft angewandt wird, sich bereits bei Rawls, dem Wiederentdecker der Vertragstheorie, verändert hat.4 Deshalb werde ich noch nicht auf die spezifischen Eigenschaften seiner Theorie eingehen. Festzuhalten ist jedoch, dass es von Rawls’ Theorie aus nur noch ein kleiner Schritt ist, sämtliche interpersonellen Pflichten, die Menschen untereinander haben können, oder auch die Rechte, die sie voneinander (und natürlich in einem nächsten Schritt von entsprechenden Institutionen) einfordern können, zum Gegenstand einer kontraktualistischen Theorie zu machen.5 Eine Überlegung von Hamlin (1991: 90f.) mag uns an dieser Stelle mehr Klarheit verschaffen, indem dieser zwischen einem lokalen und einem globalen Kontraktualismus unterscheidet: »In seiner ambitioniertesten Form, kann der Kontraktualismus als eine ethische Theorie angesehen werden, wobei die Bewertung sozialer Institutionen nur ein Aspekt des gesamten Sozialvertrages darstellt. […] Alternativ kann der Kontraktualismus als auf eine lokale Sphäre 4 | Hier meint Kevin Dodson (1995: 757, Übers. d. Verf.) auch den wesentlichen Fortschritt von Rawls gegenüber seinem Vorbild Kant entdeckt zu haben: »Rawls interpretiert den Gesellschaftsvertrag als eine theoretische Konstruktion, von welcher wir substanzielle Prinzipien der Gerechtigkeit ableiten können. Konsequenterweise sind diese Prinzipien der kontraktualistischen Konstruktion nachgeordnet. Aber für Kant ist die kontraktualistische Konstruktion kein konzeptionelles Mittel für die Generierung von Prinzipien; eher ist es eine Idee, welche für uns ein Modell der Zivilgesellschaft generiert, welches […] als Anleitung für die Transformation der tatsächlichen Welt verwendet wird. Die […] Prinzipien der Gerechtigkeit sind somit nicht der kontraktualistischen Konstruktion nachgeordnet, sondern logisch vorgeordnet, indem sie die Konstruktion bestimmen.« Müssen wir im Falle von Kant also bestimmte Prinzipien bereits voraussetzen, so möchte Rawls solche gerade erst begründen. Ich werde später noch darauf zu sprechen kommen, dass Rawls seine ganz eigenen moralischen Voraussetzungen hat, die der kontraktualistischen Konstruktion wiederum vorgeordnet sind. Aber generell ist Dodson in dem Sinne zu folgen, dass mit dem kontraktualistischen Kriterium ein weitreichenderes Ziel verfolgt wird und die Konstruktion gegenüber dem, was zu rechtfertigen ist, deshalb nicht in der Weise redundant ist wie bei Kant. 5 | Zu diesen Kontraktualisten mit einem weitgehenden moralischen Gegenstand gehören vor allem David Gauthier (1986), Gerald Gaus (1990), Thomas Scanlon (1998, 2003), Peter Stemmer (2002) oder Stephen Darwall (2006).

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eingeschränkt angesehen werden – zum Beispiel die politische Sphäre, die lediglich mit Fragen sozialer Organisation beschäftigt ist. […] Somit […] muss die globale Sicht des Vertrages individuelle Rechte in einem Vertragsprozess fundiert sehen, anstatt andersherum, während die lokale Sicht des Vertrages in der Lage sein mag, Rechte und den Vertragsprozess als unabhängige Beiträge für die normative politische Analyse zu akzeptieren« (Hamlin 1991: 90f., Übers. d. Verf.). Der moralische und damit globale Kontraktualismus muss demzufolge selbst die Rechte von Individuen als Ergebnis einer hypothetischen Übereinkunft darstellen können. Der lokale Kontraktualismus, wie er in den staatsphilosophischen Theorien der Klassiker zum Ausdruck kommt, setzt teilweise bestimmte Rechte voraus, um sich dann den Institutionen zuzuwenden. Damit weist er immer eine Rechtfertigungslücke auf. Nun mag es auf den ersten Blick nicht einfach sein, eine Trennung zwischen moralischen und politischen Vertragstheorien zu ziehen. Selbstverständlich ist die rawlssche Theorie eine politische Theorie, da sie Prinzipien rechtfertigt, die sich auf einen spezifisch politischen Gegenstand beziehen, eben die Grundstruktur der Gesellschaft, wobei Rawls auch eine explizite Theorie darüber hat, wie diese Gerechtigkeitsgrundsätze sich durchsetzen lassen.6 Entscheidend ist aber die moralische Beurteilung jenes Gegenstandes oder der Prinzipien, die sie regulieren sollen. Prinzipien, die das gemeinsame Zusammenleben betreffen und nicht den Test der vernünftigen Übereinkunft überstehen, sind ungerecht, unmoralisch oder falsch. Rawls tut nichts anderes, als ein moralisches Kriterium auf einen (typisch) politischen Gegenstand anzuwenden. Wir können das Vertragskriterium jedoch auch ganz allgemein als normatives Prüfverfahren nutzen, denn »für einen so verstandenen Kontraktualismus unterscheidet sich normative politische Theorie und Individualethik nur im Gegenstand der Beurteilung (das kontraktualistische Kriterium ist dagegen für den gesamten Bereich der normativen Theorie gültig)« (NidaRümelin 1999: 31).7 Das spezifische Defizit eines klassischen politischen Kontraktualismus (nicht unbedingt eines modernen wie jenen von Rawls, obwohl es hier andere 6 | So formuliert Steinvorth, dass die Theorie von Rawls »nicht nur eine Gerechtigkeits-, sondern auch eine politische Theorie [ist], weil sie nicht nur Gerechtigkeitsgrundsätze formuliert und zu begründen sucht, sondern auch Regeln ihrer Durchsetzung oder Verwirklichung« (Steinvorth 1999: 17, Hervorhebung im Original). 7 | Auch Schmidt (2000: 28, Fn. 10) betont, dass es zwischen den Rechtfertigungskonzeptionen bezüglich politischer Herrschaft und denjenigen der moralischen Normen keine scharfe Trennlinie gibt, zumal auch Grund besteht, politische Gerechtigkeit mit politischer Moral gleichzusetzen. Schmidt selbst versucht deshalb, den Gegenstandsbereich kontraktualistischer Rechtfertigung in seiner eigenen Arbeit nicht im Vorhinein festzulegen.

3. Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens

Schwierigkeiten gibt, auf die ich noch zu sprechen komme) liegt meiner Ansicht nach darin, dass er viele andere Dinge schon voraussetzen muss, bevor das Legitimationskriterium seine Wirkung entfaltet. So ist bei John Locke das Eigentum als soziale Institution kein Gegenstand, welcher der vertraglichen Begründung bedarf. Eigentum wird im moralischen Naturrecht begründet. Das anschließende Vertragskriterium überprüft lediglich die entsprechenden politischen Institutionen, die unter anderem dieses Naturrecht wahren. Mit der Nachlagerung des Vertragskriteriums hinter den kategorischen Imperativ und dem Vernunftrecht verhält es sich bei Kant nicht anders. Das Vertragskriterium ist in vielfacher Weise abhängig von den moralphilosophischen Betrachtungen, die zuvor angestellt wurden. Der moralische Kontraktualismus ist dagegen umfassender, weil er auch moralische Rechte durch ein Vertragskriterium und nicht durch ein andersartiges oder ergänzendes Begründungsprogramm rechtfertigen möchte. Gefordert scheint eine umfangreiche moralischpolitische Lösung. Wenn wir staatliche Institutionen, Rechte oder Pflichten beurteilen, brauchen wir dafür Maßstäbe. Wann sind sie richtig, wann sind sie falsch? Betrachten wir dazu, was Robert Nozick über die Rangordnung von politischer Philosophie und Moralphilosophie sagt: »Die Moralphilosophie liefert den Hintergrund und die Grenzen der Philosophie der Politik. Was die Menschen einander antun dürfen und was nicht, das setzt auch die Grenzen dafür, was sie durch den Staatsapparat tun oder zu seiner Errichtung unternehmen dürfen. Die moralischen Verbote, die durchgesetzt werden dürfen, sind der Ursprung jeglicher Berechtigung, die die grundlegende Zwangsgewalt des Staates überhaupt haben kann« (Nozick 2006: 26). Erst wenn wir ein Kriterium haben, anhand dessen wir unsere moralischen Grundsätze einem Rechtfertigungstest unterziehen können, können wir auch bestimmen, was für staatliche Arrangements legitim sind. Wir könnten somit vielleicht behaupten, dass der moralphilosophische den Boden für den politischen Kontraktualismus bereitet. Ohne moralische Beurteilungskriterien sind wir auf rechtlicher Ebene vielleicht nur Positivisten und auf der Ebene des Politischen vielleicht nur Dezisionisten. Diese Bereiche, die allesamt praktische Bereiche sind, lassen sich nur schwer voneinander entkoppeln. Dies heißt, dass wir im Sinne des Kontraktualismus nach umfangreichen politischmoralischen Beurteilungsmaßstäben suchen müssen.8 Moralische Prinzipien, 8 | Nach Rainer Forst (2007) können diese Bereiche auch als »integriert« betrachtet werden. Die grundlegend unterschiedliche Ebene sollte aber ebenso betont werden wie die Tatsache, dass meist zu unbedarft mit moralischen Grundsätzen in die politische Philosophie eingetreten wird, die nirgendwo ihre Rechtfertigung erfahren: »Es muss vielmehr eine integrierte Zweistufigkeit von moralischer und politischer Rechtfertigung (und Konstruktion) basaler Grundprinzipien geben, dergestalt, dass sich erste als logischer und normativer Kern von letzterer, von einer jeden Rechtfertigung einer konkre-

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welche auf die Regulierung des Zusammenlebens bezogen sind, haben als Forderungen nach Gerechtigkeit einen irreduziblen politischen Charakter. Um für weitere Aufklärung bezüglich des Gegenstandes der Rechtfertigung zu sorgen, werde ich im Folgenden näher untersuchen, was die Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens beinhalten und wie sie sich von anderen Prinzipien abgrenzen lassen.

3.2. E rkl ärung der P rinzipien zur R egulierung des Z usammenlebens Eine Theorie der Übereinkunft kann nicht auf alle Bereiche dessen angewandt werden, was gemeinhin als Moral bezeichnet wird. Konkret behandle ich den Kontraktualismus als eine Theorie, welche die Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens rechtfertigt, wie dies meiner Auffassung nach viele moderne Kontraktualisten, aber auch andere normative Theorien zum Ziel haben. Es sind Prinzipien, die einen unabweisbar interpersonellen Bezug haben. Übereinstimmend mit Habermas sage ich: »Die Grundfrage der Moral besteht darin, wie interpersonelle Beziehungen legitim geregelt werden können« (Habermas 1999: 302). Zusammenleben kann dabei weit verstanden werden, sei es in unmittelbarem Kontakt, in einer besonderen Gesellschaft oder auch als Zusammenleben auf der Welt überhaupt, also als jegliche Formen, in denen Menschen auf andere Menschen Einfluss ausüben. Mit den Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens ist demnach gleichsam eine bestimmte These darüber verbunden, womit wir es in moralischen Fragen zu tun haben. Dies impliziert jedoch ebenso, dass nicht alle Bereiche eingeschlossen werden können, welche darüber hinaus noch gemeinhin zur Moral gerechnet werden. Auch wenn der Kontraktualismus nicht als Überlegungsprozess für die gesamte Moral dienen kann, so betrifft dies dennoch den großen Bestandteil, der unsere Beziehungen zu anderen regelt. Einige Bereiche, die für gewöhnlich durchaus und abseits von der habermasschen Vorstellung dem Moralischen zugeordnet werden, betreffen keine ten politisch-sozialen Grundstruktur, identifizieren lässt. Weder kann die moralische Rechtfertigung der Rechte, deren Anerkennung sich Personen schulden, ganz in einer Rekonstruktion der normativen Implikationen der rechtlichen Institutionalisierung demokratischer Selbstbestimmung aufgenommen werden, noch können ihr diese Rechte bzw. Prinzipien quasi als ›externe‹ Moral gegenübertreten, die nur in der rechtlichen Wirklichkeit reproduziert werden muss« (Forst 2007: 170). Nach Forst würde sich meine Darstellung exakt auf den letzten Punkt beziehen. Ich werde die Möglichkeit eines solchen integrativen Standpunktes jedoch hier nicht weiter behandeln können. Mir geht es, wenn man so will, um den »normativen Kern«.

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Prinzipien dessen, wie wir unser Verhalten im Zusammenleben mit anderen regulieren müssen. Dies kann verschiedene Bereiche betreffen, unter die sicherlich die folgenden Fallen: Moralische Pflichten gegen sich selbst, Lebenspläne im Sinne von Dingen, die man für sich selbst erreichen möchte, oder persönliche Ideale oder Tugenden im Sinne dessen, was besonders wertgeschätzt wird. Bestimmte »moralische« Kritik wird auch dann geäußert, wenn es gar nicht um einen interpersonellen Bezug geht. Beispielsweise mag jemand kritisieren, dass ich mich selbst vernachlässige, mich gehen lasse und nichts dafür tue, mein Leben in einer bestimmten Weise zu »vervollkommnen«. Vielleicht mag es jemand auch für moralisch verwerflich halten, dass ich oft betrunken oder geizig bin. Natürlich lassen sich in diesen Zusammenhängen auch interpersonelle Bezüge herstellen. So kann ich mit meiner Trunkenheit anderen schaden. Dann wäre es eine moralische Kritik, die auch einer interpersonellen Beurteilung zugänglich ist. Aber eine Kritik vor dem Hintergrund, dass Geiz und Trunkenheit »schlechte Werte« an sich sind, fällt nicht in einen Bereich von Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens. Das beste Beispiel ist vielleicht immer noch, wenn wir von der sogenannten »Sexualmoral« sprechen. Dies mag insbesondere Ausdruck einer in bestimmter Weise gewachsenen christlichen Moralvorstellung sein. Wenn wir Moral primär so verstehen, wie wir uns gegenüber anderen Wesen zu verhalten haben, dann sollte die sexuelle Orientierung kein Teil möglicher moralischer Kritik sein. Weshalb ist dies so? Wir müssten in irgendeiner Weise einen fundamentalen moralischen Wert rechtfertigen, der es uns erlaubt, auch diejenigen Angelegenheiten für moralisch verwerflich zu halten, die wir nur mit unserem eigenen Gewissen ausmachen. Dies zu tun, führt meist in metaphysische Gefilde und theologische Begründungsmodelle. Genau deshalb werden bestimmte Praktiken in der christlichen Moralvorstellung bis heute mit Verboten belegt, ohne dass dabei überhaupt ein interpersoneller Bezug hergestellt werden muss. Hier werden innere Haltungen kritisiert, nicht jedoch das äußerliche Verhalten gegenüber anderen. Natürlich kann es auch im kontraktualistischen Sinne der Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens zu moralischer Kritik in sexuellem Kontext kommen. Bezieht sich unser Sexualverhalten auf andere, dann kann es Prinzipien geben, die dies einschränken. Dann wird jedoch keine Orientierung an sich kritisiert, sondern der spezifisch interpersonelle Bezug, der dadurch hergestellt wird. Wir können dies dann beispielsweise anhand eines Prinzips kritisieren, welches gebietet, selbst über seinen Körper verfügen zu können und selbst zu bestimmen, was mit ihm geschieht. Vergewaltigung ist ein Akt der Gewalt, der durch ein solches Prinzip verboten würde. Aber Präferenzen zu haben, ohne handelnd zu werden oder überhaupt Einfluss auf andere zu haben, würde nicht darunterfallen. Der Kontraktualismus kann dazu nichts sagen. Ebenso können wir nichts in Bezug auf Pflichten gegenüber uns selbst aussagen, wie sie etwa von Kant

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hochgehalten werden. Fragen der persönlichen Tugend, der persönlichen Ideale und Lebenspläne haben eine rein evaluative Komponente. Wir können sie aus subjektiver Sicht für gut oder schlecht halten. Damit ist es eine spezifische Frage des guten Lebens. Beziehen wir Aspekte über den interpersonellen Bereich mit ein, haben wir einen weiten Moralbegriff. Belassen wir es bei den Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens, so haben wir einen engen Moralbegriff. Eine solche Unterscheidung hat auch der Kontraktualist John Leslie Mackie vorgebracht: »Eine Moral im weiteren Sinn wäre eine allgemeine, allumfassende Theorie des Verhaltens, eine Theorie, die sich jemand zu eigen macht, wäre genau das System von Prinzipien, das er letztlich als Grundlage oder Richtschnur seines Verhaltens annehmen würde. Im engeren Sinn handelt es sich bei der Moral um ein System von Verhaltensregeln besonderer Art, nämlich von solchen, deren Hauptaufgabe die Wahrung der Interessen anderer ist und die sich für den Handelnden als Beschränkung seiner natürlichen Neigungen oder spontanen Handlungswünsche darstellen« (Mackie 1981: 133).

Nach Mackie regelt die Moral im weiten Sinne jegliches Verhalten eines Menschen. Es ist ein allumfassendes System. Jedes Verhalten kann in diesem Sinne moralisch kritisiert oder befürwortet werden. Wir benötigen dann eine umfangreiche Moraltheorie, welche auch jene von mir angeführten Bereiche beinhaltet, die mit anderen Personen nichts zu tun haben müssen. Unter der Moral im engeren Sinne versteht auch Mackie in erster Linie eine Verhaltensregulierung im Sinne von anderen. Er verwendet den Begriff der Interessen der anderen, wobei es vielleicht missverständlich klingen mag, diese Interessen zu »wahren«. Denn es geht ja gerade darum, dass bestimmte Interessen Verhaltensweisen produzieren, die in Anbetracht eines Zusammenlebens eingeschränkt werden müssen. Im Kern ist die Unterscheidung jedoch verständlich und ich teile diese Auffassung von Moral mit Mackie. Ähnlich spricht Scanlon von einer »Fragmentierung der Moral« (Scanlon 1998: 171-177), wobei er eine Kernmoralität dessen, was wir einander schulden, von anderen möglichen moralischen Bereichen trennt. Von da aus liegt es nicht fern, an eine begriffliche Trennung anzuknüpfen, die besagt, wir müssten zwischen dem moralisch Gerechten und dem ethisch Guten unterscheiden. Behandeln wir das Moralische, so meinen wir danach das gerechte und ungerechte Verhalten gegenüber anderen Personen. Im Falle des Ethischen haben wir es mit dem im weiteren Sinne Guten und Schlechten zu tun. Wenn wir von Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens sprechen, dann stellen wir uns die Frage, was wir von einander verlangen können beziehungsweise nach welchen Regeln unser Zusammenleben funktioniert oder welche Rechte und Pflichten wir gegenüber anderen haben. Dies schließt Fragen des guten Lebens, also nach dem, was nur für mich unabhängig von

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einem interpersonellen Bezug gut oder schlecht ist, aus. Dieser Trennung liegt der kantische Gedanke zugrunde, »dass Menschen als Mitglieder der prinzipiell unbeschränkten Gemeinschaft moralischer Personen einander eine basale Form des Respekts und der Begründung ihrer Handlungen unbedingt schulden, was immer sie konkret verbindet oder trennt, und welche Vorstellungen des Guten, Erstrebenswerten und des Glücks sie auch haben mögen« (Forst 2007: 101).9 Weshalb ist es sinnvoll, eine Trennung zwischen dem moralisch Gerechten und dem ethisch Guten vorzunehmen? Moralische Angelegenheiten, so können wir vielleicht sagen, betreffen uns gemeinsam. Sie beziehen sich auf die Fragen, wie wir in den Umständen gegenseitiger Beeinflussung leben wollen, während ethische Fragen nur mein eigenes gutes Leben betreffen. Ein praktisches Problem des Guten stellt sich mir selbst, ein praktisches Problem des Rechten stellt sich uns immer gemeinsam. Ein moralisches Problem verlangt die Klärung, was andere von mir erwarten können und was ich wiederum von anderen erwarten kann. Genau diejenigen Handlungsanleitungen obliegen dem moralischen Urteil, welche die Forderung nach Übereinstimmung mit anderen erheben und somit als gerechtfertigte Gebote erscheinen. Ein ähnlicher Anspruch lässt sich in Fragen des guten Lebens nicht stellen. Ich kann jemandem empfehlen, an seiner persönlichen Lebensführung etwas zu ändern, aber ich kann es ihm nicht gebieten, insoweit es sich nicht um Angelegenheiten handelt, die uns prinzipiell gemeinsam betreffen. Wir sehen demzufolge, dass wir es hier auch analytisch mit sehr unterschiedlichen Phänomenen zu tun haben können. Der Punkt ist, »dass die Beschaffenheit moralischer Probleme eine andere Begründungsweise moralischer Urteile erforderlich macht als die Struktur ethischer Probleme« (Wingert 1993: 26). Nicht zuletzt verbinden wir mit moralischen Forderungen eine unbedingte Gültigkeit, eine unbedingte Handlungsanweisung, die auch nicht von den eigenen Vorstellungen des guten Lebens abhängen sollte oder zugunsten selbiger verletzt werden kann. Wir fragen nach dem, was unsere Pflichten gegenüber anderen sind, und weniger danach, wie man am besten leben soll. Letzteres schließt beispielsweise persönliche Vervollkommnungsideale ein, bestimmte Lebensweisen, welche Pflichten, die ich gegenüber anderen habe, nicht im Geringsten verletzen müssen. Zuletzt drückt sich durch diese Unterscheidung auch eine sozialgeschichtliche Wandlung aus: 9 | Kontraktualistische Theorien gehören zu einer Gruppe normativer Theorien, welche diese strikte Trennung favorisieren, wie auch die Diskursethiker, welche diese Unterscheidung umfangreich herausarbeiteten: »Diese Theorien stützen ihren engen Moralbegriff auch darauf, dass die Moral ihren Sitz in der Infrastruktur solcher sozialen Beziehungen hat, die auch dann nicht zusammenbrechen, wenn die Individuen keine gemeinsame Auffassung vom ethisch Guten teilen« (Wingert 1993: 26).

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t »Die zunehmende Ausdifferenzierung zwischen evaluativen Fragen des guten Lebens und normativen Fragen des moralisch Richtigen steht in enger Wechselbeziehung mit der Pluralisierung von Konzepten des guten Lebens und der Säkularisierung staatlicher Autorität. Sofern an die Stelle einer einheitlichen, weithin geteilten Vorstellung des guten Lebens eine Pluralität verschiedener, häufig einander widersprechender Konzepte des Guten tritt, muss sich die Ethik auch der Frage widmen, wie die hieraus resultierenden Wert- und Interessenskonflikte friedlich und gerecht beigelegt werden können. Die Frage der gerechten Beilegung von Wert- und Interessenskonflikten ist Gegenstand einer eigenen Reflexion auf das moralisch Richtige« (Düwell et al. 2011: 1f., Hervorhebung im Original).

Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens gehören zu einem spezifischen normativen Bereich, denjenigen, wie wir miteinander umgehen beziehungsweise wie wir uns untereinander zu verhalten haben. Dies kann Prinzipien einschließen, die es verbieten, einander zu töten oder Gewalt anzutun, ebenso wie Prinzipien, die ein bestimmtes Recht auf Freiheit beinhalten, oder ein Prinzip, welches es gebietet, Personen gleichzubehandeln. Es kann aber auch Prinzipien betreffen, die es gebieten, ein Versprechen zu halten. Dies ist der spezifisch normative Bereich des Kontraktualismus, welchen Mackie oder Scanlon im Sinn haben. Wir regulieren unser Verhalten so, dass trotz unterschiedlicher Vorstellungen oder Interessen ein Zusammenleben ermöglicht wird. Ich werde versuchen, den Bereich der Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens noch weiter zu präzisieren. Es war die Rede davon, dass sich die Moral mit dem Rechten oder Gerechten beschäftigt. Das Moralische, welches auf interpersonelle Beziehungen eingegrenzt wird, scheint mit dem Begriff der Gerechtigkeit zusammenzufallen. Dies ist natürlich kein weniger umkämpfter Begriff, doch im Wesentlichen trifft die Moral im engeren Sinne den Kern dessen, womit Gerechtigkeit häufig umschrieben wird. Nach Mazous wird Gerechtigkeit heute weithin »als dasjenige verstanden, ›was wir uns gegenseitig‹ schulden« und »nur der intersubjektive Umgang, der gefordert werden kann, fällt […] unter die Gerechtigkeits-Bewertung« (2011: 371). Konkret geht es also um einen interpersonellen Bezug, wie ich ihn schon als prägend für den Begriff der engeren Moral festgehalten habe.10 Der von Mazous angeführte Verweis auf die »Schuldigkeit« bezieht sich auf eine sehr alte und typische Gerechtigkeitsformel, wie sie bereits in den platonischen Dialogen vorkommt. Dem Simonides wird darin der Satz zugeschrieben, dass »einem jeden das schuldige zu leisten gerecht ist« (Platon, pol.: 331d). Worin genau 10 | Schon Aristoteles hält die Gerechtigkeit für eine Tugend, welche für die vollkommene Gutheit des Charakters steht, »jedoch nicht absolut gesehen, sondern in Bezug auf den anderen Menschen« (Aristoteles, NE: 1129b).

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besteht die Schuldigkeit? Sicher bezieht sie sich nicht auf die Art von Schuldigkeit, wenn sich jemand von einem anderen etwas geliehen hat. Die Schuldigkeit betrifft unsere Pflichten gegenüber anderen und die Rechte, die wir gegenüber anderen einfordern können, insoweit wir auf einander Einfluss haben oder in irgendeiner Weise miteinander in Beziehung stehen. Im Rahmen der interpersonellen Moral, so ist mit Höffe (2010b: 29) übereinstimmend zu sagen, »betrifft die Gerechtigkeit nur einen kleinen, den geschuldeten Teil: die sogenannten Rechtspflichten bzw. die Rechtsmoral. Während man bei Verstößen gegen Tugendpflichten wie Mitleid, Wohltätigkeit und Großzügigkeit, auch Dankbarkeit und die Bereitschaft zu verzeihen, enttäuscht ist, regen sich bei Gerechtigkeitsverstößen Empörung und Protest. Die Anerkennung von Tugendpflichten kann man vom anderen nur erbitten und erhoffen, die der Gerechtigkeit dagegen verlangen. Als geschuldete Sozialmoral hat die Gerechtigkeit den Rang des elementar-höchsten Kriteriums allen Zusammenlebens.«

Die engere Moral mit dem Gerechtigkeitsbegriff zu identifizieren, ruft natürlich dann Missverständnisse hervor, wenn der Begriff stark eingeengt wird. Der Gerechtigkeitsbegriff wird gern auf das eingegrenzt, was von Institutionen erwartet werden kann. Andere wiederum reservieren den Gerechtigkeitsbegriff allein für die Verteilungsgerechtigkeit, was ebenso eine Engführung bedeutet. Im Falle des Gerechten und Ungerechten geht es jedoch viel allgemeiner um den Typ Frage: »Was darf jeder vom anderen verlangen?« (Wingert 1993: 25) Dabei sind wir nicht eingeschränkt auf Fragen dazu, wie viel jeder von einem bestimmten Gut erhält oder nicht.11 Ein rein institutionelles Verständnis von Gerechtigkeit hat sich insbesondere durch John Rawls etabliert, der Gerechtigkeit als »die erste Tugend sozialer Institutionen« (1979: 20) bezeichnet hat. Selbstverständlich gibt es einen Unterschied zwischen den Prinzipien, die sich für den Einzelmenschen begründen lassen – etwa das Verbot, jemand anderem physisches Leid zuzufügen –, und Prinzipien, die sich nur auf Institutionen anwenden lassen, etwa eine bestimmte Verteilung von Gütern innerhalb einer Gesellschaft. Es bringt nichts, von einem Einzelmenschen zu verlangen, er solle die Güter in der Gesellschaft gerecht verteilen. Vielleicht könnte man als moralische Forderung erheben, dass er sich genau dafür einsetzen soll, aber dies ist dann 11 | Siehe dazu ebenfalls Wingert: »Moralisch fragen wir danach, welche Normen des sozialen Zusammenlebens gerecht sind, d.h. welche Normen in unparteilicher Weise die Zusammenlebenden zu bestimmten Verhaltensweisen verpflichten« (1993: 23) oder: »Sie [die Auffassung einer engen Moral, A.O.] schränkt moralische Fragen auf praktische Fragen der Gerechtigkeit ein und schließt beispielsweise praktische Fragen des guten Lebens von der moralischen Agenda aus« (ebd.: 23f.).

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kein Maßstab zur Beurteilung der entsprechenden Institutionen, die dies bewerkstelligen können. Wie bereits dargestellt, ist der Kontraktualismus nicht auf einen bestimmten Bereich des Interpersonellen beschränkt, sondern kann auf normative Forderungen im Allgemeinen angewandt werden, die mit der Regulierung des Zusammenlebens zu tun haben. Von dieser Basis aus können wir uns nun den verschiedenen Bereichen, die vielleicht Grundsätze für den Einzelmenschen und Grundsätze für Institutionen betreffen, zuwenden und hier wie dort das Kriterium der vernünftigen Übereinkunft anwenden. Problematisch erscheint vielleicht, dass nicht jede Verletzung von Prinzipien interpersoneller Regulierung als »ungerecht« bezeichnet werden kann. Es stellt sich die Frage, »ob die Gleichsetzung von ›moralisch richtig‹ mit ›gerecht‹ allen Aspekten gerecht wird, unter denen wir mit Gründen glauben, dass etwas moralisch richtig ist. Ist es z.B. sinnvoll, von einer grausamen Handlung, mit der das moralische Gebot der Nicht-Verletzung anderer missachtet wird, zu sagen, sie sei eine ungerechte Handlung?« (Wingert 1993: 24; vgl. auch Ladwig 2011: 62-65) Dieser Vorwurf wird etwa von Frankena erhoben, welcher sagt: »Nicht alles, was richtig ist, ist gerecht – oder umgekehrt; und nicht alles, was falsch ist, ist ungerecht – oder umgekehrt. Inzest und Grausamkeit gegenüber Kindern sind falsch; aber es ist kaum angemessen, diese Handlungen als ungerecht zu bezeichnen. Einem andern Menschen Vergnügen zu bereiten, mag richtig sein, aber nicht eigentlich gerecht. Der Bereich der Gerechtigkeit ist Teil der Moral, deckt sich aber nicht mit ihr« (Frankena 1994: 63f.).12 In diesem Fall würde ich durchaus sagen, dass es ungerecht ist, grausam gegenüber einem Kind zu sein, denn es werden fundamentale Rechte verletzt, die wir diesem Kind zuschreiben würden. Dieses Kind könnte vom anderen verlangen, die eigene Unversehrtheit zu garantieren. Inzest scheint dagegen nicht per se falsch. Es wäre durchaus ein moralisches Prinzip denkbar, welches dies gestattet, wenn beispielsweise die betreffenden Personen erwachsen und entscheidungsfähig sind. Ansonsten liegt hier seitens Frankenas einfach eine Wertvorstellung vor, die sich darauf bezieht, wann etwas für ein gutes gelungenes Leben gehalten wird. Im Falle der Wohltätigkeit ist eine solche Handlung einfach richtig im Sinne des ethisch Guten. Wenn ich meine moralisch gebotenen Pflichten alle erfülle und darüber hinaus noch etwas tue, was von mir nicht verlangt werden kann, dann tue ich dies offenbar, weil ich dies selbst für erstrebenswert und gut halte, ohne dies für alle anderen ebenso verbindlich machen zu wollen oder zu können. Die Idee, dass Moralität exklusiv mit den Pflichten gegenüber anderen beschäftigt ist und letztlich in Gerechtigkeit aufgeht, ist eine spezifisch moderne Idee, die es beispielsweise in dieser Form in der Antike noch nicht gab, wo es 12 | Zu einer ähnlichen Position gegenüber dem Gerechtigkeitsbegriff siehe auch Hart (1973: 217-230).

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in erster Linie um Fragen des guten Lebens und um Tugenden ging, die in bestimmter Weise hierarchisch geordnet wurden. Nicht aufgrund der anderen sollen wir Platon zufolge unsere Pflichten erfüllen und Gerechtigkeit üben, sondern für das Wohl der eigenen Seele. Der Moralbegriff, den wir heute haben, ist enger als früher und fokussiert sich stark auf interpersonelle Beziehungen. Aus diesem Grunde borgt sich die moderne Moralphilosophie auch Begrifflichkeiten aus Bereichen des Juristischen, um moralisches Denken zu konzeptualisieren, etwa durch die Begriffe des Gesetzes, der Pflicht oder des Rechts. Dies bedeutet natürlich nicht, dass Vorstellungen des persönlichen Guten keine Rolle spielen. Im Gegenteil: Gerade die Uneinigkeit bezüglich bestimmter Vorstellungen sorgt für praktische Probleme, die sich in moralischer Hinsicht stellen können. Die Unterscheidung zwischen dem Rechten und dem Guten passt offenbar in eine Welt, in der wir es mit Wertepluralismus und Interessensgegensätzen zu tun haben und uns des Öfteren vor die Frage gestellt sehen, was die Grundlage unseres gemeinsamen Zusammenlebens ist. Kontraktualisten erweisen sich als Skeptiker gegenüber objektiven Werten und misstrauen metaphysischen Begründungsmustern bis zu einem gewissen Grad. Gesucht wird nach einer gemeinsamen Grundlage, um praktische Probleme zu lösen, die sich notwendigerweise ergeben, wenn wir unterschiedliche Vorstellungen verfolgen, was für uns gut oder schlecht ist. Solche Meinungsverschiedenheiten müssen sich nicht immer in scharfen Konflikten ausdrücken und selbst wenn wir uns grundlegend einig sind, können wir dennoch versuchen, unser Denken zu strukturieren und uns Sicherheit zu verschaffen, indem wir uns die Frage stellen, was denn die Regelungen wären, die eine allgemeine Geltung beanspruchen könnten: Dies sind die Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens.

3.3. W arum P rinzipien ? Ich habe bisher die Übereinkunft als ein moralisches Kriterium eingeführt und dabei den Bereich dessen, was als Regulierung des Zusammenlebens verstanden werden kann, näher ausgearbeitet. Doch weshalb sollten wir überhaupt Prinzipien zum Überprüfungsgegenstand machen? Warum überprüfen wir nicht einzelne Handlungen? Welche Beziehung hat darüber hinaus die kontraktualistische Formel, die selbst ein oberstes Prinzip ist, zu den Prinzipien, die sie rechtfertigt? Als erstes stellt sich die Frage, was unter einem Prinzip überhaupt verstanden werden kann. Über ein Prinzip sagt Aristoteles, »dass es ein Erstes ist, wovon her etwas ist, wird oder erkannt wird« (Aristoteles, metaph: 1013a). Eine Definition eines Prinzips könnte heute nach Ott auch folgendermaßen lauten: »Prinzipien sind entweder oberste inhaltliche Normen oder aber for-

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male Gesichtspunkte, von denen aus sich die Gültigkeit einzelner Normen beurteilen lassen kann«, während der Begriff der Norm folgendermaßen verstanden wird: »Unter einer Norm ist eine mehr oder weniger stark generalisierte Handlungsanweisung oder Vorschrift (Präskription) zu verstehen« (Ott 2011: 474f.). Die formale Beurteilungsfunktion, welche einem obersten Prinzip zukommt, werde ich unter dem Begriff der Rechtfertigungsformel fassen, während ich den Begriff des Prinzips für jene inhaltlichen Handlungsregeln reserviere, die wir durch eine solche Formel überprüfen wollen. Statt Formel ließe sich auch von »Grundprinzip«, »höherstufigem Prinzip« oder »letztem Prinzip« sprechen. Beispiele für solch oberste Formeln sind etwa der kategorische Imperativ Kants, das Nutzenprinzip des Utilitarismus in verschiedenen Ausführungen, das Universalisierungsprinzip in der Diskursethik oder eben die kontraktualistische Formel, welche ich und andere Kontraktualisten vorschlagen. Den Begriff der Norm würde ich dagegen für all das reservieren, was tatsächlich als Handlungsanweisung positiv in Kraft und gegebenenfalls von gerechtfertigten Prinzipien abgeleitet ist oder durch diese überprüft werden kann. Beispiele dafür wären konventionelle Normen oder Rechtsnormen. Meist verstehen wir unter einer Norm etwas, das eine soziale Bewandtnis hat. Damit ist gemeint, dass es Normen in unserem sozialen Zusammenleben gibt, die etabliert sind oder etabliert werden sollen und mit denen Personen eine bestimmte Erwartungshaltung verknüpfen. Bestimmte Normen oder auch Normensysteme sind an sich selbst nicht moralisch richtig oder falsch, sondern sie sind erst einmal nur Festlegungen, die auf unterschiedliche Art entstanden sein können. Sie sind von Prinzipien abzugrenzen, die uns zur Überprüfung des Faktischen dienen. Prinzipien sollen Orientierung geben und sind als allgemeine Handlungsrichtlinien zu verstehen. Im Gegensatz zu bloßen Einzelfällen, die wir als richtig und falsch beurteilen können, sind sie verallgemeinerte Aussagen, die etwas über den Typ eines bestimmten Einzelfalls aussagen. Prinzipien bilden letztlich eine besondere Art, wie man das Problem moralischer Beurteilung lösen kann, und sie haben in der Tat eine Rolle in unserer Alltagserfahrung. Wenn wir urteilen, dass etwas richtig ist, dann ist unser Urteil nicht einfach nur darauf bezogen, dass der Gegenstand unseres Urteils die besondere Eigenschaft hat »richtig zu sein«, vielmehr ist es so: Wenn wir sagen, dass etwas richtig ist, dann sagen wir dies aus einem bestimmten Grund. Ein Urteil über das, was richtig oder auch falsch ist, gehört deshalb zu einer anderen Klasse von Urteilen als etwa ästhetische Urteile, denn in solchen Fällen kann das Urteil vor der Erklärung erfolgen. Wir sehen vielleicht in einem Museum ein Bild und urteilen, dass es schön ist. Wir werden vielleicht spontan von etwas in den Bann gezogen. Hier kann die Rechtfertigung für unser Urteil nachgeordnet erfolgen, wenn wir nach Gründen suchen, die unser ästhetisches Urteil stützen. Wir mögen die feine Linienführung als Grund anbringen, das Spiel mit

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der Farbe oder emotionale Komponenten, die durch das Motiv auf uns wirken. Aber wahrscheinlich hätte auch niemand etwas dagegen, es einfach als spontane Eingebung zu betrachten, wenn etwas für schön gehalten wird. Im Falle von moralischen Urteilen können wir das Richtige nicht einfach betrachten, wie wir ein Bild anschauen. Wir brauchen eine Vorstellung davon, warum und damit auch aus welchen Gründen etwas richtig ist. Im Falle des Ästhetischen mag es sein, dass wir überhaupt keinen Maßstab angeben können, weshalb wir etwas als schön empfinden, und womöglich werden uns auch bei einer späteren Suche nach Gründen gar keine einfallen. Schwerer ist es jedoch, eine Behauptung darüber aufzustellen, dass etwas richtig oder falsch zu tun ist, ohne die geringste Vorstellung zu haben, welche Gründe es für oder Einwände es gegen eine entsprechende Handlung gibt. Wenn mir jemand sagt: »Das ist falsch! Du darfst das nicht tun!«, dann will ich wissen warum. Wir geben Gründe an und wenn es Gründe gibt, die auf einen bestimmten Typus von Handlungen angewandt werden können, dann können wir daraus ein Prinzip machen: Es geschieht eine Handlung, bei der eine Person von der anderen geschlagen wird, und man beurteilt diese Handlung als falsch. Begründet wird dies durch ein Prinzip, wonach körperliche Schädigungen verboten sind. Sämtliche Handlungen, die Schädigungen einschließen, wie eben das Schlagen von anderen Personen, sind dann begründet als falsch zu erweisen. Ich stimme dabei mit der Auffassung von Scanlon (vgl. 1998: 199) überein. Er hält Prinzipien für allgemeine Schlussfolgerungen darüber, was für Gründe wir haben. Sie schließen Handlungen aus, indem sie bestimmte Gründe ausschließen, die bei einer Beurteilung von richtig und falsch eine Rolle spielen können. Prinzipien drücken aus, dass sie für mehr als eine einzelne Handlung Gültigkeit haben. Nehmen wir an, wir hören, dass A heute in Berlin B getötet hat und dass B vollkommen unschuldig war. A hat B vielleicht nur aus Spaß getötet. Ich schließe, dass die Handlung von A falsch war. Wenn mich jemand danach fragen würde, warum es falsch war, würde ich mich auf ein allgemeines Prinzip berufen, etwa: »Die Tötung unschuldiger Menschen aus Spaß ist verboten«. Jenes Prinzip hat eine bestimmte Handlung zum Gegenstand und versieht sie mit einem Verbot. Da A gemordet hat, hat A eine falsche Handlung begangen. Das allgemeine Prinzip, dass Mord verboten ist, scheint eine hinreichend gute Erklärung dafür, warum diese besondere Handlung falsch war. Es wird ebenso auf andere individuelle Handlungen von ähnlicher Art angewandt wie den Fall, dass C oder D gemordet haben. Angenommen, dass Prinzipien eine solche Rolle spielen, müssen wir herausfinden, welche moralischen Prinzipien korrekt sind. Die Beurteilung von Prinzipien ist dann unsere zentralste Aufgabe und in der Moralphilosophie sind wir dann damit beschäftigt, eine korrekte Menge an Prinzipien auszuarbeiten.

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Meine eigene Darstellungsweise des Kontraktualismus ist sehr ähnlich strukturiert wie diejenige von John Stuart Mill für den Utilitarismus. Sein Anspruch war nicht weniger, als das fundamentale Grundprinzip der Moral überhaupt zu begründen (so auch die Interpretation von Rawls 2012: 368ff.). Mill selbst störte es, dass seine Vorläufer, zu denen insbesondere Jeremy Bentham gehörte, es seiner Ansicht nach versäumt hatten, einen wirklichen Versuch zu unternehmen, die Nutzenformel allgemein und umfassend zu rechtfertigen. Sollte es verschiedene Prinzipien geben, die miteinander in Widerstreit geraten, so brauchen wir ein geeignetes Verfahren, welches den Vorrang eines jeweiligen Prinzips klärt. Die Utilitaristen vom Schlage Mills nahmen an, man könne gerechtfertigte Prinzipien auf das Grundprinzip des Nutzens zurückführen und es gebe kein allgemeineres Prinzip, welches diese regulative Funktion am angemessensten ausüben könnte. Alles, was wir uns an Prinzipien vorstellen können – etwa Prinzipien der Freiheit, die bestimmten Menschen oder einem jeden zukommen sollen, Prinzipien über die Rechte oder die Verteilung von Gütern oder sonstige Prinzipien des sozialen Miteinanders –, sind für Mill »Zwischenprinzipien« (Mill 1863: 24f.). Prinzipien dieser Art bezeichnet Mill als die »Regeln der Moral«. Sie müssen getestet werden unter Berufung auf das erste und oberste Prinzip des Glücks oder Nutzens, welches selbst nicht einzeln auf Handlungen angesetzt werden muss. Daher kommt den speziellen Regeln der Moral der Status von »Sekundärprinzipien« (ebd.: 37) zu. Ein solches Sekundärprinzip wäre Mills Prinzip der Freiheit: Mills Freiheitsprinzip: »Das Prinzip lautet: dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten« (Mill 1859: 16). Dies ist nur ein Prinzip neben anderen Prinzipien, obwohl es zweifellos ein sehr wichtiges im Allgemeinen und in der millschen Philosophie im Besonderen ist, doch das Prinzip der Freiheit wird von Mill nicht als ein oberstes Prinzip betrachtet beziehungsweise als die letzte Instanz der Rechtfertigung. Denn jenes Prinzip erfährt diese Rechtfertigung nur durch den großen Nutzen, den es ermöglicht. Mill betrachtet die »Nützlichkeit als letzte Berufungsinstanz in allen ethischen Fragen« (ebd.: 18). Das oberste Nutzenprinzip oder das Prinzip des größten Glücks wird von ihm folgendermaßen formuliert: Mills Nutzenprinzip: »Nach dem Prinzip des größten Glücks […] ist der letztere Zweck für den und wegen dessen alle anderen Dinge wünschenswert

3. Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens

sind (gleichgültig, ob wir unser eigenes Gut oder das anderer Leute betrachten), ein Leben, das soweit wie möglich von Schmerzen frei und an Vergnügen so reich wie möglich ist« (Mill 1863: 19). Dieses Prinzip basiert auf der Überzeugung, »dass Handlungen in dem Maße richtig sind, wie sie dazu tendieren, das Glück zu befördern, und falsch in dem Grade, wie sie dazu tendieren, das Gegenteil von Glück hervorzubringen« (ebd.: 12). Das Freiheitsprinzip von Mill ist ein Sekundärprinzip, welches durch die oberste Nutzenformel gerechtfertigt wird. Das Freiheitsprinzip ist darüber hinaus ein Zwischenprinzip, weil es einerseits von der obersten Nutzenformel abgeleitet werden kann und andererseits die entsprechenden Handlungen als richtig oder falsch ausweist. Es gibt demnach mehrere Stufen: Erst das oberste Rechtfertigungsprinzip, dann die Prinzipien, die durch dieses oberste Rechtfertigungsprinzip überprüft werden und dann die Handlungen oder Einzelfälle, die durch die gerechtfertigten Prinzipien für richtig oder falsch erklärt werden. Gestalten wir unser Vorhaben in dieser Weise, dann hätten wir eine mehrstufige Rechtfertigungsfolge. Es mag auf den ersten Blick nicht einleuchten, weshalb wir uns an ein bestimmtes oberstes Prinzip oder eine Formel halten sollen, um dann Prinzipien für die Beurteilung entsprechender Einzelfälle zu prüfen. Es gibt verschiedene Alternativen, wie wir Prinzipien anordnen können. (1) Wir könnten eine Prinzipienpluralität vertreten. Eine Prinzipienpluralität zeichnet sich dadurch aus, dass es kein oberstes Beurteilungsprinzip oder eine Formel gibt, sondern dass viele Prinzipien nebeneinander existieren, die einem letzten Urteil nicht unterzogen werden können. Es mag Fälle geben, wo nur ein einziges Prinzip herangezogen werden muss. Doch der entscheidende Nachteil liegt im Folgenden: Genau an der Stelle, wo Einzelfälle oder Einzelhandlungen unter Berücksichtigung mehrerer Prinzipien beurteilt werden können, zeichnen sich meist moralische Dilemmata ab. Die Prinzipienpluralität kennzeichnet typischerweise intuitionistische Theorien, denen nach einer Interpretation von Rawls zwei Merkmale zukommen: »Einmal gibt es in ihnen mehrere erste Grundsätze, die in bestimmten Fällen zu gegensätzlichen Folgerungen führen können; zweitens enthalten sie keine ausdrücklichen Regeln zur Gewichtung dieser Grundsätze im Vergleich zueinander« (Rawls 1979: 53). Da die entsprechenden Prinzipien selbst durch kein höheres oder letztes Prinzip auf ihre Eignung hin überprüft werden können, bieten sie nur sehr limitierte Möglichkeiten, einen entsprechenden Einzelfall zu beurteilen oder entsprechende Probleme zu lösen. (2) Wir können auch einen Prinzipienmonismus vertreten. Nach jenem gäbe es nur ein einziges grundlegendes Prinzip und von diesem aus würden wir nicht andere niedrigere Prinzipien beurteilen, sondern direkt Einzelfälle. Es kommt unmittelbar zur Anwendung. Wir können darunter beispielhaft den Handlungsutilitarismus zählen, der das Prinzip des Nutzens auf einzelne Handlungen anwenden kann, im Gegen-

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satz zum Regelutilitarismus, dem es um die Beurteilung von Prinzipien oder ganzen Systemen von Regeln geht. Auch diese Form hat Probleme, denn sie scheint nur wenig kontextsensibel zu sein. Verschiedene Prinzipien, die offen für Handlungen unter besonderen Umständen sind, können die Beurteilung eines Einzelfalles erleichtern. In Vertretung eines Prinzipienmonismus müssten wir die oberste Formel womöglich stellenweise modifizieren, um der Komplexität des zu prüfenden Gegenstandes in angemessener Weise gerecht zu werden. Außerdem erscheint es ein Stück weit eine moralische Überforderung darzustellen, das oberste Prinzip stetig aufs Neue auf Einzelfälle anzuwenden. Prinzipien sollen eine bestimmte Form der Orientierung ermöglichen und damit einer Überforderung in moralischen Urteilen entgegenwirken. Im Prinzipienmonismus erreichen wir mitunter das Gegenteil.13 (3) Die Alternative ist die vorgeschlagene mehrstufige Prinzipienordnung. Danach haben wir eine oberste Formel und eine Vielzahl von weiteren Prinzipien, welche dieser Formel untergeordnet sind und durch sie ihre Prüfung erhalten. Die Formel selbst beurteilt keine Einzelfälle, stattdessen werden die gerechtfertigten Prinzipien angewandt, die in den entsprechenden Handlungskontexten Gültigkeit haben. Letztlich verschafft uns die Formel ein Kriterium für gültige moralische Grundsätze. In dieser Ordnung müssen wir uns den Verlauf der Rechtfertigung vorstellen. Reichen diese Anmerkungen zur Rolle von Prinzipien im Alltag und in der Moralphilosophie sowie zur Vorteilhaftigkeit einer mehrstufigen Prinzipienordnung aus, um zu begründen, weshalb wir uns auf Prinzipien konzentrieren sollten? Insgesamt glaube ich, dass die Frage, ob wir uns direkt den Einzelfällen zuwenden oder unser Augenmerk auf Prinzipien richten sollen, keine große Problematik offenbart. Wenn wir etwas rechtfertigen wollen, dann bieten wir Gründe dafür, von denen wir annehmen, dass sie hinreichend für die Rechtfertigung sind. Dies bedeutet jedoch meiner Ansicht nach, gleichsam ein

13 | Während es in der Tradition des Utilitarismus immer eine Debatte darum gab, ob ein Handlungsutilitarismus (Prinzipienmonismus) oder ein Regelutilitarismus (mehrstufige Prinzipienordnung) angemessener wäre, waren sich Kontraktualisten praktisch schon immer darin einig, dass sie einer mehrstufigen Version den Vorrang gaben. So gut wie nie wurde der Kontraktualismus zur Beurteilung einzelner konkreter Handlungen angewandt, nie wurden einzelne Handlungen als Gegenstand einer Übereinkunft dargestellt, was mitunter auch damit zusammenhängt, dass sich sein Begründungsmodell im Zuge der Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt ergeben hat und die Vorstellung einer Übereinkunft über spezifische Handlungen eher abwegig ist. In dieser Herangehensweise sind sich auch moderne Kontraktualisten weitgehend einig. Auch wenn es Versuche gibt, heute einen Handlungs-Kontraktualismus ins Spiel zu bringen (vgl. Sheinman 2011), so scheint es mir angemessen, am Prinzipien-Kontraktualismus festzuhalten.

3. Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens

bestimmtes Prinzip zu verteidigen, welches besagt, dass genau solche Gründe entsprechender Art hinreichend sind, um nach ihnen zu handeln. Zwar bin ich mir nicht sicher, ob wir, wie es Bernard Gert (1973: 6) formulierte, »die Moralphilosophie aufgeben« würden, wenn wir uns nicht mit moralischen Prinzipien beschäftigen, aber wie ich gezeigt habe, spricht vieles dafür, Prinzipien einen zentralen Stellenwert einzuräumen. Wir müssen dazu nicht einmal auf die hegemoniale Stellung verweisen, welche der Umgang mit Prinzipien in der Moralphilosophie einnimmt. Die Tatsache jedoch, dass Prinzipien sich auf Gründe beziehen, die in mehr als nur einem Einzelfall gelten können, sowie die Tatsache, dass die mehrstufige Prinzipienordnung auch kontextsensibel sein kann, sprechen auch für die Praktikabilität einer solchen Herangehensweise. Ich möchte an dieser Stelle nicht breit auf die Widerlegung des sogenannten ethischen Partikularismus eingehen, welcher sich gegen die Vorstellung wendet, dass die Formung von Prinzipien innerhalb der Moralphilosophie eine bedeutsame Rolle einnehmen sollte.14 Die Zweifel bestehen darin, ob wir überhaupt handlungsleitende Orientierung durch Prinzipien gewinnen können und ob diese nicht völlig obsolet sind. Ich möchte aber zumindest darauf verweisen, dass einige Formen des Partikularismus eine entsprechende Prinzipienordnung, wie sie mir hier zur Darstellung des Kontraktualismus vorschwebt, durchaus akzeptieren können. Nach Jan Gertken kann zwischen drei größeren Formen des Partikularismus unterschieden werden: (1) Der radikale Partikularismus empfiehlt eine »vollständige Prinzipienabstinenz«, was bedeutet, man sollte »sich im Handeln und im Urteilen an keinerlei Prinzipien orientieren« und dass es »keine Prinzipien gibt, die sich als Orientierungspunkte eignen« (Gertken 2014: 31f.). (2) Der moderate Partikularismus vertritt lediglich die These, »dass es nicht genug oder keine ausreichend starken Prinzipien gibt, um den Bereich des moralisch Richtigen und Falschen vollständig in Prinzipien zu erfassen« (ebd.: 34). (3) Sämtliche partikularistischen Positionen, die nicht skeptizistisch sind, vertreten darüber hinaus einen epistemologischen Partikularismus, welcher die These beinhaltet, »dass es möglich ist, ohne Prinzipien moralisch zu urteilen« (ebd.: 36). Sowohl der moderate als auch der epistemische Partikularismus müssen es nicht ausschließen, dass wir uns auch an Prinzipien orientieren können. Im Falle der moderaten Version mag es sein, dass wir keinen vollständigen moralphilosophischen Prinzipienkanon aufstellen können. Für den Bereich dessen, was unter die »weite Moral« fällt, habe ich dies für den Kontraktualismus bereits ausgeschlossen (Kapitel 3.2.). Darüber hinaus glaube ich aber auch nicht, dass der Kontraktualismus die begründeten Prinzipien ein für alle 14 | Einige der bekanntesten Skeptiker bezüglich der Orientierung an Prinzipien sind vor allem Dancy (1993: 73-90), McNaughton (2003: Kap. 13) oder McDowell (1998: 65-69).

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Mal festschreiben muss. Da sich die Gründe ändern können, können sich auch die Prinzipien ändern. Auf diese Weise können wir sehen, dass es keine endliche Anzahl von Prinzipien geben kann. Der moderate Partikularismus kann dennoch zugestehen, dass Prinzipien eine Orientierungsfunktion erfüllen können.15 Der epistemische Partikularismus mag wiederum die These vertreten, dass es möglich ist, Urteile ohne Prinzipien zu fällen. Aber dies schließt nicht aus, dass wir es trotzdem tun und womöglich einen besseren Weg zu den moralischen Urteilen mit Prinzipien gehen können. Darüber hinaus liegt die Beweislast, dies aufzuzeigen, beim epistemologischen Partikularismus. Den möglichen Erfolg halte ich für bescheiden. Jener Partikularismus kann sich nur erklären, indem er eine besondere Fähigkeit des Moralbeurteilers voraussetzt, nämlich eine Urteilskraft, die als Fähigkeit verstanden wird, »moralische Einzelfalleinschätzungen ohne Rückgriff auf Prinzipien treffen zu können. Genuin moralische Urteilskraft ist damit als die Fähigkeit zur Bildung von gerechtfertigten, nicht prinzipiengestützten moralischen Einzelurteilen zu verstehen« (ebd.: 52). Die Frage, wie wir überhaupt diese Fähigkeit erlangen oder warum sie uns eigen ist, vermag jemand, der sich an der Prinzipienrechtfertigung orientiert, leichter zu beantworten als der Partikularist, der vielleicht sagen muss, dass wir ohne den Rückgriff auf ein Prinzip einfach »sehen«, was das Richtige ist, wie Maike Albertzart (2015) herausstellt. Prinzipien können dagegen genauso gut als bestimmte Handlungsrichtlinien begriffen werden, zu denen wir uns langfristig verpflichtet haben: »Der Handelnde nimmt eine ProEinstellung gegenüber dem Handlungstyp ein, den das Prinzip vorschreibt, und bildet die feste, fortlaufende Intention sich in der Zukunft demgemäß zu verhalten« (Albertzart 2015: 78). Durch Prinzipien wird auch unser Reichtum an Erfahrungen ausgebildet, der uns zu moralischem Handeln nach diesen Prinzipien veranlasst. Damit hätten wir auch eine Erklärung zur Verfügung, wie die Beurteilung eines Einzelfalles ohne ein Prinzip möglich ist. Danach haben wir bestimmte moralische Prinzipien in der Weise internalisiert, dass wir sofort »sehen«, was das Richtige ist. Es ist eine Erklärung für das Auftreten der moralischen Urteilskraft, die uns der Partikularist nur schwer bieten kann. Dies gibt uns auch einen Hinweis darauf, wie erfolgversprechend der radikale Partikularist ist, denn ohne einen gleichsamen epistemischen Partikularismus ist jener ein moralischer Skeptiker, der es ohnehin für unmöglich hält, eine Begründung des moralisch Richtigen und Falschen zu leisten. Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter auf die Einzelheiten der partikularistischen Herausforderung eingehen. Es soll an dieser Stelle reichen, die entsprechenden Vorteile der Prinzipienrechtfertigung genannt zu haben und zu 15 | So weist denn auch Gertken darauf hin, dass der »partikularistische Ratschlag, auf Prinzipien zu verzichten analog zu dem Ratschlag zu verstehen [ist], beim Radfahren auf zusätzliche Stützräder zu verzichten« (Gertken 2014: 35, Fn. 27).

3. Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens

erklären, dass bestimmte Vorstellungen des Partikularismus nicht dem Vorhaben der kontraktualistischen Prinzipienrechtfertigung widersprechen müssen. Der Kontraktualismus selbst lässt sich am besten als eine mehrstufige Prinzipienrechtfertigung begreifen, an deren Anfang die kontraktualistische Formel steht.

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4. Konstruktivistische Grundlagen

Ich habe eine ideengeschichtliche Linie des Kontraktualismus gezogen, welche die Vertragsformel als Kriterium des moralisch Rechten etabliert, und ich habe dieses Rechte als die Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens bestimmt. Nun komme ich zu dem, was ich die konstruktivistischen Grundlagen des Kontraktualismus nenne. Es sind Grundlagen, die uns darüber Aufschluss geben, wie eine Rechtfertigungsstruktur des Kontraktualismus aufgebaut ist. Damit erfahren wir etwas über die innere Struktur dessen, was die kontraktualistische Formel beinhaltet. Ich versuche in diesem Kapitel, Aufschluss über den Status des Wortes »gerechtfertigt« in der kontraktualistischen Formel zu geben. Ich kläre, was es für ein moralisches Urteil (in Form der Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens) bedeutet, gerechtfertigt zu sein. Eine Theorie der vernünftigen Übereinkunft, wie ich sie versuche zu verdeutlichen, kann als ein spezifisches Erkenntnisverfahren betrachtet werden, wie wir die Richtigkeit moralischer Urteile bestimmen können. Von daher ist der Kontraktualismus ein Vorschlag innerhalb der »Moralepistemologie«. So lässt sich ein Teilbereich der Metaethik charakterisieren, wie ich später noch ausführen werde. Nach Scarano befasst sich die Moralepistemologie »mit der Möglichkeit von Rechtfertigung und Erkenntnis im Bereich des Moralischen« (Scarano 2011: 34). Ähnlich hat Kersting (1994: 352) die moralepistemologische Bedeutung von Vertragstheorien gekennzeichnet: »In rechtfertigungstheoretischen Kontexten dient der Vertrag als Erkenntnisverfahren der politischen Ethik, als Kriterium der Gerechtigkeit und der öffentlichen Moral. Der rechtfertigungstheoretische Vertrag ist ein universalistisches moralepistemologisches Kriterium.« Dies zu behaupten, setzt einiges voraus. Beispielsweise müssen moralische Urteile überhaupt für rechtfertigungsfähig gehalten werden: Danach gibt es eine spezifische Art und Weise, in der wir über sie im Irrtum sein können, und eine Weise, nach der wir sagen können, dass wir es mit einer »richtigen« Antwort auf moralische Fragen zu tun haben. Dies entspricht einer bestimmten Auffassung von Objektivität in der Moral. Wenn moralische Urteile jedoch objektiv sind, sind sie dann auch wahr? Was macht dann ihren wahren Charakter aus? Es stellt sich die Frage, ob wir etwas über das Wesen moralischer Tatsachen

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aussagen können oder überhaupt müssen. Welchen Status haben die Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens? Was für Entitäten liegen hier vor, zu denen wir Einsicht erlangen? Inwieweit können wir vielleicht auch auf solche ontologischen Qualifizierungen verzichten, ohne jedoch gleichsam die Rede von einer möglichen Objektivität moralischer Urteile aufzugeben? Dies sind verschiedene Fragen, die sich bei der Grundlegung einer Theorie der vernünftigen Übereinkunft stellen. Indem die Rechtfertigung eines moralischen Prinzips von einer hypothetischen Einigung abhängig gemacht wird, scheint die Vertragstheorie gleichsam zu sagen, dass es unabhängig von diesem Prozess keine moralischen Tatsachen geben kann. Anstatt ein moralisches System oder handlungsleitende Prinzipien einfach vorzufinden, welche durch Anschauung beziehungsweise Intuition oder auf andere Art erkannt werden könnten, liegt eine Verfahrensabhängigkeit moralischer Tatsachen vor. Letztlich, so lässt sich sagen, besteht die Übereinkunft in einem Konstruktionsprozess, an dessen Ende diejenigen Prinzipien stehen, welche durch das Rechtfertigungsverfahren des Kontraktualismus gegangen sind. Der Kontraktualismus gehört damit zur Familie des Konstruktivismus, weil er moralische Tatsachen für verfahrensabhängig hält. Im Folgenden werde ich die Merkmale des Konstruktivismus herausarbeiten (Kapitel 4.1.). Anschließend werde ich ausführen, inwieweit sich der Konstruktivismus metaethisch oder normativ verstehen lässt, da es in dieser Hinsicht einige Unklarheiten in der Betrachtungsweise gibt. Dies wird dabei helfen, den Konstruktivismus richtig einzuordnen und die Frage nach den moralischen Tatsachen besser zu verstehen (Kapitel 4.2.). Anschließend möchte ich darlegen, weshalb ein kontraktualistischer Konstruktivismus sich der ontologischen Fragen nach dem Wesen moralischer Tatsachen enthalten kann. Lediglich das Erkenntnisverfahren, also die moralepistemologische Frage, ist es, welche von Bedeutung ist. Auf diese Weise kann der Konstruktivismus klassische Kontroversen im ontologischen Bereich der Metaethik umgehen und metaphysisch sparsam bleiben (Kapitel 4.3.). Zuletzt stellt sich die Frage nach dem Ausgangspunkt eines solchen moralepistemologischen Verfahrens. Welche Bestandteile kann dieser Ausgangspunkt haben? Ich werde darlegen, dass der Kontraktualismus zwar ein Konstruktivismus in Bezug auf die Moral beziehungsweise die Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens sein kann, dass er aber keinesfalls ein Konstruktivismus über sämtliche normativen Vorstellungen überhaupt sein muss und dies vielleicht auch gar nicht kann. Dies werde ich anhand einer Gegenüberstellung von zwei konstruktivistischen Herangehensweisen (Rawls und Scanlon) verdeutlichen (Kapitel 4.4.) und diese von einem Vorschlag für einen tiefergehenden Konstruktivismus (nach Christine Korsgaard) abgrenzen. Im Gegensatz zu Rawls und Scanlon, welche nur glauben, dass moralische Urteile konstruiert werden können, glaubt Korsgaard, dass auch andere normative Begriffe, beispielsweise der elementare Begriff des

4. Konstruktivistische Grundlagen

Grundes, konstruiert werden können (Kapitel 4.5.). Der Kontraktualismus erfordert allerdings, dass bestimmte normative Elemente nicht konstruiert werden. Das Ziel des Kontraktualismus ist eine Konstruktion beziehungsweise Rechtfertigung von moralischen Prinzipien. Dazu kann er auf andere normative Begriffe zurückgreifen. Ich werde zeigen, dass dies vor allem der Begriff des »Grundes« ist oder die normative Annahme, dass Menschen genau das tun sollen, wozu sie am meisten Grund haben (Kapitel 4.6.).

4.1. E igenschaf ten des K onstruk tivismus Der moralische Kontraktualismus ist Teil der moralepistemologischen Auffassung des Konstruktivismus in der Moralphilosophie. Es ist die Auffassung, dass wir unsere Prinzipien nicht einfach sehen, anschauen, entdecken oder gar erfühlen können, sondern dass sie erfunden oder eben konstruiert werden. So schreibt Hobbes bereits in seinem Leviathan: »Schließlich gleichen die Verträge und Abkommen […] jenem Fiat oder Lasset uns Menschen machen, das Gott bei der Schöpfung aussprach« (Hobbes 1651: Einleitung, 5, Hervorhebung im Original). Verträge und Abkommen werden in Analogie zur Schöpfung betrachtet. Die Menschen schaffen sich die Regularien ihres Zusammenlebens selbst. Bei Hobbes ist dann vom Menschen sowohl als »Material« wie auch als »Konstrukteur« zu lesen. Insbesondere die Tradition des Kontraktualismus kennt viele dieser Baumetaphern. Zusammengefügt werden die Menschen im staatsphilosophischen Kontraktualismus durch die Verträge, die sie zu einem Staatskörper zusammenfügen. Bei Hobbes entsteht so der Leviathan als sinnbildlich künstlicher Mensch. Abgesehen von der gemeinsam geteilten Vorstellung der Konstruktion – im Gegensatz zur Wahrnehmung oder Erfassung von moralischen Tatsachen – ist es wie in so vielen Fällen innerhalb der Ethik keineswegs eindeutig, was die Bezugnahme auf den Konstruktivismus tatsächlich bedeutet. Natürlich gibt es viele unterschiedliche Formen und Darstellungen, die sich bestimmte Begrifflichkeiten teilen. So wird gern von »Materialien«, »Verfahren« oder eben auch von »Konstruktionen« gesprochen.1 Dabei lädt der Begriff des Kons1 | Es mag der Natur der Sache entsprechen, dass mindestens genauso viele Charakterisierungen des moralischen Konstruktivismus existieren, wie es Autoren zu diesem Thema gibt. Onora O’Neil (1989: 188, Fn. 1) verwendet den Begriff des Konstruktivismus als Annäherung an ethische Prinzipien, die durch die Bezugnahme einer Konzeption der Person und Rationalität gerechtfertigt werden, ohne sich dabei auf Präferenzen oder Wünsche der jeweiligen Personen zu berufen. Eine solche Charakterisierung würde es ausschließen, dass bestimmte Kontraktualisten wie Hobbes auch Konstruktivisten sind. Brian Barry identifiziert dagegen Konstruktivismus als eine Art »hypothetischen

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truktivismus durch seine weite Verbreitung in anderen Disziplinen zu Missverständnissen ein. Von solchen Verwendungen außerhalb der Ethik muss Abstand genommen werden. Von der Psychologie über die Bildungswissenschaft bis zur Mathematik gibt es konstruktivistische Begriffe und Theoriemodelle. Der Begriff des Sozialkonstruktivismus aus der Soziologie dürfte eine der bekanntesten Verwendungsweisen sein. Hier ist Vorsicht geboten. Wenn wir unter sozialkonstruktivistischer Perspektive normative Behauptungen betrachten, dann sehen wir sie als soziale Gegenstände, die durch die Aktivitäten von Gruppen geschaffen werden. Wir müssen hier wiederum sehen, dass dahinter ein explanatorischer und kein rechtfertigender Anspruch steht. Die Stoßrichtung des Konstruktivismus in der Moralphilosophie ist es dagegen, objektiv verstandene moralische Grundsätze aus angemessen dargelegten Verfahren zu konstruieren. Ihm geht es nicht darum, wie tatsächliche, faktische moralische Normen zustande kommen, weshalb sich die Aussagen des Sozialkonstruktivismus oder des moralischen Konstruktivismus in keiner Weise widersprechen müssen (was in Anbetracht unterschiedlicher wissenschaftlicher Fragestellungen auch nicht weiter verwundert). Innerhalb der moralphilosophischen Disziplin gibt es nun ebenfalls noch eine starke Ausdifferenzierung dessen, was man als Konstruktivismus bezeichnen kann. Der Konstruktivismus kann in seinen Grundzügen weit zurückverfolgt werden, wie ich anhand des hobbesschen Beispiels schon gezeigt habe. Als entsprechende Theoriefamilie oder -tradition ist dieser jedoch vor allem von John Rawls geprägt worden.2 Seitdem hat sich eine breite Debatte darum entwickelt, wie wir den Konstruktivismus verstehen können und welche Thesen damit allgemein vertreten werden. Im Folgenden möchte ich einige grundlegende Merkmale festhalten, die mehr oder weniger allgemein auf sämtliche verschiedenen Arten von Konstruktivismen innerhalb der Moralphilosophie in unterschiedlicher Ausprägung zutreffen.

Prozeduralismus«, der die Lehre vertritt, dass das, »was in einer auf bestimmte Weise spezifizierten Situation vereinbart würde, Gerechtigkeit konstituiert« (Barry: 1989: 268, Übers. d. Verf.; vgl. ebd.: 264-271), wobei sich Barry hier insbesondere auf die vertragstheoretischen Ansätze des Konstruktivismus bezieht. 2 | Maßgeblich für die Prägung des Konstruktivismus sind hier die Arbeiten von Rawls: Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie (1992b) sowie seine Vorlesungsreihe Politischer Konstruktivismus in Politischer Liberalismus (2003). Aber auch die berühmte konstruktivistische Interpretation der Theorie der Gerechtigkeit von Rawls durch Dworkin (1984: 252ff.) sei hier zu erwähnen. In der Folge gab es immer wieder Versuche, den Konstruktivismus weiter zu präzisieren. Deshalb hat sich eine kaum noch zu überblickende Vielfalt des Konstruktivismus in der Moralphilosophie entwickelt. Sehr gute Einführungen dazu bieten Lenman/Shemmer (2012) und Bagnoli (2013).

4. Konstruktivistische Grundlagen

(1) Fokussierung auf Verfahren: Nur diejenigen moralischen Urteile, die das Ergebnis eines in einer bestimmten Weise angeordneten Verfahrens sind, können gerechtfertigt sein. Diese Urteile können nicht unabhängig vom Verfahren gedacht werden und es gibt verschiedene Möglichkeiten, ein entsprechendes Verfahren zu plausibilisieren. Für eine Theorie der Übereinkunft stellt sich das Verfahren als ein Einigungsprozess dar. Es gibt jedoch auch unabhängig vom vertragstheoretischen Typus des Konstruktivismus eine Reihe von anderen Möglichkeiten, ein entsprechendes Verfahren auszubuchstabieren. Auch Theorien des idealen Beobachters, der in einer spezifischen Weise idealisiert ist und mit bestimmten Wissensbeständen ausgestattet wird, könnten dazu zählen oder Konstruktionsverfahren, die sich an konstitutiven Standards der Rationalität orientieren und somit die moralischen Urteile aus dem Vermögen praktischer Vernunft hervorgehen sehen.3 Entscheidend ist, dass wir einen Zugriff auf moralische Tatsachen nicht etwa durch eine Form intuitiver Anschau-

3 | Einige würden jedoch auch behaupten, dass Konstruktivismus und Kontraktualismus in einem gewissen Gegensatz zueinander stehen. So sagt Onora O’Neill etwa, dass Kontraktualisten die Rechtfertigung in einer Übereinkunft bestimmter Art fundieren, während Konstruktivisten sich auf eine Konzeption der Vernunft stützen (vgl. 2003a: 319). Ich denke, dass O’Neill hier zu sehr ihre eigene konstruktivistische Konzeption als maßgebend annimmt, die nicht nur darin besteht, Moral zu konstruieren, sondern die Normativität und damit die Gründe im Allgemeinen. Sie macht sie damit als einzige konstruktivistische Konzeption geltend. Darüber hinaus verlegt sie den Kontraktualismus in ihrer Argumentation auf eine Ebene, die ihm im Grunde nicht eigen ist: auf die Ebene faktischer Übereinkünfte. Das Zentrale an der Übereinkunft sieht sie beispielsweise bei Rawls in der Verwendung eines Überlegungsgleichgewichtes, also einer letztlichen Rechtfertigung unserer Prinzipien durch unsere wohlüberlegten Urteile, die kohärent zusammenstimmen und intuitiv einsichtig sind, was eine eher untypische Interpretation des Kontraktualismus ist. Dass jenes zwar die höhere Stufe der Rechtfertigung bei Rawls ist (vgl. ebd.: 320), mag jedoch unbestritten sein. Dies bemerkt auch Scanlon (vgl. 2004: 124f.), von dem O’Neill sagt, er wäre kein Kontraktualist, da dies nach ihrer eigenen Definition nur für Theorien tatsächlicher Übereinkunft zutrifft. Für Scanlon ist tatsächliche Übereinkunft jedoch nicht das, worum es im Kontraktualismus geht. Unabhängig davon ist die Einführung einer strikten Trennung zwischen Konstruktivismus und Kontraktualismus nicht sonderlich hilfreich, da hier unterschiedliche Ebenen miteinander vermischt werden. Der Konstruktivismus trifft eine spezifische Aussage darüber, dass wir moralische Prinzipien durch entsprechende Verfahren konstruieren. Kontraktualismus ist dagegen ein mögliches Verfahren, dies zu tun. In diesem Sinne sollten wir Kontraktualismus als Teil des Konstruktivismus betrachten, was im Folgenden noch näher ausgeführt wird, wenn ich mich mit dem Konstruktivismus und den moralischen Tatsachen beschäftige.

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ung erhalten oder sich diese Tatsachen naturalistisch erfassen lassen, sondern dass sie stets das Ergebnis eines Konstruktionsprozesses sind. (2) Praktischer Standpunkt: Eine weitere Eigenschaft besteht in der Darstellung eines praktischen Standpunktes. In der Überbetonung der Prozeduralität des Konstruktivismus wird diese Eigenschaft meist übersehen (vgl. Street 2010: 366), doch der praktische Standpunkt erweist sich als theoretisch prioritär, denn er kennzeichnet den Ausgangspunkt des jeweiligen Verfahrens. Hier müssen (metaphorisch gesehen) die einzelnen Konstruktionsmaterialien zusammengebracht werden. Der praktische Standpunkt, von dem hier die Rede ist, lässt sich charakteristisch als derjenige Punkt bestimmen, von welchem der Überlegungsprozess über die Rechtfertigung moralischer Prinzipien seinen Anfang nimmt. Ein Konstruktivist zieht bestimmte Aspekte heran, die sich als Material für seine Konstruktion eignen. Diese Materialien können sehr unterschiedlich sein und reichen von einer bestimmten Konzeption der Person oder Gesellschaft bis zu einer Vorstellung von Gründen, welche die Menschen haben. An welcher Stelle der Ausgangspunkt gewählt wird und welche Merkmale ihm zukommen, hängt von vielen Faktoren ab, beispielsweise von dem Ziel der Rechtfertigung oder davon, welche Vorstellung der praktischen Vernunft mit einfließt. Auch moralische Urteile können bereits selbst Bestandteil eines praktischen Standpunktes sein, die dann jedoch offenbar nicht mehr Gegenstand der konstruktivistischen Rechtfertigung selbst sind, sondern auf eine andere Weise begründet werden. Es ist überhaupt eine sehr wichtige Frage, wie die Merkmale des praktischen Standpunktes zustande kommen. Sind jene vielleicht konstitutiv für unsere Überlegungen zu moralischen Fragen überhaupt oder verlassen wir uns hierbei vielleicht besser auf Intuitionen oder den Kontext der Gesellschaft, in dem wir uns befinden? (3) Praxisfokussierung: Das dritte Merkmal ist die Praxisfokussierung des Konstruktivismus. Die grundlegenden Ideen eines Verfahrens und des praktischen Standpunktes werden im Hinblick auf Streitigkeiten und problematische Standards dargelegt. Dahingehend zielt er auf die Rechtfertigung gegenüber den streitenden Parteien ab. Rawls drückt dies vor dem Hintergrund seiner eigenen Theorie folgendermaßen aus: »Die Suche nach vernünftigen Gründen für eine Übereinkunft […] ersetzt die Suche nach einer moralischen Wahrheit, die als durch eine vorgängige und unabhängige (sei es natürliche oder göttliche) Ordnung von Gegenständen und Beziehungen festgelegt interpretiert wird, einer Ordnung, die von unserem Selbstverständnis abgelöst und von ihm verschieden ist« (1992b: 85). Wir bedienen uns anderer Mittel, wenn wir Moral nicht als etwas betrachten, was wir als unabhängig von uns erkennen können. Rawls grenzt diese Position explizit von denjenigen ab, die sich der theoretischen Vernunft bedienen, wie es seiner Ansicht nach dem rationalen Intuitionismus zu eigen ist, also jener Position, die (grob gesagt) durch intuitive Anschauung zu wahren moralischen Urteilen gelangen möchte: Es ist so,

4. Konstruktivistische Grundlagen

»dass das Konstruktionsverfahren im wesentlichen auf der praktischen und nicht auf der theoretischen Vernunft beruht. Im Einklang mit der Kantischen Unterscheidung sagen wir, die praktische Vernunft bringe Gegenstände nach einer Vorstellung dieser Gegenstände hervor […], während die theoretische Vernunft gegebene Gegenstände erkenne« (Rawls 2003: 173). Praktische Philosophie, wie sie von Rawls in der Folge von Kant begriffen wird, ist keine Sache des Findens oder Sammelns von Wissen, um es in der Praxis anzuwenden. Es ist eher die Verwendung der Vernunft, um praktische Probleme zu lösen (vgl. zum entsprechenden Praxisbegriff auch Korsgaard 2008: 321). Ich versuche dies alles, auf ein sehr einfaches Beispiel zu reduzieren: Nehmen wir an, zwei Personen wollen Schach spielen und haben lediglich Zeit für eine einzige Partie. Beide Spielerinnen wollen die weißen Figuren. Wie entscheiden wir, wer weiß erhält und damit das Spiel beginnen kann? Das ist unser praktisches Problem. Wir können die Antwort von einem bestimmten Verfahren abhängig machen und dieses Verfahren wäre vielleicht ein Münzwurf. Wir legen einen praktischen Standpunkt fest, von dem aus der Münzwurf erfolgen kann: Es gibt Bedingungen für das Verfahren, zum Beispiel, dass die Münze nur ein einziges Mal geworfen werden kann, dass sie nicht etwa zwei Köpfe hat, sondern sich sowohl Zahl als auch Kopf auf ihr befinden, und dass jede der Parteien eine dieser Seiten zugesprochen wird. Dann bringen wir das Verfahren in Gang und das Resultat, wer am Ende die weißen Figuren erhält, besteht einzig Kraft dieses Verfahrens, welches wir durchgeführt haben. Wir antworten damit auf das praktische Problem, vor welches wir uns gestellt sahen. Ließe sich das Verfahren des Münzwurfes auch anders interpretieren? Nach der bisherigen Darstellung ist das Verfahren des Münzwurfes eines, welches eine bestimmte Tatsache (die Berechtigung, mit dem Spiel zu beginnen) schafft oder kreiert. Es ist eine Tatsache, die vorher noch nicht da war. Könnten wir vielleicht aber auch sagen, dass der Münzwurf eine solche Tatsache gar nicht kreiert, sondern das Verfahren lediglich dazu da ist, um zu entdecken, wer berechtigt ist, als erster anzufangen? In diesem Falle gäbe es bereits eine bestimmte Tatsache ganz unabhängig vom Verfahren. Also wäre eine der Spielerinnen im Grunde schon die ganze Zeit berechtigt gewesen, mit dem Spiel anzufangen, wir wussten es nur noch nicht. Dies klingt in diesem konkreten Falle recht absurd, weil wir doch davon ausgehen müssen, dass es reiner Zufall ist, für wen die Münze spricht. Dennoch muss dies für moralische Erkenntnisverfahren nicht gelten.4 4 | Überhaupt stößt die Analogie mit dem Münzwurf auf Grenzen. Das ist verständlich und soll auch nur der Idee Anschauung verleihen. So ist das Verfahren hier ein zufälliges und automatisiertes. Ein kontraktualistischer Konstruktionsprozess ist jedoch immer ein Deliberationsverfahren, in dem Überlegungen stattfinden, ob die betroffenen Per-

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Konstruktivismus als epistemologische These, wie wir bestimmte moralische Urteile rechtfertigen können, muss nicht unbedingt mit einer ontologischen These einhergehen, die sagt, dass es keinerlei unabhängig vom Verfahren bestehende moralische Tatsachen gibt. Sowohl Konstruktivisten als auch Vertreter anderer Positionen – wie der moralische Realismus, der die Position vertritt, dass es solche moralischen Tatsachen unabhängig von unserem eigenen Wirken gibt – können darin übereinstimmen, dass wir epistemische Verfahren anwenden müssen, um herauszufinden, was die moralischen Tatsachen sind und dass diese Verfahren bestimmen, wovon man gerechtfertigt überzeugt sein kann. Dies scheint jedoch ein Gemeinplatz zu sein. Egal welche ontologische Auffassung ich vielleicht von moralischen Tatsachen vertrete, ich kann vielleicht dennoch mit dem epistemischen Verfahren, welches zu diesen Tatsachen führt, übereinstimmen. Diese beiden Ebenen (Erkenntnisverfahren und Auffassung von moralischen Tatsachen) werden oft vermischt, weil die Rede von Rechtfertigung und Wahrheit oft miteinander verschmolzen wird. Im Münzwurf beispiel ist der Konstruktivismus eine Behauptung über die rechtfertigende Priorität des Verfahrens gegenüber dem Resultat. In diesem Beispiel scheint der Konstruktivismus nicht nur eine Behauptung über die epistemische Rechtfertigung unserer Überzeugungen betreffend der Tatsache zu sein, wer berechtigt ist, die weißen Figuren zu erhalten und das Schachspiel zu beginnen, sondern es ist gleichsam eine Behauptung darüber, wodurch es zum Fall wird, dass jemand zuerst anfangen kann. Eine Frage wird sein, ob eine konstruktivistische Position überhaupt zu einer solchen ontologischen Frage Stellung beziehen muss, also etwas über den Charakter der moralischen Tatsachen aussagen muss, die das Ergebnis des Verfahrens sind, oder ob allein die Charakterisierung des Verfahrens hinreichend ist (dazu Kapitel 4.3.). Was ich hier jedoch vorerst verdeutlicht habe, ist, dass wir mit einem Konstruktionsverfahren unabhängig sind von der Vorstellung eines wahren ontologischen Reichs moralischer Tatsachen. Der Konstruktivismus ist dahingehend eine antirealistische Position, indem er seine Unabhängigkeit von einer moralischen Realität bewahrt. Wenn wir jedoch eine in diesem Sinne antirealistische Position vertreten, dann stellt sich die Frage, wie wir den Ergebnissen des Erkenntnisverfahrens auch nur irgendeine Objektivität beimessen können, wenn wir nicht auch ihre Realität begreifen. Ohne eine unabhängige moralische Ordnung, die überprüf bar bleibt, drohen wir, einem Relativismus zu verfallen. Konstruktivisten verteidigen jedoch im Allgemeinen eine praktische Vorstellung von Objektivität, die sich von der üblichen Art unterscheidet, wie wir zu Erkenntnissen gelangen. Objektivität wird eben nicht verstanden als eine sonen einem entsprechenden Prinzip zustimmen könnten oder nicht. Die grundlegende Struktur mit den entsprechenden Merkmalen des Konstruktivismus sollten dadurch aber deutlich geworden sein.

4. Konstruktivistische Grundlagen

akkurate Repräsentation einer entsprechend unabhängig von uns bestehenden Ordnung. Mit einer solchen objektivistischen, aber nicht realistischen Verpflichtung platzieren Konstruktivisten ihre Herangehensweise »irgendwo zwischen realistischen und relativistischen Ansätzen der Ethik« (O’Neill 1988: 1, Übers. d. Verf.). Weil die Erkenntnisse, die wir im praktischen Bereich erhalten können, nicht auf dieselbe Weise zu erlangen sind wie im theoretischen Bereich, verzichten Konstruktivisten auf einen Wahrheitsbegriff und sprechen stattdessen von »vernünftigen« Prinzipien als Gegenbegriff zu »wahren« Prinzipien (Rawls 1992b: 133) oder sie reden in moralischen Kontexten von der »Richtigkeit« anstatt der »Wahrheit« moralischer Urteile (Habermas 1999).

4.2. K onstruk tivismus – me tae thisch oder normativ ? Die bisherigen Aussagen bedürfen der weiteren Klärung. Es gibt eine bestimmte Unterscheidung bezüglich des Konstruktivismus, welche zu Missverständnissen beiträgt. Street (2010: 363) vertritt die Auffassung, wir könnten einen Konstruktivismus erster Stufe, welcher sich auf den Bereich der normativen Ethik beschränkt, und einen Konstruktivismus zweiter Stufe unterscheiden, der sich auch mit metaethischen Fragen beschäftigt. Ich werde versuchen, diese Unterscheidung aufzuklären, was mir gleichzeitig dazu dient, den Boden für die nachfolgenden Kapitel zu bereiten. Missverständlich ist diese Unterscheidung von Street deshalb, weil sie ein eingeschränktes Profil der Metaethik voraussetzt. Vorsicht ist deshalb angebracht, weil es keineswegs eindeutig ist, was unter Metaethik verstanden wird oder wie die Abgrenzung zur normativen Ethik sinnvollerweise gezogen werden kann. Klar ist, dass die Metaethik mit dem Anspruch aufritt, nicht selbst Sollens-Sätze zu formulieren, um in gewisser Weise normativ neutral zu bleiben. Dies unterscheidet sie von spezifisch normativer Ethik, welche solche Aussagen formuliert. Dennoch beschäftigt sich die Metaethik nicht mit deskriptiven Beschreibungen unseres faktischen Moralverständnisses. Die Metaethik versucht im weitesten Sinne zu zeigen, was wir unter einem moralischen Urteil verstehen können. Die Unterscheidung zwischen normativer Ethik und Metaethik ist philosophiegeschichtlich ein neueres Phänomen. Man kann sagen, dass es bis zum 20. Jahrhundert keine explizite Trennung zwischen diesen Sphären gegeben hat (zumindest keine, die bewusst vollzogen und gekennzeichnet worden wäre) (vgl. Hill 2011: 29f.). Natürlich wurde schon immer Metaethik im heutigen Sinne betrieben. Insbesondere Theoretiker, die sich mit dem Wesen der moralischen Sprache beschäftigten, grenzten sich explizit von der normativen Ethik ab, da sie keinerlei normative Behauptungen über das aufstellten, was wir tun sollen. Die Metaethik war in ihren modernen Anfängen vor allem mit

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sprachanalytischen Untersuchungen beschäftigt. Die Begriffsanalyse sollte uns zeigen, ob moralische Aussagen überhaupt wahrheitsfähig sein können. Der sprachanalytische Bereich ist das typische Feld, auf dem sich Kognitivisten und Non-Kognitivisten gegenüberstehen. Letztere verneinen den kognitiven Gehalt moralischer Urteile. Diese Urteile bringen dieser Auffassung gemäß lediglich subjektive emotionale Einstellungen zum Ausdruck (Emotivisten/ Expressivisten) oder haben einen rein vorschreibenden Charakter (Präskriptivisten). Wenn dagegen Kognitivisten moralische Urteile für wahrheitsfähig halten, führt dies zu der weitergehenden Frage, ob man es in diesem Fall dann mit entsprechenden ontologisch bestimmbaren moralischen Tatsachen zu tun hat. Gibt es eine wahre moralische Ordnung, die wir erkennen können? Die ontologische Frage der Metaethik beschäftigt sich deshalb mit der Möglichkeit von Entitäten, die unabhängig von unserer subjektiven Perspektive erkannt werden können. Auf diesem Felde streiten sich typischerweise Realisten und Antirealisten. Zuletzt gibt es eine epistemologische Frage danach, wie wir zu diesen moralischen Tatsachen gelangen oder wie wir moralisches Wissen erwerben können. Dies betrifft die Frage, wie wir im Felde der Moral rational argumentieren können. Was heißt es für ein moralisches Urteil gerechtfertigt zu sein? Wie können wir moralische Erkenntnisse oder sichere Maßstäbe erhalten? Die epistemologische Frage ist somit in erster Linie jene nach der Struktur der Rechtfertigung moralischer Urteile (vgl. Scarano 2011). Dies sind alles Fragen, die sich noch nicht mit dem beschäftigen, was getan werden soll. Sehr vereinfacht gesagt, kümmert sich die normative ethische Theorie darum, die grundlegendsten moralischen Prinzipien zu rechtfertigen, zu artikulieren, zu erklären und zu hierarchisieren, während die Metaethik darüber Auskunft gibt, was wir mit moralischen Aussagen meinen, ob es moralische Tatsachen gibt und wie wir moralisches Wissen erwerben können. Mit dieser kurzen Kennzeichnung der Metaethik komme ich zurück zur Unterscheidung von Street (2010), die den Konstruktivismus einmal als normativen und einmal als metaethischen Konstruktivismus bezeichnet. Der normative Konstruktivismus zeichne sich nach Street dadurch aus, dass er sich auf einen bestimmten Bereich des Normativen begrenzt, während er von anderen substanziellen normativen Begriffen ausgeht, die nicht konstruiert sind. Demnach wäre John Rawls ein Beispiel für einen Konstruktivisten bezüglich des spezifischen Bereichs der sozialen und politischen Gerechtigkeit (politischer Konstruktivismus), während Thomas Scanlon ein Beispiel für einen Konstruktivisten in Bezug auf den Bereich allgemeiner moralischer Prinzipien (moralischer Konstruktivismus) wäre. Genau diese Bereiche sind bei ihnen konstruiert und das Ziel der Rechtfertigung. Wenn es aber um Gründe oder andere Werte geht, die sie mitunter bei der Darlegung ihres praktischen Standpunktes voraussetzen, dann ist ihre Position nicht mehr konstruktivistisch. So vertritt Thomas Scanlon beispielsweise einen Realismus über das Wesen von

4. Konstruktivistische Grundlagen

Gründen, während er einen Konstruktivismus über moralische Prinzipien vertritt. Die normative Auffassung der Gründe wird als Material verwendet, den moralischen Bereich zu konstruieren. Rawls setzt bestimmte Werte voraus, die sich in einer moralischen Konzeption der Person und Gesellschaft ausdrücken. Diese sind nicht konstruiert. Einfach gesagt: Beide halten einen bestimmten normativen Bereich für sicher und versuchen mithilfe dessen, einen anderen normativen Bereich zu konstruieren (vgl. Street 2010: 366-370). Wo wiederum der von ihnen für bestimmt gehaltene normative Bereich herkommt, darüber können sie schweigen. Der metaethische Konstruktivismus will dagegen nach Street eine Antwort auf sämtliche Phänomene des Normativen bieten, mithin die Frage nach der Möglichkeit normativer Tatsachen schlechthin beantworten. Dies beinhaltet, dass der praktische Standpunkt, den ein umfassender Konstruktivist entwirft, lediglich formale, aber keine substanziell normativen Bestandteile enthält – zumindest keine, die unerklärt bleiben. Zu einer solchen Position werde ich in Kapitel 4.5. Stellung beziehen. Ich denke, dass sich nun zumindest erkennen lässt, dass die Unterscheidung zwischen metaethischem und normativem Konstruktivismus etwas zu strikt von Street gezogen wird, insbesondere wenn wir die verschiedenen Fragestellungen betrachten, die in der Metaethik gewählt werden können. Auch normative Konstruktivisten vertreten eine kognitivistische Position, indem sie moralische Aussagen für fähig halten, allgemein verbindlich zu sein und nicht nur subjektive Einstellungen ausdrücken. Auch lassen sich moralische Aussagen rechtfertigen. Sie sind in dem Sinne antirealistisch, dass sie eine bestimmte Vorstellung von subjektunabhängigen moralischen Tatsachen in dem Bereich, den sie konstruieren, nicht benötigen (obwohl sie, wie ich in Kapitel 4.3. zeigen werde, nicht bestreiten müssen, dass es solche Tatsachen geben mag). Letztlich verweisen sie auf ein spezifisches Verfahren, wie wir zu moralischen Urteilen gelangen können. Ihr Konstruktivismus ist auch metaethisch zu verstehen. Allerdings ist der Begriff des normativen Konstruktivismus auch wörtlich zu nehmen, denn mit ihm gehen bestimmte normative Voraussetzungen einher, die nicht mehr Gegenstand einer weitergehenden konstruktivistischen Rechtfertigung sind (bzw. nicht im konstruktivistischen Rahmen bleiben) Es macht jedoch meiner Ansicht nach einen Unterschied, ob ich moralische Voraussetzungen (die natürlich normativ sind) oder normative Voraussetzungen mache (die nicht immer moralisch sein müssen). Wenn ich eine Vorstellung von Gründen voraussetze, von Rationalität oder Klugheit, dann sind dies normative Begriffe, jedoch nicht unbedingt moralische. Wenn ich nun sage, dass sämtliche Normativität konstruiert ist, dann bietet es sich vielleicht an, statt von einem metaethischen Konstruktivismus von einem umfassenden Konstruktivis-

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mus zu reden, wie Street (2010: 369) ebenso an einigen Stellen vorschlägt.5 Die Teilung verläuft dann nur noch entlang der Frage, ob sämtliche Normativität für konstruiert gehalten wird oder nur ein ganz bestimmter Teil. Wenn letzteres der Fall ist, wird auf andere normative beziehungsweise auch spezifisch moralische Begriffe zurückgegriffen. In dem Sinne wäre es fast treffender, von einem metanormativen Konstruktivismus zu sprechen (welcher Aussagen zu sämtlicher Normativität trifft, beispielsweise über ihren ontologischen und epistemologischen Status), während der eingeschränkte Konstruktivismus eher ein intranormativer Ansatz ist (in welchem ein bestimmter normativer Bereich durch einen anderen erklärt oder gerechtfertigt wird).6 Wenn ich bestimmte moralische Voraussetzungen mache, um andere moralische Phänomene zu erklären, oder bestimmte moralische Prinzipien für grundlegend halte und damit andere Prinzipien erkläre, dann ist es ein intramoralischer Ansatz. Wenn ich versuche, die Moralität in sprachanalytischer, ontologischer oder epistemologischer Hinsicht zu erklären, dann ist es ein metaethischer Ansatz, wobei in die Erklärung auch andere normative Bereiche einfließen können, ohne dass der metaethische Status, in dem noch keine konkreten moralischen Schlussfolgerungen gezogen werden, verlorengeht. Beispielhaft habe ich in der folgenden Tabelle einige Fragen formuliert, mit welchen sich der entsprechende Bereich befasst (in der zweiten Zeile), und die Form der Aussagen notiert, welche in diesem Bereich getätigt werden (in der dritten Zeile):

5 | Diese Unterscheidung treffen in ähnlicher Weise Lenman/Shemmer (2012), die zwischen globalem (alle Normativität betreffend) und lokalem (einen bestimmten normativen Bereich betreffend) Konstruktivismus unterscheiden. Wir finden hier übrigens auch den Theorieaufbau wieder, den wir bereits für die Vertragstheorie festgestellt haben, wo wir auf den Unterschied zwischen lokaler und globaler Vertragstheorie zu sprechen gekommen sind (Kapitel 3.1.). 6 | Diese Trennung zwischen metaethischen und metanormativen Fragen, insbesondere im Kontext des Konstruktivismus, findet sich etwa bei Hussain (2012) oder auch bei Enoch (2009).

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Tabelle 3 – Dimensionen des Normativen Metanormativ

Intranormativ

Intramoralisch

Metaethisch

Was ist ein normatives Urteil? Was ist ein Grund? Warum soll ich rational handeln? Was ist rational?

Habe ich am meisten Grund zu tun, was moralisch gefordert ist? Ist es rational, moralisch zu sein?

Menschen sind moralisch gleich. Was folgt daraus für die Verteilungsgerechtigkeit?

Was ist ein moralisches Urteil? Ist es wahrheitsfähig? Gibt es moralische Tatsachen? Wie gelange ich zu moralischem Wissen? Wie können wir Moral rechtfertigen?

Aussagen über normative Phänomene

Aussagen darüber, ob aus einem normativen Phänomen (wie der Rationalität) etwas für ein anderes normatives Phänomen folgt (wie der Moral)

Aussagen darüber, ob aus einem moralischen Phänomen (wie der moralischen Gleichheit) etwas für ein anderes moralisches Phänomen folgt (wie der Verteilungsgerechtigkeit)

Aussagen über moralische Phänomene

Erklärend ist hinzuzufügen, dass diese Trennung als »integriert« betrachtet werden muss. Da moralische Phänomene auch normative Phänomene sind, sind metaethische Betrachtungen Teil metanormativer Betrachtungen und intramoralische Überlegungen sind auch immer intranormative Betrachtungen. Letztlich muss konstatiert werden, dass die klassische Unterscheidung zwischen Metaethik und normativer Ethik allgemein sehr grob ist und dies aus mindestens drei Gründen: (1) Ergebnisse, die auf metaethischer Ebene erhalten werden, haben zweifellos auch Einfluss auf die normative Ethik. Sie kann den Spielraum eingrenzen, in welchem die normative Ethik sich bewegt. (2) In der Ethik wurde seit jeher beides betrieben, sowohl eine metaethische Untersuchung als auch die Formulierung von moralischen Sollens-Sätzen. Die Trennung dieser Ebenen ist eine spezifisch moderne Trennung der analytischen Philosophie. (3) Neben den klassischen metaethischen Fragestellungen erlangen auch zunehmend Fragen zur Normativität überhaupt eine zentrale Bedeutung, gerade wenn Moral auf andere normative Bestandteile wie Gründe oder Rationalität zurückgeführt werden soll. Weshalb sollten wir das tun, wofür wir am meisten Gründe haben, oder weshalb das tun, was am rationalsten ist? Das Fundament moralischer Rechtfertigung gerät ins Wanken, wenn wir diese Fragen stellen.7 7 | Auch Scanlon betont, dass die Behandlung metaethischer Fragen heute in den Hintergrund gedrängt wird von einem deutlich umfassenderen Projekt bezüglich der normativen Begrifflichkeiten überhaupt (vgl. Scanlon 2014: 1).

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Die Beschäftigung mit der Frage, ob es substanzielle normative Bestimmungen gibt, die nicht selbst konstruiert sind, führt zu einer weiteren Schwierigkeit bezüglich des Konstruktivismus. Wie die Rechtfertigung auf dem Verfahrensweg in konstruktivistischen Begriffen erfolgt, mag sicherlich noch einigermaßen einleuchten, doch wie sieht es mit der Konstitution des Verfahrens selbst aus beziehungsweise mit dem Punkt, von dem jenes Verfahren seinen Ausgang nimmt? Wie lässt sich der praktische Standpunkt rechtfertigen? Offenbar nicht wiederum mit einem konstruktivistischen Verfahren, denn dies hätte entweder Zirkularität oder einen infiniten Regress zur Folge. Letztlich wirkt allein der Auf bau konstruktivistischer Positionen bezüglich eines Verfahrens und eines praktischen Standpunktes wie ein dogmatischer Abbruch der Rechtfertigung. Hier liegt die eigentliche Essenz, weshalb vielleicht der Vorwurf herauf beschworen werden könnte, dass mit einem »eingeschränkten« und nicht umfassenden Konstruktivismus keine guten Antworten geliefert werden können, weil er von Elementen ausgehen muss, die er für selbstverständlich hält. Dies wäre vielleicht dann kein Problem, wenn die Rechtfertigung auf das Moralische beschränkt und der praktische Standpunkt mit anderen normativen Begriffen aufgebaut wird, etwa einem basalen Begriff des Grundes oder einer Vorstellung von Rationalität. Problematisch wird es aber vor allem dann, wenn sogar moralische Bestandteile wie Bedingungen der Fairness oder Gleichheit mit in den praktischen Standpunkt einfließen. Ich werde in Kapitel 4.4. und 4.5. auf die Frage der Konstitution des praktischen Standpunktes eingehen. Zuvor werde ich mich mit dem Status der zu konstruierenden moralischen Prinzipien beschäftigen. Der Vorteil eines konstruktivistischen Kontraktualismus ist meiner Ansicht nach, dass auf problematische ontologische Diskussionen bezüglich der Entität moralischer Tatsachen verzichtet werden kann. Davon wird das nächste Kapitel handeln.

4.3. D er B ereich mor alischer Tatsachen Das folgende Kapitel bezieht sich auf die ontologische Frage der Metaethik bezüglich der Entität moralischer Tatsachen. Letztlich geht es um den ontologischen Status der moralischen Prinzipien, die wir mittels der kontraktualistischen Formel rechtfertigen wollen. Zu Beginn habe ich die Merkmale des Konstruktivismus offengelegt. Konstruktivistische Theorien ermitteln moralische Urteile oder moralische Prinzipien über ein Verfahren von einem praktischen Standpunkt aus. Die Prinzipien sind abhängig von einem solchen Verfahren. Eine konstruktivistische Position erscheint vor allem deshalb als attraktiv, weil sie eine bestimmte metaethische Position öffnet. Um eine Darstellung der Objektivität moralischer Urteile zu erhalten, müssen wir nicht Bezug auf eine unabhängige moralische Ordnung oder Realität nehmen. Statt-

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dessen ergibt sich die Objektivität der moralischen Urteile dadurch, dass sie das Ergebnis eines entsprechend plausibilisierten Verfahrens sind. Damit ist ein Objektivismus ohne Realismus möglich. Der Konstruktivismus verspricht eine Konzeption rationaler Rechtfertigung, die bekannte epistemologische und ontologische Schwierigkeiten (insbesondere des moralischen Realismus) vermeidet. Es stellt sich für den Realismus immer die Frage: Wenn es moralische Tatsachen unabhängig von Verfahren und Personen gibt, die diese Verfahren anwenden, was sind dies dann für Entitäten? Wenn ich die Objektivität der Existenz eines Tisches beweisen will, kann ich durch Beobachtung und Bestätigung der Realität des Tisches auch seine objektive Existenz beweisen. Aber wie kann ich Kontakt zu einer moralischen Tatsache haben? Gibt es diese und wenn ja, wie kann ich sie erkennen? Der Konstruktivismus vermeidet eine solche Auffassung von realen moralischen Tatsachen. Dafür gibt es jedoch innerhalb des Konstruktivismus zwei unterschiedliche Strategien (1) die Ausklammerung von moralontologischen Fragen und (2) die Beantwortung klassischer moralontologischer Fragen, um eine Alternative auf dem Gebiet der ontologischen Metaethik gegenüber der Position des Realismus zu bieten. Betrachten wir die erste Strategie. Sie wird klassischerweise von John Rawls vertreten. Rawls hatte am Anfang noch von seiner Theorie als einer Form des kantischen Konstruktivismus (vgl. Rawls 1992b) gesprochen, also eines Konstruktivismus, der spezifisch in kantischer Tradition steht und deutlich weitreichendere Thesen vertritt. Später betonte er seine Differenz zu Kant und sprach von einem spezifisch politischen Konstruktivismus (vgl. Rawls 2003: 169-216). Rawls Interesse, die Moraltheorie Kants wiederzubeleben, erfolgte aus einer Diagnose, dass fundamentalistische Positionen inadäquat sind, um ethische Meinungsverschiedenheiten zu behandeln, welche ein unverkennbares Merkmal für eine pluralistische Gesellschaft sind. Rawls war insbesondere daran interessiert, das Problem der Koordination in Anbetracht eines faktischen Wertepluralismus durch gerechte Institutionen zu lösen. Nach Rawls bietet Kant nun eine objektivistische Rechtfertigung, die Autorität für jeden beansprucht, ungeachtet der Interessen, Positionen oder spezifischen Werte, die von jedem Menschen jeweils vertreten werden. Rawls distanziert sich in seinem späteren Werk jedoch deutlich vom kantischen Anliegen, eine umfassende Lehre auszuarbeiten. Der Konstruktivismus von Rawls ist in zweifacher Hinsicht eingeschränkt: (1) Er bezieht sich ausschließlich auf eine begrenzte Dimension, denn er beansprucht, weder für alle moralischen noch für alle normativen Tatsachen ein konstruktivistisches Verfahren anzubieten, sondern nur für eine bestimmte Klasse moralischer Prinzipien, die auf die Grundstruktur der Gesellschaft angewandt werden und

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die in einer offenen demokratischen Gesellschaft akzeptiert werden können.8 (2) Die politische Konzeption hält sich aus allen Debatten über metaphysische Fragen heraus. Zur Frage nach dem Status moralischer Tatsachen wird eine agnostische Haltung eingenommen, welche auch andere Interpretationen der Ergebnisse des Verfahrens zulässt (vgl. Galvin 2010). Sein Rückgriff auf Kant erfolgt in Form einer anderen Deutung von Kants Autonomie und seines kategorischen Imperativs, dessen Begründung im transzendentalen Idealismus für Rawls keine Rolle spielt (vgl. Rawls 1979: 283-290, 2003: 181f.). Die Divergenz zwischen Kant und Rawls betrifft auch, was über die Existenz einer ersten, unabhängigen moralischen Ordnung behauptet werden kann. Kant hätte wohl jegliche Form einer Ordnung von Werten zurückgewiesen, die unabhängig vom menschlichen Akteur bestehen würde. In seinen früheren Aufsätzen argumentierte Rawls übereinstimmend mit Kant, dass die Grundsätze der Gerechtigkeit »nicht (wie im rationalen Intuitionismus) durch eine vorgängige und […] unabhängige moralische Ordnung vorgegeben« (Rawls 1992b: 150) sind. Hier charakterisiert Rawls den Konstruktivismus noch als eine Leugnung der Existenz unabhängiger moralischer Tatsachen. Später jedoch beschränkt er sich auf eine rein praktische These, wonach uns ein Verfahren zu den entsprechenden moralischen Urteilen führt. Er bevorzugt ein Erkenntnisverfahren, welches sich gegen andere Erkenntnisverfahren wie diejenigen der ›Anschauung‹ der rationalen Intuitionisten wendet, aber er sagt nun gleichsam, dass wir über die ontologische Frage nach dem Wesen dieser moralischen Tatsachen, die das Ergebnis des Verfahrens sind, Stillschweigen bewahren können: »Um dem rationalen Intuitionismus nicht zu widersprechen, sagen wir nicht, das Konstruktionsverfahren stelle die moralische Wertordnung her oder bringe sie hervor. Denn die Intuitionisten sagen, diese Ordnung sei unabhängig und konstituiere sich gewissermaßen selbst. Weder leugnet der politische Konstruktivismus dies, noch behauptet er es« (Rawls 2003: 176). Rawls’ zentrales Ziel im Hinblick auf einen nun explizit politischen Konstruktivismus war es, eine Theorie der Gerechtigkeit zu entwickeln, welche vor einer Vielzahl von Menschen mit unterschiedlichen Ansichten gerechtfertigt werden kann. Zu einem agnostischen Konstruktivismus zu wechseln, ist demzufolge verständlich.9 8 | Der Fokus auf Gerechtigkeitsprinzipien für die Grundstruktur der Gesellschaft ist eine Kontinuität im Frühwerk von Rawls. Der eindeutig relativistische Zug, bezogen auf die faktischen demokratischen Gesellschaften, ist eine spezifische Betonung des Spätwerkes. 9 | Im Wandel der Position von einem atheistischen zu einem agnostischen Standpunkt drückt sich keine grundlegende Wandlung der gesamten Theorie aus. Sein Ansatz wird stattdessen in einem vertrauten Sinne praktischer. Das Ziel war es, eine politische Theorie zu konstruieren, die der Herausforderung des Faktums des Pluralismus

4. Konstruktivistische Grundlagen

Ähnlich verhält es sich bei Thomas Scanlon. Dieser sieht die vorrangige Aufgabe darin, ein Erkenntnisverfahren zu finden, welches uns zu moralischen Urteilen führt, die gegenüber jedem gerechtfertigt werden können: »Wenn wir die Methode des Denkens charakterisieren könnten, durch welche wir zu Urteilen des Richtigen und Falschen gelangen, und erklären könnten, warum es guten Grund gibt, solchen Urteilen, zu denen wir auf diese Weise gelangen, die Art von Bedeutung zu verleihen, von der angenommen wird, dass sie moralische Urteile normalerweise haben, dann würden wir auch, so glaube ich, eine hinreichende Antwort auf die Frage nach dem Gegenstand des Richtigen und Falschen erhalten. Keine interessante Frage über die Ontologie der Moral würde übrigbleiben – zum Beispiel über den metaphysischen Status moralischer Tatsachen« (Scanlon 1998: 2, Übers. d. Verf.). Solche Fragen werden also gewissermaßen als unnötig in einer allgemeinen Moraltheorie über richtig und falsch angesehen. Eine weitergehende Position in dieser Frage würde uns daran hindern, sämtliche Positionen in einer politischen Konzeption zu integrieren, wie dies Rawls’ Anliegen war. Thomas Hill bietet ebenso eine agnostische Charakterisierung des Konstruktivismus: »Konstruktivismus als solcher leugnet nicht, dass unsere grundlegenden moralischen Prinzipien wahr oder universal zutreffend sind; aber er braucht dies auch nicht zu behaupten. Die Hauptidee besteht darin, dass Prinzipien ›konstruiert‹ sind, d.h. entweder konstituiert oder praktisch gerechtfertigt dadurch, dass die Prinzipien allgemein für Personen akzeptabel sind, die auf eine bestimmte Weise begriffen werden, um bestimmten Problemen zu begegnen« (Hill 1995: 1162, Übers. d. Verf.). Er argumentiert, dass der Konstruktivismus in erster Linie praktisch ist und eine agnostische Position gegenüber unabhängigen moralischen Ordnungen verlangt. Dies geschieht in Anbetracht des Bedürfnisses, »Pattsituationen und unproduktive Kontroversen« zu vermeiden. Da es keine mögliche Erfahrung gibt, die die Existenz einer solchen Ordnung entweder bestätigt oder nicht bestätigt, sind wir nicht berechtigt, ein Urteil über ihre Existenz oder Nicht-Existenz zu fällen. In dem Sinne findet die agnostische Sicht auch Unterstützung in Kants Vorbehalt gegenüber allzu optimistischen metaphysischen und epistemologischen Spekulationen. Es wird darauf insistiert, dass Ethik in erster Linie praktisch ist. Konstruktivismus ist danach eine agnostische Theorie, die sich nur um die Praxis kümmert.10 begegnet. Auch Freeman kennzeichnet die Abkehr vom kantischen und die Hinwendung zum politischen Konstruktivismus in ähnlicher Weise, ohne jedoch das Vokabular des agnostischen oder atheistischen Konstruktivismus zu verwenden (vgl. Freeman 2007: 18-21), welches in dieser Distinktion meines Wissens nach zum ersten Mal von Galvin (2010: 24) verwendet wurde. 10 | Andere mögen vielleicht behaupten, wenn der Konstruktivismus nicht auf die metaethischen Fragen nach der Ontologie moralischer Tatsachen eingeht, wäre es keine

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Andere Konstruktivisten verfolgen die zweite Strategie, die darin besteht, spezifische Fragen zu beantworten, die klassischerweise in der Metaethik gestellt werden, vor allem was den ontologischen Status moralischer Tatsachen betrifft. Gibt es denn aber überhaupt einen Bedarf nach der Beantwortung solcher Fragen? Einige Konstruktivisten meinen, dass es keinen Platz für irgendwelche unabhängigen Tatsachen in einer konstruktivistischen Konzeption geben kann. Es mag eine Sache sein, den Realismus zurückzuweisen, und eine andere, ihn nur auszuklammern, indem man Fragen bezüglich des Realismus einfach beiseitelässt oder integriert. Es ginge aber darum, eine Konzeption der Objektivität moralischer Urteile zu entwickeln, welche sich dem Realismus bewusst entgegensetzt. Folgende Charakterisierung findet sich bei Darwall et al. (1992: 140, Übers. d. Verf.): Der Konstruktivismus »billigt ein hypothetisches Verfahren, um zu bestimmen, welche Prinzipien gültige Standards der Moral konstituieren […]. Der Prozeduralist behauptet […], es gäbe keine moralischen Tatsachen unabhängig von der Feststellung, dass ein bestimmtes hypothetisches Verfahren dieses und jenes Ergebnis hat.«11 Diese Darstellung des Konstruktivismus (der Prozeduralist ist bei Darwall et al. ein Konstruktivist) leugnet, dass es irgendwelche moralischen Tatsachen geben kann, die unabhängig vom konstruktivistischen Unternehmen sind. Warum denken einige Konstruktivisten, dass sie die Existenz einer vorgeordneten moralischen Ordnung unbedingt leugnen müssen? Sehen wir uns folgende Passage an, in welcher Rawls diese Form eines atheistischen Konstruktivismus Kant zuschreibt: »Kants Vorstellung von Autonomie erfordert, dass keine solche Ordnung vorgegebener Gegenstände existiert, welche die obersten Grundsätze von Recht und Gerechtigkeit unter freien und gleichen moralischen Personen festlegt. Heteronomie liegt nicht nur dann vor, wenn, wie bei Hume, oberste Grundsätze durch die besondere psychologische Verfassung der menschlichen Natur festgelegt werden, sondern auch, wenn sie durch eine Ordnung von Universalien oder Begriffen, erfasst durch rationale Anschauung, bestimmt werden, wie in Platons Reich der Ideen oder in Leibniz’ Hierarchie der Vollkommenheiten« (Rawls 1992b: 140). Rawls’ kantische Darlegung, dass die Idee moralischer Personen als Selbstinteressante Position mehr (vgl. Enoch 2009), aber auch dies erscheint mir als eine zu enge Sicht dessen, womit wir es bei der Metaethik zu tun haben. Vielleicht lässt sich ein solcher agnostischer Konstruktivismus mit objektivistischem Anspruch als eine Position verstehen, welche die klassischen Fragen der Metaethik transzendiert. 11 | So auch die stärkere Position des Konstruktivismus, wie sie etwa von O’Neill formuliert wird: Konstruktivisten »weisen distinkten moralischen Tatsachen oder Eigenschaften, ob natürlich oder nicht-natürlich, die entdeckt oder angeschaut werden können, keinen Platz zu oder verleihen ihnen kein Gewicht und sie suchen keine Fundamente für die Ethik in solchen Tatsachen« (O’Neill 2003: 320, Übers. d. Verf.).

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gesetzgeber, für welche die Kraft des moralischen Gesetzes sozusagen »von innen« kommen muss, bezieht sich auf zwei notorisch schwer zu verstehende Abschnitte der kantischen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, nämlich das Argument vom Scheitern heteronomer Ansätze sowie Kants Behauptung, erkannt zu haben, dass alle früheren Versuche über die Moraltheorie falsch angelegt waren. Um es kurz zu fassen: Das Problem mit allen vorherigen Moraltheorien ist, dass sie bei der Auferlegung moralischer Erfordernisse heteronom sind, da sie jene als etwas dem Subjekt Äußeres begreifen. Eine befriedigende Moraltheorie muss jedoch den freien Willen aufnehmen, da reine praktische Vernunft den Inhalt der Moral bestimmt und die Motivation, sich moralisch zu verhalten, innerhalb der praktischen Vernunft liegt und ihr entspringen muss. Genau deshalb muss die Version des Konstruktivismus, der durch diese Interpretation der autonomen Natur moralischer Handlungen vorgeschlagen wird, notwendig einen moralischen Atheismus in Bezug auf unabhängige moralische Tatsachen vertreten. Gäbe es diese unabhängige Ordnung, könnten wir gar nicht autonom handeln. Die Existenz einer solchen Ordnung wird somit geleugnet. Wenn es eine autonome Moral gibt, dann kann es keine moralische Realität außerhalb von uns geben. Das eine würde dem anderen widersprechen. Sowohl atheistische als auch agnostische Positionen können sich auf zentrale Lehren aus Kants Moralphilosophie stützen. Der agnostische Ansatz beruht auf dem Paradigma, dass Ethik in erster Linie praktisch sein muss. Der Ansatz vermeidet damit metaphysische Spekulation. Die atheistische Version beruht auf dem Bedarf der Ethik autonom zu sein. Die atheistische Version schließt einen metaphysischen Anspruch mit ein, während die Agnostiker sich jede Spekulation verbieten, aber zu dem Preis, dass die Moral genauso gut heteronom verstanden werden kann.12 Der Hauptgrund, weshalb atheistische Konstruktivisten gegen jede Art von moralischem Realismus wettern, ist immer die Sorge, dass jede Konzession an den Realismus unvermeidlich zu heteronomen Überlegungen über das führt, was menschliche Wesen tun sollen. Dies ist wiederum inkompatibel mit der entscheidenden Rolle, welche die Autonomie in moralischen Theorien spielt, 12 | Im Übrigen gibt es eine sehr interessante Debatte darüber, ob Kant tatsächlich ein moralischer Konstruktivist war oder vielleicht doch eher als moralischer Realist zu betrachten ist, zu der ich aber an dieser Stelle keine Stellung beziehen kann. Zu dieser interpretatorischen Problematik siehe vor allem Krasnoff (1999), welcher analysiert, wie viel kantische Gedanken im heutigen Konstruktivismus stecken; Rauscher (2002), welcher einige antirealistische und realistische Interpretationen zu Kant miteinander in Beziehung setzt; Kain (2006), welcher dieser Frage vor allem im Hinblick auf Kants Kritik der praktischen Vernunft nachgeht sowie Formosa (2011), der ein breites Schlaglicht auf die Frage nach Kants Konstruktivismus und Realismus wirft.

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insbesondere in kantischer Tradition. Ich glaube, es steht nichts Entscheidendes auf dem Spiel, wenn man sich für die eine oder andere Seite entscheidet. Ausschlaggebend ist vielmehr Folgendes: Ob wir nun den Realismus und damit die Existenz einer vorgeordneten moralischen Ordnung zurückweisen oder ob wir Stillschweigen darüber bewahren, hat erst einmal keine Auswirkungen auf die Aufgabe, handlungsleitende Prinzipien zu rechtfertigen, insoweit beide Optionen eine entsprechende Rechtfertigung immer noch zulassen. Keinerlei konstruktivistische Position geht von der Notwendigkeit einer unabhängigen moralischen Ordnung aus, die erforderlich wäre, um entsprechende moralische Prinzipien verfahrensmäßig zu begründen. Mehr ist meiner Ansicht nach nicht geboten. Mir scheint, wir müssen, ob wir nun Atheisten oder Agnostiker im Bereich der moralischen Tatsachen sind, zumindest eines sicherstellen, um diese konstruktivistische Position zu wahren: Es gibt ein Erkenntnisverfahren, welches Rechtfertigung erlaubt, unabhängig davon, ob wir den entsprechenden Ergebnissen auch das Attribut der »Wahrheit« im Sinne des Realismus verleihen können. Der agnostische Konstruktivismus hat nur den Vorteil, dass er diese weitergehende Frage aussparen kann und theoretisch leichter zu handhaben ist. Haben wir nun festgestellt, was für einen Status die moralischen Prinzipien haben können, welche mittels des konstruktivistischen Verfahrens gerechtfertigt werden, so bleibt nun die Herausforderung, wie wir den praktischen Standpunkt bestimmen, von welchem das Verfahren seinen Ausgang nimmt. Müssen wir uns wirklich alle normativen Begriffe als konstruiert vorstellen, wie es ein umfassender Konstruktivismus fordern würde? Ich werde darlegen, welche Schwierigkeiten bestehen, einen solchen Konstruktivismus zu vertreten, und stattdessen zeigen, dass ein Kontraktualismus, der mit bestimmten normativen Voraussetzungen arbeitet, die plausiblere Alternative darstellt.

4.4. D er B ereich normativer Tatsachen I – S canlon und R awls Bisher habe ich mich auf das bezogen, was mittels des konstruktivistischen Verfahrens gerechtfertigt werden soll. Ich habe mich mit dem Status der moralischen Ergebnisse beschäftigt, welche am Ende erhalten werden, und dabei festgestellt, dass gegenüber der Frage, welchen ontologischen Status diese Ergebnisse haben, nichts weiter ausgesagt werden muss, solange diesen moralischen Tatsachen eine praktische Bedeutung beigemessen werden kann. Die aber wahrscheinlich interessantesten Fragen bezüglich des Konstruktivismus ergeben sich, wenn wir unser Augenmerk nicht auf das lenken, was durch das entsprechende Verfahren gerechtfertigt werden soll, sondern auf den Ausgangszustand, von welchem selbiges Verfahren seinen Lauf nimmt, sprich:

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den praktischen Standpunkt. Wo wird der Anfang gemacht? Was sind die Materialien, die wir zur Konstruktion moralischer Prinzipien einsetzen können? Es gibt verschiedene Entscheidungen, die hier getroffen werden müssen. In den praktischen Standpunkt könnten beispielsweise Materialien einfließen, welche nicht normativ sind und sich rein auf deskriptive oder natürliche Tatsachen beziehen. Die einfache empirische Behauptung, dass Menschen faktisch Einfluss aufeinander ausüben, könnte Teil des praktischen Standpunktes sein und das Verfahren zur Ermittlung moralischer Prinzipien müsste dies berücksichtigen. Allgemeine Skepsis herrscht jedoch gegenüber rein naturalistischen Vorgehensweisen, die sich ausschließlich auf empirische Behauptungen beziehen. Was dann getan wird, ist nichts weiter, als aus einem Sein der entsprechenden Merkmale ein Sollen zu folgern. Es könnten jedoch – und dies ist die weit anerkanntere Variante – normative Merkmale selbst zum Bestandteil des praktischen Standpunktes gemacht werden. Doch wie werden diese gerechtfertigt, wenn auf naturalistische Methoden verzichtet wird? Verschiedene Versuche wurden dazu unternommen. Wir könnten bestimmte Merkmale des praktischen Standpunktes einfach dadurch festlegen, dass sie für unser Selbst und unsere Überlegungen über praktische Fragen konstitutiv sind, was im Wesentlichen die Strategie des Kantianismus ist. Eine andere Möglichkeit wäre es vielleicht, wenn wir normative Bestandteile für intuitiv einsehbar halten. Vielleicht sind sie so unproblematisch, dass sie keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen, sie damit sozusagen ein Axiom bilden. Halten wir zumindest eines fest: Der praktische Standpunkt selbst ist nicht konstruiert, er kann es gar nicht sein, wenn wir keine Zirkularität oder keinen infiniten Regress herbeiführen wollen. So sagt auch Rawls ganz treffend: »Es wird also nicht alles konstruiert; wir benötigen sozusagen das Ausgangsmaterial. […] Das Verfahren selbst wird […] einfach nur dargelegt« (Rawls 2003: 186). Spätestens an dieser Stelle ergeben sich große Rechtfertigungsprobleme. Denn wer entscheidet, was eigentlich dargelegt werden kann oder welche Ausgangsmaterialien zur Konstitution eines Verfahrens zur Gewinnung moralischer Prinzipien angemessen sind? Hier entscheidet sich, wie »tiefgehend« ein Konstruktivismus sein kann. Je nachdem was für Voraussetzungen in einen praktischen Standpunkt einfließen, wird sich die Rechtfertigung als umfassender oder weniger umfassend darstellen lassen. Dazu seien einige Bemerkungen gemacht: In meiner Darlegung und Weiterentwicklung des Kontraktualismus in kantisch-rousseauischer Tradition sollen moralische Prinzipien gerechtfertigt werden. Was sind moralische Prinzipien? Sie sind in jedem Fall normativ, sie sagen uns, was wir tun sollen. Nun sind moralische Prinzipien nicht die einzigen normativen Bestandteile, die es gibt. Normativ können für uns auch Klugheitserwägungen, eine bestimmte Rationalität oder schlicht die Tatsache sein, dass ich einen Grund für etwas habe (ob man unter all diesen Begriffen überhaupt ver-

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schiedene Dinge versteht oder sie nicht aufeinander reduziert werden können, lasse ich beiseite). Es scheint erst einmal nicht schwer vorstellbar, dass wir moralische Prinzipien auf andere normative Materialien gründen können. Um dies noch besser zu verstehen, lässt sich ein Zitat von Christine Korsgaard heranziehen, die drei konstruktivistische Herangehensweisen betrachtet. Neben ihrer eigenen auch diejenigen der Kontraktualisten John Rawls und Thomas Scanlon: »Theorien werden darin variieren, wie gründlich sie konstruktivistisch sind, weil verschiedene normative ›Objekte‹ in unterschiedlichen konstruktivistischen Theorien konstruiert werden. Rawls konstruiert Prinzipien der Gerechtigkeit. Um dies zu tun, nimmt er einige andere normative Begriffe für selbstverständlich. Die Parteien in Rawls’ Urzustand wählen mit der Sicht, was für sie das Beste wäre, aber unter Einschränkung von Informationen, den Schleier des Nichtwissens. Die Vorstellung dessen, was das ›Beste‹ für jemanden ist, ist auch eine moralische oder eine normative Vorstellung und dies, oder eher die Vorstellung vom ›Guten‹, auf welcher sie basiert, ist nach Rawls nicht konstruiert. In T. M. Scanlons Theorie […] werden moralische Prinzipien konstruiert; das Problem, welches sie lösen, ist dasjenige der Rechtfertigbarkeit. Scanlon fragt bei der Konstruktion moralischer Prinzipien, welche Prinzipien Menschen vernünftigerweise zurückweisen könnten. Die Vorstellung eines Grundes [für die Zurückweisung, A.O.] ist auch eine normative Vorstellung und Scanlon denkt nicht, dass dies eine konstruierte Vorstellung ist. So stellt sich die Frage, wie ›tief‹ der Konstruktivismus gehen kann. Können selbst unsere grundlegendsten Gründe selbst konstruiert sein? Kants Sicht, so wie ich ihn verstehe […], ist jene, dass sie es können. Um es in meinen eigenen Worten zu sagen, wenn ein Akteur bestimmt, ob er eine Maxime als universales Gesetz wollen kann, so bestimmt er, dass er eine gewisse Überlegung, die dafür spricht, etwas zu tun, billigen kann und diese deshalb als einen Grund behandelt. Dieses konstruierte normative ›Objekt‹ ist dann verfügbar, um in anderen Konstruktionen verwendet zu werden. Wenn diese Art von kantischem Argument nicht funktioniert, dann kann der Konstruktivismus nicht ›den ganzen Weg hinunter‹ gehen. Ich denke selbstverständlich, dass er das kann« (Korsgaard 2008: 324, Hervorhebung getilgt, Übers. d. Verf.).

Korsgaards Sichtweise ist sehr aufschlussreich. Im Falle von Rawls kann gesagt werden, dass er moralische Prinzipien auf anderen moralischen Vorstellungen gründet. Rawls vertritt eine politische Konzeption von Gerechtigkeitsprinzipien, also eine ganz bestimmte Klasse von Prinzipien, welche die Grundstruktur der Gesellschaft regulieren sollen. Dazu bedient er sich moralisch gehaltvoller Ausgangsmaterialien, indem er eine spezifische Konzeption der Person als freie und gleiche voraussetzt und in seinem Auf bau des praktischen Standpunktes Fairnessbedingungen einfließen lässt. Bei Rawls funktioniert dies folgendermaßen: Wir legen den Urzustand zugrunde (welcher die Funktion des praktischen Standpunktes erfüllt) und in diesem gibt es Parteien, die darüber

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entscheiden sollen, welche Gerechtigkeitsprinzipien für ihre Grundstruktur Gültigkeit haben. Nun befinden sich die Parteien aber nicht in Kenntnis ihrer jeweiligen Situation und wissen auch nicht, welche Stellung sie in der Gesellschaft, die von den Prinzipien reguliert wird, einmal einnehmen werden. Sie befinden sich hinter einem »Schleier des Nichtwissens«, der ihre besondere soziale Position verbirgt. Der Schleier ist nichts weiter als eine moralische Fairnessbedingung. Dahinter steht eine bestimmte moralische Vorstellung, die in etwa so lauten könnte: Bei der Gestaltung der Grundstruktur einer Gesellschaft darf nicht auf individuelle Vorteile Rücksicht genommen werden, die Personen nur kraft ihrer Geburt, ihres zufälligen sozialen Status oder ihrer besonderen Situation erlangten. Zusätzlich sollen die Parteien rational im Sinne ihres Eigeninteresses hinter dem Schleier des Nichtwissens entscheiden. Dazu hat Rawls eine spezifische Vorstellung des Guten, also davon, was die Parteien wollen und wonach sie streben. Rawls hat demzufolge einen intramoralischen Ansatz, wie ich ihn in Kapitel 4.2. gekennzeichnet habe: Bestimmte moralische Prinzipien werden aufgrund anderer moralischer Bestimmungen konstruiert. Da sie ihre jeweiligen Vorteile in Unkenntnis ihrer Situation nicht ausspielen können, sind die Ergebnisse egalitäre Gerechtigkeitsprinzipien. Die oberste Formel des rawlsschen Kontraktualismus könnte in etwa lauten: Rawls-Formel: Prinzipien zur Regulierung der Grundstruktur einer Gesellschaft sind genau dann gerechtfertigt, wenn sie von allen Betroffenen als Gegenstand einer Übereinkunft rational im Sinne des eigenen Vorteils hinter einem Schleier des Nichtwissens, der die Besonderheiten ihrer selbst und ihrer Umstände verbirgt, akzeptiert werden könnten.13 Ich will an dieser Stelle die rawlssche Theorie nicht noch weiter ausführen. Entscheidend ist für das Verständnis des Konstruktivismus Folgendes: Gerechtigkeitsprinzipien werden bei Rawls durch eine Reihe von anderen normativen Voraussetzungen, etwa den moralischen Farinessvorstellungen, begründet und basieren auf einer moralischen Konzeption der Person. Wichtig ist, dass diese Bestandteile nicht selbst konstruiert sind, sondern eben nur »dargelegt«, wie Rawls es ausgedrückt hat. Nun kann begriffen werden, weshalb Rawls ein eher eingeschränkter Konstruktivist ist. Ein umfangreicher Konstruktivist müsste nun sagen, dass auch diese Vorstellungen noch konstruiert sein müssten. Wenn wir es uns aber wie Rawls nur zum Ziel machen, Gerechtigkeitsprinzipien zu konstruieren, welche für die Grundstruktur einer Gesellschaft leitend sein sollen, dann könnten wir auch auf andere moralische und normative Vorstellungen zurückgreifen, die wir jedoch auf andere Art rechtfertigen. 13 | Eine ähnliche Formulierung der grundlegenden kontraktualistischen Formel bei Rawls bietet auch Parfit (2011: 349).

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Ich komme nun zur Konzeption von Thomas Scanlon. Hier ist die Lage etwas komplizierter. Scanlon legt die folgende kontraktualistische Formel zugrunde: Scanlon-Formel: Sie besagt, »dass eine Handlung falsch ist, wenn ihre Ausführung unter den gegebenen Umständen durch irgendeine Menge von Prinzipien für die allgemeine Regulierung des Verhaltens nicht erlaubt wäre, die niemand vernünftigerweise als Grundlage für eine informierte, ungezwungene und allgemeine Übereinkunft zurückweisen könnte« (Scanlon 1998: 153, Übers. d. Verf.).14 Scanlons Ausgangspunkt ist, dass sich das Wort »vernünftigerweise« auf die Gründe bezieht, die jemand hat, und diese Gründe sind für Scanlon nicht weiter erklärbar (Scanlon 1998: 17). Gründe sind nicht konstruiert und für sie haben wir kein Verfahren. Nun haben wir ein praktisches Problem der Rechtfertigung, wenn es um moralische Fragen geht. A mag einen Grund haben, B Schmerz zuzufügen. B mag einen Grund haben, diesen Schmerz vermeiden zu wollen. Wie können sich A oder B voreinander rechtfertigen beziehungsweise wie stellen sie fest, welcher ihrer Gründe Geltung für den anderen hat? Was sind die moralischen Gründe, auf die wir uns bei unseren Handlungen berufen? Genau dafür brauchen wir ein Verfahren und dies ist bei Scanlon das kontraktualistische Verfahren. Warum genau dieses Verfahren? Dies hängt von einer substanziellen These darüber ab, was Menschen für Gründe haben, wenn sie sich mit moralischen Fragen zur Regulierung ihres Verhaltens beschäftigen. Die kontraktualistische Formel wird bei Scanlon dadurch zugrunde gelegt, dass Menschen den Wunsch oder den Grund haben, sich voreinander zu rechtfertigen. Genau darauf bezieht sich bei Scanlon nun die »vernünftige Zurückweisung«. Vernünftig kann diese Zurückweisung nur in Anbetracht des Wunsches sein, sich voreinander rechtfertigen zu wollen. Bringe ich diese Bereitschaft nicht mit, so kann meine Zurückweisung auch nicht vernünftig sein. Bei Scanlon ist dies aber kein festgeschriebenes moralisches Prinzip, welches wir voraussetzen, sondern eine motivationale Komponente, die wir beim Herausfinden, was moralisch geboten oder verboten ist, erwarten können. Hier liegt schlicht eine normative Konzeption zugrunde, was es für einen Menschen bedeutet, »vernünftig« zu sein beziehungsweise nach Gründen zu handeln, ähnlich wie hobbessche Kontraktualisten eine Konzeption dessen haben, was es für einen Menschen bedeutet, »rational« zu handeln

14 | Entsprechende Formulierungen des Prinzips finden sich in Scanlons früherem Aufsatz Contractualism and Utilitarianism (2003: 132) und in seinem Hauptwerk What We Owe to Each Other (1998: 4, 153).

4. Konstruktivistische Grundlagen

– nämlich instrumentell im weiten und für den eigenen Vorteil im engeren Sinne.15 Gemeinsam ist Rawls und Scanlon, dass sie nicht »den ganzen Weg hinunter« gehen, sondern bestimmte normative Voraussetzungen machen, die wir vielleicht in realistischer Weise einfach »erkennen«, durch gebührendes Nachdenken erhalten oder uns ganz anders erklären. Am besten fasst dies meiner Ansicht nach Street zusammen: »man mag mit Rawls übereinstimmen, dass die Wahrheit von Behauptungen, die die soziale und politische Gerechtigkeit betreffen, dadurch konstituiert wird, dass sie aus dem praktischen Standpunkt des Urzustandes abgeleitet werden, und doch ein Realist, Expressivist oder metaethischer Konstruktivist sein, wenn nach dem Wesen von Gründen und Werten gefragt wird, welche in die Konfiguration des Urzustandes eingebettet sind. Ähnlich mag man mit Scanlon darin übereinstimmen, dass die Wahrheit von Behauptungen über richtig und falsch dadurch konstituiert wird, dass sie vom Standpunkt der Personen abgeleitet werden, die versuchen, zu Prinzipien zu gelangen, die niemand vernünftigerweise zurückweisen kann, aber anschließend zwischen den üblichen metaethischen [Hier wäre entsprechend meiner Unterscheidung in Kapitel 4.3. »metanormativen« angemessener, A.O.] Auffassungen wählt, wenn es um das Wesen von Gründen im Allgemeinen geht« (Street 2010: 368, Übers. d. Verf.).16

Weshalb denken Rawls und Scanlon, dass ihre praktischen Standpunkte Plausibilität beanspruchen können? Rawls stützt seine moralischen Annahmen mittels einer kohärenztheoretischen Überlegung, wonach unsere wohlüberlegten moralischen Urteile in ein »Überlegungs-Gleichgewicht« (Rawls 1979: 38) zu bringen sind. Die Bedingungen, die in die Ausgangssituation einfließen, werden danach beurteilt, ob sie es ermöglichen, substanzielle Ergebnisse hervorzubringen, welche kompatibel mit unseren wohlerwogenen Überzeugungen 15 | Selbstverständlich muss eine instrumentelle Auffassung von Rationalität nicht automatisch auf die Erfüllung von Eigeninteressen hinauslaufen. Die Maßgabe, die richtigen Mittel für den entsprechenden Zweck zu wählen, definiert noch nicht den Zweck selbst. Wir werden jedoch sehen, dass Kontraktualisten im hobbesschen Sinne nicht darum herumkommen, bestimmte Zwecke anzunehmen und dass diese dann meist auf den Egoismus oder das Streben nach persönlichen Vorteilen abzielen. 16 | Ebenso bemerkt Street, dass Scanlon ein »nicht-naturalistischer Realist« ist, wenn es um das Wesen von Gründen im Allgemeinen geht, obwohl er ein »Konstruktivist« in Bezug auf moralische Gründe ist (Street 2010: 382, Fn. 20). Scanlon leistet aber erst später ein eindeutiges Bekenntnis zu einem Realismus über Gründe (vgl. Scanlon 2014). Seine Ausarbeitungen zu Überlegungen der Moral hielt er ursprünglich für »kompatibel mit jeder tieferen Darstellung von Gründen, welche die Konturen unserer gewöhnlichen Vorstellungen von Gründen und Rationalität ungestört lässt« (Scanlon 1998: 17, Übers. d. Verf.).

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sind. Wird diese Kompatibilität nicht erzielt, lässt dies sowohl eine Änderung der Bedingungen des Urzustandes als auch eine Änderung der wohlüberlegten Urteile zu, denn auch letztere werden von Rawls nicht als unumstößlich geltend angesehen. Der praktische Standpunkt wird sowohl vom Ende als auch vom Anfang gedacht. Rawls beschreibt es als ein Hin-und-her-Gehen zwischen den Bedingungen des Urzustandes (und seinen deduktiv gefolgerten Ergebnissen) und unseren wohlüberlegten Urteilen. Auf diese Weise meint Rawls den praktischen Standpunkt ausreichend gerechtfertigt zu haben. Seine Gestalt ist das Ergebnis eines umfassenden Überlegungsprozesses, in dem die Überzeugungen und vielfältigen Erwägungen sich gegenseitig stützen und somit einen kohärenten Ausgangspunkt bieten. Thomas Scanlon hält diese Stützung des praktischen Standpunktes wiederum für nicht hinreichend: »Kohärenz zwischen unseren moralischen Überzeugungen erster Ordnung […] scheint unbefriedigend als eine Darstellung moralischer Wahrheit oder als eine Darstellung der Basis der Rechtfertigung in der Ethik, einfach weil, für sich selbst genommen, ein maximal kohärenter Ansatz unserer moralischen Überzeugungen uns nicht das bieten muss, was ich eine philosophische Erklärung des Gegenstandes der Moralität nenne« (2006: 127, Übers. d. Verf.).

Scanlon möchte moralische Urteile nicht nur in ein Gleichgewicht bringen, sondern er möchte eine substanzielle These darüber vertreten, was für Gründe uns die Moral gibt oder wovon sie eigentlich handelt. Wenn Scanlon davon ausgeht, dass Menschen einfach das tun, was sie am meisten Grund haben zu tun, dann können wir vielleicht auch etwas darüber sagen, was für eine Priorität moralische Gründe in unserem Leben haben. Auch Rawls hat letztlich eine solche These. Schließlich geht Rawls in seinem Werk nicht wirklich ständig »hin und her« zwischen unseren moralischen Überzeugungen, sondern hat einen festen Urzustand mit genau den Bedingungen, von denen er glaubt, dass sie angemessen sind, also auch für Menschen, welche prinzipiell Grund sehen, sich mit Gerechtigkeit zu beschäftigen. Deshalb geht er von einem ganz bestimmten Konzept der Person und der Gesellschaft aus, welche die Ausgangsmaterialien für seinen Urzustand bilden. Rawls, so möchte ich meinen, vertritt einen intramoralischen Ansatz. Aus bestimmten moralischen Materialien wie Fairness oder Gleichheit folgen moralische Prinzipien der Gerechtigkeit. Scanlon geht eine Stufe tiefer. Sein Ansatz ist intranormativ, insofern er Prinzipien der Moral aus dem ableiten möchte, was Menschen Grund haben zu tun. Der Begriff des Grundes ist ein normativer, aber kein moralischer.

4. Konstruktivistische Grundlagen

4.5. D er B ereich normativer Tatsachen II – K orsga ard Geht es nun nach Christine Korsgaard, so sind wir hier noch nicht am Ende des Konstruktivismus angekommen. Nach ihr können auch unsere grundlegendsten Gründe konstruiert sein. Dann ist beispielsweise die Tatsache, dass ein bestimmter Grund X dafürspricht, eine bestimmte Handlung Y auszuführen, eine Konstruktion und keine bloße Voraussetzung, die wir auf anderem Wege erhalten. Ich habe Ansätze, welche auf einen bestimmten normativen Bereich beschränkt sind, als eingeschränkten Konstruktivismus bezeichnet. Ein bestimmter Bereich wird vorausgesetzt, wodurch wiederum ein anderer konstruiert wird. Einige andere Konstruktivisten verteidigen stattdessen einen umfassenderen oder globalen Ansatz, welcher auf den gesamten normativen Bereich überhaupt angewandt werden kann, insbesondere auf die Frage, wann etwas ein Grund ist und wann nicht.17 Solch ein ambitionierter und tiefgreifender Konstruktivismus kann bezüglich seiner Ausgansmaterialien nicht einfach unbestimmt bleiben, wie dies bei Rawls und Scanlon der Fall ist. Das Interesse liegt darin, eine konstruktivistische Darstellung des Ganzen zu bieten, wobei die grundlegenden Überlegungen sich auf abstrakte, formale oder allgemeine Eigenschaften beziehen, welche dem praktischen Standpunkt als solchem eigen sind. Nur auf diese Weise können die moralischen Prinzipien auch Autorität und unbedingte Gültigkeit erhalten, so die These. Im Falle von Rawls erhalten die Gerechtigkeitsprinzipien ihre Autorität beispielsweise nur dann, wenn wir die vorausgesetzten moralischen Elemente teilen oder wie im Falle von Scanlon die grundlegenden Thesen darüber teilen, was wir Grund haben zu tun. Im Gegensatz zu eingeschränkten Formen des Konstruktivismus hat Onora O’Neill kraftvoll für eine ambitionierte Form eines kantischen Konstruktivismus argumentiert, dessen Reichweite alle Arten von normativen Propositionen einschließt. Sie besteht darauf, dass Konstruktivisten im Stile von Rawls daran scheitern, eine vernünftige Theorie zu liefern, weil sie eine Abneigung gegenüber einem gründlichen konstruktivistischen Ansatz der Rechtfertigung haben (vgl. O’Neill 1988, 1989, 2003b). Letztlich greife Rawls auf nicht konstruierte Elemente zurück, die eine entsprechende allgemeine Rechtfertigung zweifelhaft erscheinen lassen. Dies ist im Grunde eine alte Kritik, die nicht zuletzt prominent von Hare (1973) vorgetragen wurde, der festhielt, dass Rawls sich in seiner Argumentation auf moralische Intuitionen berufe, welche er niemals rechtfertigt. Anstatt den praktischen Standpunkt mit moralischen Materialien aufzuladen, schlägt O’Neill vor, dass Kants ursprünglicher Kons17 | Vertreter eines solchen umfassenden Konstruktivismus sind etwa Korsgaard (1996, 2008, 2009), O’Neill (1988, 1989, 1996), James (2007) oder Street (2008).

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truktivismus einen besseren Rahmen bieten kann, um moralische Prinzipien zu rechtfertigen. Dies liegt daran, dass Kant nur schwache und lediglich abstrakte Elemente als Material der Konstruktion verwendet, die nicht einfach unkritisch vorausgesetzt werden, sondern die konstitutiv dafür sind, sich mit moralischen Fragen zu beschäftigen. Rawls’ Fehler sei es nach O’Neill, dass er von Kants formalen nüchternen Ausgangsmaterialen abweicht und stattdessen Idealisierungen vornimmt, welche inadäquat oder unrealistisch seien.18 Was versucht ein umfassender Konstruktivist zu erreichen? Er will die meisten normativen Bestandteile konstruieren und die Darlegung des praktischen Standpunktes darf nach ihm keine normativen Elemente enthalten, die sich auch realistisch oder auf andere Art interpretieren lassen. Entscheidend scheint mir, dass auch die Urteile darüber, was ein Grund ist, konstruiert werden beziehungsweise die Konstruktion des »allgemeinen Bereichs von Tatsachen darüber, welche Dinge Individuen in verschiedenen Umständen Grund haben zu wollen oder zu vermeiden. Solch eine Darstellung würde ein Verfahren einschließen, um zu Schlussfolgerungen darüber zu gelangen, ob eine gegebene Überlegung ein Grund für eine Person ist, unter bestimmten Umständen auf eine bestimmte Art zu handeln« (Scanlon 2014: 97, Übers. d. Verf.). Überlegungen zu Gründen sind wichtig. Immerhin fragt auch der Kontraktualist, was jemand Grund haben kann, zu akzeptieren oder nicht zu akzeptieren. Wann hat eine Person einen Grund? Um dafür eine Erklärung zu finden, müssen wir etwas über die Person aussagen, beispielsweise weshalb sie akzeptieren soll, dass X ein Grund für eine Handlung Y ist, und dies muss eine andere Erklärung sein als diejenige, die besagt, welche Gründe eine Person haben mag, in dieser Weise zu verfahren, denn ansonsten würden wir mit dem Problem einfach erneut konfrontiert sein. Kantische Konstruktivisten finden die Antwort darauf in einer Konzeption der rationalen Person. Eine Behauptung darüber, was eine Person für Gründe hat, gründet sich in Dingen, die eine Person akzeptieren muss, insoweit sie sich überhaupt als rational handelnd versteht. Gründe müssen als das angesehen werden, was ein Akteur kraft seiner spezifischen rationalen Eigenschaften besitzt. Was bedeutet das? Sehen wir uns noch einmal an, was Korsgaard über den kategorischen Imperativ sagt, welcher für sie ein Verfahren ist, das uns zeigt, was wir für Gründe haben: »Um es in meinen eigenen Worten zu sagen, wenn ein Akteur bestimmt, ob er eine Maxime als universales Gesetz wollen kann, 18 | Natürlich ist sich O’Neill sehr bewusst, dass diese Behauptung gebunden ist an eine entsprechende Kant-Interpretation, die auch ohne schwerfällige Metaphysik oder eine unrealistische Psychologie auskommen kann, die bei Kant allgemein als problematisch angenommen werden. Schließlich ist es gerade Kants transzendentaler Idealismus, welcher Rawls so problematisch erscheint, dass er auf diesen nicht mehr zurückgreifen möchte (vgl. Rawls 2003: 181f.).

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so bestimmt er, dass er eine gewisse Überlegung, die dafür spricht, etwas zu tun, billigen kann und diese deshalb als einen Grund behandelt« (Korsgaard 2008: 324, Übers. d. Verf.). Anstatt sich auf substanzielle Behauptungen zu stützen, was wir für Gründe haben, will sich ein umfassender Konstruktivist auf rein formale Standards stützen. Nach den Kantianern funktioniert dies folgendermaßen: Gründe werden mithilfe von Rationalität erklärt. Nach Scanlon heißt dies: »Die Tatsache, dass p ein Grund für eine Person ist, a zu tun, besteht deshalb, weil die Rationalität es von solch einer Person erfordert, diese Tatsache zugunsten des Tuns von a zu zählen« (Scanlon 2014: 7, Übers. d. Verf.). Rationalität ist natürlich selbst wiederum ein normatives Phänomen, denn der Nachweis der Rationalität geht mit der Forderung eines Sollens einher, also genau das zu tun, was rational ist. Würden wir uns dem widersetzen, würden wir uns schlicht der Kritik der Irrationalität aussetzen. Von daher hätten wir es mit einem intranormativen Ansatz zu tun, in welchem ein normativer Begriff (der des Grundes) mittels eines anderen (der Rationalität) erklärt wird. Entscheidend ist für Kantianer nun aber, dass eine bestimmte Form der Rationalität immer vorausgesetzt werden muss. Sie wird nicht etwa intuitiv gewonnen oder gar naturalistisch abgeleitet, sondern sie ist konstitutiv für unser praktisches Handeln überhaupt. Derjenige Rationalitätsstandard, der für uns konstitutiv ist, ist der kategorische Imperativ: Kategorischer Imperativ: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« (AA 4: 421). Dieser allgemeine Ansatz zur Normativität beruht auf der Idee, dass die normativen Anforderungen, welche den freien Willen leiten, genau die Anforderungen sind, die konstitutiv für unseren Willen sind. Dies ist das Thema, welches speziell durch Christine Korsgaards neueren kantischen Konstruktivismus prominent geworden ist. Sie schreibt: »[D]er kategorische Imperativ ist ein Prinzip der Logik praktischer Überlegungen, ein Prinzip, das konstitutiv für Überlegungen ist« (Korsgaard 2008: 321, Übers. d. Verf.; vgl. auch Korsgaard 2009: 27-44). Korsgaard zufolge können wir gar nicht anders, als diesen Rationalitätsstandard des kategorischen Imperativs als Ausgangspunkt zu begreifen, von dem aus wir unsere Maximen des Handelns bestimmen. Wir können uns ohne diese formalen Rationalitätsstandards überhaupt nicht als handelnde Personen begreifen, so die Behauptung. In Bezug auf Gründe hat dies nun folgende Konsequenzen: Die Tatsache, dass es einen bestimmten Grund für eine bestimmte Person gibt, etwas zu tun, besteht allein deshalb, weil die Rationalität der Person es erfordert, dass diese Tatsache als ein Grund berücksichtigt werden muss. Hier muss aber auch noch hinzugefügt werden, dass der kategorische Imperativ uns nur zu unseren moralischen Gründen führt. Alle anderen Gründe ergeben sich bei Korsgaard (vgl. 1996a: 102ff.)

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durch unsere praktische Identität, aber diese darf dem kategorischen Imperativ nicht widersprechen. Entscheidend ist: Moralische Gründe erhalten wir auf direktem Wege über die formal immer schon vorausgesetzte Rationalität. Moralische Gründe werden nicht durch andere Gründe konstruiert, wie dies Kontraktualisten wie Scanlon tun. Versuchen wir hier noch ein wenig, Licht ins Dunkel zu bringen: Der Kantianismus in der Prägung von Korsgaard oder O’Neill geht davon aus, dass eine moralische Rechtfertigung eine universale Form annehmen muss. Dies hängt mit der spezifischen kantischen These zusammen, dass wir nur dann wirklich autonom sind, wenn wir nach dem kategorischen Imperativ handeln, also nur nach der Maxime handeln, von der wir zugleich wollen können, dass sie ein allgemeines Gesetz wird: »Kantianer glauben, dass die Quellen der Normativität moralischer Ansprüche im eigenen Willen einer Person gefunden werden müssen, im Besonderen in der Tatsache, dass die Gesetze der Moralität die Gesetze des eigenen Willens der Person sind und dass ihre Ansprüche diejenigen sind, die sie auch gegen sich selbst erheben würde« (ebd.: 19, Übers. d. Verf.). Genau dann sind wir eine handelnde Person und damit ist der Imperativ die Bedingung der Möglichkeit für unser praktisches Handeln überhaupt. Der kategorische Imperativ ist ein Test der Maximen, welche allgemeine Anweisungen sind, bestimmte Überlegungen als moralische Gründe zu sehen. Besteht eine Maxime den Test, dann kann ich diese als Grund für mein Handeln anführen. Eine Maxime passiert den Test des kategorischen Imperativs, wenn sie als ein allgemeines Gesetz gewollt werden kann. Jede Person, die sich selbst als rationales Wesen begreift, muss den Imperativ anerkennen. Würde sie anders handeln, wäre sie irrational. Im Übrigen wären wir keine autonom Handelnden. Der Imperativ ist konstitutiv und diese formale Anforderung sagt uns, was als korrekt geformter Grund der Rechtfertigung zählt. Ich muss in jedem Fall bestimmte Überlegungen als Gründe berücksichtigen, wenn dies andernfalls dazu führen würde, dass die Nicht-Berücksichtigung mit dem kategorischen Imperativ nicht zu vereinbaren wäre. Diese formale Bestimmung sorgt für eine Einschränkung der Gründe, die in praktischen Fragen überhaupt eine Rolle spielen können. Wir müssen diese kantische Erklärung von Gründen durch Rationalität aber unterscheiden von anderen Herangehensweisen, in denen andere Rationalitätskonzeptionen eine Rolle spielen. Es ist wichtig festzustellen, dass diese Rationalitätserklärung der Gründe eine andere ist, als die instrumentelle Konzeption, die von hobbesschen Kontraktualisten verwendet wird. Typischerweise wird bei Hobbesianern ein bestimmter Begriff von Rationalität vorausgesetzt, der sich auf das Eigeninteresse oder die individuelle Nutzenmaximierung stützt. Die Rede von Rationalität in diesem Sinne ist vertraut, wenn wir sagen, dass dasjenige rational ist, was durch Gründe, die jemand hat, gestützt wird. In instrumenteller Hinsicht heißt es, die entsprechenden

4. Konstruktivistische Grundlagen

Mittel für den entsprechenden Zweck zu wählen. Nun vertreten Hobbesianer allerdings meist gleichsam die These, dass diejenigen Handlungsweisen (oder auch die entsprechenden Vertragsschlüsse) genau dann rational sind, wenn sie im eigenen Interesse liegen, dies also der oberste Zweck eines rationalen Individuums ist. Nun sehen wir leicht, dass eine solche These eben keine Gründe mit Bezug auf Rationalität erklärt, sondern einfach voraussetzt, was Menschen für Gründe haben: Menschen haben demzufolge diesen und jenen eigeninteressierten Grund, eine Übereinkunft einzugehen (um etwa die eigene Selbsterhaltung zu sichern). Die eben dargestellte kantische Version besteht aber gerade darin, einen Ansatz zu vertreten, der Gründe in einer fundamentalen Vorstellung der Rationalität fundiert, die nicht aus einer substanziellen Konzeption besteht, die enthält, was Menschen für Gründe haben. Nach diesem Ansatz gibt es keine normativen Tatsachen über das, was zu tun ist, die unabhängig von einem konsistenten und reflektierten Überlegungsprozess sind, in welchem das formale Prinzip des kategorischen Imperativs immer schon vorausgesetzt werden muss. Korsgaard macht es sich zum ultimativen Ziel, den Skeptiker zu überzeugen, also die Person, die keinen Grund sieht, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten (vgl. ebd.: 16). Sie betont, dass kein substanzieller Ausgangspunkt die Anforderung erfüllen kann, auch dem Skeptiker einen Grund zu geben. Ihr formaler Ausgangspunkt könne dies jedoch. Aufgrund dieser Ausführungen lässt sich Folgendes festhalten: Kantianer können Gründe mit Bezug auf eine Rationalitätskonzeption konstruieren, welche konstitutiv für unser Selbst ist. Der praktische Standpunkt konstituiert sich formal in Form des kategorischen Imperativs, welcher zu einem Verfahren des Maximentests wird und uns dann die entsprechenden moralischen Gründe in Form der gerechtfertigten Maximen liefert. So gelangt ein Kantianer allein durch formale Bestimmungen zu inhaltlichen moralischen Handlungsanweisungen. Das Konzept der Rationalität, mithin der kategorische Imperativ als Verfahren und Ausgangspunkt weiterer Überlegungsprozesse, wird nicht konstruiert, aber es ist konstitutiv für unser Denken überhaupt und damit nicht von einem substanziellen Urteil über Gründe abhängig. Auf diese Weise kann der kantische Konstruktivismus sich jeglichem Realismus entziehen, muss auf keinerlei Intuitionen zurückgreifen und wähnt sich, eine Letztbegründung geliefert zu haben. Es lässt sich nun ein allgemeiner Überblick über die »Tiefe« der Rechtfertigung gewinnen, indem die genannten drei Modelle von Rawls, Scanlon und Korsgaard gegenübergestellt werden, wobei die folgende Tabelle sich in Bezug auf die einzelnen Kategorien an Street (2008) orientiert, welche ich in einigen Punkten gemäß meiner vorangegangenen Argumentation angepasst habe:

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Tabelle 4 – Konstruktivistische Positionen

Ziele Normative Urteile, deren Richtigkeit infrage steht

Verfahren Prozess, durch welchen die Richtigkeit der normativen Urteile bestimmt wird

Materialien im praktischen Standpunkt Menge an normativen Urteilen, die im Verfahren vorausgesetzt werden

Grundlegung Rechtfertigung der Materialien des praktischen Standpunktes

Rawls (politischer Konstruktivismus)

Scanlon (moralischer Konstruktivismus)

Korsgaard (kantischer Konstruktivismus)

Urteile über soziale und politische Gerechtigkeit

Urteile über die moralischen Pflichten, die wir gegeneinander haben

Normative Urteile, welche bedacht werden müssen

Kontraktualistisches Verfahren von Parteien, die hinter einem Schleier des Nichtwissens wählen

Kontraktualistisches Verfahren von Parteien, die sich voreinander rechtfertigen wollen

Formales Verallgemeinerungsprinzip des kategorischen Imperativs

Menge von moralischen Urteilen bezüglich einer Konzeption der Personen und der Gesellschaft

Menge von normativen Urteilen, die besagen, dass wir Grund haben, uns voreinander zu rechtfertigen

Standards der Rationalität einer autonomen Person

Überlegungsgleichgewicht bezüglich der moralischen Urteile, die wir haben

Reflexion über die Gründe, die wir haben

Konstitutives Argument für die Standards des praktischen Denkens

Vom politischen bis zum kantischen Konstruktivismus werden der Anspruch und die Voraussetzungslosigkeit des Konstruktivismus immer größer. Haben wir bei Rawls noch ein sehr eingeschränktes Ziel, indem nur ein Teil der interpersonellen Moral abgedeckt wird, so erstreckt sich bei Scanlon die Rechtfertigung auf alle moralischen Pflichten, die wir einander als Personen schulden. Im kantischen Konstruktivismus können wir letztlich jedes normative Urteil auf seine Richtigkeit hin überprüfen, auch das Urteil, ob etwas ein Grund ist oder nicht. Sowohl Scanlon als auch Rawls vertreten einen Kontraktualismus als Rechtfertigungsverfahren, während es im kantischen Konstruktivismus ein formales Verallgemeinerungsprinzip ist. In den Materialien, welche für die Konstruktion eine Rolle spielen, setzt Rawls ein relativ umfangreiches Bild einer moralischen Person als freier und gleicher sowie eine Konzeption der Gesellschaft als System der Kooperation voraus. Diese Materialien übertragen sich dann auf die Ausgestaltung des Urzustandes, welcher beispielsweise entsprechende Fairnessbedingungen enthält. Dies alles erfährt seine letzte Grundlegung im Kohärenzmodell des Überlegungsgleichgewichts. Scanlon

4. Konstruktivistische Grundlagen

setzt voraus, dass Menschen ganz bestimmte Gründe haben. Wenn sich Menschen mit moralischen Fragen beschäftigen, dann haben sie vor allem den Grund, sich voreinander in der Weise zu rechtfertigen, dass dies niemand vernünftigerweise zurückweisen kann. Der kantische Konstruktivismus braucht wiederum nichts weiter als einen bestimmten Standard der Rationalität, welchen er konstitutiv aufweisen kann. Aus diesem lassen sich die entsprechenden Gründe konstruieren.

4.6. K ontr ak tualismus und G ründe Der praktische Standpunkt, welchen die Kantianer darlegen, enthält also nur diejenigen Elemente, die konstitutiv für unser praktisches Denken sind. Sie haben damit eine tiefe Antwort auf die normative Frage, was wir tun sollen, deren Adressat sogar ein Skeptiker ist, denn auch dieser kann nicht umhin, die konstitutiven Merkmale anzuerkennen, wenn er denn überhaupt ein rationales Wesen ist, welches Überlegungen zu praktischen Problemen anstellen kann. Was wird mit einem solchen Ansatz erreicht? Der Vorteil besteht darin, dass damit eine Erklärung für die Normativität oder die »Quelle« der Normativität (vgl. Korsgaard 1996a) im Allgemeinen zur Verfügung steht. Die ganze Argumentation lässt sich aber nur aufrechterhalten, wenn es tatsächlich gelingt, plausibel zu machen, dass die rationalen Standards der Kantianer nicht zu hintergehen sind. Folgendes scheint dem entgegenzustehen: Wenn Menschen sich ein bestimmtes praktisches Denken zu eigen machen, dann scheint mir dies auch auf Gründen zu basieren, welche sie dazu veranlassen. Die Kantianer suchen letztlich nach unbedingten Gründen, also Gründe, die wir gar nicht ablehnen können und auf denen wir alle anderen Gründe konstruieren können. Diese Unbedingtheit kommt aus der Autonomie. Der kategorische Imperativ, so die These, ist die einzige praktische Form des Denkens, nach der wir uns selbst als autonom begreifen können. Alles hängt davon ab, dass das Verfahren des kategorischen Imperativs konstitutiv in diesem Sinne ausgewiesen werden kann (doch darüber streiten sich Kantforscher seit Jahrhunderten). Der kategorische Imperativ und seine verschiedenen Formulierungen sind zweifellos attraktiv, aber weshalb sollten wir nur diese als bindend anerkennen, um uns als rationale und autonome Personen zu begreifen? Zu diesen näheren Auseinandersetzungen mit Kant werde ich noch an anderer Stelle zurückkommen (Kapitel 8.). Für Kontraktualisten stellt sich das Problem, herauszufinden, was zu tun ist oder welche Maximen oder Prinzipien uns leiten sollen, ganz anders dar. Wenn ein Kantianer auf jemanden trifft, welcher ihm sagt, dass er ein Versprechen brechen wird, weil er gemerkt hat, dass es ihm Unannehmlichkeiten bereitet, dieses Versprechen zu halten, wird ihm der Kantianer sagen: Du hast überhaupt

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gar keinen Grund, das Versprechen zu brechen, denn du handelst nach einer Maxime, die sich nicht als allgemeines Gesetz denken lässt. Wenn du also handelst, obwohl du gar keinen Grund hast, bist du irrational. Der Kontraktualist wird das nicht sagen. Der Kontraktualist wird sagen: Du hast einen Grund, das Versprechen zu brechen. Aber ebenso hat derjenige, der dir das Versprechen abgenommen hat, einen Grund, nämlich zu wollen, dass du es einhältst. Jeder hat nur individuelle auf ihn bezogene Gründe, die keine Gründe für den anderen sein müssen. Hast du wie der andere nun einen Grund, dass ein Versprechen allgemein eingehalten wird, dann könnt ihr euch auf die Institution des Versprechens einigen, da dies euren Interessen dienlich ist. Oder du hast einen Grund, herauszufinden, was das Richtige zu tun ist und bist dann bereit, deine Gründe gegen die Gründe des anderen abzuwägen. In jedem Falle sind Gründe immer schon da. Es kommt nur darauf an, aus ihnen auch moralische Gründe zu machen. Diese moralischen Gründe erhalten wir durch andere Gründe und nicht durch ein konstitutiv erwiesenes Verallgemeinerungsverfahren. Darin liegt die Essenz des Kontraktualismus. Dieser sieht, dass Menschen unterschiedliche Gründe haben, etwas zu tun. Er legt nun die kontraktualistische Formel an und fragt, was alle Betroffenen akzeptieren könnten. Deshalb muss er die jeweils individuellen Gründe miteinander gewissermaßen verrechnen. Daraus entstehen dann die moralischen Prinzipien, welche uns moralische Gründe geben, etwas zu tun oder nicht zu tun. Für die Kantianer wiederum führt ein direkter Weg von den konstitutiven Standards der Rationalität zu den moralischen Gründen. Sie müssen auf keinerlei andere Gründe achten, denn Gründe, die ein Mensch kraft seiner Wünsche, Neigungen oder persönlichen Vorstellungen hat, sind einzig heteronome Gründe und stammen nicht aus der Autonomie des freien Willens. Eine solche Heteronomie, ein Handeln aus Neigungen oder persönlichen Interessen, ist für den Kantianismus der Moral nicht angebracht. Der Kontraktualismus nimmt jedoch genau diese jeweils relativen oder individuellen Gründe und versucht auf dieser Basis, Übereinstimmung zu finden. Warum Akteure jedoch Grund haben, genau diese Übereinstimmung zu suchen, ist ein spezifisches Problem des Kontraktualismus und muss bei der Konstruktion durch eine substanzielle These eingeführt werden, was Menschen im Allgemeinen für Gründe haben, wenn sie sich mit moralischen Fragen beschäftigen. Genau dies wird die Strategie sein, wenn ich den kontraktualistischen praktischen Standpunkt bedenke, den ich im Folgenden darzulegen versuche (Teil II). Auf dieser Grundlage lässt sich dann das kontraktualistische Überlegungsverfahren ausbreiten (Teil III), um zu den Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens zu gelangen und damit auf die praktischen Probleme zu antworten, die sich ergeben, wenn strittig ist, was wir einander moralisch schuldig sind.

II. Der praktische Standpunkt

Im vorangegangenen Teil wurden die Grundlagen des Kontraktualismus erarbeitet. Es wurde sowohl festgestellt, an welchen Stellen die moderne Vertragstheorie an die Klassiker anknüpft, als auch gezeigt, welche Art von Prinzipien sich durch die kontraktualistische Formel rechtfertigen lassen. Zuletzt habe ich die allgemeine konstruktivistische Rechtfertigungsstruktur für den Kontraktualismus herausgearbeitet. Danach besteht der Kontraktualismus aus einem hypothetischen Einigungsverfahren und einem praktischen Standpunkt. Der praktische Standpunkt ist der Ausgangspunkt eines moralphilosophischen Verfahrens zur Ermittlung der Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens. Dieser Teil wird den spezifischen praktischen Standpunkt eines rousseauisch-kantisch inspirierten Kontraktualismus darlegen. Jede konstruktivistische Theorie bedarf eines Ausgangspunktes, welcher die wichtigsten Annahmen enthält, die benötigt werden, um einen Überlegungsprozess in Gang zu setzen, aus dem Erkenntnisse über das hervorgehen, was wir tun sollen. Demgemäß ist der praktische Standpunkt auch die Grundlegung der kontraktualistischen Formel. Dies kann sich folgendermaßen vorgestellt werden: Wir haben ein bestimmtes Problem, welches wir lösen wollen. Vielleicht ist es strittig, wer bestimmte Rechte oder Pflichten gegenüber anderen besitzt. Wenn nun die kontraktualistische Formel angewandt wird, um dies zu überprüfen, dann wird ein bestimmtes Verständnis benötigt, wie dieser Überlegungsprozess ablaufen kann. Im Kontraktualismus stellen wir uns in diesem praktischen Standpunkt klassischerweise Parteien in einer Verhandlungssituation vor und versuchen herauszufinden, auf was sie sich einigen würden. Dahingehend muss die Art und Weise unseres Überlegens und unserer Motivation, die wir bezüglich der Anwendung der kontraktualistischen Formel haben, beziehungsweise der Überlegungen und Motivationen, die wir Parteien in einer hypothetischen Verhandlung unterstellen, aufgeklärt werden. Genauer geht es um die Qualifizierung der Akzeptanz als »vernünftig« und um die »Motivation, eine Übereinkunft zu erreichen«, in der aufgestellten Formel. Was sind das für Qualifizierungen und warum müssen wir uns einen praktischen Standpunkt vorstellen, der genau diese Elemente enthält? Ich werde klären, weshalb diese Komponenten für einen Kontraktualismus notwendig sind. Im fünften Kapitel beginne ich meine Ausführungen mit einigen Bemerkungen, wie der typische Auf bau eines praktischen Standpunktes in der kontraktualistischen Tradition erfolgte. Es werden sich allgemein Parteien vor-

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gestellt, die bestimmte Merkmale teilen und unter Umständen platziert sind, die ein Problem beschreiben, welches sich durch Übereinkunft lösen lässt. Im Auf bau des praktischen Standpunktes weise ich auf Spannungen hin, welche in dieser Konzeption bestehen, wenn einerseits normative Elemente in den Standpunkt eingeführt werden oder wenn andererseits auf diese Elemente verzichtet wird. Grundlegend geht es um die Frage, ob eine Übereinkunft erst in Anbetracht einiger Voraussetzungen wie Fairness oder Gleichheit stattfinden oder ob sich die Übereinkunft ohne weitere normative Qualifizierungen vorgestellt werden könnte. Dabei werde ich kennzeichnen, inwieweit sich die hobbesschen und die rousseauisch-kantischen Standpunkte voneinander unterscheiden. Darüber hinaus bestimme ich den theoretischen Status des praktischen Standpunkts. Dieser, so führe ich aus, ist eine Konzeption, die uns in dem Sinne zur Verfügung stehen soll, dass wir uns jederzeit gedanklich diesen Standpunkt einnehmen, wenn wir praktische Fragen beantworten wollen. Zwei Elemente sind für einen kontraktualistischen praktischen Standpunkt entscheidend: Wie denken die Parteien und welche Motivation bringen sie mit? Dazu werde ich im sechsten Kapitel eine Auffassung davon vertreten, was es heißt, vernünftig anstatt rational zu handeln oder zu entscheiden. Es gibt eine spezifische Trennung zwischen den Begriffen des Vernünftigen und des Rationalen, die unter anderem von Kontraktualisten bevorzugt wird. Ich werde mich mit Positionen auseinandersetzen, welche das klassische Modell der Rationalität als Eigennutzenmaximierung vertreten, und selbst eine basale Konzeption eines rationalen Wesens herausarbeiten. Außerdem werde ich den Begriff des Vernünftigen präzisieren und zeigen, welche Form des Denkens damit gemeint ist. Im siebenten Kapitel beschäftige ich mich mit der moralischen Motivation. Ich werde das Denken von verschiedenen Autoren des Kontraktualismus zusammenführen und ein motivationales Ideal der Übereinkunft herausarbeiten, welches bei den Parteien des praktischen Standpunktes vorausgesetzt wird, wenn Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens bedacht werden. Aus diesem Streben nach Übereinkunft im Verbund mit einer Vorstellung des Vernünftigen lässt sich ein kontraktualistischer Überlegungsprozess darstellen. Diese Motivationskomponente ist nach meiner Auffassung entscheidend in der Ausarbeitung einer kontraktualistischen Theorie, die sich von den hobbesschen Spielarten dieser Theorie unterscheidet. Zum Schluss dieses Teils werde ich im achten Kapitel den so formulierten Ausgangspunkt des Kontraktualismus mit seiner kantischen Tradition in Verbindung bringen. Ich werde verschiedene kontraktualistische Autoren betrachten, welche sich mit dem kantischen Denken auseinandergesetzt haben, und dabei einige Abgrenzungspunkte zu Kant herausstellen, was dazu führen wird, einen deutlichen Bruch zwischen Kontraktualismus und Kantianismus zu konstatieren.

5. Aufbau des kontraktualistischen Standpunktes

Ich beginne mit dem typischen Auf bau eines praktischen Standpunktes in der kontraktualistischen Tradition. In den klassischen Theorien des Gesellschaftsvertrages läuft der praktische Standpunkt meist unter dem Namen des Naturzustandes. Es ist eine spezifische Situation, welche durch äußere Bedingungen und innere Einstellungen von Personen gekennzeichnet ist, die in diesem Zustand hypothetisch angesiedelt werden. Jede Vertragstheorie hat eine spezifische Vorstellung davon, wie diese Situation aussieht. Die Inhalte richten sich nicht zuletzt danach, was das Rechtfertigungsziel ist. Die wichtigsten Angaben, die hier gemacht werden müssen, sind diejenigen zu den Parteien, die sich innerhalb des praktischen Standpunktes befinden und eine hypothetische Einigung vollziehen. Hier werden verschiedene Aussagen darüber angestellt, was für Vermögen und Fähigkeiten ihnen zukommen und welche Ziele und Überzeugungen sie besitzen. Zudem werden Angaben über ihren Wissenstand gemacht und es wird vor allem dargelegt, welcher Überlegungsprozess stattfindet, der sie zur Schlussfolgerung bringt, dass eine bestimmte Übereinkunft aus ihrer persönlichen Sicht vernünftig oder rational zu akzeptieren ist. Teil dieser Beschreibungen sind insbesondere auch die äußeren Umstände, in welchen sich die Parteien befinden, zum Beispiel mit welcher Art von Situation sie konfrontiert sind, ob beispielsweise Güterknappheit herrscht oder was für verschiedene Handlungsoptionen ihnen offenstehen. Dies führt dann auch zu der spezifischen Frage, welches Problem innerhalb des praktischen Standpunktes überhaupt gelöst werden soll. Geht es um die Legitimation einer bestimmten Regierungsform? Geht es um das, was Angehörige einer bestimmten Gesellschaft von der Gesetzgebung erwarten können? Geht es um Prinzipien, welche die Verteilung bestimmter Güter regulieren? Oder geht es ganz allgemein um Prinzipien der Regulierung des gegenseitigen Verhaltens? Der Begriff »Naturzustand« hat im Falle der Staatsrechtfertigung seinen spezifischen Platz als Gegensatz zum Begründungsgegenstand. Eine vom gesellschaftlichen Zusammenleben abstrahierte »natürliche« Ordnung ist hier be-

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titelt. In anderen Kontexten, wo einzelne Prinzipien zum Gegenstand werden, ist dieser Begriff daher eher missverständlich, weshalb ich für die allgemeine Stellung, welche diese Ausgangssituationen haben, den Begriff des praktischen Standpunktes bevorzuge, wie ich ihn begrifflich in Kapitel 4 eingeführt habe. Innerhalb der verschiedenen Komponenten des praktischen Standpunktes lassen sich normative und empirische Elemente grob voneinander unterscheiden. Wird beispielsweise eine Aussage über Güterknappheit eingeführt, so meist als Tatsache, die sich auch unabhängig vom gedachten praktischen Standpunkt bewahrheiten müsste, damit die Schlussfolgerungen von diesem Standpunkt überhaupt relevant sein können. Teil eines praktischen Standpunktes sind aber auch spezifisch normative Komponenten, etwa die, dass die Parteien ihre Entscheidung freiwillig und ohne Einfluss von Zwang treffen sollen. Ich habe es bereits einführend im Kapitel zur Tradition des klassischen Kontraktualismus erwähnt, doch es ist wichtig, dies zu wiederholen: Bei den praktischen Standpunkten handelt es sich nicht um tatsächliche oder historisch in irgendeiner Weise nachweisbare Zustände. Meine Lesart der Tradition des klassischen Kontraktualismus ist eine radikal ahistorische. Der praktische Standpunkt muss sich als ein Standpunkt der Überlegungen vorgestellt werden und nicht als ein perfektes Abbild der Realität oder eine Beschreibung eines historischen Zustandes. Haben wir die Prinzipienrechtfertigung zum Gegenstand, so wird dies im Gegensatz zur Staatsrechtfertigung auch viel deutlicher. Auch die Übereinkunft, die hier gedacht werden soll, ist keinesfalls als eine tatsächliche zu verstehen. Man sollte sich sogar davor hüten, empirische Verträge allzu stark mit den hypothetischen Verträgen der normativen Theorie in Beziehung setzen zu wollen (siehe Kapitel 2.2.). Es kommt nicht auf die tatsächlichen Verbindlichkeiten an, sondern auf die Argumentation, die sich auf den guten Gründen auf baut, welche potenzielle Vertragspartner hätten, um eine solche Vereinbarung einzugehen. Die Übereinkunft fungiert dabei als kritisches Beurteilungskriterium. Auch in der Darstellung der Bestandteile eines kontraktualistischen praktischen Standpunktes werde ich sehr fokussiert vorgehen und nur diejenigen Elemente herausstellen, die für den Kontraktualismus fundamental sind, ohne darauf eingehen zu können, welche Funktionen diesen Elementen vielleicht außerdem noch zugesprochen werden könnten. Ich werde als erstes einige normative Bedingungen beschreiben, die klassischerweise im Kontraktualismus eingeführt werden, um den verfahrensmäßigen Überlegungsprozess anzuleiten (Kapitel 5.1.). Anschließend zeige ich, welche empirischen Bedingungen ein praktischer Standpunkt im Kontraktualismus enthält und in welcher Weise sich ein bestimmter Mangel an normativen Voraussetzungen negativ auf das Konstruktionsverfahren auswirken kann (Kapitel 5.2.). Zum Abschluss dieses Kapitels werde ich einige Aussagen zum Status des praktischen Standpunktes treffen, die er im Kontraktualismus für

5. Aufbau des kontraktualistischen Standpunktes

gewöhnlich hat oder von dem ich im Besonderen denke, dass er in dieser Weise verstanden werden sollte (Kapitel 5.3.).

5.1. D ie normativen B edingungen der Ü bereinkunf t Ein Grundparadigma wird bei der Darlegung eines praktischen Standpunktes, in welchem die Parteien eine bestimmte Übereinkunft schließen, von allen Kontraktualisten geteilt. Es ist die Vorstellung der Freiwilligkeit. Die Personen müssen als frei gedacht werden und sie sollen einer Übereinkunft ohne Zwang zustimmen. Was bedeutet diese Voraussetzung aber für einen kontraktualistischen Überlegungsprozess? Ob jemand freiwillig einer Übereinkunft zustimmt, können wir nur dann wissen, wenn wir die Gründe kennen, welche die Personen für ihre Akzeptanz anbringen. Man kann sich die Teilnehmerin des praktischen Standpunktes als eine Person vorstellen, die vor bestimmte Entscheidungen gestellt wird. Sie kann verschiedene Gründe haben, nicht zuzustimmen oder zuzustimmen. Der praktische Standpunkt macht diese Gründe sichtbar. Wenn sie zustimmt, so hat sie ihre Wahl getroffen, obwohl sie auch anders hätte handeln können. Doch wenn offensichtlich ist, dass die Gründe für eine Übereinkunft diejenigen überwiegen, die gegen eine Übereinkunft sprechen, so haben wir ein plausibles Argument, dass eine freiwillige Zustimmung erfolgen könnte. Wenn Kontraktualisten demzufolge von der Freiwilligkeit der Übereinkunft ausgehen, dann meinen sie in erster Linie, dass Menschen diejenige Entscheidung treffen, für die sie am meisten Grund haben. Das ist die wichtige normative Voraussetzung. Menschen haben Gründe und diese können sehr vielseitig sein. Der Kontraktualist ist darauf angewiesen, plausibel zu machen, was für Gründe Individuen in Anbetracht der Frage haben, wie das Zusammenleben reguliert werden kann. Warum sollten wir aber der freien Entscheidung mit Gründen auch nur irgendein Gewicht verleihen? Skeptisch könnten wir vielleicht einfach sagen: Aber der Mensch ist nun einmal nicht frei und seine Entscheidungen sind determiniert wie alles andere in der Welt. Demzufolge kann auch die freiwillige Zustimmung keinerlei Bedeutung haben. Geht man aber von solch einem Determinismus aus, so ist die Frage nach dem Richtigen und Falschen witzlos. Moralisches Handeln und freiwilliges Handeln sind stark miteinander verknüpft, lassen sich ohne einander wahrscheinlich in keiner Weise denken. Wir müssten kaum noch über das richtige Zusammenleben oder über Entscheidungen in moralisch problematischen Fällen nachdenken, wenn wir nicht von der Möglichkeit von Freiheit ausgehen würden. Wen könnten wir verantwortlich machen? Wen könnten wir beschuldigen, wenn wir nicht von der Möglichkeit einer freien Entscheidung, das Richtige und Falsche zu tun, ausgehen würden? Die theoretische Frage nach der Existenz von Freiheit mö-

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gen wir vielleicht nicht klären können, doch in praktischen Fragen können wir Freiheit widerspruchsfrei denken und wir müssen sie in diesen Fragen notwendig voraussetzen, so eine klassische kantische Einsicht.1 Wenn die Frage gestellt wird, was vernünftige Menschen für Gründe haben könnten, einem bestimmten Arrangement zuzustimmen, und darauf eine Rechtfertigung aufgebaut wird, dann wird zumindest eine bestimmte normative Aussage bereits akzeptiert, welche besagt, dass die freiwillige Akzeptanz eines Individuums von besonderem normativen Gewicht ist. Weshalb messen wir der individuellen Entscheidung eines Individuums diese normative Kraft zu? Bei dieser Frage stellt sich zuerst die Gegenfrage: Welche andere Rechtfertigungsinstanz steht uns außerdem noch zur Verfügung? Als Quelle der Rechtfertigung scheint eine erneute Rückkehr zu Gott und Natur im nachmetaphysischen Zeitalter kaum möglich. Wir können nur in sehr zweifelhafter Weise an Überzeugungen anknüpfen, die von sehr wenigen geteilt werden und vielleicht spezifische Vorstellungen eines guten Lebens betreffen, sich aber nicht in einen allgemeinen Geltungsanspruch der Richtigkeit übersetzen lassen. Einen normativen Individualismus zu vertreten, bedeutet darüber hinaus nicht, dass dies unvereinbar damit wäre, Kollektiven oder Gemeinschaften eine hohe Bedeutung beizumessen, wie dies Menschen faktisch tun.2 1 | Ob ich nach Kant nun auch »nicht die Freiheit als Eigenschaft des Wesens, dem ich Wirkungen in der Sinnenwelt zuschreibe, erkennen kann, darum weil ich ein solches seiner Existenz nach, und doch nicht in der Zeit, bestimmt erkennen müsste […], so kann ich mir doch die Freiheit denken, d.i. die Vorstellung davon enthält wenigstens keinen Widerspruch in sich« (AA 3: B XXVIII). Bei Kant erfolgt diese Schlussfolgerung freilich aufgrund einer Trennung zwischen sinnlicher Welt und Verstandeswelt. Durch diese Unterscheidung können sowohl der deterministische Naturmechanismus als auch die Freiheit zusammen widerspruchsfrei bestehen. Ich will nicht auf die Feinheiten und Kontroversen darüber eingehen. Aber zumindest die Tatsache, dass Moralität die Denkmöglichkeit von Freiheit voraussetzt, ist eine These, die nicht weiter umstritten ist, wenn wir sagen wollen, dass jemand es tatsächlich in der Hand hat, das Richtige oder das Falsche zu tun. Eine Ethik, der es um Handlungsleitung geht, kann deshalb auf diese Annahme nicht verzichten. 2 | Kontraktualisten sehen meist die Rechtfertigungslast bei denjenigen, welche den Individualismus infrage stellen, und nicht bei denjenigen, die ihn verteidigen: »Dass irgend etwas anderes relevant ist, es sei denn, es beeinflusst die Belange des Handelnden, scheint mir sehr wohl zweifelhaft zu sein. Wenn die durch Überlegung gestützten Belange des Handelnden, seine Präferenzen, Wünsche und Ziele, zusammen mit seinen wohlerwogenen Überzeugungen für sein Selbstbild konstitutiv sind, dann kann ich nicht im entferntesten erkennen, wie man folgern kann, andere Dinge, die nicht in gleicher Weise auf sein ureigenes Selbstverständnis bezogen sind, seien ebenso relevant wie diese Belange. Überhaupt kann ich nicht erkennen, wie man etwas als für die praktische

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Nun gab es im Hinblick auf Freiwilligkeit im Kontext des Kontraktualismus jedoch schon immer ein Problem, denn nicht jede Übereinkunft kann für sich beanspruchen, diesen Namen auch verdient zu haben. Wie ist das möglich? Wann ist eine Übereinkunft keine Übereinkunft mehr? Wenn wir bestimmte Personen in Bezug auf ein praktisches Problem beschreiben, ihre näheren Umstände kennzeichnen und dann nachweisen, dass jeder Einzelne gute Gründe hat, einer Vereinbarung zuzustimmen, dann haben wir doch zumindest gezeigt, dass die freiwillige Übereinkunft in Anbetracht der vorliegenden Gründe möglich wäre. Volenti non fit iniuria. (Dem Einwilligen geschieht keinerlei Unrecht.) So lautet das Diktum, welches sich die Vertragstheoretiker zu eigen gemacht haben. Nun drückt ein entsprechender Akt der Einwilligung jedoch noch keine freie Einwilligung aus. Wenn wir den Satz also streng auslegen, könnten wir sagen, dass demjenigen, dem ich ein Messer an den Hals halte und den ich dann dazu bringe, mir sein Haus zu überschreiben, kein Unrecht geschieht. Wir können ihm ja sogar Gründe nachweisen, weshalb er der Vereinbarung zustimmt. Offensichtlich hat ein Akt der Einwilligung stattgefunden, aber Unrecht ist dem Einwilligenden dennoch geschehen. Offensichtlich müssen wir die Einwilligung selbst noch einmal qualifizieren, denn damit sie frei sein kann, muss sie zwangslos erfolgen. Doch reicht diese Qualifizierung aus? Ist es lediglich ein gewaltsamer Zwang, der uns dazu bringt, eine bestimmte Einwilligung nicht für akzeptabel zu halten? Warum sollte nur eventuell vorhandener Zwang problematisch an einer potenziellen Einigung sein? Hätten wir nicht genauso große Bedenken, wenn sich die Vertragsparteien völlig asymmetrisch gegenüberstünden, was Macht oder Eigentum angeht? Wir könnten uns Verhandlungen vorstellen, in denen eine Partei einfach einen deutlich längeren Atem hat als eine andere. Aber wir müssen nicht einmal solche Überlegungen anstellen, um zu sehen, dass hier etwas nicht stimmt. Stellen wir uns vor, dass Partei A und Partei B unterschiedlich stark sind. Partei A hat sehr starke Gründe, eine bestimmte Vereinbarung zu wollen (sie kommt ihr vielleicht besonders zugute, steigert ihr Wohlergehen oder ihre Lebensqualität). Partei B befindet sich in Bezug auf Macht und Vermögen gegenüber A in einer schwächeren Position. Dennoch hat sie ebenfalls gute Gründe, eine Vereinbarung zu schließen, da sie ihren Status quo um ein Minimum verbessert. Das, was B durch die Übereinkunft erhält, ist damit keinesfalls so umfassend wie für A (vielleicht sind es nur ganz geringe Steigerungen im Wohlergehen), aber die Gründe sind immer noch Rechtfertigung relevant geltend machen kann, wenn nicht über das Selbstbild des Handelnden. Mein Eintreten für diesen praktischen Individualismus stellt kein schlüssiges Argument dar, aber die Beweislast liegt bei denjenigen, die eine gegensätzliche Position vertreten. Sollen sie die entsprechenden Argumente vorbringen – wenn sie können« (Gauthier 2002: 197).

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stärker als diejenigen, die gegen die Vereinbarung sprechen. Wir würden in diesem Fall sagen, dass sowohl A als auch B rationale Gründe haben, einer Vereinbarung zuzustimmen. Doch was wir nicht sagen würden, ist, dass B die gleichen Chancen wie A hatte, entsprechend von der Vereinbarung zu profitieren. Wir würden bei dieser Asymmetrie wohl von einer »unfairen« Vereinbarung sprechen. Derjenige, der sich in einer starken Position befindet, kann es für den anderen immer rational machen, eine Vereinbarung einzugehen. An dieser Stelle kommt ein ganz anderes normatives Element zum Tragen als die Forderung, dass die Vereinbarung freiwillig mit Gründen geschlossen werden soll, das aber deutlich umstrittener ist. Zusätzlich tritt die weitere moralische Qualifizierung hinzu, dass die Ausgangssituation, in welcher die Parteien die Vereinbarung schließen, symmetrisch sein soll.3 Es ist ein Aspekt der Fairness, welcher hier eine Rolle spielt. Jeder sollte unabhängig von den besonderen Kräfteverhältnissen gleichermaßen berücksichtigt werden. Demzufolge wurde in den praktischen Standpunkten der Kontraktualisten häufig eine Vorstellung der Symmetrie zwischen den Parteien eingeführt, die sich auf ganz unterschiedliche Art in der Theorie artikuliert. In der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls sollen wir uns die Parteien in der Weise vorstellen, dass sie bestimmte Tatsachen über ihr eigenes Leben nicht kennen. Sie wissen beispielsweise nicht, welche Position sie innerhalb der Gesellschaft einmal einnehmen werden. Demzufolge können sie keine spezifischen Prinzipien wählen, welche ihnen in ihrer ganz speziellen Situation und in Bezug auf ihre Kräfteverhältnisse besonders viele Vorteile bringen würden. Dieser »Schleier des Nichtwissens« macht die Parteien auf eine bestimmte Weise gleich, nämlich in Bezug auf die ihnen zur Verfügung stehenden Informationen. Dies ist zweifellos eine normative Bedingung, die zusätzlicher Rechtfertigung bedarf. Warum sollten die Parteien unter Ausschluss von Informationen so entscheiden, dass niemand Vorteil aus seiner sozialen Position oder seinen Machtverhältnissen ziehen kann? Bei Kant und Locke wird der Vertrag deshalb auch von vorhergehenden nicht-kontraktualistisch begründeten Rechten flankiert, um problematische Ergebnisse zu vermeiden. Bei Rousseau haben wir es am ehesten noch mit einem Denker zu tun, welcher den Parteien eine Neigung zur Kooperation unterstellt (siehe Kapitel 2.4.). Wir könnten diese Symmetriebedingungen jedoch auch einfach als eine empirische Tatsache ausgeben, wie wir dies bei Thomas Hobbes finden. Zwar sagt auch er, dass Menschen sich 3 | Sandel hat diesen Sachverhalt in seiner Auseinandersetzung mit Rawls sehr treffend beschrieben. Es gibt eine »Morality of Contract« (Sandel 1982: 105-109) , die gewährleistet sein muss, damit das Vertragsergebnis den Anspruch erheben kann, tatsächlich gerechtfertigt zu sein. Zu der spannungsreichen Beziehung zwischen der Freiwilligkeit einer Vereinbarung und bestimmten symmetrischen Ausgangsbedingungen siehe auch Kersting (2003: 142ff.).

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aufgrund ihrer Kraft, ihrer zur Verfügung stehenden Mittel und ihrer Talente unterscheiden können, doch in einer signifikanten Hinsicht sind sie sich alle gleich: Sie verfügen alle über ein entsprechendes Drohpotenzial, welches sie gegeneinander ausüben können. Jeder sei in der Lage, den anderen in Gefahr zu bringen oder gar zu töten. Demzufolge ist die Unsicherheit für jeden gleich und das Interesse an einer Übereinkunft vorhanden. Doch wenn dies eine empirische Behauptung ist, dann merken wir schnell, dass sie der Empirie nicht standhält und wir eine starke Idealisierung vornehmen müssten, um damit konform zu gehen. Menschen haben kein gleiches Drohpotenzial, sie sind unterschiedlich gebrechlich und hilfsbedürftig. Mit bestimmten Personen lohnt es sich einfach nicht, eine Vereinbarung einzugehen. Doch wenn wir ohnehin schon kontrafaktisch argumentieren, weshalb dann vor einer solchen Idealisierung zurückschrecken? Wir müssen gute Gründe angeben können, weshalb wir die unterschiedlichen Stärken und Schwächen von Menschen ausblenden sollten. Der praktische Standpunkt kann gerade nicht in einer beliebigen Weise ausgestaltet werden. Wenn wir uns die Parteien im praktischen Standpunkt anders vorstellen sollen, als es gewöhnliche Menschen sind, dann bedarf dies einer Erklärung und bei Hobbes würde es ein normatives Urteil darüber voraussetzen, warum Unterschiede keine Berücksichtigung finden sollten. Ich fasse zusammen: Was sich hier widerspiegelt, sind bestimmte normative Prämissen, die im praktischen Standpunkt einer Vertragstheorie Eingang finden: (1) Prämisse der Freiheit – verstanden als die Freiwilligkeit des Individuums, eine Übereinkunft zu akzeptieren oder abzulehnen, wenn es hinreichende Gründe für seine Entscheidung hat (2) Eine Prämisse der Gleichheit – verstanden als eine Forderung, dass die Parteien in bestimmter, näher zu explizierender Art ähnliche Voraussetzungen besitzen müssen Wenn die Übereinkunft nicht diese beiden Ausgangsbedingungen enthält, dann gibt es zwei Probleme: Ohne die erste Prämisse müsste die normative Quelle woanders liegen als in der Zustimmung der Parteien. Ohne die zweite Prämisse müssten wir moralische Intuitionen über Bord werfen, die wir in Bezug auf eine solche Vereinbarung haben. Wir sind natürlich nicht gezwungen, auf solche Intuitionen Rücksicht zu nehmen. Ich werde jedoch im Anschluss zeigen, was es bedeutet, wenn diese letztere Bedingung, die eine moralische Qualifizierung der Übereinkunft darstellt, vernachlässigt wird, aber auch, welche Probleme es mit sich bringt, sie einzuführen. Der grundlegende Unterschied zwischen hobbesschen und anti-hobbesschen Kontraktualisten besteht

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nun darin, ob eine stärkere normative Prämisse innerhalb des praktischen Standpunktes Eingang finden muss oder nicht.

5.2. E mpirische B edingungen und amor alische V ereinbarungen Eine Vorstellung von Freiwilligkeit ist für den Kontraktualismus unabdingbar und sei es auch nur eine potenzielle Freiwilligkeit in dem Sinne, dass die Akzeptanz durch den Nachweis entsprechender Gründe erbracht werden kann. Es ist das Mantra des normativen Individualismus, dass das Individuum die letzte Rechtfertigungsinstanz ist. Doch eine moralische Bedingung, welche eine gewisse Symmetrie der Vertragsparteien miteinschließt, ist offenbar keine notwendige Bedingung, um zu einer Vorstellung der Übereinkunft zu gelangen, wie ich sogleich ausführen werde. Im Folgenden werde ich einige empirische Bedingungen herausarbeiten, die ein kontraktualistischer praktischer Standpunkt für gewöhnlich minimal enthält, um anschließend zu zeigen, welchen Nachteil es hat, sich ohne eine normative Symmetrie-Bedingung lediglich auf empirische Annahmen zu stützen. Die nicht-normativen Bestimmungen müssen bestenfalls wenig kontrovers und in Anbetracht des praktischen Problems, welches sich stellt, plausibel sein. Rawls spricht hier im Anschluss an Hume beispielsweise von den »Anwendungsverhältnissen der Gerechtigkeit« (1979: 148), die er definiert »als die gewöhnlichen Bedingungen, unter denen menschliche Zusammenarbeit möglich und notwendig ist« (ebd.).4 Dies beinhaltet meist eine Schilderung der äußeren Bedingungen, in denen sich die Parteien befinden. Versuche ich beispielsweise Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit zu begründen, so ist es nicht verfehlt, anzunehmen, dass Ressourcen auf eine bestimmte, näher zu definierende Art und Weise begrenzt und nicht jedem in gleicher Weise zugänglich sind. Dies scheint in entsprechenden Kontexten eine recht plausible 4 | Rawls unterscheidet in seiner eigenen Konzeption zwischen subjektiven und objektiven Bedingungen. Letztere Kennzeichnen in etwa die Tatsache, ob Menschen ein gemeinsames territoriales Gebiet bewohnen oder ob Knappheit an Ressourcen herrscht. Erstere beziehen sich auf grundlegende Eigenschaften der Menschen wie etwa ihre Bedürfnisstruktur, ihre Überzeugungen, Anschauungen oder auch ihr Wissen sowie ihre Denkfähigkeit (vgl. ebd.: 149f.). Bei Hume findet sich dies in ähnlicher Weise: »Welchen Zweck hätte eine Güterverteilung, wenn jeder schon übergenug besitzt? Warum sollte man das Eigentumsrecht einführen, wo jeder Unbill unmöglich ist? Warum sollte ich diesen Gegenstand mein nennen, wenn ich, sobald ein anderer ihn sich aneignet, nur die Hand auszustrecken brauche, um mir gleich wertvollen Ersatz zu verschaffen?« (Hume 1751: 20)

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und unstrittige Behauptung zu sein. Erst dann stellt sich überhaupt ein Verteilungsproblem, welches durch die entsprechenden Prinzipien zu lösen ist. Probleme der Verteilungsgerechtigkeit würden beispielsweise nicht auftreten, wenn es materielle Güter in unendlichem Ausmaß gäbe, die jedem zu jeder Zeit frei zur Verfügung stünden. Dass diese Situation nicht besteht, ist nicht schwer nachzuweisen. Probleme gibt es vielleicht genau dann, wenn umstritten ist, wie sehr diese Güterknappheit eigentlich ins Gewicht fällt oder ob vielleicht eine größere Knappheit beschrieben wird, als dies eigentlich der Fall ist. Noch weniger kontrovers erscheint mir folgende Bedingung: Menschen haben notwendigerweise einen wechselseitigen Einfluss aufeinander, egal, ob einen positiven oder negativen, egal, ob er direkt nahbar ist (wie durch persönliche Begegnung) oder unnahbar (wie die Möglichkeit, dass Gesellschaften fossile Brennstoffe als Energieträger verwenden und damit die Lebensgrundlage auf anderen Teilen der Welt zerstören). Neben diesen äußeren Bedingungen bedarf es der Kennzeichnung der Parteien selbst. Was für eine psychologische Ausstattung besitzen sie? Welche Bedürfnisse liegen ihnen zugrunde und welche Wahrnehmung haben sie, wenn sie vor bestimmte Konflikte gestellt werden? Inwieweit ist ihr Wille zur Kooperation zu kennzeichnen? Dies sind nur einige der Fragen, die man sich an diesem Punkt stellen kann. Meist wird hier von anthropologischen Konstanten ausgegangen, welche schon deutlich problematischer sein können. Bestenfalls versucht man hier, die entsprechenden Merkmale so abstrakt wie möglich zu formulieren. Dass Menschen Nahrung benötigen, um zu leben, mag eine relativ unproblematische Behauptung sein. Dass Menschen über einen begrenzten Altruismus verfügen, ist dagegen eine deutlich schwierigere Annahme, die nicht leichtfertig aufgestellt werden sollte. Eine weitere schwache Bedingung ist jedoch, dass Menschen unterschiedliche Bedürfnisstrukturen (gerade auch über der Ebene des existenziell Notwendigen), Präferenzen oder, wie Rawls es auch nennt, »Vorstellungen des Guten« haben, also davon, was sie für ihr jeweiliges Leben als angenehm und erstrebenswert empfinden (vgl. Rawls 2003: 85f., 2006: 44). Es ist somit die Verschiedenheit von Personen, die für praktische Probleme eine Rolle spielen kann. Ein weiteres Merkmal ist die Endlichkeit. Damit ist nicht unbedingt eine Endlichkeit an Ressourcen gemeint, welche, wie bereits angesprochen, bei Fragen der Verteilungsgerechtigkeit eine Rolle spielt. Eine solche Annahme muss nicht bei jedem moralischen Problem einbezogen werden. Abhängig von dem jeweiligen Problem, welches sich stellt, müssen zusätzliche Aussagen über die empirischen Bedingungen getroffen werden, während andere Aussagen sich in Bezug auf andere Probleme als nicht notwendig erweisen. Stellen wir uns vor, wir stehen vor dem Problem, ein Prinzip des Verbots von Gewalt aus bloßem Spaß zu rechtfertigen. Es scheint bei diesem Prinzip keine Rolle zu spielen, ob bestimmte materielle Ressourcen nun endlich sind oder nicht. Andere

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Formen der Endlichkeit sind in einem allgemeineren Sinne aber durchaus Bestandteil des praktischen Standpunktes. Neben einer Endlichkeit an materiellen Ressourcen gibt es auch eine Endlichkeit von Ressourcen wie Zeit (oder genauer Lebenszeit) und Optionen (zwischen denen sich Menschen in ihrem Leben entscheiden können) oder auch eine Endlichkeit von Fähigkeiten. Wenn wir über ein Prinzip des Verbots der Gewalt aus Spaß nachdenken, ist diese Endlichkeit immer im Hintergrund. Wenn jemand von etwas abgehalten wird, wenn jemand etwas verliert oder wenn wir über ein Prinzip zur Kompensation für erlittenen gewaltsamen Schaden nachdenken, müssten wir uns auch bewusst sein, dass diese Kompensation in einem bestimmten zeitlichen und räumlichen Rahmen erfolgen muss. Dies wäre demnach eine weitere zentrale Minimalbedingung. Die Kontraktualisten hatten alle sehr unterschiedliche Rechtfertigungsziele. Dementsprechend haben sie ihren jeweiligen praktischen Standpunkt auf das entsprechende Problem zugeschnitten. Ich möchte hier nur die allgemeinen Merkmale schildern, die einem praktischen Standpunkt in jedem Fall zukommen, wenn es um die Ermittlung von Prinzipien geht, welche das gemeinsame Zusammenleben betreffen. Folgende schwache Bestimmungen lassen sich für den praktischen Standpunkt im Allgemeinen festhalten, denn durch sie ergeben sich überhaupt erst Problemstellungen, die durch entsprechende Rechtfertigungsverfahren gelöst werden können: (1) Wechselseitige Beeinflussung – sowohl positive (etwa Begünstigungen) als auch negative (etwa Schädigungen) und unmittelbare oder mittelbare Beeinflussung (2) Verschiedenheit von Personen – unterschiedliche Bedürfnisse, Präferenzen oder Vorstellungen des Guten (3) Endlichkeit – begrenzte Zeit, begrenzte Optionen, begrenzte Fähigkeiten oder (je nach Kontext) eine Endlichkeit von materiellen Ressourcen Im Kontraktualismus erwächst aus diesen Bedingungen und unterschiedlichen Konstellationen meist eine Konfliktsituation, welche der Vertrag lösen soll. Diese Konfliktsituation muss bei Weitem nicht in der Weise drängend sein, wie dies beispielsweise im hobbesschen Naturzustandsmodell der Fall ist. Der Kontraktualismus kann auch einfach als ein epistemologisches Verfahren dafür gesehen werden, wessen Ansprüche gerechtfertigt sind und wessen nicht, auch wenn vielleicht noch gar keine Konfliktsituation abzusehen ist. Wir könnten einfach ein Erkenntnisinteresse daran haben, wer eine berechtigte Forderung erheben oder ein Recht für sich beanspruchen kann. Gesetzt den Fall, dass wir diese Annahmen und eventuell auch noch weitere empirische Prämissen plausibel machen können, gelingt es uns möglicherweise, ohne

5. Aufbau des kontraktualistischen Standpunktes

weitere normative Annahmen im Kontraktualismus auszukommen und beispielsweise auf die normative Gleichheitsbedingung zu verzichten. Nehmen wir das Beispiel Thomas Hobbes, der darauf bedacht ist, keinerlei moralische Bestimmungen in seinen praktischen Standpunkt einfließen zu lassen. Bei ihm treten nun weitere empirische Bedingungen hinzu, die sich für ihn vor dem Hintergrund der Rechtfertigungsaufgabe staatlicher Zwangsgewalt ergeben. Der Naturzustand ist ein latenter Kriegszustand. Dort gibt es noch keinerlei normative Verpflichtungen, die beispielsweise die gleiche Berücksichtigung aller anderen beinhalten könnten oder eine Bestimmung, wonach irgendeine Form von Gleichheit die Bedingung für einen Vertragsschluss sein müsste. Wie angesprochen, gibt es aber ein empirisches Moment der Gleichheit, welches bei Hobbes dafür sorgt, dass die Parteien überhaupt dazu gewillt sind, ihre Selbsterhaltung durch einen Vertragsschluss zu sichern. Dieses Gleichheitsmoment gewährleistet, dass der Naturzustand für alle gleichermaßen unerträglich ist und von jedem überwunden werden möchte. Das heißt: Jeder hat einen Grund, eine Übereinkunft mit anderen zur Überwindung des Naturzustandes einzugehen. Wie ich bereits erwähnt habe, ist Hobbes der Auffassung, dass jeder Mensch in der Lage ist, dem anderen Schaden zuzufügen.5 Alle Unterschiede, die sonst zwischen den Menschen bestehen, sind für ihn nur minimal und ebenso minimal in ihrer Bedeutung. Die Gleichheitsbedingung wird bewusst nicht als normative Bestimmung eingeführt, welche dem Vertragsschluss eine moralische Qualifizierung durch Fairnessbedingungen verleihen würde. Die Menschen sollen nicht in einer bestimmten Hinsicht gleich sein, sie sind es einfach. Die symmetrische Bedingung ist allein schon durch die vermeintlich natürliche Tatsache des gleichen Drohpotenzials geschaffen. Versetzen wir uns in die Lage des Naturzustandes, ziehen also sämtliche Ordnungsmechanismen ab und lassen den Menschen frei aufeinander wirken, dann würde es sich nach Hobbes exakt so verhalten. Dann würden sich exakt jene Gründe ergeben, die dafür sprechen, dass Menschen in Erfüllung des kontraktualistischen Kriteriums eine entsprechende staatliche Zwangsordnung akzeptieren könnten. Doch wir können leicht sehen, dass diese Beschreibung des Menschen mit gleichem Drohpotenzial nicht stimmen kann. Als empirische Tatsache können wir sie nicht glauben und für das Heranziehen einer normativen Bestimmung, dass eine bestimmte Form von Gleichheit herrschen soll, bietet Hobbes kein Argument. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir führen tatsächlich eine normative Bestimmung der Gleichheit in den Naturzustand ein und versuchen diese zu begründen oder wir radikalisieren das hobbessche Programm und errichten einen Naturzustand, der frei von weiteren moralischen Qualifizierungen bleibt und eine realistischere empirische Ausgangsbasis bietet. Ein sol5 | Siehe auch die Darlegung zu Hobbes in Kapitel 2.3.

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cher Versuch wurde durch James Buchanan (1984) unternommen. Keinerlei moralischer Inhalt und keine zweifelhaften nicht-normativen Bestimmungen sollen dem Vertragsschluss zugrunde liegen. Buchanan lässt die hobbessche Annahme des gleichen Drohpotenzials fallen, die ohnehin nie sinnvoll aufrechterhalten werden konnte. Wenn es keinerlei anfängliche Gleichheit innerhalb des praktischen Standpunktes zwischen den Parteien gibt, demzufolge alle mit ihren unterschiedlichen Stärken und Schwächen sowie mit ihrem recht unterschiedlichen Drohpotenzial angenommen werden, fragt sich, wie eine entsprechende Übereinkunft zustande kommen soll. Wie kann es sein, dass jeder einen Grund hat, eine Übereinkunft mit anderen zu wollen? Es wäre doch für diejenigen, die viel besitzen und stärker sind, unter Umständen deutlich vorteilhafter, in einer privilegierten Position zu bleiben. Welche Vorteile hätte es für sie, mit einem deutlich Schwächeren eine Vereinbarung einzugehen, der ihnen nichts bieten kann? Man muss den Naturzustand in diesem Falle überhaupt nicht als verlassenswürdig empfinden. Wozu also die Kooperation mit anderen in einer realistischen Ausgangssituation? Eine Theorie, die ohne eine solche Gleichheitsannahme auskommt, muss dies erklären können und Buchanan kann dies auch tatsächlich. Aus diesem Grund führt er eine zusätzliche Stufe auf dem Weg zur Einigung ein. Die Parteien sind erst dann bereit, ihre eigene Position aufzugeben und bestimmte Verluste ihrer Freiheit in Kauf zu nehmen, wenn ein Zustand erreicht ist, den Buchanan als »natürliche Verteilung« betitelt (vgl. Buchanan 1984: 33-35). Dieser Zustand entsteht dann, wenn alle ihre jeweiligen Mittel eingesetzt haben, um die entsprechenden Güter zu bekommen, die sie begehren, und ohne Rücksicht auf Rechte oder Verhaltensbestimmungen agieren (denn diese gibt es im Zustand vor jeder Regulierung noch nicht, sie sollen erst begründet werden). Die entsprechenden Parteien werden ohne staatliche Zwangsgewalt und Rechte vorgestellt. In erster Linie versuchen sie in diesem ungeregelten Zustand, Güter an sich zu reißen und Macht zu akkumulieren. Dieser Zustand stellt »eine Art Gleichgewicht im theoretischen Sinne dar, in dem sich jeder bei der Sicherung (und Verteidigung) seiner Anteile an x so verhält, dass der Nutzen zusätzlicher Schutzaufwendungen (bzw. Besitzstandsänderungen) gleich den jeweiligen Grenzkosten ist« (ebd.: 34). Entscheidend ist, dass sich die Parteien im Zuge der Unsicherheit externe Kosten auferlegen. Diese externen Kosten werden in der natürlichen Verteilung aber voraussagbar und damit wird eine Basis für Übereinkommen geschaffen. Im Zustand dieser natürlichen Verteilung wird man erkennen, »dass der Ressourcenaufwand zur Sicherung und Verteidigung der jeweiligen Bestände von x größtenteils Verschwendung ist. Beide Parteien können durch Abkommen gewinnen« (ebd.: 35). Erst dann kann ein Vertrag eingegangen werden, wenn ich durch die Senkung der Kosten profitieren kann. Selbst diejenigen, die viel haben, werden es

5. Aufbau des kontraktualistischen Standpunktes

dann als ökonomisch vorteilhaft ansehen, in einen Zustand mit einer öffentlichen Ordnung einzutreten, in dem ihre Verteidigungskosten geringer ausfallen würden. Sie haben Vorteile durch ein »Abrüstungsabkommen« (ebd.: 84). Die Parteien verzichten dann wechselseitig auf die Bedrohung, wodurch die Unproduktivität beseitigt wird. Der Punkt, an dem der Naturzustand verlassen wird, ist der Punkt, an welchem selbst diejenigen, die von den natürlichen Bedingungen den meisten Vorteil haben, ihre Situation ohne eine Übereinkunft nicht mehr verbessern können. Was dann an Übereinkunft zustande kommt, ist ein distributiver Vorteil für jeden. Für den einen jedoch mehr und für den anderen weniger. Genau hier liegt das Problem. Wenn wir das Kriterium der rationalen Übereinkunft anwenden wollen und der Akzeptanz lediglich die Deutung geben, dass sie für jedes Individuum vorteilhaft sein muss, dann können wir selbst diejenigen Verhältnisse als rechtens ausweisen, die in höchstem Maße problematisch wirken. Dies lässt sich am besten in den Ausführungen von Buchanan zu einem möglichen Sklavereivertrag festmachen: »Noch erstrebenswerter [für diejenigen, die sich in einer vorteilhaften Position in der natürlichen Verteilung befinden, A.O.] erscheint der Zustand, in dem die ›Schwachen‹ zwar Güter produzieren dürfen, die ›Starken‹ sich aber alle oder fast alle Produkte aneignen. Unter solchen Bedingungen können Ähnlichkeiten zwischen dem Abrüstungsvertrag, der möglicherweise ausgehandelt wird, und dem Sklavereivertrag auftreten, in dem die ›Schwachen‹ damit einverstanden sind, für die ›Starken‹ Güter zu produzieren im Austausch gegen ein wenig mehr als die nackte Existenz, die ihnen unter anarchistischen Verhältnissen nicht sicher ist. Ein Sklavereivertrag würde – wie die anderen Verträge auch – individuelle Rechte festlegen, und im Ausmaß seiner gegenseitigen Anerkennung wäre die Gewähr für wechselseitige Vorteile gegeben, wenn als Folge davon die Aufwendung für Verteidigung und Eroberung zurückgingen« (ebd.: 86).

Dies ist zweifellos ein Ergebnis, welches niemals zustande kommen würde, wenn dem Vertrag eine stärkere normative Qualifizierung zukäme. Das Ergebnis einer solchen Übereinkunft ist nur so viel Wert, wie es sein Ausgangszustand zulässt. Es darf bezweifelt werden, ob aus dieser unmoralischen Ausgangssituation ein moralisch vertretbares Ergebnis gefolgert werden kann. Bestenfalls sind hier lediglich die bestehenden Besitz- und Kräfteverhältnisse in eine öffentliche Ordnung überführt worden. Somit scheint es, dass wir mit diesem praktischen Standpunkt auch zu keinerlei Gerechtigkeitsprinzipien gelangen können, denen wir in irgendeiner Hinsicht ein kritisches Potenzial zusprechen. Anstatt solche Prinzipien zu rechtfertigen, haben wir im Falle Buchanans bestenfalls ein System von Verhaltensregeln geschaffen, das eine entsprechende ökonomische Interaktion ermöglicht. Wenn alle normativen Einschränkungen beziehungsweise die moralischen Qualifizierungen ver-

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schwinden, dann behält dieser praktische Standpunkt alle möglichen Elemente, die wir intuitiv nicht als zur Moral oder zur Gerechtigkeit gehörend betrachten würden, etwa die zufällige und willkürliche Verteilung von Status und sozialem Einfluss bei Geburt oder die Zugangsmöglichkeiten zu Ressourcen. Wollen wir diesen Vertrag als Kriterium des Gerechten und Ungerechten begreifen, so müsste die Theorie von Buchanan eine massive Revision unserer Intuitionen über menschliche Verhältnisse verlangen. Noch schwieriger wird es, wenn wir uns vor Augen führen, dass selbst ein absoluter Unterwerfungsvertrag mit der Versklavung der Schwächeren in Buchanans Theorie als gerechtfertigt angesehen werden kann.6 Solange der Schwache noch einen rationalen eigennützigen Vorteil in der Selbstversklavung durch Vertrag sieht, ist an Buchanans Modell überhaupt nichts dahingehend zu beanstanden. Buchanan hat einfach das hobbessche Modell konsequent zu Ende gedacht. Nun ist die prinzipielle Nichtübereinstimmung mit unseren Intuitionen noch keine Widerlegung der Theorie, aber sie ist ein deutlicher Hinweis, dass hier etwas nicht stimmt. Bei Buchanan ist die gesellschaftliche Formation lediglich eine Frage der Kosten. Rechte und Einschränkungen der eigenen Freiheit sind nur akzeptabel, weil ohne diese die Kosten der Parteien höher wären. Kritisch gesehen, ist dieses Modell damit sehr limitiert und die Begründung geht nicht weit genug, wenn bestimmte Formen der Willkür schlicht unhinterfragt bleiben oder bedingungslos affirmiert werden. An dieser Stelle zeichnet sich ein Dilemma ab. Gestalten wir den praktischen Standpunkt in hobbesscher Tradition, gelangen wir zu Ergebnissen, die keinerlei kritische Funktion mehr aufweisen. Das Vertragskriterium dient dann nur noch der ordnungsgemäßen Festschreibung von Verhältnissen, die ohnehin schon bestehen. Ganz abgesehen davon, dass die Ergebnisse des Kriteriums der rationalen Übereinkunft alles andere als stabil sind, wenn wir das allgemeine Einhaltungsproblem betrachten, welches hobbessche Kontraktualisten haben: Im Zweifel kann es immer Situationen geben, in denen es rational vorzugswürdig ist, nicht zu kooperieren und die Übereinkunft zu brechen. Auf der anderen Seite offenbart sich aber auch mit einer Qualifizierung der Vereinbarung im Sinne der Gleichheitsbedingung ein Problem. Denn offenbar setzen wir bereits etwas voraus, was wir eigentlich rechtfertigen wollen: moralische Prinzipien, die unser Zusammenleben regulieren. Das vertragstheore6 | Bestenfalls ließe sich darüber sagen, dass Buchanan den Vertrag hier explanatorisch und nicht normativ verwendet, um zu zeigen, wie die Institution der Sklaverei entstanden sein könnte. Es lässt sich fragen, ob das Anliegen von Buchanan überhaupt noch als ein rechtfertigungstheoretisches verstanden werden kann oder ob hier lediglich eine mögliche spieltheoretische Erklärung erfolgt, wie bestimmte Verhältnisse tatsächlich aufgekommen sein könnten. Doch insgesamt läge dann in seinem Werk eine starke Vermischung dieser beiden Ebenen vor.

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tische Kriterium hängt dann in starkem Maße von genau diesen moralischen Qualifizierungen ab und wir müssen sie offenbar außerhalb des Vertragsmodells rechtfertigen. Meiner Ansicht nach geht es jedoch bei den moralischen Qualifizierungen der Übereinkunft nicht unbedingt darum, bereits grundlegende Prinzipien vorauszusetzen, sondern es geht darum, das Phänomen zu erfassen, mit dem wir es bei moralischen Fragen zu tun haben. Dann stellt sich nicht die Frage nach einem Prinzip, welches die Moralität der Übereinkunft sicherstellt, sondern vielleicht lediglich nach der Motivation, welche diejenigen mitbringen, die sich genau diese Frage nach dem Richtigen und Falschen stellen. Es gibt hierbei Motivationen, die dem Phänomen der Moral extern sind, und solche, welche genau das beschreiben, was wir voneinander in moralischen Fragen erwarten. Ich selbst beziehe dies auf eine substanzielle These darüber, was für eine Motivation wir bezüglich des Richtigen und Falschen mitbringen müssen. Diese These werde ich im Kapitel 7 offenlegen. Damit lässt sich meiner Ansicht nach der Dualismus von amoralischer und moralischer Vereinbarung umgehen, die rechtfertigungstheoretische Relevanz wahren und Redundanz vermeiden. Weiter möchte ich im Moment jedoch nicht vorgreifen.

5.3. D er S tatus des pr ak tischen S tandpunk tes Bevor ich zu den Kernelementen dessen komme, was die Theorie der vernünftigen Übereinkunft ausmacht, werde ich noch einige Fragen zum Status des praktischen Standpunktes im Kontraktualismus beantworten. Ich habe mich bereits bei den konstruktivistischen Grundlagen (Kapitel 4.) mit den Grundzügen eines solchen Standpunktes beschäftigt. Wie muss dieser nun im Kontraktualismus aufgefasst werden? Der praktische Standpunkt ist nicht nur der Ausgangspunkt des Verfahrens, sondern er ist gleichsam der Standpunkt, den wir einnehmen können, wenn wir über praktische Fragen nachdenken. John Rawls hat sehr viel dazu beigetragen, ein wenig Klarheit in die Funktionsweise des praktischen Standpunktes zu bringen, indem er sein Naturzustands-Äquivalent nun »Urzustand« (Englisch: original position) nannte und betonte, dass diese Konzeption lediglich ein »Darstellungsmittel« sei. Wenn man dies liest, dann könnte man denken, es gehe doch eigentlich auch ohne eine solche Konzeption, und dies ist in gewisser Weise auch richtig. Dadurch wird sein Inhalt aber nicht obsolet. Rawls meint, wir müssen den Urzustand so auffassen, »dass man sich jederzeit seinen Blickwinkel zu eigen machen kann« (Rawls 1979: 162). Auch

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ein hobbesscher Naturzustand ist nichts weiter als ein Darstellungsmittel.7 Er zwingt uns, eine bestimmte Perspektive einzunehmen. Es ist die Perspektive, die bestehen würde, wenn das, was wir rechtfertigen wollen, nicht besteht. Demnach ist der hobbessche Naturzustand eine abstrakte Abbildung der Verhältnisse und des Verhaltens von Menschen, die ohne staatliche Gewalt leben würden. Wir erfahren aus ihm die Gründe, weshalb Herrschaft unter einem absoluten Souverän bei Hobbes für jeden akzeptabel ist. Bei Rawls ist dies nicht so eindringlich und deshalb hat er gleichsam wieder Unklarheit in die Funktionsweise des praktischen Standpunktes gebracht. Er zwingt uns zu deutlich größeren Idealisierungen. Wir sollen uns die Parteien hinter einem Schleier des Nichtwissens vorstellen und wir sollen uns die Parteien als solche denken, die nur nach einer eigennutzenmaximierenden ökonomischen Rationalität entscheiden. Anstatt in Gedanken eine Position einzunehmen, die bestehen würde, wenn es einen Staat oder ein Prinzip geben oder nicht geben würde, müssen wir auch ein ganz bestimmtes Rationalitätsmodell samt den entsprechenden Motivationen sowie dem Schleier des Nichtwissens miteinbeziehen.8 Dies sollten wir uns ersparen. Es wurde bereits oft gezeigt, dass die rawlssche Konzeption auch anders dargestellt werden kann und für eine informellere Argumentationsweise zugänglich ist (vgl. Scanlon 2006: 141-150). Ich habe solche Naturzustandsmodelle, auch das Modell des Urzustandes, in Form eines praktischen Standpunktes auf einen gemeinsamen Begriff gebracht. Natürlich bin ich mir aber auch bewusst, dass es strukturelle Ungleichheiten zwischen den Modellen des Naturzustandes und beispielsweise dem rawlsschen Urzustand gibt. Erstere können auch als »Zwei-Stufen-Theorien« (vgl. Barry 1989: 293-319) bezeichnet werden. Sie sind von einem klaren Gegensatz zwischen dem gekennzeichnet, was gerechtfertigt wird, und dem Zustand, der ohne das Rechtfertigungsobjekt besteht. Der Gegensatz besteht darin, dass man entweder auf der Ebene des Naturzustandes verbleibt 7 | Dazu treffenderweise auch Rawls in seinen ideengeschichtlichen Betrachtungen: »Wenn wir die Geschichte der Tradition des Gesellschaftsvertrags durchgingen, würden wir feststellen, dass es viele verschiedene Dinge gibt, zu deren Darstellung die Ausgangssituation benutzt worden ist, und zwar auch dann, wenn der Begriff des Darstellungsmittels von dem betreffenden Autor nicht deutlich gemacht oder vielleicht nicht einmal erfasst worden ist. Man hat den Urzustand so benutzt – einerlei, ob man sich darüber im klaren gewesen ist oder nicht« (Rawls 2012: 51). 8 | Zur Kritik der rawlsschen Idealisierungen siehe insbesondere O’Neill (1996: 5968). Das hält uns natürlich nicht davon ab, von fiktiven »Parteien« zu sprechen, wenn wir überlegen, ob ein Prinzip vernünftigerweise akzeptiert werden könnte. Es heißt nur, dass sich die Parteien, die diese Denkfähigkeiten und Motivationen haben, sich von denjenigen, die sich in diese Situation hineinversetzen, nicht grundlegend unterscheiden sollten, worauf ich in Kapitel 7 noch genauer zu sprechen komme.

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oder in einen vergesellschafteten Zustand eintritt. Gerade wenn von rational eigennützigen Akteuren ausgegangen wird, kann es immer die Möglichkeit für einige geben, dass das Verbleiben im Naturzustand vorteilhafter ist als der Eintritt in den staatlichen Zustand. Es muss aber für alle gezeigt werden, dass es vorteilhaft ist. Entweder zeigt man dies durch die grundlegenden strukturellen Merkmale des Naturzustandes oder man führt einen Punkt innerhalb des nicht-vergesellschafteten Zustandes wie bei Buchanan ein, an dem es nach vielfältiger Interaktion außerhalb der Vergesellschaftung irgendwann zu einem allgemeinen Vorteil für jeden kommt und somit im Naturzustand die Gründe vorhanden sind, aus selbigem auszutreten. Der Naturzustand wird im letzteren Fall dann vielmehr als ein Darstellungsmittel für sich entwickelnde Interaktionen verwendet. Man kann somit in diesen Theorien immer einen »Punkt fehlender Übereinkunft« ausmachen. Bei Rawls ist dies nicht der Fall. Der Urzustand ist nicht einfach ein Zustand, der bestehen würde, wenn es keine Prinzipien der Gerechtigkeit gäbe. Es ist ein Beurteilungsstandpunkt.9 Der Punkt fehlender Übereinkunft repräsentiert aber auch in den älteren Naturzustandstheorien einfach nur die Gründe, welche gegen ein entsprechendes Prinzip sprechen. Stünden die Parteien an diesem Punkt, wäre ein Prinzip einfach nicht gerechtfertigt und es gäbe stattdessen andere Regelungen oder gar keine. Der Punkt fehlender Übereinkunft ist einfach ein Punkt, an dem es eben nicht für jeden einen Grund gibt, eine Übereinkunft einzugehen. Bestimmte Dinge werden wir dann nicht rechtfertigen können. Aber dies heißt nicht, dass wir in irgendeinen Naturzustand »zurückfallen« würden. Das wäre eine zu stark historische Lesart der Naturzustände. Stattdessen sind auch dies praktische Standpunkte, in die wir uns hineindenken können, wenn wir überprüfen wollen, was gerecht und ungerecht ist. Sie sind ebenfalls Beurteilungsstandpunkte. An dieser Stelle könnte eingewandt werden: Ein praktischer Standpunkt ließe sich doch nur dann wirklich ausformulieren, wenn wir bereits einen Gegenstand haben, der gerechtfertigt werden soll. Nur indem die Klassiker den Staat als Rechtfertigungsobjekt einführen, können sie doch überhaupt erst ihren Naturzustand aufzeigen, der uns dann die Gründe präsentiert. Müssten 9 | Wobei zu sagen ist, dass diese Zweistufigkeit selbst bei Rawls noch im Ansatz vorhanden ist. Theoretisch könnten die Parteien sich auch nicht einigen und dann würden sie automatisch ein Prinzip des Egoismus akzeptieren. Mit diesem Prinzip kooperieren sie gerade nicht und »auf ihm würden die Parteien hängenbleiben, wenn sie keine Einigung erzielen könnten«. Dieser Punkt fehlender Übereinkunft ist bei Rawls deshalb nicht mehr so wichtig, weil er durch die Fairnessbedingungen des Urzustandes ohnehin ausgeschlossen wird. Zwar ist der Egoismus »logisch widerspruchsfrei und in diesem Sinne nicht unvernünftig, aber intuitiv moralisch unzulässig« (Rawls 1979: 159; vgl. auch ebd.: 171).

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wir demzufolge nicht erst einmal ein Prinzip vorschlagen, damit der praktische Standpunkt eingenommen werden kann? Der Naturzustand wird ja gerade deshalb in der klassischen Theorie entworfen, damit wir uns einen Zustand vorstellen, in welchem es das, was wir rechtfertigen wollen, noch nicht gibt. Doch es gibt allgemeinere Merkmal, die jeder praktische Standpunkt erfüllen muss, wenn er sich mit einem bestimmten Typ von Fragen auseinandersetzt. In unserem Falle sind dies die allgemeinen Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens. Die vorrangige Aufgabe besteht in der Grundlegung der formalen Grundzüge eines solchen Begründungsverfahrens. Es gibt demzufolge Merkmale, die bei jeder Frage berücksichtigt werden müssen, die das Zusammenleben von Menschen betrifft. In diesem Sinne ist das, was ich als praktischen Standpunkt bezeichne, viel allgemeiner und abstrakter als das, was die Autoren der Gesellschaftsverträge in Naturzuständen offenbart haben, da es ihnen immer bereits um ein spezifischeres Thema ging: die Rechtfertigung von Zwangsgewalt. Auch bei Rawls verhält sich dies in ähnlicher Weise, denn sein Urzustand ist darauf zugeschnitten, Prinzipien der Gerechtigkeit für die Grundstruktur der Gesellschaft zu rechtfertigen. Je nachdem, welches Prinzip zur Disposition steht, muss der praktische Standpunkt spezifiziert werden. Die Gründe, ein Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit zu akzeptieren, sind andere, als ein Prinzip der körperlichen Unversehrtheit zu akzeptieren. Was wir also zuerst machen müssen, ist, einen Ausgangspunkt zu schildern und allgemein zu sagen, was für Arten von Gründen überhaupt Berücksichtigung finden können für die Klasse oder Kategorie der Prinzipien zur Regulierung des gemeinsamen Zusammenlebens. Das ist primär die Aufgabe, um die es mir hier geht. Je nachdem, welches Prinzip gerechtfertigt werden soll, kann ein entsprechender praktischer Standpunkt andere Ausformulierungen erhalten. Kersting ist demzufolge zuzustimmen, wenn er sagt, dass das »Vertragskonzept in der politischen Philosophie der Moderne ein Argumentationsinstrument von geradezu proteushafter Wandlungsfähigkeit« ist (2003: 161). Der Vorgang ließe sich dann beispielsweise folgendermaßen beschreiben: Wir stehen vor einem praktischen Problem und wir wollen wissen, was in einer bestimmten Situation das Richtige zu tun ist. Beispielsweise überlegen wir, ob es in einer bestimmten Situation richtig ist, zu lügen oder die Wahrheit zu sagen. Dann lege ich das kontraktualistische Kriterium an und frage mich, ob es ein Prinzip gibt, welches von allen Betroffenen vernünftigerweise akzeptiert werden könnte und mir entweder die eine oder die andere Handlung erlaubt. Wenn ich mich dies frage, vergleiche ich unterschiedliche Perspektiven miteinander. Wer würde von einem entsprechenden Prinzip begünstigt werden oder wer würde dadurch Nachteile erhalten? An dieser Stelle muss ich natürlich die jeweiligen Perspektiven bezüglich des Lügens und des Sprechens der Wahrheit einführen und sie gelangen mit in den praktischen Standpunkt. Ich muss zeigen, was der Fall wäre, wenn ein allgemeines Lügenverbot in Kraft

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wäre oder nicht. Das sind kontingente Merkmale des praktischen Standpunktes, welcher auf das spezifische Problem zugeschnitten wird. Was jedoch schon immer im praktischen Standpunkt vorhanden ist, sind jene grundlegenden Bestandteile der Überlegung, die ich anwenden muss, um dieses praktische Problem zu lösen. Bisher habe ich lediglich drei empirische Bedingungen festgelegt, die der praktische Standpunkt ganz allgemein bei jeder Frage des Zusammenlebens enthält: (1) Wechselseitige Beeinflussung, (2) Verschiedenheit von Personen und (3) Endlichkeit. Dies heißt nicht, dass es die einzigen Bedingungen sind, die bei einer entsprechenden Frage berücksichtigt werden. Bedenke ich beispielsweise ein Prinzip der Nicht-Schädigung, dann muss ich die wechselseitige Beeinflussung konkretisieren, indem ich sage, wer auf welche Weise verletzt wird. Das ist dann eine Konkretisierung des praktischen Standpunkts bezüglich einer bestimmten Frage. Als normative Bedingungen habe ich (1) die Freiheit im Sinne von Freiwilligkeit und die Akzeptanz durch Gründe festgestellt sowie (2) die Gleichheit im Sinne einer Vorstellung von Symmetrie. Auf erstere Annahme kann deshalb nicht verzichtet werden, weil das Individuum als letzte Rechtfertigungsinstanz betrachtet wird. Jede kontraktualistische Theorie bleibt darauf angewiesen. Schwieriger ist es jedoch bezüglich der Gleichheit. Gibt es eine Form der Gleichheit, die jedem praktischen Standpunkt zukommt, wenn es um Fragen des Richtigen und Falschen geht? Hier gibt es unterschiedliche Auffassungen zwischen den Kontraktualisten. Genau dieses Element wird für mich im Folgenden zentral sein. Denn anstatt diese Bedingung dadurch zu erfüllen, dass die Gleichheit empirisch postuliert wird oder indem überzogene normative Bedingungen wie vorvertragliche Rechte oder ein Schleier des Nichtwissens eingeführt werden, werde ich die Symmetrie der Parteien in ihrer Form des Überlegens und in der Motivation herausarbeiten. Dies ist es, wie ich glaube, was einige rousseauisch-kantische Kontraktualisten im Ansatz versucht haben einzuführen. Ein Kontraktualismus, wie er in der Nachfolge von Brian Barry, Thomas Scanlon und in Grundzügen bereits bei Rawls ausgearbeitet wurde, setzt genau auf diese Merkmale, wie ich zeigen werde. Sie stellen sich eine Übereinkunft mit Parteien vor, die ihre Akzeptanz »vernünftigerweise« geben sollen, und sie stellen sich vor, dass diese Parteien mit einer bestimmten kooperationsinteressierten »Motivation« ausgestattet sein müssen. Bisher ist weder die Form des Denkens, auf welche wir in der Beurteilung von Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens zurückgreifen, noch die Motivation der Parteien sehr klar, doch die entscheidende Aufgabe der folgenden Kapitel wird es sein, diese Bestandteile zu präzisieren, um eine Grundlegung der Formel der vernünftigen Übereinkunft zu schaffen und einen Ausgangspunkt für kontraktualistische Überlegungen zu erhalten.

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6. Das Vernünftige und das Rationale

Eine der vorrangigsten Aufgaben besteht darin, die Form des praktischen Denkens zu kennzeichnen, die im Überlegungsprozess bei der Anwendung der kontraktualistischen Formel eine Rolle spielt. Im Folgenden wird es deshalb im Besonderen um den Bestandteil des Vernünftigen in der Formel der Übereinkunft gehen. Eine vernünftige Akzeptanz soll etwas anderes ausdrücken als eine Akzeptanz ohne diese Qualifizierung und festhalten, dass diese Akzeptanz aufgrund von Gründen erfolgt. Weshalb sollte man in der kontraktualistischen Formel von einer »vernünftigen« anstatt von einer »rationalen« Übereinkunft ausgehen? Oder spielt dies vielleicht überhaupt keine Rolle? Nach einer treffenden Definition von Gosepath (1999: 10) können wir Rationalität folgendermaßen verstehen: »Eine alle Anwendungssituationen umfassende Bedeutung von ›Rationalität‹ ist ›Wohlbegründetheit‹. Etwas […] ist rational, wenn es begründet, d.h. durch Gründe gerechtfertigt ist. Rationalität bezieht sich auf die Fähigkeit von Personen, Verfahren des Begründens oder Rechtfertigens zu entwickeln, ihnen zu folgen und über sie verfügen zu können.« Auf den ersten Blick klingt es nicht weiter problematisch, Rationalität austauschbar mit dem Vernünftigen zu behandeln. Verweisen die Begriffe nicht auf ein und dasselbe? Etymologisch hätte man für diese synonyme Verwendung ausreichend Rückhalt und viele Philosophen würden eine solche Unterscheidung wohl auch nicht explizit vornehmen.1 Doch selbst wenn die Begriffe synonym verwendet werden, herrscht über das angemessene Rationalitäts- beziehungsweise Vernunftverständnis keine Einigkeit, wenn es um die Art der Wohlbegründetheit geht. Wie viele unterschiedliche Formen von Rationalität mag es sinnvollerweise geben? An welcher sollten wir uns orientieren? Gibt es tatsächlich eine Differenz zwischen

1 | Zur entsprechenden Begriffsgeschichte der Rationalität siehe vor allem Gosepath (2010) und Schnädelbach (2011).

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dem Vernünftigen und dem Rationalen oder gar nur die »eine Vernunft« und »viele Rationalitäten«?2 Dies alles sind schwierige Fragen. Bezüglich der Aufgabe, die Form des praktischen Denkens zu kennzeichnen, die im vorgeschlagenen Kontraktualismus Anwendung findet, ist es am besten, auf eine Trennung innerhalb der kontraktualistischen Tradition selbst zu verweisen. In dieser Tradition ist in hobbesscher Linie ein sehr eingeschränktes und meist auf das Eigeninteresse fokussiertes Rationalitätsverständnis vertreten worden, während Theorien in rousseauisch-kantischer Linie einen reichhaltigeren Rationalitätsbegriff mit einem bereiteren Verständnis von Gründen verwendet haben.3 Im Prinzip spiegelt sich auf dieser Ebene zwischen den beiden Hauptströmungen des Kontraktualismus ein alter Streit um das Verständnis der praktischen Vernunft im Allgemeinen wider. Anstatt von zwei Begriffen der Rationalität zu sprechen, ist die Unterscheidung zwischen dem Rationalen und dem Vernünftigen eingeführt worden. Damit sollen zwei verschiedene Formen des Denkens oder zwei verschiedene Vermögen gekennzeichnet werden, die den Parteien des praktischen Standpunktes zukommen können. Wenn es eine Akzeptanz gibt, dann erfolgt sie aus guten Gründen. Demzufolge wird davon ausgegangen, dass die Parteien ein Vermögen besitzen, Handlungen nach den für sie guten Gründen zu vollziehen. Je nachdem, auf welche Art diese Überlegung bezüglich der Akzeptanz eines Prinzips stattfindet, können sich unterschiedliche Schlussfolgerungen ergeben. Ich möchte im Folgenden diesen Konflikt erläutern und entsprechend darlegen, was ich unter einer »vernünftigen« im Unterschied zu einer »rationalen« Übereinkunft verstehe und was darunter in der Vergangenheit verstanden wurde. Zuerst werde ich einen kleinen Abriss über das Verständnis des Rationalitätsbegriffs anbringen und zeigen, auf welche Weise sich das Rationale und das Vernünftige trennen lassen (Kapitel 6.1.). Anschließend möchte ich eine minimale Konzeption des praktischen Denkens der Parteien schildern. Diese sind in der Lage, Gründe zu haben und nach ihnen zu handeln (Kapitel 6.2.). Danach möchte ich am Beispiel David Gauthiers zeigen, dass bestimmte Modelle, mit denen wir aufzeigen wollen, was am rationalsten zu tun ist, in mancher Hinsicht defizitär sind und immer abhängig bleiben von einem 2 | Hier sei auf den Sammelband von Karl-Otto Apel und Matthias Kettner (1996) verwiesen, der den Titel trägt: Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten. 3 | Ich habe sowohl für die Formel von Rousseau als auch von Kant in Kapitel 2.4. den Ausdruck »rational« verwendet, da ich noch keinen weiteren Begriff einführen wollte, den ich an dieser Stelle noch nicht erklären konnte. Bei diesen Formeln wäre ein Austausch von »rational« durch »vernünftig«, wie ich ihn hier explizieren werde, jedoch von Vorteil und würde damit auch den Unterschied zwischen der rousseauisch-kantischen und der hobbesschen Strömung des Kontraktualismus kennzeichnen.

6. Das Vernünf tige und das Rationale

substanziellen Urteil darüber, was Personen für Gründe haben (Kapitel 6.3.). Zuletzt werde ich versuchen, den Begriff des Vernünftigen genau zu bestimmen, und zeigen, welche Stellung er im Überlegungsprozess der Parteien in meinem kontraktualistischen Modell einnimmt (Kapitel 6.4.).

6.1. Trennung z wischen dem V ernünf tigen und dem R ationalen An dieser Stelle vermag ich kaum die breite Geschichte des Vernunftverständnisses wiederzugeben, die vielfältigen Diskussionen um selbiges sowie die zahlreichen Vernunftkritiken, die es im Laufe der philosophischen Auseinandersetzung gegeben hat. Aufgabe wird es sein, zu zeigen, welche Art von Bruch vorliegt, wenn die Konzeptionen des Rationalen und des Vernünftigen aufgespalten werden. Ich glaube, dass es ein bestimmtes Vernunftverständnis gibt, welches in Anbetracht des Ziels der Rechtfertigung moralischer Prinzipien angemessen ist und mit dem Begriff der Übereinkunft eine Verbindung eingehen kann, die uns genau zu einer solchen Rechtfertigung führt. Doch weshalb aufgrund der Begriffsnähe nicht einfach von rationaler Übereinkunft sprechen? Viele, die heute eine Unterscheidung zwischen dem Vernünftigen und dem Rationalen treffen, beobachten eine Art Bedeutungsverschiebung. Der Grund, weshalb Scanlon beispielsweise in seiner eigenen kontraktualistischen Formel nicht von Prinzipien spricht, die »rationalerweise« zurückgewiesen werden könnten, ist unter anderem der, dass er der Auffassung ist, dass das, was heute unter der rationalsten Handlung verstanden wird, das ist, was am meisten den Zielen einer Person förderlich ist, also einer ganz bestimmten Form dessen, wann etwas wohlbegründet ist (vgl. Scanlon 1998: 192). Es ist genau dieser Rationalitätsbegriff, der in einem großen Teil der Sozialwissenschaft und der Ökonomie Anwendung findet. Er bezieht sich in erster Linie auf eine akteurszentrierte Zweck-Mittel-Rationalität, beschrieben als ein kühl berechnendes Vermögen und als Instrument für die Erzielung möglichst effektiver Ergebnisse. Mit Scanlon können wir sagen, dass dieses instrumentelle Verständnis von Rationalität lange eine hegemoniale Stellung eingenommen hat, obwohl der Begriff der Rationalität weder selbstverständlich nur auf diese Weise verstanden werden muss noch schon immer so verstanden wurde. Natürlich gab es immer starke Differenzierungen, etwa bei Max Weber, der strickt zwischen Wertrationalität und Zweckrationalität unterschied. Zweckrationalität kann bestimmt werden »durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ›Bedingungen‹ oder als ›Mittel‹ für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigene Zwecke«. Wertrationalität dagegen

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sei »durch bewussten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie auch immer sonst zu deutenden Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg« gekennzeichnet (Weber 1985: 565, Hervorhebung getilgt). Die hegemoniale Stellung der Zweckrationalität lässt sich nun auch schon bei Weber selbst erkennen. Bei ihm gibt es bereits den Anklang, dass wir es bei Wertrationalität im Gegensatz zur Zweckrationalität mit einer defizitären Form zu tun haben, die sich am Rande der Irrationalität bewegt: »Vom Standpunkt der Zweckrationalität aus aber ist Wertrationalität immer, und zwar je mehr sie den Wert, an dem das Handeln orientiert wird, zum absoluten Wert steigert, desto mehr: irrational, weil sie ja um so weniger auf die Folgen des Handelns reflektiert« (ebd.: 567). Die Handlungsfolgen für die eigenen Zwecke stehen also im Vordergrund. Dabei wird vorausgesetzt, dass ein entsprechender Wert irgendwann notwendig den eigenen Zwecken zuwiderlaufen könnte. Diese Art von Urteil begünstigte zweifellos den Siegeszug eines einseitigen Verständnisses des Begriffs. Dieser Siegeszug mag jedoch auch darin seine Begründung haben, dass mit dem Vermögen der Vernunft auch die optimistische Möglichkeit verbunden wurde, eine objektive Welt zu erkennen und in metaphysischen Fragen zu entsprechenden wahren Antworten zu gelangen. Im Zuge zunehmender Metaphysikkritik kennzeichnet die Etablierung des Rationalitätsbegriffs auch einen Übergang von objektiver zu subjektiver Vernunft, die dann vorzugsweise nur noch als Vermögen des Menschen zu zielgerichtetem Handeln beschrieben wurde (vgl. Grotefeld 1997: 65). Dies ist der Punkt, an dem die Vernunft sich so weit subjektiviert, dass sie nur noch auf die tatsächlichen Interessen von Individuen bezogen wird. Ausschließlich von diesem Punkt aus kann ein praktisches Sollen ausgehen, während andere Gebote in Zweifel gezogen werden. Von da an ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Vorrangstellung der eigeninteressierten Klugheit gegenüber der Unterwerfung unter objektive Gesetze. Es sind nicht zuletzt Vertragstheoretiker, die diesem Verständnis Vorschub leisteten. Wir sehen in Hobbes denjenigen Denker, der eine weitgehende Identifikation zwischen dem Vernunftbegriff und der Fähigkeit des Menschen zur Kalkulation, zur Berechnung und zum Beweis vorangetrieben hat. Vernunft ist »nichts als das Berechnen (das heißt das Addieren und Subtrahieren) der Folgen allgemeiner Namen« (Hobbes 1651: V, 33, Hervorhebung im Original). Ein Großteil der philosophischen Vernunftkritik, die in der Folge geäußert wurde, entstammt der Reaktion auf dieses instrumentelle Verständnis. Nun haben wir eine gewisse Auffassung davon, wie es sein kann, dass Rationalität sehr einseitig begriffen wurde. Im Folgenden werde ich versuchen, die entsprechende Unterscheidung zwischen dem, was als das Vernünftige, und dem, was als das Rationale verstanden wird, herauszustellen. Sehen wir uns folgenden Satz an: Ich denke, nicht, dass es von unserem Kollegen vernünftig war, uns in der Besprechung mit dem Chef so auflaufen zu lassen,

6. Das Vernünf tige und das Rationale

aber aus seiner Perspektive hat er einfach rational gehandelt, da er beim Chef jetzt viel beliebter ist. Das Vernünftige repräsentiert in diesem Beispiel offenbar eine Art von Rücksichtnahme oder Einbezug der Perspektiven anderer, während das Rationale im Sinne einer persönlichen Bevorteilung ausgedrückt wird und logisch die Ergreifung der Mittel zu einem subjektiven Zweck einschließt (den Zweck, vor dem Chef gut dazustehen). Bedenken wir ein weiteres Beispiel: Nehmen wir an, wir haben es mit einer krisenhaften Situation zu tun, etwa einem Nahrungsmittelengpass. Jedem wird eine bestimmte Ration an Lebensmitteln pro Tag zugeteilt, die er sich an dafür vorgesehenen Essenausgaben abholen kann. Nehmen wir weiter an, dass es eine Person X gibt, welche die Essenausgabe vornimmt, und nehmen wir weiter an, dass diese Person keinen Kontrollen unterliegt (möglicherweise ist die Lage so prekär, dass staatliche Strukturen, die Kontrolle ausüben könnten, kaum noch vorhanden sind). Person X hat nun die Option, jedem Einzelnen ein klein wenig von seiner Ration wegzunehmen und für sich zu behalten. Dadurch, dass sie sehr vielen nur ein klein wenig wegnimmt, sind die anderen nicht in der Gefahr zu verhungern. Die Person selbst kann ihre Ration insgesamt jedoch verdoppeln und hat die Option, wohlgenährt zu bleiben. Wenn sie dies tut, nimmt sie keinerlei Rücksicht auf die Ansprüche oder Bedürfnisse, welche die Personen Y oder Z haben. Wie sollte das Verhalten charakterisiert werden? Offensichtlich könnten wir über X sagen, er sei ein rücksichtsloser Egoist, der seine Stellung schamlos ausnutzt. Das ist jedoch bereits eine moralische Qualifizierung. Die Frage ist, ob sein Verhalten rational ist. Offensichtlich gehen die Interessen von Y oder Z nicht oder nur in einem sehr begrenzten Maße in seinen Entscheidungsprozess ein (immerhin möchte er nicht, dass sie sterben, was ihn aber wahrscheinlich vor andere Probleme stellen würde). Gemessen an dem Ziel, welches X hat (vielleicht wohlgenährt trotz Nahrungsmittelknappheit zu bleiben), ist sein Verhalten durchaus rational. Er hat die entsprechenden Möglichkeiten und nutzt diese zu seinem Vorteil. Die Gründe der anderen zählen in seinem Überlegungsprozess nicht. Sie würden es vielleicht, wenn diese Einfluss auf die Interessen von X hätten, etwa wenn Y, Z oder andere stark genug wären, gegen ihn zu rebellieren oder ihm wiederum seine Rationen wegzunehmen (wenn X dies wüsste, wäre es unklug von ihm zu versuchen, von ihren Nahrungsmitteln etwas abzuzweigen, denn wenn sie ihm seine Portionen im Gegenzug wegnähmen, könnte er sein Ziel nicht erreichen, wohlgenährt zu bleiben). Wenn X jedoch die Möglichkeit hat und die anderen aufgrund der geringen Ernährung ohnehin geschwächt sind, dann wählt er einfach nur das entsprechende Mittel für den gegebenen Zweck. Wir könnten der Person X vieles vorwerfen, aber was wir wohl nicht können, ist ihr Irrationalität nachzuweisen, wenn wir darunter gleichsam unkluges oder dummes Verhalten in Anbetracht gegebener Zwecke verstehen beziehungsweise schlicht die Tatsache, nicht die Mittel zu einem Zweck zu ergreifen. Neh-

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men wir einfach an, dass der Verteiler der Nahrungsmittel ein Egoist ist und das Ziel hat, sein eigenes Wohlergehen zu maximieren. Wir würden ihn dann irrational nennen, wenn er Dinge unternimmt, die diesem selbst gesetzten Ziel nicht entsprechen, und er etwas tut, was seinem Wohlergehen schadet. Wohl könnten wir aber sagen, dass er in seinen Überlegungen etwas anderes falsch macht. Könnten wir die Tatsache, dass er die Zwecke und Gründe von anderen Personen nicht in seinen Überlegungsprozess einfließen lässt, vielleicht als unvernünftig bezeichnen? Es gibt eine Reihe von Denkern, welche das Vernünftige und das Rationale in dieser Weise auseinanderhalten. Nach Alan Gewirth sagen wir: »Eine Person wird für rational gehalten, wenn sie die effizientesten Mittel zur Erreichung ihrer oder seiner Zwecke wählt, was auch immer diese sein mögen. Rationalität ist deshalb eine Sache der Zweck-Mittel-Kalkulation.« Dagegen sei eine vernünftige Person »eine, welche die Interessen anderer Personen berücksichtigt, ihre Rechte genauso wie die eigenen respektiert und eine gewisse Angemessenheit und Wechselseitigkeit der Überlegungen zwischen einem selbst und anderen aufrechterhält« (Gewirth 1983: 225, Übers. d. Verf.).4 William M. Sibley sagt über einen rationalen Menschen Folgendes: »[W]ir wissen nicht, auf was für Zwecke er abzielt mit seinem Verhalten; wir wissen nur, was auch immer sie sind, dass er bei ihrer Verfolgung seine Klugheit nutzen wird«. Über den vernünftigen Menschen können wir sagen, dass er andere Personen einbezieht und »dass er gewillt ist, sein Verhalten durch Prinzipien zu regulieren, von denen aus sie gemeinsam urteilen können« (Sibley 1953: 560, Übers. d. Verf.). Auch bei Chaim Perelman hat Rationalität die Bedeutung von Zweckrationalität. Dagegen begreift er den vernünftigen Menschen folgendermaßen: »Er wird in allen Bereichen geleitet von der Suche nach dem, was in seinem Milieu akzeptabel ist, und sogar darüber hinaus nach dem, was von allen akzeptiert werden sollte« (Perelman 1979: 118, Übers. d. Verf.). Wir sehen hier bereits, dass das Vernünftige stark mit gemeinsamer Akzeptanz verknüpft wird. Während Gewirth den Versuch unternimmt, das Vernünftige aus dem Rationalen herzuleiten, also zu zeigen, warum es rational ist, vernünftig zu sein, billigen Sibley und Perelman dem Vernünftigen und Rationalen eine je unabhängige Rolle zu. Selbstverständlich sind sie beide im praktischen Denken miteinander verbunden, aber sie können nicht aufeinander reduziert werden. Im Folgenden werde ich betrachten, wie Sibley diese Unterscheidung genau begreift. Nicht zuletzt haben sich Kontraktualisten wie Rawls und Scanlon auf ihn berufen, wenn sie selbst diese Form von Trennung vornahmen (vgl. Rawls 2003: 120, Fn. 1; Scanlon 1998: 394, Fn. 7). Die Absicht von Sibley ist es zu zei4 | Gewirth begreift diese Unterscheidung auch als den »traditionellen Konflikt zwischen Egoismus oder exklusivem Eigeninteresse und der Moralität, speziell der moralischen Qualität der Gerechtigkeit« (Gewirth 1983: 225, Übers. d. Verf.).

6. Das Vernünf tige und das Rationale

gen, dass der Begriff des Vernünftigen Implikationen für das praktische Denken hat, welche der Begriff des Rationalen nicht hat, und deshalb eine strikte Trennung notwendig erscheint. Sibley bietet folgende Erklärung für den Begriff des Rationalen an: Das Rationale hat eine Bedeutung in Bezug auf (1) die Zwecke, die ich mir setze, was eine Bewusstheit über das Wesen dieser Zwecke einschließt. Dies heißt, ich bin mir über die Bedeutung des Zweckes sowie über seinen Einfluss auf andere Zwecke im Klaren. Im Falle von Konflikten schließt Rationalität die Fähigkeit ein, aus diesen Zwecken denjenigen auszuwählen, welcher übereinstimmend mit meinen Informationen, meiner sorgsamen Überlegung und in Anbetracht meiner Erfahrung für mich am wertvollsten ist. Das Rationale hat einen Bezug auf (2) die Mittel, die ich für das Erreichen der Zwecke benötige. Ich wähle die Mittel, die nach den verfügbaren Erkenntnissen die effektivsten darstellen. Dazu gehört, dass ich alle anderen Maßnahmen zur Kenntnis nehme, die in meiner Macht liegen und für das Erreichen meiner Zwecke förderlich sind. Letztlich hat das Rationale einen Bezug auf (3) den Willen. Hier impliziert Rationalität, dass ich in Übereinstimmung mit meinen Entscheidungen handle und mir keine emotionalen Einflüsse oder Willensschwäche erlaube, die mich dazu bringen könnten, entgegengesetzt zu handeln (vgl. Sibley 1953: 555f.). Scheitert man in irgendeinem dieser Punkte, dann ist der Ausdruck »Irrationalität« berechtigt. Dieser Rationalitätsbegriff impliziert nichts über die gegebenen Zwecke selbst. Diese können egoistischer oder altruistischer Natur sein. Und jene Natur kann an sich nicht rational oder irrational sein. Dies kann nur gesagt werden, wenn die Zwecke falsch angeordnet sind (zum Beispiel nicht danach, was ich am wertvollsten schätze), ich die falschen Mittel ergreife oder daran scheitere, auf meine Entscheidung auch eine Handlung folgen zu lassen. Gegenüber dem Inhalt des Zweckes kann sich diese Konzeption enthalten.5 Dabei ist zu bemerken, dass ich dennoch nicht nur darauf achten muss, welche Auswirkungen die Verwirklichung bestimmter Zwecke auf meine anderen Zwecke haben. Ich muss ebenso die möglichen Auswirkungen auf die Zwecke von anderen Personen beachten, um rational zu sein. Aber diese Überlegung findet nach Sibley nur im Hinblick darauf statt, ob die Handlungen von anderen in der Folge auf mich selbst zurückfallen könnten. So findet eine 5 | Wenn nun unsere Zwecke auf beliebige Weise zustande kommen können, beispielsweise durch unsere Wünsche oder Affekte, dann geraten diese mit dem rationalen Denken nicht in Widerspruch. Dann können wir mit Hume sagen: »Es läuft der Vernunft nicht zuwider, wenn ich lieber die Zerstörung der ganzen Welt will, als einen Ritz an meinem Finger« (Hume 1739: 487). Wenn das mein Zweck ist, dann ist es mein Zweck. Ich gerate nur dann mit dem rationalen Denken in Konflikt, wenn ich die falschen Mittel für meinen entsprechenden Zweck wähle.

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Berücksichtigung anderer Zwecke immer nur im Hinblick auf meine eigenen statt. Wenn jemand rational sein will, muss er alle relevanten Faktoren berücksichtigen. Dies schließt auch ein, über die Befriedigung von Interessen anderer nachzudenken, denn ansonsten bin ich mir nicht wirklich bewusst über das, was ich tue. Sibley hebt nun zwei unterschiedliche Arten der Berücksichtigung von anderen Personen hervor. Einerseits die erwähnte Berücksichtigung der Interessen anderer als bloße Faktoren, die in der Lage sind, die Förderung meiner eigenen Zwecke zu beeinflussen. Andererseits gibt es eine Form der Berücksichtigung anderer Zwecke aus einer unparteilichen Perspektive, wobei diese Zwecke auf eine Stufe mit meinen eigenen gesetzt werden. Der kluge Rationalist bezieht die Interessen anderer im ersten Sinne ein, während letzterer Sinn eine andere Fähigkeit verlangt als diejenige Fähigkeit, zukünftige Konsequenzen korrekt zu kalkulieren. Es wird so etwas wie eine »teilnahmsvolle Disposition gegenüber anderen« (ebd.: 557, Übers. d. Verf.) verlangt, um ihre Interessen genauso zu berücksichtigen wie meine eigenen, und dies in einem »moralischen Sinne«, weshalb Sibley dieses Vermögen auch als »moralische Tugend« bezeichnet. In dieser Hinsicht soll man nicht nur rational, sondern auch vernünftig handeln, wo andere Interessen als die eigenen involviert sind. Vernünftig zu sein, ist dann eine Sache, etwas »aus der Perspektive des anderen« zu sehen und »zu entdecken, wie jeder durch mögliche alternative Handlungen betroffen ist«. Wenn ich vernünftig bin, dann »muss ich mein Verhalten in Bezug auf ein Prinzip rechtfertigen, auf welches sich alle Parteien, die betroffen sind, berufen können« (ebd.: 557, Übers. d. Verf.). Wenn wir also von jemandem als rational sprechen oder ihn so qualifizieren, dann wissen wir nur, dass er seine Ziele auf kluge Weise verfolgen wird. Wenn wir von jemandem sagen, dass er vernünftig ist, dann werden andere berücksichtigt und er hat den Willen, sein Verhalten durch ein Prinzip zu regulieren, von dem aus er mit anderen gemeinsam überlegen kann, was sie sich für Beschränkungen auferlegen. Die Disposition, vernünftig zu handeln, kann nicht davon abgeleitet werden, rational zu handeln. Es ist eine praktische Form des Denkens eigener Art. Auch nach Perelman (1979) verhält es sich in der Weise, dass eine rationale Entscheidung unvernünftig sein kann und umgekehrt. In einigen Fällen sind beide entgegengesetzt. Er legt offen, dass, wenn es einen Unterschied gibt, welcher das Vernünftige vom Rationalen trennt, wir zugeben müssen, dass es zwei verschiedene Formen der Vernunft sind, da diese Idee der Vernunft in mindestens zwei diametral entgegengesetzten Weisen verwendet werden kann. Im praktischen Bereich des richtigen Handelns qualifizieren wir Rationalität in Übereinstimmung mit Prinzipien des Denkens als ein Verhalten, welches Zwecke durch Wissen über Ursachen wählt und die effektivsten Mittel zur Erreichung von Zwecken verwendet. Es ist ein Verhalten, welches unsere Handlungen mit den Ergebnissen der Reflexionen einer Person übereinstim-

6. Das Vernünf tige und das Rationale

men lässt und welches nicht erlaubt, dass Leidenschaften oder bloße Neigungen unser Handeln leiten. Dies ist der rationale Mensch, der jedoch nur eine Idealisierung sondergleichen ist: »Wir würden nur eine geringe Chance haben, ihm in Fleisch und Blut zu begegnen, aber jeder kennt eine mehr oder weniger perfekte Annäherung an ihn« (Perelman 1979: 118, Übers. d. Verf.). So verstanden ist der rationale Mensch ein bloßer Mechanismus, abgeschnitten von seiner Menschlichkeit und nicht sensibel für Reaktionen aus seinem Umfeld: »Er ist das Gegenteil des vernünftigen Menschen. Letzterer ist ein Mensch, der in seinen Urteilen und seinen Handlungen durch den Common Sense beeinflusst ist« (ebd., Übers. d. Verf.). Dies ist eine überaus interessante Formulierung. Das Vernünftige setzt nach Perelman offenbar bestimmte Standards voraus, die allgemein anerkannt werden. Über diese Common-Sense-Standards hinauszugehen, bedeutet, unvernünftig zu sein, da offenbar die Personen außen vor gelassen werden, die Teil dieser geteilten Überlegungen sind. Der vernünftige Mensch betrachtet sich nicht als Ausnahme, sondern er sucht, mit Prinzipien übereinzustimmen, denen alle gleichsam zustimmen können, und hält genau diejenigen Regeln für unvernünftig, die nicht verallgemeinert werden können. Daraus folgen bestimmte Kriterien, die ein Prinzip zu erfüllen hat. Ein Prinzip, welches allen akzeptabel scheint und vernünftig ist, kann nicht willkürlich einige Personen in bestimmten Situationen bevorzugen. Das, was vernünftig ist, muss jedem in analogen Situationen wie ein Präzedenzfall erscheinen, der auf jeden anderen Fall erneut angewandt werden kann. Doch wenn das Vernünftige vom Common Sense abhängt, dann ist es über die Zeit hin wandelbar und inkonstant. Was uns heute als vernünftig scheint, muss es in hundert Jahren nicht mehr sein: »Das Vernünftige eines Zeitalters ist nicht das Vernünftige eines anderen: Es kann variieren wie der Common Sense« (ebd.: 119, Übers. d. Verf.). Gleichsam haben wir es beim Vernünftigen dem Anschein nach mit etwas Konservativem zu tun. Es scheint gebunden zu sein an das, was besteht, und ist zu großen Sprüngen nach Perelman nicht fähig. Wenn das Vernünftige an den Common Sense gebunden ist, dann muss jede Abweichung davon im Namen von bestimmten Prinzipien verurteilt werden, selbst wenn sie vom Rationalen abgeleitet sind. Nur weil etwas mit dem Rationalen übereinstimmt, heißt es nicht, dass es akzeptiert werden muss. Doch bei allem Bezug auf das Bestehende heißt die Rückbindung an den Common Sense nicht unbedingt Stillstand: »Das Vernünftige von heute ist nicht das Vernünftige von gestern, aber es ist oft eine Anstrengung in Richtung größerer Kohärenz, in Richtung mehr Klarheit, in Richtung eines systematischeren Blicks auf die Dinge, welche an der Basis des Wandels liegen« (ebd.: 119, Übers. d. Verf.). Klarheit, Systematisierung und Kohärenz können wichtige Schritte zur Weiterentwicklung des Denkens sein und gerade, wenn es Kon-

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flikte zwischen zwei verschiedenen Systemen gibt, stellt man häufig fest, dass zum Common Sense zurückgegangen wird.6 Zuletzt wende ich mich einer prominenten Unterscheidung des Vernünftigen und des Rationalen durch John Rawls zu. In Eine Theorie der Gerechtigkeit schien sich Rawls auf den ersten Blick einer rein rationalen Rechtfertigung seiner Gerechtigkeitsprinzipien verschrieben zu haben. Eine Unterscheidung zwischen dem Vernünftigen und dem Rationalen kommt dort nicht (explizit) vor. Im Gegenteil bestand Rawls darauf, dass seine Theorie als »Teil der Theorie der rationalen Entscheidung« (Rawls 1979: 33) anzusehen ist.7 Rawls konstruiert seinen Urzustand mit Parteien, welche entsprechende Grundsätze der Gerechtigkeit wählen sollen, und gibt ihnen Merkmale, die den bisherigen Kennzeichnungen eines rationalen Menschen entsprechen. Danach orientiert sich Rawls an einem Standardbegriff von Rationalität, welcher lediglich durch die Annahme bezüglich des Ausschlusses von Neidgefühlen ergänzt wird. So besitzen die Parteien (1) die Fähigkeit, ein widerspruchsfreies System von Präferenzen in Anbetracht möglicher Optionen auszubilden; (2) die Fähigkeit, die eigenen Präferenzen nach dem Kriterium der Dienlichkeit der Zwecke zu ordnen; (3) die Fähigkeit zur Befolgung desjenigen Planes, der möglichst viele Wünsche erfüllt, und (4) die Parteien kennen kein Gefühl von Neid (zusammen mit gegenseitigem Desinteresse). Letzteres hat vor allem den Grund, dass die Menschen nur an ihren eigenen Lebensplänen interessiert sein sollen, um ein eindeutiges Ergebnis im Urzustand zu erzielen (vgl. ebd.: 167). Die Parteien im Urzustand überlegen somit in erster Linie eigennutzenorientiert. Hier unterscheidet sich das rawlssche Modell nicht von den Vertragstheorien der hobbesschen Tradition. Doch das Rationalitätsmodell, welches sich darin offenbart, unterliegt massiven Einschränkungen, die nicht mit Verweis auf selbiges eingeführt werden. Es ist der berüchtigte Schleier des Nichtwissens, der über die Parteien im Urzustand gelegt wird. Unwissend über ihre eigene soziale Position, haben sie keine andere Wahl, als ihre Entscheidung so unparteilich wie möglich zu treffen. Es gibt bei Rawls nicht nur den basalen normativen Begriff des Rationalen, verstanden als richtige Zweck-Mittel-Kalkulation für den eigenen Vorteil. Stattdessen gibt es auch vernünftige Einschränkungen der rationalen Wahl. Um die6 | Perelman bezeichnet dies auch als dialektischen Prozess: »Es ist die Dialektik des Rationalen und des Vernünftigen, die Konfrontation von logischer Kohärenz mit dem vernünftigen Charakter von Konklusionen, welche die Basis für den Fortschritt des Denkens ist« (Perelman 1979: 120, Übers. d. Verf.). 7 | Eine weitere Bemerkung dazu erfolgt in Abschnitt 28 von Eine Theorie der Gerechtigkeit. Unglücklicherweise wurde an dieser Stelle »theory of rational choice« in der deutschen Ausgabe mit »Theorie der vernünftigen Entscheidung« (Rawls 1979: 196) übersetzt.

6. Das Vernünf tige und das Rationale

se Tatsache und um Missverständnisse zu beheben, hat Rawls später zwischen dem Vernünftigen und dem Rationalen unterschieden und sein eigenes Projekt korrigiert. In seinen späteren Arbeiten gibt er zu, dass die Einordung der Theorie der Gerechtigkeit als Teil der Theorie rationaler Entscheidung schlicht falsch sei: »Ich hätte sagen sollen, dass die Darstellung der Parteien und ihrer Überlegungen die Theorie rationaler Entscheidung benutzt, wenn auch nur auf eine intuitive Weise. Diese Theorie ist selbst Teil einer politischen Gerechtigkeitskonzeption, die versucht, eine Erklärung für vernünftige Gerechtigkeitsgrundsätze zu geben. Es ist nicht beabsichtigt, diese Grundsätze aus dem Begriff der Rationalität als dem einzigen normativen Begriff herzuleiten« (Rawls 2003: 125f., Fn. 7).8 Stattdessen führt er den weiteren normativen Begriff des Vernünftigen ein. Das Vernünftige kennzeichnet sich nach Rawls durch die »Bereitschaft, faire Kooperationsbedingungen vorzuschlagen und zu achten« (Rawls 2003: 120, Fn. 1). Personen sind »in einer grundlegenden Hinsicht vernünftig, wenn sie – sagen wir unter Gleichen – bereit sind, Grundsätze und Standards als faire Kooperationsbedingungen vorzuschlagen und ihnen freiwillig zu folgen, wenn sie sicher sein dürfen, dass andere ebenso handeln werden. Von diesen Normen glauben sie, dass sie für jeden vernünftigerweise akzeptabel sind und dass sie sich allen gegenüber rechtfertigen lassen, und sind bereit, von anderen vorgeschlagene faire Bedingungen zu diskutieren« (ebd.: 121; vgl. auch Rawls 2006: 27). Dagegen sind Personen unvernünftig, »wenn sie an kooperativen Systemen teilnehmen wollen, aber nicht bereit sind, irgendwelche allgemeinen Grundsätze oder Standards, die faire Bedingungen der Kooperation festlegen, zu achten oder vorzuschlagen, es sei denn als eine notwendige öffentliche Verstellung. Sie sind bereit, solche Regeln zu verletzen, wann immer es die Umstände zulassen und es ihren Interessen dient« (Rawls 2003: 122). Auch spricht Rawls vom Vernünftigen als »intuitive moralische Grundidee« (Rawls 2006: 134). Im Zweifel müssen die entsprechenden Eigeninteressen hintangestellt werden. Das Rationale wird von einer übergeordneten Vorstellung des Vernünftigen überwölbt. Dies spiegelt sich auch in der Urzustandssituation wider, welche Rawls gebraucht, denn dort begegnen wir zwar Parteien, die nur über das Vermögen der Rationalität verfügen, jedoch sorgt der Schleier des Nichtwissens für die fairen Bedingungen, unter denen die Wahl stattfinden kann. Demzufolge haben wir es mit einer Priorität des Vernünftigen zu tun: »Das Vernünftige ist dem Rationalen übergeordnet, denn seine Grundsätze 8 | An anderer Stelle weist er ebenfalls noch einmal deutlich auf die Tradition hin, in die er sich einordnet. Er korrigiert das Missverständnis, seine Theorie gehöre zur Theorie der rationalen Entscheidung, denn dies »würde implizieren, dass die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness nicht kantianisch, sondern im Grunde hobbesianisch ist (wenn man die übliche Hobbes-Interpretation unterstellt)« (Rawls 2006: 134, Fn. 2).

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begrenzen […] die letzten Ziele, die verfolgt werden können« (Rawls 1992b: 100; vgl. Rawls 2006: 134). Beide Vorstellungen, sowohl die des Vernünftigen als auch die des Rationalen, haben bei Rawls einen Platz, aber er glaubt nicht, dass sich das Vernünftige in irgendeiner Weise aus dem Rationalen ableiten ließe und dass sämtliche Versuche, dies zu tun, letztlich gescheitert sind. Dies ist jedoch genau das Projekt, welches die Kontraktualisten in der Tradition von Hobbes verfolgen. Für den Moment will ich festhalten, dass Rationalität in den verschiedenen Vorschlägen als ein Vermögen charakterisiert wird, welches einzig ZweckMittel-Überlegungen betrifft und eine Berücksichtigung von anderen nicht erfordert oder nur, insoweit es den eigenen Zwecken dienlich ist. Bezüglich des Vernünftigen konnten verschiedene Merkmale ausgemacht werden. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie das Vernünftige damit verbinden, die Gründe oder Zwecke von anderen Personen in den eigenen Überlegungsprozess einzubeziehen. Darüber hinaus gibt es einige spezifischere Bestimmungen. Die erste Klasse von Bestimmungen bezieht sich auf den Willen der Akteure. Es ist von einer »Disposition« oder einem »gewillt sein« (Sibley) ebenso von einer »Bereitschaft« (Rawls) zu lesen. Eine zweite Klasse von Bestimmungen bezieht sich auf die moralische Natur des Vernünftigen, sodass es sich beim Vernünftigen um eine »moralische Tugend« (Sibley) handelt oder es eine »moralische Grundidee« (Rawls) darstellt. Eine Bestimmung, die einer weiteren Klasse zugeordnet werden muss, bezieht das Vernünftige auf Übereinstimmung mit dem Common Sense (Perelman). Vernünftig ist der, welcher den Common Sense in seinem Denken berücksichtigt. Einer letzten Klasse von Bestimmungen ist der Inhalt des Vernünftigen zuzuschreiben: Entweder geht es darum, »faire Kooperationsbedingungen« (Rawls) vorzuschlagen, »Rechte von anderen wie die eigenen zu respektieren« (Gewirth), oder darum, »das eigene Verhalten durch Prinzipien zu regulieren« (Sibley). Ich glaube, dass wir das Vernünftige in all diesen Konzeptionen noch nicht ganz erfassen können und ich werde versuchen, eine eigene Konzeption im Anschluss an kontraktualistische Vorschläge zu zeichnen, welche die besprochenen Elemente des Vernünftigen wieder aufgreift.

6.2. R ationale W esen und G ründe Beide Formen des Denkens, das Vernünftige und das Rationale, verweisen gleichermaßen auf die Wohlbegründetheit der Handlung, die jemand ausführen möchte. Nach der bisherigen Darstellung scheint es folgendermaßen zu sein: Damit ich rational bin, verweise ich auf Gründe, welche auf meinen eigenen Präferenzen, Zielen und Zwecken basieren; um vernünftig zu sein, muss ich offenbar einen breiteren Bereich von Gründen berücksichtigen, die

6. Das Vernünf tige und das Rationale

nicht nur ich, sondern vor allem auch andere haben können. Wenn wir von der Wohlbegründetheit einer Handlung sprechen, so müssen wir auf die Gründe schauen, die ein entsprechend Handelnder hat. Ich möchte im Anschluss an den Kontraktualisten Thomas Scanlon eine Minimalkonzeption dessen aufzeigen, was Gründe sind, und eine minimale Konzeption dessen, was es bedeutet, ein »rationales Wesen« zu sein, also ein Wesen, welches wohlbegründet handeln kann. Wohlgemerkt bauen wir uns vorerst ein möglichst neutrales Verständnis eines rationalen Wesens auf, welches durch die vorangegangene Unterscheidung zwischen dem eher instrumentell rationalen Handeln und dem darüber hinausgehenden vernünftigen Handeln noch nicht berührt wird. Ein Grund ist nach Thomas Scanlon (vgl. 1998: 17) immer etwas, was für etwas spricht. Es gibt Gründe, die lediglich etwas Bestimmtes erklären und nicht mit einer Person verbunden sind, die einen Grund hat. Wenn wir etwa fragen, warum es ein Erdbeben gab und wir die Gründe dafür in Ereignissen innerhalb des Erdinneren durch eine Bewegung von Lithosphärenplatten sehen, dann haben wir Ursachen genannt. Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn wir jemanden fragen, warum er davon überzeugt ist, dass es ein Erdbeben geben wird, oder warum jemand denken sollte, dass es ein Erdbeben gibt. Gefragt wird an dieser Stelle nach einem Grund im »standard-normativen Sinn« (ebd.: 18), der für die Überzeugung spricht, dass es ein Erdbeben geben wird. Wenn wir fragen: Was gibt es für einen Grund zu glauben, dass X?«, dann fragen wir nach einem »guten Grund«. Das ist die Art von Grund, um die es geht. Es geht nicht um die Gründe, die Ursachen sind. Wenn Gründe zugunsten von etwas sprechen, was genau ist dieses etwas dann? Wofür sprechen Gründe? Für was können Gründe im standard-normativen Sinne angeboten und nachgefragt werden? Thomas Scanlon führt als Objekt dessen, wofür Gründe gegeben werden können, die sogenannten urteilssensitiven Einstellungen an: »Dies sind Einstellungen, die eine ideale rationale Person haben würde, wann immer sie urteilt, dass sie hinreichende Gründe für sie hat, und sie würden bei einer idealen rationalen Person ›ausgelöscht‹ werden, wenn diese Person urteilt, dass sie nicht durch Gründe angemessener Art gestützt würden« (ebd.: 20, Übers. d. Verf.). Unter diese Einstellungen fallen zum Beispiel Überzeugungen, Absichten, Hoffnungen, Ängste sowie auch Bewunderung, Respekt, Achtung oder Empörung. Natürliche Zustände oder Ereignisse sind aus diesen Einstellungen ausgeschlossen, da sie irgendwo in der Welt, aber unabhängig von einer bewussten Person sind. Nur Personen können urteilssensitive Einstellungen haben. Ebenso fallen auch bloße Gefühle wie Hunger oder Müdigkeit heraus, denn dies sind Zustände, die zwar unser Urteil über Gründe beeinflussen können, aber nicht von irgendeinem Urteil über Gründe abhängen. Das, was eine Einstellung zu einer urteilssensitiven macht, ist, dass ein rationaler Akteur genau dann diese Einstellung hat, wenn er urteilt, einen hinreichenden Grund für sie zu haben. Ob wir diese

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Einstellung haben, hängt von unseren Urteilen über Gründe ab. Sie bestimmen, welche Einstellung wir einnehmen und welche wir ablegen. Letztlich ist die Einstellung, etwas zu befürworten oder abzulehnen, also eine bestimmte Haltung gegenüber dem Gegenstand einer Übereinkunft einzunehmen, Teil solcher urteilssensitiven Einstellungen. Wir haben eine Pro-Einstellung, wenn wir urteilen, angemessene Gründe dafür zu haben, und wir verändern unsere Einstellung in eine Kontra-Einstellung, wenn wir urteilen, stärkere Gründe zu haben, welche die Gründe für die Pro-Einstellungen überwiegen. Diese Bemerkungen führen zu einer Konzeption eines rationalen Wesens in einem minimalen, aber fundamentalen Sinne. Was kennzeichnet ein rationales Wesen? Es ist eines, welches die »Fähigkeit hat, Gründe zu erkennen, sie zu beurteilen und durch sie motiviert zu sein, und somit urteilssensitive Einstellungen zu haben« (ebd.: 23).9 Die Fähigkeit zu rationalem Handeln besteht also zunächst nur in einer angemessenen Ansprechbarkeit der eigenen urteilssensitiven Einstellungen gegenüber den eigenen Urteilen über relevante Gründe. Ist ein Wesen rational, dann wird es genau die Handlungen ausführen oder diejenigen Überzeugungen haben, die mit diesen Urteilen übereinstimmen. Das Wesen ist demzufolge auf Gründe ansprechbar (vgl. ebd.: 23-26). Diese Fähigkeit, Gründe zu haben, zu erkennen und zu beurteilen, zusammen mit der Ansprechbarkeit unserer urteilssensitiven Einstellungen auf unsere Urteile über Gründe, unterscheidet uns von anderen Wesen. Dieses Rationalitätsverständnis kann man als eine minimale und deshalb auch als sehr weite Vorstellung verstehen. Viele nähere Ausarbeitungen über rationale Erfordernisse von Handlungen mögen damit kompatibel sein. Gleichsam wird der Begriff des Irrationalen eingegrenzt, also auch die Möglichkeit, eine Person als irrational zu qualifizieren. Zu bemerken ist selbstverständlich, dass Wesen, welche die Fähigkeit zu urteilssensitiven Einstellungen und das Verständnis von Gründen nicht verfügen, nicht als irrational zu bezeichnen sind. 9 | An dieser Stelle würde sich auch die Frage stellen, wie uns Gründe denn eigentlich motivieren sollen, etwas zu tun. Nach einer humeschen Konzeption muss immer ein Wunsch hinzutreten, damit wir nach einem entsprechenden Grund handeln können. Diese Kontroverse lasse ich hier vorerst beiseite. Ob wir davon ausgehen, dass Wünsche oder Gründe primär sind, ist für eine kontraktualistische Theorie nicht von so großer Relevanz, wie man annehmen sollte. Dies ist eine grundlegende Kontroverse um die Frage »Was geht voraus: das Wollen den Gründen oder die Gründe dem Wollen?« (Stemmer 2013). Solange diese Gründe und Wünsche immer auf den Akteur selbst bezogen sind, ist ein Kontraktualismus im Angesicht unterschiedlicher persönlicher Gründe und Wünsche möglich, um richtig und falsch zu ermitteln. Anders wäre dies, wenn wir die Gründe aus einer tieferen Rationalitätskonzeption konstruieren würden, wie dies in Kapitel 4.5. gezeigt wurde. Darüber hinaus werde ich im Kapitel 7, welches die Motivation der Vertragsparteien behandelt, einige Bemerkungen zu Wünschen und Gründen machen.

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Sie sind lediglich arational, indem sie schlicht aus dem Wesenskreis rationaler Kreaturen herausfallen. Irrationalität will ich stattdessen, hierbei wieder übereinstimmend mit Scanlon, folgendermaßen verstehen: »Irrationalität im klarsten Sinne, tritt dann auf, wenn die Einstellungen einer Person daran scheitern, mit seinen oder ihren eigenen Urteilen übereinzustimmen« (ebd.: 25, Übers. d. Verf.). Wenn wir es mit Irrationalität zu tun haben, dann gibt es einen direkten Konflikt zwischen den Urteilen, welche ein entsprechend rationales Wesen fällt, und den Einstellungen, welche es hat. Bestimmte Urteile über Gründe erfordern es, eine dazu passende Einstellung einzunehmen. Wenn die betreffende Person beispielsweise weiterhin eine bestimmte Ansicht vertritt, obwohl sie urteilt, dass es gute Gründe gibt, diese Ansicht abzulehnen, dann ist dies klassischerweise eine Form von Irrationalität. Ein so enges Verständnis des Irrationalen scheint gewisse Vorteile zu haben. Ein stärkeres Verständnis von Irrationalität setzt bestimmte stärkere Maßstäbe voraus, die wir erst einmal begründen müssten. In jedem Fall erlaubt ein sehr enges Verständnis von Irrationalität, einen klaren Unterschied zwischen der Tatsache zu ziehen, dass eine Person einfach nur falsch liegt, und der Tatsache, dass eine Person irrational ist. Nehmen wir an, eine Person hat die Überzeugung, dass Zauberkräfte existieren. Ist sie irrational? Solange sie bestimmte Gründe hatte, eine Pro-Einstellung gegenüber der Existenz von Magie einzunehmen, etwa ein Internet-Video, welches jemanden zeigte, wie er erfolgreich mit einem Zauberstab einen Baum anzündete, dann kann eine Person völlig rational diese Überzeugung haben. Stattdessen können wir sagen, dass die Person einfach falsch liegt mit ihrer Überzeugung, denn wir können zeigen, dass das Video eventuell gefälscht ist und es auch sonst keine wissenschaftlichen Belege für diese Annahme gibt. Wir können also Gründe anführen, welche die Person, die an Magie glaubt, vorher nicht bedacht hat oder die ihr nicht zugänglich waren. Hier offenbart sich ein gewichtiger Unterschied zwischen den Fragen, was für uns am rationalsten zu tun ist, und dem, was wir zu tun am meisten Grund haben. Parfit sagt über diesen Unterschied: »Diese Fragen unterscheiden sich nur auf eine Weise. Während Gründe durch Tatsachen geboten werden, hängt die Rationalität unserer Wünsche und Handlungen stattdessen von den Überzeugungen ab, an die wir glauben […]. Wenn wir die relevanten Tatsachen kennen, haben diese Fragen dieselben Antworten. In anderen Fällen kann es rational sein, etwas zu wollen oder zu tun, wofür wir keinen Grund haben, es zu wollen oder zu tun. Wenn ich also fälschlicherweise glaube, dass mein Hotel in Flammen steht, mag es rational für mich sein, in den Kanal zu springen; aber ich könnte keinen Grund haben zu springen« (1997a: 99, Übers. d. Verf.). Ein Grund wird hier offenbar in einem realistischeren Sinn verstanden. Basierend auf der Überzeugung, dass das Hotel brennt, mag es durchaus rational für mich sein, mein Leben retten zu wollen, indem ich aus dem Fenster springe. Aber tatsächlich könnte gar kein realer Grund vorliegen, weil das Hotel tat-

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sächlich gar nicht brennt. Irrational wäre ich in der Tat, wenn ich durch meine Beurteilung der Gründe keinerlei Einstellungsänderung vornehmen würde. Wenn ich urteile, dass ein brennendes Haus und ein möglicher Tod gute Gründe sind, in einen Kanal zu springen, dann sollte ich auch eine entsprechende Einstellung formen. Es mag jedoch auch Positionen geben, die eine gewisse Vorstellung von »objektiver Rationalität« entwickeln, bei der einige Mindestanforderungen, welche bestimmte natürliche Tatsachen, Wirkungsmechanismen und Kenntnisse über die Realität betreffen, vorausgesetzt werden, sodass Aberglaube und andere merkwürdig anmutende Einstellungen als irrational kritisiert werden können. Ich glaube, dass dies jedoch nicht immer eine Rationalitätskritik zur Folge haben muss und es scheint für mich auch fraglich, ob eine vollständige Menge objektiver Kriterien demonstrierbar ist. Kritik können wir nicht nur als Rationalitätskritik formulieren. Vielleicht war diese Person, die merkwürdig handelte, einfach einfältig, naiv oder ignorant, aber ich würde nicht unbedingt sagen, dass sie irrational war. Wir wenden also eine gänzlich andere Form von Kritik ihr gegenüber an.

6.3. V orstellungen dessen , was am r ationalsten ist Mit dieser schwachen Konzeption dessen, was ein rationales Wesen auszeichnet und wann wir von Irrationalität sprechen, können wir uns gemäß der kontraktualistischen Formel eine Situation vorstellen, in der wir fragen, was Parteien, die in dieser Weise gekennzeichnet sind, akzeptieren können. Akzeptieren können sie etwas, wenn sie unter den verschiedenen Optionen diejenige wählen, für die sie am meisten Grund haben. Eine bestimmte Rationalitätsvorstellung kann uns bei der Suche nach dem, wofür wir am meisten Grund haben, helfen. Eine dieser Vorstellungen könnte beispielsweise sein, dass wir immer Grund haben, diejenige Handlung auszuführen, die unserem eigenen Interesse dient. In diesem Falle legen wir eine Variante einer Vorstellung von idealer rationaler Entscheidung zugrunde. Mit Scanlon könnten wir solche Rationalitätsvorstellungen (vielleicht angemessener) auch als »substanzielle Vorstellungen der Gründe, die wir haben«, kennzeichnen (Scanlon 1998: 30, Übers. d. Verf.). Wenn wir uns dies klarmachen, dann verstehen wir auch, warum häufig in einem sehr weiten Sinne von Irrationalität gesprochen wird. Wenn ich eine bestimmte Vorstellung der Gründe, die wir haben, mit dem identifiziere, was im jeweiligen Eigeninteresse einer Person liegt, dann wird man in einem solchen Modell jemanden als irrational bezeichnen, der seinen eigenen Interessen entgegenhandelt. Doch genau dies würde einer bestimmten Klasse von Gründen (Gründe, die aus dem Eigeninteresse resultieren) einen besonderen Status einräumen. Mit solch einer Rationalitätsvorstellung arbeitet der hobbes-

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sche Kontraktualismus. Er hat eine spezifische Rationalitätsvorstellung beziehungsweise eine Vorstellung von den Gründen, die wir haben, und räumt dieser Vorstellung Priorität ein. Auf diese Weise kann gezeigt werden, was ein rationaler Akteur am meisten Grund hat zu tun. Am meisten Grund hat er, einer Übereinkunft zuzustimmen, wenn sein Eigeninteresse (sei es inhaltlich in Form von Selbsterhaltung, Wohlergehen oder individueller Nutzenmaximierung) am besten befriedigt wird. So verhält es sich für gewöhnlich auch mit Entscheidungs- und Spieltheorien, auf deren Basis sich kontraktualistische Theorien in der heutigen Zeit gerne auf bauen. Sie bieten bestimmte Erfordernisse und versuchen zu zeigen, was ein idealer rationaler Akteur tun würde oder wann eine Entscheidung eines Akteurs die Qualifizierung als rational erhält. Hobbessche Kontraktualisten berufen sich darauf, dass ihr Rationalitätsbegriff am wenigsten umstritten ist. Ich will mich dazu mit einem spezifischen Vorschlag von David Gauthier näher auseinandersetzen. Rationalität wird rein mit dem Fokus auf die Person als individueller Nutzenmaximierer verstanden. Eine so verstandene Person, die nur auf eine bestimmte Weise Gründe gelten lässt, wird in einen Zustand versetzt, der sich in erster Linie durch die Abwesenheit von Kooperation auszeichnet. Nun lässt sich mittels des Modells der rationalen Entscheidung ein formales Verfahren ausbreiten, welches Präferenzen in Bezug auf Nutzen ausrichtet und den individuellen Nutzen maximiert. Mit diesen Schlüsselbegriffen (1) der Präferenz, (2) der Nützlichkeit und (3) der Maximierung lässt sich die relative Wünschbarkeit von Handlungsweisen ermitteln (vgl. Gauthier 1986: 21). Wenn eine Person etwas Bestimmtes erreichen möchte beziehungsweise wenn sie motiviert ist, etwas zu tun, dann kann dies als Präferenz für etwas gelten. Es ist eine Überlegung in Bezug auf einen bestimmten Zustand, dessen eintreten erwünscht ist. Eine Präferenz bezieht sich demzufolge auf die Intention, die eine Person hat, wenn sie denkt, ein bestimmter Zustand sei es Wert, dass er eintritt. Gauthier sagt, Präferenzen würden sich auf unterschiedliche Zustände beziehen, die alternative Möglichkeiten darstellen und durch Handlungen realisiert werden können (vgl. ebd.: 22). Wenn der entsprechende Zustand erreicht ist, dann ist auch die Präferenz befriedigt. In diesem Sinne können wir den Menschen als Wesen verstehen, welches Präferenzen haben kann und sein Leben darauf ausrichtet, seine verschiedenen Präferenzen zu befriedigen. Jeder Mensch hat jedoch natürlicherweise nur begrenzte Zeit und endliche Ressourcen zur Verfügung, sodass er seine Präferenzen keinesfalls alle gleichzeitig oder überhaupt befriedigen kann. Somit müssen wir zwischen Präferenzen wählen und bestimmen, welche davon wichtiger sind als andere. Die Frage ist nun, welche Kategorie hierfür herangezogen werden kann? Gauthier hält den Nutzen für den einzig sinnvollen Maßstab, der uns zur Verfügung steht.

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Die Theorie der rationalen Entscheidung »identifiziert Rationalität mit der Maximierung von Nutzen« (ebd., Übers. d. Verf.). Mit diesem Maßstab können die Präferenzen geordnet werden. Eine rationale Person weist jeder ihrer Präferenzen einen Nutzenwert zu. Durch diese Ordnung erhält der Entscheider eine kohärente Hierarchisierung seiner Präferenzen. Je höher der Nutzen, desto größer der Wunsch, diese Präferenz zu befriedigen. Die Idee des Nutzens liefert eine Möglichkeit zu erklären, wie Individuen ihre Präferenzen gewichten können. Doch wenn dies erst einmal getan ist, dann sollten die rationalen Personen auch ihren individuellen Nutzen maximieren: »Praktische Rationalität im allgemeinsten Sinne wird mit Maximierung identifiziert« (ebd., Übers. d. Verf.). Rationalität selbst kann einem Individuum nicht sagen, was der Inhalt seiner Präferenzen beziehungsweise seiner Zwecke ist. Das liegt außerhalb der Kontrolle der praktischen Vernunft (vgl. ebd.: 26). Das einzige, was hier interessant ist, ist die Frage, wie der Nutzen maximiert werden kann. Für diesen Zweck ist die praktische Vernunft nur ein Instrument, um herauszufinden, welche der Präferenzen besser befriedigt werden können als die entsprechenden Alternativen, die möglicherweise zur Verfügung stehen. Was kennzeichnet demzufolge den rationalen Menschen nach Gauthier? Der rational Handelnde ordnet seine Präferenzen nach der Kategorie des Nutzens und versucht, diesen durch entsprechend effektive Mittel so gut wie möglich zu maximieren. Er wird sich darauf konzentrieren, seine begrenzte Zeit und seine endlichen Ressourcen darauf zu verwenden, den effektivsten Weg zu finden, um den maximal möglichen Erfolg zu erreichen. Noch einfacher gesagt: »Der rationale Mensch ist […] einfach derjenige Mensch, der mehr will« (Gauthier 1977: 152, Hervorhebung im Original, Übers. d. Verf.). Obwohl sich dieses Modell zugutehält, keine Aussagen über konkrete Zwecke zu machen und lediglich die instrumentelle Rationalität sprechen zu lassen, so beruht ihre Verwendung doch auf einer ganz spezifischen, nicht wertfreien Entscheidung für dieses Überlegungsmodell. So betont auch Grotefeld (1997: 72): »Moralbegründungen, die sich auf das wohlverstandene, rationale Eigeninteresse berufen, sind keineswegs ›wertfrei‹. Sie beruhen vielmehr auf einer bestimmten wertrationalen Vorentscheidung für das ökonomisch qualifizierte, eigene Interesse, das man daher als teleos dieses Typs von Moralbegründung ansehen kann.« Gibt es Gründe zu sagen, dass das eigene Interesse immer der zentrale Bezugspunkt ist, wie es von Vertretern des hobbesschen Kontraktualismus und der Theorie der rationalen Entscheidung vertreten wird? Es scheint als würde hier eine sehr eingeschränkte Form der Vorstellung vorliegen, welche Gründe und Ziele Personen haben. Zweifellos hat diese Rationalitätskonzeption ihre methodische Attraktivität, da sie im Grunde eine schwache und eher voraussetzungslose Konzeption dessen ist, was am rationalsten zu tun ist. Die Rationalitätskonzeption muss

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schließlich eine sein, die wir uns selbst zu eigen machen können. Nur auf diese Weise können wir selbst etwas mit dem Kriterium einer rationalen Übereinkunft für Prinzipien des Richtigen und Falschen anfangen. Demzufolge muss dieses Modell der praktischen Vernunft so dargelegt werden, dass es möglichst nicht kontrovers ist. Gauthier und andere moralische Kontraktualisten in hobbesscher Tradition berufen sich darauf, dass ihre Vorstellung von Rationalität, welche keine moralischen Voraussetzungen macht, eine »schwache und weithin akzeptierte Konzeption praktischer Vernunft« sei (Gauthier: 1986: 17, Übers. d. Verf.). Unabhängig davon, ob es wirklich so ist, muss der Vertragstheoretiker nach Gauthier davon ausgehen, dass der Mensch vorsozial oder unsozial ist und nur seine eigenen Interessen maximieren möchte (vgl. Gauthier 1977: 139), damit nach diesem Modell wirklich jedem ein Grund gegeben werden kann, die Übereinkunft für rational vorteilhaft zu halten. Anders als viele andere Philosophen stufen Hobbesianer den Menschen nicht zu gut ein, sondern sehen in einem vorherrschenden Egoismus »ein System von plausiblen moralischen und politischen Annahmen, die aus einer realistischen Darstellung der menschlichen Natur stammt« (Kavka 1986: 80, Übers. d. Verf.). Hobbesscher Kontraktualismus setzt aber eigentlich keine substanziell egoistische Konzeption der Person voraus, wie auch Gauthier immer wieder beton hat: »Ich will Moralität als eine rationale Einschränkung der Verfolgung von jemandes Zielen verteidigen, ob diese Ziele nun irgendeine Verbindung mit jemandes Interesse oder jemandes persönlichen Wohlergehen haben oder nicht. Doch natürlich will ich auch darauf bestehen, dass jemand rational handelt, wenn er seine Ziele verfolgt; das formale Ziel des rationalen Individuums ist die maximale Realisierung seiner substanziellen Ziele« (Gauthier 1991: 323, Übers. d. Verf.; vgl. auch Gauthier 1986: 7, 23). Nun ist es kein Zufall, dass hobbesschen Vertragstheoretikern häufig unterstellt wird, sie würden in ihrem Modell nur Egoisten und damit nur eigeninteressierte Handlungsmotive zulassen.10 In der Tat fällt das instrumentelle Rationalitätsmodell nicht automatisch mit dem Egoismus zusammen. Dies würde es nur dann, wenn wir eine These des psychologischen Egoismus vertreten, wonach ohnehin die Präferenzen der Personen in erster Linie vom Eigeninteresse abhängen, und somit altruistische Präferenzen gar nicht weiter beachtet werden müssen. Wir könnten Hobbes eine solche These des psychologischen Egoismus unterstellen. Nehmen wir dies jedoch nicht an, dann ist die Frage, ob sich moralische Prinzipien aus dem Eigeninteresse gewinnen lassen, eine andere Frage als diejenige, ob sie 10 | Von einer solchen notwendigen Voraussetzung des Egoismus in Gauthiers Konzeption gehen sowohl Sayre-McCord (vgl. 1991: 183-187) als auch Morris (vgl. 1988: 119-125) aus, wobei Letzterer darüber hinaus feststellt, dass Gauthier auf unterschiedlichen Ebenen seiner Theorie sehr missverständlich bezüglich der eigeninteressierten Annahmen ist.

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sich aus einer praktischen Rationalität ergibt, also aus dem Verfolgen von ausdrücklich beliebigen und nicht ausschließlich egoistischen Zwecken. Es gibt nun einige Kontraktualisten, die sagen, auch wenn die These vom psychologischen Egoismus nicht korrekt sei, seien egoistische Interessen dennoch prioritär gegenüber anderen Interessen zu behandeln. Für eine solche Auffassung steht Gregory Kavka. Er meint: »Auch wenn der psychologische Egoismus falsch ist, würde ich trotzdem die Vermutung wagen, dass eine schwächere Doktrin, die ich als ›vorherrschenden Egoismus‹ bezeichne, voraussichtlich wahr ist. Der ›vorherrschende Egoismus‹ besagt, dass Menschen in Wirklichkeit vorwiegend eigennützig sind, und zwar in folgendem Sinn: der Tendenz nach setzen die eigennützigen Belange der Menschen ihre auf den anderen gerichteten, idealistischen und altruistischen Handlungsmotive zumindest solange außer Kraft, bis sie ein befriedigendes Niveau an Sicherheit und Wohlstand erreicht haben. Außerdem sind jene selbstlosen Belange, die so stark sind, dass sie Menschen zum Handeln bewegen, die dem Eigeninteresse ernsthaft widerstreiten, ihrem Umfang nach eher begrenzt, etwa auf das Wohlergehen der Familie und von Freunden sowie auf die Förderung einzelner bevorzugter Projekte und Institutionen« (Kavka 2002: 185).

Aus diesem Grund sieht Kavka auch im Kontraktualismus ein »Versöhnungsprojekt« zwischen Eigeninteresse und Moral. Die meisten Motive, die wir haben, seien eigennütziger Natur, weshalb es angebracht erscheint, von vorwiegend eigeninteressierten Präferenzen auszugehen. Worin liegt die Attraktivität eines solchen Projekts begründet? Wahrscheinlich ist ein solcher Versuch in Anbetracht des technischen Fortschritts der Moderne und in Anlehnung an naturwissenschaftliche Exaktheit, mit der sich die Ökonomie gern zu schmücken versucht, nicht weiter verwunderlich. Hobbessche Kontraktualisten halten sich zugute, dass sie mit ihrer Vorstellung auskommen, »ohne vorhergehende moralische Annahmen einzuführen« (Gauthier 1986: 6, Übers. d. Verf.), also keinerlei moralische Dimension wie Unparteilichkeit im Überlegungsprozess voraussetzen. Sie halten diese Annahmen für deutlich kontroverser als ihre eigene Rationalitätskonzeption. Menschen, die sich beispielsweise selbst nicht viel um Unparteilichkeit kümmern, werden es auch zurückweisen, ein hypothetisches Verfahren zu akzeptieren, in welchem Parteien unparteilich handeln und überlegen. Genau deshalb sucht der hobbessche Kontraktualismus nach einer »nicht-moralischen oder moralisch neutralen Grundlage« (ebd.: 17, Übers. d. Verf.). Gauthier hält sich wohl zurecht zugute, dass dies keine andere Konzeption leisten könne. Ist er erfolgreich, dann kann er auch in moralischen Fragen, also für Prinzipien des Zusammenlebens, jedem einen nicht-moralischen Grund geben, moralisch zu sein oder inhaltliche moralische Prinzipien zu wählen. Ganz so voraussetzungslos ist die Theorie jedoch in Anbetracht ihrer Begründungsstrategie keineswegs. Es wird ihr nicht erspart bleiben, kon-

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kretere Aussagen zu den entsprechenden Zwecken zu machen, welche eigentlich maximiert werden sollen. Die Parteien müssen eine bestimmte Motivation haben, nämlich die Motivation, ihren eigenen Interessen immer Vorrang einzuräumen. Irrational sind wir danach also, wenn wir nicht die Maximierung unserer eigenen Präferenzen anstreben. Das ist ein stärkerer Begriff von Irrationalität, als ich ihn in Kapitel 6.2. herausgestellt habe. Menschen verletzen natürlich oft die Axiome in diesen Theorien. Ihre Entscheidungen können beispielsweise durch Fehler im Denken darüber, was dem eigenen Nutzen am zuträglichsten ist, von der rationalsten Entscheidung abweichen. Diese Fehler verdienen aber kaum den Titel der Irrationalität. Dass abstraktere Vorstellungen Verwendung finden, indem davon ausgegangen wird, dass das entsprechende Überlegungsmodell von solchen Fehlern bereinigt ist, mag allerdings nicht weiter problematisch sein. Wir müssen uns nur bewusst sein, dass die Theorie der rationalen Entscheidung nur eine partielle Darstellung dessen gibt, was wir am meisten Grund haben zu tun, und somit dessen, was wir bevorzugen würden, wenn wir in idealer Weise rational wären. Sie geben einerseits bestimmte formale Konsistenzbedingungen an, die auf bestimmte Zustände angewandt werden, oder dafür sorgen, dass bestimmte Zustände herbeigeführt werden. Andererseits müssen sie auch substanzielle Urteile darüber treffen, was Menschen für gewöhnlich für Gründe haben und diese erstrecken sich beispielsweise auf die Maximierung ganz bestimmter Zwecke. Dennoch scheint es mir, dass es persönliche Gründe geben kann, die nicht in dem Sinne Teil des Eigeninteresses sind oder immer zur Maximierung des eigenen Nutzens führen. Dies ist eine recht willkürliche Setzung, um bestimmten Gründen einen Vorrang einzuräumen. Diese Modelle mögen theoretisch einfach zu handhaben sein, aber es ändert nichts daran, dass sie den Raum der Gründe entscheidend einschränken. Eine umfangreiche Kritik hat insbesondere Amartya Sen an diesen Vorstellungen vollzogen: »Da Menschen auch ohne weiteres gute Gründe haben können, andere Ziele wahrzunehmen als die in ihrem eignen Interesse liegenden und da sie Argumente verstehen können, die für die Beachtung umfassenderer Werte oder Normen des guten Verhaltens sprechen, ist die RCT [Rational-Choice-Theorie, A.O.] Ausdruck eines extrem beschränkten Verständnisses von Vernunft und Rationalität« (Sen 2009: 207). An anderer Stelle sagt Sen etwas sehr Entscheidendes, nämlich, dass wir für ein angemessenes Verständnis unseres praktischen Überlegens die »mögliche Pluralität stichhaltiger Gründe« (ebd.: 211) beachten müssen. In den Fragen dessen, was Menschen akzeptieren oder nicht akzeptieren können, gibt es ein breites Spektrum an Gründen, die sich nicht allesamt auf das Eigeninteresse einer Person reduzieren lassen.

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6.4. D as V ernünf tige Ich habe zuvor eine einfache Konzeption von Gründen dargelegt und erläutert, was es im Anschluss an Thomas Scanlon heißt, ein rationales Wesen zu sein. Die möglichen Parteien, die in einem gedanklichen Prozess vorgestellt werden, sind in der Lage, Gründe zu haben und ihre urteilssensitiven Einstellungen entsprechend ihrer Urteile über Gründe zu ändern. Eine Vorstellung idealer Rationalität ist eine Vorstellung darüber, was diese Person für Gründe hat. Eine weit verbreitete Vorstellung wirft nur einen partiellen Blick auf die möglichen Gründe, die Menschen haben, und zwar auf jene, die auf die Befriedigung der eigenen Interessen zielen. Dabei sind altruistische Präferenzen nicht auszuschließen. Das Problem jedoch, weshalb wir die Übereinkunft nicht als rational, sondern als vernünftig kennzeichnen, ist folgendes: Rationalität, kann »mühelos uneingeschränkt Beweggründe zulassen, aber Rationalität für sich genommen verlangt dies nicht. Dass jemand durch die Rücksicht auf andere motiviert ist, hat zwar nichts Sonderbares oder Irrationales, aber mit Rationalität allein lässt sich die Notwendigkeit einer solchen Rücksicht oder die Pflicht dazu kaum begründen« (Sen 2009: 222). Von diesen Erkenntnissen aus möchte ich nun zu einer Vorstellung des Vernünftigen gelangen und plausibel machen, weshalb wir uns die Parteien nicht nur als solche vorstellen sollten, welche ihre eigenen Interessen bestmöglich verfolgen, sondern in der Weise, dass sie etwas nicht nur rational zugunsten ihrer eigenen Präferenzen akzeptieren, sondern auch vernünftigerweise. Ich will den Begriff des Vernünftigen in diesem Kontext so genau wie möglich darlegen. Mir scheint, es gibt zwei grundlegende Probleme, wenn dieser Begriff unbestimmt bleibt. Einerseits mag er wie ein leerer Begriff wirken, der einer Theorie nur äußerlich Stärke verleiht. Durch die Hintertür führen wir über den Begriff des Vernünftigen vielleicht wenig haltbare subjektive moralische Ansichten ein, die wir gar nicht weiter begründen. Andererseits machen wir uns durch die Einführung des Vernünftigen womöglich eines groben Intuitionismus in dem Sinne schuldig, dass uns scheinbar intuitiv einsichtig ist, was vernünftig ist und was nicht. Vielleicht wiederholen wir dann aber auch nur die Behauptungen alter Naturrechtstheorien und der Begriff des Vernünftigen wird zu einer Trumpfkarte, die wir a priori aufgefunden haben. In jedem Fall lastet auf dem Begriff des Vernünftigen eine enorme Rechtfertigungslast. Wenn wir den Begriff also weitestgehend unbestimmt lassen und uns mit ihm auf moralische Intuitionen beziehen, dann kleiden wir unsere Theorie der Übereinkunft vielleicht nur in ein konstruktivistisches Gewand, welches aber im Kern intuitionistisch ist. Wenn der Begriff des Vernünftigen eine solche Prominenz in Theorien der Gerechtigkeit erhält, wie dies bei Kontraktualisten wie Barry, Rawls oder Scanlon der Fall ist, dann ist es problematisch, den Begriff des Vernünftigen von intuitiven Verständnissen abhängig zu machen.

6. Das Vernünf tige und das Rationale

Gibbard sagt zu Recht: »Wenn die Unvernünftigkeit der Zurückweisung bestimmter Prinzipien eine nackte moralische Tatsache ist, uns eingeflüstert von der Stimme der Intuition, dann mache ich mir Sorgen. Argumente stoppen sicherlich irgendwo, aber ich hoffe, dass sie nicht bei bloßen Intuitionen darüber stoppen, was vernünftig ist und was nicht. Wenn mir jemand sagt, dass eine Forderung unvernünftig ist, dann will ich fragen warum« (Gibbard 1991: 279, Übers. d. Verf.). Ich denke, dass Gibbard hier eine Herausforderung aufgezeigt hat, die sehr ernst genommen werden muss. Wenn eine Theorie der vernünftigen Übereinkunft ein Kriterium des Rechten liefern soll, dann darf der Begriff des Vernünftigen nicht unklar bleiben. Nun habe ich bereits mehrere Verständnisse dessen eingeführt, wie gemeinhin das Vernünftige im Unterschied zum Rationalen gekennzeichnet wird. Sie alle haben mehr oder weniger einen bestimmten moralischen Inhalt, indem sie uns dazu anhalten, die Beweggründe anderer Personen in unser Handeln miteinzubeziehen. Sehen wir uns noch einmal zwei Vorschläge dessen an, was als das Vernünftige betitelt wird. Ein vernünftiger Mensch wird in allen Bereichen von dem geleitet, »was in seinem Milieu akzeptabel ist, und selbst darüber hinaus von dem, was von allen akzeptiert werden sollte« (Perelman 1979: 118, Übers. d. Verf.). Nach Sibley muss ich, um vernünftig zu sein, »mein Verhalten in Bezug auf ein Prinzip rechtfertigen, auf welches sich alle Parteien berufen können, die betroffen sind« (Sibley 1953: 557, Übers. d. Verf.). Das sind zwei Formulierungen, die mit der kontraktualistischen Herangehensweise sehr verwandt sind. Die gemeinsame Akzeptanz und die Berufung auf Prinzipien entsprechen meiner kontraktualistischen Formel oder sind ein Teil von ihr. Ich muss als vernünftiger Mensch auf die Akzeptanz anderer zielen. Dies setzt eine Disposition voraus, die Gründe von anderen ebenso einzubeziehen wie meine eigenen. Und ist dies nicht eine moralische Forderung par excellence? Berücksichtige die Gründe oder Interessen anderer, beziehe sie mit ein und finde Prinzipien, die von allen akzeptiert werden können. Das scheint der Tenor dessen zu sein, was es heißt, vernünftig zu sein. Deshalb bezeichnet Sibley dies auch als »teilnahmsvolle Disposition gegenüber anderen« und »moralische Tugend« (ebd., Übers. d. Verf.). Das Rationale hat nach Rawls gegenüber dem Vernünftigen ein entscheidendes Defizit: »Was rational Handelnden fehlt, ist die besondere Form der moralischen Sensibilität, die dem Wunsch zugrunde liegt, sich an fairer Kooperation als solcher zu beteiligen, und zwar unter Bedingungen, die vernünftigerweise erwarten lassen, dass andere ihnen ebenfalls zustimmen« (Rawls 2003: 123, eigene Hervorhebung).11 Mir scheint 11 | So auch Patzig, wobei dieses Verständnis wohl nicht nur auf den, wie er sagt, deutschen Sprachraum beschränkt ist: »Es ist freilich unbestreitbar, dass im deutschen Sprachgebrauch ›rational‹ mehr auf bloße Zweckrationalität, ›vernünftig‹ mehr auf moralische Sensibilität zielt« (Patzig 1996: 36, eigene Hervorhebung).

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aber, dass in gewisser Hinsicht zu kurz gegriffen wird, wenn das Vernünftige einfach nur als das betitelt wird, was moralisch ist. Sehr leicht kann dann ein Zirkel nachgewiesen werden, wie es auch Kontraktualisten in rousseauischkantischer Tradition immer wieder vorgeworfen wird, denn eigentlich haben sie doch vor, eine Methode für die Beurteilung moralischer Prinzipien zu liefern. Wie kann diese dann selbst das Moralische in sich tragen? Wie wird es begründet? Ich denke, zwei Begriffe sind hier entscheidend. Sowohl Sibley als auch Rawls sprechen von einer Disposition oder einem Wunsch, also einer spezifischen Motivation. Eine Motivation kann ich für vieles haben, sowohl meine eigenen Interessen durchzusetzen, als auch die Interessen anderer zu berücksichtigen. Die Tatsache, dass ich diese Motivation habe, ist erst einmal weder unmoralisch noch moralisch. Vielleicht erblicken wir darin auch einfach ein substanzielles Urteil über die Gründe, die Menschen haben, und darin dann eventuell einen Grund, der sie vor allen anderen Gründen motiviert. Bevor ich auf dieses Motivationsgefüge eingehe, wende ich mich noch einem anderen Bedeutungsteil von vernünftig zu. Rufen wir uns noch einmal die Qualifizierungen des Vernünftigen in Erinnerung, welche von Perelman vorgebracht wurden. Vernünftig sei derjenige, der danach handelt, was »in seinem Milieu« akzeptabel ist, und der vom »Common Sense« beeinflusst ist (Perelman 1979: 118, Übers. d. Verf.). Hier hat die Vorstellung vom Vernünftigen vor allem etwas mit dem Hintergrund zu tun, vor dem wir bestimmte Urteile fällen. Das Vernünftige, so möchte ich sagen, bedeutet in dieser Hinsicht den Kontext zu berücksichtigen, in welchem Urteile gefällt werden. Dies ist eine Präzisierung des Vernünftigen, wie sie meiner Ansicht nach von Scanlon sehr eindrucksvoll herausgearbeitet wurde. Scanlon schlägt vor, dass Urteile darüber, was vernünftig ist, relativ zu einer bestimmten Menge an Informationen und einem spezifischen Bereich von Gründen zu bestimmen sind, die beide nicht vollständig sein müssen (vgl. Scanlon 1998: 33). Wenn wir jemanden dazu anhalten, vernünftig zu sein, oder klagen, dass er nicht unvernünftig sein soll, dann haben wir einen Einwand gegen die Art und Weise, wie die Person von einer zur Verfügung stehenden Menge an Informationen denkt, und ebenso halten wir ihn dazu an, bestimmte Gründe und Tatsachen zu berücksichtigen, die er scheinbar ignoriert (also das, was eventuell im Hintergrund oder im Common Sense angenommen wird). Genau dann, wenn wir jemanden als unvernünftig beurteilen, haben wir schlicht ein Problem mit seinen Überlegungen beziehungsweise mit der Art des Denkens in einem entsprechenden Kontext. Wir verweisen darauf, dass er etwas Bestimmtes nicht berücksichtigt, nicht sieht oder einfach ausblendet, was ihm aber prinzipiell zugänglich ist. Die Beurteilung einer Handlung mag relativ zu den Überzeugungen einer Person erfolgen und dem, was diese Person als relevante Gründe bewertet, doch die Grundlagen einer solchen Beurteilung können deutlich breiter sein.

6. Das Vernünf tige und das Rationale

Scanlon bietet uns zwei Beispiele für die Beurteilung eines Handelnden als vernünftig, einmal in Bezug auf eine verfügbare Menge an Informationen und einmal in Bezug auf einen verfügbaren Bereich von Gründen. Für das Bestehen auf eine breitere Informationsmenge gibt er folgendes Beispiel: »Dies war keine vernünftige Schlussfolgerung. Du hättest bemerken können, dass das Boot weg war und ich deshalb mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr auf der Insel war«. Hier standen dem Handelnden offenbar Informationen zur Verfügung, die er in seinen Überlegungsprozess nicht einbezogen hat, obwohl dies möglich gewesen wäre. Für das Bestehen auf einen breiteren Bereich von Gründen gibt er folgende Beispiele: »Es war unvernünftig von mir, die Möglichkeit nicht in Betracht zu ziehen, dass Smiths Experiment ein fundamentales Problem mit der Theorie offenbaren könnte« sowie »Dies war nicht vernünftig. Du hättest bemerken können, dass es unangemessen war, den Witz auf der Beerdigung zu erzählen.« (ebd.: 33, Übers. d. Verf.). Für Scanlon kommt es nun auf Folgendes an: In jedem dieser Fälle wird ein bestimmtes Ziel im Hintergrund vorausgesetzt, zum Beispiel das Ziel wissenschaftlicher Akkuratesse oder die Besorgnis um die Gefühle von anderen Menschen, und es wird eine bestimmte Behauptung aufgestellt, was für Gründe es in Anbetracht dieser allgemeinen Ziele gibt. Das Vernünftige hat hier keine (direkte) moralische Bedeutung. Es ist eine Kritik der Denkweise, des Mangels eines Einbezugs von weiteren Überlegungen, welche zur Verfügung stehen, aber womöglich nicht zum offensichtlichen Teil meiner Präferenzstruktur gehören. Wenn ich die Kritik des Unvernünftigen im Falle des Wissenschaftsbeispiels anbringe, dann gehe ich davon aus, dass das eigentliche Ziel sowohl demjenigen, der kritisiert, als auch demjenigen, der kritisiert wird, eigen ist. Wenn wir uns überhaupt gemeinsam im Feld der Wissenschaft bewegen wollen, dann müssen wir offenbar bestimmte Standards akzeptieren, ohne die wir uns nicht darin bewegen könnten oder ohne die es uns fremd erscheinen würde, dass jemand sagt, er würde Wissenschaft betreiben. Wer immer nur falsche Experimente durchführt und durchführen lässt (vielleicht, weil dies seine Präferenz befriedigt, Ruhm durch scheinbar bahnbrechende Ergebnisse zu erzielen), der hat etwas Wichtiges ausgelassen, vielleicht eine bestimmte Common-Sense-Vorstellung, worum es in der Wissenschaft geht. Auch hier bliebe nicht unbedingt Raum für eine Rationalitätskritik, denn entsprechend der Präferenzstruktur des Akteurs und dem Ziel der Maximierung hätte er dann durchaus rational gehandelt. Es geht darum, auch dann möglichst akkurate Wissenschaft zu betreiben, wenn mir dies vielleicht keinen Spaß macht, wenn dies meinem Wohlergehen womöglich sogar schadet oder andere besser dastehen als ich. In keinem dieser Fälle kann ich auf die Befriedigung meines Eigennutzens oder anderer Interessen hoffen, doch ich kann den Grund sehen, diese wissenschaftliche Akkuratesse zu wahren, denn ansonsten würde ich nicht Wissenschaft betreiben, sondern irgendetwas anderes. Wahr-

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scheinlich würden wir so jemanden auch nicht als wissenschaftlichen Kollegen akzeptieren, denn damit wir mit ihm überhaupt zusammenkommen können (um dann unsere Vielzahl an wissenschaftlichen Auseinandersetzungen anzugehen), müssen wir davon ausgehen, dass er zumindest eine bestimmte Motivation mitbringt, etwa auch dann wissenschaftlich zu handeln, wenn für ihn und seine Präferenzen vieles dagegenspricht. Sicher handelt es sich insbesondere im Falle des Beerdigungsbeispiels um ein sehr konkretes moralisches Ziel, nämlich die Gefühle anderer nicht zu verletzen. Dahinter steht offenbar ein mögliches moralisches Prinzip. Doch es lassen sich auch viele außermoralische Beispiele finden, die mit der Berücksichtigung von anderen Personen nicht viel zu tun haben (wohl sind es aber immer Gründe und Informationen, die den Personen allesamt im entsprechenden Kontext zugänglich sind). Im Moment ist vor allem eines interessant, nämlich die Frage, ob es ein bestimmtes Ziel gibt, welches jeglicher moralischen Überlegung überhaupt zugrunde liegen kann. Wann können wir überhaupt sagen, dass wir moralische Überlegungen anstellen? Gibt es einen Punkt, wo jemand mit einer falschen Motivation oder einem nicht geteilten Ziel, analog zum Fall der Wissenschaft, im Grunde keine moralischen Überlegungen anstellt, sondern irgendetwas anderes macht? Was ist dieses Ziel? Was wäre im Falle der Moral vergleichbar mit dem Fall der Wissenschaft und ihrem Ziel, akkurat zu arbeiten und Fortschritte zu erzielen, auch wenn dies nicht immer meinen Interessen entspricht? Es muss etwas sein, was wir immer beachten müssen, damit unsere Überlegungen als vernünftig im genannten Sinne gelten können. Genau hier kommt das ins Spiel, was als Bereitschaft oder Disposition betitelt wurde. Stellen wir uns bestimmte Parteien vor, die darüber übereinkommen, welche Prinzipien sie vernünftigerweise akzeptieren können, dann müssen wir letztlich fragen, warum sie nicht von ihrem bloßen Eigeninteresse, sondern vielleicht auch durch etwas anderes motiviert sind. Hier suchen wir nach der entsprechenden Disposition und gehen damit gleichsam der Frage nach, warum wir überhaupt nach Prinzipien suchen sollten, die jeder vernünftigerweise akzeptieren kann, oder weshalb das kontraktualistische Kriterium des Rechten als Beurteilungsmaßstab für die entsprechenden Prinzipien Verwendung finden sollte. Vernünftigerweise kann man etwas nur dann akzeptieren, wenn eine bestimmte Motivation an der Basis vorhanden ist. Das ist die Eintrittskarte in die moralische Gemeinschaft, in der gesagt werden kann, dass es sich hier tatsächlich um eine Überlegung handelt, die dem Gegenstand der Moral gerecht wird. Vernünftig heißt dann, seine Entscheidungen so zu treffen, dass sie mit diesem Ziel oder dieser Disposition übereinstimmen. Genau dazu werde ich im folgenden Kapitel kommen. Denn dieser Vorschlag ist es, der an der Basis der Theorie der vernünftigen Übereinkunft steht.

7. Kontraktualistische Motivation

In der Auseinandersetzung mit dem Vernünftigen und dem Rationalen habe ich ein einfaches Verständnis dessen vorausgesetzt, was es heißt, ein rationales Wesen zu sein. Ich habe gezeigt, dass bestimmte Vorstellungen über Rationalität substanzielle Urteile darüber sind, was Personen für Gründe haben, um von da aus festzustellen, was am rationalsten zu tun ist. In Theorien der rationalen Übereinkunft in der Folge von Hobbes wird vor allem einer bestimmten Klasse von Gründen ein besonderer Status zugewiesen: den Gründen, welche die eigene Nutzenposition verbessern. Vernünftig jedoch sind Akteure dann, wenn sie einen Bereich von Gründen und Informationen in ihren Überlegungen berücksichtigen, der ihnen vor einem bestimmten Hintergrund zur Verfügung steht. Meist sind es Gründe, die von einer gemeinsamen Grundlage stammen, wie ein gemeinsames Ziel. Im folgenden Kapitel werde ich dasjenige Ziel herausstellen, welches gemäß dem Kontraktualismus den Hintergrund moralischer Überlegungen bildet. Hier zeichnet sich der grundlegende Unterschied zwischen Theorien der hobbesschen (rationalen) und der rousseauisch-kantischen (vernünftigen) Übereinkunft ab. Beide versuchen, ein Verfahren dafür bereitzustellen, welche Prinzipien gerechtfertigt sind und welche nicht. Beide wollen zeigen, dass sich dies an der Akzeptanz bemessen lässt. Theorien der rationalen Übereinkunft nach Hobbes müssen die Akzeptanz rein unter dem Aspekt des gemeinsamen Vorteils betrachten und dies erfordert keine andere Denkweise, als den möglichen Vertragsinhalt (also das Prinzip, um welches es geht) in kluger Weise durch eigennützige Zweck-Mittel-Kalkulation zu bewerten. Ein solcher Ansatz zielt in der Begründung moralischer Prinzipien darauf ab, zu zeigen, dass Moralität ein untergeordneter Begriff ist, der sich durch Rückverweis auf die Verfolgung der individuellen Interessen stützen lässt. Das Kriterium rationaler Übereinkunft rechtfertigt die moralischen Prinzipien somit auf Grundlage der allgemeinen Vorteilhaftigkeit der Prinzipien und die Übereinkunft wird damit zu einer Vorstellung effizienter Koordinierung von Eigeninteressen. Wenn gezeigt wird, dass eine bestimmte Menge an Prinzipien sich für jeden als vorteilhaft erweist und somit einem Zustand überlegen ist, in dem diese Menge

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t

an Prinzipien nicht gilt, dann hat diese Theorie ihre Rechtfertigungsaufgabe erfüllt. Eine Theorie der vernünftigen Übereinkunft muss dieses Denken in einer bestimmten Hinsicht für defizitär halten. Ich habe bereits in den Ausführungen zum Auf bau des kontraktualistischen Standpunktes gezeigt, dass eine solche Vorstellung in mancher Hinsicht problematisch ist, weil dieses Modell eventuell auch Sklaverei logisch rechtfertigen kann, was mindestens intuitiv problematisch erscheint (Kapitel 5.2.) Des Weiteren habe ich herausgearbeitet, dass die Vorstellung des Überlegungsprozesses eindimensional ist, weil nur eine ganz bestimmte Klasse von Gründen über die Zustimmung eines Akteurs entscheidet (Kapitel 6.3.). Eine Theorie der vernünftigen Übereinkunft meint dagegen, dass der Überlegungsprozess bezüglich der zu begründenden Prinzipien von einem Ausgangspunkt erfolgen muss, den sich alle Parteien zu eigen gemacht haben, wenn sie überhaupt in einem entsprechenden Feld Überlegungen anstellen. Die Vernünftigkeit der Parteien besteht darin, dass sie den entsprechenden Hintergrund berücksichtigen, vor welchem sie ein Urteil fällen, und ihre Gründe für die Akzeptanz eines Prinzips nicht allein auf jene des persönlichen Vorteils einschränken. Dies heißt nicht, dass die Idee eines rationalen Gutes oder persönlich vorteilhafter Interessen, nach denen die Individuen für sich selbst streben, keine Rolle spielen. Aber wir können und müssen daneben auch etwas über die Bedingungen sagen, unter denen eine Übereinkunft denkbar und die Ergebnisse stabil erscheinen. Notwendig sind bestimmte Bedingungen der Symmetrie, wie in Kapitel 5.1. ausgeführt wurde. Es gibt unterschiedliche Arten, wie diese Bedingungen der Übereinkunft eingeführt werden können. Wir könnten beispielsweise eine Vorstellung von unveräußerlichen natürlichen Rechten einführen, die durch keinerlei Übereinkunft gebrochen werden können, wie es etwa der Ansatz von John Locke vorsieht. Egal, was sich als allgemein vorteilhaft für die Übereinkunft erweisen würde, das Ziel ist nach Locke die Sicherung von Freiheit, Leben und Eigentum und diese Rechte können nicht aufgegeben werden. Aber dann haben wir einen Rechtfertigungsdruck, der häufig nur metaphysisch befriedigt werden kann, indem wir diese Rechte beispielsweise als von Gott gegeben ansehen müssen. Ausdruck einer gedachten Übereinkunft sind sie nicht. Wir können in einem dargestellten Überlegungsprozess beispielsweise auch einen Schleier des Nichtwissens einführen, wie im Falle von John Rawls und dessen Urzustand, damit das Streben nach dem persönlichen Vorteil eines jeden eingeschränkt wird. Was wir dann jedoch verlieren, ist eine Verbindung zu den wirklichen Personen, die das entsprechende Kriterium der Übereinkunft anwenden sollen, was schon ein von Habermas vorgebrachter Einwand gegen diese Konzeption ist: »Wenn aber die Vernünftigkeit der rational motivierten Zustimmung zu Prinzipien und Regeln nicht durch die rationale Entscheidung der Vertragspartner selber verbürgt ist, sondern allein aus dem subjektiv

7. Kontraktualistische Motivation

uneinsichtigen Zusammenspiel mit apriori gesetzten Rahmenbedingungen resultiert, erhebt sich das […] Bedenken: wie Rawls seine Adressaten überhaupt dazu motivieren kann, sich in den Urzustand hineinzuversetzen« (Habermas 1991: 56, Hervorhebung im Original). Die Lösung bestünde nun meiner Auffassung nach darin, die Motivation, die wir im Überlegungsprozess bei den vorgestellten Parteien voraussetzen, und unsere eigene Motivation, die kontraktualistische Formel anzuwenden, nicht auseinanderfallen zu lassen. Auf diese Art wird das kontraktualistische Verfahren nicht nur eines, welches uns bestimmte Inhalte gibt, sondern es bietet gleichsam eine spezifische Antwort auf die normative Frage, weshalb sich jemand überhaupt in dieser Weise (also moralisch) verhalten sollte. Die Frage, weshalb man moralisch handeln sollte, fällt mit der Frage zusammen, weshalb man die kontraktualistische Formel anwenden und nach ihren Ergebnissen handeln sollte. Wir benötigen nun also eine spezifische Vorstellung von Motivation, welche wir denjenigen unterstellen können, welche sich mit moralischen Fragen überhaupt beschäftigen. Diese Motivation ist der Hintergrund, von dem aus die Parteien Urteile über die Akzeptanz und Ablehnung eines Prinzips fällen. Wir brauchen eine spezifische kontraktualistische Motivation, um ein kontraktualistisches Verfahren auszubreiten. Ein solches Modell kontraktualistischer Motivation werde ich im Folgenden darstellen. Als erstes werde ich mich mit einer skeptischen Herausforderung nach Hume beschäftigen, welche besagt, dass uns moralische Überlegungen niemals einen Grund zum Handeln geben, wenn sie nicht durch einen entsprechenden subjektiven Wunsch gestützt werden. Damit Moral dennoch nichts bleibt, was nicht objektiv bestimmt werden kann, zeichnen Hobbesianer eine Lösung, welche die Interessen und möglichen moralischen Inhalte zusammenführt, indem Moral auf Grundlage des Eigeninteresses begründet wird (Kapitel 7.1.). Da dieses Modell scheitern muss und sich auf Instabilität gründet beziehungsweise eine falsche Antwort auf die Frage bietet, weshalb jemand moralisch handeln sollte, gibt es eine mögliche kontraktualistische Antwort, welche als erstes von John Stuart Mill in einem Wunsch nach Einigkeit mit seinen Mitmenschen ausgebreitet wurde (Kapitel 7.2.). Da Mill diesen Wunsch jedoch nur zur Stützung seiner utilitaristischen Moral verwendete, nicht jedoch zu ihrer Grundlegung, haben Kontraktualisten wie Thomas Scanlon oder Brian Barry an dieser Stelle eine Inspiration für ihre kontraktualistische Motivationstheorie gefunden, welche in einem Wunsch nach Rechtfertigung durch Akzeptanz besteht (Kapitel 7.3.). Dieser lässt sich als ein Ideal der Übereinkunft konzeptualisieren, sodass die Erfüllung dieses Ideals das Ziel ist, welches moralischen Überlegungen zugrunde liegt und welches wir in Anbetracht eines Pluralismus der Wertvorstellungen und der Forderung nach Anerkennung im moralischen Überlegungsprozess immer schon voraussetzen können. Das Ideal der Übereinkunft ist eine substanzielle These darüber, womit wir es bei

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moralischen Fragen eigentlich zu tun haben und was Menschen für Gründe haben (Kapitel 7.4.). Stephen Darwall hat dagegen versucht, den Kontraktualismus formal in einem sogenannten zweitpersonalen Standpunkt zu fundieren. Ich werde argumentieren, dass dieser formale Ansatz substanziell interpretiert werden muss, um eine Grundlage für den Kontraktualismus zu bilden, sodass wir auf eine motivationale Komponente nicht verzichten könnten. Dennoch bietet Darwall die letzten Bausteine, die uns zu einem Verständnis des Ideals der Übereinkunft führen (Kapitel 7.5.). Am Schluss dieses Kapitels werde ich das Ideal der Übereinkunft und die Vorstellung des Vernünftigen zusammenführen und ihre Implikationen für einen kontraktualistischen Überlegungsprozess darlegen (Kapitel 7.6.).

7.1. D ie skep tische H er ausforderung und die hobbessche L ösung Um mich der motivationalen Frage im Kontraktualismus zu nähern, betrachte ich einführend zuerst das Verständnis von moralischen Überlegungen, welches Hume vorgebracht hat. Seine These lautete, dass moralische Überlegungen nicht jedem Individuum einen Grund zum Handeln geben, denn diese sind immer davon abhängig, was die Zwecke des Individuums sein mögen und in welchen Umständen es sich befindet. Das, was wir Grund haben zu tun, hängt in letzter Instanz von unseren Zielen ab, die sich aus unseren Neigungen und Wünschen ergeben (vgl. Hume 1739: 483-489, 531-547). Nur dann wird jemand nach moralischen Überlegungen handeln oder moralische Prinzipien akzeptieren, wenn er dafür eine Disposition hat, sei es, weil sie in seinem eigenen Interesse sind, sei es, weil er damit klug handelt, sei es aber auch, weil er vielleicht ein Gefühl der Nächstenliebe verspürt oder die Gerechtigkeit liebt. Es muss in jedem Fall ein zusätzlicher motivationaler Faktor zu den moralischen Überlegungen hinzutreten, der sich in individuellen Neigungen und Wünschen beschreiben lässt. Nach Hume ist es demzufolge auch niemals zwingend irrational, wenn jemand nicht moralisch handelt. Wir mögen einem solchen Amoralisten viele Attribute anhaften, aber sicher nicht, dass er entgegen seiner Rationalität handelt. Dies bedeutet, einen Skeptizismus gegenüber der handlungsleitenden Kraft von moralischen Gründen zu vertreten. Diese Gründe erhalten ihre Kraft lediglich durch das Interesse, welches ihnen zugrunde liegt. Die Motivation ist nicht auf die Erkenntnis angeblicher moralischer Tatsachen zurückzuführen, denn diese allein können nicht zum Handeln animieren, und weil moralisches Handeln stetig nur durch die einzelnen Neigungen und Wünsche erklärt werden kann, welche die jeweilige Person hat, so bringt ein moralisches Urteil lediglich das zum Ausdruck, was unsere inneren Einstellungen sind, womit wir es mit einem moralischen Subjektivis-

7. Kontraktualistische Motivation

mus zu tun haben. Wenn moralische Richtlinien entstehen dann aufgrund von Konventionen, die sich mit der Zeit entwickelt haben, und weil diese aus den Interessen der Menschen erwachsen sind. Wie kann vielleicht dennoch zu objektiven Bestimmungen dessen gelangt werden, was allgemein richtig und was falsch ist? Theorien in der Tradition von Thomas Hobbes können als eine spezifische Antwort auf diese Herausforderung interpretiert werden (vgl. Freeman 1990: 126). Sie können die Annahme mit Hume teilen, dass sich moralische Überlegungen in irgendeiner Weise auf die Interessen beziehen müssen. Eine solche Vorstellung nähert sich den Gründen, die eine Person hat, dahingehend an, dass sie die Überlegungen eines Individuums nachvollzieht, welches in entsprechenden Situationen mit gegebenen Interessen ausgestattet ist und verschiedene Optionen zum Handeln hat. Das skeptische Argument kann durch einige empirische Annahmen entkräftet werden, die besagen, dass die Moral letztlich im Interesse aller liegt und dass sie ein kooperatives Schema darstellt, auf das wir nicht verzichten wollen. Anschließend kann Moral als dasjenige bestimmt werden, was alle Personen gemäß ihrem Eigeninteresse rationalerweise akzeptieren würden. Die Übereinkunft mit diesen Prinzipien erfolgt anhand der Interessen, die jedem Individuum unterstellt werden. Es lässt sich damit eine objektive Basis finden, die gleichsam in unserer Motivation verankert ist. Die Thesen des hobbesschen Kontraktualismus lassen sich in etwa folgendermaßen auf den Punkt bringen: (1) Das moralisch Richtige ist für eine Person mit dem identisch, was in ihrem rationalen Interesse liegt. (2) Die rationalen Interessen von Menschen stimmen miteinander überein. Da jeder einsehen wird, dass Kooperation mit anderen vorteilhafter ist als keine Kooperation, können entsprechende moralische Prinzipien durch die rationale Akzeptanz aller Individuen gesichert werden. Jeder fühlt sich beispielsweise ohne bestimmte Prinzipien unsicher. Jeder hat vielleicht ein Interesse an der Selbsterhaltung. Also werden sich alle auf ein Prinzip einigen, welches die gegenseitige Tötung verbietet. Moral muss demzufolge nichts Subjektives bleiben, sondern es gibt objektive Bestimmungen, welche die Theorie der rationalen Übereinkunft durch Aussagen über unsere allgemeinen Interessen erreicht. Bestimmte Normen, die unser Zusammenleben regeln, kommen damit unseren grundlegendsten Interessen entgegen, sei dies ganz allgemein die bloße Nutzenmaximierung wie bei Gauthier oder konkreter das grundlegende Interesse an der Selbsterhaltung bei Hobbes. Durch die Interessenshomogenität lassen sich dann moralische Prinzipien schlussfolgern, die für jeden gelten. Eine unmittelbare Kombination zwischen den subjektiven Wünschen, die Menschen haben, und dem moralischen Handeln ist dann hergestellt. Interessenshomogenität, so muss hinzugefügt werden, impliziert allerdings nicht, dass die Interessen gleichermaßen befriedigt werden müssen. Entscheidend ist, dass die Parteien ihre Nut-

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zenposition verbessern, also alle einen Vorteil erhalten. Dieser kann bei dem einen größer und bei dem anderen kleiner sein. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass eine Übereinkunft, die allein von der Verfolgung eigennütziger Interessen produziert wird, eine große Revision unserer moralischen Auffassungen verlangt. Ebenso muss festgehalten werden, dass das Kriterium der rationalen Übereinkunft nicht stabil ist. Was ist mit dieser Stabilität gemeint? Wenn wir fragen, ob ein bestimmtes Prinzip deshalb von allen übereinstimmend akzeptiert wird, weil es rational vorteilhaft ist, dann wird sich die Rechtfertigung von Prinzipien genau dann ändern, wenn sich die Interessenlage der entsprechenden Vertragsparteien ändert. Unter den Bedingungen, dass ich mich selbst noch bedroht fühle, mag es sein, dass ich ein Interesse habe, einem moralischen Prinzip zuzustimmen, welches es verbietet, mir grundlosen körperlichen Schaden zuzufügen. Befinde ich mich jedoch in einer Situation, in der ich völlig ungefährdet bin, so ändert sich meine Motivlage und ich werde dann nicht mehr bereit sein, ein solches Prinzip zu akzeptieren. Welchen Vorteil hätte ich denn davon? Darin stimme ich mit Brian Barry überein: »Tatsächlich wird eine eigeninteressierte Person nur dann die Bedingungen der Übereinkunft zur Kooperation einhalten, wenn die Wahrscheinlichkeit, entdeckt und bestraft zu werden, hoch genug ist, um Betrug zu einer schlechten Wette zu machen. Die Behauptung, die ich nun hinzufüge, ist, dass kein System von Strafen zwischen Menschen, die rein eigeninteressiert sind, geschaffen werden kann, welches einen Grad von Einhaltung versichern kann, der hinreichend ist, das Schema der Kooperation vor seinem Zusammenbruch zu bewahren« (Barry 1996: 368, Übers. d. Verf.).

Dies mag der Grund sein, weshalb im staatsphilosophischen Kontext ein hobbesscher Kontraktualismus noch mehr Sinn ergibt als im moralphilosophischen, wo ein entsprechendes System der Sanktionierung etabliert werden soll, welches für die Einhaltung sorgt. Stellen wir uns eine Situation vor, in der es keine staatliche Zwangsgewalt gibt, so können wir vielleicht plausibel machen, dass es ähnliche problematische Bedingungen gibt, die für alle vorhanden sind, und eine Vorteilhaftigkeit staatlicher Institutionen besteht. Doch selbst in diesem Falle scheint es, dass ich doch nur dann die Vorteilhaftigkeit dieser Institution sehe, solange die Nachteile sichtbar sind. Ist es für mich nicht mehr lohnend, meine Freiheit einzuschränken, weshalb sollte ich es dann tun? Mit dem Verlust des rationalen Vorteils geht auch ein Verlust der Rechtfertigung solcher Prinzipien und Institutionen einher. Es gibt hier ganz eindeutig ein motivationales Problem, welches wir im Sinne der rationalen Vorteilsmaximierer nicht einfangen können. Der hobbessche Kontraktualismus beruht letztlich auf einer problematischen Antwort auf das von Thomas Scanlon so genannte Prichard-Dilemma

7. Kontraktualistische Motivation

(vgl. Scanlon 1998: 150). Auf die Frage, warum wir moralisch sein sollten oder weshalb wir moralischen Prinzipien zustimmen und danach handeln sollten, scheint es entweder nur eine triviale moralische oder eine problematisch nichtmoralische Antwort zu geben. Prichard formuliert das Dilemma in folgenden möglichen Antworten: »Entweder sie [die Antworten, A.O.] besagen, dass wir das und das tun sollten, weil es, wie sich zeigt, wenn wir die Tatsachen voll erfassen, zu unserem Besten sein wird, d.h., wie ich lieber sagen würde, weil es wirklich zu unserem Vorteil oder besser noch zu unserem Glück sein wird; oder sie besagen, dass wir das und das tun sollten, weil etwas, das bei der Handlung oder durch sie realisiert wird, gut ist. M. a. W., der angegebene Grund ist entweder das Glück des Handelnden oder die Tatsache, dass gewisse Begleitumstände der Handlung gut sind« (Prichard 2002: 50, eigene Hervorhebung).

Die triviale Antwort auf die Frage wäre Folgende: Jemand hat einen Grund, das moralische Prinzip zu akzeptieren, weil dieses Prinzip eben gut ist. Es ist das richtige Prinzip und es ist richtig, das Richtige zu tun. Aber das ist überhaupt gar keine Antwort. Die grundgebende Kraft von Moralität wird hier einfach vorausgesetzt, obwohl doch die grundgebende Kraft von Moralität genau das ist, was wir versuchen zu erklären. Ein moralisches Prinzip soll genau dann gerechtfertigt und richtig sein, wenn es die allgemeine Akzeptanz der Betroffenen finden kann. Im Grunde sage ich nach der trivialen Antwort: Ein moralisches Prinzip ist richtig, weil es akzeptiert wird, und akzeptiert wird es, weil es ein moralisches Prinzip ist. Das ist eine zirkuläre und triviale Antwort und schlicht nicht hilfreich. Ich soll ein moralisches Prinzip akzeptieren, weil es richtig ist, doch warum ist es denn richtig?1 Genau das wollen wir doch herausfinden. Geben wir eine solche Antwort, verlassen wir uns einfach auf unsere Intuition. Den Kontraktualismus brauchen wir dann nicht mehr.

1 | Dasselbe scheint wahr zu sein bezüglich Antworten, die beispielsweise in kantischer Tradition besagen, dass es meine Pflicht sei, moralisch zu handeln. Man kann sagen, dass eine solche Antwort ebenso wenig hilfreich ist, wenn man nicht von den konstitutiven Standards überzeugt ist, welche beispielsweise Kant uns darbietet. Letztlich ist die kantische Antwort auch keine substanzielle Antwort auf diese Frage, sondern eine formale, die in unserer Rationalität gegründet ist. Doch dann stellt sich wieder die Frage: Ist es tatsächlich in irgendeiner Weise nicht mit meinem rationalen und autonomen Selbst vereinbar, unmoralisch zu handeln? In ähnlicher Weise gibt auch die Diskursethik nach Apel und Habermas eine solch formale Antwort, indem sie sagt, dass wir bestimmte Argumentationsbedingungen in moralischen Fragen als rationale Erfordernisse immer schon voraussetzen müssen. Hier grenzen sich die substanziellen Ansätze des Kontraktualismus von der Diskursethik ab.

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Auf der anderen Seite können wir den Versuch unternehmen, wie dies hobbessche Kontraktualisten tun, indem wir auf nicht-moralische Überlegungen zurückgreifen. Danach wäre die befriedigendste Art und Weise eine Darstellung dessen zu geben, wann wir Grund haben, moralisch zu sein oder ein moralisches Prinzip zu akzeptieren, wenn wir zeigen würden, dass dies in unseren eigenen Interessen liegt. Aber wenn wir diese motivationale Strategie verfolgen, haben wir ein ganz anderes Problem. Sicher ist diese Antwort nicht trivial, aber es scheint, dass wir die falsche Art von Gründen haben, ein Prinzip zu akzeptieren. Wenn ich dich fragen würde, warum du mir mein Geld nicht wegnimmst, und du antwortest, dies liege in deinem Interesse, denn du willst nicht, dass ich dich vielleicht irgendwann im Gegenzug ausraube, dann wäre dies eine unangemessene Antwort. Denn fragen wir weiter: Und wenn ich im Rollstuhl sitzen und weder deinen Namen noch deinen Wohnort kennen würde, wäre es dann nicht vorteilhafter für dich, mich auszurauben? Wenn wir nur externe Anreize dafür angeben können, Prinzipien zur Regulierung des gemeinsamen Zusammenlebens zu akzeptieren, dann haben wir ein Problem. Die gesamte kantische Tradition erkennt diese Gefahr und sagt uns, dass eine Handlung, die nur auf solchen nicht-moralischen Gründen basiert, den Namen einer richtigen Moral nicht verdient. Letztlich reguliert sie gar nichts oder nur die Verhältnisse derer, die, solange sie ein gewisses Kräftegleichgewicht haben, bestimmte Regeln akzeptieren. Während wir zwar erwarten können, dass bestimmte Überlegungen, die den eigenen Vorteil oder das eigene Glück betreffen, in der Tat Personen dazu motivieren, Prinzipien zuzustimmen, die ihr Verhalten regulieren, so scheint es nicht, dass wir erwarten können, dass dies paradigmatisch ist. Lassen wir die problematischen empirischen Annahmen im hobbesschen Kontraktualismus weg, dass es doch tatsächlich eine Moral gibt, die immer vorteilhaft für uns ist, was bleibt dann noch? Es muss »einen Grund geben, sich gerecht zu verhalten, der nicht reduzierbar ist auf ein noch so anspruchsvolles oder indirektes Verfolgen des Eigeninteresses« (Barry 1989: 7, Übers. d. Verf.). Wir können uns nicht auf eine Vereinbarung verlassen, die lediglich aufgrund eigennütziger Vorteile geschlossen wird. Da wir uns auf eine solche Übereinkunft nicht verlassen können, wäre es gleich besser, sie gar nicht erst einzugehen. Die Gründe, ein Prinzip zu akzeptieren, müssen deshalb einerseits (1) explanatorisch hilfreich sein und andererseits (2) Relevanz für die moralischen Prinzipien des Zusammenlebens haben. Wie kommen wir zu solch einer Erklärung? Man muss zeigen, um was es eigentlich geht, wenn wir uns um Moral kümmern. Wir müssen eine Sichtweise finden, von der wir sagen können, dass jemand einem moralischen Prinzip nicht nur deshalb zustimmt, weil es ihm trivialerweise richtig erscheint, und gleichermaßen nicht nur zustimmt, weil es seinen eigenen Interessen dienlich ist. Ich glaube, dass wir sagen müssen, dass es eine bestimmte Einstiegsbedingung für jene gibt, die sich an mo-

7. Kontraktualistische Motivation

ralischen Überlegungen beteiligen, und dies ist eine bestimmte motivationale Komponente, die einerseits inhaltlich noch unbestimmt und moralisch wenig fordernd und andererseits der Moral auch nicht gänzlich entrückt ist. Ein solcher Vorschlag könnte eine spezifische kontraktualistische Motivation sein.

7.2. D er W unsch nach E inigkeit mit seinen M itmenschen Wie kann zu einer Basis der Motivation gelangt werden, welche Menschen dazu bewegt ein bestimmtes moralisches Prinzip zu akzeptieren und danach zu handeln? Ich erwähnte, dass die Theorien der rationalen Übereinkunft nach Hobbes eine lediglich vermeintlich elegante Lösung gefunden haben, wie objektive moralische Prinzipien gerechtfertigt werden können und inwieweit diese Prinzipien mit der motivationalen Ausstattung von Personen oder gedachten Vertragsparteien korrespondieren. Was könnte mehr motivieren als das Eigeninteresse? Diese individuelle Vorteilhaftigkeit soll dafür sorgen, dass sowohl ein bestimmtes inhaltliches Prinzip gewählt wird, als auch dafür, dass es eingehalten wird. Doch diese Lösung erwies sich als kontraintuitiv und wenig stabil. John Stuart Mill war ebenso davon überzeugt, dass unsere moralischen Urteile eine zusätzliche motivationale Komponente benötigen. Mögen wir vielleicht auf irgendeinem Wege, sei es intuitionistischer Art oder durch transzendentale oder metaphysische Begründung, sagen können, was das Richtige zu tun ist, dann bräuchten wir immer noch eine Motivation, nach diesen richtigen Urteilen zu handeln. In diesem Falle sind die moralischen Gründe für mich äußerlich. Da ich mich von solchen Gründen nicht motivieren lasse, brauche ich eine innere Disposition, um danach zu handeln. Im Kontraktualismus hobbesscher Prägung verhält es sich derart, dass uns gerade unsere eigenen Gründe veranlassen, sowohl das, was wir tun sollen, zu bestimmen als auch danach zu handeln. Diese motivationale Komponente erfüllt demzufolge bei Mill nicht diejenige Funktion, die sie im Kontraktualismus hat, nämlich die utilitaristische Formel zu fundieren und einen Grund zu geben, nach dieser zu handeln. Mill »hat konsequent den Beweis für das Prinzip des Utilitarismus von seinen ›Sanktionen‹ unterschieden. Der Grund, warum das Nützlichkeitsprinzip wahr ist, und das Motiv, das man hat, diesem Prinzip entsprechend zu handeln, sind nicht dasselbe« (Korsgaard 1999: 126). Der Utilitarismus wird – stark verkürzt wiedergegeben – dadurch »bewiesen«, dass jeder Mensch das größte Glück anstrebt und dass wir letztlich das größte Glück insgesamt anstreben sollten. Mill beschreibt nun zusätzlich eine natürliche Eigenschaft menschlicher Psychologie, um zu erklären, wie Menschen motiviert werden können, in Übereinstimmung mit dem Utilitarismus zu handeln.

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Mill teilt die Auffassung, dass jegliche Moral einen Widerhall in unserer moralischen Motivation finden muss. Genau deshalb hat das moralische Handeln seine Grundlage in der Moralpsychologie. Was genau möchte Mill zeigen? Er möchte zeigen, dass das Nutzenprinzip, also Mills oberstes Rechtfertigungsprinzip oder seine spezifisch utilitaristische Formel, durch welche alle anderen moralischen handlungsleitenden Prinzipien gerechtfertigt werden, deshalb befolgt wird, weil es eine entsprechende motivationale Basis für sie gibt, die sich in unseren natürlichen Anlagen wiederfindet. Durch diese Befolgung befriedigen wir einen bestimmten Wunsch. Dieser Wunsch ist das »Verlangen, mit unseren Mitmenschen einig zu sein« (Mill 1863: 48). Er spricht davon auch als Bedürfnis nach »Harmonie seiner Gefühle und Ziele mit denen seiner Mitmenschen« (ebd.: 51) oder von einer »fundamentalen Sanktion der Moral des größten Glücks« (ebd.: 52) und dies ist eine interne Sanktion, da sie aus den eigenen Gefühlen kommt, im Gegensatz zu einer externen Sanktion in Form von Empörung, Strafe oder Lob. Weshalb hält Mill diesen Wunsch für so natürlich? Er hat darauf zwei empirische Antworten. Zum einen ist das Leben mit anderen eine natürliche Tatsache. Wir kommen nicht darum herum, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, und sind mitunter immer gezwungen, uns miteinander zu arrangieren. Zum anderen ist diese natürliche Tatsache des Zusammenlebens zur Gewohnheit geworden: »Der soziale Zustand ist zugleich so natürlich, notwendig und dem Menschen vertraut, dass er, außer in ungewöhnlichen Umständen oder durch eine Bemühung willentlicher Abstraktion, sich immer als ein Mitglied dieser Klasse ansieht« (ebd.: 48). In der Gesellschaft sind wir zu Hause und als wesentliche Bedingung dafür, dass es überhaupt Gesellschaften geben kann, die solange bestand haben, kann dies nur darin begründet liegen, dass es ein natürliches Bedürfnis dafür gibt, in Eintracht miteinander zu leben. Im Prinzip lässt sich sagen, dass Mill aus der notwendigen wechselseitigen Beeinflussung, die eine unproblematische empirische Grundtatsache ist, wie ich in Kapitel 5.2. dargelegt habe, folgert, dass daraus ein natürliches Bedürfnis nach Eintracht erwächst. Sehen wir uns das Argument von Mill im Einzelnen an. Nach Mill gibt es natürliche Fähigkeiten, die jedoch nicht angeboren sind. Wir mögen natürliche angeborene Eigenschaften haben, zum Beispiel grundlegende Fähigkeiten, uns selbst zu erhalten. Aber es gibt auch Fähigkeiten, die wir natürlicherweise erwerben, weil sie eine direkte Folge unserer Natur sind. Als Beispiel nennt Mill das Sprechen, das Bauen von Städten oder das Bestellen von Land (vgl. ebd.: 47). Ebenso sei auch die Moral ein natürliches Gefühl, was nicht selbst Teil unserer Natur, aber eine natürliche Folge dieser Natur ist. Diese Anlage kann sich entwickeln und etwa durch Erziehung auf einen höheren Entwicklungsstand gebracht werden, aber ebenso ist es möglich, dass sich die moralischen Kräfte des Menschen durch externe Sanktionen ganz anders entwickeln. Wir

7. Kontraktualistische Motivation

könnten streng autoritär in eine bestimmte Richtung getrieben werden. Durch äußeres Lob und Tadel kann unsere Moral eine spezifisch andere Ausformung erhalten. Jedoch sei es durch den kulturellen Fortschritt möglich, die künstlichen Einflüsse zu entfernen und aufzulösen. Gäbe es ein solches Gefühl nicht, welches mit der moralischen Pflicht korrespondiert, dann könnte auch der Utilitarismus zum Verschwinden gebracht werden. Was benötigt wird, ist ein »natürliches Fundament für die utilitaristische Moral«. Genau dieses Fundament erblickt Mill »in den sozialen Gefühlen der Menschheit« (ebd.: 48) und diese sind durch besagtes Verlangen gekennzeichnet, mit seinen Mitmenschen einig zu sein. Wie kommt dieses moralische Gefühl dazu, sich auszubreiten und zu festigen? Mill meint, dass sich das moralische Gefühl immer mehr festigt, je weiter sich die Menschen aus der »wilden Unabhängigkeit« (ebd.) hinausbewegen. Mit dem Ende der Vereinzelung gelangt man auch zu einer stetigen Ausprägung eines Bedürfnisses nach Einigkeit untereinander: »In dem relativ frühen Stadium des menschlichen Fortschritts, in dem wir jetzt leben, kann eine Person in der Tat nicht die ganze Sympathie mit allen anderen fühlen, die eine wirkliche Unstimmigkeit mit den Grundzügen der Lebensführung aller anderen unmöglich machen würde. Doch findet man schon bei Personen, bei denen sich das Sozialgefühl überhaupt entwickelt hat, dass sie nicht in der Lage sind, den Rest ihrer Mitmenschen als Rivalen im Kampf um die Mittel zum Glück anzusehen, die sie in ihrer eigenen Sache besiegt sehen wollen, damit sie selbst Erfolg in der ihrigen haben. Das tief verwurzelte Verständnis, das jedes Individuum schon jetzt von sich als sozialem Wesen hat, führt dazu, dass ihm die Harmonie seiner Gefühle und Ziele mit denen seiner Mitmenschen ein Bedürfnis ist« (ebd.: 51).

Offensichtlich verbürgt das moralische Gefühl nach Mill eine Form von Unparteilichkeit, ohne die sich gesellschaftliches Leben nicht denken ließe: »Mit Ausnahme des Verhältnisses von Herr und Sklave ist die Gesellschaft von Menschen offensichtlich nur dann möglich, wenn die Interessen aller berücksichtigt werden«. Weiter heißt es: »Eine Gesellschaft zwischen Gleichgestellten kann nur bestehen, wenn man sich darüber im klaren ist, dass die Interessen aller gleichermaßen in Betracht gezogen werden« (ebd.: 48f.). Je weiter man fortschreitet im gesellschaftlichen Zusammenleben und je weiter sich der zivilisatorische Fortschritt bemerkbar macht, desto klarer erkennt man, dass man unter anderen Bedingungen überhaupt kein gemeinsames Leben führen kann, so die These. Damit wird es zum Teil der Menschen selbst, dass sie die Interessen anderer einbeziehen und nicht das Glück für sich selbst, sondern das Glück insgesamt vermehren müssen. Im gesellschaftlichen Leben kennt man durch Kooperation nicht mehr nur individuelle, sondern auch kollektive Ziele. In Anbetracht lang anhaltender und fortschreitender Kooperation

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wird uns klar, dass wir gemeinsame Ziele ausbilden können, die wir nur gemeinsam erreichen: »Solange sie kooperieren, identifizieren sie ihre Ziele mit denen anderer« (ebd.: 49). Schreitet die Kooperation voran, dann verbinden sich die Gefühle immer mehr mit dem Gut anderer. Andere Interessen gewinnen stetig größere Bedeutung in den eigenen Überlegungen, bis die Rücksicht auf die anderen zu einer selbstverständlichen Lebensweise gehört. Im Laufe dieses Zivilisationsprozesses wird das Gefühl stetig weiter kultiviert. Dazu tragen Verbesserungen in der menschlichen Entwicklung bei. Das Wohlergehen steigt und widerstreitende Interessen werden ebenso beseitigt wie Privilegien. Es steigern sich somit genau jene Einflüsse, welche sich auf das moralische Gefühl positiv auswirken und es befördern: »Mit der Verbesserung des menschlichen Geistes wachsen kontinuierlich auch die Einflüsse, die in jedem Individuum das Gefühl der Einheit mit allen anderen entstehen lassen, kontinuierlich an. Wären diese vollkommen, würde sich niemand jemals einen Zustand vorstellen oder wünschen, in dem er Vorteile hätte, die andere nicht hätten« (ebd.: 50). Dabei handle es sich nach der Mill-Interpretation durch Rawls um ein »Interesse an den sozialen Bedingungen und Institutionen, die den natürlichen Zustand der Gesellschaft als einen Zustand der Gleichheit bestimmen und dafür sorgen, dass es sich um einen Zustand handelt, in dem ein stabiles Gleichgewicht möglich ist« (Rawls 2012: 442). Die fortschreitende Zivilisation sorgt demnach für eine immer stärkere Ausprägung des moralischen Gefühls, welches als Anlage immer vorhanden ist. Bei all dieser Zuversicht über die natürlichen Anlagen, fragt man sich sofort, was es eigentlich bedeutet, wenn dieses Verlangen nach Einigkeit nicht allgemein vorhanden ist. Doch selbst wenn dies der Fall ist, so meint Mill, hat man zumindest ein Interesse daran, dass andere dieses Gefühl besitzen und es allgemein wird. Selbst wenn es sehr unterschiedlich ausgeprägt sein mag, so wird jeder in den gesellschaftlichen Verhältnissen natürlicherweise dazu gebracht, dieses moralische Verlangen zu fördern. Mills Theorie beruht letztlich auf einer bestimmten psychologischen Annahme, die sich hier widerspiegelt. Der Wunsch mit seinen Mitmenschen ein harmonisches Zusammenleben zu genießen, geht einher mit der Vermehrung des größten Glücks unabhängig von der eigenen Person. Selbstverständlich stellt sich die Frage, ob dieses Verlangen tatsächlich auf das Nutzenprinzip verweist. Das ist allerdings nicht das Ziel von Mill. Der Wunsch, mit seinen Mitmenschen einig zu sein, stützt den Utilitarismus motivational, aber er ist nicht dessen Grundlage. Es sind letztlich Kontraktualisten, die diesen Wunsch zum Fundament ihrer Überlegungen machen, ganz unabhängig vom Wert des größten Glücks der größten Zahl, gegen den sie opponieren.

7. Kontraktualistische Motivation

7.3. D er W unsch nach R echtfertigung gegenüber anderen Genau wie Mills Wunsch nach Einigkeit so kann auch Scanlons Theorie eines Rechtfertigungswunsches als Antwort auf die Herausforderung des moralischen Subjektivismus durch Hume gedeutet werden. Scanlon suchte ein motivationales Fundament für den Kontraktualismus als oberstes Rechtfertigungskriterium. Dies ist der »Wunsch, Prinzipien zu finden und ihnen zuzustimmen, welche niemand, der diesen Wunsch ebenfalls hätte, vernünftigerweise zurückweisen könnte« (Scanlon 2003: 133, Übers. d. Verf.). Daran anknüpfend hat Brian Barry ein »Motiv der Übereinkunft« zur Grundlage seines Kontraktualismus gemacht, welches im Wunsch besteht, »in einer Gesellschaft zu leben, deren Mitglieder alle freiwillig ihre Regeln der Gerechtigkeit und ihre grundlegenden Institutionen akzeptieren« (Barry 1995: 164, Übers. d. Verf.). In seiner früheren Arbeit hält er den »Wunsch, in Übereinstimmung mit Prinzipien zu handeln, die nicht vernünftigerweise durch Menschen zurückgewiesen werden können, welche nach einer Übereinkunft mit anderen unter Bedingungen suchen, die frei von moralisch irrelevanten Verhandlungsvorteilen oder -nachteilen sind« (Barry 1989: 8, Übers. d. Verf.), für grundlegend. Wie gelangt Scanlon zu diesem Wunsch? Er leugnet nicht, dass wir andere wunsch- oder interessensbasierte Gründe haben können. Was er vorerst bestreitet, sind die bisherigen Ansätze, entsprechende Gründe geben zu wollen, moralisch zu sein. Die entscheidende Frage ist für ihn diejenige nach dem »Wesen der Gründe, die Moralität uns bietet, wenigstens für jene, die sich um sie kümmern« (Scanlon 2003: 127, Übers. d. Verf.). Worauf will Scanlon damit hinaus? Er versucht, das Prichard-Dilemma zu umgehen, indem er Moralität in gewisser Weise phänomenologisch betrachtet.2 Damit macht er bereits folgende Einschränkung: Er versucht nicht, den Amoralisten zu überzeugen – eine Person, die sich in keiner Weise um richtig oder falsch kümmert und die von sich aus nicht daran interessiert ist, herauszufinden, was das Richtige zu tun ist. Er will diesem keinen Grund geben, moralisch zu sein, was auch immer seine eigenen Interessen sein mögen. Der Hobbesianer adressiert diese Frage sehr wohl, denn auch der Amoralist kann ein Eigeninteresse an moralischen Regeln haben. Scanlon rollt die Frage von hinten auf: Wie tragen wir dem Faktum Rechnung, dass moralische Überlegungen einen Zugriff auf uns haben? Genau dies setzt eine phänomenologische Betrachtung voraus, womit wir es bei der Frage nach dem Richtigen und Falschen überhaupt zu tun ha2 | Scanlon hat das Prichard-Dilemma erst in einer späteren Arbeit eingeführt (vgl. Scanlon 1998: 150), doch sein früheres Werk entspricht ebenso dem Versuch, dafür eine Lösung zu finden.

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ben und weshalb moralische Fragen für die meisten Menschen wichtige Fragen sind. Genau an dieser Stelle muss nach Scanlon gefragt werden, welchen Wunsch wir bereits haben, der uns dazu führt, moralische Angelegenheiten im Gegensatz zu anderen Angelegenheiten ernst zu nehmen. Der kontraktualistische Ansatz äußert sich nun in einem Wunsch nach Rechtfertigung. Scanlon verweist auf die Tatsache, dass wir nicht wollen, dass andere denken (oder überhaupt eine Grundlage haben zu denken), dass unser Verhalten unvernünftig oder unsere Erwartungen übertrieben sind: »Menschen sind gewillt, durch erhebliche Anstrengungen zu gehen, einschließlich sehr starker Opfer, um das Zugeständnis der Unrechtfertigbarkeit ihrer Handlungen und Institutionen zu vermeiden« (ebd.: 139, Übers. d. Verf.). Diese Verbindung eines Wunsches nach Rechtfertigung und der Regelung des gerechten Zusammenlebens trifft auch Gosepath (2004: 35): »Keine Person oder Institution kann oder will es sich (auf Dauer) leisten, als ungerecht zu gelten. Wir haben eine generelle Tendenz, unser Handeln als ›gerecht‹ zu rechtfertigen. Der Anspruch jeder beteuerten Gerechtigkeit auf Gerechtfertigtheit oder Legitimität ist einer der zentralen Bestimmungsgründe der Gerechtigkeit«. Wir wollen mit anderen unter Bedingungen zusammenleben, die alle anerkennen und von ihrer Perspektive aus akzeptieren können. Dies bedeutet, dass wir besorgt darum sind, dass Handlungen, Zwecke oder Maßnahmen von jedem einzelnen personalen Standpunkt gerechtfertigt werden können. Dies verweist auf ein bestimmtes Ideal menschlicher Beziehungen. Scanlon ist unzufrieden mit sämtlichen anderen substanziellen Thesen darüber, worum es in der Moral geht. Insbesondere lehnt er die substanzielle These des Utilitarismus ab, dass es in moralischen Fragen in erster Linie um Glück oder Wohlergehen geht. Er bringt dafür ein eindringliches Beispiel: Wenn ich einen Artikel über Hungersnöte lese, dann mag es zwar auch ein Gedanke sein, dass die Opfer solcher Katastrophen einen fundamentalen Mangel an Wohlergehen haben, doch das, was eigentlich auf mich Zugriff hat, ist die Tatsache, dass ich vor ihnen nicht rechtfertigen könnte, keinerlei Hilfe zu leisten, obwohl dies für mich als wohlhabender Bürger westlicher Staaten sehr einfach möglich wäre. Dieser Wunsch kann nur dann befriedigt werden, wenn es eine angemessene Rechtfertigung für unser Handeln gibt und wenn wir auf die Akzeptanz anderer hoffen können. Doch wie finden wir heraus, ob unsere Rechtfertigung gegenüber anderen angemessen ist und damit der Wunsch befriedigt werden kann? Offensichtlich können wir ihn nicht befriedigen, wenn wir nur auf unser eigenes Wohlergehen bedacht sind. Dieser Wunsch konstituiert, wenn er vorhanden ist, automatisch eine Perspektive, welche die Interessen der anderen berücksichtigt. Der Wunsch ist jedoch nicht auf die faktische Akzeptanz angewiesen. Der Wunsch, in der Lage zu sein, seine Handlungen gegenüber anderen so zu rechtfertigen, dass andere dies vernünftigerweise akzeptieren können, wird auch dann befriedigt, wenn andere faktisch kein Interesse an

7. Kontraktualistische Motivation

gegenseitiger Rechtfertigung haben. Wir wollen herausfinden, was das Richtige zu tun ist. Deshalb stellen wir uns eine Situation vor, in der genau diese Motivationskomponente vorhanden ist. Ähnlich werden wir selbst unsere Rechtfertigung nicht für angemessen halten, wenn sie den Test der vernünftigen Übereinkunft nicht besteht, die anderen meine Rechtfertigung jedoch faktisch akzeptieren. Wie kann man die Eigenschaften dieses Wunsches besser verstehen? Offensichtlich ist es kein Wunsch gewöhnlicher Art wie etwa der Wunsch, etwas trinken zu wollen. Ich denke, hier bietet es sich an, auf eine Klassifikation von Wünschen zurückzugreifen, welche John Rawls vorgenommen hat, der Scanlons Vorschlag für seine eigene kontraktualistische Theorie später adaptierte, um die spezifische Motivation in seinem Kontraktualismus deutlich zu machen. Rawls unterscheidet drei verschiedene Arten von Wünschen (vgl. Rawls 2003: 160-163): (1) Objektabhängige Wünsche (2) Prinzipienabhängige Wünsche a. nach rationalen Grundsätzen b. nach vernünftigen Grundsätzen (3) Konzeptionsabhängige Wünsche Unter (1) fallen Wünsche, deren Gegenstand (oder das, was den Wunsch erfüllt) »unabhängig von allen moralischen Konzeptionen und vernünftigen oder rationalen Grundsätzen« ist (ebd.: 160). Ein großer Teil der Wünsche, die ein Mensch haben kann, fällt darunter. Typische Beispiel dafür sind Wünsche, die aus unserer physischen Konstitution folgen, etwa zu essen, zu trinken oder zu schlafen, aber auch das Streben nach Macht oder Bindungen etc. zählen dazu. Diese Wünsche sind unmittelbare Wünsche. Man kann sie gänzlich ohne andere Überlegungen haben. Unter (2) fallen Wünsche, deren Gegenstand, Objekt, Ziel oder Betätigung, die gewünscht wird, »nicht ohne Verwendung von (rationalen oder vernünftigen) Grundsätzen beschrieben werden kann, die bei der Beschreibung der jeweiligen Betätigung ins Spiel kommen. Nur ein Wesen, das solche Grundsätze verstehen und anwenden kann oder begründete Hoffnung hat, dies einmal zu tun, kann solche Wünsche haben« (ebd.: 161). Im Falle von rationalen Prinzipien hängt der Wunsch beispielsweise davon ab, ob ich dem Prinzip folgen kann, das richtige Mittel für den richtigen Zweck einzusetzen, und auch, dass ich die entsprechenden Wünsche in eine Ordnung bringen und bestimmten Wünschen eine Priorität gegenüber anderen einräumen kann. Wenn ich den Wunsch habe, meine Wünsche so nutzenbringend wie möglich zu verfolgen, so geht dies nicht, ohne bestimmte Grundsätze der Rationalität anzuerkennen, die mit der Gewichtung und Prioritätensetzung einhergehen. Die auf vernünftigen Prinzipien beruhenden Wünsche hängen

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davon ab, ob ich vernünftigen Grundsätzen folgen kann, welche den Umgang von Menschen miteinander regeln. Beispielsweise könnte dies ein Grundsatz der Fairness sein oder aber anerkannte Tugenden wie Treue und Ehrlichkeit. Ich kann Wünsche haben, die allein vor dem Hintergrund dieser Prinzipien auftreten. Unter (3) befinden sich die von Konzeptionen abhängigen Wünsche: »Wir können diese Wünsche beschreiben, indem wir sagen, dass die Grundsätze, denen wir folgen, als zu einer bestimmten rationalen oder vernünftigen Konzeption oder zu einem politischen Ideal gehörig angesehen werden.« (Ebd.: 162) Diese Wünsche gibt es also nur, wenn wir ein bestimmtes Ideal teilen oder eine bestimmte Konzeption von uns selbst haben. Ein Beispiel für einen solchen Wunsch wäre es, sich so verhalten zu wollen, »wie es für jemanden angemessen ist, der rational ist und dessen Verhalten von praktischer Vernunft geleitet wird« (ebd.), oder auch der »Wunsch, so zu handeln, wie es eines vernünftigen und gleichen Bürgers würdig ist« (ebd.: 164, Fn. 33). Es ist ein Wunsch, eine bestimmte Art von Person zu sein. Wenn ich diese Person sein möchte, dann möchte ich auch die Wünsche haben, die von vernünftigen und rationalen Prinzipien abhängig sind, welche auf die entsprechende Konzeption bezogen sind. Bei Rawls ist es spezifisch ein Ideal des Bürgers als freie und gleiche sowie vernünftige und rationale Person. Natürlich können wir solche konzeptionsabhängigen Wünsche nur haben, wenn wir über die Fähigkeit verfügen, eine solche Konzeption erkennen und ausbilden zu können, genauso wie wir Wünsche, die unsere Zukunft betreffen, nur dann haben können, wenn wir eine Konzeption von uns selbst als ein in Zukunft und Vergangenheit zusammenhängendes Wesen haben. Wünsche über unsere Zukunft hängen von solchen Konzeptionen ab. Genau in dieser Hinsicht lässt sich auch der Wunsch interpretieren, Prinzipien zu finden, die andere nicht vernünftigerweise zurückweisen oder vernünftigerweise akzeptieren können. Es ist ein Wunsch höherer Ordnung. Sich selbst zu rechtfertigen, ist von einer bestimmten Konzeption abhängig, von einem Ideal des gemeinsamen Zusammenlebens. Es ist nicht der Wunsch nach einem bestimmten Objekt, etwa das eigene Wohlergehen oder auch das Wohlergehen anderer, sondern ein Wunsch, diese Objekte der Wünsche von uns allen auf eine Weise zu regulieren, die andere vernünftigerweise akzeptieren können: »Wenn ich glaube, dass ein bestimmtes Prinzip P nicht vernünftigerweise als Basis für eine informierte, ungezwungene allgemeine Übereinkunft zurückgewiesen werden kann, dann muss ich nicht nur glauben, dass es etwas ist, was für mich vernünftig wäre zu akzeptieren, sondern etwas, was für andere ebenso vernünftig zu akzeptieren wäre, insoweit wie wir alle nach einer Grundlage für eine allgemeine Übereinkunft suchen« (Scanlon 2003: 143, Übers. d. Verf.). Diese Eigenschaften implizieren, dass derjenige, der einen wirksamen Wunsch dieser Art hat, keine Ansprüche und Erwartun-

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gen an andere richtet, ohne die vernünftige Akzeptanz des eigenen Handelns durch andere einzubeziehen. Diese Konzeption hat große Auswirkungen darauf, wie wir uns den kontraktualistischen Überlegungsprozess vorstellen müssen. Wir können sagen, dass wir Grund haben, auf nicht-instrumentelle Weise nach einer Übereinkunft zu suchen, und dies nicht um der Maximierung von irgendetwas willen oder um der effektiven Förderung besonderer Zwecke willen, sondern um der regulativen moralischen Prinzipien willen. Genau diese wollen wir finden. Das heißt nicht, dass unser Handeln ansonsten keine Ziele mehr hat oder dass wir nicht nach wie vor auch unsere anderen Wünsche bestmöglich verwirklichen wollen. Unsere eigenen Zwecke sind uns normalerweise durch objektabhängige Wünsche gegeben, wie der Wunsch nach Freude, Wohlstand oder Prestige zu streben. Der konzeptionsabhängige Wunsch spezifiziert nicht die Zwecke der Handlungen, sondern bestimmt nur die Art und Weise, wie jemand seine spezifischen Zwecke verfolgt. Jemand, der den höheren Wunsch besitzt, auf eine bestimmte Art zu handeln, die so gerechtfertigt werden kann, dass andere sie vernünftigerweise akzeptieren können, bedient sich nicht aller zur Verfügung stehenden Mittel zur Erreichung seiner Zwecke, egal wie zweckmäßig oder angenehm sie sein mögen. Wenn der Wunsch wirksam ist, werden die Mittel beschränkt, die wir auswählen, um entsprechende Zwecke zu verwirklichen. Verschiedene Arten von Motivation werden damit kombiniert, um unsere Handlungen zu bestimmen. Dies bedeutet nicht, dass wir bereit sind, vieles aufzugeben, was uns persönlich wichtig ist und was wir verwirklichen wollen. Der Wunsch bestimmt lediglich, dass wir eine Übereinkunft finden wollen. Wozu wir verpflichtet sind und welche Rechte wir einander zusprechen können, wird dann im entsprechenden kontraktualistischen Überlegungsprozess festgestellt. Was aber geschieht, wenn wir diesen Wunsch nicht haben? Scanlon sagt, dass er diesen Wunsch nicht als universal oder in irgendeiner Weise angeboren versteht (vgl. ebd.: 139). Ich habe bereits darauf verwiesen, dass es eine Widerlegung des Amoralisten auf diese Weise nicht geben kann. Wenn dies nicht so ist, weshalb sollte der Wunsch dann überhaupt eine Relevanz für unsere moralischen Überlegungen haben? Mill kennzeichnete seinen Wunsch nach Einigkeit als einen erworbenen natürlichen Wunsch, der zwar nicht bereits Teil der Natur des Menschen selbst ist, aber eine mögliche Folge seiner Anlagen. Barry meint etwas ganz Ähnliches, wenn er davon spricht, dass dies ein »ursprüngliches Prinzip in der menschlichen Natur ist und eines, dass jemand unter normalen Bedingungen des menschlichen Lebens entwickelt« (Barry 1989: 364, Übers. d. Verf.). In dieser Weise möchte Scanlon den Wunsch nach vernünftiger Übereinkunft wohl nicht verstanden wissen, um die psychologischen Grundannahmen so gering wie möglich zu halten. Ich denke aber, dass Scanlon hier zumindest im Ansatz eine solche Position vertreten muss.

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Wenn er diesen Wunsch nicht als natürlich versteht, dann meint er damit, dass dies kein angeborenes Verlangen ist und demzufolge nicht mit anthropologischen Grundkonstanten gearbeitet werden muss. Für Scanlon stellt es sich folgendermaßen dar: Menschen beschäftigen sich mit der Frage des Richtigen und Falschen und wenn sie meinen, das Richtige erkannt zu haben, hat dies einen Einfluss auf ihr Verhalten. Dies sei so, weil eine bestimmte Motivation dahintersteckt, von der Scanlon meint, sie im kontraktualistischen Wunsch nach Rechtfertigung phänomenologisch ausmachen zu können. Keinesfalls ist damit gesagt, dass jeder diesen Wunsch hat, denn dies würde auch voraussetzen, dass jeder moralisch motiviert ist. Eine Universalität ist hier nicht auszumachen. Der Wunsch ist allerdings eine Bedingung, unter der überhaupt Hoffnung besteht, moralische Prinzipien zu finden. Wir können lediglich ausmachen, welche Motivation angenommen werden müsste, um zu entsprechenden Regulierungen unseres Verhaltens zu gelangen. Der Wunsch, sich zu rechtfertigen, ist in einem »fundamentaleren Sinne das, wovon Moral handelt« (ebd.: 150, Übers. d. Verf.). Folgt man Scanlon, so muss diese Annahme in den praktischen Standpunkt eingehen, den wir uns mit Parteien vorstellen, die eine solche Motivation mitbringen. Gleichsam müssen wir uns denken, dass diese Motivation für uns als Menschen, die wir über richtig und falsch nachdenken, ebenso zur Verfügung steht. Dies ist das, worin unsere Beschäftigung mit moralischen Fragen besteht, wenn wir hinreichend darüber nachdenken, und deshalb wenden wir die kontraktualistische Formel an, um moralische Überlegungen anzustellen. Im Gegensatz zu Rawls, dessen Parteien im Urzustand andere Motivationen (ausschließlich eigeninteressierte) als wir Menschen aus Fleisch und Blut haben, so wird hier nach einer engen Verbindung zwischen unseren tatsächlichen Motivationen und unseren vorgestellten Parteien gesucht, was dem Gegenstand die Idealisierung nimmt. Hierhin sieht Habermas auch die wesentliche Innovation, die Scanlon gegenüber Rawls vorgenommen hat: »Er lässt die Konstruktion des Urzustandes mit einem über rationale Egoisten verhängten Schleier des Nichtwissens fallen und stattet die Vertragsparteien von vornherein mit dem Wunsch aus, die eigene Praxis gegenüber allen möglicherweise davon Betroffenen so überzeugend zu rechtfertigen, dass diese ihre Zustimmung zu einer Verallgemeinerung dieser Praxis vernünftigerweise nicht verweigern dürfen (ob sie es nun faktisch tun oder nicht)«. Und weiter: »Durch seine epistemische Umdeutung des Vertragsmodells widerruft Scanlon die von Rawls vorgenommene Trennung zwischen der übergestülpten transsubjektiven, gerechtigkeitserzwingenden Perspektive des Urzustandes einerseits und der auf Zweckrationalität eingeschränkten Beteiligungsperspektive andererseits« (Habermas 1991: 56f.). Nun scheint es, dass dieser Rechtfertigungswunsch nicht natürlicherweise mit dem kontraktualistischen Kriterium des Rechten verbunden sein

7. Kontraktualistische Motivation

muss. Könnten nicht auch andere Rechtfertigungskriterien diesen Wunsch enthalten? »Dass eine Person Handlungsgründe einer anderen nicht vernünftigerweise zurückweisen könnte, setzt notwendig voraus, dass dieselben Begründungsstandards akzeptiert werden« (Döring 2000: 282). Jede Ethik wird doch behaupten, dass ihre Ergebnisse von allen vernünftigerweise akzeptiert werden können. Warum kann der Wunsch nach Rechtfertigung, die andere vernünftigerweise akzeptieren können, nicht auch utilitaristisch befriedigt werden? Kann ich nicht ebenso vom Kriterium des größten Nutzens ausgehen und meine Handlungen rechtfertigen? »Der Grund hierfür lautet, dass dieser Ansatz erst innerhalb des Kontraktualismus seine eigentliche Attraktivität gewinnt. Denn allein der Kontraktualismus macht das Rechtfertigungsverfahren zum Inhalt des Rechtfertigungswunsches: Im Kontraktualismus entscheidet das System handlungsleitender Prinzipien, welches den Gegenstand der angestrebten vernünftigen Übereinkunft bildet, darüber, ob eine Handlung moralisch falsch ist« (ebd.: 284). Dies liegt daran, dass der Utilitarismus eine andere These darüber vertritt, worum es in moralischen Fragen geht. Hier zählt einzig das Wohlergehen oder der größte Gesamtnutzen. Nur in dieser Hinsicht kann es überhaupt Rechtfertigung geben. Ein Prinzip ist dann gerechtfertigt, wenn es die besten Konsequenzen hat oder wenn es im Falle der Hobbesianer für jeden einen Vorteil bringt. Darin besteht für sie Moral. Die Rechtfertigbarkeit ist dann nur ein Nebenprodukt (vgl. auch Scanlon 1998: 190). Nur der Kontraktualismus in rousseauisch-kantischer Traditionslinie nimmt den Rechtfertigungswunsch also tatsächlich ernst, indem er die Übereinkunft selbst zum Ziel und Sinn der Rechtfertigung macht und keinerlei andere Zwecke zum Schlusswort der Rechtfertigung erklärt.

7.4. D as I de al der vernünf tigen Ü bereinkunf t Ich möchte kurz darauf zurückkommen, wie Scanlon das Vernünftige charakterisiert hat. Urteile darüber, was vernünftig ist, sollten relativ zu einer Menge an Informationen oder einem Bereich von Gründen gefällt werden, die dem Beurteilenden vor einem bestimmten Hintergrund zur Verfügung stehen. Wenn wir jemanden dazu anhalten, vernünftig zu sein, drängen wir ihn dazu, einen bestimmten Kontext zu berücksichtigen, in dem er sich mit seinen Urteilen bewegt. Erinnern wir uns an das folgende Beispiel: Es war unvernünftig von mir, die Möglichkeit nicht in Betracht zu ziehen, dass Smiths Experiment ein fundamentales Problem mit der Theorie offenbaren könnte. Wenn wir dies sagen, dann haben wir ein bestimmtes allgemeines Ziel vorausgesetzt (wissenschaftlich akkurat zu arbeiten) und eine Behauptung darüber aufgestellt, was für Gründe es in Anbetracht der Besorgnis um dieses Ziel gibt.

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Nun wird versucht, dies auf das Feld der Moral zu übertragen. Offenbar muss es hier auch ein Ziel geben, welches im Überlegungsprozess Berücksichtigung findet. Es ist nach Scanlon das »Ziel des Findens von Prinzipien, die andere, die dieses Ziel teilen, nicht vernünftigerweise zurückweisen könnten« (Scanlon 1998: 192, Übers. d. Verf.). Es handelt sich hierbei um ein Ideal, welches wir in den Fragen des Richtigen und Falschen voraussetzen. Wir wünschen uns, »in der Lage zu sein, unsere Handlungen gegenüber anderen auf Grundlagen zu rechtfertigen, die diese nicht vernünftigerweise zurückweisen könnten« (ebd.: 154, Übers. d. Verf.), und genau dieses Ideal ist der »Grund, den wir haben, mit anderen unter Bedingungen zusammenzuleben, welche diese nicht vernünftigerweise zurückweisen könnten, insoweit sie ebenfalls durch dieses Ideal motiviert sind« (ebd., Übers. d. Verf.). Dies sind Formulierungen ähnlicher Art, doch wir müssen uns die Bezugspunkte veranschaulichen. Wir können ein bestimmtes Ideal der Rechtfertigung in Bezug auf die Akzeptanz des anderen bestimmen. Wenn wir uns dieses Ideal zu eigen machen, haben wir einen Grund, dieses Ideal verwirklichen zu wollen. Dieses Ideal gibt uns demzufolge einen Grund, eine entsprechende Einstellung anzunehmen, nämlich etwas nur dann als gerechtfertigt anzusehen, wenn andere dies akzeptieren können, also wenn wir auf Übereinkunft mit anderen abzielen. Ich werde im Folgenden, wie Scanlon dies ebenso an einigen Stellen tut, vom »Ideal der hypothetischen Übereinkunft« (ebd.: 155, Übers. d. Verf.) sprechen. Auf dieses bezieht sich einzig und allein die Vernünftigkeit der Übereinkunft im moralischen Kontext, denn vernünftig wird eine Akzeptanz in Anbetracht des Ziels genannt, Prinzipien zu finden, die jeder akzeptieren kann. Das ist die tiefe Verbindung zwischen dem Vernünftigen und der motivationalen Grundlage des Kontraktualismus. Scanlon hat in seinen früheren Arbeiten von einem Rechtfertigungswunsch gesprochen und später von einem Rechtfertigungsgrund. Dabei geht es um eine breite Debatte darüber, inwieweit uns ein Grund überhaupt zu etwas motivieren kann oder was letztlich Priorität hat. Ich glaube, dass wir solche Fragen hintanstellen können. Weder die eine These noch die andere sind essentielle Merkmale des Kontraktualismus.3 Der Unterschied wäre, dass wir 3 | Seine frühere Auffassung bezüglich des Rechtfertigungswunsches fasst Scanlon folgendermaßen aufschlussreich zusammen: »Ich neigte zu der Ansicht, dass nicht alle Handlungsgründe von Wünschen und Bedürfnissen abhängen, aber ich beschloss diesem Problem nicht weiter nachzugehen und die Frage offen zu lassen, ob Menschen, die das von mir beschriebene Bedürfnis nicht haben, dennoch Grund haben, das Richtige zu tun« (Scanlon 2000: 70). Später hat er deshalb seine Auffassung durch eine umfassendere philosophische Darstellung von Gründen revidiert. Da auch diese jedoch nur darauf verweist, dass wir einen Grund haben können und keinesfalls müssen, ändert sich auch an der Grundlegung des Kontraktualismus selbst nichts.

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entweder die Kategorie des Grundes in Wünschen analysieren, demzufolge zu einem Grund immer noch ein Wunsch hinzutreten muss, damit eine Motivation stattfinden kann, oder Gründen eine Eigenständigkeit zubilligen, dass Menschen also allein kraft der Tatsache, dass sie einen Grund sehen, auch handeln beziehungsweise durch diesen Grund motiviert sind. Ich sehe nicht, dass sich dadurch Wesentliches in der Methodik und in den Ergebnissen (also den Prinzipien, die wir letztlich erreichen) verändert, wenn wir uns Parteien in einer hypothetischen Situation vorstellen. Anders wird aber womöglich die Art, inwieweit wir die moralischen Prinzipien als normativ verbindlich verstehen. Die Übereinkunft selbst sorgt ja nicht für die Verpflichtungswirkung. Es sind die Gründe, die diese Aufgabe übernehmen. Demzufolge könnten wir für niemanden, der diesen Wunsch nicht hat oder ihn explizit ablehnt, irgendeine moralische Verbindlichkeit aufzeigen. Der Rechtfertigungswunsch wäre demzufolge nichts weiter als ein Bedürfnis, dem prinzipiell etwas Kontingentes anhaftet. Verstehen wir Gründe in einem realistischen, nicht weiter zu reduzierenden Sinne, dann hängen Gründe nicht nur von unseren Neigungen ab, sondern sind zu erkennen – im Gegensatz zu den Wünschen, die sich nur kultivieren lassen. Was bedeutet dies? Es bedeutet: Selbst wenn ich eigentlich gar nicht den Wunsch habe, mich gegenüber anderen zu rechtfertigen, also keinen bestimmten (auch) psychologisch bestimmbaren Zustand habe, der dafür spricht, kann ich dennoch erkennen, dass ich Grund habe, meine Handlungen gegenüber anderen zu rechtfertigen. Das ist ein großer Unterschied, denn in letzterem Falle triumphiert die Erkenntnis des Grundes gegenüber meinen üblichen affektiven Neigungen, die ich vielleicht habe. Was hier letztlich vorausgesetzt wird, ist dann keine Bedürfniskomponente, sondern vielmehr ein kognitives Moment der Einsicht. Allerdings können auch meine Wünsche dadurch ausgebildet werden, dass mir entsprechende Gründe dargebracht werden. Wenn ich erkenne, was das Ideal der Übereinkunft beinhaltet, dann wünsche ich vielleicht auch in der Folge, nach dem Ideal der Übereinkunft zu handeln. Wenn ich sorgsam über meine Wünsche nachdenke und überlege, was mir wichtig ist, dann kann ich auch entsprechende konzeptionsabhängige Wünsche ausbilden.4 All dies scheint aber nur in begrenztem Maße 4 | Als große Gegenspieler werden stets die humesche Motivationstheorie, wonach uns nur Wünsche motivieren können, und eine kantische Motivationstheorie, wonach uns auch unabhängig von unseren Wünschen moralische Überlegungen motivieren können, behandelt. Ich denke, Rawls liegt richtig in der Annahme, wenn er sagt, »dass sich die Grenze zwischen einer humeschen und einer kantischen Auffassung der Motivation auflöst, sobald wir von Konzeptionen abhängige Wünsche als Elemente dessen zulassen, was Williams die ›motivationale Ausstattung einer Person‹ nennt« (Rawls 2003: 164, Fn. 33). Er bezieht sich hier auf den bedeutenden Aufsatz von Bernard Williams Interne und externe Gründe (1999), welcher in der Nachfolge Humes darlegt, dass wir auf die

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relevant, wenn wir einfach nur die Behauptung aufstellen, dass die Parteien in einer bestimmten Weise motiviert sein müssen, wenn sie über richtig und falsch nachdenken. Ob diese Motivation durch einen Grund oder durch einen Wunsch erklärt wird, ist nachrangig. Wie kann das Ideal der Übereinkunft als Grundlage des Kontraktualismus plausibilisiert werden? Das funktioniert nur über einen informellen Weg, nicht aber über eine rationale Letztbegründung. Eine solche Aufgabe stellt sich der moderne Kontraktualismus nicht. Der Kontraktualismus muss mit den Gründen auskommen, die Personen von ihren jeweiligen Standpunkten aus haben. Das bedeutet aber nicht, dass er keine These darüber vertreten kann, wann wir am ehesten zu moralisch gerechtfertigten Prinzipien gelangen. Wir müssen lediglich versuchen, plausibel zu machen, warum das Ideal der Übereinkunft für uns vor allen anderen Dingen Priorität hat, die uns außerdem noch zu Handlungen motivieren mögen, wie eben unsere besonderen Vorstellungen des Guten oder unsere Interessen. Wir müssen erklären, wie die Überzeugung, dass eine bestimmte Handlung richtig ist, damit verbunden ist, einen Grund zu sehen, diese Handlung auszuführen. Es gibt verschiedene Strategien, diese Plausibilität geltend zu machen. Ein erster Punkt wäre zu sagen, dass das Ideal der Übereinkunft zwar nicht rational herzuleiten ist, aber diese Darstellung »phänomenologisch akkurater ist als jede andere« (Scanlon 1998: 187, Übers. d. Verf.). Andere substanzielle Ansätze scheinen nicht hinreichend mit dem verbunden zu sein, was richtig und falsch ist. Der Utilitarismus hat ebenfalls eine substanzielle These, worum es beim Richtigen und Falschen geht: um das größte Glück oder das größte Wohlergehen. Glück und Wohlergehen mögen wichtige Bestandteile zur Bestimmung sein, was richtig und was falsch ist, doch sie sind nicht alles, worum es bei der Regulierung des wechselseitigen Verhaltens geht. Nur weil eine Handlung das größte Glück fördert, können wir nicht mit Sicherheit sagen, dass sie richtig ist. Es mag Handlungen geben, die falsch sind, obwohl sie das größte Wohlergehen befördern. Entscheidend beim moralisch Richtigen ist jedoch, ob ich die entsprechende Beziehung verletze, die ich zu jemandem habe, indem ich eine Handlung vollziehe, die ohne Berücksichtigung seiner vernünftigen Akzeptanz stattfindet. Darüber hinaus scheint das Ideal der Übereinkunft eine hinreichende Antwort auf das Prichard-Dilemma zu beinhalten. Der Wert, mit anderen in einer Beziehung zu stehen, welche diese vernünftigerweise akzeptieren können, ist »klar verbunden mit dem Inhalt von Moralität und zur selben Zeit hat er einen starken Reiz, wenn er abseits von moralischen Anforderungen betrachtet wird« (Scanlon 1998: 155, Übers. d.

motivationale Ausstattung bei der Handlungswirksamkeit von moralischen Gründen angewiesen bleiben.

7. Kontraktualistische Motivation

Verf.). Es werden weder nichtssagende triviale Gründe für die Akzeptanz verlangt noch ausschließlich Gründe, die amoralisch sind.5 Noch stärker als die phänomenologische Angemessenheit möchte ich jedoch das folgende einfache Argument als zweiten Punkt ins Feld führen, welches von einem Skeptizismus gegenüber persönlichen Wertvorstellungen ausgeht. Wir können davon ausgehen, dass jede Person bestimmte Werte, Vorstellungen des Guten oder auch anders gelagerte Wünsche hat, die sie zu verwirklichen trachtet. Wir nehmen erst einmal an, dass Werte in dieser Weise Gründe für einzelne Personen bieten. Sie sind demzufolge akteursrelativ. Selbstverständlich mag es sein, dass verschiedene Werte von verschiedenen Menschen geteilt werden, doch von keinem ist nachzuweisen, dass er auch potenziell ein Wert für alle sein kann. Danach gibt es keinen Wert, der sich als Ausgangspunkt eignen würde, um festzustellen, was wir tun sollen oder nicht. Da wir keinerlei Möglichkeit haben, einen metaphysischen Diskurs über die wahre Natur des Guten bedingungslos für uns zu entscheiden, können wir nicht davon ausgehen, dass andere unsere Werte teilen werden. Das Ideal der Übereinkunft bietet demnach den neutralsten Grund, um festzustellen, wie wir unser Verhalten untereinander regulieren sollen, ohne dabei die eigene Perspektive aufzugeben. Wenn wir grundlegend skeptisch sein müssen, ob unsere jeweiligen Vorstellungen des Guten tatsächlich Vorstellungen sein können, die für alle gelten und einen Ausgangspunkt für Überlegungen über richtig und falsch bieten, dann bleibt uns nur, uns auf eine Konzeption zurückzuziehen, welche diese Unterschiede in den persönlichen Vorstellungen selbst zum Thema macht. Auf den Skeptizismus gegenüber Wertvorstellungen kann der Kontraktualismus mit dem Ideal der Übereinkunft antworten, um zu prüfen, ob das jeweilige Handeln von den Betroffenen vernünftigerweise akzeptiert werden könnte. Wenn es nach dem Kontraktualismus einen Wert geben sollte, der Priorität hat und als Ausgangspunkt dient, dann derjenige, welcher die Bereitschaft betrifft, eine Übereinkunft zu erzielen und damit nicht unsere ex-

5 | Hat das Ideal der Übereinkunft einen moralischen Inhalt? Ja, das hat es. Es ist aber die plausibelste Prämisse, die wir haben können, wie ich versuche darzulegen. Die Frage der Moral oder dessen, was richtig und falsch ist, lässt sich nicht außerhalb dieser Sphäre begreifen. Ich glaube, dass es in Anbetracht des Scheiterns außermoralischer Rechtfertigung vollkommen angemessen ist, folgende, von Dworkin formulierte, Position zu vertreten: »Jede theoretische Antwort auf die Frage, was moralische Überzeugungen wahr macht oder welche Gründe gute Gründe dafür sind, sie zu akzeptieren, muss selbst eine moralische Theorie sein und somit eine moralische Prämisse oder Annahme beinhalten« (Dworkin 2012: 72).

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klusiven Vorstellungen und Interessen zur einzigen Grundlage einer Beurteilung von Prinzipien des Zusammenlebens zu machen.6 Eine dritte Möglichkeit, auf das Ideal der Übereinkunft zu verweisen, wäre es, ein Schlaglicht auf eine exemplarische Person zu werfen, welche nicht an einer Übereinkunft mit uns interessiert ist, die also nicht die geringste Bereitschaft mitbringt, sich mit uns auf Prinzipien des Zusammenlebens zu einigen, es sei denn, dass dies ihre persönlichen Interessen maximiert. Eine solche Person ignoriert die Möglichkeit, dass andere ebenso Werte und Interessen besitzen. Nach Gerald Gaus hat ein solcher Mensch Eigenschaften, die wir am ehesten mit einem Psychopathen identifizieren würden. Der Psychopath »kann den Platz von Werten im Leben von anderen nicht verstehen« und hat deshalb eine »maschinenartige Konzeption von anderen, welche seine eigene maschinenartige Existenz reflektiert« (Gaus 1990: 298, Übers. d. Verf.). Dabei müssen wir überhaupt nicht unterstellen, dass ein solcher Mensch irrational ist. Er mag überrascht sein, wie andere auf ihn reagieren, aber angesichts seines Modells von anderen Menschen handelt er völlig rational. Eine Grundbedingung für Prinzipien des Zusammenlebens ist jedoch, dass zumindest die eigenen Werte nicht absolut gelten und für bedeutender gehalten werden oder dass man sich nicht lediglich als Wert- oder Vorteilsmaximierer begreift. Die Bereitschaft zur Übereinkunft und damit die Festlegung von Prinzipien der Moral, die alle vernünftigerweise akzeptieren können, bilden deshalb eine Grundbedingung: »Es sei denn, jemand ist einem Psychopathen schon sehr ähnlich, so sind jemandes Wertungen […] angereichert von einer umfassenderen Konzeption von anderen. Wir setzen voraus, dass andere nicht nur ihre eigenen Ziele verfolgen, sondern moralische Personen sind. Sie als moralische Personen zu begreifen, bedeutet anzunehmen, dass sie ihre eigene wertende Perspektive transzendieren können, um moralisch zu handeln« (ebd.: 300, Übers. d. Verf.). Ähnlich versucht Scanlon auch die »Wichtigkeit« des Wertes der Rechtfertigbarkeit gegenüber anderen Personen durch die Betrachtung eines Amoralisten zu erfassen. Wir könnten durchaus akzeptieren, dass jemand andere Dinge für wertvoll hält, sei es den Wert von Wissenschaft, die ästhetische Schöpfung der Natur oder vielleicht die Besonderheit des Schachspiels. Teilen wir diese Werte mit anderen Personen nicht, so können wir auf 6 | Barry argumentiert ebenso für die Notwendigkeit des Skeptizismus (vgl. Barry 1995: 168-173), allerdings nicht, um das Motiv der Übereinkunft stärker zu festigen, sondern, um zu zeigen, dass eine Neutralitätskonzeption eine praktische Implikation von diesem Motiv ist, also etwas, was vernünftigerweise akzeptiert werden kann. Das Motiv der Übereinkunft selbst hält er für unproblematisch: »Der Wunsch, in der Lage zu sein, Handlungen und Institutionen unter Bedingungen zu rechtfertigen, die im Prinzip akzeptabel gegenüber anderen sind, ist glücklicherweise weit verbreitet« (ebd.: 168, Übers. d. Verf.).

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dieser Ebene keine Beziehungen auf bauen. Dennoch können wir andere Beziehungen zu einem solchen Menschen haben. Jemand, der aber den Wert nicht sieht, den es hat, mit anderen in einer Beziehung zu stehen, die durch vernünftige Akzeptanz gerechtfertigt wird, scheint einen besonders schwerwiegenden Fehler zu begehen: »Dieser Fehler macht einen fundamentaleren Unterschied, weil das, was infrage steht, keine geteilte Wertschätzung eines externen Wertes ist, sondern eher die Einstellung von jemandem uns gegenüber – spezifisch ist es ein Fehler, zu sehen, warum die Rechtfertigbarkeit seiner oder ihrer Handlungen gegenüber uns von irgendeiner Wichtigkeit sein sollte« (Scanlon 1998: 159, Übers. d. Verf.). Der Amoralist denkt einfach nicht, dass wir jemand sind, dem er auch nur irgendeine Rechtfertigung schuldig ist. Obwohl eine solche Person nicht irrational ist, so sieht sie etwas Bestimmtes nicht. Somit tut sich ein unüberwindlicher »Abgrund« zwischen dem Amoralisten und jenen auf, die sich um die Frage der akzeptablen Rechtfertigung gegenüber anderen kümmern. Als vierter Punkt ist auf die besondere Struktur dieses Ideals der Übereinkunft hinzuweisen, die sich von anderen Werten unterscheidet. Dieser Wert ist weder einer, welcher nur mich selbst betrifft, noch ist es einer, der sich über alle in objektiver Weise ausbreitet. Er ist beispielsweise weder von der Art, dass ich meine individuellen Ziele verwirklichen möchte, noch ist es ein Wert, der das größtmögliche Glück von allen in den Vordergrund stellt. Es ist ein, wie ich später noch einmal darlegen werde (Kapitel 7.5.), genuin zweitpersonaler Wert. Es ist der Wert, in einer bestimmten Beziehung der Rechtfertigung durch Akzeptanz zu stehen. Damit ist er weder persönlich exklusiv noch ist er uns objektiv äußerlich und fern. Seine Existenz erhält er einzig aus dem Vorhandensein zwischenmenschlicher Beziehungen und deshalb hat er eine besondere Stellung gegenüber anderen Werten. Ein darauf auf bauender fünfter Punkt weist darauf hin, dass dieser Wert auch in nahezu allen anderen interpersonellen Werten enthalten ist oder sogar die Grundlage aller anderen interpersonellen Werte darstellt. Gerald Gaus (1990) hat hier eine interessante Argumentationsweise zur Grundlegung einer kontraktualistischen Theorie verfolgt. Sein Ziel war es zu zeigen, »dass die Fundamente von moralischer und politischer Theorie in bestimmten wichtigen Eigenschaften der menschlichen Psychologie liegen« (Gaus 1990: xiii, Übers. d. Verf.). Seine These ist, dass das Wertesystem von fast allen Personen die Gültigkeit einer bestimmten Bereitschaft voraussetzt, die besagt, den anderen als eine moralische Person anzuerkennen. Obwohl die Gründe, die wir durch unsere jeweiligen Werte und Vorstellungen des Guten haben, fundamental personenbezogen sein mögen, so enthalten diese Werte wiederum Gründe, die wir gemeinsam anerkennen müssen (vgl. ebd.: 13f.). Worum es Gaus geht, ist die Tatsache, dass die Einnahme eines moralischen Standpunktes zur Voraussetzung vieler Werte gehört. So argumentiert er, dass viele Werte es von einem

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erfordern, dass jemand eine Person auch dann auf eine entsprechende Weise behandeln muss, wenn dies nicht dem eigenen Wohl förderlich ist. Wenn dem so ist, dann bedeutet dies, dass wir die meisten Werte, die andere Menschen betreffen, nicht erklären können, ohne an der Basis bereit zu sein, die eigene Vorstellung des Guten zurückzustellen. Ein typisches Beispiel wäre hier die Freundschaft (vgl. ebd.: 287-292). Nur wenn wir eine entsprechende Voraussetzung teilen, dann ist es möglich, den Wert der Freundschaft tatsächlich zu verfolgen und ihn nicht durch Verrat oder Neid zu unterminieren. Dies wird noch deutlicher bei Scanlon, welcher die Freundschaft einerseits als Blaupause für das Ideal der Rechtfertigung verwendet und andererseits erklärt, weshalb in einem solchen Wert der Bereich der Moral enthalten ist, der unsere Rechte und Pflichten im gemeinsamen Zusammenleben allgemein bestimmt. Er bringt hier ein analoges Beispiel im Sinne des erwähnten PrichardDilemmas. Warum sollte ich loyal zu einem Freund sein? Entweder geben wir darauf die Antwort: Weil es vorteilhaft ist. Das scheint aber ein Grund falscher Art zu sein, denn jemand, der den Freund sofort im Stich lässt, wenn es für ihn nicht mehr vorteilhaft ist, wäre ein sehr schlechter Freund. Oder wir geben die Antwort: Weil Freundschaft dies verlangt. Das aber wäre nichtssagend und trifft nicht das, was Freundschaft ausmacht, denn jemand, der nur einer sturen Regel folgt und selbst diese Freundschaft und ihre Vorteile überhaupt nicht genießt, wäre ebenfalls merkwürdig. In Wahrheit haben wir es einfach mit zwei wichtigen Antworten zu tun: »Ein Freund zu sein, schließt sowohl die Erfordernisse der Freundschaft wie auch den Genuss ihrer Vorteile mit ein« (Scanlon 1998: 162, Übers. d. Verf.). Durch die Charakterisierung dessen, was Freundschaft einschließt und wünschenswert macht, sehen wir, dass auf der einen Seite Freundschaft Vorteile bringt (wie Hilfe, Unterstützung, gute Gesellschaft) und warum auf der anderen Seite die Erfordernisse der Freundschaft (etwa loyal zu sein) einen hinreichenden Grund bieten, etwas zu tun, auch wenn dies die Opferung persönlicher Interessen einschließt. Des Weiteren ist der Wert der Freundschaft offenbar keine Sache der Maximierung, also eine Sache von der wir so viel wie möglich haben wollen. Vielmehr basiert der Wert der Freundschaft ganz offensichtlich auf der Qualität der Beziehung. Auch das Ideal der Übereinkunft entzieht sich jeglicher Maximierungsvorstellung. Im Gegensatz zu Nutzen, Glück oder Wohlergehen kann es nicht einfach maximiert werden. Wie ist aber das Ideal der Übereinkunft in der Freundschaft selbst enthalten? Wäre es nicht sogar meistens der Fall, dass Freundschaft bestimmten Anforderungen der Moralität widerspricht? Scanlon argumentiert, ähnlich wie Gaus, dass im Wert der Freundschaft der Wert der Moralität im Sinne der Rechtfertigung durch Akzeptanz enthalten ist. Um jemanden als Freund anzusehen, müssen wir ihn ebenso als eine verschiedene Person begreifen, der wir Rechtfertigung auch abseits dessen schulden, dass sie unser Freund ist.

7. Kontraktualistische Motivation

Scanlon meint, wenn wir nur Freunden diesen moralischen Status zusprechen würden, dann hätten wir in Wahrheit keine Freundschaft, da der Status als Freund offenbar nur von der vergänglichen Tatsache der Zuneigung abhängen würde. Das bedeutet: Sobald das Band der Freundschaft gelöst wird, schulde ich dir nichts mehr – weder die Berücksichtigung deiner Interessen noch muss ich mich dir gegenüber je wieder rechtfertigen, wenn ich dir schade. Es wäre merkwürdig, wenn wir mit Menschen befreundet wären, die, sobald wir sie verlieren, uns nur noch als einen Gegenstand oder Schlimmeres behandeln würden. Es wäre problematisch, wenn wir keinerlei basalen Respekt mehr voreinander hätten. Der Wert der Freundschaft hängt davon ab, dass ich auch auf einer basalen Ebene bereit bin, mit einem solchen Menschen unter Prinzipien zusammenzuleben, die wir beide akzeptieren können. Außerdem wird dies an einem sehr eindrücklichen Beispiel von Scanlon deutlich: Nehmen wir an, wir sind krank und benötigen eine Niere. Ein Freund stiehlt für uns dieses Organ von jemandem, mit dem er natürlich nicht freundschaftlich verbunden ist. Warum ist dies falsch? Nicht nur deshalb, weil es hier einen Menschen gibt, von dem wir offenbar denken, dass wir ihm keine Rechenschaft schuldig sind. Sondern die Tatsache, dass unser Freund von jemand anderem eine Niere gestohlen hat, sagt auch etwas darüber aus, wie er zu unserer eigenen körperlichen Unversehrtheit steht. Er würde unsere eigene Niere wohl nur deshalb niemals stehlen, weil er uns zugeneigt ist, was aber auch bedeutet, dass er dies tun würde, wenn er dies nicht wäre. Wieder hängt unser Verhältnis zueinander vollständig von einer zerbrechlichen und kontingenten Tatsache ab (vgl. ebd.: 164f.). Das einzige, was zwischen meiner Unversehrtheit und einem Status steht, in der ich jederzeit das Opfer eines Übergriffs werden kann, ist das Bestehen einer kontingenten emotionalen Beziehung. Nun sind die Anforderungen, welche die Freundschaft an uns stellt, andere als diejenigen, welche die Moral an uns stellt. Die Erfordernisse, die Freunde aneinander stellen, gehören nicht zu dem, was wir uns unbedingt schulden, sind also keine Pflichten der Gerechtigkeit. Die Diskussion der Freundschaft und die Art, wie ihre Anforderungen bestimmt sind, bieten lediglich ein Modell für die Art des Denkens, nach welchem die Anforderungen der Moralität bestimmt werden können, und zeigen, dass solche interpersonellen Werte auf dem Wert der Rechtfertigung durch Akzeptanz auf bauen. In ähnlicher Weise können wir nun auf den Wert der Moral beziehungsweise den Wert des Ideals der Übereinkunft blicken und seine spezifischen Eigenschaften noch besser begreifen: »Das kontraktualistische Ideal des Handelns in Übereinstimmung mit Prinzipien, die andere (ähnlich motivierte) nicht vernünftigerweise zurückweisen könnten, bedeutet, die Beziehung mit anderen, den Wert und den Reiz zu charakterisieren, die unseren Gründen, das zu tun, was Moralität erfordert, zugrunde liegen. Diese Beziehung, die

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t deutlich weniger persönlich ist als Freundschaft, könnte eine Beziehung gegenseitiger Anerkennung genannt werden. In einer solchen Beziehung mit anderen zu stehen, ist in sich selbst ansprechend – Wert, sie um ihrer selbst willen zu verfolgen. Eine moralische Person wird es unterlassen, andere zu belügen, zu betrügen, ihnen zu schaden oder sie auszubeuten, ›weil diese Dinge falsch sind‹. Aber für eine solche Person sind diese Erfordernisse nicht nur formale Imperative; sie sind Aspekte des positiven Wertes einer Art und Weise, mit anderen zu leben« (Scanlon 1998: 162, Übers. d. Verf.).

Scanlon möchte Moralität nicht nur als negativen Wert verstehen, der häufig nur als Einschränkung unseres eigenen Handlungsspielraumes gesehen wird.7 Sie begrenzt uns, legt uns Pflichten auf und sorgt für die Unterlassung bestimmten Verhaltens. Doch Moralität ist mehr als das: »Anders als Freundschaft wird Moralität gemeinhin als eine Einschränkung gesehen, nicht jedoch als eine Quelle von Freude oder Vergnügen in unserem Leben. « (ebd.: 163, Übers. d. Verf.). Der Einfluss dieser Art moralischen Motivation wird anhand einer interessanten historischen Deutung der Bürgerrechtsbewegung in den USA durch Scanlon deutlich. All die Reaktionen, die sich im Zuge der Demonstrationen für Bürgerrechte, gegen Rassismus und gegen den ebenfalls zeitgleichen Vietnamkrieg ergaben, beruhten auf dem Gedanken, dass diese Ungerechtigkeiten keine Rechtfertigungsgrundlage hatten. Die weitreichende Empörung und auch der Schock über das, was die Menschen über ihre Gesellschaft, ihre Institutionen und ihr gemeinsames Leben miteinander erfuhren, zeugt von dem Wert, auf den die Menschen eingestellt waren, wenn sie wollten, »dass ihre Leben und Institutionen rechtfertigbar gegenüber anderen sind« (ebd., Übers. d. Verf.). Eine der Schlüsselphrasen in dem längeren zitierten Abschnitt ist die »gegenseitige Anerkennung«, welche durch das Ideal der Rechtfertigung durch Akzeptanz konstituiert wird. Nun scheinen wir damit jedoch ziemlich unbestimmt zurückgelassen, denn Scanlon füllt diese Konzeption nicht mit mehr Inhalt. Offenbar bedeutet es, in einer Beziehung gegenseitiger Anerkennung zu stehen, uns gegenüber anderen in der Weise zu rechtfertigen, dass diese unsere Rechtfertigung vernünftigerweise akzeptieren oder nicht zurückweisen können. Denken und handeln wir nach dem Ideal der Übereinkunft, dann erkennen wir den anderen als moralische Person an. Könnten wir diesen 7 | Moral ist zu einem großen Teil eine Einschränkung persönlicher Freiheitsspielräume, wie Gauthier in besonderer Weise betont: »Aus der Sicht des Handelnden erscheinen moralische Erwägungen als solche, die ihn in seinen Entscheidungen und Handlungen ganz unabhängig von seinen Wünschen, Zielen und Interessen beschränken« (Gauthier 2002: 191). Diese ausschließlich negative Kennzeichnung ist jedoch nur typisch für jene, die Moral außermoralisch begründen wollen und darin keinen besonderen Wert erkennen können.

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Aspekt noch ausführlicher bestimmen? Ich glaube, dass sich aus dem Willen zur Übereinkunft letztlich einige Grundauffassungen darüber ergeben, wie eine Übereinkunft zustande kommen kann. Allein der notwendige Wille zur Übereinkunft setzt die Regeln dessen, was vernünftigerweise akzeptiert wird. Doch zu diesen Ausführungen werde ich in Abschnitt 7.6. zurückkommen. Ich habe in diesem Abschnitt fünf Punkte aufgezeigt, die das Ideal der Übereinkunft als eine attraktive Grundlage für moralisches Denken ausweisen. Ich verwende bewusst den Begriff der Attraktivität, denn eine Letztbegründung ist es nicht. Es gibt keinen rationalen Zwang, das Ideal der Übereinkunft hinzunehmen, aber zumindest gibt es hinreichende Überlegungen, die uns zu der Überzeugung führen können, dass dies eine Grundlage ist, die der Moral gerecht wird. Zuletzt will ich noch ausführen, weshalb Scanlon es bevorzugt, innerhalb des kontraktualistischen Denkens von »vernünftiger Zurückweisung« statt von »vernünftiger Akzeptanz« zu sprechen. Scanlon ist, was dies angeht, ein Ausreißer unter den Kontraktualisten. Weder Rawls noch Barry oder Gaus halten sich zumindest so dermaßen konsequent an diese Formulierung, auch deshalb, weil sie möglicherweise das eigentliche Bild einer Übereinkunft verwischt. Scanlon hat dafür in seinem frühen Werk nur eine sehr kurze und sporadische Begründung gegeben. Konkret will Scanlon durch die negative Formulierung vermeiden, dass Personen, die vielleicht besonders selbstaufopfernd sind, durch die Akzeptanz eines Prinzips Bürden auf sich nehmen, welche bei einem alternativen Prinzip hätten vermieden werden können. Es wäre für diese Personen manchmal nicht unvernünftig, eine entsprechende Übereinkunft zu akzeptieren, aber auf der anderen Seite wäre es auch nicht unvernünftig, diese Bürden zu verweigern und somit ein Prinzip zurückzuweisen, welches jemanden auffordert, diese zu ertragen. Wenn die entsprechende Zurückweisung vernünftig wäre, dann ist das Prinzip, welches diese Bürden auferlegt, in Zweifel gezogen, trotz der Tatsache, dass eine besonders selbstaufopfernde Person dies vernünftigerweise auch akzeptieren könnte. Nach Scanlon sollten wir uns eher an der Beseitigung von Zweifeln im Sinne der Zurückweisung orientieren, denn im Gegensatz zur Akzeptanz werden dadurch auch nicht-optimale Ergebnisse ausgeschlossen (vgl. Scanlon 2003: 132). Versuchen wir das Ganze noch etwas griffiger zu machen: Nehmen wir an, wir müssen ein Prinzip finden, welches die Verteilung eines bestimmten Gutes betrifft. Dieses Gut kann Person A in keinerlei Weise verwenden oder für sein Wohlergehen gebrauchen (sagen wir für den Moment einfach, das Gut wären Handschuhe, obwohl A in einer Region lebt, wo er diese niemals braucht). A könnte nun ein bestimmtes Prinzip durchaus akzeptieren, welches besagt, dass er von diesem Gut nichts erhält und dass es stattdessen unter B, C und D aufgeteilt wird. Nun ist die Frage, ob diese Lösung die bestmögliche ist. Sie wäre es genau dann nicht, wenn das entsprechende Gut anders umgesetzt

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werden könnte, sodass auch A einen entsprechenden Nutzen durch das Gut erhält. Es gäbe dann noch ein weiteres Prinzip, welches ein besseres Ergebnis für alle produziert. In Anbetracht der Existenz eines Alternativprinzips, welches größere Vorteile bringt, könnte er das andere Prinzip vernünftigerweise zurückweisen, auch wenn es nicht unvernünftig wäre, das vorherige Prinzip zu akzeptieren, wenn die Person selbstaufopfernd ist. Nach Scanlon verhindert die Formel der vernünftigen Zurückweisung Ergebnisse, die nicht optimal sind. Das ist aber eine merkwürdige Behauptung seitens Scanlons, denn in diesem Falle müsste man sagen, dass für die Partei ein Grund akzeptabel ist, der eigentlich nicht akzeptabel ist. Die Frage wäre, warum die Partei überhaupt eine weniger bessere Möglichkeit akzeptieren sollte? Wenn wir das Kriterium der vernünftigen Übereinkunft anwenden, dann könnten wir sicherlich die subjektiven Gründe berücksichtigen, die jemand für seine Selbstaufopferung hat, aber wir sollten keine Informationen über die möglichen Folgen unterschlagen, die die Annahme eines Prinzips hätte. Dass sich ein bestimmtes Gut auch anders umsetzen lässt und damit auch die Akzeptanz von A nicht notwendig gewährleistet ist, erscheint mir ersichtlich. Auch Barry (vgl. 1995: 70) spricht sich dafür aus, dass eigentlich nichts an der Formulierung zwischen Akzeptanz und Zurückweisung hängt und die Begriffe austauschbar verwendet werden können (natürlich mit entsprechender sprachlicher Umstellung). Ich selbst werde deshalb von der klassischen Idee der Akzeptanz ausgehen, die auch näher am Begriff einer Übereinkunft liegt.

7.5. D arwalls z weitpersonales F undament des K ontr ak tualismus Was die meisten Kontraktualisten anbieten, die sich von der ursprünglichen Vertragstheorie von Hobbes absetzen wollen, ist eine bestimmte Konzeption der anfänglichen Motivation oder Bereitschaft, eine Übereinkunft zu erzielen. Die Übereinkunft wird damit nicht zum zufälligen Produkt von Interessenhomogenität, sondern sie ist selbst das Ziel. Dieses Motiv der Übereinkunft bringen die Parteien immer schon mit, wenn sie bestimmen wollen, welches die gerechtfertigten Prinzipien sind, die ihr gemeinsames Leben regulieren sollen. Dies setzt voraus, dass die Rechtfertigung gegenüber anderen nach Prinzipien, die diese vernünftigerweise akzeptieren können, einen bestimmten Wert darstellt, der um seiner selbst willen geschätzt wird. Ich habe verschiedene Argumentationsweisen dargelegt, welche zeigen, dass das Ideal der Übereinkunft einen prioritären Wert im Vergleich zu anderen möglichen Vorstellungen hat. Es mag bezweifelt werden, ob ein solcher Wert vorausgesetzt werden kann, weil dies vielleicht nicht für alle einen Wert darstellt. Ein rationaler Zwang dazu besteht nicht. Das wirft natürlich fragen in Anbetracht

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der Tatsache auf, dass dies letztlich das Fundament des kontraktualistischen Überlegungsprozesses ist. Werfen wir dieses Streben nach Übereinkunft über Bord, dann bricht der gesamte kontraktualistische Rechtfertigungsapparat zusammen. So ist es also nicht verwunderlich, dass Zweifel bestehen bleiben, selbst wenn wir eine phänomenologisch akkurate Beschreibung dessen liefern können, was dem Nachdenken über richtig und falsch zugrunde liegt. Sich in Abhängigkeit von einem bestimmten substanziellen Wert oder einem Wunsch zu begeben, macht den kategorialen Charakter moralischer Verpflichtungen zunichte. Scanlon hat dies auch selbst gesehen: »Ein Risiko der substanziellen Strategien ist offensichtlich. Durch die Identifikation des Moralischen (oder des Richtigen und Falschen) mit dem, was klarerweise ein Wert unter anderen ist, riskieren wir, seine kategorische und zwingende Kraft zu rauben: Warum muss jeder um diesen Wert besorgt sein? Und warum sollte dieser Priorität gegenüber anderen Werten haben?« (Scanlon 1995: 348, Übers. d. Verf.). Stephen Darwall legte deshalb eine Theorie vor, von der er glaubte, sie sei eine angemessenere Grundlage für den Kontraktualismus. Nach ihm braucht der Kontraktualismus keinen Wunsch, keinen besonderen Wert und kein Ideal. Sein Fundament soll so formal wie möglich gehalten werden, denn wenn wir uns nach Darwall auf Überlegungen des Wünschbaren oder des Wertvollen stützen, dann sind dies »einfach Gründe der falschen Art, um (zweitpersonale) Gründe der moralischen Pflicht und des Rechten zu fundieren« (Darwall 2006: 317, Übers. d. Verf.). Ich werde noch darauf zu sprechen kommen, was Darwall mit der Zweitpersonalität von Gründen meint, die hier noch in Klammern steht. Doch mit Gründen der falschen Art ist Folgendes gemeint: Nur weil es gut (wünschbar/wertvoll) für mich ist, mit dir unter Bedingungen zu leben, die wir beide vernünftigerweise akzeptieren können, bedeutet dies noch lange nicht, dass ich dies auch verlangen kann. Die Berufung auf ein substanzielles Ideal, um den Kontraktualismus zu fundieren, präsentiert einen Grund der falschen Art für einen Ansatz des Richtigen und Falschen. Es sagt nur aus, dass es wertvoll oder wünschbar ist, in dieser Beziehung zu stehen, aber dadurch wird nicht gesagt, dass wir in einer solchen Form von Beziehung stehen. Darwall will nun genau diese Notwendigkeit beweisen. Wenn wir dies können, dann können unsere gegenseitigen moralischen Forderungen kategorische Geltung beanspruchen und wären nicht von der Teilung eines Ideals abhängig. In seinen Ausführungen beruft sich Darwall auf Peter Strawson, der eine bestimmte Auffassung von unseren Einstellungen gegenüber anderen Personen vertrat. Diese Einstellungen können folgender Art sein: Es gibt »auf der einen Seite die Einstellung (oder den Bereich von Einstellungen) der Einbeziehung oder Mitwirkung in einer menschlichen Beziehung und auf der anderen Seite das, was vielleicht die objektive Einstellung (oder den Bereich von Einstellungen) gegenüber einem anderen menschlichen Wesen genannt werden kann« (Strawson 2008: 9, Übers. d. Verf.). Diese beiden Formen unterscheiden

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sich darin, ob wir jemanden so betrachten, als sei er etwas, was gehandhabt oder verwaltet werden muss, oder ob wir ihn als Person behandeln. Obwohl es etwas mechanisch oder wenig emotional klingen mag, so ist unsere Behandlung von Kindern ein typisches Beispiel für eine objektive Einstellung. Wir betrachten ihr Verhalten im Lichte dessen, was gut für sie ist, und dies in einem objektiven Sinne. Wir beschuldigen ein Kind beispielsweise nicht im strengen Sinne des Wortes, wenn es etwas falsch gemacht hat. Wir korrigieren sein Verhalten vielleicht und zeigen auf, wie etwas richtig gemacht werden muss oder wie man sich stattdessen verhalten sollte. Aber aus unserer objektiven Perspektive würden wir ein Kind nicht für seine Taten verantwortlich halten, weshalb in unserer Gesellschaft auch Eltern für ihre Kinder die Haftung übernehmen müssen. Hier kann zum ersten Mal die wichtige Unterscheidung von Darwall zwischen einer zweitpersonalen und einer drittpersonalen Perspektive angebracht werden. Wenn wir die Welt drittpersonal betrachten, behandeln wir Menschen als Objekte in der Welt, die in irgendeiner Weise verwaltet werden müssen, doch wenn wir eine zweitpersonale Perspektive einnehmen, dann erkennen wir den anderen als Person an, die wir (wie uns selbst) für verantwortlich für ihr Handeln halten. Strawsons Unterscheidung unterstreicht die Art von Überlegungen, die bestimmte moralische Urteile voraussetzen, denn einige moralische Urteile scheinen doch nur dann angebracht zu sein, wenn ich die andere Person als eine solche sehe, die verantwortlich und in der Lage ist, mir gegenüber Rechenschaft abzulegen. Ein Kind, welches vielleicht gar nicht weiß, was es tut, kann dies nicht in gleicher Weise. Überlegungen über das, was wertvoll ist und die Welt aus drittpersonaler Perspektive besser macht, ist eine andere Überlegung als diejenige, ob eine Person eine bestimmte Schuldigkeit mir gegenüber hat. Darwall drückt dies folgendermaßen aus: »Wenn wir versuchen, andere zur Rechenschaft zu ziehen, ist das, was eine Rolle spielt, nicht, ob dies zu tun wünschenswert ist, sei es in einem besonderen Fall oder im Allgemeinen, sondern ob das Verhalten der Person schuldhaft ist und ob wir die Autorität haben, sie zur Rechenschaft zu ziehen« (Darwall 2006: 15, Übers. d. Verf.). Dies bedeutet, dass es verschiedene Herausforderungen für substanzielle Theorien gibt. Für Darwall liegt eine Art Kategorienfehler vor, wenn wir den Kontraktualismus auf ein Ideal gründen wollen. Dieser nimmt den Charakter einer Sache an, welche die Welt in einer bestimmten Weise besser oder schlechter macht, und ist damit in seiner Fundierung drittpersonal, obwohl er auf zweitpersonale Verhältnisse gerichtet ist. Den Kategorienfehler begehen wir dann, wenn der Inhalt unserer zweitpersonalen Verpflichtungen gegeneinander auf einer drittpersonalen Überlegung basiert. Darwall betrachtet insbesondere die Ansichten von Mill und Scanlon, um den kategorialen Fehler aufzuzeigen (vgl. ebd.: 316). Sicher gilt dies gleichermaßen für Rawls und Barry. Eine wertebasierte Konzeption als Fundament des Kontraktualismus müsste nach Darwall auf die Frage »Warum Kontraktualis-

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mus?« die Antwort geben: »Weil die Welt in irgendeiner Weise dadurch besser wird.« Was wäre nun die Alternative? Darwall versucht uns, einen formalen Ansatz einer Fundierung des Kontraktualismus zu geben, indem er zeigt, wie wir miteinander praktisch umgehen und was genau passiert, wenn wir miteinander in Interaktion treten. Es gibt ihm zufolge sogenannte »Erfolgsbedingungen« dafür, Ansprüche aneinander zu stellen, Forderungen zu erheben oder Rechte zu reklamieren, also für das, was wir voneinander moralisch verlangen können. Solche Formen von Interaktion fordern von uns, dass wir uns ihnen »zweitpersonal« annähern. Darwall meint, dass wir solche Forderungen von einem zweitpersonalen Standpunkt erheben. Das ist »diejenige Perspektive, die du und ich einnehmen, wenn wir auf unser gegenseitiges Verhalten und unseren Willen Ansprüche erheben« (ebd.: 3, Übers. d. Verf.). Die Forderungen, die eine bestimmte Person von ihrer Stellung aus hat und die von einer anderen Person in einer bestimmten Weise erkannt werden, können weder aus einer rein privaten Perspektive (erstpersonal) noch aus einer unpersönlich Perspektive auf die Welt (drittpersonal) erfasst werden. Der zweitpersonale Standpunkt ist folgendermaßen zu verstehen: Nehmen wir an, eine Person A stellt an eine Person B eine Forderung. Was auch immer diese Forderung beinhaltet, sie kann nur dann geltend gemacht werden, wenn die Person, die sie äußert, Autorität hat. Autorität in dem Sinne meint, dass sie die Forderung stellen kann und die andere Person dieser Forderung nachkommt. Diese Autorität erhält man nur von einem zweitpersonalen Standpunkt, von dem aus eine Beziehung der Autorität besteht. Wenn A gegenüber B eine Forderung stellt, dann muss sie immer voraussetzen, dass die Forderung Autorität hat, denn ansonsten hat die Forderung keine Aussicht auf Erfolg. Eine Autoritätsbeziehung ist eine wesentliche Bedingung dafür, dass eine Forderung als gerechtfertigt anerkannt wird. Eine Forderung, die eine Person erhebt, soll einer anderen Person einen normativen Grund geben, der Forderung nachzukommen. Diesen Grund nennt Darwall einen zweitpersonalen Grund: »Was einen Grund zweitpersonal macht, ist, dass er sich auf die (de jure) Autoritätsbeziehung gründet, die zwischen einem Absender und seinem Empfänger besteht« (ebd.: 4, Übers. d. Verf.). Der Unterschied zwischen anderen Arten von praktischen Gründen ist, dass zweitpersonale Gründe in der Lage sein müssen, innerhalb einer sozialen Beziehung angesprochen zu werden. Sie beziehen sich auf ein interpersonales Verhältnis und nicht auf einen bestimmten Weltzustand. Wir nähern uns dem Richtigen und Falschen nach Darwall dadurch an, dass wir eine Analyse einer typischen zweitpersonalen Ansprache durchführen und feststellen, was diese beinhaltet. Die zweitpersonale Perspektive ist eine genuin praktische Perspektive. Gründe aus dieser Sicht gelten kraft der gemeinsam akzeptablen Normen der Autorität. Darwall bietet folgendes Beispiel: Indem ich dem Militär beitrete, erkenne ich an, dass die Befehle eines

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Offiziers mir einen Grund geben, zu tun, was diese Befehle besagen, und dies einfach, weil es der Offizier ist, welcher diese Befehle gibt. Andere Gründe, den Befehlen zu befolgen, etwa Klugheitsgründe, können die Gründe nicht einfangen, die ich kraft meiner Beziehung zum Offizier habe. Nun erscheint das Militärbeispiel etwas martialisch und deshalb lässt sich noch ein zweites Beispiel von Darwall anfügen (vgl. ebd.: 12): Stellen wir uns einen Fall vor, in welchem A auf dem Fuß von B steht. B kann A wenigstens zwei Arten von Gründen geben, den Fuß wegzunehmen. Beispielsweise könnte B erstpersonale Gründe anfügen. B sagt dann, dass ihm das Stehen auf dem Fuß Schmerzen verursachen würde. Offensichtlich hat B einen Grund, Schmerz zu vermeiden. Aber kann das auch ein Grund für A sein? Aus einer rein erstpersonalen Perspektive betrachtet, muss das nicht sein. Wir müssten vielleicht ein stärkeres Argument finden, warum es irrational für A wäre, B Schmerzen zu verursachen. Vielleicht wäre es aus irgendeinem Grund auch für A schlecht, seinen Fuß auf B zu lassen, weil ihm Sanktionen drohen, es also für ihn von Nachteil wäre. Aber für ihn bietet die Tatsache, dass B Schmerzen hat, keinen Grund, seine Handlung zu unterlassen.8 Nun könnte B auch noch einen weiteren Grund geben und sagt, A solle seinen Fuß herunternehmen, weil dies Schmerz verursacht, ohne Bezug auf die eigene Person. Dieser Grund wäre auf einen bestimmten Zustand in der Welt bezogen. In der Welt gäbe es durch diese Aktion mehr Schmerz als ohne. Wenn A nun denkt, dass Schmerz in der Welt etwas Schlechtes ist und eine Welt mit weniger Schmerz besser ist als eine, in der mehr Schmerz existiert, dann würde ihm dadurch ein Grund gegeben, den Fuß von B herunterzunehmen. Wir haben es dann mit einem drittpersonalen Grund zu tun, der sowohl für A als auch für B gelten kann. Häufig bauen utilitaristische Argumentationen auf solche Gründe auf. Der neutrale Wert ist hier das Glück oder der Nutzen und dieser soll unabhängig von der jeweiligen Person maximiert werden. Nun meint Darwall jedoch, dass es noch einen viel gewichtigeren Grund für A geben kann, seinen Fuß wegzunehmen. Dieser besteht einfach darin, dass es B ist, der es fordert. Hier wird kein weiterer Grund eingefügt. Die Forderung, den Fuß herunterzunehmen, ist bereits ein hinreichender Grund für A, der Forderung nachzukommen. Weshalb haben wir es hier mit einem spezifisch zweitpersonalen Grund zu tun? Weil die Gültigkeit dieser Forderung davon abhängt, ob B die Autorität hat, diese Forderung zu erheben. »Ein zweitpersonaler Grund ist einer, dessen Gültigkeit von einer vorausgesetzten Autorität und Rechenschaftsbeziehung zwischen Personen und 8 | Vielleicht würde er sich selbst auch in der Weise rational widersprechen, wenn er zum Beispiel – ganz kantianisch – keine Maxime universalisieren könnte, die es gestatteten würde, seinen Fuß auf die Füße anderer zu stellen. Doch dann muss es für uns erstpersonal einsichtig sein, dass wir nur auf diese Weise rational handeln können. Auf diese erstpersonale Herangehensweise bei Kant komme ich in Kapitel 8.1. zu sprechen.

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deshalb von der Möglichkeit abhängt, dass der Grund von Person zu Person adressiert werden kann« (ebd.: 8, Übers. d. Verf.). Nun muss hier offenbar noch einiges mehr im Spiel sein, damit die Forderung von B tatsächlich einen Grund für A ist, seinen Fuß wegzunehmen. Zweifellos muss ich mir selbst Autorität zusprechen, wenn ich eine Forderung erhebe, sonst wäre meine Forderung einfach leer und ich könnte nicht an den Erfolg meiner Forderung glauben. Doch weshalb sollte jemand anderes genau diese Autorität anerkennen? Wie konstituiert sich die Autoritätsbeziehung? Im Falle des Militärbeispiels scheint es relativ klar. Wenn ich dem Militär beitrete, dann habe ich die Autorität des Offiziers durch meinen Akt des Beitritts anerkannt. Seine Befehle geben mir einen Grund, sie auszuführen, weil sie schlicht von ihm stammen. Aber dies ist ein offensichtlicher Fall und hier gibt es einen tatsächlichen Akt der Anerkennung, der für alle Beteiligten nachvollziehbar ist. Aber wie sieht dies mit ganz allgemeinen moralischen Forderungen aus? Darwall versucht, einen irreduziblen Zirkel von zweitpersonalen Ideen aufzuzeigen, welche die Anerkennung des anderen als Person, die moralische Forderungen stellen kann, unvermeidlich macht. Zu diesen Begriffen gehören Autorität, gültige Forderungen, zweitpersonale Gründe, Rechenschaftspflicht beziehungsweise Verantwortlichkeit sowie letztlich auch Würde. Wenn B eine Forderung an A stellt, dann muss er sich selbst die Autorität zuschreiben, diese Forderung stellen zu können. Wenn er eine Forderung an A erhebt, muss er A aber auch für verantwortlich halten, diese Forderung zu erfüllen, und ihm damit auch die Fähigkeit zuschreiben, über sein Handeln Rechenschaft abzulegen. Wenn B nun A für rechenschaftspflichtig hält, dann muss er ihm ebenfalls die Fähigkeit zuschreiben, zweitpersonale Gründe zu adressieren, also Gründe, die kraft einer Autoritätsbeziehung, welche konstituiert wird, Gültigkeit haben. Wenn A die Autorität von B anerkennt, dann ist er auch verpflichtet, der Forderung von B zu folgen. Wenn A denkt, dass er eine Verpflichtung hat, dann akzeptiert er auch die Autoritätsbeziehung, weshalb ihm die Forderung einen zweitpersonalen Grund gibt, sie zu erfüllen. Dies schließt wiederum ein, dass er sich selbst für verantwortlich für seine Taten hält und über sie Rechenschaft ablegen kann, dass er zum Beispiel gegenüber B Gründe nennen kann, weshalb er der Verpflichtung nicht nachkommen konnte. Ebenso ist B rechenschaftspflichtig gegenüber der Forderung, die er stellt. Letztlich erhalten Personen durch die Anerkennung der Autorität, Forderungen zu stellen, auch ihre Würde (ein weiterer wichtiger Begriff, auf den ich gleich noch näher zu sprechen kommen werde). Jeder dieser verschiedenen Begriffe ergibt nur dann Sinn, wenn alle anderen Begriffe ebenso aufgerufen werden (vgl. ebd.: 11ff. sowie 269-276). Dies alles erklärt aber wiederum nur das, was es für jemanden bedeutet, der von einer solchen sozialen Beziehung ausgeht. Hier gibt es immer noch kein kategorisches Argument, dass man einer bestimmten Forderung nach-

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kommen muss. Darwall scheint anzunehmen, dass jede Forderung auch immer beinhalten muss, den anderen in der Weise anzuerkennen, dass dieser ebenfalls legitime Forderungen stellen kann: »Zweitpersonale Gründe setzen nicht nur die Autorität und Kompetenz des Absenders voraus, den Adressaten für die Befolgung verantwortlich zu halten, sondern auch die Autorität und Kompetenz des Adressaten, sich selbst für verantwortlich zu halten« (ebd.: 138, Übers. d. Verf.). Wenn B jedoch eine Forderung an A stellt, dann muss A die Autorität von B erst einmal anerkennen, damit es für ihn ein Grund sein kann, und mir scheint hier immer noch ein Grund zu fehlen, weshalb A dies tun sollte. Die Pointe scheint nun zu sein, dass wir an dieser Stelle wieder einen Grund für A suchen, der nicht selbst bereits moralisch ist. Doch für Darwall kommt es wohl lediglich darauf an, wie überhaupt moralische Beziehungen möglich sind. Jemand, der nicht bereit ist, in irgendeiner Beziehung mit mir zu stehen, in welcher zweitpersonale Gründe adressiert werden können, kann auch nicht Teil einer Gemeinschaft sein, in der bestimmte Forderungen gegeneinander erhoben werden. A muss sich gegenüber B in irgendeiner Weise rechenschaftspflichtig fühlen, muss mitunter anerkannt haben, dass sie in einer bestimmten Beziehung miteinander stehen. Sagen wir im umgekehrten Fall etwa, dass A die Forderung erhebt, auf dem Fuß von B stehen zu können. Wenn er dies fordert, unterstellt er, dass er die Autorität besitzt, dies zu tun. Wenn er sich diese Autorität zuschreibt, ist er jedoch auch rechenschaftspflichtig. Wenn er sich jedoch einfach Autorität zuschreibt, ohne rechenschaftspflichtig zu sein, weil er vielleicht einfach der Stärkste ist, dann hat er nur eine de facto Autorität, nicht jedoch eine de jure, womit nach Darwall gemeint ist, dass seine Autorität immer zweifelhaft und hinterfragbar bleibt, egal was er auch mit seiner Autorität bezwecken mag. Das wäre die Folge davon, wenn die Anerkennungsbeziehung nicht besteht. Ich denke, der Schlüssel zum entsprechenden Verständnis liegt im Begriff der Würde von Darwall. Für ihn hängt die Würde eines Menschen stark davon ab, ob er eine Autorität hat, gültige Forderungen an andere Personen zu richten. Der Grund, weshalb eine bestimmte Handlung unterlassen werden soll, ist der erhobene Anspruch einer Person, die somit über Autorität und damit auch über eine Würde verfügt.9 Würde wird gern als etwas verstanden, was einem als intrinsischer Wert zukommt. Jeder Mensch hat eine Würde, als wäre es ein angeborener Status. Doch genau einen solchen Würde-Begriff hat Darwall nicht. Sie ist weder ein Geschenk Gottes noch ist sie uns von Natur aus mitgegeben. Würde kommt erst dann ins Spiel, wenn Menschen gegenseitig Forderungen erheben und sich aufeinander beziehen (vgl. ebd.: 245). Würde 9 | Hier besteht eine Ähnlichkeit zu der Art und Weise, auf welche Rawls die politischen Bürger als frei begreift, nämlich in der Weise, »dass sie sich als selbstbeglaubigte Quellen gültiger Ansprüche ansehen« (Rawls 2003: 102).

7. Kontraktualistische Motivation

erhält man nicht einfach. Würde wird zugesprochen. Wir nehmen die Autorität und damit unsere eigene Würde immer dann notwendig an, wenn wir uns mit Ansprüchen und Forderungen an andere Personen richten. Damit jemand meine eigene Autorität anerkennt, muss ich ebenso die Autorität desjenigen anerkennen, gegenüber dem ich Forderungen stelle. Würde kann nur reziprok verliehen werden. Rechenschaftspflicht gibt es nur, wenn sie wechselseitig ist. In der Reziprozität (des wie du mir, so ich dir) liegt natürlich ein kontraktualistischer Gedanke. Nur dann werde ich deinen Forderungen nachkommen, wenn du meinen nachkommst. Das ist aber gerade etwas, was die Kategorizität von moralischen Normen geradezu entkräftet, und zwar anders als es Darwall möchte. Wir haben es hier mit einem heteronomen Verständnis zu tun. Die Verpflichtung, die ich habe, moralisch zu handeln, ist hypothetisch und nicht etwa kategorisch, nämlich nur dann, wenn die andere Person ebenso dazu bereit ist, meine Autorität anzuerkennen. Damit gibt es keine Würde qua Menschsein. Würde kann immer nur zugeschrieben werden und ich erhalte sie, insofern ich bereit bin, die Würde des anderen anzuerkennen. Es gibt nichts, was außerhalb dieser sozialen Beziehung wäre. Erhebe ich eine Forderung, ohne gleichsam die Autorität des anderen anzuerkennen, so ist dies vom zweitpersonalen Standpunkt stets zurückzuweisen. Vielleicht kann man dies mit einem Moment von Einsicht betiteln, doch letztlich hängt es doch davon ab, ob man es überhaupt als wertvoll erachtet, mit jemandem in einer bestimmten Beziehung zu stehen. Ich denke, dass hier auch kein Kategorienfehler seitens Darwalls in Bezug auf das Ideal der Übereinkunft vorliegt. Es ist zwar ein wünschenswertes Ideal, aber es ist nicht einfach nur ein drittpersonaler objektiver Wert wie die Vermehrung von Nutzen oder Glück. Stattdessen handelt es sich um einen spezifisch zweitpersonalen Wert, der eine bestimmte zweitpersonale Beziehung zum Gegenstand hat. Eine zweitpersonale Perspektive ist nach Darwall die ideale Fundierung für eine normative Theorie des Kontraktualismus, der besagt, dass ein Prinzip genau dann rechtens ist, wenn diesem jeder davon Betroffene vernünftigerweise zustimmen könnte (vgl. ebd.: 301). Die von Darwall eröffnete Perspektive bietet uns ein besseres Verständnis des Kontraktualismus. Diesem geht es im Kern darum, »wie Personen miteinander in Beziehung stehen sollten« (Kumar 1999: 284, Übers. d. Verf.). Es geht also um die fundamentalen Beziehungen, die wir haben, und nicht um die Beförderung von Wohlergehen, Rechten oder Gleichheit, die man vielleicht ebenfalls für das Ziel von Moralität halten könnte. Nur der Kontraktualismus drückt das aus, was in zweitpersonalen Beziehungen tatsächlich gefordert ist: die Rechtfertigung mit Prinzipien, die allgemein akzeptabel sind. Einander als Personen mit Würde zu begegnen, sie für verantwortlich und uns für rechenschaftspflichtig zu halten, erfordert, in Übereinstimmung mit derjenigen Autoritätsbeziehung zu handeln, die

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vom zweitpersonalen Standpunkt aus akzeptabel ist. Wenn auch die Fundierung auf einem Wert beruht, verpflichtet jener der vernünftigen Übereinkunft dennoch dazu, keine drittpersonalen Gründe als Rechtfertigung anzuführen, wenn es um die Beurteilung von Prinzipien geht, die das Zusammenleben betreffen. Selbstverständlich reicht es nicht, dass wir eine Forderung erheben, der dann Folge geleistet wird. Immerhin könnten zwei Forderungen miteinander kollidieren und seien dies nur die Forderung, dass mein Fuß frei von einem anderen bleibt, und die Forderung, dass ich gern meinen Fuß auf deinen Stellen möchte. Der Inhalt der moralischen Pflichten, die wir uns gegenseitig als moralisch rechenschaftspflichtige schulden, kann in Anbetracht der zweitpersonalen Beziehung nur durch eine Übereinkunft erklärt werden. Genau dadurch achten wir einander als Personen mit Autorität, indem wir Prinzipien entsprechen, die auf kontraktualistische Weise begründet werden. Diese Prinzipien sorgen demzufolge für die Vermittlung von Beziehungen gegenseitiger Achtung der Würde (vgl. Darwall 2006: 301). Eine moralische Forderung basiert stets darauf, dass der Adressat der Forderung in der Lage ist, das entsprechende Prinzip zu akzeptieren oder zurückzuweisen, welches der entsprechenden Forderung zugrunde liegt. Wenn ich nicht gestatte, dass er meine Forderung auch zurückweisen könnte, und sie einfach durchsetze, dann habe ich keine Autorität de jure. Genau dann stehe ich in keinerlei Beziehung der Anerkennung zu meinem Gegenüber und behandle es lediglich als Objekt. Wenn wir eine Forderung vor dem Hintergrund der wechselseitigen Rechenschaftspflicht adressieren, dann schließen wir ein, dass es vertretbare Gründe gibt, welche derjenige, an den sich die Forderung richtet, freiwillig akzeptieren kann. Wenn wir dann im Sinne der Prinzipien handeln, denen jeder vernünftigerweise zustimmen kann, erkennen wir uns als Wesen mit einem entsprechenden Autoritätsstatus an. Kontraktualismus ist also speziell mit dem Bereich zweitpersonaler Beziehungen beschäftigt, welche Darwall ausweist. Dies sind in erster Linie Beziehungen gegenseitiger Rechenschaftspflicht und die Prinzipien des Kontraktualismus drücken genau jene normative Beziehung aus. Sie regeln, was gerechtfertigt gefordert werden kann und was nicht. Nur in dieser Weise ist das Verfahren auszugestalten, da alles andere lediglich eine drittpersonale oder eine erstpersonale Ansprache verlangen würde, die der Interpersonalität moralischer Forderungen jedoch nicht gerecht wird. Auch wenn ich mit Darwall nicht übereinstimme, dass bestimmte Autoritätsbeziehungen durch den zweitpersonalen Standpunkt bereits vorausgesetzt werden müssen, die unabhängig von jeder Art von Werten und Wünschbarkeiten wären, so kann dennoch gesagt werden, dass der Kontraktualismus grundsätzlich auf dieser zweitpersonalen Ebene angesiedelt ist.

7. Kontraktualistische Motivation

7.6. D as F undament der vernünf tigen Ü bereinkunf t Das Ideal der Übereinkunft, sich mit Prinzipien zu rechtfertigen, welche andere vernünftigerweise akzeptieren können, ist das Fundament, von dem aus eine kontraktualistische Überlegung stattfinden kann. Wenn wir also die kontraktualistische Formel heranziehen, wonach Prinzipien genau dann gerechtfertigt sind, wenn sie von allen Betroffenen vernünftigerweise akzeptiert werden könnten, so setzen wir voraus, dass wir uns im Überlegungsprozess Parteien vorstellen, die grundlegend an einer Einigung interessiert sind und die in Einigkeit mit ihren Mitmenschen leben wollen. An dieser Stelle werde ich noch einmal rekapitulieren, wie der praktische Standpunkt als Basis für einen kontraktualistischen Überlegungsprozess dient. Ich habe einige grundlegende Merkmale herausgearbeitet, welche dieser praktische Standpunkt beinhalten muss. Um die Frage zu klären, was wir einander schulden oder was unser Zusammenleben regulieren sollte, sind einige basale empirische Grundannahmen notwendig: (1) Möglichkeit wechselseitiger Beeinflussung, (2) Verschiedenheit von Personen und (3) Endlichkeit. Diese schwachen empirischen Annahmen betreffen lediglich die Grundvoraussetzungen, unter denen es überhaupt zu Problemen bei Forderungen und Ansprüchen aneinander kommen kann. In Bezug auf konkrete Prinzipien können weitere Elemente hinzutreten. Dies hängt vom Rechtfertigungskontext beziehungsweise dem Ziel der Rechtfertigung ab (Kapitel 5.). Darüber hinaus enthält der praktische Standpunkt normative Annahmen. Zum einen basiert die Rechtfertigung gegenüber einem Individuum auf dessen freiwilliger Akzeptanz mit Gründen. Das Individuum ist die letzte Instanz, der wir Rechenschaft schuldig sind. Diese Individuen haben Gründe und sie tun das, wozu sie am meisten Grund haben. Die fundamentale Symmetriebedingung wird durch eine substanzielle These darüber gesichert, was Menschen in Anbetracht moralischer Fragen für Gründe haben. Dazu habe ich eine Form des Denkens ausgebreitet, zu welchem Menschen prinzipiell fähig sind. Die Parteien des kontraktualistischen Überlegungsprozesses werden deshalb als rationale Wesen in dem Sinne vorgestellt, dass sie in der Lage sind, urteilssensitive Einstellungen zu haben, die sie entsprechend ihrer Urteile über Gründe verändern können. Im Gegensatz zu hobbesschen Varianten des Kontraktualismus sind die Parteien nicht nur in der Lage, zweckrational zugunsten ihres eigenen Interesses zu handeln. Es gibt viele verschiedene Gründe, die für oder wider eine Übereinkunft sprechen können. Das, was die Parteien am meisten Grund haben zu tun, ist nicht automatisch das, was ihren eigenen Interessen förderlich ist. Entscheidend ist, dass die Parteien auch zu vernünftigen Überlegungen imstande sind. Dies bedeutet, dass sie die Fähigkeit haben, vor einem geteilten Hintergrund ihre Überlegungen anzustellen. Im Falle der Überlegungen im Kontext der Moral gibt es ein zentrales Ideal,

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welches die Parteien teilen sollen, wenn sie sich mit Fragen des Richtigen und Falschen beschäftigen. Es ist das Ideal, eine Übereinkunft zu erzielen und mit anderen unter Bedingungen zusammenzuleben, welche vernünftigerweise akzeptiert werden könnten. Die Parteien wollen eine Übereinkunft erzielen, damit sie ihr Handeln rechtfertigen können, und sie sind nur bereit, moralische Prinzipien zu finden, wenn alle anderen ebenso motiviert sind. Es sollte nun verständlich sein, dass im Falle der Prinzipienrechtfertigung das Vernünftige eng mit der Motivation verbunden ist. Das Vernünftige verweist auf die Fähigkeit, vor einem bestimmten Hintergrund, der uns prinzipiell zur Verfügung steht, Urteile zu fällen. Im Falle der Moral gibt mir das Ideal der Übereinkunft einen Grund, den ich in den entsprechenden Entscheidungen für und gegen ein Prinzip berücksichtigen muss, wenn ich denn in Fragen der Moral vernünftig sein will. Was genau hat dieses Ideal für Auswirkungen und welche Implikationen zieht es für den Überlegungsprozess nach sich? Scanlon sagt: »Der einzig relevante Druck für eine Übereinkunft kommt von dem Wunsch, Prinzipien zu finden und ihnen zuzustimmen, welche niemand, der diesen Wunsch hätte, vernünftigerweise zurückweisen könnte« (Scanlon 2006: 131f., Übers. d. Verf.). Wie lässt sich dieser Druck verstehen? Was beinhaltet er? Scanlon und andere Kontraktualisten taten sich schwer, eine klare Darstellung dessen zu geben, wie der Prozess eigentlich aussieht, der uns dazu führt, Prinzipien vernünftigerweise zu akzeptieren oder zurückzuweisen. Durch die Konkretisierung des Willens zur Übereinkunft lassen sich aber meiner Auffassung nach anschauliche Rahmenbedingungen einer Übereinkunft aufzeigen. Mit den herausgearbeiteten Elementen kann ein idealer Überlegungsprozess ausgebreitet werden. Welche Merkmale hat eine vorgestellte Verhandlung über Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens, in welcher die Parteien vernünftig sind und über die Motivation verfügen, eine Übereinkunft zu erzielen? Als erstes wird durch das Ideal der Übereinkunft in dem Sinne ein Druck ausgelöst, dass die Parteien nicht aus dem Prozess zum Erlangen von Prinzipien aussteigen können. Denn die Übereinkunft ist gewollt und soll zustande kommen. Wenn wir uns eine Situation vorstellen, in der wir nach einem Prinzip fragen, welches unser Zusammenleben reguliert, dann wäre es unvernünftig, (allein) auf den eigenen Vorteil zu bestehen, denn dann nehme ich in Kauf, dass das Ziel, eine Übereinkunft mit anderen zu erreichen und ihre Akzeptanz zu erhalten, nicht erreicht werden kann. Dies gilt für alle in dieser Weise motivierten Parteien. Es ist demzufolge kein Ausstieg möglich. Es gibt, so gesehen, keine Möglichkeit, in einen Zustand ungeregelter Verhältnisse zurückzukehren. Ich kann mich dann höchstens außerhalb der moralischen Gemeinschaft stellen. Wenn es keine Ausstiegsmöglichkeit gibt (zumindest, wenn ich denn herausfinden möchte, was moralisch geboten ist), so bleibt mir nur, meine Vor-

7. Kontraktualistische Motivation

stellungen so weit anzupassen, dass andere ihnen zustimmen könnten. Da ich selbst alles abweisen kann, was mir auch nur in irgendeiner Weise nicht nutzt oder schadet, und jeder andere ebenfalls alles abweisen kann, was ihm nicht nutzt oder schadet, muss es von beiden Seiten eine Bereitschaft geben, auch Prinzipien zu akzeptieren, die keine optimale persönliche Lösung darstellen. Wenn es einen Einwand gibt, dann muss ein alternatives Prinzip vorgeschlagen werden, welches diesen Einwand nicht beinhaltet. Gibt es kein anderes alternatives Prinzip, welches diesen Einwand nicht enthält, sondern nur noch Prinzipien, die mehr Einwände enthalten, so akzeptiere ich dieses Prinzip vernünftigerweise, weil ich eine Übereinkunft erzielen will. Es muss immer ein Prinzip geben, welches gewählt wird, solange es Betroffene von Handlungen gibt. Dazu zwingt uns der Druck, eine Übereinkunft zu finden. Die Parteien müssen demzufolge bereit sein, alternative Prinzipien zu akzeptieren, die keine optimale Lösung für sie persönlich gestatten. Wenn alle Parteien gegen alles etwas einwenden können, was ihnen schadet oder ihnen nicht nutzt, aber dennoch eine Übereinkunft erreicht werden soll, dann müssen alle bereit sein, von maximalen Forderungen und Ansprüchen abzusehen, wenn andere dies ebenso tun, also ebenfalls motiviert sind, eine Übereinkunft zu erreichen. Um eine vernünftige Übereinkunft zu ermöglichen, muss ich letztlich die Offenheit eines Kompromisses wahren. Meine Bereitschaft zur Übereinkunft geht einher mit der Bereitschaft einer Revision meiner eigenen Interessen und Vorstellungen des Guten. Wenn ich dies nicht in Betracht ziehen würde und diese Bereitschaft beispielsweise ausschließlich von anderen erwarte, so würde ich auch nicht nach einer Übereinkunft suchen, sondern vielleicht lediglich nach der besten Möglichkeit, meine Interessen durchzudrücken, wofür eine Übereinkunft sicher ein mögliches Mittel wäre. Es wäre eine Option unter vielen. Doch die Übereinkunft ist hier selbst das Ziel. Der Kompromiss erweist sich nach einem bestimmten Verständnis eher als der Konsens als der tragende Begriff des Kontraktualismus. Sehr treffend bestimmt Düwell (2011: 416) den Begriff des Kompromisses: »Ein Kompromiss wird sehr bewusst angestrebt und führt zu Entscheidungen, bei denen wir unser Handeln im Hinblick auf Wünsche und Überzeugungen anderer modifizieren«. Bei einem Konsens wiederum »kommen mehrere Akteure hinsichtlich ihrer Überzeugungen überein. Wenn man einen Konsens findet, so haben sich in der Regel zuvor differierende Positionen verändert und sich auf eine gemeinsam tragende Überzeugung verständigt […] Ich verändere meine Position, weil ich mich habe überzeugen lassen.« Auch bei einem Kompromiss kommt es zu einer Veränderung meiner eigenen Position, die für die Kompromissbildung notwendig ist, jedoch »bin ich in diesem Fall bereit, mein Handeln zu modifizieren, wenngleich ich nach wie vor nicht überzeugt bin, dass die modifizierte Verhaltensweise die an sich bessere ist. Ich sehe aber ein, dass es vorzugswürdig ist, wenn alle Parteien ihr Handeln am Kompromiss

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orientieren statt auf Divergenzen zu beharren, die zur Lähmung der Handlungsfähigkeit führen« (ebd.: 417). In diesem Falle ist es vor allem die Lähmung des Verfahrens, wenn es darum geht, eine Übereinkunft zu erzielen. Dies spricht nun auch dagegen, auf einen Rigorismus von Prinzipien zu bestehen. Rechtfertigen wir ein bestimmtes Prinzip, so bedeutet dies nicht, dass dieses unumstößlich ist. Die Rechtfertigung beispielsweise eines unbedingten Lügenverbotes kann allein deshalb nicht unumstößlich sein, weil wir uns eine Situation vorstellen können, in der es durchaus gewichtige Gründe eines Einzelnen geben kann, die uns dazu zwingen, das Lügenverbot aufzuweichen. Da insbesondere kantische Morallehren für einen solchen Rigorismus bekannt sind, spricht Düwell meines Erachtens zu Recht von der »Kompromisslosigkeit der deontologischen Ethik« (ebd.).10 Ein Konsens ist vielleicht an der Basis im Sinne des Ideals der Übereinkunft notwendig, aber dieser entsteht nicht in einem Verfahren. Die Parteien sind von Anfang an in einer bestimmten Weise motiviert und wenn es ein Konsens wäre, so hätte dieser Konsens den Willen zum Kompromiss zum Inhalt. Entscheidend ist, dass Bereitschaft zur Übereinkunft und zum Kompromiss wechselseitig vorgestellt werden. Ist die Bereitschaft nur einseitig vorhanden oder werden ausschließlich eigennützige Ziele verfolgt, so wird die geschlossene Übereinkunft genau diejenige Art von Betrugsvertag annehmen, die von Rousseau kritisiert wird und die sich im modernen hobbesschen Kontraktualismus wiederfindet. In diesem Sinne haben wir es dann nicht mit einer vernünftigen Übereinkunft zu tun, also einer Übereinkunft, die mit der Motivation zur Übereinkunft zustande kommt. Dieses Ideal der Übereinkunft, welches geteilt wird, unterwirft die Parteien im Folgenden einem reziproken Überlegungsprozess im Sinne der Prinzipien, die vernünftigerweise akzeptiert werden können. Reziprozität wird von Rainer Forst folgendermaßen expliziert: Danach gilt, »dass bei der Begründung bzw. Infragestellung einer moralischen Norm (bzw. einer Handlungsweise) niemand bestimmte Ansprüche erheben darf, die er anderen verweigert (Reziprozität der Inhalte), und dass niemand anderen die eigene Perspektive, eigene Wertsetzungen, Überzeugungen, Interessen oder Bedürfnisse einfachhin unterstellen darf (Reziprozität der Gründe), so dass man etwa beanspruchte, im ›eigentlichen‹ Interesse der Anderen zu sprechen oder im Namen einer schlechthin nicht bezweifelbaren Wahrheit, die jenseits der Rechtfertigung stünde« (Forst 2007: 82). Die Übereinkunft 10 | Zwar ist oft versucht worden zu zeigen, dass Kant falsch liegt, ein unbedingtes Lügenverbot zu propagieren, aber ich glaube, dass seine Stoßrichtung, welche sich einzig am formalen Universalisierungskriterium orientiert, prinzipiell in diese Richtung weist und einige heutige Kantianer nicht sehr konsequent in ihrer Haltung diesbezüglich sind. Eine neuere und ausführliche Auseinandersetzung mit dem kantischen Lügenverbot bietet Dietz (2002).

7. Kontraktualistische Motivation

würde genau dann nicht zustande kommen, wenn ich bestimmte Forderungen erhebe, die andere ausschließen oder nicht in gleicher Weise geltend machen dürfen. Eine solche Forderung kann nicht akzeptiert werden, genauso wenig, wie ich in der gedachten Verhandlung darauf bestehen darf, dass meine persönlichen Werte schlechthin die Wahrheit wiedergeben und unbezweifelbar sind. Auch hier verweigert man sich letztlich einer Übereinkunft. Der letzte Punkt der Implikationen des Motivs der Übereinkunft ist die Freiheit von Willkür. Wenn ich eine Übereinkunft erreichen will, kann ich keine Prinzipien durchbringen, welche bestimmte Personen oder Klassen bevorzugen, selbst wenn dadurch niemandem ein Nachteil entstehen würde. Die Vorschläge können keine Eigennamen aufweisen und müssen einen gewissen Allgemeinheitsgrad besitzen.. Nehmen wir an, dass alle Menschen eine Sache X tun müssen, um ein bestimmtes öffentliches Gut aufrechtzuerhalten. Nehmen wir weiter an, ich schlage das Prinzip vor, dass ich die einzige Person bin, die nichts zur Sache X beitragen muss. Meine Freistellung von diesem Beitrag würde niemanden schlechter stellen, da das Gut nach wie vor durch das Wirken aller anderen aufrechterhalten wird. Die Willkür ist dadurch gegeben, dass es keinen entsprechenden Grund gibt, eine Person (womöglich noch mit Eigenname) von einer Regel auszunehmen, von der alle betroffen sind. Alle anderen hätten guten Grund, ein solches Prinzip nicht zu akzeptieren. Es gibt keinen Anlass eine bevorzugte Stellung eines Einzelnen zu akzeptieren, selbst wenn allen anderen dadurch kein direkter Nachteil entsteht. Wir stellen uns die Parteien letztlich in dieser Weise ähnlich motiviert vor, was jedoch nicht bedeutet, dass sie dieselben Zwecke verfolgen, identische Interessen haben oder vielleicht gemeinsame Vorstellungen des Guten teilen. Die anderen sind keine Menschen, die denken wie man selbst oder eine bestimmte Menge an Überzeugungen über das Ideal der Übereinkunft hinaus teilen. Es handelt sich demzufolge um Parteien, die eben nicht in fundamentaler Weise gleich sind. Wir verzichten auf einen Schleier des Nichtwissens oder auf eine pseudoempirische Gleichheit von Personen. Solche Mittel zur Interessenhomogenisierung können beiseitegelassen werden. Die Interessen sind heterogen und müssen dennoch von einer geteilten verfahrensmäßigen Grundlage ausgehen, wenn es darum geht, moralische Prinzipien zu finden. Das Ideal der Übereinkunft ist der basale Wert, der sich von vielen anderen in Priorität und Wichtigkeit unterscheidet, der nicht maximierbar ist und trotz seiner Substanzialität formal genug ist, um nicht auf spezifische Lebenswelten zurückzugreifen, die uns nicht gemeinsam zu eigen sein könnten. Er ist dennoch nicht formal in dem Sinne, dass wir ihn konstitutiv immer schon voraussetzen können oder müssen. Der Kontraktualismus in dieser Ausgestaltung überzeugt keinen Skeptiker und bezichtigt niemanden der Irrationalität, der keine moralischen Prinzipien finden will. Dieser Kontraktualismus lebt davon, dass Moral ohne eine entsprechende Einsicht nicht funktionieren kann.

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Der Kontraktualismus, der sich von der hobbesschen Tradition ablösen will, muss das Vertragsmotiv umdeuten. Wird der Vertrag auf der einen Seite als beste Möglichkeit zur Wahrung und Durchsetzung von Interessen verstanden, so ist die Übereinkunft auf der anderen Seite nicht das Mittel, durch welches Zwecke befördert werden. Die Übereinkunft ist stattdessen selbst der Zweck. Dies ist die fundamentale Trennung, die wir zwischen den zwei großen vertragstheoretischen Traditionen ziehen können.

8. Das Kantische im Kontraktualismus

Bevor ich mit dem praktischen Standpunkt abschließe und darauf auf bauend den kontraktualistischen Überlegungsprozess darstelle, werde ich eine wichtige Klarstellung bezüglich des Verhältnisses von Kant und dem Kontraktualismus herausarbeiten. Man unterscheidet gern, wie eingangs dargestellt, zwischen hobbesschen und kantischen Kontraktualisten. Inwieweit ist der Kontraktualismus tatsächlich kantisch? Während hierzulande der Begriff des Kontraktualismus Kants in erster Linie in Bezug auf seine politischen Schriften Anwendung findet, beispielsweise in der Rede vom »ursprünglichen Vertrag« (AA 8: 297), wie ich in Kapitel 2.4. erläutert habe, so ist es weit weniger verbreitet, Kant in einem umfassenderen moralphilosophischen Sinne als Kontraktualisten zu bezeichnen. Obwohl es durchaus umstritten ist, inwieweit Moralphilosophie und politische Philosophie bei Kant zusammenhängen, glaube ich, dass die Lehre des Vertrags bei Kant seine Kraft ausschließlich aus der Moralphilosophie erhält, wobei ich stellvertretend für andere mit Anton Leist übereinstimme: »Obwohl Kant rein begrifflich am Gedanken eines politischen Vertrags festhält, spielt für ihn ein Vertrag innerhalb eines normativen Arguments keine konstruktive Rolle mehr. Da die Moral bereits unabhängig von einem Gesellschaftsvertrag in der praktischen Vernunft fundiert ist, wird der Vertrag als eine moralische Metapher, und ohne Begründungsabsicht, verwendet. Ein Vertrag muss nicht mehr, auch nicht mehr idealerweise, vollzogen werden, sondern ist im ›moralischen Gesetz‹ bereits vorweggenommen, das auch der Politik gegenüber zur eigentlichen Argumentationsbasis wird. Mit der Rede vom Vertrag zollt Kant nur noch der Tradition einen terminologischen Tribut, wobei aber normativ immer das moralische Gesetz gemeint ist« (Leist 2003: 7, eigene Hervorhebung).

Das moralische Gesetz ist hierbei der kategorische Imperativ. Die Redundanz des Kontraktualismus kann daran abgelesen werden. Die ganze Kraft und das, was in der Vorstellung einer ursprünglichen Übereinkunft Berücksichtigung finden muss, äußern sich nur als Ableitung vom moralischen Gesetz, das nicht

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vertragstheoretisch ist, sondern ein fundamentales rationales Prinzip der Maximen-Verallgemeinerung darstellt. Ich glaube, es lässt sich am leichtesten verdeutlichen, auf welcher Ebene wir den Kontraktualismus bei Kant finden, wenn wir einer sehr schematischen und erhellenden Deutung folgen, welche Onora O’Neill (vgl. 2012: 35) vorgeschlagen hat. Danach gehen der Idee des Gesellschaftsvertrages zwei abstraktere Prinzipien voran. Der Reihe nach sind die Prinzipien folgende: (1) Der kategorische Imperativ ist das oberste Prinzip der praktischen Vernunft. (2) Das allgemeine Prinzip des Rechts ist eine Version des kategorischen Imperativs, welches auf den öffentlichen Bereich beschränkt ist. (3) Die Konzeption des Gesellschaftsvertrags ist ein spezieller Fall des allgemeinen Prinzips des Rechts, welches an bestimmte historische Bedingungen angepasst ist. In der Formel des allgemeinen Gesetzes tritt der kategorische Imperativ in folgender Form auf: Kategorischer Imperativ: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« (AA 4: 421). Der kategorische Imperativ deckt bei Kant alle Arten von moralischen Handlungen ab, äußere und innere beziehungsweise persönliche und öffentliche. Dagegen ist das allgemeine Prinzip des Rechts eingeschränkter und spezieller. Allgemeines Prinzip des Rechts: »Eine jede Handlung ist Recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann« (AA 6: 230). Dieses Prinzip ist dadurch beschränkt, dass es sich nur auf äußere Handlungen bezieht, was bedeutet, dass diese Handlungen auch erzwungen werden können. Es beschäftigt sich mit der Strukturierung unserer externen Freiheit und mit Maximen, welche nicht Pflichten gegenüber uns selbst oder persönliche Tugenden betreffen. Nun ist dieses Prinzip aber immer noch sehr abstrakt und kann auf vielerlei Art erfüllt werden. In unserer Welt werden jedoch Zwangsmaßnahmen benötigt, um das universale Prinzip des Rechts zu sichern. Ohne ein System von Gesetzen werden wir unweigerlich die externe Freiheit des anderen berühren. Das allgemeine Prinzip des Rechts im Verbund mit Zwangsmaßnahmen ist die Grundlage für Kants Version des Gesellschaftsvertrages. Diese Idee ist weniger abstrakt, da sie auch die historischen Umstände des menschlichen Lebens berücksichtigt. O’Neill meint, es sei sinnvoll, diese bei-

8. Das Kantische im Kontraktualismus

den Prinzipien auseinanderzuhalten, denn das allgemeine Prinzip des Rechts »kann Zwangsmaßnahmen erfordern oder nicht« (O’Neill 2012: 37, Übers. d. Verf.). Keinerlei Zwangsmaßnahmen wären dann notwendig, wenn Individuen nie dazu neigen würden, anderen Personen Unrecht zu tun. Doch wir sind keine perfekten Altruisten oder perfekte Anwender des moralischen Gesetzes. Unter solchen Bedingungen kann das allgemeine Prinzip des Rechts nur dann realisiert werden, wenn wir die Idee des Gesellschaftsvertrages heranziehen, sodass nur diejenigen Strukturen angemessen für uns sind, die der Idee nach aus einer allgemeinen Zustimmung erfolgen könnten. Da Kant nun seine Idee des Gesellschaftsvertrages als speziellen Fall des allgemeinen Prinzips des Rechts sieht und dieser wiederum ein spezieller Fall des kategorischen Imperativs ist, schlussfolgert O’Neill, gebe es nichts, was fundamental an der kantischen Idee des Gesellschaftsvertrages sei, denn der kategorische Imperativ baue nicht auf irgendeiner Idee der Übereinkunft auf, weder hypothetisch noch tatsächlich. Kontraktualisten im umfassenden Sinne wollen gerade auf der Ebene des kategorischen Imperativs ein kontraktualistisches Prinzip setzen. Für sie gibt es einen »moralischen Kontraktualismus« und einen daraus abgeleiteten »politischen Kontraktualismus«. Ersterer befasst sich mit den Pflichten, die wir gegeneinander haben, und den Rechten, die wir voreinander geltend machen, während letzterer sich mit der spezifischen Ausgestaltung von Institutionen beschäftigt, die diese Pflichten und Rechte wahren können.1 Der politische Kontraktualismus ist somit einem moralischen Kontraktualismus nachgeordnet, aber sie sind natürlich eng verbunden. Eine Reihe von Kontraktualisten hat Kant in diesem Sinne als Inspiration für eine kontraktualistische Theorie der Moral zu verwenden versucht. Scanlon sieht seine kontraktualistische Formel, wonach Falschheit durch das bestimmt wird, was vernünftigerweise zurückgewiesen werden kann, auf einer Ebene mit dem kategorischen Imperativ (vgl. Scanlon 1998: 5-6). Den Hauptunterschied sieht er darin, dass Kant versucht, moralische Anforderungen in der Rationalität zu fundieren. Dagegen sieht Scanlon die Autorität des Richtigen und Falschen in dem verborgen, was unsere sozialen Beziehungen ausmachen, und dies ist das, was ich als Ideal der Übereinkunft versucht habe zu 1 | Ähnliche Auffassungen vertritt Forst, wenn er zwischen einem moralischen und einem politischen Konstruktivismus unterscheidet. Ich selbst habe den Kontraktualismus als solchen verstanden, der eine bestimmte Form des Konstruktivismus betrifft: »Die Prinzipien und Rechte, die Ergebnisse des moralischen Konstruktivismus sind, bilden den normativen Kern dessen, was ich politischen Konstruktivismus nenne […]. Damit ist die kollektive und diskursive ›Konstruktion‹ und Errichtung einer gesellschaftlichen Grundstruktur für eine politische Gemeinschaft – ob einzelstaatlich oder auch über die Grenzen hinaus – gemeint.« (Forst 2007: 15)

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präzisieren – die Rechtfertigung gegenüber anderen auf eine Weise, welche diese vernünftigerweise akzeptieren könnten. Rawls nimmt eine »Kantische Deutung der Gerechtigkeit als Fairness« vor und hält seinen Urzustand für eine »verfahrensmäßige Deutung von Kants Begriff der Autonomie und des Kategorischen Imperativs« (Rawls 1979: 289). Derek Parfit deutete Kants Formel des allgemeinen Gesetzes in eine kontraktualistische Formel um: »Jeder soll den Prinzipien folgen, deren universale Akzeptanz jeder rationalerweise wollen […] könnte« (Parfit 2011: 289, Übers. d. Verf.). Für Darwall stehen die kantischen Ideen »am klarsten hinter dem Kontraktualismus« (Darwall 2006: 305, Übers. d. Verf.) und in diesem drücken sie sich am besten aus, auch wenn Kant die spezifische zweitpersonale Dimension von Moral übersieht, wie Darwall ihm vorwirft. Sie alle teilen einen Skeptizismus darüber, wie das oberste Moralgesetz seine Grundlegung bei Kant erfährt. Im Scheitern dieses Projekts müssen wir nach einer plausibleren kontraktualistischen Lösung suchen, so die Schlussfolgerung. Ich bin der Meinung, dass es zutrifft, dass der Kontraktualismus in Anbetracht der Tatsache redundant wird, dass er von höheren Ideen abgeleitet ist. Es mag ein breites Feld der Interpretation sein, doch ich persönlich halte es im Anschluss an Leist und O’Neill nicht für stichhaltig, dass Kants Schriften einen Kontraktualismus in fundamentaler Weise enthalten. Wir sollten die Rede vom »kantischen« Kontraktualismus in der Weise verstehen, dass Kant wichtige Anregungen gab, die einen Kontraktualismus inspirierten, doch dann handelt es sich um eine spezifische Umdeutung (vielleicht auch Verbesserung?) seiner Ideen. Heute spielt sich gerade um die Kant-Interpretation eine Debatte ab, in welcher »erstpersonaler Internalismus« und »zweitpersonaler Kontraktualismus« (Pauer-Studer 2013) die Kontrahenten bilden, wobei beispielsweise Christine Korsgaard zu ersteren gehört. Ihre Konzeption habe ich bereits in Teilen innerhalb der konstruktivistischen Grundlagen vom Kontraktualismus abgegrenzt (Kapitel 4.5.). Im Folgenden werde ich versuchen, die verschiedenen kontraktualistischen Kant-Deutungen zu betrachten, um zu sehen, wo sich die Kritik an Kant festmacht und welche Alternativen die entsprechenden modernen Kontraktualisten anbieten. Die Kritik umfasst vor allem die Autorität des kategorischen Imperativs. Die Kontraktualisten glauben nicht, dass es eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Moralgesetz und der Autonomie gibt. Wenn dies nicht so ist, dann brauchen wir entweder einen spezifisch zweitpersonalen Standpunkt oder einen plausiblen Wert, der uns zu einem obersten Moralprinzip führt. Als erstes werde ich die spezifische Argumentation erläutern, welche Stephen Darwall gegen Kant und moderne Kant-Interpreten anbringt, die entweder ein moralisches Gesetz aus der Autonomie ableiten wollen oder einen erstpersonalen Standpunkt bezüglich normativer Forderungen einnehmen (Kapitel 8.1.). Als nächstes möchte ich zeigen, wie Rawls seine eigene kontrak-

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tualistische Kant-Deutung versteht und wo er sich von Kant abzusetzen gedenkt (Kapitel 8.2.). Zuletzt möchte ich noch einmal auf die Unterscheidung zurückkommen, die ich bereits in den Kapiteln 4.4. bis 4.6. angesprochen habe. Danach lassen sich Gründe entweder als konstruiert (kantische Position) oder nicht-konstruiert (kontraktualistische Position) betrachten. Thomas Scanlon hat mit diesem Unterschied eindrucksvoll gezeigt, inwieweit der Kontraktualismus in kantischer Tradition sich von Kant selbst und damit einhergehend auch von anderen deontologischen Theorien abgrenzt und eine Eigenständigkeit wahrt (Kapitel 8.3.).

8.1. D arwalls kontr ak tualistische K ant-I nterpre tation Stephen Darwall bietet eine recht eigenwillige Kant-Interpretation an. Er gibt der Herleitung des kategorischen Imperativs eine spezifische zweitpersonale Wendung, indem er sagt, dass Autonomie keinesfalls ausreiche, um die Normativität der Moral zu begründen, sondern dass immer noch eine Forderung anderer Personen an das handelnde und denkende Individuum herangetragen werden müsse.2 Zu Beginn will ich erläutern, welche Position Kant vertritt und wie sie von heutigen Kant-Interpreten verteidigt wird. Wird die Argumentation in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten betrachtet, dann lässt sich der kategorische Imperativ aus dem freien Willen des Subjekts begründen. Wann können wir uns als freiheitliche Individuen verstehen? Die Autonomie des Willens ist, so die kantische These, nur dann möglich, wenn sich der freie Wille selbst ein Gesetz geben kann: »Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist. Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen, als so, dass die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien« (AA 4: 440). 2 | Interessanterweise beruft sich Darwall dabei auf Fichte. Möglicherweise ließe sich das, was heute unter kantischem Kontraktualismus verstanden wird, viel eher als fichtescher Kontraktualismus bezeichnen, doch dies würde eine noch genauere ideengeschichtliche Deutung erfordern, welche Fichte mit dem heutigen Kontraktualismus in Beziehung setzt. Klassischerweise gelten immer noch Kant und Rousseau als Referenzpunkte. Zu dieser Deutung jedoch auch Darwall (2006: 20-22). Da am ehesten bei Rousseau eine substanzielle motivationale Komponente zu finden ist, wie ich sie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt habe (Kapitel 2.4.), so wäre »rousseauischer Kontraktualismus« sicher eher für eine Typisierung geeignet oder man spricht in umfangreicher Abgrenzung zu Hobbes von »rousseauisch-kantischem Kontraktualismus«, wie ich es in dieser Arbeit häufig getan habe.

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Danach enthält Autonomie das allgemeine Gesetz und das allgemeine Gesetz enthält die Autonomie. Dieses Gesetz wird rein formal bestimmt. Der kategorische Imperativ weist die Form der Allgemeinheit auf, denn dieses Gesetz kann keinesfalls auf substanzielle Bestimmungen zurückgreifen, da dann der Wille nicht autonom wäre. Insbesondere Christine Korsgaard knüpft heute an die Grundlegung an. Sie misst der Bestätigung des rationalen Subjekts von einem (wie Darwall sagen würde) erstpersonalen Standpunkt primäre Bedeutung zu und genau dieser Fokus auf den erstpersonalen Standpunkt bringt Korsgaard dazu, den kategorischen Imperativ zur unausweichlichen Bedingung für die Konstituierung des autonomen Subjekts zu machen. Der kategorische Imperativ ist nach ihr ein fundamentales Prinzip der praktischen Vernunft und notwendig, um überhaupt ein autonomes handelndes Wesen zu sein. Genau in dieser Weise autonom zu sein, sich selbst ein allgemeines Gesetz zu geben, sei unverzichtbar, um überhaupt Gründe für etwas zu haben.3 Dies ist vielleicht nicht ganz einfach zu verstehen und tatsächlich (wie so vieles in der reichen Kant-Interpretation) nicht unumstritten. Korsgaard hält im Grunde sehr streng an Kants Argument aus der Grundlegung fest. Konkret geht es um die Argumentation für die Deduktion des kategorischen Imperativs (3. Abschnitt der Grundlegung). Danach muss sich ein autonomer Wille selbst ein Gesetz geben und danach handeln. Der kategorische Imperativ ist ein solches Gesetz. Es gibt nicht wenige, die sagen, dass dies aber nur zu einer einzigen Formulierung führen würde, nämlich der Grundformel: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« (AA 4: 421). Dies ist jedoch lediglich ein formaler Imperativ, der uns noch nichts über den Inhalt der Maximen sagt, die wir eventuell wählen könnten. Nur die Gesetzesförmigkeit wird vorausgesetzt: »Seine einzige Einschränkung unserer Wahl ist jene, dass sie die Form eines Gesetzes annehmen muss. Und nichts bestimmt, was dieses Gesetz sein muss. Alles, was es sein muss, ist ein Gesetz« (Korsgaard 1996a: 98, Hervorhebung im Original, Übers. d. Verf.). Abgesehen von dieser rein formalen Bestimmung brauchen wir einen normativen Inhalt, damit wir ein Kriterium dafür erhalten, was eine unmoralische von einer moralischen Handlung unterscheidet. Eine breite Linie der Kant-Kritik bezieht sich darauf, dass der kategorische Imperativ zu einem leeren Formalismus führt. Korsgaard sieht den kategorischen Imperativ ebenfalls nicht als einen Grundsatz, der diesen Inhalt hervorbringt. Demzufolge unterscheidet sie klar zwischen zwei Formulierungen, einmal der Formulierung des universalen Gesetzes als formales Prinzip des freien Willens und der substanziellen Formulierung der Selbstzweck-Formel. Korsgaard versucht hier, ein Stück weit Klarheit zu schaffen, denn bei Kant bleibt die Verbindung

3 | Siehe dazu die Diskussion um die Konstruktion von Gründen in Kapitel 4.5.

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zwischen der formalen Gesetzes-Formel und der substanziellen SelbstzweckFormel problematisch. Letztere besagt: Selbstzweck-Formel des Kategorischen Imperativs: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest« (AA 4: 429). Die Gesetzes-Formel kann ich vielleicht noch kraft meiner Autonomie ableiten, doch weshalb sollte mich dies unmittelbar auch dazu verpflichten, andere nicht bloß als Mittel zu behandeln? Kant bleibt darin vage: Hier scheint es einen Bezug zu anderen Personen zu geben, der in dieser Weise nicht aus der ersten Formel allein ableitbar ist. Korsgaard sieht dieses Problem und hat dafür auch eine spezifische Lösung parat, die in etwa folgendermaßen aussieht: Wir schreiben uns selbst in bestimmter Weise einen Wert zu. Nur wenn wir uns selbst für etwas Wertvolles halten, also für einen Zweck an sich und für Personen, die nicht als Mittel behandelt werden sollen, dann können wir uns als vernünftige Wesen verstehen, die Gründe haben und selbst Zwecke verfolgen. Das eine ist eine Voraussetzung für das andere: »Es ist ein Grund, der unserer Menschlichkeit selbst entspringt, einfach aus unserer Identität als ein menschliches, ein reflektierendes Tier, welches Gründe braucht, um zu handeln und zu leben« (Korsgaard 1996a: 121, Übers. d. Verf.). Der Wert der Menschlichkeit, den wir uns selbst zuschreiben, sorgt dafür, dass wir uns immer als Zweck und nie nur als Mittel sehen. Der entscheidende Schritt muss nun darin bestehen, mir nicht nur selbst diesen Zweck-an-sich-Status zuzuschreiben, sondern auch anderen. Das deutet sich auch bei Kant an, der den folgenden Satz für ein Postulat hält, welches jedoch durch seine Deduktion des kategorischen Imperativs bestätigt werden soll: »So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor; sofern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein, zufolge eben desselben Vernunftgrundes, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip, woraus, als einem obersten praktischen Grunde, alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können« (AA 4: 429). Korsgaard versucht, diesen Schritt zur Selbstzweck-Formel durch die sogenannte »Publizität der Gründe« zu ermöglichen. Ein Grund beschränke sich nicht auf ein bestimmtes Selbst, sondern immer dann, wenn ich Grund habe, mir selbst einen Wert zuzuschreiben, dann habe ich gleichermaßen Grund, andere ebenso als Zweck an sich zu behandeln: »Da ich meine eigene Menschlichkeit als Quelle von Wert betrachte, muss ich im Namen der Konsistenz auch deine Menschlichkeit in dieser Weise betrachten« (Korsgaard 1996a: 133, Übers. d. Verf.). Dies setzt natürlich voraus, dass Gründe tatsächlich diese Publizität haben und nicht privater oder rein relativer

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Natur sind. Doch nach dieser Argumentation kann ich gar nicht anders, als den anderen als Zweck an sich anzusehen, wenn ich selbst ebenso ein Zweck an sich bin. Doch auch hier haben wir es eher mit einem Postulat zu tun. Ich sehe auch bei Korsgaard kein stichhaltiges Argument, welches uns dazu bringen sollte, automatisch und unbedingt von der Publizität der Gründe auszugehen. Zwar mag es eine Bedingung für unser praktisches Denken sein, uns selbst Wert zuzuschreiben, aber nichts deutet darauf hin, nicht genauso konsequent aus einer erstpersonalen Perspektive dem anderen in seiner Fähigkeit zum praktischen Denken zu misstrauen. Kant selbst nennt die entsprechende Passage ein Postulat, das von den Gründen abhängt, die er im dritten Abschnitt der Grundlegung liefern werde. Es sei also wiederum davon abhängig, ob sich der kategorische Imperativ deduzieren ließe. Im Übrigen denkt Kant, die Selbstzweck-Formel und andere Formulierungen des kategorischen Imperativs seien äquivalent (vgl. AA 4: 436). Allein dies ist bereits ein Problem für die korsgaardsche Deutung, da sie die substanzielle Zweck-an-sich-Formel aus der Universalisierungsformel hervorgehen lässt. Darwall zeigt nun, dass diese gesamte Argumentation von Korsgaard auf wackligen Füßen steht, denn dieses Argument hat bereits zur Voraussetzung, dass der anfängliche Schritt vom freien Willen zur Moral korrekt ist, dass also ein autonomer Wille sich ein Gesetz gibt – nämlich den kategorischen Imperativ. Stattdessen müssen wir bereits bei diesem Schritt ansetzen und zeigen, dass hier eine Position vorliegt, die revidiert werden muss.4 Nach Kants ambitioniertem Projekt gibt es eine enge Verbindung zwischen der Moral und der Vorstellung von Autonomie. Für Kant besteht eine Pflicht zum kategorischen Imperativ für jedes Subjekt, welches sich für autonom und rational hält und entsprechend handeln will. Darwall verabschiedet nun diese Pflicht, denn einzig aus der Perspektive eines einzelnen Subjekts kann es keine Pflicht zu einem moralischen Handeln geben, »da nichts im bloßen Unternehmen des Handelns nach Gründen eine nachdenkende Person, erstpersonal, zur Autonomie verpflichtet, wie Kant sie definiert« (Darwall 2006: 214, Übers. d. Verf.). Damit ist die kantische Auffassung gemeint, autonom dadurch zu sein, dass ich mir selbst ein Gesetz gebe. Aus der Perspektive des Einzelnen kann man sich vielleicht verpflichten, man muss aber nicht. Autonom und rational handelnd kann ich auch sein, ohne dem kategorischen Imperativ verpflichtet zu sein. Wenn ich meine Handlungen in bestimmter Hinsicht plane, wenn ich 4 | Ähnlich hat dies Kant selbst auch getan beim Übergang von der Grundlegung zur Kritik der praktischen Vernunft. Das im letzteren Werk eingeführte »Faktum der Vernunft«, enthalte nach Darwall und vielen anderen Interpreten eine schlüssigere Begründung des kategorischen Imperativs. Doch auch dies würde bei Kant nicht ganz ohne die Perspektive einer wechselseitigen Rechenschaftspflicht funktionieren, also letztlich nicht ohne die von Darwall ausgearbeitete zweitpersonale Perspektive.

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meine Interessen ordne und sie gewichte, wenn ich mich für etwas entscheide oder nicht entscheide, dann steckt darin nichts, was dazu Anlass geben würde, andere Menschen und mein Handeln ihnen gegenüber zu berücksichtigen oder sie gar als einen Zweck an sich anzuerkennen. Darwall behauptet nun erst einmal schlicht nichts weiter, als dass es nicht möglich sei, aus der rein inneren (oder auch erstpersonalen) Perspektive die zwingende Verbindung zwischen kategorischem Imperativ und Autonomie nachzuweisen. Der freie Wille könne sich auch ein anderes Gesetz geben und das Subjekt wahre seinen Status als autonom auch ohne den kategorischen Imperativ. Dieser bleibe nur eine Möglichkeit. Aber die Verbindung zwischen Autonomie und Moral ließe sich vielleicht zeigen, wenn wir die zweitpersonale Perspektive einnehmen. Wenn wir die zweitpersonale Perspektive einnehmen, dann sehen wir Folgendes: Erst wenn die Forderungen oder Ansprüche einer Person an eine andere adressiert werden, also erst wenn wir mit anderen und ihren Forderungen konfrontiert sind, kann überhaupt von Autonomie die Rede sein. Denn genau jene Autonomie des Willens müssen wir in der Reaktion auf Forderungen und auch selbst im Stellen solcher Forderungen als Prämisse notwendig voraussetzen: »Wenn wir jedoch jemanden zweitpersonal als Person auffordern, setzen wir gemeinsam die Autonomie des Willens voraus und nehmen an, dass wir uns freiheitlich durch zweitpersonale Gründe selbstbestimmen können« (ebd.: 290, Übers. d. Verf.). Denn nur Autonomie gestattet es, mir zu widersprechen, zuzustimmen oder mich überhaupt in bestimmter Weise gegenüber anderen Forderungen und Ansprüchen zu verhalten. Moral wird geboren aus der wechselseitig anerkannten Autonomie, die uns dann zu entsprechenden Regularien unseres Handelns führt. Das grundlegende Argument gegen Kant seitens Darwall lautet, »dass das moralische Gesetz nicht in den allgemeinen Bedingungen begründet sein kann, die jede Form des Denkens voraussetzen muss« (Darwall 2009: 177). Aus einer rein erstpersonalen Perspektive sei es nicht möglich, den kategorischen Imperativ zu begründen und beispielsweise konsequentialistische Überlegungen auszuschließen. Erst durch die zweitpersonale Achtung der moralischen Forderungen und Ansprüche anderer werden solche Möglichkeiten ausgeschlossen. Wir können stattdessen sagen, dass die Art der Überlegungen, die wir mit dem kategorischen Imperativ anstellen, Teil einer zweitpersonalen Kompetenz ist. Dies ist eine Kompetenz, die wir im Umgang miteinander haben, sodass wir vielleicht jemanden als Zweck an sich betrachten (vgl. Darwall 2006: 241). Es ist eine Interpretation dessen, was wir von jemandem erwarten und damit bei ihm voraussetzen, wenn wir ihn verantwortlich und rechenschaftspflichtig für sein Handeln halten. Dass wir einen Menschen anerkennen können und mit ihm somit in einer Autoritätsbeziehung stehen, welche Forderungen gestattet, macht es notwendig, Verfahren dieser Art anzuwenden. Fundamental ist nach Darwall diese zweitpersonale Autoritätsbeziehung. Das bedeutet im

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Übrigen nicht, dass wir in irgendeiner Weise dialogisch verfahren müssen. Wir können das Verfahren auch hypothetisch und monologisch ausbuchstabieren, denn weder müssen die entsprechenden Forderungen tatsächlich von einer Person erhoben werden noch müssen die Ansprüche einer Person tatsächlich geltend gemacht worden sein. Dass eine Person beispielsweise über ein entsprechendes Recht verfügt, dass ihr kein Schaden zugefügt werden darf, folgt allein aus der Tatsache, dass in Anbetracht der zur Verfügung stehenden Gründe diese Forderung vernünftigerweise akzeptiert werden kann.5 Darwall hält dann auch die Selbstzweck-Formel des kategorischen Imperativs für die entscheidende, denn sie sagt uns, dass Menschen von ihrer Natur aus so etwas wie eine Würde haben. Genau diese wird verletzt, wenn man Personen nur als Mittel benutzt. Dies ist genau dann der Fall, wenn man nicht zugesteht, dass sich die entsprechende Person in einer Autoritätsbeziehung mit einem selbst befindet, die dazu berechtigt, legitime Forderungen zu erheben. Diese Selbstzweck-Formel ist eng verbunden mit der »Reich der Zwecke«-Formel: »Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.« (AA 4: 438). Kant sagt weiter: »Ich verstehe […] unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze« (AA 4: 433, Hervorhebung im Original). Der Kontraktualismus ist nach Darwall eine Interpretation dieser fundamentalen kantischen Lehre. Darwall hält sie gleichsam für die »klarste kontraktualistische Version« (Darwall 2006: 309, Übers. d. Verf.) des kategorischen Imperativs. Wir erhalten das Reich der Zwecke als eine Gemeinschaft von freien, gleichen und rationalen Personen, die sich als gegenseitig rechenschaftspflichtig betrachten sowie verantwortlich sind für die Forderungen, die sie aneinander stellen. Eine Person kann deshalb nur dann spezifische Forderungen an eine andere stellen, wenn sie gewahr ist, dass jeder andere die Forderung vernünftigerweise akzeptieren würde. 5 | Genauso wie Kant betrachten Kontraktualisten ihr Rechtfertigungsverfahren als monologisch im Gegensatz zur Diskursethik nach Habermas. Dieser hatte bezüglich Scanlons Kontraktualismus eingewandt, dass sich diese Konzeption nur dialogisch verstehen lasse im Sinne real stattfindender Diskurse (vgl. Habermas 1991: 57). Scanlon sagt als Entgegnung, dass »eine Schlussfolgerung über richtig und falsch, ein Urteil darüber einschließt, was andere nicht vernünftigerweise zurückweisen könnten. Dies ist ein Urteil, welches jeder für sich selbst treffen muss. Die Übereinkunft mit anderen, erreicht durch einen tatsächlichen Diskurs, ist nicht erforderlich und wenn er vorkommt, kann er die Sache nicht beilegen. In dieser Hinsicht mag mein Ansatz in seinen Begriffen ›monologisch‹ bleiben« (Scanlon 1998: 393f., Fn. 5, eigene Hervorhebung, Übers. d. Verf.). Dies ist ein gewichtiger Unterschied zur Diskursethik, auf den ich an dieser Stelle aber nicht mehr eingehen kann.

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8.2. D ie k antische D eutung durch R awls Der Anspruch Kants, den engen Zusammenhang zwischen Moral und Autonomie dargelegt zu haben, wird auch von Rawls in Zweifel gezogen. Die Vorstellung, man handle autonom oder drücke seine eigene Freiheit aus, indem man übereinstimmend mit dem moralischen Gesetz handelt, sei deshalb problematisch, weil man ebenso zeigen könne, dass auch die widerspruchsfreien Grundsätze eines Schurken als autonom aufgefasst werden könnten. Rawls lehnt sich in seiner Interpretation eng an eine Darstellung von Henry Sidgwick an, wonach das autonome Subjekt im Grunde diverse widerspruchsfreie Prinzipien wählen kann und seine Entschlüsse dann immer noch diejenigen eines autonomen Subjekts sein können (vgl. Sidgwick 1909: 298).6 Die kantische Antwort müsste nun lauten, dass dies zwar eine autonome Entscheidung sein kann, aber diese Entscheidung nicht die eigene Autonomie ausdrückt. Auf diesen Unterschied legt Rawls sehr viel Wert. Es besteht damit ein Unterschied zwischen der Wahl eines Grundsatzes aus der eigenen Autonomie und der Wahl eines Grundsatzes, welcher diese Autonomie zum Ausdruck bringt. Nehmen wir an, wir entscheiden uns autonom und ohne Druck und Zwang für das Eintreten in die Sklaverei. Die Entscheidung selbst mag als eine selbst getroffene gelten, aber sie drückt eben nicht unser Wesen als autonome Person aus: »Verwirklicht also jemand sein eigentliches Ich in seinen Handlungen, und ist das sein oberster Wunsch, dann wird er nach Grundsätzen handeln, die seine wahre Natur als freies und gleiches Vernunftwesen ausdrücken« (Rawls 1979: 287). Nach Rawls gibt es hier nun eine Lücke in der Argumentation, wenn Kant das moralische Gesetz notwendig als das aufweisen möchte, was die Natur eines autonomen Wesens ausdrückt. Kant zeige eben nicht, »dass das Handeln gemäß dem moralischen Gesetz unsere Natur auf eine angebbare Weise ausdrücke, was das Handeln nach anderen Grundsätzen nicht tue« (ebd.). Genau an dieser Stelle möchte Rawls mit dem Urzustand ansetzen und mit ihm zeigen, welche Grundsätze von freien und gleichen vernünftigen Menschen gewählt werden würden. Die Behauptung ist nun folgende: Das freie Subjekt kann jede Art von Prinzip frei wählen, solange es eine bestimmte Disposition in Form eines höherstehenden Wunsches hat: »Die Parteien als intelligible Personen haben völlige Freiheit, beliebige Grundsätze zu wählen, aber sie möchten [im Englischen noch treffender: »have the desire«, A.O.] auch mit eben dieser Wahlfreiheit ihre Natur als vernünftige und gleiche Mitglieder des intelligiblen Reiches ausdrücken, d.h. als Wesen, die die Welt so betrachten und das in ihrem Leben als Mitglieder der Gesellschaft ausdrücken können«. 6 | Zur Problematik dieser Interpretation von Sidgwick – und wie sie von Rawls aufgenommen wurde – siehe auch Dierksmeier (2004: 1299-1304).

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Außerdem fügt Rawls an: »Recht verstanden, leitet sich also der Wunsch, gerecht zu handeln, von dem Wunsch her, möglichst vollständig das auszudrücken, was wir sind oder sein können, nämlich freie und gleiche vernünftige Wesen mit Wahlfreiheit« (ebd.: 288). Anstatt von der unmittelbaren Verknüpfung von Autonomie und moralischem Gesetz auszugehen, fügt Rawls ein substanzielles Element hinzu, welches sich in dem entsprechenden Wunsch äußert. Ich selbst würde diesen Wunsch schwächer formulieren, indem wir nämlich Wesen mit Wahlfreiheit sind, die mit anderen unter Bedingungen leben wollen, die vor jedem so rechtfertigbar sind, dass sie akzeptiert werden könnten. Dies wäre der Wunsch nach Übereinkunft. Wie wirkt sich dies nun auf die Konzeption von Rawls aus? Der Urzustand stellt nach Rawls eine »verfahrensmäßige Deutung von Kants Begriff der Autonomie und des Kategorischen Imperativs im Rahmen einer empirischen Theorie« (ebd.: 289) dar. Eine spezifische Rolle kommt dabei dem Schleier des Nichtwissens zu. Alles, was nach Kant auf ein heteronomes Handeln hinauslaufen würde, also auf ein Handeln aus Neigungen, ist in Rawls Urzustand durch den Schleier des Nichtwissens ausgeblendet, wodurch niemand Kenntnis hat über seinen gesellschaftlichen Status, seine natürlichen Talente oder die spezifischen Eigenheiten der Gesellschaft, in der er leben wird. Die Idee des Schleiers des Nichtwissens sei indirekt in der Idee des kategorischen Imperativs enthalten (vgl. ebd.: 159f., Fn. 11), denn wir dürfen, um herauszufinden, was als allgemeines Gesetz gelten kann, die eigene Stellung innerhalb des durch dieses Gesetz geregelten Systems nicht kennen oder zumindest müssen wir alle Aspekte beiseitelassen, die dieser Allgemeinheit nicht entsprechen. Der Schleier des Nichtwissens repräsentiert, wie Rawls in seiner späteren Arbeit dann noch genauer aufführt, das Vernünftige im Gegensatz zum Rationalen. Wir erinnern uns, dass vernünftige Personen bei Rawls »bereit sind, Grundsätze und Standards als faire Kooperationsbedingungen vorzuschlagen und ihnen freiwillig zu folgen, wenn sie sicher sein dürfen, dass andere ebenso handeln werden. Von diesen Normen glauben sie, dass sie für jeden vernünftigerweise akzeptabel sind und dass sie sich allen gegenüber rechtfertigen lassen« (Rawls 2003: 121). Der Urzustand hat demzufolge ein Element an sich, welches genau für diese fairen Bedingungen sorgt. Dieses ist wiederum unmittelbar mit dem Gerechtigkeitssinn verbunden, welchen Rawls als ein moralisches Vermögen von Bürgern versteht. Der Gerechtigkeitssinn wiederum verwirklicht sich »in dem maßgebenden Wunsch, nach gewissen Grundsätzen des Rechten zu handeln« (Rawls 1979: 608). Bei Rawls hat dieser Wunsch im Urzustand bei der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze einen merkwürdigen Platz. Nicht die Parteien im Urzustand haben diesen Wunsch, sondern wir, die wir als reale Moralbeurteiler uns in die Lage des Urzustands hineinversetzen, müssten diesen Wunsch eigentlich haben. Der Wunsch, so könnte man sagen, ist die Basis, auf welcher der Ur-

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zustand überhaupt aufgebaut werden muss als ein genuin praktischer Standpunkt, von dem aus eine Einigung auf bestimmte Gerechtigkeitsprinzipien erfolgen soll. Nun ist dieser Wunsch bei Rawls erst einmal ohne weitere Ableitungen eingeführt. Am ehesten kann man ihn als eine Rekonstruktion unseres Selbstverständnisses als rechtfertigende Wesen verstehen, doch hier musste sich Rawls in der Tat den Vorwurf gefallen lassen, selbst eine Art von willkürlicher Setzung vorgenommen zu haben, die sich gerade nicht empirisch klären lässt.7 Später hat er den Wunsch kontextualisiert. Er spricht nun von einem konzeptionsabhängigen Wunsch, der ein bestimmtes Ideal des Bürgers als freien und gleichen voraussetzt (siehe Kapitel 7.3.). Wir wünschen demnach durch die Prinzipien, ein bestimmtes Ideal zu verwirklichen. Dieses Ideal wird in dem Sinne kontextualisiert, dass es für die entsprechenden westlichen Demokratien einschlägig ist, und so findet der Wunsch seine empirische Basis. Wenn man nur liest, dass die Personen ihre eigene Natur ausdrücken wollen, so scheint dies auf den ersten Blick nicht dem Ideal der Rechtfertigung gegenüber anderen zu entsprechen. Doch ich glaube, dass dieser Wunsch auch bei Rawls eine unmittelbare zweitpersonale Perspektive hat. Der Wunsch, »gerecht zu handeln«, ist immer ein auf andere Personen bezogener Wunsch und es geht im Spezifischen darum, die eigene Natur als »Mitglied der Gesellschaft« auszudrücken. Interessanterweise sieht Rawls seine eigenen Abweichungen von Kant darin, dass er die Entscheidung des Menschen »als etwas Gemeinsames« vorstellt (ebd.: 289). Letztlich sind für Rawls »der Wunsch, gerecht zu handeln, und der Wunsch, seine Natur als freies moralisches Subjekt auszudrücken, praktisch dasselbe« (ebd.: 620). Diese Perspektive lässt sich als eine zweitpersonale beschreiben, in der ich anerkenne, dass ich mich in einer Autoritätsbeziehung mit anderen befinde, durch welche Forderungen und Ansprüche gestellt werden können und eine Rechenschaftspflicht für jeden Einzelnen besteht. Meiner Ansicht nach wird dies durch das substanzielle Urteil der Gründe, die wir haben, ausgedrückt, dass wir also Grund haben, uns gegenüber anderen durch Prinzipien zu rechtfertigen, welche diese vernünftigerweise akzeptieren könnten. Nur durch das Ideal der Übereinkunft lässt 7 | Dazu kritisch Dierksmeier (2004: 1302): »Den Mangel an Bestimmtheit in der noumenalen Persönlichkeit will Rawls also durch die – ihrerseits völlig unabgeleitete – Einführung gewisser natürlicher seelischer Bedürfnisse nach Sittlichkeit […] heilen. […] Damit aber unterläuft Rawls seinen eigenen Ansatz, denn, so haben Heerscharen seiner Kritiker eingewandt, jene zuhöchst metaphysischen Annahmen werden von Rawls nicht im Rahmen einer empirisch validierten Theorie, sondern einfach ad hoc eingeführt«. Anstatt dieser »ad hoc«-Einführung habe ich durch das Ideal der Übereinkunft versucht, eine reflektierte Sicht darauf zu bieten, womit wir es im Falle der Moralität von richtig und falsch zu tun haben. Ich habe versucht, diesen Wert plausibel darzustellen, ohne seine Kontingenz zu bestreiten.

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sich die entsprechende Perspektive gewinnen, nach der Rawls sagen kann: »Da alle gleichermaßen frei und vernünftig sind, muss jeder den gleichen Einfluss auf die Festsetzung der öffentlichen Grundsätze des ethischen Reiches haben. Das bedeutet, dass jeder als intelligibles Ich diesen Grundsätzen zustimmen können muss« (ebd.: 289). Anstatt von einem Wunsch, gerecht zu handeln, zu sprechen oder davon seine Natur als freies und gleiches Wesen in einer Gemeinschaft auszudrücken, würde ich einfach von einem Wunsch sprechen, eine Übereinkunft mit anderen zu erzielen. Wie verträgt sich diese substanzielle Herangehensweise mit dem Status der Prinzipien als kategorische Imperative? Gerechtigkeitsprinzipien, welche den Urzustand verlassen, sind für Rawls solche Imperative (vgl. ebd.: 285). Man müsste in diesem Falle vielleicht präziser von »speziellen« kategorischen Imperativen sprechen, denn die Gerechtigkeitsgrundsätze stehen natürlich nicht auf der Stufe mit dem kategorischen Imperativ. Der Urzustand soll ja nach Rawls gerade eine verfahrensmäßige Deutung jenes obersten Moralprinzips sein. Diejenigen Prinzipien jedoch, die durch das oberste Moralprinzip gerechtfertigt werden, haben zweifellos ebenfalls einen kategorischen Status. Mir scheint aber, dass dieser Status nur dann seine Gültigkeit hat, wenn auch das oberste Moralprinzip als kategorisch ausgewiesen werden kann. Rawls begründet seine Ausdrucksweise gerade dadurch, dass die Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze nicht unter Verweis auf Wünsche oder Neigungen erfolgt, welche die Parteien haben mögen. Auch der Wunsch nach bestimmten Grundgütern – also Allzweckmittel, welche wirklich jedem Menschen unabhängig von den entsprechenden gesellschaftlichen Unterschieden zugutekommen – untergräbt diese Bezeichnung nach Rawls nicht. Die letzten Ziele oder Wünsche des Einzelnen sind in der Tat nicht bekannt, doch der Urzustand selbst ist letztlich nur das Produkt eines obersten Wunsches, nämlich, seine Natur als freies Individuum auszudrücken und gerecht zu handeln. Alles, was dann aus dem Urzustand folgt, gilt somit nur für diejenigen »kategorisch«, welche bereits durch den entsprechenden Wunsch motiviert sind. Ich glaube nicht, dass Kant in diesem Sinne noch von kategorischen Imperativen sprechen würde und hierin liegt der große Unterschied. Für Kant ist, so meine ich, die rationale Notwendigkeit entscheidend, aufgrund der wir gar nicht anders können, als den kategorischen Imperativ anzuerkennen, wenn wir nicht irrational sein wollen. Diese rationale Notwendigkeit ist im Falle von Rawls und anderen Kontraktualisten nicht gegeben.

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8.3. S canlon und K ant über G ründe und R ationalität Von Scanlon, so glaube ich, erhalten wir einen letzten wichtigen Aspekt, wenn es darum geht, in welcher Hinsicht sich Kontraktualisten von Kant absetzen. Gleichsam markiert dies den Unterschied zu anderen moralischen Vorstellungen, welche sich in kantischer Tradition befinden mögen. In der Betrachtung moralischer Fragen ist insbesondere die Auffassung von Gründen, die Personen haben, von fundamentaler Bedeutung. Bei Kant werden moralische Gründe aus einer formalen Rationalitätsanforderung gewonnen, während im Kontraktualismus speziell moralische Gründe in Form von Prinzipien aus anderen relativen Gründen entstehen. Im Folgenden will ich im Anschluss an Scanlon zeigen, wie wir diesen Unterschied noch besser begreifen können. Ich werde an die bisherigen Aussagen über die Grundlegung des kategorischen Imperativs anknüpfen. Bisher habe ich in der Diskussion von Darwall und Rawls herausgestellt, dass die Argumentation für den kategorischen Imperativ darauf abzielt, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem freien Willen und dem obersten Moralgesetz herzustellen. Um uns überhaupt als autonome Personen zu sehen, müssen wir demnach die Autorität des kategorischen Imperativs anerkennen. Jedes andere Prinzip, welches uns dazu anleitet, Entscheidungen darüber zu treffen, was moralisch geboten ist, würde uns nur zu Sklaven unserer Neigungen machen und letztlich einen heteronomen Ansatz darstellen. Der kategorische Imperativ ist nach Kant das einzige Gesetz, welches wir wirklich aus unserer Autonomie heraus befolgen können und nach dem wir wirklich frei handeln, ohne dass Neigungen, kontingente Wünsche oder Interessen unseren Willen bestimmen. Der Problematik dieser Argumentation wurde bereits nachgegangen. Nun will ich zeigen, was uns die Formel des kategorischen Imperativs tatsächlich im Gegensatz zur kontraktualistischen Formel sagt. Dabei werde ich von der Formulierung des allgemeinen Gesetzes ausgehen: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« (AA 4: 421). Was bedeutet es, dass eine Maxime ein allgemeines Gesetz werden kann? Wie sieht der Überlegungsprozess aus? Was unterscheidet ihn letztlich von einer kontraktualistischen Überlegungsweise? Eine Maxime kann nach Kant genau dann kein allgemeines Gesetz werden, wenn die Handlungsweise, welche sie vorschreibt, bei allgemeiner Befolgung nicht konsistent wäre. Das hat mit dem Willen erst einmal noch nichts zu tun, sondern nur mit der Möglichkeit: »Einige Handlungen sind so beschaffen, dass ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, dass man noch wollen könne, es sollte ein solches werden« (AA 4: 424, Hervorhebung im Original). Bestimmte Maximen können widersprüchlich sein, wenn sie allgemein befolgt werden sollen, und somit sind sie unmöglich. Derek Parfit übersetzt diesen Teil des kategorischen

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Imperativs deshalb folgendermaßen: »Es ist falsch, nach jeglicher Maxime zu handeln, bei der es wahr ist, dass diese es für jeden unmöglich macht, erfolgreich nach ihr zu handeln, wenn jeder sie akzeptiert und nach dieser Maxime handeln würde oder jeder glauben würde, dass es erlaubt wäre, nach dieser Maxime zu handeln« (Parfit 2011: 277, Übers. d. Verf.). Was der kantische Imperativ von uns erfordert, ist also in erster Linie eine Widerspruchsfreiheit. Dies können wir in dem Augenblick sehen, wenn wir wie Kant denken, dass Diebstahl falsch ist. Wenn es eine allgemeine Regel wäre, dass jeder die Besitztümer von jedem nehmen kann, dann gäbe es kein Mein und Dein und damit auch im Grunde keinen richtigen Diebstahl mehr, da für alles, was ich nehme, jeder wieder etwas von mir nehmen kann. Somit lässt sich eine Maxime der Erlaubnis des Diebstahls nicht widerspruchsfrei denken. Das prominenteste Beispiel ist zweifellos das Versprechen beziehungsweise der Bruch eines Versprechens (vgl. AA 4: 422). Eine Maxime, welche es gebietet, ein Versprechen zu geben, ohne es zu halten, also letztlich zu lügen, könnte nicht verallgemeinert werden. Der Vorteil, den ich durch die Täuschung erreichen möchte, wäre obsolet, wenn jeder nach der Maxime der Lüge handelt und jeder erwartet, belogen zu werden. Als universalisierte Maxime würde das Versprechen nichts bedeuten, denn wenn niemand glaubt, dass dies irgendeine Beschränkung auferlegt (also niemand daran gebunden ist), dann macht es überhaupt keinen Sinn, dieses Versprechen überhaupt abzunehmen: »Da sehe ich nun sogleich, dass sie [die Maxime zu lügen, wenn mir dies einen Vorteil verschafft oder wenn ich in Not bin, A.O.] niemals als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern sich notwendig widersprechen müsse. Denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, dass jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, dass ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung, als eitles Vorgeben, lachen würde« (AA 4: 422, eigene Hervorhebung). Die vorangegangenen Überlegungen scheinen klar, doch es ist eben nur eine Bedingung, wann eine Maxime kein allgemeines Gesetz sein kann. Was noch fehlt, ist Folgendes: Wann ist es nicht nur unmöglich zu denken, sondern wann kann ich auch nicht wollen, dass eine Maxime ein allgemeines Gesetz wird? Offensichtlich reicht Unmöglichkeit noch nicht aus, um einige moralisch falsche Handlungen tatsächlich auszuschließen: »Bei anderen [Maximen, A.O.] ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, dass ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde« (AA 4: 424f., Hervorhebung im Original). Ginge es nur um die Denkunmöglichkeit, nach der eine Maxime kein allgemeines Gesetz werden kann, dann

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würde die Frage nach dem, was ich wollen kann, gar nicht auf kommen. Doch wann widerspricht sich nicht nur die Maxime selbst, sondern mein Wille? In der Frage, ob eine Maxime als allgemeines Gesetz gewollt werden kann, weist Thomas Scanlon auf einen wichtigen Aspekt in Kants Lehre hin. Denn Kant beruft sich dabei nicht auf die Gründe, die eine Person haben kann, oder ihre relative Stärke. Das klingt auf den ersten Blick verwunderlich. Muss ich nicht, um etwas wollen zu können, auch einen Grund haben, es zu wollen? Bei Kant ist dies jedoch nicht der Fall, wie auch Scanlon betont, der meint, dass die Idee eines Grundes und die Stärke von Gründen maximal eine abgeleitete Rolle im kantischen Ansatz haben (vgl. Scanlon 2011: 119). Wie beantwortet Kant die Frage stattdessen? Kant meint, eine Maxime könne genau dann nicht als ein allgemeines Gesetz gewollt werden, wenn dies nicht damit zu vereinbaren sei, sich selbst als eine rationale Person zu betrachten. Scanlon orientiert sich an zwei Beispielen, die Kant selbst für bestimmte Maximen aufführt und die nicht gewollt werden können: Maxime (1): Entwickle deine eigenen Talente nur, wenn du dies angenehm und reizvoll findest. Maxime (2): Helfe anderen nur, wenn dir dies gefällt. Beide Maximen8 können nach Kant nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden. Die Begründung dafür lautet folgendermaßen: Wenn ich diese Maximen als allgemeine Gesetze will, dann will ich, dass ich selbst und andere den allgemeinen Bedingungen, die für die Verfolgung unserer jeweiligen Zwecke notwendig sind, kein intrinsisches Gewicht beimessen. Damit jemand jedoch ein rationales Wesen sein kann, muss er sich auch Zwecke setzen, und wenn er diese Zwecke wiederum besitzt, kann man gegenüber den Bedingungen, also dem, was notwendig ist, um diese Zwecke zu erreichen, nicht gleichgültig sein. Wäre ich dies, dann würde ich mir selbst widersprechen. So begründet denn Kant auch, weshalb ich nicht wollen kann, dass eine solche Maxime Gültigkeit hat: »Denn als ein vernünftiges Wesen will er notwendig, dass alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind« (AA 4: 423). Eine etwas andere Begründung klingt gegen die zweite Maxime an, scheint sie doch vor allem durch ein bestimmtes Eigeninteresse motiviert zu sein: »Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche 8 | Die erste Maxime gehört im Übrigen nicht zum Teil der Moral, der unsere Pflichten und Rechte voreinander beinhaltet. Kants kategorischer Imperativ findet ebenso Verwendung für Tugendpflichten, was für den Kontraktualismus nicht gilt (Kapitel 3.). Scanlon möchte anhand dieser Maximen nur den allgemeinen Überlegungsprozess schildern, welchen uns der kategorische Imperativ vorgibt.

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ereignen können, wo er anderer Liebe und Teilnehmung bedarf, und wo er, durch ein solches aus seinem eigenen Willen entsprungenes Naturgesetz, sich selbst alle Hoffnung des Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde« (AA 4: 423). Ich glaube, wir müssen dies folgendermaßen deuten: Man muss immer schon bestimmte Sichtweisen akzeptieren, um sich selbst überhaupt als rationales Wesen zu begreifen. So folgert Scanlon auch schließlich: »Kants Behauptungen über das, was die Formel des allgemeinen Gesetzes erfordert, basiert somit nicht auf Behauptungen darüber, was Individuen für Gründe haben, oder darüber, was die relative Stärke dieser Gründe ist. Wenn seine Behauptung lautet, dass eine Maxime kein universales Gesetz sein kann […], dann taucht die Frage zu dem, was jemand wollen kann, nicht auf. Wenn seine Behauptung ist, dass wir eine Maxime nicht als ein universales Gesetz wollen können […], dann ist seine Behauptung nicht, dass die Gründe, die wir haben, solche Maximen nicht zu wollen, stärker sind als jene, die dafür sprechen, sie zu wollen. Was Kant sagt, ist eher, dass insoweit wir uns selbst als rationale Personen sehen, wir die Entwicklung unserer Talente oder die Bedürfnisse von anderen nicht als Überlegungen betrachten können, die nichts zählen. Die Behauptungen, welche die Grundlage für Kants Argumente bieten, sind Behauptungen über Rationalität – über die Einstellungen, die wir haben müssen, insoweit wir nicht irrational sind – und keine Behauptungen über die Gründe, die wir haben« (Scanlon 2011: 119f., Hervorhebung im Original, Übers. d. Verf.).

Diesen wichtigen Aspekt in Kants Denken zu verdeutlichen, ist wichtig. Es geht eben nicht darum, dass bestimmte Gründe andere Gründe überwiegen und deshalb ein Wille besteht, eine bestimmte Maxime zu wollen. In diesem Fall könnte es durchaus so sein, dass es Gründe gibt, welche dafür sprechen, eine der entsprechenden Maximen anzunehmen oder abzulehnen. Kant macht eben keine substanziellen Behauptungen über die Gründe, die wir haben, sondern die Behauptung ist vielmehr, dass wir bestimmte Dinge als Gründe für Handlungen notwendig anerkennen müssen – in Übereinstimmung mit unserem Bild von uns als rationale Wesen. Das bedeutet jedoch gleichsam, dass wir eine Bestimmung des rationalen Wesens benötigen, um zu wissen, welche Gründe wir notwendig erkennen müssen. Kant erklärt die Gründe, die wir haben, durch Rationalität. Rationalität steht vor den Gründen. Gründe selbst sind nicht fundamental, sondern werden durch jene Rationalität erklärt. Es gibt eben nicht einen Grund, den ich habe, zu lügen und einen Grund, den ich habe, nicht zu lügen, die dann beide miteinander abgewogen werden. Nein, bei Kant wäre der Grund zur Lüge überhaupt gar kein Grund. Der Kontraktualismus zeichnet sich dagegen gerade dadurch aus, dass er die Gründe, die vorhanden sind, in ein komparatives Schema einpasst. Die moralischen Gründe, die wir haben, ergeben sich aus einer Verrechnung von Gründen, die wir

8. Das Kantische im Kontraktualismus

einfach haben oder von denen wir annehmen können, dass sie Menschen für gewöhnlich haben. Enthält Kants Argument tatsächlich keine Behauptung über Gründe? Betrachten wir zur näheren Erläuterung noch einmal die angeführten Beispiele für Maximen. Wie sieht es mit der Maxime des Helfens aus? Die oben vorgeschlagene Maxime zwingt mich nicht dazu zu helfen, wenn dies keinerlei Neigungen von mir entgegenkommt. Ist die Hilfe zu anspruchsvoll oder bin ich schlicht zu bequem, dann erlaubt mir diese Maxime auch einfach nicht zu helfen. Kants Argumente nun führen zu einer Sichtweise, die besagt, dass jemand, der sich als rationales Wesen betrachtet, nicht konsistent eine Maxime des Nicht-Helfens wollen kann, wenn dies mit seinen Neigungen zu Bequemlichkeit und Müßiggang in Konflikt gerät (vgl. ebd.: 121). Wenn dem jedoch so ist, dann müsste Kant doch auch etwas zur Stärke von Gründen sagen. Beispielsweise könnte ausgesagt werden, dass Bequemlichkeit kein hinreichender Grund ist, anderen Menschen nicht zu helfen. Doch im kantischen Sinne würden wir den ganzen Prozess von der verkehrten Seite angehen, denn die Behauptung dessen, was ein angemessener Grund ist und was nicht, muss in einer Behauptung über Rationalität fundiert sein sowie über die entsprechenden Einstellungen, die eine Person annehmen kann, wenn sie sich selbst als ein rationales Wesen betrachtet. Die Rechtfertigung bei Kant geht immer von der Behauptung dessen, was die Rationalität erfordert, über zu einer Behauptung der Gründe, die wir haben. Dieser Konstruktivismus der Gründe ist für Scanlon »eine fundamentale Eigenschaft kantischer Moraltheorien« (ebd.: 395, Übers. d. Verf.). Der Kontraktualismus teilt genau diese Eigenschaft nicht. Er setzt sich damit von der kantischen Vorstellung ab. Für ihn ist nicht die Rationalität fundamental, sondern die Gründe, die Personen haben, aus welchen Quellen sich diese auch speisen mögen. Seien dies nun persönliche Interessen, Wertvorstellungen etc. All dies wäre für Kant heteronom. Zwischen diesen Gründen muss dem Kontraktualismus zufolge vermittelt werden, aber er leugnet nicht, dass Menschen sie einfach haben und zu Recht behaupten, dass sie sie haben. Weshalb sollten wir diese Form des Konstruktivismus der Gründe nicht akzeptieren? Ohne substanzielle Urteile über die Gründe, die wir haben, kann uns der kategorische Imperativ nicht viel sagen. Weder der Test bezüglich der Widersprüchlichkeit oder Unmöglichkeit einer Maxime noch der Test bezüglich des Widerspruches in unserem Willen oder dem, was wir unmöglich wollen können, kann uns viel darüber mitteilen, was wir zu tun haben.9 Im ersteren Fall stellt Parfit zu Recht fest, dass viele Lügner nicht nach der Maxime han9 | Des Weiteren folgt nicht notwendigerweise ein anspruchsvolleres substanzielles Gesetz aus dem kategorischen Imperativ, wie ich bei der Behandlung von Darwalls Kritik an Kant und Korsgaard aufgezeigt habe (Kapitel 8.1.).

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deln, immer zu lügen, sondern eher nach der Maxime, genau dann zu lügen, wenn dies einen Vorteil verschafft. Die Lüge wäre damit durchaus erfolgreich und denkmöglich. Ebenso handle eben auch niemand nach einer Maxime, die besagt, immer oder ständig zu stehlen. Eher wird man nach einer Maxime handeln, nur gelegentlich zu stehlen, wenn dies den entsprechenden Vorteil verspricht. Dies würde keine Welt hervorbringen, in der das Stehlen unmöglich wird, weil Eigentum gar keine Bedeutung mehr hätte, oder in der man kein Versprechen mehr geben könnte, weil man immer davon ausgehen muss, dass es gebrochen wird (vgl. Parfit 2011: 278). Wir sehen, dass wir im Befolgen der kantischen Lehre problematische moralische Implikationen erhalten. Sie erlaubt viele Maximen, die uns für gewöhnlich sehr klar als falsch erscheinen. Intuitiv mag dieser Test natürlich reizvoll sein, weil er immer noch eine Idee beinhaltet, die als zentral für moralisches Verhalten angesehen wird, nämlich die, sich selbst nicht aus moralischen Anforderungen herauszunehmen. Auch Scanlon meint, dass dies zwar sehr sinnvoll gedacht sei, jedoch werde diese Idee auf eine falsche Art und Weise verfolgt. Der Vorwurf an Kant lautet, dass sich der Test nur auf die Beziehungen zwischen den Handlungen einer Person und das, was die Handlung an Einschränkungen für die Überzeugungen und Absichten anderer voraussetzt, bezieht. Nach Scanlon wird aber damit die entscheidende Frage umgangen: Es ist die Frage, ob diese Einschränkungen gerechtfertigt sind.10 Wenn die entsprechenden Einschränkungen, die andere als verbindlich ansehen (etwa ein Versprechen einzuhalten), grundlos sind, dann muss es nicht falsch sein, diese Einschränkung zu verletzen, selbst wenn der Erfolg der Handlung einer Person von der Tatsache abhängt, dass andere diese Einschränkung ernst nehmen. Wenn die entsprechende Einschränkung in meinem Handeln aber gerechtfertigt ist, dann ist es falsch, sie zu verletzten, ob diese Handlung nun von der Tatsache abhängt, dass andere diese Einschränkung als verbindlich ansehen oder nicht. Damit verlagert sich der Blickpunkt auf die entsprechende Einschränkung beziehungsweise auf das Prinzip, welches uns bestimmte Regularien für unser Verhalten auferlegt. Sie hängen jedoch nicht an der Tatsache, ob der Erfolg einer Handlung aus der allgemeinen Befolgung eines allgemeinen Gesetzes resultiert (vgl. Scanlon 2011: 122). Auch der Test bezüglich der Widersprüchlichkeit in unserem Willen hilft nur wenig weiter, obwohl er den Anschein erweckt, die Frage nach der Rechtfertigung zu beantworten. Wenn wir fragen, ob eine bestimmte Handlung gerechtfertigt ist, dann fragen wir danach, ob jemand wollen kann, dass allgemein erlaubt wird, dass diese Handlung ausgeübt werden kann. Der Unterschied zum Kontraktualismus ist, dass sich dieses Kriterium einzig daran orientiert, 10 | Was hier als Schwäche beurteilt wird, kann natürlich auch als Stärke des Ansatzes gesehen werden, da es ein Kriterium für das bietet, was richtig ist, ohne weitere Fragen über die relative Stärke von Gründen aufzuwerfen.

8. Das Kantische im Kontraktualismus

ob die rationale Person ein Prinzip wollen könnte, welches ihr erlaubt zu tun, was sie beabsichtigt, und nicht, ob es einen anderen gibt, der vernünftigerweise dies ebenso akzeptieren kann, insoweit er denn von der Handlung betroffen wäre. Natürlich könnte dieser Test auch im Sinne des Kontraktualismus interpretiert werden. Die Frage, was eine Person rational als allgemeines Gesetz wollen kann, kann gleichsam betreffen, was andere Personen rational wollen können. Nur dann scheint es diese Allgemeinheit zu geben. Dies kann ähnliche Ergebnisse hervorbringen, wie wir sie im Falle des Kontraktualismus erzielen. Das Ergebnis erhalten wir aber nicht, weil wir die Gründe von anderen bedenken, sondern weil jeder aufgrund seiner Rationalität zum selben Ergebnis gelangt. Selbst wenn dies aber so ist, so betont auch Scanlon, wird die Angelegenheit klarer und vermeidet bestimmte Missverständnisse, wenn wir sehen, dass es bei der Frage, was jede Person akzeptieren kann, um verschiedene Personen geht (vgl. ebd.: 123). Letztlich hebt Scanlon hervor, dass das, »was gegenüber anderen gerechtfertigt werden kann – was sie Grund haben zu wollen –, die fundamentalste moralische Idee, die Essenz des Kontraktualismus« ist (ebd.: 139, Übers. d. Verf.). Alle Kontraktualisten haben sich dieser Idee verschrieben und sie alle teilen gleichermaßen die Zweifel daran, ob der kategorische Imperativ die einzige Möglichkeit ist, uns selbst als rationale autonome Personen verstehen zu können, die »aktiv« ihren freien Willen ausüben. Wenn ich überlege, dass mir eine bestimmte Handlung Freude bereiten würde, dann kann ich urteilen, dass ich Grund habe, diese Handlung zu vollziehen. Es ist einfach ein Urteil, welches ich fällen kann. Selbst wenn diese Handlung nun andere Personen betrifft, die nicht wollen, dass ich diese Handlung ausführe, dann habe ich trotzdem diesen Grund – genauso wie andere ein Urteil darüber gefällt haben, dass sie Grund haben, nicht zu wollen, dass ich die Handlung ausführe. Es kommt nun darauf an, ob ich einen prioritären Grund habe, den ich vor allen anderen als wichtig erachte. Dieser Grund ist das Ideal der Übereinkunft oder der Grund, den ich habe, mein Verhalten in der Weise zu regulieren, dass andere dies vernünftigerweise akzeptieren könnten. Habe ich diesen, dann werde ich meine Gründe und die Gründe von anderen in einen Überlegungsprozess einfließen lassen, der darüber Aufschluss gibt, ob ich tun darf, was ich tun will oder nicht. Wenn wir ein Moralprinzip nicht wie bei Kant in fundamentaler Weise ermitteln können, dann liegt es nahe, sich auf einen Wert zu verständigen, der in der Frage, weshalb wir moralisch handeln sollten, nicht trivial ist und andererseits nicht ins Feld des Amoralischen abdriftet. Dies ist der Wert, sich so zu rechtfertigen, dass andere dies vernünftigerweise akzeptieren könnten. Genau dann müssen wir entsprechende Gründe miteinander vergleichen und Aussagen über die Stärke dieser Gründe treffen. Diese Vorgehensweise ist jedoch in der Tat alles andere als kantisch.

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III. Die vernünftige Übereinkunft

Im dritten und letzten Teil wird es darum gehen, wie das kontraktualistische Verfahren, welches vom praktischen Standpunkt ausgeht, in seinen Grundzügen auszugestalten ist. Ich werde bestimmen, was für Implikationen der praktische Standpunkt hat und wie wir diese veranschaulichen können. Konkret geht es in den einzelnen Kapiteln um die »Akzeptanz« als Bestandteil der kontraktualistischen Formel. Wie kann die entsprechende Akzeptanz eines Prinzips ermittelt werden beziehungsweise welche Überlegungen sind dabei wichtig? Darüber hinaus wird erläutert, wer die »Betroffenen« in einem kontraktualistischen Überlegungsprozess sein können. Sind diese Begriffe dargelegt, ist die kontraktualistische Formel vollständig. Im neunten Kapitel werde ich mich mit der Struktur der Gründe beschäftigen, die im Überlegungsprozess vorgebracht werden können. Ich werde darlegen, dass sich der Kontraktualismus auf individuelle Gründe stützt. Gleichsam gehe ich auf den Redundanz-Vorwurf gegenüber kontraktualistischen Theorien ein, welcher besagt, dass auf den kontraktualistischen Apparat verzichtet werden kann, wenn sich direkt auf Gründe bezogen wird. Anschließend kennzeichne ich, weshalb die Gründe im Überlegungsprozess als generische Gründe verstanden werden. Dies sind Gründe, die jeder kraft der Situation hat, in welcher er sich befindet, und welche in Anbetracht des Ziels, eine Übereinkunft zu erreichen, die notwendige Freiheit von Willkür sicherstellen. Darüber hinaus wird geklärt, ob es bestimmte Anforderungen dafür gibt, wann ein Grund mehr wiegt als ein anderer. Zum Schluss kläre ich, ob der Kontraktualismus seinen Rechtfertigungsprozess bei jedem zu bedenkenden Prinzip von vorne beginnen muss oder ob auch einige moralische Prinzipien als Gründe vorausgesetzt werden können, solange diese offen für eine kontraktualistische Kritik bleiben. Im zehnten Kapitel wird es um den konkreten Rechtfertigungsprozess und eine mögliche Ausgestaltung desselbigen gehen. Ich beginne meine Ausführungen damit, dass es sehr wichtig für das kontraktualistische Verfahren ist, dass die Verschiedenheit von Personen im Überlegungsprozess berücksichtigt wird. Hier beziehe ich mich auf eine Kritik an einem entpersonalisierten Verfahren, wie es John Rawls in Form des Urzustandes vorgeschlagen hat. Neuere Kontraktualisten wollen die Verschiedenheit der Personen und die Verschiedenheit der Einwände, die gegenüber einem Prinzip vorgebracht werden können, sichtbar machen. Deshalb versuche ich, einen alternativen Überlegungsprozess zu veranschaulichen, welcher sich am sogenannten Einwand-Modell

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t

(complaint model) orientiert, welches Thomas Nagel und Thomas Scanlon vorgeschlagen haben. Dieses versuche ich, im Rahmen meiner bisherigen Ausführungen zu konzeptualisieren. Eine wichtige Frage in dieser Hinsicht besteht auch darin, welche Rolle Wahrscheinlichkeiten spielen, wenn darüber nachgedacht wird, was vernünftigerweise akzeptabel ist und was nicht. Zuletzt werde ich auf eine gängige Kritik am Kontraktualismus eingehen, welche besagt, dass er nicht berücksichtigen kann, dass manchmal auch eine Aggregation von Gründen vieler Personen vorgenommen werden muss. Ich werde dagegen zeigen, inwiefern die Anzahl von Personen im Kontraktualismus auch ohne eine interpersonelle Aggregation von Bedeutung sein kann. Zuletzt gehe ich in Kapitel elf auf eine sehr wichtige Frage ein, die sich auf den letzten noch zu klärenden Begriff bezieht: Wer zählt eigentlich zu den Betroffenen im kontraktualistischen Verfahren? Ich werde argumentieren, dass der Kontraktualismus im Gegensatz zu der Auffassung eines Großteils seiner Vertreter nicht darauf beschränkt ist, Rechte und Pflichten nur gegenüber kompetenten Moralbeurteilern zu rechtfertigen, also gegenüber Personen, die über die rationalen Fähigkeiten verfügen, moralische Fragen zu beantworten. Stattdessen können im Überlegungsprozess auch sogenannte schwache Wesen, beispielsweise Menschen mit Beeinträchtigungen, nichtmenschliche Tiere und auch zukünftige Generationen als Betroffene in das kontraktualistische Rechtfertigungsverfahren einbezogen werden.

9. Gründe im Überlegungsprozess

Stellen wir uns eine einfache und abstrakte Situation vor: Es gibt ein praktisches Problem, von welchem zwei Personen betroffen sind. Vielleicht wird jemandes Handlungsfreiheit zugunsten der Handlungsfreiheit eines anderen eingeschränkt. Nun will ich herausfinden, ob dies durch ein Prinzip gerechtfertigt werden kann oder nicht. Als Kriterium dient die Formel der vernünftigen Übereinkunft: Ein Prinzip zur Regulierung des Zusammenlebens ist genau dann gerechtfertigt, wenn es von allen Betroffenen, welche motiviert sind, eine Übereinkunft zu erreichen, vernünftigerweise akzeptiert werden könnte. Nun stelle ich mir vor, dass diese Parteien überlegen müssten, auf welches Prinzip sie sich einigen könnten. Beide sind in dem von mir herausgearbeiteten Sinne vernünftig und gleichsam motiviert, eine Übereinkunft zu erreichen, und wissen dies voneinander. Sie steigen aus dieser Verhandlung nicht aus, nur weil ihre ganz persönlichen Interessen nicht befriedigt werden, aber sie beide wissen, dass sie sich nichts oktroyieren lassen müssen, denn die jeweils andere Person ist ebenso an einer Übereinkunft interessiert wie sie selbst. Sie beide müssen ein Prinzip finden, was sowohl für die eine als auch für die andere Seite akzeptabel ist. Was nun stattfinden muss, ist eine Bewegung zur Übereinkunft. Um eine Übereinkunft zu erreichen, müssen sie alternative Prinzipien vorschlagen. Dabei rücken sie notwendigerweise von ihrer eigenen Maximalforderung ab und müssen einen Kompromiss gegenüber dem eingehen, was sie am meisten bevorzugen würden. Welche Gründe könnten sie nun aber aus ihrer jeweiligen Situation vorbringen und wie gelangen sie zu einer ersten Vorstellung dessen, was tatsächlich von allen Betroffenen akzeptiert werden könnte und was nicht? Dies aufzuklären, ist die Aufgabe des folgenden Kapitels. Ich beginne mit einigen Ausführungen zu der Art von Gründen, die im kontraktualistischen Überlegungsprozess eine Rolle spielen: Dabei werde ich zuerst auf die besondere Form von individuellen Gründen eingehen, welche

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t

einen unmittelbaren Bezug zur Person haben müssen. Nur solche Gründe sind es, welche die Parteien vorbringen können. Dies bewahrt den Kontraktualismus davor, wie ich ebenso argumentieren werde, als redundant zu gelten (Kapitel 9.1.). Darüber hinaus werde ich das Konzept der generischen Gründe erklären, welches notwendig ist, um die entsprechende Freiheit von Willkür zu wahren, die vom Motiv der Übereinkunft verlangt wird. Mit generischen Gründen beziehen wir uns auf generische Perspektiven und damit auf diejenigen Gründe, die jemand kraft der Situation hat, in der er sich befindet (Kapitel 9.2.). Anschließend behandle ich die Möglichkeit, einige Gründe bevorzugt zu behandeln und bestimmte Gründe auszuschließen. Es gibt bestimmte Informations- und Konsistenzanforderungen, die beim Vorbringen von Gründen beachtet werden müssen. Dabei werde ich auch auf die Rolle von Intuitionen zu sprechen kommen, die wir bezüglich der Gründe haben, die prioritär gegenüber anderen sind (Kapitel 9.3.). Zuletzt möchte ich die Möglichkeit behandeln, den Kontraktualismus als ein Verfahren zu betrachten, welches sich in einen sogenannten Holismus der Rechtfertigung einordnen lässt. Dabei geht es um die Frage, ob wir immer voraussetzungslos für moralische Prinzipien argumentieren müssen oder ob wir einige moralische Prinzipien als Quelle von Gründen für feststehend halten können, während wir andere moralische Prinzipien beurteilen, die von denjenigen zu unterscheiden sind, die wir voraussetzen (Kapitel 9.4.).

9.1. I ndividuelle G ründe Für den Kontraktualismus, den ich herausgearbeitet habe, ist es entscheidend, dass wir in der Lage sind, das Prinzip zu identifizieren, welches von allen Betroffenen akzeptiert werden kann. Solche Prinzipien sind es, die wir für unser praktisches Denken benötigen und mit deren Hilfe wir inhaltlich bestimmen, welche Pflichten wir gegeneinander haben, welche Forderungen wir berechtigterweise stellen und welche Rechte wir einfordern können. Um zu identifizieren, welche moralischen Prinzipien die richtigen sind, muss man in der Lage sein, die Gründe zu identifizieren, die unterschiedliche Akteure für ein entsprechendes Prinzip vorbringen könnten. Dafür spielen die jeweils individuellen Gründe der Akzeptanz die entscheidende Rolle. Was verstehe ich unter dem Begriff des individuellen Grundes? Ich möchte an eine Unterscheidung anknüpfen, die am ausführlichsten von Thomas Nagel (2005) behandelt wurde. Nagel unterschied in seinem Frühwerk zwischen subjektiven und objektiven Gründen. Diese beiden Formen lassen sich anhand eines Beispiels am besten begreifen: Person X sieht, dass in der Stadt bald ein Konzert stattfinden wird, und meint, dass sie einen Grund hat, dort hinzugehen. Wenn X gefragt wird, welchen Grund sie hat, zum Konzert zu gehen,

9. Gründe im Überlegungsprozess

könnte sie beispielsweise antworten: (1) weil es ihr Freude bereiten würde oder (2) weil es Freude bereitet, auf Konzerte zu gehen. Letzteres könnten wir vielleicht am ehesten damit umschreiben, dass die Aussage getroffen wird, dass dies jedem Freude bereitet oder allgemein Freude bereitet. Antwort (1) besitzt eine sogenannte »freie Akteursvariable« (Nagel 2005: 126), welche die Antwort (2) nicht hat. An diesem Unterschied lässt sich ersehen, weshalb sich beispielsweise Theorien des ethischen Egoismus ausschließlich auf subjektive Gründe beziehen und utilitaristische Theorien sich typischerweise auf objektive Gründe stützen. Bei ersteren geht es um einen expliziten Personenbezug (wie den Grund, meinen Vorteil zu maximieren), bei letzterem geht es um eine bestimmte Allgemeinheit des Grundes (etwa Schmerz allgemein zu reduzieren oder Wohlergehen allgemein zu maximieren).1 Natürlich hat die Rede von objektiven und subjektiven Gründen problematische Konnotationen. Mir scheint, dass ein Grund nicht nur dann objektiv genannt werden kann, wenn er sich auf eine Allgemeinheit bezieht. Ebenso könnten auch subjektive Gründe von einem bestimmten Standpunkt aus objektiv sein. Später tauscht Nagel das Vokabular deshalb aus. In Anlehnung an Derek Parfit (1984)2 wählt er nun die Begriffe des relativen und neutralen Grundes: 1 | An dieser Stelle seien auch die technischen Formulierungen von Nagel nicht unerwähnt. Nagel definiert den Begriff des Grundes folgendermaßen: »Wir können […] festlegen, dass ein jeder Grund ein Prädikat R ist derart, dass für alle Personen X und für alle Ereignisse α gilt: Wenn R auf α zutrifft, dann hat X einen Prima-facie-Grund, α zu befördern« (Nagel 2005: 69). In diese Definition wird freilich »befördern« in den Begriff des Grundes eingebaut, was problematisch ist. Kritiker wie Korsgaard (vgl. 1996b: 300) haben darauf hingewiesen, dass Nagel hier bereits eine konsequentialistische Konzeption von Anfang an voraussetzt und damit am Ende auch einen Konsequentialismus herausbekommt. Aber ausgehend von dieser Definition entwickelt er seine Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Gründen: »Formal gesehen ist ein subjektiver Grund nichts anderes als ein Grund, in dessen charakteristischem Prädikat R die Variable X frei vorkommt. (Diese freie Akteursvaribale wird natürlich nur innerhalb von R frei vorkommen, weil sie durch den Allquantor bezüglich X am Anfang der ganzen Formel gebunden ist.) Für jeden universellen Grund und jedes entsprechende ausdrückbare Prinzip enthält die betreffende Basisformel entweder eine freie Akteursvariable oder nicht. Gründe und Prinzipien der ersten Art nenne ich subjektiv, solche der zweiten Art objektiv« (Nagel 2005: 126f., Hervorhebung im Original). 2 | Parfit selbst, auf den sich Nagel bezieht, macht in Bezug auf Moraltheorien (C) folgende Unterscheidung bezüglich der Ziele, welche jene vorgibt: »Da C allen Akteuren gemeinsame moralische Ziele gibt, werde ich C akteursneutral nennen. Viele Moraltheorien nehmen diese Form nicht an. Diese Theorien sind akteursrelativ in dem Sinne, dass sie unterschiedlichen Akteuren unterschiedliche Ziele geben« (Parfit 1984: 27,

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t »Die Unterscheidung von Gründen, die relativ auf den Handelnden bezogen sind, und Gründen, für die dies nicht gilt, ist von größerer Wichtigkeit. Lässt sich ein Grund in eine allgemeine Form bringen, die keine wesentliche Bezugnahme auf die Person mehr einschließt, für die er gilt, so haben wir es mit einem neutralen Grund zu tun. Ist beispielsweise der Umstand, dass etwas das Ausmaß des Elends in der Welt verringern würde, für einen jeden ein Grund, etwas zu tun oder zu wollen, handelt es sich hierbei mit Sicherheit um einen neutralen Grund. Schließt die allgemeine Form eines Grundes hingegen eine unausräumbar wesentliche Bezugnahme auf das Subjekt ein, für das er ein Grund ist, haben wir einen relativen Grund vor uns. Gibt etwa der Umstand, dass es in ihrem Eigeninteresse läge, jeder besonderen Person für sie selbst einen Grund, etwas zu tun oder zu wollen, handelt es sich bei diesem Grund um einen relativen Grund« (Nagel 2012: 263f., Hervorhebung im Original).

Subjektiv und objektiv werden jetzt für ein anderes Verständnis reserviert. Relative Gründe können nach Nagel aus einer Sichtweise, die außerhalb des Individuums liegt, objektiv sein, während sie aus einer inneren Perspektive, in Bezug auf bestimmte Neigungen und Vorlieben, subjektiv sein können. Erkennungszeichen eines akteursrelativen Grundes ist letztlich immer ein bestimmtes mögliches Pronomen, wie es Philip Pettit ausdrückt: »Ein akteursrelativer Grund ist einer, der nicht vollkommen spezifiziert werden kann, ohne einen pronominalen Rückverweis auf die Person, für welche dies ein Grund ist. Es ist die Art von Grund, die einem Akteur durch die Beobachtung gegeben wird, dass er versprach, die entsprechende Handlung auszuführen, oder dass die Handlung in seinem Interesse ist, oder dass es zum Vorteil seiner Kinder ist. In jedem dieser Fälle schließt die motivierende Überlegung eine essenzielle Referenz zu ihm ein […]. Ein akteursneutraler Grund ist einer, der vollständig spezifiziert werden kann, ohne solch ein indexikalisches Zeichen« (Pettit 1987: 75, Übers. d. Verf.). Es ist zu betonen, dass ein relativer Grund noch kein egoistischer Grund ist. Wenn jemand Grund hat, sein eigenes Wohlergehen zu Übers. d. Verf.). Und er präzisiert später: »Wenn ich einen Grund akteursrelativ nenne, behaupte ich nicht, dass dieser Grund kein Grund für andere Akteure sein kann. Alles, was ich behaupte, ist, dass es möglicherweise nicht so ist« (ebd.: 143, Übers. d. Verf.). Hier korrespondieren natürlich die Kennzeichnungen von allgemeinen Moraltheorien und Gründen miteinander. Eine Moraltheorie ist akteursrelativ, wenn sie nicht jedem Akteur ein gemeinsames Ziel gibt. Und wenn es keine gemeinsamen Ziele gibt, dann ist das, was ein Grund für mich ist, kein Grund für dich, was auch immer dieser Grund sein mag, selbst wenn ich der Lage wäre, den passenden Zweck zu verfolgen, der zu diesem Grund passt. Was für den einen ein Grund ist, muss sich nicht für den anderen als Grund herausstellen. Im Kontrast dazu ist eine akteursneutrale Theorie eine, welche uns ein gemeinsames Ziel gibt. Wenn ein gemeinsames Ziel existiert, dann ist jeder Grund für dich, dieses Ziel zu verfolgen, auch für mich ein Grund, das Ziel zu verfolgen.

9. Gründe im Überlegungsprozess

maximieren, dann ist dies ebenso ein relativer Grund wie der Grund, seinem Freund zu helfen. Akteursrelative Gründe sind also individuelle Gründe: Gründe, die einen Verweis auf das Individuum beinhalten. Weshalb sollten wir davon ausgehen, dass die Parteien ausschließlich akteursrelative Gründe vorbringen und nur diese ein Teil des kontraktualistischen Verfahrens werden können? Hier gibt es mehrere Dinge zu beachten. Wenn jemand einen akteursneutralen Grund vorbringt, dann bezieht sich dies auf einen akteursneutralen Wert, den er für richtig hält. Nehmen wir beispielsweise den Wert, dass Schmerz etwas Schlechtes ist und ganz allgemein in der Welt so wenig wie möglich auftauchen sollte. Gegenüber einem vorgeschlagenen Prinzip, welches jemandem ein persönliches Recht der Unversehrtheit zubilligt, könnte derjenige, der den akteursneutralen Grund der Schmerzminderung hat, einwenden, dass dieses Prinzip nicht zu akzeptieren sei. Wir sollten stattdessen ein Prinzip rechtfertigen, welches es erlaubt, in besonderen Fällen einer Person Schmerzen zuzufügen, wenn wir dadurch den Schmerz von vielen anderen lindern können. Da er so wenig Schmerz wie möglich für einen Wert hält, kann er deshalb ein solches Prinzip bevorzugen. Es gibt nun jedoch ein Problem: Wenn der Grund als ein akteursneutraler vorgebracht wird, dann muss die entsprechende Person davon ausgehen, dass der entsprechende Wert geteilt wird. Nun ist es jedoch so, dass wir diesen akteursneutralen Grund keinesfalls einfach voraussetzen können. Denken wir an das Beispiel von Stephen Darwall bezüglich der Aufforderung, deinen Fuß von meinem zu nehmen (Kapitel 7.5.). Ich kann dafür einen persönlichen Grund angeben, dass ich Schmerzen habe, was für das Gegenüber eventuell nicht hinreichend ist, oder ich kann den Grund nennen, dass Schmerz im Allgemeinen zu reduzieren ist, worauf ich mich auf einen Wert der Schmerzfreiheit beziehe, welchen mein Gegenüber nicht teilen muss. Er könnte sich fragen, warum er einen solchen Wert haben sollte, wo ihm doch der Wert des Vergnügens, auf anderen Füßen zu stehen, deutlich mehr zusagt. Darwall nannte dies eine erstpersonale und eine drittpersonale Ansprache, wobei die erstpersonale einen akteursrelativen Grund nennt und die drittpersonale einen akteursneutralen Grund. Den Fuß jedoch aus zweitpersonaler Perspektive herunterzunehmen, einfach weil ich es bin, der es sagt, basiert auf der Autorität, die ich mit dieser Forderung verbinde. Jene ergibt sich daraus, dass im kontraktualistischen Sinne ein Überlegungsprozess über die akteursrelativen Gründe angestellt wird, der zu entsprechenden Prinzipien führt, die zu achten sind. Diese Prinzipien, die aus dem kontraktualistischen Überlegungsprozess hervorgehen, bieten wiederum Gründe für alle. Auf diese Weise werden die akteursrelativen Gründe zu moralischen neutralen Gründen. Derjenige, der einen akteursneutralen Grund für die Akzeptanz eines Prinzips nennt, muss selbst davon ausgehen, dass es bereits ein moralisches

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Prinzip gibt, auf das er sich als Grund berufen kann. Es ist beispielsweise das Prinzip, die Summe des Schmerzes auf der Welt so gering wie möglich zu halten. Nun sind es jedoch genau solche moralischen Prinzipien, die wir rechtfertigen wollen, und in der Tat, wenn sie gerechtfertigt sind, dann kann man sich auf sie als akteursneutrale Gründe berufen, da sie von allen Betroffenen vernünftigerweise akzeptiert werden könnten. Als akteursrelativen Grund, der sich erst einmal nur auf mich bezieht, kann eine Partei angeben, dass sie beansprucht, dass ihr nicht wehgetan wird, aber sie kann noch nicht sagen, ob dieser Anspruch tatsächlich berechtigt ist, denn dazu muss dieser Grund mit anderen akteursrelativen Gründen in einem entsprechenden Verfahren verrechnet werden. Diese Bemerkungen sind sehr wichtig, weshalb ich sie ein wenig ausführlicher besprechen werde, und zwar anhand eines Einwandes, der gegenüber dem Kontraktualismus vorgebracht wurde. Es ist der Einwand, dass das kontraktualistische Verfahren letztlich redundant ist, wenn ohnehin die Gründe entscheiden, was richtig und was falsch ist. Besonders Kontraktualisten in rousseauisch-kantischer Tradition sind von diesem Einwand betroffen. Der Einwand kennt viele Formen3, aber er baut sich in seinen Grundzügen in etwa folgendermaßen auf: Wenn ein Prinzip nicht gerechtfertigt ist, weil es von niemandem vernünftigerweise akzeptiert werden kann, dann muss es Gründe für diese Akzeptanz geben. Wenn es jedoch Gründe für die Akzeptanz gibt und das Prinzip deshalb gerechtfertigt ist, dann ist der Verweis auf die Akzeptanz redundant. Statt zu sagen, Prinzip Y ist gerechtfertigt, weil alle Betroffenen vernünftigerweise zustimmen könnten, könnten wir auch sagen, Prinzip Y ist gerechtfertigt, weil Grund X vorliegt (der überhaupt für die Akzeptanz sorgt). Bringt die kontraktualistische Formel also irgendetwas hervor, was nicht ohnehin schon da ist? Der Vorwurf ließe sich folgendermaßen allgemein festhalten: Redundanz-Vorwurf: Wann immer ein Prinzip gerechtfertigt wird, das vernünftigerweise akzeptiert werden kann, weil es die Eigenschaft X besitzt, ist dieses Prinzip deshalb gerechtfertigt, weil es die Eigenschaft X trägt, und nicht deshalb, weil die Eigenschaft X es vernünftigerweise akzeptabel macht.

3 | Dieser Einwand bezüglich der Redundanz des Kontraktualismus ist in unterschiedlichster Weise vorgebracht worden. Hampton (1991: 50-53) diskutiert dieses Problem im Allgemeinen sehr pointiert, ebenso wie Freeman (1990) und Pettit (1993: 299-302). Zu diesem spezifischen Einwand gegen Rawls siehe auch Lübbe (1977: 189- 193) und Hampton (1980). Mit Bezug auf Scanlon wird der Redundanz-Vorwurf beispielsweise von Thomson (1990), Blackburn (1999) und MacLeod (2001) vorgebracht.

9. Gründe im Überlegungsprozess

Nehmen wir ein einfaches Beispiel, um diesen Vorwurf zu veranschaulichen: Jemand schlägt einer Person in den Magen, weil er vielleicht nach einem Prinzip handelt, welches besagt, dass die Stärkeren mit den Schwächeren machen können, was sie wollen. Wir würden sagen, dass ein solches Prinzip verächtlich und grausam wäre. Zusätzlich könnten wir noch sagen, dass die Person, der in den Magen geschlagen wurde, niemals ein Prinzip akzeptieren würde, welches diese Handlung erlaubt. Aber auf letztere Weise scheinen wir doch die Richtigkeit und Falschheit für gewöhnlich nicht zu erklären. Ein Bezug auf Rechtfertigbarkeit gegenüber anderen, sodass diese anderen ein Prinzip vernünftigerweise akzeptieren könnten, fügt dem moralischen Grund, weshalb es falsch ist, gemäß dem Vorwurf nichts hinzu. Die Maßnahme oder Handlung war deshalb falsch, weil sie großes Leid verursachte. Klarerweise müssten wir sagen: Wann immer ein Prinzip vernünftigerweise akzeptiert werden kann, muss es eine Grundlage für diese vernünftige Akzeptanz geben. Diese Grundlage sorgt für die Rechtfertigung. Die Grundlage einer Zustimmung oder Akzeptanz kann vieles sein, etwa Fairness, Wohlergehen oder Freude. Ein Prinzip mag abgelehnt werden, weil es unfair ist, jemanden diskriminiert oder seine Freiheit einschränkt. Die rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze, so könnte man sagen, werden letztlich deshalb angenommen, weil sie fair sind, und nicht, weil sie akzeptabel sind, während andere alternative Grundsätze die bereits faire Ausgangsituation im Urzustand nicht überstehen. Genau deshalb lautet das rawlssche Credo: Gerechtigkeit als Fairness. Andere Grundsätze werden letztlich durch den moralischen Grund der Fairness ausgesondert, weil sie vielleicht enorme Ungleichheit im Wohlergehen (aufgrund der Hautfarbe etc.) zur Folge hätten, was ein paradigmatisches Beispiel wäre, ein Prinzip nicht anzunehmen. In jedem Fall würde diese Grundlage die wirkliche Arbeit leisten. Von der Tatsache, dass ein Prinzip fair ist, können wir direkt schließen, dass es richtig ist, und wenn ein Prinzip grausam ist, können wir direkt schließen, dass es falsch ist. Die Tatsache, dass solchen Überlegungen vernünftigerweise zugestimmt werden kann, ist gewährleistet, spielt aber im Grunde keine Rolle. Simon Blackburn hat dies bei der Besprechung von Scanlons Kontraktualismus folgendermaßen formuliert: »Nehmen wir an, es ist vernünftig, meine Prinzipien zurückzuweisen, weil sie zum Beispiel zu großen Ungleichheiten im Wohlstand führen. Warum ist nicht diese bloße Eigenschaft das, was meine Prinzipien falsch macht? Warum den Umweg über eine hypothetische Übereinkunft mit anderen gehen?« (Blackburn 1999, Übers. d. Verf.) Ebenso hat Judith Thomson behauptet, dass der Kontraktualismus in dieser Hinsicht redundant sei. Sie richtet unsere Aufmerksamkeit auf ein Beispiel, bei dem wir über die Folterung von Kindern aus Spaß nachdenken sollen. Dies scheint für uns doch klarerweise eine grausame Tat zu sein und deshalb ist sie falsch. Ein Prinzip, welches dies erlauben würde, ist erst recht falsch. Nichts muss mehr darüber gesagt werden.

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Die Tatsache, dass diese Tat die entsprechende moralische Natur hat, grausam zu sein, bietet uns einen starken Grund, kein Prinzip zu akzeptieren, welches solche Folter autorisieren würde. Grausamkeit und Unfairness sind darüber hinaus typische moralische Gründe. Wenn wir nun jedoch bereits eine Vorstellung moralischer Gründe besitzen, ist dann der gesamte kontraktualistische Apparat oder das Szenario der gedachten Übereinkunft schlicht gegenstandslos? Wenn wir einmal wissen, was die moralischen Gründe sind, dann können wir die Richtigkeit als eine Eigenschaft verstehen, die konstituiert wird durch den entsprechenden moralischen Grund, den wir wohl bereits an anderer Stelle irgendwo gewonnen haben. Wir könnten zwar ergänzen, dass das Prinzip gestattet ist, weil es jeder vernünftigerweise akzeptieren könnte, aber das würde nichts Wesentliches mehr hinzufügen. Wenn dies wahr ist, dann kann die Idee einer hypothetischen Übereinkunft nicht erklären, warum eine Handlung falsch wäre. Der Kontraktualismus sei deshalb nicht in der Lage, irgendetwas Konstruktives beispielsweise bezüglich der Falschheit der Folterung von Kindern aus Spaß zu leisten (vgl. Thomson 1990: 30, Fn. 19, 187ff.). Im Übrigen ist dies ein Schicksal, welches mit der Diskursethik geteilt wird. Nicht nur wird die Rolle eines Vertrages oder einer Übereinkunft bestritten, sondern im Prinzip könnten wir, wenn die Kritiker recht haben, dem Begriff des Konsenses allgemein eine konstruktive Rolle absprechen, wie es Leist passend ausdrückt: »Wozu Konsens, wenn allein die Gründe darüber entscheiden, was konsentierbar ist?« (Leist 2003: 15) Aus der Sicht von Thomson geht der Vorwurf sogar so weit zu sagen, dass die kontraktualistische Formel in gewisser Hinsicht trivialisierend ist. Weshalb nicht gleich sagen, dass eine Handlung grausam ist, anstatt darauf zu verweisen, dass sie nicht akzeptabel ist? Mir scheint es hier zweierlei Probleme zu geben. Erstens glaube ich nicht, dass sich beides ausschließen muss. Dies hängt damit zusammen, dass es Fälle gibt, in welchen es uns eben nicht offensichtlich erscheint, was genau falsch oder richtig ist, wie im Falle der Folterung, und selbst wenn wir solche Fälle betrachten, dann scheint es mir unzureichend, nur auf die Grausamkeit zu verweisen, denn was für einen Maßstab bietet uns Grausamkeit? Stattdessen können wir auch sagen, worin die Grausamkeit eigentlich besteht, und dann würden wir vielleicht so weit gehen zu sagen, sie bestehe darin, dass ich eine solche Handlung niemals gegenüber einem anderen in der Weise rechtfertigen könnte, dass er sie akzeptieren würde. Zweitens liegt hier ein Verständnis moralischer Gründe vor, die keine individuellen Gründe sind, sondern lediglich als akteursneutral begriffen werden. In der kontraktualistischen Formel bilden jedoch nicht die akteursneutralen, sondern die individuellen oder auch akteursrelativen Gründe die Basis für die

9. Gründe im Überlegungsprozess

vernünftige Akzeptanz.4 Auch Leist sieht die wesentliche Originalität eines Kontraktualisten wie Scanlon darin, dass er einerseits – wie auch Apel, Habermas, Kant und Rawls – einen praktischen Grund nicht einfach in Interessen fundiert, aber andererseits diese Gründe auf eine ganz andere Weise versteht. Wie Leist richtig beobachtet, brechen die neueren moralischen Kontraktualisten mit einer Annahme, wonach moralische Gründe immer akteursneutrale Gründe sein müssen, die für alle Akteure gelten. Stattdessen sind Gründe ganz allgemein akteursrelative Gründe (egal ob moralisch oder nicht-moralisch). Das sind Gründe, die immer einen Bezug auf das Individuum haben: »Dies setzt eine motivationale und nicht kognitive Form von Gründen voraus. Auf diese Weise wird verständlich, inwiefern das Begründen mit- und gegeneinander zugleich ein gründeorientiertes wie ein konstruktives Geschehen sein kann, in dem nicht allein durch das Gegebensein von Gründen alle Resultate von vornherein entschieden sind« (Leist 2003: 15f., eigene Hervorhebung). Ich werde dies im Folgenden noch näher erläutern. Dem Kontraktualismus geht es um die individuelle Akzeptanz. Wenn ich automatisch annehme, dass »Grausamkeit« oder die »Wahrung meiner Autonomie« als ein neutraler Grund verstanden wird, der also allgemein ist und keinen Personenbezug hat, dann wird allerdings verständlich, warum die Kritiker den Redundanz-Vorwurf anbringen. (1) Sie gehen davon aus, dass Gründe für die Akzeptanz in der Weise moralisch sein müssen, dass sie beispielsweise nicht nur auf dem Eigeninteresse von Personen beruhen. Das ist nachvollziehbar, habe ich doch bei der Vorstellung des Prichard-Dilemmas (Kapitel 7.1.) festgestellt, dass rein eigeninteressierte Gründe keine stabile Grundlage für Akzeptanz bilden. (2) Nun sagen sie auch, dass moralische Gründe immer neutrale Gründe sind. Dieser Schritt ist nicht so selbstverständlich. Wenn wir uns eine Situation vorstellen, in welcher eine Partei einwendet, dass sie unfair behandelt wird, dann ist dies immer noch »nur« ein individueller Grund, der darüber hinaus auch nicht automatisch zur Akzeptanz führt. Der anderen Person, der gegenüber dieser Einwand vorgebracht wird, muss nichts an Fairness liegen. Neutrale Gründe spielen im Kontraktualismus in der Frage der Akzeptanz keine Rolle. Die Rechtfertigung soll gerade dadurch erfolgen, dass die Zustimmung aus der eigenen Perspektive beziehungsweise vom eigenen Standpunkt aus mit Gründen erfolgen kann. Dabei gibt es prinzipiell eine unbestimmte Menge an individuellen Gründen, welche als Grundlage einer vernünftigen Akzeptanz dienen könnte. Fordert ein Prinzip von mir, dass ich meine eigenen Freunde und meine Familie nicht ausreichend berücksichtigen kann, dann ist dies ein Grund, das Prinzip nicht zu akzeptieren. Oder wenn mir vielleicht Entfaltungsmöglichkeiten genommen werden, dann habe ich 4 | Eine solche Linie der Argumentation verfolgt auch Ridge (2001, 2003) in der Verteidigung von Scanlons Kontraktualismus.

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ebenfalls einen Grund, nicht einzuwilligen. Ebenso könnte es auch daran liegen, dass mein Wohlergehen beschnitten wird. Gründe können alle möglichen Formen annehmen. Es fragt sich dann nur, ob sie den kontraktualistischen Überlegungsprozess, der auf Einigung zielt, überstehen können. Gründe können hier sowohl »moralischer« als auch »nicht-moralischer« Art sein, sind aber immer relativ auf das Individuum bezogen. Die Frage, die sich vor allem stellt, ist, wann ein moralischer Grund überhaupt »moralisch« ist. Die Kritiker würden sagen, ein moralischer Grund ist für jeden ein Grund, danach zu handeln. Das ist verständlich. Letztlich zielen wir ebenfalls darauf ab, jedem Betroffenen einen entsprechenden Grund in der Form eines moralischen Prinzips zu geben, auf das sich bezogen werden kann. Aber dies ist das Ergebnis und nicht bereits der Anfang der Überlegung. Wir stellen uns den kontraktualistischen Prozess so vor, dass es verschiedene Individuen, Standpunkte oder Perspektiven gibt. Wenn dort nun eine Person einwirft, dieses Prinzip würde ihr Leiden verursachen, dann hat erst einmal nur sie diesen Grund und niemand sonst. Nur sie kann sich vielleicht auch unfair behandelt fühlen. Für die anderen gilt dies noch lange nicht. Wenn nun aber ein so verstandener Grund gar nicht neutral ist, könnten wir natürlich auch sagen, dass es gar kein moralischer Grund ist. Einen moralischen Grund habe ich nach dem Kontraktualismus nur dann, wenn ich mich auf ein Prinzip berufe, welches jeder vernünftigerweise akzeptieren könnte (also nach der Verrechnung diverser individueller Gründe). Dies ist dann auch für die entsprechenden Betroffenen ein neutraler Grund. Aber zuvor – und das ist das Entscheidende – müssen die vielen individuellen Gründe miteinander in einem Überlegungsprozess bedacht werden. Es stellt sich ansonsten die Frage, woher wir überhaupt den epistemischen Zugang haben, etwas als neutralen Grund anzusehen. Wir könnten vielleicht einfach behaupten, dass jeder relative Grund mit einem neutralen Grund korrespondiert (das war die Strategie von Thomas Nagel). Mein Schmerz, den ich für mich vermeiden will, kann vielleicht auch zu einem Grund werden, allgemein Schmerz zu vermeiden. So einfach scheint sich der Übergang jedoch nicht immer vollziehen zu können. Dass ich beispielsweise Grund habe, Segeln zu gehen, ist einzig ein relativer Grund, da andere wenig bis gar keinen Grund haben, sich überhaupt darum zu kümmern. Die entsprechende Person macht es sich vielleicht zum Zweck, den sie verfolgt, weil es das Leben bedeutungsvoller für sie machen würde. Dieser Grund korrespondiert aber offenbar nicht mit irgendeiner Akteursneutralität. Der Rest von uns hat einfach keinen Grund. Selbst im Falle des Schmerzes kann dies stark kontextabhängig sein. Manchmal kann es korrespondierende Gründe geben, bei anderen scheint dies ausgeschlossen zu sein. Der Kontraktualismus bietet meiner Ansicht nach dafür eine Erklärung an, weshalb bestimmte individuelle Gründe auch für alle anderen relevant sein können. Es bedarf jedoch eines Verfahrens, welches die individuellen Gründe in moralische Gründe bezie-

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hungsweise Prinzipien überführt. Wo der Schmerz ein Grund ist, ein Prinzip zu akzeptieren, welches die Handlung, die den Schmerz verursacht, verbietet, kann sich nach der Verrechnung mit anderen möglichen individuellen Gründen herausstellen, dass dieses Prinzip vernünftigerweise akzeptiert werden kann. Wie dies genau gemeint ist, will ich anhand einiger Beispiele vermitteln. Die Frage ist, ob ein entsprechender Grund selbst die Grundlage dafür sein kann, dass ein Prinzip gerechtfertigt ist, ohne einen Bezug zur vernünftigen Akzeptanz. Entscheiden nur die Gründe? Eine potenziell durch ein Prinzip P negativ betroffene Person A würde vermutlich einen Einwand aufgrund dieser negativen Betroffenheit erheben. Der Grund, den Person A für den Einwand hat, wäre kein gültiger Grund für Person B. A hat Grund, ein anderes Prinzip Q zu akzeptieren, welches dafür sorgt, dass A diese Einschränkungen nicht hinnehmen muss. Aber dieser Grund von A bietet wiederum B keinerlei Grund, ein solches Prinzip zu akzeptieren. B könnte mit Prinzip P gut leben, denn B ist nicht negativ betroffen. Selbst wenn B vielleicht sogar A schadet, weil nach dem Prinzip P gehandelt wird, welches dies gestattet, dann hat auch nur A einen Grund, das Prinzip nicht zu wollen. Aber was für einen Grund könnte B haben, das Prinzip P nicht, dafür aber Q anzunehmen? Nehmen wir an, es gibt ein bestimmtes Prinzip, welches es dir erlauben würde, ein besseres Leben zu führen. Dies gibt dir einen Grund, das Prinzip zu akzeptieren. Deine Gründe haben jedoch keine Gültigkeit für mich, denn ich selbst würde kein besseres Leben durch das entsprechende Prinzip führen. Ich habe somit keinen Grund, ein Prinzip zu stützen, welches dir ein besseres Leben ermöglicht. Person A ist vielleicht an ein Gerät angeschlossen, welches ihm ein Weiterleben ermöglicht. A hätte damit einen guten Grund, ein Prinzip zu akzeptieren, welches darauf hinausläuft, dass dieses Gerät in jedem Fall weiterlaufen muss. Dies geht jedoch nur, wenn eine andere Person dafür Sorge trägt. Nun muss Person B einmal am Tag zu einer ganz bestimmten Zeit an einer Kurbel drehen, damit das Gerät weiter seine Arbeit leistet. Person B verpasst aber dadurch an einem Abend die Schulaufführung seiner Tochter, der er versprochen hatte, sie anzusehen. Person B hat keinen Grund, ein Prinzip zu akzeptieren, welches das Weiterleben von A gestattet, etwa ein Prinzip der Hilfe für Bedürftige oder Kranke. Er selbst befindet sich nicht in Lebensgefahr, er selbst ist kerngesund. Allenfalls bietet die Tatsache, dass er seiner Tochter ein Versprechen gegeben hat, ihm einen Grund, ein solches Prinzip nicht zu akzeptieren. Wie könnte das Prinzip dennoch akzeptiert werden? Aus kontraktualistischer Sicht sagen wir Folgendes: Ein Prinzip, welches besagt, dass ein Versprechen nicht gebrochen werden darf, selbst wenn dadurch verhindert werden kann, dass jemand stirbt, könnte durch den individuellen Grund des in Lebensgefahr befindlichen A nicht akzeptiert werden. Da B aber herausfinden will, nach welchen Prinzipien er handeln soll, was also richtig oder falsch ist, und er an einer Übereinkunft interessiert ist, muss er ein Prinzip finden, welches für sie beide

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akzeptabel ist. Nun sehen wir in der Tat, dass es nicht der relative Grund von A ist, der für B die entscheidende Rolle spielt (wie gesagt, hat B diesen Grund nicht), sondern die Tatsache, dass B sich mit einem anderen Prinzip nicht vor A rechtfertigen könnte beziehungsweise dass keine Übereinkunft zustande käme. Genau dies gibt ihm den entsprechenden Grund (die entsprechende Abwägungsfrage, ob denn eventuell der Grund, ein Versprechen zu halten, mehr wiegt, lasse ich vorerst beiseite). Wenn nun ein Grund alleine die moralische Richtigkeit eines Prinzips konstituieren würde (wie der Redundanz-Vorwurf impliziert), dann hätte B keinerlei Grund zu helfen. Den Grund, »weil ich am Leben bleiben möchte«, hat B offensichtlich nicht. Nur A hat diesen Grund. Was auch immer B für einen Grund hat, A zu helfen, es kann nicht derselbe Grund sein, den A hat. Der Grund könnte aber sein, dass B nur dann eine gerechtfertigte Handlung vollziehen kann, wenn A sein Prinzip vernünftigerweise akzeptieren kann. Betrachten wir noch ein weiteres Beispiel. Nehmen wir an, dass A ein bestimmtes Ziel hat. A hat damit einen Grund, jedes Prinzip zu akzeptieren, welches es ihm gestattet, dieses Ziel erfolgreich zu verfolgen. B hat keinen Grund, ein solches Prinzip zu akzeptieren, welches A gestattet, seine Ziele zu verfolgen. Was kümmern ihn die Ziele von A? Wenn B keinen Grund hat, ein solches Prinzip zu akzeptieren, kann B auch Handlungen ausführen, die den Zielen von A entgegenstehen. Welche Handlungen das auch sein mögen, es sind keine, die seine Ziele gefährden würden. Wenn entschieden werden muss, ob ein bestimmtes Prinzip gerechtfertigt ist, welches B dazu bringt, A nicht kraft seines individuellen Grundes, seine Ziele verfolgen zu wollen, von seinen Zielen abzuhalten, dann muss noch etwas zusätzlich hinzutreten, was uns sagt, warum der individuelle Grund von A auch B einen Grund geben kann. Was für einen rechtfertigenden Grund hat B, nach Prinzipien zu handeln, welche A nicht daran hindern, seine Ziele zu verfolgen? Die Antwort wäre, weil A vernünftigerweise nur ein Prinzip akzeptieren könnte, welches es ihm gestattet, seine Ziele zu verfolgen. Insoweit ein individueller Grund eine Grundlage für die vernünftige Akzeptanz gegenüber einem Prinzip sein kann, welches meine Handlungen erlaubt, so ist es diese Tatsache, welche mir einen moralischen Grund gibt, Handlungen nach diesem Prinzip entweder zu unterlassen oder sie auszuführen. Der moralische Grund, auf eine entsprechende Weise zu handeln, kommt erst durch die kontraktualistische Prüfung zustande. Was auch immer man über den Kontraktualismus denken mag, er ist in der Lage, die entsprechenden moralischen Gründe (jene Prinzipien, die vernünftigerweise akzeptiert werden können) aus den individuellen Gründen zu entwickeln. Er schlägt sozusagen eine Brücke, damit die individuellen Gründe des Einzelnen in ein Prinzip überführt werden, welches dann für alle Betroffenen gilt.

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Dies alles setzt voraus, dass es plausibel ist, dass wir ein großes Gewicht auf individuelle Gründe legen. Diese Einsicht drückt sich dadurch aus, dass die Parteien sich in der Weise rechtfertigen wollen, dass sie nach Prinzipien handeln, die alle vernünftigerweise akzeptieren könnten. Nur aus dieser Perspektive ist es möglich einzufangen, dass man anderen Unrechtes tut, und dies ist aus den individuellen Gründen nachvollziehbar. Der Kontraktualismus ist damit nicht sekundär, sondern er ist notwendig für die Erklärung, wie jemandes Gründe für die Akzeptanz eines Prinzips die Grundlage für eine Pflicht von jemand anderem sein können. Die Rechtfertigung und das Erreichen einer vernünftigen Übereinkunft bestehen darin, die Einwände und Zustimmungen aus den jeweiligen persönlichen Standpunkten zu erfassen, welche die Individuen jeweils einnehmen. Die Rechtfertigung ist natürlich komplexer, als sie in den Beispielen dargestellt wurde. Wir müssen natürlich die verschiedenen individuellen Gründe aller Seiten bedenken und dann ein entsprechendes vorzugswürdiges Prinzip finden. Aber für den Moment soll die Darstellung erst einmal zur Erklärung der Individualität der Gründe genügen.

9.2. P erspek tiven und generische G ründe Wenn wir die kontraktualistische Formel anwenden, stellen wir uns eine Situation mit Parteien vor, die motiviert sind, eine Übereinkunft über Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens zu erreichen. Für oder gegen ein Prinzip können sie individuelle Gründe anführen. Doch diese individuellen Gründe dürfen in Anbetracht der Tatsache, dass die Prinzipien, die für jeden möglicherweise von diesen Prinzipien Betroffenen gelten könnten, nicht von der ganz spezifischen Situation eines Individuums abhängen. Die Gründe müssen in eine allgemeinere Form gebracht werden, damit es sowohl falsch ist, wenn beispielsweise die besondere Person A etwas Unrechtes tut, als auch, wenn die besondere Person B exakt das gleiche Unrecht begeht. Es müssen Gründe sein, die von jeder Person kraft der Situation, in der sie sich befindet, vorgebracht werden könnten. Deshalb wird auf entsprechende generische Gründe zurückgegriffen (vgl. Scanlon 1998: 204f.). Wie die Berufung auf generische Gründe funktioniert, werde ich in diesem Kapitel klären. Zuvor seien einige grundlegende Bemerkungen gemacht, was wir bedenken müssen, wenn wir die kontraktualistische Formel zur Prinzipienüberprüfung anwenden. In verschiedenen Beispielen war diese Struktur bereits mehr oder weniger impliziert. Wenn wir wissen wollen, was von allen Betroffenen vernünftigerweise akzeptiert werden kann, vollziehen wir einige einfache Schritte:

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(1) Vorschlag eines Prinzips, welches bestimmte Regularien für das Zusammenleben enthält (2) Identifikation der Gründe für die Akzeptanz, die verschiedene Individuen mit verschiedenen Perspektiven haben, wenn sie durch die Anwendung des Prinzips betroffen sein würden (3) Identifikation der Gründe für die Ablehnung, die verschiedene Individuen mit verschiedenen Perspektiven haben würden, wenn sie durch die Anwendung des Prinzips betroffen sein würden (4) Vergleich der Gründe, die aus verschiedenen Perspektiven für und gegen das Prinzip sprechen (5) Überwiegen die Einwände, so muss ein neues Prinzip vorgeschlagen werden, welches die entsprechenden Einwände des vorangegangenen Prinzips nicht enthält. Dies wird vollzogen, bis ein akzeptables Prinzip feststeht. Schritt (1) erfolgt durch das Gegebensein eines praktischen Problems beziehungsweise einer Unsicherheit darüber, was unser Zusammenleben von uns fordert oder welche Rechte und Pflichten wir voreinander haben. Es wird viele verschiedene Möglichkeiten geben, entsprechende Regulierungen vorzunehmen. Wir setzen voraus, dass Individuen in unterschiedlicher Weise von Prinzipien betroffen sein werden beziehungsweise in unterschiedlicher Weise von einem Prinzip begünstigt oder benachteiligt werden. Es wird sich in den meisten Fällen so verhalten, dass bestimmte Standpunkte von Individuen mehr Grund haben, ein Prinzip abzulehnen, und andere Standpunkte mehr Grund haben, ein Prinzip zu akzeptieren. Der entsprechende Konflikt muss durch eine Einigung gelöst werden, indem die entsprechenden Gründe miteinander verglichen werden. Die Schritte (2) und (3) stehen unter der Bedingung, dass es Gründe sein müssen, die individuell sind, also einen Bezug zu einem persönlichen Leben haben können, welches von den möglichen Handlungen und Maßnahmen betroffen und beeinflusst wird, die durch ein entsprechendes Prinzip verboten oder erlaubt werden. Entscheidend ist, dass die Gründe von einer bestimmten Perspektive erfolgen, wie ich gleich noch näher ausführen werde. Diese individuellen Gründe müssen beispielsweise mit dem eigenen Wohlergehen, dem eigenen individuellen Status und den eigenen Ansprüchen und Forderungen verbunden sein. Es gibt vorerst keinen Anhaltspunkt zu sagen, dass ein Anspruch, der erhoben wird, auch für alle anderen gilt, oder dass ein unpersönliches Ziel (wie die Maximierung eines Gutes) unabhängig von allen Personen gleichermaßen geteilt wird.5 5 | Diese Einschränkung auf individuelle Gründe blockiert somit auf den ersten Blick eine interpersonelle Aggregation. Wenn ein Individuum einen Grund hat, gegenüber einem Prinzip etwas einzuwenden, so wird dieser Einwand nicht durch einen weniger

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Schritt (4) verweist darauf, dass das, was als vernünftige Akzeptanz zählt, von der komparativen Stärke der individuellen Gründe gegen und für das Prinzip abhängt. Ob ein Prinzip akzeptabel ist, hängt davon ab, ob jemand einen besseren individuellen Grund vorzubringen hat. Jedoch ist damit nicht nur einfach ein »blockierender« Grund gemeint, der die Suche nach einer Regelung des Zusammenlebens aussetzt. Deshalb ist die Frage, ob ein Prinzip akzeptabel ist, auch davon abhängig, ob ein besserer Grund für ein alternatives Prinzip vorgebracht werden kann, wie es der Schritt (5) vorsieht. Die Parteien wollen eine Übereinkunft erzielen und deshalb muss es wenigstens ein Prinzip geben, welches für das entsprechende praktische Problem eine Lösung bietet. Es wird also am Ende immer ein Prinzip geben. Welches es ist und wie fordernd es ist, hängt von der jeweiligen Stärke der Gründe für ein entsprechendes Prinzip und davon ab, ob alternative Prinzipien bestimmte Einwände nicht enthalten, welche die Position derjenigen stärken, die für das vorgeschlagene Prinzip votieren. Diese komparative Natur der vernünftigen Akzeptanz, kombiniert mit der individuellen Einschränkung und der Motivation, in jedem Fall eine Übereinkunft über ein Prinzip zu treffen, bewirkt, dass jedes Individuum vernünftigerweise ein Prinzip ablehnen kann, wenn es ein alternatives Prinzip vorweist, gegen das ein anderes Individuum keinen ebenso starken Einwand erheben kann. Es gibt viele Gründe, die ein Individuum für oder gegen ein Prinzip anbringen könnte. Ein klassischer Grund ist der Effekt, welchen die Implementierung des Prinzips auf das eigene Wohlergehen hat. Aber dies ist nicht die einzige Klasse von Gründen, die angeführt werden könnte. Ebenso mag schon die Art und Weise, also welche Kosten für das persönliche Wohlergehen entstehen, Gründe bieten, ein Prinzip nicht zu akzeptieren, etwa die willkürliche Bevorzugung einzelner oder mehrere Individuen. Oft werden es jedoch in der Tat Gewinne und Verluste im Wohlergehen sein, welche sehr bedeutsam für die Überlegungen der Betroffenen sind. Dies brauchen Kontraktualisten nicht zu leugnen, auch wenn sie die These zurückweisen, dass moralische Fragen in erster Linie Fragen des persönlichen Wohlergehens sind (vgl. Scanlon 1998: Kap. 3). Nehmen wir für einen Augenblick an, dass es vor allem Gründe des persönlichen Wohlergehens sein könnten, die über die Akzeptanz eines Prinzips entscheiden. Es ist eine wichtige Frage, ob in solchen Fällen, in denen die Kosten des Wohlergehens die bedeutsamsten Überlegungen sind, die Beurteilung von Prinzipien primär durch den Vergleich von Gewinn und Verlust des Wohlergehens unterschiedlicher Individuen erfolgt. Ich glaube, dass der Einwand einer Person gegen ein Prinzip sowohl von den relativen Bürden des starken Einwand nichtig, der von sehr vielen Personen vorgebracht wird. Aber dies bedeutet nicht, dass keinerlei normative Prinzipien für alle akzeptabel wären, welche die größere Zahl in bestimmten Kontexten begünstigt. Siehe dazu auch Kapitel 10.4.

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Prinzips abhängt (also dem Verlust von Wohlergehen unter diesem Prinzip im Vergleich zur Akzeptanz eines anderen Prinzips) wie auch von der absoluten Menge des Wohlergehens. Danach wird die Gewichtung des Wohlergehens eine zentrale Rolle spielen, wie auch im Utilitarismus. Der Hauptunterschied besteht jedoch darin, dass der Kontraktualismus (1) leugnet, dass Gewinne und Verluste des Wohlergehens die einzig relevanten Überlegungen sind und (2) leugnet, dass jene Gewinne und Verlust immer interpersonell zu aggregieren sind. Doch zu dieser Problematik werde ich noch kommen (insbesondere in Kapitel 10.2. und 10.4.). Für den Moment will ich nur festhalten, dass es sehr verschiedene Gründe für die Akzeptanz eines Prinzips oder die Formulierung eines Einwandes gegen ein Prinzip geben kann und dass auch das Wohlergehen der Individuen eine zentrale (und manchmal die zentralste) Rolle spielen könnte. Sehen wir uns die oben genannten Schritte (2) und (3) an. Es gibt Perspektiven von Individuen, welche Bürden tragen oder Opfer hinnehmen müssen, die ihnen ein vorgeschlagenes Prinzip auferlegt. Ebenso gibt es jene Perspektiven oder Standpunkte, die durch ein entsprechendes Prinzip Begünstigungen erwarten können. Eine mögliche Grundlage, etwas für oder gegen ein Prinzip vorzubringen, stammt aus diesen individuellen Perspektiven und letztlich aus der Art und Weise, auf welche die Personen beeinflusst würden, wenn das Prinzip in Kraft oder nicht in Kraft wäre. Nun gibt es in der Betrachtung eines Prinzips folgendes Problem: In dem Moment, wo wir eine entsprechende Überlegung anstellen, können wir nicht wissen, wer davon im Allgemeinen betroffen sein wird und wer nicht. Wir können nicht über jeden einzelnen Fall, der unter die Regulierung dieses Prinzips fällt, bereits etwas wissen. Noch können wir wissen, welche ganz spezifischen Individuen sich in Zukunft in einer entsprechenden Situation befinden werden, für welche dieses Prinzip eine moralische Anleitung gibt. Für ein bestimmtes Individuum wird es heute nicht notwendig sein, über ein Prinzip zur Tötung in Notwehr nachzudenken, da es heute nicht angegriffen wird. In Zukunft wird dies aber eventuell durchaus zutreffen oder für jemand anderen relevant sein, der sich dann in einer ähnlichen Situation befinden wird. Wenn ich heute in Notwehr töte und dies durch ein Prinzip legitimiert ist, dann kann dies gleichsam morgen bei jemand anderen nicht anders beurteilt werden, der sich in exakt derselben Situation befindet. Darin liegt die Allgemeinheit der Prinzipiensuche. Wir können uns die Perspektive von jemandem in einer Notwehrsituation und auch die Gründe und Einwände denken, die aus dieser Situation für und gegen bestimmte Prinzipien erhoben werden, aber damit steht noch nicht fest, dass wir selber einmal in einer solchen Situation sein werden. Dies ist ein »natürlicher Schleier des Nichtwissens«, wie ihn Sophia Reibetanz nennt: »Dieser natürliche Schleier des Nichtwissens ist vom künstlichen Schleier des Nichtwissens deutlich verschieden, auf den sich Rawls bezieht.

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Der natürliche Schleier des Nichtwissens nimmt von jenen, die Einwände erheben, kein Wissen weg, welches sie andererseits haben würden« (Reibetanz 1998: 301, Fn. 9, Übers. d. Verf.). Dieser Schleier drückt nichts weiter aus als die Ungewissheit über unsere Zukunft. Dies bedeutet, dass wir zu Perspektiven gelangen, welche typischerweise Menschen haben, die in einer bestimmten Weise situiert sind. Unsere persönliche Position als Inhaber dieser Perspektive wird dann weniger wichtig. Eventuell könnte auch jeder andere die entsprechende Perspektive haben und in der Weise situiert sein, auch er hätte dann entsprechende Gründe für die Ablehnung oder Akzeptanz eines Prinzips. Des Weiteren zwingt die Motivation der Parteien, eine Übereinkunft erreichen zu wollen, dazu, dass die Gründe, die sie vorbringen, eine bestimmte willkürfreie Form annehmen müssen. Die Maximalforderungen einzelner Parteien können von anderen nicht akzeptiert werden. Das bedeutet, ich kann nicht sagen, nur weil ich Person A bin, die besser frei und ungestört leben möchte, akzeptiere ich kein Prinzip, welches mir auferlegt, mich immer an meine Versprechen zu halten oder anderen nicht zu schaden. Besser wäre es für mich, ein Prinzip zu haben, welches besagt, dass alle anderen ihre Versprechen halten und niemandem schaden dürfen, während ich dies nur dann in Erwägung ziehe, wenn es mir beliebt. Ein solches Prinzip wird abgewiesen und Person A muss sich, wenn sie motiviert ist, eine Übereinkunft zu erreichen, auf die nächste Ebene begeben, wo es nicht nur darum geht, was sie für eine besondere Person ist, sondern welche Gründe kraft ihrer Situation bestehen, ein Prinzip zu akzeptieren oder abzulehnen. Weil nun in einer weiteren Überlegung viele mögliche Gründe aus sehr verschiedenen Perspektiven kommen müssen, brauchen wir statt sehr spezifischer Gründe eine Reihe von generischen Gründen, die wir bei der Überlegung heranziehen, welches Prinzip akzeptabel ist und welches nicht. Scanlon hat diese generischen Gründe in der Weise definiert, dass sie Gründe sind, die ein Mensch kraft seiner Situation, seiner Ziele, seiner Fähigkeiten und seiner Bedingungen besitzt (vgl. Scanlon 1998: 204). Dies bedeutet, dass diese Gründe von gemeinhin verfügbaren Informationen darüber abhängen müssen, was Menschen im Allgemeinen in solchen Situationen für Gründe haben. Wenn wir beurteilen, ob ein Prinzip angemessen ist für die Regulierung des Zusammenlebens, dann bedenken die Parteien nicht die bloßen Begünstigungen und Kosten, die eine Handlung nach diesem Prinzip zu einem spezifischen Anlass für eine spezifische Person zur Folge hätten. Da die Prinzipien die Handlungen von allen Betroffenen regulieren und damit auch aller möglichen Betroffenen, müssen die Gründe sich aus den allgemeinen Bürden und Begünstigungen ergeben, welche die Akzeptanz eines Prinzips für diese Perspektiven nach sich ziehen würden. Worauf wir uns in der Beurteilung der Akzeptanz eines Prinzips berufen, ist somit nicht das Interesse eines besonderen Individuums in einer ganz spezifischen Situation, sondern die Gründe, von denen wir sagen

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würden, dass sie jeder Betroffene hat, der sich in dieser Situation befinden würde. Nun mag es so erscheinen, dass ein direktes Gewichten von individuellen Gründen durch die Einführung von generischen Gründen geradezu vermieden wird. Durch die Bestimmung, dass in der Beurteilung von Prinzipien nicht auf die Einwände von spezifischen und im Ganzen situierten Personen zurückgegriffen wird, sondern eine Berufung auf abstraktere, generische Perspektiven erfolgt, wird anscheinend der individuelle Bezug verloren. Auf den ersten Blick mag dies in Widerspruch zum individualistischen Kern des Kontraktualismus stehen, nach dem die Prinzipien akzeptabel gegenüber jedem sein müssen, welcher von ihnen beeinflusst wird. In dieser Weise wären die generischen Gründe jedoch fehlinterpretiert, da wir damit sagen würden, dass die entsprechenden Einwände bei der Beurteilung von Prinzipien eben nicht von besonderen Individuen erhoben werden könnten. Doch dies ist gerade der Fall. Ein generischer Grund ist nicht gleich ein Grund für jeden, sondern nur ein Grund, welcher in Anbetracht einer Situation vorliegt. Es gibt gute Gründe, weshalb wir uns die Parteien in einer hypothetischen Situation so vorstellen sollten, dass sie sich an generischen Gründen orientieren. Wir schließen damit die Berufung auf Interessen aus, die in Anbetracht des Ideals, eine Übereinkunft zu erzielen, nicht berücksichtigt werden können. Würde nur das akzeptabel sein, was jeder kraft seines spezifischen Selbst akzeptieren kann, dann würde es keine Übereinkunft geben, da es aufgrund der Spezifik einer Person immer einen möglichen Einwand geben kann. Ist jedoch das Ziel, eine allgemeine Akzeptanz der Betroffenen zu erreichen und damit ein Übereinkommen zu ermöglichen, so muss der Grund generisch und weniger spezifisch werden. Wie sich ein bestimmter Vorteil, eine Begünstigung wie auch eine Bürde oder eine Benachteiligung im Einzelnen von einer besonderen Perspektive aus bemisst, ist im Grunde relativ unbestimmt. Im Falle des Wohlergehens müssten wir dann beispielsweise eine Grundlage in denjenigen Interessen finden, um die jeder Grund hat, besorgt zu sein, der sich in einer entsprechenden Situation, die sein Wohlergehen betrifft, wiederfinden kann. Ein einfaches Beispiel, auf das ich noch an anderer Stelle zurückkommen werde, sollte hier für Aufklärung sorgen. Nehmen wir an, es wird ein Prinzip vorgeschlagen, welches eine Pflicht vorsieht, anderen zu helfen, die in Not sind. In diesen Fällen können wir sehr klar zwischen denjenigen generischen Gründen unterscheiden, die für das Prinzip sprechen, und jenen generischen Gründen, die gegen das Prinzip sprechen. Die Gewinne und Verluste, die für verschiedene Individuen auf dem Spiel stehen, sind sehr ernsthaft, und klarerweise sind es welche, die jeder Grund hat zu wollen oder zu vermeiden, der auf der einen oder auf der anderen Seite betroffen ist. Auf der einen Seite und übereinstimmend mit Schritt (3) haben wir jene vor uns, die durch das Prinzip

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der Hilfe in Not belastet werden. Es sind diejenigen, welche die Hilfe leisten müssten, weil sie selbst nicht in Gefahr sind oder weil sie über die entsprechenden Mittel verfügen, helfen zu können. Aus dieser Perspektive werden sie sich auf wichtige Kosten im Wohlergehen beziehen, welche jede Person aus ihrer Perspektive Grund hätte zu vermeiden. Sie werden beispielsweise in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt und dies ist für sie ein Grund, das Prinzip nicht zu akzeptieren. Übereinstimmend mit Schritt (2) sehen wir uns die möglichen Gründe an, die für das Prinzip sprechen, da sie für entsprechende Perspektiven Begünstigungen bedeuten würden. Die potenziell Begünstigten des Prinzips der Hilfe in Not werden sich unzweifelhaft auf spezifische Formen der Hilfe berufen, die wir alle Grund haben zu wollen, da die Belastungen, die ohne jene Hilfe erlitten werden, etwas sind, das von großer Bedeutung für jedes Individuum in dieser Situation wäre, etwa der Verlust von Leib und Leben. Personen, welche die Perspektive aus (2) haben, müssen nicht die Gründe aus (3) haben und bleiben damit individuell, auch wenn es andere Personen gibt, die kraft dieser Situation ähnliche Gründe haben werden. Entscheidend ist Folgendes: Würden Einwände oder Gründe zugunsten eines Prinzips vorgebracht werden, die von der ganz spezifischen Situation eines einzelnen Individuums abhängen, dann gäbe es letztlich immer einen Grund für alle anderen, ein solches Prinzip nicht zu akzeptieren. Deshalb vollzieht sich sozusagen im Vorbringen von Einwänden und Gründen für und gegen ein Prinzip immer eine Bewegung hin zu den generischen Gründen, um daraufhin die Einigung zu erzielen, die gewünscht ist. Erst von dort aus gelangen wir auch zu einer komparativen Perspektive, von der aus sich die generischen Gründe der verschiedenen Perspektiven für und gegen das Prinzip miteinander vergleichen lassen. Generische Gründe repräsentieren immer noch die Gründe, die Individuen haben, aber sie basieren deshalb nicht ausschließlich auf den besonderen Interessen und persönlichen Charakteristiken sowie Vorlieben und Geschmäckern, die einzigartig für sich selbst sind. Jeder in der Situation, der Hilfe leisten müsste, kann den Grund anbringen, dass seine Handlungsfreiheit und sein Wohlergehen vermindert werden. Jeder, der Hilfe benötigt, kann sagen, dass sein Leib und Leben in Gefahr ist. Um Übereinkunft zu suchen, müssen wir nach Gründen Ausschau halten, die jeder kraft dieser Situation oder Perspektive haben könnte, und damit beurteilen, welche Vor- und Nachteile sich für die entsprechenden Perspektiven ergeben. Auf diesem Wege liegt Übereinstimmung im Bereich des Möglichen und so ist gewährleistet, dass sich alle Betroffenen auf das entsprechende Prinzip berufen und es demzufolge auch akzeptieren könnten. Ich fasse die Hauptpunkte noch einmal zusammen: Generische Gründe sind Gründe, die jede Person kraft einer bestimmten Situation hätte, auf die ein Prinzip Einfluss hat. Sie sind notwendig, um die Stärke der Gründe für und gegen ein vorgeschlagenes Prinzip zu vergleichen und eine Übereinkunft

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zu ermöglichen. Ebenso sind sie notwendig, weil wir nicht immer wissen können, wer von einem entsprechenden Prinzip einmal betroffen sein könnte.

9.3. I ntuitionen , I nformationen und K onsistenz Wenn verschiedene Gründe, welche die Parteien haben, miteinander verglichen werden, dann stellt sich die Frage, ob es einen vorausgehenden Standard für unser praktisches Urteilen gibt, der besagt, welche der Gründe Priorität gegenüber anderen Gründen besitzen. Wissen wir automatisch, dass der Grund, meine Handlungsfreiheit zu behalten, weniger stark ist als der Grund, zu wollen, dass in einer Notsituation Hilfe geleistet wird? Verlassen wir uns in diesem Falle auf unsere Intuitionen, um festzustellen, wer einen stärkeren Grund hat? Diesen Fragen, werde ich im Folgenden nachgehen und dabei versuchen zu zeigen, wie bestimmte Gründe ausgeschlossen oder gewichtet werden können. Ich werde zur Veranschaulich die Rechtfertigung eines bestimmten Prinzips berücksichtigen. Beispielhaft verwende ich das sogenannte Rettungsprinzip von Thomas Scanlon (vgl. 1998: 224), welches ich folgendermaßen wiedergebe: Scanlons Rettungsprinzip: Es ist falsch, jemandes entsetzliche Notlage nicht zu lindern, wenn man dafür nur ein leichtes oder moderates Opfer bringen müsste. Im vorherigen Kapitel bin ich auf die verschiedenen Perspektiven, die wir bedenken müssen, um ein Prinzip der Hilfe in Not zu rechtfertigen, bereits zu sprechen gekommen. Wenn dieses Prinzip vorgeschlagen wird, so muss die Stärke mindestens zweier generischer Perspektiven miteinander verglichen werden, um zu einem Urteil zu gelangen, welches entscheidet, ob das Prinzip vernünftigerweise von allen Betroffenen akzeptiert werden könnte. Jene, die wahrscheinlich oft Hilfe leisten müssten, könnten die Aufdringlichkeit und den Verlust an Lebensqualität als Gründe für eine begrenztere Pflicht anführen, die nicht immer von ihnen fordert, ein Opfer zu bringen, um anderen zu helfen. Andere Menschen wiederum, die potenziell in Gefahr sind, könnten die unerfreulichen Ereignisse, die ihnen ohne dieses Prinzip vermutlich geschehen würden, als Gründe für eine sehr umfassende Pflicht zur Hilfe anführen. Nun haben wir das Problem, dass wir ein Urteil wahrscheinlich nicht fällen können, wenn wir keine plausiblen Standards dafür haben, was vielleicht ein »leichtes« Opfer auf der einen Seite oder was eine »entsetzliche« Notlage auf der anderen Seite ist. Wir müssten die Stärke dieser Gründe irgendwie

9. Gründe im Überlegungsprozess

miteinander vergleichen. Wenn wir dies jedoch tun, was ist dann eigentlich unser Maßstab? Nun scheint der Kontraktualismus mit einem gewichtigen Einwand konfrontiert zu sein: Er kollabiere letztlich in einen Intuitionismus. Offensichtlich, so scheint es, müssten wir uns auf vorhergehende moralische Intuitionen berufen, um die Stärke der Gründe zu ermitteln. Vielleicht haben wir eine Intuition, wann etwas moralisch als so schlimm zu bewerten ist, dass in diesem Falle ein leichtes oder moderates Opfer verlangt werden kann. Auf der anderen Seite gibt es vielleicht Opfer, die so hoch sind, dass sie nicht vernünftigerweise gefordert werden können. Diese Kritik wurde insbesondere gegenüber dem Kontraktualismus von Thomas Scanlon angeführt. MacLeod (2001: 287, Übers. d. Verf.) bemerkt dazu, meiner Ansicht nach treffend, dass die Berufung auf Urteile dessen, was mehr oder weniger wiegt, eine »unattraktive Form des moralischen Intuitionismus herauf beschwört«. Auch Hughes/Wijze (2001: 193, Übers. d. Verf.) sehen dies kritisch: »Was diese Angelegenheit problematisch werden lässt, ist, dass es nicht klar ist, wie viel zusätzliches Gewicht eine Person vernünftigerweise ihren eigenen Interessen verleihen kann. Kann die Forderung, dass jemand seinen Arm opfert, um das Leben einer anderen Person zu retten, vernünftigerweise zurückgewiesen werden?« Wenn wir bestimmte Gründe miteinander vergleichen wollen, müssen wir eine Rangfolge aufstellen, wann etwas mehr wiegt als etwas anderes. Im Falle von gleichartigen Gütern mag ein Vergleich noch möglich sein, doch im Falle von Gütern, die sich gänzlich voneinander unterscheiden, ist dies schwerer. Es mag ja »intuitiv« einsehbar sein, dass die generischen Gründe, die aus der Perspektive armer hungernder Kinder erhoben werden, stärker sind als jene generischen Gründe, die aus der Perspektive reicher Individuen erhoben werden könnten, ihre Möglichkeiten und Freiheiten zu wahren, doch der Kontraktualismus bietet uns hier offenbar nicht selbst irgendeine normative Handlungsanleitung, wie diese Gründe am besten gewichtet werden. Warum sollte der Wohlhabende nicht einfach ein Prinzip mit Verweis auf den Grund ablehnen können, dass ihm dies zu aufdringlich ist und seine Freiheit einschränkt? Trifft dies zu? Fallen wir in einen Intuitionismus in dieser Betrachtung zurück? Der kontraktualistische Überlegungsprozess besteht in der komparativen Betrachtung verschiedener Einwände und Befürwortungen aus unterschiedlichen Perspektiven, um zu Schlussfolgerungen darüber zu gelangen, welches die gerechtfertigten Prinzipien des gemeinsamen Lebens sind. Was ausschließlich mit dem Verweis auf die Akzeptanz eines Individuums scheinbar nicht zur Verfügung steht, ist ein einzelnes Kriterium oder eine klare Werthierarchie, welche über die Stärke eines Einwandes entscheiden könnte. Der Utilitarismus hat es hier einfacher. Er würde einfach sagen, dass sich alles in eine einzige Kategorie übersetzen lässt, wie jene des Wohlergehens oder des Nutzens. Genau dann könnten wir sämtliche Gründe auf einen solchen

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Wert beziehen und feststellen, inwieweit ein bestimmtes Prinzip das Wohlergehen aller maximieren würde. Ich glaube nicht, dass wir erfolgreich darin sind, solche umfassenden Standards oder einen obersten Vergleichswert festzulegen. Damit werde ich mich im Moment aber nicht befassen. Wenn es eine Möglichkeit gibt, die eine solche Reduktion vermeidet, dann ist sie meiner Auffassung nach plausibler. Nicht alles lässt sich in Formen des Wohlergehens übersetzen und außerdem hätten wir dann immer noch das Problem, dass wir entscheiden müssten, was unser Wohlergehen mehr reduziert oder ihm förderlicher ist, was wiederum entweder von einem intuitiven Urteil abhängt oder von einer zweifelhaften Empirie. Bestimmte Ereignisse wie Hunger, Tod oder Verlust an Lebensqualität führen nicht immer Nutzensummen mit sich, die wir einfach miteinander vergleichen können. Mir scheint, wir müssen bezüglich des Intuitionismus-Vorwurfs zwischen zwei verschiedenen Arten von Intuitionen unterscheiden: (1) Wir haben Intuitionen darüber, was verschiedene Personen Grund haben zu akzeptieren oder abzulehnen. Es sind Intuitionen darüber, was für uns persönlich gut und was für uns persönlich schlecht wäre, wenn dieses oder jenes Prinzip in Kraft wäre. (2) Wir mögen ebenso Intuitionen haben, welche mit verschiedenen moralischen Normen korrespondieren, welche wir internalisiert haben. Diese können vielleicht in unseren moralischen Gefühlen ausgemacht werden, die wir über die Richtigkeit und Falschheit von Handlungen haben. Ein Beispiel wäre die moralische Intuition, dass wir keinen einzelnen Menschen opfern, um das Wohlergehen von zwei anderen zu steigern. Diese Intuition mögen wir auch dann haben, wenn es keine Intuition zu Gründen gibt, die irgendwie mit unserem persönlichen Leben verbunden wären. Intuitionen in der Art von (2) werden häufig an eine Moraltheorie als Erfordernisse herangetragen. So wird oft gesagt, dass das Ergebnis einer Moraltheorie mit unseren moralischen Intuitionen übereinstimmen muss. Es sind also nicht unbedingt die Arten von Intuitionen, die uns selbst betreffen müssen, sondern es sind Intuitionen zu ganz bestimmten allgemeinen Normen, die wir ganz unabhängig von uns für richtig oder falsch halten können, wie etwa die Aussage: Sklaverei ist falsch. Wenn es um die Frage geht, welche Gründe stärker wiegen, sind die Intuitionen ersterer Art für den Kontraktualismus relevant, nicht aber die Intuitionen zweiter Art, die bereits Überzeugungen moralischer Prinzipien ausdrücken. Letztere können allerdings durch den Kontraktualismus überprüft werden. Es sind somit (wenn überhaupt) nicht die moralischen Intuitionen über richtig und falsch, die innerhalb des Tests der vernünftigen Akzeptanz Verwendung finden, sondern unsere Intuitionen dazu, was Menschen persönlich bevorzugen würden. Mir scheint, es ist eine andere Frage, ob wir sagen, dass es moralisch weniger vertretbar ist, Menschen Hunger leiden zu lassen, als wenn wir fragen würden, welchen Grund ein Mensch persönlich für sich höher gewichten würde: keinen Hunger zu leiden oder keine Handlungsfrei-

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heit einzubüßen. Wir können uns im Rahmen einer kontraktualistischen Überlegung, ausgehend von Intuitionen der Klasse (1), nicht von vornherein sicher sein, dass die entsprechenden moralischen Intuitionen der Klasse (2) bestätigt werden oder genau zu diesen letzteren führen. Wenn auf Intuitionen der Klasse (1) zurückgegriffen wird, wäre es naheliegend, eine Theorie des Guten zu bestimmen, also das zu bestimmen, was die Parteien wollen und was sie in jedem Fall für wichtig halten. John Rawls hat ebenfalls mit einer solchen Theorie gearbeitet: Die Parteien in seinem Urzustand streben nach sogenannten Grundgütern. Diese Grundgüter sind Allzweckmittel wie »Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen« (Rawls 1979: 112). Eine solche schwache Konzeption des Guten ist nicht konstruiert, sondern basiert auf entsprechenden Intuitionen, was gut oder schlecht für jemanden ist (wobei solche Vorstellungen natürlich nicht ausschließlich intuitiv sind, sondern auch empirisch gestützt werden können). Weshalb solch eine Theorie nicht von Anfang an voraussetzen? Ich glaube, dass eine stärker prozedurale Auffassung, wie sie Thomas Nagel oder Thomas Scanlon vertreten haben, vielversprechender ist, weil sie flexibel ist und je nach Kontext entsprechende Güter berücksichtigen kann. Martha Nussbaum (2010) hat dies kritisiert und möchte das Gute direkt in Form einer Liste dessen bestimmen, was für Menschen wertvoll ist. Dieser Ansatz »beginnt also mit dem Ergebnis: mit einer bestimmten substanziellen intuitiven Vorstellung, die wesentlich auf ein der Menschenwürde gemäßes Leben bezogen ist« (Nussbaum 2010: 120). Es ist damit ein materialer und kein prozeduraler Ansatz. Das Problem ist einfach, dass wir bei der Festschreibung einer Theorie des Guten zu stark auf Intuitionen angewiesen bleiben. Des Weiteren bestehen große Zweifel, ob eine solche Vorstellung des Guten tatsächlich immer aufrechterhalten werden kann und in jeder Situation Gültigkeit hat. Plausibler wäre es, je nach Problem, welches sich stellt, zu überlegen, welche Güter betroffen sind. Dann kann bedacht werden, ob das Gut, nach dem die Parteien streben, mit dem Gut vereinbar ist, nach dem andere Parteien streben. Nussbaum hat diese Möglichkeit bei Scanlon korrekt analysiert, welcher eine Auffassung davon hat, dass die Theorie des Kontraktualismus »ohne eine unabhängige Theorie des Guten auskommt, wenn sie einfach jedes Gut, nach dem die Parteien streben, an den Ideen des Kontraktualismus misst« (ebd.: 211). Leider hat auch Scanlon dies nicht hinreichend erläutert und darin besteht auch die Unzufriedenheit von Nussbaum mit diesem Ansatz. Ich werde jedoch versuchen, plausibel zu machen, wie wir auch ohne eine festgeschriebene Theorie des Guten Überlegungen darüber anstellen können, welche Gründe gewichtiger sind als andere. Das Problem, auf intuitive Urteile in der Hierarchisierung von Gründen zurückzugreifen, besteht meiner Ansicht nach vor allem dann, wenn Gründe für oder gegen ein zu rechtfertigendes Prinzip ihre Stärke aus verschiedenen inkommensurablen Quellen beziehen. Nehmen wir an, jede Partei bringt

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exakt denselben Grund für oder gegen ein Prinzip an, etwa den Verlust von Einkommen. In diesem Falle lässt sich leicht feststellen, wer mehr oder wer weniger verliert und damit auch wer den stärksten Grund hat. Sind die Gründe jedoch nicht in dieser Art vergleichbar, sondern so unterschiedlich wie »Handlungsfreiheit bewahren« oder »Hunger leiden«, dann müssen wir ein Urteil fällen, welcher dieser Gründe stärker ist. Wie können wir entscheiden, welche der zwei Überlegungen mehr Grund gibt, ein Prinzip zu akzeptieren? Wenn wir ein entsprechendes Urteil fällen, scheint uns doch gar keine andere Möglichkeit mehr zu bleiben, als uns auf unsere Intuitionen zu berufen. Ich glaube, es lässt sich Folgendes sagen: Wenn Standards für Urteile über Gründe aus zwei verschiedenen Quellen kommen, dann kann es sein, dass nicht alle Behauptungen über die Stärke von Gründen gültig sind und wir somit durchaus zu einem Urteil darüber gelangen, welche moralischen Prinzipien vernünftigerweise akzeptiert werden können. Diese These werde ich im Folgenden versuchen zu bekräftigen. Bisher habe ich noch keine vollständige Antwort auf den IntuitionismusVorwurf bezüglich der Gewichtung verschiedener Einwände gegeben. Dieser ist so zu verstehen, dass wir zwangsläufig auf bloße Intuitionen zurückgreifen müssen, weil wir keine Standards haben, mit denen wir die praktischen Gründe beurteilen können. Verschiedene Individuen legen unterschiedliches Gewicht auf verschiedene Aspekte ihres Lebens. Vergleiche zwischen den Gründen zu tätigen, bedeutet, eine Gewichtung bezüglich der Gründe vorauszusetzen und damit eine Auffassung davon zu vertreten, was für einen Menschen gut ist und was nicht. Verschiedene Personen gelangen wahrscheinlich oft zu verschiedenen und widersprüchlichen Resultaten in Bezug auf die entsprechenden Prioritäten. Was macht den Grund, meine Autonomie zu wahren, schwächer oder stärker als den Grund, nicht verhungern zu wollen? Um was wir uns an dieser Stelle kümmern sollten, ist meiner Auffassung nach Folgendes: Wir müssen nach einer Möglichkeit suchen, dass einige Urteile sich als nicht fundiert erweisen, beziehungsweise zeigen, dass bestimmte Gründe kein Gegengewicht zu bestimmten anderen Gründen bilden können. Es gibt Wege, die Urteile über einen praktischen Grund zu kritisieren, die hilfreich sind, wenn wir überlegen, welche Prinzipien im Rahmen einer kontraktualistischen Überlegung gerechtfertigt werden können. Zwei Arten, wie wir dies bewerkstelligen können, möchte ich an dieser Stelle vorschlagen. Wir können die vorgebrachten Gründe (1) im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Informationen kritisieren und wir können sie (2) im Hinblick auf ihre Konsistenz kritisieren. Ein möglicher Ansatzpunkt, bestimmte Gründe als weniger gewichtig einzustufen, wäre die Berücksichtigung von entsprechenden Informationen. Zwar ist es oft nicht einfach, sich vorzustellen, welche Auswirkungen ein entsprechendes Prinzip, sollte es denn in Kraft sein, auf das eigene Leben haben

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wird, und in einigen Kontexten könnte sich auch das genaue Gegenteil dessen entwickeln, was ursprünglich beabsichtigt wurde, doch der Punkt ist, dass die angenommenen Konsequenzen, die für ein individuelles Leben vorhanden wären, vielleicht bei der Formulierung eines Grundes nicht richtig eingeschätzt werden. Mit anderen Worten: Der Einwand wäre gar kein Einwand, wenn alle verfügbaren Informationen bedacht worden wären. Wir können das anhand eines möglichen Einwandes gegen Scanlons Rettungsprinzip betrachten. Wir haben zwei generische Perspektiven mit unterschiedlichen Gründen angenommen. Einerseits haben wir die Gründe, basierend auf der Zudringlichkeit des Prinzips, für jene, die häufig helfen müssten, und auf der anderen Seite jene, die Hilfe aufgrund des Leides benötigen, welches sie ertragen müssten. Diejenige Seite, welche oft helfen müsste, nimmt an, dass an einem bestimmten Punkt das Erfordernis, jedes Mal zu helfen, ihr eigenes Leben zu leben und Ziele zu verfolgen, sehr einschränken würde, sodass ein anspruchsvolles Hilfsprinzip eine zu große Zumutung wäre. Genau diese Annahme kann jedoch aufgrund der Informationsgrundlage angefochten werden, auf welcher sie basiert. Beispielsweise könnten viele Pflichten institutionalisiert werden, sodass daraus deutlich weniger Zudringlichkeit für das eigene Leben folgt. Damit wird vermieden, dass eine Forderung etabliert wird, die dazu führt, dass jede Person sehr viele Opfer für andere erbringen müsste. Öffentliche Dienste, aber auch Entwicklungshilfe etc. wären Beispiele für solche Institutionalisierungen. Ein sehr forderndes Hilfsprinzip für jene, die Leid erdulden müssen, muss also nicht notwendigerweise eine enorme Zudringlichkeit mit sich führen. In diesem Sinne können wir sagen, dass der Einwand gegen das Prinzip nicht mehr besteht und wir ihn demzufolge gar nicht mehr mit einem anderen Grund vergleichen oder aufwiegen müssten. Abgesehen davon, gibt es selbstverständlich genügend Fälle, wo keine weiteren Informationen herangezogen werden können. Dann stehen sich wiederum beide Perspektiven gegenüber. An dieser Stelle wäre es hilfreich, auf die Konsistenz bei der Vorbringung von Gründen zu verweisen. Diese Möglichkeit ergänzt einen Vorschlag von Nagel (1996), den ich im Anschluss ausführen werde. Gründe, welche Parteien anbringen, folgen in gewisser Weise einer bestimmten hierarchischen Ordnung. Persönlich müssen wir im Leben immer wieder Entscheidungen darüber treffen, was prinzipiell mehr wiegt. Auf diese Weise haben Personen so etwas wie höherstufige und niedrigstufige Gründe, die es ihnen ermöglichen, die Konsistenz beim Vorbringen dieser Gründe zu wahren. Dies kann dann angewandt werden, um einen Weg zur Akzeptanz zu ebnen. Ich werde versuchen, dies anhand des Rettungsbeispiels erneut aufzuklären: Die einen werden sagen, das Rettungsprinzip sei zudringlich und würde sie in ihrer Möglichkeit einschränken, freie Entscheidungen zu treffen (vielleicht trotz der Möglichkeit einer Institutionalisierung). Sie würden ihre Res-

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sourcen vielleicht gern anders verwenden. Die anderen führen das Leid an, welches ohne dieses Prinzip für sie folgt. Wieder befinden sich die Parteien in einer Sackgasse. Doch nach wie vor wünschen die Parteien, in der Weise zu handeln, die so zu rechtfertigen ist, dass dies von allen Betroffenen vernünftigerweise akzeptiert werden kann. Was wird für alle akzeptabel sein? Die Perspektive, welche Gründe angibt, nicht durch das Prinzip eingeschränkt zu werden, könnte sich einer Inkonsistenz in Anbetracht der Gründe der anderen Perspektive schuldig gemacht haben. Dies funktioniert folgendermaßen: Die eine Perspektive wünscht ein Rettungsprinzip, weil sonst für sie Hunger, Leid und vielleicht sogar Tod die Folgen wären. Die andere Perspektive wünscht ein schwächeres Prinzip, weil sonst freiheitliche Einschränkung, Zudringlichkeit und Beschneidung von Ressourcen die Folgen wären. Nun kann eine Inkonsistenz folgendermaßen bestehen: Die Parteien, welche Zudringlichkeit, Entscheidungsfreiheit und Verfügungsgewalt über die eigenen Ressourcen als Gründe anführen, können dies nur dann, wenn sie gerade nicht selbst durch Leid, Hunger oder gar Tod bedroht sind. Die Gründe, die sie für ihre Ablehnung haben, bauen auf den Gründen auf, die andere für das Rettungsprinzip anführen. Dazu muss lediglich der Nachweis erbracht werden, dass die gleichen Grundlagen, die eine Person hat, zu denken, dass ihr Grund ein guter Grund ist, in derselben Logik die Gründe einer anderen Person mehr zählen lassen. Derjenige, der freie Wahl, geringe Zudringlichkeit und zusätzliches Wohlergehen für gute Gründe hält, muss es auch als guten Grund zählen lassen, einige Basisvoraussetzungen zu besitzen, von denen aus diese weiteren Gründe überhaupt möglich sind. Wenn die Gründe der Gegenseite dann genau in diesen Basisvoraussetzungen bestehen, so muss sie anerkennen, dass diese Gründe stärker wiegen, um selbst nicht inkonsistent zu sein. Demzufolge muss das Rettungsprinzip vernünftigerweise akzeptiert werden, damit eine Übereinkunft zustande kommt und Rechtfertigung vor dem anderen möglich wird. Darüber hinausgehend ließe sich eine Hierarchie drängendster Gründe festlegen, die entsprechend auch auf Übereinkunft beruht. Dies entspricht im Wesentlichen einer Auffassung von Thomas Nagel. Wir müssen den Anspruch eines jeden vollständig betrachten: »Er [der Anspruch eines Individuums, A.O.] umfasst mehr oder minder alle seine Bedürfnisse und Partikularinteressen, allerdings in einer Rangordnung ihrer relativen Dringlichkeit oder Wichtigkeit. Damit steht zum einen fest, welche Bedürfnisse zuerst zu befriedigen sind, und zum anderen, ob dies zu geschehen hat, bevor oder nachdem den Präferenzen anderer bereits entsprochen wurde. Man beruft sich dabei auf so etwas wie eine Einhelligkeit, die der Einstimmigkeit so nahe wie nur möglich kommen solle« (Nagel 1996: 164f.). Meiner Ansicht nach muss der kontraktualistische Überlegungsprozess in der Weise stattfinden, dass die Parteien sich dahingehend zur Übereinkunft bewegen, dass Interessen nach ihrer Dringlichkeit gestuft werden. Dies scheint mir ein unabdingbares Erforder-

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nis zu sein, um zur entsprechenden allgemeinen Akzeptanz eines Prinzips zu gelangen und die Verhandlung nicht zu blockieren. Der Prozess sieht dann folgendermaßen aus: »Eine gesellschaftliche Regelung soll zunächst unter dem Gesichtspunkt der elementarsten Ansprüche aller Individuen annehmbar sein, dann unter dem Gesichtspunkt der in dieser Rangordnung zweitelementarsten Ansprüche aller Individuen und so fort« (ebd.: 165). Dazu gehört jedoch auch die Einsicht, »dass die Dringlichkeitsordnung nicht alle Konflikte wird lösen können, weil es bereits auf ihrer untersten Ebene zu Interessenskollisionen kommen kann« (ebd.). Das betrifft dann aber wesentlich Interessenskollisionen, die auf derselben Stufe der Dringlichkeit stattfinden können, also prinzipiell ein Fall von kommensurablen Gründen sind. Einen genaueren Überlegungsprozess werde ich in Kapitel 10.2. noch ausführen. Die Erfordernisse der hinreichenden Konsistenz und der Informationen im Rahmen der Beurteilung von Gründen zeigen, dass wir keinen bloßen moralischen Intuitionismus mit dem Kontraktualismus vertreten. Darüber hinaus lässt sich auch eine Form von Einigkeit über die möglichen Gründe gewinnen, indem ein Gut nach dem anderen entsprechend seiner Dringlichkeit begutachtet wird. Was letztlich akzeptiert wird und was nicht, setzt sich in der ewigen Verhandlung bis zu dem Punkt fort, an dem es nur noch den Weg der Übereinstimmung geben kann. Die Struktur der Verhandlung legt nahe, dass eine entsprechende Hierarchie auf der Grundlage der Übereinkunft ermittelt werden kann. Bedachte Urteile über Gründe müssen die Bedingungen der Konsistenz und der Informationsverfügbarkeit erfüllen, damit sie im Überlegungsprozess über die allgemeine Akzeptanz von Prinzipien berücksichtigt werden können.

9.4. H olismus der R echtfertigung Selbst mit Informationsvollständigkeit und Konsistenz der vorgebrachten Gründe mag es sein, dass immer noch problematische Situationen auftauchen, die es erforderlich machen, auf ein moralisches Urteil darüber zurückzugreifen, was gewichtiger und was weniger gewichtig ist. Wäre es nicht dennoch möglich, dass auf moralische Intuitionen zurückgegriffen wird, die Überzeugungen widerspiegeln, die in Prinzipien formuliert werden können? Ist es nicht bei der Abwägung von Gründen sogar in manchen Fällen notwendig, dass ein vorhergehendes moralisches Verständnis darüber vorhanden ist, welchen Gründen ein größeres Gewicht beigemessen werden kann? Was wäre falsch daran, ein Prinzip (wie das Verbot von Sklaverei) bereits als Prinzip im Überlegungsprozess zugrunde zu legen? Würde es nicht das Urteil darüber, welche Gründe zulässig sind und welche nicht, sehr vereinfachen? Offenbar wird manchmal ein Hinweis benötigt, wie mit den individuellen Gründen zu verfahren ist, um zu einem Urteil darüber zu gelangen, auf was sich ver-

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nünftigerweise geeinigt werden kann. Das Problem ist, dass nicht ganz klar ist, wie der Überlegungsprozess an einigen Stellen überhaupt weitergeführt werden kann, ohne substanziellere moralische Prinzipien zugrunde zu legen, die beispielsweise gebieten, die Gleichheit der Personen zu achten. Die Idee, dass wir etwa Probleme der Verteilungsgerechtigkeit lösen könnten, ohne eine weitere vorgeordnete moralische Bewertung zur Verfügung zu haben, scheint in höchstem Maße zweifelhaft. Ist ein solches Problem allein mit dem Verweis auf das Motiv der Übereinkunft zu lösen? Wovon man den Kontraktualismus wie auch andere Moraltheorien freimachen sollte, ist Folgendes: Wir können nicht bei jeder Entscheidung bei null anfangen. Die Tatsache, dass wir nicht sehen können, wie der kontraktualistische Überlegungsprozess in solchen Fällen funktionieren soll, in denen substanziellere moralische Prinzipien unweigerlich bereits vorausgesetzt werden müssen, ist, dass der Sinn nicht verstanden wird, nach welchem moralische Voraussetzungen bei der Entscheidung innerhalb des Kontraktualismus eine Rolle spielen können. Am klarsten hat dies Thomas Scanlon herausgestellt: »Während es in zu beanstandender Weise zirkulär wäre, ›vernünftige Zurückweisung‹ auf Ansprüche der gleichen Art beruhen zu lassen, die das infrage stehende Prinzip etablieren sollen, so ist die Annahme irreführend, dass, wenn wir die ›vernünftige Zurückweisbarkeit‹ eines Prinzips beurteilen, wir alle Annahmen über andere Rechte und Ansprüche beiseitelassen müssen.« (Scanlon 1998: 214, Übers. d. Verf.) Scanlon präferiert einen sogenannten Holismus der moralischen Rechtfertigung, was im Klartext heißt, dass wir bei der Beurteilung eines Prinzips manchmal andere Prinzipien für feststehend halten müssen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass wir in der Frage, welches Prinzip akzeptabel ist, nicht von allem anderen absehen müssen, auch nicht von sämtlichen moralischen Inhalten. Es ist richtig, dass das Prinzip, welches gerechtfertigt werden soll, und die Bestandteile, die es ausmacht, nicht zur Grundlage der Beurteilung gemacht werden können. Dieses Prinzip muss das Ergebnis und nicht der Anfang der Überlegungen sein. Wir stellen uns vor, wie es uns als Individuum gehen würde, wenn dieses Prinzip nicht bestehen würde, und stellen uns ebenso vor, was sich für uns ändern würde, wenn dieses Prinzip in Kraft wäre. Welche Perspektiven werden von diesem Prinzip profitieren und welche Perspektiven würden einen Nachteil erleiden? Dass wir uns jedoch gleichsam von allen anderen moralischen Prinzipien verabschieden müssen, muss keine Bedingung sein. Ich glaube, es gibt hier zwei Fragen, die sich stellen: (1) Kann bei der Rechtfertigung eines Prinzips im Hintergrund an anderen Prinzipien festgehalten werden? (2) Sollten nur Einzelprinzipien oder nicht vielmehr gleich ganze Mengen oder Sets von Prinzipien beurteilt werden? Im Gegensatz zu Scanlon glaube ich nicht, dass bei jeder moralischen Betrachtung andere Prinzipien vorausgesetzt werden müssen. Das Ideal der

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Übereinkunft ist bereits eine hinreichende Grundlage, um zu einigen Prinzipien zu gelangen. Dies liegt aber auch daran, dass ich der Idee der Rechtfertigung eine spezifischere Struktur gegeben habe, von der ich glaube, dass sie gleichsam Kompromissbereitschaft, Willkürfreiheit und Reziprozität enthält (Kapitel 7.6.). Der Überlegungsprozess muss sich so vorgestellt werden, dass ein solches Motiv bei den Parteien angenommen wird. Wenn wir beispielsweise über ein recht einfaches und basales Prinzip des Tötungsverbots befinden wollen, so scheint es nicht notwendig, noch weitere moralische Prinzipien heranzuziehen. Der Fall ist deshalb so einfach gestrickt, weil jeder den entsprechenden generischen Grund anführen kann, um sein Leib und Leben besorgt zu sein. Würde ich ein solches Prinzip ablehnen, erkläre ich gleichsam, dass ich eigentlich nicht nach einer Übereinkunft suche. In einem anderen Sinne könnte aber durchaus davon gesprochen werden, dass immer andere Prinzipien oder zumindest ein einziges Prinzip für feststehend gehalten werden muss. Wird das Ideal, eine Übereinkunft zu suchen, als moralisches Handlungsprinzip in dem Sinne aufgefasst, dass es uns sagt, dass wir zur Ermittlung von Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens nach Übereinkunft streben sollen, so könnte die Auffassung Scanlons aufrechterhalten werden. Ich selbst glaube, dass es einige grundlegende Prinzipien gibt, die allein vom Motiv der Übereinkunft aus betrachtet werden können. Es kann direkt vom praktischen Standpunkt aus zu bestimmten grundlegenden Prinzipien gelangt werden. Damit die Parteien nun aber auch entscheiden können, was in schwierigen Fällen richtig und falsch ist, können bestimmte moralische Prinzipien für fix gehalten werden, denn gerade bei spezifischeren Fällen und Abwägungsproblemen bringt es nichts, immer wieder von vorne zu beginnen oder wirklich von allem Möglichen, was einen moralischen Inhalt hat, abzusehen. Konkret bedeutet dies, dass wir die Prinzipien nicht in einem luftleeren Raum einzeln nacheinander bewerten und uns dann immer wieder auf einen moralfreien Zustand beziehen. Letztlich glaube ich auch nicht, dass es überhaupt logisch möglich ist, über einige Prinzipien ein Urteil zu fällen, ohne andere moralische Prinzipien für feststehend zu halten. Es wäre beispielsweise problematisch, über ein Prinzip zu urteilen, welches eine bestimmte Verteilung von Gütern vorsieht (etwa der Fall, ob wohlhabendere Menschen anderen Menschen in Armut helfen sollten), wenn nicht gleichsam ein Prinzip existiert, welches regelt, wann überhaupt in legitimer Weise Eigentum besessen werden darf. Auf ähnliche Beispiele werde ich noch zurückkommen. Festzuhalten ist aber, dass sich einige praktische Probleme erst vor dem Hintergrund anderer moralischer Prinzipien des geregelten Zusammenlebens lösen lassen oder sich überhaupt erst stellen. Wenn dem aber nun so ist, dass bestimmte Prinzipien ohne den Hintergrund von anderen Prinzipien nicht gerechtfertigt werden können oder dass einige Prinzipien zur Konstruktion komplexerer Prinzipien verwendet werden

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können, wäre es dann nicht auch möglich, die Prinzipien gleich als Mengen zu beurteilen?6 Damit komme ich zur zweiten Frage. Der Punkt ist, wie erwähnt, dass einige moralische Probleme in ihrer Existenz davon abhängen, dass sie in einem Rahmen mit anderen Prinzipien auftreten. Nehmen wir beispielsweise an, ich versuche zu entscheiden, ob es moralisch erforderlich ist, meine Ressourcen aufzuwenden, um Bedürftigen zu helfen, die kein Recht haben, diese Ressourcen ohne mein Einverständnis zu nehmen. Jedes Prinzip darüber, was ich mit meinen Ressourcen tun soll, um anderen zu helfen, setzt hier bereits andere moralische Prinzipien voraus, welche mir beispielsweise die Berechtigung an meinem Eigentum geben oder die Sträflichkeit des Stehlens festhalten. Statt nun einfach die entsprechenden Eigentumsrechte vorauszusetzen und dann zu entscheiden, was für eine Pflicht der Hilfe von uns gefordert werden kann, wäre es denkbar, über alle Prinzipien gleichsam zu befinden. Wir denken die Prinzipien in der Konstruktion zusammen. In der Tat stellt sich in Anbetracht dieser Tatsache die Frage, ob Prinzipien und ihre Akzeptanz nicht immer als Set oder Paket bedacht werden sollten. Diesen Punkt werde ich schematisch im Anschluss an Hooker (vgl. 2003: 63f.) verdeutlichen, der diese Form der Darstellung vorgeschlagen hat. Das moralische Prinzip W könnte das beste Prinzip sein, sofern die moralischen Prinzipien XYZ feststehen; X wiederum könnte das beste Prinzip sein, wenn WYZ feststehen, und dies ließe sich noch weiter fortführen. Mit anderen Worten: Jedes der Prinzipien kann in der jeweiligen Menge jeglichen möglichen Alternativen überlegen sein, wenn das Prinzip und seine Alternativen so beurteilt werden, dass andere Prinzipien für feststehend gehalten werden. Wohlgemerkt zeigt sich eine Alternative V gegenüber W überlegen, wenn wir XYZ nicht mitdenken. Auf diese Weise jedoch sehen wir, dass kein Prinzip in der entsprechenden Menge geändert werden sollte, es sei denn, dass andere ebenso geändert werden. Wir könnten zum Beispiel zu dem Ergebnis kommen, dass ein Prinzip der strikten Eigentumsrechte nicht bestehen kann, wenn nicht gleichzeitig ein Prinzip in Kraft ist, welches umfangreiche Hilfeleistung von denjenigen fordert, die sehr viel Eigentum besitzen. Natürlich ist es schwer, dies zu optimieren und die Rechtfertigbarkeit der gesamten Menge zu etablieren. Schließlich kann es auch im Bereich der Prinzipienmengen noch Alternativen geben, wenn beispielsweise die Prinzipien WXYZ der Menge ABCD weit unterlegen sind und letztere stattdessen akzeptiert werden sollte. Im Allgemeinen würde nichts gegen eine solche Betrachtung sprechen. Statt ein Prinzip nach dem anderen vor dem Hintergrund feststehender anderer Prinzipien zu beurteilen, könnten wir ganze Prinzipienmengen rechtfertigen und miteinander in Beziehung setzen. Der Grund, warum es jedoch 6 | Diese Möglichkeit wird beispielsweise von Pogge (2001: 134) und Hooker (2003) aufgegriffen.

9. Gründe im Überlegungsprozess

attraktiver ist, nur ein einzelnes Prinzip zu behandeln, während andere für feststehend gehalten werden, hat auch etwas mit einem gewissen Kontrast zu tun: Es mag eine Sache sein, die entsprechenden Auswirkungen auf das eigene Leben offenzulegen, wenn die Änderung eines einzelnen Prinzips betrachtet wird. Eine andere jedoch ist es, Aussagen darüber zu treffen, was die Vor- und Nachteile verschiedener Perspektiven wären, wenn sehr viele moralische Prinzipien auf einmal geändert würden. Vielleicht ist es in der Regel folgendermaßen: Je mehr Änderungen wir erwägen einzuführen, desto schwerer wird es für uns, akkurat zu erfassen, was dies für uns als Individuen bedeutet, und demzufolge wird es auch schwierig zu beurteilen, welche Gründe Für und Wider die unterschiedlichen Perspektiven haben. Die Gefahr des Verlustes der Übersichtlichkeit mahnt den Versuch, eine breite Vorhersage simultaner Änderungen zu meiden und stattdessen dabei zu verbleiben, eine Änderung nach der anderen zu bedenken. Es gibt eine gewisse kognitive Schwierigkeit, ganze Mengen von Prinzipien und ihre Wechselwirkungen auf einmal zu betrachten. Dies klingt natürlich nach einer eher konservativen Rechtfertigungsstrategie. Besteht denn die von mir beschriebene Gefahr tatsächlich? Manchmal können wir durchaus vorhersagen, dass Änderungen vieler Prinzipien tatsächlich besser wären als die Änderung eines einzelnen Prinzips. Hooker (vgl. 2003: 66f.) führt folgende Beispiele an: Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der ein Prinzip akzeptiert wird, welches es Eltern erlaubt, einen Großteil ihres Reichtums an den ältesten Sohn zu vererben. Nehmen wir an, dies wäre eine etablierte Praxis, welche bestimmte moralische Erwartungen reflektiert, wonach der älteste Sohn erbt und dafür seine Geschwister und Kinder unterstützt, wenn er dies kann. Hier haben wir zwei Prinzipien: eines über die Erbschaft und eines über die Verantwortlichkeiten eines ältesten Sohnes. Klarerweise wäre es wohl fatal, eines dieser Prinzipien zu ändern, ohne das andere ebenfalls zu ändern. Am Ende wäre es erlaubt, dass der älteste Sohn alles erbt. Auf der anderen Seite wäre es erlaubt, dass die nicht berücksichtigten Familienangehörigen auf der Strecke bleiben und selbst in Zeiten der Not keine Unterstützung erfahren. Stellen wir uns außerdem noch eine Gesellschaft vor, in der Menschen das Prinzip akzeptieren, dass physischer Schaden und Diebstahl niemanden außerhalb der engeren Verwandtschaft des Opfers etwas angehen und niemanden sonst betreffen. Gleichsam existiert ein Prinzip, welches es für die Familie des Opfers legitim macht, in eigener Sache Justiz zu üben und den Dieben weitgehend zu schaden, sodass die Familienmitglieder davor bewahrt werden, erneut besohlen zu werden oder Schaden zu erleiden. Diese Prinzipien können als Paar betrachtet werden und es ist leicht zu sehen, dass eine Änderung beider Prinzipien eine Verbesserung darstellen könnte. Es mag manchmal schwierig sein, die Konsequenzen von Änderungen richtig einzuschätzen, und je größer die Änderung ist, umso größer ist vielleicht auch die Unsicherheit der entsprechenden Einschätzung seitens der Betroffenen.

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Trotzdem spielen große Änderungen im sozialen Zusammenleben, die etwas verbessern, eine enorme Rolle. Während wir die Schwierigkeit der Einschätzungen von bestimmten Prinzipienmengen durchaus anerkennen können, können wir dennoch bereit sein, eine entsprechende Vorhersage in bestimmten Fällen vorzunehmen, wenn wir sehen, dass die entsprechenden Ergebnisse als Ganzes besser sind oder der bestehende Status sich womöglich leicht ändern ließe. Es bleibt festzuhalten, dass wir in der Frage, welche moralischen Prinzipien gerechtfertigt sind, durchaus auf andere moralische Prinzipien zurückgreifen können und dass wir dies teilweise auch müssen, da sich bestimmte Fragen der Rechtfertigung erst in Anbetracht bestimmter feststehender Prinzipien stellen. Nur müssen selbst die herangezogenen Prinzipien für eine kontraktualistische Überprüfung stets offen bleiben.7

7 | Wahrscheinlich kann das gesamte Projekt von John Rawls so interpretiert werden, dass er bestimmte moralische Prinzipien der Gleichheit und Fairness akzeptiert und auf dieser Grundlage Prinzipien für die Grundstruktur der Gesellschaft entwirft. So spricht Rawls in den Ausführungen zu seinem Überlegungsgleichgewicht beispielsweise über »vorläufige Fixpunkte«, sodass wir etwa »religiöse Unduldsamkeit« oder »rassische Benachteiligung« für falsch halten (Rawls 1979: 37). Solche wohlüberlegten Urteile können den Ausgangspunkt unserer Überlegungen mitkonstituieren. Der umfassendere moralische Kontraktualismus muss jedoch auch gegenüber diesen Grundlagen kritisch bleiben. Er zeigt einen Weg, auch über diese zu urteilen. Insgesamt ließen sich die moralischen Prinzipien durch kohärenztheoretische Überlegungen im Sinne des rawlsschen Überlegungsgleichgewichts abstützen.

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

Im vorangegangenen Kapitel wurde dargelegt, auf welche Art von Gründen sich die Parteien im praktischen Standpunkt beziehen. In Grundzügen habe ich gezeigt, welche Überlegungen angestellt werden müssen, wenn der Maßstab angelegt wird, dass ein Prinzip zur Regulierung des Zusammenlebens genau dann gerechtfertigt ist, wenn es Gegenstand einer gedachten Übereinkunft sein kann, welche von allen Betroffenen vernünftigerweise akzeptiert werden könnte. Die Implikationen bezüglich der Gründe sollten deutlich gemacht haben, auf welche Weise eine vernünftige Akzeptanz in Anbetracht der Motivation, eine Übereinkunft zu erreichen, zu denken ist. Die Art der Gründe, die aufgerufen werden können, und wie diese Gründe miteinander in Beziehung gesetzt werden, sind wichtige Elemente für die Vorstellung eines Überlegungsprozesses. Das folgende Kapitel dient einer Vertiefung des Verständnisses dieses Überlegungsprozesses. Die vorgebrachten Gründe müssen individuelle Gründe sein. Es sind Gründe, die einen unabweisbaren Personenbezug haben. Auch müssen es generische Gründe sein, die kraft der Situation bestehen, in der sich ein Individuum befinden kann. In dieser Weise muss das kontraktualistische Verfahren auch dargestellt werden. Die Individualität der Gründe darf nicht hinter einer falsch verstandenen Unparteilichkeit verschwinden, was leider ein Problem in manchen kontraktualistischen Vorschlägen ist. Ich werde deshalb in diesem Kapitel darlegen, was insbesondere das Überlegungsmodell von John Rawls problematisch erscheinen lässt. Indem er einen Schleier des Nichtwissens voraussetzt, werden die Individualität von Einwänden und die Verschiedenheit von Personen außer Kraft gesetzt. Um der Verschiedenheit von Personen und ihren individuellen Gründen gerecht zu werden, benötigt es ein Überlegungsmodell, welches dies abbildet. Ein unpersönlicher Urzustand wie bei Rawls, in welchem eine Entscheidungssituation auf die Wahl eines einzelnen Individuums reduziert wird, ist nicht der eigentliche Kern des Kontraktualismus. Diesem geht es um den Vergleich der entsprechenden Gründe, die Personen haben, ein bestimmtes Prinzip zu akzeptieren. Ein vielversprechenderes Modell als dasjenige, welches Rawls an-

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wendet, meine ich im sogenannten »Einwand-Modell« zu finden, welches sich darauf konzentriert, die Einwände gegen ein Prinzip zu ermitteln und dasjenige Prinzip mit den geringsten Einwänden zur Grundlage der Akzeptanz zu machen. Im Anschluss an Thomas Nagel und Thomas Scanlon werde ich dieses Überlegungsmodell darstellen. Eine Frage, die sich im Anschluss daran stellt, ist diejenige, ob Wahrscheinlichkeiten beim Nachdenken darüber, ob ein Prinzip gerechtfertigt werden kann oder nicht, eine Rolle spielen. Kann ein Prinzip, dessen negative Folgen deutlich unwahrscheinlicher sind, eher akzeptiert werden als ein Prinzip, dessen negative Folgen höchstwahrscheinlich eintreten? Zuletzt besteht ein Problem für jede Theorie der Übereinkunft: Wie soll sie mit der Aggregation umgehen? Der Kontraktualismus aggregiert keine Einwände oder Gründe. Da er auf Einstimmigkeit zielt, verleiht er jeder Person ein Vetorecht, welches die Stimmen aller anderen außer Kraft setzen kann. Ein Prinzip kann insofern nicht deshalb eher akzeptiert werden, weil eine große Anzahl diesem Prinzip zustimmen würde. Die Gründe sind nicht aggregativ. Deshalb scheint es auch keine Bedeutung zu haben, ob eine bestimmte bevorteilte oder benachteiligte generische Perspektive mehr oder weniger Menschen umfasst. Indem der Kontraktualismus auf den Pfaden eines (zumindest interpersonellen) Anti-Konsequentialismus wandelt, scheint er Schwierigkeiten bei denjenigen moralischen Fragen zu haben, bei denen uns eine Summierung intuitiv sinnvoll erscheint, etwa wenn Entscheidungen zur Lebensrettung getroffen werden müssen. Ich möchte eine Möglichkeit aufzeigen, wie ohne Aggregation dennoch ein Prinzip gerechtfertigt werden kann, in der die Anzahl von Personen eine Rolle spielt. Im ersten Abschnitt werde ich somit auf die Repräsentation von individuellen Gründen in Überlegungsmodellen Bezug nehmen. Im Zentrum steht der zentrale Vorwurf, dass viele Theorien – insbesondere auch die kontraktualistische Theorie von John Rawls – die Verschiedenheit von Personen nicht erfassen oder achten können (Kapitel 10.1.). Anschließend werde ich auf Basis dieser Erkenntnis einen alternativen Überlegungsprozess veranschaulichen, der auf dem Einwand-Modell von Thomas Scanlon und Thomas Nagel basiert. Dieses Modell kann dabei helfen, das entsprechende Prinzip zu ermitteln, welches alle Individuen von ihrem jeweiligen Standpunkt aus akzeptieren können (Kapitel 10.2.). Daraufhin untersuche ich die Bedeutung von Wahrscheinlichkeiten im Überlegungsprozess (Kapitel 10.3.) und gehe zum Schluss auf das Problem der Aggregation ein (Kapitel 10.4.). Habe ich dies ausgeführt, steht ein umfängliches kontraktualistisches Überlegungsmodell zur Verfügung.

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

10.1. W ahrung der V erschiedenheit von P ersonen Wie kann plausibel gemacht werden, dass ein Prinzip von jedem akzeptiert werden könnte, und wie kann ein Überlegungsprozess, der diese Akzeptabilität aufweist, angemessen dargestellt werden? Ich habe einen spezifischen praktischen Standpunkt dargelegt und gezeigt, welche Typen von Gründen von diesem praktischen Standpunkt aus für gedachte Parteien eine Rolle spielen. Dennoch scheint das Verfahren, welches von diesem Standpunkt aus folgt, immer noch sehr unbestimmt. Vergleichen wir den von mir entworfenen allgemeinen praktischen Standpunkt einen Augenblick lang mit dem Urzustand von John Rawls. Bei Rawls treten Parteien hinter einem Schleier des Nichtwissens zusammen und wählen auf Grundlage ihres rationalen Eigeninteresses die entsprechenden Gerechtigkeitsprinzipien, welche für ihre Gesellschaft Gültigkeit haben sollen. Mein eigener praktischer Standpunkt hat dagegen keinen Schleier des Nichtwissens, sondern die entscheidende Komponente, welche die Verhandlung regulieren soll, ist eine Motivation, eine Übereinkunft zu finden, die für alle akzeptabel ist. Die Parteien kennen ihre Umstände und ihre soziale Position. Das ist kein Geheimnis und wir müssen den Parteien keine anderen Motivationen zumuten als uns selbst, die wir uns in diesen praktischen Standpunkt hineinversetzen. Wird dadurch der entsprechende Überlegungsprozess ein anderer? Wie entscheiden die Parteien überhaupt im Urzustand, ohne eine entsprechende Informationsgrundlage zu haben? Rawls meint Folgendes: Ohne Grundlage eines Wissens, wer sie einmal sein werden, werden sich die Parteien für diejenigen Prinzipien entscheiden, welche ihnen am meisten Grundgüter garantieren können. Dies sind Allzweckmittel, wie in Kapitel 9.3. ausgeführt, die für jeden attraktiv erscheinen. Sie sind nützlich, ganz unabhängig davon, wo sich die Personen in der Gesellschaft einmal wiederfinden werden. Sie werden nach Rawls die Prinzipien nach der sogenannten Maximin-Regel auswählen. Sie wählen dann diejenige Alternative, »deren schlechtestmögliches Ergebnis besser ist als das jeder anderen« (Rawls 1979: 178). Dies bedeutet, dass die Parteien die Maximierung der minimalsten Ausstattung mit Grundgütern betreiben. Das ist also der Überlegungsprozess, welchen die Parteien im Urzustand anstellen. Nun ist die Maximin-Regel eine Regel, welche speziell auf die Umstände des Urzustandes Anwendung findet und nur deshalb anwendbar ist, weil die Parteien unwissend sind. Wenn wir demzufolge allgemeines Wissen unterstellen, aber ein Motiv der Übereinkunft zugrunde legen, gibt es dann eine entsprechende Regel, an der sich die Parteien orientieren werden? Diese gibt es meiner Auffassung nach und ich werde sie im nachfolgenden Abschnitt (Kapitel 10.2.) behandeln. Im Moment möchte ich die Aufmerksamkeit jedoch auf das Element des Schleiers des Nichtwissens und seine Implikationen lenken. Ausgehend von

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der Problematik, welche moderne Kontraktualisten in der Nachfolge von John Rawls gesehen haben, wurde ein Überlegungsprozess darzustellen versucht, welcher auf eine schlüssigere Weise zeigen kann, was vernünftigerweise akzeptabel ist. Es sind zwei Kernelemente, die bei Rawls für schwer miteinander vereinbar gehalten werden. Rawls ist als Kontraktualist von folgendem Rechtfertigungsmodus überzeugt: Forderung der Akzeptabilität: Um zu zeigen, dass ein Prinzip Gegenstand einer Übereinkunft sein kann, muss ich nicht nur denken, dass dies für mich akzeptabel ist, sondern dass es auch für andere akzeptabel ist. Soweit ist der kontraktualistische Gedanke klar. Nun ist Rawls jedoch durch die Konzeption seines Urzustandes auch folgender Ansicht: Forderung der Unparteilichkeit: Das Urteil der Akzeptabilität muss unparteilich in dem Sinne sein, dass den Parteien wesentliche Informationen über sich selbst vorenthalten werden. Nun gibt es einen Bruch zwischen diesen Auffassungen. Die erste Behauptung erfordert die Akzeptabilität aus der Perspektive von jeder Person, aber die zweite Behauptung sorgt dafür, dass aus den vielen verschiedenen Perspektiven nur noch eine einzige wird. Zu urteilen, dass ein Prinzip akzeptabel ist, bedeutet nach Rawls, zu urteilen, dass es ein Prinzip ist, welches ich Grund habe zu akzeptieren, egal wer ich einmal sein werde. Damit wird die Rechtfertigung eines Prinzips jedoch abhängig gemacht von der Perspektive eines einzigen rationalen Individuums in einer hypothetischen Ausgangssituation. Hier tut sich der Graben auf: Das unparteiliche Urteil einer Person über ein Prinzip ist sehr verschieden von der Akzeptabilität eines Prinzips von jeder möglichen Perspektive. Obwohl Rawls eigentlich den Anspruch hat, der Verschiedenheit der Personen gerecht zu werden, da er dem Utilitarismus vorwirft, durch interpersonelle Aggregation einfach darüber hinwegzugehen (vgl. Rawls 1979: 45), schafft er es selber nicht, diese Verschiedenheit von Personen in sein Überlegungsmodell aufzunehmen. Auf diesen Fehler hat Brian Barry in seiner Kritik am rawlsschen Urzustand hingewiesen: »Rawls’ Spezifikation des Urzustandes kann die ›Verschiedenheit von Personen‹ nicht repräsentieren, weil alle Menschen darin austauschbar sind: Sie alle verfolgen identische Ziele auf der Basis identischer Informationen. Wir können uns somit die Wahl von Prinzipien durch eine einzige repräsentative Person denken« (Barry 1998: 190, Übers. d. Verf.).1 Der Vorwurf lässt sich in der Weise verstehen, dass Rawls Un1 | Zu dieser Auffassung siehe unter anderem die Argumentation in Scanlon (2006: 144ff.). An einer Stelle bringt er sein Missfallen gegenüber dieser unparteilichen Wahl

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

parteilichkeit mit Unpersönlichkeit gleichsetzt. Wie kann eine Theorie der Verschiedenheit von Personen gerecht werden, ohne sie in einem Urteil strikter Unparteilichkeit aufzulösen? Es ist erforderlich, wie ich bemerkt habe, bestimmte Vergleiche zwischen den Bürden und Vorteilen anzustellen, welche einzelne Personen beziehungsweise Perspektiven haben. Wenn wir diese jedoch miteinander verrechnen, dann geraten wir immer wieder in die Gefahr, wie Thomas Nagel anmerkt, dass eine unpersönliche interpersonelle Verrechnung von Interessen »die reale Verschiedenheit von Personen nicht ernst genug nimmt. Sie behandelt die Wünsche oder Bedürfnisse, die Zufriedenheit oder Frustration von in Wahrheit real verschiedenen Personen so, als handelte es sich um die Wünsche usw. eines aggregierten ›Massenselbst‹« (Nagel 2005: 185). Was wir nach Nagel brauchen, ist eine bestimmte Form eines Überlegungsmodells, welches einerseits für eben jene Verträglichkeit oder Vereinbarkeit von subjektiven Interessen sorgt, andererseits diesen subjektiven Standpunkten auf eine bestmögliche Weise gerecht wird. Nagel hat in einem frühen Werk (Die Möglichkeit des Altruismus) verschiedene Lösungsansätze für den interpersonellen Bereich zurückgewiesen. Deutlich repräsentiert der Utilitarismus diese Form der kritisierten Auflösung von Interessenskonflikten durch interpersonelle Interessensverrechnung: »Die Entscheidungsgrundlage, die dieses Prinzip postuliert, verlangt vom Subjekt der Entscheidung, dass es rivalisierende Ansprüche verschiedener Personen so behandelt, als gingen sie zurück auf die Interessen eines einzelnen Individuums« (ebd.: 190). Der Utilitarist nimmt sämtliche Interessen in seine Überlegungen auf, indem er die Interessen aggregiert und die Vor- und Nachteile abwägt, um das beste Gesamtergebnis zu erzielen. Er verfährt damit in der Tat unparteilich, aber zum Preis, dass die Akzeptabilität und die Besonderheit einzelner Individuen nicht erfragt oder berücksichtigt werden. Während das Gewichten von Vor- und Nachteilen innerhalb eines Lebens plausibel erscheinen mag, so ist es weit schwerer anzunehmen, dass diese Gewichtung zwischen verschiedenen Leben erfolgen sollte. Nach diesem Summierungsverfahren können die Ansprüche von Einzelnen einfach durch die Ansprüche der Mehrheit aufgewogen werden. Der Utilitarismus ist neutral zum Ausdruck: »Was die besten Aussichten hinter dem Schleier des Nichtwissens für jemanden sein werden, sind die besten Aussichten für alle, da niemand sagen kann, was ihm einen besonderen Vorteil einbringen würde. Somit kann die Entscheidung für Prinzipien, wie Rawls sagt, vom Standpunkt einer einzigen rationalen Person hinter dem Schleier des Nichtwissens erfolgen. Was auch immer für Regeln der rationalen Wahl für dieses Individuum eingesetzt werden, welches sich um die bestmögliche Beförderung seiner Interessen kümmert, diese Reduktion des Problems auf den Fall der Wahl einer einzigen selbstinteressierten Person sollte unser Misstrauen wecken« (ebd.: 146, Übers. d. Verf.).

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gegenüber Personen, weil er Personen kein Gewicht verleiht. Es ist das Gut, welches wichtig ist, nicht die einzelne Person. Der Vorwurf, die Verschiedenheit von Personen nicht ernst zu nehmen, ist eine typische kontraktualistische Sorge, die immer wieder gegen den Utilitarismus ins Feld geführt wird. Robert Nozick hat dies beispielsweise folgendermaßen formuliert: »Doch warum soll man nicht einigen Menschen um des größeren gesellschaftlichen Wohles willen etwas antun? Als einzelne sind wir ja alle manchmal bereit, Schmerzen oder Opfer um eines größeren Vorteils willen oder zur Vermeidung größeren Schadens auf uns zu nehmen. […] Warum soll man sich nun nicht auf den entsprechenden Standpunkt stellen, einige Menschen hätten Nachteile auf sich zu nehmen, die anderen größere Vorteile einbringen, also das gesellschaftliche Gesamtwohl heben? Doch es gibt kein Wesen Gesellschaft, das um seines eigenen Wohles willen ein Opfer auf sich nähme. Es gibt nur die verschiedenen Einzelmenschen mit je ihrem eigenen Leben. […] Wenn ein Mensch auf diese Weise benutzt wird, so fehlt es an Rücksicht darauf, dass er ein selbstständiger Mensch ist, dass er nur einmal lebt« (Nozick 2006: 59, Hervorhebung im Original).

Nun ist dies eine Einstellung, die alle Kontraktualisten teilen – natürlich auch Rawls, der diesen Vorwurf an vielen Stellen seines Werkes betont.2 Dennoch scheint Rawls ein ähnliches Problem zu haben. Er konzentriert sich nur auf das Problem der interpersonellen Aggregation, also auf die Möglichkeit, den Nutzen verschiedener Individuen zusammenzurechnen. Dies verhindert seine Konzeption des Urzustandes. Dennoch sind die Personen nicht in der Lage, von ihrem je eigenen Standpunkt ein Urteil über ihre Akzeptanz abzugeben. Auch bei Rawls werden die Individuen gewissermaßen in einer Situation miteinander verschmolzen, in der sie alle nicht mehr voneinander zu unterscheidende Interessen haben. Über die Methode der Wahl im Urzustand sagt Nagel, es wird

2 | Insbesondere in folgenden Ausführungen von Rawls (1979: Abschnitt 5, 6, 30). Unmissverständlich schreibt er: »Der Utilitarismus nimmt die Verschiedenheit der einzelnen Menschen nicht ernst« (ebd.: 45). Seine eigene Theorie der Gerechtigkeit besagt stattdessen: »Jedem Mitglied der Gesellschaft schreibt man eine auf der Gerechtigkeit – oder, wie manche sagen, dem Naturrecht – beruhende Unverletzlichkeit zu, die auch im Namen des Wohles aller anderen nicht aufgehoben werden kann. Es ist mit der Gerechtigkeit unvereinbar, dass der Freiheitsverlust einiger durch ein größeres Wohl anderer gutgemacht werden könnte. Das Aufrechnen der Vorteile und Nachteile verschiedener Menschen, so als ob es sich um einen einzigen handelte, ist ausgeschlossen« (ebd.: 46).

10. Darstellung des Überlegungsprozesses »für die Person, die wählt, ganz natürlich sein, die verschiedenen Leben, von der eines immer schon als das ihr eigene feststeht, als Möglichkeiten anzusehen: ›Es ist möglich, dass ich Knecht bin; aber ebenso möglich, dass ich Herr bin.‹ Und Möglichkeiten mag sie freilich so gegeneinander abwägen können, dass ihr als Resultat der systematischen interpersonellen Abwägung ein kleiner Prozentsatz von Verlierern, die dann eben zu ihrem schweren Schaden auf der Strecke bleiben, als durchaus hinnehmbar erscheint. So viel billigende Inkaufnahme ginge nun allerdings auf Kosten dieser Menschen, deren Interessen damit nämlich nicht mit ihrem vollen Gewicht berücksichtigt würden. Denn schließlich sind es real existierende Individuen, die diese Rolle zu spielen haben, und deren Leben sind keine bloßen Möglichkeiten, sondern Wirklichkeiten: für jeden einzelnen das einzige Leben, das er hat!« (Nagel 2005: 193f., Hervorhebung im Original).

Nagel verweist hier vor allem auf die Vorstellbarkeit, dass im Urzustand auch Prinzipien gewählt werden könnten, die eben nicht jedem zugutekommen. Er hält die Maximin-Regel für eine überaus unplausible Entscheidungsregel in einer solchen Situation. Nagel hatte, wie auch viele andere, ein Problem mit der Art und Weise, in welcher Rawls seine Entscheidungssituation im Urzustand auf baute. Wenn man unter den Bedingungen des Schleiers des Nichtwissens die Prinzipien wählen müsste, welche über die Grundstruktur der Gesellschaft bestimmen, in der man leben wird, dann ist es in Anbetracht vieler Faktoren sinnvoll, sich konservativ zu verhalten und das Minimum, welches man in dieser Gesellschaft erhalten würde, zu maximieren. (Was ist, wenn ich am schlechtesten dran sein werde?) Der Urzustand wird auf eine bestimmte Weise entwickelt und zu ihm passt eine bestimmte Entscheidungsregel: die Maximin-Regel. Wird der Urzustand weniger konservativ konzipiert, so wird versucht, den Durchschnittsnutzen zu maximieren, wie dies der in diesem Kontext oft angeführte Harsanyi (1955) getan hat, an dessen Ideen Rawls teilweise anknüpfte. Nagel hält beides für problematisch – letzteres, weil es zu einer Lotterie gehört und das Risiko besteht, dass die gewählten Prinzipien Sklaverei und Ähnliches zulassen, »und es sieht nicht so aus, als würden auch die Opfer eines derartigen Entscheidungssystems einräumen können, dass es ihren Bedürfnissen und Ansprüchen das nötige Gewicht beigelegt hätte« (ebd.: 191, Hervorhebung im Original). Ebenso sind die Annahmen bezüglich der Bedingungen des Konservatismus in der Wahl nur schwer zu begründen, weshalb Nagel auch den rawlsschen Urzustand für unzureichend hält. Bereits in seinem frühen Werk zeichnet Nagel den Weg vor, der sich von anderen Vorschlägen abheben soll: »Mein Vorschlag ist der folgende. Ihr volles Gewicht erhalten die Bedürfnisse, die Präferenzen und die Interessen einer jeden Einzelperson nur dann, wenn die Entscheidung […] unter der Bedingung getroffen werden muss, dass die Person, welche im ›Urzustand‹ die Entscheidung trifft, ausnahmslos alle diese Leben zu führen erwartet – aber nicht

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t etwa als ein aggregiertes ›Hyperleben‹, sondern als eine Menge separater individueller Leben, von denen ein jedes seinerseits in einer vollständigen Menge von Erlebnissen und Tätigkeiten aufgehen wird. Könnte man ein derartiges Entscheidungsverfahren nur verständlich machen, so würde diese gedachte Abstimmung […] gewiss den Ansprüchen eines jeden Individuums das uneingeschränkt gleiche Stimmrecht garantieren« (ebd.: 194, Hervorhebung im Original).

Nagel entwirft demzufolge etwas Ähnliches wie den Urzustand, der jedoch von einer Entscheidungsregel ausgehen kann, die im Gegensatz zu Rawls oder Harsanyi sowie zum Utilitarismus der Verschiedenheit von Personen Rechnung trägt. Dennoch glaubt Nagel, dass eine andere Konzeption dessen, was es bedeutet, etwas vernünftigerweise akzeptieren zu können, zu ähnlichen Ergebnissen führen wird wie diejenige von Rawls, nur in plausiblerer Hinsicht. Nagel hat hier nur einen ersten Vorschlag dafür geliefert, wie ein derartiges Verfahren aussehen könnte. Später hat er seine Konzeption insbesondere im Hinblick auf die mögliche Akzeptanz jeder einzelnen Person weiter verbessert, was ich noch zeigen werde. Ebenso ist dies bei Barry der Fall, der es aufrechterhalten möchte, auch im kontraktualistischen Überlegungsprozess von Personen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen auszugehen: »Wenn wir die Vorstellung fallen lassen, dass Akteure unterschiedliche Interessen haben […], dann gewinnen wir nichts dadurch, dass wir mehr als eine Person Prinzipien wählen lassen. Wir stehen dann vor dem vertrauten Einwand gegenüber Rawls’ Urzustand, dass die Menschen darin Klone sind und es keinen Sinn ergibt, mehr von ihnen zu haben« (Barry 1996: 367, Übers. d. Verf.). Sämtliche prominenteren kontraktualistischen Vorschläge nach Rawls haben versucht, eine Theorie dazu zu entwickeln, was es eigentlich heißt, eine Übereinkunft in der Weise auszugestalten, dass sie der Verschiedenheit von Personen gerecht wird.

10.2. D as E inwand -M odell Wenn die Verschiedenheit der Personen und damit auch die unterschiedlichen Gründe, welche diese Personen haben, nicht hinter einem Schleier des Nichtwissens verschwinden sollen, dann wird ein Überlegungsmodell benötigt, welches genau diese Verschiedenheit berücksichtigt. Bisher habe ich noch keine klare Regel dargelegt, wie festgestellt werden kann, welches Prinzip die Parteien tatsächlich akzeptieren könnten. Stellen wir uns eine entsprechende Situation mit Parteien vor, die vernünftig und motiviert sind, eine Übereinkunft zu erreichen. Sie wollen demzufolge nicht aus der Verhandlung aussteigen. Jede Partei kann ihre Einwände gegen und ihre Gründe für ein Prinzip geltend machen und ist vorerst nicht gezwungen, ein Ergebnis zu akzeptieren, wel-

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

ches ihr unnötigerweise Bürden auflastet. Jeder könnte eigene Forderungen vorbringen und die Forderungen des anderen ablehnen, wenn diese Forderungen ihm Lasten auferlegen. Das Problem ist jedoch, dass die Parteien, die alle nach Übereinkunft streben, die Verhandlung auch nicht einfach blockieren können. Ich habe bisher einige Grundzüge ermittelt, wie eine Bewegung zur Übereinkunft mit entsprechenden Gründen funktionieren kann. Nun werde ich jedoch versuchen, diese Art von Überlegung in ein Modell zu überführen, aus welchem ersichtlich wird, auf was sich die Parteien konzentrieren, wenn es um die Entscheidung geht, welches Prinzip vernünftigerweise akzeptiert werden kann. Zu diesem Zweck, denken wir uns ein bestimmtes Prinzip (I), welches vorgeschlagen wird und über welches die Parteien befinden müssen. Gegen dieses Prinzip bringt Partei A einen Einwand vor, da dieses Prinzip sein Wohlergehen reduziert. Stattdessen formuliert er ein mögliches anderes Prinzip (II), welches diesen Einwand nicht enthält. Gegen dieses Prinzip nun hat B einen Einwand, weil dies wiederum seinem Wohlergehen abträglich ist. Die Parteien befinden sich vorerst in einer Sackgasse. Wie gelangen A und B nun zu demjenigen Prinzip, welches beide akzeptieren können? Welches dieser Prinzipien ist akzeptabler als das andere? Der Einfachheit wegen werde ich annehmen, dass dieses Prinzip sich einzig und allein auf das Wohlergehen der Betroffenen bezieht, da die entsprechenden Gründe der Parteien sich dann am leichtesten durch Zahlenwerte veranschaulichen lassen. Es könnte gesagt werden, dass es bei diesem Wohlergehen um den Aspekt des Einkommens geht oder um ein bestimmtes messbares Gut. Die Gründe, welche die Parteien vorbringen, sind somit Gründe der gleichen Art. Sie sind kommensurabel. Ich gehe deshalb auch davon aus, dass die Konsistenz- und Informationsbedingungen erfüllt sind (Kapitel 9.3.). Alle Informationen sind verfügbar und die Parteien müssen keine Gründe abwägen, die inkommensurabel in dem Sinne sind, dass auf der einen Seite beispielsweise ein Verlust an Verfügungsgewalt über Ressourcen und auf der anderen Seite der mögliche Hungertod steht. Die Gründe sind einfach Verluste oder Gewinne gleicher Art. Darüber hinaus sind die Gründe individuell auf die Personen bezogen und generisch in dem Sinne, dass jeder, der in der Situation der Personen wäre, ebenso diese Gründe einzubringen hätte. Diese Vereinfachungen und die noch folgende Einführung von Zahlenwerten erwecken natürlich einen Grad an Genauigkeit, der sich in der Realität nicht einlösen lässt. Hier sollen die Beispiele lediglich den prinzipiellen Prozess verdeutlichen. Wenn die Parteien nun eine Entscheidung treffen müssen, da sie eine Übereinkunft anstreben, wird eine Vorstellung der Stärke und Dringlichkeit des jeweiligen Grundes benötigt. Entscheidend ist, dass das Ergebnis aus der Perspektive jedes Einzelnen akzeptiert werden kann. Dies ist wichtig für das Kriterium der Übereinkunft. Über ein solches sagt Nagel: »Die Quintessenz

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eines solchen Kriteriums liegt darin, dass wir uns bemühen, in unseren ethischen Wertungen die Eigenperspektive aller Individuen je für sich zu berücksichtigen, um auf diese Weise zu einem Resultat zu gelangen, das in einem wesentlichen Sinne für einen jeden beteiligten oder betroffenen Menschen selbst anerkennenswert ist. Die zu favorisierende Alternative ist die in diesem Sinne – vom gesonderten Standpunkt eines jeden einzelnen Menschen aus betrachtet – noch am wenigsten inakzeptable Alternative« (Nagel 1996: 173, eigene Hervorhebung). Anschließend spricht Nagel von einem »Ideal der Akzeptabilität« und an anderer Stelle macht er deutlich, dass nur auf diesem Wege gesagt werden kann, dass alle gemeinsam zustimmen könnten: »Auf der elementarsten Ebene entscheidet man sich nur dann aus den vielen gesonderten Perspektiven zugleich, wenn man sie alle intakt lässt und den dringlichsten Ansprüchen der Individuen Vorrang einräumt« (ebd.: 178). Nagel hatte die spezifische Sicht, welche ich aufgebaut habe, nicht vor Augen, dass wir uns Parteien vorstellen, die eine Übereinkunft suchen, aber er hat nach einer spezifischen Ausformulierung dafür gesucht, wann am ehesten behauptet werden kann, dass sich ein Prinzip als akzeptabel für alle erweist. Wir achten die Individuen und ihre Zustimmung nach Nagel nur dann, wenn wir ihren Einwänden unabhängig von interpersoneller Aggregation Gewicht beimessen und sie nicht in ein Massenselbst verschmelzen. In meiner Vorstellung des Kontraktualismus ist dies eindeutig: Die Parteien können ihre individuellen Einwände vorbringen, müssen aber stetig eine Bewegung zur Einigung vollziehen. Diese Bewegung hin zur Übereinkunft vollzieht sich in die Richtung, den stärksten Einwand zu identifizieren und diesen so gering wie möglich zu halten. Weshalb ist dies so? Wenn eine Partei den stärksten Einwand hat, kann eine andere Partei daraufhin nichts mehr erwidern. Ihr bleibt nur, eine Blockadehaltung anzunehmen oder, wenn sie motiviert ist, eine Übereinkunft zu finden, das entsprechende Prinzip zu akzeptieren, welches den geringstmöglichen Einwand enthält. Wenn A einen Einwand gegen Prinzip (I) hat und dieser stärker ist als der Einwand, den B gegenüber Prinzip (II) hat, dann muss Prinzip (II) akzeptiert werden. Um sowohl das Ideal der Übereinkunft aufrechtzuerhalten als auch den Menschen ihre individuellen Einwände zu lassen (sie also nicht im Sinne eines rawlsschen rationalen Entscheiders zu vereinheitlichen), schlägt Nagel den paarweisen Vergleich vor: »Der Hauptgedanke ist hier, dass Dringlichkeit gemessen wird, indem die Lebenslagen der einzelnen Menschen jeweils paarweise miteinander verglichen werden. Die einfachste Methode wäre die, jede Besserung der Lage eines schlechter gestellten Menschen für dringlicher zu erachten als gleich welche Optimierung der Lage eines Menschen, der im Verhältnis zu ihm zu den besser Gestellten zu rechnen wäre. Doch erschiene mir ein solches Verfahren nicht sonderlich plausibel. Vernünftiger wäre es, einer überaus weitgehenden Optimierung der Lage ein wenig höher einzustufender Menschen erheblichere

10. Darstellung des Überlegungsprozesses Dringlichkeit einzuräumen als nur sehr geringfügigen Verbesserungen für solche, die etwas niedriger einzustufen sind. In einem solcherart modifizierten Prinzip lässt sich immer noch ein Grundsatz erkennen, mit Hilfe dessen diejenige Lösung ermittelt wird, die aus der Perspektive jedes einzelnen die noch am wenigsten inakzeptable Alternative darstellt« (ebd.: 175, Hervorhebung im Original).

Betrachten wir zuerst, was Nagel am Anfang dieses Zitates sagt. Es besteht die Möglichkeit, die Dringlichkeit eines Einwandes dadurch zu bestimmten, dass dem am schlechtesten Gestellten immer eine Art Vetorecht zukommt. Dies ist genau die Art von Entscheidungsregel, welche Rawls in seinem Urzustand anwendet. Die Parteien, die hinter dem Schleier des Nichtwissens entscheiden müssen, welche Grundprinzipien für ihre Gesellschaft in Kraft sein sollen, befinden sich in einer unsicheren Situation. Sie könnten demzufolge, wenn der Schleier gelüftet würde, die am schlechtesten gestellte Personen sein. Angesichts dieser Möglichkeit entscheiden sie nach der Maximin-Regel. Damit gibt dieser Überlegungsprozess Personen oder Gruppen mit dem geringsten relativen Wohlergehen ein Veto. Wir minimieren die Ernsthaftigkeit dieses Einwandes durch die Maximierung der Aussichten für die am schlechtesten Gestellten. Damit können wir Folgendes über die Stärke eines Einwandes bei Rawls sagen: Maximin-Regel: Die Stärke eines Einwands einer Person ist eine Funktion ihrer relativen Position unter einem bestimmten Prinzip. (Der stärkste Einwand gehört derjenigen Perspektive, welche die schlechteste Position unter den verschiedenen alternativen Prinzipien einnimmt). Ich werde die Entscheidung nach dieser Regel im Folgenden illustrieren. Nehmen wir an, wir können eine bestimmte Summe aufwenden, um das Leben von zwei moderat wohlhabenden Personen zu verbessern. Wir könnten entweder Option (I) wählen, wobei Person B eine Verbesserung erhält, oder Option (II), bei der Person A eine Verbesserung erhält. Option (I) hätte keinen Einfluss auf die Lebensqualität von A und Option (II) hätte keinen Einfluss auf die Lebensqualität von B. Die Option (II) wäre für A jedoch eine deutlich größere Verbesserung ihres Wohlergehens als es die Option (I) für B wäre:

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t

Tabelle 5 – Maximin-Einwand (I)

(II)

A

11

18

B

12

10

A ist am schlechtesten gestellt unter (I) und B ist am schlechtesten gestellt unter (II). Die hervorgehobenen Kästen drücken den Status quo der Parteien aus. Die anderen Kästen zeigen die mögliche Verbesserung. A geht es deutlich besser unter (II) als unter (I). Der Standard von B ist sowohl unter (I) als auch unter (II) moderat und ein wenig besser unter (I) als unter (II). Durch Maximin müssten wir Option (I) wählen und dies würde verlangen, dass A auf eine große Verbesserung seines Wohlergehens zugunsten einer sehr geringen Verbesserung von B verzichtet. Diese Kritik könnte auch von einem Utilitaristen angenommen werden, denn dieser will bekanntlich die Summe maximieren und würde deshalb in jedem Fall Option (II) wählen. Aber der Kontraktualismus zwingt uns zu etwas anderem als der bloßen Maximierung von Summen. Wenn wir darüber nachdenken, was im Sinne einer Übereinkunft richtig ist, müssen wir die Gewinne und Verluste einbeziehen, die einen Grund konstituieren, ein Prinzip eher oder weniger zu wollen. Wie ich anhand des längeren Zitats gezeigt habe, lehnt Nagel die Position ab, wonach der am schlechtesten Gestellte immer Priorität genießt. Um die Akzeptabilität im Sinne der am wenigsten inakzeptablen Lösung nachzuweisen, müssten wir den größten Einwand bedenken, den jemand gegen ein Prinzip vorbringen kann und diesen Einwand hat nicht automatisch der am schlechtesten Gestellte. Ein radikaler Egalitarismus müsste die Möglichkeit ausschließen, dass der größte Einwand zählt, und den am schlechtesten Gestellten immer Priorität einräumen, damit der Gleichheit ein Stück nähergekommen werden kann. Diese Sicht kann folgendermaßen als Ideal der Gleichheit nach Parfit (vgl. 1997b: 204) expliziert werden: Ideal der Gleichheit: Es ist an sich schlecht, wenn einige Menschen schlechter gestellt sind als andere. Das Ideal der Gleichheit unterscheidet sich somit vom Ideal der Akzeptabilität oder Übereinkunft. Rawls, so könnte gesagt werden, kann die MaximinRegel mit der Priorisierung des am schlechtesten Gestellten nur dann für

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

sinnvoll halten, wenn ein entsprechendes Ideal der Gleichheit dahintersteht (wobei Rawls kein radikaler Egalitarist ist, doch dies möchte ich hier nicht vertiefen). Das rawlssche Argument beginnt bereits mit der Idee der Gesellschaft als soziale Kooperation zum gemeinsamen Vorteil, was jedem Mitglied einen Anspruch auf einen gleichen Anteil an den Früchten dieser Kooperation verschafft. Jede Bewegung weg von der Gleichheit bedarf der Rechtfertigung (vgl. Rawls 2006: §2). Doch Scanlon bemerkt meiner Ansicht nach völlig zutreffend, dass der Kontraktualismus eine tiefergehende Rechtfertigung bietet. Ein Ideal der Gleichheit ist eine spezifischere Idee, während die Idee der allgemeinen Akzeptanz oder Zurückweisung eine allgemeinere Idee ist, welche dem Kontraktualismus zugrunde liegt (vgl. Scanlon 1998: 229). Der Wert der Gleichheit ist für eine Theorie der vernünftigen Akzeptabilität ein instrumenteller Wert. Parfit definiert ihn so: »Wenn wir behaupten, dass Gleichheit gut ist, können wir vielleicht nur meinen, dass sie gute Effekte hat. Wenn Menschen zum Beispiel ungleich sind, kann dies Konflikte verursachen oder die Selbstachtung jener beschädigen, die am schlechtesten gestellt sind, oder einigen Menschen Macht über andere verleihen. Wenn wir uns um Gleichheit kümmern, weil wir um solche Effekte besorgt sind, dann glauben wir, dass Gleichheit einen instrumentellen Wert hat oder als ein Mittel gut ist« (Parfit 1997b: 206, Hervorhebung im Original, Übers. d. Verf.). Bestimmte Formen der Gleichheit können sich als allgemein akzeptabel herausstellen, wenn es Prinzipien der Gleichheit gibt, die gegenüber alternativen Prinzipien den minimalsten Einwand haben. Im Gegensatz zu Rawls schlägt Nagel keine Maximierung des Minimums als Basis der Akzeptabilität vor. Wir sehen, dass im oben genannten Beispiel A durchaus einen entsprechenden Einwand gegen das Prinzip (I) hätte. A würde eine deutliche Verbesserung entgehen. Weshalb sollten wir uns auf diejenige Person konzentrieren, welche am schlechtesten gestellt ist? Wenn wir diesen Einwand am höchsten einstufen wollen, so geht dies nicht mit dem bloßen Verweis auf die Akzeptabilität eines jeden, sondern nur mit einem größeren moralischen Gewicht auf die Priorität des Schwächsten. Dies bedarf jedoch einer zusätzlichen Begründung. Das Ideal des Kontraktualismus ist eines aufgrund der Rechtfertigung voreinander, sodass eine vernünftige Akzeptanz möglich ist. Dies erreichen wir, indem wir die am wenigsten inakzeptable Variante finden, also indem wir den größten Einwand minimieren. Statt der Maximin-Regel müssen wir uns somit, wenn wir nach Übereinkunft streben, an der Minimax-Regel orientieren, genauer gesagt, an der Minimierung des maximalen Einwandes in Anbetracht alternativer Prinzipien. Dabei steht nicht fest, dass diesen Einwand immer der am schlechtesten Gestellte hat. Dieses Einwand-Modell hat im Gegensatz zur bekannten Maximin-Regel – welche fordert, jede potenzielle Verbesserung eines besser Gestellten (egal wie hoch) durch jede potenzielle Verbesserung des am schlechtesten Gestellten

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t

(egal wie klein) zu kassieren – Vorteile. Mit der Maximin-Regel hätten wir sehr kontraintuitive Folgen zu verzeichnen und keinesfalls könnte ein Ergebnis aus den verschiedenen Perspektiven der Betroffenen akzeptabel sein, sondern nur aus einer stark idealisierten unparteilichen und unpersönlichen Situation. In Anbetracht des Einwand-Modells denken wir darüber nach, welcher Einwand eines Individuums gegen die Wahl eines bestimmten Prinzips spricht, welches entsprechende Ergebnisse zur Folge hätte. Ich komme auf das erste Beispiel zurück. Wir können zwischen (I) und (II) wählen. B würde (I) akzeptieren, weil kein anderes Prinzip ihn besserstellen kann. A würde (II) akzeptieren, weil kein anderes Prinzip ihn besserstellen kann. B hat jedoch einen Einwand gegen die Akzeptanz von (II) und A hat einen Einwand gegen die Akzeptanz von (I). Da die Situation von B unter (II) immer noch recht gut ist und die mögliche Verbesserung bei der Wahl von (I) nur sehr klein ausfallen würde, ist sein Einwand gegen (II) nicht sehr groß. A würde im Vergleich zu (II) unter (I) viel verlieren und da sein Wohlergehen unter (I) nur geringfügig größer ist als das Wohlergehen von B unter (II), so ist der Einwand von A gegenüber (I) größer als der Einwand von B gegen (II). Dies lässt sich nun folgendermaßen veranschaulichen: Tabelle 6 – Minimax-Einwand (I)

(II)

A

11 (Verbesserung möglich +7)

18 (Bestmögliche Position)

B

12 (Bestmögliche Position)

10 (Verbesserung möglich +2)

Im Nachdenken über das, was in einem solchen Fall richtig und falsch ist und was am wenigsten inakzeptabel ist, beziehen sich Parteien nicht nur darauf, wie es ihnen mit den verschiedenen Alternativen gehen würde, sondern auch auf das, was bei der Wahl zwischen Alternativen auf dem Spiel steht. Maximin würde uns nicht erlauben, diese Einwände zu bedenken, da es uns nicht erlaubt, uns auf die Größe des Unterschiedes zu beziehen, welche (I) im Gegensatz zu (II) für A und B bedeuten würde. Stattdessen werden nur Argumente erlaubt, welche sich auf die am schlechtesten gestellte Person beziehen, was ein ziemlich anonymes Kriterium ist, da es sich nicht auf bestimmte Individuen zurückführen lässt und nicht auf ihre jeweilige Akzeptanz abzielt. A hat einen Einwand und A hat in diesem Falle auch den größten Einwand. Damit kann bestimmt werden, dass die Option (II) am wenigsten inakzeptabel ist

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

und alle, die nach einer Übereinkunft suchen, sie vernünftigerweise akzeptieren können. Demgemäß kann folgende Regel aufgestellt werden: Minimax-Einwand: Die Stärke eines Einwandes einer Person ist eine Funktion der Höhe ihres Verlustes in Anbetracht alternativer Prinzipien. (Der stärkste Einwand gehört derjenigen Partei, welche die größten Verluste hinnehmen muss). Dies scheint aber ebenso noch nicht alle möglichen Einwände einzufangen, welche dargeboten werden könnten. Was ist, wenn ich mich in einer Situation befinde, in der ich deutlich schlechter dran bin als andere, diese anderen aber einen deutlich größeren Gewinn erzielen würden? Mir scheint, dass jemand, der an Hunger leidet und dessen Leben wir nur geringfügig verbessern können, indem wir ihm ein wenig Geld für eine Scheibe Brot zur Verfügung stellen, immer noch Priorität besitzt gegenüber jemandem, der bessergestellt ist, dem wir aber dafür mehr Geld zur Verfügung stellen könnten, um sich ein ganzes Brot zu kaufen. Warum sollte jemand, der – absolut gesehen – sehr wenig hat, seine Zustimmung geben können? Sehen wir uns die folgenden Möglichkeiten an, bei denen sich die Situation von B deutlich anders darstellt. Tabelle 7 – Erweiterter Minimax-Einwand (I)

(II)

A

11 (Verbesserung möglich +7)

18 (Bestmögliche Position)

B

3 (Bestmögliche Position)

1 (Verbesserung möglich +2)

Angesichts der Minimierung des maximalen Einwandes müssten wir uns erneut für (II) entscheiden. Die Summe des möglichen Verlustes für A ist deutlich größer als für B. Doch B kann einen Einwand bezüglich seines absoluten Wohlergehens geltend machen. Eine solche Erweiterung des Einwand-Modells wurde von Thomas Scanlon vorgeschlagen, in Abgrenzung zur durchgehenden Priorität des am schlechtesten Gestellten (Rawls) und zu einem rein an der Verlustdifferenz orientierten Ansatz (Nagel). Wir sollen uns nach Scanlon zwei mögliche Prinzipien vorstellen, die bei ihm A und E genannt werden. In A gibt es eine große Ungleichheit. In E ist die Ungleichheit geringer und niemand ist nahezu so schlecht gestellt wie im Falle des am schlechtesten Gestellten in A. Der am schlechtesten Gestellte hat einen Grund, gegen A etwas einzuwenden. Jedoch könnte sein Einwand widerlegt werden, wenn ein Individuum in E ein sehr großes Opfer bringen muss, um ein anderes Individuum zu begünstigen,

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t

oder wenn die absolute Stufe des am schlechtesten Gestellten in A sehr hoch ist. Andere Überlegungen können demnach die Stärke der Gründe für A oder E stärken, die jede Person hat: »Wenn wir über ein Prinzip im Kontraktualismus nachdenken, dann ist unsere Aufmerksamkeit natürlicherweise auf diejenigen zuerst gerichtet, die es unter diesem Prinzip am schlechtesten haben würden. […] Daraus folgt jedoch nicht, dass der Kontraktualismus es immer von uns verlangt, diejenigen Prinzipien auszuwählen, unter welchen die Erwartungen der am schlechtesten Gestellten am höchsten sind. Die Vernünftigkeit des Einwandes der Verlierer gegenüber A besteht nicht durch die Tatsache, dass sie die am schlechtesten Gestellten unter A sind und niemand so schlecht gestellt unter E wäre. Die Kraft ihres Einwandes hängt auch von der Tatsache ab, dass ihre Position unter A absolut gesehen sehr schlecht ist und signifikant besser unter E wäre.« (Scanlon 2006: 144, Übers. d. Verf.).

Richten wir unser Augenmerk auf die absolute Position einer entsprechenden Person oder Perspektive: Jene entspricht in meiner obigen Abbildung dem Wert 11 für A und 1 für B. Wenn wir das absolute Wohlergehen einbeziehen, dann sind entsprechende Gewinne und Verluste wichtiger, wenn dieses Wohlergehen geringer ist. Der Einfluss der individuellen absoluten Position auf den Einwand kann folgendermaßen plausibilisiert werden: Die Position von A ist unter (I) und (II) identisch mit meinen anderen Beispielen. Die Position von B ist jedoch deutlich schlechter, sowohl unter (I) als auch unter (II), aber der Unterschied entspricht nach wie vor dem Wert 2. Wenn die Stärke des Einwandes nun unter Einbezug der absoluten Position betrachtet wird, dann können wir die Differenz der entsprechenden Erwartungen von einem Prinzip mit der absoluten Position dividieren. In diesem Falle wäre es 7/11 für A und 2/1 für B.3 Der Wert für A ist demnach geringer als für B. Demzufolge hat B den größeren Einwand und das Prinzip (I) wird gewählt. Im vorherigen Beispiel, in dem es B deutlich besser ging, würde jedoch Prinzip (II) akzeptiert werden. Daraus folgt die Regel: Erweiterter Minimax-Einwand: Die Stärke eines Einwandes einer Person ist (1) eine Funktion der Größe ihres Verlustes in Anbetracht alternativer Prinzipien und (2) eine Funktion der absoluten Position, in der sie sich befindet. (Der stärkste Einwand gehört derjenigen Perspektive, welche die größten Verluste im Verbund mit ihrer absoluten Position aufweist.)

3 | Diese Berechnungsmöglichkeit unter Berücksichtigung der absoluten Position stammt von Hirose (2015: 36).

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

Wenn die Möglichkeit von Akzeptabilität für diejenigen betrachten wird, welche den Willen haben, eine Übereinkunft zu erreichen, dann ist dies die entsprechende Form, wie herausgefunden werden kann, auf welche Prinzipien sich in dieser Weise motivierte Parteien einigen würden. Ich habe ein Modell dargelegt, welches noch keine stärkeren moralischen Implikationen in Bezug auf Gleichheit zum Inhalt hat, sondern sich einzig am Ideal der Übereinkunft orientiert. Darüber hinaus verzichtet dieses Modell auf jegliche Aggregation. Damit die Akzeptabilität jedes Einzelnen gesichert werden kann, muss, wie Nagel sagt, »paarweise« verglichen werden. Die Bedeutung des paarweisen Vergleichs kommt zum Tragen, wenn nicht nur zwei Positionen, sondern mehrere miteinander verglichen werden müssen. Das ist notwendig, wenn mehr als zwei Personen vom entsprechenden Prinzip betroffen sind. Wir stellen uns beispielsweise drei Individuen vor, welche durch unser Prinzip beeinflusst werden. Es werden aber immer nur die möglichen Gewinne und Verluste von jeweils zwei Individuen miteinander verglichen. Der Punkt, an dem der maximale Einwand minimiert wird, ist der Punkt, der am wenigsten inakzeptabel ist und dies wird für jedes Paar separat betrachtet. Zur Veranschaulichung seien nun wieder zwei mögliche Prinzipien (I) und (II) präsentiert, welche das Wohlergehen von nun aber drei Personen (A, B und C) betreffen. Tabelle 8 – Erweiterter Minimax-Einwand ohne Aggregation (I)

(II)

A

6

10

B

14

12

C

15

13

Betrachten wir zuerst die Personen A und B. Wenn (I) gewählt wird, bedeutet dies den Verlust von vier Einheiten für A und es gibt zwei Einheiten Gewinn für B. Nach dem Vergleich ist der Grad der Nicht-Akzeptanz für A größer als der Grad der Nicht-Akzeptanz für B. Aus der Perspektive von A ist (II) das am wenigsten inakzeptable Prinzip. Demzufolge ist (II) das insgesamt am wenigsten inakzeptable Prinzip. Exakt derselbe Vergleich wird zwischen den Personen A und C vollzogen. Deshalb bleibt (II) das am wenigsten inakzeptable Prinzip im Vergleich zu (I). Demzufolge können wir insgesamt schließen, dass (II) dasjenige Prinzip ist, welches akzeptiert werden könnte. Was sich hier jedoch als Problem erweisen kann, ist das Problem der Zahlen. In diesem letzten Beispiel ist die Lage derart, dass sowohl Lösung (I) als

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t

auch (II) die exakt gleiche Nutzensumme produziert. Der Utilitarismus könnte beide Prinzipien als legitim ausweisen und sich demgegenüber indifferent verhalten. Was wäre, wenn nun aber mit einem Prinzip eine deutlich größere Anzahl von Menschen Vorteile erhalten würde? Kann die Anzahl vielleicht den Anspruch eines Einzelnen brechen und könnten aggregierte Vorteile zu mehr Plausibilität führen? Ich glaube, dass dies nur unter bestimmten Bedingungen der Fall sein kann, wenn es einen Gleichstand der Einwände zwischen zwei Individuen gibt, wie ich in Kapitel 10.4. darlegen werde. Was ich hier sehr plastisch anhand von Zahlenwerten versucht habe zu veranschaulichen, ist die Möglichkeit, zu einer Übereinkunft zu gelangen, indem das am wenigsten inakzeptable Prinzip gefunden wird. Natürlich gibt es diese Form von Genauigkeit nicht, doch es lässt sich verstehen, wie das Verfahren gemeint ist. Am ehesten kann diese Zahlengenauigkeit angewandt werden, wenn über bestimmte Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit nachgedacht wird, wo es vielleicht nur um ein einziges Gut geht und die Parteien einen Einwand gleicher Art vorbringen. In allen anderen Fällen erscheint es schwierig festzustellen, wer den stärksten Einwand gegen ein Prinzip vorbringen könnte, vor allem weil sich Zahlenwerte nicht genau ermitteln oder festlegen lassen. Doch ich glaube, dass es in mancher Hinsicht sogar leichter fallen könnte, im Sinne des Einwand-Modells zu argumentieren, auch wenn der Überlegungsprozess sehr viel informeller aussieht und sich letztlich auch häufig auf Konsistenzanforderungen bei weniger vergleichbaren Gründen gestützt werden muss. Ich will zum Abschluss ein Beispiel schildern, welches auf den ersten Blick deutlich komplexer ist in der Frage, die gestellt wird. Nehmen wir an, wir haben es mit einer Situation zu tun, in der jemand mit Waffengewalt bedroht und ausgeraubt wird. Der Räuber fragt sein Opfer daraufhin, wo es wohnt. Der Räuber möchte vielleicht seinen Beutezug in der Wohnung seines Opfers fortsetzen. Das Opfer lügt den Räuber an, um seine Familie zu beschützen, welche zu Hause ist und Gefahr läuft, Schaden zu erleiden. Ist diese Lüge erlaubt? Sie wäre es nur dann, wenn es ein Prinzip zur Regulierung des Zusammenlebens gäbe, welches vernünftigerweise akzeptiert werden könnte und dies gestattet. Es gibt hier mehrere Prinzipienvorschläge. Ich lasse das Prinzip beiseite, welches es gestatten würde, immer und in jeder Situation zu lügen. Dann bieten sich zwei Prinzipien an: Prinzip des kategorischen Lügenverbots: Es ist niemals erlaubt, eine andere Person anzulügen. Prinzip der qualifizierten Erlaubnis zu lügen: Es ist erlaubt, eine andere Person anzulügen, wenn diese andere Person die wahren Informationen verwenden könnte, um anderen Leid zuzufügen.

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

Gegen welches Prinzip kann ein größerer Einwand vorgebracht werden oder welches dieser Prinzipien ist das am wenigsten inakzeptable? Betrachten wir ganz nüchtern die verschiedenen Positionen. Es gibt hier zwei generische Perspektiven: (1) Die Perspektive derjenigen, die durch die erlaubten Lügen einen Nachteil erhalten, weil sie in diesen Fällen ihren Reichtum nicht steigern können, wofür sie die wahren Informationen benötigen. (2) Die Perspektive jener, die durch ein kategorisches Lügenverbot einen Nachteil erhalten, weil sie in diesen Fällen wahrheitsgemäße Informationen preisgeben müssen, welche dazu führen, dass anderen Personen, die ihnen nahestehen, Schaden zugefügt wird. Wer hat den größeren Einwand? Jene, die durch das erlaubte Lügen einen Nachteil erleiden, oder jene, welche Schaden erleiden durch das kategorische Lügenverbot? Dies sind zwei sehr unterschiedliche Gründe, die angeführt werden können. Wir können nicht einfach sagen, dass »Schaden zu erleiden« einen bestimmten Zahlenwert erhält und »Reichtum vermehren« wiederum einen anderen. Es scheint für uns vollkommen evident, dass diejenigen, die eine Schädigung erleiden, einen größeren Einwand gegen das kategorische Lügenverbot formulieren könnten. Warum ist dies der Fall? Das hat mehrere Gründe: Einerseits hat dies damit zu tun, dass die Perspektive der Räuber hier einen Standard von anderen verlangt, den sie selbst niemals akzeptieren würden, sie also in ihrer Anforderung an andere nicht konsistent ist. Die Forderung, auch dann die Wahrheit zu sagen, wenn dies sehr schlechte Konsequenzen für einen selbst hat, ist nichts, was sie gleichermaßen sich selbst gegenüber geltend machen beziehungsweise als prioritär einstufen würden. Dabei spielt es nicht einmal mehr eine Rolle, wie sehr sich das Wohlergehen der Räuber im Gegensatz zu den Ausgeraubten steigern lässt. Dies ist kein zusätzliches Argument, auf ein kategorisches Lügenverbot zu bestehen. Dieser Fall zeigt andererseits, dass sich in dieser Frage erst einmal die Gültigkeit anderer Prinzipien erweisen muss. Wenn wir sagen, dass diejenigen, die potenziell ausgeraubt werden und vielleicht gewaltsam Schaden erleiden, den stärkeren Einwand haben könnten, dann liegt es nahe, zuerst ein Prinzip der Nicht-Schädigung zu bedenken, also ein Prinzip, welches besagt, dass es nicht erlaubt ist, anderen Gewalt anzutun oder sie auszurauben, um sein eigenes Wohlergehen zu vermehren. Dann stehen andere Gründe im Vordergrund. Ein Prinzip der Nicht-Schädigung kann dann jedoch verwendet werden, um zu überprüfen, ob es ein Prinzip gibt, welches es erlaubt, in bestimmten Fällen zu lügen. Gemäß diesem Prinzip sehen wir dann auch, wer den größeren Einwand hat, nämlich diejenigen, denen geschadet wird. Erstens ist das Prinzip der qualifizierten Lüge abhängig von anderen Prinzipien (gemäß dem

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t

Holismus der Rechtfertigung, welchen ich in Kapitel 9.4. ausgeführt habe) und zweitens wird im Überlegungsprozess berücksichtigt, dass eine Partei von anderen nicht das einfordern kann, was sie selbst sich niemals zumuten würde. Sie muss eine gewisse Konsistenz ihrer Gründe wahren (wie ich in Kapitel 9.3. beschrieben habe). Wenn ich mir selbst zugestehe, allgemein nicht geschädigt werden zu wollen, dann kann ich auch kein Prinzip wie das kategorische Lügenverbot verlangen, welches dazu führt, dass jemandem geschadet wird. Der Einwand gegen das kategorische Lügenverbot ist grundlegender. Auf diese Weise können wir die Priorität ermitteln, obwohl die Überlegung insgesamt komplexer ausfällt, da wir entsprechende Hierarchien und andere Prinzipien mitbedenken müssen. Darüber hinaus müsste ein kategorisches Lügenverbot nicht nur in diesem Kontext berücksichtigt werden. Als Prinzip wären potenziell auch noch andere generische Perspektiven von einem solchen Lügenverbot betroffen. Auch dies müsste sich im Rechtfertigungsprozess widerspiegeln, was ich jedoch an dieser Stelle nicht weiter ausführen werde. Stattdessen sollen die vorangegangenen Aussagen in diesem Kapitel lediglich den entsprechenden kontraktualistischen Überlegungsprozess in seinen Grundzügen verdeutlicht haben.

10.3. W ahrscheinlichkeiten im Ü berlegungsprozess Eine Frage, die sich stellt, wenn die Gründe von Personen betrachtet werden, ist diejenige, ob Wahrscheinlichkeiten im Überlegungsprozess relevant sind bei dem, was die Parteien akzeptieren oder nicht akzeptieren könnten. Spätestens seit John Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit scheinen Überlegungen zu Wahrscheinlichkeiten sehr wichtig für das kontraktualistische Verfahren geworden zu sein. Wir erinnern uns: Der Urzustand, von dem aus der Überlegungsprozess seinen Lauf nimmt, ist so ausgestaltet, dass die Parteien, welche die Entscheidung für bestimmte Prinzipien treffen, sich hinter einem Schleier des Nichtwissens befinden, damit die Fairnessbedingungen gewahrt sind und somit niemand aus dem Wissen um seine Position innerhalb der Gesellschaft einen Vorteil ziehen kann. Wenn niemand weiß, in welcher sozialen Situation er sich befinden wird, dann wird er mit der Frage konfrontiert, welche Wahrscheinlichkeit besteht, dass er diese oder jene Position in der Gesellschaft einnehmen könnte. Rawls ist sich der Ungewöhnlichkeit einer ausgeprägten Rolle von Wahrscheinlichkeiten in Fragen der Prinzipienbegründung sehr bewusst: »Zunächst einmal könnte es überraschen, dass die Frage, was Wahrscheinlichkeit sei, in der Moralphilosophie und besonders in der Gerechtigkeitstheorie eine Rolle spielen soll. Das ergibt sich aber unausweichlich aus der Vertragstheorie, die die Moralphilosophie als einen Teil der Theorie der vernünftigen Entscheidung auffasst. So wie der Urzustand definiert ist, sind

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen unvermeidlich« (Rawls 1979: 196). In der Theorie von Rawls kanalisiert sich die Frage nach der Wahrscheinlichkeit in der Konzeption des Urzustandes. Diese besondere Konzeption macht es überhaupt erforderlich, darüber nachzudenken. Nun müssen sich die Parteien jedoch nicht mit bestimmten Risikoabwägungen beschäftigen, denn so, wie der Urzustand konzipiert ist, können sich konkrete Wahrscheinlichkeiten gar nicht klar ermitteln lassen. Demzufolge spielen sie für die grundlegenden Entscheidungen der Parteien im Urzustand keine Rolle. Da den entsprechenden Parteien aufgrund ihrer Unwissenheit Anhaltspunkte fehlen, die sie zu bestimmten Risikoabwägungen bringen könnten, ist die Entscheidungssituation für die Parteien eine unter Bedingungen der Unsicherheit und nicht unter Bedingungen des Risikos. Es wird konstatiert, »dass die Parteien über keine zuverlässige Basis verfügen, um die Wahrscheinlichkeiten jener möglichen sozialen Umstände zu schätzen, von denen die grundlegenden Interessen der von ihnen vertretenen Personen berührt werden« (Rawls 2006: 157). Sie können nicht klar ausmachen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ihre Situation in der Gesellschaft möglicherweise sehr schlecht ist. Sie müssen demzufolge die angesprochene Maximin-Regel verwenden, um zu Prinzipien zu gelangen, welche die Aussichten der schlechtesten Position maximiert. Damit spielen bei Rawls Wahrscheinlichkeiten in der eigentlichen Überlegung der Parteien eine sehr untergeordnete Rolle. Ganz anders sieht dies aus, wenn wir unter den Bedingungen des Urzustandes eine andere Entscheidungsregel geltend machen würden. Harsanyi (1955) hat argumentiert, dass die Parteien in einer solchen Situation davon ausgehen würden, dass sie mit derselben Wahrscheinlichkeit ein beliebiges Mitglied der Gesellschaft sein könnten. Demzufolge können sie sich auch ihre Chancen ausrechnen, ob sie durch entsprechende Prinzipien am meisten oder am wenigsten bevorteilt sein würden. Aufgrund dieser Annahme wird aus der Entscheidungssituation unter Unsicherheit eine Entscheidungssituation unter Risiko. Genau dann müssen wir nach Harsanyi die entsprechenden Entscheidungen als eine effiziente Befriedigung von Nutzenerwartungen auffassen. Wir müssen also den erwarteten Durchschnittsnutzen maximieren. Dies ist das Entscheidungskriterium und nicht die Maximin-Regel.4 Es gab in der Vergangenheit große Kontroversen, ob die Entscheidung im Urzustand eher als eine unter Risiko oder unter Unsicherheit aufgefasst werden sollte. Dies erweckte 4 | Harsanyi hat in einer späteren Arbeit noch einmal bemerkt, dass Rawls’ und sein eigenes Modell auf »fast identischen qualitativen Annahmen beruhen«. Die Differenzen sind aber folgende: »Ein Unterschied ist, dass Rawls jegliche numerischen Wahrscheinlichkeiten vermeidet. Aber der Hauptunterschied ist, dass Rawls den technischen Fehler begeht, seine Analyse auf einer hochirrationalen Entscheidungsregel aufzubauen, dem Maximin-Prinzip« (Harsanyi 1982: 47, Übers. d. Verf.).

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den Eindruck, »der Gegensatz zwischen der Theorie der Gerechtigkeit als Fairness und dem Utilitarismus hänge am seidenen Faden einer vergleichsweise marginalen entscheidungstheoretischen Kontroverse« (Nida-Rümelin 1999: 55). Tatsächlich, so möchte ich meinen, hängt der Unterschied davon nicht ab, sondern von einer bestimmten These über den Gegenstand der Moralität. Der Utilitarismus wird als Gegenstand der Moralität die Maximierung eines bestimmten Gutes wie Wohlergehen betrachten, während der Kontraktualismus den Gegenstand der Moralität in der Rechtfertigung gegenüber anderen auf eine Weise sieht, welche diese akzeptieren könnten. Nun sind die Fälle von Harsanyi und ganz besonders von Rawls anders gelagert als das viel allgemeinere Entscheidungsverfahren, welches ich mit dem hier entwickelten Kontraktualismus darlege. Vor allem geht es nicht darum, eine einzige Entscheidung für ein ganz bestimmtes Prinzip zu konstruieren, sondern einen Überlegungsprozess aufzuzeigen, der sich auf alle interpersonellen Regelungen bezieht. Ich habe darüber hinaus Abstand davon genommen, eine Konstruktion wie den Schleier des Nichtwissens einzuführen, der überhaupt erst zum Problem führt, welche Entscheidungsregel unter einem solchen Schleier angenommen werden kann. Der praktische Standpunkt des Kontraktualismus ist, so wie ich ihn deute, offener und der Überlegungsprozess enthält Perspektiven von Parteien, die keinerlei Einschränkungen bezüglich ihrer Wissensbestände unterliegen. In einer Hinsicht spielen Wahrscheinlichkeiten aber eine genauso geringe Rolle für die Akzeptanz oder Ablehnung eines Prinzips wie letztendlich bei Rawls. Während sich die Parteien in Rawls’ Urzustand unsicher sind, welche Position sie in der Gesellschaft einnehmen werden, ist es in meiner Darlegung des kontraktualistischen Modells offensichtlich, welche Position sie einnehmen werden. Im ersteren Fall kann aufgrund der geringen Informationen keine Risikoabwägung getroffen werden, im letzteren Fall ist allein die Frage schon überflüssig. Wenn wir ein bestimmtes Prinzip rechtfertigen wollen, dann ist uns bekannt, dass es Perspektiven geben wird, die von Beginn an bessere und schlechtere Ausgangslagen haben werden. Die Parteien werden auch bis zu einem bestimmten Grade wissen, welche negativen oder positiven Konsequenzen ein Prinzip für ihr Leben hat. Es gibt beispielsweise eine Gruppe, die sich in einer Position befindet, in der sie oft Hilfe benötigt, und es gibt eine Gruppe, die bessergestellt ist und wahrscheinlich oft helfen muss, wenn ein Prinzip der Hilfeleistung bedacht wird. Jeder weiß im Grunde, in welche Gruppe er fällt, da er über seinen entsprechenden Standpunkt Bescheid weiß – im Gegensatz zum rawlsschen Urzustand, wo dies ein Mysterium für die vorgestellten Parteien ist. Nun geht es jedoch gerade darum, seine eigenen Handlungen gegenüber anderen zu rechtfertigen. Wenn ich in der Lage bin, Hilfe zu leisten, und es nicht tue, kann ich dies dann gegenüber denjenigen rechtfertigen, die Hilfe brauchen? Wenn ich auf der anderen Seite Hilfe bean-

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

spruche, wie kann ich dies gegenüber denjenigen rechtfertigen, die diese Hilfe geben müssen und damit auf andere Dinge verzichten? In meiner Version des Kontraktualismus geht es nicht um eine Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Person zu sein, sondern einzig um die Gründe, die aus der jeweiligen Perspektive erwachsen. Da im Überlegungsprozess jedoch das Motiv der Übereinkunft vorausgesetzt wird, lassen sich unter dieser Bedingung die Gründe derjenigen, die Hilfe benötigen, mit denjenigen, die sie geben, miteinander vergleichen und es lässt sich ein vernünftiges Ergebnis erzielen. Die Art und Weise, wie wir uns mit der Wahl eines Prinzips auseinandersetzen, verändert sich an dieser Stelle grundlegend und wir müssen uns keinesfalls mehr mit der Kontroverse des Urzustandes unter Unsicherheits- oder Risikobedingungen beschäftigen. Wahrscheinlichkeiten könnten nun jedoch auf eine ganz andere Art und Weise im kontraktualistischen Überlegungsprozess relevant sein. Wenn gefragt wird, welche Prinzipien von allen vernünftigerweise akzeptiert werden könnten, dann müsste vielleicht auch gefragt werden, ob es Wahrscheinlichkeiten gibt, die bei der Beurteilung eines Prinzips wichtig sind. Wie stark ist beispielsweise ein Einwand, wenn das Ereignis, auf welches er sich bezieht, nur mit geringer Wahrscheinlichkeit eintritt? Ich vertrete folgende These: Wahrscheinlichkeiten spielen für die Beurteilung der Richtigkeit eines Prinzips keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Dies hätte auf den ersten Blick folgende Konsequenzen: Eine Person hat auch dann einen Grund, ihre Akzeptanz für ein bestimmtes Prinzip zu verweigern, wenn nur eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie einen Schaden durch dieses Prinzip erleiden oder eine Bürde auf sich nehmen müsste. Wieder werden die generischen Gründe derjenigen Perspektiven herangezogen, die vom Prinzip profitieren würden, und mit denjenigen generischen Perspektiven verglichen, die eine Bürde auf sich nehmen müssten. Wenn letztere beispielsweise die Bürde des Schmerzes anführen, zu welchem ein Prinzip führen könnte, dann wird der Grund in keiner Weise dadurch weniger gewichtig, wenn das Eintreten dieses Schmerzes weniger wahrscheinlich ist. Nun gibt es jedoch ein Problem. Offensichtlich wird dann selbst jener Grund, der ein Ereignis zum Gegenstand hat, welches nur mit geringer Wahrscheinlichkeit eintritt, genauso wichtig sein, wie ein Grund, der ein Ereignis zum Gegenstand hat, welches mit ziemlicher Sicherheit eintritt. Wäre es dann nicht auch möglich, ein Prinzip wie das folgende zu rechtfertigen? Uneingeschränktes Risikoverbots-Prinzip: Jede Handlung, welche das Risiko einer Schädigung anderer beinhaltet, ist verboten. Ein solches Prinzip könnte wohl in jedem Fall nicht akzeptiert werden, da es uns völlig einschränken würde. Wir könnten nicht einmal mehr die Straße betreten, ohne dass nicht die geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass wir je-

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manden zufällig anstoßen und dieser sich dabei eine Verletzung zuzieht. Wäre es demnach nicht sinnvoll, nach einer Regel der Abschwächung von Einwänden zu suchen? Regel der Abschwächung der Einwände durch Wahrscheinlichkeit: Die Stärke eines Einwandes, der sich auf die Folgen eines Prinzips bezieht, welches ein Risiko auferlegt, bemisst sich nach der Höhe der Wahrscheinlichkeit, mit der die Folge eintritt. Ist die Wahrscheinlichkeit niedrig, ist der Einwand schwächer. Ist die Wahrscheinlichkeit hoch, ist der Einwand stärker.5 Wenn es ein Prinzip gibt, welches nur mit geringer Wahrscheinlichkeit zu einer Bürde von jemandem führt, müssten dann die entsprechenden Gründe nicht diskontiert werden? Scanlon vertritt ebenfalls eine Sicht, nach der Wahrscheinlichkeiten keine Relevanz besitzen, wenn wir darüber nachdenken, ob ein Prinzip gerechtfertigt werden kann oder nicht. Nach ihm ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Handlung Schaden verursacht nicht als Faktor relevant, um die Gründe der betroffenen Parteien abzuschwächen oder zu stärken, sondern diese Wahrscheinlichkeit sei vielmehr ein Indikator für die Sorgfalt, die Personen bei der Vermeidung eines solchen Schaden, walten lassen müssen (vgl. Scanlon 1998: 209). Dies beinhaltet, dass der Einwand durch Wahrscheinlichkeiten nicht stärker oder schwächer werden kann. Es wird darauf verwiesen, dass bestimmte Praktiken Einwände hervorrufen, die besagen, dass nicht genug getan wird, um jemanden vor einem Risiko zu bewahren, oder dass sehr leichtsinnig ein Risiko eingegangen wird. Die Frage, die wir uns bei einem Prinzip stellen müssen, ist jene, ob das Risiko, welches eingegangen wird, gegenüber denjenigen gerechtfertigt werden kann, die es tragen müssen. Die Parteien werden unterschiedliche Auffassungen bezüglich verschiedener Risikopraktiken haben. Es mag einen generischen Standpunkt geben, der sehr davon profitieren würde, dass eine Praxis in Kraft ist, die auch ein gewisses Risiko beinhaltet, und es mag diejenigen geben, welche eventuell geschädigt werden, wenn ein negatives Ereignis aufgrund dieser Praxis eintritt. (Es mag noch viele weitere Standpunkte geben, vielleicht noch jene, welche das Risiko eingehen und gleichsam davon profitieren, doch ich lasse dies fürs erste beiseite.) Wieder wird eine Übereinkunft durch die Maximalforderungen nicht möglich sein. Die Bewegung zur Übereinkunft wird sich auf allgemeinere Fragen richten, wann überhaupt ein bestimmtes Risiko gerechtfertigt werden kann. Auf einer prinzipiellen Ebene ist es erst einmal gar nicht erforderlich, über bestimmte Wahrscheinlichkeiten nachzudenken und das 5 | Dies ist eine Abwandlung vom »Prinzip probabilistischer Abschwächung der ethischen Relevanz möglicher Handlungsfolgen« bei Nida-Rümelin et al. (2012: 198), welches ich direkt auf die Einwände möglicher Parteien bezogen habe.

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

entsprechende Wissen darüber zu erlangen. Die Parteien fragen sich stattdessen, was sie mit sich sinnvoller Weise machen lassen können und was sie eventuell auch von anderen verlangen können. Was schulden wir uns demzufolge grundsätzlich in Anbetracht von Risiken? Wenn alle Parteien grundsätzlich Handlungen vollziehen, welche immer ein Risiko für andere mit sich tragen (wie allein schon das Betreten des Bürgersteiges), so scheint es vernünftig – in Anbetracht des Willens, eine Übereinkunft zu erzielen –, folgendes Prinzip geltend zu machen, welches von Lenman expliziert wurde: Prinzip der Zielkonsistenz: »[M]eine Handlung, dir ein Risiko aufzuerlegen, kann dadurch zulässig gemacht werden, indem sie einem Zweck dient, der es nicht prinzipiell ausschließt, dass ich vernünftige Vorsichtsmaßnahmen dagegen ergreife, dass du zu schaden kommst; andere Handlungen, die ich ausführen könnte, werden unzulässig, wenn der Zweck […] inkonsistent damit ist, dass deine Sicherheit eines meiner leitenden Ziele ist.« (Lenman 2008: 111, Übers. d. Verf.) Dieses Prinzip kommt am ehesten Parteien entgegen, die nach einer Übereinkunft suchen. Eine maximale Blockade der Verhandlung wäre möglich, wenn jegliche Bürde und jegliches kleine Risiko zu einer Ablehnung führen würden. Ein Prinzip, welches besagt, jegliche Schädigung (einschließlich des Risikos dieser Schädigung) zu verbieten, wäre paralysierend. Da sie nach einer Übereinkunft suchen, müssen sich die Parteien auch mit Prinzipien arrangieren können, die ein mögliches Risiko für sie selbst beinhalten könnten, solange entsprechende Maßnahmen ergriffen werden, die das Risiko einer Bürde verringern. Dieses Prinzip lenkt uns einerseits auf die Ziele, die wir mit einer Handlung verfolgen, und anderseits auf die Vorsichtsmaßnahmen, die wir ergreifen. Schauen wir zuerst auf die Ziele, die inkonsistent damit sein können, mögliche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Dies hilft zu verstehen, warum bestimmte Tätigkeiten der Risikopraxis akzeptabler sind als andere. Nehmen wir den einfachen Fall des Straßenverkehrs. Beispielsweise könnte ich mit dem Auto oder mit dem Fahrrad fahren und Schaden an anderen Personen verursachen, selbst wenn ich alle nötigen Verkehrsregeln eingehalten habe. Selbst dann lässt sich das Risiko nicht ausschließen, dass jemand in der Folge dieser Tätigkeiten Schaden nimmt. Nehmen wir nun einen anderen Fall. Diesmal wird ein ehrgeiziges Bauprojekt angeordnet (vielleicht in einem nicht allzu demokratischen Staat). In dem Land herrscht Wassermangel. Für das Projekt wird eine bestimmte Anzahl von Personen benötigt, damit das Projekt in einer bestimmten Zeit fertig wird. Leider kann nie genug Wasser zur Verfügung gestellt werden, damit alle ausreichend Flüssigkeit erhalten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen mit dem Risiko auf den Bau gehen, sich unter denjenigen

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Personen zu befinden, die nicht genug Wasser erhalten und sterben. Während der erste Fall damit konsistent ist, dass ich notwendige Maßnahmen ergreife, um andere Personen zu schützen, ist es der zweite nicht. Die Tätigkeiten im ersten Fall führen ein Risiko mit sich, aber die Wahrscheinlichkeit, einen Schaden oder gar den Tod zu erleiden, ist kein essentielles Merkmal der Teilnahme am Straßenverkehr. Wenn ein Schaden entsteht, dann »unabsichtlich«. Damit widerspricht diese Handlung nicht dem Prinzip der Zielkonsistenz. Hier besteht das Risiko eines »Unfalls«. Der zweite Fall dagegen nimmt ganz bewusst den Tod von Personen in Kauf, um das entsprechende Ziel zu erreichen. Die Personen werden absichtlich einem Risiko ausgesetzt. Man könnte auch sagen, sie werden hier nur als Mittel gebraucht und nicht selbst als Zweck. Der Eintritt eines Todes ist hier nicht nur ein »Unfall«.Es gibt eine gewisse Vorhersagbarkeit, dass beispielsweise im Straßenverkehr Menschen sterben werden. Beabsichtigt ist dies jedoch nicht und sämtliche Maßnahmen, die ergriffen werden, geschehen auch in der Weise, dass unsere Handlungen keine solchen Schäden verursachen sollen (von Straßenverkehrsregeln über die vernünftige Ausbildung bis zur Pflicht von Sicherheitsgurten). Wir können es leicht vermeiden, den intentionalen Tod von Menschen in Kauf zu nehmen, einfach kraft ihrer Einwände dagegen, das mögliche Opfer zu sein. Es ist damit insgesamt weniger eine Frage von Wahrscheinlichkeiten, sondern eine Frage, wie etwas getan wird. Jedoch ist durchaus zu konstatieren, dass Wahrscheinlichkeiten nicht nur ein Indikator dafür sind, dass bestimmte Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden müssen. Wir stehen dann vor einer »einzelfallbezogenen Fragestellung, welche Form und welches Ausmaß die Maßnahmen zur Minderung potentieller Schäden hierfür notwendigerweise anzunehmen haben. Für eine Beantwortung dieser Frage ist es dann aber wesentlich, auf Wahrscheinlichkeitswerte zurückgreifen zu können« (Nida-Rümelin et al. 2012: 206). Das sind aber dann in erster Linie empirische Fragen, die nicht auf einer prinzipiellen Ebene entschieden werden können. Nehmen wir folgendes Beispiel: Eine Regierung entschließt sich, dass der Bau eines Atomkraftwerkes zugelassen wird. Es gehört sicherlich nicht zum Ziel der Regierung, dass bei der Betreibung des Kraftwerks Menschen sterben oder dass eine Kernschmelze mit massiven Folgen eintritt. Die Regierung könnte sich darauf berufen, dass sämtliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden und das Kraftwerk auf dem neuesten Stand der Technik ist. Dennoch könnten sich viele Menschen (wahrscheinlich nicht nur die Bewohner in direkter Umgebung des Kraftwerks) darüber beschweren, dass sie einem unnötigen Risiko ausgesetzt werden. Prinzipiell steht der Bau des Kraftwerkes nicht in Widerspruch mit dem Prinzip der Zielkonsistenz. Hier liegt jedoch dann ein empirischer Streit darüber vor, wie hoch das Risiko eigentlich ist und ob es überhaupt Sicherheitsmaßnahmen gibt, die dem Betreiben eines Atomkraftwerkes angemessen sind. Insbesondere bei

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

Entscheidungen, die uns vom Staat auferlegt werden, scheint ein damit verbundenes Risiko immer rechtfertigungsbedürftig. Vernünftig wäre beispielsweise ein Prinzip, welches besagt, dass bei bestimmten Maßnahmen, bei denen das Risiko nicht genau bekannt ist, entsprechende Verfahren vorzunehmen sind, die sich darauf beziehen, die tatsächliche Zustimmung derjenigen einzuholen, die das unbekannte Risiko letztlich tragen müssen. Streitigkeiten und Unsicherheiten bezüglich eines Risikos und der vernünftigen Vorsichtsmaßnahmen, die getroffen werden müssen, können nicht auf prinzipieller Ebene entschieden werden. Auf dieser spielen Einwände bezüglich der Wahrscheinlichkeiten bestimmter Ereignisse eine untergeordnete Rolle. Wir können lediglich die allgemeine Form bestimmen, welche die Handlungen und Maßnahmen anzunehmen hätten.

10.4. A ggregation im Ü berlegungsprozess Wenn im Kontraktualismus eine Rechtfertigung gegenüber jedem Einzelnen vorgenommen wird, dann ist es insbesondere die sogenannte »individualistische Einschränkung« (Parfit 2003: 372; vgl. Kumar 2011), die einen wichtigen Unterschied zu konsequentialistischen Theorien wie dem Utilitarismus kennzeichnet, die das personenübergreifende Gesamtergebnis maximieren wollen. Der entsprechende Nutzen oder das Wohlergehen für eine Vielzahl von Personen mag noch so groß sein: Wenn ein Individuum einen gewichtigen Einwand gegen ein Prinzip geltend machen kann, dann kann das Prinzip nicht gerechtfertigt werden. Eine interpersonelle Aggregation, um Vorteile, Wohlergehen oder andere Güter insgesamt zu maximieren, kann im Kontraktualismus deshalb nicht stattfinden. Dies bedeutet natürlich nicht, dass es keine nutzenmaximierenden Prinzipien geben kann, die beispielsweise genau dann gerechtfertigt werden können, wenn dies keine Bürden erfordert, die nicht vernünftigerweise akzeptiert werden könnten. Es bedeutet aber, dass die Nutzenmaximierung nicht der grundlegende Maßstab des Richtigen und Falschen ist. Der Kontraktualismus entfaltet seine Wirkung und Plausibilität genau an der Stelle, wo allgemein konsequentialistische Ansätze zu intuitiv nicht einsehbaren moralischen Forderungen führen. Es gibt Fälle, wo uns sehr geringe Verbesserungen für sehr viele Menschen nicht dazu verleiten würden, auch nur einem einzigen Menschen etwas sehr Schlimmes anzutun oder ihm eine sehr schwere Bürde aufzuerlegen. Selbst wenn viele Hunderte oder gar Tausende von der Folterung, dem Tod oder sonstigen Qualen eines Einzelnen profitieren würden, dann würden wir dies dennoch nicht unbedingt für richtig halten. Diejenige, die ein Leid ertragen muss, ist eine individuelle Person, die in vielerlei Hinsicht denjenigen ähnelt, die einen Vorteil durch ihr Leid erhalten würden. Sie kann verschiedene Gründe anführen, weshalb sie kein Prinzip möch-

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te, welches es erlauben würde, einem Einzelnen zu schaden, um Vorteile für viele zu ermöglichen. Sie könnte auf den Schmerz verweisen oder darauf, nicht sterben zu wollen, so wie niemand anderes dies wollen würde, vor allem nicht für einen Zweck, der nicht allgemein geteilt wird, wie die Maximierung eines Gutes. Wie könnten die vielen anderen Personen gegenüber der leidenden Person das unglückliche Schicksal rechtfertigen, welches sie ertragen muss? Für den Konsequentialisten folgt die Rechtfertigung direkt aus dem wertvollsten Ergebnis. Das wertvolle Ergebnis konstituiert die mögliche Rechtfertigung innerhalb eines konsequentialistischen Überlegungsprozesses. Kontraktualisten folgen auf der anderen Seite nicht den grundlegenden Annahmen, auf welchen eine solche Rechtfertigung basiert. Konsequentialisten wollen das beste Gesamtergebnis erhalten, welches aus einem unparteilichen Standpunkt folgt. In der Theorie der vernünftigen Übereinkunft wird diese Art aggregativer Rechtfertigung gemieden, indem die Existenz einer allgemeinen unparteilichen Perspektive infrage gestellt wird. Es gibt niemanden, der die Freude oder das Glück beispielsweise von etlichen hunderten Menschen erfahren kann, und deshalb gibt es auch niemanden, welcher der leidenden Person sagen kann, wie enttäuschend es wäre, wenn diese Erfahrung nicht zugelassen wird. Aber genau diese Art von Rechtfertigung wäre das, was die Person benötigen würde, die ein Leid zugunsten vieler erdulden muss. Um mich der Aggregationsproblematik zu nähern, werde ich zeigen, was in Anbetracht von nur zwei möglichen Individuen gerechtfertigt werden kann. Wenn wir uns den Überlegungsprozess so vorstellen, dass wir eine Übereinkunft finden wollen und uns auf dasjenige Prinzip einigen, welches von allen Alternativen die am wenigsten inakzeptable wäre, dann würde wahrscheinlich folgendes Prinzip Akzeptanz finden, welches von Derek Parfit das »Prinzip der größeren Bürde« genannt wird: Prinzip der größeren Bürde: »Es ist uns erlaubt, jemandem eine Bürde aufzuerlegen, wenn dies der einzige Weg ist, jemand anderen vor einer noch größeren Bürde zu retten« (Parfit 2003: 369, Übers. d. Verf.).6 Die Betonung liegt hier darauf, dass es der einzige Weg ist. Dieses Prinzip muss sich so vorgestellt werden, dass es in Notsituationen Anwendung findet. Parfit beschreibt beispielsweise Handlungen, die bei Rettungsaktionen erfolgen müssen. Wir stellen uns zwei Menschen vor, die bei einem Erdbeben verschüttet wurden. Beide stecken unter Geröll fest. Die Alternativen, welche die 6 | Ebenso sagt Scanlon: »In Anbetracht dieses Zieles [sich voreinander zu rechtfertigen, A.O.] wäre es zum Beispiel unvernünftig, ein Prinzip zurückzuweisen, weil es dir eine Last auferlegt, wenn jedes alternative Prinzip anderen deutlich größere Lasten auferlegt« (Scanlon 2003: 132, Übers. d. Verf.).

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

Rettungsmannschaften haben, sind jene, entweder Person A zu retten, wobei Person B stirbt, oder Person A einen Arm abzuschneiden, wodurch B das Leben gerettet wird. Es wäre unvernünftig, für A das entsprechende Prinzip der größeren Bürde nicht zu akzeptieren, da der einzige Weg jemand anderen vor einer noch größeren Bürde zu bewahren, derjenige ist, ihm eine kleinere aufzuerlegen. Wir befinden uns im Einwand-Modell, welches ich gekennzeichnet habe. Der maximalste Einwand, den jemand vorbringen kann, ist gleichsam der geringste Einwand in Anbetracht alternativer Handlungsprinzipien. Wenn wir uns den Überlegungsprozess als denjenigen vorstellen, aus dem nicht ausgestiegen werden kann, dann wird genau dieses Prinzip akzeptiert. Der Grund, dass B nicht sterben will, muss auch von A anerkannt werden. Sein Grund, einen Arm zu verlieren, ist schwächer. Insgesamt wird in diesem Beispiel das Ergebnis maximiert. Auch der Utilitarismus könnte demzufolge zu diesem Prinzip gelangen. In diesem Beispiel stehen aber nicht die Vorteile mehrerer Personen gegen die Nachteile einer einzigen Person zur Diskussion, sondern die Gründe von nur zwei Individuen. Die Herausforderung wird greif bar, wenn zwischen mehreren Personen eine Summe aggregiert wird, die dazu führt, dass ein Einzelner leiden muss. Die meisten Beispiele, die als Herausforderung für den Kontraktualismus und viele deontologische Ethiken gelten, verlaufen immer nach einem einzigen Schema: (1) Es gibt eine Person A, die eine sehr große Bürde auf sich nehmen muss (bis zum Verlust des eigenen Lebens). (2) Es gibt eine Anzahl X Personen, die alle kleine, aber spürbare Verbesserungen erfahren würden (etwa einen gewachsenen Wohlstand etc.). (3) Beschreibung des Dilemmas, ob A die Bürden auf sich nehmen soll, damit es für viele X eine Verbesserung geben kann. Die Tatsache, dass wir eine Rechtfertigung bieten müssen, die A akzeptieren kann, drückt die individuelle Einschränkung gegenüber den möglichen moralischen Rechtfertigungen aus, die wir im Kontraktualismus anwenden. Nehmen wir an, wir haben eine sehr große Gruppe von Personen, die alle einen sehr geringen Vorteil davon erhalten würden, dass A eine sehr große Bürde auf sich nehmen müsste. Indem wir diese Einschränkung berücksichtigen, können wir sehen, warum der Kontraktualismus den Weg zur interpersonellen Aggregation abschneidet und so immer noch A vor einer entsprechenden Schädigung bewahrt. Was auch immer jede andere Person anbringen könnte, um ein Prinzip zu rechtfertigen, welches sehr kleine Vorteile für sehr viele Individuen bedeutet, die Gründe wären immer noch viel kleiner als jene, die A anführen könnte. Wenn wir uns in der Weise verhalten, dass wir ein bestimmtes Prinzip gegenüber allen (auch A) rechtfertigen wollen, dann können wir dieses Opfer nicht fordern. Offenbar zählt der kleine Vorteil nur als ein einziger

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Grund, nicht jedoch als ein stärkerer, nur weil ihn viele Personen haben. Der Grund des kleinen Vorteils ist nur mit dem Grund der großen Bürde miteinander zu verrechnen. Im Modell vergleichen wir zur Berücksichtigung der Akzeptanz eines jeden Einzelnen »paarweise«, wie dies Nagel vorgeschlagen hat (Kapitel 10.2.) Die interpersonelle Aggregation wird somit unterbrochen. Allgemein illustriert dies, wie der Kontraktualismus durch Vergleiche von individuellen Gründen eine alternative Handlungsweise befürworten würde. Nun hat diese Herangehensweise des Kontraktualismus jedoch seine ganz eigenen Probleme, denn es gibt Fälle, in denen er nicht weniger (zumindest intuitiv) problematische Forderungen erzeugt, wie die konsequentialistische Herangehensweise auf der anderen Seite. Problematisch erscheint die individualistische Einschränkung genau dann, wenn die Opfer, die gefordert werden, von einer ähnlichen Qualität sind. Das klassische Dilemma der Lebensrettung kann als Illustration dienen: Wir nehmen an, es gibt zwei Boote. In einem befindet sich nur eine Person, in dem anderen sind zwei Personen. Du selbst sollst sie retten, bist aber nicht in der Lage, beide Boote zu erreichen. Wenn du das eine Boot erreichst, wird das andere gesunken sein und umgekehrt. Es gilt also, zu entscheiden, wen es zu retten gilt: den Einzelnen oder die Mehrzahl der Personen.7 Es gäbe wohl unterschiedliche Prinzipien, nach denen wir handeln könnten. Prinzipien, die es uns erlauben, uns frei zu entscheiden, wen wir retten. Ein Prinzip, welches gebietet, es auszulosen, wer gerettet werden soll. Ein Prinzip, welches es uns gebietet, die größere Zahl zu retten. Auch ein Prinzip, welches es uns gebietet, nur eine Person zu retten, wäre denkbar, wenn weitere Faktoren eingeführt werden, etwa das Alter der Person oder der Umstand, dass es sich in irgendeiner Weise um eine »besondere« Person handelt. Gesetzt den Fall jedoch, dass es möglicherweise keine signifikanten Unterschiede zwischen den Bootsinsassen gibt, wäre ein solches Prinzip schwer zu rechtfertigen. Der Konsequentialismus hält uns dazu an, das beste Ergebnis zu produzieren. In diesem Falle ist es sehr einfach für ihn zu bestimmen, welches Prinzip uns in solchen Fällen leiten soll. Wenn wir den negativen Wert von einem Tod mit dem negativen Wert von zwei Toden vergleichen, dann ist die Option am besten, bei der nur einer sterben muss. Dies passt, so möchte ich meinen, zu unseren moralischen Intuitionen. Wir haben eine starke Tendenz zu denken, dass wir dazu angehalten sind, so viele Menschen wie möglich zu retten und einem entsprechenden Prinzip zu folgen. Besonders wenn wir die Zahl der möglichen Personen im zweiten Boot weiter nach oben korrigieren, wie auf 20, 7 | Das Lebensrettungsbeispiel ist ein klassischer Fall, wenn es um die Veranschaulichung des Aggregationsproblems geht. Unter anderem wird es im Verhältnis zum Kontraktualismus diskutiert bei Scanlon (1998: 229-241), Otsuka (2000), Kumar (2001) oder Raz (2003: 359-364).

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

50 oder 100, dann scheint es uns unmöglich, dass wir es rechtfertigen können, nur das Boot zu retten, worin sich ein Einzelner befindet. Mit welcher Begründung lassen wir 100 Menschen sterben, um nur einen einzigen anderen zu retten, obwohl wir die Möglichkeit dazu hätten? Der Kontraktualismus scheint nun aber unfähig zu sein, diese Schlussfolgerung mit seinem Verweis auf Akzeptanz und individuelle Gründe zu rechtfertigen. Übereinstimmend mit dem paarweisen Vergleich des Einwand-Modells vergleichen wir lediglich den Einwand einer Person mit dem Einwand einer anderen. In diesem Falle haben alle den gleichen Einwand: Sie sind davon bedroht, ihr Leben zu verlieren. Alle haben offenbar die gleiche Stellung und genau deshalb scheint es keine explizite Pflicht zu geben, entweder eine Person oder beide Personen zu retten. Wir aggregieren die Gründe nicht interpersonell, wir suchen nicht ausschließlich nach den besten Konsequenzen, sondern nach Prinzipien, die jeder vernünftigerweise akzeptieren kann. Nun ist dieses Resultat aber nicht sehr intuitiv einleuchtend und somit scheint uns der Kontraktualismus hier wenig normative Orientierung zu geben. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, auf dieses Problem eine Antwort zu finden. Eine der vielversprechendsten ist das sogenannte Tie-Break-Argument.8 Dieses Argument setzt bei einer alternativen Situation an, in der es zwei Boote mit jeweils nur einer Person gibt. In diesem Fall kommt das Problem interpersoneller Aggregation nicht zustande. Jede der Personen hat einen gleichwertigen Grund, gerettet zu werden. Genau deshalb macht es keinen Unterschied, welche der Personen wir retten. Es wäre moralisch erlaubt, nach einem Prinzip zu handeln, welches die freie Wahl gestattet. Betrachten wir nun den Fall, dass eine Person gegen zwei Personen steht. Wenn wir die Gründe nicht aggregieren, dann würde diese Situation exakt das gleiche Ergebnis produzieren wie die erste Situation. Da nur ein Grund gegen einen anderen steht, wäre es wiederum erlaubt, nach einem Prinzip zu handeln, welches die freie Wahl gestattet. Ob eine oder zwei Personen gerettet würden, macht moralisch offenbar keinen Unterschied. Das mutet merkwürdig an, denn offenbar ändert sich die Situation sehr wohl, nur das, was wir moralisch zu tun haben, ändert sich nicht. Die Frage ist, ob es nicht einen ganz anderen Grund gibt, welcher hier noch eine Rolle spielen kann. Es ist nicht der gleichwertige Grund, nicht sterben zu wollen. Dieser besteht für alle drei und da er nicht interpersonell aggregiert wird, haben wir nach wie vor ein Patt oder einen Ausgleich zwischen den Personen. Doch vom Standpunkt der dritten Person (also jener, die in der zweiten Situation hinzukommt) kann ein weiterer Einwand erhoben werden: Sie kann sagen, dass ihre Gründe und ihre Präsenz nicht 8 | Eine der besten Ausarbeitungen erfährt dieses durch Frances Myrna Kamm (1985, 1993: insbesondere Kap. 6). Scanlon (1998: 229-241, 396, Fn. 396) greift auf dieses Argument von Kamm zurück, um es in seinem kontraktualistischen Modell zu verwenden.

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berücksichtigt werden und es überhaupt keinen Unterschied macht, ob sie da ist oder nicht. Da die Situationen unterschiedlich, die gerechtfertigten Prinzipien aber gleich sind, kann sie sagen, dass sie in den Überlegungsprozess im Grunde gar nicht einbezogen wird. Jetzt steht ein weiterer Einwand zur Verfügung, der ohne Aggregation hinzutritt. Der Einwand wird verwendet, um das Unentschieden zwischen den widerstreitenden Ansprüchen aufzubrechen. Wir können offenbar ihrem Status als eine dritte Partei, der wir auf akzeptable Weise Rechtfertigung schulden, nur dann Bedeutung beimessen, indem wir zwei Personen und nicht eine retten. Genau deshalb führt auch der kontraktualistische Rahmen zu einer ähnlichen Forderung, wie er auf den ersten Blick durch den plausibleren Konsequentialismus erhoben wird: Prinzip der Rettung der größten Zahl: Gibt es keine anderen Alternativen, so ist es im Falle ausgeglichener Gründe geboten, die größere anstatt der geringere Anzahl von Personen zu retten. Dieses Argument ist jedoch folgender Kritik ausgesetzt: (1) Kritiker wenden ein, dass dieses Prinzip nur dann gefolgert werden kann, wenn die individualistische Einschränkung abgelegt wird, wir also nicht individuelle Gründe zählen lassen, sondern die Gründe von ganzen Gruppen. Nach dieser Kritik kann die Stellung der dritten Person überhaupt nur dann miteinbezogen werden, wenn der Anspruch der dritten Person der zweiten hinzugefügt wird, sodass sie beide gemeinsam den Anspruch einer einzelnen Person überwiegen können. Das Tie-Break-Argument lässt es so erscheinen, als würde der Grund der dritten Person den Ausschlag geben, aber die Wahrheit sei, dass dieser Grund kombiniert mit dem Grund der zweiten Person im Boot den Ausschlag gibt (vgl. Otsuka 2000: 291f.). Bezeichnenderweise ist dies jedoch genau die Art von Aggregation, auf die sich der Kontraktualismus mit der Betonung individueller Gründe nicht einlassen will. Das Argument soll die Aggregation individueller Ansprüche gerade nicht erforderlich machen. Das Argument soll nicht nur darauf hinauslaufen zu sagen, »weil es eben mehr sind«. Die korrekte Art, dieses Argument zu lesen, ist diejenige, sich erst einmal zu denken, dass die Ansprüche von jeweils einer Person pro Boot sich gegenseitig neutralisieren (vgl. Kumar 2001: 166-169; ähnlich auch Hirose 2001). Ihre Einwände wurden bereits bedacht und konnten den Ausgleich nicht auf brechen. In dieser Situation gibt es also keine Pflicht, die eine Person eher zu retten als die andere. Wenn dann jedoch eine dritte Person präsent ist, so ist ihr individueller Anspruch, gerettet zu werden, der einzige relevante Anspruch, der präsent ist, wenn wir über eine Entscheidung nachdenken. Es verbleibt nur dieser eine nicht widerlegte Anspruch. Gleichsam können wir diese dritte Person nur berücksichtigen, wenn wir ihr Auftreten irgendwie in den Überlegungsprozess einbeziehen, indem wir sagen, dass es eine andere Situation ist, als wenn nur

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zwei Personen vorhanden wären. Wenn jemand aber nun auf dieser Grundlage sagt, dass die dritte Person gerettet werden muss, dann muss auch die mit ihr im Boot befindliche zweite Person gerettet werden. Es ist diese eine Tatsache der dritten Person, die dem Einzelnen die Rechtfertigung gibt, nicht gerettet zu werden. Keinerlei Ansprüche werden aggregiert und deshalb bleibt sich der Kontraktualismus auch seiner individualistischen Einschränkung treu. Eine andere mögliche Kritik (2) ist meines Erachtens entscheidender, wenn wir über dieses Argument nachdenken. Der Kontraktualismus beruht auf der Forderung, dass ein Prinzip nur vernünftigerweise akzeptiert werden kann, also vor dem Hintergrund, dass die Parteien gewillt sind, eine Übereinkunft miteinander zu suchen und in jedem Fall eine Alternative zu akzeptieren. Dies führt uns dazu, nach Prinzipien zu suchen, die nach dem Vergleich generischer individueller Gründe die geringsten ernsthaften Einwände von denjenigen enthalten, die betroffen sind. Im Falle der Entscheidung, nach welchem Prinzip die Rettung erfolgen soll, scheint es unvermeidlich, dass diejenige Handlungsweise, welche die geringsten Einwände enthält, immer noch einen Einwand, basierend auf dem Tod eines Individuums, mit sich führt. Egal, was wir tun, es muss jemand dabei sterben. Der Einwand der einzelnen Person basiert auf ihrem sicheren Tod, selbst wenn dieser Einwand legitimerweise übergangen oder neutralisiert wird. Ist das Prinzip der Rettung der größten Zahl tatsächlich das Prinzip, welches vernünftigerweise akzeptiert werden kann? Es gäbe womöglich durchaus ein alternatives Prinzip, welches den geringsten individuellen Einwand hervorruft: Prinzip des Losverfahrens: In Rettungssituationen ist es, unabhängig von der Anzahl der zu rettenden Personen, geboten, ein Losverfahren durchzuführen.9 Statt der plastischen Variante eines Losverfahrens, könnten wir auch mit Parfit (vgl. 2003: 376) einfach davon sprechen, den betroffenen Personen die gleichen Chancen einzuräumen (egal wie dies erreicht wird): Prinzip der gleichen Chancen: Wenn wir für verschiedene Personen die gleiche Art von Vorteil bieten können, so soll jedem eine gleiche Chance gegeben werden, diesen Vorteil zu erhalten. Durch ein Losverfahren oder Ähnliches würde allen drei Personen im Lebensrettungsbeispiel eine faire Chance gegeben. Der sichere Tod ist als Einwand nicht mehr vorhanden. Aus Sicht der einzelnen Person wäre es sicher besser, 9 | Die Lösung des Losverfahrens wird vor allem von Taurek (1977) und in der Folge auch von Otsuka (2000) und Timmermann (2004) verteidigt.

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diese Chance zu erhalten, als überhaupt nicht um den Tod herumkommen zu können. Vom Standpunkt der anderen Personen könne dies, so die Argumentation, wiederum nicht unvernünftig sein, da sie dieselben Chancen erhalten, am Leben zu bleiben. Das Losverfahren wäre danach die korrekteste Form dessen, was in einer solchen Situation getan werden sollte. Die Frage ist, ob der kontraktualistische Überlegungsprozess ein solches Prinzip stützen würde? Würden die Parteien sich auf der Basis der kontraktualistischen Formel genau auf dieses Prinzip einigen können? Ich glaube nicht, dass der Kontraktualismus zu einem solchen Ergebnis führt. Mag es nicht intuitiv immer noch richtig sein, die größere Zahl zu retten? Was wäre beispielsweise, wenn die Zahl der Insassen auf dem zweiten Boot massiv erhöht würde? Müssten wir 100 Menschen sterben lassen, weil das Los auf die einzelne Person im anderen Boot gefallen ist? Ich denke, dass die Theorie der vernünftigen Übereinkunft etwas Anspruchsvolleres enthält, was zu einem Argument für die Rettung von vielen statt wenigen führt. Im Anschluss an einen kontraktualistischen Ansatz müssen wir die unterschiedlichen Perspektiven bedenken, kraft derer bestimmte Gründe vorhanden sind. Dabei ist es wichtig, die Vorteile und Bürden zu sehen, welche anfallen, wenn das Prinzip gilt, und zu sehen, was auf dem Spiel steht, wenn alternative Prinzipien in Kraft sind. Es gibt eine enge Verbindung zwischen der Richtigkeit einer Handlung und der allgemeinen Akzeptabilität dieser Handlung. Das heißt jedoch nicht, ausschließlich Vorteile und Bürden zu berücksichtigen, sondern dass sie auch derart in einen Überlegungsprozess Eingang finden, welcher auf der Bereitschaft beruht, eine Übereinkunft zu erreichen. Es ist uns demzufolge anzulasten, wenn wir einen Fehler in den praktischen Überlegungen begehen, sodass dies nicht berücksichtigt wird. Ich werde mich der Frage langsam mit einigen intuitiven Erwartungen annähern. Jeder der Betroffenen möchte auf eine Weise behandelt werden, die er vernünftigerweise akzeptieren kann. In einer Notsituation möchte er, wenn dies möglich ist, gerettet werden. Sind diese Erwartungen legitim? Nach dem Kontraktualismus ist eine Forderung oder ein Anspruch genau dann berechtigt, wenn ein Prinzip, welches unser Zusammenleben reguliert, vernünftigerweise akzeptiert wird. Welches Prinzip kann vernünftigerweise akzeptiert werden? Das Prinzip, welches ein Losverfahren vorsieht? Oder das Prinzip, so viele wie möglich zu retten? Wir könnten beispielsweise von einer Ex-ante-Position ausgehen. Dies bedeutet, dass wir, wenn wir uns über das Prinzip Gedanken machen, noch gar nicht wissen, in welchem Boot wir einmal sitzen werden.10 Von daher könn10 | Diese Möglichkeit habe ich bereits im Kapitel 9.2. zu den generischen Gründen kurz angeschnitten, indem ich mich auf einen völlig normalen natürlichen Schleier des Nichtwissens nach Reibetanz (1998: 301, Fn. 9) bezogen habe. Entscheidungen vor

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ten wir uns sogar jetzt unsere Chancen ausrechnen, entweder zu den zwei Personen im Boot oder zu der einen Person zu gehören. Dann wäre es von dieser Ex-ante-Position aus durchaus vernünftig zu sagen, dass die Rettung der größten Zahl für jeden Einzelnen die besten Aussichten bietet. An diesem Punkt könnte natürlich eingewandt werden, dass diese Überlegung einfach vieles unterschlägt. Es könnte gesagt werden, dass unser Prinzip der Rettung vieler Personen zwar von der Ex-ante-Position akzeptabel, aber deshalb noch lange keine Rechtfertigung gegenüber jenem generischen Standpunkt ist, der kraft seiner Situation Grund hat, gerettet zu werden. Die Umstände sorgen dafür, dass eine solche Person vor allem eines möchte, nämlich ihr Überleben sichern. Diesen Grund hat sie wie alle anderen auch. Offenbar würden wir aus der Ex-ante-Position die reale Signifikanz der Problemsituation jener Perspektive nicht berücksichtigen. Nun bin ich nicht der Meinung, dass die Exante-Position an dieser Stelle sehr problematisch ist. Wir wissen nie genau, ob wir irgendwann einmal aus einer Notlage gerettet werden müssen. Von einer solchen Position auszugehen, ist demzufolge nicht weit hergeholt. Optimalerweise reden wir über ein mögliches Problem – und dessen Lösung – nicht erst in dem Augenblick, wo es schon da ist, sondern wir fragen im Vorhinein, was geboten ist, wenn es einmal auftaucht. Doch ob Ex-ante-Position oder nicht, so ist ein Punkt noch entscheidender: Ein Prinzip muss so beurteilt werden, dass es allgemeine Anwendung erfährt und nicht auf einen spezifischen Fall zugeschnitten ist. Wenn wir ein Rettungsprinzip wählen, dann wird es in jedem möglichen Rettungsfall mit den entsprechenden Eigenschaften Verwendung finden. Darin liegt die Bedeutung generischer Perspektiven. Mit diesem Wissen im Hintergrund versuche ich, auf den entsprechenden Vorwurf eine Antwort zu finden. Ich beginne mit der einzelnen Person. Halten wir fest, dass sie auch eine besondere Person ist, wenngleich sie nur hypothetisch angenommen wird und ihre Gründe generisch in dem Sinne sind, dass auch jede andere Person sie hätte, wenn sie einsam in einem Boot auf Rettung wartet. Sie wendet nun ein, dass die Rettung von vielen anderen Personen falsch wäre, weil wir ihr keine faire Chance zum Überleben einräumen und somit die Ernsthaftigkeit ihrer Situation übersehen würden. In der Beurteilung dieses Einwandes sagt uns der Kontraktualismus, dass wir über ein alternatives Prinzip nachdenken könnten, welches diesen Einwand nicht enthalten würde. Offenbar wäre diese mögliche Alternative das Prinzip des Losentscheids. Das ist das Prinzip, welches die einzelne Person im Gegenzug vorschlagen würde, um vernünftigerweise das Prinzip der Rettung vieler Personen nicht anzunehmen.

einem solchen Hintergrund sind immer Ex-ante-Entscheidungen. In dieser Weise wird es auch von Scanlon (1998: 204) und Brand-Ballard (2004: 292) beschrieben.

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Der Einwand dieser einen Person, der auf ihrem sicheren Tod basiert, ist unberechtigt, wenn das Leben unter der Leitung des Losprinzips für jemand anderen einen Einwand hervorruft, der stärker ist als derjenige Einwand der einzelnen Person gegen das Prinzip der Rettung vieler. Überlegen wir Folgendes: Was würde in zwei möglichen Welten geschehen, in denen diese beiden alternativen Prinzipien akzeptiert würden? In beiden Welten würden sicherlich Menschen sterben, da wir unfähig wären, beide Boote zu retten, und die Menschen, die gestorben wären, würden etwas vorzubringen haben, weil ihr möglicher Tod als Grund gegen ein Prinzip spricht, welches dieses Schicksal fördert. Nehmen wir an, dass in der Geschichte beider Welten 100 Vorfälle auftreten, die dem Bootsbeispiel entsprechen. Pro Fall gibt es bekanntlich drei Betroffene. Wenn die Lebensretter das Losverfahren anwenden, wäre es möglich11, dass jedes Mal das Los auf die eine Person und das eine Boot fällt. Demzufolge wären 200 Menschen tot und 100 würden leben. Alternativ könnten wir mit dem Prinzip der Rettung der größten Zahl ganz sicher 200 Personen retten, indem wir immer dasjenige Boot wählen, in dem sich zwei Personen befinden. Wir können nun verstehen, dass wir den Einwand der einzelnen Person nur unter der Voraussetzung akzeptieren könnten, dass möglicherweise 100 weitere Individuen sterben müssten, die auch gerettet werden könnten. Dass sie sterben, ist nicht einmal entscheidend, und auch ihre bloße Anzahl ist es nicht. Im kontraktualistischen Überlegungsprozess ist wichtig, dass wir ihre entsprechende Situation nicht berücksichtigt haben. In Wahrheit ist es so, dass den anderen Personen eine zusätzliche Bürde in Form ihres möglichen Todes durch Losentscheid aufgelastet wird. Eine solche Bürde ist jedoch etwas, was die einzelne Person nicht vernünftigerweise von anderen verlangen kann, also wenn sie selbst daran interessiert ist, eine Übereinkunft zu erreichen. Die einzelne Person würde verlangen, dass wir noch eine größere Bürde auf uns nehmen, um ihre Bürde zu vermindern. Den Personen, die zu mehreren im Boot sind, wird ein Risiko auferlegt, welches leicht zu vermeiden wäre. Damit fordert das Prinzip des Losentscheides deutlich mehr von uns, sodass wir letztlich eben nicht jeder Person den entsprechenden Status einer an Übereinkunft interessierten Person einräumen, sondern relativ zufällig der einzelnen Person einen höheren Status zusprechen. Der Einwand der einzelnen Person wird gekontert durch den Einwand anderer Personen in der alternativen möglichen Welt, wo das Prinzip der Rettung von vielen Geltung hätte. Könnte die einzelne Person nun immer noch beanspruchen, dass durch das Befolgen des Prinzips der Rettung vieler ihr Einwand und ihr Schicksal 11 | Ich spreche natürlich ausdrücklich nur von Möglichkeit, denn in jedem separaten Fall ist die prozentuale Wahrscheinlichkeit wieder neu. Rein hypothetisch könnte es so sein, dass immer nur das eine oder immer nur das andere Boot gerettet wird, weil das Los immer wieder zugunsten einer dieser Seiten entscheidet.

10. Darstellung des Überlegungsprozesses

nicht ernstgenommen werden würde? Scheitern wir somit daran, sie als ein Individuum, dem wir akzeptable Rechtfertigung schulden, anzuerkennen? Ich glaube nicht, dass dies der Fall ist. Wir nehmen ihren Tod durchaus in die kontraktualistische Überlegung auf, ganz genauso ernsthaft wie wir den Tod der anderen aufnehmen. Wir vergleichen diese Schicksale in individuellem Abgleich miteinander. Wir aggregieren nicht und wir sehen, dass die Annahme des Losprinzips individuelle Einwände unbeantwortet lassen würde und zusätzliche Bürden verursacht, die das Prinzip der Rettung der größten Zahl nicht enthält. Dies bedeutet, dass wir durch dieses Prinzip die legitimen Erwartungen von allen vernünftigen Personen miteinbeziehen und ihnen den Status eines nach Übereinkunft suchenden Individuums zubilligen. Würden wir dies nicht tun, würden wir vielen Unrecht tun, weil wir nicht dem korrekten Prinzip folgen, welches vernünftigerweise akzeptiert werden könnte. Das Prinzip der Rettung der größten Zahl mag in Anbetracht des Todes von Individuen nicht optimal erscheinen, aber es ist das am wenigsten inakzeptable Prinzip, welches unser Handeln in Rettungsfällen regulieren kann. Anhand dieses Beispiels hoffe ich, deutlich gemacht zu haben, dass der Kontraktualismus ein Überlegungsmodell dafür bietet, mit solchen Fällen umgehen zu können, ohne dabei eine unpersönliche interpersonelle Aggregation wie in konsequentialistischen Ethiken vorzunehmen.

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11. Das Ausschlussproblem

Die Formel der vernünftigen Übereinkunft zielt auf die Akzeptanz eines Prinzips durch alle von diesem Prinzip Betroffenen. Wer sind jedoch die Wesen, denen in dieser Weise Rechtfertigung geschuldet wird? Es ist ein altbekanntes Problem kontraktualistischer Theorien, dass sie nicht verständlich machen können, inwieweit Wesen, die über keine entsprechenden Kapazitäten des vernünftigen Denkens verfügen, im Überlegungsprozess dessen, was richtig und falsch ist, berücksichtigt werden können. Die Vertragsanalogie macht es hierbei zusätzlich schwierig. Wie soll man mit einem Tier einen Vertrag schließen? Darüber hinaus gilt der Kontraktualismus zumindest in seiner auf den gegenseitigen Vorteil abzielenden Version als absolut feindlich gegenüber sogenannten »schwachen Individuen«. Was kann es denn für einen Vorteil haben, mit einer geistig oder körperlich beeinträchtigten Person zu kooperieren? Solche Fälle werden demzufolge vorab aus dem kontraktualistischen Überlegungsprozess ausgeschlossen. Dementsprechend bedeckt hält sich auch die gesamte kontraktualistische Tradition zu diesen Schwierigkeiten. Entweder wird das Problem ausgeblendet und als nicht vorrangig betrachtet oder ihm wird auf andere Weise ausgewichen. Es können dann keine Rechte und Pflichten gerechtfertigt werden, die solche Wesen miteinbeziehen würden. Letztlich müsste auf den guten Willen der vertragsfähigen Individuen gebaut werden, um das Verhalten gegenüber schwachen Individuen oder Tieren zu bestimmen. Kontraktualisten machen sich mithin eines Speziesismus schuldig, also der willkürlichen Bevorzugung der eigenen Spezis und Unterstellung der Minderwertigkeit anderer Spezies, analog zum Rassismus (vgl. Singer 2013: 98-107). Schließt der Kontraktualismus sogar Menschen aus, die nicht als rational oder vertragsfähig gelten, dann hat er stark kontraintuitive Konsequenzen. Ist es denn nicht auch moralisch falsch, wenn Menschen geschadet wird, bei denen uns vielleicht das Bedürfnis fehlt, ihren Schaden zu vermeiden? Ist es nicht auch ungerecht, wenn Menschen mit Beeinträchtigungen von bestimmten Gütern in der Gesellschaft ausgeschlossen werden oder wenn sie nicht in der Weise Rechte besitzen, wie wir dies anderen Menschen zugestehen?

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t

Ich glaube, dass es nicht möglich ist, diese Wesen in ein klassisches kontraktualistisches Verständnis in hobbesscher Tradition einzubinden. Wo die Übereinkunft nur Mittel zum Zweck der Durchsetzung eigener Interessen ist, kann es unmöglich plausibel erscheinen, Wesen einzubeziehen, bei denen eine Kooperation einfach nicht vorteilhaft ist. Wo jedoch die Übereinkunft das Ziel ist, muss der Kreis der Berücksichtigten nicht auf vernunftfähige Wesen beschränkt bleiben. Wenn ich darüber hinaus unter Bedingungen leben will, welche andere vernünftigerweise akzeptieren könnten, so wird die mögliche Akzeptanz nicht dadurch obsolet, dass eine faktische Akzeptanz nicht stattfinden würde. Wenn wir grundlegend wissen, welche Interessen und Bedürfnisse ein Wesen hat, und wenn ihr Gut mit unserem vergleichbar ist, dann wissen wir auch, welche Einwände vorgebracht werden könnten. Wenn dies möglich ist, können wir Prinzipien bestimmen, die auch aus ihrer Perspektive am wenigsten inakzeptabel erscheinen. Dafür werde ich im folgenden Kapitel argumentieren. Einschränkend ist voranzustellen, dass ich nur eine Argumentation darbringen werde, wie prinzipiell nicht-rationale Wesen in den Überlegungsprozess einbezogen werden können. Es stellen sich gerade im Hinblick auf besondere Bedürfnisse von Tieren, von Menschen mit Behinderungen oder auch zukünftigen Generationen jeweils besondere Probleme, die es verdienen, gesondert betrachtet zu werden. Mir geht es allerdings nur um die allgemeine Möglichkeit einer Berücksichtigung innerhalb eines kontraktualistischen Rahmens, nicht jedoch um konkrete inhaltliche Fragen, welches die genauen Pflichten und Rechte sind, welche wir diesen Gruppen vernünftigerweise durch Prinzipien zuschreiben können. Ich werde zuerst verschiedene kontraktualistische Strategien erläutern, welche in der Vergangenheit bezüglich des Betroffenenkreises von Vertragstheoretikern verfolgt wurden. Diese laufen meist darauf hinaus, das Problem in irgendeiner Hinsicht zu meiden (Kapitel 11.1.). Anschließend werde ich die elementare Kritik herausstellen, die an Kontraktualisten diesbezüglich geäußert wurde, um dann zu schlussfolgern, dass der Großteil der Kritik berechtigt ist und diese sich häufig auf den moralischen Status bezieht, welche Vertragstheoretiker den verschiedenen Wesen zuschreiben (Kapitel 11.2.). Der Kontraktualismus in kantischer oder rousseauischer Tradition ist jedoch in der Lage, auf diese Kritik zu antworten. Einerseits erkennt der Kontraktualismus an, dass es einen wichtigen Unterschied zwischen denjenigen gibt, welche Entscheidungen über richtig und falsch treffen können, und denjenigen, die dies nicht können (Kapitel 11.3.), andererseits ist es jedoch möglich, Wesen einzubinden, die über keine Fähigkeiten zur Moralbeurteilung verfügen. Dazu werde ich argumentieren, dass alle Wesen, die ein Gut besitzen, welches mit dem unsrigen (oder dem Teil von menschlichen Wesen, die über richtig und falsch

11. Das Ausschlussproblem

entscheiden können) vergleichbar ist, in einem kontraktualistischen Überlegungsprozess berücksichtigt werden können (Kapitel 11.4.).

11.1. K ontr ak tualistische V ermeidungsstr ategien Ein altbekannter Vorwurf gegenüber Theorien der Übereinkunft lautet, dass sie allein deshalb kein gültiges Fundament im moralischen Diskurs bieten, weil sie nur auf ein enges Spektrum von moralischen Wesen abzielen können. Es seien jene Theorien, die das Richtige und Falsche im Umgang kompetenter Erwachsener regeln können, aber nicht das Geringste über unsere Pflichten gegenüber schwachen Individuen (wie mental oder physisch beeinträchtigte Menschen), zukünftigen Generationen oder Tieren sagen können. Haben beeinträchtigte Menschen nicht ebenso Rechte, die sich in Prinzipien ausdrücken, oder haben wir ihnen gegenüber nicht auch moralische Pflichten? Müssen wir unser Verhalten ihnen gegenüber nicht auf eine bestimmte Weise regulieren? Mit welchen Gründen schließen wir Tiere aus? Weil es eben keine Menschen sind oder weil wir sie nicht für kompetent genug halten? Schulden wir nachfolgenden Generationen nichts? Das steht zumindest gewissen Intuitionen entgegen, die wir haben, und wahrscheinlich ist jede Moraltheorie, welche besagt, dass wir diesen Gruppen nichts schulden, höchst zweifelhaft und verlangt eine starke Revision unserer Denkweise. Wie gehen Kontraktualisten im Allgemeinen mit diesen Problemen um? Kontraktualisten haben viel Kritik herauf beschworen, indem sie häufig das Problem einfach beiseiteschoben oder negierten, dass es überhaupt ein Problem gibt, indem sie die Angelegenheit als weniger prioritär einstuften oder nach Lösungen außerhalb des kontraktualistischen Rahmens suchten. Ich werde diese Strategien im Einzelnen betrachten. Die erste Strategie, mit der sich Kontraktualisten allgemein beholfen haben, ist die Ausblendung. Dabei gibt es eine unbewusste Form der Ausblendung, in der das Problem nicht einmal gesehen wird (von daher kann vielleicht auch schwer von einer Strategie gesprochen werden). Dabei wird davon ausgegangen, dass die Vertragspartner in wesentlicher Hinsicht gleich sind, demzufolge ein besonderes Problem, welches schwächere Wesen betrifft, gar nicht auftreten kann. Vor dem Hintergrund geistig oder körperlich beeinträchtigter Personen lesen sich entsprechende Passagen bei Hobbes sehr unglaubwürdig: »Die Natur hat die Menschen in den körperlichen und geistigen Fähigkeiten so gleich geschaffen, dass sich zwar zuweilen einer finden mag, der offensichtlich von größerer Körperkraft oder schnellerem Auffassungsvermögen ist als ein anderer; jedoch wenn man alles zusammenrechnet, ist der Unterschied zwischen Mensch und Mensch nicht so beträchtlich, dass ein Mensch daraufhin irgendeinen Vorteil für sich fordern kann, auf den ein anderer nicht so gut

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wie er Anspruch erheben könnte« (Hobbes 1651: XIII, 102). Selbstverständlich geht es Hobbes auch nur um die Legitimation staatlicher Zwangsgewalt und in Anbetracht des historischen Hintergrundes ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass er beispielsweise mental Beeinträchtigte gar nicht als Problem wahrgenommen hat. Überhaupt habe ich bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass seine empirische Gleichheitsannahme mehr als idealisiert ist (Kapitel 2.3. und Kapitel 5.2.). Interessanter ist dagegen die bewusste Ausblendung von Individuen mit Beeinträchtigungen oder nichtmenschlichen Lebewesen. Diese findet sich in der Nachfolge von Hobbes auch bei David Gauthier: »Nur Wesen, deren physische und mentale Fähigkeiten entweder grob gleich oder wechselseitig komplementär sind, können erwarten, eine Kooperation einzugehen, die vorteilhaft für alle ist« (Gauthier 1986: 17, Übers. d. Verf.). Gauthier meint, dass wir zwar beispielsweise durch die Interaktion mit Pferden einen Vorteil erhalten, aber nicht mit diesen Wesen kooperieren. Wir nutzen sie einfach nur. Eine Partei, die stärker und deshalb in der Lage ist, eine andere zu etwas zu zwingen, hat keinerlei Grund dies zu unterlassen. Demzufolge findet die Vertragsmoral nur Anwendung unter gleichermaßen starken Individuen. Diese Strategie der bewussten Ausblendung ist nicht nur unter hobbesschen Kontraktualisten verbreitet. Auch bei John Rawls findet sie sich. Rawls hat den Umfang seiner Theorie von Beginn an stark eingegrenzt. Sie ist keine »vollständige Vertragstheorie« (Rawls 1979: 34), denn eine »Gerechtigkeitsvorstellung ist nur ein Teil einer moralischen Auffassung« (ebd.: 556). Sie bezieht sich einzig auf die Grundstruktur einer Gesellschaft und Rawls argumentiert für die spezifischen Grundsätze, welche diese Grundstruktur leiten sollen. Damit sind einerseits nicht alle Beziehungen von Menschen eingeschlossen, andererseits auch nicht die Pflichten, die wir gegenüber Tieren oder vielleicht sogar der Umwelt haben. Diejenigen Grundsätze oder Prinzipien, die gerechtfertigt werden, gelten nicht für Tiere, denn sie sind »ausgeschlossen« (ebd.: 548). Nur diejenigen können sich auf bestimmte Rechte berufen, die sich als moralische Subjekte kennzeichnen lassen, die sich demzufolge durch ein bestimmtes Vermögen auszeichnen, welches sowohl eine Vorstellung des persönlich Guten als auch einen Gerechtigkeitssinn beinhaltet: »Schließlich stellt man sich ja vor, dass die Beteiligten diese Grundsätze beschließen, um ihre gemeinsamen Institutionen und ihr Verhalten gegeneinander zu regeln […]. Gleiche Gerechtigkeit wird also denen geschuldet, die fähig sind, in der Ausgangssituation mitzuwirken und gemäß deren öffentlicher Auffassung zu handeln« (ebd.). Man kann es vielleicht Rawls zugutehalten, dass er seine Vertragstheorie in dieser Weise beschränkt wissen wollte. Doch es lässt sich nicht leugnen (und viele haben diese Kritik auch angebracht), dass bestimmte Gerechtigkeitsprinzipien zur Regulierung einer Grundstruktur notwendig auch Einfluss auf diejenigen haben müssen, welche über das entsprechende moralische Vermögen nicht

11. Das Ausschlussproblem

verfügen. Sind diese dann nur Spielball derer, die die Prinzipien der Grundstruktur der Gesellschaft festlegen? In seinem späteren Werk wird nicht mehr ausschließlich argumentiert, dass wir in der Theorie der Gerechtigkeit die entsprechenden Gruppen ausblenden müssten, sondern Rawls versucht, für diese Gruppen am Rande der Theorie Platz zu finden. Die zweite Strategie besteht darin, diese Probleme sekundär zu behandeln und sie nach hinten zu verlagern. Nach wie vor wird sich der Überlegungsprozess bei Rawls nicht in der Weise vorgestellt, dass die entsprechenden Gründe von geistig Beeinträchtigten oder Tieren Platz finden könnten. Rawls setzt sogar hinzu, dass die Parteien so vorgestellt werden, dass sie in einem »normalen Bereich« liegen, der folgendermaßen bestimmt wird: »Da das Grundproblem der Gerechtigkeit die Beziehungen derjenigen betrifft, die volle und aktive Gesellschaftsmitglieder und direkt oder indirekt für ihr gesamtes Leben miteinander vereint sind, ist es vernünftig anzunehmen, dass jeder von ihnen physische Bedürfnisse und psychische Fähigkeiten im normalen Bereich besitzt. Die Probleme besonderer medizinischer Betreuung und der Behandlung geistig Behinderter wird außer Betracht gelassen« (Rawls 2003: 384, Fn. 10; vgl. auch ebd.: 92f., 277f.). Vorerst muss man vielleicht hinzufügen, denn anstatt eine vollständige Ausblendung dieses Themas vorzunehmen, versucht Rawls darzustellen, wie wir das Problem verlagern können. An vielen Stellen suggeriert Rawls, dass wir uns diese Angelegenheiten für eine Ebene aufheben, die nach dem Überlegungsprozess für die grundlegenden Prinzipien der Gesellschaft stattfinden sollen. So schreibt er etwa: »Natürlich ist es eine drängende praktische Aufgabe, sich um diejenigen zu kümmern, die solche Dinge [wie eine umfangreiche medizinische Behandlung und Betreuung, A.O.] benötigen. Aber zunächst stellt sich das grundlegende Problem sozialer Gerechtigkeit zwischen jenen, die volle, aktive und moralisch bewusste Mitglieder der Gesellschaft und direkt oder indirekt ihr ganzes Leben lang miteinander verbunden sind. Daher empfiehlt es sich, bestimmte schwierige Komplikationen außer Betracht zu lassen. Wenn es gelingt, eine Theorie auszuarbeiten, die den grundlegenden Fall abdeckt, dann können wir später versuchen, sie auf andere Fälle auszuweiten. Es ist offenkundig, dass eine Theorie, die für den grundlegenden Fall versagt, von keinerlei Nutzen ist« (Raws 1992b: 122).

Zwei Dinge sind hierbei erwähnenswert. Die Regelung der Beziehungen zwischen gesunden und kompetenten erwachsenen Menschen ist das grundlegendere Problem. Sämtliche anderen Fälle sind anschließend lösbare Probleme. Die Regelung von Beziehungen jener gesunden Gruppen wird zum Primärproblem, während das, was gerecht oder ungerecht gegenüber Personen mit Beeinträchtigungen ist, zum Sekundärproblem erklärt wird. Dies hat zweifellos damit zu tun, dass für Rawls »die grundlegende Frage der politischen

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Philosophie die ist, wie faire Kooperationsbedingungen für so beschriebene Bürger [die im normalen Bereich mit bestimmten moralischen Fähigkeiten ausgestattet sind, A.O.] festgelegt werden können« (Rawls 2003: 278). Rawls spricht auch von einem »Problem der Ausweitung« (ebd.: 87), wie es sich in Anbetracht dieser Gruppen stellt. Letztlich gibt er in einem Abschnitt auch einen interessanten Hinweis. wo er zwar nicht dauerhaft, sondern temporär eingeschränkte Individuen bespricht, aber diese Lösung scheint im rawlsschen Modell auch für den Bereich von Menschen mit Behinderungen nahezuliegen. Danach könnten solche Fälle »auf der Ebene der Gesetzgebung berücksichtigt werden« (ebd.: 87). Damit will Rawls letztlich Folgendes sagen: Für die Bestimmung der Grundprinzipien der Gesellschaft spielt es keine Rolle, wie unterschiedlich bedürftig die Menschen sind und über welche Kapazitäten sie verfügen. Sie werden einem normalen Bereich zugeordnet. Wird diese Grundstruktur erst einmal in dieser Weise reguliert, dann gibt es die Möglichkeit, durch eine entsprechende Gesetzgebung auch Regularien bezüglich des Verhaltens gegenüber schwachen Individuen einzuführen. Damit jedoch adressieren wir das Problem nicht als ein grundlegendes moralisches Problem. Die Asymmetrie zwischen Wesen mit moralischem Vermögen und Wesen ohne dieses wird festgeschrieben. Wir können gegenüber solchen Personen nicht im strengeren Sinne moralisch falsch oder ungerecht handeln, da wir keine grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit haben, die dies regulieren könnten. Der Schutz und die Rechte jener Gruppen hängen von der positiven Gesetzgebung ab, die sich aber natürlich im Rahmen dessen, was gerecht und ungerecht ist, bewegen muss (also im Rahmen der Gerechtigkeitsprinzipien).1 Eine dritte Strategie bezeichne ich als Ausweichstrategie, denn sie versucht, das Thema zu umgehen, indem die Zuständigkeit weitergereicht wird. Thomas Scanlon erwägt zwei Wege, wie ein Kontraktualist der weitverbreiteten Überzeugung entgegenkommen kann, dass es bestimmte Arten gibt, wie wir beispielsweise nichtmenschliche Tiere auf moralisch richtige oder falsche Weise behandeln können. Die erste Möglichkeit wäre eine Art Stellvertretermodell, die zweite die Überführung jener Wesen aus dem spezifischen Bereich der Moral von Pflichten, die wir einander unbedingt schulden, in einen anderen Bereich der Moral (vgl. Scanlon 1998: 177-187). Den ersten Vorschlag werde ich später diskutieren. Ich konzentriere mich hier auf den zweiten, der wohl auch von Scanlon bevorzugt wird. Bei Scanlon gibt es (wie bei anderen, die zwischen 1 | Rawls hat im Grunde nur bei einer Gruppe auf diese Ausweichstrategien verzichtet und dies sind die zukünftigen Generationen. Für sie modifiziert er den Urzustand (vgl. Rawls 1979: 151) und rechtfertigt einen gerechten Spargrundsatz (vgl. ebd.: 319-327; siehe auch Rawls 2006: 245-248). Dennoch löst auch diese Berücksichtigung nicht das Problem, welches wir allgemein in der Frage haben, wie wir Wesen in den Überlegungsprozess einbeziehen können, die sich auf den ersten Blick nicht einbinden lassen.

11. Das Ausschlussproblem

dem moralisch Gerechten und dem ethisch Guten unterscheiden) einen engen Kernbereich der Moral dessen, was wir uns unbedingt schulden, und einen weiteren Bereich der Moral, in dem nicht nur Pflichten gegenüber anderen, sondern auch Pflichten gegenüber uns selbst und bestimmte Vorstellungen des Guten Platz finden können, die über die Kernmoralität hinausgehen (siehe Kapitel 3.2.). Dieser breitere Bereich kann zusätzliche Pflichten konstituieren, ist jedoch in gewisser Weise kontingent, da er nicht vom Ideal der Rechtfertigung durch Akzeptanz abhängt. Nach Scanlon gehören beispielsweise nichtmenschliche Tiere in den weiten Bereich der Moral und nicht in den engen der unbedingten Schuldigkeit. Weshalb ist er dieser Ansicht? Betrachten wir zwei Auffassungen: (1) Viele Menschen glauben, dass wir nichtmenschlichen Wesen etwas unbedingt schulden. (2) Viele mögen auch glauben, dass jene Wesen einen Wert haben, der anerkannt werden muss durch das Verbot bestimmter Verhaltensweisen ihnen gegenüber. Das sind zwei Formulierungen, die etwas sehr Ähnliches ausdrücken. Nach Scanlon suggeriert die erste, dass nichtmenschliche Wesen völlig angemessen in Begriffen des kontraktualistischen Nachdenkens berücksichtigt werden können. Die zweite charakterisiert jedoch das, was Scanlon mit seinem Vorschlag genauer ausdrücken möchte: Er will sagen, dass es durchaus konsistent ist, dass bestimmte Handlungen gegenüber nichtmenschlichen Wesen unzulässig sind, obwohl wir gleichsam nicht sagen, dass wir gegenüber diesen Wesen etwas schuldig sind, weil sie keine angemessenen Partner bei den Überlegungen darüber sind, was wir einander schulden. Wenn es zulässig oder unzulässig ist, Tiere auf eine bestimmte Weise zu behandeln, geschieht dies aufgrund einer anderen Motivation als der kontraktualistischen, welche auf das Ideal zielt, unser Verhalten in der Weise zu regulieren, dass andere dieses vernünftigerweise nicht zurückweisen könnten. Während nun der Kontraktualismus eine Gruppe von korrekten moralischen Verboten, Geboten oder Vorschriften konstituiert, mag es andere moralische Ansprüche (verstanden als »weite« Moral) geben, die nicht im Sinne der kontraktualistischen Basis moniert werden können, weil diese Ansprüche aus Werten und Motivationen heraus resultieren, die nicht zur Kernmoralität gehören beziehungsweise über diese hinausgehen. Sein eigenes Verhalten im Angesicht eines bestimmten Wertes in bestimmter Weise nicht zu regulieren, mag falsch im Sinne der weiten Form von Moral sein, obwohl es nicht falsch im Sinne dessen sein muss, anderen das zu geben, was wir ihnen schulden. Interessanterweise lässt auch Rawls eine solche Ausweichstrategie gelegentlich erkennen, denn natürlich ginge er nicht so weit zu sagen, dass wir überhaupt keine Pflichten gegenüber nichtmenschlichen Wesen haben. Er meint, es gäbe in Anbetracht der Tatsache, dass Tiere Schmerz empfinden können, vielleicht Pflichten des »Mitleids« oder der »Menschlichkeit«. Diese müssen aber anders gerechtfertigt werden als durch die Vertragstheorie, die sich nach Rawls nicht auf diese Gebiete aus-

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weiten lässt: »Eine richtige Vorstellung von unseren Beziehungen zu Tieren und der Natur dürfte eine Theorie der natürlichen Ordnung und unserer Stellung in ihr erfordern. Es ist eine der Aufgaben der Metaphysik, eine Weltauffassung zu entwickeln, die diese Aufgabe erfüllt; sie müsste die für diese Fragen entscheidenden wahren Aussagen feststellen und systematisieren« (Rawls 1979: 556). Scanlons Punkt ist, dass nicht alle moralischen Ansprüche, die von dieser breiteren Perspektive erfolgen, eine allgemeine Gültigkeit haben. Gleichsam muss der Kontraktualismus nicht sagen, dass alle moralischen Ansprüche von charakteristisch kontraktualistischen Überlegungen kommen. Nach diesem Modell der weiten Moralität kann der Kontraktualist behaupten, dass bestimmte Weisen, nichtmenschliche Tiere zu behandeln, moralisch unzulässig sind, ohne dass diese Perspektive im kontraktualistischen Denken berücksichtigt werden muss. Wenn wir akzeptieren, dass die nichtmenschliche Welt einen bestimmten Wert hat, dann werden wir uns selbst wahrscheinlich als Personen betrachten, die Gründe haben, davon Abstand zu nehmen, Tieren beispielsweise grundlos Schaden zuzufügen. Ein Scheitern, die Kraft der Gründe dafür zu sehen, verrät eine Insensitivität gegenüber dem Wert, der infrage steht, und dies mögen wir in einem weiten Sinne für moralisch kritisierbar halten. In der Tat schlägt Scanlon vor, dass unsere Einwände gegen das Verursachen unnötiger Schmerzen gegenüber Tieren aus unserer Schätzung des Wertes fühlender Lebewesen im Allgemeinen stammt: »Schmerz – ob nun derjenige von rationalen oder nicht-rationalen Wesen – ist etwas, für das wir einen prima facie Grund haben, ihn zu vermeiden, und einen noch stärkeren Grund, ihn nicht zu verursachen« (Scanlon 1998: 181, Übers. d. Verf.). Da diese Gründe zu sehen, einen zentralen Aspekt des Empfindsamseins gegenüber diesem infrage stehenden Wert ausmacht, so ist jeder, der ihn ignoriert oder daran scheitert, diese Gründe zu sehen, offen für moralische Kritik, obwohl die Moral des Kontraktualismus nicht unterschritten wird.2 Wenn Scanlon über die Pflichten gegenüber Tieren spricht, so spricht er letztlich nicht mehr über den Teil der Moral, der vom Kontraktualismus abgedeckt wird. Da dieser Teil der Moral der wichtigste und grundlegendste ist, sind die Pflichten gegenüber Tieren eine optionale Angelegenheit und hängen in erster Linie von deutlich spezifischeren geteilten Werten ab. Offenbar sind die Einwände der nichtmenschlichen Wesen nicht entscheidend, um ein 2 | Peter Carruthers (1992) verteidigt eine ähnliche Sicht des Kontraktualismus, die Tieren keinen engeren moralischen Status verleiht. Er berücksichtigt diese in seinen Betrachtungen nur indirekt. Dies sei nach Carruthers aber kein Problem, denn sämtliche anderen Alternativen zum Kontraktualismus schaffen es ebenfalls nicht, auf eine plausible Weise Tiere direkt zu berücksichtigen (vgl. insbesondere Carruthers 1992: 105-111 und 194-196).

11. Das Ausschlussproblem

Prinzip zu akzeptieren, welches ihnen weniger Leid zufügt. Stattdessen wird sich auf einen unpersönlichen Wert bezogen, der in der Schlechtigkeit von Schmerz oder der Gutheit von Schmerzfreiheit besteht. Wir haben nach Scanlon engere moralische Pflichten gegenüber Menschen, aber gegenüber Tieren nicht. Dies alles impliziert, dass das menschliche Leid und das Leid von nichtmenschlichen Wesen nicht auf dieselbe Art und Weise falsch sind.

11.2. K ontr ak tualismus und mor alischer S tatus Bezüglich des Ausschlussproblems gibt es bereits eine breite Tradition der Kritik an vertragstheoretischen Ansätzen, wie eingangs erwähnt wurde. In der Tat glaube ich, dass die meisten kontraktualistischen Strategien, mit diesem Problem umzugehen, fehlschlagen oder schlicht ungenügend sind. Ich werde einige Kritiken dazu betrachten und zeigen, dass sich die Kritik in erster Linie auf die Frage nach dem moralischen Status fokussiert. Ausgehend von diesen Erkenntnissen lässt sich ein spezifischer Vorschlag machen, wie entsprechende schwache Individuen oder nichtmenschliche Tiere in einem kontraktualistischen Überlegungsprozess Berücksichtigung finden können, den ich in den folgenden Kapiteln ausbreiten werde. Insbesondere die hobbessche Tradition des Gesellschaftsvertrages trifft eine scharfe Kritik, da diese eine Vorstellung von Akzeptabilität vertritt, welche sich rein auf den individuellen Vorteil bezieht. Es mag deshalb nicht verwunderlich sein, dass hobbessche Kontraktualisten das Problem meist ausblenden. Nur wenn wir einen wechselseitigen Vorteil erwarten können, seien wir bereit, mit anderen eine Übereinkunft einzugehen. Tiere sind überhaupt nicht in der Lage, den Prinzipien zu folgen, die es beispielsweise gebieten, anderen nicht zu schaden. Weshalb sollten es sich dann Menschen zu eigen machen, ihnen wiederum nicht zu schaden? Dies wäre ein einseitiges Bekenntnis und eben kein Bekenntnis, welches auf Übereinkunft beruht, und damit sind sie von moralischen Überlegungen ausgeschlossen, wie Singer es ausdrückt: »Weil sich Tiere nicht nach den Regeln der Gegenseitigkeit verhalten können, stehen sie nach dieser Auffassung außerhalb der Grenzen des moralischen Vertrags« (Singer 2013: 121). Da die hobbessche Tradition ihre Überlegung ausschließlich auf der Grundlage der individuellen Nutzenmaximierung vollzieht, stellt sich die Frage, weshalb vorteilsstrebende Individuen sich an Übereinkünfte halten sollten, die ihnen selbst keinen Vorteil bringen. Wenn die Vertragsparteien nicht in gewisser Hinsicht gleichgemacht werden, kann es keine logisch nachvollziehbare Herleitung von moralischen Prinzipien geben. Das Problem geht dabei natürlich weit über den Einbezug von Tieren hinaus:

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t »Es ist klar, dass solche Ansätze viel mehr als nur nichtmenschliche Lebewesen aus der Sphäre der Ethik ausschließen. Weil schwer geistig Behinderte im gleichen Maße zur Gegenseitigkeit unfähig sind, müssen sie ebenfalls ausgeschlossen werden. Dasselbe gilt für Säuglinge und sehr kleine Kinder; aber die Probleme der Vertragstheorie beschränken sich nicht auf diese ›Grenzfälle‹. Der letzte und wichtigste Grund, den ethischen Vertrag einzugehen, liegt nach dieser Auffassung im Eigeninteresse. Wird nicht zusätzlich ein universales Element eingeführt, so hat eine Gruppe von Menschen keinen Grund dazu, eine andere moralisch korrekt zu behandeln, wenn es nicht in ihrem Interesse liegt« (ebd.: 123).

Eine so verstandene Vertragstheorie hat es nur sehr schwer, das Ausschlussproblem zu lösen. Es blieben für einen hobbesschen Kontraktualismus folgende Alternativen: (1) Darauf bestehen, dass dies das Maximalste ist, was wir an moralischen Pflichten und Rechten rechtfertigen können, und damit unsere moralischen Intuitionen gegenüber Tieren, Menschen mit Behinderung und zukünftigen Generationen einer Revision unterziehen. (2) Ein bestimmtes Gleichheitsmodell einfügen, was die entsprechenden Gruppen uns in gewisser Hinsicht ähnlich macht, sodass wir die Kategorie des wechselseitigen Vorteils sinnvoll anwenden können. (3) Das Motivationsmodell der gewünschten Maximierung des eigenen Vorteils durch ein davon zu unterscheidendes Motivationsmodell ersetzen. Lösung (1) ist wenig überzeugend. Was macht den kompetenten menschlichen Moralbeurteiler so besonders? Die Tatsache, dass er mehr Macht und Verstand hat? Der Ausschluss jener Gruppe lässt sich nicht rechtfertigen, ohne gleichsam eine Ethik der Macht des Stärkeren zu vertreten. Des Weiteren sollten unsere moralischen Intuitionen uns zwar nicht als unumstößlich erscheinen, aber sie sind ein guter Anhaltspunkt, der uns darauf hinweist, dass hier eventuell etwas nicht stimmt. Lösung (2) zeichnet sich dadurch aus, dass wir einen hohen Grad an Idealisierung vornehmen müssten. Wir können der spezifischen Situation und den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung, zukünftigen Generationen oder Tieren nicht gerecht werden, indem wir ihnen einfach unterstellen, dass sie die entsprechenden Kompetenzen mitbringen. Lösung (3) jedoch führt uns direkt auf den Weg eines Kontraktualismus in rousseauischer und kantischer Tradition.3

3 | Die Übereinkunft dient dann nicht der Maximierung des eigenen Vorteils, sondern sie findet um der Übereinkunft willen statt, also auf Grundlage einer Motivation, wie ich sie in Kapitel 7. erläutert habe. Es geht darum, herauszufinden, was in Anbetracht der Gründe, die ein betroffenes Wesen haben kann, richtig und was falsch ist. Was wir dann meiner Ansicht nach lediglich unterstellen müssen, ist die Tatsache, dass auch nichtmenschliche Wesen, Menschen mit Behinderungen oder zukünftige Generationen

11. Das Ausschlussproblem

Indem wir den hobbesschen Kontraktualismus hinter uns lassen und die Rede von der Akzeptanz von Prinzipien in einem stärker auf Übereinkunft zielenden Sinne verstehen, der es zwangsläufig mit sich bringt, auch von seinen eigenen individuellen Vorteilsbestrebungen zurückzutreten, so endet damit noch nicht die Kritik. Wenn man wie Singer den gegenseitigen Vorteil als einziges Merkmal einer Theorie der Übereinkunft und jede Erweiterung dieses Modells als eine Abkehr von der Vertragstheorie ansieht, so wird man geneigt sein, diese gleich gänzlich hinter sich zu lassen und sich nicht weiter damit zu beschäftigen (vgl. Singer 2013: 124f.). Akzeptiert man jedoch auch als Kritiker die Besonderheit einer so verstandenen Theorie der Übereinkunft, so ist damit das Ausschlussproblem noch lange nicht gelöst. Will Kymlicka hat diesen letzteren Weg beschritten und kritisiert insbesondere die kantischen Vertragstheorien auf Basis ihrer Betonung der Unparteilichkeit im Gegensatz zum gegenseitigen Vorteil: »Aber was soll es bedeuten, eine unparteiliche Übereinkunft mit Kindern zu wünschen, oder zu wünschen, in der Lage zu sein, seine Handlungen gegenüber Menschen zu rechtfertigen, die noch gar nicht existieren? Wenn jemand nicht in der Lage ist, Teil einer Übereinkunft mit uns zu sein, bedeutet dies, dass uns ein moralisches Motiv fehlt, ihre Interessen zu berücksichtigen? Die Betonung der Übereinkunft innerhalb der Unparteilichkeit scheint ähnliche Probleme hervorzubringen wie die Verhandlungsmacht innerhalb der Theorien des gegenseitigen Vorteils: einige Menschen fallen jenseits der Grenzen der Moralität, einschließlich derjenigen, die am meisten moralischen Schutz benötigen« (Kymlicka 1990: 110, Übers. d. Verf.). Der Schwerpunkt der Kritik befindet sich jetzt nicht mehr auf der hobbesschen Linie, gegenüber der wir sagen könnten: Was für einen Vorteil hat es, sich mit schwachen Individuen zu einigen? Der Schwerpunkt liegt nun auf den unterstellten Fähigkeiten. Muss jemand nicht bestimmte Kompetenzen oder ein bestimmtes Vermögen mitbringen, um überhaupt Teil der Übereinkunft sein zu können? Eine unparteiliche Betrachtungsweise regelt vielleicht, dass untereinander die entsprechenden Vorteile nicht so ausgeschöpft werden, dass es problematische Konsequenzen hat, wie etwa der Vertrag zwischen einem Sklaven und seinem Herrn, wobei der Sklave einen minimalen Vorteil im Gegensatz zu jedem anderen Zustand erhält. Teil der Übereinkunft werden nicht-kompetente Personen damit aber noch lange nicht. Genau deshalb müssen auch Kontraktualisten in kantisch-rousseauischer Tradition auf Strategien ausweichen, die das Problem ausblenden, es verlagern oder ihm aus dem Weg gehen. So ist dann auch einer der Hauptkritikpunkte von Martha Nussbaum, die sich in ihrem bedeutenden Werk Die Grenzen der Gerechtigkeit intensiv mit der vertragstheoretischen Tradition und insbesondere der Theorie von Rawls Gründe haben, die wir miteinander verrechnen können, wozu ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels kommen werde (Kapitel 11.4.).

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auseinandersetzte, dass Rawls eine zu enge Vorstellung dessen vertritt, was es bedeutet, Teilnehmerin in einem kooperativen Unterfangen zu sein: »Die Tradition des Gesellschaftsvertrags identifiziert zwei Fragen, die prinzipiell zu unterscheiden sind: ›Von wem werden die grundlegenden Prinzipien einer Gesellschaft formuliert?‹ und ›Für wen werden die grundlegenden Prinzipien einer Gesellschaft formuliert?‹ Die Vertragsparteien werden als identisch mit den Bürgern vorgestellt, die zusammenleben werden und deren Leben durch die gewählten Prinzipien reguliert werden« (Nussbaum 2010: 35, Hervorhebung im Original). Gibt es nun bestimmte Bedingungen der Teilnahme an der entsprechenden Übereinkunft, dann ist es klar, dass einige nicht Teil dieser Übereinkunft sein können. Wie angesprochen, müssen die Parteien bei Rawls in einem normalen Bereich liegen oder sie müssen bei anderen Kontraktualisten eine bestimmte natürliche Gleichheit aufweisen, die sie fähig macht, an einem kooperativen Unterfangen mitzuwirken. Dies schließt von vornherein diejenigen aus, die nicht innerhalb dieses Bereichs liegen. Nussbaum meint, dass Kontraktualisten diejenigen, welche die Prinzipien schaffen, mit denjenigen verwechseln, für welche diese Prinzipien da sind. Wenn Kontraktualisten nur Übereinkünfte zwischen jenen erlauben, die ungefähr gleich sind, d.h. im »normalen Bereich« liegen, dann ist alles, was sie tun können, die angeblich »Nichtgleichen« als Objekte von Wohltätigkeit zu behandeln. Das bedeutet, wir schulden ihnen nichts, sondern das, was wir ihnen Gutes tun, geht über das Geforderte hinaus. Nach Nussbaum ist es aber nicht richtig, in der Weise eine Kategorisierung vorzunehmen und bestimmte Wesen von entsprechenden Überlegungen auszuschließen. Sie verdienen gleichermaßen Würde. Genau deshalb ist sie gegen den Ausschluss beispielsweise von geistig Behinderten aus dem praktischen Standpunkt bei Rawls.4 Wenig hilfreich sei dabei der rawlssche Vorschlag, diese Probleme vorerst beiseitezulassen. Die Bedürfnisse und Interessen von schwächeren Wesen können nicht erst dann adressiert werden, wenn die grundlegenden Prinzipien, die unser Zusammenleben regulieren, bereits in Kraft sind oder, wie Nussbaum es 4 | Darüber hinaus weist Nussbaum zu Recht darauf hin, dass eine Theorie, welche Prinzipien für das gemeinsame Zusammenleben finden will, einen Anspruch auf Vollständigkeit haben muss: »Jede Theorie, die auf die Gestaltung der grundlegenden politischen Institutionen abzielt, muss ein gewisses Maß an Vollständigkeit anstreben und die zentralen Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger abdecken« (Nussbaum 2010: 197). Diesen Kritikpunkt bringt auch Wolf (1990: 32) in Bezug auf Tiere an: »So ist Rawls der Meinung, dass die Vertragsidee nur einen Teil der Moral, den Bereich der sozialen Gerechtigkeit, erfasst, sich jedoch nicht auf andere Bereiche wie den der Mitleidspflichten gegenüber Tieren ausdehnen lässt. Hiergegen ist wenig einzuwenden. Die Folge ist, dass die Vertragstheorie für die Frage der Tiere nichts beitragen kann, und weiter, dass sie nicht beanspruchen kann, einen vollständigen moralischen Standpunkt abzugeben.«

11. Das Ausschlussproblem

ausdrückt: »Allgemeiner gesprochen stellt die Versorgung von Kindern, älteren Menschen und Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen einen wichtigen Teil der Arbeit dar, die in jeder Gesellschaft geleistet werden muss, und in den meisten Gesellschaften ist dies eine Quelle gravierender Ungerechtigkeiten. Jede Gerechtigkeitstheorie muss dieses Problem von Anfang an berücksichtigen« (ebd.: 182). Nussbaum macht geltend, dass diese Probleme sogar im Zentrum von Gerechtigkeitsüberlegungen stehen müssen. Werden Prinzipien bestimmt, welche die gesellschaftliche Grundstruktur regulieren sollen, so hat dies weitreichende Konsequenzen für diejenigen, die mit dieser Grundstruktur leben müssen. Die Frage ist deshalb nicht einfach zu verlagern. Offenbar gäbe es ansonsten viele Wesen, die unter Bedingungen leben müssen, die wir ihnen gegenüber gar nicht gerechtfertigt haben. Die problematischen Strategien des Kontraktualismus haben mit der Frage zu tun, wer eigentlich im kontraktualistischen Überlegungsprozess berücksichtigt werden kann. Entweder sind es diejenigen, die einen Vorteil mitbringen können, oder diejenigen, die bestimmte Fähigkeiten mitbringen. Wenn uns jedoch die Tatsache, dass Tiere aufgrund ihrer mangelnden Kompetenzen keine Berücksichtigung im kontraktualistischen Überlegungsprozess erhalten können, skeptisch werden lässt, dann sollte es spätestens das, worauf Singer uns hingewiesen hat: Wenn Tiere nicht Teil der Übereinkunft werden können, dann können es auch keine Menschen, die diese Kompetenzen nicht mitbringen. Weil dies allerdings dermaßen kontraintuitiv ist, haben Kontraktualisten sich vielfach bemüht, zu begründen, weshalb Menschen, egal welcher geistigen Kapazität, Berücksichtigung finden, Tiere jedoch nicht. Dies läuft allerdings auf einen Speziesismus hinaus. Kontraktualisten haben versucht, bezüglich der Frage des moralischen Status nachzuweisen, dass es in den allgemeinen Interessen von kompetenten Personen liegt, beispielsweise Säuglinge und ältere Menschen keiner Gefahr auszusetzen und bestmöglich behandeln zu wollen. Carruthers versucht, dies einfach anthropologisch zu begründen: »Wenn überhaupt etwas zur ›menschlichen Natur‹ zählt […], gehört die tiefe Bindung von Menschen zu ihren Kindern und zu ihren betagten Verwandten sicherlich dazu« (Carruthers 2014: 225). Allgemein hätte es große Vorteile, wenn wir menschliche Wesen ganz unabhängig von ihren entsprechenden geistigen Kompetenzen oder ihrer Vertragsfähigkeit miteinbeziehen. Die etablierten Regeln sollen schließlich »die soziale Stabilität und die Bewahrung des Friedens gewährleisten« (ebd.). Natürlich muss auch Carruthers zugeben, dass damit im Grunde auch einige menschliche Wesen nicht direkt berücksichtigt werden, sondern ihr Status ebenfalls »nur indirekter Art« ist (ebd.: 227). Das sei aber deshalb nicht problematisch, weil ihnen dennoch jederzeit und immer (man denke an die anthropologische Konstante) der moralische Status von denjenigen zuerkannt wird, die diese Vernunftfähigkeiten besitzen. Das Problem ist nur Folgendes: Selbst

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wenn wir dies zugestehen, was ist dann mit körperlich und geistig behinderten Menschen ohne Verwandtschaft? Können wir ebenso behaupten, dass es zu unseren anthropologischen Konstanten und tiefsten Interessen gehören würde, uns um diese zu kümmern? Interessanterweise spricht Carruthers auch vorzugsweise von Säuglingen und dementen Verwandten. Die Implikationen, welche diese Argumentation zur Folge hat, sind ihm offenbar nicht bewusst, wobei er jedoch selbst sagt, dass unser Interesse an Tieren nicht so weit verbreitet ist und deshalb Menschen einen moralischen Status haben und Tiere nicht. Aber haben ihn dann auch beeinträchtigte Menschen? Interessant ist, dass Carruthers versucht, eine Gesellschaft zu beschreiben, in der fundamentale Rechte für Kinder und alte Menschen nicht anerkannt werden würden: »Man muss nur einmal überlegen, wie eine Gesellschaft aussehen würde, die Kleinkindern und/oder dementen alten Leuten moralischen Status absprechen würde. Die Mitglieder dieser beiden Gruppen würden höchstens die Art von Schutz erfahren, der Besitzgegenständen zukommt, abgeleitet aus dem berechtigten Interesse der rationalen Akteure, die sich um sie sorgen. Doch dies würde dem Staat oder seinen VertreterInnen erlauben, Mitglieder dieser Gruppen zu vernichten oder ihnen Leid zuzufügen, wann immer es im öffentlichen Interesse läge und dabei für finanzielle Entschädigung ihrer Angehörigen gesorgt würde. (Beispielsweise könnten demente alte Menschen getötet werden, um ihre Organe zu entnehmen, oder es könnte sich als besonders nützlich erweisen, menschliche Kleinkinder für schmerzhafte medizinische Experimente zu verwenden.)« (Carruthers 2014: 225)

Man ersetze hier einfach Kleinkinder und demente alte Leute durch Tiere und wir haben eine relativ genaue Beschreibung dessen, was bereits ein Faktum ist. Der einzige Unterschied ist, dass dies keine Instabilitäten hervorbringt, wie dies bei Menschen vielleicht der Fall wäre. Doch wenn dieser kontingente Fakt der einzige Grund ist, weshalb wir Kinder und demente Leute einbeziehen, was sagt das dann über ihren Status aus? Könnten wir nicht einfach allen rationalen Erwachsenen Beruhigungspillen verabreichen, damit entsprechende Instabilitäten nicht auftauchen und wir uns somit beispielsweise der Organe von hilflosen Menschen bedienen können? Nach der Argumentation von Carruthers wäre dies eine moralisch gleichwertige Lösung. Scanlons Einbezug von Menschen ist ein wenig subtiler. Um solche Konsequenzen zu vermeiden, schlägt Scanlon das Stellvertretermodell vor, welches er als zweite Möglichkeit neben der von mir so benannten »Ausweichstrategie« betrachtet. Das Gute an diesem Modell scheint zu sein, dass es im kontraktualistischen Rahmen bleibt. Es böte sich einfach an zu sagen, dass Wesen, die nicht über die entsprechenden Fähigkeiten verfügen, dadurch Berücksichtigung finden, dass wir uns vorstellen, ein Stellvertreter würde ihre Interessen wahren. Auch hier stellt sich immer noch die Frage, wer eigentlich vertreten

11. Das Ausschlussproblem

werden kann. Scanlon meint beispielsweise, dass das Stellvertretermodell zumindest ganz sicher für menschliche Wesen gilt, ganz unabhängig davon, ob nichtmenschliche Wesen ebenso noch eine Stellvertretung genießen können oder nicht (vgl. Scanlon 1998: 186). Den Einbezug von Tieren hält er für zweifelhafter und ich werde gleich noch zeigen, weshalb. Zu diesem Zweck lohnt es sich, eine von Scanlon eingeführte Klassifizierung von Wesen zu betrachten, welche unterschiedliche Merkmale und Fähigkeiten besitzen, die ich für den Kontext dieses Kapitels leicht angepasst habe (vgl. ebd.: 179): Tabelle 9 – Arten von Wesen Gruppe

Wesen

Fähigkeit

A

Wesen, die ein Gut haben können

Für sie kann etwas besser oder schlechter sein

B

Wesen, die ein Bewusstsein haben

Empfindungsfähigkeit (beispielsweise Schmerzempfindlichkeit)

C

Wesen, die Urteile über besser oder schlechter fällen

Fähigkeit zu urteilssensitiven Einstellungen

D

Wesen, die in der Lage sind, moralische Urteile zu fällen

Fähigkeit, vom Ideal der Rechtfertigung durch Akzeptabilität motiviert zu sein

Wesen, mit denen es vorteilhaft ist, in ein System wechselseitiger Kooperation einzutreten

Einbringen eines Vorteils in eine kooperative Beziehung

E

Der hobbessche Kontraktualismus kann nur Wesen der Gruppe E einbeziehen. Der kantisch-rousseauische Kontraktualismus mindestens Wesen der Gruppe D, da sie vom Ideal der Rechtfertigung motiviert werden können. Die Gruppe C ist auf dem ersten Blick etwas zweifelhaft. Wer urteilssensitive Einstellungen haben kann, kann auch theoretisch vom Ideal der Rechtfertigung motiviert sein. Für die Frage, was richtig und was falsch ist, spielt es jedoch keine Rolle, ob jemand tatsächlich in dieser Weise motiviert ist. Die geistigen Kapazitäten bringen sie in jedem Fall mit. Für eine moralische Betrachtung müssen wir uns den Überlegungsprozess immer so vorstellen, dass alle hypothetisch in dieser Weise motiviert sind, also der Wille zur Übereinkunft besteht. Betrachten wir diese Übersicht, dann sollten bestimmte menschliche Wesen wie Säuglinge, Kinder oder Menschen mit geistigen Einschränkungen in

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Gruppe B eingeordnet werden können (komatöse Patienten wahrscheinlich sogar eher in Gruppe A, wo die natürlichen Objekte wie Pflanzen ihren Platz haben). Sie sind offenbar nicht in der Lage, Urteile über Gründe zu fällen und urteilssensitive Einstellungen zu haben, was die Grundlage ist, um ein rationales Wesen zu sein (Kapitel 6.2.). Auch Tiere sind dann Teil dieser Gruppe. Meiner Ansicht nach schulden wir auch jenen Wesen etwas, was aber noch zu zeigen sein wird. Innerhalb dieser Gruppe B treibt Scanlon jedoch einen Keil zwischen menschliche und nichtmenschliche Wesen. Erstere können nach ihm in jedem Fall in einem Stellvertretermodell berücksichtigt werden. Problematisch ist, dass Scanlon einen signifikanten Unterschied zwischen der Anwendbarkeit des Stellvertretermodells auf Kinder und beeinträchtigte Erwachsene und der Anwendbarkeit auf nichtmenschliche Tiere macht. Weshalb ist es eindeutiger, das Stellvertretermodell auf menschliche Wesen anzuwenden? Scanlon bietet uns folgende Erklärung, weshalb die Anwendung auf menschliche Kinder besonders angemessen ist. Es ist ein altes und bekanntes Argument der Potenzialität, denn nach Scanlon sind »Säuglings- und Kindesalter […] in normalen Fällen Stufen im Leben eines Wesens, welches die Fähigkeit zu urteilssensitiven Einstellungen erlangen wird. Außerdem ist dies im Falle von Säuglingen und Kindern bereits ein tatsächliches Wesen, nicht nur ein mögliches, da sein bewusstes Leben begonnen hat« (ebd.: 185, Übers. d. Verf.). Der Vorschlag scheint hier zu sein, dass Kinder potenziell bereits in Gruppe C gehören oder vielleicht sogar höher platziert werden können, weil sie diese Fähigkeiten entwickeln werden. Dies ist einzig der Fall, weil bei ihnen bereits diese menschlichen Fähigkeiten in einem anfänglichen Stadium vorhanden sind oder wir allgemein davon ausgehen können, dass diese Fähigkeiten erlangt werden. Diese Linie des Denkens ist meines Erachtens nicht überzeugend, obwohl sie schon sehr viele Deontologen angebracht haben.5 Sowohl nichtmenschliche Tiere als auch Kinder oder geistig beeinträchtigte Menschen scheitern an den Charakteristiken der Gruppen C, D und E. Lediglich zu behaupten, dass junge Menschen sich typischerweise zu Wesen entwickeln, die diese Charakteristiken haben, scheint kein adäquates Argument für eine provisorische Aufnahme in diese Gruppen zu sein – im Gegensatz zu anderen Wesen, die permanent daran scheitern werden, die Anforderungen von Gruppe C zu erfüllen. Selbst wenn das kognitive Potenzial von normalen Kindern das Stellvertretermodell in diesem Falle angemessen macht, würde dies nicht zur Ausweitung des Stell5 | Ein solches Potenzialitätsargument findet sich etwa stellvertretend bei Gewirth (1978: 140-145), um Kinder und mental eingeschränkte Personen in sein oberstes Rechtfertigungsprinzip der generischen Konsistenz einzubinden. Das Prinzip der generischen Konsistenz ist die oberste Formel für Gewirth, wenn es um die Beurteilung von richtig und falsch geht.

11. Das Ausschlussproblem

vertretermodells beispielsweise auf Kinder mit kognitiven Defekten führen, die niemals die Fähigkeiten erlangen werden, einer höheren Gruppe anzugehören. Vielleicht denken wir, dass ein genetisch menschliches Wesen, welches permanent daran scheitert, die kognitiven Anforderungen für die Mitgliedschaft in den Gruppen C, D und E zu erfüllen, irgendwie näher an diesen Anforderungen dran ist als ein nichtmenschliches Wesen. Man mag vielleicht sagen: Gegeben des genetischen Erbes könnte ein menschliches Wesen mit entsprechender normaler Entwicklung diese Fähigkeiten erlangen, auch wenn es dies faktisch niemals tut. Aber genauso gut könnte man dann vielleicht auch sagen, dass es möglich wäre, dass ein nichtmenschliches Wesen von einer äußerst starken Mutation profitiert und somit menschenähnliche kognitive Fähigkeiten erwirbt. Ähnlich könnte eines Tages vielleicht sogar eine Technologie entwickelt werden, die es erlaubt, dass nichtmenschliche Tiere entsprechende Anlagen erhalten, die sie uns ähnlicher machen. In diesem Falle wäre es für sämtliche Tiere, ohne die Fähigkeit zu urteilssensitiven Einstellungen, wahr, dass sie die entsprechenden Kapazitäten erlangen könnten. Dies würde den Unterschied zwischen kognitiv beeinträchtigten menschlichen Wesen und nichtmenschlichen Tieren noch einmal deutlich verringern. Jedoch – und dies scheint mir der Schlüssel für eine Kritik an solchen Vorstellungen zu sein – ist es merkwürdig anzunehmen, dass eine bloße Entwicklung (und nicht notwendigerweise auch die Verwendung) einer Technologie etwas am Betroffenenkreis in unseren Überlegungen über richtig und falsch ändern würde. Das Ergebnis ist, so denke ich, dass die Art von Potenzialität, die für beeinträchtigte oder weniger entwickelte menschliche Wesen propagiert wird, nicht hinreichend ist, um sie von nichtmenschlichen Wesen zu unterscheiden. Was uns immer noch dazu bringt, Menschen höher zu bewerten als andere Wesen, also den beeinträchtigten menschlichen Wesen die Möglichkeit der Stellvertretung zu erlauben oder nicht, basiert lediglich auf einer Intuition, dass wir menschliche Wesen in irgendeiner Weise anders behandeln müssen. Auf diesem Wege gelangen wir jedoch direkt in einen Speziesismus hinein und führen ad hoc externe Kategorien in den Rechtfertigungsprozess ein, die dort nicht hineingehören. Es gibt noch andere Möglichkeiten, einen Keil zwischen nichtmenschliche und menschliche Wesen zu treiben. Das kontraktualistische Charakteristikum ist es, einen Entscheidungsprozess voranzutreiben, der in der Weise ausgestaltet ist, dass am Ende eine Übereinkunft steht, die jeder akzeptieren könnte. Diejenigen Prinzipien, die wir wählen, sind das Ergebnis von unterschiedlichen Umständen, in denen wir uns befinden. Da ich auch den Standpunkt des anderen mitdenken muss, wenn ich an einer Übereinkunft interessiert bin, so muss ich mir die Frage stellen, was der andere unter seinen Umständen für Einwände vorbringen könnte. Wir mögen in diesem Augenblick annehmen, dass die unterschiedliche Behandlung von Menschen und nichtmenschlichen

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Tieren deshalb gerechtfertigt ist, weil es für uns einfacher ist, die Gründe von anderen Menschen und ihre Perspektiven zu verstehen, da sie uns ähnlicher sind als diejenigen von nichtmenschlichen Tieren. Wenn wir nun den Keil zwischen Menschen und Tieren treiben wollen, dann müssen wir gleichsam annehmen, dass es uns deutlich leichter fällt, den Standpunkt eines geistig beeinträchtigten Menschen zu verstehen, als denjenigen Standpunkt eines nichtmenschlichen Tieres. Jedoch glaube ich, dass diese letztere Argumentation immer zweifelhafter wird, je weiter der Grad der Beeinträchtigung zunimmt. Was bringt uns zu der Annahme, einen Menschen in einem vegetativen komatösen Zustand besser nachvollziehen zu können als ein bewusstes Tier, bei dem wir wissen, dass diese und jene Handlungen bei ihm Schmerzen verursachen? Ist uns dann das Tier nicht viel näher als der komatöse Mensch, bei dem wir uns keinen Eindruck davon verschaffen können, ob er überhaupt etwas fühlt? Wenn es unplausibel ist, dass wir die Gründe und Perspektiven eines geistig beeinträchtigten Menschen mehr aufnehmen können als diejenigen Gründe und Perspektiven eines nichtmenschlichen Tieres, dann haben wir keinerlei Grund anzunehmen, dass ein geistig beeinträchtigter Mensch eher in den Bereich der Moral des Kontraktualismus fällt als ein nichtmenschliches Wesen. Selbst wenn wir die Perspektive von menschlichen Wesen leichter als die der nichtmenschlichen begreifen können, scheint es doch immer noch, dass wir uns genauso hinreichend in die Perspektive eines Tieres versetzen und einen weiten Bereich von Gründen zu seinen Gunsten anbringen könnten. Damit ein Stellvertreter gegenüber Prinzipien, welche beispielsweise sinnlos zugefügten Schmerz gegenüber Tieren gestatten, etwas einwenden kann, ist alles, was dafür notwendig ist, dass das nichtmenschliche Wesen Schmerz in einer Weise erfährt, wie es auch der Stellvertreter tun würde. Insoweit ein Stellvertreter und ein nichtmenschliches Tier das Subjekt des Schmerzes sein könnten, so scheint jegliche imaginative Projektion, die für einen Einwand notwendig ist, absolut möglich. Scanlon versucht letztlich, den Keil zwischen menschlichen Wesen, die kognitive Einschränkungen haben oder sich in einem frühen Entwicklungsstadium befinden, dadurch aufrechtzuerhalten, indem er schlicht einen obersten Wert zugrunde legt, nämlich den Wert menschlichen oder rationalen Lebens. Jenes menschliche Leben sei an sich wertvoll und aus diesem Grunde können Menschen mit Behinderungen berücksichtigt werden, Tiere jedoch nicht unbedingt. Kontraktualisten wie Scanlon machen sich einem Speziesismus schuldig, wenn sie sagen: »Die bloße Tatsache, dass ein Wesen ›von menschlicher Geburt‹ ist, bietet einen starken Grund, ihm den gleichen Status wie anderen Menschen zuzusprechen« (Scanlon 1998: 185, Übers. d. Verf.). Erneut scheint dies absolut unzureichend, wenn wir über Wesen sprechen, die sich von den meisten von uns unterscheiden und genau die Qualitäten vermissen

11. Das Ausschlussproblem

lassen, die nach Scanlon den Anspruch beinhalten, uns ihnen gegenüber so zu verhalten, dass dies in einer Weise zu rechtfertigen ist, die sie akzeptieren könnten. Scanlon erkennt an, dass die bloße Betonung der genetischen Menschlichkeit als Speziesismus kritisiert werden kann, aber er leugnet, dass es ein bloßes Vorurteil ist, wenn man erkennt, dass unsere Beziehung zu einem anderen Menschen uns einen Grund gibt, unsere Handlungen diesem gegenüber zu rechtfertigen. Dies kann den Einwand des Speziesismus nicht entkräften. Alles in allem muss diese Beziehung, die Scanlon hier erwähnt, eine genetische Beziehung zu diesen Wesen sein. Es kann nicht die Tatsache sein, dass sie unsere vernünftigen Fähigkeiten teilen, weil Kinder, Säuglinge oder beeinträchtigte Personen keine »normalen« erwachsenen Menschen in dieser Hinsicht sind. Somit ist diese Berufung auf eine »Beziehung« nichts weiter als die verschleierte Berufung auf die Tatsache, dass diese Wesen Mitglieder unserer Spezies sind.

11.3. D ie besondere R olle von M or albeurteilern In Übereinstimmung mit Peter Singer gehe ich davon aus, dass wir keine strikte Trennung zwischen nichtmenschlichen Tieren und geistig beeinträchtigten Menschen ziehen können, da wir ansonsten einem Speziesismus verfallen. Deshalb werde ich auch immer beides zusammendenken und von nicht-rationalen Wesen sprechen. Vieles dreht sich um die Frage des moralischen Status. Meine These ist folgende: Einen moralischen Status hat ein Wesen, wenn es in moralischen Überlegungen über unsere Rechte und Pflichten bedacht werden muss. Die Tatsache, dass es bedacht werden muss, geht nicht damit einher, selbst ein Beurteiler des moralisch Richtigen und Falschen zu sein. Ich werde in diesem Kapitel aufschlüsseln, weshalb diejenigen, die bestimmte moralische Fähigkeiten haben, nach wie vor eine besondere Rolle haben, und im anschließenden Kapitel erklären, warum auch Wesen ohne diese Fähigkeiten im kontraktualistischen Überlegungsprozess Berücksichtigung finden können. Ich habe bei der Darlegung des praktischen Standpunktes Folgendes festgestellt: Die Parteien sind rationale Wesen, weil sie in der Lage sind, Gründe zu beurteilen und ihre urteilssensitiven Einstellungen daran anzupassen (Kapitel 6.2.). Sie sind in der Lage, vernünftig zu handeln, und in Fragen der Moral sind die Parteien dazu motiviert, eine Übereinkunft zu finden, die andere vernünftigerweise akzeptieren könnten (Kapitel 7.). Offensichtlich trifft all dies auf nicht-rationale Wesen nicht zu. Demzufolge können wir uns schwer vorstellen, wie ein entsprechender Aushandlungsprozess ohne diese Fähigkeiten vorgestellt werden kann. Alle Wesen, welche nicht in Kategorie C, D und E fallen, haben Probleme, berücksichtigt zu werden. Warum ist das der Fall? Es ist, wie Nussbaum sagte, weil der Kontraktualismus stark zusammen denkt,

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wer die Übereinkunft schließt und für wen die Übereinkunft geschlossen wird. Wenn beides zusammenfällt, dann können diejenigen, die in der Lage sind, Übereinkünfte zu treffen, auch nur sich selbst entsprechende Regularien auferlegen. Es ist richtig: Im Sinne der Wechselseitigkeit können wir Tieren zwar Rechte geben, aber ihnen keine Pflichten auferlegen, denn sie können nicht nach moralischen Grundsätzen handeln. Es ist jedoch hilfreich, mit Rowlands (2008) festzustellen, dass wir ein Konzept von moralischen Subjekten, welche kompetente Moralbeurteiler sind, und moralischen Objekten, welche generell unter moralische Betrachtungen fallen, unterscheiden können: »Ein moralisches Objekt ist grob gesagt jedes Wesen, das moralische Rücksicht verdient. Das heißt, ein moralisches Objekt ist jedes Wesen, gegenüber dem Sie moralisch verpflichtet sind, in Ihrem Handeln auf dessen Wohl Rücksicht zu nehmen. Wenn Sie, moralisch gesprochen, die Auswirkung ihrer Handlungen auf ein Wesen bedenken müssen, ist dieses Wesen per definitionem ein moralisches Objekt. Ein moralisches Subjekt auf der anderen Seite ist ein Wesen, das zu moralischem Denken oder Urteilen fähig ist. Das heißt, ein moralisches Subjekt ist, wenn es vor einer bestimmten Entscheidung steht, in der Lage, sich zu fragen ›Welche Handlung ist hier moralisch richtig?‹« (Rowlands 2008: 99).

Auf das kontraktualistische Modell übertragen, bedeutet dies: Es gibt diejenigen, die in der Lage sind, die kontraktualistische Formel anzuwenden und nach den entsprechenden Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens zu handeln, und es gibt diejenigen, die das nicht können und lediglich in diese Betrachtungen einbezogen werden könnten, wenn es denn ein Argument dafür gäbe. So wie wir diese letzteren Wesen einbeziehen könnten, so könnten auch die vorgestellten Parteien diese Wesen im Überlegungsprozess miteinbeziehen. Es mag offensichtlich sein: Nur kompetente Personen mit entsprechender Denkfähigkeit können moralische Subjekte in dem Sinne sein, dass sie sich fragen können, was vernünftigerweise von anderen akzeptiert werden kann. An dieser Feststellung ist nichts Verwerfliches, sondern sogar etwas überaus Realistisches. Weder ein Tier noch ein geistig sehr beeinträchtigter Mensch oder gar ein zukünftig lebender Mensch kann sich diese Fragen stellen. Da es im kontraktualistischen Überlegungsprozess jedoch nicht darauf ankommt, dass Wesen bestimmte Vorteile mit in ein kooperatives Schema einbringen, sondern einzig die Tatsache, dass sie einem bestimmten Prinzip vernünftigerweise zustimmen könnten, ist es nicht relevant, welche Fähigkeiten sie haben. Was wir bedenken müssen, ist einfach, ob es einen bestimmten Einwand geben kann, welcher gegen ein Prinzip von diesen Gruppen vorgebracht werden könnte. Das klingt äußerst kontrafaktisch und ist es auch, aber es geht in der

11. Das Ausschlussproblem

Tat im Überlegungsprozess nicht um tatsächliche Zustimmung. Für die hypothetisch mögliche Akzeptanz zählt nur die entsprechende Perspektive und welche Gründe sie konstituiert. Auch Tiere haben eine solche Perspektive. Woher wissen wir das? Weil sie ein Gut oder mehrere Güter besitzen, welche mit denjenigen von uns – den kompetenten Moralbeurteilern – vergleichbar sind. Wenn dem so ist, dann ist es auch möglich, einen entsprechenden Überlegungsprozess zu formulieren, in welchem sämtliche Standpunkte Berücksichtigung finden. Dafür werde ich im Folgenden argumentieren und erklären, was mit den geteilten Gütern gemeint ist.

11.4. D as gemeinsame G ut Meine These ist folgende: Jedes Wesen, welches ein vergleichbares Gut mit denjenigen teilt, welche über richtig und falsch nachdenken und von Handlungen betroffen werden können, die ein Prinzip erlaubt oder verbietet, ist in Übereinstimmung mit dem Ideal der Übereinkunft im Überlegungsprozess bezüglich der Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens zumindest als moralisches Objekt zu berücksichtigen. Bevor ich näher erläutere, was unter einem vergleichbaren Gut verstanden wird und wie diese Tatsache mit dem Ideal der Übereinkunft zusammenhängt, werde ich noch einmal auf das bisher Gesagte zurückgreifen und einige Bemerkungen zum Stellvertretermodell anfügen. Ein Teil der Aufgabe war es zu zeigen, dass der Kontraktualismus bezüglich der Frage des Einschlusses von Wesen in seine Überlegungen keine ausblendende, ausweichende oder auslagernde Strategie verfolgen kann. Die Kritikpunkte sind eindeutig. Er muss zumindest auf ein Stellvertretermodell zurückgreifen, wenn er keine völlige Revision unserer Verhaltensweisen gegenüber Wesen zulassen möchte, von denen wir glauben, dass wir ihnen durchaus etwas schuldig sind. Gleichsam darf der Kontraktualismus auch mit dem Stellvertretermodell den Betroffenenkreis nicht willkürlich eindämmen und ausweiten. Wenn die Gründe und Perspektiven derjenigen einbezogen werden sollen, die selbst nicht über die Fähigkeiten der Beurteilung von Gründen verfügen, wie dies bei sogenannten schwachen Individuen wie Säuglingen, Menschen mit Behinderungen oder Tieren zwangsläufig der Fall ist, dann scheint es zweifelhaft, eine strikte Linie zwischen nichtmenschlichen und menschlichen Wesen oder vielleicht auch zwischen bereits lebenden und noch nicht lebenden menschlichen Wesen zu ziehen. Ein großes Problem des Stellvertretermodells besteht meiner Ansicht in der schlichten Tatsache, dass dieses eine sehr große Nähe zu einer tatsächlichen Übereinkunft suggeriert. Diese ist aber nicht erforderlich. Es scheint, als müsste es wirkliche Stellvertreter geben, die Wesen vertreten, die in Wirklichkeit nicht über die entsprechenden Kapazitäten verfügen, eine Überein-

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kunft einzugehen. Eine solche Nähe sollte vermieden werden. Es geht darum zu zeigen, dass entsprechende falsche oder ungerechte Handlungen oder Institutionen genau deshalb falsch oder ungerecht sind, weil sie die Eigenschaft haben, nicht vernünftigerweise von allen Betroffenen akzeptiert werden zu können. Selbstverständlich ist das Verfahren, welches wir anwenden, um zu den gerechtfertigten Prinzipien zu gelangen, ein gedachtes Verfahren. Muss innerhalb des gedachten Verfahrens noch eine Fiktion der Stellvertretung eingeführt werden oder würde es nicht vielmehr ausreichen zu sagen, dass es bestimmte Perspektiven gibt (auch diejenigen von Tieren oder Menschen, gegenwärtigen wie zukünftigen), die durchaus Gründe mit sich führen, die sich allgemein miteinander vergleichen lassen? Anders gesagt sind einfach die Wesen, die wir mit einem Stellvertretermodell berücksichtigen würden, gleichsam diejenigen Wesen, denen wir auch Rechtfertigung schulden. Entscheidend für eine kontraktualistische Argumentation ist meiner Ansicht nach, dass gesehen wird, welche Individuen welche Perspektiven oder Standpunkte in der Welt einnehmen und welche Gründe sie konstituieren. Ob dann fiktiv von einer Stellvertretung gesprochen wird oder nicht, ist redundant. Maximal hilft es uns, zwischen denjenigen zu unterschieden, welche moralische Subjekte sind, und jenen, welche moralische Objekte sind. Die Idee der Übereinkunft muss korrekt ausbuchstabiert werden, um zu erklären, warum auch Wesen Teil der Überlegungen sein sollten, die nicht in der Lage sind, die kontraktualistische Formel anzuwenden und ihr Verhalten uns gegenüber zu regulieren. Wann streben wir wirklich nach einer Rechtfertigung, welche andere vernünftigerweise akzeptieren könnten? Die Akzeptanz oder nicht Nicht-Akzeptanz ergibt sich aus der Vielzahl an generischen Gründen, die für und gegen das entsprechende Prinzip sprechen. Nehmen wir an, ich würde ein Prinzip bedenken, welches es untersagt, niemandem ohne Grund Schmerzen zuzufügen. Nehmen wir weiter an, wir haben nach einer entsprechenden Betrachtung festgestellt, dass ein Prinzip, niemandem ohne Grund Schmerzen zuzufügen, das akzeptabelste Prinzip und somit gerechtfertigt ist. Was geschieht nun, wenn jemand morgen aufgrund einer Krankheit einen großen Teil seiner geistigen Fähigkeiten verliert, nicht mehr sprechen kann und im Großen und Ganzen zu nicht mehr in der Lage ist als ein gewöhnlicher Hund. Nach wie vor kann er noch Schmerzen empfinden und vielleicht auch Freude, wenn auch vielleicht nur an trivialen und einfachen Dingen. Tatsache ist: Dieselben Gründe, die gestern dafürgesprochen haben, ein Prinzip zu rechtfertigen, niemandem (auch dieser Person) ohne Grund Schmerzen zuzufügen, sind nach wie vor vorhanden. Das bedeutet, jeder, der diese Perspektive einnimmt, produziert nach wie vor einen generischen Grund, der gegen ein Prinzip spricht, welches es erlauben würde, anderen Schaden zuzufügen. Wäre dies anders, dann müsste ich mir heute die Frage stellen, ob Teil einer moralischen Gemeinschaft zu sein, von dem offenbar kontingenten Fakt ab-

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hängt, »höhere Fähigkeiten« zu besitzen. Dies bedeutet gleichsam, dass ich, nur weil ich bestimmte Kompetenzen verliere, schon morgen vogelfrei bin und mir jederzeit alles angetan werden kann oder dass dies zumindest nicht moralisch kritisierbar wäre. Wenn meine Gründe der Schmerzfreiheit nun nicht mehr zählen, dann geht es einem kompetenten Moralbeurteiler offenbar nicht mehr um die Akzeptabilität der Prinzipien, nach denen er handelt, sondern es geht ihm einzig um den Wert rationalen menschlichen Lebens an sich. Schauen wir uns noch einmal an, wie wir die kontraktualistische Formel anwenden: Es findet kein tatsächliches Verfahren statt. Wir haben es mit einem rein monologischen Überlegungsprozess zu tun. Die Grundfrage ist, was ich moralisch tun soll oder welche meiner Handlungen moralisch durch ein entsprechendes Prinzip gerechtfertigt werden können. Wenn ich daran interessiert bin, so zu handeln, dass andere dies vernünftigerweise akzeptieren könnten, dann vergleiche ich die generischen Perspektiven miteinander. Diese Perspektiven konstituieren Gründe, die jemand kraft seiner Situation haben kann. Wenn wir die kontraktualistische Formel anwenden und selbst motiviert sind, nur nach denjenigen Prinzipien zu handeln, denen andere vernünftigerweise zustimmen könnten, dann ist dieser Überlegungsprozess nicht auf faktische Gegebenheiten wie ein Bewusstsein oder die Möglichkeit tatsächlicher Akzeptanz beschränkt. Ich bedenke einfach die Gründe, die jemand haben könnte, auch wenn er nicht dazu in der Lage ist, diese zu äußern. Auch wenn niemals ein Tier unseren Handlungen widersprechen könnte, so ist doch anzunehmen, dass es kraft seiner Gründe, beispielsweise seiner Schmerzempfindlichkeit, einen gewichtigen Einwand hätte, den auch wir selbst jederzeit haben könnten. Der Einwand ist einfach da, unabhängig davon, ob ich heute ein rationales Wesen bin und morgen nicht mehr. Der Kontraktualismus setzt jedoch durchaus auch Grenzen der Rechtfertigung. Erst einmal mag es merkwürdig erscheinen, dass wir beispielsweise gegenüber einem Tier von Rechtfertigung sprechen oder von der Tatsache, dass ein Tier »Gründe« haben könnte, da es doch noch nicht einmal Vernunft besitzt. Aus der Perspektive des kontraktualistischen Moralbeurteilers befindet sich ein Tier jedoch in bestimmten Zuständen, die es besser oder schlechter findet, und demzufolge hat es auch in diesem Sinne »Gründe«, etwas wie Schmerz zu meiden. Ich glaube, dass es durchaus einen Sinn ergibt, von einer Rechtfertigung gegenüber nicht-rationalen Wesen zu sprechen. Wo sind jedoch die Grenzen der Rechtfertigung? An dieser Stelle kommt der Begriff des vergleichbaren Gutes ins Spiel. Rechtfertigung im Sinne möglicher Akzeptanz ist nur gegenüber Wesen möglich, welche über vergleichbare Güter wie diejenigen des Moralbeurteilers verfügen. Was ist die entscheidende Eigenschaft, die jemand mitführen muss, dem wir Rechtfertigung schulden? Es müssen (1) Wesen sein, die ein Gut haben können (also eine Weise, auf die es ihnen besser oder schlechter gehen kann). Aber es muss im kontraktualistischen Sinne auch (2)

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ein Gut sein, welches mit unserem, die wir beurteilen, was richtig und falsch ist, vergleichbar ist. Diese Vergleichbarkeit besteht zwischen allen Wesen von Gruppe B bis E. Dies ist im Übrigen eine Idee, wie sie bereits im frühen Werk von Scanlon (vgl. 2006: 134f.) anklingt und die meiner Ansicht nach einen besseren Weg aufzeigt, als Scanlon ihn in seinem späteren Werk gegangen ist. Die meisten nicht-rationalen Wesen haben ein Gut, welches sie mit uns teilen, die wir über richtig und falsch nachdenken. Korsgaard stellt heraus, »dass ein Organismus, der sich der Welt bewusst ist, die Welt und seine eigene Verfassung charakteristischer Weise auch in einer negativen oder positiven Weise erfährt, das heißt als etwas, das für ihn oder von seinem Standpunkt aus gesehen in verschiedenen Hinsichten gut oder schlecht ist«, und sie fügt wenig später hinzu, »dass das, was wir mit den anderen Tieren teilen – der Umstand, dass wir und sie Wesen sind, für die etwas natürlich gut oder schlecht sein kann – moralisch bedeutsam ist« (Korsgaard 2014: 246). Tiere können verschiedene Güter haben, die mit unseren vergleichbar sind und sich demzufolge dazu eignen, in einen kontraktualistischen Überlegungsprozess eingeschlossen zu werden. Schmerz ist nur das offensichtlichste Beispiel. Jemand, der meint, dass Tiere keinen Schmerz empfinden, könnte dies mit genauso wenig Plausibilität von anderen Menschen behaupten. Aber es mag auch noch andere Güter geben, die sie mit uns teilen, etwa die Bewegungsfreiheit, also etwas, was genauso im Interesse eines nichtmenschlichen Tieres sein kann wie für jemanden, der in der Lage ist, die kontraktualistische Formel anzuwenden. Damit ich den Gedanken der Rechtfertigung im Sinne der Akzeptanz eines anderen Wesens vollziehen kann, ist es notwendig, dass ich die Gründe nachvollziehen kann, die für ein Wesen kraft seiner Situation bestehen. Was aber definitiv aus dem kontraktualistischen Prozess ausgeschlossen wird, sind Wesen der Gruppe A, also jene Entitäten, für die etwas ausschließlich besser oder schlechter sein kann, wie das Ökosystem oder Teile desselbigen. Wir können diesen Entitäten im strengen kontraktualistischen Sinne nichts schulden.6 Es gibt keine Pflichten gegenüber Bäumen oder Pflanzen. Diese Entitäten haben ein Gut, aber es ist nicht mit unseren, die wir überlegen, was 6 | Es gibt allerdings tatsächlich Versuche, das kontraktualistische Paradigma auch auf die Natur im Allgemeinen auszuweiten. An dieser Stelle wird allerdings kein kontraktualistisches Ideal der Übereinkunft mehr zugrunde gelegt, also kein genuin vertragstheoretisches, sondern eine metaphysisch deutlich anspruchsvollere »Werthypothese, der gemäß jedem natürlichen Wesen ein gleicher Eigenwert zukommt« (Sitter-Liver 1994: 142). Daran können wir sehen, dass es dem Kontraktualismus, so wie ich ihn hier formuliert habe, nicht in erster Line um den Eigenwert von irgendjemandem oder irgendetwas geht, sondern lediglich die Rechtfertigbarkeit im Sinne der möglichen Akzeptanz eine Rolle spielt und er damit an den Gründen orientiert ist, die ein Wesen haben kann, solange wir diese Gründe nachvollziehen können.

11. Das Ausschlussproblem

richtig und was falsch ist, vergleichbar. Wir können die Stärke von Einwänden nicht bedenken. Es ist schwierig, uns als jemanden zu begreifen, der diesen Entitäten etwas schuldet, oder zu begreifen, dass diese Entitäten bestimmte Rechte haben, weil sie letztlich keine Perspektive in der Welt einnehmen, die wir ohne Weiteres nachvollziehen und im letzten Schritt sogar mit dem, was für uns gut ist, verrechnen können. Sehr wahrscheinlich gibt es kein »wie es ist ein Baum zu sein«. Die Signifikanz dieser Tatsache wird offenbart durch die Überlegung, dass, wenn es etwas gibt, was einen Zustand beschreibt, »wie es ist ein Baum zu sein«, es dann zum Beispiel auch eine Tatsache gäbe, »wie es ist, abgeholzt zu werden«. Genau dann würden wir das Gut eines Baumes auch nicht mehr als ein Gut ansehen, welches unseren eigenen Gütern fremd ist. Es reicht also nicht, ein Gut zu haben, um in einer moralischen Beziehung zu stehen. Dieses Gut muss auch hinreichend vergleichbar sein. Während wir die Vorstellung der Rechtfertigung somit auf Wesen ausdehnen können, die mit uns ein Gut teilen, so wird die Bereitschaft dazu wegfallen, wenn die Güter unserem immer unähnlicher werden. Ein Baum gibt uns nicht dieselbe Art von Gründen, unser Verhalten zu regulieren. Das Gut eines Baumes ist ein Gut für ihn. Es ist etwas, was sich unserer Erfahrungswelt und unserem Überlegungsprozess entzieht. Wir müssen deshalb natürlich nicht leugnen, dass wir uns um das Gut der nicht empfindsamen Natur kümmern müssen, doch in diesem Falle sind es Angelegenheiten, die außerhalb der kontraktualistischen Grundmoral angesiedelt sind. Wesen der Gruppe A können in der kontraktualistischen Moral, wenn überhaupt, nur einen abgeleiteten Wert haben. Besonders im Falle dessen, was wir späteren Generationen schulden (die mit uns im Grunde alle Güter teilen), kann es geboten sein, die Natur zu schützen und zu wahren, um angemessene Lebensbedingungen für die entsprechenden Wesen, denen wir etwas schulden, zu bieten. Eine ähnliche Auffassung vertreten im Ansatz auch Tucker und MacDonald (2004), welche sich die Frage stellen, ob die Adressaten der Moral auch gleichzeitig die entsprechenden rationalen Kapazitäten der Beurteilung von Gründen (oder die Fähigkeit zur Formung urteilssensitiver Einstellungen) mitbringen müssen. Das Problem, welches Tucker und MacDonald sehen, ist ebenfalls, dass der Vertrag zu wörtlich verstanden wird. Die Anforderungen, die wir benötigen, als Partei des Kontraktualismus berücksichtigt zu werden, sind deutlich geringer. Sie nehmen darauf auf bauend drei verschiedene Charakteristiken an, die hinreichend sind, um an einer Übereinkunft im kontraktualistischen Sinne beteiligt zu sein: (1) Wirksamkeit, (2) Verletzlichkeit und (3) Ansprechbarkeit. Punkt (1) bezieht sich auf die Möglichkeit, dass ein Akteur einen anderen beeinflussen kann. Punkt (2) bezieht sich darauf, dass diese Wirksamkeit auch Schaden verursachen kann, und Punkt (3) bezieht sich darauf, dass die entsprechenden Wesen in der Weise ansprechbar sind, dass sie ihr Verhalten ändern können, wenn dies erforderlich ist. Gerade letzteren Punkt

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halte ich allerdings für problematisch. Tucker und MacDonald verweisen dabei auf die Möglichkeit der Domestizierung von Tieren oder ein System von Belohnung und Strafe, welches selbst wilden Tieren zur Verfügung stünde, aber sie gehen allzu leicht über das Problem hinweg, dass Tiere in dieser Weise ihr Verhalten nicht nach Prinzipien regulieren können. Hier ist eine deutlich zu optimistische Kennzeichnung getroffen worden, die aber auch nicht notwendig ist. Sie wäre es nur dann, wenn wir ausschließlich vom wechselseitigen Vorteil ausgehen würden. Tucker und MacDonald gehen von einer etwas anderen Grundkonzeption des Kontraktualismus aus, die sich noch eher an der rationalen Vorzugswürdigkeit orientiert und nicht auf dem Ideal der Übereinkunft basiert. Für den Überlegungsprozess sind meines Erachtens folgende abgewandelte Bedingungen im Sinne des vergleichbaren Gutes erforderlich: (1) Perspektiveinnahme: Fähigkeit, eine Perspektive in der Welt einzunehmen, was bedeutet, ein bestimmtes Gut zu haben, welches besser oder schlechter sein kann. (2) Vergleichbarkeit: Verfügung über ein Gut, welches unter allen Betroffenen hinreichend ähnlich ist und einen Vergleich zulässt. (3) Wirksamkeit: Möglichkeit eines Wesens, in ihrem Gut beeinflusst zu werden oder andere in ihrem Gut zu beeinflussen. Diese Charakteristiken sind hinreichend, um sowohl Menschen mit Behinderung, Säuglinge, Kinder, zukünftige Generationen als auch Tiere einzuschließen. Sie alle nehmen eine Perspektive in der Welt ein, indem für sie etwas besser oder schlechter sein kann beziehungsweise auf deren Gut wir durch unser Handeln einen Einfluss haben. Sie alle haben in mehr oder weniger starker Form ein Gut, welches mit unserem vergleichbar ist. Im Falle von Tieren und Menschen mit Behinderungen ist dies wenigstens Schmerzempfindlichkeit. Zukünftige Generationen teilen mit uns sämtliche Güter. Ebenfalls ist klar, dass die Institutionen, die wir nach Prinzipien unseres Zusammenlebens gestalten, wie auch unsere Handlungen, die wir entsprechend ausführen, immer Einfluss auf diese Wesen haben werden. Auf alle diese Wesensnaturen trifft dies zu. Wenn wir uns also fragen, was alle vernünftigerweise akzeptieren könnten, dann sind diese Wesen in vielen moralischen Fragen selbstverständlich auch Betroffene.

12. Schluss

Ich habe folgende Formel dargelegt, um durch sie zu zeigen, dass sie den klarsten Ausdruck dessen repräsentiert, was heute als eine rousseauisch-kantisch inspirierte Theorie des Gesellschaftsvertrages verstanden werden kann: Ein Prinzip zur Regulierung des Zusammenlebens ist genau dann gerechtfertigt, wenn es von allen Betroffenen, welche motiviert sind, eine Übereinkunft zu erreichen, vernünftigerweise akzeptiert werden könnte. Ich behaupte nicht, dass dies die einzige denkbare kontraktualistische Formel ist, die uns in der Beurteilung dessen, was richtig und falsch ist, anleiten kann. Mein Ziel bestand einerseits darin, die Ideen der neueren Vertragstheorie aufzuklären und andererseits diese Ideen an den Stellen, wo es notwendig war, weiterzuentwickeln oder klarer zu formulieren. Das Ergebnis ist die kontraktualistische Formel, die ich in ihren einzelnen Bestandteilen argumentativ bekräftigte, um somit einen Beitrag zur normativen Theoriebildung zu leisten. Die Hoffnung besteht darin, dass mit diesem Kontraktualismus eine normative Theorie geboten werden kann, die ihren Platz beispielsweise neben den Formeln des Utilitarismus oder dem kantischen Universalisierungsgrundsatz einnehmen kann und sich als würdige, wenn nicht bessere Alternative erweist – würdig in dem Sinne, dass sie nicht nur ein gut ausformuliertes und argumentativ starkes oberstes Rechtfertigungsprinzip ist, sondern dass es sich vielleicht auch um den besten Ausdruck dessen handelt, wie unser moralisches Denken auf den Begriff gebracht werden kann, und vielleicht sogar unsere Intuitionen über richtig und falsch am ehesten einfängt. Um eine Grundlegung der kontraktualistischen Formel zu ermöglichen, habe ich einen weiten Bogen geschlagen – durch eine fokussierte Interpretation klassischer Texte, eine Deutung moderner Kontraktualisten, die Einordnung in größere Theoriezusammenhänge wie den Konstruktivismus, die Klarstellung dessen, was unter vernünftigem Denken und einer kontraktualistischen Motivation verstanden werden kann, bis zur Ausgestaltung eines spezifischen Überlegungsprozesses, welchen wir bei der Anwendung der Formel

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durchführen. Auf sehr vielen Ebenen wurde versucht, den Kontraktualismus verständlich zu machen und ihn zu verteidigen. Ich behaupte nicht, dass ich ausnahmslos alle Aspekte berücksichtigt und alle Fragen beantwortete habe, die sich in diesem Zusammenhang stellen können. Das scheint jedoch weder möglich noch notwendig. Wie es allgemein das Ziel normativer Theorie ist, Orientierung im praktischen Denken zu geben, so hoffe ich, zumindest diese Orientierung im Falle der Darlegung einer normativen Theorie ermöglicht zu haben. Es ist eine Orientierung dahingehend, wie der Kontraktualismus verstanden werden kann und was er von uns fordert, wenn wir über das Richtige und Falsche oder das Gerechte und Ungerechte nachdenken. Abschließend werde ich die verschiedenen Teilergebnisse präsentieren und dabei auf die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen zurückkommen.

12.1. D er R ahmen des K ontr ak tualismus Im ersten Teil untersuchte ich, worauf eine kontraktualistische Theorie aufbaut. Ich zeigte, auf welche Weise sich moderne Theorien der Übereinkunft an die Ideengeschichte zurückbinden lassen, ich führte aus, auf welchen Gegenstand diese Theorien Anwendung finden, und ich legte den konstruktivistischen Rahmen der Rechtfertigung eines solchen Kontraktualismus offen. (1) Auf welche Elemente der Klassiker des Gesellschaftsvertrages kann ein universalistischer Kontraktualist zurückgreifen? Wie können wir eine bestimmte typologische Einordnung vornehmen, um den modernen Vertragsgedanken zu verstehen? Um eine ideengeschichtliche Linie zum modernen Kontraktualismus zu ziehen, wurden anhand der klassischen Standardwerke des Gesellschaftsvertrages einzelne Formeln herausgearbeitet, welche repräsentativ für den Rechtfertigungsmodus sind, der von Hobbes bis Kant Anwendung fand. Ich behaupte nicht, dass diese Art der formelhaften Herangehensweise in höchstem Maße innovativ ist. Ich glaube jedoch, dass dieses Verständnis der kontraktualistischen Theorietradition als eine Arbeit an einer ganz bestimmten Rechtfertigungsformel für zukünftige Vergleiche einzelner Vertragstheoretiker hilfreich sein kann. Ich habe die Interpretation auf ein ganz bestimmtes Anliegen der Kontraktualisten fokussiert und Kernelemente herausgearbeitet, die den Wesensgehalt einer Theorie des Gesellschaftsvertrages ausmachen. Der Versuch bestand darin, eine Entwicklungslinie aufzuzeigen, die sich anhand einer Veränderung der kontraktualistischen Formel ablesen lässt, welche die einzelnen Denker mal mehr und mal weniger explizit zugrunde gelegt haben oder zumindest zugrunde gelegt haben könnten. Ich versuchte nicht, sämtliche Facetten dieser Vertragstheoretiker zu erfassen, sondern lediglich, eine bestimmte Deutung vorzunehmen, die mit dem Anliegen zusammenpasst, eine oberste kontraktualistische Rechtfertigungsformel

12. Schluss

auszuarbeiten. Die unterschiedlichen Entwicklungen im kontraktualistischen Denken lassen sich grob an einer unterschiedlichen Deutung dessen festmachen, was es bedeutet, etwas mit Bezug auf Übereinkunft oder die Akzeptanz eines jeden zu rechtfertigen. Knüpfte Hobbes die Akzeptanz lediglich an die rationale Vorzugswürdigkeit eines eigeninteressierten Individuums, so offenbarte sich spätestens bei Rousseau und Kant ein umfassenderes Bild der Übereinkunft. Die Übereinkunft wurde stärker qualifiziert und musste selbst einigen Bedingungen genügen, wobei das rationale Eigeninteresse nicht als der einzige Grund ausgemacht wird, eine Übereinkunft akzeptieren oder ablehnen zu können. Dabei ließ sich jedoch bereits feststellen, dass mit der Stärke der Qualifizierung, welche die Übereinkunft beispielsweise durch moralische Prämissen erfährt, auch die rechtfertigende Funktion der Theorie immer redundanter zu werden droht. Trotz einiger Probleme, welche uns die klassische Theorie hinterlassen hat, erweist sie sich dennoch für heutige Versuche, einen Kontraktualismus zu formulieren, als anschlussfähig. Die formelhafte Auslegung sorgt für ein einheitlicheres Bild dieser Theorietradition, wie ich hoffentlich veranschaulichen konnte. Ich führte darüber hinaus einige typologische Unterscheidungen ein. Ich habe herausgearbeitet, dass die Theorie des Gesellschaftsvertrages auf zwei Ebenen Anwendung finden kann. Sie kann einerseits als normatives Kriterium und andererseits als eine Explikation des Bestehenden verstanden werden. Das Ziel der Arbeit war es, die kontraktualistische Formel als ein normatives Kriterium zu verteidigen. Deshalb ist es wichtig, sie von der anderen Verwendungsweise abzugrenzen. Dies erschien deshalb wichtig, weil es zu Verwechslungen zwischen der normativen und der explanatorischen Ebene kommen kann. Die kontraktualistische Formel dient zur Rechtfertigung von Prinzipien. Sie bietet uns damit eine handlungsleitende Funktion. Sie soll uns eine Anleitung dafür geben, wie wir Wissen darüber erlangen können, was wir tun sollen. Sie wird jedoch nicht angewandt, um herauszufinden, wie beispielsweise bestehende Normen in der Gesellschaft faktisch eine Akzeptanz erfahren haben. Dies war die erste wichtige typologische Unterscheidung. In der Folge habe ich die Vertragstheoretiker ausschließlich in dieser Hinsicht interpretiert, obwohl ich mir bewusst bin, dass auch explanatorische Elemente Teil der kontraktualistischen Tradition sind. (2) Was ist der Status der kontraktualistischen Formel und wie kann sich eine Theorie auf die hypothetische Akzeptanz beziehen? Neben der typologischen Unterscheidung zwischen explanatorischem und normativem Kontraktualismus ist eine weitere Typologie von zentraler Bedeutung: die Differenzierung zwischen dem Status der Übereinkunft als einer tatsächlichen, impliziten und hypothetischen. Ich argumentierte, dass die Übereinkunft hypothetisch verstanden werden muss. Nach der Formel der Übereinkunft ist ein bestimmtes Prinzip genau dann gerechtfertigt, wenn es nicht tatsächlich oder impli-

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zit, sondern hypothetisch von allen Betroffenen akzeptiert werden könnte. Ich entkräftete den Einwand, dass eine hypothetische Übereinkunft keine Verpflichtungswirkung habe, indem ich eine weitere bekannte Unterscheidung zwischen der kritischen und der verpflichtenden Verwendungsweise der Übereinkunft ausführte. Ich zeigte, dass sich tatsächliche Übereinkünfte in erster Linie durch ihre Verpflichtungswirkung auszeichnen, während hypothetische Übereinkünfte eine Funktion als Kriterium haben. Die Kritik gegenüber der kontrafaktischen Struktur des Kontraktualismus ist also unberechtigt, weil eine hypothetische Übereinkunft überhaupt nicht die verpflichtende Funktion tatsächlicher Übereinkünfte übernehmen soll. Diese verschiedenen Funktionen sind voneinander zu trennen. Das Kriterium der Übereinkunft dient zur Erkenntnis dessen, was getan werden soll und was nicht. Damit geht noch nicht einher, dass Menschen verpflichtet sind, das, was als richtig erkannt wurde, auch zu tun. Was durch das Kriterium jedoch gezeigt werden kann, ist, dass es für alle Personen gute Gründe geben kann, eine solche Übereinkunft einzugehen. Letztlich besteht bei der Übereinkunft als hypothetisches Kriterium allerdings das Problem, dass gezeigt werden muss, weshalb das Kriterium überhaupt angewandt und nach seinen Ergebnissen gehandelt werden soll. Diese Thematik wurde dann später im zweiten Teil der Arbeit angegangen. (3) Auf welchen Gegenstandsbereich lässt sich die Idee der Übereinkunft anwenden? Auf welche Gegenstandsbereiche nicht? Im Gegensatz zu den klassischen Theorien des Gesellschaftsvertrages, welche in erster Linie die Rechtfertigung staatlicher Zwangsgewalt zum Gegenstand der Rechtfertigung erklärten, ist das kontraktualistische Programm spätestens mit Rawls deutlich umfangreicher verstanden worden. Darin spiegelt sich ein gewichtiger Unterschied zwischen den klassischen und den modernen Kontraktualisten wider. Doch wie kann dieser erweiterte Gegenstandsbereich genau erfasst werden? Das, was ich unter den »Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens« zusammengefasst habe, sind Regelungen der interpersonellen Moral, was jenen Bereich von Rechten und Pflichten betrifft, welche sich Menschen untereinander schulden. Mit der Fokussierung auf die interpersonelle Moral ist der Kontraktualismus keine umfassende Moraltheorie in dem Sinne, dass auch beispielsweise Pflichten gegenüber sich selbst Teil seiner Betrachtung werden könnten. Kontraktualisten (aber auch andere normative Theorien) machen sich diese Haltung zu eigen. Sie fokussieren sich auf das moralisch Gerechte und nicht auf das ethisch Gute. Einerseits, weil wir es mit einem anderen Geltungsbereich in moralischen Fragen zu tun haben, in welchem es nicht nur darum geht, was wir einander als ein gutes Leben empfehlen können, andererseits, weil es darum geht, was wir uns untereinander unbedingt schulden, unabhängig von dem, was uns sonst trennen mag. Darüber hinaus basiert diese Haltung auf einer skeptischen Einsicht. Im Fortschreiten pluralistischer Auffassungen des guten Lebens ergeben sich Konflikte bezüglich Interessen und

12. Schluss

Wertvorstellungen. Diese zu lösen und zu einer gemeinsamen Grundlage des Zusammenlebens zu kommen, ist das tiefere Projekt kontraktualistischer, aber auch anderer moderner Moraltheorien. Ich habe mich um eine plausible Darstellung bemüht, weshalb der Kontraktualismus eine Zuständigkeit für Fragen der interpersonellen Moral beanspruchen kann. Was dabei unter interpersoneller Moral verstanden wird, ist zweifellos vielseitig, und auch in Zukunft werden die Begriffe der Moral, der Ethik und der Gerechtigkeit umstritten bleiben. Darüber hinaus habe ich die Vorteile erläutert, von der Rechtfertigung von Prinzipien auszugehen und nicht von einzelnen Handlungen. Dies betrifft Alltagsvorstellungen, wonach wir glauben, dass einzelne Normen nicht nur für einen einzelnen Menschen in einer besonderen Situation zutreffen, sondern für alle, die sich in einer entsprechenden Situation befinden. Wir müssen nicht in jedem Fall neu darüber nachdenken, was gerechtfertigt ist und was nicht. Prinzipien sind Aussagen über einen bestimmten Typ von Handlungen und nicht über die einzelnen Handlungen selbst. Sie sind allgemeine Schlussfolgerungen über Gründe, die wir in bestimmten Situationen als Rechtfertigung zulassen oder nicht zulassen. Ich argumentierte im Anschluss an John Stuart Mill, dass wir eine mehrstufige Form der Prinzipienrechtfertigung mit dem Kontraktualismus assoziieren können. Es gibt ein oberstes Moralprinzip (die kontraktualistische Formel), durch welches viele Unterprinzipien gerechtfertigt werden, die dann wiederum auf unterschiedliche Beurteilungsgegenstände angewandt werden können. Die Vorteile einer mehrstufigen Prinzipienordnung sind die Kontextsensibilität, die gewahrt werden kann, sowie die Möglichkeit, Vorrangfragen zwischen verschiedenen Prinzipien zu klären. Ebenfalls habe ich mich mit einer Position beschäftigt, welche das Denken in Form von Prinzipien ablehnt oder diesem Vorhaben gegenüber skeptisch eingestellt ist. Dies ist der ethische Partikularismus, welcher glaubt, auch ohne Prinzipien in der Moral auskommen zu können. Ich versuchte, den Partikularismus nicht zu widerlegen. Stattdessen führte ich aus, dass einige partikularistische Auffassungen dem kontraktualistischen Projekt nicht widersprechen müssen, da diese Auffassungen die Prinzipienrechtfertigung nicht vollständig ausschließen. Lediglich der radikale Partikularismus, der gänzlich in Zweifel zieht, dass eine Prinzipienrechtfertigung und eine Orientierung an Prinzipien möglich sind, widerspricht dem Kontraktualismus. Da es sich hierbei jedoch um eine Nischenansicht handelt, verzichtete ich darauf, den Partikularismus widerlegen zu wollen, was Gegenstand einer umfangreicheren Abhandlung sein müsste. (4) Wie sieht der strukturelle Rahmen einer kontraktualistischen Rechtfertigung aus? Ist der Kontraktualismus als ein moralischer Konstruktivismus zu verstehen und welche Elemente kennzeichnen eine solche Auffassung? Mein Ziel war es zu zeigen, wie sich die Rechtfertigung in einer kontraktualistischen Theorie denken lässt. Dabei argumentierte ich, dass der Kontraktualis-

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mus als eine Form des Konstruktivismus begriffen werden kann, da er die moralischen Prinzipien aus einem Verfahren hervorgehen lässt und dafür nicht auf ein Verständnis objektiver moralischer Tatsachen zurückgreifen muss, die unabhängig von einem solchen Verfahren oder den Personen wären, die solche Verfahren anwenden. Der Konstruktivismus hält moralische Prinzipien genau dann für gerechtfertigt, wenn sie aus einem entsprechenden Verfahren und einem zugrundeliegenden praktischen Standpunkt folgen können. Der Konstruktivismus hat einen starken Praxisbezug, indem er auf die praktischen Probleme antwortet, die sich jeweils stellen. Anhand der einzelnen Elemente, welche einen praktischen Standpunkt, ein Verfahren und den Praxisbezug betreffen, wird der Auf bau des Kontraktualismus verständlich. Aufgrund des Praxisbezugs strebt der Konstruktivismus nicht nach Wahrheit oder der Repräsentation einer unabhängigen moralischen Ordnung, sondern lediglich nach der Richtigkeit oder Vernünftigkeit der gerechtfertigten Prinzipien. Dies hat den Vorteil, dass auf problematische metaphysische Postulierungen verzichtet und dennoch zu einer Form von Objektivität der gerechtfertigten Prinzipien gelangt werden kann. Ich zeigte, dass der kontraktualistische Konstruktivismus metaethische Aussagen darüber trifft, wie wir zu moralischem Wissen über das, was wir tun sollen, gelangen können, und moralische Urteile nicht nur als rein subjektive Ausdrücke versteht, sondern diesen einen kognitiven Gehalt zuschreibt. Jedoch muss der so verstandene Konstruktivismus keine ontologischen Aussagen darüber treffen, ob moralische Tatsachen tatsächlich vorhanden sind oder nicht. Dahingehend habe ich für einen agnostischen im Gegensatz zu einem atheistischen Konstruktivismus plädiert. Solange wir das entsprechende Rechtfertigungsverfahren aufzeigen und praktisch anwenden können, ist eine weitergehende Auseinandersetzung um die Existenz moralischer Tatsachen unnötig. Der Kontraktualismus ist jedoch ein eingeschränkter Konstruktivismus. Er versucht nicht, sämtliche moralischen oder normativen Begrifflichkeiten zu konstruieren. Ich argumentierte, dass wir den Begriff des Grundes nicht für konstruiert halten müssen, sondern diesen als Basis für moralische Überlegungen verwenden können. Dagegen glauben umfassendere Konstruktivisten, dass sie auch den normativen Begriff des Grundes erklären beziehungsweise von einem Verfahren abhängig machen können. Der Kontraktualismus verwendet die individuellen Gründe jedes Einzelnen als Ausgangsmaterial und bringt diese in der Weise zusammen, dass eine Einigung auf moralische Prinzipien hergestellt wird. Für weitere Abhandlungen über das Verhältnis von Konstruktivismus und Kontraktualismus, glaube ich, in dem Sinne einen Beitrag geleistet zu haben, dass beides voneinander besser unterschieden wird und bestimmte konstruktivistische Auffassungen nicht mit dem Kontraktualismus übereinstimmen. Der Kontraktualismus ist nur eine Form des Konstruktivismus. Insbesondere der Unterschied zum Projekt des kantischen Konstruktivismus nach Christine Korsgaard ist meiner Auf-

12. Schluss

fassung nach ein sehr wichtiger, denn ich glaube, dass es auch weiterhin einen wissenschaftlichen Streit innerhalb der konstruktivistischen Theoriefamilie geben wird, wie weit eine solche Theorie gehen kann.

12.2. D ie Ü bereinkunf t als Z iel Nachdem ich die Grundlagen aufgezeigt habe, beschäftigte ich mich mit der Darlegung eines praktischen Standpunktes. In diesem legte ich die grundlegenden Materialien offen, auf denen ein kontraktualistischer Überlegungsprozess bezüglich der moralischen Prinzipien zur Regulierung des Zusammenlebens aufbaut. Ich erklärte hier, wie sich der Ausgangspunkt des Einigungsverfahrens vorgestellt werden kann, wenn die kontraktualistische Formel angewandt wird. Die kontraktualistische Formel qualifiziert die Akzeptanz der Betroffenen dahingehend, dass sie »vernünftigerweise« mit der »Motivation« erfolgen muss, eine Übereinkunft finden zu wollen. So müssten wir uns die Parteien vorstellen, wenn wir überlegen, welche Prinzipien akzeptiert werden könnten. Weshalb der praktische Standpunkt in dieser Weise aufgebaut werden muss, habe ich in diesem zweiten Teil der Arbeit ausgeführt. Die erste Frage, welche ich in diesem Teil zu beantworten suchte, war folgende: (1) Was ist die Funktionsweise des praktischen Standpunkts und welche Elemente muss er aufweisen? Der praktische Standpunkt muss sowohl normative als auch empirische Elemente enthalten. Bezüglich der normativen Elemente ist dies zum einen die Prämisse der Freiheit im Sinne von Freiwilligkeit, wobei die mögliche Freiwilligkeit einer Akzeptanz in Begriffen von Gründen wiedergegeben wird. Es wird vorausgesetzt, dass Menschen Gründe haben und dass sie genau das akzeptieren werden, wofür sie letztlich am meisten Grund haben. Zum anderen ist dies die Prämisse der Gleichheit im Sinn der Symmetrie der Parteien in einer bestimmten Hinsicht. Die empirischen Minimalbedingungen liegen in einer möglichen wechselseitigen Beeinflussung, der Verschiedenheit von Personen und der Endlichkeit, sowohl des menschlichen Lebens als auch bestimmter Ressourcen. Dies sind die empirischen Minimalbedingungen, unter denen sich jemand die Frage nach den richtigen Prinzipien des Zusammenlebens überhaupt stellen kann. Ich erläuterte, dass vor allem die Symmetriebedingung ein strittiger Punkt innerhalb des Kontraktualismus ist, denn eine solche Theorie kann auch ohne dieses Merkmal konzipiert werden. Dies ist vor allem die Art, wie hobbessche Kontraktualisten die Übereinkunft begreifen. In Abgrenzung dazu war darauf zu verweisen, wie problematisch eine Vernachlässigung der Symmetriebedingung ist, da auf diesem Wege sehr kontraintuitive Ergebnisse folgen können. Dagegen haben rousseauisch-kantische Kontraktualisten stets eine solche Gleichheitsbedingung formuliert. Das Problem ist, dass die Forderung der Gleichheit der

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Parteien selbst eine moralische Forderung ist, welche nicht durch den Kontraktualismus fundiert wird. Darüber hinaus klärte ich den Status und die Funktionsweise des praktischen Standpunktes auf. Der praktische Standpunkt ist eine allgemeinere Formulierung von Naturzuständen, Urzuständen oder anfänglichen Verhandlungssituationen, wie man sie aus der kontraktualistischen Tradition kennt. Diese verschiedenen Ausgangspositionen haben alle eine sehr unterschiedliche Ausgestaltung. Sie bilden jedoch einen Standpunkt, den wir einnehmen können, wenn wir bestimmte praktische Fragen bedenken. Der praktische Standpunkt, wie ich ihn darlegte, ist in dem Sinne allgemeiner, weil er nur die notwendigsten Bedingungen enthält, die jeder praktische Standpunkt in moralischen Fragen enthalten muss. Rechtfertigen wir jedoch ein ganz konkretes Prinzip, so erfährt der praktische Standpunkt entsprechende Ergänzungen und wird auf das Problem zugeschnitten. Er enthält die allgemeinsten Voraussetzungen, die wir benötigen, um Urteile über gerecht und ungerecht im Sinne der Prinzipien des Zusammenlebens zu treffen. Die Auseinandersetzungen mit Naturzuständen und ihren Äquivalenten sind Teil vielfältiger Debatten, wenn es um den Kontraktualismus geht, und ich hoffe, durch meinen Beitrag eine Formalisierung bereitgestellt zu haben, durch welche die grundlegende Struktur dieses Konstrukts offengelegt wird. Auch sollte die Kontinuität des kontraktualistischen Denkens dadurch sichtbarer werden. Obwohl moderne Kontraktualisten eine abstraktere Darstellungsweise haben als die eindringlichen Naturzustände der Klassiker, so verwenden dennoch alle einen praktischen Standpunkt, von dem aus Überlegungen über die Akzeptanz von gedachten Parteien angestellt werden. (2) Was für eine Form des praktischen Denkens können wir bei den Parteien der hypothetischen Übereinkunft in moralischen Fragen voraussetzen? Wie erfassen wir den Begriff des »Vernünftigen« richtig? Ein Weg, zu der entsprechenden Symmetriebedingung zu gelangen, besteht in der Form des Denkens, welche wir den Parteien gleichermaßen zusprechen können. Jede kontraktualistische Theorie muss erklären können, wie der Überlegungsprozess einer Person zu kennzeichnen ist, die darüber nachdenkt, ob sie ein bestimmtes Prinzip akzeptieren kann oder nicht. Um dies zu bewerkstelligen, setzte ich mich mit dem spezifischen Gegensatz zwischen dem auseinander, was als das Vernünftige, und dem, was als das Rationale verstanden wird. Ich habe verschiedene Autoren betrachtet, die diesen Unterschied betonen und das Rationale mit einer Zweck-Mittel-Kalkulation gleichsetzen. Dagegen wird das Vernünftige als eine Form des Denkens bezeichnet, welches eine bestimmte Bereitschaft, eine moralische Sensibilität oder eine Übereinstimmung mit dem Common Sense voraussetzt. Ich habe anschließend eine minimale Vorstellung eines rationalen Wesens im Anschluss an Thomas Scanlon herausgearbeitet, welche lediglich darauf basiert, dass die Parteien in der Lage sein

12. Schluss

müssen, Gründe zu beurteilen und urteilssensitive Einstellungen zu haben, also Einstellungen, die sie ändern, wenn sie entsprechende Gründe dafür besitzen. Ausgehend von der minimalen Konzeption eines rationalen Wesens, welches in der Lage ist, Gründe zu beurteilen, habe ich das Vernünftige als ein Vermögen gekennzeichnet, welches es ermöglicht, vor einem ganz bestimmten Hintergrund oder in einem bestimmten Kontext Urteile zu fällen. Einige Gründe oder auch Informationen müssen in einem entsprechenden Kontext berücksichtigt werden, wenn man vernünftig handeln will. Meist handelt es sich dabei um ein bestimmtes Ziel, welches alle teilen, die sich in diesem Bereich bewegen wollen. Vernünftige Wesen sind in der Lage, vor dem entsprechenden Hintergrund ein Urteil zu fällen. (3) Welche Motivationen sollten die Parteien in einem praktischen Standpunkt mitbringen? Weshalb ist eine motivationale Komponente notwendig? Der plausibelste Weg, zu einer Symmetriebedingung zu gelangen, schien mir derjenige zu sein, eine bestimmte These darüber zu vertreten, was Personen für Gründe haben, wenn sie sich mit moralischen Fragen beschäftigen, und es ist dahingehend in erster Linie eine Auseinandersetzung über die notwendige Motivation und nicht um die Existenz vorgeordneter Rechte. Ich behaupte nicht, dass dies der einzige Weg ist, einen Kontraktualismus in Abgrenzung zu Hobbes zu formulieren, aber im Anschluss insbesondere an Rawls, Barry und Scanlon scheint es mir der gangbarste Weg zu sein. Im Bereich des Moralischen haben rousseauisch-kantische Kontraktualisten eine spezifische These darüber, was der entsprechende Hintergrund ist, welcher von jedem Individuum berücksichtigt werden muss. Im Bereich des Moralischen gibt es ein Ziel, welches sich in einer Motivationsvoraussetzung ausdrückt, die vorhanden sein muss, wenn sich überhaupt jemand im Felde der Moral bewegen möchte. Ich habe dargelegt, dass dieses Ziel das Ideal der Übereinkunft ist, welches besagt, sich in der Weise zu rechtfertigen, dass andere dies vernünftigerweise akzeptieren könnten. Ansätze dieses substanziellen Ideals finden sich in Grundzügen bei Rousseau und in stärkerem Maße bei John Stuart Mill. Kontraktualisten wie Scanlon und Barry (und im Ansatz auch Rawls) haben sich dies zunutze gemacht. Die Symmetriebedingung für die Parteien muss nicht in einem abstrakten moralischen Begriff von Gleichheit gesucht werden und die Parteien müssen sich zur Herstellung der gleichen Ausgangssituation auch keinen Schleier des Nichtwissens überstreifen. Die Symmetriebedingung wird stattdessen in einer gleichen Motivation fundiert. Nur vor dem Hintergrund dieses Ideals erweist sich die Akzeptanz einer Person als vernünftig. Es ist nicht das Eigeninteresse, welches allein zur Akzeptanz motivieren soll, sondern der Wille, mit anderen eine Übereinkunft zu treffen, wenn diese ebenso über diesen Willen verfügen. Ich habe im Anschluss an kontraktualistische Denker versucht, dieses Ideal näher zu kennzeichnen, und argumentiert, weshalb dies das Fundament unserer Überlegungen über richtig und falsch sein

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sollte. Es ist nicht nur eine Motivation, welche wir den Parteien in unserem gedachten Einigungsprozess unterstellen, sondern eine Motivation, die wir als Moralbeurteiler haben sollten, wenn wir die kontraktualistische Formel anwenden. Ich habe darüber hinaus erläutert, ob sich der Kontraktualismus im Sinne von Stephen Darwall auch formal fundieren ließe. Darwall hat wichtige Einsichten offenbart, inwiefern sich der Kontraktualismus zweitpersonal im Sinne bestimmter wechselseitiger Beziehungen verstehen lässt. Der Kontraktualismus ist eine Theorie der menschlichen Beziehungen untereinander, doch diese Theorie lässt sich auch nicht einfach formal auf einem zweitpersonalen Standpunkt gründen. Dieser Nachweis der Notwendigkeit scheitert, weil nicht gezeigt werden kann, dass ich immer verpflichtet bin, andere unbedingt in ihrer Rolle als Personen anzuerkennen. Diese Anerkennung kann nur substanziell mit einem Wert oder einem Wunsch erfolgen. Indem der Kontraktualismus sich allerdings in Abhängigkeit eines solchen zweitpersonalen Wertes begibt, gibt er den kategorischen Begründungsanspruch auf. Ohne ein Entgegenkommen in moralischen Fragen, ohne moralische Ressourcen, die sich in der Gesellschaft mobilisieren lassen, kann auch ein Kontraktualismus moralisch nicht leiten. Wir können nur sagen, dass er wahrscheinlich die geringste Anforderung darstellt, die wir von jemandem erwarten können, wenn er mit uns in einer moralischen Beziehung stehen will. Zum Abschluss habe ich das Ideal der Übereinkunft im Hinblick auf einen möglichen Überlegungsprozess näher bestimmt. Die Bedingungen für den Überlegungsprozess wurden in der Weise ausgearbeitet, dass die Parteien sich so vorgestellt werden müssen, dass sie aus entsprechenden Verhandlungen über die Prinzipien nicht aussteigen, dass sie im Hinblick auf das Ideal kompromissbereit sein müssen, ohne von ihrer eigenen Position abzusehen. Sie müssen bereit sein, alternative Prinzipien zu bedenken, welche für sie nicht die optimale Lösung darstellen, und sie müssen Prinzipien ohne Willkür, also stets mit Verweis auf Gründe einbringen. Mit diesen Grundvorstellungen ist verständlich, wann wir uns eine Akzeptanz vernünftigerweise unter der Berücksichtigung der Motivation, eine Übereinkunft zu erreichen, vorstellen können. Insgesamt wird damit auch deutlich, worin sich rousseauisch-kantische von hobbesschen Kontraktualisten tatsächlich unterscheiden. Erstere betrachten die Übereinkunft selbst als das Ziel der Überlegung. Letztere betrachten die Übereinkunft als ein Mittel zur bestmöglichen Wahrung der eigenen Interessen. In dieser Weise könnte von einem »ethischen Kontraktualismus« oder einem »Wertkontraktualismus« gesprochen werden. Aber es ist ein Kontraktualismus, der die unterschiedlichen ethischen Vorstellungen oder Werte selbst zum Thema macht. (4) Was ist am kantischen Kontraktualismus eigentlich kantisch? Gewöhnlich werden Theorien des Gesellschaftsvertrages, welche eine stärkere Symmetrieanforderung an die Ausgangssituation der Übereinkunft knüpfen, als

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kantisch bezeichnet, doch die Unterschiede zu Kant sind überaus bedeutsam. Zum einen verwendete Kant die Vertragsidee lediglich in seiner politischen Philosophie, während die Bedingungen des Vertrages in seiner Moralphilosophie gerechtfertigt werden. Zum anderen machen sich Kontraktualisten wie Scanlon von einem substanziellen Wert abhängig. Nach Kant wäre dies ein heteronomer Ansatz. Es war deshalb angemessen, die Divergenzen zwischen dem heutigen kantisch inspirierten Kontraktualismus und Kant hervorzuheben. In der Folge habe ich die Argumente von Stephen Darwall, John Rawls und Thomas Scanlon betrachtet und herausgearbeitet, in welcher Hinsicht sie sich von Kant absetzen. Die Ergebnisse waren, dass die kantischen Kontraktualisten skeptisch gegenüber Kants Letztbegründungsversuch des kategorischen Imperativs sind und dass eine moralische Perspektive nur von einem zweitpersonalen Standpunkt aus gewonnen werden kann. Mithin muss ein bestimmter Wert zugrunde gelegt werden, um moralische Urteile zu fällen. Darüber hinaus hat Kant ein gänzlich anderes Verständnis von Gründen. Moralische Gründe folgen bei ihm direkt aus der Rationalitätsanforderung des kategorischen Imperativs. Ihm geht es nicht um die Stärke und die Verrechnung verschiedener Gründe. Der Kontraktualismus nimmt jedoch genau dies zur Grundlage, um zu ermitteln, auf was sich Menschen kraft der Gründe, die sie haben, einigen könnten. In Anbetracht des grundlegend anderen Rechtfertigungsverständnisses können wir nicht anders, als zu urteilen, dass Kant zwar eine wichtige Inspirationsquelle für den heutigen Kontraktualismus ist, aber Kant selbst nicht als ein Kontraktualist im umfassenderen Sinne gelten kann. Ich glaube, es gäbe wissenschaftlich noch deutlich mehr zu sagen über das schwierige Verhältnis, welches zwischen der kantischen Theorie und dem Kontraktualismus besteht. In meiner Arbeit hoffe ich, einige Ansatzpunkte für eine umfangreichere interpretatorische Arbeit geliefert zu haben. Setzte sich die Vertragstheorie in der Vergangenheit vor allem vom Utilitarismus ab, so ist es meiner Ansicht nach heute angebracht, den Unterschied zwischen gegenwärtigen kantischen Theorien und dem Kontraktualismus deutlich aufzuzeigen. Sowohl Kontraktualismus als auch Kantianismus erhalten dadurch ein eigenständigeres Profil.

12.3. D as kontr ak tualistische V erfahren Der praktische Standpunkt enthält die Voraussetzungen, mit denen ein Überlegungsprozess im Sinne einer vernünftigen Übereinkunft stattfinden kann. Im letzten Teil zeigte ich deshalb, wie sich dieser Überlegungsprozess darstellen lässt. Ich erklärte, wie sich unter den Bedingungen des praktischen Standpunktes die vernünftige »Akzeptanz« denken lässt, und legte ebenso offen, welche »Betroffenen« in diesem kontraktualistischen Verfahren Berück-

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sichtigung finden können. Mit der Beantwortung der letzten Fragen und dem Erreichen der Teilziele wurde die kontraktualistische Formel vervollständigt. (1) Welche Struktur haben die Gründe, die im kontraktualistischen Überlegungsprozess berücksichtigt werden? Wie können wir diese Gründe am besten beschreiben? Ausgehend von der Vorstellung von Parteien, die sämtlich nach Übereinkunft streben, ergibt sich die Frage danach, welche Gründe bei der vorgestellten Verhandlung ausschlaggebend sind. Für den Kontraktualismus sind die individuellen Gründe entscheidend. Das sind Gründe, welche einen unmittelbaren Bezug zur Person haben, im Gegensatz zu neutralen unpersönlichen Gründen, welche immer Gründe für alle sind. Dahingehend habe ich mich mit dem Redundanz-Vorwurf auseinandergesetzt, welcher besagt, dass das kontraktualistische Verfahren unnötig ist, wenn wir ohnehin nur auf die Gründe verweisen, die Menschen haben. Ein individueller Grund, so meine Argumentation, muss jedoch niemals zwangsläufig auch ein Grund für jemand anderen sein. Erst nach einer Überlegung, welche verschiedene individuelle Gründe miteinander verrechnet, kann zu einer Vorstellung moralischer neutraler Gründe gelangt werden, die in Form von Prinzipien entstehen, auf die sich die Parteien berufen können. Die Parteien bringen darüber hinaus generische Gründe vor, welche Gründe sind, die Menschen kraft der Situation haben, in der sie sich befinden. Was für eine Person ein entsprechender Grund in einer bestimmten Situation ist, kann auch ein Grund in derselben Situation für eine andere Person sein. Gleichsam sorgt der Rückgriff auf generische Gründe für die Anwendbarkeit des Prinzips auf ähnlich gelagerte Fälle. Ausgehend davon lassen sich die Gründe derjenigen generischen Perspektive, die für ein Prinzip ist, mit derjenigen generischen Perspektive vergleichen, die gegen ein Prinzip ist, um daraus das entsprechende Prinzip zu entwickeln. Wenn es um die Stärke von Gründen geht, muss es nicht problematisch sein, auf Intuitionen darüber zurückzugreifen, was für einen Menschen besser oder schlechter ist beziehungsweise welcher Grund für eine Person mehr wiegen würde als ein anderer, zumal wir hier nicht nur auf Intuitionen, sondern auch auf empirische Tatsachen verweisen können. Wichtig ist allerdings, dass Gründe auf der Grundlage angemessener Informationen Berücksichtigung finden. Ein Einwand kann durch entsprechende zusätzliche Informationen entkräftet werden. Ebenso müssen die Parteien eine gewisse Konsistenz in ihren Gründen wahren, indem sie beispielsweise anerkennen, dass Gründe einer anderen Partei prioritär sind, wenn diese Gründe es für sie selbst auch wären. Um dies gedanklich einzufangen, wäre es denkbar, dass die Parteien prioritäre Angelegenheiten zuerst verhandeln, um anschließend eine Hierarchie der Gründe zu erhalten. Zuletzt bin ich darauf eingegangen, ob auch moralische Gründe beziehungsweise moralische Prinzipien selbst Teil der Rechtfertigung anderer moralischer Prinzipien sein können. Ein kontraktualistischer Überlegungsprozess muss nicht von allen möglichen moralischen Inhalten absehen, son-

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dern nur von demjenigen moralischen Prinzip, welches gerechtfertigt werden soll. Es lässt sich damit in einen größeren Holismus der Rechtfertigung einbetten, ohne dass der Kontraktualismus dadurch zirkulär wäre. Entscheidend ist, dass auch die vorausgesetzten moralischen Prinzipien für eine kontraktualistische Überprüfung offenbleiben. (2) Welches Verfahrensmodell führt uns anschaulich zu gerechtfertigten Prinzipien? Wie lässt sich bestimmen, wer den stärksten Grund für ein Prinzip oder den stärksten Einwand gegen ein Prinzip hat? Spielen dabei Wahrscheinlichkeiten oder die Anzahl von Personen eine Rolle? Ein entsprechendes kontraktualistisches Verfahren muss die Verschiedenheit von Personen berücksichtigen, damit gesagt werden kann, dass jeder als Individuum einem entsprechenden Prinzip zustimmen könnte. Um dies zu plausibilisieren, erfolgte eine Auseinandersetzung mit einem Vorwurf gegenüber John Rawls, welcher durch seinen Urzustand mit einem Schleier des Nichtwissens die individuelle Perspektive von Personen außer Acht lässt. Rawls verwechselt ein unparteiliches mit einem unpersönlichen Verfahren. In Anbetracht der Unwissenheit, welche für die Parteien im rawlsschen Urzustand besteht, wählen sie die entsprechenden Prinzipien nach der eher konservativen Maximin-Entscheidungsregel. Anstatt dieses Modell aufrechtzuerhalten, habe ich argumentiert, dass im Allgemeinen für den Kontraktualismus das sogenannte Einwand-Modell nach Scanlon und Nagel die beste Veranschaulichung des kontraktualistischen Überlegungsprozesses bietet, da dies nach dem am wenigsten inakzeptablen Prinzip sucht. Sind die Parteien motiviert, eine Übereinkunft zu finden, dann müssen sie den stärksten Einwand, der gegen ein Prinzip vorgebracht werden kann, in der Weise minimieren, dass andere Prinzipien immer einen noch stärkeren Einwand hervorrufen würden. Sie folgen demnach der MinimaxEntscheidungsregel bezüglich der Minimierung des maximalsten Einwandes in Anbetracht alternativer Prinzipien. Entscheidend ist, dass damit ein Modell zur Verfügung steht, wie die Akzeptabilität eines Prinzips unter den gegebenen Prämissen ermittelt werden kann. Zwar suggeriert das Modell eine Genauigkeit (wie sie etwa auch spieltheoretische Überlegungen mit sich führen), die wohl in keiner Weise erreicht werden kann, aber zumindest erscheint es als Modell zur Verdeutlichung des kontraktualistischen Verfahrens überaus brauchbar. In der Folge war zu erläutern, ob Wahrscheinlichkeiten im kontraktualistischen Überlegungsprozess eine Rolle spielen, was ich negiert habe. Auf einer prinzipiellen Ebene geht es darum, wie wir mit Wahrscheinlichkeiten überhaupt umgehen. Auf einer solchen Ebene argumentierte ich, dass das Prinzip der Zielkonsistenz nach Lenman wohl eine akzeptable Basis für den Umgang mit Wahrscheinlichkeitsfragen bietet. Auf einer Anwendungsebene von Prinzipien können Wahrscheinlichkeiten aber eine Rolle spielen. Zuletzt war zu zeigen, wann Zahlen in unserem kontraktualistischen Modell wichtig sind. Trotz der Tatsache, dass wir individuelle Gründe berücksichtigen und

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somit nicht zum Wohle Vieler das Wohl von Einzelnen riskieren, kann der Kontraktualismus dennoch die Intuition einfangen, dass wir im Zweifel für diejenigen etwas unternehmen, die in der Überzahl sind, vorausgesetzt, dass ein Gründegleichstand zwischen den Individuen besteht. Wir aggregieren an dieser Stelle nicht einfach die Gründe, sondern wir sehen, dass es seitens der Mehrzahl von Personen noch Gründe anderer Art gibt, welche den Gleichstand aufbrechen können. (3) Wer ist ein Betroffener? Wer kann im kontraktualistischen Überlegungsprozess berücksichtigt werden? Der Vorwurf gegenüber dem Kontraktualismus lautete gemeinhin, dass dieser keine Lösung bietet, welche es gestatten würde, sogenannte »schwache Wesen« wie Menschen mit Beeinträchtigungen, Tiere oder auch zukünftige Generationen in moralische Überlegungen des Richtigen und Falschen einzubinden. Da kontraktualistische Theorien von Parteien ausgehen müssen, welche ihre Akzeptanz aus entsprechenden Gründen geben, wäre es nicht möglich, Wesen in das Verfahren aufzunehmen, welche über das rationale Vermögen, Gründe zu beurteilen, nicht verfügen. Der rousseauisch-kantische Kontraktualismus hat im Gegensatz zum hobbesschen Kontraktualismus zwar den Vorzug, dass er nicht unterstellen muss, dass die Übereinkunft immer zum wechselseitigen Vorteil geschlossen werden muss, aber auch dieser ist abhängig davon, dass Parteien bestimmte Fähigkeiten mitbringen. Ich zeigte, dass sämtliche kontraktualistischen Versuche, diese Probleme auszublenden oder zu verlagern, unangemessen sind und dass Kontraktualisten einen Speziesismus im Sinne von Peter Singer offenbaren, wenn sie dem Menschen und seinen Gründen eine Vorzugstellung einräumen. Ich knüpfte an eine Unterscheidung an, die zwischen denjenigen differenziert, die Gründe beurteilen können und die auch in der Lage wären, die kontraktualistische Formel anzuwenden (moralische Subjekte), und denjenigen, die dies nicht können (moralische Objekte), aber dennoch in die Überlegungen der moralischen Subjekte miteinbezogen werden können. Nun war zu argumentieren, dass nicht-rationale Wesen moralische Objekte sein müssen, weil das Ideal der Übereinkunft (korrekt verstanden) dies erfordert. Wenn sich zwischen zwei moralischen Subjekten eine Übereinkunft aus entsprechenden Gründen denken lässt, dann kann zu einem späteren Zeitpunkt diese Übereinkunft nicht falsch sein, weil eines der moralischen Subjekte (vielleicht durch eine Behinderung) seine rationalen Fähigkeiten verliert, solange die Gründe, die für die Übereinkunft sprachen, immer noch vorhanden sind. Stattdessen sollten wir der Situation in dem Sinne gerecht werden, dass wir sämtliche Wesen einbinden, die mit den moralischen Subjekten ein gemeinsames Gut teilen. Schmerzfreiheit ist beispielsweise etwas, was sowohl ein moralisches Subjekt als Grund anführen könnte als auch ein Mensch mit einer geistigen Behinderung oder ein nichtmenschliches Tier. Dieses Gut teilen wir und daraus erwächst ein Grund, der einbezogen werden kann. Andere Wesen

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verfügen über ähnliche Güter wie kompetente menschliche Moralbeurteiler (also moralische Subjekte) und ein Wille zur Übereinkunft ist erst dann tatsächlich ernst gemeint, wenn diese Gründe berücksichtigt werden. Sie können im kontraktualistischen Überlegungsprozess eine Rolle spielen, weil sie Dinge betreffen, welche der Moralbeurteiler selbst als Grund anerkennen würde. Die Theorie des geteilten Gutes gibt uns einen Aufschluss über unsere Denkweise bezüglich nicht-rationalen Lebens und wir können sämtliche Wesen in einen Kontraktualismus einbinden, die uns wenigstens in einigen Merkmalen ähnlich sind, was jedoch gleichsam einschließt, dass wir auch viele Dinge aus der unbelebten Natur ausschließen können. Es stellen sich dabei noch genauere Fragen bezüglich dessen, was mit einem kontraktualistischen Überlegungsprozess tatsächlich gerechtfertigt werden kann. Was genau schulden wir zukünftigen Generationen? Wie weit gehen unsere Pflichten gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen oder nichtmenschlichen Tieren? Diese Aufgabe stellt sich dann in der eigentlichen Prinzipienrechtfertigung, die ich an dieser Stelle selbst noch nicht leisten konnte. Kann jedoch das Grundmodell überzeugen, dann können uns vielleicht auch die Ergebnisse überzeugen, die ein solcher Kontraktualismus hervorbringt. Es wird immer Streitpunkte um die richtigen moralischen Prinzipien geben, doch das Entscheidende ist, dass sie im Rahmen des Kontraktualismus bearbeitet werden können. Ich hoffe, dafür eine Basis bereitet zu haben. Der Kontraktualismus war eine einflussreiche Theorie in der Frühen Neuzeit und er ist es durch John Rawls erneut geworden. Noch immer hat diese Idee aufgrund ihrer Schlichtheit sehr viel Reiz, denn Akzeptanz und Übereinkunft scheinen grundlegende Ideen zu sein, wenn wir weder eine allzu starke Metaphysik hinnehmen noch unser Denken ausschließlich auf technische Nutzenbegriffe beschränken wollen. In ihrer rousseauisch-kantischen Tradition wird das Ideal der Übereinkunft konsequent zu Ende gedacht. Ich hoffe, dass ich etwas mehr Klarheit in das kontraktualistische Programm bringen und neue Perspektiven für die Moralphilosophie eröffnen konnte. Es ist eine Theorie, welche die Übereinkunft selbst zum Zweck macht und diese Idee bestmöglich zu explizieren versucht. Wenn ich dazu einen Teil beitragen konnte, ist meine Arbeit erfolgreich und ich denke, dass zukünftige Behandlungen des Kontraktualismus darauf auf bauen können. Im Sinne des Kontraktualismus können wir Folgendes sagen: Nichts, was in unseren interpersonellen Beziehungen der Begründung bedarf, kann die allgemeine Akzeptabilität übergehen. Alle wohlbegründeten Rechte und Pflichten teilen die Eigenschaften, dass sie von allen vernünftigerweise akzeptiert werden könnten. Wer uns nicht einmal gedanklich in eine Übereinkunft einbeziehen möchte und uns nicht zugesteht, dass wir Gründe haben, die Berücksichtigung verdienen, der zeigt, dass er nicht einmal die mindeste Anforderung mitbringt, die von einem Menschen

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erwartet werden kann, der sich uns gegenüber in bestimmter Weise verhält – die Motivation, mit uns unter Bedingungen zusammenzuleben, die jeder vernünftigerweise akzeptieren könnte. Moral basiert auf einer Verhandlung, aus der niemand gewillt ist auszusteigen.

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Personenregister

Albertzart 100 Aristoteles  59, 90, 93 Ballestrem  18, 46, 51 Barry  16-17, 19-20, 22, 29, 105-106, 156, 159, 182, 189, 192, 194, 199, 203, 210, 215-216, 218, 292, 296, 361 Bayertz 82 Binmore 46 Blackburn  19, 262-263 Buchanan  14-16, 22, 82, 152-154, 157 Carruthers  334, 339-340 Darwall  15, 17, 29-30, 83, 120, 190, 216-224, 234-236, 238-240, 245, 249, 261, 362-363 Dierksmeier  241, 243 Dodson 83 Dreyer 21 Dworkin  20, 50, 106, 209 Forst  22, 85-86, 89, 228, 233 Frankena 92 Freeman  21, 119, 191, 262 Galvin 118-119 Gaus  17, 83, 210-212, 215 Gauthier  16-17, 29, 38, 45, 82-83, 145, 162, 177-180, 191, 214, 330 Gert 99 Gertken 99-100 Gewirth  166, 172, 342 Gibbard 183 Gosepath  161, 200

Grotefeld  164, 178 Habermas  23, 86, 111, 188-189, 193, 204, 240, 265 Hamlin 83-84 Hare 129 Harsanyi  295-296, 309-310 Heidenreich 23 Herb  43, 66 Heyer 66 Hill  111, 119 Hirose  304, 320 Hobbes  12, 15, 18, 25, 35, 38-39, 43, 55-62, 64-68, 70, 78, 80-82, 105, 132-133, 146-147, 151, 156, 164, 171-172, 177, 179-180, 187, 189, 191, 195, 199, 205, 216, 235, 329-330, 354-355, 361 Hooker 286-287 Hughes 277 Hume  41-42, 44-47, 52, 120, 148, 167, 189-191, 199, 207 Kamm 319 Kant  13-14, 19, 25, 30, 35, 39, 65, 7176, 78, 81-83, 85, 87, 94, 106, 109, 117-121, 123-124, 129-133, 135-136, 140, 144, 146, 162, 193, 220, 228, 231-251, 265, 354-355, 363 Kavka  16, 18, 179-180 Kersting  13-15, 18, 20, 22, 37, 43, 6668, 75, 78, 103, 146, 158 Koller  15, 18, 22, 37, 56

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Eine Theorie der vernünf tigen Übereinkunf t

Korsgaard  27, 104, 109, 124, 129-135, 195, 234, 236-238, 249, 259, 350, 358 Kymlicka  21, 337 Leist  45, 75, 82, 231, 234, 264-265 Lenman  106, 114, 313, 365 Locke  13-15, 38-39, 43, 61-67, 70, 7981, 85, 146, 188 MacDonald 351-352 Mackie  16, 88, 90 MacLeod  19, 262, 277 Mazous  23, 90 Mill  29, 96-97, 189, 195-199, 203, 218, 357, 361 Morris  41, 53, 179 Nagel  15, 17, 31, 256, 258-260, 266, 279, 281-282, 290, 293-301, 303, 305, 318, 365 Neumann 71 Nida-Rümelin  51-53, 84, 310, 312, 314 Nozick  14-15, 22, 82, 85, 294 Nussbaum  16, 21, 279, 337-339, 345 O’Neill  19-20, 75, 107, 111, 120, 129130, 132, 156, 232-234 Ott  93-94, 162 Ottman  50-51, 54 Parfit  24, 56, 125, 175, 234, 245-246, 249-250, 259, 300-301, 315-316, 321 Patzig 183 Pauer-Studer  15, 17-18, 234 Perelman  166, 168-170, 172, 183-184 Pettit  21, 260, 262 Platon  90, 93, 121 Prichard  192-193, 199, 208, 212, 265 Rawls  14-20, 22-23, 27, 29-31, 38, 64-65, 69, 82-84, 91, 96-97, 104, 106-109, 111-113, 117-130, 133-134, 146, 148-149, 155-159, 166, 170-172, 182-184, 188-189, 198, 201-202, 204, 207, 215, 218, 222, 234, 241-245, 255, 262, 265, 272, 279,

288-296, 299-301, 303, 308-310, 330-334, 337-338, 356, 361, 363, 365, 367 Reibetanz  272-273, 322 Rousseau  13-14, 38-39, 41-44, 65-71, 146, 162, 228, 235, 355, 361 Rowlands 346 Sandel  22, 146 Sayre-McCord  17, 45, 179 Scanlon  16-17, 19-20, 22-24, 27, 2931, 83, 88, 90, 95, 104, 107, 112, 115-116, 119, 122, 124, 126-134, 156, 159, 163, 166, 173, 175-176, 182, 184185, 189, 192-193, 199-206, 208, 210-218, 226, 233, 235, 240, 245, 247-251, 256, 262-263, 265, 269, 271, 273, 276-277, 279, 281, 284285, 290, 292, 301, 303-304, 312, 316, 318-319, 323, 332-335, 340-342, 344-345, 350, 360-361, 363, 365 Scarano  103, 112 Schaal 23 Schmidt  41, 84 Sen 181-182 Sibley  166-168, 172, 183-184 Sidgwick  38, 241 Singer  21, 327, 335, 337, 339, 345, 366 Skyrms  40-42, 44-46 Steinvorth 84 Strawson 217-218 Street  26, 108, 111-114, 127, 129, 133 Taylor 22 Thomson 262-264 Tucker 351-352 Voigt 13-14 Weber 163-164 Wijze 277 Williams 207 Wingert  89, 91-92 Wolf 338