Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis: Herausgegeben:Kulenkampff, Arend;Übersetzung:Kulenkampff, Arend 3787316388, 9783787316380

In der »Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis« entwickelt Berkeley die Lehre vom Immaterialismus. D

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Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis: Herausgegeben:Kulenkampff, Arend;Übersetzung:Kulenkampff, Arend
 3787316388, 9783787316380

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GEORGE BERKELEY

Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis

Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von AREND KULENKAMPFF

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 532

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar über . – ISBN 3-7873-1638-8

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I N H A LT

Erfahrung und Metaphysik. Zum Idealismus George Berkeleys. Von Arend Kulenkampff . . . . . . . . . . . VII I. Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII II. Idealistische Ontologie und der Begriff der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII III. Was nehmen wir wahr? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVI IV. Ist der Idealismus beweisbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXI V. Abstraktion und Allgemeinheit, Idee und Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIII VI. Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXI VII. Konsequenzen der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIX Zu dieser Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLIX

GEORGE BERKELEY

Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis . . . . . .

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Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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E R FA H RU N G U N D M E TA P H Y S I K Z U M I D E A L I S M U S G E O RG E B E R K E L E Y S I. Leben und Werk »I had no inclination to trouble the world with large volumes.« Berkeley

Die Philosophie Berkeleys, soweit sie in der Geschichte des abendländischen Denkens Epoche gemacht hat, ist das Werk eines Zwanzigjährigen. 1685 in Kilkenny (Südirland) geboren, studiert Berkeley von 1700 bis 1707 am Trinity College in Dublin. 1710 wird er zum Priester geweiht. Aus den Jahren 1707/1708 stammen die nicht zur Veröffentlichung bestimmten skizzenhaften Aufzeichnungen, fast neunhundert an der Zahl, die heute als Philosophical commentaries (dt. Philosophisches Tagebuch) firmieren. Alle Hauptmotive seiner Philosophie sind hier bereits artikuliert. 1709 erscheint An essay towards a new theory of vision (dt. Versuch zu einer neuen Theorie des Sehens), im wesentlichen eine wahrnehmungspsychologische Untersuchung, die unabhängig von philosophischen Standpunkten Anerkennung erlangt und rasch zur herrschenden Lehre avanciert. In dieser Position behauptet sie sich etwa zweihundert Jahre. 1710 folgt das Hauptwerk, A treatise concerning the principles of human knowledge – part I (dt. Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis). Teil II und III sind nie erschienen. Das Werk findet nur wenige Leser und stößt auf Unverständnis. Der Mißerfolg veranlaßt Berkeley, in Dialogform, die er meisterhaft beherrscht, seine Lehre ein weiteres Mal darzustellen. 1713 veröffentlicht er in London Three dialogues between Hylas and Philonous (dt. Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous). Zwischen 1713 und 1720 verbringt er geraume Zeit in Italien. Das Manuskript des zweiten Teils der Prinzipien kommt ihm dort abhanden. Auf der Rückreise von Italien verfaßt er 1720 De motu (1721) (dt. Über die Bewegung). In den zwanziger Jahren betreibt er, hauptsächlich von London aus, die Gründung eines College für angehende Geistliche auf den Ber-

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mudainseln. Obwohl als Angelegenheit von nationaler Bedeutung anerkannt, scheitert das Unternehmen, weil die Regierung ihre finanziellen Zusagen nicht einlöst. Von 1729 bis 1731 hält Berkeley sich in Newport, Rhode Island, auf, gewissermaßen auf dem Sprung nach den Bermudas, die er jedoch nie betritt. In Neuengland entsteht Alciphron or the minute philosopher (1732) (dt. Alciphron oder der Kleine Philosoph), sieben Dialoge, in denen er mit der englischen Frühaufklärung ins Gericht geht. Weitere Hauptwerke aus dieser Zeit sind The theory of vision vindicated and explained (1733) (dt. Die Theorie des Sehens verteidigt und erklärt), die mathematische Streitschrift The Analyst (1734) (dt. Der Analytiker), der volkswirtschaftliche Traktat The Querist (1735–37) (nicht übersetzt). Der enorme, wenngleich ephemere Publikumserfolg seines letzten philosophischen Werkes – Siris (1744) (dt. Siris) – verdankt sich den Ausführungen über Zubereitung und Heilwirkung des Teerwassers, das Berkeley für das Gottesgeschenk einer Panazee hält. Ab 1734 ist er Bischof der anglikanischen Kirche von Irland in der südirischen Diözese Cloyne. Sein Grab befindet sich in Oxford, wo er 1753 stirbt.

II. Idealistische Ontologie und der Begriff der Wirklichkeit Unter den bedeutenden Philosophen neuerer Zeit ist Berkeley derjenige, dessen Lehre mit geradezu stupender Beharrlichkeit als Provokation, ja Verhöhnung der gemeinen Menschenvernunft aufgefaßt und dementsprechend gebrandmarkt wurde. Diderot nennt den Idealismus ein »närrisches System«, das – »zur Schande des menschlichen Geistes und der Philosophie« – am schwierigsten zu widerlegen sei, obgleich es das »allerabsurdeste« ist. Berkeley habe es in seinen Drei Dialogen ebenso »offenherzig wie klar« dargelegt.1 Auf ein »schimärisches Ideensystem« zielt Samuel Johnsons notorische Berkeley-Widerlegung, die im Fußtritt gegen einen Stein besteht.2 Ein ähnliches Bild zeichnet Voltaire: Diderot, D. 1961: Brief über die Blinden (1749). In: Philosophische Schriften. Band I. Berlin. 73 f. 1

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Zehntausend Mann, getötet von zehntausend Kanonenkugeln, wären, wenn es nach dem Bischof von Cloyne ginge, im Grunde genommen nichts weiter als ebenso viele Vorstellungen in unserer Seele.3 Weniger polemisch, aber im Tenor ähnlich äußert sich Gottsched in einer seiner Anmerkungen zum Artikel »Zeno« des Bayleschen Wörterbuchs: Der »wunderliche Lehrsatz« des Idealismus erfahre seine »sinnreichste Verteidigung« in Berkeleys »englischem Traktat Three Dialogues«.4 Was besagt der so viel philosophisches Kopfschütteln verursachende Satz? Das folgende Diktum Kants bringt seinen Gehalt akkurat zum Ausdruck: »Der Idealismus besteht in der Behauptung, daß es keine anderen als denkende Wesen gebe, die übrigen Dinge, die wir in der Anschauung wahrzunehmen glauben, wären nur Vorstellungen in den denkenden Wesen, denen in der Tat kein außerhalb diesen befindlicher Gegenstand korrespondierte.«5 Idealist sein heißt demnach: ausschließlich Bewußtsein – das eigenen Ich und möglicherweise (nicht notwendig) andere Geistwesen – sowie Bewußtseinsbestimmungen, d. h. Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen der Erinnerung und der Einbildungskraft als existierend anerkennen. Eine ontologische Präsumtion charakterisiert nach dem Verständnis des 18. Jahrhunderts den Idealismus, eine These in bezug auf das, was überhaupt und in letzter Instanz existiert: nämlich daß es Geist gibt und Dinge »within the mind«; sonst nichts. Berkeleys bündige Formulierung dieses ontologischen Sachverhalts lautet: »Existenz ist percipi [wahrgenommenwerden] oder percipere [wahrnehmen] […] oder velle i. e. agere [wollen, d. h. handeln].« (PhT Nr. 429, 429a) 6 Das Sein einer Idee besteht im Wahrgenommenwerden, das Sein eines Geistwesens im Wahrnehmen von Ideen oder im willentlich-tätigen Boswell, J. 1951: Dr. Samuel Johnson (1791). Zürich. 172 f. Voltaire, F. M. 1954: Dictionnaire Philosophique. Hg. von J. Benda. Paris. Stichwort: Corps. 150. 4 Bayle, P. 1974–1978: Historisches und critisches Wörterbuch (1695–1697). Hildesheim. Bd. IV. 547. 5 Kant, I. 1958: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. In: Werke in sechs Bänden. Hg. von W. Weischedel. Bd. III. Wiesbaden. A 63. 6 Zitiert wird nach den deutschen Übersetzungen und, soweit erfor2 3

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Umgang mit Ideen.7 Zweifellos steht die idealistische Seinsannahme in scharfem Gegensatz zum Weltbild des Common sense. Denn dessen Ontologie ist, was auch Berkeley einräumt, reicher als die idealistische, insofern sie physische Dinge, Körper enthält, deren Begriff die Möglichkeit, unwahrgenommen zu existieren, einschließt.8 »In der Tat herrscht unter den Menschen die Meinung vor, daß Häuser, Berge, Flüsse, kurz: alle Sinnendinge ein vom Wahrgenommenwerden durch den Verstand verschiedenes natürliches oder reales Dasein besitzen.« (P § 4) Dem Common sense liegt es demnach fern, für die Körperwelt den Grundsatz »esse est percipi« zu akzeptieren oder (was auf dasselbe hinausläuft) für sinnlich wahrnehmbare Dinge wie Steine, Bäume, Bücher die Festlegung zu treffen, daß sie nichts anderes sind als Konfigurationen von Ideen (collections of ideas) (P § 1), die nur wahrgenommenerweise, in mentaler Präsenz existieren können. Gleichwohl läßt sich das Verdikt »närrisches, absurdes System« durch die Unvereinbarkeit, die auf ontologischer Ebene zwischen Idealismus und Common-sense-Realismus besteht, schwerlich zureichend erklären. Wie aber sonst? derlich, nach der neunbändigen Standardausgabe The Works of George Berkeley unter Verwendung folgender Abkürzungen: P = Prinzipien der menschlichen Erkenntnis; DD I, II, III = Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous; PhT = Philosophisches Tagebuch; ThdS = Versuch zu einer neuen Theorie des Sehens; ThdSv = Die Theorie des Sehens … verteidigt und erklärt; Alc VII = Alciphron, 7. Dialog; DM = De motu; A = Der Analytiker; VfDM = Eine Verteidigung des freien Denkens in der Mathematik. 7 Berkeley nennt sein System immaterialistisch, nicht idealistisch. Nach dem Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts besteht hier kein Unterschied. »A theory is materialist to the extent that it takes sensible qualities to exist without the mind, whereas a theory will be immaterialist if it takes sensible qualities to exist in the mind.« (Atherton, M. 1990: Berkeley’s revolution in vision. Ithaca, London. 231 f.) Und eine so verstandene immaterialistische Theorie ist nach der obigen Definition Kants eine idealistische. 8 Ayer, A. J. 1976: Die Hauptfragen der Philosophie (1973). München.93.

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Gesetzt den Fall, ein Idealist, der seinem eigenen Grundsatz Glauben schenkt, müßte »in die Kloake gehen oder mit dem Kopf gegen die Wand rennen« ( J. St. Mill) 9, mithin ein aberwitziges, die Naturgesetze verleugnendes Verhalten an den Tag legen; wenn also die ontologische Festlegung desaströse empirische Konsequenzen hätte, dann wäre der Absurditätsvorwurf in der Tat berechtigt. So drängt sich die Vermutung auf, daß diejenigen, die den Vorwurf erheben, von der Triftigkeit des Haupteinwands gegen Berkeleys System überzeugt sind – jenes Einwands, den Berkeley im Mittelteil der Prinzipien (§§ 34–81) als ersten von insgesamt dreizehn Einwänden diskutiert und der das systematisch wichtigste, historisch folgenreichste Mißverständnis seiner Philosophie darstellt. Alles, was real und substantiell in der Natur ist, werde durch den Grundsatz des Idealismus aus der Welt verbannt und statt dessen ein »schimärisches Ideensystem« etabliert. (P § 34) In einem solchen System – das kennzeichnet es als schimärisch – könnte zwischen Sein und Schein, Realität und Hirngespinst, zwischen wirklichen weißen Mäusen und denen, die der Trunksüchtige im Delirium sieht, nicht unterschieden werden. J. Chr. Eschenbach, von dem die erste deutsche Übersetzung der Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous stammt, hält es für einen Wesenszug des Idealismus, daß »keine Merkmale ausgemacht und bestimmt werden (können), woran man zu unterscheiden im Stande wäre, ob und in welchen Fällen die Sinne trögen oder nicht.«10 Diese Ansicht wäre kaum der Erwähnung wert, machte nicht auch Kant gegen den »längst so verschrienen empirischen Idealismus« geltend, daß dieser, »indem er die eigene Wirklichkeit des Raumes annimmt, das Dasein der ausgedehnten Wesen in demselben leugnet, […] und zwischen Traum und Wahrheit in diesem Stücke keinen genugsam erweislichen Unterschied einräumet.«11 Auf alle Einwände, die gegen Mill, J. St. 1968: System der Logik. In: Gesammelte Werke. Bd. II–IV. Aalen. 5. Buch, 7. Kap., § 3. 10 Eschenbach, J. Chr. 1756: Samlung der vornehmsten Schriftsteller, die die Würklichkeit ihres eignen Körpers und der ganzen Körperwelt läugnen… Rostock. 502. 9

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den Idealismus die normale, insbesondere die taktile Sinneserfahrung ins Feld führen und implizieren, daß mit der Materie notwendigerweise auch die Wirklichkeit auf der Strecke bleibt, erwidert Berkeley, daß uns durch »esse est percipi« kein einziges Naturobjekt verloren geht. Was immer wir wahrnehmen, bleibt in seinem Bestand unangetastet und ist so real wie eh und je. »Es gibt eine rerum natura, und die Unterscheidung von Realitäten und Schimären behält uneingeschränkte Geltung.« (P § 34, auch § 91) Durch die Ausführungen in P § 30, wo Berkeley darlegt, was unter »wirklichen Dingen« im Unterschied zu Hirngespinsten und anderen Hervorbringungen der Einbildungskraft zu verstehen ist, bekommt diese Versicherung argumentatives Gewicht. Die »Ideen der Sinne« – unter Berkeleys ontologischen Voraussetzungen die wirklichen Dinge – zeichnen sich durch ein höheres Maß an »Intensität«, »Lebhaftigkeit« und »Bestimmtheit« aus – ein vergleichsweise schwaches Realitätskriterium, das, isoliert genommen, kaum hinreichen dürfte, die weißen Mäuse des Trunkenbolds von den weißen Mäusen im Tierversuch zu unterscheiden. Maßgeblich ist das folgende: Den Sinnesideen eignet »eine gewisse Beständigkeit, Ordnung und Kohärenz«. Sie treten nicht chaotisch auf, sondern »in geregelter Folge oder in Reihen«. Die »strikten Regeln«, nach denen Sinnesideen in uns entstehen, Regeln der Form »immer wenn […], dann […]« werden Naturgesetze genannt. (P § 30) Mit einem Wort: Wirklich ist, was sich dem naturgesetzlich geordneten Gesamtzusammenhang der Erfahrung, der für Berkeley ein Empfindungszusammenhang ist, kohärent einfügt. Nach welchen Kriterien zwischen Wirklichkeit und Schein, Sinneswahrnehmung und Sinnestäuschung unterschieden wird, ist keine Frage der Ontologie, sondern eine empirische Frage. Die Realitätskriterien sind ontologisch neutral, und weil sie das sind, besteht in dieser Hinsicht zwischen Berkeleyschem Idealismus, dem formalen Idealismus Kants und realistischen Positionen kein sachlich relevanter Unterschied. Wenn es Unterschiede gibt, Kant, I. 1956: Kritik der reinen Vernunft. In: Werke in sechs Bänden. Hg. von W. Weischedel. Bd. II. Wiesbaden. B 519, A 491. 11

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so resultieren sie aus der philosophischen Sprache. Man macht sich daher keiner Metabasis schuldig, wenn man, um den consensus omnium zu dokumentieren, auf Berkeley und M. Schlick, Russell und Kant, Leibniz und J. St. Mill Bezug nimmt. Kriterium der Wirklichkeit sind nach Schlick gewisse Wahrnehmungen und zwar solche, zwischen denen »gesetzmäßige Zusammenhänge« bestehen.12 Russell nennt diese Zusammenhänge »Korrelationen« und erklärt, daß ein Hirngespinst im Unterschied zu einem normalen Sinnesdatum »nicht in den gewohnten Korrelationen (steht) und daher Ursache falscher Schlüsse und trügerisch (ist).«13 Wie für Berkeley liegt auch für Leibniz das wichtigste Realitätskriterium in der Übereinstimmung einer aktuellen Wahrnehmung mit den bisher beobachteten Regelmäßigkeiten im Lauf der Dinge und in ihrer daraus sich ergebenden prognostischen Fruchtbarkeit.14 Macbeth, einen Dolch sehend, tut genau das Richtige, wenn er quasi experimentierend nach der Dolcherscheinung greift und prüft, ob er gemäß seinen empirisch wohlbegründeten Erwartungen etwas Scharfes, Spitzes in Händen hält oder, idealistisch ausgedrückt, ob in seinem Bewußtsein Scharf–Empfindungen und Spitz–Empfindungen auftreten. Macbeth testet seine auf visuellen Wahrnehmungen beruhende Dolch-Hypothese. Durch das Ausbleiben der erwarteten Empfindungen wird sie falsifiziert. Sein Irrtum liegt, wie der Tatsachenirrtum generell, nicht in dem, was er aktuell wahrnimmt, sondern in dem »Urteil, das er über die Ideen fällt, die nach seiner Auffassung mit jenen unmittelbar wahrgenommenen verbunden sind, oder über die Ideen, von denen er sich nach Maßgabe der gegenwärtig wahrgenommenen einbildet, sie würden unter anderen Bedingungen wahrgenommen werden.« (DD III, 110) Dassel-

Schlick, M. 1986: Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang. Hg. v. H. L. Mulder, A. J. Kox, R. Hegselmann. Frankfurt am Main. 217. 13 Russell, B. 1976: Die Philosophie des Logischen Atomismus. Hg. v. J. Sinnreich. München. 255. 14 Leibniz, G. W. 1966: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Hg. v. E. Cassirer. Hamburg. Bd. II. 125. 12

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be Kriterium bei Kant: Wirklich ist, »was mit einer Wahrnehmung nach Gesetzen des empirischen Fortgangs in einem Kontext steht.«15 Daraus folgt, daß, wenn Dingen, die aktuell nicht wahrgenommen werden, (»vor der Wahrnehmung«) Existenz, Wirklichkeit zugeschrieben wird, dies »entweder bedeutet, daß wir im Fortgang der Erfahrung auf eine solche Wahrnehmung treffen müssen«, ihr Auftreten somit naturgesetzlich verbürgt ist, »oder es hat gar keine Bedeutung.«16 Die Übereinstimmung mit Berkeleys Analyse des Satzes »der Schreibtisch in meiner Studierstube existiert« (P § 3) ist offenkundig. »Befände ich mich außerhalb meiner Studierstube, so hätte meine Behauptung, daß er existiert, den Sinn, daß ich, wenn ich in meiner Studierstube wäre«, im Fortgang der Erfahrung also, »ihn wahrnehmen könnte […]«. Was von dem aktuell nicht wahrgenommenen Schreibtisch gilt, das gilt in gleicher Weise von der Erdbewegung, die von unserem Planeten aus nicht wahrnehmbar ist. »Wenn wir uns unter so und so beschaffenen Bedingungen in der und der Position in einer bestimmten Entfernung von der Erde und von der Sonne befänden, (würden) wir wahrnehmen, wie jene inmitten des Chors der Planeten sich bewegt und in jeder Beziehung als einer von ihnen erscheint.« (P § 58) Diese Annahmen machen den Tatsachengehalt unserer Überzeugung aus, daß entgegen dem Augenschein die Erde und nicht die Sonne in Bewegung ist. Wir können, heißt es in P § 59, »aufgrund der Erfahrung vom Verlauf und von der Aufeinanderfolge der Ideen in unserem Geist oftmals nicht etwa ungewisse Mutmaßungen anstellen, sondern sichere und wohlbegründete Voraussagen machen, welche Ideen uns infolge einer langen Reihe von Handlungen gegeben sein werden, und wir vermögen zutreffend zu beurteilen, was uns erschienen sein würde, wenn wir uns in Situationen befänden, die von der aktuellen Lage der Dinge sehr verschieden sind. Hierin besteht die Naturerkenntnis […]«. Man ersetze in diesem Satz die Wendung »Ideen in unserem Geist« durch »empirisch gegebene Gegenstände«, und es kann nicht zweifelhaft sein, daß Paragraph 15 16

Kant (Anm. 11): B 521, A 493. Kant (Anm. 11): B 521, A 493.

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59 der »Prinzipien« in der »Kritik der reinen Vernunft« seinen Platz finden könnte, genau da nämlich, wo Kant analysiert, was Wirklichsein, Existenz in bezug auf räumlich und zeitlich entlegene Dinge bedeutet. Wenn man sagt, Gegenstände existieren »vor aller meiner Erfahrung«, empirisch unzugänglich nach Lage der Dinge, so bedeutet das nur, »daß sie in dem Teil der Erfahrung, zu welchem ich, von der Wahrnehmung anhebend, allererst fortschreiten muß, anzutreffen sind.«17 Der Sache nach dasselbe besagt J. St. Mills Antwort auf die Frage, was es heißt, ein Ding als existierend anzuerkennen, das abwesend ist und daher nicht wahrgenommen wird. Existenz in diesem Sinne sei »nur ein anderes Wort für unsere Überzeugung, daß wir es unter einer gewissen Voraussetzung wahrnehmen würden, wenn wir uns nämlich in den erforderlichen Verhältnissen des Raumes und der Zeit befänden […] Mein Glaube, daß Julius Cäsar existierte, ist mein Glaube, daß ich ihn gesehen hätte, wenn ich auf dem Schlachtfeld von Pharsalus anwesend gewesen wäre oder im Senatssaal zu Rom.« Mit anderen Worten: Das Dasein eines Dinges weisen wir nach, indem wir nachweisen, daß es durch Regeln der Sukzession oder Koexistenz mit irgendeinem bekannten Ding verknüpft ist18 – daß wir im Fortgang der Erfahrung zu seiner Wahrnehmung gelangen müssen. Die Fragen, was mit Existenz im Sinne von Wirklichsein und was mit Existenz im ontologischen Sinne gemeint ist, sind voneinander unabhängig, und deshalb folgt aus der Analyse des ersten Existenzbegriffs nichts in bezug auf den zweiten. Während die Argumentation in P § 3 offenläßt, ob Berkeley sich der Ambiguität des Wortes ›Existenz‹ bewußt ist, wird im Philosophischen Tagebuch eine ähnliche Mehrdeutigkeit direkt zur Sprache gebracht. »Nach meiner Lehre sind alle Dinge entia rationis, d. h. solum habent esse in intellectu.« (PhT 474) »Nach meiner Lehre sind nicht alle [Dinge] entia rationis. Die Unterscheidung zwischen ens rationis und ens reale wird von ihr ebensogut wie von jeder anderen Lehre aufrecht erhalten.« (PhT 474a) Entweder die beiden 17 18

Kant (Anm. 11): B 524, A 496. Mill (Anm. 9): 3. Buch, 24. Kap., § 1.

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Eintragungen widersprechen einander – »alle Dinge sind entia rationis«, »nicht alle Dinge sind entia rationis«. Das ist fraglos nicht Berkeleys Intention. Oder der Ausdruck ›ens rationis‹ ist mehrdeutig. Im empirischen Gebrauch bestimmt sich sein Sinn durch den Gegensatz zu ›ens reale‹; im ontologischen fehlt die Entgegensetzung. III. Was nehmen wir wahr? Es ist kein taktisches Manöver, wenn Berkeley immer wieder versichert, er stehe auf der Seite des Common sense, obwohl er das in ontologischer Hinsicht gewiß nicht tut; denn der Common sense ist nun einmal von Haus aus realistisch eingestellt, fest im Glauben an wahrnehmungsunabhängig existierende Dinge verwurzelt. Das Bekenntnis zu den »einfachen Eingebungen der Natur und des gesunden Menschenverstandes« (DD I, 10)19 ist einmal als Abwehrreaktion auf die überkommene philosophische Schulgelehrsamkeit zu verstehen, deren Spitzfindigkeiten, Paradoxien, Konfusionen und nichtige Kontroversen Berkeley unermüdlich geißelt. Zum anderen liegt dem Bekenntnis zum Common sense die zu damaliger Zeit keineswegs selbstverständliche Einsicht zugrunde, daß es kein erfahrungsunabhängiges Tatsachenwissen geben kann. »Daß Speise uns nährt, Schlaf erquickt, Feuer wärmt; daß das Säen zur Saatzeit erforderlich ist, um im Herbst zu ernten, und, ganz allgemein, daß für bestimmte Zwecke bestimmte Mittel dienlich sind – das alles wissen wir nicht durch Entdeckung irgendeiner notwendigen Verknüpfung zwischen unseren Ideen, sondern allein durch die Beobachtung der geltenden Naturgesetze […]« (P § 31) Der Weg der Erfahrung aber ist ein und derselbe, egal ob Idealisten oder Realisten ihn beschreiten. Wenn Hylas und Philonous Arm in Arm durch die Welt gingen, wären sie in allen empirisch entscheidbaren Fragen eines Sinnes. Vom Vorwurf einer gewissen Mehrdeutigkeit als Folge nicht hinreichend genauer Abgrenzung ontologischer und empirischer 19

Ferner P § 101, PhT, Nr. 405, 740, 751.

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Aspekte kann man Berkeley indes nicht freisprechen. In der Analyse des Existenzbegriffs in P § 3, wonach Wahrnehmungen und naturgesetzlich verbürgte Wahrnehmungsmöglichkeiten Existenz gewährleisten, glaubt Berkeley allem Anschein nach ein Argument für den Idealismus zu finden. Jeder räume ein, daß Gedanken, Affekte, Ideen der Einbildungskraft nicht außerhalb des Geistes oder unperzipiert existieren können. Und das ist in der Tat unstrittig. Ebenso offenkundig sei aber, »daß die verschiedenen Sinnesempfindungen oder den Sinnen eingeprägten Ideen, wie sie auch miteinander vermischt oder verbunden sein, d. h. was für Gegenstände sie auch bilden mögen, nicht anders als in einem sie wahrnehmenden Geist existieren können«. (P § 3) Dieser Satz enthält die idealistische Seinsannahme: Wahrnehmungsgegenstände sind nichts anderes als Komplexe von Sinnesempfindungen (sensations). In § 4 wird die ontologische Präsumtion wiederholt: Was sind Häuser, Berge, Flüsse anderes als »sensible objects«, Dinge, die wir mit den Sinnen wahrnehmen (soweit unstrittig); »und was nehmen wir wahr außer unseren eigenen Ideen oder Sinnesempfindungen?« Berkeley meint, man müsse, um die Wahrheit dieses – durchaus nicht unstrittigen – Satzes einzusehen, nur darauf achten, was der Ausdruck ›existieren‹, angewandt auf Sinnendinge (sensible things), bedeutet. (P § 3) Die Bedeutungsanalyse soll also die ontologische These stützen. Aber kann sie das? Offensichtlich nicht. Denn in begrifflich notwendiger Beziehung zur idealistischen Seinsannahme steht die Analyse doch nur dann, wenn der Ausdruck ›Sinnending‹ von vornherein idealistisch, d. h. als ›Sinnesempfindung‹, Wahrnehmung eines Sinnendinges als Haben von Sinnesempfindungen interpretiert, wenn also das zu Beweisende oder zu Erweisende schon vorausgesetzt ist. Jeder Realist bestreitet, daß dies die einzig mögliche Interpretation von ›Sinnending‹ ist. Wirklichkeitskriterien sind, wie gesagt, ontologisch neutral. Daß der Tisch existiert, heißt: er wird wahrgenommen; ist niemand da, der ihn wahrnimmt, so kann ihm Existenz in dem Sinne zugeschrieben werden, daß er unter bestimmten, im »Fortgang der Erfahrung« sich naturgesetzmäßig realisierenden Bedingungen wahrgenommen werden kann. Diese Explikation von ›existieren‹, »angewandt auf Sinnen-

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dinge«, involviert keine Festlegung bezüglich des Wahrnehmungsbegriffs: ob allein die Ideen der Sinne »in the mind«, wie Berkeley postuliert, das sind, was wahrgenommen wird, oder Gegenstände »without the mind«, wie der Common sense voraussetzt. Daher können Kant, der sich selbst einen »empirischen Realisten« nennt, Schlick, Russell und Mill20 die Analyse gleichermaßen akzeptieren. Vermutlich gebührt Thomas Reid21 das Verdienst, als erster erkannt zu haben, daß der Wahrnehmungsbegriff der Ort ist, wo sich am deutlichsten erkennbar die philosophischen Geister scheiden. Die Sinne geben uns nach Berkeley ausschließlich von unseren eigenen Sinnesempfindungen oder Ideen Kenntnis. (P § 1) Wie sollte es auch anders sein, wenn nur denkende Wesen und Ideen »in the mind« als existierend angenommen werden. Gegenstände der Sinne können unter dieser Voraussetzung nichts anderes sein als Ideen (P § 48), »wahrnehmbare Qualitäten« nichts anderes als »Sinnesempfindungen«. (P § 99, auch § 5) 22 Diesem monistischen Wahrnehmungsbegriff setzt Reid einen dualistischen entgegen. »Die äußeren Sinne erfüllen eine doppelte Funktion – sie lassen uns empfinden, und sie lassen uns wahrnehmen. Sie versehen uns mit einer Mannigfaltigkeit von Empfindungen (sensations), einige angenehm, andere unangenehm, wieder andere indifferent. Gleichzeitig vermitteln sie uns die Vor-

Aus den genannten Gründen versteht es sich von selbst, daß auch Mills Analyse des Existenzbegriffs per se keinen wesentlichen Bezug zum Phänomenalismus hat. Diesen gewinnt sie erst in Verbindung mit der Voraussetzung, daß ein Körper nichts weiter ist als »eine Gruppe von Empfindungen, oder vielmehr von Empfindungsmöglichkeiten, die nach einem festen Gesetz miteinander verknüpft sind«, so daß also, wenn Körper wahrgenommen werden, »für die Sinne nichts vorhanden (ist) als die Sinnesempfindungen.« (Mill (Anm. 9): II, 62 f.) Das Pendant hierzu bildet die phänomenalistische These, daß Aussagen über physische Dinge und deren Qualitäten in Aussagen über gegebene oder naturgesetzmäßig zu erwartende Empfindungen übersetzt werden können. 21 1710–1796, Begründer der Schottischen Schule des Common sense. 22 Vgl. DD III 98, 108. 20

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stellung der Existenz äußerer Objekte und den unerschütterlichen Glauben daran.«23 Wenn ich eine Elfenbeinkugel in die Hand nehme, habe ich bestimmte Tastempfindungen. »In den Empfindungen ist nichts Externes, Körperhaftes. Sie sind weder rund noch hart. Sie sind ein Akt des empfindenden Teils des Geistes, aus dem ich nicht vernunftgemäß die Existenz eines Körpers ableiten kann. Aber es ist ein Gesetz meiner Natur, daß mir durch die Empfindung die Vorstellung und der Glaube (belief), daß ich einen runden, harten Körper in der Hand halte, eingegeben wird.«24 An der Wesensverschiedenheit von Sinnesempfindungen und Körpern samt ihren Qualitäten liegt es, daß letztere aus ersteren zu erschließen unmöglich ist. Der Reidsche Realismus postuliert, daß durch Empfindungen als von ihnen schlechthin verschieden äußere Gegenstände für unser Bewußtsein auf einen Schlag, ohne irgendeinen Prozeß des Schließens da sind. Wie das geschieht, ist unbegreiflich, ein Geheimnis, dessen Schleier durch die Wendung »Gesetz meiner Natur« nicht gelüftet, das vielmehr dadurch nur besiegelt wird.25 So dringlich die Frage zu sein scheint, welcher Wahrnehmungsbegriff der »richtige« ist, so verfehlt dürfte sie letztlich sein. Nach welchen Kriterien sollte hier zwischen »richtig« und »falsch« unterschieden werden? Daß der Reidsche Begriff mit der realistischen Grundeinstellung des Common sense in Einklang steht, benimmt ihm nicht den Charakter der Festsetzung, der im Falle des Berkeleyschen Begriffs offensichtlich ist. Die Frage »Was nehmen wir wahr?« ist ambigue – eine Tatsachenfrage, wenn die Antwort lautet: »Wir nehmen Farben, Töne, Gerüche, Körper wie Äpfel, Häuser, Berge etc. wahr«. Keine Tatsachenfrage, wenn Berkeley antwortet: »Wir nehmen nie etwas anderes als unsere eigenen

Reid, Th. 1941: Essays on the intellectual powers of man. Ed. by A.D. Woozley. London. 164. 24 Reid (Anm. 23): 388. 25 Reid hat diesem erkenntnistheoretischen Hauptgedanken in immer neuen Formulierungen Ausdruck verliehen. (Zitate in Mill, J. St. 1908: Eine Prüfung der Philosophie Sir William Hamiltons. Halle. 239– 249) 23

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Sinnesempfindungen wahr«, und wenn Reid dem entgegenhält: »Wir nehmen durch Sinnesempfindungen externe Dinge wahr.« Im zweiten Falle wird eine Sprechweise nahegelegt. Wie wollen wir das, was wir wahrnehmen, nämlich Farben, Töne, Düfte etc., beschreiben? In einer Sprache, die, streng genommen, nur von geordneten Empfindungskomplexen zu reden gestattet (Berkeley), oder in einer Dingsprache (Reid)? Beide, Reid wie Berkeley, akzeptieren das esse-est-percipi-Prinzip, aber mit unterschiedlich weitem Geltungsbereich. Reid schränkt seine Geltung auf das ein, was unstrittig bloß mentale Existenz hat. Die Wahrnehmung nimmt er davon aus, weil diese immer ein vom Wahrnehmungsakt verschiedenes äußeres Objekt hat, dessen Existenz unabhängig davon ist, ob es wahrgenommen wird oder nicht.26 Indem Berkeley voraussetzt, daß die Wahrnehmungsgegenstände nichts anderes sind als auf mannigfache Weise miteinander »vermischte oder verbundene« Sinnesempfindungen (P § 3), mithin wie diese ein bloß mentales Dasein haben, entgrenzt er den Geltungsbereich des esse-est-percipi-Prinzips, so daß alles gegenständlich Seiende unter das Prinzip fällt. Sämtliche Folgerungen, die Berkeley aus der idealistischen Seinsannahme zieht, betrachtet Reid als korrekt. Er akzeptiert sie nicht, weil er den »philosophischen Grundsatz«, der die Basis des idealistischen Systems bildet, verwirft: »daß nämlich die unmittelbar durch die Sinne wahrgenommenen Dinge Ideen sind, die nur ein Sein im Geiste haben«27, oder anders gesagt, »daß die Sinne keine andere Bestimmung haben, als uns mit Empfindungen zu versehen«. Läßt man dies gelten, so begibt man sich der Möglichkeit, zwischen primären und sekundären Qualitäten zu unterscheiden, und selbst die Existenz einer materiellen Welt läßt sich dann nicht länger behaupten.28 IV. Ist der Idealismus beweisbar?

Reid, Th. 1983: Inquiry and Essays. Ed. by R. E. Beanblossom and K. Lehrer. Indianapolis. 84. 27 Reid (Anm. 23): 116. 28 Reid (Anm. 23): 164. 26

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Allen Empfindungen (sensations) ist nach Reid gemeinsam, daß so, wie sie nicht existieren können, ohne wahrgenommen zu werden, sie nicht wahrgenommen werden können, ohne zu existieren und das notwendigerweise (they must exist).29 Aus dieser Formulierung erhellt, daß das esse-est-percipi-Prinzip als notwendig wahrer Satz angesehen werden muß. Daß Berkeley diese Deutung dem System des Immaterialismus zugrundelegt (obwohl er sich nicht explizit so äußert), zeigen die in den Prinzipien und den Drei Dialogen zahlreich vorhandenen Kontradiktionsformeln. Ein Realist wird freilich nur einen Teil dieser Formeln als »direct«, »manifest«, »plain«, »downright«, »evident contradiction« oder »repugnancy« anerkennen, nämlich diejenigen, die sich aus »esse est percipi« mit engem Geltungsbereich ergeben. Die Behauptung, jemand habe Schmerzen, aber spüre sie nicht, ist gewiß inkonsistent, »nicht gefühlter Schmerz« eine Contradictio in adjecto.30 Und so dürfte die rhetorische Frage in P § 4, ob es nicht »klarerweise ein Widerspruch in sich« ist, von Ideen oder Sinnesempfindungen zu sagen, sie könnten unwahrgenommen existieren, schwerlich anders als mit Ja beantwortet werden. Ebenso P § 7: Da »eine Idee haben« und »perzipieren« nur verschiedene Worte für dieselbe Sache sind, stelle es einen offenbaren Widerspruch dar, »daß eine Idee in einem nicht perzipierenden Ding existiert«. Die meisten Kontradiktionsformeln hängen jedoch von der Annahme ab, daß »esse est percipi« weite Geltung besitzt. So soll die populäre Auffassung, daß Häuser, Berge, Flüsse, kurz: alle Sinnendinge ein vom Wahrgenommenwerden verschiedenes Dasein haben, einen offenkundigen Widerspruch enthalten (P § 4); die Worte »absolutes Dasein sinnlich wahrnehmbarer Objekte an sich oder außerhalb des Geistes« würden »entweder einen direkten Widerspruch oder gar nichts bedeuten« (P § 24); Ideen oder Wahrnehmungsgegenständen ein Dasein unabhängig vom Geist Reid (Anm. 26): 13 f. Auch Reid (Anm. 23): 150 f., 186. 30 »It is impossible that a man should be in pain when he does not feel pain; and when he feels pain, it is impossible that his pain should not be real, and in its degree what it is felt to be; and the same thing may be said of every sensation whatsoever.” (Reid (Anm. 23): 186) 29

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und außerhalb seiner zuzuschreiben, stelle einen Widerspruch dar (P § 56)31. Auf die Kontradiktionsformeln legt Berkeley darum großes Gewicht, weil er sie als quasi indirekten Beweis des esse-est-percipi-Prinzips mit weitem Geltungsbereich betrachtet: Angenommen (so der Gedankengang), »sensible objects« wie Häuser, Berge, Flüsse würden unperzipiert oder »without the mind« existieren; dann brauchen wir uns nur über den Sinn der Ausdrücke »sensible object« und »without the mind« Klarheit zu verschaffen, um mit voller Evidenz zu erkennen, daß diese Annahme widersprüchlich ist (P § 4); also ist das Gegenteil wahr, können Häuser, Berge, Flüsse nicht unwahrgenommen, »without the mind« existieren. Einsichtigen Kritikern32 konnte die Schwäche dieser Argumentation natürlich nicht verborgen bleiben. Ein Widerspruch entsteht ja nur dann, wenn Gegenstände wie Häuser, Berge, Flüsse denselben Seinsstatus besitzen wie Ideen, die essentiell »in the mind« sind. Nur dann ist »Wahrnehmungsgegenstand außerhalb des Geistes« eine Contradictio in adjecto wie »nicht empfundener Schmerz«. Der ontologische Status jener Gegenstände, die dem antiidealistisch eingestellten Common sense als extramental gelten, ist aber gerade der strittige Punkt. Der Anspruch, beweisbar zu sein, stellt zweifellos ein hervorstechendes Merkmal des Berkeleyschen Idealismus dar. ›Beweis‹ ist hier im Sinne von ›deduktiv korrektem Argument‹ zu verstehen. Beweisbar falsch ist eine Überzeugung dann, wenn die Annahme, sie sei wahr, zu einem Widerspruch führt. Und genau das ist Berkeleys Beweisziel: daß der Glaube »an die Existenz von Materie oder Dingen außerhalb des Geistes« trotz »allgemeiner einWeitere Kontradiktionsformeln in P §§ 9, 15, 17, 57, 73, 76, 81, 88; DD I 45, II 90, III 96 f., 118. 32 Friedrich Ueberweg, Herausgeber und Übersetzer der ersten deutschsprachigen Ausgabe der Prinzipien (1869), annotiert zu P § 1: »Indem Berkeley hier die ›Ideen‹ (Erscheinungen, welche in unserem Bewußtsein sind, sinnliche Empfindungen und Empfindungskomplexe und das daraus Erwachsende) als die Gegenstände der menschlichen Erkenntnis (›objects of human knowledge‹) bezeichnet, setzt er gerade das von ihm erst zu Erweisende sofort schon voraus, begeht also den Fehler der sog. petitio principii.« 31

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mütiger Anerkennung« (P § 54) der Glaube an etwas konzeptuell Unmögliches ist. Sein Idealismus, so Kant, vermag das Dasein der Materie nur darum zu leugnen, »weil er in der Möglichkeit der Materie überhaupt Widersprüche zu finden glaubt«.33 Im gleichen Sinne bemerkt Dugald Stewart34: »Berkeley asserts, with the most dogmatical confidence, that the existence of matter is impossible, and that the very supposition of it is absurd«; »he considered his scheme of idealism as resting on demonstrative proof«.35 Vom »dogmatischen« Idealismus Berkeleys grenzt Kant eine »skeptische« oder »problematische« Idealismus-Version ab, die er – ob zu Recht, bleibe dahingestellt – Descartes zuschreibt. Während dieser »das Dasein der Gegenstände im Raum außer uns« »für zweifelhaft und unerweislich« halte, erkläre Berkeley es »für falsch und unmöglich«.36 Sei »p« der Satz »eine materielle Außenwelt existiert«, so behauptet der problematische Idealismus »es ist nicht beweisbar, daß p«, der dogmatische hingegen »es ist beweisbar, daß nicht-p«. Ein Widerspruch im Materiebegriff würde sich unmittelbar ergeben, wenn der esse-est-percipiGrundsatz mit weitem Geltungsbereich notwendig wahr wäre. Auf der – nicht bewiesenen – Voraussetzung, daß der Satz das ist, beruht Berkeleys System.

V. Abstraktion und Allgemeinheit, Idee und Begriff Berkeley hat den Prinzipien eine als »Einführung« deklarierte philosophische Untersuchung eigener, vom Lehrbegriff des Immaterialismus unabhängiger Thematik vorangestellt. Ihr Gegenstand ist ein Kernstück der Lockeschen Sprachtheorie. Was sind, fragt Locke, die Bedingungen des geregelten Gebrauchs »allge-

Kant (Anm. 11): A 377. 1753–1828, führender Vertreter der Schottischen Common-senseSchule. 35 Stewart, D. 1855: On the idealism of Berkeley. In: Collected Works. Edinburgh. Vol. V, 88 f. 36 Kant (Anm. 11): B 274. 33

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meiner Ausdrücke« (general terms)37? Ein Prädikat ›F‹ wird bestimmten Einzeldingen zu–, anderen abgesprochen, und das nicht beliebig, sondern nach Regeln. Wie ist das möglich? Lockes Theorie der Bedeutung allgemeiner Ausdrücke beruht auf drei Annahmen. 1. Sprachliche Ausdrücke, die etwas bedeuten, sind Namen. Sie bezeichnen Ideen, Eigennamen die Ideen von Einzeldingen, allgemeine Namen etwas Allgemeines. Locke nennt es abstrakt–allgemeine Idee. 2. Wenn anschaulich gegebene Einzelideen qualitative Gemeinsamkeiten aufweisen, so kann, indem vom Spezifischen der Einzelideen abgesehen wird, das Gemeinsame isoliert vorgestellt werden. Den geistigen Prozeß des Absehens vom Spezifischen – den Übergang, wenn man so will, von den einzelnen Rotvorkommnissen hier und jetzt zur Spezies Röte – nennt Locke Abstraktion. 3. Wenn einem Einzelding ein allgemeiner Name berechtigterweise zugesprochen wird, wenn also ein Satz vom Typ ›Fa‹ (›Fido ist ein Dackel‹) wahr ist, so hat das seinen rechtfertigenden Grund darin, daß das Einzelding mit der abstrakt-allgemeinen Idee »übereinstimmt«38, die der allgemeine Name benennt oder bezeichnet. Der Gegenstand a hat ein »Anrecht« auf den allgemeinen Namen ›F‹ genau dann, wenn a mit der abstrakten Idee oder Wesenheit übereinstimmt, für die ›F‹ steht, bzw. wenn a zu der Klasse gehört, die der Gattungsname ›F‹ bezeichnet.39 Zweifellos entbehrt diese Theorie auf den ersten Blick nicht einer gewissen Plausibilität. Den Kardinalfehler, der sie unbrauchbar macht, hat Berkeley aufgezeigt. Locke, J. 1988: Versuch über den menschlichen Verstand. Hamburg. 3. Buch, 3. Kap. Locke verwendet auch die Ausdrücke »general name« und »common name«. Meistens heißt es »name«, wenn »Prädikat« gemeint ist. Prädikate sind Gattungsnamen. 38 Locke (Anm. 37): 3. Buch, 3. Kap., § 6. 39 Locke (Anm. 37): 3. Buch, 3. Kap., § 12. »Denn einer Art angehören und ein Anrecht auf den Namen jener Art besitzen ist völlig gleichbedeutend. So ist beispielsweise ein Mensch sein und der Spezies Mensch angehören sowie einen Anspruch auf den Namen ›Mensch‹ besitzen alles einerlei.« Die Individuen a, b, c …, so J. St. Mill, erhalten den Namen ›F‹, weil sie die Attribute besitzen, die mit ›F‹ verknüpft sind. Man könne daher sagen, »daß das Attribut oder die Attribute jenen Gegenständen ihre 37

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»Inkonsistenten Ideen«, sagt Locke, kann keine mentale Existenz zukommen, und a fortiori kann nichts real Seiendes durch sie bezeichnet werden.40 Dieselbe Voraussetzung macht Berkeley, nur mit dem (hier irrelevanten) Unterschied, daß er die ontologische Dichotomie von Ideen »in« und Seiendem »without the mind« beseitigt und Idee und Gegenstand identifiziert. Eine Idee muß logisch möglich sein. Die logische Möglichkeit bestimmt die Denkmöglichkeit. »Euphranor: Können Sie eine Idee von etwas bilden, das einen Widerspruch einschließt? – Alciphron: Das kann ich nicht. – Euphr.: Folglich, von dem, was völlig unmöglich ist, können sie sich keine Idee bilden? – Alc.: Das gebe ich zu.« (Alc VII, § 6) Hieraus folgt, daß nur das getrennt vorgestellt werden kann, was in gleicher Weise getrennt existieren kann. Manche Eigenschaften sind logisch von anderen Eigenschaften abhängig. Länge ohne Breite ist unmöglich (PhT Nr. 254, 722), Farbe ohne sichtbare Ausdehnung (PhT Nr. 318), Ausdehnung ohne Gestalt, Bewegung ohne Ausdehnung gleichfalls (P Einf. §§ 7, 8). Einzelne Eigenschaften können nur in voller individueller Bestimmtheit existieren. Etwas Farbiges, das nicht entweder ein Blau– oder Rot– oder Beigefarbiges etc. ist und das, wenn es blau ist, nicht einen ganz bestimmten Blauton hat, also preußischblau oder indigo oder aquamarinblau etc. ist – ein solches unbestimmtes oder unvollständig bestimmtes Seiendes ist schlechthin unmöglich. Ebensowenig kann es etwas geben, das unspezifisch bloß Kreis ist ohne bestimmte Radiuslänge oder Dreieck im allgemeinen, ohne spitzwinklig oder rechtwinklig oder stumpfwinklig zu sein. Berkeleys Kritik der Lockeschen Ideensemantik läßt sich in der Feststellung zusammenfassen, daß die angeblich durch Abstraktion gewonnenen Allgemeinideen nichts anderes sind als Ideen dergestalt unvollständig bestimmter Gegenstände oder unvollständig bestimmte Ideen. Allgemeine Gegenstände (Universalien) sind essentiell unmöglich (inconsistent, P Einf. § 14), enthalten »in ihrem Wesen einen Benennung oder einen gemeinsamen Namen verleihen.« (Mill (Anm. 9) 1. Buch, 2. Kap., § 5) 40 Locke (Anm. 37): 3. Buch, 10. Kap., § 33.

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Widerspruch« (PhT Nr. 561). Daraus folgt natürlich unmittelbar, daß allgemeine Ausdrücke keine Namen sein können. Sie benennen nichts, weil es nichts gibt, das sie als »general terms« benennen könnten. Ungeachtet seines geradezu sprichwörtlichen »anti-abstractionism« ist Berkeley weit davon entfernt, dem menschlichen Verstand die Fähigkeit, abstrahierend zu denken, abzusprechen. Er verwendet für diese grundlegende kognitive Leistung, die ganz einfach Tatsache ist und als solche anerkannt werden muß, den Ausdruck »to consider« – etwas als etwas betrachten. Diese Verstandesleistung ist darum fundamental, weil die Bildung klassifikatorischer Begriffe auf ihr beruht. »x als F betrachten« ist, wenn schon nicht dasselbe wie »x als Element der Klasse betrachten, die der Bedingung F genügt«, so jedenfalls conditio sine qua non in dem Sinne, daß letzteres, Klassifikation, ohne ersteres, die Fähigkeit der Betrachtung eines Gegenstandes bloß als soundso, nicht denkbar ist. Es müsse die Möglichkeit eingeräumt werden, »eine Figur bloß als Dreieck zu betrachten (to consider), ohne Berücksichtigung der besonderen Beschaffenheit der Winkel oder Seitenverhältnisse. Insoweit kann man abstrahieren […]« (P Einf. § 16) Das beweise jedoch keineswegs, daß es möglich sei, die abstrakt–allgemeine, inkonsistente Idee von etwas zu bilden, das unspezifisch bloß Dreieck ist, ohne gleichseitig oder gleichschenklig oder ungleichseitig etc. zu sein. Im Unterschied zur Wahrnehmung, Erinnerung und Einbildung ist das bloß-alssoundso-Betrachten keine ideenbildende geistige Tätigkeit. Viele im eigentlichen Sinne begriffliche Operationen führt Berkeley auf dieses Vermögen zurück. Wenn mit Hilfe einer geometrischen Konstruktion exemplarisch etwas für alle Objekte einer bestimmten Klasse gezeigt wird, so vertreten einzelne Linien und Figuren »unzählige andere von unterschiedlicher Größe«. Der Mathematiker »betrachtet sie (to consider), indem er von ihrer Größe abstrahiert, was indessen nicht bedeutet, daß er eine abstrakte Idee bildet, sondern nur, daß er sich nicht darum kümmert, ob die einzelne Größe eine beträchtliche oder geringfügige ist, mithin daß er sie als für den Beweisgang irrelevant ansieht«. (P § 126, vgl. P Einf. § 16) Das Philosophische Tagebuch unterscheidet zwi-

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schen »considering length without breadth« (was ohne weiteres möglich ist) und »having an idea or imagining length without breadth« (was schlechthin unmöglich ist). (PhT Nr. 254)41 Man kann Länge ohne Breite nicht gegenständlich-vorstellend oder im Modus der Idee denken. Aber man kann Länge und Breite gedanklich sondern (to consider asunder) und tut es, wenn man den Begriff Länge bildet. (PhT Nr. 318) Philonous erklärt, es sei nicht schwer, »allgemeine Sätze und Schlüsse über Qualitäten [wie Ausdehnung und Bewegung] zu bilden, ohne irgendwelche anderen zu erwähnen und sie in diesem Sinne abstrahiert zu betrachten und zu behandeln (to consider or treat of them abstractedly)«. (DD I, 42) Inwiefern Abstraktion möglich, inwiefern sie unmöglich ist, läßt sich in einem Satz sagen: Wir können Gegenstände unspezifisch bloß als F betrachten, aber es kann kein Gegenstand existieren, der unspezifisch bloß F wäre oder F ohne G, wenn F und G wie Länge und Breite, Farbe und Ausdehnung notwendig zusammengehören. Damit ist zugleich die Frage nach den Bedingungen beantwortet, unter denen Zeichen auf geregelte Weise allgemein gebraucht werden können. Eine Idee ist an und für sich etwas einzelnes (particular). Allgemein wird sie dadurch, daß sie »als Repräsentant oder Stellvertreter aller anderen Einzelideen derselben Art gebraucht wird«.(P Einf. § 12) Wenn wir in der Geometrie zeigen, wie eine Strecke zu halbieren ist, so betrachten wir diese eine Strecke bloß als Strecke, d. h. als Stellvertreter jeder beliebigen Strecke gleich welcher Länge, Breite und sonstigen Beschaf»Wir können eine Idee von Länge ohne Breite oder Sichtbarkeit ebensowenig haben wie von einer allgemeinen Figur.« (PhT Nr. 483) Schon die Logik von Port Royal (1662) weist im Zusammenhang mit der sog. »Abstraktion des Geistes« darauf hin, daß in der Geometrie keineswegs die Existenz von Linien ohne Breite angenommen wird. Es komme nur darauf an, daß man die Länge betrachten kann (considérer), ohne auf die Breite zu achten, was unzweifelhaft ist, so wie man beim Messen der Entfernung einer Stadt von einer anderen nur die Länge der Wege mißt, ohne sich um die Breite zu kümmern. (Arnauld, A.; Nicole, P. 1994: Die Logik oder die Kunst des Denkens (1662). Hg. v. Ch. Axelos. Darmstadt. 45) 41

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fenheit, und wir zeigen dergestalt exemplarisch etwas für alle Strecken oder im allgemeinen. (P Einf. § 12) In einem solchen Falle exemplarischer Generalisierung sind repräsentierende und repräsentierte Idee gleichartig. Doch verhält es sich nicht prinzipiell anders, wenn, wie gewöhnlich, Zeichen und Bezeichnetes – das Notenzeichen für den Kammerton a und Kammerton-a-Vorkommnisse, das Wort ›Strecke‹ und einzelne Strecken – ungleichartig sind. So wie die Allgemeinheit jener Strecke nicht darauf beruht, daß sie Zeichen einer abstrakt-allgemeinen Strecke ist, sondern darauf, daß sie alle möglichen einzelnen Strecken repräsentiert, so ist das Wortzeichen ›Strecke‹ deshalb ein allgemeiner Ausdruck, weil es unterschiedslos auf jede beliebige Strecke angewendet wird. Die Lehre von den abstrakt-allgemeinen Ideen hat, folgt man Berkeley, eine Unmenge von Irrtümern in Philosophie und Wissenschaft verschuldet. Diese Schuldzuschreibungen sind nicht immer nachvollziehbar. Offenkundig aber dürfte folgender Zusammenhang sein: Abstraktion in dem von Berkeley erledigend kritisierten Sinne bedeutet Trennung von wesensnotwendig Untrennbarem, mithin etwas Unmögliches. Da Berkeley »esse est percipi« als notwendige Wahrheit, die Trennung von »esse« und »percipi« folglich als logisch unmöglich ansieht, stellt er von seinem Standpunkt aus völlig zu Recht die Frage, ob es »nicht die Abstraktion auf die Spitze treiben heißt, wenn die Existenz wahrnehmbarer Gegenstände vom Wahrgenommenwerden unterschieden wird, so daß man sich vorstellt, sie existierten unwahrgenommen« (P § 5). Ideen und Geister gelten Berkeley als schlechthin verschieden, bar jeder Gemeinsamkeit. Daher sind Ausdrücke wie ›Existenz‹ und ›Erkenntnis‹, die auf beide Arten von Entitäten Anwendung finden, systematisch mehrdeutig. (P § 140) Ideenerkenntnis besteht zum einen im Erfahrungswissen von regelmäßiger Koexistenz oder Sukzession der Ideen. Vernunftgemäßes Folgern einer Eigenschaft aus einer anderen Eigenschaft, wo eine notwendige Verknüpfung besteht (ThdSv § 42), bildet die zweite Art von Ideenerkenntnis. Eine befriedigende Explikation des Begriffs der Geisteserkenntnis ist Berkeley schuldig geblieben.42 Fest steht für

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ihn, daß es Erkenntnis des Geistes durch sich selbst gibt. »Ich habe Kenntnis oder Bewußtsein von meinem eigenen Dasein und daß ich selbst nicht meine Ideen bin, sondern etwas anderes, nämlich ein geistiges tätiges Prinzip, das wahrnimmt, erkennt, will und mit Ideen operiert.« (DD III, 103) Ideen sind ihrem Wesen nach inaktive, kraftlos verfließende Entitäten und daher essentiell unfähig, das aktive Prinzip Geist abzubilden oder darzustellen.43 Das Wissen, daß das, »was ich Gemüt, Geist, Seele oder mich selbst nenne« (P § 2), existiert und daß ich eine »tätige einfache Substanz« (P § 141) bin, wird man als Intuition sui generis gelten lassen müssen. Nicht ohne Ironie bemerkt Hume, daß einem »Metaphysiker«, der sich eines solchen Ego zu erfreuen meint, das spezielle Ichbewußtsein nicht streitig gemacht werden könne; er, Hume, freilich wisse von dergleichen nichts.44 Des öfteren erklärt Berkeley, daß wir von uns selbst als Geistoder Seelenwesen sowie von geistigen Tätigkeiten wie Wollen, Lieben, Hassen zwar keine Idee, wohl aber einen »Begriff« (notion) haben (P §§ 27, 140, 142), und er begründet diese Ansicht damit, daß wir den Sinn der entsprechenden Termini verstehen; »anderenfalls könnten wir nichts davon bejahen oder verneinen«. (P § 140) Diese Antwort auf die Frage nach der Natur des Wissens, das der Geist von sich selbst hat, scheint einigermaßen ad

Zu berücksichtigen ist hier, daß die Prinzipien als dreiteiliges Werk konzipiert waren. Die Teile II und III, in denen Ethik, Philosophie des Geistes und Probleme der Naturphilosophie behandelt werden sollten, sind nie erschienen. 43 Mitunter wird eingewandt, es widerspreche der aktiven Natur des Geistes, daß wir Sinneswahrnehmungen als gegeben, den Sinnen »eingeprägt«, uns selbst also im Wahrnehmen als passiv oder »leidend« erleben. Aber die Bestimmung der Wahrnehmung als aufnehmendes Haben gegebener Ideen ist mit Berkeleys radikal aktualistischem Geistbegriff durchaus verträglich. Daß der Geist tätig ist, besagt: Seine Existenzweise ist Vollzug, und das ist er im empfangenden Haben von Ideen (percipere) nicht anders als im willentlichen Einwirken auf Ideen (velle, i. e. agere). 44 Hume, D. 1973: Ein Traktat über die menschliche Natur (1739/40). Deutsch v. Th. Lipps. Neu hg. v. R. Brandt. Hamburg. 1. Buch, 4. Teil, 6. Abschnitt. 42

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hoc zu sein. Aber ›notion‹ ist nicht einfach Ausdruck einer epistemologischen Verlegenheit. Der entscheidende Satz findet sich in den Ergänzungen der zweiten Auflage der Prinzipien: »Was ich weiß, davon habe ich einen Begriff.« (P § 142) Berkeley sucht mit dieser Feststellung dem zuvor stiefmütterlich behandelten, wenn nicht gar gänzlich vernachlässigten Umstand gerecht zu werden, daß Wissen auch bei vorhandenem Ideenbezug prinzipiell »mehr« als Ideenwahrnehmung und in vielen Fällen sogar vollkommen ideenunabhängig ist. Jede Zuschreibung einer Eigenschaft zu einem »sinnlichen Ding«, z. B. das Urteil, daß dieser Fleck hier rot ist, schließt die von Berkeley »to consider« genannte kognitive Leistung ein, die weder eine Art des Habens von Ideen noch auf eine solche zurückführbar ist. Dasselbe gilt von hinweisenden Erklärungen. Was ›saccharinsüß‹ bedeutet, kann ohne bestimmte Sinneseindrücke, ohne etwas saccharinsüß Schmeckendes als Beispiel nicht verstanden werden. Aber eine gegebene Idee als Beispiel, als Fall von […] auffassen impliziert, daß sie dem Berkeleyschen Abstraktionsbegriff gemäß bloß als soundso betrachtet wird. Insofern besteht zwischen Eigenschaften und Relationen kein Unterschied; und wenn Berkeley letztere dem Begriff ›notion‹ mit der Begründung subsumiert, daß sie eine geistige Tätigkeit einschließen (P § 142), dann trifft für Eigenschaften dasselbe zu. Allgemeine Namen, Prädikate stehen nicht für Ideen, aber sie haben Sinn, der erklärt werden kann, in elementaren Fällen paradigmatisch, durch Hinweis. Es gibt keine Idee der größten natürlichen Zahl. Doch würden wir nicht einmal die Frage, ob es eine solche Zahl gibt, verstehen, wenn wir nicht mit der Wortfolge ›größte natürliche Zahl‹ Sinn verbinden würden. Das in sich Widersprüchliche, von dem keine Idee gebildet werden kann, z. B. Materie (unter idealistischen Voraussetzungen) oder abstrakt-allgemeine Idee à la Locke, muß doch denkend in Betracht gezogen werden können, und das setzt voraus, daß Wörter ideenunabhängig Sinn haben können. Auch Leibniz erklärt, wir hätten von »unmöglichen Dingen« keine Idee, und weist die Auffassung zurück, daß »wir notwendig die Idee einer Sache haben müssen, um über sie – mit Verständnis dessen, was wir sagen – sprechen zu können«.45 Ideenbezug stellt keine conditio sine qua

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non sinnvoller Zeichenverwendung dar. Mit einiger Berechtigung kann so die Deutungshypothese aufgestellt werden, daß das mit ›notion‹ Gemeinte partiell dem entspricht, was heute Intension genannt wird. VI. Kausalität Die idealistische Seinsannahme, daß es nichts gibt außer Geist und Ideen »in the mind«, ist sicherlich die wichtigste, aber keineswegs die einzige Voraussetzung der theoretischen Philosophie Berkeleys. Hinzukommt als weitere Voraussetzung das bereits erwähnte Prinzip des Empirismus, das Berkeley im Philosophischen Tagebuch so formuliert: »Ich meine nicht, daß sich Dinge mit Notwendigkeit ereignen. Keine Verknüpfung von zwei Ideen ist notwendig.« (PhT Nr. 884)46 Numerisch verschiedene Ideen – Dinge, Weltzustände (in nichtidealistischer Sprache) – sind voneinander logisch unabhängig. Und das erklärt, weshalb nur Sequenzen, niemals Konsequenzen beobachtbar sind. Weil in der Natur nichts notwendigerweise so ist, wie es ist, kann niemals a priori von einem Datum in der Sphäre der Ideen auf ein anderes Datum geschlossen werden. Nur durch Erfahrung, »die uns lehrt, daß bestimmte Ideen bestimmte andere Ideen im gewöhnlichen Lauf der Dinge begleiten« (P § 30), können Tatsachenzusammenhänge erkannt werden. Für das Bestehen einer festen, gesetzmäßigen, vulgo: naturnotwendigen Ideenverbindung gibt es kein anderes Kriterium als die Gleichförmigkeit der Folgeordnung der Ideen. Berkeley deutet Naturgesetze strikt regularitätstheoretisch als generelle Aussagen über uniforme Ereignisverläufe. Naturnotwendigkeit ist Regelmäßigkeit der Abfolge, sonst nichts. Die Na-

Leibniz (Anm. 14): Band I. 25 f. Zur Erläuterung eine Formulierung des Prinzips aus jüngster Zeit. »Keine zwei Ereignisse oder Teile der Welt oder Zustände von Dingen oder Phasen von Ereignissen – kurz: keine zwei distinkten Weltzustände sind derart miteinander verbunden, daß der eine so sein muß, wie er ist, wenn der andere so ist, wie er eben ist.« (Danto, A. C. 1968: Analytical philosophy of knowledge. Cambridge. 61) 45 46

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tur erkennen heißt: auf der Grundlage der Erfahrung gegebener Ideensequenzen bestätigungsfähige Prognosen aufstellen, »sichere und wohlbegründete Voraussagen machen, welche Ideen uns infolge einer großen Menge von Handlungen gegeben sein werden«. (P § 59) Naturerkenntnis besteht im Wissen, unter welchen Bedingungen (immer wenn […]) wir welche Sinneswahrnehmungen (dann […]) zu erwarten haben. Das Prinzip des Empirismus verbindet Berkeleys Erkenntnisbegriff mit demjenigen Humes. Auch dessen Analyse kausalen Schließens basiert bekanntlich auf dem Grundsatz der logischen Unabhängigkeit verschiedener Dinge, Ereignisse, Zustände voneinander. »Kein Gegenstand schließt die Existenz eines anderen in sich.«47 »Alle die Dinge, von denen wir die einen Ursache, die anderen Wirkung nennen, sind an sich betrachtet, ebenso gesondert und voneinander getrennt wie irgendwelche zwei Dinge in der Natur; und wir können niemals […] auf das Dasein des einen aus dem des anderen [aus bloßer Vernunft, a priori] schließen.«48 Der Erfahrungsschluß aber, konstitutiv für unser Tatsachenwissen, sofern es über das gegenwärtige Zeugnis der Sinne hinausreicht, hat keine andere objektive Grundlage als die beständige Verbindung der Dinge. Ein Fehler wäre es freilich, wenn unter dem Eindruck so weitreichender Übereinstimmung zwischen Berkeley und Hume das zutiefst Trennende übersehen würde. Für die Dingwelt akzeptiert Berkeley das Prinzip des Empirismus. Zugleich betrachtet er – dies eine weitere Voraussetzung seines Systems – den Satz »ex nihilo nihil fit« als »Axiom«, das, in die Sprache der Ideenphilosophie übersetzt, besagt: »jede Idee hat eine Ursache.« (PhT Nr. 831) Beide Grundsätze dürften nur dann miteinander vereinbar sein, wenn, wie es im Philosophischen Tagebuch heißt, sorgfältig zwischen zwei Arten von Ursachen unterschieden wird. Berkeley nennt sie »physische und geistige Ursachen«. »Jene können passender ›Gelegenheiten‹49 genannt werden, doch wir können sie (um entgegenkommend zu sein) ›Ursachen‹ nennen, aber dann 47 48

Hume (Anm. 44): 1. Buch, 3. Teil, 6. Abschnitt. Hume (Anm. 44): 2. Buch, 3. Teil, 1. Abschnitt.

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müssen wir ›Ursachen, die nichts tun‹ meinen.« (PhT Nr. 855, 856) Die zweite Art sind wirkende Ursachen. Keine Idee kann im genuinen Sinne Ursache einer anderen Idee sein. Sind A und B Klassen von Ideen, so bedeutet der Satz »A verursacht B«, daß »bei Gelegenheit« (occasion) einer A-Idee als Antezedens beständig eine B-Idee eintritt. Nach idealistischer Voraussetzung gibt es genau zwei Klassen von Entitäten, Geistwesen und Ideen »in the mind«. Da letztere kausal ohnmächtig sind, kommt allein Geist als tätige Ursache in Betracht. In Übereinstimmung mit der ontologischen Formel »Existenz ist percipi [wahrgenommenwerden] oder percipere [wahrnehmen] oder velle, i. e. agere [wollen, d. h. handeln]« (PhT Nr. 429, 429a) fügt Berkeley seiner Version des Grundsatzes »ex nihilo nihil fit« »jede Idee hat eine Ursache« die Erläuterung hinzu »d. h. ist von einem Willen hervorgebracht«. Weit davon entfernt, »ex nihilo nihil fit« in den Rang eines Axioms zu erheben, erklärt Hume vielmehr, der Satz werde durch seine Philosophie außer Geltung gesetzt.50 Auch fehlt vom Humeschen Standpunkt aus der Unterscheidung zwischen wirkenden Ursachen und »Ursachen, die nichts tun« das fundamentum in re. Da das, was die Ausdrücke ›Tätigkeit‹, ›Hervorbringen‹, ›Wirksamkeit‹ bedeuten, aus der konstanten Verbindung der Gegenstände resultiert und sich, objektiv betrachtet, darin erschöpft, so muß, wo eine solche Verbindung besteht, die Ursache für eine genuine, wirkende Ursache gelten. Fehlt die konstante Verbindung, so kann von Ursächlichkeit überhaupt nicht die Rede sein. Die Unterscheidung von Ursache und Veranlassung (occasion) ist daher zu verwerfen.51 Als »töricht und unverständlich« bezeichnet Berkeley jene Bewußtseinsdisposition, die der Auch »occasional causes« = Gelegenheitsursachen (The works II, 280). Eine kausale Interaktion der beiden Substanzen Körper und Geist unter der Voraussetzung ihrer völligen Heterogenität, wie sie von Descartes postuliert wurde, erschien undenkbar. Die Okkasionalisten Geulincx und Malebranche lösten das Problem mit Hilfe der Annahme, daß Gott »bei Gelegenheit« des einen das jeweils andere – bei Gelegenheit des Reizes die Empfindung, des Willensaktesdie Körperbewegung–hervorruft. 50 Hume, D. 1973: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Hg. v. R. Richter. Hamburg. 192. 49

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Humeschen Analyse zufolge das subjektive Merkmal des Kausalbegriffs bildet, sc. die gewohnheitsmäßige Tendenz, das post hoc, wenn die Bedingung der Regelmäßigkeit erfüllt ist, als propter hoc aufzufassen bzw. Kraft und Notwendigkeit, die »etwas innerlich vom Geist Gefühltes«52, nichts objektiv Vorhandenes sind, in die Gegenstände zu projizieren. Konstanz der Ereignisabfolge und die subjektive, gewohnheitsbedingte »Nötigung«, prospektiv oder retrospektiv das eine Ereignis aus dem anderen abzuleiten – das sind die beiden Faktoren, die den vollen Humeschen Begriff der Kausalität ausmachen.53 Wenn wir bemerken, erklärt Berkeley, »daß bestimmten Ideen der Sinne bestimmte andere Ideen beständig folgen, und wenn wir wissen, daß dies nicht durch uns geschieht, so schreiben wir sogleich Kraft und Wirksamkeit den Ideen selbst zu und machen die eine zur Ursache der anderen […] So läßt die Wahrnehmung, daß Bewegung und Kollision von Körpern mit Schall einhergehen, in uns die Neigung entstehen, diesen als Wirkung jener anzusehen.« (P § 32) Wir verwechseln m.a.W., wenn wir das post hoc in ein propter hoc umdeuten, Gelegenheiten mit wirkenden Ursachen. Hume, der die Unterscheidung von Gelegenheiten und Ursachen zurückweist, kann jene Tendenz wertfrei als Tatsache des Bewußtseins anerkennen. Aus Berkeleys Sicht handelt es sich um eine Fehlleistung unseres Denkens. Sie bedarf in ähnlicher Weise der Richtigstellung durch philosophische Analyse wie der natürliche Außenweltglaube, den Berkeley darauf zurückführt, daß wir unsere Wahrnehmungen als gegeben, den Sinnen oktroyiert, von unserer Willenstätigkeit unabhängig erleben (P § 56).

Hume (Anm. 44): 1. Buch, 3. Teil, 14. Abschnitt. Thomas Reid sucht die Unterscheidung von Gelegenheiten und wirkenden Ursachen zu rehabilitieren. Vgl. Essays on the active powers of man, Essay I, Chap. 6: Of the efficient causes of the phaenomena of nature (Reid (Anm. 26): 309 ff.) An Hume anknüpfend erklärt J. St. Mill den Begriff der physischen Ursache für den allein wissenschaftlich brauchbaren Begriff. (Mill (Anm. 9): 3. Buch, 5. Kap., § 1) 52 Hume (Anm. 44): 1. Buch, 3. Teil, 14. Abschnitt. 53 Hume (Anm. 44): 1. Buch, 3. Teil, 14. Abschnitt. 51

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Eine wertfreie psychologische Analyse dessen, was aus metaphysischer Sicht eine Verwechslung von Gelegenheiten mit Ursachen darstellt, nämlich als Beispiel dichter assoziativer Ideenverbindung, beruhend auf der Erfahrung regelmäßiger Koexistenz, ist freilich auch nach Berkeley nicht ausgeschlossen. Er bezeichnet diese erkenntnistheoretisch überaus bedeutsame Synthesisleistung als »suggestion«. (Vgl. P § 43 f.) Wenn wir – Berkeleys Beispiel (ThdS § 46, DD I, 58) – eine Kutsche vorüberfahren hören, nehmen wir eine bestimmte Geräuschfolge wahr. Suggeriert wird uns dadurch die Erwartung, daß der enge raum-zeitliche Konnex zwischen dem Geräusch und spezifischen Wahrnehmungen des Gesichts- und des Tastsinns, wie er in der Vergangenheit immer bestanden hat, auch jetzt wieder besteht, so daß, wenn bestimmte Beobachtungsbedingungen erfüllt wären, wir das sehen und tasten würden, was über die Geräuschsequenz hinaus für die Wahrnehmung einer Kutsche konstitutiv ist. Nicht anders, wenn es heißt, man sehe einen rotglühenden Eisenstab. Dichte und Hitze des Eisens sind nicht Gegenstand des Gesichtssinns, sondern werden durch Farbe und Gestalt, die das eigentlich und unmittelbar Gesehene sind, »in der Einbildungskraft hervorgerufen« (DD I, 58). »Suggestion« meint unbewußtes induktives Schließen mittels Erinnerung und Einbildungskraft. Der Dichotomie der Ursachen korrespondieren zwei Formen von Erklärungen: Tatsachenerklärungen durch Subsumtion unter Naturgesetze, d. h. empirisch bewährte Regularitätsannahmen, und echte Kausalerklärungen, die es nur in der Metaphysik gibt. Über die methodisch opake zweite Erklärungsart sagt Berkeley wenig Erhellendes. Sie beruhe auf »Nachdenken und vernünftiger Überlegung«. In der Physik, heißt es am Ende des wissenschaftstheoretisch bedeutenden Traktats De motu (Über die Bewegung), haben die Sinne und die Erfahrung ihren Platz. »In der Ersten Philosophie oder Metaphysik wird von unkörperlichen Dingen, von Ursachen, Wahrheit und Existenz der Dinge gehandelt.« Die Physiker betrachten »die Reihen oder Sukzessionen der wahrnehmbaren Dinge«, und im Hinblick auf die Folgeordnung der Erscheinungen sagen wir, daß ein bewegter Körper die Ursache der Bewegung eines anderen Körper sei. Wir sagen

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dies »ohne Rücksicht auf den wahren Sitz der Kräfte, d. h. der aktiven Fähigkeiten, oder die wirkliche Ursache, in der sie enthalten sind.« »Die wahrhaft aktiven Ursachen können nur durch Nachdenken und vernünftige Überlegung aus der Finsternis, in die sie eingehüllt sind, hervorgeholt und bis zu einem gewissen Grade erkannt werden.« (DM §§ 71, 72)54 Weil Naturgesetze sich nur auf Koexistenz und Sukzession der Phänomene, auf die wahrnehmbaren Wirkungen beziehen, die hervorbringenden Ursachen aber gar nicht unter die Erfahrungsgegenstände fallen, ist es illusorisch zu glauben, die exakte Naturwissenschaft (natural philosophy) könne zu ihrer Erkenntnis beitragen. (P § 107) Von diesem Ziel sind Alltagserfahrung und wissenschaftliche Erfahrung gleich weit entfernt. Nicht ein tieferes Verständnis dessen, wodurch die Erscheinungen im genuinen Sinne hervorgebracht werden, hat der Naturforscher dem wissenschaftlichen Laien voraus, sondern eine Erweiterung des Gesichtskreises, wodurch »Analogien, Gleichklänge und Übereinstimmungen in den Werken der Natur entdeckt und die einzelnen Erscheinungen erklärt, d. h. auf allgemeine Regeln zurückgeführt werden.« Diese auf der Gleichförmigkeit der Phänomene basierenden Regeln stehen darum im Fokus unseres Erkenntnisinteresses, weil sie unseren Horizont über das Gegenwärtige und Nahegelegene hinaus erweitern und uns befähigen, »sehr wahrscheinliche Vermutungen« über räumlich und zeitlich ferne Objekte anzustellen und künftige Ereignisverläufe vorherzusagen. (P § 105) Der Grundsatz »jede Idee hat eine Ursache« stellt eine unabdingbare Voraussetzung des Berkeleyschen Gottesbeweises dar. Aus dem Satz und aus der kontingenten Prämisse, daß es Ideen gibt, folgt, daß es mindestens eine Ideenursache gibt. Sie kann, weil Ideen kausal ohnmächtig sind, nur geistiger Natur sein. »Aus unseren Ideen der Sinne«, heißt es in der Verteidigungsschrift zur Theorie des Sehens, »ist ein Vernunftschluß möglich auf Zur Erläuterung der Wendung »wahrer Sitz der Kräfte« verweist W. Breidert, Herausgeber der mathematisch-physikalischen Schriften Berkeleys, auf Newtons Devise: »virium causas et sedes physicas jam non expendo« (DM § 71). 54

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eine Kraft, eine Ursache, einen Urheber« (ThdSV § 11) – möglich unter der Voraussetzung, daß jede Idee eine Ursache hat; denn aus einem Sinnesdatum als solchem läßt sich weder ein anderes Sinnesdatum noch sonst etwas von dem Datum Verschiedenes erschließen. Könnte ich selbst erzeugende Ursache meiner Sinneswahrnehmungen sein? Logisch unmöglich ist das sicherlich nicht.55 Berkeley schließt autogene Wahrnehmungsverursachung mit der Begründung aus, daß wir keine Willensmacht über unsere Sinnesideen haben. Sie sind uns von außen »eingeprägt«. (P §§ 29, 146) Wenn es also Ideenursachen gibt, so müssen sie geistiger Natur sein, und wenn ich selbst nicht Ursache meiner Ideen bin, dann »existiert ein anderer Geist, der sie verursacht.« (P § 146) Im Philosophischen Tagebuch notiert Berkeley: »Jede meiner Empfindungen, die infolge der allgemeinen bekannten Naturgesetze vorkommt und von außen, d. h. unabhängig von meinem Willen ist, beweist das Dasein eines Gottes, d. h. eines unausgedehnten, unkörperlichen Wesens, das allwissend, allmächtig usw. ist.« (PhT Nr. 838) Auch in diesem Zusammenhang ist, wenn nur so etwas wie die Skizze eines Beweises gewonnen werden soll, das Prinzip »keine Idee ohne Ursache« vorauszusetzen. Denn die metaphysische Deutung der Naturgesetze als Willensmanifestationen Gottes (P § 30) verbietet sich hier. Empfindungen aber in der gesetzmäßigen Ordnung ihres Auftretens In einem schönen Gedankenexperiment spielt H. v. Helmholtz diese Möglichkeit durch: »Wir glauben träumend eine Bewegung zu vollführen, und wir träumen dann weiter, daß dasjenige geschieht, was davon die natürliche Folge sein sollte. Wir träumen in einen Kahn zu steigen, ihn vom Land abzustoßen, auf das Wasser hinaus zu gleiten, die umringenden Gegenstände sich verschieben zu sehen u. s. w. Hierbei scheint die Erwartung des Träumenden, daß er die Folgen seiner Handlung eintreten sehen werde, die geträumte Wahrnehmung auf rein psychischem Wege herbeizuführen. Wer weiß zu sagen, wie lang und fein ausgesponnen, wie folgerichtig durchgeführt ein solcher Traum werden könnte. Wenn alles darin im höchsten Grade gesetzmäßig der Naturordnung folgend geschähe, so würde kein anderer Unterschied vom Wachen bestehen, als die Möglichkeit des Erwachens, das Abreißen dieser geträumten Reihe von Anschauungen.« (Helmholtz, H. v. 1959: Die Tatsachen in der Wahrnehmung. Darmstadt. 40) 55

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beweisen als solche gar nichts. Der Grundsatz »jede Idee hat eine Ursache« ist freilich ein recht schwaches Prinzip, das über die Beschaffenheit der Ursache nichts aussagt und nichts zu schließen gestattet – ein Umstand, der Maupertuis zu folgendem skeptischem Einwurf veranlaßt: »Was nützt es zu sagen, daß es etwas gibt, das bewirkt, daß ich die Wahrnehmungen ›ich sehe‹, ›ich taste‹, ›ich höre‹ habe, wenn das, was ich sehe, was ich taste, was ich höre, diesem Etwas nicht ähnelt? Ich gebe zu, daß es eine Ursache gibt, von der alle unsere Wahrnehmungen abhängen; denn nichts ist ohne Grund so, wie es ist. Aber was für eine Ursache ist das? Ich kann sie nicht ergründen.«56 Zur näheren attributiven Bestimmung der göttlichen Universalursache im Sinne des Theismus gelangt Berkeley durch das »argument from design«. Aus der Betrachtung der Natur, ihrer erhabenen Harmonie, Schönheit und Zweckmäßigkeit gewinnen wir die Gewißheit, daß der alles hervorbringende Geist die Attribute »einzig, ewig, unendlich weise, gut und vollkommen« besitzt. (P § 146, § 72) Dem Problem der Theodizee schenkt Berkeley kaum Beachtung. Daß der Allmächtige nicht in einer uns chaotisch erscheinenden Weise, sondern nach erkennbaren Regeln handelt, deren Beachtung den Menschen eine vorausschauende Lebensführung ermöglicht, beweist hinlänglich seine Fürsorglichkeit und Güte. Die Tatsache, daß Ordnung im Universum herrscht, kompensiert im Übermaß Widrigkeiten wie das Leiden der Geschöpfe – »einzelne Unzuträglichkeiten« (P § 151), die sich aus eben dieser gesetzmäßigen Ordnung der Dinge herleiten. Die Unterscheidung von Gelegenheiten und echten, erzeugenden Ursachen wird – eine Berkeleysche Besonderheit – durch eine semiotische Deutung des Kausalverhältnisses ergänzt. Die Verknüpfung der Ideen, heißt es in P § 65, schließt nicht »die Beziehung von Ursache und Wirkung ein, sondern nur die des Merkmals oder Zeichens zum bezeichneten Ding. Das Feuer, das ich sehe,

Maupertuis, P. L. M. de 1988: Sprachphilosophische Schriften. Hg. v. W. Franzen. Hamburg. 18. 56

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ist nicht die Ursache des Schmerzes, den ich empfinde, wenn ich in seine Nähe komme, sondern das Merkzeichen, das mich davor warnt. Gleichermaßen ist das Geräusch, das ich höre, nicht die Wirkung der Bewegung oder des Zusammenpralls uns umgebender Körper, sondern das Zeichen dessen.«57 Diese Auffassung von Kausalität steht mit Berkeleys voluntaristischem Naturverständnis in Einklang. Wollen, Handeln und Ursächlichkeit sind eins. Die göttliche Universalursache kann freilich nur vernunftgeleitetes Wollen, kein blindes Prinzip sein; denn »ein verständnislos Handelnder (blind agent) ist ein Widerspruch«. (PhT Nr. 812) Die Deutung der wahrnehmbaren Erscheinungen als an den menschlichen Intellekt gerichtete und durch ihn zu entziffernde Zeichensprache Gottes bildet ein Hauptmotiv in Berkeleys theologischen Spekulationen, das, vielfältig variiert, Früh- und Spätwerk, die esoterischen Konsequenzen der Theorie des Sehens (1709) und die mystische Naturphilosophie der Siris (1744) miteinander verbindet. VII. Konsequenzen der Lehre Philosophie versteht sich für Berkeley niemals als bloßes begriffliches Glasperlenspiel. Sie ist Streit, Fehde, Auseinandersetzung im Dienste der Wahrheit und zum höheren Ruhme Gottes. Die Kampfansage an Skeptiker und Feinde der Religion auf den Titelseiten der Prinzipien und der Drei Dialoge muß als wesentlicher Bestandteil des philosophischen Programms betrachtet werden. Die denkbar stärkste Waffe, über die Berkeley zu verfügen meint und der seine Widersacher nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen haben, ist der Idealismus. Indem dieser die Existenz einer vom Geist und also auch von Gott unabhängigen Materie ausschließt, verliert der Atheismus seine metaphysische Voraussetzung. (P §§ 92, 93) Gegenüber den Verfechtern des Materiestandpunkts verfolgt Berkeley mehrere Argumentationslinien. Zum einen erhebt er 57

280).

»Occasional causes (which are in truth but signs)« (The works II,

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den Anspruch, den Materialismus mit a-priori-Argumenten zu widerlegen. Signifikant für diese Strategie sind die Kontradiktionsformeln (s. o. S. XXI ff.). Gesetzt, der Unmöglichkeitsbeweis wäre schlüssig, so wäre damit naturgemäß ein zwingender Grund gegeben, an Materie als »nichtdenkendes Substrat« wahrnehmbarer Qualitäten nicht zu glauben. Aber Berkeley konnte im Ernst nicht erwarten, mit a-prori-Argumenten die Macht jenes »Vorurteils« zu brechen, in dessen Banne die Menschen »so handeln, als ob die unmittelbare Ursache ihrer Sinnesempfindungen […] ein empfindungsloses, nichtdenkendes Etwas«, i. e. Materie wäre. (P § 54) Daher versucht er, mit einer Batterie erkenntnistheoretischer Argumente, deren Triftigkeit im einzelnen zu prüfen Aufgabe einer analytischen Berkeley-Kritik ist, für die Auffassung zu werben, daß – angenommen, Materie wäre möglich – es doch keine guten Gründe gibt, an ihre Existenz zu glauben. Denn durch die Annahme wird nichts erklärt, wofür nicht auch ohne sie eine qualitativ mindestens gleichwertige Erklärung gegeben werden könnte. Schließlich soll durch den Nachweis, daß einige Irrtümer, Widersprüche und Ungereimtheiten in den Wissenschaften zu Lasten der bekämpften Prinzipien gehen und mit deren Preisgabe verschwinden, die eigene Position eine indirekte Bestätigung und Stützung erfahren. P § 133 enthält ein Resümee der verschiedenen Strategien. Wir erörtern in gebotener Kürze einige Hauptpunkte. Eine direkte Konsequenz des esse-est-percipi-Prinzips, die Hervorhebung verdient, ist in dem Satz enthalten, daß die Substanz Subjekt ist. Wenn es nur vorstellende, aktive und vorgestellte, passive Dinge gibt und wenn letztere nicht für sich existieren können, sondern eines Trägers bedürfen (P §§ 89, 91), dann kann unter ›Substanz‹ nur das ›tätige Etwas‹ verstanden werden, »in dem (wherein) Ideen existieren oder, was dasselbe besagt, wodurch (whereby) sie wahrgenommen werden.« (P § 2) Weil es keine andere Substanz gibt als Geist (P §§ 7, 27, 135, DD III, 145), wird die Inhärenzbeziehung zur Konversen der Wahrnehmungsbeziehung. ›Materielle Substanz‹ bedeutet entweder intrinsisch Unmögliches, oder der Ausdruck ist semantisch leer (P §§ 77–79), oder ›materielle Substanz‹ bezeichnet wie ›Körper‹ eine »Verbin-

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dung wahrnehmbarer Qualitäten wie Ausdehnung, Festigkeit, Schwere und dergleichen.« In dieser, der »üblichen Bedeutung« wird der Ausdruck von Berkeley akzeptiert. (P § 37) ›Geistige Substanz‹ aber ist in seinem System ganz einfach ein Pleonasmus. Zahlreiche Erwägungen und Argumente lassen sich unter dem Stichwort »Wider den Skeptizismus« zusammenfassen. Eine en-bloc-Widerlegung folgt unmittelbar aus dem idealistischen Ansatz. Die Voraussetzung einer »zweifachen Existenz der Sinnesobjekte, einer intelligiblen im Geist und einer realen außerhalb des Geistes«, führe geradewegs zum Skeptizismus. »Denn wie kann erkannt werden, daß die wahrgenommenen Dinge mit Dingen, die nicht wahrgenommen werden oder außerhalb des Geistes existieren, übereinstimmen?« (P § 86) Dieselbe Frage stellt bereits Locke. Da wir die Dinge nur vermöge der Ideen erkennen, die wir von ihnen besitzen, setze Wissen voraus, daß zwischen Ideen und äußeren Dingen eine Übereinstimmung (conformity) besteht. »Was aber soll hier das Kriterium sein? Wie soll der Geist, wenn er lediglich seine eigenen Ideen wahrnimmt, erkennen, ob diese mit den Dingen selbst übereinstimmen?«58 Werden Ideen als Abbilder – »copies«, »resemblances«, »pictures«, »representations« (P § 8) – an sich bestehender externer Dinge aufgefaßt, dann, so Berkeley (z. B. P §§ 86–88), können wir nie sicher sein, daß unsere Wahrnehmungen die Dinge adäquat abbilden und nicht »bloße Phantome« und »eitle Schimären« sind.59 Wenn aber die Argumente der Skeptiker aller Zeiten von der Voraussetzung externer Gegenstände abhängen (P § 87), dann genügt es, um die skeptizistischen Konsequenzen zu vermeiden, die Voraussetzung fallen zu lassen und den Dualismus durch den Ideenmonismus zu ersetzen. Das skeptische Lamento über die Unerforschlichkeit der inneren Natur der Dinge entbehrt der Berechtigung; denn Locke (Anm. 37): 4. Buch, 4. Kap., § 3. 59 »Das Beziehen von Ideen auf Dinge, die keine Ideen sind, der Gebrauch des Ausdrucks ›Idee von‹ ist, wie in anderen Fällen, so auch hier, eine wichtige Irrtumsquelle.« (PhT Nr. 660) Ähnlich Nr. 606, ferner DD III, 121. 58

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»zusammenzementierte Empfindungen« haben keine unergründliche innere Natur, kein Wesen, das von der sinnlichen Erscheinung verschieden wäre. Daß die Sinnesempfindungen mitsamt der gesetzmäßigen Ordnung ihres Auftretens alles sind, was wir von den Dingen wissen können, wird von Hylas, der ein dingliches Ansichsein voraussetzt, skeptizistisch, von Philonous, der von der konzeptuellen Unmöglichkeit eines solchen ausgeht, antiskeptisch interpretiert. Daß Berkeley im übrigen mit den Argumenten der Skeptiker alter und neuer Zeit wohlvertraut ist, zeigen einige seiner unterstützenden Argumente gegen Materie.60 Wenn Skeptiker bezweifeln, daß die »zugrundeliegenden Gegenstände«, deren Existenz sie voraussetzen, tatsächlich die Eigenschaften besitzen, die wir ihnen nach dem Zeugnis unserer Sinne zuschreiben61, so fragt Berkeley, indem er sich auf den Standpunkt des »skeptischen Idealismus« (Kant) stellt, wie wir von einem solchen Zugrundeliegenden sollten wissen können. Es müßte durch die Sinne oder durch die Vernunft sein. Daß die Sinne uns dieses Wissen nicht liefern können, folgt aus dem ideenmonistischen Wahrnehmungsbegriff. Ein Vernunftschluß aber erfordert notwendige Verknüpfung. Und daß eine solche zwischen Ideen und Außendingen besteht, behaupten nicht einmal die Anwälte der Materie; gilt es doch als allseits anerkannte Denkmöglichkeit, daß wir sämtliche Sinnesideen in eben der gesetzmäßigen Ordnung, die wir jetzt an ihnen beobachten, auch haben könnten, wenn es keine Außendinge gäbe. Somit bedarf es ihrer nicht, um die Entstehung unserer Ideen zu erklären. (P §§ 18–20) In den Kontext skeptischer Überlegungen gehören schließlich auch die semanti-

»Wenn uns die Gegenstände der Sinne farbig, warm, kalt, duftend erscheinen, obwohl sie es nicht sind, warum sollten sie nicht ausgedehnt und gestaltet, in Ruhe oder in Bewegung erscheinen können, auch wenn sie nichts dergleichen wären?« (Bayle, P. 2003: Historisches und kritisches Wörterbuch. Übers. u. hg. v. G. Gawlick u. L. Kreimendahl. Hamburg. 261) Derselbe Gedanke in P § 14. 61 Sextus Empiricus 1999: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Hg. v. M. Hossenfelder. Frankfurt am Main. 98 f. 60

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schen Argumente. (P §§ 75–81) Warum an Materie glauben, wenn ›Materie‹ ein leeres Wort ist, »Zeichen für etwas, wovon ihr nicht wißt, was es ist«? (P § 79) Einen Hauptpunkt Berkeleyscher Kritik an herrschenden Lehrmeinungen bildet die aus der Antike überkommene und in der Korpuskularphilosophie des 17. Jahrhunderts fest etablierte Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten. Einerseits sieht Berkeley in ihr einen Schritt in die richtige Richtung, hin zum Idealismus, weil die sog. sekundären Qualitäten anerkanntermaßen nichts anderes als spezifische Sinnesempfindungen oder Ideen seien. (P §§ 10, 15, 56) Andererseits hält er den modernen Philosophen Inkonsequenz vor, wenn sie, wie Locke, für die primären oder Körperqualitäten Ausdehnung, Gestalt, Festigkeit, Bewegung postulieren, daß sie wahrnehmungsunabhängig »in den Dingen selbst vorhanden sind«.62 Locke freilich ist in Wahrheit kein halbherziger Idealist, sondern beantwortet die Frage »was nehmen wir wahr?« – nichts als unsere eigenen Sinnesempfindungen oder mittels derselben externe Dinge – eindeutig im realistischen Sinne. Die Dichotomie von Körpern »without« und Ideen »in the mind« ist Conditio sind qua non der Qualitäten-Unterscheidung. Gibt es Körper, so gibt es mit den körperspezifischen nicht eo ipso auch sekundäre Qualitäten, sondern den Körpern eignet lediglich die »Kraft«, sofern intakte Sinne existieren, auf diese vermöge primärer Qualitäten, z. B. Schallschwingungen, so einzuwirken, daß Sinnesempfindungen entstehen, d. h. Töne gehört, Farben gesehen, Düfte gerochen werden. An sich oder absolut betrachtet ist ein Körper ausgedehnt, fest, gestaltet; farbig und duftend ist er nur in Relation zum Gesichtsund Geruchssinn, und diese Relation ist nach Locke kausaler Natur. Berkeley kritisiert die Theorie von seinem Standpunkt aus. Gilt »esse est percipi« mit weitem Bereich, so daß alles Gegenständliche unter das Prinzip fällt und »alle wahrnehmbaren Qualitäten gleichermaßen Sinnesempfindungen sind« (P § 99), dann fehlt die Hauptvoraussetzung für die Unterscheidung. Damit erledigen sich auch die kausalen Annahmen der Theorie. (P § 25) 62

Locke (Anm. 37): 2. Buch, 8. Kap., § 23.

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Ein weiterer Einwand nimmt auf den Abstraktionsbegriff Bezug: Man kann etwas so betrachten (to consider), als ob es bloß ausgedehnt wäre; aber als wahrnehmbare Qualität ist Ausdehnung untrennbar mit der einen oder anderen sekundären Qualität verbunden. Wenn also die einen nur im Geist existieren, dann auch die anderen. (P § 10) Viele wissenschaftliche Verfahrensweisen werden nach Berkeleys Überzeugung durch »esse est percipi« vereinfacht, manche Ungereimtheiten beseitigt, echte oder vermeintliche Widersprüche aufgelöst – darunter »jene ergötzlichen geometrischen Paradoxien, die der gemeinen Menschenvernunft hohnsprechen«. (P § 123) 63 Ihre Voraussetzung sei das Prinzip der unendlichen Teilbarkeit endlicher Ausdehnung. Wenn gezeigt werden könne, daß »keine endliche Ausdehnung unendlich viele Teile enthält oder ins Unendliche teilbar ist«, werde die Geometrie auf einen Schlag von vielen Problemen befreit. (P § 123) Das Prinzip »esse est percipi« schließt in der Tat unendliche Teilbarkeit aus. Denn eine gegenständliche Welt, die nur als wahrgenommene, in mentaler Präsenz existiert, ist eine in jeder Beziehung begrenzte Welt. Ausdehnung, wie sie gesehen, getastet oder als Ton gehört wird, räumliche und zeitliche Ausdehnung kann lediglich bis zum jeweiligen sinnesspezifischen Minimum – der gerade noch sichtbaren, tastbaren, hörbaren Erstreckung – geteilt werden. »Keine Idee ist ad infinitum verkleinerbar« (PhT Nr. 75), »keine endliche Ausdehnung ad infinitum teilbar« (PhT Nr. 314). Das minimum sensibile wäre kein minimum, wenn unterhalb seiner noch etwas Wahrnehmbares existierte. Ist aber für die Sinne nichts da, so existiert auch nichts. Ideen sind ihrer Natur nach perzeptiv durchsichtig. (P § 25) Sie können keine Teile haben, die nicht wahrgenommen werden. Denn hätten sie solche, so käme das der widersinnigen Annahme eines Ganzen gleich, das aus nicht existierenden Teilen besteht. Ob freilich, wie Berkeley meint, ohne nachteilige Konsequenzen auf das Teilbarkeitsprinzip und den Begriff des Unendlichen in der Geometrie verzichtet werden Damit könnten die Zenonischen Paradoxien gemeint sein. Siehe Bayle (Anm. 60): Artikel »Zenon von Elea«. 63

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kann (P § 132), sei dahingestellt. Daß es keinesfalls notwendig ist, in dieser Wissenschaft »Quantitäten unterhalb des minimum sensibile in Betracht zu ziehen« (P § 132), bleibt Behauptung, die in den Prinzipien nicht begründet wird.64 Kann Berkeley die These, daß endliche Ausdehnung nicht ad infinitum teilbar ist, argumentativ stützen, ohne vom »esse-estpercipi«-Prinzip Gebrauch zu machen? Das erscheint fraglich. Denn er gründet seine Argumentation auf eine Annahme, die schon Hobbes als unhaltbar zurückgewiesen hat – den Satz, daß alles, was ins Unendliche geteilt werden kann, in dem Sinne unendlich ist, daß es unendlich viele Teile hat.65 Zenon, so Hobbes, habe diesen Satz offensichtlich für wahr gehalten. Und Berkeley (vielleicht unter dem Einfluß Bayles66 ) hält ihn offensichtlich ebenfalls für wahr. Aus der unendlichen Teilbarkeit der Materie,

Bei der in Aussicht gestellten »besonderen Untersuchung« (P § 131) dürfte es sich um die Streitschrift »Der Analytiker« (1734) handeln, in der Berkeley zu zeigen versucht, daß die Ergebnisse der mathematischen Analysis mit endlichen Größen erzielt werden können. Siehe hierzu Abschnitt III – »Die theologisch-mathematische Streitschrift ›The Analyst‹« – der Einleitung W. Breiderts zur deutschen Ausgabe von Berkeleys mathematisch-physikalischen Schriften. 65 »Etwas in unendlich viele Teile teilen können, heißt nichts anderes als es in soviel Teile teilen können, wie man nur immer will. Es ist aber keineswegs erforderlich, daß man von einer Linie, die ich, so oft ich will, teilen und unterteilen kann, deswegen sage, sie habe unendlich viele Teile bzw. sei unendlich.« (Hobbes, Th. 1997: Elemente der Philosophie – Der Körper. Hamburg. 74). Schärfer noch faßt Kant diesen Punkt: Es sei keineswegs »erlaubt, von einem solchen Ganzen, das ins Unendliche teilbar ist, zu sagen: es bestehe aus unendlich vielen Teilen. Denn obgleich alle Teile in der Anschauung des Ganzen enthalten sind, so ist doch darin nicht die ganze Teilung enthalten, welche nur in der fortgehenden Dekomposition, oder dem Regressus selbst besteht, der die Reihe allererst wirklich macht. Da dieser Regressus nun unendlich ist, so sind zwar alle Glieder (Teile), zu denen er gelangt, in dem gegebenen Ganzen als Aggregate enthalten, aber nicht die ganze Reihe der Teilung, welche sukzessiv unendlich und niemals ganz ist, folglich keine unendliche Menge, und keine Zusammennehmung derselben in einem Ganzen darstellen kann.« (Kant (Anm. 11): B 552, A 524) 64

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wie sie jetzt von den »angesehensten und bedeutendsten Philosophen« für unzweifelhaft erachtet wird67, »folgt, daß in jedem Materieteilchen eine unendliche Menge von Teilen enthalten ist.« (P § 47) Berkeley schließt nun folgendermaßen: (1) »Wenn endliche Ausdehnung unendlich teilbar ist, dann hat sie unendlich viele Teile oder ist unendlich geteilt«. Den Nachsatz hält er für falsch: (2) Es gibt nichts derartiges »wie unendlich kleine Teile oder eine unendliche Anzahl von Teilen, die in einer endlichen Größe enthalten sind.« (P § 131)68 Also ist (3) die im Vordersatz enthaltene »Voraussetzung der unendlichen Teilbarkeit endlicher Ausdehnung« (P § 128) als falsch zu verwerfen. Wenn aber (1) nicht wahr ist, ist (3) nicht begründet. Auf dem Satz »was unter gar keinen Umständen wahrgenommen werden kann, existiert nicht« fußt Berkeleys Kritik an Newtons Konzeption des absoluten Raumes. (P §§ 110–116) Wie Leibniz69 deutet er den Raum als eine Ordnung des Wahrnehmbaren, als System von Relationen koexistierender Gegenstände. Gesondert von allen wahrnehmbaren Verhältnissen des Nebeneinander- und Auseinanderseins, d. h. von sichtbaren oder tastbaren Gegenständen (Punkten, Körpern) in den mannigfachen BeBayle (Anm. 60) verteidigt im Artikel »Zenon von Elea«, Abschnitt F, mit Entschiedenheit den Satz »Wenn die Materie unendlich teilbar ist, dann enthält sie aktual eine unendliche Anzahl von Teilen.« (523) 67 Vgl. Descartes, R. 1955: Die Prinzipien der Philosophie. Hamburg. Zweiter Teil: Über die Prinzipien der körperlichen Dinge, §§ 1–20. 68 Vgl. die Abhandlung »Vom Unendlichen«, in der Berkeley den Mathematikern empfiehlt, bei der Erörterung des unendlich Kleinen von Lockes Unterscheidung zwischen der Unendlichkeit des Raumes (infinity of space), von der wir eine Idee haben, und dem unendlichen Raum (space infinite), von dem wir keine Idee haben können, Gebrauch zu machen. Infinitesimalien werden von Berkeley verworfen, «not simply because we cannot see them, but because we cannot imagine them – the very description of an infinitely small magnitude contains a contradiction, and there is no more reason to construct a theory of infinitesimals than to develop a geometry of round squares.« (Jesseph, D.M. 1993: Berkeley’s philosophy of mathematics. Chicago, London. 16 f.) 69 Leibniz (Anm. 14): Briefwechsel mit Samuel Clarke. Band I, 120–241. Vor allem Leibniz’ drittes Schreiben. 66

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ziehungen gegenseitiger Lage und Entfernung bleibt nicht absoluter Raum, sondern absolut nichts übrig. »Alles, was über den reinen, absoluten Raum gesagt wird, (kann) auch von nichts ausgesagt werden«. (DM § 56) Wie alle räumlichen Bestimmungen ist der Begriff des Ortes ein Relationsbegriff, weil ein Ding sich nur in Beziehung zu etwas außerhalb seiner an einem Ort befinden kann. Was wäre, fragt Berkeley in De motu (§ 58), wenn alle Körper vernichtet wären bis auf eine einzige Kugel? Da ein singulärer Körper notwendigerweise ortlos existiert, kann er weder als ruhend noch als in Bewegung gedacht werden. Wie der Raum, den sie voraussetzt, ist auch Bewegung wesensnotwendig relativ, d. h. Beziehung einschließend, weil mindestens zwei Körper existieren müssen, soll Lageänderung möglich sein. (DM § 59) »Wenn man nach den Prinzipien derer, welche die absolute Bewegung einführen, durch kein Merkmal wissen kann, ob der ganze Kosmos ruht oder sich gleichförmig in gerader Richtung bewegt, dann ist besonders klar, daß offenbar bei keinem Körper eine absolute Bewegung erkennbar ist.« (DM § 65) Das Gedankenexperiment mit der solitären Kugel ist eigentlich ein semantisches Experiment. Hätten unter der gedachten Bedingung Ausdrücke wie ›Ort‹, ›Lage‹, ›Bewegung‹ eine Verwendung? Das Substantiv ›Raum‹ suggeriert freilich, daß es ein für sich bestehendes Etwas, ein Ding gibt, das dadurch bezeichnet wird. Aber das Wort ›Raum‹ steht nicht für eine Idee, »die von Körper und Bewegung gesondert oder ohne sie denkbar wäre«. Daß wir die »Idee eines reinen Raumes mit Ausschluß aller Körper« nicht bilden können (P § 116), hat seinen Grund nicht in einer Schwäche unseres Vorstellungsvermögens, sondern ist Ausdruck einer sachlichen Unmöglichkeit. Der absolute Raum, der nichts sein soll als reine, unterschiedslose Ausdehnung, »die weder geteilt noch gemessen werden kann«, sei der Einbildungskraft nicht zugänglich (DM § 53) – ein Satz, der psychologisch klingt, aber nicht psychologisch verstanden werden darf. Denn die Grenzen der Einbildungskraft gelten Berkeley als die Grenzen des gegenständlich Möglichen. Und möglich ist, was keinen Widerspruch einschließt. (DD III, 101; VfDM § 46) »Reiner oder leerer Raum [aber] ist […] eine Contradictio in adjecto (a contradiction in

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terms).«70 Die theologischen Motive seiner Kritik legt Berkeley in P § 117 dar. Sie befreie uns von einem fatalen Dilemma – daß nämlich »entweder angenommen werden muß, der reale Raum sei Gott, oder aber daß es etwas von Gott Verschiedenes gebe, das ewig, ungeschaffen, unendlich, unteilbar, unveränderlich ist; und beide Auffassungen können wohl mit Recht als gefährlich und widersinnig bezeichnet werden.« (P § 117)

70

Hicks, G. D. 1992: Berkeley (1932). Bristol. 62.

Einleitung

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Zu dieser Ausgabe Textgrundlage der Neuübersetzung des Berkeleyschen Hauptwerks ist die Ausgabe von 1734 in der von T. E. Jessop edierten Fassung der neunbändigen Gesamtausgabe. Was das von Berkeley ziemlich unsystematisch gehandhabte Mittel der Kursivschreibung anbelangt – Bibelzitate erscheinen kursiv, Schlüsselbegriffe, rhetorisch akzentuierte Wendungen, erwähnte Ausdrücke (nicht in allen Fällen) –, so steht zur Wahl, entweder durchweg den Vorgaben des Textes von 1734 zu folgen oder – wie Friedrich Ueberweg in der ersten deutschen Übersetzung – sich weitgehend davon zu lösen. Verlag und Übersetzer haben sich für die erste Möglichkeit entschieden. Die neue Übersetzung hat es nicht auf Neuheit um jeden Preis abgesehen. Sie lehnt sich an die alte, seit 1869 des öfteren revidierte und dem veränderten Sprachgebrauch angepaßte Übersetzung an, wo diese überzeugende Lösungen bereithält. Aus der Ausgabe von 1710 wurde das Vorwort übernommen, in welchem Berkeley den Idealismus (Immaterialismus) als »streng beweisbare Wahrheit« bezeichnet, die »den Vorurteilen der Menschheit entgegengesetzt« ist. Herrn Dipl.-Math. Thilko Lünemann danke ich für hilfreiche Kommentare zu den von Berkeley erörterten mathematischen Problemen. Die Anmerkung zu P § 131 beruht auf einem von ihm verfaßten längeren Text. Ziffern im Bundsteg verweisen auf die Anmerkungen im Anhang. Arend Kulenkampff

G E O RG E B E R K E L E Y EINE ABHANDLUNG ÜBER DIE PRINZIPIEN DER MENSCHLICHEN ERKENNTNIS Worin die Hauptursachen der Irrtümer und Schwierigkeiten in den Wissenschaften sowie die Grundlagen des Skeptizismus, Atheismus und der Religionsfeindschaft untersucht werden. Zuerst erschienen im Jahre 1710

VORWORT

Was ich hier nach langer und peinlich genauer Prüfung der Öffentlichkeit übergebe, scheint mir evident wahr zu sein und einigermaßen wissenswert – zumal für diejenigen, die vom Skeptizismus infiziert sind oder denen an einem Beweis der Existenz und Immaterialität Gottes oder der natürlichen Unsterblichkeit der Seele gelegen ist. Ob ich recht habe oder nicht, bleibt dem unvoreingenommenen Entscheid des Lesers überlassen. Denn am Erfolg dessen, was ich geschrieben habe, bin ich nur insoweit interessiert, als er sich aus der Übereinstimmung mit der Wahrheit ergibt. Um aber diesen Erfolg nicht zu gefährden, bitte ich den Leser, so lange Urteilsenthaltung zu üben, bis er das Ganze wenigstens einmal so aufmerksam und mit jenem Maß an gründlicher Überlegung gelesen hat, das der Gegenstand zu erfordern scheint. Wie es sich nämlich nicht vermeiden läßt, daß einzelne Passagen, für sich genommen, gröblich mißverstanden und wegen ihrer vermeintlichen Konsequenzen als absurd gebrandmarkt werden – Konsequenzen, die sich bei eingehender Gesamtbetrachtung nicht ergeben sollten –, so muß ich auch damit rechnen, daß meine Ansichten nicht verstanden werden, falls das Ganze zwar gelesen wird, die Lektüre aber flüchtig und oberflächlich bleibt. Doch schmeichle ich mir, daß ein denkender Leser alles im höchsten Grade klar und einleuchtend finden wird. Was die Neuheit und Einzigartigkeit betrifft, die den folgenden Ausführungen zum Teil eigen sein mag, brauche ich mich hoffentlich nicht zu rechtfertigen. Wer eine streng beweisbare Wahrheit nur darum ablehnt, weil sie neu und den Vorurteilen der Menschheit entgegengesetzt ist, gibt sich als jemand zu erkennen, der mit den Wissenschaften höchst unzureichend vertraut ist. So viel meinte ich vorausschicken zu sollen, um mich, wenn möglich, vor dem übereilten Verdikt jener zu schützen, die nur allzu bereit sind, eine Meinung in Grund und Boden zu verdammen, ehe sie dieselbe richtig verstanden haben.

EINFÜHRUNG

1 Da die Philosophie nichts anderes ist als das Streben nach

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Weisheit und Wahrheit, darf man vernünftigerweise erwarten, daß diejenigen, die am meisten Zeit und Mühe auf sie verwandt haben, sich größerer Seelenruhe und Heiterkeit, größerer Klarheit und Gewißheit der Erkenntnis erfreuen und weniger von Zweifel und Wirrsal heimgesucht werden als andere Menschen. Statt dessen sehen wir, wie die ungebildete Menge, die auf der Heerstraße des gesunden Menschenverstandes dahinzieht und den gebieterischen Anweisungen der Natur gehorcht, alles in allem mit sich und der Welt im reinen ist. Nichts Gewohntes erscheint ihr unerklärlich oder schwer zu begreifen. Sie klagt nicht über mangelnde Glaubwürdigkeit der Sinne, und nichts liegt ihr ferner, als sich vom Skeptizismus vereinnahmen zu lassen. Doch sobald wir uns über die Sinne und die natürlichen Neigungen erheben, um dem Licht eines höheren Prinzips zu folgen, um durch Nachdenken und vernünftige Überlegung das Wesen der Dinge zu ergründen, macht sich in unserem Geist tausendfacher Zweifel hinsichtlich eben der Dinge breit, die wir zuvor ganz und gar zu begreifen schienen. Allenthalben stoßen wir auf Vorurteile und Irrtümer der Sinne; und indem wir diese durch Vernunftüberlegungen zu berichtigen streben, geraten wir unmerklich in die absonderlichsten Paradoxien, Konfusionen und Widersinnigkeiten, die sich, während wir unsere Spekulationen vorantreiben, vervielfachen und uns immer tiefer in ihren Bann ziehen, bis wir schließlich, auf zahllose Irrwege zurückblickend, uns an eben dem Punkt wiederfinden, von dem wir ausgegangen waren, oder, schlimmer noch, in abgrundtiefen Skeptizismus versinken. 2 Die Ursache alles dessen liegt angeblich in der Dunkelheit der Dinge oder in der natürlichen Schwäche und Unvollkommenheit unseres Verstandes. Es heißt, unsere Erkenntnisfähigkeiten seien beschränkt; die Natur habe sie den Zwecken des Lebens, seiner Erhaltung und Verbesserung angepaßt, nicht aber

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dazu bestimmt, uns das Wesen und die innere Beschaffenheit der Dinge zu erschließen. Überdies sei es nicht verwunderlich, wenn der menschliche Geist, weil endlich, bei der Behandlung von Dingen, die an der Unendlichkeit teilhaben, sich in Absurditäten und Widersprüche verwickelt, aus denen einen Ausweg zu finden ihm gänzlich verwehrt ist; gehört es doch zur Natur des Unendlichen, vom Endlichen nicht begriffen werden zu können. 3 Doch vielleicht sind wir allzu voreingenommen für uns selbst, wenn wir unseren Fähigkeiten die Schuld geben, statt sie in dem verkehrten Gebrauch zu suchen, den wir von ihnen machen. Es ist schwer vorstellbar, daß korrektes Schließen aus wahren Voraussetzungen jemals zu Folgerungen führen sollte, die nicht akzeptabel wären oder miteinander in Einklang gebracht werden könnten. Wir mögen doch nicht glauben, Gott habe sich gegenüber dem Menschengeschlecht so engherzig gezeigt, daß er ihm zwar Wissensdurst eingegeben, das Wissen aber, das ihn stillt, ins Unerreichbare entrückt hätte. Das würde nicht zur gewohnten Generosität der Vorsehung passen, die ihre Geschöpfe mit all den Mitteln auszustatten pflegt, die bei rechtem Gebrauch die ihnen eingepflanzten Triebwünsche zuverlässig zu befriedigen vermögen. Alles in allem neige ich zu der Ansicht, daß die weitaus meisten, wenn nicht sämtliche Schwierigkeiten, mit denen die Philosophen ihre Zeit vergeudet und die ihnen den Weg zur Erkenntnis versperrt haben, durchaus von uns selbst verschuldet sind. Zuerst wirbeln wir Staub auf, und dann beklagen wir uns, daß wir nicht sehen können. 4 Ich will daher den Versuch wagen herauszufinden, auf welche Grundvoraussetzungen all jene Zweifel und Ungewißheiten, Absurditäten und Widersprüche in den verschiedenen philosophischen Systemen zurückzuführen sind, die sogar die klügsten Leute vermocht haben, unsere Unwissenheit für unüberwindbar zu halten, weil sie angeblich aus der natürlichen Unbeholfenheit und Beschränktheit unserer Geisteskräfte resultiert. Und es ist gewiß ein die Mühe lohnendes Unterfangen, die Grundlagen der menschlichen Erkenntnis genau zu untersuchen, sie von den verschiedensten Gesichtspunkten aus zu betrachten und zu prüfen – vor allem deshalb, weil die Annahme nicht unbegründet er-

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scheint, daß jene Hindernisse und Widrigkeiten, die unserem Denken bei der Wahrheitssuche im Wege stehen, nicht sowohl von der Undurchschaubarkeit und Komplexität der Gegenstände oder von einem natürlichen Mangel des Verstandes als vielmehr von falschen Prinzipien herrühren, an denen wir festgehalten haben, obwohl wir sie hätten aufgeben können. 5 So schwierig und entmutigend dieser Versuch auch erscheinen mag, wenn ich mir vergegenwärtige, wie viele bedeutende und außergewöhnliche Männer vor mir dasselbe Ziel verfolgt haben, so schöpfe ich doch einige Hoffnung aus der Erwägung, daß der weiteste Ausblick nicht immer der deutlichste ist und der Kurzsichtige, genötigt, die Dinge zu sich heranzuziehen, durch eine sorgfältige Inspektion aus nächster Nähe am Ende das zu entdecken vermag, was sehr viel besseren Augen entgangen ist. 6 Um dem Leser ein leichteres Verständnis des Folgenden zu ermöglichen, dürfte es angebracht sein, im Rahmen einer Einführung einige Bemerkungen über die Natur und den Mißbrauch der Sprache vorauszuschicken. Bei der Darlegung dieser Zusammenhänge muß ich in gewissem Umfang schon auf meine eigene Theorie Bezug nehmen, indem ich überlege, was für die Verwicklung und Verworrenheit im wissenschaftlichen Denken hauptsächlich verantwortlich zu sein und zahllose Irrtümer und Schwierigkeiten in fast allen Bereichen des Wissens verschuldet zu haben scheint. Es handelt sich um die Auffassung, daß der Geist die Fähigkeit besitzt, abstrakte Ideen (abstract ideas) oder Begriffe der Dinge zu bilden. Jeder, dem die Schriften und Kontroversen der Philosophen nicht völlig fremd sind, muß zugeben, daß es darin zu einem nicht geringen Teil um abstrakte Ideen geht. Man nimmt an, daß diese vorzugsweise den Gegenstand derjenigen Wissenschaften bilden, die als Logik und Metaphysik firmieren, und überhaupt all jener Disziplinen, die für die abstraktesten und sublimsten gelten. In ihnen wird man kaum eine Frage so behandelt finden, daß nicht die Existenz abstrakter Ideen im Geiste und dessen inniges Vertrautsein mit ihnen vorausgesetzt wäre. 7 Allseits wird anerkannt, daß die Eigenschaften oder Bestimmungen der Dinge nicht je für sich und gesondert von allen an-

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deren real existieren, sondern daß stets mehrere gleichsam vermischt und miteinander verschmolzen in demselben Objekt vorkommen. Man sagt uns aber, daß der Geist, da er imstande ist, jede Qualität für sich oder abstrahiert von den anderen, mit denen sie verbunden ist, zu betrachten (to consider), auf diese Weise für sich selbst abstrakte Ideen bildet. Wenn beispielsweise ein ausgedehntes, farbiges und bewegtes Objekt visuell wahrgenommen wird, so bildet der Geist, indem er diese gemischte oder zusammengesetzte Idee in ihre einfachen Bestandteile zerlegt und jeden für sich unter Ausschluß der übrigen in Augenschein nimmt, die abstrakten Ideen von Ausdehnung, Farbe und Bewegung. Nicht daß Farbe oder Bewegung ohne Ausdehnung zu existieren vermöchte; es soll nur der Geist für sich selbst durch Abstraktion die Idee der Farbe ohne Ausdehnung und der Bewegung ohne beides, Farbe und Ausdehnung, bilden können. 8 Da ferner der Geist beobachtet hat, daß in den einzelnen sinnlich wahrgenommenen Ausdehnungen etwas Gemeinsames ist, worin sie einander gleichen, und etwas anderes, den einzelnen Ausdehnungen Eigentümliches wie diese oder jene Gestalt oder Größe, wodurch sie sich voneinander unterscheiden, so betrachtet er das Gemeinsame gesondert, hebt es heraus und bildet auf diese Weise die höchst abstrakte Idee einer Ausdehnung, die weder Linie noch Fläche noch Körper ist noch irgendeine Gestalt oder Größe hat, sondern eine von all dem gänzlich abgetrennte Idee ist. Nicht anders verfährt der Geist, wenn er von den einzelnen sinnlich wahrgenommenen Farben das Unterscheidende wegläßt und das Gemeinsame zurückbehält und so die Idee der Farbe in abstracto bildet, die weder Rot noch Blau noch Weiß noch sonst eine bestimmte Farbe ist. Und auf dieselbe Weise, indem Bewegung für sich betrachtet wird, abstrahiert nicht nur vom bewegten Körper, sondern auch von der Bahn, die er beschreibt, und von jeder besonderen Richtung und Geschwindigkeit, wird die abstrakte Idee der Bewegung gebildet, die gleichermaßen mit allen einzelnen sinnlich wahrnehmbaren Bewegungen übereinstimmt. 9 Und so wie sich der Geist abstrakte Ideen von Eigenschaften oder Bestimmungen bildet, so gelangt er mit Hilfe desselben

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Verfahrens gedanklicher Zerlegung und Sonderung zu den abstrakten Ideen zusammengesetzter Dinge, die verschiedene koexistierende Qualitäten einschließen. Nachdem z. B. der Geist beobachtet hat, daß Peter, Jakob und Johann einander hinsichtlich der Gestalt und einiger anderer Eigenschaften ähneln, läßt er aus der komplexen oder zusammengesetzten Idee, die er von Peter, Jakob und anderen menschlichen Individuen hat, das Eigentümliche weg und behält nur das zurück, was ihnen allen gemeinsam ist. Dergestalt bildet er eine abstrakte Idee, an der alle Individuen gleichermaßen teilhaben, indem er gänzlich von all den besonderen Umständen und Unterschieden, die für das einzelne Dasein konstitutiv sind, abstrahiert und sie beiseite läßt. Auf diese Weise, heißt es, gewinnen wir die abstrakte Idee des Menschen oder, wenn man lieber will, des Menschseins oder der menschlichen Natur, die zwar, so viel ist richtig, die Idee der Farbe einschließt, weil es keinen Menschen ohne Farbe gibt; doch kann das weder die weiße noch die schwarze noch eine andere bestimmte Farbe sein, weil es keine bestimmte Farbe gibt, die allen Menschen gemeinsam ist. Ebenso schließt sie die Idee der Körpergestalt ein, aber einer solchen, die weder groß noch klein noch ein mittleres dazwischen ist, sondern etwas von all dem Abstrahiertes. Und so mit allen übrigen Bestimmungen. Da es ferner eine Vielzahl anderer Geschöpfe gibt, die in einigen, aber nicht in allen Stücken mit der komplexen Idee Mensch übereinstimmen, so läßt der Geist die Teile weg, die den Menschen eigentümlich sind, behält nur das zurück, was allen Kreaturen zukommt, und bildet so die Idee Tier, in der nicht nur von allen einzelnen Menschen, sondern auch von allen Vögeln, Säugetieren, Fischen und Insekten abstrahiert ist. Die Bestimmungsstücke der abstrakten Idee des Tieres sind Körper, Leben, Sinnesempfindung und Eigenbewegung. Mit Körper ist gemeint: Körper ohne jede besondere Form oder Gestalt, da keine solche allen Lebewesen gemeinsam ist; ferner ohne Bedeckung mit Haaren, Federn oder Schuppen etc., aber auch nicht nackt; denn Haare, Federn, Schuppen und Nacktheit sind unterscheidende Eigenschaften einzelner Tiere und werden deshalb in die abstrakte Idee nicht aufgenommen. Aus demselben Grunde kann die Eigenbewegung weder Gehen noch Fliegen

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noch Kriechen sein; Bewegung ist sie gleichwohl, aber was für eine, das läßt sich nicht leicht begreifen. 10 Ob andere diese wundersame Fähigkeit der Ideenabstraktion besitzen, wissen sie selbst am besten. Ich für meine Person finde mich im Besitz der Fähigkeit, mir die Ideen der Einzeldinge, die ich wahrgenommen habe, vorzustellen oder zu vergegenwärtigen und in mannigfacher Weise zusammenzusetzen und zu teilen. Ich kann mir einen Menschen mit zwei Köpfen oder Kopf und Oberkörper eines Menschen verbunden mit einem Pferdeleib vorstellen. Ich kann die Hand, das Auge, die Nase, jedes für sich abstrakt oder getrennt vom übrigen Körper betrachten. Aber welche Hand oder welches Auge ich mir auch vorstelle, eine bestimmte Gestalt und Farbe muß das Vorgestellte haben. Ebenso muß die Idee eines Menschen, die ich mir bilde, die eines weißen oder schwarzen oder braunen, eines gerade oder krumm gewachsenen, eines großen oder kleinen oder mittelgroßen Menschen sein. Mit der Bildung der zuvor beschriebenen abstrakten Idee sind meine Geisteskräfte überfordert. Ebenso unmöglich ist es mir, die abstrakte Idee der Bewegung ohne bewegten Körper zu bilden – Bewegung, die weder schnell noch langsam ist, weder auf einer gekrümmten noch einer geradlinigen Bahn verläuft. Das Gleiche gilt von jeder anderen abstrakten allgemeinen Idee. Um die Sache auf den Punkt zu bringen: Ich weiß mich befähigt, in einem bestimmten Sinne zu abstrahieren, nämlich einzelne Teile oder Qualitäten, die zwar in einem Gegenstand vereinigt vorkommen, aber realiter je für sich existieren könnten, voneinander getrennt zu betrachten. Ich sehe mich jedoch gänzlich außerstande, solche Eigenschaften voneinander zu abstrahieren oder getrennt aufzufassen, die nicht in gleicher Weise getrennt existieren können, oder Allgemeinbegriffe durch Abstraktion von Einzeldingen nach der angegebenen Methode zu bilden. Die beiden letztgenannten Verwendungsweisen sind eigentlich das, was man für gewöhnlich unter Abstraktion versteht. Und nicht unbegründet scheint die Annahme zu sein, daß die meisten Menschen sagen würden, es gehe ihnen nicht anders als mir. Schlicht und ungebildet, wie sie sind, erheben sie keinen Anspruch auf den Besitz abstrakter Begriffe (abstract notions). Es heißt, diese seien etwas

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Kompliziertes, und ohne Mühe und Studium könne man sie nicht gewinnen. Wir dürfen daher vernünftigerweise schließen, daß, wenn es dergleichen gibt, es sich um eine Spezialität der Gelehrten handelt. 11 Als nächstes will ich prüfen, was zur Verteidigung der Lehre von der Abstraktion vorgebracht werden kann, und ich will herauszufinden versuchen, was Männer der Wissenschaft veranlassen mag, eine Ansicht zu akzeptieren, die der gemeinen Menschenvernunft so fern liegt wie offenbar diese. Ein unlängst verstorbener, mit Recht geschätzter Philosoph hat ihr zweifellos nicht wenig Vorschub geleistet, indem er anzunehmen scheint, daß der Besitz abstrakt-allgemeiner Ideen das ist, was Mensch und Tier hinsichtlich des Verstandes am weitesten voneinander trennt. »Der Besitz allgemeiner Ideen«, sagt er, »begründet einen vollkommenen Unterschied zwischen Mensch und Tier und weist ersterem eine überragende Stellung zu, an die das Tier mit seinen Fähigkeiten unter keinen Umständen heranreicht. Denn augenscheinlich bemerken wir an den Tieren keinerlei Spur davon, daß sie allgemeine Zeichen für allgemeine Ideen gebrauchen; wir haben deshalb Grund zu der Annahme, daß sie nicht die Fähigkeit besitzen, zu abstrahieren oder allgemeine Ideen zu bilden, da sie von Wörtern oder irgendwelchen andern allgemeinen Zeichen keinen Gebrauch machen.« Und wenig später: »Wir dürfen, meine ich, deshalb annehmen, daß sich eben hierin das Tier vom Menschen unterscheidet, ja, daß hier die eigentümliche Verschiedenheit liegt, die sie völlig voneinander trennt und die sich schließlich zu einem so gewaltigen Abstand erweitert. Denn wenn die Tiere überhaupt Ideen haben und nicht bloße Maschinen sind (wie manche behaupten), so können wir ihnen ein gewisses Maß von Vernunft nicht streitig machen. Mir scheint es genauso einleuchtend zu sein, daß manche von ihnen in gewissen Fällen Schlüsse ziehen, wie daß sie Sinnesempfindungen haben; doch beziehen sich diese Schlüsse immer nur auf Einzelideen, wie sie diese von ihren Sinnen empfangen haben. Auch die höchststehenden Tiere sind in diese Grenzen gebannt und besitzen meiner Ansicht nach nicht die Fähigkeit, sie durch irgendeine Art von Abstraktion zu erweitern.« Versuch über den menschlichen Verstand, Buch

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II, Kap. 11, §§ 10 u. 11. Ich pflichte diesem gelehrten Schriftsteller bereitwillig darin bei, daß den Tieren die Fähigkeit der Abstraktion durchaus abgeht. Wenn freilich dies das Unterscheidungskriterium sein soll, dann, fürchte ich, werden nicht wenige, die für Menschen gelten, fortan zu den Tieren gerechnet werden müssen. Der Grund, weshalb es nicht angeht, den Tieren abstrakte allgemeine Ideen zuzuschreiben, soll darin liegen, daß wir bei ihnen keinen Gebrauch von Wörtern oder anderen allgemeinen Zeichen beobachten. Dieses Argument setzt voraus, daß der Gebrauch sprachlicher Zeichen den Besitz allgemeiner Ideen impliziert, woraus folgt, daß Menschen, die über Sprache verfügen, imstande sind zu abstrahieren oder ihre Ideen zu verallgemeinern. Daß der Verfasser tatsächlich dieser so begründeten Meinung ist, erhellt ferner aus seiner Antwort auf eine an anderer Stelle aufgeworfene Frage: »Wie kommen allgemeine Ausdrücke zustande, da doch alle existierenden Dinge Einzeldinge sind?« Seine Antwort lautet: »Wörter werden allgemein, indem man sie zu Zeichen für allgemeine Ideen macht.« Versuch über den menschlichen Verstand, Buch III, Kap. 3, § 6. Es scheint jedoch, daß ein Wort dadurch allgemein wird, daß es zum Zeichen nicht einer abstrakten allgemeinen Idee, sondern mehrerer Einzelideen gemacht wird, die es unterschiedslos im Bewußtsein wachruft. Wenn es z. B. heißt die Bewegungsänderung ist der einwirkenden Kraft proportional oder alles Ausgedehnte ist teilbar, so sind diese Sätze so zu verstehen, daß sie etwas über Bewegung und Ausdehnung im allgemeinen aussagen; doch folgt daraus nicht, daß sie in meinem Denken eine Idee von Bewegung ohne bewegten Körper oder ohne bestimmte Richtung und Geschwindigkeit wachrufen oder daß ich die abstrakte allgemeine Idee einer Ausdehnung bilden muß, die weder Linie noch Fläche noch Körper, weder groß noch klein, weder schwarz noch weiß noch rot noch von einer anderen bestimmten Farbe ist. Nur das ist gemeint, daß, einerlei welche Bewegung ich betrachten mag, sie sei schnell oder langsam, verlaufe senkrecht, horizontal oder schräg, sei Bewegung dieses oder jenes Objekts, das sie betreffende Axiom sich ausnahmslos als gültig erweist. Genauso gilt das zweite von jeder einzelnen Ausdehnung, einerlei ob Linie, Fläche oder Körper, ob von dieser oder jener Größe oder Gestalt.

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12 Indem wir uns Klarheit darüber verschaffen, wie Ideen

allgemein werden, können wir besser beurteilen, wie Wörter es werden. Ich muß hier feststellen, daß ich nicht schlechthin bestreite, daß es allgemeine Ideen gibt, sondern nur, daß es abstrakte allgemeine Ideen gibt. Wo immer in den oben zitierten Abschnitten von allgemeinen Ideen die Rede ist, geschieht es unter der Voraussetzung, daß sie durch Abstraktion nach dem in den Abschnitten 8 und 9 beschriebenen Verfahren gebildet sind. Wenn wir sinnvoll reden und nur von dem sprechen wollen, was wir begreifen können, so müssen wir meines Erachtens anerkennen, daß eine Idee, die an und für sich etwas einzelnes (particular) ist, dadurch allgemein wird, daß sie als Repräsentant oder Stellvertreter aller anderen Einzelideen derselben Art gebraucht wird. Hier ein Beispiel: Angenommen, wir zeigen in der Geometrie, wie eine gerade Linie in zwei gleiche Teile geteilt wird. Wir zeichnen beispielsweise eine schwarze Linie von einem Zoll Länge. Obwohl an und für sich eine einzelne Linie, ist diese im Hinblick auf das, was sie bezeichnet, allgemein; denn so, wie sie hier gebraucht wird, repräsentiert sie jede beliebige einzelne Linie gleich welcher Beschaffenheit, so daß, was von ihr gilt, von allen Linien oder, anders gesagt, von einer Linie im allgemeinen gilt. Und wie diese einzelne Linie dadurch allgemein wird, daß sie als Zeichen fungiert, so wird es der Name Linie, der für sich betrachtet etwas einzelnes ist, durch seine Rolle als Zeichen. Und wie die Allgemeinheit jener Linie nicht darauf beruht, daß sie Zeichen einer abstrakten oder allgemeinen Linie ist, sondern darauf, daß sie alle einzelnen geraden Linien bezeichnet, die überhaupt existieren können, so müssen wir annehmen, daß es sich mit dem Wort ›Linie‹ nicht anders verhält und seine Allgemeinheit daraus resultiert, daß es die vielen verschiedenen einzelnen Linien unterschiedslos bezeichnet. 13 Um dem Leser noch deutlicher das Wesen abstrakter Ideen und die Zwecke, für die sie angeblich unerläßlich sind, vor Augen zu führen, will ich einen weiteren Abschnitt aus dem Versuch über den menschlichen Verstand zitieren: »Abstrakte Ideen sind für Kinder wie auch für den noch ungeübten Verstand nicht so offensichtlich und leicht verständlich wie besondere Ideen. Wenn sie den

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Erwachsenen so vorkommen, so geschieht das nur, weil sie durch beständigen und vertrauten Gebrauch dazu geworden sind. Denn wenn wir sie genau betrachten, so werden wir finden, daß die allgemeinen Ideen Erdichtungen oder Erfindungen des Geistes sind, die gewisse Schwierigkeiten bereiten und sich nicht so leicht einstellen, wie wir uns gern einbilden. So muß man zum Beispiel eine gewisse Mühe und Geschicklichkeit aufwenden, um die allgemeine Idee eines Dreiecks zu bilden (welche noch gar nicht zu den abstraktesten, umfassendsten und schwierigsten gehört), denn das Dreieck darf weder schief- noch rechtwinklig, weder gleichseitig noch gleichschenklig noch ungleichseitig sein; vielmehr muß es zugleich das alles und nichts von alledem sein. In der Tat ist diese Idee etwas Unvollkommenes, das nicht existieren kann, eine Idee, in der gewisse Bestandteile von mehreren ungleichartigen und unvereinbaren Ideen miteinander verknüpft sind. Allerdings benötigt der Geist bei seinem jetzigen unvollkommenen Zustand solche Ideen und sucht sie so schnell wie möglich zu gewinnen. Das tut er, weil sie der bequemen Mitteilung und der Erweiterung seines Wissens dienen; denn für diese beiden Dinge besitzt er von Natur aus ein großes Interesse. Gleichwohl haben wir guten Grund zu der Annahme, daß solche Ideen Zeichen unserer Unvollkommenheit seien. Wenigstens zeigt dies zur Genüge, daß es nicht die abstraktesten und allgemeinsten Ideen sind, mit denen sich der Geist zuerst und am leichtesten vertraut macht oder mit denen sich sein frühestes Wissen befaßt.« Buch IV, Kap. 7, § 9. Sollte jemand die Fähigkeit besitzen, in seinem Geist eine solche Dreiecksidee wie die hier beschriebene zu bilden, so wäre es vergebliche Mühe, ihm diese Fähigkeit ausreden zu wollen; ich versuche das nicht. Ich wünsche lediglich, der Leser möge sich gründlich vergewissern, ob er eine solche Idee hat oder nicht. Und das sollte wirklich keine Kunst sein. Was kann es Leichteres für einen jeden geben, als ein wenig ins eigene Denken zu blicken und zu prüfen, ob er eine Idee hat oder gewinnen kann, die der hier beschriebenen allgemeinen Idee eines Dreiecks entspricht, welches weder schief- noch rechtwinklig, weder gleichseitig noch gleichschenklig noch ungleichseitig, vielmehr das alles und zugleich nichts von alledem ist?

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14 Viel ist hier von den mit abstrakten Ideen verbundenen

Schwierigkeiten die Rede, von der Mühsal ihrer Bildung und der Geschicklichkeit, die dazu erforderlich ist. Und alle sind sich darin einig, daß es den Geist hart ankommt, die Gedanken von den Einzeldingen zu lösen und sie in die luftigen Höhen einer mit abstrakten Ideen befaßten Spekulation zu befördern. Man sollte meinen, die natürliche Konsequenz dessen wäre, daß etwas so Schwieriges wie die Bildung abstrakter Ideen keinesfalls Voraussetzung sprachlicher Verständigung, der einfachsten und vertrautesten Sache von der Welt, sein kann. Doch man sagt uns, wenn jene Ideen Erwachsenen einleuchtend und geläufig scheinen, so sei das nur aufgrund des beständigen und gewohnheitsmäßigen Umgangs mit ihnen der Fall. Dann aber möchte ich gerne wissen, in welcher Phase ihrer Entwicklung die Menschen jene Schwierigkeiten zu meistern und sich das nötige Rüstzeug für den Gedankenaustausch anzueignen trachten. Wenn sie erwachsen sind, kann es nicht sein, denn dann, so scheint es, sind sie sich keiner derartigen Bemühungen bewußt. Es muß also das Werk ihrer Kindheit sein. Aber mit dem mühevollen und verwickelten Geschäft der Bildung abstrakter Ideen wird diesem zarten Alter wahrlich allerhand zugemutet. Sollen wir denn im Ernst glauben, ein Haufen Kinder könne nicht über seine Süßigkeiten und Spielsachen und sonstigen Krimskrams schwatzen, ohne vorher zahllose Unvereinbarkeiten zusammengezimmert und so im Geist abstrakte allgemeine Ideen gebildet und diese an jeden Gemeinnamen, den sie gebrauchen, geheftet zu haben? 15 Auch meine ich, daß sie zur Erweiterung der Erkenntnis nicht im geringsten erforderlicher sind als zum Gedankenaustausch. Ich weiß wohl, man mißt dem Umstand große Bedeutung bei, daß alle Erkenntnis und Beweisführung es mit allgemeinen Begriffen zu tun hat, und mit dieser Auffassung stimme ich völlig überein. Aber ich kann nicht finden, daß diese Begriffe in der geschilderten Weise durch Abstraktion gebildet sind. Allgemeinheit (universality) besteht, soweit ich einzusehen vermag, nicht in dem absoluten positiven Wesen oder der Denkbestimmung (conception) von irgend etwas, sondern in der Beziehung, in der etwas zu den Einzeldingen steht, die es bezeichnet oder repräsentiert. Auf diese

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Weise werden Dinge, Namen oder Begriffe, die ihrer Natur nach einzelnes sind, allgemein. Wenn ich beispielsweise irgendeinen Satz über Dreiecke beweise, so ist vorauszusetzen, daß ich die allgemeine Idee des Dreiecks im Blick habe. Das darf freilich nicht so verstanden werden, als ob ich die Idee eines Dreiecks bilden könnte, das weder gleichseitig noch ungleichseitig noch gleichschenklig wäre, sondern nur so, daß das einzelne Dreieck, das ich betrachte, einerlei ob es von dieser oder von jener Art ist, jedes beliebige geradlinige Dreieck vertritt und repräsentiert und in diesem Sinne allgemein ist. Das alles scheint sehr klar zu sein und keine Schwierigkeiten zu enthalten. 16 Aber hier wird man fragen, wie wir wissen können, daß ein Satz von jedem einzelnen Dreieck gilt, wenn er uns nicht für die abstrakte Dreiecksidee bewiesen worden ist, die mit allen einzelnen übereinstimmt. Denn aus der Tatsache, daß eine Eigenschaft bewiesenermaßen irgendeinem einzelnen Dreieck zukommt, folgt ja nicht, daß sie auch einem anderen Dreieck zukommt, das jenem nicht in jeder Hinsicht gleicht. Wenn ich z. B. bewiesen habe, daß die drei Winkel eines gleichschenkligen, rechtwinkligen Dreiecks gleich zwei rechten sind, so kann ich daraus nicht schließen, daß es sich mit allen anderen Dreiecken, die weder einen rechten Winkel noch zwei gleiche Seiten haben, ebenso verhält. Es scheint daher, daß wir nur dann sicher sein können, daß der Satz allgemeingültig ist, wenn wir entweder einen Beweis für jedes einzelne Dreieck führen, was unmöglich ist, oder ihn ein für allemal für die abstrakte Dreiecksidee beweisen, an der alle einzelnen Dreiecke unterschiedslos teilhaben und durch die sie in gleicher Weise repräsentiert werden. Darauf erwidere ich, daß, obschon die Idee, die ich bei der Beweisführung im Blick habe, z. B. die eines gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks von bestimmter Seitenlänge ist, ich nichtsdestoweniger sicher sein kann, daß der Beweis für alle geradlinigen Dreiecke welcher Art oder Größe auch immer Gültigkeit besitzt, und das deshalb, weil weder die Rechtwinkligkeit noch die Gleichschenkligkeit noch die bestimmte Seitenlänge im mindesten beweisrelevant ist. Das Diagramm, das ich vor Augen habe, enthält in der Tat alle diese Einzelheiten. Aber der Beweis des Satzes nimmt in keiner Weise

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auf sie Bezug. Es heißt nicht, die drei Winkel seien darum gleich zwei rechten, weil einer von ihnen ein rechter ist oder weil die Seiten, die seine Schenkel bilden, gleich lang sind – was zur Genüge zeigt, daß der rechte Winkel ein schiefer und die Seiten ungleich hätten sein können, ohne daß es der Gültigkeit des Beweises Abbruch getan hätte. Aus diesem Grunde und nicht, weil ich den Satz für die abstrakte Dreiecksidee bewiesen hätte, schließe ich, daß von jedem schiefwinkligen, ungleichseitigen Dreieck gilt, was ich für ein einzelnes rechtwinkliges, gleichschenkliges Dreieck bewiesen habe. Es muß hier eingeräumt werden, daß es möglich ist, eine Figur bloß als Dreieck zu betrachten (to consider), ohne Berücksichtigung der besonderen Beschaffenheit der Winkel oder Seitenverhältnisse. Insoweit kann man abstrahieren. Aber das beweist keineswegs, daß man eine abstrakte allgemeine, in sich widersprüchliche Idee eines Dreiecks bilden kann. Auf dieselbe Weise, indem nicht alles Wahrgenommene in Betracht gezogen wird, können wir Peter bloß als Menschen oder bloß als Lebewesen betrachten, ohne die zuvor erwähnte abstrakte Idee eines Menschen oder eines Lebewesens zu bilden. 17 Es wäre ein ebenso endloses wie nutzloses Unterfangen, den Schulphilosophen, diesen Großmeistern der Abstraktion, auf den labyrinthisch verschlungenen Pfaden von Irrtum und Meinungsstreit folgen zu wollen, auf die sie sich durch die Lehre von den abstrakten Wesenheiten und Begriffen haben locken lassen. Wieviel Gezänk und Hader hierüber entstanden ist, wieviel gelehrter Staub aufgewirbelt wurde und welch großartigen Gewinn die Menschheit aus alldem hat ziehen können, ist heutzutage so wohlbekannt, daß man sich nicht lange dabei aufzuhalten braucht. Und wir könnten uns glücklich preisen, wenn die üblen Folgen jener Lehre auf den Kreis derer beschränkt blieben, die sich vorbehaltlos zu ihr bekennen. Wenn man bedenkt, wie viel Mühe, Fleiß und Talent im Lauf der Jahrhunderte auf die Pflege und Entwicklung der Wissenschaften verwendet wurde, deren überwiegender Teil gleichwohl in Dunkelheit, Ungewißheit und nicht enden wollenden Streitigkeiten verharrt; wenn man ferner, bedenkt, daß selbst diejenigen Wissenschaften, die in dem Rufe stehen, auf den klarsten und zwingendsten Beweisführungen auf-

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zubauen, Paradoxien enthalten, die den menschlichen Verstand in Fassungslosigkeit versetzen, und schließlich, daß nur einige wenige von ihnen der Menschheit wirklich Nutzen bringen, welcher mehr ist als unschuldiger Zeitvertreib und Zerstreuung – wenn man sich, sage ich, all das vor Augen hält, dann läuft man Gefahr, in Kleinmut zu versinken und jedwedes Erkenntnisstreben für nichts zu achten. Als wirksames Gegenmittel mag sich ein Blick auf die falschen Prinzipien erweisen, die in der Welt Geltung erlangt haben und unter denen meines Erachtens keines das wissenschaftliche Denken nachhaltiger beeinflußt hat als die Lehre von den abstrakten allgemeinen Ideen. 18 Ich wende mich nun der Frage nach dem Ursprung dieser herrschenden Auffassung zu. Er liegt, wie mir scheint, in der Sprache. Und gewiß hätte nichts, was nicht ebenso verbreitet wäre wie die Vernunft selbst, eine so allgemein akzeptierte Lehrmeinung hervorrufen können. Daß dem so ist, ergibt sich, wie aus anderen Gründen, so auch aus den Erklärungen der tüchtigsten Fürsprecher abstrakter Ideen, die kein Hehl daraus machen, daß sie um des Benennens willen geschaffen worden sind, woraus unmißverständlich erhellt, daß, gäbe es nicht so etwas wie Sprache oder allgemeine Zeichen, niemals an Abstraktion gedacht worden wäre. Siehe Versuch über den menschlichen Verstand Buch 3, Kapitel 6, Abschnitt 39 und anderswo. Ich will daher untersuchen, auf welche Weise die Wörter zur Entstehung jenes Irrtums beigetragen haben. Als erstes stößt uns die Annahme auf, daß jeder Name einen einzigen wohlbestimmten Gegenstand benennt oder benennen sollte, was die Menschen zu dem Glauben verleitet, es gäbe gewisse abstrakte, genau bestimmte Ideen, welche die eigentliche, unmittelbare Bedeutung eines Gemeinnamens bilden. Durch Vermittlung der abstrakten Idee soll sich ein Gemeinname auf Einzeldinge beziehen. In Wahrheit gibt es keine solche mit einem Gemeinnamen verknüpfte fest umrissene Bedeutung, indem jeder Gemeinname unterschiedslos eine große Zahl von Einzelideen bezeichnet. All das folgt offenkundig aus dem bereits Gesagten und sollte jedermann bei geringem Nachdenken einleuchten. Dagegen wird man einwenden, daß jedem definierbaren Namen durch seine Definition ein ganz bestimmter Gegen-

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stand als seine Bedeutung zugeordnet wird. So ist z. B. Dreieck definiert als ebene, von drei geraden Linien begrenzte Fläche, wodurch der Name darauf festgelegt ist, eine ganz bestimmte Idee und keine andere zu bezeichnen. Darauf erwidere ich, daß in der Definition nicht gesagt ist, ob die Fläche groß oder klein, schwarz oder weiß ist, ob die Seiten lang oder kurz, gleich oder ungleich sind, noch auch, was für Winkel sie miteinander bilden. In alldem kann große Vielfalt herrschen, und es gibt infolgedessen nicht eine einzige bestimmte Idee, auf die das Wort Dreieck in seiner Bedeutung eingeschränkt wäre. Es ist eine Sache, einen Namen stets im Sinne einer bestimmten Definition zu gebrauchen, und eine andere, mit ihm überall dieselbe Idee zu bezeichnen. Das eine ist notwendig, das andere zwecklos und undurchführbar. 19 Um aber noch genauer darzutun, inwiefern der Ursprung der Lehre von den abstrakten Ideen in den Wörtern liegt, muß ich daran erinnern, daß nach herrschender Meinung die Sprache ausschließlich dem Zweck der Ideenmitteilung dient und daß jeder Name, der Bedeutung hat, für eine Idee steht. Aufgrund dieser Annahme und weil es Tatsache ist, daß Namen, denen man keineswegs jede Bedeutung absprechen möchte, nicht immer konkrete Einzelideen bezeichnen, glaubt man ohne weiteres schließen zu können, daß sie für abstrakte Begriffe stehen. Daß in wissenschaftlichen Erörterungen viele Namen gebraucht werden, die nicht immer bestimmte Einzelideen ins Bewußtsein rufen, ist unstrittig. Und ein wenig Nachdenken wird zeigen, daß selbst in Begründungszusammenhängen von strengster Folgerichtigkeit Namen, die Bedeutung haben und für Ideen stehen, nicht notwendig, so oft sie gebraucht werden, im Verstande eben die Ideen wachrufen, zu deren Stellvertretung sie bestimmt sind. Beim Lesen und Sprechen werden Namen meistens so gebraucht wie Buchstaben in der Algebra, wo jeder Buchstabe für eine bestimmte Größe steht, ohne daß es für einen korrekten Vollzug der Rechenoperationen erforderlich wäre, daß bei jedem Schritt jeder einzelne Buchstabe die bestimmte Größe, zu deren Vertretung er eingeführt wurde, ins Denken ruft. 20 Zudem stellt die Ideenmitteilung durch Worte keineswegs, wie gemeinhin angenommen wird, den wichtigsten oder

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis

sogar den alleinigen Sprachzweck dar. Es gibt andere Zwecke, wie die Erregung von Gemütsbewegungen, den Anreiz zu oder die Abschreckung von Handlungen, die Schaffung bestimmter geistiger Dispositionen, wobei die Ideenmitteilung vielfach nur eine untergeordnete und manchmal gar keine Rolle spielt, wenn nämlich diese Zwecke auch ohne sie erreicht werden können, und dies ist, denke ich, beim gewöhnlichen Gebrauch der Sprache nicht selten der Fall. Ich fordere den Leser auf, sich selbst zu prüfen und zu überlegen, ob es nicht oft beim Hören oder Lesen eines Textes geschieht, daß Furcht, Liebe, Haß, Bewunderung, Verachtung und ähnliche Affekte durch die bloße Wahrnehmung der Wörter, ohne Intervention irgendwelcher Ideen in seiner Seele entstehen. Ursprünglich mögen die Wörter in der Tat Ideen evoziert haben, die ihrerseits diese Gefühle anzuregen vermochten. Doch verhält es sich meines Erachtens so, daß, wenn wir mit der Sprache völlig vertraut sind, das Hören der Töne oder der Anblick der Wortzeichen oft unmittelbar jene Gemütsbewegungen hervorruft, die anfänglich nur durch Ideen, die jetzt gänzlich fehlen, erregt werden konnten. Verschafft uns nicht das Versprechen von etwas Gutem ein angenehmes Gefühl, auch wenn wir keine Idee dessen haben, worin es besteht? Oder genügt nicht schon eine Drohung, uns in Furcht zu versetzen, auch wenn wir an kein konkretes Übel denken, das uns widerfahren könnte, geschweige denn, daß wir die Idee der Gefahr in abstracto bildeten? Wer hierüber auch nur ein klein wenig nachdenken möchte, wird es, meine ich, einleuchtend finden, daß Gemeinnamen oftmals in sprachlich angemessener Weise gebraucht werden, ohne daß der Sprecher sie zu Zeichen für Ideen in seinem eigenen Geist macht, wodurch ebensolche im Geist des Hörers hervorgerufen werden sollen. Sogar Eigennamen scheinen nicht immer in der Absicht ausgesprochen zu werden, daß wir uns jene Individuen, die sie bezeichnen sollen, durch Ideen vergegenwärtigen. Wenn beispielsweise ein Schulphilosoph mir erklärt Aristoteles hat das gesagt, so will er damit, soweit ich sehe, nur erreichen, daß ich in Ehrfurcht und Ergebenheit, die wir diesem Namen traditionsgemäß schulden, seine Meinung akzeptiere. Und diese Wirkung kann im Geist derer, die gewohnt sind, ihr Urteil der Autorität dieses

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Philosophen zu unterwerfen, so prompt erfolgen, daß unmöglich eine Idee seiner Person, seiner Schriften oder seines Ansehens ihr vorhergehen kann. Beispiele dieser Art sind Legion; warum also soll ich mich länger mit Dingen abgeben, die jedem aus eigener Erfahrung hinlänglich vertraut sind? 21 Wir haben, meine ich, gezeigt, daß abstrakte Ideen unmöglich sind. Wir haben geprüft, was von ihren fähigsten Befürwortern vorgebracht wurde, und wir haben nachzuweisen versucht, daß sie nutzlos sind für die Zwecke, für die sie angeblich gebraucht werden. Und wir haben sie schließlich auf ihren Ursprung zurückgeführt, der in der Sprache zu liegen scheint. Niemand kann leugnen, daß Wörter von außerordentlichem Nutzen sind, weil sie die Schätze des Wissens, die durch die vereinten Bemühungen der wißbegierigen Köpfe aller Zeiten und Völker angehäuft wurden, dem Einzelnen sichtbar und verfügbar machen. Doch kann ebensowenig bestritten werden, daß der größte Teil unseres Wissens durch den Mißbrauch der Wörter und allgemeinen Ausdrucksformen, in denen es überliefert worden, befremdlich entstellt und verdunkelt ist. Da somit Wörter den Verstand so leicht hinters Licht führen können, werde ich mich bestreben, sämtliche Ideen, die ich betrachte, gleichsam nackt und bloß in den Blick zu nehmen, indem ich, soweit ich vermag, aus meinem Denken all die Namen verbanne, die eine lange und beständige Praxis so fest mit ihnen verknüpft hat. Ich erwarte mir davon folgende Vorteile. 22 Erstens werde ich gegen alle rein verbalen Auseinandersetzungen gefeit sein. Sie sind jenes Unkraut, das in fast allen Wissenschaften den Weg zur Wahrheit überwuchert und gediegene Erkenntnis nicht zur Entfaltung kommen läßt. Zweitens sollte es mir auf diese Weise gelingen, mich vor dem subtilen Gespinst der abstrakten Ideen in acht zu nehmen, in dem sich das Denken der Menschen auf so fatale Weise verstrickt und verfangen hat, und zwar mit der Besonderheit, daß, je feiner und wißbegieriger ein Kopf, desto größer die Gefahr war, daß er umgarnt wurde und in den Netzen hängen blieb. Drittens, so lange sich mein Denken ganz auf meine eigenen, der Worte entkleideten Ideen beschränkt, sehe ich nicht, wie ich leicht in die Irre gehen könnte.

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis

Die Gegenstände, die ich betrachte, sind mir vollständig und genau so, wie sie sind, bekannt. Ich kann nicht fälschlich glauben, ich hätte eine Idee, die ich nicht habe. Ich bin nicht imstande, mir vorzustellen, einige meiner Ideen seien einander ähnlich oder unähnlich, wenn sie es nicht wirklich sind. Um Übereinstimmungen oder Nichtübereinstimmungen zwischen meinen Ideen zu beurteilen, um festzustellen, welche Ideen in einer zusammengesetzten Idee enthalten sind und welche nicht, dazu ist nichts weiter erforderlich als die aufmerksame Wahrnehmung dessen, was in meinem Verstand vor sich geht. 23 Um aber in den Genuß all dieser Vorteile zu gelangen, bedarf es der völligen Befreiung von der Täuschung durch Wörter, für die ich mich freilich vor mir selbst kaum zu verbürgen wage, so schwierig ist es, eine so früh gestiftete und durch lange Übung befestigte Verbindung wie die zwischen Wörtern und Ideen aufzulösen. Diese Schwierigkeit scheint durch die Lehre von der Abstraktion erheblich vergrößert worden zu sein. Denn so lange die Menschen glaubten, abstrakte Ideen seien an ihre Wörter geheftet, so lange war es nicht verwunderlich, wenn sie Wörter statt Ideen gebrauchten, stellte es sich doch als undurchführbar heraus, das Wort beiseite zu setzen und die abstrakte Idee, die etwas an und für sich schlechthin Unbegreifliches ist, im Geiste festzuhalten. Darin sehe ich die Hauptursache, weshalb Autoren, die anderen nachdrücklich angeraten haben, sich in ihren philosophischen Reflexionen ganz von den Wörtern zu lösen und nur ihre Ideen rein als solche zu betrachten, den eigenen Empfehlungen nicht zu folgen vermochten. In jüngster Zeit haben viele auf die absurden Ansichten und sinnlosen Streitigkeiten hingewiesen, zu denen der Mißbrauch der Sprache Anlaß gibt. Um diesem Übel zu wehren, empfehlen sie, wir sollten unser Augenmerk auf die bezeichneten Ideen richten und den Wörtern, die sie bezeichnen, keine Beachtung schenken. Doch so gut dieser Rat auch sein mag, den sie anderen erteilt haben, es liegt auf der Hand, daß sie selbst ihn nicht beherzigen konnten, so lange sie glaubten, Wörter dienten unmittelbar nur dazu, Ideen zu bezeichnen, und die unmittelbare Bedeutung eines jeden Gemeinnamens sei eine genau bestimmte abstrakte Idee.

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Einführung · §§ 23–25

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24 Sobald diese Ansichten als verfehlt erkannt sind, mag es

leichter fallen, vor der Täuschung durch Wörter auf der Hut zu sein. Einer, der weiß, daß er keine anderen Ideen als Einzelideen besitzt, wird sich nicht vergeblich damit abplagen, die an irgendeinen Namen geheftete abstrakte Idee zu entdecken und zu begreifen. Wer weiß, daß Namen nicht immer für Ideen stehen, wird sich die Mühe sparen, nach Ideen zu suchen, wo keine zu finden sind. Daher wäre zu wünschen, ein jeder setzte seine ganze Kraft daran, ein ungetrübtes Bild der von ihm zu betrachtenden Ideen zu gewinnen, indem er sie von all dem schwerfälligen verbalen Aufputz befreit, der das Urteil lähmt und die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen ablenkt. Vergebens dehnen wir unseren Gesichtskreis himmelwärts aus und spähen ins Innere der Erde; vergebens suchen wir in den Schriften gelehrter Männer Rat und verfolgen die dunklen Spuren der Vorzeit; wir brauchen nur den Vorhang von Worten zur Seite zu ziehen, um den herrlichsten Baum der Erkenntnis zu erblicken, dessen Frucht köstlich und in Reichweite unserer Hände ist. 25 Wenn es uns nicht gelingt, unbeeinflußt vom trügerischen Wesen der Sprache über die ersten Prinzipien der Erkenntnis Klarheit zu gewinnen, können wir endlos für nichts und wieder nichts über sie vernünfteln; wir mögen Folgerungen aus Folgerungen ziehen und werden doch keinen Deut klüger werden. Je weiter wir gehen, desto hilfloser werden wir in unserer Orientierungslosigkeit sein, desto tiefer verstrickt in Schwierigkeiten und Irrtümer. Daher richte ich an jeden, der die folgenden Seiten zu lesen gedenkt, die inständige Bitte, er möge sich durch meine Worte zu eigenem Denken anregen lassen und versuchen, beim Lesen dieselbe Gedankenfolge zu bilden, wie ich sie beim Schreiben entwickelt habe. So wird es ihm leicht fallen, Wahrheit oder Unwahrheit dessen, was ich sage, zu erkennen. Er wird nicht Gefahr laufen, durch meine Worte getäuscht zu werden, und ich sehe nicht, wie er sich irren kann, wenn er seine eigenen nackten, unverschleierten Ideen betrachtet.

ÜBER DIE PRINZIPIEN DER MENSCHLICHEN ERKENNTNIS TEIL I 1 Für jeden, der die Gegenstände menschlicher Erkenntnis

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mustert, ist offenkundig, daß es sich dabei entweder um den Sinnen gegenwärtig eingeprägte Ideen handelt oder um Dinge, die in den Blick geraten, wenn den Gemütsbewegungen und Tätigkeiten des Geistes Aufmerksamkeit geschenkt wird, oder schließlich um Ideen, die vermöge des Gedächtnisses und der Einbildungskraft durch Zusammensetzung, Teilung oder bloße Wiederholung dessen gebildet werden, was ursprünglich auf die eine oder die andere genannte Weise wahrgenommen worden ist. Durch den Gesichtssinn empfange ich die Ideen von Licht und Farbe in ihren mannigfachen Abstufungen und Variationen. Mit dem Tastsinn nehme ich beispielsweise Härte und Weichheit, Wärme und Kälte, Bewegung und Widerstand wahr und von all dem mehr oder weniger hinsichtlich der Quantität oder des Grades. Der Geruchssinn versorgt mich mit Düften, der Gaumen mit Geschmacksempfindungen, das Gehör erschließt dem Geist eine Welt von Tönen unterschiedlichster Stärke und Zusammensetzung. Wenn nun beobachtet wird, daß mehrere dieser Ideen einander begleiten, so erhalten sie einen Namen und werden infolgedessen als ein Ding aufgefaßt. So geschieht es zum Beispiel, daß eine bestimmte Farb-, Geschmacks-, Geruchsqualität, Gestalt und stoffliche Beschaffenheit, nachdem beobachtet worden ist, daß sie regelmäßig zusammen auftreten, als ein ganz bestimmtes Ding angesehen und mit dem Namen Apfel belegt werden. Andere Konfigurationen von Ideen bilden einen Stein, einen Baum, ein Buch und ähnliche Sinnendinge (sensible things), die in dem Maße, wie sie gefallen oder mißfallen, die Gemütsbewegungen Liebe, Haß, Freude, Kummer usw. hervorrufen. 2 Aber außer dieser endlosen Mannigfaltigkeit von Ideen oder Erkenntnisgegenständen gibt es auch noch etwas, das sie erkennt oder wahrnimmt und verschiedene Tätigkeiten wie Wol-

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 3–4

len, Sicheinbilden, Sicherinnern an ihnen ausübt. Dieses wahrnehmende tätige Wesen ist das, was ich Subjekt, Geist, Seele oder mich selbst nenne. Mit diesen Ausdrücken bezeichne ich nicht irgendeine meiner Ideen, sondern ein von ihnen schlechthin verschiedenes Ding, worin sie existieren oder, was dasselbe besagt, wodurch sie wahrgenommen werden. Denn das Sein einer Idee besteht im Wahrgenommenwerden. 3 Daß weder unsere Gedanken noch unsere Gemütsbewegungen noch die Ideen der Einbildungskraft außerhalb des Geistes existieren, wird jeder zugeben. Es scheint aber ebenso offenkundig zu sein, daß die verschiedenen Sinnesempfindungen oder den Sinnen eingeprägten Ideen, wie sie auch miteinander vermischt oder verbunden sein, d. h. was für Gegenstände sie auch bilden mögen, nicht anders als in einem sie wahrnehmenden Geist existieren können. Das, meine ich, sollte jedem intuitiv klar sein, der genau darauf achtet, was der Ausdruck existieren, angewandt auf Sinnendinge, bedeutet. Von dem Tisch, an dem ich schreibe, sage ich: er existiert, und das heißt: ich sehe und taste ihn. Befände ich mich außerhalb meiner Studierstube, so hätte meine Behauptung, daß er existiert, den Sinn, daß ich, wenn ich in meiner Studierstube wäre, ihn wahrnehmen könnte oder daß irgendein anderer Geist ihn gegenwärtig wahrnimmt. Ein Duft war da, heißt: er wurde gerochen; ein Ton erklang, besagt: er wurde gehört; eine Farbe oder Gestalt war da: sie wurde durch den Gesichtssinn oder den Tastsinn wahrgenommen. Hierin erschöpft sich für mich die Bedeutung dieser und ähnlicher Ausdrücke. Denn die Rede von der absoluten Existenz nichtdenkender Dinge ohne alle Beziehung auf ihr Wahrgenommenwerden scheint schlechthin unverständlich zu sein. Ihr esse ist percipi, und es ist nicht möglich, daß ihnen irgendein Dasein außerhalb der Geister oder denkenden Dinge, die sie wahrnehmen, zukäme. 4 In der Tat aber herrscht unter den Menschen befremdlicherweise die Meinung vor, daß Häuser, Berge, Flüsse, kurz: alle Sinnesobjekte ein vom Wahrgenommenwerden durch den Verstand verschiedenes natürliches oder reales Dasein besitzen. Mag dieses Prinzip auch mit noch so emphatischer und allgemeiner Zustimmung verfochten werden, so wird doch, wenn ich nicht

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irre, ein jeder, der den Mut aufbringt, es in Zweifel zu ziehen, feststellen, daß es einen offenkundigen Widerspruch einschließt. Denn was sind die erwähnten Gegenstände anderes als Dinge, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, und was nehmen wir wahr außer unseren eigenen Ideen oder Sinnesempfindungen; und ist es nicht klarerweise ein Widerspruch in sich, daß irgendeine solche oder eine Verbindung von ihnen unwahrgenommen existiert? 5 Wenn wir diese Auffassung sorgfältig prüfen, wird sich vielleicht herausstellen, daß sie in letzter Instanz auf der Lehre von den abstrakten Ideen beruht. Denn heißt es nicht die Abstraktion auf die Spitze treiben, wenn die Existenz wahrnehmbarer Gegenstände vom Wahrgenommenwerden unterschieden wird, so daß man sich vorstellt, sie existierten unwahrgenommen? Licht und Farben, Wärme und Kälte, Ausdehnung und Gestalt, kurz: die Dinge, die wir sehen und tasten – was sind sie denn anderes als mancherlei Empfindungen, Vorstellungen, Ideen oder Sinneseindrücke; und ist es möglich, irgend etwas dergleichen auch nur in Gedanken vom Wahrgenommenwerden zu trennen? Was mich betrifft, so könnte ich genausogut ein Ding als von sich selbst verschieden denken. Ich vermag in der Tat Dinge in Gedanken zu teilen oder als für sich bestehend aufzufassen, die ich vielleicht niemals in gleicher Weise eines ohne das andere sinnlich wahrgenommen habe. So stelle ich mir den Rumpf eines menschlichen Körpers ohne die Gliedmaßen vor oder vergegenwärtige mir den Duft einer Rose, ohne an die Rose selbst zu denken. Insoweit bestreite ich nicht, daß ich abstrahieren kann – vorausgesetzt, man kann füglich von Abstraktion sprechen, wenn es nur darum geht, Gegenstände als voneinander getrennt aufzufassen, die realiter getrennt existieren oder je für sich wahrgenommen werden können. Über die Möglichkeit realer Existenz oder Wahrnehmung jedoch reicht meine Fähigkeit des Auffassens oder Vorstellens nicht hinaus. So wie es mir durchaus unmöglich ist, irgend etwas zu sehen oder zu tasten ohne wirkliche Empfindung des Gegenstandes, so bin ich außerstande, ein Sinnending oder Objekt unabhängig von aller Empfindung oder Wahrnehmung desselben gedanklich zu erfassen.

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 6–8 6 Einige Wahrheiten liegen so nahe und sind so offensicht-

lich, daß man nur die Augen zu öffnen braucht, um sie zu sehen. Zu diesen zähle ich die bedeutende Wahrheit, daß alle Chöre des Himmels und die ganze Vielfalt irdischer Objekte, kurz: alle Körper, die das gewaltige Weltgebäude bilden, nicht außerhalb eines Geistes bestehen können, daß ihr Sein ihr Wahrgenommen- oder Erkanntwerden ist, daß mithin, solange sie nicht von mir aktual wahrgenommen werden oder in meinem Geist oder dem eines anderen geschaffenen Geistwesens existieren, sie entweder überhaupt nicht sind oder im Geist eines ewigen Wesens bestehen müssen; ist es doch völlig unverständlich und der Inbegriff des Widersinns der Abstraktion, wenn irgendeinem Teil dieser Dinge ein Dasein unabhängig von einem Geist zugeschrieben wird. Um hiervon überzeugt zu sein, muß der Leser sich nur auf sich selbst besinnen und versuchen, in Gedanken das Sein eines Sinnendinges von seinem Wahrgenommenwerden zu trennen. 7 Aus dem Gesagten folgt, daß es keine andere Substanz gibt als Geist oder das, was wahrnimmt. Um dies noch genauer darzutun, müssen wir uns nur vor Augen halten, daß die sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten, nämlich Farbe, Gestalt, Bewegung, Duft, Geschmack und dergleichen, nichts anderes als die durch die Sinne wahrgenommenen Ideen sind. Daß aber eine Idee in einem nichtwahrnehmenden Ding existiere, ist ein manifester Widerspruch; denn eine Idee haben und wahrnehmen ist ein und dasselbe. Dasjenige Etwas mithin, worin Farbe, Gestalt und die übrigen Qualitäten existieren, muß sie wahrnehmen, woraus erhellt, daß es eine nichtdenkende Substanz, ein Substrat der Ideen nicht geben kann. 8 Aber, wird man sagen, mögen auch die Ideen selbst nicht außerhalb des Geistes existieren, so kann es doch ihnen ähnliche Dinge geben, deren Kopien oder Abbilder jene sind, und diese Dinge existieren außerhalb des Geistes in einer nichtdenkenden Substanz. Darauf erwidere ich, daß eine Idee nur einer Idee ähnlich sein kann, eine Farbe oder Gestalt nur einer anderen Farbe oder Gestalt. Der allerflüchtigste Blick in unser Denken belehrt uns, daß wir unmöglich eine Ähnlichkeit, die nicht eine solche zwischen unseren Ideen wäre, begreifen können. Überdies frage

Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 9–10

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ich, ob die postulierten Urbilder oder externen Dinge, deren Abbilder oder Repräsentationen unsere Ideen sein sollen, selbst wahrnehmbar sind oder nicht. Sind sie es, so sind sie Ideen, und die Sache ist zu unseren Gunsten entschieden. Sagt ihr aber, sie sind es nicht, so bitte ich jedermann zu prüfen, ob mit Sinn behauptet werden kann, eine Farbe sei etwas Unsichtbarem ähnlich, Härte oder Weichheit etwas Untastbarem, und so fort. 9 Einige machen einen Unterschied zwischen primären und sekundären Qualitäten. Als primär gelten ihnen Ausdehnung, Gestalt, Bewegung, Ruhe, Festigkeit oder Undurchdringlichkeit und Zahl; als sekundär bezeichnen sie alle übrigen wahrnehmbaren Qualitäten wie Farben, Töne, Geschmäcke und so weiter. Sie erkennen an, daß die Ideen, die wir von letzteren haben, keine Abbilder von etwas außerhalb des Geistes oder unwahrgenommen Existierendem sind. Unsere Ideen primärer Qualitäten aber sollen Nachahmungen oder Bilder von Dingen sein, die außerhalb des Geistes in einer nichtdenkenden, Materie genannten Substanz existieren. Unter Materie haben wir demnach eine träge, empfindungslose Substanz zu verstehen, in der Ausdehnung, Gestalt und Bewegung ein reales Dasein besitzen. Aber aus dem, was wir bisher gezeigt haben, geht zweifelsfrei hervor, daß Ausdehnung, Gestalt und Bewegung lediglich im Geist existierende Ideen sind, daß eine Idee nur einer Idee ähnlich sein kann und daß infolgedessen weder diese selbst noch ihre Urbilder in einer nichtwahrnehmenden Substanz existieren können. Daraus erhellt, daß der bloße Begriff dessen, was Materie oder körperliche Substanz genannt wird, einen Widerspruch einschließt. 10 Diejenigen, die behaupten, daß Gestalt, Bewegung und die übrigen primären oder ursprünglichen Qualitäten außerhalb des Geistes in nichtdenkenden Substanzen existieren, erkennen gleichzeitig an, daß es sich mit Farben, Tönen, Wärme und Kälte und dergleichen sekundären Qualitäten nicht so verhält. Letztere, erklären sie, seien Empfindungen, die nur im Geist existieren, abhängig von der unterschiedlichen Größe, Beschaffenheit und Bewegung kleiner Materieteilchen und durch diese veranlaßt. Dies halten sie für eine unbezweifelbare Wahrheit, die sie in aller Strenge beweisen zu können glauben. Wenn es nun aber gewiß

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · § 11

ist, daß jene ursprünglichen Qualitäten untrennbar mit den anderen wahrnehmbaren Qualitäten vereinigt sind und nicht einmal in Gedanken durch Abstraktion von ihnen getrennt werden können, so folgt klarerweise, daß sie nur im Geist existieren. Ich bitte aber jedermann, sich auf sich selbst zu besinnen und zu prüfen, ob er durch gedankliche Abstraktion die Ausdehnung und Bewegung eines Körpers ohne alle anderen wahrnehmbaren Qualitäten zu erfassen imstande ist. Ich für meinen Teil bin mir klar und deutlich dessen bewußt, daß es nicht in meiner Macht steht, die Idee eines ausgedehnten und bewegten Körpers zu bilden, ohne ihm zugleich eine Farbe oder eine andere Sinnesqualität zu verleihen, die anerkanntermaßen nur im Geist existiert. Mit einem Wort: Ausdehnung, Gestalt und Bewegung, abstrahiert von allen anderen Qualitäten, sind unvorstellbar. Wo daher die anderen sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten sind, müssen auch jene sein, nämlich im Geist und nirgendwo sonst. 11 Überdies wird eingeräumt, daß die Bestimmungen groß und klein, schnell und langsam nicht außerhalb des Geistes existieren können, weil sie gänzlich relativ sind und dem Wechsel unterliegen, wenn der Bau oder die Position der Sinnesorgane sich ändert. Daher ist die Ausdehnung, die außerhalb des Geistes existiert, weder groß noch klein, die Bewegung weder schnell noch langsam, d. h. die eine wie die andere ist überhaupt nichts. Aber, sagt ihr, sie ist Ausdehnung im allgemeinen und Bewegung im allgemeinen. Daran kann man erkennen, wie sehr die Lehrmeinung, daß ausgedehnte, bewegliche Substanzen außerhalb des Geistes existieren, von der absonderlichen Theorie der abstrakten Ideen abhängt. Und hier kann ich mir die Bemerkung nicht versagen, wie sehr doch die vage und unbestimmte Konzeption der Materie oder körperlichen Substanz, die den modernen Philosophen durch ihre eigenen Grundsätze aufgezwungen wird, jenem antiquierten und zum allgemeinen Gespött gewordenen Begriff der materia prima gleicht, dem wir bei Aristoteles und seinen Anhängern begegnen. Ohne Ausdehnung kann Festigkeit nicht gedacht werden; und da Ausdehnung, wie wir gezeigt haben, nicht in einer nichtdenkenden Substanz existiert, muß von der Festigkeit dasselbe gelten.

Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 12–14

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12 Daß die Zahl ganz und gar ein Produkt des Geistes ist,

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selbst wenn man den übrigen Qualitäten ein Dasein außerhalb seiner zubilligen wollte, muß jedem einleuchten, der bedenkt, daß dasselbe Ding verschiedene numerische Bezeichnungen erhält, wenn der Geist es von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet. So ist dieselbe Ausdehnung eins oder drei oder sechsunddreißig, je nachdem der Geist sie zu einem Yard, einem Fuß oder einem Zoll ins Verhältnis setzt. Die Zahl ist so offensichtlich relativ und vom menschlichen Verstand abhängig, daß man Mühe hat zu verstehen, wie irgend jemand ihr ein absolutes Dasein außerhalb des Geistes zuschreiben kann. Wir sprechen von Einem Buch, Einer Seite, Einer Linie; all das sind gleichermaßen Einheiten, obwohl einige von ihnen mehrere andere enthalten. Und in jedem der Fälle ist klar, daß die Einheit sich auf eine vom Geist willkürlich hergestellte, besondere Ideenkombination bezieht. 13 Ich weiß wohl, daß die Einheit von manchen für eine einfache oder unzusammengesetzte Idee gehalten wird, die alle anderen Ideen in unserem Geist begleitet. Daß ich irgendeine solche Idee habe, die dem Wort Einheit entspricht, kann ich nicht feststellen; und sie müßte doch, wenn ich sie hätte, ganz sicherlich zu meiner Kenntnis gelangen. Mein Verstand müßte mit ihr am allervertrautesten sein, da sie ja angeblich alle anderen Ideen begleitet und durch jede Art Sinnestätigkeit und Reflexion wahrgenommen wird. Mit einem Wort: sie ist eine abstrakte Idee. 14 Ich füge hinzu, daß auf dieselbe Art, wie moderne Philosophen beweisen, daß bestimmte sinnlich wahrnehmbare Qualitäten kein Dasein in der Materie oder außerhalb des Geistes haben, dies auch für sämtliche anderen sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten bewiesen werden kann. So heißt es zum Beispiel, Wärme und Kälte seien lediglich Bewußtseinszustände und keineswegs Widerspiegelungen von etwas, das in den sie hervorrufenden körperlichen Substanzen real existiert, weil derselbe Körper, den die eine Hand als kalt empfindet, der anderen warm erscheint. Warum können wir nicht mit gleicher Berechtigung behaupten, Gestalt und Ausdehnung seien keine Widerspiegelungen oder Nachahmungen in der Materie vorhandener Qualitäten, weil sie

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 15–16

demselben Auge von verschiedenen Standpunkten aus oder Augen unterschiedlicher Beschaffenheit vom selben Standpunkt aus verschieden erscheinen und daher nicht Bilder von etwas in sich fest Gegründetem und Bestimmtem außerhalb des Geistes sein können? Des weiteren wird bewiesen, daß die Süße nicht wirklich in dem wohlschmeckenden Ding ist, weil das Ding sich nicht verändert, während die Süße in Bitterkeit übergeht, wie das im Fieber oder bei anderen Beeinträchtigungen des Geschmackssinns geschieht. Ist es nicht ebenso vernünftig zu sagen, es gäbe keine Bewegung außerhalb des Geistes, weil, wie allgemein anerkannt wird, wenn die Sukzession der Ideen im Geist sich beschleunigt, die Bewegung langsamer erscheint und zwar ohne jede Veränderung in irgendeinem äußeren Objekt. 15 Kurz: Man prüfe die Argumente, die schlüssig beweisen sollen, daß Farben und Geschmäcke nur im Geist existieren, und man wird finden, daß sie geeignet sind, mit gleicher Kraft dasselbe für Ausdehnung, Gestalt und Bewegung zu beweisen. Indessen muß eingeräumt werden, daß durch diese Art der Beweisführung nicht eigentlich gezeigt wird, daß es weder Ausdehnung noch Farbe in einem äußeren Objekt gibt, sondern lediglich, daß wir mit unseren Sinnen nicht erkennen können, welches die wahre Ausdehnung oder Farbe des Objekts ist. Doch haben wir zuvor bündig die Unmöglichkeit dargetan, daß eine Farbe oder Ausdehnung oder sonst eine sinnlich wahrnehmbare Qualität gleich welcher Art in einer nichtdenkenden Substanz außerhalb des Geistes existiert, ja daß es überhaupt so etwas wie ein äußeres Objekt gibt. 16 Aber laßt uns die herrschende Meinung ein wenig genauer prüfen. Man sagt, Ausdehnung sei ein Modus oder Akzidens der Materie und Materie das sie tragende substratum. Nun wünschte ich wohl, man würde mir erklären, was es heißen soll, Materie sei Träger der Ausdehnung. Wenn ihr sagt, ihr hättet keine Idee der Materie und wäret daher um eine Erklärung verlegen, so antworte ich, daß ihr, wenn schon keine positive, so doch wenigstens eine relative Idee der Materie haben müßt, soll das Wort nicht gänzlich sinnlos für euch sein. Wenn ihr auch nicht wißt, was sie ist, so wird man doch immerhin unterstellen dürfen, ihr wüßtet,

Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§17–18

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in welcher Beziehung sie zu ihren Akzidenzien steht und was es heißt, sie sei deren Träger. Es liegt auf der Hand, daß tragen hier nicht im üblichen oder wörtlichen Sinne zu verstehen ist, wie wenn wir sagen, daß Säulen ein Gebäude tragen; in welchem Sinne aber dann? 17 Wenn wir prüfen, was die sorgfältigsten Philosophen nach eigenem Bekunden unter materieller Substanz verstehen, so werden wir feststellen, daß die Bedeutung, die sie, wie sie selbst sagen, mit dieser Lautfolge verbinden, sich in der Idee des Seins im allgemeinen zusammen mit dem relativen Begriff des Tragens von Akzidenzien erschöpft. Die allgemeine Idee des Seins erscheint mir als die abstrakteste und unbegreiflichste von allen; und was das Tragen von Akzidenzien betrifft, so haben wir gerade gesehen, daß man hier mit der gewöhnlichen Wortbedeutung nicht weiterkommt. Der Ausdruck muß daher anders verstanden werden; aber wie, das verrät man uns nicht. Wenn ich also die beiden Teile oder Verzweigungen der Bedeutung der Wörter materielle Substanz betrachte, so gelange ich zu der Überzeugung, daß gar kein faßlicher Sinn damit verbunden ist. Doch warum sollen wir uns über dieses materielle Substrat als Träger von Gestalt, Bewegung und anderen wahrnehmbaren Qualitäten weiter den Kopf zerbrechen? Setzt es nicht voraus, daß sie ein Dasein außerhalb des Geistes haben? Und ist das nicht ein direkter innerer Widerspruch und schlechthin unbegreiflich? 18 Aber selbst wenn es möglich wäre, daß feste, gestaltete, bewegliche Substanzen, die unseren Ideen von Körpern korrespondieren, außerhalb des Geistes existieren, wie sollte es uns möglich sein, dies zu erkennen? Wir müßten es entweder durch die Sinne oder durch Vernunft erkennen. Was die Sinne betrifft, so haben wir durch sie lediglich Kenntnis von unseren Sinnesempfindungen, Ideen oder jenen Dingen (man mag sie nennen, wie man will), die unmittelbar wahrgenommen werden. Aber die Sinne teilen uns nicht mit, daß Dinge außerhalb des Geistes oder unwahrgenommen existieren, die den wahrgenommenen gleichen. Sogar die Materialisten erkennen das an. Es bleibt somit nur die zweite Möglichkeit: Wenn wir überhaupt Wissen von äußeren Dingen besitzen, so kann nur die Vernunft uns dazu verhelfen, indem wir

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · § 19

ihr Dasein aus der unmittelbaren Sinneswahrnehmung erschließen. Aber wie können wir durch vernunftgemäßes Schließen aus dem, was wir wahrnehmen, zum Glauben an die Existenz von Körpern außerhalb des Geistes gelangen, da doch nicht einmal die Anwälte der Materie sich erkühnen zu behaupten, es bestehe zwischen ihnen und unseren Ideen eine notwendige Verknüpfung? Nach allgemeiner Auffassung (die durch das, was in Träumen, Wahnzuständen und dergleichen geschieht, zweifelsfrei bestätigt wird) ist es möglich, daß uns alle Ideen, die wir jetzt haben, zuteil würden, auch wenn keine ihnen ähnlichen Körper außer uns existierten. Daraus geht klar hervor, daß es, um die Entstehung unserer Ideen zu erklären, der Annahme externer Körper nicht bedarf, wird doch eingeräumt, daß jene ohne Mitwirkung letzterer in der nämlichen Ordnung, die wir jetzt an ihnen beobachten, zuweilen tatsächlich hervorgebracht werden und immer so hervorgebracht werden könnten. 19 Aber wenn wir auch aller unserer Sinnesempfindungen ohne sie teilhaftig werden könnten, so möchte es immerhin einfacher zu sein scheinen, das Wie ihrer Hervorbringung mit Hilfe der Annahme externer, ihnen ähnlicher Körper als auf irgendeine andere Weise zu begreifen und zu erklären, so daß es wenigstens für wahrscheinlich gelten kann, daß es solche Dinge wie Körper gibt, die ihre Ideen in unserem Bewußtsein hervorrufen. Allein, auch das ist nicht akzeptabel. Denn selbst wenn wir den Materialisten ihre externen Körper zugeben, so kommen sie der Erklärung, wie unsere Ideen hervorgebracht werden, dadurch nach eigenem Bekunden doch keinen Schritt näher; denn sie verhehlen nicht, daß sie außerstande sind zu begreifen, wie ein Körper auf einen Geist einwirken können oder wie es möglich sein soll, daß er ihm irgendwelche Ideen einprägt. Die Erzeugung von Ideen oder Sinnesempfindungen in unserem Geist kann somit offensichtlich kein Grund sein, Materie oder körperliche Substanzen anzunehmen, weil sie anerkanntermaßen mit oder ohne diese Voraussetzung gleich unerklärlich ist. Gesetzt also, es wäre möglich, daß Körper außerhalb des Geistes existieren, so müßte die Annahme, dem sei tatsächlich so, für eine ziemlich fragwürdige Hypothese gelten; hieße das doch ohne jeden Grund vorausset-

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 20–22

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zen, daß Gott unzählige Entitäten geschaffen hat, die völlig nutzlos sind und keinem wie immer gearteten Zweck dienen. 20 Kurz, gäbe es externe Körper, so könnten wir unmöglich von ihnen wissen, und gäbe es keine, so möchten wir genau dieselben Gründe für die Annahme ihrer Existenz besitzen, die wir jetzt haben. Gesetzt den Fall, dessen Denkbarkeit außer Frage steht, ein mit Intelligenz begabtes Wesen empfinge ohne Mitwirkung externer Körper dieselbe Folge von Sinnesempfindungen oder Ideen, die ihr empfangt; sie wären seinem Geist in genau derselben Ordnung und mit gleicher Lebhaftigkeit eingeprägt; dann frage ich, ob dieses denkende Wesen nicht über alle Gründe für den Glauben an die Existenz körperlicher Substanzen, die durch seine Ideen repräsentiert werden und sie in seinem Geist wachrufen, verfügen würde, die ihr für euren Glauben an dieselbe Sache möglicherweise habt. Das unterliegt keinem Zweifel; und diese eine Erwägung genügt bereits, um jeder vernünftigen Person die Kraft der Argumente gleich welcher Art suspekt erscheinen zu lassen, die sie für die Existenz von Körpern außerhalb des Geistes haben zu können glaubt. 21 Wenn es über das bereits Gesagte hinaus weiterer Beweisgründe wider die Existenz der Materie bedürfte, so könnte ich etliche jener Irrtümer und Schwierigkeiten (von den Gottlosigkeiten zu schweigen) anführen, die aus dieser Annahme erwachsen sind. Sie hat zahllose Auseinandersetzungen und Streitigkeiten in der Philosophie und nicht wenige von weit größerer Bedeutung in der Religion verschuldet. Aber ich werde auf diese Dinge hier nicht weiter eingehen, teils weil ich denke, daß es keiner Argumente a posteriori zur Bekräftigung dessen bedarf, was, wenn ich mich nicht täusche, hinreichend a priori hat bewiesen werden können, teils weil ich später Gelegenheit haben werde, das eine oder andere dazu zu sagen. 22 Ich fürchte, ich muß mir unnötige Weitschweifigkeit bei der Behandlung dieses Gegenstandes vorwerfen lassen. Denn wozu sich über etwas verbreiten, das jedem, der des Nachdenkens auch nur im geringsten fähig ist, in ein oder zwei Sätzen mit äußerster Klarheit bewiesen werden kann? Ihr braucht nur in eure eigenen Gedanken zu blicken und zu prüfen, ob ihr es für

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · § 23

denkmöglich halten könnt, daß ein Ton, eine Gestalt, eine Bewegung, eine Farbe außerhalb des Geistes oder unwahrgenommen existiert. Dieser einfache Versuch sollte euch vor Augen führen, daß das, wofür ihr streitet, eklatant widersprüchlich ist – so sehr, daß ich bereit bin, alles auf diese eine Karte zu setzen: Wenn ihr es auch nur für möglich halten könnt, daß eine ausgedehnte bewegliche Substanz oder, allgemein gesagt, irgendeine Idee oder etwas einer Idee Ähnliches anders als in einem sie wahrnehmenden Geist existiert, so bin ich bereit, die Waffen zu strecken. Das ganze Gefüge externer Körper, für dessen Existenz ihr streitet, sei euch geschenkt, obwohl ihr weder einen Grund für euren Glauben, es existiere, namhaft machen noch – seine Existenz vorausgesetzt – angeben könnt, welchem Zweck es dienen soll. Ich sage, die bloße Möglichkeit, daß eure Auffassung wahr ist, soll als Beweisgrund gelten, daß sie tatsächlich wahr ist. 23 Aber ihr werdet sagen, es sei doch gewiß nichts einfacher, als sich vorzustellen, daß beispielsweise Bäume in einem Park oder Bücher in einem Kabinett existieren, ohne daß jemand da ist, der sie wahrnimmt. Ich antworte: Es ist in der Tat nicht schwer, sich das vorzustellen. Was aber, bitteschön, besagt das anderes, als daß ihr in eurem Geist bestimmte Ideen bildet, die ihr Bücher und Bäume nennt, und es gleichzeitig unterlaßt, die Idee von einem, der sie wahrnimmt, zu bilden? Aber seid ihr es denn nicht selbst, der sie die ganze Zeit über wahrnimmt oder denkt? Das führt also nicht zum Ziel. Es zeigt nur, daß ihr imstande seid, mit Hilfe der Einbildungskraft Ideen in eurem Geist zu formen; aber es zeigt nicht, daß ihr es für möglich halten könnt, daß die Gegenstände eures Denkens außerhalb des Geistes existieren. Um das zu erreichen, müßtet ihr sie als nichtvorgestellt oder nichtgedacht existierend vorstellen, was offenkundig widersprüchlich ist. Wir mögen uns aufs Äußerste anstrengen, die Existenz externer Körper zu denken; wir betrachten doch immer nur unsere eigenen Ideen. Indem aber der Geist dabei sich selbst nicht beachtet, gibt er sich der Täuschung hin, er sei imstande, Körper zu denken, und denke solche wirklich, die ungedacht vom Geist oder außerhalb seiner existieren, obwohl sie doch eben dann von ihm vorgestellt werden oder in ihm existieren. Ein we-

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 24–25

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nig Aufmerksamkeit wird jedem die Wahrheit und Evidenz des hier Gesagten enthüllen, so daß es sich erübrigt, auf weitere Beweise gegen die Existenz einer materiellen Substanz zu dringen. 24 Wir brauchen nur ein wenig in unseren eigenen Gedanken nachzuforschen, um ganz klar zu erkennen, ob mit den Worten absolutes Dasein sinnlich wahrnehmbarer Objekte an sich oder außerhalb des Geistes Verständliches gemeint ist. Für mich leidet es keinen Zweifel, daß diese Worte entweder einen direkten Widerspruch oder gar nichts bedeuten. Um hiervon auch andere zu überzeugen, weiß ich keinen gangbareren und kürzeren Weg, als sie zu bitten, ganz ruhig auf ihre eigenen Gedanken zu achten. Und wenn ihnen durch diesen Akt der Aufmerksamkeit die Bedeutungslosigkeit oder Widersprüchlichkeit besagter Ausdrücke aufgeht, so ist gewiß nichts weiter erforderlich, um sie zu überzeugen. Auf diese Feststellung lege ich daher besonderen Nachdruck, daß nämlich die Worte ›absolute Existenz nichtdenkender Dinge‹ sinnlos oder widersprüchlich sind. Das wiederhole ich mit aller Eindringlichkeit und empfehle es dem aufmerksamen Nachdenken des Lesers. 25 Alle unsere Ideen, Sinnesempfindungen oder die Dinge, die wir wahrnehmen (welche Namen man ihnen auch geben mag), sind offensichtlich gänzlich inaktiv; es eignet ihnen nicht die geringste Kraft oder Wirksamkeit, weshalb es unmöglich ist, daß Ideen oder Denkobjekte untereinander irgendwelche Veränderungen herbeiführen oder veranlassen. Um die Wahrheit dieses Satzes einzusehen, ist nichts weiter erforderlich als die schlichte Beobachtung unserer Ideen. Denn da sie und alle ihre Teile nur im Geist existieren, so folgt, daß nichts in ihnen ist, was nicht wahrgenommen wird. Jeder aber, der auf seine Ideen achtet, mögen es Ideen der Sinne oder der Reflexion sein, wird weder Kraft noch Tätigkeit in ihnen wahrnehmen. Somit ist auch nichts dergleichen in ihnen enthalten. Ein wenig Aufmerksamkeit wird uns erkennen lassen, daß Passivität und Trägheit schlechthin zum Wesen einer Idee gehören, so daß eine Idee unmöglich etwas tun oder, um genau zu reden, die Ursache von etwas sein kann. Auch kann sie nicht Abbild oder Widerspiegelung eines tätigen Wesens sein, wie aus § 8 hervorgeht. Daraus folgt

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klarerweise, daß Ausdehnung, Gestalt und Bewegung nicht Ursache unserer Sinnesempfindungen sein können. Wenn daher behauptet wird, diese seien die Wirkungen von Kräften, die aus der Anordnung, Zahl, Bewegung und Größe von Korpuskeln resultieren, so muß das gewiß falsch sein. 26 Wir nehmen eine ununterbrochene Folge von Ideen wahr; einige treten neu ins Dasein, andere werden verändert oder verschwinden ganz. Es gibt daher eine Ursache dieser Ideen, von der sie abhängen und durch die sie hervorgebracht und verändert werden. Daß diese Ursache keine Qualität oder Idee oder Verbindung von Ideen sein kann, geht aus dem vorigen Paragraphen hervor. Sie muß mithin eine Substanz sein. Da es aber, wie gezeigt, keine körperliche oder materielle Substanz gibt, bleibt nur, daß die Ideenursache eine unkörperliche aktive Substanz oder Geist ist. 27 Ein Geist ist ein einfaches, unteilbares, tätiges Wesen, das Verstand genannt wird, wenn es Ideen wahrnimmt, und Wille, wenn es Ideen hervorbringt oder in anderer Weise in bezug auf sie handelt. Eine Idee eines Seelenwesens oder Geistes kann nicht gebildet werden. Denn da (nach § 25) Ideen schlechthin passiv und träge sind, können sie uns nicht als Abbilder oder qua Ähnlichkeit das, was tätig ist, repräsentieren. Ein wenig Aufmerksamkeit wird jedem deutlich machen, daß es absolut unmöglich ist, eine Idee zu haben, welche dem tätigen Prinzip der Bewegung und des Ideenwechsels ähnlich ist. Der Geist oder das, was tätig ist, kann seiner Natur nach nicht an sich selbst, sondern nur durch die von ihm hervorgebrachten Wirkungen wahrgenommen werden. Sollte jemand an der Wahrheit der hier aufgestellten Behauptungen zweifeln, so möge er nur nachdenken und prüfen, ob er die Idee einer Kraft oder eines tätigen Wesens bilden kann und ob er über die Ideen zweier Grundkräfte verfügt, welche unter der Bezeichnung Wille und Verstand sowohl voneinander als auch von einem Dritten verschieden sind, nämlich der Idee der Substanz oder des Seins im allgemeinen, das hier Seele oder Geist heißt und relativ bestimmt ist als Träger oder Subjekt besagter Kräfte. Einige nehmen das an. Aber soweit ich erkennen kann, bezeichnen die Wörter Wille, Seele, Geist nicht verschiedene Ideen; tatsächlich be-

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zeichnen sie gar keine Idee, sondern etwas, das von Ideen sehr verschieden ist und als tätiges Wesen irgendeiner Idee weder ähnlich sein noch durch sie repräsentiert werden kann. Freilich muß eingeräumt werden, daß wir über einen gewissen Begriff der Seele, des Geistes und verschiedener mentaler Tätigkeiten wie Wollen, Lieben, Hassen verfügen, da wir ja den Sinn dieser Worte kennen oder verstehen. 28 Ich bemerke, daß ich in meinem Geist Ideen nach Belieben hervorrufen und die Szene, wann immer es mir angebracht erscheint, sich verändern und wechseln lassen kann. Ich brauche nur zu wollen, und schon taucht diese oder jene Idee in meiner Phantasie auf, und durch dieselbe Kraft wird sie getilgt und eine andere tritt an ihre Stelle. Dieses Schaffen und Vernichten von Ideen ist es eigentlich, was den Geist aktiv zu nennen berechtigt. So viel steht fest und beruht auf Erfahrung. Doch wenn wir von nichtdenkenden handelnden Wesen reden oder von Ideen, die durch etwas hervorgerufen werden, das nicht Wille ist, so treiben wir nur ein Spiel mit Worten. 29 Aber welche Macht ich auch über meine eigenen Gedanken haben mag, so kann ich doch nicht umhin zu bemerken, daß die Ideen, die ich gegenwärtig durch die Sinne wahrnehme, nicht in gleicher Weise von meinem Willen abhängen. Wenn ich am hellichten Tag die Augen öffne, so liegt es nicht in meiner Macht zu entscheiden, ob ich sehen werde oder nicht, noch auch, welche einzelnen Gegenstände sich meinem Blick darbieten werden. Und genauso sind beim Gehör und den anderen Sinnen die ihnen eingeprägten Ideen nicht Geschöpfe meines Willens. Es gibt daher einen anderen Willen oder Geist, der sie hervorbringt. 30 Die Ideen der Sinne sind kräftiger, lebhafter und bestimmter als die Ideen der Einbildungskraft. Es eignet ihnen ferner eine gewisse Beständigkeit, Ordnung und Kohärenz; sie werden nicht blindlings hervorgerufen wie so oft diejenigen, welche das Ergebnis menschlicher Willenstätigkeit sind, sondern in geregelter Folge oder in Reihen, deren bewundernswürdiges Zusammenspiel Weisheit und Wohlwollen ihres Urhebers hinlänglich bezeugt. Die strikten Regeln und festgelegten Verfahrensweisen, nach denen der Geist, von dem wir abhängen, in uns die Ideen

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der Sinne erzeugt, werden Naturgesetze genannt. Diese lernen wir durch Erfahrung kennen, die uns lehrt, daß bestimmte Ideen bestimmte andere Ideen im gewöhnlichen Lauf der Dinge begleiten. 31 Das gewährt uns eine gewisse Voraussicht, die uns befähigt, unsere Handlungen den Zwecken des Lebens anzupassen. Ohne diese Voraussicht wären wir allzeit vollkommen hilflos. Wir wüßten nicht, was wir tun sollten, um uns die geringste Annehmlichkeit zu verschaffen oder das geringste sinnliche Übel zu vermeiden. Daß Speise uns nährt, Schlaf erquickt, Feuer wärmt; daß das Säen zur Saatzeit erforderlich ist, um im Herbst zu ernten, und, ganz allgemein, daß für bestimmte Zwecke bestimmte Mittel dienlich sind – das alles wissen wir nicht durch die Entdeckung irgendeiner notwendigen Verknüpfung zwischen unseren Ideen, sondern allein durch Beobachtung der geltenden Naturgesetze, ohne die wir alle in Unsicherheit und Verwirrung befangen wären und ein erwachsener Mann keinen Deut besser wüßte, wie er sich in den Angelegenheiten des Lebens zu verhalten hat, als ein neugeborenes Kind. 32 Und doch ist dieses in sich einstimmige, gleichförmige Wirken, das so offenkundig die Güte und Weisheit des herrschenden Geistes bezeugt, dessen Wille die Naturgesetze konstituiert, so weit davon entfernt, unsere Gedanken zu ihm hinzulenken, daß es sie vielmehr dazu verleitet, nach zweiten Ursachen zu forschen. Denn wenn wir wahrnehmen, daß bestimmten Ideen der Sinne bestimmte andere Ideen beständig folgen, und wenn wir wissen, daß dies nicht durch uns geschieht, so schreiben wir alsbald Kraft und Wirksamkeit den Ideen selbst zu und machen die eine zur Ursache der anderen, obwohl nichts widersinniger und unverständlicher sein kann. Haben wir z. B. beobachtet, daß gleichzeitig mit der Gesichtswahrnehmung einer bestimmten runden leuchtenden Gestalt der Tastsinn jene Idee oder Empfindung, welche Wärme genannt wird, perzipiert, so leiten wir daraus ab, daß die Sonne die Ursache der Wärme ist. In gleicher Weise macht die Wahrnehmung, daß Bewegung und Kollision von Körpern mit Schall einhergehen, uns geneigt, diesen als Wirkung jener anzusehen.

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33 Die den Sinnen vom Urheber der Natur eingeprägten

Ideen heißen wirkliche Dinge; diejenigen, die in der Einbildung hervorgerufen werden und nicht so regelmäßig, lebhaft und beständig sind, werden sprachlich angemessener Ideen genannt oder Bilder von Dingen, die sie nachahmen und repräsentieren. Wie lebhaft und bestimmt unsere Sinneswahrnehmungen aber auch sein mögen, sie sind doch Ideen, und das heißt: sie existieren im Geist oder werden von ihm wahrgenommen, nicht im geringsten anders als die Ideen, die seine eigenen Hervorbringungen sind. Die Ideen der Sinne haben anerkanntermaßen mehr Realität in sich, das heißt: sie sind kräftiger, geordneter, zusammenhängender als die Geschöpfe des Geistes. Das beweist jedoch keineswegs, daß sie außerhalb des Geistes existieren. Auch sind sie weniger abhängig von dem Subjekt oder der denkenden Substanz, die sie wahrnimmt, da sie durch den Willen eines anderen, mächtigeren Geistwesens hervorgerufen werden. Nichtsdestoweniger sind sie Ideen, und ganz gewiß kann keine Idee, sei sie matt oder kräftig, anders als in einem sie wahrnehmenden Geist existieren. 34 Bevor wir fortfahren, müssen wir uns Zeit nehmen, um eine Reihe von Einwänden zu entkräften, die vermutlich gegen die hier aufgestellten Grundsätze erhoben werden. Leser, die sich einer raschen Auffassungsgabe erfreuen, werden meine Vorgehensweise vielleicht allzu umständlich finden. Ich hoffe jedoch auf Nachsicht; denn nicht alle Menschen sind gleich schnell im Erfassen derartiger Zusammenhänge, und es ist mein Vorsatz, von jedermann verstanden zu werden. Als erstes dürfte eingewandt werden, daß durch besagte Grundsätze alles, was real und substantiell in der Natur ist, aus der Welt verbannt und statt dessen ein schimärisches Ideensystem etabliert wird. Alles, was existiert, existiert nur im Geist, das heißt: es wird bloß vorgestellt. Was wird dann aus Sonne, Mond und Sternen? Was müssen wir von Häusern, Flüssen, Bergen, Bäumen, Steinen, ja sogar von unserem eigenen Körper annehmen? Sind alle diese Dinge nichts als Schimären und Vorspiegelungen der Phantasie? Auf alle diese und gleichartige Einwände, die sonst noch erhoben werden mögen, erwidere ich, daß wir durch die hier aufgestellten Prinzipien keines einzigen Naturobjekts beraubt werden. Was immer wir se-

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 35–36

hen, tasten, hören oder auf irgendeine Weise begreifen oder verstehen, bleibt in seinem Bestand unangefochten und ist so real wie eh und je. Es gibt eine rerum natura, und die Unterscheidung von Realitäten und Schimären behält uneingeschränkte Geltung. Das erhellt aus den Paragraphen 29, 30 und 33, wo wir gezeigt haben, was unter wirklichen Dingen im Gegensatz zu Schimären oder von uns selbst geschaffenen Ideen zu verstehen ist. Doch existieren beide gleichermaßen im Geist und sind in diesem Sinne unterschiedslos Ideen. 35 Ich bestreite nicht die Existenz von irgend etwas, das wir mit den Sinnen oder durch Reflexion erfassen können. Daß die Dinge, die ich mit meinen Augen sehe und mit meinen Händen taste, existieren, wirklich existieren, bezweifle ich nicht im geringsten. Das einzige, dessen Existenz wir in Abrede stellen, ist das, was die Philosophen Materie oder körperliche Substanz nennen. Damit aber fügen wir dem Rest der Menschheit keinen Schaden zu, denn er wird, wie ich wohl behaupten darf, dieses Etwas keinesfalls vermissen. Die Atheisten freilich gehen der vermeintlichen Unterstützung verlustig, die ihr Unglaube an einem leeren Wort findet. Und die Philosophen werden vielleicht bemerken, daß ihnen ein ergiebiges Thema für Gedankenspielchen und gelehrtes Gezänk abhanden gekommen ist. 36 Sollte jemand glauben, hierdurch werde die Existenz oder Realität der Dinge beeinträchtigt, so ist er sehr weit vom Verständnis dessen entfernt, was ich mit aller begrifflichen Klarheit, deren ich fähig bin, zuvor dargelegt habe. Hier ein kurzes Resümee: Es gibt unkörperliche Substanzen, Geister oder menschliche Seelen, die Willensakte vollziehen oder in sich selbst nach Belieben Ideen hervorrufen. Aber diese Ideen sind matt, kraftlos und instabil verglichen mit den sinnlich wahrgenommenen, die, indem sie den Sinnen nach bestimmten Regeln oder Naturgesetzen eingeprägt werden, sich selbst als Wirkungen eines Geistes zu erkennen geben, der mächtiger und weiser ist als menschliche Subjekte. Von den Ideen der zweiten Art heißt es, sie hätten mehr Realität in sich als die erstgenannten, und das bedeutet, daß sie uns stärker berühren, daß sie geordneter und bestimmter und keine Fiktionen des Geistes sind, der sie wahrnimmt. In diesem

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Sinne ist die Sonne, die ich am Tage sehe, die wirkliche Sonne, und die, die ich mir bei Nacht vorstelle, die Idee jener. Es ist eine offensichtliche Konsequenz dieses Begriffs von Realität, daß Pflanzen, Sterne, Steine, kurz: jeder Teil des Weltsystems nach unseren Grundsätzen genauso wie nach irgendwelchen anderen ein wirkliches Ding ist. Ich bitte jeden, seine eigenen Gedanken zu betrachten und zu prüfen, ob das, was er unter Realität versteht, sich von meinem Wortverständnis unterscheidet. 37 Aber man wird darauf beharren, daß wir doch immerhin alle körperlichen Substanzen beseitigen. Ich antworte, daß der Vorwurf, wir würden all dies beseitigen, haltlos ist, wenn das Wort Substanz in seiner üblichen Bedeutung genommen wird, in der es für eine Verbindung wahrnehmbarer Qualitäten wie Ausdehnung, Festigkeit, Schwere und dergleichen steht. Wenn das Wort jedoch im philosophischen Sinne gebraucht wird, als Name des Trägers von Akzidenzien oder Qualitäten außerhalb des Geistes, dann allerdings beseitigen wir das so Benannte, sofern es angängig ist zu sagen, man beseitige etwas, das in gar keiner Weise je existiert hat, nicht einmal für die Einbildungskraft. 38 Aber, sagt ihr, es klingt bizarr, wenn gesagt wird: Wir essen und trinken Ideen und sind bekleidet mit Ideen. Ich gebe das zu. Es liegt daran, daß das Wort Idee in der Alltagssprache nicht für die verschiedenen Kombinationen wahrnehmbarer Qualitäten steht, die als Dinge bezeichnet werden. Und es ist ganz natürlich, daß jede Ausdrucksweise, die vom vertrauten Sprachgebrauch abweicht, bizarr und lächerlich erscheint. Doch ficht das die Wahrheit des Satzes nicht an, der ja auf seine Weise nichts anderes besagt, als daß die Dinge, die wir verzehren und in die wir uns kleiden, von uns unmittelbar sinnlich wahrgenommen werden. Härte und Weichheit, Farbe, Geschmack, Wärme, Gestalt und dergleichen Qualitäten, deren mannigfache Verbindungen die verschiedenen Arten von Lebensmitteln und Kleidungsstücken ausmachen, existieren, wie wir gezeigt haben, nur in dem Geist, der sie wahrnimmt; und nur das ist gemeint, wenn sie als Ideen bezeichnet werden – ein Wort, das, wenn es so gebräuchlich wäre wie Ding, nicht bizarrer und lächerlicher klingen würde als dieses. Ich streite nicht für die Angemessenheit, sondern für die Wahr-

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heit des Ausdrucks. Solltet ihr also mit mir darin übereinstimmen, daß die unmittelbaren Objekte der Sinne, die nicht unwahrgenommen oder außerhalb des Geistes existieren können, das sind, was wir essen und trinken und worin wir uns kleiden, so will ich gern zugeben, daß es angemessener wäre oder dem Herkommen eher entspräche, sie Dinge statt Ideen zu nennen. 39 Wenn man mich fragt, weshalb ich das Wort Idee verwende und nicht sprachlichem Usus gemäß von Dingen rede, so antworte ich, daß es aus zwei Gründen geschieht: zum einen, weil sich mit dem Ausdruck Ding, im Gegensatz zu Idee, für gewöhnlich die Vorstellung von etwas außerhalb des Geistes Existierendem verbindet; zum andern, weil Ding einen weiteren Umfang hat als Idee, nämlich Geister oder denkende Dinge und Ideen gleichermaßen bezeichnet. Da die Gegenstände der Sinne nur im Geist existieren und ihnen nichts von Denken und Tätigkeit eignet, habe ich mich entschieden, für sie das Wort Idee zu verwenden, das diese Eigenschaften konnotiert. 40 Aber vielleicht wird der eine oder andere entgegnen, er werde, egal was wir sagen, stets seinen Sinnen trauen und unter gar keinen Umständen bereit sein, Argumenten, so plausibel sie auch klingen mögen, größeres Gewicht beizumessen als der sinnlichen Gewißheit. Einverstanden. Schwört auf die Evidenz der Sinne. Wir tun das gleiche. Was ich sehe, höre und taste, existiert, d. h. wird von mir wahrgenommen; daran zweifle ich so wenig wie an meinem eigenen Sein. Aber ich kann nicht einsehen, wie durch das Zeugnis der Sinne die Existenz von etwas unter Beweis gestellt werden soll, das nicht sinnlich wahrgenommen wird. Wir möchten nicht, daß irgend jemand Skeptiker werde und seinen Sinnen mißtraue. Im Gegenteil: Wir billigen ihnen ein Höchstmaß an Leistungsfähigkeit und Verläßlichkeit zu. Auch gibt es keine Grundsätze, die in schärferem Gegensatz zum Skeptizismus stehen als die von uns vertretenen. Dies wird im Folgenden klar gezeigt werden. 41 Zweitens wird man einwenden, es bestehe ein himmelweiter Unterschied zwischen wirklichem Feuer beispielsweise und der Idee des Feuers, zwischen dem Traum oder der Einbildung, daß man verbrenne, und wirklichem Verbranntwerden. Dies und

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dergleichen mehr mag wider unsere Auffassungen ins Feld geführt werden. Die Antwort folgt unmittelbar aus dem bereits Gesagten, und ich habe hier nur hinzuzufügen, daß, wenn wirkliches Feuer sich von der Idee des Feuers signifikant unterscheidet, vom wirklichen Schmerz, den es veranlaßt, im Verhältnis zu seiner Idee dasselbe gilt; und doch wird niemand behaupten wollen, daß wirklicher Schmerz im Gegensatz zur Schmerzidee in einem nichtwahrnehmenden Ding oder außerhalb des Geistes existiere oder daß dies auch nur denkmöglich sei. 42 Drittens wird eingewandt werden, daß wir Gegenstände tatsächlich außer uns oder in einer Entfernung von uns sehen, woraus folgt, daß sie nicht im Geist existieren; wäre es doch widersinnig, wenn die Dinge, die in einer Entfernung von einigen Meilen gesehen werden, uns so nah wären wie unsere eigenen Gedanken. Darauf antworte ich, man möge bitte bedenken, daß wir im Traum nicht selten Dinge als weit von uns entfernt existierend wahrnehmen und daß gleichwohl diesen Dingen unbestritten nur ein Dasein im Geist zukommt. 43 Um aber diesen Punkt in ein noch helleres Licht zu setzen, gilt es zu untersuchen, wie wir mit Hilfe des Gesichtssinns Entfernung und von uns entfernte Dinge wahrnehmen. Denn wenn wir tatsächlich einen Raum außer uns und, in größerem oder geringerem Abstand von uns, real in ihm existierende Körper sehen würden, so stünde das zu unserer Lehre, die ihnen kein Dasein außerhalb des Geistes zubilligt, in unverkennbarem Gegensatz. Aus der Beschäftigung mit diesem Problem ist mein unlängst veröffentlichter Versuch zu einer neuen Theorie des Sehens hervorgegangen. Darin wird gezeigt, daß Entfernung oder Draußensein (outness) weder unmittelbar an sich selbst visuell wahrgenommen noch durch Linien und Winkel oder sonst etwas, das in notwendigem Zusammenhang damit steht, erfaßt oder beurteilt wird. Entfernung wird vielmehr unserem Bewußtsein bloß suggeriert, und zwar durch bestimmte sichtbare Ideen und das Sehen begleitende Eindrücke, die ihrem Wesen nach weder in Ähnlichkeitsrelation noch in einer anderen Beziehung zu Entfernung und entfernten Dingen stehen. Aber eine Verbindung, die wir durch Erfahrung kennenlernen, führt dazu, daß jene Ideen letztere be-

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zeichnen und ins Bewußtsein rufen, ganz so wie die Wörter einer Sprache die Ideen, die zu vertreten sie geschaffen sind, ins Bewußtsein rufen. So erklärt sich, daß ein Blindgeborener, der später das Augenlicht erhält, im ersten Moment des Sehens nicht meint, die sichtbaren Dinge seien außerhalb seines Geistes oder in irgendeiner Entfernung von ihm. Siehe § 41 der erwähnten Abhandlung. 44 Die Ideen des Gesichts- und des Tastsinns bilden zwei grundverschiedene, heterogene Gegenstandsarten. Jene sind Zeichen und Prognostika der letzteren. Daß die eigentlichen Objekte des Sehens weder außerhalb des Geistes existieren noch Bilder externer Dinge sind, wurde in eben jener Abhandlung gezeigt. Für die Objekte des Tastsinns wurde freilich noch das Gegenteil angenommen – nicht als ob die dort vertretene Lehre jenen gemeinen Irrtum zur Voraussetzung hätte, sondern weil es nicht in meiner Absicht lag, ihn in einer Abhandlung über das Sehen zu untersuchen und zu widerlegen. Streng genommen verhält es sich mithin nicht so, daß die Ideen des Gesichtssinns, wenn wir durch sie Entfernung und entfernte Dinge erfassen, unserem Bewußtsein aktual in einer Entfernung existierende Dinge suggerieren und kenntlich machen; sie zeigen uns lediglich an, welche Tastideen nach einer bestimmten Zeit und infolge so und so bestimmter Handlungen unserem Geist eingeprägt sein werden. Aus dem, was in den vorangehenden Teilen dieser Abhandlung sowie in § 147 und an anderer Stelle im Versuch über das Sehen ausgeführt ist, geht, sage ich, klar hervor, daß sichtbare Ideen die Sprache sind, in welcher der herrschende Geist, von dem wir abhängen, uns mitteilt, was für Tastideen er uns einzuprägen gedenkt, falls wir diese oder jene Bewegung in unserem Körper hervorrufen. Genaueres zu diesem Punkt entnehme man dem »Versuch«. 45 Viertens wird eingewandt werden, aus den hier aufgestellten Grundsätzen folge, daß die Dinge in jedem Augenblick vernichtet und neu geschaffen werden. Die Gegenstände der Sinne existieren nur, wenn sie wahrgenommen werden; mithin sind die Bäume nur solange im Garten, die Stühle im Zimmer, wie jemand da ist, der sie wahrnimmt. Wenn ich meine Augen schließe,

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löst sich die ganze Wohnungseinrichtung in nichts auf; öffne ich sie wieder, so wird sie von neuem geschaffen. Auf all das antworte ich, indem ich den Leser an die Ausführungen in den Abschnitten 3, 4 etc. erinnere und ihn zu erwägen bitte, ob das, was er unter dem aktualen Dasein einer Idee versteht, etwas von ihrem Wahrgenommenwerden Verschiedenes sei. Ich für meine Person kann auch nach sorgfältigster Prüfung, deren ich fähig bin, nicht erkennen, daß diese Worte etwas anderes als Wahrgenommenwerden bedeuten. Und einmal mehr beschwöre ich den Leser, seine eigenen Gedanken auszuloten und sich nicht durch Worte hinters Licht führen zu lassen. Wenn er es als denkmöglich erachtet, daß seine Ideen oder ihre Urbilder existieren, ohne wahrgenommen zu werden, gebe ich meine Sache verloren; kann er es jedoch nicht, so muß er zugeben, daß er sich unvernünftig verhält, wenn er für etwas, wovon er nicht weiß, was es ist, auf die Barrikaden geht und gleichzeitig mich des Widersinns bezichtigt, wenn ich Sätzen nicht zustimme, die im Grunde sinnlos sind. 46 Im übrigen scheint mir der Hinweis nicht unangebracht, wie sehr doch jene angeblichen Widersinnigkeiten den anerkannten Prinzipien der Philosophie ihrerseits zur Last gelegt werden können. Man hält es für schlechthin abwegig, daß alle sichtbaren Objekte um mich herum sich in nichts auflösen, sobald ich die Augen schließe; aber ist nicht gerade das die herrschende Lehre, insofern allgemein anerkannt wird, daß Licht und Farben, die einzigen eigentlichen und unmittelbaren Objekte des Sehens, bloße Empfindungen sind, die nur existieren, solange sie wahrgenommen werden? Auch mag es manchem sehr wenig glaubhaft erscheinen, daß die Dinge jeden Augenblick erschaffen werden. Aber genau das wird in den Schulen gelehrt. Denn obschon die Scholastiker die Existenz der Materie akzeptieren und annehmen, daß das ganze Weltgebäude aus ihr gemacht ist, so sind sie doch der Ansicht, daß jene ohne die Erhaltung durch Gott, die sie als fortwährende Schöpfung (continual creation) auffassen, nicht bestehen kann. 47 Ein wenig Nachdenken wird uns ferner zeigen, daß, selbst wenn wir die Existenz von Materie oder körperlicher Substanz zugeben, aus den jetzt allgemein akzeptierten Prinzipien unwei-

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gerlich folgt, daß die einzelnen Körper, von welcher Art sie auch sein mögen, samt und sonders nicht existieren, wenn sie nicht wahrgenommen werden. Denn aus Abschnitt 11 ff. erhellt, daß die von den Philosophen postulierte Materie ein unbegreifliches Etwas ist, das keine jener besonderen Eigenschaften besitzt, durch die sich die unseren Sinnen zugänglichen Körper voneinander unterscheiden. Um diesen Punkt noch schärfer zu beleuchten, muß ich bemerken, daß die unendliche Teilbarkeit der Materie jetzt für eine ausgemachte Sache gilt, zumindest unter den angesehensten und bedeutendsten Philosophen, die sie aus den anerkannten Grundsätzen schlüssig beweisen. Hieraus folgt, daß in jedem Materieteilchen eine unendliche Menge von Teilen enthalten ist, die nicht sinnlich wahrgenommen werden. Wenn also irgendein einzelner Körper von endlicher Größe zu sein scheint oder dem sinnlichen Wahrnehmungsvermögen nur eine endliche Anzahl von Teilen präsentiert, so liegt der Grund nicht darin, daß er nicht mehr Teile hätte (denn an sich selbst hat er ja deren unendlich viele), sondern darin, daß der Sinn nicht scharf genug ist, um sie zu unterscheiden. In dem Maße also, wie der Sinn schärfer wird, nimmt er eine größere Anzahl von Teilen im Gegenstand wahr, d. h. dieser erscheint größer und seine Gestalt ändert sich, da die Teile an seinen Außenseiten, die zuvor nicht wahrnehmbar waren, nunmehr als ihn begrenzende Linien und Winkel in Erscheinung treten, die sich von den früher mit stumpferem Sinn wahrgenommenen erheblich unterscheiden. Nach mancherlei Änderungen seiner Größe und Gestalt, wenn schließlich der Sinn unendlich scharf geworden ist, wird der Körper unendlich erscheinen. Währenddessen findet im Körper selbst keine Änderung statt, sondern nur im sinnlichen Wahrnehmungsvermögen. Jeder Körper ist somit an sich selbst unendlich ausgedehnt und folglich ohne jede Form oder Gestalt. Daraus läßt sich schließen, daß, selbst wenn wir die Existenz der Materie als noch so gewiß zugeben würden, die Materialisten ebenso gewiß aufgrund ihrer eigenen Prinzipien zu dem Eingeständnis genötigt wären, daß weder die einzelnen Körper, wie sie durch die Sinne wahrgenommen werden, noch etwas ihnen Ähnliches außerhalb des Geistes existiert. Materie und jedes Teilchen derselben ist nach ihren

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Prinzipien unendlich und formlos, und es ist der Geist, der die ganze Mannigfaltigkeit von Körpern gestaltet, aus denen sich die sichtbare Welt zusammensetzt und von denen keiner länger existiert, als er wahrgenommen wird. 48 Wenn wir es recht bedenken, entbehrt der in § 45 gegen unsere Prinzipien erhobene Einwand einer triftigen Begründung und kann, streng genommen, überhaupt nicht als Einwand gegen sie gelten. Denn obwohl wir in der Tat die Gegenstände der Sinne für nichts weiter als Ideen erachten, die nicht unwahrgenommen existieren können, so läßt sich daraus doch nicht schließen, daß sie nur dann existieren, wenn sie von uns wahrgenommen werden, weil es einen anderen Geist geben kann, der sie wahrnimmt, wenn wir es nicht tun. Daß Körper kein Dasein außerhalb des Geistes haben, darf nicht so verstanden werden, als wäre dieser oder jener einzelne Geist gemeint; was ich sage, gilt für alle Geister, welche es auch sein mögen. Es folgt daher aus unseren Grundsätzen nicht, daß Körper jeden Augenblick vernichtet und geschaffen werden, noch auch, daß sie in unseren Wahrnehmungsintervallen nicht existieren. 49 Fünftens wird vielleicht eingewandt werden, daß, wenn Ausdehnung und Gestalt nur im Geist existieren, daraus folge, daß der Geist ausgedehnt und gestaltet ist; denn Ausdehnung sei ein Modus oder Attribut, das (um in der Sprache der Schulen zu reden) von dem Subjekt prädiziert wird, in dem es existiert. Ich erwidere, daß diese Qualitäten nur als wahrgenommene im Geiste sind, d. h. nicht nach Art eines Modus oder Attributs, sondern nach Art einer Idee. Und daß die Seele oder der Geist ausgedehnt ist, weil Ausdehnung nur in ihm existiert, folgt genausowenig, wie daß er rot oder blau ist, weil diese Farben nach einhelliger Überzeugung nur in ihm und nirgendwo sonst existieren. Was die Philosophen über Subjekt und Modus sagen, erscheint ganz unbegründet und unbegreiflich. So soll zum Beispiel in dem Satz »ein Würfel ist hart, ausgedehnt und von quadratischen Flächen begrenzt« das Wort Würfel ein Subjekt oder eine Substanz bezeichnen, verschieden von Härte, Ausdehnung und Gestalt, die von ihr prädiziert werden und in ihr existieren. Das kann ich nicht verstehen. Ein Würfel scheint mir nicht verschieden von

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dem zu sein, was als seine Modi oder Akzidenzien bezeichnet wird. Und der Satz, daß ein Würfel hart, ausgedehnt und von quadratischen Flächen begrenzt ist, besagt nicht, daß diese Eigenschaften einem Subjekt zugeschrieben werden, das von ihnen verschieden ist und sie trägt, sondern expliziert lediglich die Bedeutung des Wortes Würfel. 50 Sechstens werdet ihr sagen, daß durch Materie und Bewegung sehr viel erklärt worden sei. Man denke sich beides weg, und die ganze Korpuskularphilosophie bräche zusammen. Außer Geltung gesetzt wären jene mechanischen Prinzipien, die so erfolgreich bei der Erklärung der Phänomene angewandt worden sind. Kurz: Was immer die alten oder modernen Philosophen für Fortschritte in der Naturforschung gemacht haben, hänge von der Voraussetzung ab, daß körperliche Substanz oder Materie real existiert. Darauf erwidere ich, daß keine einzige Erscheinung mit Hilfe dieser Voraussetzung erklärt wird, die nicht ebensogut ohne sie erklärt werden könnte, was anhand zahlreicher Beispiele leicht unter Beweis gestellt werden könnte. Die Erscheinungen erklären heißt zeigen, weshalb uns bei so und so gearteten Gelegenheiten so und so beschaffene Ideen zuteil werden. Wie aber Materie auf einen Geist wirken und in ihm Ideen hervorrufen soll, wird kein Philosoph zu erklären sich anheischig machen. Somit liegt auf der Hand, daß Materie für die Naturforschung (natural philosophy) nutzlos ist. Im übrigen nehmen diejenigen, welche die Dinge zu erklären suchen, dabei nicht auf körperliche Substanz Bezug, sondern auf Gestalt, Bewegung und andere Qualitäten, die in Wahrheit nur Ideen sind und infolgedessen überhaupt nichts verursachen können, wie bereits gezeigt worden ist. Siehe Abschnitt 25. 51 Siebtens wird hierauf gefragt werden, ob es denn nicht abwegig sei, die natürlichen Ursachen aufzuheben und alles dem unmittelbaren Wirken von Geistern zuzuschreiben. Wir dürfen nach diesen Grundsätzen nicht mehr sagen, daß Feuer wärmt oder Wasser kühlt, sondern müssen sagen, daß ein Geist wärmt, und so weiter. Würde einer, der so spricht, nicht verdientermaßen Hohn und Spott ernten? Ich antworte: Er würde es allerdings. In derlei Angelegenheiten gilt: mit den Gelehrten denken und mit dem

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Volk sprechen. Diejenigen, welche die Wahrheit des kopernikanischen Systems für streng bewiesen halten, sagen gleichwohl, daß die Sonne auf- und untergeht oder ihren höchsten Stand erreicht. Und zweifellos würde es einen lächerlichen Eindruck machen, wenn sie sich im Alltag einer anderen, künstlichen Art zu reden befleißigten. Ein wenig Nachdenken über das hier Gesagte wird jedem deutlich machen, daß die Anerkennung unserer Lehre sich in keiner Weise verändernd oder störend auf den Sprachgebrauch des Alltags auszuwirken braucht. 52 In den gewöhnlichen Angelegenheiten des Lebens ist eine Ausdrucksweise so lange statthaft, wie sie in uns angemessene Gefühle hervorruft oder uns bestimmt, in der für unser Wohlergehen erforderlichen Weise zu handeln, so unrichtig sie auch sein mag, wenn streng theoretische Maßstäbe angelegt werden. Ja, dies ist unvermeidlich; denn da, was als angemessen gilt, durch Herkommen und Gewohnheit bestimmt wird, ist die Sprache den herrschenden Meinungen angepaßt, die nicht immer die wahrsten sind. Daher ist es selbst in philosophischen Argumentationen von äußerster Genauigkeit unmöglich, von den Tendenzen und Eigentümlichkeiten der Sprache, in der wir reden, so weit Abstand zu gewinnen, daß spitzfindige Kritiker nicht den Finger auf vermeintliche Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten legen können. Aber ein wohlmeinender und unbefangener Leser wird nicht verfehlen, den Sinn einer Abhandlung aus deren Zweck, Verlauf und innerem Zusammenhang zu eruieren und über jene Ungenauigkeiten des Ausdrucks hinwegzusehen, die sich aus dem Sprachgebrauch zwangsläufig ergeben. 53 Was die Ansicht betrifft, daß es keine körperlichen Ursachen gibt, so wurde sie schon vormals von einigen Scholastikern vertreten, neuerdings von einigen modernen Philosophen, die zwar die Existenz der Materie anerkennen, jedoch in Gott allein die unmittelbare wirkende Ursache von allem erblicken. Ihnen ist nicht entgangen, daß es unter den Gegenständen der Sinne keinen gibt, dem irgendeine Kraft oder Tätigkeit innewohnt, und daß dies folglich ebenso wie von den unmittelbaren Sinnesobjekten auch von allen Körpern, denen sie ein Dasein außerhalb des Geistes zubilligen, gelten muß. Wenn sie aber dergestalt eine

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Unmenge geschaffener Dinge annehmen, die, wie sie selbst einräumen, unfähig sind, irgendeine Wirkung in der Natur hervorzubringen, und die somit zu gar keinem Zweck geschaffen sind, weil Gott alles auch ohne sie hätte ins Werk setzen können, dann ist das, auch wenn die Möglichkeit nicht geleugnet werden kann, eine sehr seltsame und verstiegene Annahme. 54 Achtens. Die Zustimmung unisono der gesamten Menschheit mag manchem als ein unschlagbares Argument zugunsten der Materie oder der Existenz äußerer Dinge erscheinen. Sollen wir glauben, daß alle Welt sich irrt? Und wenn ja, auf welche Ursachen kann ein so verbreiteter und übermächtiger Irrtum zurückgeführt werden? Ich antworte erstens: Bei genauer Untersuchung wird sich vielleicht herausstellen, daß gar nicht so viele Leute, wie man meint, wirklich an die Existenz von Materie oder Dingen außerhalb des Geistes glauben. Streng genommen ist es unmöglich, an das zu glauben, was einen Widerspruch einschließt oder sinnlos ist; und ob besagte Ausdrücke nicht von dieser Art sind, überlasse ich dem unparteiischen Urteil des Lesers. In einem Sinne kann in der Tat behauptet werden, daß die Menschen an die Existenz der Materie glauben, das heißt: sie handeln so, als ob die unmittelbare Ursache ihrer Sinnesempfindungen, die sie in jedem Moment affiziert und ihnen ganz nah und gegenwärtig ist, ein empfindungsloses, nichtdenkendes Etwas wäre. Aber daß sie mit diesen Worten irgendeinen klaren Sinn verbinden und von daher zu einer in sich stimmigen philosophischen Überzeugung gelangen könnten, erscheint mir gänzlich undenkbar. Dies wäre nicht der einzige Fall, daß Menschen sich selbst täuschen, indem sie sich einbilden, sie würden Sätzen, die sie oft gehört haben, Glauben schenken, obwohl sie im Grunde völlig sinnleer sind. 55 Aber obwohl – dies meine zweite Antwort – nicht bestritten werden kann, daß manche Auffassungen schlechthin allgemeine und unerschütterliche Zustimmung finden, so wird man darin doch nur ein schwaches Indiz ihrer Wahrheit erblicken, wenn man sich nämlich die Unmenge von Vorurteilen und falschen Überzeugungen vor Augen führt, an denen der nicht reflektierende Teil der Menschheit (und das ist der weitaus größe-

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re) allenthalben mit äußerster Hartnäckigkeit festhält. Es gab eine Zeit, da galten die Antipoden und die Erdbewegung sogar unter Gelehrten als ungeheuerliche Absurditäten. Bedenkt man, wie klein ihre Zahl im Verhältnis zum Rest der Menschheit ist, so läßt sich nicht leugnen, daß der Siegeszug der modernen Anschauungen noch ganz in den Anfängen steckt. 56 Aber es wird von uns verlangt, eine Ursache dieses Vorurteils anzugeben und seine weltweite Herrschaft zu erklären. Darauf antworte ich folgendermaßen: Wenn die Menschen wissen, daß sie Ideen wahrnehmen, deren Urheber sie nicht selbst sind, da sie nicht aus einer inneren Anregung entspringen noch auch von ihrer eigenen Willenstätigkeit abhängen, so lassen sie sich dazu bestimmen, diesen Ideen oder Wahrnehmungsgegenständen ein Dasein unabhängig vom Geist und außerhalb seiner zuzuschreiben, ohne auch nur im Traum zu bedenken, daß diese Worte einen Widerspruch enthalten. Zwar konnten die Philosophen durch die Einsicht, daß die unmittelbaren Wahrnehmungsobjekte nicht außerhalb des Geistes existieren, diesen Irrtum der Menge bis zu einem gewissen Grade korrigieren; doch gerieten sie alsbald in einen anderen, der nicht weniger absurd erscheint: daß nämlich bestimmte Objekte realiter außerhalb des Geistes existieren oder ein Dasein unabhängig vom Wahrgenommenwerden besitzen, wobei unsere Ideen lediglich Abbilder oder Widerspiegelungen jener Objekte und von ihnen dem Geist eingeprägt sind. Diese Auffassung der Philosophen ist gleichen Ursprungs wie die erstgenannte, hervorgerufen durch das Bewußtsein, nicht Urheber ihrer eigenen Sinnesempfindungen zu sein, die ihnen, wie sie klar erkannten, von außen eingeprägt sind und die folglich eine von den Geistern, denen sie eingeprägt sind, verschiedene Ursache haben müssen. 57 Warum sie aber mutmaßen, daß die Ideen der Sinne durch ihnen ähnliche Dinge in uns hervorgerufen werden, und nicht lieber Geist, der doch allein tätig sein kann, hierfür in Anspruch nehmen, das läßt sich vielleicht damit erklären, daß sie sich erstens der inneren Unmöglichkeit nicht bewußt sind, die sowohl in der Annahme extern existierender, unseren Ideen ähnlicher Dinge als auch in der Zuschreibung von Kraft oder Tätigkeit zu

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ihnen liegt; daß zweitens der höchste Geist, der jene Ideen in unserem Bewußtsein hervorruft, nicht durch eine besondere, endliche Menge sinnlich wahrnehmbarer Ideen als begrenzte Erscheinung für uns faßbar ist, wie dies bei menschlichen handelnden Wesen durch Größe, Aussehen, Glieder und Bewegungen geschieht; und daß drittens sein Wirken regelmäßig und gleichförmig ist. Sobald der Lauf der Natur durch ein Wunder unterbrochen wird, glauben die Menschen bereitwillig an die Präsenz eines höheren handelnden Wesens. Wenn wir jedoch sehen, wie die Dinge ihren gewohnten Gang gehen, fühlen wir uns nicht zum Nachdenken angeregt. Obwohl sie durch ihre Ordnung und ihr Zusammenspiel die größte Weisheit, Macht und Güte ihres Schöpfers hinlänglich bezeugen, erscheinen sie uns aufgrund ihrer Beständigkeit als etwas so Vertrautes, daß wir in ihnen nicht die unmittelbaren Manifestationen eines freien Geistes erkennen, zumal Wandelbarkeit und Unbeständigkeit im Handeln, wiewohl eine Unvollkommenheit, gemeinhin für ein Zeichen von Freiheit gehalten werden. 58 Zehntens wird eingewandt werden, daß die Grundsätze, die wir vertreten, mit einigen gesicherten Wahrheiten in Philosophie und Mathematik unvereinbar sind. So gilt beispielsweise heute die Erdbewegung unter Astronomen allgemein als eine auf die klarste und überzeugendste Weise begründete Wahrheit. Nach besagten Prinzipien aber kann es dergleichen nicht geben. Denn da Bewegung nur eine Idee ist, so folgt, daß sie nicht existiert, wenn sie nicht wahrgenommen wird; die Erdbewegung aber wird nicht sinnlich wahrgenommen. Ich antworte darauf, daß jene Theorie, richtig verstanden, mit unseren Prinzipien übereinstimmt. Denn die Frage, ob die Erde in Bewegung ist oder nicht, läuft in Wirklichkeit nur darauf hinaus, ob wir Grund haben, aus den Beobachtungen der Astronomen zu schließen, daß, wenn wir uns unter so und so beschaffenen Bedingungen in der und der Position in einer bestimmten Entfernung von der Erde und von der Sonne befänden, wir wahrnehmen würden, wie jene inmitten des Chores der Planeten sich bewegt und in jeder Beziehung als einer von ihnen erscheint; und das wird nach den als gültig erkannten Naturgesetzen, denen zu mißtrauen wir kei-

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nen Grund haben, vernunftgemäß aus den Erscheinungen abgeleitet. 59 Wir können aufgrund der Erfahrung vom Verlauf und von der Aufeinanderfolge der Ideen in unseren Geistern oftmals nicht etwa ungewisse Mutmaßungen anstellen, sondern sichere und wohlbegründete Voraussagen machen, welche Ideen uns infolge einer langen Reihe von Handlungen gegeben sein werden, und wir vermögen zutreffend zu beurteilen, was uns erschienen sein würde, wenn wir uns in Situationen befänden, die von der Lage der Dinge, mit der wir es gegenwärtig zu tun haben, sehr verschieden sind. Hierin besteht die Naturerkenntnis, auf deren Nutzen und Gewißheit in völliger Übereinstimmung mit dem hier Gesagten Verlaß ist. Es läßt sich leicht zeigen, daß dies für alle derartigen Einwände gilt, die auf die Größe der Sterne oder andere Entdeckungen in der Astronomie oder sonst einer Naturwissenschaft Bezug nehmen. 60 Elftens wird gefragt werden, welchem Zweck die unendlich genaue Organisation der Pflanzen und der bewunderungswürdige Mechanismus in den Teilen der Tiere dienen soll. Könnten nicht Pflanzen wachsen und Blätter und Blüten treiben und Tiere all ihre Bewegungen ebensogut ohne wie mit jener Vielfalt innerer Teile ausführen, die so formvollendet gefertigt und zusammengefügt sind und die, da sie Ideen sind, nichts von Kraft oder Tätigkeit in sich haben und bar jeder notwendigen Verknüpfung mit den ihnen zugeschriebenen Wirkungen sind? Wenn ein Geist durch ein fiat oder einen Akt seines Willens unmittelbar jede Wirkung hervorbringt, dann müssen wir alle Feinheit und Kunstfertigkeit in den Werken des Menschen oder der Natur für überflüssig erachten. Nachdem der Uhrmacher das Uhrwerk mit Feder und Rädern hergestellt und das Ganze nach bestem Wissen so eingerichtet hat, daß es sich in der beabsichtigten Weise bewegt, muß er gemäß dieser Lehre gleichwohl annehmen, daß er das alles für nichts und wieder nichts gemacht hat, daß eine Intelligenz den Zeiger lenkt und die Tageszeit anzeigt. Wenn dem aber so ist, weshalb tut die Intelligenz das nicht, ohne daß es der mühsamen Anfertigung und Ingangsetzung der Mechanik bedürfte? Warum ist nicht ein leeres Gehäuse ausrei-

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chend? Und wie kommt es, daß immer, wenn die Uhr falsch geht, eine entsprechende Störung in der Mechanik entdeckt wird, und sobald eine geschickte Hand diese beseitigt hat, alles wieder in Ordnung ist? All das kann gleichermaßen vom Uhrwerk der Natur gesagt werden, das größtenteils von so wunderbarer Feinheit und Zartheit ist, daß man kaum mit den stärksten Mikroskopen in sein Inneres zu dringen vermag. Kurzum, es wird gefragt werden, wie es nach Maßgabe unserer Prinzipien möglich sein soll, auf einigermaßen befriedigende Weise Rechenschaft über das Warum und Wozu jener unzähligen, mit erlesener Kunstfertigkeit hergestellten Körper und Maschinen zu geben, die nach den gängigen philosophischen Theorien sehr nützliche Funktionen erfüllen und dazu dienen, eine Unmenge von Erscheinungen zu erklären. 61 Meine Antwort auf all das ist erstens: Auch wenn im Zusammenhang mit dem Walten der Vorsehung und der Frage nach dem Zweck, den sie mit bestimmten Teilen der Natur verbindet, einige Schwierigkeiten zurückbleiben, die ich aufgrund der obigen Prinzipien nicht zu beheben vermag, so kann dieser Einwand gegenüber der Wahrheit und Gewißheit alles dessen, was mit größter Evidenz a priori beweisbar ist, doch kaum ins Gewicht fallen. Auch sind – zweitens – die herrschenden Prinzipien ihrerseits nicht frei von derlei Schwierigkeiten. Denn die Frage stellt sich auch hier, was Gott bezweckt, wenn er auf umständliche Weise durch Instrumente und Maschinen Wirkungen erzielt, die er unstreitig ohne diesen Apparat durch den bloßen Befehl seines Willens erzielen könnte. Bei näherem Zusehen wird sich sogar herausstellen, daß dieser Einwand auf diejenigen mit größerer Wucht zurückschlägt, die jenen Maschinen ein Dasein außerhalb des Geistes zubilligen. Denn es ist gezeigt worden, daß Festigkeit, Ausdehnung, Gestalt, Bewegung und dergleichen jeglicher Aktivität oder Wirksamkeit ermangeln und infolgedessen durchaus unfähig sind, irgendeine Wirkung in der Natur hervorzubringen. Siehe Abschnitt 25. Wer also annimmt, daß sie unwahrgenommen existieren (dies hier als möglich vorausgesetzt), macht eine völlig überflüssige Annahme, weil der einzige Zweck, dem sie in ihrer unwahrgenommenen Existenz dienen sollen, der ist, jene

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wahrnehmbaren Wirkungen hervorzubringen, die in Wahrheit einzig und allein einem Geist zugeschrieben werden können. 62 Um aber zum Kern des Problems vorzudringen, muß bemerkt werden, daß die Herstellung all jener Teile und Organe, obgleich nicht absolut notwendig, um eine Wirkung hervorzubringen, doch notwendig ist, um die Dinge in einer beständigen, geregelten Weise gemäß den Naturgesetzen hervorzubringen. Es gibt gewisse allgemeine Gesetze, die sich durch die ganze Kette natürlicher Wirkungen hindurchziehen; sie werden durch Beobachtung und Studium der Natur erkannt und von den Menschen sowohl zur Verfertigung all jener künstlichen Dinge, welche das Leben erleichtern und verschönern, als auch zur Erklärung der verschiedenen Phänomene benutzt. Diese Erklärung besteht allein im Nachweis, daß eine einzelne Erscheinung mit den allgemeinen Naturgesetzen übereinstimmt, oder, was auf dasselbe hinausläuft, in der Entdeckung der Gleichförmigkeit, die in der Hervorbringung der natürlichen Wirkungen herrscht. Das wird jeder einsehen, der auf das achtet, was Philosophen tun, wenn sie die Erscheinungen zu erklären beanspruchen. Daß ein großer augenfälliger Nutzen in der Regelmäßigkeit und Beständigkeit liegt, die der höchste Handelnde in seinem schöpferischen Wirken beobachtet, wurde in Abschnitt 31 gezeigt. Und es ist nicht weniger einleuchtend, daß eine bestimmte Größe, Gestalt, Bewegung und Anordnung von Teilen notwendig ist, obzwar nicht absolut zur Hervorbringung einer Wirkung, wohl aber zur Hervorbringung eben derselben in Übereinstimmung mit den geltenden mechanischen Naturgesetzen. So kann z. B. nicht bestritten werden, daß Gott oder der unendliche Geist, der den gewöhnlichen Lauf der Dinge aufrechterhält und lenkt, falls er ein Wunder zu tun beabsichtigte, die Bewegungen auf dem Zifferblatt hervorrufen könnte, auch wenn niemand ein Uhrwerk angefertigt und eingebaut hätte. Wenn er aber in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Mechanismus handeln will, die er zu weisen Zwecken bei der Schöpfung in Geltung gesetzt hat und darin erhält, so ist es notwendig, daß die Handlungen des Uhrmachers, der das Werk anfertigt und justiert, der Erzeugung jener Bewegungen vorhergehen und daß ferner bei jeder Störung im Bewegungsab-

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lauf eine entsprechende Störung in den mechanischen Teilen beobachtet wird, nach deren Beseitigung alles wieder in Ordnung ist. 63 Es mag in der Tat aus diesem oder jenem Anlaß erforderlich sein, daß der Urheber der Natur, um seine alles beherrschende Macht zu demonstrieren, eine Erscheinung außerhalb der gewöhnlichen Ordnung der Dinge hervorbringt. Solche Ausnahmen von den allgemeinen Regeln des Naturlaufs sind geeignet, die Menschen in Erstaunen zu setzen und fromme Scheu vor dem Allmächtigen zu erregen. Aber dann darf dieses Mittel nur selten angewandt werden; anderenfalls würde es seine Wirkung aus naheliegenden Gründen verfehlen. Überdies scheint Gott lieber an unsere Vernunft appellieren und uns von seinen Attributen durch die Werke der Natur überzeugen zu wollen, deren Gestaltung so viel Harmonie und Kunstfertigkeit offenbart und so unmißverständlich auf Weisheit und Wohlwollen ihres Schöpfers schließen läßt, als daß ihm daran gelegen wäre, uns den Glauben an seine Existenz mit Hilfe des Staunens über ungewöhnliche und verblüffende Vorkommnisse einzuflößen. 64 Um diesen Gegenstand in ein noch helleres Licht zu setzen, will ich bemerken, daß der in Abschnitt 60 erhobene Einwand in der Tat nur auf Folgendes hinausläuft: Ideen werden nicht beliebig und aufs Geratewohl erzeugt; es herrscht unter ihnen eine gewisse Ordnung und Verknüpfung gleich der von Ursache und Wirkung. Auch gibt es verschiedene, höchst regelmäßig und künstlich gebildete Ideenkombinationen, die den Anschein erwecken, als ob sie Werkzeuge in der Hand der Natur wären und, erkennbar nur für das forschende Auge des Philosophen, im Verborgenen hinter der Szene eine geheime Wirkung bei der Hervorbringung jener Erscheinungen entfalteten, die auf der Bühne der Welt sichtbar sind. Da aber eine Idee nicht Ursache einer anderen sein kann, wozu dient dann diese Verknüpfung? Und da jene Instrumente als bloße wirkungslose Wahrnehmungen im Geist zur Hervorbringung natürlicher Wirkungen untauglich sind, wird man die Frage stellen, warum sie überhaupt geschaffen wurden oder, mit anderen Worten, welche Gründe Gott haben mag, daß er uns bei eingehender Untersuchung seiner Werke eine solche

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Mannigfaltigkeit so kunstvoll und nach strengen Regeln zusammengefügter Ideen schauen läßt, da doch im Ernst nicht angenommen werden kann, er würde (wenn man so sagen darf) einen solchen Aufwand an Kunst und Regelmäßigkeit für nichts und wieder nichts treiben. 65 Auf alles das gebe ich zur Antwort: erstens, daß die Verknüpfung der Ideen nicht die Beziehung von Ursache und Wirkung einschließt, sondern nur die des Merkmals oder Zeichens zum bezeichneten Ding. Das Feuer, das ich sehe, ist nicht die Ursache des Schmerzes, den ich empfinde, wenn ich in seine Nähe komme, sondern das Merkzeichen, das mich davor warnt. Gleichermaßen ist das Geräusch, das ich höre, nicht die Wirkung der Bewegung oder des Zusammenpralls uns umgebender Körper, sondern das Zeichen dessen. Zweitens: der Grund, warum Ideen zu Maschinen zusammengefügt, d. h. auf künstliche und regelmäßige Weise miteinander verbunden sind, ist kein anderer als derjenige der Verbindung von Buchstaben zu Wörtern. Wenn einige wenige ursprüngliche Ideen dazu dienen sollen, Wirkungen und Handlungen in großer Zahl zu bezeichnen, so ist erforderlich, daß sie vielfältig miteinander kombiniert werden; und wenn ihr Gebrauch beständig und allgemein sein soll, so müssen diese Kombinationen nach Regeln und einem wohlüberlegten Plan geschaffen werden. Auf diese Weise wird uns in reichem Maße Unterricht darüber zuteil, was wir von bestimmten Handlungen zu erwarten haben und welcher Mittel wir uns bedienen müssen, um bestimmte Ideen hervorzurufen. Und das ist in der Tat alles, was meinem Verständnis nach mit der Behauptung gemeint sein kann, daß die Einsicht in Gestalt, Gefüge und Wirkungsweise der inneren Teile natürlicher oder künstlicher Körper uns befähigt, die verschiedenen davon abhängigen Funktionen und Eigenschaften oder die Natur des Dinges zu erkennen. 66 Daraus erhellt, daß alle die Dinge, die als sogenannte mitwirkende oder an der Hervorbringung von Wirkungen beteiligte Ursachen völlig unbegreiflich sind und uns in die ärgsten Widersinnigkeiten verstricken, dann eine ganz natürliche Erklärung finden sowie eine eigentümliche und sinnfällige Zweckbestimmung erhalten, wenn sie bloß als Merkmale oder Zeichen, die un-

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serer Unterrichtung dienen, begriffen werden. Diese vom Urheber der Natur gestifteten Zusammenhänge zu entdecken und verstehen zu lernen, sollte das Anliegen der Naturforscher sein. Und keineswegs sollten sie sich anheischig machen, Kausalerklärungen mittels körperlicher Ursachen zu liefern – eine Lehrmeinung, die das Denken der Menschen allzu sehr jenem aktiven Prinzip, jenem höchsten und weisen Geist entfremdet zu haben scheint, in dem wir leben, weben und sind. 67 Zwölftens wird vielleicht eingewandt werden, aus dem bisher Dargelegten gehe zwar hervor, daß es so etwas wie eine träge, empfindungslose, ausgedehnte, feste, gestaltete, bewegliche Substanz, die außerhalb des Geistes existiert – Materie mithin, wie sie von den Philosophen beschrieben wird –, nicht geben könne; daß aber, gesetzt, man würde aus dem Begriff der Materie die positiven Ideen der Ausdehnung, Gestalt, Festigkeit und Bewegung weglassen und mit dem Wort ›Materie‹ lediglich eine träge, empfindungslose Substanz bezeichnen, die außerhalb des Geistes oder unwahrgenommen existiert und unsere Ideen veranlaßt bzw. in deren Gegenwart es Gott gefällt, Ideen in uns hervorzurufen – daß also Materie in diesem Sinne nichts ist, dessen Existenz schlechthin unmöglich wäre. Hierauf erwidere ich erstens: daß es nicht weniger widersinnig zu sein scheint, eine Substanz ohne Akzidenzien anzunehmen wie Akzidenzien ohne eine Substanz. Zweitens aber: Wenn wir auch die Möglichkeit einräumen, daß diese unbekannte Substanz existiert, so ist damit doch nicht gesagt, wo sie ist. Daß sie nicht im Geist existiert, ist klar, und daß sie nicht an einem Ort existiert, ist nicht minder gewiß; existiert doch alle Ausdehnung, wie bereits bewiesen, nur im Geist. Es bleibt also nur, daß sie nirgendwo existiert. 68 Laßt uns die Beschreibung, die hier von der Materie gegeben wird, ein wenig genauer prüfen. Sie ist weder aktiv, noch nimmt sie wahr oder wird wahrgenommen; denn das und nichts sonst ist gemeint, wenn sie als träge, empfindungslose, unbekannte Substanz bestimmt wird – eine Definition, die nur aus Negationen besteht, ausgenommen den Relationsbegriff des Darunterstehens oder Tragens. Aber dann muß bemerkt werden, daß sie überhaupt nichts trägt; und wie nahe dies der Beschrei-

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bung von etwas Nichtseiendem (non-entity) kommt, möge man bitte erwägen. Aber, sagt ihr, sie ist die unbekannte Veranlassung, in deren Gegenwart Ideen in uns durch den Willen Gottes hervorgerufen werden. Nun möchte ich gerne wissen, wie irgend etwas uns gegenwärtig sein kann, das weder durch die Sinne noch durch Reflexion wahrnehmbar noch auch fähig ist, irgendeine Idee in unserem Geist hervorzubringen, das weder ausgedehnt ist noch eine Gestalt hat noch an irgendeinem Ort existiert. Die Wörter gegenwärtig sein müssen in diesem Zusammenhang in einer abstrakten und seltsamen Bedeutung verwendet werden, die ich nicht zu verstehen vermag. 69 Laßt uns ferner prüfen, was mit Veranlassung (occasion) gemeint ist. Soviel ich dem normalen Sprachgebrauch entnehmen kann, bezeichnet das Wort entweder das aktive Seiende, das irgendeine Wirkung hervorbringt, oder aber etwas, das im gewöhnlichen Lauf der Dinge als die Wirkung begleitend oder ihr vorhergehend beobachtet wird. Wenn das Wort jedoch auf die Materie, wie oben beschrieben, angewandt wird, kann es in keiner der beiden Bedeutungen genommen werden. Denn da die Materie passiv und träge sein soll, kann sie kein aktives Seiendes, keine wirkende Ursache sein. Da sie überdies nicht wahrnehmbar ist, weil sie aller sinnlich faßbaren Qualitäten ermangelt, kann sie nicht Veranlassung unserer Wahrnehmungen in der zweiten Bedeutung sein, in der man das Ereignis, daß ich mir den Finger verbrenne, die Veranlassung des nachfolgenden Schmerzes nennt. Was kann es also heißen, wenn Materie als Veranlassung bezeichnet wird? Der Ausdruck wird entweder in gar keiner Bedeutung gebraucht oder in einer von der üblichen Verwendungsweise sehr weit entfernten. 70 Vielleicht werdet ihr sagen, daß die Materie, obwohl nicht wahrnehmbar für uns, doch von Gott wahrgenommen wird, für den sie die Veranlassung ist, Ideen in unseren Geistern hervorzurufen. Denn, sagt ihr, da wir beobachten, daß uns Sinnesempfindungen in geordneter und beständiger Folge eingeprägt werden, so müsse vernünftigerweise angenommen werden, daß es bestimmte beständige und regelmäßige Veranlassungen zu ihrer Hervorbringung gibt. Das besagt: Es gibt bestimmte beharrliche,

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voneinander gesonderte Materiekomplexe, die unseren Ideen entsprechen und die, obgleich sie letztere nicht in unseren Geistern hervorrufen oder uns anderweitig unmittelbar affizieren, da sie gänzlich passiv und nicht wahrnehmbar für uns sind, doch jedenfalls für Gott, der sie wahrnimmt, gewissermaßen Veranlassungen darstellen, wodurch er daran erinnert wird, wann welche Ideen unserem Geist einzuprägen sind, damit die Dinge ihren beständigen, gleichmäßigen Lauf nehmen. 71 Darauf antworte ich mit der Bemerkung, daß, so wie der Materiebegriff hier bestimmt ist, nicht die Existenz eines von Geist und Idee, vom Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden verschiedenen Dinges in Frage steht, sondern ob es gewisse Ideen (ich weiß nicht welcher Art) im Geiste Gottes gibt, die als Merkoder Schriftzeichen ihn anleiten, auf beständige und geregelte Weise Sinnesempfindungen in unseren Geistern hervorzurufen – durchaus vergleichbar der Art und Weise, wie ein Musiker durch die Notenzeichen angeleitet wird, jene harmonische Abfolge und Verbindung von Tönen hervorzubringen, die als Melodie bezeichnet wird, mögen auch deren Hörer die Noten nicht wahrnehmen und vielleicht gar keine Kenntnis von ihnen besitzen. Aber dieser Materiebegriff dürfte zu verstiegen sein, um eine Widerlegung zu verdienen. Außerdem stellt er in Wahrheit keinen Einwand gegen das von uns Vorgebrachte dar, daß es nämlich eine empfindungslose, unwahrgenommene Substanz nicht gibt. 72 Wenn wir dem Licht der Vernunft folgen, werden wir aus der beständigen, gleichförmigen Daseinsweise unserer Sinnesempfindungen auf die Güte und Weisheit des Geistes schließen, der sie in uns hervorruft. Aber das ist auch alles, was meines Erachtens vernunftgemäß daraus geschlossen werden kann. Für mich, sage ich, leidet es keinen Zweifel, daß die Existenz eines unendlich weisen, gütigen und mächtigen Geistes völlig hinreicht, um sämtliche Naturerscheinungen zu erklären. Aber nichts, was ich wahrnehme, steht mit träger empfindungsloser Materie auf irgendeine Weise in Verbindung oder läßt den Gedanken daran entstehen. Und ich möchte den sehen, dem es gelingt, irgendeine Naturerscheinung, und wäre es die allerunbedeutendste, mit ihrer Hilfe zu erklären, oder der auch nur mit einem Hauch von Wahr-

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scheinlichkeit zu begründen vermöchte, warum er an ihre Existenz glauben sollte, ja der auch nur diese Annahme verständlich zu machen und ihr einen nachvollziehbaren Sinn zu geben wüßte. Denn was das Sein der Materie als Veranlassung betrifft, so haben wir, denke ich, klar gezeigt, daß sie im Hinblick auf uns keine Veranlassung ist. Sie könnte also, wenn überhaupt, nur für Gott Veranlassung sein, Ideen in uns hervorzurufen; und was es damit auf sich hat, haben wir soeben gesehen. 73 Es dürfte der Mühe wert sein, ein wenig über die Beweggründe nachzudenken, welche die Menschen vermocht haben, an die Existenz einer materiellen Substanz zu glauben, wobei wir in eben dem Maße, wie wir die Motive oder Gründe nach und nach haben dahinschwinden und sich auflösen sehen, die darauf beruhende Zustimmung zurücknehmen können. Zuerst meinte man, daß Farbe, Gestalt, Bewegung und alle übrigen wahrnehmbaren Qualitäten oder Akzidenzien realiter außerhalb des Geistes existieren, und mit Rücksicht darauf schien es erforderlich, ein nichtdenkendes Substrat oder eine Substanz anzunehmen, worin sie existieren, da sie nicht als für sich existierend gedacht werden konnten. Als die Menschen im Lauf der Zeit zu der Auffassung gelangten, daß Farben, Tönen und den übrigen sekundären Qualitäten kein Dasein außerhalb des Geistes zukommt, dachten sie sich dieses Substrat oder die materielle Substanz jener Qualitäten beraubt und nur noch im Besitz der primären wie Gestalt, Bewegung und dergleichen, von denen weiterhin angenommen wurde, daß sie außerhalb des Geistes existieren und infolgedessen eines materiellen Trägers bedürfen. Da nun aber gezeigt worden ist, daß auch keine von diesen Qualitäten anders als in einem Geist oder Bewußtsein, das sie wahrnimmt, existieren kann, so folgt, daß wir nicht länger den geringsten Grund haben, an das Dasein der Materie zu glauben, ja, daß es schlechterdings unmöglich ist, daß es etwas derartiges überhaupt gibt, solange man mit diesem Wort ein nichtdenkendes Substrat von Qualitäten oder Akzidenzien bezeichnet, worin diese außerhalb des Geistes existieren. 74 Aber obwohl die Materialisten selber einräumen, daß die Materie nur angenommen wurde, damit die Akzidenzien nicht ohne Träger wären, und obwohl man erwarten sollte, daß der

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Geist natürlicherweise und ohne jedes Widerstreben, sobald der Grund wegfällt, sich des Glaubens an das darauf Gegründete entschlüge, so hat sich doch das Vorurteil so tief in unser Denken eingenistet, daß wir unsere liebe Not damit haben, uns von ihm zu befreien, und daher geneigt sind, wenn schon die Sache selbst unhaltbar ist, wenigstens den Namen zu bewahren. Diesen wenden wir dann auf alle möglichen abstrakten und vagen Begriffe wie den des Seienden oder der Veranlassung an, wiewohl ohne jeden Anschein von Berechtigung, jedenfalls soweit ich einzusehen vermag. Über welche Anhaltspunkte verfügen wir denn oder was nehmen wir unter all den Ideen, Empfindungen, Begriffen wahr, die unserem Geist mit Hilfe der Sinne oder der Reflexion eingeprägt sind, woraus auf die Existenz einer trägen, nichtdenkenden, nichtwahrgenommenen Veranlassung geschlossen werden könnte? Und was kann es zum anderen auf seiten eines Geistwesens von höchster Vollkommenheit geben, das uns glauben oder auch nur mutmaßen ließe, es werde durch ein träges veranlassendes Etwas angeleitet, Ideen in unseren Geistern hervorzurufen? 75 Es ist ein außerordentlicher und höchst beklagenswerter Beweis der Macht des Vorurteils, daß der menschliche Geist wider alle Vernunftgründe in Anhänglichkeit an ein stupides nichtdenkendes Etwas verharrt, durch dessen Einschaltung er sich gewissermaßen gegen die göttliche Vorsehung abschirmt und Gott weiter von den Angelegenheiten der Welt entrückt. Aber wir mögen uns noch so sehr anstrengen, unseren Glauben an Materie auf eine feste Grundlage zu stellen, und wir mögen dabei, wenn die Vernunft uns im Stich läßt, uns mit der bloßen Möglichkeit der Sache begnügen; wir mögen ferner, um dieser armseligen Möglichkeit ein wenig Farbe zu verleihen, uns den Ausschweifungen einer von Vernunft nicht gezügelten Einbildungskraft hingeben – am Ende kann doch nicht mehr bei alledem herauskommen, als daß es bestimmte unbekannte Ideen im Geiste Gottes gibt. Denn dies und nichts anderes bedeutet meinem Verständnis nach der Ausdruck Veranlassung mit Bezug auf Gott, wenn er denn überhaupt etwas bedeutet. Und das heißt im Grunde nicht länger um die Sache, sondern um den Namen streiten.

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76 Ob es also solche Ideen im Geiste Gottes gibt und ob es an-

geht, ihnen den Namen Materie beizulegen, will ich nicht erörtern. Wenn ihr aber am Begriff einer nichtdenkenden Substanz oder eines Trägers von Ausdehnung, Bewegung und anderen wahrnehmbaren Qualitäten festhaltet, so ist es für mich evident unmöglich, daß es so etwas überhaupt gibt. Denn es ist ein direkter Widerspruch, daß diese Qualitäten in einer nichtwahrnehmenden Substanz existieren oder von einer solchen getragen werden. 77 Aber, sagt ihr, mag auch zugestanden werden, daß es einen nichtdenkenden Träger von Ausdehnung und den übrigen Qualitäten oder Akzidenzien, die wir wahrnehmen, nicht gibt, so könnte es doch vielleicht eine träge, nichtwahrnehmende Substanz oder ein Substrat gewisser anderer Qualitäten geben, die uns so unzugänglich sind wie einem Blindgeborenen die Farben, weil uns der für sie empfängliche Sinn fehlt. Aber wenn wir einen neuen Sinn hätten, so würde uns ihre Existenz ebensowenig zweifelhaft sein wie einem zum Sehen gebrachten Blinden die Existenz von Licht und Farben. Darauf erwidere ich erstens: Wenn ihr mit dem Wort Materie nichts weiter meint als den unbekannten Träger unbekannter Qualitäten, so macht es keinen Unterschied, ob es ein solches Ding gibt oder nicht, da es gänzlich bedeutungslos für uns ist. Und ich weiß nicht, wozu ein Disput über etwas, dessen Was und Warum wir nicht kennen, gut sein soll. 78 Zweitens aber, wenn wir einen neuen Sinn hätten, so könnte er uns nur mit neuen Ideen oder Sinnesempfindungen versehen; und dann würden wir die nämlichen Gründe gegen ihre Existenz in einer nichtwahrnehmenden Substanz haben, die bereits im Hinblick auf Gestalt, Bewegung, Farbe und dergleichen vorgebracht worden sind. Qualitäten sind, wie wir gezeigt haben, nichts anderes als Sinnesempfindungen oder Ideen, die nur in einem Geist existieren, der sie wahrnimmt. Und das gilt nicht nur von den uns gegenwärtig bekannten Ideen, sondern von allen möglichen Ideen gleich welcher Art. 79 Aber, werdet ihr unnachgiebig fortfahren, wenn es auch unmöglich sein mag, Gründe für den Glauben an die Existenz

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der Materie zu finden und ihr irgendeinen Daseinszweck zuzuschreiben oder etwas mit ihrer Hilfe zu erklären, ja auch nur den Sinn des Wortes zu verstehen, so liegt doch kein Widerspruch in der Behauptung, daß Materie existiert und daß diese Materie eine Substanz im allgemeinen oder Veranlassung von Ideen ist, wie schwierig es auch sein mag anzugeben, was das heißen soll, oder sich auf eine bestimmte Verwendungsweise dieser Ausdrücke festzulegen. Darauf erwidere ich: Wenn Worte ohne Sinn gebraucht werden, dann könnt ihr sie ohne Gefahr des Widerspruchs nach Belieben zusammenstellen. Ihr dürft zum Beispiel sagen, daß zwei mal zwei gleich sieben ist, vorausgesetzt, ihr erklärt, daß ihr die Wörter dieses Satzes nicht in ihrer üblichen Bedeutung gebraucht, sondern als Zeichen für etwas, wovon ihr nicht wißt, was es ist. Aus demselben Grunde dürft ihr sagen, daß es eine träge, nichtdenkende Substanz ohne Akzidenzien gibt, die unsere Ideen veranlaßt. Wir werden aus dem einen Satz so klug wie aus dem anderen. 80 Zuletzt werdet ihr sagen: Was aber, wenn wir die Frage der materiellen Substanz auf sich beruhen lassen und behaupten, Materie sei ein unbekanntes Etwas, weder Substanz noch Akzidenz, weder Geist noch Idee, untätig, nichtdenkend, unteilbar, unbeweglich, unausgedehnt, nirgendwo existierend? Denn, sagt ihr, was auch immer gegen Substanz oder Veranlassung oder sonst eine positive oder relative Bestimmung der Materie vorgebracht werden mag, es tut nichts zur Sache, solange an dieser negativen Definition der Materie festgehalten wird. Ich antworte: Ihr mögt, wenn es euch gefällt, das Wort Materie in derselben Bedeutung gebrauchen wie andere Leute das Wort nichts, so daß beide Ausdrücke in eurem Idiom austauschbar sind. Denn darauf läuft es meines Erachtens mit dieser Definition hinaus: Wenn ich ihre Teile zusammengenommen oder jeden für sich aufmerksam betrachte, so kann ich nicht erkennen, daß sie irgendeine Wirkung oder einen Eindruck in meinem Geist hinterlassen, der von dem des Wortes nichts verschieden wäre. 81 Vielleicht werdet ihr erwidern, besagte Definition unterscheide sich dadurch hinreichend von der des Nichts, daß sie die positive, abstrakte Idee der Wesenheit, des Seins oder der Existenz

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enthält. Ich weiß sehr wohl, daß diejenigen, die sich im Besitz der Fähigkeit wähnen, abstrakte allgemeine Ideen zu bilden, so reden, als hätten sie eine solche Idee, die, wie sie sagen, der abstrakteste und allgemeinste Begriff überhaupt ist, was für mich bedeutet: der unbegreiflichste von allen. Nichts liegt mir ferner als zu bestreiten, daß es eine große Vielfalt von Geistern unterschiedlichen Ranges und Vermögens gibt, deren Fähigkeiten sowohl der Zahl als auch der Größenordnung nach die mir vom Urheber meines Seins verliehenen bei weitem übersteigen. Und so zu tun, als könnte ich mit meinen wenigen beschränkten, ärmlichen Wahrnehmungskapazitäten herausfinden, was für Ideen die unerschöpfliche Macht des höchsten Geistes ihnen einprägen mag, wäre zweifellos der Gipfel der Narretei und Überheblichkeit. Denn soviel ich weiß, kann es unzählige Arten von Ideen oder Sinnesempfindungen geben, die voneinander und von allen, die ich wahrgenommen habe, so verschieden sind wie Farben von Tönen. Aber ich mag noch so bereitwillig die Beschränktheit meiner Erkenntnisfähigkeiten hinsichtlich der endlosen Vielfalt möglicherweise existierender Geister und Ideen anerkennen – daß einer dieser Geister über einen Begriff des Seins oder der Existenz verfügen sollte, bei dem von Geist und Idee, vom Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden abstrahiert wäre, das anzunehmen käme, meine ich, einem direkten Widerspruch und bloßen Spiel mit Worten gleich. Jetzt haben wir nur noch die Einwände zu prüfen, die im Namen der Religion erhoben werden könnten. 82 Einige sind der Ansicht, daß zwar sämtliche Vernunftargumente für die Realexistenz von Körpern zugegebenermaßen nicht strikt beweiskräftig sind, die Heilige Schrift aber in dieser Frage so eindeutig urteilt, daß jeder gute Christ die Überzeugung gewinnen muß, daß Körper realiter existieren und mehr sind als bloße Ideen; würden doch in der Bibel zahllose Tatsachen berichtet, die ganz offensichtlich die Realität von Holz und Stein, von Bergen, Flüssen, Städten und menschlichen Körpern voraussetzen. Darauf erwidere ich, daß keine Schrift, welcher Art sie auch sein mag, heilig oder profan, die diese und ähnliche Wörter in der gewöhnlichen Bedeutung oder überhaupt in sinnvoller Weise verwendet, Gefahr läuft, daß ihre Wahrheit durch unsere Lehre in

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Frage gestellt wird. Daß all jene Dinge wirklich existieren, daß es Körper gibt, ja sogar körperliche Substanzen, sofern der Ausdruck im gewöhnlichen Sinn gebraucht wird, das steht, wie gezeigt, mit unseren Prinzipien in Einklang; und der Unterschied zwischen Dingen und Ideen, Realitäten und Chimären ist in aller Deutlichkeit erklärt worden. (Abschnitte 29, 30, 33, 36 etc.) Und soweit ich weiß, findet weder das, was die Philosophen Materie nennen, noch die Existenz von Gegenständen außerhalb des Geistes irgendwo in der Bibel Erwähnung. 83 Gleichviel nun, ob es äußere Dinge gibt oder nicht, allseits ist unstrittig, daß der eigentliche Zweck der Wörter darin liegt, Vorstellungen oder Dinge genau so zu bezeichnen, wie sie uns bekannt sind und von uns wahrgenommen werden. Und daraus folgt klarerweise, daß die hier vertretenen Grundsätze nichts enthalten, was mit dem richtigen Gebrauch und der Funktion der Sprache unverträglich wäre, und daß keine Form der Rede, sofern sinnvoll, durch sie in Mitleidenschaft gezogen wird. Aber all das dürfte nach den obigen Erörterungen so selbstverständlich sein, daß es unnötig ist, länger dabei zu verweilen. 84 Doch man wird geltend machen, daß immerhin Wunder durch unsere Prinzipien viel von ihrer Eindrücklichkeit und Bedeutsamkeit verlieren. Was müssen wir von Moses’ Stab denken? Wurde er denn wirklich in eine Schlange verwandelt, oder fand lediglich ein Wechsel von Ideen im Bewußtsein der Zuschauer statt? Und sollen wir annehmen, unser Heiland hätte auf der Hochzeit zu Kana nichts weiter getan, als auf Gesichts-, Geruchs- und Geschmackssinn der Gäste so einzuwirken, daß in ihnen die Erscheinung oder bloße Idee von Wein entstanden ist? Dasselbe kann von allen anderen Wundern gesagt werden: daß sie nämlich aufgrund unserer Prinzipien als Blendwerk oder Hirngespinste angesehen werden müssen. Darauf entgegne ich, daß der Stab in eine wirkliche Schlange und das Wasser in wirklichen Wein verwandelt wurde. Daß dies in gar keiner Weise unseren Auffassungen widerspricht, erhellt aus den Abschnitten 34 und 35. Aber was es mit wirklich und eingebildet auf sich hat, haben wir so eingehend und umfassend erörtert; so viele Male ist darauf Bezug genommen worden, und die einschlägigen Probleme lassen

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sich nach allem, was gesagt wurde, so leicht lösen, daß es den Verstand des Lesers beleidigen hieße, wenn wir uns hier noch einmal mit der Sache befassen würden. Ich will nur bemerken, daß, wenn bei Tisch alle Anwesenden Wein sehen und riechen und schmecken und trinken und seine Wirkungen verspüren, von meinem Standpunkt aus an seiner Wirklichkeit nicht gezweifelt werden kann, so daß genau genommen alle Bedenken hinsichtlich der Wirklichkeit der Wunder nicht unsere, sondern die herrschenden Prinzipien betreffen und folglich eher für als gegen uns ins Gewicht fallen. 85 Nachdem wir uns mit den Einwänden auseinandergesetzt haben, die in das hellste Licht zu rücken und so stark und gewichtig wie möglich zu machen, ich mich bestrebt habe, wenden wir uns nun den Konsequenzen unserer Lehre zu. Einige drängen sich auf. So werden allerhand schwierige und dunkle Fragen, an die maßlos viel spekulativer Scharfsinn verschwendet worden ist, ein für allemal aus der Philosophie verbannt. Kann die körperliche Substanz denken? Ist die Materie ins Unendliche teilbar? Und wie wirkt sie auf den Geist? Mit diesen und ähnlichen Untersuchungen haben sich die Philosophen seit jeher die Zeit vertrieben. Da sie die Existenz der Materie zur Voraussetzung haben, sind sie durch unsere Prinzipien gegenstandslos geworden. Zahlreiche weitere Vorteile, die sowohl die Religion als auch die Wissenschaften betreffen, kann jeder unschwer dem Vorhergehenden entnehmen. Doch das wird im Folgenden deutlicher werden. 86 Aus den hier aufgestellten Grundsätzen ergibt sich naturgemäß eine Zweiteilung der menschlichen Erkenntnis, nämlich in die Erkenntnis der Ideen und die der Geister. Beide Arten werde ich nacheinander behandeln. Was zuvörderst die Ideen oder nichtdenkenden Dinge angeht, so hat die Annahme einer zweifachen Existenz der Sinnesobjekte, einer intelligiblen im Geiste und einer realen außerhalb des Geistes, – wobei den nichtdenkenden Dingen ein natürliches Bestehen durch sich selbst, verschieden vom Wahrgenommenwerden durch Geister eigen sein soll – erheblich zur Verdunkelung und Verwirrung unserer Erkenntnis von ihnen beigetragen und uns in gefährliche Irrtümer verstrickt. Diese Auffassung, die, wenn ich nicht irre, als ganz und gar unbe-

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gründet und absurd erwiesen werden konnte, führt geradewegs zum Skeptizismus. Denn solange die Menschen annahmen, daß reale Dinge außerhalb des Geistes existieren und unser Wissen nur insoweit real ist, als es mit realen Dingen übereinstimmt, solange mußten sie zwangsläufig in Ungewißheit sein, ob sie überhaupt reales Wissen besitzen. Denn wie kann erkannt werden, daß die wahrgenommenen Dinge mit Dingen, die nicht wahrgenommen werden oder außerhalb des Geistes existieren, übereinstimmen? 87 Farbe, Gestalt, Bewegung, Ausdehnung und so weiter, bloß als Sinnesempfindungen im Geiste betrachtet, sind vollkommen bekannt, da nichts in ihnen ist, was nicht wahrgenommen würde. Wenn sie jedoch als Kennzeichen oder Abbilder aufgefaßt werden, die sich auf Dinge oder Urbilder außerhalb des Geistes beziehen, so sind wir dem Skeptizismus preisgegeben. Wir sehen nur die Erscheinungen und nicht die realen Qualitäten der Dinge. Was Ausdehnung, Gestalt oder Bewegung irgendeines Dinges realiter und absolut oder an sich selbst sein mögen, können wir unmöglich wissen; nur ihr Verhältnis oder ihre Beziehung zu unseren Sinnen ist für uns erkennbar. Die Dinge bleiben sich gleich, unsere Ideen wechseln, und es liegt nicht in unserer Macht zu ermitteln, welche von ihnen oder ob überhaupt eine von ihnen die wahre, in dem Ding real existierende Qualität repräsentiert. Daher könnte, soweit wir wissen, alles, was wir sehen, hören und tasten, bloßes Phantom und eitle Schimäre sein und in keiner Weise mit den realen, in rerum natura existierenden Dingen übereinstimmen. All das sind skeptische Konsequenzen der Annahme, daß Dinge und Ideen voneinander verschieden sind und daß jene außerhalb des Geistes oder unwahrgenommen für sich selbst bestehen. Es wäre ein Leichtes, sich über diesen Gegenstand weiter zu verbreiten und zu zeigen, wie die Argumente der Skeptiker aller Zeiten von der Voraussetzung externer Gegenstände abhängen. 88 Solange wir nichtdenkenden Dingen ein reales, vom Wahrgenommenwerden verschiedenes Dasein zuschreiben, ist es uns nicht nur unmöglich, die Natur irgendeines realen nichtdenkenden Etwas mit Gewißheit zu erkennen, sondern sogar, daß es überhaupt existiert. Daher kommt es, daß Philosophen ihren Sinnen mißtrauen und an der Existenz von Himmel und Erde,

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von jedem Ding, das sie sehen und tasten, zweifeln, ihren eigenen Körper nicht ausgenommen. Und am Ende all ihrer Denkanstrengungen sind sie genötigt zu bekennen, daß wir kein unmittelbar evidentes oder durch demonstrative Beweisführung gesichertes Wissen von der Existenz sinnlich wahrnehmbarer Dinge gewinnen können. Aber all diese Zweifel, die so sehr den Geist verwirren und aus der Fassung bringen und die Philosophie in den Augen der Welt zum Gespött machen, verschwinden, wenn wir mit unseren Worten Sinn verbinden und nicht mit Ausdrücken wie absolut, extern, existieren und dergleichen, die – wir wissen nicht was – bedeuten, unsere Zeit vergeuden. Ich kann ebensowohl an meinem eigenen Sein zweifeln wie am Sein der Dinge, die ich gegenwärtig mit den Sinnen wahrnehme; ist es doch ein manifester Widerspruch, daß irgendein Gegenstand der Sinne durch Sehen oder Tasten unmittelbar wahrgenommen werden und zugleich nicht im eigentlichen Sinne real existieren sollte, da die Existenz eines nichtdenkenden Seienden nun einmal im Wahrgenommenwerden und in nichts sonst besteht. 89 Um auf tragfähiger Grundlage ein System gehaltvollen und realen Wissens zu errichten, das allen Angriffen des Skeptizismus standzuhalten vermag, dürfte nichts wichtiger sein, als mit einer Bedeutungserklärung der Ausdrücke Ding, Realität, Existenz den Anfang zu machen. Denn es ist müßig, über die Realexistenz der Dinge zu streiten oder einschlägiges Wissen zu beanspruchen, solange wir die Bedeutung dieser Wörter nicht festgestellt haben. Ding oder Seiendes ist der allgemeinste aller Namen; er befaßt unter sich zwei gänzlich verschiedene, heterogene Arten, die nichts als den Namen gemein haben, nämlich Geister und Ideen. Jene sind tätige, unteilbare Substanzen, diese träge, vergängliche, abhängige Entitäten, die nicht durch sich selbst bestehen, sondern von Geistern oder spirituellen Substanzen getragen werden oder in ihnen existieren. Wir wissen von unserer eigenen Existenz durch ein inneres Gefühl oder durch Reflexion und von der Existenz anderer Geister durch Schließen. Man darf sagen, daß wir einige Kenntnis oder einen Begriff von unserem eigenen mentalen Sein, von Geistern und tätigen Wesen haben, von denen wir im strengen Sinne keine Ideen besitzen. In gleicher Weise wissen

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wir und haben einen Begriff von Beziehungen zwischen Dingen oder Ideen, die von den aufeinander bezogenen Dingen oder Ideen verschieden sind, insofern die letzteren von uns wahrgenommen werden können ohne Wahrnehmung ersterer. Mich dünkt, daß Ideen, Geister und Beziehungen in all ihren Arten den Gegenstand menschlicher Erkenntnis und die Gesamtheit dessen bilden, was überhaupt erörtert werden kann, und daß es den Gebrauch des Ausdrucks Idee unangemessen erweitern hieße, wenn jedes Ding, von dem wir Kenntnis oder irgendeinen Begriff haben, so bezeichnet würde. 90 Den Sinnen eingeprägte Ideen sind wirkliche Dinge oder existieren wirklich. Dies stellen wir nicht in Abrede, wohl aber, daß sie außerhalb der Geister, die sie wahrnehmen, ein Sein und Bestehen haben können oder daß sie Abbilder irgendwelcher Urbilder sind, die außerhalb des Geistes existieren; denn das Sein einer Sinnesempfindung oder Idee besteht schlechthin im Wahrgenommenwerden, und eine Idee kann nur einer Idee ähnlich sein. Auch mögen die sinnlich wahrgenommenen Dinge mit Rücksicht auf ihren Ursprung äußere genannt werden, da sie nicht von innen, durch den Geist selbst erzeugt, sondern von einem Geist, der von dem, der sie wahrnimmt, verschieden ist, diesem eingeprägt werden. Und noch in einer anderen Bedeutung kann von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen gesagt werden, sie seien außerhalb des Geistes, wenn sie nämlich in einem anderen Geist existieren. So können, wenn ich meine Augen schließe, die Dinge, die ich gesehen habe, weiter existieren, aber es muß in einem anderen Geist sein. 91 Es wäre irrig zu glauben, das hier Gesagte tue der Realität der Dinge im geringsten Abbruch. Nach herrschender Lehre gilt als ausgemacht, daß Ausdehnung, Bewegung, kurz: alle sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten eines Trägers bedürfen, da sie nicht für sich selbst bestehen können. Die mit den Sinnen wahrgenommenen Gegenstände aber sind zugegebenermaßen nichts als Kombinationen solcher Qualitäten und können daher nicht für sich selbst bestehen. Soweit sind alle einer Meinung. Wenn wir also bestreiten, daß den sinnlich wahrgenommenen Dingen ein Dasein unabhängig von einer Substanz oder einem Träger, worin

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sie existieren, zukommt, so widersprechen wir der herrschenden Auffassung von der Realität dieser Dinge nicht und machen uns in dieser Hinsicht keiner Neuerung schuldig. Der einzige Unterschied besteht darin, daß nach unseren Begriffen den sinnlich wahrgenommenen nichtdenkenden Entitäten kein vom Wahrgenommenwerden verschiedenes Dasein zukommt und daß sie daher in keiner anderen Substanz existieren können als in jenen unausgedehnten, unteilbaren Substanzen oder Geistern, die handeln und denken und sie wahrnehmen, wohingegen die Philosophen gemeinhin annehmen, daß die sinnlichen Qualitäten in einer trägen, ausgedehnten, nichtwahrnehmenden Substanz existieren, die sie Materie nennen. Dieser Substanz schreiben sie ein natürliches Bestehen außerhalb aller denkenden Wesen zu – ein Dasein unabhängig vom Wahrgenommenwerden durch jeglichen Geist, welcher es auch sei, den ewigen Geist des Schöpfers nicht ausgenommen, in dem sie lediglich Ideen der von ihm geschaffenen körperlichen Substanzen voraussetzen, sofern sie diese überhaupt als geschaffen anerkennen. 92 So wie die Lehre von der Materie oder körperlichen Substanz, wie wir gezeigt haben, die tragende Säule des Skeptizismus bildet, so wurden auf demselben Fundament all die unfrommen Systeme des Atheismus und der Irreligiosität errichtet. Daß die Materie aus nichts geschaffen sei, erschien so unbegreiflich, daß selbst die berühmtesten unter den Philosophen des Altertums, die vom Sein eines Gottes überzeugt waren, die Materie für ungeschaffen und gleich ewig mit ihm gehalten haben. Wie sehr den Atheisten zu allen Zeiten die materielle Substanz lieb und teuer gewesen ist, bedarf keiner Erwähnung. Ihre monströsen Systeme hängen so offenkundig und notwendig von ihr ab, daß es nur der Beseitigung dieses Eckpfeilers bedarf, um das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen, weshalb es sich erübrigt, die Widersinnigkeiten jeder dieser verächtlichen Atheisten-Sekten einer gesonderten Prüfung zu unterziehen. 93 Daß unfromme und weltlich gesinnte Leute an jenen Systemen Gefallen finden, die ihren Neigungen Vorschub leisten, indem sie die immaterielle Substanz lächerlich machen und von der Seele behaupten, sie sei ebenso teilbar und vergänglich wie

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 94–95

der Körper, die ferner jegliche Freiheit, Intelligenz und Absicht aus der Gestaltung der Dinge ausschließen und statt dessen deren Wurzel und Ursprung in eine durch sich selbst existierende, stupide, nichtdenkende Substanz verlegen; daß solche Leute denen Gehör schenken, die eine Vorsehung oder Beaufsichtigung der weltlichen Angelegenheiten durch einen höheren Geist leugnen und die ganze Kette der Ereignisse entweder auf blinden Zufall oder auf schicksalhafte, aus dem Zusammenprall der Körper resultierende Notwendigkeit zurückführen – das alles ist nur zu natürlich. Wenn aber Männer von besseren Grundsätzen feststellen, daß die Feinde der Religion so großes Gewicht auf die nichtdenkende Materie legen und sich mit List und Tücke bemühen, alles darauf zu reduzieren, dann müßten sie, meine ich, eigentlich frohlocken, wenn sie letztere ihres Rückhalts beraubt und aus jener einzigen Zitadelle vertrieben sehen, außerhalb derer Epikureer, Hobbesianer und dergleichen nicht die geringste Chance haben, sich zu verstellen und zu verstecken, und der denkbar leichteste Sieg über sie errungen wird. 94 Auf die Existenz der Materie oder unwahrgenommener Körper haben nicht nur Atheisten und Fatalisten ihre Sache gestellt; auch der Götzendienst in all seinen Spielarten basiert auf diesem Prinzip. Wenn die Menschen nur bedenken würden, daß Sonne, Mond und Sterne und alle anderen Gegenstände der Sinne nichts weiter als Sinnesempfindungen in ihren Geistern sind, die keine vom bloßen Wahrgenommenwerden verschiedene Existenz haben, so würden sie gewiß niemals auf die Knie fallen und ihre eigenen Ideen anbeten; vielmehr würden sie jenem ewigen unsichtbaren Geist huldigen, der alle Dinge hervorbringt und erhält. 95 Dasselbe widersinnige Prinzip hat durch Verquickung mit unseren eigenen Glaubensartikeln auch unter Christen nicht wenig Unheil angerichtet. Wie viele Bedenken und Einwände wurden beispielsweise hinsichtlich der Auferstehung von Sozinianern und anderen erhoben? Aber hängen nicht die plausibelsten von der Voraussetzung ab, daß ein Körper als derselbe bezeichnet wird nicht mit Rücksicht auf die Form oder das, was sinnlich wahrgenommen wird, sondern auf die materielle Substanz, die unter verschiedenen Formen dieselbe bleibt? Beseitigt die materielle

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Substanz, um deren Identität sich der ganze Streit dreht, und versteht unter Körper das, was der gemeine Mann darunter versteht, nämlich das unmittelbar Gesehene und Getastete, das bloß eine Verbindung wahrnehmbarer Qualitäten oder Ideen ist, und all die unwiderlegbaren Einwände sind hinfällig. 96 Sobald einmal die Materie aus der Natur verbannt ist, schwinden mit ihr so viele skeptische und unfromme Vorstellungen dahin, werden Zwistigkeiten und Vexierfragen, die Theologen wie Philosophen ein Pfahl im Fleisch gewesen sind und der Menschheit maßlos viel überflüssiges Kopfzerbrechen bereitet haben, in so unglaublicher Menge gegenstandslos, daß, sollten die von uns vorgebrachten Beweisgründe gegen Materie für nicht zureichend befunden werden (was sie in meinen Augen doch klarerweise sind), ich gleichwohl sicher bin, daß alle Freunde der Erkenntnis, des Friedens und der Religion Grund hätten zu wünschen, sie wären es. 97 Neben der äußeren Existenz der Wahrnehmungsgegenstände bildet die Lehre von den abstrakten Ideen, wie sie in der Einführung dargelegt wurde, eine weitere ergiebige Quelle von Irrtümern und Komplikationen, was die Ideenerkenntnis betrifft. Die einfachsten Dinge von der Welt, mit denen wir aufs engste vertraut sind und die wir vollkommen verstehen, erscheinen, wenn sie auf abstrakte Art und Weise betrachtet werden, sonderbar schwierig und unbegreiflich. Was Zeit, Ort und Bewegung im einzelnen oder in concreto sind, weiß jeder. Hat sich aber ein Metaphysiker ihrer angenommen, so werden sie zu abstrakt und subtil, um von Leuten mit gewöhnlichen geistigen Fähigkeiten verstanden zu werden. Sagt eurem Diener, er möge euch zu der und der Zeit an dem und dem Ort erwarten, und er wird über den Sinn dieser Worte gewiß nicht ins Grübeln geraten. Er findet nicht die geringste Schwierigkeit darin, sich diese besondere Zeit und diesen Ort oder die Bewegung, durch die er dorthin gelangt, vorzustellen. Wenn aber Zeit, unter Ausschluß all jener einzelnen Handlungen und Ideen, die den Tag abwechslungsreich gestalten, bloß als Fortsetzung der Existenz oder als Dauer in abstracto zum Gegenstand gemacht wird, dann mag es selbst einem Philosophen schwerfallen, sie zu begreifen.

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 98–99 98 Immer wenn ich versuche, eine einfache, von der Auf-

einanderfolge der Ideen in meinem Geist abstrahierte Idee der Zeit zu bilden, die gleichmäßig verfließt und an der alle Dinge teilhaben, weiß ich vor lauter Schwierigkeiten nicht aus noch ein. Ich habe schlechterdings keinen Begriff von ihr, höre nur andere sagen, sie sei ins Unendliche teilbar, und von ihr in einer Weise reden, die mich auf seltsame Gedanken über mein eigenes Dasein bringt. Denn diese Lehre nötigt jeden unabweislich zu der Annahme, entweder daß er unzählige Zeiträume hindurch ohne irgendeinen Gedanken existiert oder daß er in jedem Augenblick seines Lebens vernichtet wird, was beides gleichermaßen absurd erscheint. Da mithin die Zeit, abstrahiert von der Aufeinanderfolge der Ideen in unserem Geist, nichts ist, so folgt, daß die Dauer eines endlichen Geistes nach der Anzahl der Ideen oder Handlungen bemessen werden muß, die einander in eben diesem Geist oder Bewußtsein folgen. Eine direkte Konsequenz hieraus ist, daß die Seele immer denkt. Und in der Tat wird jeder, der versucht, in Gedanken oder durch Abstraktion die Existenz eines Geistes von seiner Denktätigkeit zu trennen, darin, wie ich glaube, eine nicht eben leichte Aufgabe finden. 99 Genauso verhält es sich, wenn wir versuchen, Ausdehnung und Bewegung von allen anderen Qualitäten zu abstrahieren und als solche zum Gegenstand der Betrachtung zu machen; wir verlieren sie sogleich aus dem Blick und geraten auf höchst sonderbare gedankliche Abwege. Dies ist die Folge einer zweifachen Abstraktion. Zum einen wird angenommen, Ausdehnung z. B. könne von allen anderen wahrnehmbaren Qualitäten getrennt werden, zum anderen, das Sein der Ausdehnung lasse sich vom Wahrgenommenwerden trennen. Indessen wird, wenn ich nicht irre, ein jeder, der nachdenkt und verständlich reden will, anerkennen, daß alle wahrnehmbaren Qualitäten gleichermaßen Sinnesempfindungen und gleichermaßen real sind, daß, wo Ausdehnung ist, auch Farbe ist, nämlich in seinem Geist, und daß ihre Urbilder nur in einem anderen Geist existieren können, schließlich, daß die Gegenstände der Sinne nichts anderes als verbundene, gemischte oder (wenn man so sagen darf) zusammenzementierte Sinnesempfindungen sind, von

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denen keine als unwahrgenommen existierend gedacht werden kann. 100 Was es heißt, ein Mensch sei glücklich oder eine Sache gut, mag wohl jedermann zu wissen glauben. Aber der Fähigkeit, eine abstrakte Idee des Glücks, abgelöst von jeder einzelnen Lust, zu bilden oder des Guten, unabhängig von allen guten Dingen, können sich nur die wenigsten rühmen. Ebenso kann jemand gerecht und tugendhaft sein, ohne genaue Ideen von Gerechtigkeit und Tugend zu besitzen. Die Ansicht, daß diese und ähnliche Wörter allgemeine Begriffe bezeichnen, die von den einzelnen Personen und Handlungen abstrahiert sind, scheint die Ethik zu einer komplizierten Angelegenheit gemacht und den Nutzen ihres Studium für die Menschen gemindert zu haben. Und in der Tat hat die Lehre von der Abstraktion nicht wenig dazu beigetragen, die nützlichsten Teile unseres Wissens zu verderben. 101 Die beiden großen Bereiche theoretischen Wissens, in denen sinnlich gegebene Ideen und ihre Relationen untersucht werden, sind Naturforschung (natural philosophy) und Mathematik. Zu beiden werde ich einige Beobachtungen mitteilen. Ich beginne mit der Naturforschung. Auf diesem Felde triumphieren die Skeptiker. Was sie an Argumenten vorbringen, um unsere Fähigkeiten herabzusetzen und die Menschen unwissend und schwach erscheinen zu lassen, leitet sich hauptsächlich von der Voraussetzung her, daß wir, was die wahre und reale Natur der Dinge angeht, für immer mit Blindheit geschlagen sind. Davon machen sie viel Aufhebens und gefallen sich in wortreichen Betrachtungen. Wir werden, sagen sie, von unseren Sinnen elendiglich getäuscht und mit der Außenseite und dem leeren Schein der Dinge zum besten gehalten. Das wahre Wesen (real essence), die innere Beschaffenheit und Konstitution selbst des geringsten Objekts ist unserem Blick verborgen. In jedem Wassertropfen, jedem Sandkorn ist etwas, das zu ergründen oder zu begreifen die Fähigkeit des menschlichen Verstandes übersteigt. Aber aus dem, was wir gezeigt haben, geht hervor, daß alle diese Klagen unbegründet sind und daß wir uns von falschen Prinzipien zum Mißtrauen in die Sinne und zu dem Glauben verleiten lassen, wir wüßten nichts von jenen Dingen, die wir vollkommen begreifen.

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 102–103 102 Was uns vornehmlich dazu verleitet, Unwissenheit in be-

zug auf die Natur der Dinge zu bekunden, ist die gängige Ansicht, daß jedem Ding die Ursache seiner Eigenschaften innewohnt oder daß jeder Gegenstand ein inneres Wesen besitzt, aus dem seine unterscheidbaren Eigenschaften hervorgehen und von dem sie abhängen. Einige haben sich anheischig gemacht, Erscheinungen mit Hilfe okkulter Qualitäten zu erklären. Neuerdings jedoch werden sie meistens auf mechanische Ursachen zurückgeführt, nämlich auf Gestalt, Bewegung, Gewicht und derlei Qualitäten nichtwahrnehmbarer Partikel, während es doch in Wahrheit kein anderes Agens oder Wirkursächlich-Seiendes gibt als Geist, da klarerweise Bewegung ebenso wie alle anderen Ideen vollkommen träge ist. Siehe Abschnitt 25. Infolgedessen bemüht man sich notwendigerweise vergebens, die Entstehung von Farben oder Tönen durch Gestalt, Bewegung, Größe und dergleichen zu erklären. So stellen wir denn auch fest, daß die einschlägigen Versuche keineswegs befriedigen. Und das gilt allgemein, wann immer eine Idee oder Qualität zur Ursache einer anderen gemacht wird. Ich brauche nicht zu betonen, wie viele Hypothesen und Spekulationen durch unsere Lehre fortfallen und wie viele Umwege dem Naturstudium erspart bleiben. 103 Das große mechanische Prinzip, das jetzt en vogue ist, ist die Attraktion. Daß ein Stein zur Erde fällt oder das Meer in Richtung des Mondes schwillt, dünkt wohl manchen hierdurch zureichend erklärt. Aber welche Aufklärung wird uns eigentlich zuteil, wenn wir erfahren, dies geschehe durch Attraktion? Wird denn durch das Wort die Art und Weise des Vorgangs kenntlich gemacht, und ist es wirklich so, daß die Bewegung auf einem wechselseitigen Ziehen der Körper beruht und nicht vielmehr darauf, daß sie zueinander hin gedrängt oder gestoßen werden? Aber das Wie oder die Tätigkeit als solche wird in keiner Weise bestimmt, und sie kann (soweit wir wissen) mit gleicher Berechtigung als Impuls oder Gedrängtwerden wie als Attraktion bezeichnet werden. Wir beobachten ferner, daß die Teile des Stahls fest aneinander haften, und auch das wird durch die Anziehung erklärt. Aber ich kann in diesem wie in den übrigen Fällen nicht finden, daß irgend etwas anderes als der Erfolg selbst bezeichnet wird. Denn

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was die Art und Weise der Tätigkeit betrifft, durch die er hervorgebracht wird, oder die Ursache, die ihn hervorbringt, so ist nicht einmal das Bestreben, dies näher zu bestimmen, erkennbar. 104 In der Tat können wir, wenn wir die verschiedenen Phänomene überblicken und miteinander vergleichen, eine gewisse Ähnlichkeit und Übereinstimmung zwischen ihnen feststellen. So liegt beispielsweise im Fallen eines Steines zur Erde, in der Bewegung des Meeres zum Mond hin, in Kohäsion und Kristallisation etwas Ähnliches, nämlich eine Vereinigung oder gegenseitige Annäherung von Körpern, so daß keine dieser Erscheinungen oder ihnen ähnliche demjenigen, der die Naturwirkungen sorgfältig beobachtet und verglichen hat, seltsam oder überraschend vorkommen wird. Denn dafür wird nur das gehalten, was ungewöhnlich ist, vereinzelt dasteht und sich nicht in den normalen Zusammenhang unserer Beobachtung einfügt. Daß Körper sich zum Erdmittelpunkt hin bewegen, erscheint nicht als seltsam, weil es das ist, was wir in jedem Augenblick unseres Lebens wahrnehmen. Aber daß sie in gleicher Weise zum Mittelpunkt des Mondes hin gravitieren, dürfte den meisten Menschen absonderlich und unerklärlich erscheinen, weil es nur am Phänomen der Gezeiten feststellbar ist. Wenn aber ein Naturforscher, dessen Denken einen größeren Ausschnitt der Natur umfaßt, in den Erscheinungen sowohl des Himmels als auch der Erde eine gewisse Gleichartigkeit beobachtet hat, die zeigt, daß unzählige Körper eine Tendenz zu gegenseitiger Annäherung haben, die er mit dem Gemeinnamen Attraktion bezeichnet, so nimmt er an, daß für alles, was hierauf zurückgeführt werden kann, eine adäquate Erklärung gegeben sei. Demgemäß erklärt er die Gezeiten durch die auf den Erdball einwirkende Mondanziehung, und diese erscheint ihm nicht als etwas Absonderliches oder Außerordentliches, sondern lediglich als Einzelfall einer allgemeinen Regel oder eines Naturgesetzes. 105 Wenn wir uns also fragen, worin Naturforscher und andere Leute sich hinsichtlich der Erkenntnis der Erscheinungen voneinander unterscheiden, so werden wir feststellen, daß der Unterschied nicht in einer genaueren Kenntnis der wirkenden Ursache besteht, die sie hervorbringt, denn diese kann nur der

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · § 106

Wille eines Geistes sein, sondern lediglich in einer Erweiterung des Gesichtskreises, wodurch Analogien, Gleichklänge und Übereinstimmungen in den Werken der Natur entdeckt und die einzelnen Wirkungen erklärt, d. h. auf allgemeine Regeln zurückgeführt werden. Siehe Abschnitt 62. An diesen Regeln, die auf der Analogie und Gleichförmigkeit beruhen, welche in der Hervorbringung natürlicher Wirkungen zu beobachten sind, hat der Geist ein besonderes Wohlgefallen und Interesse; denn sie erweitern unseren Horizont über das hinaus, was gegenwärtig und uns nahe ist, und befähigen uns, sehr wahrscheinliche Vermutungen über Dinge anzustellen, die sich in sehr großen zeitlichen und räumlichen Entfernungen zugetragen haben mögen, wie auch künftige Ereignisse vorherzusagen; und in dieser Art von Streben nach Allwissenheit liegt für den Geist ein hoher Reiz. 106 Aber wir sollten hierbei vorsichtig zu Werke gehen; denn wir sind geneigt, allzu großes Gewicht auf Analogien zu legen und zum Schaden der Wahrheit den Forschergeist gewähren zu lassen, wenn es ihn dazu drängt, sein Wissen zu allgemeinen Theorien zu erweitern. Weil beispielsweise die Gravitation oder gegenseitige Anziehung in einer Vielzahl von Fällen manifest ist, wird sie von manchen sogleich für schlechthin universell erklärt, so daß es als wesentliche, allen Körpern gleich welcher Art inhärente Eigenschaft gilt, zu jedem anderen Körper in der Relation der Anziehung und des Angezogenwerdens zu stehen. Dabei hat es den Anschein, daß die Fixsterne keine solche Bewegungstendenz gegeneinander aufweisen. Und die Gravitation ist so weit davon entfernt, den Körpern wesentlich zu sein, daß sich in einigen Fällen, wie im Emporwachsen der Pflanzen und in der Elastizität der Luft, ein genau entgegengesetztes Prinzip zu bekunden scheint. Der Tatbestand enthält nichts Notwendiges oder Wesentliches, sondern hängt ganz und gar vom Willen des herrschenden Geistes ab, der die Ursache dafür ist, daß nach verschiedenen Gesetzen bestimmte Körper fest aneinander haften oder zueinander streben, während er andere in einer fixen Entfernung voneinander hält; und einigen teilt er eine genau entgegengesetzte Tendenz mit, nämlich einander zu fliehen, gerade so, wie er es für gut befindet.

Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 107–108

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107 Aus unseren Darlegungen dürfen wir, denke ich, diese

Schlußfolgerungen ziehen: Erstens ist sonnenklar, daß die Naturforscher sich etwas vormachen, wenn sie nach einer natürlichen wirkenden Ursache suchen, die von einem Geist oder denkenden Wesen verschieden ist. Zweitens: Mit Rücksicht darauf, daß die ganze Schöpfung das Werk eines weisen und guten handelnden Wesens ist, kann von den Naturforschern billigerweise erwartet werden, daß sie (im Gegensatz zu dem, was einige propagieren) ihr Erkenntnisinteresse auf die Zweckursachen der Dinge richten; und ich verhehle nicht, daß ich nicht einzusehen vermag, weshalb der Aufweis der verschiedenen Zwecke, denen die Gegenstände der Natur angepaßt und für die sie ursprünglich mit unendlicher Weisheit erdacht worden sind, nicht für ein gutes und eines Forschers würdiges Verfahren, die Dinge zu erklären, gelten soll. Drittens: Keineswegs läßt sich aus dem Gesagten herleiten, daß fürderhin die Naturgeschichte nicht mehr studiert und auf Beobachtungen und Experimente verzichtet werden soll. Daß diese der Menschheit zum Nutzen gereichen und uns befähigen, allgemeine Schlüsse zu ziehen, verdankt sich nicht irgendwelchen unwandelbaren Wesenseigenschaften oder Beziehungen zwischen den Dingen selbst, sondern allein der Güte Gottes und seinem menschenfreundlichen Weltregiment. Siehe Abschnitt 30 und 31. Viertens: Durch sorgfältige Beobachtung der in unseren Gesichtskreis fallenden Erscheinungen können wir die allgemeinen Naturgesetze entdecken und aus ihnen die anderen Erscheinungen ableiten [deduce], ich sage nicht beweisen [demonstrate]; denn alle Ableitungen dieser Art beruhen auf der Voraussetzung, daß der Urheber der Natur stets gleichförmig und in beständiger Befolgung jener Regeln handelt, die wir als Prinzipien ansehen, was wir doch nicht mit Sicherheit wissen können. 108 Diejenigen, die den Erscheinungen allgemeine Regeln entnehmen und sodann die Erscheinungen aus diesen Regeln ableiten, scheinen eher Zeichen denn Ursachen zu betrachten. Jemand kann durchaus imstande sein, natürliche Zeichen zu verstehen, ohne ihre Analogie zu kennen oder sagen zu können, nach welcher Regel ein Ding so oder so ist. Und wie es leicht möglich ist, daß man durch übertrieben genaue Beachtung der allge-

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 109–111

meinen grammatischen Regeln den sprachlichen Ausdruck verdirbt, so kann es, wenn wir aus allgemeinen Regeln der Natur Schlußfolgerungen ziehen, durchaus vorkommen, daß wir die Analogie zu weit ausdehnen und dadurch irren. 109 Wie es dem klugen Mann bei der Lektüre anderer Bücher geziemt, den Sinn zu erfassen und aus ihm Nutzen zu ziehen, statt sich in grammatischen Betrachtungen über die Sprache zu ergehen, so scheint es beim Lesen im Buch der Natur unter der Würde des Geistes zu sein, in der Zurückführung jeder einzelnen Erscheinung auf allgemeine Regeln oder im Nachweis, wie sie aus ihnen folgen, allzu sehr nach Exaktheit zu streben. Wir sollten uns edlere Ziele setzen, unseren Geist durch den Anblick der Schönheit, Ordnung, Weite und Vielgestaltigkeit der Naturgegenstände erquicken und erbauen, durch angemessene Folgerungen hieraus unsere Begriffe von Größe, Weisheit und Wohltätigkeit des Schöpfers erweitern und schließlich, soweit es in unserer Macht steht, dafür sorgen, daß die verschiedenen Teile der Schöpfung zu ihrer eigentlichen Bestimmung gelangen, nämlich der Verherrlichung Gottes und der Erhaltung und Erleichterung unseres eigenen sowie des Lebens unserer Mitgeschöpfe. 110 Es dürfte unstrittig sein, daß den tiefsten Einblick in jene zuvor erwähnte Analogie oder Wissenschaft von der Natur ein gewisser berühmter Traktat über die Mechanik gewährt. In der Einleitung dieses mit Recht bewunderten Traktats werden Zeit, Raum und Bewegung in absolute und relative, wahre und scheinbare, mathematische und gewöhnliche eingeteilt. Diese Unterscheidung beruht, wie der Verfasser ausführlich darlegt, auf der Voraussetzung, daß jene Größen ein Dasein außerhalb des Geistes haben und daß sie üblicherweise in Beziehung zu sinnlich wahrnehmbaren Dingen aufgefaßt werden, zu denen sie doch ihrer eigenen Natur nach in keiner Beziehung stehen. 111 Was die Zeit betrifft, wie sie hier in einem absoluten oder abstrakten Sinne genommen wird, als die Dauer oder das Beharren der Existenz aller Dinge, so habe ich meinen Ausführungen über diesen Gegenstand in den Abschnitten 97 und 98 nichts hinzuzufügen. Im übrigen ist dieser berühmte Autor der Ansicht, daß es einen absoluten Raum gibt, der, sinnlich nicht wahrnehm-

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · § 111

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bar, in sich selbst stets gleich und unbeweglich ist, und einen relativen Raum, der jenem zum Maß dient und der, beweglich und bestimmt durch seine Lage in Beziehung auf sinnlich wahrnehmbare Körper, gemeinhin für den unbeweglichen Raum genommen wird. Ort definiert er als den Teil des Raumes, den ein Körper einnimmt. Und je nachdem, ob der Raum absolut oder relativ ist, ist es auch der Ort. Absolute Bewegung sei die Übertragung eines Körpers von einem absoluten Ort zu einem absoluten Ort, relative Bewegung die Übertragung von einem relativen Ort zu einem anderen. Weil aber die Teile des absoluten Raumes unseren Sinnen unzugänglich sind, müssen wir an ihrer Stelle ihre wahrnehmbaren Maße gebrauchen und dergestalt Ort und Bewegung in Beziehung auf Körper bestimmen, die wir als unbeweglich betrachten. In der Naturforschung, heißt es jedoch, müssen wir von unseren Sinnen abstrahieren, weil es der Fall sein kann, daß keiner der Körper, die zu ruhen scheinen, tatsächlich ruht, und weil dasselbe Ding, welches in relativer Bewegung ist, in Wirklichkeit ruhen kann. Ebenso kann ein und derselbe Körper in relativer Ruhe und Bewegung oder sogar gleichzeitig in entgegengesetzter relativer Bewegung sein, je nachdem wie sein Ort auf die eine oder andere Weise bestimmt ist. Alle diese Mehrdeutigkeiten werden in den scheinbaren Bewegungen gefunden, aber nichts dergleichen in der wahren oder absoluten, die daher allein Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung sein sollte. Und die wahre Bewegung, so wird uns gesagt, unterscheidet sich von den scheinbaren oder relativen Bewegungen durch folgende Eigenschaften. 1. In der wahren oder absoluten Bewegung nehmen alle Teile, welche dieselbe Lage gegen das Ganze beibehalten, an der Bewegung des Ganzen teil. 2. Wenn der Ort sich bewegt, so bewegt sich auch das darin Befindliche, so daß ein Körper, der sich an einem Ort bewegt, der selber in Bewegung ist, an der Bewegung seines Ortes teilnimmt. 3. Wahre Bewegung wird nie anders als durch eine auf den Körper selbst einwirkende Kraft erzeugt oder abgeändert. 4. Wahre Bewegung wird stets durch eine auf den bewegten Körper einwirkende Kraft abgeändert. 5. Bei bloß relativer Kreisbewegung tritt keine Zentrifugalkraft auf, die jedoch bei der wahren oder absoluten Kreisbewegung der Größe der Bewegung proportional ist.

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 112–114 112 Aber ungeachtet des hier Gesagten dünkt mich, daß es

keine andere als relative Bewegung geben kann, so daß wir uns, soll Bewegung vorstellbar sein, wenigstens zwei Körper vorstellen müssen, deren Entfernung oder gegenseitige Lage sich ändert. Wenn also nur ein einziger Körper existierte, so könnte er unmöglich in Bewegung sein. Das erscheint einleuchtend, da die Idee, die ich von Bewegung habe, notwendig Beziehung einschließt. 113 Aber obwohl bei jeder Bewegung notwendigerweise mehr als ein Körper vorgestellt werden muß, so kann es doch sein, daß nur einer in Bewegung ist, nämlich der, auf den die Kraft einwirkt, welche die Entfernungsänderung verursacht, oder mit anderen Worten der, auf den die Tätigkeit gerichtet ist. Zwar mögen einige ›relative Bewegung‹ so definieren, daß ein Körper bewegt heißt, wenn seine Entfernung zu anderen Körpern sich ändert, einerlei ob die Kraft oder Tätigkeit, welche die Änderung bewirkt, auf ihn gerichtet ist oder nicht. Weil aber relative Bewegung das ist, was sinnlich wahrgenommen und im täglichen Leben beobachtet wird, darf man füglich erwarten, daß jeder, der gesunden Menschenverstand besitzt, weiß, was sie ist, nicht anders als der bedeutendste Philosoph. Nun frage ich, ob irgend jemand nach seinem Wortverständnis die Pflastersteine, über die er als Spaziergänger hinwegschreitet, bewegt nennen würde, weil ihre Entfernung von seinen Füßen sich ändert? Obwohl Bewegung eine Beziehung eines Dinges zu einem anderen einschließt, scheint es mir doch nicht notwendig zu sein, jedes Glied der Beziehung als bewegt zu bezeichnen. Wie man an etwas denken kann, das selbst nicht denkt, so kann sich ein Körper auf einen anderen Körper zu- oder von ihm wegbewegen, ohne daß dieser darum seinerseits in Bewegung wäre. 114 Wird der Ort verschieden bestimmt, so ändert sich auch die auf ihn bezogene Bewegung. Ein Mensch in einem Schiff kann in Beziehung zu dessen Seiten als ruhend bezeichnet werden, und zugleich kann er sich in Beziehung zum Land bewegen. Oder er kann sich ostwärts in der einen und westwärts in der anderen Hinsicht bewegen. In den Angelegenheiten des Alltags gehen die Menschen nie über die Erde hinaus, um den Ort eines

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Körpers zu bestimmen. Was in bezug auf die Erde ruht, wird als absolut ruhend betrachtet. Forscher jedoch, die über einen weiteren Gedankenhorizont und angemessenere Begriffe von der Ordnung der Dinge verfügen, entdecken, daß auch die Erde in Bewegung ist. Um also ihren Begriffen einen festen Halt zu geben, scheinen sie die Körperwelt als endlich und deren äußerste unbewegte Umfriedung oder ihre Hülle als den Ort zu betrachten, in bezug worauf sie wahre Bewegungen bestimmen. Wenn wir unseren Auffassungen auf den Grund gehen, werden wir meiner Ansicht nach bemerken, daß jede absolute Bewegung, von der wir eine Idee haben können, in letzter Instanz nichts anderes ist als in dieser Weise bestimmte relative Bewegung. Denn wie bereits bemerkt: Absolute Bewegung mit Ausschluß aller Beziehung auf Äußeres ist undenkbar. Und man wird, wenn ich nicht irre, finden, daß alle die oben erwähnten, der absoluten Bewegung zugeschriebenen Eigenschaften, Ursachen und Wirkungen mit dieser Art relativer Bewegung in Einklang stehen. Was das über die Zentrifugalkraft Gesagte betrifft, daß sie bei relativer Kreisbewegung nicht auftritt, so sehe ich nicht, wie es aus dem Experiment folgt, das eben dies beweisen soll. Siehe Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Anmerkung zu Definition VIII. Denn das Wasser in dem Gefäß ist zu der Zeit, da seine relative Kreisbewegung angeblich am größten ist, meines Erachtens überhaupt nicht in Bewegung, wie aus dem vorigen Abschnitt ersichtlich ist. 115 Denn um einen Körper als bewegt zu bezeichnen, ist erstens erforderlich, daß er seine Entfernung oder Lage in Beziehung zu einem anderen Körper ändert; zweitens, daß die Kraft oder Tätigkeit, welche die Änderung bewirkt, auf ihn gerichtet ist. Ist eine dieser beiden Bedingungen nicht erfüllt, so kann, meine ich, wenn die allgemeine Denkweise und der korrekte Sprachgebrauch maßgeblich sind, nicht gesagt werden, ein Körper sei in Bewegung. Ich räume allerdings ein, daß wir einen Körper, bei dem wir eine Änderung seiner Entfernung von einem anderen Körper feststellen, für bewegt halten können, obwohl keine Kraft auf ihn gerichtet ist (in welchem Sinne es scheinbare Bewegung geben mag). Doch rührt das daher, daß wir die Kraft, welche die Entfernungsänderung verursacht, in der Einbildung auf den uns

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · § 116

bewegt erscheinenden Körper gerichtet oder auf ihn einwirkend denken; was in der Tat zeigt, daß wir imstande sind, ein unbewegtes Ding fälschlich für bewegt zu halten, mehr aber auch nicht. 116 Aus dem Gesagten folgt, daß die philosophische Betrachtung der Bewegung das Dasein eines absoluten Raumes, der von dem sinnlich wahrgenommenen und auf Körper bezüglichen Raum verschieden ist, nicht impliziert. Daß letzterer nicht außerhalb des Geistes existieren kann, ergibt sich aus eben den Prinzipien, die dies für alle anderen Wahrnehmungsobjekte beweisen. Und vielleicht werden wir, wenn wir der Sache auf den Grund gehen, feststellen, daß wir nicht einmal die Idee eines reinen Raumes mit Ausschluß aller Körper bilden können. Ich gestehe, daß mir das unmöglich zu sein scheint, weil es eine im höchsten Grade abstrakte Idee wäre. Wenn ich in einem Teil meines Körpers eine Bewegung hervorrufe und diese sich frei oder widerstandslos vollziehen läßt, so sage ich: Da ist Raum. Stoße ich aber auf Widerstand, so sage ich: Da ist ein Körper; und in dem Maße, wie der Widerstand gegen die Bewegung geringer oder größer ist, sage ich: Der Raum ist mehr oder weniger rein. Daher darf, wenn ich vom reinen oder leeren Raum spreche, nicht angenommen werden, das Wort Raum stehe für eine von Körper und Bewegung getrennte und ohne sie mögliche Idee. Wir sind freilich geneigt zu glauben, jedes Substantiv bezeichne eine genau bestimmte Idee, die von allen anderen Ideen getrennt werden kann, was unzählige Irrtümer verschuldet hat. Angenommen also, die ganze Welt wäre vernichtet außer meinem eigenen Körper, so sage ich, es bleibe noch der reine Raum übrig. Aber damit ist nur gemeint, daß ich es als möglich denke, daß die Glieder meines Körpers sich ohne den geringsten Widerstand in alle Richtungen bewegen. Wäre auch noch mein Körper vernichtet, so könnte es keine Bewegung geben und folglich auch keinen Raum. Einige nehmen vielleicht an, die Idee des reinen Raumes werde ihnen durch den Gesichtssinn zuteil. Aber aus dem, was wir an anderer Stelle gezeigt haben, geht klar hervor, daß die Ideen des Raumes und der Entfernung nicht durch diesen Sinn erworben werden. Siehe den Versuch über das Sehen.

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117 Das hier Ausgeführte dürfte allen Streitigkeiten und Ver-

legenheiten hinsichtlich der Natur des reinen Raumes, die unter den Gelehrten aufgekommen sind, ein Ende bereiten. Was uns aber hauptsächlich zum Vorteil gereicht, ist, daß wir jenes fatale Dilemma loswerden, das einigen, die sich mit der Sache befaßt haben, als unvermeidbar erscheint: daß nämlich entweder angenommen werden muß, der reale Raum sei Gott, oder aber daß es etwas von Gott Verschiedenes gebe, das ewig, ungeschaffen, unendlich, unteilbar, unveränderlich ist. Beide Ansichten können wohl mit Recht als gefährlich und widersinnig bezeichnet werden. Fest steht, daß nicht wenige Theologen und Philosophen von Rang aus der Schwierigkeit, die für sie darin lag, den Raum begrenzt oder vernichtet zu denken, den Schluß gezogen haben, er müsse göttlich sein. In jüngster Zeit haben einige sich besonders bestrebt zu zeigen, daß die nicht mitteilbaren Attribute Gottes damit in Einklang stehen. Obwohl diese Lehre der göttlichen Natur in jeder Beziehung durchaus unwürdig zu sein scheint, vermag ich nicht zu erkennen, wie wir davon loskommen können, solange wir an den herrschenden Auffassungen festhalten. 118 Soweit die Naturforschung. Als nächstes wollen wir einige Untersuchungen über den zweiten großen Bereich theoretischen Wissens, die Mathematik anstellen. Berühmt für die Klarheit und Pünktlichkeit ihrer Beweisführung, die schwerlich irgendwo sonst ihresgleichen hat, darf diese Disziplin dennoch nicht für völlig fehlerlos gelten, wenn nämlich in ihren Prinzipien ein geheimer Irrtum beschlossen liegen sollte, den die Vertreter dieser Wissenschaft mit dem Rest der Menschheit teilen. Obschon die Mathematiker ihre Theoreme aus Voraussetzungen von höchster Evidenz ableiten, bleiben ihre Prinzipien auf die Betrachtung der Quantität beschränkt. Sie dringen nicht bis zur kritischen Prüfung jener transzendentalen Grundsätze vor, deren Einfluß sich auf alle einzelnen Wissenschaften erstreckt, so daß jede, die Mathematik nicht ausgenommen, unweigerlich von den in ihnen enthaltenen Irrtümern betroffen ist. Daß die Prinzipien, welche die Mathematiker aufgestellt haben, wahr sind und daß die Art und Weise, wie sie daraus Folgesätze ableiten, klar und unanfechtbar ist, bestreiten wir nicht. Wir halten aber dafür, daß

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es bestimmte irrtümliche Voraussetzungen gibt, die von größerer Reichweite sind als der Gegenstand der Mathematik und die darum allenthalben in dieser Wissenschaft nicht ausdrücklich erwähnt, wohl aber stillschweigend akzeptiert werden. Und wir halten ferner dafür, daß jene geheimen ungeprüften Irrtümer sich in allen Zweigen dieser Wissenschaft unheilvoll auswirken. Rundheraus gesagt: Wir haben den Verdacht, daß die Mathematiker ebenso wie andere Leute in den Irrtümern befangen sind, die aus der Lehre von den abstrakten allgemeinen Ideen und von außerhalb des Geistes existierenden Gegenständen herrühren. 119 Man hat behauptet, die Arithmetik habe es mit abstrakten Zahlideen zu tun. Deren Eigenschaften und wechselseitige Beziehungen zu verstehen, gilt für einen nicht unbeträchtlichen Teil des theoretischen Wissens. An dem reinen und noumenalen Wesen, welches den Zahlen in abstracto angeblich eigen ist, liegt es, daß sie sich der Wertschätzung jener Philosophen erfreuen, die es in ganz besonderem Maße auf Subtilität und Erhabenheit des Denkens abgesehen zu haben scheinen. Gänzlich belanglosen Zahlenspekulationen, die keinerlei praktischen Wert haben und nur der Zerstreuung dienen, wurde eminente Bedeutung beigemessen; und einige gingen so weit, von großartigen, in den Zahlen liegenden Mysterien zu träumen, mit denen sie die Naturtatsachen erklären wollten. Wenn wir jedoch unsere eigenen Gedanken prüfen und erwägen, was zuvor ausgeführt worden ist, so werden wir von diesen spekulativen Höhenflügen und Abstraktionen eine ziemlich geringe Meinung haben und in allen Untersuchungen über Zahlen nichts als difficiles nugae erblicken, sofern sie nicht praktischen Zwecken dienen und sich in den Angelegenheiten des Lebens bewähren. 120 Mit der Einheit in abstracto haben wir uns bereits in Abschnitt 13 beschäftigt. Aus dem dort und in der Einführung Gesagten erhellt, daß es eine solche Idee durchaus nicht gibt. Da aber die Zahl als Zusammenfassung von Einheiten definiert wird, dürfen wir schließen, daß, wenn es nichts dergleichen wie Einheit oder Eins in abstracto gibt, es auch keine abstrakten Zahlideen gibt, die durch Zahlwörter und Ziffern bezeichnet werden. Wenn also die arithmetischen Theorien durch Abstraktion des Bezugs

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · § 121

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zu Namen und Ziffern und gleichermaßen zu Übung und Gebrauch sowie zu den einzelnen gezählten Dingen beraubt werden, so darf man annehmen, daß sie überhaupt keinen Gegenstand haben. Daraus ist ersichtlich, daß die Wissenschaft von den Zahlen eine ganz und gar anwendungsbezogene Disziplin ist und daß sie leer und belanglos wird, wenn man sie als eine Angelegenheit des reinen Denkens betrachtet. 121 Da es gleichwohl den einen oder anderen geben mag, der, geblendet vom trügerischen Schein der Entdeckung abstrakter Wahrheiten, seine Zeit mit gänzlich nutzlosen arithmetischen Theorien und Fragestellungen vergeudet, dürfte es nicht unangebracht sein, derlei Ambitionen von Grund auf als eitel zu entlarven. Dazu empfiehlt es sich, einen Blick auf die Anfänge der Arithmetik zu werfen und zu überlegen, was die Menschen ursprünglich veranlaßt hat, sich mit dieser Wissenschaft zu befassen, und welche Ziele sie dabei verfolgt haben. Es ist eine natürliche Annahme, daß die Menschen als Gedächtnisstütze und um Mengen von Gegenständen leichter erfassen zu können, zuerst Rechensteinchen oder in der Schrift einzelne Striche, Punkte und dergleichen benutzt haben, wobei jedes dieser Gebilde dazu diente, eine Einheit zu bezeichnen, d. h. irgendein Exemplar einer beliebigen Art von Dingen, mit denen gerechnet werden sollte. Später lernten sie, zum Zweck der Abkürzung ein einzelnes Zeichen stellvertretend für mehrere Striche oder Punkte zu verwenden. Schließlich kam das Zahlensystem der Araber oder Inder in Gebrauch, in welchem durch Wiederholung einiger weniger Schriftzeichen oder Ziffern und durch Änderung ihres Wertes in Abhängigkeit von der Position, die sie einnehmen, alle Zahlen auf die angemessenste Weise ausgedrückt werden können. Dabei scheint die Sprache das Vorbild gewesen zu sein, weshalb eine genaue Entsprechung zwischen der Bezeichnung durch Ziffern und der Bezeichnung durch Wörter feststellbar ist, indem die neun einfachen Ziffern den neun ersten Zahlwörtern und Positionen in Gruppen von Ziffern den Benennungen (als Zehner, Hunderter etc.) in den Zahlwörtern korrespondieren. Und gemäß diesen Bedingungen des einfachen und des stellenabhängigen Wertes der Ziffern wurden Verfahren entwickelt, wie aus den gegebenen Zif-

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fern oder Zeichen der Teile ersehen werden kann, welche Ziffern mit welchem Stellenwert geeignet sind, das Ganze zu bezeichnen und umgekehrt. Hat man die gesuchten Ziffern gefunden, wobei dieselbe Regel oder Analogie durchgehend zur Anwendung gelangt, so läßt sich alles unschwer in Worte fassen, und man gewinnt auf diese Weise eine vollkommene Kenntnis der Zahl. Denn die Zahl irgendwelcher einzelner Dinge gilt dann als bekannt, wenn wir das Zahlwort oder die Ziffern (in ihrer richtigen Anordnung) kennen, die zu jenen nach der feststehenden Analogie gehören. Sind diese Zeichen bekannt, so können wir mit Hilfe der arithmetischen Operationen die Zeichen jedes beliebigen Teils der einzelnen durch sie bezeichneten Summen kennenlernen; und indem wir dergestalt in Zeichen rechnen – aufgrund der zwischen ihnen und den verschiedenen Mengen von Dingen, deren jedes als Einheit betrachtet wird, festgesetzten Verbindung –, gelingt es uns, die Dinge selbst, mit denen wir Berechnungen anstellen wollen, korrekt zu addieren, zu dividieren und ihre Größenverhältnisse zu bestimmen. 122 In der Arithmetik haben wir es demnach nicht mit den Dingen, sondern mit Zeichen zu tun, die gleichwohl nicht um ihrer selbst willen betrachtet werden, sondern weil sie uns anleiten, wie im Hinblick auf die Dinge zu verfahren ist und wie wir über sie in angemessener Weise verfügen können. Unsere obigen Bemerkungen über allgemeine sprachliche Ausdrücke (Einführung, Abschnitt 19) finden hier nun insofern eine genaue Entsprechung, als man annimmt, Zahlwörter oder Zahlzeichen müßten, weil sie keine Ideen von einzelnen Dingen in unserem Geist wachrufen, abstrakte Ideen bezeichnen. Ich werde mich jetzt nicht auf eine ins Detail gehende Erörterung dieser Frage einlassen, sondern will nur bemerken, daß, wie aus unseren Darlegungen erhellt, all die angeblichen abstrakten Wahrheiten und Theoreme über Zahlen sich in Wirklichkeit auf keinen von einzelnen zählbaren Dingen verschiedenen Gegenstand beziehen, ausgenommen Wörter und Ziffern; und diese wurden ursprünglich nur in ihrer Funktion als Zeichen betrachtet oder weil sie geeignet waren, alle Arten von Einzeldingen zu repräsentieren, mit denen Berechnungen anzustellen den Menschen geboten erschien. Daraus folgt, daß

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sie um ihrer selbst willen zu studieren ebenso weise und einem guten Zweck dienlich wäre, wie wenn jemand, den wahren Verwendungszweck oder die ursprüngliche Absicht und Bestimmung der Sprache außer acht lassend, seine Zeit mit belanglosen Wortklaubereien oder mit rein verbalen Räsonnements und Streitigkeiten verbringen wollte. 123 Von den Zahlen gehen wir zur Ausdehnung über, die, als relative, den Gegenstand der Geometrie bildet. Obwohl die unendliche Teilbarkeit endlicher Ausdehnung nicht ausdrücklich als Axiom oder Theorem in die Elemente dieser Wissenschaft Eingang gefunden hat, so wird sie in ihr doch allenthalben vorausgesetzt und als etwas angesehen, das mit den geometrischen Prinzipien und Beweisen so unauflöslich und essentiell verbunden ist, daß kein Mathematiker sie in Zweifel zieht oder auch nur fragt, was es damit auf sich hat. Aus dieser Quelle stammen einerseits all jene ergötzlichen geometrischen Paradoxien, die der gemeinen Menschenvernunft hohnsprechen und die ein durch Gelehrsamkeit noch nicht verdorbener Geist nur höchst widerwillig akzeptiert; zum anderen liegt hier die Hauptursache jener äußersten Verzwicktheit, die das Studium der Mathematik so schwierig und ermüdend macht. Wenn wir also zeigen können, daß keine endliche Ausdehnung unendlich viele Teile enthält oder ins Unendliche teilbar ist, so erreichen wir damit nicht nur, daß die Geometrie von zahlreichen Schwierigkeiten und Widersprüchen befreit wird, die immer für ein Skandalon der menschlichen Vernunft gegolten haben, sondern auch, daß die Aneignung dieser Wissenschaft viel weniger Zeit und Mühe erfordert als bisher. 124 Jede einzelne endliche Ausdehnung, die Gegenstand unseres Denkens sein kann, ist eine Idee, die nur im Geist existiert, und folglich muß jeder ihrer Teile wahrgenommen werden. Wenn ich daher in irgendeiner endlichen Ausdehnung, die ich im Blick habe, nicht unzählig viele Teile wahrnehmen kann, so steht fest, daß sie nicht darin enthalten sind. Es ist aber evident, daß ich nicht unzählig viele Teile in einer einzelnen Linie, einer Fläche oder einem Körper, wenn ich dergleichen sinnlich wahrnehme oder mir im Geiste vorstelle, unterscheiden kann, woraus ich schließe, daß sie nicht darin enthalten sind. Nichts kann offen-

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kundiger für mich sein, als daß die Ausdehnungen, die ich betrachte, nichts anderes als meine eigenen Ideen sind, und es ist nicht minder offenkundig, daß ich keine meiner Ideen in eine unendliche Menge anderer Ideen auflösen kann, d. h. daß sie nicht unendlich teilbar sind. Wenn mit endlicher Ausdehnung etwas von einer endlichen Idee Verschiedenes gemeint ist, so gestehe ich, nicht zu wissen, was das ist; und mithin kann ich davon weder etwas behaupten noch bestreiten. Wenn aber die Termini Ausdehnung, Teile und dergleichen so gebraucht werden, daß sie Verständliches bedeuten, d. h. für Ideen stehen, dann ist die Annahme, daß eine endliche Größe oder Ausdehnung aus unendlich vielen Teilen besteht, so klarerweise widersprüchlich, daß jeder dies auf den ersten Blick erkennt. Und kein vernünftiges Wesen könnte der Behauptung jemals beipflichten, würde sie ihm nicht auf eine sanfte, einschmeichelnde Weise nahegebracht wie einem bekehrten Heiden die Transsubstantiation. Altehrwürdige und tief verwurzelte Vorurteile verwandeln sich oft in Prinzipien; und wenn bestimmte Sätze erst einmal die Kraft und den Rang eines Prinzips erlangt haben, so gelten nicht nur sie selbst, sondern auch alle Folgerungen, die aus ihnen gezogen werden können, als über jede kritische Prüfung erhaben. Und keine Widersinnigkeit ist so kraß, daß sie nicht auf diese Weise dem menschlichen Geist eingeflößt werden könnte. 125 Wer der Lehre von den abstrakten allgemeinen Ideen anhängt, mag sich wohl davon überzeugen lassen, daß (egal, was es mit den Ideen der Sinne auf sich hat) Ausdehnung in abstracto unendlich teilbar ist. Und wer annimmt, die Gegenstände der Sinne existierten außerhalb des Geistes, wird es auf Grund dessen vielleicht für möglich halten, daß eine Linie, die nur einen Zoll lang ist, unzählig viele Teile enthält, die real existieren, obwohl sie zu klein sind, um unterschieden zu werden. Diese Irrtümer haben im Geist der Mathematiker ebenso tiefe Wurzeln geschlagen wie im Geist anderer Leute und üben den gleichen Einfluß auf ihrer beider Denkweisen aus. Und es ließe sich leicht zeigen, wie die der Geometrie entnommenen Argumente für die unendliche Teilbarkeit der Ausdehnung in ihnen gründen. Für den Moment wollen wir nur ganz allgemein bemerken, wie es kommt, daß den

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Mathematikern diese Lehre so lieb und teuer ist, und warum sie mit solcher Hartnäckigkeit an ihr festhalten. 126 Wir haben an anderer Stelle gezeigt, daß in den Lehrsätzen und Beweisen der Geometrie auf allgemeine Ideen Bezug genommen wird. Einführung, Abschnitt 15. Dort wurde erklärt, wie dies zu verstehen ist, nämlich so, daß die einzelnen Linien und Figuren eines Diagramms dazu bestimmt sind, unzählige andere von unterschiedlicher Größe zu vertreten. Anders gesagt: Der Mathematiker betrachtet sie, indem er von ihrer Größe abstrahiert, was indessen nicht bedeutet, daß er eine abstrakte Idee bildet, sondern nur, daß er sich nicht darum kümmert, ob die einzelne Größe eine beträchtliche oder geringfügige ist, mithin daß er sie als für den Beweisgang irrelevant auffaßt. Infolgedessen muß von der Linie in der Zeichnung, die nur einen Zoll lang ist, so gesprochen werden, als ob sie zehntausend Teile hätte, da sie nicht so, wie sie an sich selbst ist, sondern als allgemeine ins Kalkül gezogen wird; und allgemein ist sie nur in ihrer Funktion als Zeichen, in der sie unzählige Linien vertritt, die größer sind als sie und zehntausend oder mehr unterscheidbare Teile enthalten, auch wenn ihre Länge nicht mehr als einen Zoll beträgt. Auf diese Weise werden (nach einem gängigen Denkschema) die Eigenschaften der bezeichneten Linien auf das Zeichen übertragen und fortan irrtümlich so angesehen, als ob sie diesem seiner Natur nach zukämen. 127 Weil keine Menge von Teilen so groß ist, daß es nicht eine Linie geben könnte, die eine noch größere Anzahl enthielte, wird von der einen Zoll langen Linie gesagt, daß die Menge der in ihr enthaltenen Teile jede angebbare Zahl übersteigt. Und das ist wahr – nicht von jenem einen Zoll absolut genommen, sondern nur von dem, was er bezeichnet. Indem aber die Menschen diese Unterscheidung in ihrem Denken nicht festhalten, schleicht sich bei ihnen der Glaube ein, daß die kleine einzelne Linie auf dem Papier als solche unzählig viele Teile hat. So etwas wie den zehntausendsten Teil eines Zolls gibt es nicht; wohl aber gibt es den zehntausendsten Teil einer Meile oder des Erddurchmessers, die durch jenen Zoll bezeichnet werden können. Wenn ich also ein Dreieck aufs Papier zeichne und eine Seite, die beispielsweise

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nicht mehr als einen Zoll mißt, als Erdradius nehme, so betrachte ich diesen als geteilt in zehntausend oder hunderttausend oder noch mehr Teile. Denn obwohl der zehntausendste Teil jener Linie per se schlechterdings nichts ist und somit fehlerfrei und ohne jede Unbequemlichkeit vernachlässigt werden kann, so müssen wir doch dem Umstand, daß die Linien auf dem Papier lediglich als Zeichen für größere Quantitäten figurieren, deren zehntausendster Teil ein sehr beträchtlicher sein kann, in der Weise Rechnung tragen, daß wir, um ins Gewicht fallende Fehler in der Praxis zu vermeiden, dem Radius zehntausend oder mehr Teile zuschreiben. 128 Aus dem Gesagten geht klar hervor, weshalb wir, um einem Satz Allgemeinheit im Gebrauch zu sichern, von den Linien auf dem Papier so sprechen müssen, als ob sie Teile enthielten, die sie in Wirklichkeit nicht enthalten. Dabei kann uns bei gründlicher Prüfung der Sache schwerlich verborgen bleiben, daß wir einen Zoll als solchen nicht als aus tausend Teilen bestehend oder ebenso oft teilbar denken können, sondern nur irgendeine Linie, die viel größer ist als ein Zoll und durch ihn repräsentiert wird; des weiteren, daß, wenn wir von einer Linie sagen, sie sei unendlich teilbar, wir eine unendlich große Linie meinen müssen. In dem hier beschriebenen Zusammenhang scheint der Hauptgrund dafür zu liegen, daß man die unendliche Teilbarkeit endlicher Ausdehnung als notwendig für die Geometrie angesehen hat. 129 Man sollte meinen, die vielen Widersinnigkeiten und Widersprüche, die sich aus diesem falschen Prinzip herleiten, müßten als ebenso viele Beweise gegen dasselbe gegolten haben. Aber nach einer Logik eigener Art (ich weiß nicht welcher) scheint es Beweise a posteriori gegen Sätze, die sich auf das Unendliche beziehen, nicht geben zu dürfen. Wie wenn es nicht auch für einen unendlichen Geist unmöglich wäre, Widersprüche zum Ausgleich zu bringen, oder wie wenn Widersinniges und intrinsisch Unmögliches in notwendiger Beziehung zur Wahrheit stehen oder aus ihr hervorgehen könnte. Wer sich jedoch der Schwäche dieses Scheinarguments bewußt ist, wird erkennen, daß es nur darauf abzielt, einer trägen Vernunft, die sich lieber auf dem Faul-

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bett des Skeptizismus ausruht, als die Mühen strenger Prüfung stets als wahr akzeptierter Prinzipien auf sich zu nehmen, ein gutes Gewissen zu verschaffen. 130 Neuerdings haben die Spekulationen über unendliche Größen so schwindelerregende Höhen erklommen und so absonderliche Begriffe hervorgebracht, daß hierdurch viel Zwist und Zweifel unter den Mathematikern unserer Zeit entstanden ist. Einige hochangesehene unter ihnen lassen es nicht dabei bewenden, daß endliche Linien in unendlich viele Teile geteilt werden können, sondern versteigen sich zu der Behauptung, daß jede dieser infinitesimalen Größen ihrerseits in unendlich viele weitere Teile oder Infinitesimalien zweiter Ordnung teilbar ist und so fort ad infinitum. Sie behaupten, sage ich, es gebe, ohne daß man je an ein Ende käme, Infinitesimalien von Infinitesimalien von Infinitesimalien, so daß ihnen zufolge ein Zoll nicht nur unendlich viele Teile enthält, sondern ad infinitum eine Unendlichkeit einer Unendlichkeit einer Unendlichkeit von Teilen. Andere sind der Auffassung, daß alle Ordnungen von Infinitesimalien unterhalb der ersten überhaupt nichts sind, indem sie mit guten Gründen dafür halten, daß die Vorstellung absurd sei, irgendein positives Quantum Ausdehnung oder Teil derselben könnte trotz unendlicher Vervielfachung niemals der kleinsten gegebenen Ausdehnung gleich sein. Und doch erscheint andererseits die Annahme nicht weniger absurd, daß das Quadrat, die dritte oder eine andere Potenz einer positiven realen Basis selbst überhaupt nichts sein sollte, was diejenigen behaupten müssen, die nur Infinitesimalien erster Ordnung, aber keine höherer Ordnung anerkennen. 131 Haben wir daher nicht Grund zu schließen, daß beide im Irrtum sind und daß es tatsächlich nichts dergleichen gibt wie unendlich kleine Teile oder eine unendliche Anzahl von Teilen, die in einer endlichen Größe enthalten sind? Aber ihr werdet sagen, wenn diese Lehre wahr wäre, würden geradewegs die Grundlagen der Geometrie zerstört und jene großen Männer, die diese Wissenschaft auf eine so erstaunliche Höhe geführt haben, hätten lediglich Luftschlösser errichtet. Darauf kann erwidert werden, daß alles, was in der Geometrie nützlich und für das

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 132–133

menschliche Leben förderlich ist, durch unsere Grundsätze in keiner Weise erschüttert und in Frage gestellt wird. Wenn diese Wissenschaft als eine praktische betrachtet wird, so wird ihr das Gesagte eher zum Nutzen als zum Nachteil gereichen. Doch um diesen Punkt ins rechte Licht zu setzen, bedürfte es einer speziellen Untersuchung. Sollte sich im übrigen erweisen, daß einige besonders verwickelte und subtile Teile der spekulativen Mathematik ohne Beeinträchtigung der Wahrheit ausgeschieden werden können, so wüßte ich nicht, welchen Verlust die Menschheit dadurch zu erleiden hätte. Im Gegenteil: es wäre dringend zu wünschen, daß Männer von großen Fähigkeiten und ebensolcher Hingabe an die Sache, statt ihre Zeit mit derlei Spielereien zu vergeuden, sich mit Dingen beschäftigten, die lebenspraktisch bedeutsamer sind und einen direkteren Einfluß auf die Sitten ausüben. 132 Wenn es heißt, einige zweifelsfrei wahre Sätze seien mit Hilfe von Methoden entdeckt worden, die auf dem Gebrauch von Infinitesimalien basieren, was unmöglich wäre, wenn deren Existenz einen Widerspruch einschlösse, so ist meine Antwort diese: Eine sorgfältige Untersuchung wird zeigen, daß es in keinem Falle notwendig ist, von unendlich kleinen Teilen endlicher Linien Gebrauch zu machen oder deren Begriff einzuführen oder auch nur Größen unterhalb des minimum sensibile in Betracht zu ziehen; ja, es wird sich herausstellen, daß dies auch niemals geschieht, weil es unmöglich ist. 133 Aus unseren Darlegungen geht hervor, daß zahlreiche folgenschwere Irrtümer in jenen falschen Prinzipien gründen, mit denen wir uns in dieser Abhandlung auseinandergesetzt haben. Zugleich erweisen sich die gegenteiligen Auffassungen als überaus fruchtbare Prinzipien, aus denen sich zahllose, der wahren Philosophie wie der Religion gleichermaßen förderliche Konsequenzen herleiten. Insbesondere konnte gezeigt werden, daß Materie oder das absolute Dasein körperlicher Gegenstände das ist, woraus die erklärtesten und gefährlichsten Feinde aller Erkenntnis, menschlicher wie göttlicher, stets Kraft und Selbstvertrauen geschöpft haben. Und in der Tat: Wenn dadurch, daß die reale Existenz nichtdenkender Dinge von ihrem Wahrgenommenwerden unterschieden und ihnen ein in sich selbst gegründetes Da-

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sein außerhalb der Geister oder Seelen zugeschrieben wird, keine einzige Naturerscheinung erklärt werden kann, sondern im Gegenteil eine Fülle unlösbarer Probleme entsteht; wenn ferner die Voraussetzung, daß es Materie gibt, im höchsten Grade fragwürdig erscheint, da sie durch keinen einzigen Vernunftgrund gestützt wird; wenn die sich hieraus ergebenden Folgerungen das Licht der Prüfung und unvoreingenommenen Analyse nicht ertragen können, sondern hinter dem dunklen und vagen Vorwand der Unbegreiflichkeit des Unendlichen Zuflucht suchen müssen; wenn außerdem die Beseitigung dieser Materie nicht die geringsten nachteiligen Konsequenzen hat, wenn sie in der Welt überhaupt nicht vermißt wird und jedes Ding genauso gut, ja leichter ohne sie begriffen werden kann; wenn schließlich Skeptiker und Atheisten durch die Voraussetzung, daß es nur Geister und Ideen gibt, ein für allemal zum Schweigen gebracht werden und dieses System der Dinge mit der Vernunft wie mit der Religion vollkommen in Einklang steht – dann, so meine ich, dürfen wir erwarten, daß es anerkannt und vorbehaltlos gebilligt wird, selbst wenn es lediglich als Hypothese konzipiert und die Existenz der Materie als möglich zugestanden worden wäre, während wir doch, wie ich glaube, schlüssig das Gegenteil bewiesen haben. 134 Wahr ist freilich, daß durch obige Prinzipien mancherlei Kontroversen und Spekulationen, die vielfach für einen Ausweis von Gelehrsamkeit gelten, der Nutzlosigkeit überführt werden. Wenngleich diejenigen, die derlei Studien obliegen und bedeutende Fortschritte in ihnen gemacht haben, sich dadurch in ihrer Voreingenommenheit gegen unsere Anschauungen bestärkt fühlen mögen, so wird es doch hoffentlich andere geben, die, was die hier aufgestellten Prinzipien und Lehrmeinungen betrifft, keinen Ablehnungsgrund in dem Umstand erblicken, daß sie das Studium weniger beschwerlich und die menschlichen Wissenschaften klarer, übersichtlicher und leichter zugänglich machen, als sie je zuvor waren. 135 Nachdem wir ausgeführt haben, was wir über die Erkenntnis der Ideen sagen wollten, müssen wir uns nun, wie vorgesehen, mit den Geistern beschäftigen. Um deren Erkenntnis durch uns Menschen ist es möglicherweise nicht so schlecht bestellt,

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 136–137

wie gemeinhin angenommen wird. Der Hauptgrund, weshalb wir über die Natur der Geister angeblich in Unkenntnis sind, liegt darin, daß wir keine Idee von ihr besitzen. Doch kann es gewiß nicht für eine Unvollkommenheit des menschlichen Verstandes gelten, daß die Idee des Geistes nicht wahrgenommen wird, ist es doch schlechthin unmöglich, daß es eine solche Idee überhaupt gibt. Und dies wurde, wenn ich nicht irre, in Abschnitt 27 bewiesen, wozu ich hier ergänzend bemerke, daß ein Geist, wie gezeigt, die einzige Substanz oder der Träger ist, worin das nichtdenkende Seiende oder die Ideen existieren können. Daß aber diese Substanz, die Ideen trägt oder wahrnimmt, ihrerseits eine Idee sein oder einer Idee ähnlich sein könnte, ist offenkundig widersinnig. 136 Vielleicht wird man sagen, daß uns ein Sinn fehle, der (wie einige sich das vorgestellt haben) dazu geschaffen wäre, auch Substanzen zu erkennen, und daß, wenn wir ihn hätten, wir unsere Seele genauso erkennen könnten wie ein Dreieck. Darauf erwidere ich: Wenn uns ein neuer Sinn verliehen würde, so könnten wir durch ihn nur einige neue Empfindungen oder Ideen der Sinne empfangen. Aber niemand wird, denke ich, sagen, daß er mit den Ausdrücken Seele und Substanz lediglich eine besondere Art von Idee oder Sinnesempfindung meint. Das läßt den Schluß zu, daß, recht besehen, unsere Fähigkeiten für mangelhaft zu halten, weil sie uns keine Idee von Geist oder tätiger denkender Substanz vermitteln, nicht vernünftiger ist, als ihnen aus dem Unvermögen, ein rundes Quadrat zu begreifen, einen Vorwurf zu machen. 137 Die Ansicht, daß Geister auf dieselbe Weise wie Ideen oder Sinnesempfindungen erkannt werden, hat eine Menge absurder und heterodoxer Lehrmeinungen und viel Skepsis hinsichtlich der Natur der Seele verschuldet. Es ist sogar wahrscheinlich, daß diese Ansicht bei einigen Leuten Zweifel hat aufkommen lassen, ob sie überhaupt eine von ihrem Körper verschiedene Seele besitzen, weil sie sich vergeblich bemüht haben, eine Idee derselben bei sich zu entdecken. Daß eine Idee, die inaktiv ist und deren Existenz im Wahrgenommenwerden besteht, die Darstellung oder das Ebenbild eines durch sich selbst bestehenden tätigen Wesens sein könnte, scheint keiner anderen Widerlegung zu

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bedürfen als des Nachdenkens darüber, was diese Wörter bedeuten. Aber, werdet ihr vielleicht sagen, wiewohl eine Idee einem Geist nicht in seinem Denken, Handeln oder selbständigen Bestehen ähnlich sein kann, so doch vielleicht in anderer Hinsicht; denn es ist nicht erforderlich, daß eine Idee oder ein Bild in jeder Beziehung mit dem Original übereinstimmt. 138 Ich antworte: Wenn eine Idee einen Geist nicht in den genannten Hinsichten darstellt, dann unmöglich in irgendwelchen anderen. Laßt die Fähigkeit des Wollens, Denkens und der Ideenwahrnehmung weg, und es bleibt nichts übrig, worin die Idee dem Geist gleichen könnte. Denn mit dem Wort Geist meinen wir nichts anderes als das, was denkt, will und wahrnimmt; hierin erschöpft sich die Bedeutung dieses Ausdrucks. Wenn es also ausgeschlossen ist, daß diese Vermögen in irgendeiner Weise durch eine Idee dargestellt werden, so ist offenkundig, daß es keine Idee eines Geistes geben kann. 139 Aber man wird einwenden, daß die Ausdrücke Seele, Geist und Substanz, wenn ihnen der Ideenbezug fehlt, gänzlich bedeutungslos und sinnleer seien. Ich antworte: Diese Wörter bedeuten oder bezeichnen ein wirkliches Ding, das weder eine Idee ist noch einer Idee gleicht, sondern dasjenige ist, was Ideen wahrnimmt, willentlich auf sie einwirkt und in bezug auf sie denkt. Was ich selbst bin, was ich mit dem Ausdruck ›Ich‹ bezeichne, ist identisch mit dem, was Seele oder geistige Substanz bedeutet. Wenn gesagt wird, dies sei nur ein Streit um Worte und man könne, weil auch sonst mit allgemeiner Zustimmung das, was ein Name direkt bezeichnet, Idee genannt wird, keinen Grund angeben, weshalb das durch die Namen Geist oder Seele Bezeichnete nicht ebenso genannt werden sollte, so erwidere ich: Allen nichtdenkenden Objekten des Geistes ist gemeinsam, daß sie gänzlich passiv sind und ihre Existenz nur im Wahrgenommenwerden besteht, wohingegen eine Seele oder ein Geist ein aktives Seiendes ist, dessen Existenz nicht im Wahrgenommenwerden, sondern im Wahrnehmen von Ideen und im Denken besteht. Es ist daher unerläßlich, zwischen Geist und Idee zu unterscheiden, soll Mehrdeutigkeit und ein Quidproquo gänzlich heterogener Wesenheiten vermieden werden. Siehe Abschnitt 27.

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 140–141

140 In einem weiteren Sinne kann freilich gesagt werden, daß

wir eine Idee oder vielmehr einen Begriff (notion) vom Geist haben, d. h. wir verstehen die Bedeutung des Wortes; anderenfalls könnten wir nichts davon bejahen oder verneinen. Wie wir ferner vermöge unserer eigenen Ideen eine Vorstellung von den Ideen im Geiste anderer Wesen gewinnen können, wobei wir voraussetzen, daß erstere letzteren ähnlich sind, so erkennen wir andere Geister vermöge unserer eigenen Seele, die in diesem Betracht deren Bild oder Idee ist und zu ihnen in der nämlichen Beziehung steht wie die von mir wahrgenommene Bläue oder Hitze zu den von einem anderen wahrgenommenen Ideen. 141 Man darf nicht glauben, wer die natürliche Unsterblichkeit der Seele lehre, sei der Auffassung, sie könne überhaupt nicht vernichtet werden, nicht einmal durch die Allmacht des Schöpfers, der sie ursprünglich ins Dasein gerufen hat. Behauptet wird lediglich, daß sie nicht dem Zerfall und der Auflösung nach den gewöhnlichen Naturgesetzen oder durch Bewegung unterworfen ist. Diejenigen hingegen, die meinen, die menschliche Seele sei nur eine feine Lebensflamme oder ein System von Lebensgeistern, machen sie zu etwas Hinfälligem und Zerstörbarem gleich dem Körper, da nichts leichter vergeht als ein solches Etwas, dem es von Natur verwehrt ist, den Untergang des Gehäuses, das es umschließt, zu überdauern. Der schlechteste Teil der Menschheit hat sich diese Konzeption dankbar zu eigen gemacht und sie gehätschelt als das wirksamste Gegenmittel gegen die Einwirkungen der Tugend und der Religion. Aber es ist dargetan worden, daß Körper, von welcher Gestalt und Beschaffenheit auch immer, nur passive Ideen im Geist sind und daß beide, Geist und Idee, in ihrer Heterogenität weiter voneinander entfernt sind als Licht und Finsternis. Wir haben gezeigt, daß die Seele unteilbar, unkörperlich, unausgedehnt und folglich unzerstörbar ist. Nichts kann offenkundiger sein, als daß die Bewegungen und Veränderungen, Auflösungen und Zersetzungen, die wir jederzeit an natürlichen Körpern beobachten (und genau das meinen wir, wenn wir vom Lauf der Natur sprechen), einer aktiven, einfachen, nicht zusammengesetzten Substanz nichts anzuhaben vermögen. Ein solches Seiendes kann daher durch die Kraft der Natur

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 142–143

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nicht vernichtet werden, und das besagt: Der menschlichen Seele eignet eine natürliche Unsterblichkeit. 142 Nach allem, was wir ausgeführt haben, duldet es meines Erachtens keinen Zweifel, daß unsere Seelen nicht auf dieselbe Weise wie empfindungslose untätige Gegenstände, i. e. durch Ideen erkannt werden können. Geister und Ideen sind so grundverschiedene Dinge, daß, wenn wir sagen: sie existieren, sie werden erkannt oder dergleichen, man nicht glauben darf, diese Ausdrücke würden etwas beiden Kategorien von Wesenheiten Gemeinsames bezeichnen. Es gibt nichts Gleiches oder Gemeinsames in ihnen, und die Erwartung, wir könnten durch eine Vermehrung oder Erweiterung unserer Erkenntnisfähigkeiten in die Lage versetzt werden, einen Geist so zu erkennen wie ein Dreieck, erscheint als ebenso abwegig wie die Hoffnung, einen Ton zu sehen. Ich lege auf diesen Punkt besonderen Nachdruck, weil ich ihn als bedeutsam ansehe für die Klärung verschiedener wichtiger Fragen und um einige sehr gefährliche, die Natur der Seele betreffende Irrtümern zu vermeiden. Wir können, meine ich, streng genommen nicht sagen, wir hätten von einem tätigen Etwas oder von einer Tätigkeit eine Idee, sondern nur, daß wir einen Begriff (notion) davon haben. Ich habe eine gewisse Kenntnis oder einen Begriff von meinem Geist und seinen auf Ideen bezogenen Handlungen, insofern ich weiß oder verstehe, was diese Wörter bedeuten. Was ich weiß, davon habe ich einen Begriff. Ich sage nicht, es sei unzulässig, die Ausdrücke Idee und Begriff wechselseitig füreinander zu gebrauchen, wenn man es denn so haben will. Aber aus Gründen der Klarheit und sachlichen Angemessenheit sollten wir für Dinge, die sehr verschieden sind, verschiedene Namen gebrauchen. Ferner ist zu bemerken, daß es eigentlich nicht angeht zu sagen, wir hätten Ideen von Relationen – denn diese schließen einen Akt des Geistes in sich –, sondern nur, daß wir einen Begriff von den Beziehungen oder Verhältnissen zwischen den Dingen haben. Wenn aber, wie neuerdings üblich, das Wort Idee auch auf Geister, Beziehungen und Handlungen angewandt wird, so ist das am Ende doch nur eine Frage der Terminologie. 143 Hier dürfte die Bemerkung nicht unangebracht sein, daß die Verworrenheit und Dunkelheit in jenen Wissenschaften, die

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 144–145

sich speziell mit Fragen des Geistes beschäftigen, zu einem nicht geringen Teil durch die Lehre von den abstrakten Ideen verschuldet ist. Man hat geglaubt, man könnte abstrakte Begriffe von den Kräften und Tätigkeiten des Geistes bilden und diese abgesondert sowohl vom Geist oder der Seele selbst als auch von ihren jeweiligen Gegenständen und Wirkungen betrachten. Das hat zur Folge gehabt, daß zahlreiche dunkle und mehrdeutige Ausdrücke, die angeblich für abstrakte Begriffe stehen, in die Metaphysik und Morallehre Eingang gefunden haben, woraus unendlich viel Konfusion und Zwistigkeit unter den Gelehrten entstanden ist. 144 Was die Natur und die Tätigkeiten des Geistes angeht, scheint jedoch nichts so sehr zu Meinungsverschiedenheiten und Mißverständnissen geführt zu haben wie die Gewohnheit, von diesen Dingen in Ausdrücken zu reden, die der Sprache der sinnlichen Ideen entlehnt sind. So wird zum Beispiel der Wille als die Bewegung der Seele bezeichnet, woraus sich ganz von selbst der Glaube entwickelt, der menschliche Geist gliche einem Tennisball in Bewegung und werde von den Sinnesobjekten mit ebensolcher Notwendigkeit gestoßen und gelenkt wie dieser vom Schlag des Rackets. Zweifel und Irrtümer ohne Ende mit gefährlichen Konsequenzen für die Moral haben hier ihre Wurzel. All das läßt sich meiner festen Überzeugung nach bereinigen, und die Wahrheit kann unverstellt, unwandelbar und konsistent ans Licht treten, wenn nur die Philosophen bewogen werden könnten, sich auf sich selbst und ihr eigenes Denken zu besinnen. 145 Aus dem Gesagten erhellt, daß wir von der Existenz anderer Geister nur durch das, was sie wirken, oder durch die Ideen, die sie in uns hervorrufen, wissen können. Ich nehme verschiedene Bewegungen, Veränderungen und Kombinationen von Ideen wahr, die mir bekunden, daß es bestimmte tätige Einzelwesen gleich mir selbst gibt, die mit diesen Ideen in Verbindung stehen und an ihrer Hervorbringung beteiligt sind. Folglich ist das Wissen, das ich von anderen Geistern habe, nicht unmittelbar wie das Wissen von meinen eigenen Ideen, sondern von vermittelnden Ideen abhängig, die ich als Wirkungen oder begleitende Zeichen

Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 146–147

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zu tätigen Wesen oder Geistern, die von mir selbst verschieden sind, in Beziehung setze. 146 Aber obwohl es einige Dinge gibt, die erkennen lassen, daß menschliche Wesen als Handelnde an ihrer Hervorbringung beteiligt sind, so ist doch für jeden offenkundig, daß diejenigen Dinge, die man die Werke der Natur nennt, das heißt der weitaus größere Teil der von uns wahrgenommenen Ideen oder Sinnesempfindungen nicht durch menschliche Willenstätigkeit hervorgebracht wird oder von ihr abhängt. Es gibt somit einen anderen Geist, der ihre Ursache ist, da es widersinnig wäre anzunehmen, sie könnten durch sich selbst bestehen. Siehe Abschnitt 29. Wenn wir nun aber aufmerksam die beständige Regelmäßigkeit, Ordnung und Verkettung der Naturgegenstände betrachten, die überwältigende Pracht, Schönheit und Vollkommenheit der größeren und die erlesen-kunstvolle Gestaltung der kleineren Teile der Schöpfung, in eins mit dem genauen Zusammenspiel und der Übereinstimmung von allem innerhalb des Ganzen, zuvörderst aber die nie genugsam bewunderten Gesetze von Schmerz und Lust sowie die Instinkte oder natürlichen Neigungen, Begierden und Affekte der Tiere – wenn wir, sage ich, das alles wohl erwägen und gleichzeitig Sinn und Gehalt der Attribute »eins, ewig, unendlich weise, gut und vollkommen« bedenken, so werden wir klar erkennen, daß sie dem zuvor erwähnten Geist zukommen, der alles in allem wirkt und durch den alles besteht. 147 Daraus ergibt sich mit Evidenz, daß Gott ebenso gewiß und unmittelbar erkannt wird wie irgendein von uns selbst verschiedenes Geist- oder Seelenwesen. Ja, wir dürfen behaupten, daß die Existenz Gottes eine viel augenfälligere Tatsache ist als die Existenz von Menschen, weil die Wirkungen der Natur unendlich viel zahlreicher und bedeutender sind als die Wirkungen, die menschlichen Subjekten zugeschrieben werden. Kein Anzeichen gibt es, das auf einen Menschen oder auf eine von ihm hervorgebrachte Wirkung hindeuten und das nicht um ein Vielfaches zwingender das Sein jenes Geistes bezeugen würde, welcher der Urheber der Natur ist. Denn es ist sonnenklar, daß das einzige Objekt, an dem sich der auf andere Personen gerichtete menschliche Wille direkt betätigen kann, die Bewegungen der Glieder sei-

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · § 148

nes eigenen Körpers sind. Daß aber eine solche Bewegung mit einer Idee im Geist eines anderen einhergeht oder sie hervorruft, hängt ganz und gar vom Willen des Schöpfers ab. Er allein ist es, der durch das Wort seiner Macht den Dingen Bestand verleiht und so jene Wechselbeziehung der Geister aufrecht erhält, die sie befähigt, von der Existenz des jeweils anderen Kenntnis zu erlangen. Dieses reine und strahlende Licht aber, das jeden erleuchtet, ist selbst unsichtbar. 148 Es scheint eine allgemeine Schutzbehauptung der gedankenlosen Menge zu sein, daß man Gott nicht sehen könne. Wenn wir ihn bloß sehen könnten, sagen sie, wie wir einen Menschen sehen, so würden wir glauben, daß er ist, und in diesem Glauben seinen Befehlen Folge leisten. Aber ach! Wir brauchen doch nur unsere Augen zu öffnen, um des Allmächtigen in solcher Fülle und Deutlichkeit ansichtig zu werden, wie das bei keinem unserer Mitgeschöpfe je der Fall sein kann. Nicht daß ich mir vorstellen würde, wir wären einer direkten und unmittelbaren Gottesanschauung fähig (wie einige behaupten) oder wir würden körperliche Dinge nicht durch sich selbst sehen, sondern durch das, was sie im Wesen Gottes repräsentiert – eine Lehre, die mir, wie ich bekennen muß, unverständlich ist. Doch ich will mich deutlicher erklären. Ein menschlicher Geist oder eine Person wird nicht sinnlich wahrgenommen, da sie keine Idee ist. Wenn wir somit Farbe, Größe, Gestalt und Bewegungen eines Menschen sehen, so nehmen wir lediglich bestimmte, in unserem eigenen Bewußtsein wachgerufene Sinnesempfindungen oder Ideen wahr. Indem diese sich unserem Blick in verschiedenen Anordnungen präsentieren, werden sie von uns als Erkennungszeichen der Existenz endlicher, geschaffener, uns ähnlicher Geister aufgefaßt. Danach versteht es sich von selbst, daß wir einen Menschen nicht sehen können, sofern mit Mensch dasjenige gemeint ist, was lebt, sich bewegt, wahrnimmt und denkt, wie wir es tun, sondern daß wir lediglich ein bestimmtes Ensemble von Ideen sehen, welches uns den Gedanken eingibt, daß ein besonderes, uns gleiches Denk- und Bewegungsprinzip ihm zugeordnet ist und von ihm repräsentiert wird. Auf dieselbe Weise sehen wir Gott. Und der ganze Unterschied besteht darin, daß im einen Falle irgendein

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 149–150

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endliches, beschränktes Ideenensemble auf einen einzelnen menschlichen Geist hindeutet, während wir im anderen Fall jederzeit und überall, wohin wir auch blicken mögen, Manifestationen der Gottheit gewahren; denn jedes Ding, das wir sehen, hören, tasten oder sonstwie sinnlich wahrnehmen, ist genauso ein Zeichen oder eine Wirkung der Macht Gottes, wie unsere Wahrnehmung jener von Menschen hervorgebrachten Bewegungen ein Zeichen ist. 149 Für jeden, der des Nachdenkens auch nur im geringsten fähig ist, kann daher nichts offenkundiger sein als die Existenz Gottes oder eines Geistwesens, das unseren Geistern innig nahe ist, indem es in ihnen jene Mannigfaltigkeit von Ideen oder Sinnesempfindungen hervorruft, von denen wir unablässig erregt werden – eines Geistes, zu dem wir in bedingungsloser und umfassender Abhängigkeit stehen, kurz: in dem wir leben, weben und sind. Daß es dem Denken einiger weniger vorbehalten bleibt, diese große Wahrheit zu entdecken, die doch so nahe liegt und so augenfällig ist, muß als trauriger Beweis der Stumpfsinnigkeit und Unaufmerksamkeit der Menschen gelten, die, wiewohl umgeben von all den leuchtenden Selbstzeugnissen der Gottheit, so wenig davon berührt werden, als ob die Überfülle des Lichts sie mit Blindheit geschlagen hätte. 150 Aber, werdet ihr sagen, hat denn die Natur keinen Anteil an der Hervorbringung der Naturgegenstände und müssen sie alle dem unmittelbaren und alleinigen Wirken Gottes zugeschrieben werden? Ich erwidere: Wenn man unter Natur lediglich die sichtbaren Reihen der Wirkungen oder Sinnesempfindungen versteht, die nach gewissen feststehenden und allgemeinen Gesetzen unserem Geist eingeprägt sind, dann ist klar, daß Natur in diesem Sinne überhaupt nichts hervorbringen kann. Wird aber unter Natur eine sowohl von Gott als auch von den Naturgesetzen und den sinnlich wahrnehmbaren Dingen verschiedene Wesenheit verstanden, so muß ich bekennen, daß dieses Wort für mich nichts als ein leerer, sinnloser Laut ist. Eine so verstandene Natur ist ein heidnisches Hirngespinst, der Phantasie jener entsprungen, die keinen richtigen Begriff von der Allgegenwart und unendlichen Vollkommenheit Gottes besaßen. In hohem Grade

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · § 151

befremdlich mutet es freilich an, daß diese Schimäre auch unter Christen Zustimmung finden konnte, die sich zur Wahrheit der Heiligen Schrift bekennen, obwohl diese all die Wirkungen, welche die heidnischen Philosophen auf die Natur zurückführen, der unmittelbaren Intervention Gottes zuschreibt. »Der Herr läßt Wolken heraufziehen vom Ende der Erde. Er macht die Blitze, daß es regnet, und läßt den Wind kommen aus seinen Vorratskammern«. (Jeremia 10, 13) »Er macht aus der Finsternis den Morgen und aus dem Tage die finstere Nacht«. (Amos 5, 8) »Du suchst das Land heim und bewässerst es und machst es sehr reich. Du segnest sein Gewächs, und krönst das Jahr mit deinem Gut. Die Anger sind voller Schafe, und die Auen stehen dick mit Korn« (Psalmen 65, 10–14). Doch obschon dies durchweg der Tenor der Heiligen Schrift ist, haben wir, ich weiß nicht was für eine Abneigung gegen den Glauben, daß Gott sich so unmittelbar um unser Wohl und Wehe kümmert. Gern würden wir ihn unerreichbar weit entrückt wissen und ein blindes nichtdenkendes Prinzip an seine Stelle setzen, wiewohl (wenn wir dem hl. Paulus glauben dürfen) er nicht fern ist von einem jeglichen unter uns. 151 Zweifellos wird man einwenden, daß die allmähliche und gleichmäßige Art und Weise, wie die Naturgegenstände hervorgebracht werden, nicht auf die direkte Intervention eines allmächtigen handelnden Wesens als ihre Ursache hinzudeuten scheint. Überdies sind Monstren, Frühgeburten, in der Blüte vernichtete Früchte, Regengüsse in der Wüste, Not und Elend, die das menschliche Leben verdüstern, lauter Beweisgründe, daß das Ganze der belebten und unbelebten Natur nicht durch ein Geistwesen von unendlicher Weisheit und Güte unmittelbar ins Werk gesetzt und überwacht wird. Dieser Einwand findet größtenteils in Abschnitt 62 seine Erledigung. Es leuchtet nämlich ein, daß besagte Verfahrensweise der Natur unbedingt erforderlich ist, damit alles nach den einfachsten und allgemeinsten Gesetzen sowie auf eine stetige und in sich stimmige Weise geschehe, wodurch Gottes Weisheit und Güte gleichermaßen unter Beweis gestellt wird. Solcherart ist die kunstvolle Einrichtung dieses riesigen Räderwerks der Natur, daß seine Bewegungen und mannigfachen Erscheinungen in unsere Sinne fallen, während die Hand, die das

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · § 152

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Ganze in Gang hält, für Menschen aus Fleisch und Blut nicht wahrnehmbar ist. Fürwahr (sagt der Prophet) Du bist ein verborgener Gott (Jes 45, 15). Aber obwohl Gott sich den Blicken derer entzieht, die in Sinnlichkeit und Trägheit verharren und sich des Denkens um keinen Preis befleißigen wollen, so kann doch für einen unvoreingenommenen und aufmerksamen Intellekt nichts klarer erkennbar sein als die innige Gegenwart eines allweisen Geistes, der das ganze System des Seienden ins Werk setzt, lenkt und aufrechterhält. Nach dem, was wir anderenorts bemerkt haben, unterliegt es keinem Zweifel, daß das Wirken nach allgemeinen und feststehenden Gesetzen für unsere Orientierung in den Angelegenheiten des Lebens und für die Entschlüsselung des Geheimnisses der Natur so schlechthin unerläßlich ist, daß ohne dasselbe unsere Geistestätigkeit in ihrer ganzen Vielfalt und Reichweite, alle menschliche Klugheit und Voraussicht vollkommen nutzlos wäre. Es wäre sogar unmöglich, daß es dergleichen Fähigkeiten und Geisteskräfte überhaupt gibt. Siehe Abschnitt 31. Dieser eine Betracht wiegt im Übermaß auf, was sich an einzelnen Unzuträglichkeiten aus der gesetzmäßigen Ordnung der Dinge ergeben mag. 152 Wir sollten ferner bedenken, daß gerade die Mängel und Unvollkommenheiten der Natur nicht ohne Nutzen sind, indem sie auf angenehme Weise für Abwechslung sorgen und die Schönheit der übrigen Schöpfung erhöhen, so wie Schatten in einem Gemälde dazu dienen, Glanz und Beleuchtung der anderen Partien um so stärker hervortreten zu lassen. Auch täten wir gut daran zu überlegen, ob wir nicht, wenn wir dem Urheber der Natur wegen der Vergeudung von Samen und Keimen und der zufälligen Vernichtung von Pflanzen und Tieren im frühen Entwicklungsstadium Achtlosigkeit vorwerfen, aus einer Voreingenommenheit urteilen, die daher rührt, daß wir von schwachen und sparsamen Sterblichen umgeben sind. Beim Menschen mag der haushälterische Umgang mit Dingen, für deren Bereitstellung er viel Mühe und Fleiß aufwenden muß, als Weisheit gelten. Aber wir dürfen nicht glauben, daß es für den großen Schöpfer auch nur im geringsten mühsamer und beschwerlicher ist, den unendlich subtilen Mechanismus eines Tieres oder einer Pflanze zu schaf-

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 153–154

fen als einen Kieselstein zu erzeugen; ist doch nichts einleuchtender, als daß ein allmächtiger Geist alle Dinge unterschiedslos durch ein bloßes fiat oder einen Akt seines Willens hervorbringen kann. Infolgedessen sollten wir die prunkende Maßlosigkeit in der Natur ihrem Schöpfer nicht als Schwäche oder Verschwendung auslegen, sondern im Gegenteil darin einen Beweis seiner Machtfülle erblicken. 153 Daß aufgrund der allgemeinen Naturgesetze und infolge der Handlungen endlicher unvollkommener Geister Schmerz und Ungemach in der Welt vorkommen, ist in dem Zustand, in dem wir uns gegenwärtig befinden, für unser Wohlergehen unbedingt erforderlich. Aber unser Horizont ist allzu beschränkt. So sehen wir beispielsweise, wenn wir die Idee eines einzelnen Schmerzes bedenken, in diesem ein Übel. Wenn wir jedoch unseren Blickwinkel erweitern, so daß er die verschiedenen Zwecke, Verknüpfungen und wechselseitigen Abhängigkeiten der Dinge umfaßt, ferner bei welcher Gelegenheit und in welchem Verhältnis wir Schmerz und Lust erleben, wenn wir uns das Wesen der menschlichen Freiheit und den Endzweck vergegenwärtigen, um dessentwillen uns ein Platz in der Welt angewiesen ist, dann werden wir anerkennen müssen, daß jene einzelnen Dinge, die für sich genommen als Übel erscheinen, ihrer Natur nach etwas Gutes sind, vorausgesetzt, sie werden im Zusammenhang mit dem ganzen System des Seienden betrachtet. 154 Danach muß jedem, der nachdenkt, klar sein, daß es nur an mangelnder Aufmerksamkeit und einem zu engen Blickwinkel liegt, wenn Leute mit dem Atheismus oder der manichäistischen Häresie sympathisieren. Beschränkte und gedankenlose Gemüter mögen immerhin die Werke der Vorsehung, die Schönheit und Ordnung schmähen, die zu begreifen sie entweder nicht imstande sind oder sich nicht die Mühe machen wollen. Wer jedoch seinen Verstand einigermaßen richtig und umfassend zu gebrauchen weiß und überdies im reflektierenden Denken nicht ungeübt ist, kann niemals genug die leuchtenden Spuren göttlicher Weisheit und Güte bewundern, die sich durch die Naturordnung hindurchziehen. Aber welche Wahrheit vermöchte in solchem Glanz zu erstrahlen, daß wir nicht durch geistige Verstocktheit,

Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · §§ 155–156

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indem wir absichtlich die Augen schließen, ihren Anblick vermeiden könnten? Ist es darum verwunderlich, wenn dem überwiegenden Teil der Menschheit, der stets emsig seinen Geschäften oder Vergnügungen nachgeht, wenig geübt darin, die Augen des Geistes zu öffnen und mit ihnen die Dinge zu betrachten, das Sein Gottes nicht in dem Maße verbürgt ist, wie man es von vernünftigen Geschöpfen erwarten sollte? 155 Nicht daß diese einleuchtende und bedeutende Wahrheit die Gleichgültigen unbeeindruckt läßt, ist das eigentlich Erstaunliche, sondern daß es Menschen gibt, die so beschränkt sind, daß es ihnen nichts ausmacht, in Gleichgültigkeit zu verharren. Und doch müssen wir befürchten, daß nicht wenige Leute, denen es weder an geistigen Fähigkeiten noch an Muße gebricht und die in christlichen Ländern leben, nur infolge träger, grenzenloser Gleichgültigkeit einem gewissen Atheismus verfallen sind. Denn es ist schlechterdings unmöglich, daß eine vom lauteren Gefühl der Allgegenwart, Heiligkeit und Gerechtigkeit jenes allmächtigen Geistes durchdrungene und erleuchtete Seele auf Dauer ohne Gewissensbisse seinen Gesetzen zuwiderhandelt. Wir sollten also unser ganzes Sinnen und Trachten auf jene bedeutenden Gegenstände richten, damit wir ohne jeden Anflug von Zweifel die Überzeugung gewinnen, daß die Augen des Herrn an allen Orten beide sehen, die Bösen und Frommen, daß er mit uns ist und uns Schutz gewährt, wohin wir auch gehen, und uns Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen; daß er gegenwärtig ist und unsere geheimsten Gedanken kennt, und daß wir in schlechthin unbedingter und unmittelbarer Abhängigkeit von ihm leben. Die klare Erkenntnis dieser großen Wahrheiten muß notwendig in unseren Herzen jene ehrfürchtige Behutsamkeit und fromme Furcht wachrufen, die den stärksten Anreiz zur Tugend und den besten Schutz gegen das Laster bilden. 156 Denn unser vornehmstes Erkenntnisziel kann doch zuletzt nichts anderes sein als die Betrachtung Gottes und die Besinnung auf unsere Pflicht. Dies beides zu befördern, war Hauptantrieb und Zweck meiner Bemühungen. Ich werde sie als gänzlich unnütz und erfolglos ansehen, wenn es mir nicht gelingt, bei meinen Lesern ein andächtiges Gefühl der Gegenwart Gottes zu

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Prinzipien der menschlichen Erkenntnis · § 156

wecken und durch den Nachweis der Verkehrtheit oder Nichtigkeit jener sterilen Spekulationen, mit denen sich die Gelehrten hauptsächlich befassen, sie geneigter zu machen, sich in Ehrfurcht den heilbringenden Wahrheiten des Evangeliums zu öffnen, deren Erkenntnis und Anwendung das Höchste sind, was die menschliche Natur zu erreichen vermag.

A N M E R K U N G E N D E S H E R AU S G E B E R S

1 »To reason, meditate and reflect«. Am Ende von De motu be-

zeichnet Berkeley die Erkenntnisweise der Philosophie als »Nachdenken und vernünftige Überlegung« (meditation and reasoning, § 72). 2 John Locke (1632–1704), dessen Essay concerning human understanding 1690 erschienen ist. Dt. Versuch über den menschlichen Verstand: in 4 Büchern, Hamburg 1988. 3 Die folgenden Sätze bis zum Ende des Paragraphen wurden in der Ausgabe von 1734 hinzugefügt. Eine Selbstkorrektur Berkeleys darf man in ihnen nicht erblicken. Verdeutlicht wird der Unterschied zwischen »ein Ding bloß als Soundso betrachten« und »die abstrakte Idee eines Soundso-Dinges bilden«. Ersteres ist durchaus möglich, letzteres durchaus unmöglich. Wir können Peter bloß als menschliches Wesen betrachten und tun es, wenn wir urteilen »Peter ist ein Mensch«. Aber wir können nicht die abstrakte Idee von etwas bilden, das bloß Mensch ist. Was existiert, existiert in voller Bestimmtheit. 4 In diesem Sinne Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Buch III, 1. Kap., § 2; 2. Kap., § 2. 5 Bacon: Novum Organon, 1. Buch, Aphorismus 43; Hobbes: Leviathan, Teil 4, 46. Kapitel; Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Buch III, 10. Kapitel. 6 »… the objects of human knowledge … are either ideas actually imprinted on the senses, or else such as are perceived by attending to the passions and operations of the mind …« »Such« kann sich entweder auf »ideas« oder auf »objects« beziehen. Da Berkeley immer wieder die Wesensverschiedenheit von Geist und Idee, Geisterkenntnis und Ideenerkenntnis betont (vgl. P §§ 27, 135–40, 142), erscheint die Lesart »such objects« naheliegend. (s. The Works II, 41, Anm. des Herausgebers) Die Verwendung des Ausdrucks ›Dinge‹ stützt sich auf P §§ 39, 89: Die Klasse der Dinge umfaßt zwei Teilklassen, Ideen und Geister. 7 Dieselbe Auffassung vertritt Berkeley in ThdS § 109. Frege zitiert die Passage zustimmend in Grundlagen der Arithmetik, § 25. 8 Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, 7. Kap., § 7.

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Anmerkungen des Herausgebers 9 Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II,

13. Kap., § 19. 10 Descartes: Von der Methode, 4. Teil; Meditationen, 1. Meditation. 11 ›A priori‹, ›a posteriori‹ hier in der vorkantischen, von Aristoteles geprägten Bedeutung. Erkenntnis, die im Schließen von den Wirkungen oder Folgen als dem der Natur nach Späteren auf das der Natur nach Frühere, die Ursachen oder Gründe besteht, gilt als Erkenntnis a posteriori, die Ableitung der Wirkungen oder Folgen aus bereits erkannten Ursachen oder Gründen als Erkenntnis a priori. 12 Im Originaltext »compages (lat.) of external bodies.« 13 Der folgende Satz ist eine Hinzufügung zur zweiten Auflage (1734). 14 »notion«. Weitere Erläuterungen zu diesem Terminus in P §§ 139, 140. 15 Werkgeschichtlich bedeutsam ist der Umstand, daß Berkeley den Immaterialismus bereits konzipiert hatte, bevor er die Theorie des Sehens schrieb, die daher nicht als eine Art krypto-idealistischeVorstufe seiner Philosophie betrachtet werden darf. Vgl. PhT Nr. 429, 429a. 16 Die wichtigste in der Neuen Theorie vertretene These besagt, daß die Daten des Gesichtssinns eine zweidimensionale Mannigfaltigkeit bilden. Das visuelle Feld setzt sich aus Konfigurationen farbiger Linien und Punkte zusammen; es ist flächig ohne Tiefe. Die dritte Dimension, Entfernung in Sehrichtung ist als solche Objekt des Tastsinns. Durch die Erfahrung gesetzmäßiger Korrelationen zwischen Daten des Gesichts- und Daten des Tastsinns erwirbt das Auge die Fähigkeit, »seine« Daten als vorausdeutende Anzeichen, »Prognostika« haptischer Daten zu interpretieren. So wird die ihm von Haus aus verschlossene Welt des Tastbaren mittelbar sichtbar. Urteile vom Typ »ich sehe an der und der Raumstelle ein So-und-so« (»ich sehe eine Birke im Garten«) sind ihrer eigentlichen Bedeutung nach verkürzte Induktionsschlüsse auf der Grundlage konstanter intersensueller Zusammenhänge. Aus der Tatsache, daß die unmittelbaren Objekte des Sehens nicht in einer Entfernung gesehen werden, glaubt Berkeley schließen zu können, daß sie Ideen sind, visuelle Empfindungen, die nur ein Dasein »within the mind« besitzen. Das ist vermutlich ein Fehlschluß. »The view that the immediate objects of sight are two-dimensionally ordered only, and the doctrine that the objects of sense-perception do not exist without the mind, stand in the logical relation of indifference.« »A two-dimensional manifold

Anmerkungen des Herausgebers

113

might exist independently of its perceivers as much as a three-dimensional one.« (Armstrong, D. M. 1988: Berkeley’s theory of vision. New York, London. 27) Auch Mill nennt die Theorie des Sehens »quite independent of immaterialism« (Mill, J. St. 1978: Berkeley’s life and writings (1871). In: Collected Works. Vol. XI. Toronto. 453). 17 »Und wenn er seine werktätige Macht, wenn ich sie so nennen darf, den Dingen entzieht, hören sie dann nicht auf zu sein, so wie sie nicht waren, bevor sie wurden?« (Augustinus: De civitate Dei, XII, 26.) »Betrachtet man nämlich aufmerksam die Eigenart der Dauer, so leuchtet ein, daß es durchaus derselben Kraft und Tätigkeit bedarf, um irgendein Ding von Augenblick zu Augenblick zu erhalten, wie um es von neuem zu erschaffen, wenn es noch nicht existierte. Daß sich Erhaltung und Schöpfung nur durch den verschiedenen Gesichtspunkt unterscheiden, gehört damit auch zu dem, was das natürliche Licht augenscheinlich macht.« (Descartes: Meditationen, III, § 31) 18 ›Subjekt‹ hier im Sinne von ›Substrat‹, ›Zugrundeliegendem‹. 19 Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Buch IV, 3. Kap., § 28. 20 Unter den Neueren Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, 1. Teil, § 28. 21 Apostelgeschichte 17, 28. 22 ›Occasion‹ bedeutet sowohl ›Veranlassung‹ als auch ›Gelegenheit‹. Ist mit ›occasion‹ »the agent which produces any effect« gemeint, kommt nur ›Veranlassung‹ als Übersetzung in Frage. Ist das Ereignis gemeint, das in der natürlichen Ordnung der Dinge einem anderen Ereignis vorhergeht, ist meistens ›Gelegenheit‹ der passende Ausdruck. Die philosophisch korrekte Ausdrucksweise ist ja nach Berkeley nicht »A verursacht B«, wenn A und B Ereignisse, Ideenkomplexe sind, sondern »bei Gelegenheit von A als Antezedens tritt regelmäßig B ein«. Der Common sense freilich, auf dessen Sprechweise Berkeley in § 69 Bezug nimmt, unterscheidet nicht zwischen Veranlassung und Gelegenheit und nennt daher die Verletzung Veranlassung (= Ursache) des nachfolgenden Schmerzes. Siehe hierzu Einleitung S. XXXII ff. 23 Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch, Art. »Zeno«, Abschnitt H; »Pyrrhon«, Abschnitt B. John Norris (1701): An essay towards the theory of the ideal or intelligible world, pt. I. ch. 4. 24 Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Buch IV, 4. Kap., § 3. 25 Locke: a. a. O., § 11.

114

Anmerkungen des Herausgebers

26 Die folgenden Sätze bis zum Ende des Paragraphen hat Berke-

ley der Ausgabe von 1734 hinzugefügt. 27 Aristoteles: Vom Himmel, II, 1, 283 b 26. 28 Augustinus: Bekenntnisse, XI, 14: »Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiß ich’s nicht.« 29 In seinem zweiten Brief an den amerikanischen Philosophen Samuel Johnson schreibt Berkeley: »A succession of ideas I take to constitute time, and not to be only the sensible measure thereof, as Mr. Locke and others think.« (The Works II, 293) 30 »und ihre Relationen« nur in der Ausgabe von 1734. 31 Locke, der hier gemeint sein dürfte, unterscheidet zwischen »realer« und »nominaler Wesenheit« (real, nominal essence). Versuch über den menschlichen Verstand, Buch III, 6. Kap., § 6. 32 Newton: Philosophiae naturalis principia mathematica, 1687. Zum Begriff »Analogie der Natur« siehe den dritten der »Leitsätze des Philosophierens«. 33 verwickelte Kinkerlitzchen 34 Im Original »radius«. Mit Rücksicht darauf, daß vorher vom Erddurchmesser die Rede ist, erscheint die Ergänzung »Erdradius« sinnvoll. Französische Ausgabe (Paris 1991): »le rayon de la terre«. 35 Siehe oben Anm. 11. 36 Zwei Lesarten stehen in § 130 zur Wahl: »… can never equal the smallest given extension« (1710) und »… can ever …« (1734). Überweg (1869) übersetzt »niemals«. Diese Deutung wird durch folgende Formulierung aus Der Analytiker gestützt: »Aber sich gar einen Teil einer solchen unendlich kleinen Größe vorzustellen, der noch unendlich viel kleiner als diese ist, und folglich trotz unendlicher Vervielfältigung niemals gleich der kleinsten endlichen Größe wird, bedeutet … für jeden Menschen eine unendliche Schwierigkeit …« (A § 5) Auf die in § 130 angesprochene Kontroverse zwischen Leibniz und Nieuwentijt geht Berkeley schon in der Abhandlung Vom Unendlichen (1707/08) ein (Schriften über die Grundlagen der Mathematik und Physik, S. 75–80). Nieuwentijt akzeptiert Infinitesimalien erster Ordnung, nicht jedoch solche höherer Ordnung, die er gleich Null setzt. Berkeley bemerkt dazu: »Das ist dasselbe wie zu sagen, das Quadrat, der Kubus oder eine andere Potenz einer wirklichen positiven Größe sei gleich Null, was augenscheinlich absurd ist.« (a. a. O., S. 77) 37 Die Schwierigkeiten, die Berkeley veranlassen, den Begriff des unendlich Kleinen aus der Mathematik zu verbannen, resultieren aus

Anmerkungen des Herausgebers

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der irrigen Auffassung, unter einer »unendlich kleinen Größe« sei eine feste Größe zu verstehen. Tatsächlich hat man sich darunter Nullfolgen vorzustellen, d. h. Folgen reeller Zahlen a1,a2,…, die gegen 0 streben wie z. B. 1, ½, 1/3, … Den »Mißverstehern« muß man allerdings zugute halten, daß Newton und Leibniz selbst den Begriff der unendlich kleinen Größe formal ungeklärt ließen und ohne besondere Begründung mit diesen rechneten, als ob es feste Größen, i. e. Zahlen, wären. Der Prozeß der formalen Klärung der Infinitesimalrechnung fand einen ersten befriedigenden Abschluß in dem Lehrbuch »Cours d’Analyse« von Augustin Louis Cauchy (1789–1857). 38 »oder vielmehr einen Begriff« nur in der Ausgabe von 1734. 39 Von hier bis zum Ende des Abschnitts Hinzufügung zur Ausgabe von 1734. 40 1. Korinther 12, 6. Kolosser 1, 17. 41 Hebräer 1, 3. 42 Apostelgeschichte 17, 27. 43 Sprüche 15, 3. 44 Frei nach Genesis 28, 20.

AU S G E WÄ H LT E L I T E R AT U R

Standardausgabe The Works of George Berkeley 1948–1957: Hg. von Arthur A. Luce und Thomas E.Jessop. Edinburgh. I–IX. Nachdruck1979. Nendeln.

Übersetzungen Eschenbach, Johann Chr. 1756: Samlung der vornehmsten Schriftsteller, die die Würklichkeit ihres eigenen Körpers und der ganzen Körperwelt läugnen. Enthaltend des Berkeleys Gespräche zwischen Hylas und Philonous und des Colliers Allgemeinen Schlüssel. Rostock. Berkeley’s philosophische Werke. Erster Teil. 1781. Aus dem Englischen übersetzt, und mit einigen Nachrichten aus dem Leben, und den übrigen Schriften desselben versehen. Leipzig. (Enthält nur die Drei Dialoge) Berkeley, George 1912: Siris. Übers. u. hg. von Luise und Friedrich Raab. Leipzig. Berkeley, George 1957: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Nach der Übersetzung von Friedrich Ueberweg (1869) hg. von Alfred Klemmt. Hamburg. Berkeley, George 1969: Schriften über die Grundlagen der Mathematik und Physik. Hg. von Wolfgang Breidert. Frankfurt a. M. (Enthält: Vom Unendlichen, Der Analytiker, Eine Verteidigung des freien Denkens in der Mathematik, Gründe gegen eine Erwiderung auf Herrn Waltons Vollständige Antwort, Über die Bewegung) Berkeley, George 1979: Philosophisches Tagebuch. Übers. u. hg. von Wolfgang Breidert. Hamburg. Berkeley, George 1980: Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous. Übers. von Raoul Richter. Hg. von Wolfgang Breidert. Hamburg. Berkeley, George 1987: Versuch über eine neue Theorie des Sehens, Die Theorie des Sehens … verteidigt und erklärt. Übers. u. hg. von Wolfgang Breidert. Hamburg.

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Ausgewählte Literatur

Berkeley, George 1996: Alciphron oder der kleine Philosoph. Übers. von Luise und Friedrich Raab. Hg. von Wolfgang Breidert. Hamburg.

Sekundärliteratur Monographien Armstrong, D. M. 1988: Berkeley’s theory of vision (1960). New York, London. Atherton, M. 1990: Berkeley’s revolution in vision. Ithaca, London. Bennett, J. 1971: Locke, Berkeley, Hume – central themes. Oxford. Bracken, H. M. 1965: The early reception of Berkeley’s immaterialism. The Hague. Breidert, W. 1989: George Berkeley 1685–1753. Basel, Boston, Berlin. Fogelin, R. J. 2001: Berkeley and the »Principles of human knowledge«. London. Foster, J. A. 1982: The case for idealism. London. Grayling, A. C. 1986: Berkeley: The central arguments. London. Hicks, G. D. 1992: Berkeley (1932). Bristol. Jesseph, D. M. 1993: Berkeley’s philosophy of mathematics. Chicago, London. Johnston, G. A. 1988: The development of Berkeley’s philosophy (1923). New York. Kulenkampff, A. 2001: Esse est percipi – Untersuchungen zur Philosophie George Berkeleys. Basel. Luce, A. A. 1934: Berkeley and Malebranche. Oxford. Luce, A. A. 1945: Berkeley’s immaterialism. Edinburgh. McCracken, Ch. 1983: Malebranche and British philosophy. Oxford. McFee, D. 1895: Berkeleys Neue Theorie des Sehens und ihre Weiterentwicklung in der englischen Associations-Schule und in der modernen empiristischen Schule in Deutschland. Diss. Zürich. Metz, R. 1968: George Berkeley. Leben und Lehre (1925). Stuttgart. Muehlmann, R. 1992: Berkeley’s ontology. Indianapolis. Pappas, G. S. 2000: Berkeley’s thought. Ithaca, London. Pitcher, G. 1977: Berkeley. London. Reininger, R. 1922: Locke, Berkeley, Hume. München. Tipton, I. C. 1988: Berkeley – the philosophy of immaterialism (1974). New York. Urmson, J. 0. 1982: Berkeley. Oxford. Warnock, G. J. 1982: Berkeley (1953). Oxford.

Ausgewählte Literatur

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Wild, J. 1962: George Berkeley (1936). New York. Winkler, K. P. 1989: Berkeley – an interpretation. Oxford.

Aufsatzsammlungen Berman. D. (Hg.) 1989: George Berkeley. Eighteenth-century responses (1711–1795). I, II. New York. The British Journal for the Philosophy of Science 4. Edinburgh 1953. Creery, W. E. (Hg.) 1991: George Berkeley – critical assessments. I–III. London, New York. – Vol. I: Philosophy of language and the theory of vision; vol. 2: Qualities, general ideas and perception; vol. 3: Matter and the external world, minds and notions. Cummins, Ph. D.; Zoeller, G. (Hg.) 1992: Minds, ideas, and objects – essays on the theory of representation in modern philosophy. Atascadero (Cal). Doney, W. (Hg.) 1989: Berkeley on abstraction and abstract ideas. New York, London. Foster, J.; Robinson, H. (Hg.) 1985: Essays on Berkeley: A tercentennial celebration. Oxford. Hermathena 82. Dublin 1953. Martin, C. B.; Armstrong, D. M. (Hg.) 1968: Locke and Berkeley. A collection of critical essays. London. Muehlmann, R. (Hg.) 1995: Berkeley’s metaphysics. University Park (Penn.). Pepper, St. C.; Aschenbrenner, K.; Mates, B. (Hg.) 1957: George Berkeley. Lectures delivered before the Philosophical Union of the University of California. Berkeley. Pitcher, G. (Hg.) 1988: Berkeley on vision. A nineteenth-century debate. New York. Revue internationale de philosophie 7. 1953. Revue internationale de philosophie 39. 1985. Sosa, E. (Hg.) 1987: Essays on the philosophy of George Berkeley. Dordrecht. Steinkraus, W. E. (Hg.) 1966: New studies in Berkeley’s philosophy. New York. Turbayne, C. M. (Hg.) 1982: Berkeley. Critical and interpretive essays. Minneapolis.

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Ausgewählte Literatur

Die Monographien und Aufsatzsammlungen dokumentieren in hinreichender Breite die Berkeley-Forschung der vergangenen Jahrzehnte. Zusätzlich sei auf folgende Artikel hingewiesen: Mill, J. St. 1978: Berkeley’s life and writings (1871). In: Essays on philosophy and the classics. Collected Works. XI. Toronto. Peirce, Ch. S. 1967: Frasers Ausgabe der Werke von George Berkeley (1871). In: Schriften I. Hg. von K.-O. Apel. Frankfurt a. M. Popkin, R. H. 1951: Berkeley and pyrrhonism. The Review of Metaphysics 5. Prior, A. N. 1955: Berkeley in logical form. Theoria 21. Rome, S. C. 1943: The Scottish refutation of Berkeley’s immaterialism. Philosophy and Phenomenological Research 3. Stewart, D. 1855: On the idealism of Berkeley. In: Collected Works. V. Edinburgh.

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Abbild 28f., 37f., 53, 70, 72 abstrakt, Abstraktion, abstrahieren 8, 10, 13, 15, 17 f., 22, 27 f., 30, 61, 64, 67, 76 f., 82 f., 88 Absurdität, absurd s. Widersinn 6, 22, 53, 70, 76, 98 Ähnlichkeit, ähnlich 22, 28 f., 34, 36, 38 f., 45, 48, 53, 72, 79, 100, 104 Aktivität, aktiv s. Tätigkeit 39, 56, 61, 99 Akzidens 32 f., 43, 50, 60, 63, 65 f. Algebra 19 Allgemeinbegriff 10 allgemeingültig 16 Allgemeinheit, allgemein 13, 15 f. Analogie 80 ff., 90 a priori, a posteriori 35, 56, 94 Aristoteles 20, 30 Arithmetik 88, 90 Astronomie, Astronom 54 f. Atheismus, Atheisten 42, 73 f., 97, 108 f. Attraktion 78 f. Attribut 49, 58, 87, 103 Ausdehnung 8, 12, 27, 29–32, 38, 43, 49, 56, 60, 65, 70, 72, 76, 91ff., 95 Ausdruck, allgemeiner (general term) 12 Axiom 12, 91 Begriff (notion) 39, 71 f., 100 f.

betrachten (to consider) 8, 17 Bewegung 8, 10, 12, 25, 28–33, 36, 38, 40, 46, 50, 54, 56 f., 59 f., 63, 65, 70, 72, 75 f., 78, 85 f., 100, 102 ff., 106 –, absolute B. 82 f., 85 –, relative B. 82–85 Beweis 16 f. Beziehung s. Relation 33, 70, 72, 81, 84 f., 101 Blindgeborener 46 Definition 18 f., 60, 66 Denken 14, 99 Ding passim, besonders 44, 71 –, externes, äußeres D. 29, 33, 46, 52 f., 68 –, nichtdenkendes D. 96 Dreieck 14, 16 f., 19, 98, 101 Duft 25, 28 Eigenbewegung 9 Eigenname 20 Eigenschaft 7–16, 44, 48, 50, 59, 78, 80, 85, 93 Einbildungskraft, Einbildung 25 f., 36, 39, 41, 43 f., 64, 85 Einheit 31, 88 Einzelding 10, 12, 15, 18, 90 Einzelidee 11–13, 18 f., 23 einzelnes 13, 16 Empfindung s. Sinnesempfindung 27, 29, 47, 64, 98 Entfernung 45 f., 54, 84–86 Epikur 74

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Erdbewegung 53 f. Erde 79, 84 f. Erfahrung 39 f., 55 Erkenntnis 5 f., 15, 21, 23, 25, 69, 72, 75, 79, 96 f., 109 Erscheinung s. Phänomen 55–58, 68, 70, 78 f., 81 f., 106 esse-est-percipi 26 Ethik 77 existieren, Existenz passim Farbe 8 f., 10, 12, 25, 27–30, 32, 36, 43, 47, 49, 63, 65, 67, 70, 76, 78, 104 Festigkeit 29 f., 43, 56, 60 Fläche 8, 12, 19, 91 Form 9 Freiheit 54, 74, 108 Gedächtnis 25 Gedanke 26, 39 f., 43, 45, 47, 76, 88, 109 Gehör 25, 39, Geist, Geistwesen passim –, außerhalb des G. (without the mind) 26, 28–37, 41, 43–46, 48 f., 51–53, 56, 60, 63, 68–72, 82, 86, 88, 92, 96 –, im G. (in / within the mind) 28 f., 32, 36 f., 41, 43–45, 49, 60, 65, 69 Gelegenheit (occasion) 50 Gemeinname (general name) 15, 18, 20, 22 Gemütsbewegung 20, 25 f. Geometrie, geometrisch 13, 91–95 Gerechtigkeit 77 Geruchssinn 25, 68 Geschmacksempfindung, Geschmack 25, 28 f., 43

Geschmackssinn 68 Gesichtssinn 25f., 45 f., 68, 86 Gestalt 8f., 10, 12, 27–33, 36, 38, 43, 48–50, 56 f., 59, 60 f., 63, 65, 70, 78, 104 Gewicht 78 Gewißheit 5, 44, 55 f. Gleichförmigkeit, gleichförmig 54, 57, 80 f. Glück 77 Gott 3, 6, 35, 52, 56–58, 60–65, 81 f., 87, 103–107, 109 Gottesbeweis 3 Gravitation 80 Größe 8, 12, 48, 57, 78, 92 f., 95 f., 104 Grundsatz s. Prinzip 41, 43 f., 46, 48 f., 54, 68f., 74, 87, 96 Gute(s) (das / etwas) 20, 77, 108 Güte 40, 54, 62, 81, 106, 108 Handlung, handeln 20, 40, 46, 51f., 54 f., 57, 73, 76, 81, 99, 101, 103, 108 Härte 29, 43, 49 Hirngespinst s. Schimäre 68, 105 Hobbes, Th. 74 Hypothese 34, 78, 97 Ich 26, 99 Idee passim –, abstrakte allgemeine I. 7, 9–23, 27, 30 f., 33, 67, 75, 77, 86, 88, 90, 92 f., 102 –, allgemeine I. 13, 16, 93 Individuum 9, 20 Infinitesimalien 95 f.

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Kälte 25, 27, 29, 31 koexistieren, Koexistenz 9 Kohärenz 39 Kopie 28 Körper passim –, externer K. 34–36 Korpuskel 38 Korpuskularphilosophie 50 Kraft 12, 37–40, 51, 53, 55, 83–85, 102 Kreisbewegung 83, 85 Lebhaftigkeit, lebhaft 35, 39, 41 Licht 25, 27, 47, 65 Linie 8, 12 f., 19, 91, 93–96 Locke, J. 11–14, 18 Logik 7, 94 Macht, mächtig 58, 62, 67, 82, 105, materia prima 30 Materialismus, Materialist 48, 63 Materie, materiell s. körperliche Substanz 29–32, 34 f., 42, 47 f., 50–52, 60f., 62–66, 68 f., 73-75, 96 f. Mathematik, Mathematiker 54, 77, 87 f., 91-93, 95 f. Mechanik, mechanisch 50, 57, 78, 82 Menschenvernunft, gemeine 11, 91 Menschenverstand, gesunder 5, 84 Metaphysik, metaphysisch 7, 102 minimum sensibile 96 Modus 32, 49, 50 Moral, Morallehre 102

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Name 13, 16, 18–23, 25, 64, 71, 89, 99 f. Natur 41, 52, 54, 56–60, 75, 79–82, 100, 103, 105–108 natura rerum 42, 70 Naturerkenntnis 55 Naturforschung, Naturforscher 50, 60, 77, 81, 83, 87 Naturgeschichte 81 Naturgesetz, naturgesetzlich 40, 42, 54, 57, 79, 81, 100, 105, 108 Naturwissenschaft 55 Newton, I. 82, 85 Objekt 8, 27, 32, 46 f., 53, 77, 103 Ort 60 f., 75, 83–85 Paradoxie 5, 18, 91 Passivität 37 Pflicht 109 Phänomen s. Erscheinung 50, 57, 79 Phantom 70 Philosophie 5, 35, 47, 54, 69, 71, 96 Prinzip 5, 7, 18, 23, 38, 41, 47–49, 50, 54, 56, 60, 68 f., 74, 77 f., 81, 86 f., 91f., 94–97, 106 Qualität(en) 8, 9 f., 28, 31–33, 38, 43, 49 f., 61, 63, 65, 70, 72, 75 f., 78 –, primäre, ursprüngliche Qu. 29 f., 63 –, sekundäre Qu. 29, 63 Quantität 87, 94

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Raum 45, 86 f. –, absoluter R. 82 f., 86 –, relativer R. 82 f. Realität, real s. Wirklichkeit 8, 26 f., 31, 41–43, 45, 50, 67 f., 70–73, 76 f., 92, 96 Reflexion 31, 37, 42, 61, 64, 71 Regel 39, 42, 58 f., 79, 80–82, 90 Regelmäßigkeit, regelmäßig 41, 54, 57, 59, 103 Relation, relativ s. Beziehung 32 f., 38, 60, 66, 77, 80, 101 Religion 35, 67, 69, 74 f., 96f., 100 repräsentieren, Repräsentation, Repräsentant s. Stellvertreter 13, 15 f., 29, 35, 38 f., 41, 70, 90, 94, 104 Ruhe 29, 83 Schall 40 Schimäre, schimärisch 41f., 68, 70, 106 Schluß, Schließen 6, 11, 17, 34, 71 Scholastiker 47, 51 Schwere 43 Seele, Seelenwesen 3, 20 26, 38 f., 42, 49, 73, 76, 97–103, 109 Sehen 45–47, 71 Sinn(e) 5, 25–28, 33, 37, 39–42, 44, 46, 48 f., 51, 61, 64 f., 70–72, 76 f., 83, 92, 98 Sinnending, sinnliches Ding (sensible thing / object) 25–28 Sinneseindruck 27 Sinnesempfindung 9, 11, 26 f., 33–35, 37 f., 52 f., 61f., 65, 67, 70, 72, 74, 76, 98, 103–105

Skepsis, skeptisch, Skeptiker, Skeptizismus 5, 44, 70 f., 73, 75, 77, 95, 97 f. Sprache 7, 12, 18 f., 21–23, 46, 51, 68, 89, 91, 102 Stellvertreter s. Repräsentant 13, 19 Subjekt 26, 41f., 49 f. Substanz, substantiell 28, 36, 38, 41, 49, 60, 62 f., 66, 72, 99 –, aktive, denkende, einfache, geistige, immaterielle, tätige, unkörperliche, unteilbare S. 38, 41f., 71, 73, 98–100 –, körperliche, materielle, nichtdenkende, träge S. s. Materie 28–31, 33–35, 37 f., 42 f., 47, 50, 63, 65 f., 68 f., 73–75 Substrat, substratum 28, 32 f., 63, 65 Suggestion (suggestion), suggerieren 45 f. Sukzession 32 System 6, 97, 107 f. –, kopernikanisches 51 Tasten, Tastsinn 25 f., 46, 71 Tätigkeit, tätig 37–39, 44, 51, 53, 55, 71, 78 f., 84 f., 101f. Teilbarkeit, unendliche 48, 69, 76, 91f., 94 f. Theorem 91 Ton 20, 25, 29, 36, 63, 67, 78, 101 Trägheit 37 Traum 44 f. Tugend 77, 100, 109 Übel 108 Undurchdringlichkeit 29

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Unendlichkeit, unendlich, Unendliches 6, 94, 97 Unsterblichkeit, natürliche 3, 100 f. Urbild 29, 47, 70, 72, 76 Ursache s. Wirkung 37 f., 40, 52 f., 58 f., 78–81, 85, 103, 106 –, körperliche, natürliche, physische U. 50, 51, 60 –, wirkende U. 51, 61, 79, 81 –, zweite U. 40 Veranlassung (occasion) 61–64, 66 Verknüpfung 58, 59, 108 –, notwendige V. 34, 40, 55 Vernunft 11, 18, 33, 58, 64, 97 –, Licht der V. 62 Vernunftgrund 64, 97 Verstand 5, 7, 11, 13, 18, 21f., 26, 31, 38, 77, 98 Voraussage 55 Voraussicht 40 Vorurteil 3, 5, 52 f., 64, 92 wahr, Wahrheit 3, 5, 21, 23, 28 f., 37 f., 43f., 51f., 54, 56, 67, 89 f., 94, 96, 102, 105, 108f. wahrnehmen, Wahrnehmung, Wahrgenommenwerden 20, 25–29, 33, 36 f., 40–42, 44–49, 53 f., 58, 60–62, 64, 67, 69–74, 76, 96, 98 f., 104 f., Wärme 25, 27, 29, 31, 40, 43 Weichheit 29, 43

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Weisheit 5, 39 f., 54, 58, 62, 82, 106–108 Widersinn, widersinnig s. Absurdität 5, 28, 47, 59 f., 73 f., 92, 103 Widerspruch, widersprüchlich 6, 17, 27–29, 33, 36f., 52 f., 65–67, 71, 91f., 94, 96 Wille, wollen 26, 38–41, 56, 61, 80, 99, 102–104 Willensakt, Willenstätigkeit 42, 53, 55, 103, 108 Wirklichkeit, wirklich s. Realität 41, 43–45, 68 f., 72 Wirkung s. Ursache 38, 40, 42, 52, 55–59, 61, 85, 102 f., 105 f. Wissen 6, 21, 70 f., 77, 80, 87 f., 102 Wissenschaft 3, 7, 11, 17, 21, 69, 82, 87–89, 91, 95–97, 101 Wohlwollen 58, Wort 12f., 18–20, 22 f., 46 f., 67 f., 89 Wunder 54, 57, 68 f. Zahl 29, 31, 38, 88–91 Zeichen, Bezeichnetes 12 f., 18, 20, 46, 59, 66, 81, 90, 93 f., 102 Zeit 75 f., 82 Zentrifugalkraft 83f. Zweck 5, 19–21, 35 f., 40, 52, 55–57, 68, 81, 88, 91, 108 Zweifel 5, 6