Einbildungskraft und Aufklärung: Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750

Die Arbeit untersucht, wie die Einbildungskraft als Vermögen zwischen Empfindung und Verstand in verschiedenen Kontexten

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Einbildungskraft und Aufklärung: Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750

Table of contents :
Einleitung
ERSTER TEIL Vier Konzepte der Einbildungskraft um 1700
I. Übersetzer und Kompilatoren: Die moralistische Bewertung der Einbildungskraft im frühen 18. Jahrhundert
II. Impulse der Psychologie Christian Wolffs für die Begründung der Ästhetik als wissenschaftliche Disziplin
III. Shaftesburys moralistische Ästhetik und Phasen der Rezeption in der Frühaufklärung
IV. Wissenschaftliche Analyse der Imagination bei Nicolas Malebranche
ZWEITER TEIL Theorien der Einbildungskraft um 1750
I. Leib-Seele-Problem und Physiologie der Vorstellungen – Ein Beitrag zu einer Geschichte der Anthropologie
II. Psychologie der Einbildungskraft
III. Einbildungskraft in Poetik und Ästhetik
Verzeichnis der Siglen
Verzeichnis der Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Quellen
Forschungsliteratur
Namensverzeichnis

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Band 148

Gabriele Dürbeck

Einbildungskraft und Aufklärung Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Dürbeck, Gabriele: Einbildungskraft und Aufklärung : Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750 / Gabriele Dürbeck. -Tübingen : Niemeyer, 1998 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 148) ISBN 3-484-18148-6

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

Einleitung ERSTER TEIL Vier Konzepte der Einbildungskraft um 1700 L

Übersetzer und Kompilatoren: Die moralistische Bewertung der Einbildungskraft im frühen 18. Jahrhundert

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1. Walch und Zedler als Lexikographen 2. Graciän-Rezeption aus zweiter Hand: A. F. Müllers Annotationen zur Einbildungskraft 3. Instrumentalisierung und manipulative Wirkung der Imagination

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Impulse der Psychologie Christian Wolffs für die Begründung der Ästhetik als wissenschaftliche Disziplin

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1. Reproduktion - Erfindung - Erdichtung: Wolffs Konzept der Einbildungskraft 2. Gottscheds rationalistische Poetik im Anschluß an Wolff . . .

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III. Shaftesburys moralistische Ästhetik und Phasen der Rezeption in der Frühaufklärung

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II.

1. Kontrollierte Einbildungskraft und vernünftiger Enthusiasmus< in den Characteristics 1.1. Heilung des Patienten >Fancy< durch Selbstaufklärung . . 1.2. Aberglaubenskritik und Verfeinerung der Einbildungskraft in The Moralists 2. Addisons Essay on the Pleasures of the Imagination 2.1. Assoziation der Ideen 2.2. Vervollkommnung der Natur durch Poesie 2.3. Legitimation einer fiktional-magischen Wirkung der Imagination 2.4. Intellektualisierung der Einbildungskraft

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3- Die eklektizistische Position von Bodmer und Breitinger 3.1. Wölfische Vermögenspsychologie in der Poetik 3.2. Realitäts- und Adressatenbezug 3.3. Die Affektivität der Einbildungskraft

. . .

IV. Wissenschaftliche Analyse der Imagination bei Nicolas Malebranche 1. Physiologie der Ideen: Cartesisches Lebensgeistermodell und zeitgenössische Medizin 2. Imaginative Einwirkung der Schwangeren auf den Fötus: Physiologisierung der Erbsündetheorie 3. Kritik an Autoritätsglauben, Wirkungsästhetik und Hexenwahn: »l'imagination contagieuse« Zusammenfassung

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ZWEITER TEIL Theorien der Einbildungskraft um 1750 I.

Leib-Seele-Problem und Physiologie der Vorstellungen - Ein Beitrag zu einer Geschichte der Anthropologie 1. Nervenphysiologischer Prospekt: Animistische und mechanistische Modelle der Einbildungskraft 1.1. Krügers Theorie der Wechselwirkung - physiologische Pathologie der Einbildungskraft 1.2. Philosophische Pathologie< - Einbildungskraft als Vermögen'zur Determinierung des Körpers bei E. A. Nicolai 1.3. Wölfische Psychologie und Meiers Ästhetik als Vorbild für die Medizin: Boltens >psychologische Curen< 1.4. Sulzers Theorie der Empfindungen: Philosophische Annäherung an die Physiologie 1.5. Muratoris moderater Malebranchismus: Das Konzept der >materiellen Phantasie< 1.6. Hauers Theorie der Wechselwirkung: Psychische Eindrücke und >Spuren< im Gehirn Zusammenfassung 2. Aberglauben bei Laien und Gelehrten: Muttermale, Mißgeburten und Monster als Folge der affektiven Einbildungskraft der Schwangeren

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II. Psychologie der Einbildungskraft 1. Theorie der sinnlichen Erkenntnis und der Affekte bei Baumgarten und Meier 2. Theorie der Lust bei Sulzer und Mendelssohn 3. Speicher, Reproduktion und Wiedererkenntnis: Zur Unterscheidung von Gedächtnis und Einbildungskraft 4. Anthropologisierung des Traumes: Ordnung und Unordnung der Ideen im Gehirn Zusammenfassung III. Einbildungskraft in Poetik und Ästhetik 1. >Logik des Verstandes< und >Logik der Einbildungskraft^ Zur Dissoziation von Metaphysik und Ästhetik um 1750 2. Allegorie und Anschaulichkeit — Fabeltheorie im Spannungsfeld zwischen praktischer Philosophie und Poesie 3. Psychologische Konditionierung der Einbildungskraft in der Ästhetik von Georg Friedrich Meier 4. Reproduktion — Übung — Rezeption: Sulzers wirkungsästhetisches Konzept der künstlerischen Einbildungskraft

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Verzeichnis der Siglen

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Verzeichnis der Abkürzungen

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Literaturverzeichnis Quellen

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Forschungsliteratur

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Namensverzeichnis

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VII

Einleitung

Überhaupt ist die Phantasie noch die unerforschteste und vielleicht die unerforschlichste aller menschlichen Seelenkräfte: denn da sie mit dem ganzen Bau des Körpers, insonderheit mit dem Gehirn und den Nerven zusammenhangt, wie so viel wunderbare Krankheiten zeigen: so scheint sie nicht nur das Band und die Grundlage aller feinern Seelenkräfte sondern auch der Knote [sie!] des Zusammenhanges zwischen Geist und Körper zu seyn, gleichsam die sproßende Blüthe der ganzen sinnlichen Organisation zum weitern Gebrauch der denkenden Kräfte.1

Diese Feststellung Herders von 1785 begreift die Einbildungskraft oder Phantasie2 als zentrales seelisches Vermögen, das den freien Gebrauch des Denkens ebenso bedingt wie die Krankheiten des Geistes. Ihre vermittelnde Rolle zwischen Materie und Geist, zwischen Körper und Seele, wie sie seit Aristoteles unter ganz verschiedenen philosophischen Vorgaben immer wieder bekräftigt wurde, wird hier unter dem Gesichtspunkt der neuen Anthropologie der Spätaufklärung genauer gefaßt: sie allein stellt die Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Verstand her, sie ist der Knotenpunkt im commercium mentis et corporis. Die vorliegende Studie rekonstruiert, welche Sichtweisen der Einbildungskraft bereits um 1750 entwickelt wurden, um den Ursprung, die Reichweite und Grenzen dieser >vielleicht unerforschlichsten< aller Seelenkräfte zu bestimmen. Ein Schwerpunkt ist die Frage, mit welchen Strategien das Problem ihrer Abhängigkeit vom Körper sowie ihrer Nähe zu den Sinnen und Affekten in philosophischen und wissenschaftlichen Abhandlungen der Frühaufklärung bearbeitet wurde. Die Untersuchung richtet deshalb ihr Augenmerk auf die zeitgenössische Erörterung der psychophysiologischen Funktionen der Einbildungskraft, um auf Grundlage eines breiten und noch wenig erforschten Quellenmaterials einen Beitrag zur Geschichte der Anthropologie zu leisten. Bisherige Studien haben die Einbildungskraft vor allem als Thema der Philosophie, der Ästhetik und Poetik behandelt und ihr als kreativem Vermögen von Dichtung und bildender Kunst Aufmerksamkeit gezollt.3 Dabei sind an1

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Johann Gottfried Herder (1887), Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Herder, Sämmtliche Werke. Hg. v. B. Suphan. Bd. XIII. Berlin, 2. Tl. (1785), S. 3o?f. Gemäß dem Sprachgebrauch im ganzen 18. Jahrhundert verwendet auch Herder Phantasie und Einbildungskraft als synonyme Begriffe. Diese Einschränkung prägt vor allem die Studien von H. P. Herrmann, S. Vietra und K. Barck. Vgl. Herrmann (1970), Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Ent-

thropologiegeschichtliche Fragen weitgehend ausgeklammert worden. Das Studium der Quellen zeigt jedoch, daß eine solche Verengung des Blickwinkels die historische Sachlage nur sehr eingeschränkt erfaßt. Denn eine große Anzahl von wissenschaftlichen Traktaten im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts versuchte, den Status der Einbildungskraft im psychophysischen Zusammenhang zu klären, ohne daß notwendig auch ihre poetisch-ästhetische Seite in Betracht gezogen wurde. Mit der anthropologischen Akzentuierung kann sich die vorliegende Untersuchung an den ideengeschichtlich orientierten Ansatz zur literarischen Anthropologie< von Hans-Jürgen Schings und Wolfgang Riedel anschließen, die sich in den letzten 20 Jahren zu einem eigenen Forschungsgebiet innerhalb der Germanistik etabliert hat.4 Dieser Ansatz ist jedoch für die historische Perspektivierung der Einbildungskraft in zweifacher Hinsicht zu erweitern: Zum einen wird der Untersuchungszeitraum auf das zweite Drittel des 18. Jahrhunderts verlagert mit der These, daß eine schlüssige Auffassung vom ganzen Menschen, die bislang am Material der Spätaufklärung detailliert erforscht worden ist, bereits um 1750 konzeptionell voll entfaltet war. Zum anderen geschieht die historische Rekonstruktion von Begriffen, Theorien und Wissensbeständen mit Blick auf deren Status innherhalb der verschiedenen Wissensgebiete, die sich während dieser Zeit allmählich zu eigenen Disziplinen herausgebildet haben.5 Diesen Zusammenhang gilt es, mit einem begriffs-, wissens- und wissenschaftsgeschichtlichen Forschungsansatz zu erschließen.

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wicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740. Bad Homburg v. d.H., Berlin, Zürich (= Ars poetica. Texte und Beiträge zur Dichtungslehre und Dichtkunst. Bd. 8); Vietta (1986), Literarische Phantasie: Theorie und Geschichte: Barock und Aufklärung. Stuttgart; Barck (1993), Poesie und Imagination. Studien zu ihrer Reflexionsgeschichte zwischen Aufklärung und Moderne. Stuttgart, Weimar. Vgl. dazu den Forschungsbericht von Riedel (1994), Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: IASL, 6. Sonderheft (1994), S. 93-157, und auch die bibliographischen Angaben in der Einleitung zum zweiten Teil dieser Arbeit. - Ebenfalls als literarische Anthropologie< bezeichnet Wolfgang Iser sein wirkungsästhetisch orientiertes Fiktionsmodell; danach ist die Rezeption poetischer Literatur auf bestimmbare >Akte des Fingierens< angelegt, die qua anthropologischen Konstanten orientierend wirken. Isers anregendes Modell ist auf die Interpretion poetischer Texte ausgerichtet und überhistorisch konzipiert und verfolgt damit ein andersgeartetes Forschungsziel als die hier verfolgte anthropologiegeschichtliche Fragestellung; vgl. Iser (1991), Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M. Trotz dieser Erweiterung des Forschungsgegenstandes um eine anthropologische Fragestellung mußten auch in dieser Arbeit Einschränkungen vorgenommen werden: So bleibt die Darstellung der Melancholiedebatte und die Erörterung der theologischen Anthropologie, die sich um 1750 verstärkt mit dem Phänomen der Schwärmerei befaßte, ebenso ausgeklammert, wie die Anbindung der Anthropologie und Ästhetik an die zeitgenössische schöne Literatur weiteren Einzeluntersuchungen überlassen werden muß. Zu den theologischen Aspekten vgl. die Studie von M. Pott (1992),

Die Analyse der historischen Semantik,6 die den Begriff der Einbildungskraft zu einen der Leitbegriffe der Aufklärungsepoche - als Ergänzung zu den »Grundbegriffen« von >Geist< und >Sinnlichkeit< 7 — zählt, soll diesen Terminus aus verschiedenen zeitgenössischen Perspektiven ermitteln, wie sie in philosophischen und wissenschaftlichen Traktaten um 1750 dargeboten sind. Gegenüber anderen Verfahren, etwa dem >subjektphilosophischen Ansatz< von Silvio Vietta, wird daher eine Rückprojektion der nachkantischen Redeweise von >produktiver< und >reproduktiven Einbildungskraft in die Aufklärungsepoche ebenso vermieden,8 wie eine Deutung der Geschichte der Einbildungskraft mit dem Grundschema der »Dialektik der Aufklärung< 9 als historisch unzureichend ausgeschlossen wird. Vielmehr wird gezeigt, inwiefern in den einzelnen Wissensgebieten um 1750 die Möglichkeiten und Grenzen von Funktion und Wirksamkeit der Einbildungskraft abgesteckt wurden. In dieser Hinsicht soll die wissenschaftshistorische Betrachtung die Problemstellungen und deren Lösungsstrategien eines bestimmten Zeitabschnitts herausarbeiten und damit

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Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubens-Kritik. Tübingen (= Studien der deutschen Literatur. Bd. 119); und auch W. Sparn (1985), Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: Rudolf Vierhaus (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen, S. 18 — 57. Dies geschieht vor dem Hintergrund des großangelegten Projektes des Historischen Wörterbuches der Philosophie (Basel 197iff.), herausgegeben von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, und auch der von ihnen und H.-G. Gadamer mitherausgegebenen Zeitschrift Archiv für Begriffsgeschichte (i955ff.), sowie das von A. O. Lovejoy begründete Journal of the History of Ideas (I94off.). — Die Überschneidungen der Begriffsgeschichte mit der Ideen-, Philosophie- und Geistesgeschichte und den daraus entstehenden Problemen legt M. Richter (1987) in dem Aufsatz Begriffsgeschichte and the History of Ideas (In: Journal of the History of Ideas 48, S. 247-263) dar. Diese hat Panajotis Kondylis als die Grundbegriffe der Aufklärungsepoche bestimmt; vgl. Kondylis (1986), Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München. Eine von Viettas Grundfragen ist, ob die Einbildungskraft noch an ontologische Prinzipien gebunden oder ob sie selbst zum Prinzip geworden sei, weil sie aufgrund eigener Gesetze Wirklichkeiten produziere - eine Frage, mit der die Vielfalt der Problemkonstellation um 1750 nicht erfaßt werden kann; vgl. Vietta (1986), S. 2 — 3. So geschieht es bei Christian Begemann, der in den verschiedenen Wirkungen der sinnlich bestimmten Einbildungskraft das Irrationale entdeckt, das von der Vernunft selbst als ihre notwendige Kehrseite produziert werde. Damit ist die Einbildungskraft jedoch nur in dialektischer Opposition zur Vernunft historisch verifizierbar und ihr um 1750 theoretisch neu fundiertes Verhältnis zu den Empfindungen, die anstelle der Vernunft als Quelle und Maßstab der Wirkungen der Einbildungskraft angesehen wurden, bleibt unbeachtet. Vgl. Begemann (1987), Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/ M. 1987, bes. Kap. 6, S. 257ff. Ganz ähnlich hat bereits W. Promies in seiner Untersuchung Der Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie (Frankfurt 1987 [l. Aufl. München 1966]) argumentiert, bes. Kap. 4, S. 169 — 227.

die zunehmende Professionalisierung der vordisziplinären Anthropologie aufhellen.10 Hierbei ist einzuräumen, daß der Begriff der Einbildungskraft bereits in der Frühaufklärung als Grenzgänger und Überläufer zwischen den verschiedenen Wissensbereichen von Philosophie, Vermögenspsychologie, Physiologie, Poetik und Ästhetik fungierte. Denn ein psychologisch wie nervenphysiologisch, ein ästhetisch wie moralisch so problematisches Vermögen, das eine andere, ästhetisch wahre Welt wie auch Wahnvorstellungen hervorbringen konnte, forderte ganz unterschiedliche Autoren zu Austausch und Beschäftigung mit bereichsübergreifenden Fragestellungen heraus. In dieser Hinsicht stützte sich etwa die Medizin auf philosophische Modelle des psychophysischen Zusammenhangs, während die Vermögenspsychologie an nervenphysiologische Theorien der Empfindung oder die Poetik an die zeitgenössische Psychologie anknüpfte. Solche Überschneidungen und Bezugnahmen weisen darauf hin, daß die Zuständigkeitsbereiche für die Funktionsbestimmung der Einbildungskraft um 1750 durchaus nicht klar abgegrenzt waren. Vielmehr läßt sich daran die allmähliche Ausdifferenzierung der einzelnen Wissensgebiete zu eigenen wissenschaftlichen Disziplinen verfolgen,11 die durch die eminente Zunahme des empirischen Wissensbestandes maßgeblich befördert wurde. Ausdifferenzierung bedeutete nicht nur Spezialisierung eines Teilgebietes aus einem Wissenszusammenhang, sondern auch die Zusammenführung verschiedener Wissensbereiche als variable Einheiten zu einer neuen Fachdisziplin. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden Anthropologie, Ästhetik und Physiologie als neue wissenschaftliche Disziplinen. Die Ästhetik bildete sich in Auseinandersetzung mit Metaphysik, Logik und Rhetorik zu einer philosophischen Disziplin heraus. Die Anthropologie konstituierte sich aus der Verbindung von physiologischen mit psychopathologischen und philosophischen Konzepten. Die Erforschung

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Deshalb schließt die begriffsgeschichtliche Analyse die Untersuchung der Funktion dieser Begriffe in den verschiedenen Wissensgebieten ein. So hat es Heiner Schultz im Anschluß an R. Koselleck formuliert, wenn auch letzterer - anders als in der vorliegenden Untersuchung — die Begriffsgeschichte als methodische Hilfe für die Sozialgeschichte ansieht; vgl. Schultz (1978), Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte. In: Koselleck (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Stuttgart (= Sprache und Geschichte. Bd. i), S. 43-74, hier S. 44; vgl. auch den Beitrag von Koselleck, ebd., S. 19-36. Diesen Prozeß der Ausdifferenzierung von Einzeldisziplinen aus einem Klassifikationssystem der Wissenschaft seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hat Rudolf Stichweh am Beispiel der Physik in Deutschland beschrieben. Mit der Herausbildung von wissenschaftlichen Disziplinen gehe einher, daß sich der bestehende »invariante Katalog von Wissensgebietefn]« neu ordnet und als ein System von »historisch variablen Einheiten« organisiert, für die eine »unaufhörliche innerorganismische Dynamik« charakteristisch sei. Vgl. Stichweh (1984), Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland. 1740-1890. Frankfurt/M., hier S. 13.

des ganzen Menschen konnte weder der Medizin mit ihren großteils mechanistischen Menschenbild noch der Philosophie allein überlassen werden. Dieser Prozeß wurde in der Forschung treffend als »verschwisterte Genese von Anthropologie und Ästhetik« seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bezeichnet, 12 deren Spezialisierungen auch als »Simultaninnovationen« 13 beschreibbar sind. Die Debatten über die Einbildungskraft um 1750 müssen als Teil dieses Prozesses betrachtet werden. Demnach schließt die Frage nach ihrer jeweiligen Perspektivierung auch die Disziplingeschichte von Anthropologie und Ästhetik im 18. Jahrhundert ein. 14 Die Arbeit ist in zwei große Teile gegliedert. Der erste Teil, dessen Notwendigkeit sich erst im Laufe der Untersuchungen ergab, befaßt sich mit vier Positionen zur Einbildungskraft um 1700. Ausgehend von zeitgenössischen Definitionen in den Lexika von Johann Georg Walch und Johann Heinrich Zedler (Kap. I) werden verschiedene Varianten der moralistisch-sensualistischen, der rationalistischen sowie der ästhetischen Kontrollierbarkeit des ambivalenten Vermögens der Einbildungskraft ausgeführt. Als folgenreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben sich hauptsächlich die Positionen von Christian Wolff, Anthony Ashley Cooper Shaftesbury und Nicolas Malebranche erwiesen. Die Leibniz-Wölfische Vermögenspsychologie von oberen und unteren 12

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Vgl. L. Bornscheuer (1985), Zum Bedarf an einem anthropologiegeschichtlichen Interpretationshorizont. In: G. Stötzel (Hg.), Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. 2 Teile. Berlin, New York, Teil 2, S. 420—438, hier S. 436 u. 428. Bornscheuer verbindet mit dem historischen Befund das Ziel, die systemtheoretisch orientierte Sozialgeschichte der Literatur um einen anthropologiegeschichtlichen Ansatz zu erweitern. Während dieser Ansatz die kompensatorische Funktion der »gefühlvollen Phantasie« (S. 428) in einer funktional-differenzierten Gesellschaft im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts historisch verifiziert und sich eine methodische Orientierung von der Literatur des 18. Jahrhunderts für eine neue »anthropologische Interpretations-Topik« (S. 438) verspricht, versucht die vorliegende Arbeit, die Geschichte der Anthropologie im zeitgenössischen Wissenskontext zu erforschen. Vgl. O. Marquard (1980), Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. In: Fabian/Schmidt-Biggemann/Vierhaus (Hg.), Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. München (= Studien zum 18. Jahrhundert. Bd. 2/3), S. 193-209, hier S. 195. Rudolf Vierhaus beobachtet einen Rückgang der Ideengeschichte der einzelnen Wissenschaften zugunsten einer Wissenschafts- und Disziplingeschichte, die über die Betrachtung von Lehrmeinungen und Leitideen hinaus Fragen »nach der Entwicklung der einzelnen Disziplinen bzw. bestimmter Disziplingruppen [...], nach Abhängigkeiten von Philosophien und Leitdisziplinen, von Ideologien und intellektuellen Moden« stellt; vgl. Vierhaus (1991), Probleme und Methoden der Wissenschaftsgeschichte. In: Bödeker/Hinrichs (Hg.), Alteuropa — Ancien Regime — Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung. Stuttgart-Bad Cannstatt, S. 201-214, hier S. 202.

Erkenntniskräften verpflichtete die Einbildungskraft auf die logico-ontologischen Prinzipien, die von Johann Christoph Gottsched auch auf die Neukonzeption der Poetik angewendet wurden (Kap. II). Nach Shaftesbury konnte die Einbildungskraft sowohl den Launen und Affekten des Menschen unterliegen, damit zu Schwärmerei und Fanatismus führen, als auch durch Selbstaufklärung - auf Grundlage des >moral sense< - zu einem vernünftigen Enthusiasmus< geläutert werden. Auch hier boten sich Anschlußmöglichkeiten für die Ästhetik, wie sie Joseph Addison und auch die Schweizer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger mit der Auffassung einer affektiven Steigerung der gleichfalls rational gebundenen Einbildungskraft zum Vergnügen des Publikums vertraten (Kap. III). Der Cartesianer Malebranche schließlich unterzog die Einbildungskraft einer detaillierten ätiologischen Analyse, obwohl er sie wegen ihrer Irrtumsanfälligkeit verurteilte und darum der Kontrolle der Vernunft überantwortete (Kap. IV). Im 18. Jahrhundert jedoch wirkte weniger dessen Imaginationskritik als die Erforschung der von individuellen physischen wie von äußeren Faktoren abhängigen Einbildungskraft. Der doppelt so umfangreiche zweite Teil der Arbeit ist systematisch nach den einzelnen Wissensgebieten von Physiologie bzw. philosophisch orientierter Medizin (Kap. I), Psychologie (Kap. II), Poetik und Ästhetik (Kap. III) geordnet. Auf den engen Austausch zwischen den benannten Gebieten wird in den Kommentaren und Anmerkungen hingewiesen, weitere Querverweise ergeben sich aus dem Namensregister. In den skizzierten Positionen um 1700 hielt man die affektive Einbildungskraft durch ihre Unterwerfung unter die Herrschaft der Vernunft oder durch ihre Annäherung an rationale Normen für kontrollierbar. Diese Auffassung veränderte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts entscheidend. Auf der Grundlage einer umfassenden »Rehabilitierung der Sinnlichkeit«, 15 die auch eine Aufwertung der Einbildungskraft zur Folge hatte, wurde dieses Vermögen zunehmend weniger im Verhältnis zu den logischen Prinzipien der oberen Erkenntniskräfte beurteilt. An diese Stelle trat die programmatische Untersuchung ihrer Verbindung mit den >dunklen< Seiten der Seele, mit den Sinnen und Affekten. In den meisten Abhandlungen um 1750 wurde folglich die Einbildungskraft im Verhältnis zur psychophysischen Natur des Menschen bestimmt, aus der sie entstand und mit der ihre Wirkungen in Einklang zu bringen waren. Als eines der Hauptprobleme stellte sich die Verwechslung von Empfindungen und Einbildungen — mit den harmlosen Folgen von Schwärmerei und Phantasterei oder hartnäckigeren Formen von Wahnsinn und >RasereiEmpfindeleiEinbildungEinbildungskraft< und auch >Phantasie< als Synonyme gebraucht.'4 Die Wirkung der Einbildungskraft sind »Einbildungen« oder »Phantasien« (W I, 941; Z 533). Diese werden im Artikel »Einbildung« in drei Modi gegliedert: in »sinnliche«, »ingenieuse« und »judicieuse« (ebd.). »Sinnliche Phantasien« werden definiert als vergegenwärtigende Vorstellungen von »empfundenen, dem Gedächtniß eingedruckten Eigenschaften einer Sache«, die durch »eine genaue Erinnerung« (W I, 941) in unseren Sinnen Lust oder Unlust erzeugten. Diese Definition bezieht die sinnlich-reproduktive Seite der Einbildungskraft auf das Gedächtnis: die Vorstellungen vergegenwärtigen die im Gedächtnis aufbewahrten Merkmale der Sinnesdaten und erzeugen dadurch Affekte. Wie aber die Merkmale von Sinnesempfindungen ins Gedächtnis gelangen und dort >eingedrückt< werden und wie Affekte entstehen, wird weder bei Walch noch bei Zedler einer Analyse unterzogen. Der Akzent liegt vielmehr auf dem reproduktiven Charakter der so bezeichneten »ideas imaginatiuas«.' 5 Die zweite Art der genannten Phantasien, die »ingenieusen«, bezieht sich auf die >produktive< Seite der Einbildungskraft. Im Unterschied zu ersteren hat sie ihre Voraussetzung nicht in der sinnlichen Wahrnehmung, sondern besteht darin, daß »das Ingenium seine eigenen Vermuthungen und Erdichtungen dem Gemiithe dermaßen als gegenwärtig vorstellet, daß es sich darüber vergnüget, oder quälet, wie solches ingenieuse Leute, die von lebhafter Imagination sind, insonderheit bey Lesung der Romanen empfinden« (ebd.). >Sinnliche< und >ingenieuse Phantasien< unterscheiden sich also nicht in der Wirkung auf das Gemüt, sondern in der menta14

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Vgl. W II, 391; Zedler, Bd. XXVII, Sp. 1741. Wird die Phantasie als »Kraft der Seele«, als Vermögen aufgefaßt, gilt für sie das Gleiche wie für die Termini Einbildungskraft und Imagination. Folglich beziehen sich Walch und Zedler in den Artikeln zur »Phantasie« explizit auf das unter dem Stichwort »Einbildungskraft« Gesagte. Nur Walch weist in der vierten Auflage von 1775 im Artikel »Einbildungskraft« auf einen differenzierten Gebrauch bei »den Neueren« hin: i. die »Phantasie« als Vermögen der aktualisierenden Vergegenwärtigung eines empfundenen, aber abwesenden Gegenstandes, 2. »Imagination« als »wirkliche Vorstellung von solchen Gegenständen« und 3. »Phantasma« als das Objekt der Phantasie (W I, 942). Eigene Einträge zu den Begriffen »Imagination« und »Phantasma« gibt es bei Walch und Zedler nicht. W I, 941, im Original hervorgehoben.

len Voraussetzung der Wirkung. Jene sind aus sinnlichem Material verarbeitete reproduzierte Vorstellungen, diese aber >Erfindungen< ohne notwendigen Realitätsbezug. Der dritte Modus der >Einbildungen< sind >judicieuse PhantasienGemüt< des Menschen. Auf Grundlage der Unterscheidung der drei Modi von Einbildungen werden nun Tätigkeit und Wirkung der Einbildungskraft definiert. In der Version Walchs heißt es: Einbildungskraft wird im lateinischen Imaginatio genennet, wodurch man insgemein eine Kraft der Seele, die Bilder der äußerlichen und in die Sinne fallenden Sachen anzunehmen, selbige zusammen zu setzen und von einander abzusondern, verstehet. [...] Es ist die Imagination eigentlich eine Kraft, dadurch ein Mensch die Ideen der Sachen, die Vermuthungen und Erdichtungen des Ingenii, ingleichen die Gedanken des Judicii nicht allein merket, sondern auch dieselben nach allen ihren Eigenschaften dem Gemüth, insonderheit auch dem Willen, als gegenwärtig und als etwas reeles vorstellet, also daß wir über solche Vorstellungen eine Belustigung, oder einen Ekel, eine Begierde, oder Aversation empfinden, welche wir hingegen nicht empfinden würden, wenn wir die Objecte aller der gedachten Gemüthswirkungen als abwesend, und als solche, die uns wenig oder nichts angehen, betrachten würden.' 6

Die Definition ist zweigeteilt. Im zweiten Teil wird die benannte Unterteilung der >Phantasien< aufgegriffen. Ansonsten liegt der Akzent auf der aktualisierenden, lebhaften Wirkung der Einbildungskraft, womit sie die Verbindung zu den Affekten herstellt. Damit besteht die Funktion der Einbildungskraft nicht in einer Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Verstand; auch erstreckt sich ihre Leistung nicht nur auf die Gedächtnisfunktion des Speicherns und Erneuerns von Vorstellungsinhalten. Vielmehr geht es um die Vergegenwärtigung von Vorstellungen mit dem Ziel, Affekte zu erregen. Doch der erste Teil der Definition weicht deutlich von dieser Auffassung ab. Die Einbildungskraft gilt als Tätigkeit, die für die Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesdaten verantwortlich ist. Wahrnehmungsbilder werden durch die Be16

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W I, 942. Dieselbe Passage finder sich bei Zedler, Z 533. Der letzte Satz jedoch steht nur bei Walch.

dingung der Einbildungskraft apperzipiert, zerlegt und neu verbunden. Die Imaginationstätigkeit geht auf sinnliche Wahrnehmungen zurück und ist insofern vom Verstand unterschieden. Demnach werden in den beiden Teilen der Definition zwei ganz verschiedene Aspekte der Einbildungskraft hervorgehoben: einmal ihre Wirkung auf den Willen, das andere Mal die Organisation von Sinnesdaten, ihre Selektion und neue Kombination. Obwohl beide Arten als Kraft (der Seele) bezeichnet werden, stehen die beiden Definitionen doch im deutlichen Widerspruch zueinander. Die unterschiedlichen Richtungen werden auch im weiteren Verlauf der Artikel bestätigt, da >sinnliche< und >ingeniöse Phantasien< verworfen und zugunsten der >iudiciösen< favorisiert werden. Wie kann aber dann die Imagination auf sinnliche Wahrnehmungen bezogen sein? Über den Widerspruch erhält man einigen Aufschluß durch einen Blick in die von Walch und Zedler angeführten Quellen. Im Anschluß an die erste Teildefinition werden neben dem Jenenser Theologen Johann Franz Budde (1667 —1729) der Cartesianer Nicolas Malebranche (1638-1715), Andreas Rüdiger (1673-1731) und Walch selbst zitiert. Nach der zweiten Definition, an die eine klare Funktionsbestimmung der Einbildungskraft für die Morallehre angeschlossen ist, wird nur ein Gewährsmann angeführt: »Müller in den Anmerkungen über Gracians Oracul Max. 24«. I7 Diesem Hinweis lohnt es sich nachzugehen.

2. Graciän-Rezeption aus zweiter Hand: A. F. Müllers Annotationen zur Einbildungskraft In der zitierten Quelle, des von August Friedrich Müller (1684 — 1761) übersetzten Oraculo manual (1647) des Jesuiten Baltasar Graciän (1601 — 1658), findet sich die 24. Maxime unter dem Titel: »Von der klugheit seine einbildungskraft zu regieren«. Die Besonderheit der Müllerschen Übersetzung sind die an die einzelnen Maximen anschließenden Anmerkungen, die das aphoristische >Brevier der Lebensweisheit um mehr als das Zehnfache des ursprünglichen Umfangs anschwellen lassen. Das hat dem Leipziger Philosophen A. F. Müller, der in heutigen Philosophiegeschichten und Enzyklopädien nicht der Erwähnung für wert gehalten wird, zum Teil harsche Kritik eingetragen: Nach Schopenhauer überträfen seine Anmerkungen zu den Maximen »an Langweiligkeit alle Vorstellung«, die

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W I, 941, 943; Z 533, 534. Die bei Walch und Zedler zitierten Textstellen befinden sich in den beiden geprüften Auflagen von Müllers Übersetzung Gracians Handorakel (1715-1717; 2. Aufl. 1733) allerdings auf den S. 147-150 Mitte und nicht, wie in beiden Lexika angegeben, auf S. 155 und 153. Vermutlich wurde der Fehler bei Walch von Zedler übernommen; andernfalls müßte es noch eine andere Ausgabe von Müllers Übersetzung des Handorakels gegeben haben, die aber nicht ausfindig gemacht werden konnte. 21

weitschweifige Textparaphrase< sei »heut zu Tage [...] in jeder Hinsicht unbrauchbar« l8 oder — wie es dann hundert Jahre später in der Graciän-Dissertation von Knut Forssmann wieder heißt — »wegen ihrer Umständlichkeit für den heutigen Leser völlig ungenießbar«. I9 Wie brauchbar diese Anmerkungen allerdings zur Zeit Müllers waren, zeigt die vorbehaltlose, größtenteils wortwörtliche Übernahme des neunseitigen Textes von Müller in die Lexika Walchs und Zedlers.20 Nur das Ende von Müllers 24. Anmerkung, wo er die Verhaltensregeln für einen tugendgemäßen Gebrauch der Einbildungskraft darlegt und auf Übersetzungsfragen eingeht, findet sich bei den Kompilatoren nicht wieder. Außerdem wurde bei Walch und Zedler das erste Viertel der Müllerschen Textvorlage in zwei gesonderte Artikel unter den Lemmata »Einbildung« und »Einbildungskraft« aufgeteilt.21 Folglich war diese Anmerkung zur Einbildungskraft bestimmt keine langweilige Marginalie. Sie lieferte vielmehr eine konzise moralistische Position der Einbildungskraft. Deshalb wurde sie auch von Walch und Zedler in das lexikalisches Wissen der Zeit aufgenommen und damit einer breiteren Allgemeinheit zugänglich gemacht. Allerdings umfaßt der kompilierte Müllersche Text nur etwa die Hälfte des gesamten Artikels bei Walch und Zedler, so daß die Vermutung naheliegt, daß von diesen noch mindestens ein weiterer Text zur Imagination als Vorlage genutzt wurde. 22 Die Konstellation Müller-Walch-Zedler ist charakteristisch für einen schwer rekonstruierbaren Rezeptionsvorgang, da ohne geltendes Urheberrecht Texte vielfach kopiert und willkürlich verändert wurden; das trifft in besonderem Maß für Lexika zu, in denen die Autoren der in der Regel nicht signierten Artikel nur selten zu verifizieren sind. So werden die ursprünglichen Ideen, wie in diesem Falle Ideen Graciäns, durch Übersetzungen — nicht selten »aus zweiter Hand« 23 -.durch Kommentierungen und Kompilationen eigenmächtig modifiziert, verschliffen und in neuen Kontexten präsentiert, daß sie zwar weitertradiert lS

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Vgl. Bibliographischer Anhang zu Arthur Schopenhauers Übersetzung von Balthaiar Gradans Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit (Leipzig, 2. Aufl. 1895), Schreiben an den Verleger Johann Georg Keil, S. 167. Die erste Auflage der schon 1831/32 fertiggestellten Übersetzung Schopenhauers — immerhin der bis heute verbindlichen und meist aufgelegten - erschien 1862 bei Brockhaus in Leipzig (ebd., S. 178). K. Forssmann (1977), Baltasar Gracian und die deutsche Literatur zwischen Barock und Aufklärung. Barcelona, S. 203. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, daß sich A. F. Müller entweder als Autor bei Walch, möglicherweise auch bei Zedler — zumindest für die erste Hälfte des Artikels - verpflichtet hatte, oder aber, daß sein Text kopiert wurde. Müller (1733), S. i47f.; W I, 941; Z 533. Mit dieser Aufteilung wurden Unstimmigkeiten und Längen in Müllers Text bereinigt. Kompilationen aus verschiedenen Texten zeigen sich meistens an widersprüchlichen Nahtstellen, die auch die Artikel zur Einbildungskraft bei Walch und Zedler aufweisen, worauf im einzelnen noch einzugehen ist. S.u., Teil I, Kap. 1.3. Vgl. v. Stackelberg (1984), Übersetzungen aus zweiter Hand. Rezeptionsvorgänge in der europäischen Literatur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Berlin, New York,

werden mögen, während ihre Urheberschaft aber in den Hades der Geschichte eingeht. Die Müllersche Übersetzung des Handorakels steht im Kontext der schon eine Generation andauernden Gracian-Rezeption, die in Frankreich durch Nicolas Amelot de la Houssaies (1634-1706) vielfach neu aufgelegte Übertragung mit dem Titel L'Homme de Cour (1685) initiiert wurde. Als bedeutendster Vermittler der Ideen Graciäns in Deutschland gilt der Hallenser Rechrsgelehrte und Philosoph Christian Thomasius (1655-1728). In seiner berühmten deutschen Antrittsvorlesung, dem Discours Von Nachahmung der Franzosen (i687/ 1701), zitierte Thomasius ausführlich aus den Schriften Gracians,24 dem er seinem Discours widmete. Thomasius steht für eine »antirationalistische Strömung« 2 5 in der Philosophie, die liebesethisch-»tugendempfindsame« 26 und naturrechtliche Elemente in die praktische Philosophie einführte und dadurch das rationalistische System der Weltweisheit grundlegend reformierte. 27 Die immensen Auflagenzahlen und zahlreichen Übersetzungen von Gracians Schriften

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- dem El Discreto (1646), dem bereits genannten Oraculo manual

Kap. IV: Baltasar Gracian und das »Je ne sais quoi«. Amelot de la Houssaie als Vermittler des Oraculo manual, S. 91-124. P. Hazard (1939), Die Krise des europäischen Geistes. 1680—1715. Hamburg, S. 2iif.; Forssmann (1977), S. I54ff.; W. Schneiders behauptet allerdings umgekehrt, daß der Graciän-Einfluß auf Thomasius meist überschätzt würde; vgl. ders. (1971), Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim, New York, S. 182 mit Anm. 68. Eine positive Rezeption des >klugen Weltmannsschöner Literatur< im 18. Jahrhundert. Tübingen; vgl. außerdem das Kap. II, 3 zu Thomasius bei Forssmann (1977), der aber über die Ergebnisse von Schneiders (1971) nicht hinauskommt. Vgl. zu politischen Klugheitslehren am Ende des 17. Jahrhunderts wie zur Wirkung Thomasius' in Deutschland R. Grimminger (1980), Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen. Über den notwendigen Zusammenhang von Literatur, Gesellschaft und Staat in der Geschichte des 18. Jahrhunderts. In: ders. (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 3.1, S. 15-99, hier S. 33ff; W. Barner (1970), Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen, S. 124—133; U. Geitner (1992), Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen (= Communicatio. Bd. i).

(1647) und dem El Crificon (1651 — 1657) — ins Französische, Englische, Italienische und Deutsche zeigen die Popularität des spanischen Autors bei dem europäischen gelehrten Publikum. 28 Das Handorakel war eine der beliebtesten brevierartigen Verhaltenslehren der europäischen Hofliteratur.29 Im Deutschland der Frühaufklärung wurden relativ unabhängig voneinander vier verschiedene Übersetzungen des Handorakels verlegt. Die beiden wichtigsten Übertragungen ins Deutsche sind die von Christian Weisbach auf Grundlage der berühmten französischen Übersetzung von Amelot de la Houssaie mit einem Vorwort von Thomasius ( i 7 i i ) i 0 und die bereits erwähnte Übersetzung von August Friedrich Müller aus dem spanischen Original (1715 —1717). 31 Ob Müller durch Thomasius oder durch seinen Lehrer, dem Philosophen und Mediziner Andreas Rüdiger, der seinerseits deutlich von Thomasius' Philosophie geprägt war,32 oder auf einem anderen Weg zu den Schriften Graciäns 28

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Forssmann (1977) schränkt die Publikumswirksamkeit Graciäns in Deutschland im frühen 18. Jahrhundert weitgehend auf akademische Kreise ein, kann aber auch eine breitere Rezeption in bürgerlichen Kreisen (das Publikum der Moralischen Wochenschriften) belegen (ebd., S. 234ff.). Daran schließt sich D. Briesmeier (1990) in seinem Aufsatz Die Rezeption der spanischen Literatur in Deutschland im 18. Jahrhundert (In: Das 18. Jahrhundert 8.2, S. 173 — 197, hier S. i8of.) an. Vgl. v. Stackelberg (1984), S. io4f. Balthasar Graciäns Homme de cour, Oder: Kluger Hof- und Welt-Mann, nach Monsieur Amelot de la Houssaie seiner französischen Version ins Teutsche übersetzt, von Silentes [= Christian Weisbach], Nebst Herrn Christian Thomasii, judicid vom Graciän, 2. Auflage, welche durchgehends mit grossem Fleiss aufs neue übersehen, und an vielen Orten verbessert worden. Augspurg (verlegts bei P. Kühtze) 1715. Die erste Auflage von 1711, unter dem Pseudonym Selintes, hatte vermutlich das französische Exemplar von 1710, das auch bei Kühtze in Augsburg verlegt wurde, zur Vorlage. Balthasar Graciäns Oracul (1715— 1717), Das mit sich führen, und stets bey der hand haben kan, Das ist: Kunst-Regeln der Klugheit, vormahls von Herrn Amelot de la Houssay unter dem titel, L'Homme de Cour ins Frantzösische anietzo aber Aus dem Spanischen Original welches durch und durch hinzu gefüget worden, ins Deutsche übersetzet, mit neuen Anmerkungen von D. August Friedrich Müllern. Leipzig. Diese Ausgabe wird im folgenden als MG mit Seirenzahl in ( ) zitiert. — Im Meusel (Bd. 9 (1809), S. 378) wird das Erscheinen der drei Centurien abweichend auf 1716—1719 angegeben, was ein Beleg für eine weitere, bis jetzt nicht nachgewiesene Ausgabe sein könnte; die 2. Aufl. dieser Ausgabe erschien 1733 m Leipzig. — J. v. Stackelberg (1984) weist an einzelnen Formulierungen nach, daß A. F. Müller an schwierigen Stellen trotzdem die französische Übersetzung zugrunde gelegt hat (S. 91 — 124). — Von Graciäns Oräculo existieren zwei weitere Übersetzungen ins Deutsche, die eine von Joh[ann] Leonhard Sauter (2., verm. Aufl. Frankfurt, Leipzig 1687), die andere von Christoph Heinrich [von] Freiesleben. (Altenburg 1723). - Das Verhältnis der angeführten Übersetzungen zum Original und untereinander beschreibt K. Forssmann (1977), S. 272 — 282; v. Stackelberg (1984) spricht von einem »Mischmasch« der letztgenannten Übersetzung aus vorherigen Versionen (S. 97). Vgl. W. Röd (Hg.) 1984, S. 260. Zum Verhältnis Rüdiger-Thomasius und zu Rüdigers frühem >sensualistischen< Ansatz in der Philosophie vgl. Kondylis (1981), S. 553; und Schneiders (1971), S. 302.

geführt wurde, muß hier offen bleiben. Wichtig für den Zusammenhang dieser Arbeit ist Müllers klare Pointierung der moralistischen Perspektive der 24. Maxime des Handorakels. In seiner diesbezüglichen Anmerkung funktionalisiert er die Einbildungskraft im Kontext der politischen Klugheitslehre für einen moralpragmatischen Zweck. Ihre Aufgabe für die Morallehre begründet er in drei Argumentationsschritten, die von Walch und Zedler übernommen worden sind. Der erste Schritt ist die Zuordnung der Einbildungskraft zum Verstand. Während Walch und Zedler sie explizit als »eine besondere Kraft des Verstandes« bezeichnen,33 zeigt Müller eine Art Genese der Einbildungskraft auf. Er unterscheidet drei »hauptfähigkeiten« des menschlichen Verstandes: das »gedächtniß«, die »erfindungs-kraft« und die »beurtheilungs-kraft«, die miteinander in »enge[r] gemeinschaft« stünden (MG 147). Erst aus dieser spezifischen Verbindung entstehe die Einbildungskraft als »besondere eigenschaft eines lebhaften Verstandes« (ebd.), um die unterschiedlich qualifizierten Vorstellungen lebendig und wirklich zu machen, woraus »begierde« oder »abscheu« resultierten (MG 148). Dieser Sachverhalt bedarf der Klärung. In der Umverteilung der Erkenntnisvermögen gehört die Einbildungskraft zwar dem Verstand an, beansprucht aber, eine kombinierte oder synthetische Kraft des Verstandes zu sein, und steht nicht - wie etwa in der Wölfischen Psychologie - auf derselben Stufe wie die >niederen< Erkenntnisvermögen Gedächtnis, Erfindungs- und Dichtungskraft. 34 Daraus ergibt sich, daß die Einbildungskraft, obgleich ihre >interne< Untergliederung nicht weniger hierarchisch strukturiert ist,35 als Teil des Verstandes keinen untergeordneten Status einnimmt. Vielmehr ist sie die dynamische Seite des Verstandes, die auf die Affekte des Menschen zielt, gleichwohl selbst nicht affektiv, aber »lebendig« oder »lebhaft« 36 ist. Dies ist der zweite Schritt der Argumentation: Ohne die lebendige Kraft blieben die Wirkungen des Verstandes »schwach, tod, oder ohnmächtig« (MG 149), oder wie 31

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W I, 943; Z 533 (ohne: »besondere«). Müller ordnet die Einbildungskraft eher indirekt dem Verstand zu, wie etwa: »Wenn unser verstand mit keiner einbildungs=kraft begabt wäre [...]« (MG 149). Auf unterschiedliche Orthographie wird im folgenden nicht einzeln hingewiesen, im Zedler lautet die Schreibweise durchgängig »Einbildungs-Krafft«. Vgl. Wolff (1720), Verniinfftige Gedancken Von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen [= Deutsche Metaphysik]. Halle, §§ 235-273. S.u. Teil I, Kap. II.i. Ihre >Phantasien< sind wie ausgeführt in »sinnliche«, >ingenieuse< und >judicieuse< eingeteilt. Diese >vitalistische< Metapher bleibt im ganzen Text das Hauptcharakteristikum der Einbildungskraft: sie ist die lebendige Seite des Verstandes. Zum Verständnis eines solchen vernünftig-lebendigen Vermögens ließe sich Kondylis' Beurteilung der Substanzauffassung bei Andreas Rüdiger, dem Lehrer von Müller, heranziehen: »Die Substanz will er mit Kräften oder Vermögen ursprünglich ausgestattet wissen«, wobei es sich »nicht um eine «materialistische», sondern eher um eine bunte, von «vitalistisch-spiritualistischen Elementen wimmelnde Konstruktion» handle; vgl. Kondylis (1981), S. 553.

es bei Walch erläuternd heißt: ohne dieses Wissen wären sie »doch nur theoretisch und bloße Spekulationen«.37 Denn alle unsere Gedanken [würden] gar bald aus unserem Gemüth wieder verschwinden, oder zum wenigsten von nicht so grossem Eindruck seyn, daß sie wegen der Abwesenheit derer Objecte unseren Willen bewegen würden.'8 [Gott habe] uns den Verstand zu dem Endzweck verliehen, daß wir die als gut, oder böse erkannten Sachen nach dem Maaß solcher Erkenntniß begehren oder fliehen sollen. Folglich ist nach der Absicht Gottes eine lebhafte Einbildungskraft, oder eine feste und beständige Gemüthsimpreßion [...], in so weit es die Vernunft erheischet [...], das Mittel, den Willen des Menschen in die gehörige Regung zu bringen [.. .].39 Die Erregung von >rechtschaffenen< Affekten ist die explizite Funktion der Einbildungskraft. Vorausgesetzt ist hier, daß Verstand und Willen eines vermittelnden Organs bedürfen, um Erkanntes auch in eine Handlungsmotivation umsetzen zu können. Für einen geglückten Handlungsvollzug sind demnach das Zusammenwirken der Verstandeserkenntnis mit dem durch die Einbildungskraft affizierten Willen erforderlich. Das Wirken der Einbildungskraft wird hiermit einerseits auf den Zweck vernünftig-moralischen Handelns festgelegt, andererseits artikuliert sich darin aber auch eine implizite Kritik an spekulativen Systemen der Morallehre, die den Praxisbezug von moralischen Normen nicht hinreichend klären. Einbildungskraft wird demnach unter den Vorzeichen der praktischen Philosophie behandelt. In ihrer Mittlerrolle zwischen Verstand und Willen wird ihr ein zentraler Stellenwert eingeräumt. Das bedeutet eine eminente Positivierung dieses Vermögens, insofern es für moralische Zwecke und dem Hauptziel der Philosophie, Glückseligkeit zu befördern, nützlich gemacht werden kann. Im Text wird ihre positive Wirkung zunächst ex negativo, dennoch programmatisch eingeführt: Da sie die Wirkungen des Verstandes erst praktisch werden läßt, könne man sie nicht, nach dem exempel vieler neuer philosophen, so platterdings verwerffen, und sie bloß vor den Ursprung aller thorheit und irrthümer angeben, sintemahl es auch gute und scharfsinnige phantasien giebet.40

" W I, 943. Bei Zedler steht nur »theoretisch«, Z 534. Z 534. Die Formulierung bei Walch ist ähnlich, aber etwas ausführlicher: W I, 942f. •w Zitiert nach Walch, ebd.; ähnlich Müller und Zedler (Z 534). Der »Schläfrigkeit des Gemüts« lasten Müller, Walch und Zedler die Begünstigung des Bösen an, wenn nämlich das als gut oder schlecht Erkannte nicht nach dem Maß der Erkenntnis begehrt oder verabscheut würde (MG 150); W I, 943; Z 534. 40 MG 149. Nur der erste Teilsatz steht auch bei Walch, W I, 942; bei Zedler fehlt diese Rechtfertigung. Das Berufen auf die »neueren Philosophen«, die aber nicht im einzelnen benannt werden, verleitet zu Vermutungen: Es könnte hier Thomasius mit seinen Anhängern gemeint sein; ihnen setzt Müller hier die Verächter der Imagination als Quelle von Irrtum und Aberglauben, dessen prominentester Vertreter der Cartesianer Malebranche ist, entgegen. 58

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Eine solche positive Besetzung der Imagination wird aber eingeschränkt auf »scharfsinnige phantasien« (MG I49)41 - der dritte Schritt in der Argumentation. Denn die »bloß sinnlichen phantasien, ingleichen die blossen phantasien der erfindungs=kraft, [die] ohne reifes urtheil, närrische phantasien sind«, sind nach Müller die Ursache für die »verderbnüß des menschlichen gemüths« (MG 151), nach Walch und Zedler der »Grund aller bösen Leidenschafften und Laster, dahero der Grund alles Unglücks« (Z 537; W I, 948f.). In dieser Hinsicht hängt das Glück des Menschen von einer lebendigen und >wohlregierten< Einbildungskraft ab,42 die auf >reifen Urteilen< oder Klugheit beruht. Die ambivalente Verhaltensregel, die daraus abgeleitet wird, heißt: einerseits Mäßigung oder Unterdrückung, andererseits Bestärkung der Einbildungskraft; 43 und zwar sind die auf Gedächtnis und Erfindungskraft bezogenen Einbildungen »nach und nach abzuschaffen«, 44 die auf die >Urteilskraft< bezogenen hingegen zu verstärken.45 Damit hat die Einbildungskraft eine klar definierte Funktion in der moralpragmatischen und eudämonistischen Konzeption, auf die Graciäns 24. Maxime und die Müllersche Anmerkung hinauslaufen. Die Tugendlehre besteht nicht einfach in einer Mäßigung der Affekte durch die Vernunft, sondern in einer Bestärkung tugendhafter Affekte bei gleichzeitiger Schwächung der lasterhaften. Sofern also die Affekte den Vorgaben der Klugheit des Hofmanns entsprechen und durch lebhafte Vorstellungen begleitet werden, können sie zu tugendgemäßem Handeln gelenkt werden. Durch diese Konstruktion können Affekte auch positiv sein, insofern sie auf das als richtig und gut Erkannte bezogen werden: »Denn ist die Vorstellung judicieus, wird auch der Affect vernünftig seyn«. 46 Das belegt auch Müllers Ideal des Weisen, der im Unter41

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H. P. Herrmann (1970) verweist auf eine noch nicht genauer erforschte Tradition der Zusammenlegung von Phantasie und Urteilskraft, die mindestens bis zu Comenius Der güldenen aufgeschlossenen Thür [...] (1633) zurückreiche (S. 180 mit Anm. 62). Diese Einschränkung der Einbildungskraft auf den Wirkungsbereich der Urteilskraft, obgleich sie vorher gerade als kombiniertes Vermögen definiert worden ist, könnte ein Hinweis auf eine solche Tradition sein. Vgl. Müllers Übersetzung der Überschrift der 24. Maxime (MG 146) und die zweite Zwischenüberschrift seiner Anmerkung: »Daß die einbildungs-kraft nicht zu verwerffen, sondern nur wohl zu regieren sey« (MG 149).

MG i5if.; W I, 9485.; Z 537. MG 152; W 1,948; Z 537. Müller, ebd.; W I, 949; Z 537. Diese wechselseitige Dynamik verdeckt, daß bei Müller in die Definition der Einbildungskraft alle drei Vermögen des Verstandes — das Gedächtnis, die Erfindungs- und die Beurteilungskraft — in ihrer spezifischen Verbindung einbezogen sind. Doch ist diese Textstelle bei Müller unklar, was in der Adaption bei Walch und Zedler aber behoben ist, vgl. die oben zitierte zweite Definition der Einbildungskraft (W I, 942; Z 733). Nur bei Walch, W I, 947. Allein diese Formulierung der »vernünftigen Affekte« kann den Thomasius-Einfluß, auf Walch im besondeten, belegen. Vgl. dazu auch Schneiders (1971), S. 303.

schied rum Gelehrten den »vor wahrhaftig gut« erkannten Dingen »mit feuriger begierde nachzustreben«47 weiß. Problematisch bleibt dabei die Exklusivität der Morallehre. Denn durch die enge Koppelung von Verstand und nobilitierter Einbildungskraft als Bedingung für praktisches Handeln werden die als »bloß sinnlich« und »ingeniös« qualifizierten Beweggründe von vornherein ausgegrenzt. Trotz einer gewissen »Rehabilitierung der Sinnlichkeit bleibt es beim Kampf zwischen positiven und negativen Affekten, der nur durch die an den Verstand gebundene Einbildungskraft zugunsten der positiven Affekte entschieden werden kann. Anders als bei den >moral sense~]4) die Einbildungskraft als eine irreführende, die Wahrheit verfälschende Macht entlarvt und deshalb für die Wahrheitserkenntnis disqualifiziert. Vgl. Malebranche (1914), Erforschung der Wahrheit in drei Bänden Hg. v. A. Buchenau. München, S. 280. Ebd., 2. Buch, 3. Teil, S. 267-315. S.u., Teil I, Kap. IV.3.

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II. Impulse der Psychologie Christian Wolffs für die Begründung der Ästhetik als wissenschaftliche Disziplin

Gegenüber einer moralistischen Instrumentalisierung der Einbildungskraft, wie sie von den Autoren A. F. Müller, Walch und Zedler in der Thomasius-Nachfolge vertreten wurde, vertrat Christian Wolff (1679—1754) zur gleichen Zeit und zunächst von denselben Zentren der Frühaufklärung, von Leipzig und Halle aus, eine ganz anders fundierte Position. Im Unterschied zu Thomasius war Wolff um eine »Systematisierung der Gedanken des Rationalismus, vor allem des Rationalismus Leibnizscher Prägung« 1 bestrebt. In seiner überaus erfolgreichen Schrift Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen (1720), bekannt als die Deutsche Metaphysik? die allein bis 1752 zwölfmal neu aufgelegt wurde, behandelte er die Einbildungskraft im Kontext der Seelenlehre. Die ambivalente Wirkung dieses Vermögens, wahre Vorstellungen zu produzieren oder die Grenzen der vernünftigen Naturordnung zu ignorieren, unterstellte er der Kontrolle der höheren Erkenntniskräfte. Die gleiche Auffassung hat Wolff in seinem von 1728 an lateinisch verfaßten Werk, vornehmlich in der Psychologia empirical (1732) und der Psychologia rational^ (1734), vertieft 1 2

Vgl. W. Röd (1984), S. 238.

Wolff (1983), Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. ND nach der 11. Aufl. Halle 1751 hg. v. C. A. Corr. Hildesheim, New York; im folgenden zitiert als DM mit §§ in (). Ein Vergleich dieser Auflage mit der ersten von 1720 hat ergeben, daß die hier zur Diskussion stehenden Paragraphen nur in wenigen Details voneinander abweichen. Die beiden wichtigsten Kapitel zum Thema Einbildungskraft sind das Kap. 3: »Von der Seele überhaupt. Was wir von ihr wahrnehmen« und das Kap. 5: »Von dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt«. 3 Wolff (1768), Psychologia empirica, methodo scientifica pertracta, qua ea, que de anima humana, indubia experientiae fide constant, continentur et ad solidam universae philosophiae practicae ac theologiae naturalis tractationem via sternitur. Francofurti & Lipsiae. ND nach der 2. Aufl. 1738 [i. Aufl. 1732] hg. u. bearbeitet von J. Ecole. Hildesheim, New York 1968. Im folgenden wird dafür die Sigle PE mit Angabe der §§ benutzt. In dieser Schrift werden die Einbildungskraft, »De Imaginatione« (§§ 91-137), und die Dichtungskraft, »De Facultate fingendi« (§§ 138-172), in zwei getrennten Kapiteln abgehandelt, systematisch eingeordnet zwischen die Kapitel »De sensu« (§§ 56—90) und »De memoria, Oblivione & Reminiscentia« (§§ 173-233)4 In der Psychologia rationalis (1734) werden im dritten Kapitel Einbildungskraft und Gedächtnis zusammen abgehandelt: »De Imaginatione & Memoria«, §§ 178-356.

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und prononcierter ausgearbeitet, ohne jedoch seine früheren Grundgedanken im wesentlichen zu revidieren. 5 Die Deutsche Metaphysik gilt als Wolffs einflußreichste Schrift und gab bis in die vierziger und fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts, ohne eine explizite Ästhetik zu enthalten, dennoch entscheidende Impulse für die Entwicklung der Poetologie und Ästhetik als einer philosophischen Disziplin im deutschsprachigen Raum.6 Während Wolffs Schüler Johann Christoph Gottsched (1700-1766) und Alexander Gottlieb Baumgarten (1714—1762) sowie Georg Friedrich Meier (1718—1777) die Popularisierung seiner Gedanken vorantrieben und diese weiterentwickelten, waren die Züricher Johann Jakob Bodmer (1698-1783) und Johann Jakob Breitinger (17011776) und selbst noch Johann Georg Sulzer (1720—1779) der Wölfischen Psychologie verpflichtet,7 wenn bei diesen auch andere Einflüsse bestimmend wurden. 8

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Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der deutschen und der lateinischen Fassung arbeitet P. Pimpinella (1988) in seinem Aufsatz Imaginatio, Phantasia e facultas Fingendi in Ch. Wolff e A. G. Baumgarten heraus (In: M. Fattori e M. Bianchi (Ed.), Phantasia-Imaginatio. V. Colloquio Internazionale. Roma 9-11 gennaio 1986. Roma 1988, S. 379—414). Die detaillierte Analyse in diesem Aufsatz ist auf textimmanente Probleme konzentriert, liefert aber kaum eine Konturierung der Konzepte Wolffs und Baumgartens in deren philosophiehistorischen und ästhetikgeschichtlichen Kontexten; leider fehlt auch eine forschungsgeschichtliche Auseinandersetzung. 6 Allerdings wird in der Forschung die Leistung Gottscheds und der Schweizer, mit Hilfe der Wolffschen Philosophie die Poetik reformiert zu haben, auch angezweifelt, da sie zu sehr der rhetorischen und christlichen Tradition verhaftet geblieben wären. Vgl. U. Möller (1983), Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und G. Fr. Meier. München, S. 99; R. Meyer (1980), S. 04f. 7 Vgl. L. W. Beck (1969), Early German Philosophy. Kant and His Predecessors. Cambridge/Mass., S. 278 — 288: »The Extension of Wolffianism into the Theory of Art«. Beck reiht aui3er den genannten Autoren noch Moses Mendelssohn in die Strömung des Wolffianismus ein. " Bei Bodmer und Breitinger sind dies vor allem die Tradition der Rhetorik sowie die Milton- und Addison-Rezeption, bei J. G. Sulzer zusätzlich die Anbindung an die zeitgenössische Medizin; s.u. Teil I, Kap. III.3. und Teil II, Kap. 1.1.4. und 11.4. — Die Forschungsliteratur hat Wolffs Einfluß auf die Entwicklung der Ästhetik der Aufklärung wie auf den >Literaturstreit< zwischen Leipzig und Zürich in einer Vielzahl von Einzelstudien aufgearbeitet, so daß ihr kaum mehr etwas hinzuzufügen ist. Dieser Einschränkung der Einbildungskraft auf ästhetisch-poetologische Fragestellungen soll hier jedoch ihre Kontextualisierung in medizinische, moralphilosophische und anthropologische Zusammenhänge an die Seite gestellt werden, woraus sich ein anderes Bild dieses Vermögens um die Mitte des 18. Jahrhundert ergeben wird. Gleichwohl ist Wolffs Position eine wichtige Voraussetzung für die entfachten Diskussionen um die Nachahmung der Natur und die Rechtfertigung des Wunderbaren, die im dritten Kapitel von Teil II der Arbeit thematisiert werden. Dort wird auch die einschlägige Forschungsliteratur angeführt.

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Das folgende Kapitel umreißt Wolffs Konzept der Einbildungskraft, wie er es in seiner Deutschen Metaphysik dargelegt hat. Daran schließt sich die Erörterung von Gottscheds Übernahme zentraler Wolffscher Theoreme an, die er in seinen Schriften Erste Gründe der gesammten Weltweisheit9 (1731) und Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) ausgeführt hat.10

i. Reproduktion — Erdichtung — Erfindung: Wolffs Konzept der Einbildungskraft Wolff entwickelt sein Konzept der Einbildungskraft innerhalb der Psychologie als Teilgebiet der Metaphysik. Die Einbildungskraft gehört wie die Sinnlichheit zu den unteren Vorstellungsvermögen des Menschen, die nur einen eingeschränkten Erkenntnisgrad beanspruchen können. Gemäß der Leibnizschen Hierarchie der Erkenntnisstufen 11 nehmen die Einbildungen den Rang von dunklen Vorstellungen mit geringer Deutlichkeit ein (DM §§ 236-237). Hier ist zunächst der vermögenspsychologische Vorstellungsbegriff von Wolff genauer zu bestimmen. Das Wesen der Seele, die ein »einfaches Ding« (DM § 749) ist, besteht in der Kraft, die Welt vorzustellen (DM § 744, § 748). Sie vermag jedoch nur einen Teil der Welt gemäß ihres Standortes in der Welt vorzustellen (DM § 753). Von dieser »eintzigen vorstellenden Kraft« (DM § 754' § 748) hängen nach Wolffalle Veränderungen in der Welt ab. Von der Vernunft bis zur Empfindung besteht eine feine kontinuierliche Abstufung der Vorstellungsqualitäten bis zu dem Punkt, an dem nichts mehr unterschieden werden kann. Auch der Schlaf bleibt für Wolff noch ein Zustand »dunckeler Empfindungen« (DM § 805). I2 Wolffs Begriffsgebrauch von »Vorstellung« in seinen auf deutsch abgefaßten Schriften gibt ihr ein weites Bedeutungsspek9

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Gottsched (1983), Erste Gründe der gesamten Weltweisheit. [ND nach der 7. Aufl. Leipzig 1762] Berlin, New York; im folgenden zitiert als GW mit §§. Die Wirkung von Wolffs Philosophie ist auch in der 1727 erschienenen Abhandlung Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft von Bodmer und Breitinger deutlich zu erkennen; s.u. Teil I, Kap. III.3. DM §§ 275 — 277. Vgl. die Darstellung des Leibnizschen Schemas im Kommentar von W. Proß in der Edition von J. G. Herder (1987), Werke. Bd. II (München), S. 872^ Hat Leibniz aber die Abstufung der Perzeptionsweisen auf die gesamte Ketten der Wesen bezogen, schränkte Wolff den Vorstellungsbegriff auf die Seele der Menschen und Tiere ein, womit er dessen metaphysische Bedeutung einer psychologischen Deutung unterzog. Vgl. zu diesem Aspekt bereits C. Knüfer (1911), Grundzüge der Geschichte des Begriffs »Vorstellung« von Wolff bis Kant. Halle a.S., hier S. n u. 19. Knüfer (1911) stellt heraus, daß Wolff entgegen Descartes' Theorie - wenigstens implizit — der Annahme von »unbewußten Vorstellungen« (S. 16) Raum gebe, die von Leibniz' Theorie der >petites perceptiones< abgeleitet sei.

trum: sie umfaßt »Empfindung« und »Wahrnehmung« ebenso wie »Gedanke« und »Begriff«. 13 Ziel aber ist es, gemäß dem rationalistischen Lehrgebäude Empfindungen und Einbildungen qua undeutlichen Vorstellungen zu Bewußtsein zu bringen, um dadurch zu einer klaren und distinkten Erkenntnis zu gelangen. Auch die Verbindung von Vorstellungs- und Begehrungskräften wird auf die einige Krafft« in der Seele (DM § 745, § 808) zurückgeführt: »[A]us den Vorstellungen der Seele erwachsen die Begierden [...], und daraus kommet das Wollen [...].« (DM § 815). Das Vorstellungsvermögen umfaßt demnach alle Bereiche der Seele, vom Denken bis zum Empfinden und Begehren. Wie aber ist das Verhältnis von den vorstellenden Kräften und physischen Bewegungen, von Seele und Körper verfaßt? Um dieses Verhältnis zu bestimmen, knüpft Wolff explizit an Leibniz' Metaphysik an (DM §§ 765-767): Wenn die Seele eine Kraft hat, »dasjenige sich vorzustellen, was in ihrem Leibe Veränderungen verursacht« (DM § 760), müssen Seele und Körper zusammenhängen. Daraus folgert er, daß die Empfindungen der Seele gemäß einer »vorherbestimmten Harmonie« mit den »Veränderungen in den Gliedmassen der Sinnen zusammenstimmen« (DM § 767). Wolff weist hier die beiden anderen Erklärungsmodelle des psychophysischen Zusammenhanges als nicht hinreichend begründet zurück: die Theorie des »Influxus physicus«, den Einfluß der Seele auf den Körper und umgekehrt, weil sie zwei Kräfte statt einer voraussetze; die Theorie der Okkasionalisten, weil sie ein »immerwährende[s] Wunderwerk« Gottes nötig mache (DM §§ 762 — 764). Wie aber äußert sich die psychophysische Harmonie bei der Tätigkeit der Einbildungskraft? Wolff lokalisiert die physische Bewegung im Gehirn und behauptet eine genaue Entsprechung zwischen Empfindung und Bewegung des >NervensaftesVerrückung< von Einbildungskraft und Gedächtnis durch einen »außerordentlichen Zustand des Gehirnes«, da »das Gedächtniß und die Einbildungs-Kraft sich nach dem Zustande des Gehirnes richten«, oder allgemeiner: da die »Seele sich hauptsächlich nach den Nerven und dem Gehirne, und der darinnen enthaltnen flüßigen Materie richtet« (DM §§ 813-815). I4 Auch wenn Wolffs Formulierung des »sich richten nach« einen ursächlichen Einfluß des Körpers auf die Seele nahezulegen scheint, wird das Verhältnis dennoch als eine mechanistische Entsprechung von zwei aufeinander abgestimmten Systemen gedacht: immer wenn die Seele tätig ist, korrespondieren ihr bestimmte physiologische Vorgänge.13 Gleichwohl sind Körper und Seele getrennt voneinander. Der Schrecken etwa, der bei gegebenem Anlaß in die Glieder fährt, kann als rein physisches oder rein psychisches Ereignis beschrieben werden (DM §§ 778-779). t6 Welche Rolle spielt nun die Einbildungskraft im Bezug auf die allgemeine Vorstellungskraft der Seele, die eine psychophysische Harmonie einschließt? Wolff definiert: »Die Vorstellungen solcher Dinge, die nicht zugegen sind, pfleget man Einbildungen zu nennen. Und die Kraft der Seele dergleichen Vorstellungen hervorzubringen, nennet man die Einbildungs-Kraft« (DM § 235; PE 14

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Auch die Affekte sind nach Wolff mit einer »ausserordentlichen Bewegung [...] der flüßigen Materie in den Nerven« verknüpft (DM § 444 und § 533), woraus man jedoch nicht den gegenseitigen Einfluß beweisen könne. Wolffs psychophysiologische Auffassungen entsprechen weitgehend denen von Leibniz. Zu den zeitgenössischen medizinisch-philosophischen Kontroversen über das Körper-Seele-Verhältnis vgl. K. E. Rothschuh (1976), Studien zu Friedrich Hoffmann (1660-1742). Zweiter Teil: Hoffmann, Descartes, Leibniz. In: Sudhoffs Archiv 60.3, S. 235 — 270; Rather/Frerichs (1968), The Leibniz-Stahl Controversy — I. Leibniz' Opening Objections to the Theoria medica vera. In: Clio Medica 3, S. 21-40. Zu den institutionellen und personellen Verflechtungen in Halle (v. a. Wolffs Verhältnis zu G. E. Stahl, dessen Nachfolge auf dem Lehrstuhl der gesamten Physik Wolff 1715/ 16 übernahm, wie zu dem Cartesianer und Anhänger des Influxionismus Friedrich Hoffmann) vgl. den Aufsatz von W. Kaiser (1979), Christian Wolff (1679-1754) und die medizinischen Konzeption seiner Zeit. In: Zeitschrift für die gesamte innere Medizin 34, H. n, S. 309 — 317. Wolff führt hier das Beispiel an, daß der Schuß einer Pistole allein durch den Schall bestimmte physische Bewegungen der Nerven und der Muskeln verursache, ohne daß dazu eine Seele nötig sei. Die psychophysische Harmonie setzt die klare Trennung zwischen Körper und Seele voraus.

§ 92). Ausgehend von dieser sehr weitgefaßten Definition unterscheidet er eine reproduktive und eine produktive Seite der Einbildungskraft. Ihre reproduktive Seite geht aus von einer gegenwärtigen Empfindung oder Vorstellung, die mit einer vergangenen Ähnlichkeit hat, und bringt damit die vergangene Empfindung wieder hervor, was Wolff die »Regel der Einbildung« (DM § 238, § 799) nennt. Diese nach Ähnlichkeit und raumzeitlicher Kontiguität von Ideen ablaufende Assoziation benötige nur einen Teil der vergangenen Idee, um diese als ganzes Vorstellungsbild erneut zu evozieren und, sofern diese Vorstellung mit einer weiteren vergangenen Idee verknüpft ist, auch diese wieder als ganze hervorzubringen usw.17 Wichtig für diesen reproduktiven Modus ist es, daß die vorgestellten Dinge nicht in einem logischen Zusammenhang miteinander verknüpft sind (DM §§ 809 — 810), sondern daß die Ideen — wie im Falle des Traumes — unwillkürlich und >ungeordnet< assoziiert sein können (DM § 244, §§ 799-804). Die Reproduktion nach der »Regel der Einbildung« kann damit der realen Ordnung der Dinge auch widersprechen. Die Intensität der reproduzierten Vorstellungen ist gewöhnlich schwächer, in ihnen sei Wolff zufolge eine »grosse Dunckelheit« (DM § 236). Sie könnten aber auch, wenn sie nicht durch gegenwärtige Empfindungen irritiert würden - etwa bei geschlossenen Augen -, eine »grössere Klarheit« (DM § 237) gewinnen. Deshalb würden Einbildungen oft für Empfindun17

DM § 238. Während sich schon im 18. Jahrhundert der Göttinger Philosoph Michael Hißmann mit der Geschichte der Lehre von der Assoziation der Ideen (1777) kritisch auseinandersetzte und Wolffs Vorreiterrolle betonte, arbeitet P. Pimpinella (1988) die Unterschiede zwischen Wolff und Hume heraus: Hume unterscheide drei Gesetze, die Ähnlichkeit, die raum-zeitliche Kontiguität und die Kausalität; Wolff kenne nur die beiden ersten, ohne sie aber zu klassifizieren. Er könne das Verhältnis von Ursache und Wirkung nicht als Regel der Einbildungskraft annehmen, weil er zwischen dem Prinzip des zureichenden Grundes, welches den Zusammenhang der Ideen regelt, und dem, welches den Zusammenhang der Dinge erhält, klar unterscheide (S. 389). Vgl. dazu auch schon D. F. Markus (1901), Die Associationstheorieen im XVIII. Jahrhundert. Halle a.S. (ND Hildesheim u.a. 1985), S. 58f. — H. P. Herrmann (1970) verbindet hingegen die Wölfische »Regel der Einbildung« mit Leibniz' Metaphysik: Wie die Monade in jedem Augenblick das Ganze der Welt nach jeweiliger Perspektive mehr oder wenig deutlich und klar repräsentiere, so werde bei Wolff durch die Regeln der Assoziation ein vergangener »Vorstellungskomplex« durch eine Einzelvorstellung, die sich mit diesem deckt, als Ganzes wieder hervorgerufen usw. (S. 1040. Es ist m. E. jedoch stark zu bezweifeln, daß die Wölfische Assoziationsregel, die auf Ähnlichkeitsbeziehungen von raum-zeitlich entfernten Vorstellungen beruht, eine Übernahme der Monadentheorie von Leibniz darstellt. In dieser liegt der Akzent nämlich auf der Repräsentation des Ganzen durch jede einzelne Monade, gleichgültig aus welcher Perspektive sie das Universum spiegelt. Es geht nicht darum, wie eine Monade von einer partikularen Vorstellung auf das Ganze eines vergangenen Zustandes der Welt schließen könne. - Im Anschluß an Herrmann (1970) weist Vietta (1986) darauf hin, daß die Poetik der Frühaufklärung dieses Theorieangebot Wolffs nicht aktualisiert habe (S. 108), was aber schon im Falle Gottscheds nicht zutrifft: vgl. GW §§891-892 und 1033—1034.

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gen gehalten, was auch beim Traum der Fall sei. Nach Wolff besteht der Traum aus Einbildungen, die vergangenen Empfindungen entspringen. Sie folgen aber nicht der ursprünglichen Ordnung, sondern lösen sie vielmehr durch Assoziationssprünge auf (DM §§ 239 — 240). Wolff spricht der eigenwilligen Dynamik des Traum Vorgangs, der sich nach den Regeln der Assoziation abspielt, zwar die Wahrheitsfähigkeit ab, trotzdem könnten aber die Traumvorstellungen »Klarheit und Deutlichkeit« beanspruchen, weswegen sie auch zu Bewußtsein gelangten (DM §§ 801 — 803).l8 Charakterisiert Wolff die reproduzierten Vorstellungen als dunkel, die aber bei Ausblenden äußerer Reize klarer werden könnten, schreibt er dem Traum von vornherein einen höheren Klarheitsgrad zu, obwohl diesem der Zusammenhang »ordentlicher Gedancken« (DM §§ 803 — 804) wie im wachen Zustand ermangle. Trotzdem kennt er den Fall, daß die Einbildungskraft auch im Wachzustand »das Vergangene klar und deutlich vorstellen kan« (DM § 833), was er dann als eine »starcke Einbildungs-Krafft« bezeichnet. Diese sowie ein »starckes Gedächtniß« führten zu »allgemeiner Erkänntniß« (ebd.).19 Damit ist der epistemologische Wert der Einbildungskraft anerkannt, sofern diese zuvor auf die festgesetzten Wahrheitskriterien ausgerichtet wurde. Fraglich bleibt hier die Differenz zwischen Gedächtnis und Einbildungskraft, wenn diese für die Reproduktion vergangener Vorstellungen zuständig ist. Wolffs Unterscheidung der beiden Vermögen schränkt das Gedächtnis entgegen traditioneller Bestimmungen auf die Funktion des Wiedererkennens der reproduzierten Vorstellungen ein (DM §§ 248-251).20 Demnach ist das Gedächtnis abhängig von der Tätigkeit der Einbildungskraft 21 und fungiert als 18

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DM § 142: »[·.·] so erkennet man hieraus deutlich, daß die Wahrheit von dem Traume durch die Ordnung unterschieden sey« (vgl. auch § 242 u. § 799). Auch in den Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik (Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, und auch allen Dingen überhaupt, Anderer Theil. Franckfurt am Mayn 1726) betont Wolff in § 75, daß der Traum dem Satz des zureichenden Grundes nicht widerspreche, wenn man ihn FORMALITER betrachte, da die Ordnung der Ideen in der Natur der Seele gemäß der »Regel der IMAGINATION erfolge. So ist der These R. Baasners zu widersprechen, Wolff müßte die Träume wegen ihrer Ordnungslosigkeit aus dem »rationalistischen Denkgebäude« ausschließen; vgl. Baasner (1988), Phantasie» in der Naturlehre des 18. Jahrhunderts. Zu ihrer Beurteilung und Funktion bei Wolff, Kästner und Lichtenberg. In: Lichtenberg-Jahrbuch (1988), S. 9-22, hier S. 12. Klare «W deutliche Erkenntnis sind im § 277 explizit nur dem Verstand vorbehalten, so daß die Wendung »zu allgemeiner Erkänntniß« im Sinne einer graduellen Zunahme von niederen zu höheren Erkenntnisvermögen, welche die >starke< Einbildungskraft an den Verstand annähert, zu verstehen ist. Zu anderen zeitgenössischen Gedächtnistheorien sowie zur Kritik N. H. Gundlings, Anhänger Thomasius', an Wolffs Reduktion des Gedächtnisses als Vermögen zur Rekognition s.u. Teil II, Kap. 11.3. Wolff erläutert in diesem Zusammenhang, daß Einbildungskraft und Gedächtnis durch »Übung« erweiterbar seien (DM §§ 262 — 267).

eine Art Beglaubigungsinstanz für die erneuerten Vorstellungen. Es kann damit den gleichen Erkenntniswert wie die epistemologisch aufgewertete Einbildungskraft beanspruchen. Die als produktiv bezeichnete Seite der Einbildungskraft bezieht sich auf Vorstellungen von Dingen, die »wir vorhin noch niemahls empfunden haben« (DM § 241). Erst hier wird die ambivalente Wirkung dieses Vermögens zum Problem. Produziert die Einbildungskraft nämlich neue Vorstellungen, die keine Entsprechung mit gemachter Erfahrung haben, lassen sich nach Wolff zwei »Manieren« unterscheiden. Die eine »Manier« nennte er »Kraft zu erdichten« (DM § 242; PE § 146), die sich auf das Assoziationsprinzip sowie auf Teilen und Kombinieren von bekannten Dingen stützt. 22 Ihre Produkte sind beispielsweise geflügelte Pferde, Melusinen oder Centauren, die Wolff jedoch als »leere Einbildungen]« und »Fehler« disqualifiziert (DM § 242, § 246). So heißt es bei ihm: »Aus dieser Quelle entspringen die Einbildungen der Mahler, Bildhauer und anderer Künstler, die sie durch die Kunst vorstellen, wenn sie allerhand Abentheure zu Marckte bringen« (DM § 244). Demgegenüber hebt er die andere »Manier« der Einbildungskraft, die nach vernünftigen Konstruktionsgesetzen verfährt, positiv hervor und charakterisiert sie mit Hilfe des Bildes vom Architekten. Sie sei die »Kunst zu erfinden der Baumeister« (DM § 240),23 sie »bedient sich des Satzes des zureichenden Grundes, und bringet Bilder hervor, darinnen Wahrheit ist« (DM § 245). Denn ein guter Architekt weiß seine Einbildungskraft richtig anzuwenden, wenn er seinen eigenen Plan mit einem Vorrat an vorhandenen Entwürfen und realisierten Produkten in einen neuen Entwurf gemäß dem »Satz des zureichenden Grundes«, in diesem Fall nach den Regeln der Baukunst, umsetzt und damit »seinen gehörigen Grund zur Vollkommenheit erreichet« (DM § 246). Das Hervorholen und Auswählen von Plänen werde geleitet durch die gegenwärtige Idee, mit der einer der Pläne oder Artefakte »Verwandtschaft« (ebd.) habe.24 Bedeutsam an Wolffs Ansicht ist, daß er die >Erfindungskunst< 25 der Baumeister auch auf andere Künstler sowie Gelehrte ausweitet. Demnach unterscheidet er nicht zwischen einem spezifisch handwerklich-künstlerischen und wissenschaftlichen Gebrauch der Einbildungskraft. 20 Die Arbeit des Architekten gilt als Paradigma für einen 22 23 24 25

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Vgl. PE §§ 139-144. Dem entspricht die »ars inveniendi architectorum« (PE § 149). Vgl. PE §§148-150. »Insofern sei sie nicht gantz zu verwerffen« (DM § 247). Der Erfindungskunst legt Wolff die »Kunst zu schliessen« sowie den »Witz« als dem Vermögen, mit »Leichtigkeit die Ähnlichkeiten wahrzunehmen«, zugrunde (DM § 366). Vgl. hierzu von Verf. (1997), Fiktion und Wirklichkeit in Philosophie und Ästhetik. Zur Konzeption der Einbildungskraft bei Christian Wolff und Georg Friedrich Meier. In: D. Fulda/T. Prüfer (Hg.), Faktenglaube und fiktionales Wissen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne. Frankfurt/M. u.a., S. 25—42.

richtigen Gebrauch der Einbildungskraft, die durch die Logik der Vernunft und allgemeinverbindliche Regeln geleitet ist.27 Der Entwurf von etwas Neuem muß sich rationalen Prinzipien verschreiben und darf sich nicht unwillkürlichen Assoziationen — ähnlich den ungeordneten Vorstellungen von Träumen - überlassen, denen nichts Reales in der Welt entspricht oder entsprechen könnte. Beide »Manieren« beruhen somit auf dem Assoziationsprinzip sowie auf der Teilung und Zusammensetzung bekannter Dinge,28 was nach Wolff einen fehlerhaften, aber auch einen richtigen Gebrauch der Einbildungskraft andeuten kann, je nachdem, ob diese sich ihren zufälligen Ideenverknüpfungen anheimgibt oder gemäß rationalen Prinzipien operiert. Das Resultat von Assoziation und Kombination kann also in den ontologischen Möglichkeiten der Welt enthalten sein oder aber diesen widersprechen. Da auch der konstruktive oder produktive Modus der Einbildungskraft den Prinzipien des ausgeschlossenen Widerspruchs und zureichenden Grundes Folge zu leisten habe, schränkt Wolff diesen auf logisch-vernünftige Regeln ein. Diese Einschränkung basiert auf einem normativen Wirklichkeitsbegriff, der hier kurz zu erläutern ist. Der Satz vom zureichenden Grund bezieht sich auf alles, was »würcklich ist, oder doch in einer ändern Welt würklich werden kan« (DM § 30 § 8n).29 Wirklich werde in unserer Welt, »was in dem Zusammenhang der Dinge, welche die gegenwärtige Welt ausmacht, gegründet ist« (DM § 572),3° zugleich ist alles »würckliche auch möglich« (DM § 15). Das Mögliche dürfe nichts Widersprechendes in sich enthalten, d.h., es ist notwendig an die Bedingungen des Ordnungszusammenhangs der gegenwärtigen Welt gebunden (DM §§12 — 28). Die Vorstellung qua Empfindung muß dabei eine Ähnlichkeit mit der objektiven Realität haben, wobei die Vollkommenheit in der größtmöglichen 27

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In der Sekundärliteratur wird oft auf die bloß illustrative Funktion des Architekten aufmerksam gemacht. Doch weist m. E. der Architekt — als Paradigma nicht nur für alle Künstler, sondern auch für Gelehrte — auf den Modus des Verfahrens der Einbildungskraft hin: ihre Konstruktion dürfe nicht auf einer frei assoziierenden, spielerischen Tätigkeit beruhen, sondern müsse vielmehr vernünftigen Prinzipien gehorchen. Auf das Paradigma des Architekten verweist auch H.-M. Schmidt (1982), Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung (Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten). München, S. lo^f. Vgl. dazu G. Tonelli (1976), Analysis and Synthesis in the i8th Century. In: Archiv für Begriffsgeschichte 20, S. 178-213, bes. S. 193-203; und Schmidt (1982), S. 104. In der l. Auflage (1720) heißt es im § 811 statt »würklich werden kan«: »seyn kan«. DM § 572. Vgl. dazu W. Röd (1984), der »das oberste Prinzip der Wölfischen Ontologie«, den »Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch«, und die Abhängigkeit des »Satzes vom Grunde« vom Widerspruchsprinzip erläutert, S. 242-245. Vgl. zur Tradition dieser Prinzipien W. Hübeners Kapitel »Scientia de Aliquo et Nihilo. Die historischen Voraussetzungen von Leibniz' OntologiebegrifF« in seiner Studie Zum Geist der Prämoderne (Würzburg 1985), S. 84-100.

>Repräsentation< der gegenwärtigen Welt besteht.31 Das heißt, die Vollkommenheit 32 eines Artefaktes ist nur auf der Basis allgemeinverbindlicher Regeln erreichbar, die Funktion der Einbildungskraft damit der Kontrolle durch rationale Prinzipien, Verstand und >WitzEinbildungen< in Form von Annahmen und Hypothesen für Erfahrungsurteile liefert und damit zum Erkenntnisfortschritt beiträgt (DM § 345). Zwar sind solche Annahmen durch Vernunftschlüsse abzusichern, da sie - wie im Falle der empirischen Überzeugtheit vom geozentrischen Weltbild — auch zu falschen Schlüssen verleiten können. Aber die Einbildungskraft vermag Ideen zu initiieren, die auf dem Weg der Verstandes- und Vernunfterkenntnis nicht zu erlangen wären. Sie kann also heuristischen Zwecken dienen.35 Auch in dieser Hinsicht unterscheidet Wolff nicht zwischen einem spezifisch wissenschaftlichen und spezifisch künstlerischen Gebrauch der Einbildungskraft,30 34

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Wolff verweist in diesem Paragraphen auf seine Deutsche Ethik (1720). Vgl. zur Verbindung der Vorstellungskräfte mit den Begehrungsvermögen in Hinsicht auf Wolffs Ethik die Studie von M. Pott (1992), Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen (= Studien zur deutschen Literatur. Bd. 119), S. 325^ Dieser Aspekt in Wolffs Theorie der Einbildungskraft kann hier nur angedeutet werden. Zur wechselseitigen Bedingtheit von Vernunft und Erfahrung und zum heuristischen Wert der Einbildungskraft sowie zur »Erfindungskunst« als methodischem Mittel, neue Erkenntnisse zu gewinnen, vgl. H. W. Arndt (1983), Rationalismus und Empirismus in der Erkenntnislehre Christian Wolffs. In: W. Schneiders (Hg.), S. 3347, bes. S. 35 und S. 39—41; vgl. auch C.-A. van Peursen (1983), S. 69 — 72; R. Baasner (1988), S. I2f. An der Ästhetik Baumgartens zeigt Michael Jäger auf, daß die seit dem 15. Jahrhundert eng aufeinander bezogenen Bereiche von Kunst und Wissenschaft (z. B. Anatomie, Botanik, Astronomie, Physik) auch im 18. Jahrhundert noch nicht getrennt waren. Diese Tatsache ist möglicherweise der Grund, warum Wolffeine solche spezifisch ästhetische Bestimmung der Einbildungskraft nicht für nötig hält, was jedoch für

vielmehr ist sie, sofern rational gesteuert, von Gelehrten und Künstlern gleichermaßen anwendbar. Eine solche Auffassung stellt Philosophen, Gelehrte, Künstler und Handwerker auf die gleiche Stufe: wie sich der Gelehrte heuristischer Verfahren bedient, kann der Künstler aufgrund wissenschaftlicher Prinzipien Wahrheit hervorbringen. Wolffs normatives Konzept einer produktiven Einbildungskraft versucht, die an die Sinnesempfindung gekoppelte Einbildungskraft durch ihre Festlegung auf logisch-vernünftige Prinzipien — in der Psycbologia empirica spricht er treffend von »connubium imaginatonis cum ratione« (PE § 150) - aufzuwerten und damit für den Wahrheitsanspruch der >Weltweisheit< verfügbar zu machen. Dabei weitet er den Rahmen der legitimierbaren Einbildungen auch auf die »erdichteten Geschichten, die man Romainen zu nennen pfleget« (DM § 571), aus: Wenn dergleichen Erzehlung mit solchem Verstande eingerichtet ist, daß nichts widersprechendes darinnen anzutreffen ist; so kan ich nicht anders sagen, ob es wirklich geschehen sey oder nicht; so wird man freylich finden, daß es der gegenwärtigen Verknüpfung der Dinge widerspricht, und dannenhero in dieser Welt nicht möglich gewesen. Unterdessen bleibet es wahr, daß dasjenige, was noch fehlet, ehe es würcklich werden kan, ausser dieser Welt zu suchen [...], nehmlich in einem anderen Zusammenhang der Dinge, das ist, in einer anderen Welt [...]. Und solchergestalt habe ich eine jede dergleichen Geschichte nicht anders anzusehen als eine Erzehlung von etwas, so in einer ändern Welt sich zutragen kan. (DM § 571)

Die von Leibniz übernommene Theorie der möglichen Welten ist für die Konzeption der Einbildungskraft - hier der poetischen Einbildungskraft - insofern interessant, als einem fiktivem Zusammenhang der Dinge trotz des Widerspruchs zur gegenwärtigen >Welt< ein Daseinsrecht zugestanden wird. Hier heißt möglich also nicht notwendig wirklich oder realisierbar. Nichtsdestoweniger gelten für diese fiktiven Produkte innerhalb der »ändern Welt« dieselben rationalen Prinzipien, die auch in der realisierten, der besten aller möglichen Welten zu befolgen sind. Deshalb ist der These, daß Wolff trotz seines mechanistischen Weltbildes »den Spielraum der künstlerischen Phantasie großzügig«37 bemesse, zwar Recht zu geben, doch muß hinzugefügt werden, daß nur die rational kontrollierte künstlerische Phantasie< erweitert wird. Denn die Verknüpfung der Dinge in einer möglichen Welt unterliegt gleichermaßen den Prinzipien des zureichenden Grundes und des ausgeschlossenen Widerspruchs. Wichtig hierbei ist, daß Wolff den Passus zu den »Romainen« lediglich als Erläuterung im Kontext der Theorie

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seinen Nachfolger Baumgarten nicht mehr gilt. Vgl. M. Jäger (1984), Die Ästhetik als Antwort auf das kopernikanische Weltbild. Die Beziehungen zwischen den Naturwissenschaften und der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers. Hildesheim, Zürich, New York (= Philosophische Texte und Studien. Bd. 10), S. 245-267. So J. Krüger (1980), Christian Wolffund die Ästhetik. Berlin (Ost), S. 39.

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der möglichen Welten eingeführt hat, ohne aber daraus den Begriff einer poetischen Einbildungskraft abzuleiten, wie er auch diesen Aspekt der Dichtungskraft an keiner anderen Stelle seiner Deutschen Metaphysik aufgreift und ausführlicher darlegt. Gleichwohl hat diese Theorie der möglichen Welten in der Wolff-Rezeption eine enorme Wirksamkeit entfaltet. 38 Während Gottsched sie in seine an Wolff orientierte rationalistische Grundkonzeption der Poetik integrierte, haben Bodmer und Breitinger sie mit den ästhetischen Kategorien des Wunderbaren und Neuen verbunden und damit den Spielraum der dichterischen Einbildungskraft erweitert, ohne jedoch ihre Produkte von dem Postulat der ontologischen Wahrscheinlichkeit zu entbinden. 39 Zusammenfassend läßt sich folgendes festhalten: Wolffs Konzept der Einbildungskraft liegt ein rationalistischer Wirklichkeitsbegriff zugrunde, der logicoontologisch verankert ist.40 Die Erkenntnis der Ordnung der Dinge in der Welt folgt nach dem Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs und dem Satz vom zureichenden Grunde. Die reproduktive Einbildungskraft erneuert vergangene Vorstellungen aufgrund ihrer Ähnlichkeit und Nachbarschaft zu einer gegenwärtigen Vorstellung. Die Einbildungskraft qua Dichtungs- und Erfindungskraft produziert durch Assoziation sowie durch Teilung und Zusammensetzung neue Vorstellungsbilder, die den rationalen Grundsätzen widersprechen können und dann von Wolff als »leere Einbildungen« und »Fehler« abgewertet werden. Sie können aber auch in einer »ändern Welt« möglich sein und sind nicht zu disqualifizieren, wenn sie nichts Widersprechendes enthalten, also Wahrscheinlichkeit besitzen. Die Produkte der >Erfindungskunst der BaumeisterInfluxus physicus< von Körper und Seele (GW §§ 1065-1077). GW § 1032. In der Deutschen Metaphysik benutzt Wolff mehrmals die Formulierung

Annahme einer Entsprechung von physischen Bewegungen und psychischen Veränderungen, als vielmehr darauf, daß die Existenz »materialische[r] Bilder« (GW § 1032) Voraussetzung für die Reproduktion von Vorstellungsbildern ist: »Denn wenn alle materialische Bilder im Gehirne erloschen oder vertilgt worden: so kann die Seele sich auch die damit verbundenen Vorstellungen nicht mehr machen.« (ebd.) Dies läßt sich so deuten, daß die Einbildungskraft materielle >Abbilder< »empfundener Sachen« (GW § 1027) im Gehirn zur Bedingung ihrer reproduktiven Funktion hat. Auffallend an Gottscheds Sprachgebrauch ist, daß vergangene Vorstellungen als »Spuren« oder »materialische Abbildungen« erhalten werden, d. h. als physische Daten, die mit einer neuen Empfindung oder Wahrnehmung wieder neu abgerufen werden können. Wenn man jedoch auf Gottscheds Ausgangsdefinition der Einbildungskraft zurückgeht, scheint diese physische Grundlage der Einbildungskraft nicht oder doch nur implizit angesprochen zu sein: »Es ist also in uns, oder in unseren Seelen eine Kraft, sich auch die Bilder abwesender Dinge vorzustellen. Diese Kraft nennet man die Einbildungskraft, oder die Phantasie.« (GW § SSy)51 Trotzdem nimmt Gottsched im weiteren Kontext seiner Ausführungen gerade die physischen >Eindrücke< als Bedingung für die reproduktive Seite der Einbildungskraft in den Blick. Besagte Wolffs Modell, daß Vorstellungen von abwesenden Dingen >hervorgebracht< würden, also Vorstellungen im allgemeinen, die physischen Bewegungen gleichwohl korrespondierten,52 läßt Gottsched die Bilder von abwesenden Dingen aus vorhandenen materiellen »Spuren« oder »Abbildern« folgen, an die dann Vorstellungen geknüpft werden können. Beide sehen demnach vergangene Vorstellungen oder Bilder als Bedingung für die Tätigkeit der reproduktiven Einbildungskraft an. Während aber bei Wolff der Akzent auf immateriellen Vorstellungen liegt, 53 betont Gottsched die notwendige Existenz von materiellen Daten. Dieser hebt denn auch die kausale Beziehung von Sinneseindruck, materiellem Bild und Reproduktion der Empfindung hervor. Außer der Repräsentation einer bekannten Welt erstreckt sich die Tätigkeit der Einbildungskraft aber auch auf die Vorstellung von »Dingen, die man niemals empfunden hat« (GW § 893). Diese >produktive< Seite, die Gottsched »sich richten nach«, um das Verhältnis von Seele zu Körper zu charakterisieren (z.B. DM §§812-815). 51

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Diese Definition stimmt mit der von Wolff überein: »Die Vorstellungen solcher Dinge, die nicht zugegen sind, pfleget man Einbildungen zu nennen. Und die Kraft der Seele dergleichen Vorstellungen hervorzubringen, nennet man die EinbildungsKraft.« (DM § 235) Nach Wolff befinden sich bestimmte Vorstellungen qua Einbildungen lediglich in Korrespondenz zu bestimmten Bewegungen der »flüßigen Materie« des Gehirns (DM §778 u. §815). Wolff hatte sich in Hinsicht auf die Erneuerung von Vorstellungsbildern auf die Art der Verknüpfung von realen und vergangenen Vorstellungen konzentriert, nicht aber auf das Problem des psychophysischen Zusammenhangs.

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konform zu Wolffs Auffassung, aber nur in wenigen Paragraphen darlegt, ist durch jene Ambivalenz gekennzeichnet, die aus der Anwendung oder Mißachtung des Satzes vom zureichenden Grunde beim Vorstellungsakt resultiert: Die richtige Anwendung zeige eine »vernünftige Dicht- und Erfindungskraft«, 54 die sich nach dem »Muster der Natur«, der »Vorschrift menschlicher Leidenschaften« oder der »wirklich vorhandenen Dinge« (GW § 895) richte;55 die Mißachtung hingegen äußere sich in Vorstellungen, die keine vorhandene Realität abbildeten, mit dem Ergebnis von »Grotesken, Quodlibete und Misgeburten« (GW § 894), wie sie >ungeschickte< Künstler hervorbrächten.56 Gottsched * bezeichnet diesen regellosen Gebrauch der Einbildungskraft auch als »Träume der Wachenden« (ebd.)57 — eine Formulierung, die bis ins späte 18. Jahrhundert Geltung behalten sollte. Übernimmt Gottsched in einem anderen Zusammenhang von Wolff die Definition des Traumes als eine »Reihe von klaren, aber unordentlichen Vorstellungen« (GW § 1036), der sich nach der »Regel der Einbildungskraft« 50 vollziehe, so dient hier der Traum dazu, die undeutlichen und irrationalen Kräfte des Menschen zu diskreditieren, weil sie durch die Mißachtung des Satzes vom zureichenden Grunde zu einem schlechten Gebrauch der Einbildungskraft führten. Sowohl bei Wolff als auch bei Gottsched bleibt die reproduktive Einbildungskraft frei von der Gefahr, Fehlvorstellungen hervorzubringen: Wenn Bil54

In der Deutschen Metaphysik hieß diese »Kunst zu erfinden der Baumeister« (DM § 246), in der Psychologia Empirica allgemeiner »facultas fmgendi« (PE § 144). 55 Hier verurteilt Gottsched aber die Kombination willkürlich gesammelter Elemente, die >FlickschustereiPhantasie< nicht belegt, doch findet sich auch folgende Bedeutung: »etwas durch die einbildungskraft in uns hervorgebrachtes, ein uns beschäftigendes gedankenbild, besonders eine leere und falsche Vorstellung, ein trugbild im gegensatz zur Wirklichkeit«; zitiert nach der Ausgabe Leipzig 1889, Bd. 13, S. 1822. - Zur ästhetischen Bewertung von Häßlichem und Groteskem vgl. den Aufsatz von H. Dieckmann (1968), Das Abscheuliche und Schreckliche in der Kunsrtheorie des 18. Jahrhunderts. In: Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München (= Poetik und Hermeneurik. III), S. 271-317. " Vgl. auch Wolff, DM § 242. '» GW § 1034; vgl. DM §§ 799-803-

der vergangener Empfindungen von der Realität abweichen, wird dies allenfalls der mangelhaften, >dunklen< Empfindung zugeschrieben. Die Reproduktion von Vorstellungen wird deshalb für unproblematisch gehalten, weil per definitionem Ähnlichkeit zwischen Realität und ihrem >Abbild< garantiert sein muß,59 während sich Täuschung, Verfälschung und Verfehlung der Realität erst einschleichen könnten, wenn die Kombination von bekannten Elementen ohne rationale Kontrolle vonstatten gehe. Eine ähnliche Position vertritt Gottsched in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst, wo er die Einbildungskraft im Rahmen poetologischer Überlegungen zwar thematisiert, ohne ihr jedoch einen zentralen Stellenwert einzuräumen. An zwei Stellen aus dem Kapitel »Vom Charaktere eines Poeten« läßt sich zeigen, daß auch hier die Einbildungskraft zwischen affirmativer Realitätsabbildung einerseits und der Gefahr der Ausschweifung, somit der Realitätsverfehlung andererseits schwankt.60 In Gottscheds vermögenspsychologischer Terminologie ist ein Dichter gekennzeichnet durch Einbildungskraft, »Scharfsinnigkeit« und »Witz«, die eng aufeinander bezogen sind.6' Während die Einbildungskraft die Ähnlichkeit von Realität und Bild hervorbringt, ist der »Witz« das Vermögen, diese als Ähnlichkeit zu erkennen. Der »Witz« wiederum sei abhängig von der »Scharfsinnigkeit«, dem Vermögen, »viel an einem Ding wahrzunehmen«: 62 Denn wo man viele Eigenschaften der Dinge angemerket, und auf alle Kleinigkeiten bey einer Person, Handlung, Begebenheit usw. Acht gegeben hat: da kann man desto leichter die Ähnlichkeit einer solchen Person, Handlung, Begebenheit oder Sache mit ändern dergleichen Dingen wahrnehmen. Die Einbildungskraft nämlich bringet, bey den gegenwärtigen Empfindungen, sehr leicht wiederum die Begriffe hervor, die sie sonst schon gehabt; wenn sie nur die geringste Ähnlichkeit haben. Alle diese Gemüthskräfte nun, gehören [...] in sehr hohem Grade für denjenigen, der geschickt nachahmen soll: und ein Poet muß dergestalt [...] eine starke Einbildungskraft, viel Scharfsinnigkeit und einen großen Witz schon von Natur aus besitzen, wenn er den Namen eines Dichters mit Recht führen will. 03

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Schon die »allergeringste Ähnlichkeit« (GW § 891) zwischen einer gegenwärtigen und vergangenen Vorstellung reiche nach Gottsched aus, daß die Einbildungskraft das ganze Bild erneut hervorrufe. Dies bezeichnet Gunter E. Grimm zu Recht als »Inkonsequenz« in Gottscheds Fiktionsbegriff; vgl. Grimm (1983), Literatur und Gelehrtentum. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zu Frühaufklärung. Tübingen (= Studien zur deutschen Literatur. Bd. 75), S. 649^ Zur wechselseitigen Ergänzung von Einbildungskraft, Witz und Verstand bei Gottsched vgl. Schmidt (1982), S. 108-112. Gottsched (1962), Critische Dichtkunst vor die Deutschen. [ND der 4., verm. Aufl. Leipzig 1751] Darmstadt; im folgenden zitiert als CD mit Angabe von Bandzahl, Abschnitt, §§ und Seitenzahl, hier CD I.II, § n, S. iO2f. Ebd. Vgl. auch GW § 891.

Die Funktion der Einbildungskraft wird hier vor allem in der Ideenassoziation nach Ähnlichkeit bestimmt. Bei der engen Zusammenarbeit der drei Vorstellungsvermögen, die dem guten Dichter angeboren sein müssen, ist der mimetische Charakter der poetischen Darstellung entscheidend. Die reproduzierende Tätigkeit der Einbildungskraft zeichnet Detailgetreue und Vielfalt in der Darstellung aus und schwört damit deren Funktion auf das Abbildhafte der Realität, auf das Mimesisgebot ein.64 Mehr noch müsse ein Poet eine »weitläufige Gelehrsamkeit«65 besitzen, damit er durch die Dichtung sowohl philosophische Erkenntnisse als auch moralische Normen vermitteln könne.66 Beachtet ein Dichter jedoch die vorgegebenen Regeln nicht, bestehe die Gefahr, daß er von einer >ausschweifenden< Einbildungskraft überwältigt werde: Gottsched veranschaulicht diese Gefahr durch die Metapher des in den Abgrund stürzenden Phaeton: Eine gar zu hitzige Einbildungskraft macht unsinnige Dichter: dafern das Feuer der Phantasie nicht durch eine gesunde Vernunft gemäßiget wird. Nicht alle Einfalle sind gleich schön, gleich wohlgegründet, gleich natürlich und wahrscheinlich. Das Urtheil des Verstandes muß Richter darüber seyn. Es wird nirgends leichter ausgeschweift, als in der Poesie. Wer seinen regellosen Trieben den Zügel schießen läßt, dem geht es wie dem jungen Phaeton. Er hat wilde Pferde zu regieren; aber sehr wenig Verstand und Kräfte sie zu bändigen, und auf der rechten Bahn zu halten: sie reißen ihn fort, und er muß folgen wohin sie wollen, bis er sich in den Abgrund stürzet.67 64

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Mit Bezug auf Aristoteles bestimmt Gottsched das »Hauptwerk der Poesie in der geschickten Nachahmung« (CD I.I, § 33, S. 92) und den Poeten als einen »geschickte[n] Nachahmer aller natürlichen Dinge« (CD I.II, § 5 , 8 . 98). Vgl. dazu J. Brück (1972), Der aristotelische Mimesisbegriff und die Nachahmungstheorie Gottscheds und der Schweizer, Erlangen—Nürnberg; Grimm (1983), 8.641—651; T. Pago (1989), S. 232ff. - Zum Kontext vgl. den Aufsatz von A. Costazza (1992), Imitatio Naturae in der Poetik der italienischen und der deutschen Aufklärung. In: M. Battafarano (Hg.), Die Aufklärung und Italien. Bern, Frankfurt/M. u.a., S. 87 — 130. CD I.II, § 14, S. 105. Der Kontext dieser Stelle lautet: »Denn das muß man nothwendig wissen, daß es mit Einbildungskraft, Scharffsinnigkeit und Witz bey einem Poeten noch nicht ausgerichtet ist. Dieß ist zwar der Grund von seiner Geschicklichkeit, den die Natur legt: aber es gehört zu dem Naturelle auch die Kunst und Gelehrsamkeit. [...] So wird denn ein Poet, der auch die unsichtbaren Gedanken und Neigungen menschlicher Gemüther nachzuahmen hat, sich nicht ohne eine weitläufige Gelehrsamkeit behelfen können.« (ebd.) I. Gombocz (1989), »Es ist keine Wissenschaft von seinem Bezirke ganz ausgeschlossen.« Johann Christoph Gottsched und das Ideal des aufklärerischen Poeta doctus. In: Daphnis 18, S. 541 — 561, hier S. 549ff. CD I.II, § 17, S. 108. Die Metapher der nicht zu zügelnden Pferde zur Charakterisierung des Verhältnisses von Verstand und Vernunft zu Imagination und Affektivität ist im 17. Jahrhundert weitverbreitet. Vgl. dazu M. Byrd (1974), Visits to Bedlam. Madness and Literature in Eighteenth Century. Columbia/S. C, S. 02f.; E. Wavers (1989), Swift zwischen Tradition und Fortschritt. Studie zum ideengeschichtlichen Kontext von »The Battle of the Books« und »A Tale of a Tub«. Frankfurt/M. u.a., S.

Sinnlichkeit und Affekte bedeuten bei Gottsched wie bei Wolffeine Gefahr für die Souveränität des Verstandes und der Vernunft. 68 Die Redeweise von »Hitze« und »Feuer« der Einbildungskraft geht auf den »furor poeticus« der antiken Rhetorik zurück und wird in die poetologische Diskussion der dreißiger und vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts übernommen.69 In der zitierten Passage tritt die »hitzige Einbildungskraft« in Konkurrenz zur »gesunden Vernunft«, die allein Produktion und Verarbeitung der Einfalle gemäß dem Grundsatz der Wahrscheinlichkeit zu steuern hat. 70 Der Dichter darf sich seiner Einbildungskraft also nur insoweit bedienen, als er die mit ihr verbundenen Affekte den Verstandeskräften zu unterstellen weiß, will er das Ideal des »poeta doctus« erfüllen. Für die Einschätzung der Einbildungskraft sind gleichermaßen sozialhistorische Voraussetzungen zu bedenken. Gottscheds Literaturreform stellte die Dichtung in den Dienst der Gelehrsamkeit. Sie sollte »Wahrheit vermitteln und damit den bürgerlichen Bildungs- und Emanzipationsprozeß weitertreiben« 7 ' und das Publikum zu kritischen Rezipienten erziehen.72 Innerhalb die68

C. Siegrist (1984) attestiert Gottsched sogar »Phantasiefeindlichkeit wie [...] Rigorismus, mit dem das Sinnliche über seine bloße Mittlerfunktion hinaus abgelehnt wird«: »Wie der Verstand über die Einbildungskraft, so soll das Wahrscheinliche über das Wunderbare dominieren, damit die belehrende Funktion nicht verhindert wird«, in: Grimminger (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der Literatur. 2. Aufl. München, Bd. 3.1., S. 287. Den Zusammenhang der Einbildungskraft mit dem didaktisch-rhetorischen Anspruch der Poetik untersucht ausführlich H.-M. Schmidt (1982), S. 96— 124. 9 Vgl. auch Teil I, Kap. III.3.2. — Diese Redeweise findet sich auch bei dem spanischen Arzt Huarte im 16. Jahrhundert, der sie mit der Galenischen Säftelehre verbindet; insofern wäre sie ein Relikt einer alten Wissenschaftsprache. Vgl. Juan Huarte (1968), Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften. Übs. v. G. E. Lessing, Zerbst 1752. ND mit einer krit. Einl. u. Bibliogr. v. M. Franzbach. München. Dort ordnete Huarte im Rückgriff auf Galen die drei physischen Zustände von Trockenheit, Feuchtigkeit und Wärme den menschlichen Vermögen Verstand, Gedächtnis und Einbildungskraft zu: »Aus der Wärme welches die dritte Hauptbeschaffenheit ist, entstehet die Einbildungskraft [...]. Die allzugrosse Hitze aber verderbt und verzehrt das Zarte [...]«; zit. nach Lessings Übersetzung, hier S. 83f. Bei Huarte gelten die >hitzige< Einbildungskraft und deren Erscheinungsweisen als »Krankheiten des Gehirns« (ebd.). 70 Vgl. dazu A. Wetterer (1981), Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern. Tübingen (= Studien zu deutschen Literatur. Bd. 68), S. 85ff.; T. Pago (1989), Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. Untersuchungen zur Bedeutung der Vorzugsstreits für die deutsche Dichtungstheorie der Aufklärung. Frankfurt/M. u.a., S. 239ff. 71 Vgl. C. Siegrist (1984), S. 285; auch Gombocz (1989). 72 D. Kimpel (1983), Wolffund das aufklärerische Programm der literarischen Bildung. In: Schneiders (Hg.), S. 203-236, hier S. 2 i i f . Die Frage nach der aufklärerischen, gesellschaftlichen Funktion der Dichtung und nach allgemeingültigen ästhetischen Prinzipien wurde an dem Begriff des >Geschmackes< verhandelt, der vor allem seit Johann Ulrich Königs Untersuchung von dem guten Geschmack in der Dicht- und Redekunst

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ses Aufklärungsprozesses spielte der Wolffsche Rationalismus in Deutschland eine maßgebliche Rolle. Er ließ sich für die neue Grundlegung von Poetologie und Ästhetik fruchtbar machen, die den Vermögen von Sinnlichkeit, Affektivität und Einbildungskraft unter der Kontrolle von rationalen Prinzipien und verbindlichen Regeln Geltung einräumten. Das allgemeine Publikum sollte zur Kritikfähigkeit und gutem Geschmack gemäß rationalistischen Grundsätzen erzogen werden. Diese einseitige Orientierung der Poetik wurde um 1750 von den Wolff-Schülern Baumgarten und Meier durch ein psychogenetisches Modell der Erkenntnis ersetzt. Dies hatte die Umkehrung der Wölfischen Erkenntnishierarchie und somit eine Aufwertung der unteren Vorstellungskräfte zur Folge.73 Das Programm der Verbesserung der sinnlichen Erkenntniskräfte, also auch der Einbildungskraft, war eine notwenige Folge und wurde zum Ziel der neu etablierten Disziplin der Ästhetik erklärt. 74 Schon in der englischen Ästhetik der Frühaufklärung wurde im Hinblick auf die Einbildungskraft mit Shaftesburys vernünftigem Enthusiasmus< und Addisons Konzept der »pleasures of the imagination«, das er auf Grundlage von Lockes Philosophie entwickelte, ein Weg beschriften, der die Einbildungskraft als sinnliches, aber aufzuklärendes Vermögen positivierte. Die Hierarchie von oberen und unteren Erkenntnisvermögen wurde zugunsten eines >dialogischen< Verhältnisses von Einbildungskraft und Verstand aufgelöst, was es im nächsten Kapitel darzulegen gilt.

von 1727 zum Gegenstand poetologischer Reflexion im deutschsprachigen Raum wurde. Vgl. Baeumler (1975), 8.65-82; Siegrist (1984), S. 281-283; K. Bohnen (1974), Geist und Buchstabe. Zum Prinzip des kritischen Verfahrens in Lessings literarasthetischen und theologischen Schriften. Köln, Wien, S. 87—90. Zur Geschmackskontroverse vgl. C. Zelle (1987), »Angenehmes Grauen«. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg, S. 228230. ™ Vgl. dazu Kondylis (1986), S. 5591".; und M. Pott (1992), S. 326. 74 S.u. Teil II, Kap. II.i. und Kap. III.

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III. Shaftesburys moralistische Ästhetik und Phasen der Rezeption in der Frühaufklärung

1711 ist die von Shaftesbury (1671-1713) autorisierte Sammlung seiner philosophischen Texte unter dem Titel Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times1 in drei Bänden erschienen. Obwohl sie keine eigene Schrift zur Imagination enthält, hat Shaftesbury in diesem Textzusammenhang eine moralistischästhetische Konzeption der Einbildungskraft entwickelt. An zahlreichen Stellen benutzt er die Begriffe »Fancy« und »Imagination«, die er meist im Kontext sowohl des >Enthusiasmus< als auch der Leidenschaften (passions) und >Launen< (humours) erörtert und dem ordnenden Verstand und der Vernunft (reason) entgegenstellt. Hierbei ist den Schriften A Letter concerning Enthusiasm (1708), Soliloquy or Advice to an Author (1710) und The Moralists: a Philosophical Rhapsody (1709) besondere Bedeutung beizumessen. Diese lieferten wichtige Stichworte zu dem Problem der Einbildungskraft, die bald in die ästhetisch-poetologische Diskussion im deutschsprachigen Raum übernommen wurden. Daß die Shaftesbury-Rezeption für die Ästhetik und Literatur der Aufklärung in Deutschland eine grundlegende Rolle spielt, ist in der Forschung unbestritten. 2 Will man den Rezeptionsweg im einzelnen nachzeichnen, treten jedoch erhebliche Schwierigkeiten auf. Vermutlich kommt hier den Zürichern Bodmer und Breitinger eine bedeutende Vermittlungsfunktion zu;3 gleichermaßen aber auch dem Thomasius-Schüler Barthold Hinrich Brockes, der schon 1

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Der Faksimiledruck wurde 1978 bei Olms publiziert, Hildesheim, New York (= Anglistica & Americana. 123); Nachweise im Text nach dieser Ausgabe unter der Sigle CH mit Angabe von Bandzahl in römischer und Seitenzahl in arabischer Ziffer. Zu den Mängeln in der noch unvollständigen Standard Edition, weshalb hier auf den Faksimiledruck rekurriert wird, vgl. B. Schmidt-Haberkamp (1994), Prüfung der neuen Standard Edition von Shaftesburys Werken. In: Das achtzehnte Jahrhundert 18.2, S. 159— 167. Vgl. L. M. Price (1961), Die Aufnahme englischer Literatur in Deutschland. 15001960. Bern, München, bes. S. 43ff.; E. A. B lackall (1966), Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700-1775. Stuttgart, bes. S. 30ff., S. 2ioff. und den Anhang von D. Kimpel, S. 493ff. — Die Shaftesbury-Rezeption im deutschsprachigen Raum setzte verstärkt allerdings erst mit den beiden Übersetzungen von Johann Joachim Spalding (1714-1804) in den i74oer Jahren ein: Die Sittenlehre, oder philosophische Gespräche, welche die Natur betreffen (Berlin 1745); Untersuchung über die Tugend (1747). Eine umfasssendere Übersetzung von Shaftesburys Philosophischen Werken wurde 1776—1779 in Leipzig bei Weyand veröffentlicht. Vgl. C. Siegrist (1984), Poetik und Ästhetik von Gottsched bis Baumgarten. In: Grimminger (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der Literatur. 2. Aufl. München,

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in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts in der »Patriotischen Gesellschaft« (i723ff.) in Hamburg die Rezeption der englischen Literatur eingeleitet und befördert hat.4 In diesem Kapitel wird der Blick auf die englische Ästhetik, insbesondere auf Shaftesbury und dessen frühe Rezeption durch Joseph Addison (16721719) sowie auf die Rezeption durch die Züricher gerichtet.5 Shaftesburys Konzeption der Einbildungskraft hat Addison zu seinem Essay on the Pleasures of the Imagination (1712) angeregt. Bis in einzelne Wortübernahmen hinein wird die Anlehnung an sein Vorbild deutlich. 7 Wichtiger noch sind aber die folgenrei-

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Bd. 3.1., S. 280—326, hier S. 295; vgl. auch H. Schöffler (1925), Das literarische Zürich 1700—1750. Frauenfeld, Leipzig. Da Brockes' Irdische Vergnügen in Gott (172 iff.) Parallelen zu Shaftesburys Naturbegriff einer harmonisch eingerichteten Ordnung aufweisen, ist eine Wirkung von Shaftesburys Characteristics auf ihn sehr wahrscheinlich. Vgl. dazu H.-W. Jäger (1984), Lehrdichtung. In: Grimminger (Hg.), Bd. 3.2., S. 500-544, S. 507. Zu der durch Bodmer und Breitinger initiierten Vermittlung der englischen Ästhetik auf die nächste Generation, auf Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803), Johann Georg Sulzer und Christoph Martin Wieland (1733-1813) vgl. L. M. Price (1961), S. 53; A. Maler (1984), Versepos. In: Grimminger (Hg.), Bd. 3.2., S. 365-322, hier S. 386f; L. Jordan (1994), Shaftesbury und die deutsche Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Ein Prolegomenon zur Linie Gottsched-Wieland. In: GermanischRomanische Monatsschrift N. F. 44, S. 410—424; A. Tumarkin (1933), Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer. Frauenfeld, Leipzig; und H. Grudzinski (1913), Shaftesburys Einfluss auf Christoph Martin Wieland. Mit einer Einleitung über den Einfluss Shaftesburys auf die deutsche Literatur bis 1760. Stuttgart. - Die Wirkung setzt sich von Wielands frühem Lehrgedicht Die Natur der Dinge (1751) bis in seinen Aufsatz Enthusiasmus und Schwärmerei im Teutschen Merkur (1775) fort, führt aber schon in der frühen Schriften von anfänglicher Zustimmung in die Zurückweisung von Shaftesburys harmonisrischer Anthropologie; vgl. dazu W. Erhart (1991), Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands »Agathon«-Projekt. Tübingen (= Studien zur deutschen Literatur. Bd. 115), S. 40ff. S.u. Teil I, Kap. III.2. Auf den gleichfalls starken Einfluß der Ästhetik von John Dennis auf Addison haben C. Dewitt Thorpe (Two Augustans Cross the Alps: Dennis and Addison on Mountain Scenery. In: Studies in Philology XXXII (19353), H. 3, S. 463—482) und C. Zelle (Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger). In: C. Pries (Hg.) 1989, Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim, S. 56—73, bes. S. 63 — 66) aufmerksam gemacht. Der Verbindung von Shaftesbury und Addison ist wiederum C. Dewitt Thorpe im Kontext der Addison-Rezeption in England nachgegangen, rekonstruiert aber mehr die philosophische (Descartes, Hobbes, Locke) als die poetologische Tradition, in der Addison und Shaftesbury stehen; vgl. Thorpe (1935), Addison and Hutcheson on Imagination. In: A Journal of English Literary History 2, No. 3, S. 215-234. Außerdem hat die Ästhetik von Shaftesbury und Addison im Kontext von Nicolas Boileau-Despreaux' Pseudo-Longin-Übersetzung Traite du Sublime von 1674 wie der Ästhetik von Jean-Baptiste Dubos und John Dennis unter dem Stichwort des »Erhabenem vor allem in den igSoer Jahren eine neue Diskussion entfacht. Vgl. dazu den von C. Pries (1989) herausgegebenen, bereits zitierten Sammelband Das Erhabene; und

eben Abweichungen, die teilweise in Addisons empiristischer Akzentuierung begründet sind. Dieser Essay ist innerhalb der schnell berühmten Wochenschrift The Spectator (1711-1712) erschienen, die Addison gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Richard Steele herausgab.8 Da sich der Spectator in England einer enormen Popularität erfreute und allein dort Dutzende von Nachahmungen herausforderte, wurde er bald ins Französische,9 allerdings in einer verstümmelten Fassung, und auf dieser Grundlage schon 1719—1725 ins Deutsche übersetzt. 1739— 1744 folgte dann eine vollständige Übersetzung unter dem Titel Der Zuschauer in neun Bänden durch die Gottscheds in Leipzig.10 Bodmer und Breitinger bezogen sich in ihrer 1727 veröffentlichten Schrift Über den Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft, die sie Wolff zugeeignet haben, mehrfach explizit auf Addison und den Spectator und rezipierten dadurch vermittelt auch Shaftesburys moralistische Ästhetik."

i. Kontrollierte Einbildungskraft und vernünftiger Enthusiasmus< Shaftesburys Moralistik in den Characteristics i.i. Heilung des Patienten >Fancy< durch Selbstaufklärung Statt der systematischen Untersuchung eines Themas strebt Shaftesbury in seinen Characteristics eine vorurteilsfreie, undogmatische Art des Philosophierens12

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C. Zelle (1995), Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar. Das ist bereits die zweite Moralische Wochenschrift von dem Team Addison-Steele, der The Tatler (1709—1711) vorausging; danach gaben sie gemeinsam The Guardian (1712 — 1713) heraus. Zur Rezeption der englischen Moralischen Wochenschriften im deutschsprachigen Raum vgl. Vetter (1887), Der Spectator als Quelle der »Discurse der Maler«. Frauenfeld; W. Martens (1968), Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart; P. Currie (1968), Moral Weeklies and the Reading Public in Germany: 1711-1750. Oxford; und G. Sauder (1984), Moralische Wochenschriften. In: Grimminger (Hg.), Bd. 3.1., S. 267-279. Diese um etwa zwei Drittel des Gesamtumfangs reduzierte französische Version wurde über Holland vertrieben, Amsterdam 1716—1718. Die Übersetzung wurde in demselben Verlag wie die erste deutsche Teilübersetzung, dem Verlag Bernhard Christoph Breitkopf, Leipzig, publiziert. 1749-1751 erschien bereits die zweite Auflage der Gottschedschen Übersetzung. S.u. Teil I, Kap. III.3. Auf stilistische Fragen geht der Anglist E. Wolff (1960) in der Studie Shaftesbury und seine Bedeutung für die englische Literatur des 18. Jahrhunderts (Tübingen) ein. Vgl. auch T. Fries (1993), Dialog der Aufklärung. Shaftesbury, Rousseau, Solger. Tübingen, Basel, II. Teil: »Dialog und Soliloquium: Shaftesburys Konzeption des moderenen Schreibens«, S. 49-97.

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an, indem er sich auf die Qualitäten von »wit« und »humour« beruft.13 Dem entsprechen offenere literarische Formen wie Brief, Essay oder der sokratischplatonische Dialog. Neben den Inhalten der Schriften haben folglich auch deren Stil und Methode fortgewirkt. In seiner Essay Soliloquy or Advice to an Author, die Gegenstand dieses Abschnitts ist, empfiehlt Shaftesbury dem Philosophen wie dem Schriftsteller und Redner die Methode des Selbstgesprächs (CH I i6of.) oder der »Mirrour-Faculty« (CH I 199). Denn Selbstreflexion und kritische Introspektion - Techniken, die auf »Self-Dissection« (CH I ijS) 14 beruhten - ermöglichen nach Shaftesbury erst einen kontrollierten und von Spott (test of ridicule)15 geprägten Umgang mit der Imagination, die andernfalls in Gesellschaft zu Ausschweifungen neige: We might preadventure be less noisy and more profitable in Company, if at convenient times we discharg'd some of our articulate Sound, and spoke to ourselves viva voce when alone. For Company is an extreme Provocative to Fancy; and, like a hot Bed in gardening, is apt to make our Imaginations sprout too fast. But by this anticipating Remedy of SOLILOQUY, we may effectually provide against the Inconvenience. (CH I I58f.)

Das Selbstgespräch wird als Heilmittel betrachtet, die überschießende Imagination an gesellschaftliche Konventionen anzupassen. Ort für die therapeutische 13

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Programmatisch in seinem >Brief an einen FreundProbe des Lächerlichem hatte Shaftesbury in seiner Schrift A Letter on Enthusiasm (1709) als Mittel verfochten, um damit in einer aktuellen politischen Streitfrage — wie sollte man mit den »französischen Propheten«, die sich in England zu einer religiösen Bewegung formierten, verfahren? — Stellung gegen die Anwendung von Gewalt zu beziehen. Dies löste beträchtliche Polemiken aus und brachte ihm lange den Ruf des freidenkerischen Spötters ein. Vgl. E. Cassirer (1932), Shaftesbury und die Renaissance des Platonismus in England. In: F. Saxl (Hg.), Vorträge der Bibliothek Warburg, Bd. 9. Leipzig, Berlin, S. 136—155, bes. S. I36f. und S. I44ff; H.H. Schulte (1969), Zur Geschichte des Enthusiasmus um 18.Jahrhundert. In: Publications of the English Goethe Society 39, S. 85— 122, hier 92f; und K. T. Winkler (1988), Enthusiasmus und gesellschaftliche Ordnung. »Enthusiasm« im englischen Sprachgebrauch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Aufklärung 3, H. i, S. 29-47. Winkler stellt heraus, daß Shaftesburys Zweiteilung des Begriffs Enthusiasmus in »fanatism« und »noble Enthusiasm« aus dem zeitgenössischen Sprachgebrauch des Tagesschrifttums herausfalle, da Enthusiasmus ausschließlich negativ besetzt gewesen sei und entweder als Scharlatanerie und religiöser Betrug oder aber als Krankheit oder Wahnsinn eingestuft wurde (hier S. 45).

Behandlung einer hitzigen Imagination (CH I 162) ist die freie Natur, die besonders dem »Poetical Genius« sichere Rückzugsmöglichkeit biete, sein hitziges Gemüt verdampfen zu lassen (CH I 161) — die Metaphorik spielt auf einen chemischen Destillationsprozeß an, der die Imagination von den überflüssigen Capricen läutert.' 6 Die Kontrolle des Überschusses von >Launen< und Einfallen schreibt Shaftesbury der >Selbstpraxis< einer gesunden Lebensart zu: »to apply wholesome Regimen of Self-Practice [...], by which alone we correct the Redundancy of Humours, and chasten the Exuberance of Conceit and Fancy« (CH I i66f.). Doch das Ziel einer solchen »Regimen or Discipline of the Fancys« (CH I 186) ist nicht die Abtötung der Einfalle und Ideen, sondern Selbstfindung, >Entscheidungssicherheit< und — bei allen wechselnden Wünschen und Meinungen - eine Garantie der Einheit der Person in der Zeit.17 Nicht gewaltsame Unterwerfung also, sondern das Standhalten von Kritik mit dem Ziel der Selbstbestimmung ist hier die moralische wie auch politische bedeutsame Aussage.'8 Welches Seelenmodell liegt dem aber zugrunde? Shaftesbury unterscheidet zwischen der Vernunft (reason) und dem gesunden Menschenverstand (good Sense; CH I 188) auf der einen Seite und den wechselhaften Phänomenen von »Humour«, »Fancy« und »Opinion« (CH I 185), die alle zur affektiven Natur des Menschen gehören und den Willen regieren,'9 auf der anderen Seite. Um das Verhältnis dieser beiden Seiten zu charakterisieren, verwendet er im zweiten Abschnitt des ersten Teils von Soliloqui das Gleichnis von zwei streitenden Brüdern - dem Trieb oder Affekt (appetite) als dem älteren, der Vernunft (reason) als dem jüngeren Bruder: In jedem Kampf nutzt der Affekt den Vorteil seiner stärkeren Natur, um alles auf seine Seite zu ziehen. Der Wille gleiche dabei einem Fußball oder Kreisel, der zwischen den beiden Brüdern hin- und hergekickt bzw. mit Peitschenhieben angetrieben wird. Das bringt aber den jüngeren Bruder, die Vernunft, in eine unvorteilhafte Position, weil er den Ball oder Kreisel nicht an sich ziehen kann, 20 so daß er ihn bald 16

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Zahlreiche Abbildungen seit dem 17. Jahrhundert machen einen solchen Destillationsprozeß von phantastischen Bildern oder auch bösen Geistern anschaulich. Vgl. dazu B. M. Stafford (1991), Body Criticism. Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine. Cambridge/Mass., London, S. I54f. Im Text heißt es: »[...] insure him a certain Resolution; by which he shall know to find himself; be sure of his own Meaning and Design; and as to all his Desires, Opinions, and Inclinations, be warranted one and the same Person to day as yesterday, and to morrow as to day.« (CH I 187) Man denke hier an die oben angesprochene >tolerante< Haltung Shaftesburys gegenüber religiösen Sekten, die zu verbieten den gegenteiligen Effekt hätte. »For let WILL be ever so free, Humour and Fancy [...] govern it.« (CH I 185) Dieses moralphilosophische Dilemma, wie der Verstand auf den Willen einwirken kann, lösten Thomasius und seine Schüler durch eine Funktionalisierung der Einbildungskraft für die Zwecke der praktischen Vernunft; s.o. Kap. 1.2 und 1.3. Dagegen schlägt Shaftesbury ein therapeutisches Modell des Selbstgesprächs vor, für das die Affekte aber zunächst vorbereitet werden müssen, um mit der Vernunft einen >klären-

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außer Acht läßt und seinen älteren Bruder mit Worten zu attackieren beginnt. Damit ändert sich die Szenerie: der ältere Bruder — ein ausgesprochener Feigling (arrant Coward) — wird durch diese Behandlung sofort vernünftig und >gesittet< (civil), um dann ein faires Spiel fortzusetzen. An diesem Punkt tritt nach Shaftesbury nun das in Kraft, was er »our Sovereign Remedy and Gymnastick Method of Soliloquy« (CH I 188) nennt. Unter der Voraussetzung einer Spaltung der Seele (CH I 169) in zwei Personen 21 soll sich das Gemüt an die »Imaginations or Fancys« (CH I 188) wenden, ohne aber besondere Rücksichten zu nehmen. 22 Im Selbstgespräch wird der Affekt - für ihn sei charakteristisch, daß er sich durch feine Anspielungen und Winke mitteilt und damit die Hälfte der Bedeutung verschleiert - gezwungen, sich selbst zu erklären. Das Ziel des Zwiegesprächs von affektiver und rationaler Seite des Menschen ist Selbstaufklärung in der Form, daß Affekt und Imagination ihr geheimnisvolles Verhalten (mysterious Manner) beendeten und sich selbst als raffinierte Betrüger (Sophisters and Impostors) entlarvten. Die Verdoppelung der Seele im Monolog dient also einer therapeutischen Selbstpraxis, welche die >getarnte< und >verblümte< Rede der affektiven wie imaginativen Natur des Menschen mit der vernünftigen Seite konfrontiert und ihr zu einer »plainer Language and Expression« (ebd.) verhilft. Nach Shaftesbury ist dieser Weg der Selbstaufklärung und »Ho/we-Practice« (CH I 189) auch Voraussetzung für einen jeden Schriftsteller, der sich mit anderen >Charakteren< beschäftigt ein Weg, der allerdings nur einer Bildungselite vorbehalten sein konnte: He who deals in Characters, must of necessity know his own; or he will know nothing. [...] There ist no way of estimating Manners, or apprizing the different Humours, Fancys, Passions and Apprehensions of others, without first taking an Inventory of the same kind of Goods within ourselves, and surveying our domestick Fund. (CH I

den< Dialog führen zu können. Daß dieses Modell aber das Problem nicht lösen, sondern es nur bewußt machen kann, da der Zusammenhang von Willen, Affekt und Handlung bei Shaftesbury nicht hinreichend geklärt wird, stellt W. H. Schrader (1984) in seiner Studie Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume (Hamburg, S. 9 mit Anm. 23) heraus. Shaftesbury spricht in diesem Kontext auch von einer »Doctrine of Two Persons in one individual Self« (CH I 185).

»[...] the Mind apostrophizes its own Fancys [...] and adresses 'em familiarly, without the least Ceremony or Respect [...]« (CH I 188) Das Programm des philosophischen Schriftstellers< legt diesen mehr noch auf seine rationale Natur fest, die aber den beschriebenen Prozeß der Selbsterkenntnis und der Ausbildung der Fähigkeiten voraussetzt: »No more can a Genius alone make a Poet [...]. The Skill and Grace of Writing is founded, as our wise Poet tells us, in Knowhdg and good Sense; [...] in that Knowledg, which is to be learnt [...] from those particular Rules of Art, which Philosophy alone exhibits.« (CH I 193) 60

Die Heilung des Patienten Fancy führt über das Selbstgespräch, das eine Klärung der Irrtümer, der dunklen und verschleierten Seiten von Affekt und Einbildungskraft erbringen soll. So ist das Ziel der Selbstaufklärung die spielerisch gewonnene Kontrolle über Laune, Leidenschaft und Einbildungskraft.

1.2. Aberglaubenskritik und Verfeinerung der Einbildungskraft in The Moralists Eine andere Variante der Einbildungskraft setzt Shaftesbury in seiner >philosophischen RhapsodieTis the Delight of Children to hear Tales they shiver at, and the Vice of Old Age to abound in strange Storys of Times past. (CH II 325)

Wenn auch in dieser Passage die Neigung zu Außergewöhnlichem mit den psychischen Dispositionen von Kindheit und Alter verbunden wird, ist nach Philocles keiner davor gefeit, Wundererzählungen und irregulären, unerwarteten Phänomenen mehr Sympathie entgegenzubringen als einer vernunftgemäßen Ordnung der Dinge. Aufgrund dieses anthropologischen Befundes kommt er letztlich zu dem paradoxen Schluß, daß die Ansicht von Harmonie und Ordnung dem Atheismus, der Gefallen an Wundergeschehen und Chaos hingegen dem Glauben an Gott in die Hände arbeiten würde.27 Damit hat er jedoch den Atheismusvorwurf keineswegs von sich abgewendet, wie er meint, denn zuvor hatte er sich als Skeptiker gegenüber jeder Art von Neigung zum Wunderbaren distanziert und kann dadurch auch nicht — gemäß der paradoxen Konstruktion — zum Gläubigen werden: But I who cou'd never pay any such deference to my sleeping Fancys, am apt sometimes to question even my waking Thoughts, and examine, »Whether these are not Dreams too;« since Men have a Faculty of dreaming sometimes with their Eyes open. You will own >tis no small pleasure with Mankind to make their Dreams pass for Realitys; and that the Love of Truth is, in reality, not half so prevalent as this Passion for Novelty and Surprise, join'd with a Desire of making Impression, and being admir'd. However I am so charitable still, as to think there is more innocent Delusion than voluntary Imposture in the World. (CH II 324> 2fi 27

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»We sicken and grow weary with the orderly and regular Course of Things. Periods, and stated Laws, and Revolutions just and proportionable, work not upon us, nor win our Admiration. We must have Ridles, Prodigys, Matter for Surprise and Horrour! By Harmony, Order and Concord, we are made Atheists: By Irregularity and Discord, we are convince'd of DEITY!« (CH II 338) An dem Zugeständnis, daß diese Täuschung meist unbewußt und kein willkürlicher

Die skeptische Haltung ruft also zur permanenten Überprüfung der Gedanken und Vorstellungen auf, womit hier Shaftesbury mit seiner Figur des Philocles indirekt für den Typus des kritischen Philosophen und Schriftstellers wirbt. Dadurch wird aber die menschliche Neigung nach Neuem und nach Täuschung nicht einfach als unvernünftig disqualifiziert, vielmehr soll die Haltung des Moralisten dazu verhelfen, solche Eigenheiten sowohl zu Kenntnis nehmen, als auch sich davon zu distanzieren. In diesem Zusammenhang bedeutet das, daß die moralistische Beurteilung der Einbildungskraft deren meist unvernünftigen Wirkungen zwar als gegeben anerkennt, aber es auch für ratsam hält, diesen zu mißtrauen. Denn nach Philocles' Ansicht ginge mit dem größten Religionseifer, wenn nicht ein selbstkritischer Zwischenschritt stattfindet, oft die stärkste Neigung zur Täuschung einher.29 Die Einbildungskraft ist also in Gefahr, sich in Form des >Hangs zum Wunderbarem mit dem falschen Glauben zu verbünden. Welche Rolle spielt sie aber beim >wahren< Glauben, der Gegenstand des sich anschließenden Dialogs zwischen Philocles und Theocles ist? Shaftesbury bedient sich eines literarischen Kunstgriffes, indem er - anstelle eines philosophischen Diskurses - Philocles zum teilnehmenden Beobachter bei dem naturhymnischen >Höhenflug< des Pantheisten Theocles macht. Bei der Lektüre stellt sich schnell heraus, daß hier ebenfalls die Einbildungskraft am Werk ist, diesmal aber als >Seherin< einer weise eingerichteten Naturordnung. Wie unterscheidet sich dieser Gebrauch der Einbildungskraft nun von der leicht betrügbaren »Passion for Novelty and Surprise« (CH II 324)? Die Szenerie, in der Philocles auf seinem Freund trifft, ist gut gewählt: Theocles wartet in der »Solitude« der heiligen Haine (sacred Groves) auf den Sonnenaufgang, um dort - ermuntert von Philocles — zu seinem Naturhymnus anzusetzen: Ye Fields and Woods [...] Delightful Prospects! Majestick Beautys of this Earth, and all ye Rural Powers and Graces! [...] I sing of Nature's Order in created Beings, and celebrate the Beautys which resolve in Thee, the Source and Principle of all Beauty and Perfection. Thy Being is boundless, unsearchable, impenetrable. In thy Immensity all Thought ist lost; Fancy gives o'er its Flight: and weary'd Imagination spends it-self in vain; finding no Coast nor Limit of this Ocean [...]. Thus having oft essay'd, thus sally'd forth into the wide Expanse, when I return again within My-self [...]. I dare no more behold the amazing Depths, nor found the Abyss of Deity. (CH II 344O

Betrug sei, zeigt sich die Suggestivität der Argumentation Philocles'; warum soll es wichtig sein, die Art der Täuschung zu qualifizieren? »And so very natural do I take this to be, that in all Religions, except the True, I look upon the greatest Zeal to accompany'd with the strongest Inclination to deceive. [...] I appeal to the Experience of the last Age: in which >twill not be difficult to find very remarkable Examples where Imposture and Zeal, Bigotry and Hypocrisy have livMeditationen< über die Natur-Gottheit nicht mehr für Magie oder Aberglauben (Magick or Superstition) halten wird (CH II 366). »You are Conqueror in the cool way of Reason, and may with Honour now grow warm again, in your Poetick Vein.« (CH II 366) Exemplarisch sei hier eine der Formulierungen angeführt: »But Thou alone composest the Disorders of the Corporal World, and from the restless and fighting Elements raisest that peaceful Concord, and conspiring Beauty of the ever-flourishing Creation.« (CH II 374) »Original SOUL, diffusive, vital in all, inspiriting the Whole\« (CH II 370)

bigkeit geführt habe, wo er doch daraufrechne, daß Philocles diesen Hang zum Enthusiasmus (CH II 374) besser zu führen verstehe. Dieser Vorwurf an Philocles klingt wie eine Selbstkritik, die sich Rechenschaft über einen kontrollierten Gebrauch der Einbildungskraft in Form des Enthusiasmus ablegen will. In der literarischen Einbettung der Kritik und Selbstkritik durch die Dialogform wird somit auch ein didaktisches Interesse verfolgt: Der Betrachter oder Leser soll zwischen zügellosem und gemäßigtem Enthusiasmus unterscheiden lernen. Nachdem Philocles' zugestimmt hatte, Theocles beim Ärmel zupfen sollte, wenn er überschwänglich werde,35 führt dieser seine poetische Betrachtung fort. Er läßt sich auf den »Wings of Fancy« (CH II 382>·36 durch die verschiedenen Naturreiche bis zum Universum davontragen, bis er in der Vorstellung eines ungestümen Feuers (CH II 379), das er als Lebensprinzip der ganzen Kette der Wesen aber auch als Prinzip der Zerstörung imaginiert, von seinem Freund just angehalten wird, sich mehr auf den Boden der Tatsachen (»the Map of Nature«; CH II 382) zu beschränken. Theocles willigt ein unter der Bedingung, daß ihm erlaubt werde, in der Naturbetrachtung dieselben >Flügel der Phantasie< zu gebrauchen; das gesteht ihm Philocles mit Ausnahme von Extravaganzen zu.37 Der letzte >Flug< führt ihn durch verschiedene entlegene Erdteile, um mit einem erhabenen Naturbild am AtlasGebirge zu enden. 38 Es ist Mittag, und Philocles' Imagination ist endlich >erwärmttwas not here (my Philocles!) that we had agreed to place our Good; nor consequently our Enjoyment. We who were rational, and had Minds, methought, shouNaturhymnus< bestätigen -, aber die Natur gleichzeitig als verfeinerbar, kultivierbar verstanden wird. Mit der traditionellen Vorstellung der >Kette der WesenNaturhymus< ein Beleg für die Abstufung der Naturreiche bis zu den Mineralien (CH II 376 — 391); aber auch die Betrachtung der verschiedenen Völker ist fundiert in einer solchen Hierarchie (CH II 383-388). Vgl. dazu W. H. Schrader (1984), S. n mit Anm. 25.

natural Genius, ever so apt or forward« (ebd.). Das Resultat des Dialogs ist damit auch, daß der Skeptiker Philocles doch zum Glauben geführt wurde, womit die ganze Ambivalenz dieses Glaubens — zwischen Aberglauben und vernünftiger Begeisterung - nicht widerlegt ist, sondern mit einer gekonnten Inszenierung positiv umgewertet wurde. Es ist interessant und wichtig, daß in diesem Kontext bis zum Ende der Moralists nicht mehr von der Einbildungskraft oder Imagination die Rede ist, sondern dies von den Ausführungen zur Geschmacksbildung wie zum geläuterten Enthusiasmus überlagert wird. Daraus läßt sich folgern, daß die Einbildungskraft eine Voraussetzung zum vernünftigen Enthusiasmus< ist und entweder mit diesem verschmilzt oder aber nur eine Etappe auf dem mühsamen Weg zu einem kultivierten »Genius« ausmacht. Shaftesburys Programm des moralistischen Schriftstellers oder Poeten, um den es hier geht, ist klar gegen das >Naturgenie< gewendet. Denn in vielen Formulierungen, besonders im Soliloqui betont er die Wichtigkeit der Ausbildung und Läuterung der natürlichen Fähigkeiten, die erst den richtigen Enthusiasmus ermöglichten. Im folgenden Kapitel ist zu zeigen, daß Addison in seiner Rezeption von Shaftesburys Imaginationsauffassung einen Weg gewählt hat, der ihm erlaubt, seinen Begriff der Imagination im Kontext der empiristischen Philosophie zu profilieren, ohne den Neuplatonismus explizit bekämpfen zu müssen: Er verzichtet auf eine moralistische Einbindung der Imagination und konzentriert seine Konzeption allein auf ästhetische Aspekte.

2. Addisons Essay on the Pleasures of the Imagination In demselben Jahr, als Shaftesburys Characteristics erschienen, wurden die ersten Nummern der Wochenschrift The Spectator (1711 — 1712), ebenfalls in London, veröffentlicht. Im Spectator findet sich an elf zusammenhängenden Wochentagen von 2i. Juni bis 3. Juli 1712 in den Nummern 411 bis 421 Addisons Essay on the Pleasures of the Imagination.**> Addisons Essay verdankt der Philosophie Shaftesburys wichtige Anregungen. Mit der enormen Popularität und Sympathie, die The Spectator beim bürgerlichen wie adeligen Publikum in England genoß, erlangte auch dieser Essay Berühmtheit und bot Stoff zur Auseinandersetzung für mehrere Generationen.46 45

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Dieser Essay wird nach der von R. Hurd mit Anmerkungen versehenen Ausgabe The Works of Joseph Addison (London 1873) im Text unter der Sigle SP mit Seitenzahl in ( ) zitiert. Vgl. den bereits genannten Aufsatz von Dewitt Thorpe (1935) Addison and Hutcheson on the Imagination, worin die Autorin Addisons Wirkung nicht nur auf Hutcheson, sondern auch deren Ausläufer auf Hume über Burke bis Coleridge und Kant belegt; ähnlich J. Engeil (1981), The Creative Imagination. Enlightenment to Romanticism. Cambridge/Mass., London. U.-M. Becker (1987) weist die Adaption 67

Addison legt seiner Abhandlung über die Imagination die Lockesche Unterscheidung von primären (Größe, Gestalt, Struktur) und sekundären Qualitäten (Farbe, Geschmack etc.) zugrunde,47 die sich nicht auf das Wesen der Objekte beziehen, sondern auf die Vorstellung des Menschen.40 Die Imagination49 wird von der Sinneswahrnehmung mit Vorstellungen ausgestattet, hat also eine empirische Basis. Addison schränkt sie an dieser Stelle auf den Gesichtsinn (sight) ein, der die Bedingung für ein jedes Vorstellungsbild sei (SP 394). Von der visuellen Wahrnehmung gingen nun zwei Arten von Vergnügen aus: [...] those primary pleasures of the imagination, which entirely proceed from such objects as are before our eyes; and [...] those secondary pleasures of the imagination which flow from the ideas of visible objects, when the objects are not actually before the eye, but are called up into our memories, or formed into agreeable visions of things that are either absent or fictious. (SP 394f.)

Die Imagination ist sowohl bei der Sinneswahrnehmung tätig, woraus die >primäre Lust< entspringt, als auch bei der Vorstellung von abwesenden Gegenständen, die entweder auf reale Gegenstände zurückgeht oder aber fiktionale Dinge hervorbringt und die >sekundäre Lust< auslöst. Das Gedächtnis vertritt im Unterschied zu Wolffs Auffassung die reproduktive Seite der Einbildungskraft. Die Sinneswahrnehmung beruht auf empirischen Daten, nicht auf präformierten Mustern.50 Addison ist Anhänger der Cartesianischen Lebensgeistertheorie, die er auf die Erklärung des ästhetischen Vergnügens anwendet: Beim Anblick von »delightful scences« (SP 396) in der Natur und der Kunst würden die >Lebensgeister< in angenehme Bewegungen versetzt, die sich sogar positiv auf die körperliche und geistige Gesundheit auswirken könnten. Die Imagination steht zwischen den >groben< Sinnen und dem gebildeten Verstand (SP 395),

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bei Voltaire für den »Encyclopedie«-Artikel von 1765 nach, geht dabei aber nur auf die für die Voltaire-Rezeption wichtigen Punkte ein {Jacques Delille »{'Imagination«, Ein Beitrag zu einer Imaginationstheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Bonn, S. 32-38). Für die frühe deutschsprachige Rezeption von Addisons Auffassung der Imagination stehen die bereits genannte Moralische Wochenschrift Discourse der Maklern von Bodmer und Breitinger - v. a. Discours XIX. im ersten Teil - sowie die Abhandlung Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft (1727); s.u. Kap. III.3. Vgl. dazu F. Schlegel (1986), Sich »von dem Gemüthe des Leser Meister« machen. Zur Wirkungsästhetik der Poetik Bodmers und Breitingers. Frankfurt/M. u.a., S. loiff. John Locke (1975), An Essay concerning Human Understanding. Oxford, Bk. II, Chap. VIII, § ; vgl. SP 403. »[...] light and colours, as apprehended by the imagination, are only ideas in the mind, and not qualities that have any existence in matter.« (ebd.) »Imagination« und »fancy« werden auch hier »promiscuously« gebraucht (SP 394). Dieser Unterschied besteht zu der Wölfischen Wahrnehmungstheorie, aber auch zu der Shaftesburys, die neuplatonische Elemente enthält; vgl. Dewitt Thorpe (1935), S. 223 — 228, wo sie von Addison behauptet, daß dieser zwar »essentially a sensationalist« sei, dennoch aber keinen extremen Materialismus vertrete.

und nach Addison ist es die Aufgabe des Menschen, seine mnschuldigen Freuden< 5 1 aufgrund einer verfeinerten (polite) Imagination so viel wie möglich zu kultivieren (SP 395f.): »A poet should take as much pains in forming his imagination, 52 as a philosopher in cultivating his understanding.« (SP 416) Diese Verfeinerung der poetischen Imagination durch Erfahrungsreichtum könne sich auf Gegenstände der Natur, des Land- und Hoflebens und der Künste gleichermaßen beziehen. 53 Die Quelle der >primären Lust* sieht Addison vor allem in der Wahrnehmung von »greatness,54 novelty, or beauty« (SP 397ff.). In vielen Beispielen, die sich vor allem auf die angenehme Wirkung einer reichen Naturerfahrung beziehen,55 zeigt er ein doppeltes Prinzip des Vergnügens auf, es ensteht »from the agreeableness of the objects to the eye, and from their similitude to other objects« (SP 404). Auf dieser Grundlage entfaltet Addison nun sein Konzept der »secondary pleasures of the imagination« (SP 41 iff.), das im Kontext dieser Arbeit ein wichtiges Theoriestück der frühaufklärerischen Position der Einbildungskraft darstellt und Konsequenzen für die ästhetische Bewertung der Imagination in Deutschland im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts hat. Vier Aspekte von Addisons ästhetischer Konzeption der Einbildungskraft sind hervorzuheben: (a) die Anbindung an die Assoziationstheorie auf physiologischer Grundlage, (b) 51

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Dem liegt aber keine positive Anthropologie zugrunde, denn Addison nimmt an, daß es nur sehr wenige Menschen gäbe, die Gefallen an tugendhaften, nicht strafbaren Vorstellungen hätten: »There are, indeed, but very few who know how to be idle and innocent, or have a relish of any pleasures that are not criminal [...].« (SP 395f) Schon hier wird die Anlehnung an Shaftesburys Auffassung einer verfeinerten Imagination deutlich, wie er sie in The Moralists ausführte: »Labour and Pains are requir'd and Time to cultivate a natural Genius.« (CH II 401) Beispielgebende Autoren seien von den Alten Homer, Vergil und Ovid und von den Neueren Milton (SP 4i6ff.), von denen sich vor allem Ovid und Milton darauf verstanden hätten, Monströses in der Metamorphose oder Erhabenes und Großes darzustellen (SP4i7f.). Diesbezügliche Ausführungen zur Größe und Erhabenheit werden entscheidend Edmund Burkes A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful (London 1757) beeinflussen. Vgl. zu diesem Zusammenhang K. Poenicke (1989), Eine Geschichte der Angst? Approbationen des Erhabenen in der englischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. In: C. Pries (Hg.), S. 75—90; und A. Ortmeier (1982), »Taste« und »Imagination«. Untersuchungen zur Literaturtheorie Joseph Addisons. Frankfurt/M., bes. S. 73ff. Interessant an den Beispielen ist zum einen Addisons Präferenz für natürliche Dinge (weite Landschaften, Wiesen, Wälder, Kornfelder etc., SP 397-406) vor Kunstgegenständen und einer artifiziellen Natur; hier kritisiert er erstaunlicherweise die Künstlichkeit englischer Landschaftsgärten (SP 405^). Dennoch weitet er dieses Vergnügen auch auf ästhetische Gegenstände aus, bei denen Natur und Kunst verbunden sind wie in der Architektur (SP 406 — 410). Zum anderen betont er, daß die Ansicht einer Landschaft mehr Gefallen verursachen könne als deren Besitz (SP 395), womit er bereits eine Art interesselosen Wohlgefallens formuliert. 69

der Gedanke von der Vervollkommnung der Natur, (c) die Legitimation einer fiktional-magischen Wirkung der Imagination und (d) die Intellektualisierung der Einbildungskraft. 2.1. Die Assoziation der Ideen50 In den Nummern 416 und 417 des Spectator behandelt Addison die Aktivität der ästhetischen Einbildungskraft, die auf vergangene Erfahrungen im allgemeinen bezogen ist und durch die Wahrnehmung von künstlerischen Repräsentationen (Bilderhauerei, Malerei, Poesie, Musik)57 wiederbelebt wird. Das Vergnügen entsteht hier durch den Vergleich, den der Rezipient mit dem Original anstellt: [...] this secondary pleasure of the imagination proceeds from that action of the mind, which compares the ideas arising from the original objects, with the ideas we receive from the statue, picture, description, or sound that represents them. (SP 412)

Für diesen Vergleich reiche es aus, wenn nur eine Ähnlichkeit oder Verwandtschaft zwischen dem Dargestellten und den allgemeinen Kenntnissen von Menschen und seinen Handlungsweisen bestehe. Die Fähigkeit der Imagination sei es, einzelne Ideen zu erweitern, zu verbinden und nach ihrem Belieben zu variieren.38 So kann die Verbindung von künstlerischer Darstellung und realem Vorbild sehr locker sein, sofern sie wenigstens eine Vergleichbarkeit59 der Ideen parat hält. Nach Addison entsteht das Vergnügen der Einbildungskraft aber nicht nur durch künstlerische Darstellungen, sondern durch jede Form von Nachahmung60 realer Objekte. Die Assoziation der Ideen führt dabei unwill-

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Obgleich Addison nicht explizit von der »Assoziation der Ideen« spricht, sondern von »resemblance«, »analogy« (SP4ii), »affinity of ideas« (SP 412) oder auch davon, daß »a single circumstance [...] raises up a whole scene of imagery« (SP 415), ist damit nichts anderes gemeint als das Assoziationsprinzip, wie es in England bereits von Hobbes und Locke vertreten und später von Hume zu einer Theorie ausgearbeitet wurde. Vgl. dazu M. Kaiich (1970), The Association of Ideas and Critical Theory in Eighteenth-Century England. The Hague, Paris, S. 45-51. Im weiteren Verlauf der Abhandlung schränkt Addison seine Theorie auf die Dichtung ein, die er rnenschheitsgeschichtlich für eine spätere >Erfmdung< hält als die Malerei (SP 4i2f). Im englischen Text heißt es: »It is sufficient, that we have seen places, persons and actions, in general, which bear resemblance [...] with what we find represented. Since it is the power of the imagination, when it is once stocked with particular ideas, to enlarge, compound, and vary them at her own pleasure.« (SP 411) Für Addison entsteht das Vergnügen aus dem Vergleichen von Ideen, indem man Übereinstimmungen oder Widersprüche zu den natürlichen Dingen findet. »[...] this second pleasure of the imagination [...] makes us delight in all the actions and arts of mimicry.« (SP 412)

kürlich 61 von einer partikularen Vorstellung oder einem einzelnen Ereignis zur Vorstellung einer komplexen Szenerie und erweckt dabei eine Vielzahl an Ideen im Sinne von Vorstellungsbildern, die vorher in der Imagination geschlummert haben (SP 415). Auslöser eines solchen Assoziationsprozesses kann ein besonderer Geruch, eine Farbe, ein Ton etc. sein, was Addison mit der mechanistischen Bewegung der >Lebensgeister< zu erklären versucht: The set of ideas, which we received from such a prospect or garden, having entered the mind at the same time, have a set of trace belonging to them in the brain, bordering very near upon another; when, therefore, any of these ideas arises in the imagination, and consequently despatches a flow of animal spirits to its proper trace, these spirits, in the violence of their motions, run not only in the trace to which they where more particularly directed, but into several of those that lie about it: by this means they awaken other ideas of the same set, which immediately determine a new despatch of spirits, that in the same manner open other neighbouring traces, till at last the whole set of them is blown up, and the whole prospect or garden flourishes in the imagination. (SP 415)

Der physiologische Prozeß bei einer Vorstellung betrifft also nicht nur bestimmte, einzelne Nervenbahnen. Vielmehr werden durch die heftige Bewegung beim schnellen Fluß der >Lebensgeister< die benachbarten Nervenbahnen in Mitleidenschaft gezogen, so daß ein ganzer Vorstellungskomplex in Bewegungen gerate. Da Addison keine weiteren Erläuterungen zur Art des psychophysischen Zusammenhanges liefert, ist schwer zu sagen, ob er einen tatsächlichen wechselseitigen Einfluß oder nur eine Korrespondenz von physischen und immateriellen Bewegungen annahm. Jedenfalls versucht er, die von Locke übernommenen Assoziationstheorie auch eine physiologische Basis zu verankern, kommt dabei aber nicht zu anderen Ergebnissen als die auch von der rationalistischen Psychologie akzeptierte mechanistische Medizin. Gleichwohl ist die Verbindung der Assoziationstheorie mit einer positiv verstandenen, spezifisch ästhetischen Einbildungskraft als Leistung Addisons anzusehen. 2.2. Vervollkommnung der Natur durch Poesie Kunst und Natur befinden sich in einem Konkurrenzverhältnis, wenn nach Addison durch die >Macht der Worte< oder durch eine poetische Beschreibung lebendigere Vorstellungen entstehen können als durch eine Sinneswahrnehmung. Die Intensität von realer Empfindung und Vorstellung ist hier im umgekehrten Verhältnis zu der gängigen Auffassung gedacht, die eine Vorstellung als schwächer gegenüber der Empfindung qualifiziert. Aus diesem Grund wird der Dichtung auch die Funktion zugewiesen, die Natur zu verbessern, zu ver-

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»Our imagination takes the hint, and leads us unexpectedly into cities or theaters, plains or meadows« (SP 415; Hervorhebung von G. D.).

schönern oder zu erhöhen.62 Damit wird der poetischen Einbildungskraft eine Dignität vor der sinnlichen Wahrnehmung zugestanden, die im Kontext der bisher aufgezeigten moralistischen und rationalistischen Positionen eine enorme Erweiterung bedeutet, aber auch auf einen schwachen Natur- und Empiriebegriff hindeuten könnte und somit als ein Rückfall gegenüber dem Niveau der zeitgenössischen empiristischen, aber auch rationalistischen Theorie der Sinneswahrnehmung gesehen werden müßte. Für die letztere These spricht, daß Addison die Freuden und Leiden der Einbildungskraft weder aus der Sinneswahrnehmung noch aus dem Verstand ableitet, sondern in diesem Zusammenhang auf den »Supreme Author« (SP 401) verweist.03 Für die erste Auffassung spricht, daß die Imagination sich einerseits aufgrund ihres Assoziations- und Kombinationsvermögens nicht sklavisch an die Reproduktion empirischer Erfahrungen halten und andererseits auch ihren Erfindungen< nicht die Grenzen des Wahrscheinlichen wie bei der Annahme von realen Objekten auferlegen müßte (SP 423). Voraussetzung für diese weniger reglementierte Auffassung der Einbildungskraft sind nicht die Normen einer empirischen Realität oder des Verstandes, sondern ästhetische Normen, die aus dem Gefallen oder Mißfallen an den Wirkungen der Imagination abgeleitet werden. Hierbei ist die Imagination nicht einer Ambivalenz zwischen tugendgemäßen und unmoralischen, zwischen rational vertretbaren und unvernünftigen Vorstellungen unterworfen. Vielmehr besteht ihre poetische oder ästhetische Funktion darin, die Vorstellungen von »Größe, Neuem und Schönem« (SP 397ff.) hervorzurufen, ohne sich dabei notwendig an der Natur oder Realität zu orientieren. Das hebt Addison auch am Ende des Essays noch einmal hervor: »this talent [...] is able to beautify and adorn the most illustrious scenes in the universe, or to fill the mind with more glorious shows and apparitions than can be found in any part of it.« (SP 429) 2.3. Legitimation einer fiktional-magischen Wirkung der Imagination Addison hält es für wesentlich schwieriger, sich des »fairy way of writing« (SP 422) zu bedienen, was vielleicht mit »wunderbarer Schreibart« zu übersetzen wäre, als sich an die eigene Naturerfahrung zu halten. Diese Schreibart sei deshalb schwierig, weil die Produkte der Imagination nicht auf vorhandenen 62

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Addison gebraucht dafür Formulierungen wie: »the memory heightens the delightfulness of the original« (SP 415) oder: »[...] it is the part of a poet to humour the imagination in its own notions, by mending and perfecting nature where he describes a reality, and by adding greater beauties than are put together in nature where he describes a fiction« (SP 421); »he [i.e. the poet] has the modelling of nature in his own hands.« (ebd.; Hervorhebungen von G. D.) Hier erklärt Addison, daß die »happiness« (SP 401) der Imagination in der Kontemplation und Bewunderung des höchsten Wesens bestehe, weil es ein natürliches Ergötzen an allem Großen, Unbegrenzten gebe (ebd.).

Mustern beruhten, sondern die eigene >Erfmdung< herausforderten. Zwei Komponenten spielen hier eine wichtige Rolle: die Qualität einer produktionsästhetischen Einbildungskraft und der Geschmack des Publikums. Für die wunderbare Schreibart< müsse ein Dichter eine von Natur aus fruchtbare und abergläubische Imagination 64 besitzen, wozu ein großer Erfahrungsschatz an Märchen und Legenden vonnöten sei. Diese Seite der Einbildungskraft ist auf die Erwekkung von »strangeness and novelty« (SP 422) spezialisiert, die dem Leser eine natürliche Form von angenehmem Schrecken (ebd.) bereiteten, die mit den Geschichten aus der Kindheit wie mit den angeborenen und geheimen Ängsten verbunden sei (ebd.).65 Addison argumentiert hier publikumsbezogen, wenn er behauptet, daß der Mensch an allem Gefallen fände, was neu, ungewohnt, fremd und überraschend sei, zudem am meisten durch erfundene Figuren einer anderen Spezies erfreut werden könne, ohne aber den Betrug entlarven zu wollen.66 Damit gelangt er zu einer positiven Sanktionierung des Betrugs, die sich grundlegend von Shaftesburys Skepsis gegenüber dem Aberglauben unterscheidet, wie es im vorherigen Kapitel an dessen Schriften Soliloqui und The Moralists gezeigt worden ist.6"7 Obwohl Addison hier die Formulierung der »pious frauds« (SP 423) gebraucht, die eine direkte Rezeption Shaftesburys (CH II 325) wahrscheinlich macht, versucht er an dieser Stelle nicht, den frommen Betrug durch den vernünftigen Enthusiasmus in einen richtigen Glauben umzuwenden. Demnach geht es Addison bei der >erfinderischem Imagination zunächst nicht um (Selbst)Aufklärung und Desillusionierung, sondern um Befriedigung der Lust68 an ästhetischen Gegenständen, zu denen gerade die außergewöhnlichen, schreckenerregenden und monströsen Phänomene gehörten.69 Er 64 65

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»[...] an imagination naturally fruitful and superstitious [...].« (SP 422) »[...] secret terrors [...] to which the mind of man is naturally subject« (ebd.). Dies stellt eine deutliche Parallele zu Shaftesbury dar (vgl. CH I 2^2({., 339ff. und CH II 325)· Addison weist an dieser Stelle die Verteidiger des Wahrscheinlichkeitsprinzips mit dem Argument ab, daß der Mensch übernatürliche Wesen nicht grundsätzlich für unmöglich hält und sich auch gern einem >Betrug< anheimgibt: »[...] that we do not care for seeing through the falsehood, and willingly give ourselves up to so agreeable an imposture [...].« (SP 423) S.o., Kap. III.i. An einer Vielzahl von Stellen spricht Addison nicht nur von »delight« und »happiness«, sondern sogar von »satisfaction«, so daß den ästhetischen Empfindungen auch ein anthropologischer Qualität zugeschrieben wird. Diese Lust zeige sich nach Addison gerade in der Nationalliteratur — sein Land sei enger mit »wild notions and visions« (SP 423) verbunden als andere Nationen — , wobei vor allen Shakespeare eine »noble extravangance of fancy« (ebd.) besitze. Diese Auffassung steht in klarer Opposition zu Shaftesburys Disqualifizierung des >Extravaganten< (Ideal der »simplicity«), wenn dieser etwa feststellt: »Monsters and MonsterLands were never more in request« (CH I 350), also auch keine Mohren wie in Shakespeares Tragödie Othello (CH I 347ff.). 73

funktionalisiert die abergläubische Imagination und die »pious frauds« für das ästhetische Vergnügen und legitimiert damit die >unaufgeklärte< Seite der dichterischen Einbildungskraft, die das Fremde und Neue in Szene setzt, weil das Publikum daran Gefallen findet. In der Legitimation des Wunderbaren und des Aberglaubens spielt er zunächst den Wahrheitsanspruch gegen den Publikumsgeschmack aus, um im weiteren Verlauf die ästhetische Lust dennoch wieder an die Ansprüchen der Vernunft anzugleichen.70 2.4. Intellektualisierung der Einbildungskraft Doch im nächsten Argumentationsschritt versucht Addison, die fiktional-abergläubische Wirkung der Imagination mit rationalen Maßstäben zu vermitteln, indem er sie näher an die Realität bindet. Hierfür bezieht er sich neben Geschichtsschreibern und Geographen vor allem auf die Autoren der »new philosophy« (SP 425), die gegenüber ersteren durch die Erfindung von Mikroskop und Teleskop eine neuen Blick auf die Gegenstände werfen und dadurch ihre Imagination enorm erweitern könnten.71 Interessant ist hier die Reihenfolge, daß der poetischen Imagination die wissenschaftliche Erfindung vorausgehe, daß neue Bilder des Universums also erst durch die technischen Neuerungen ermöglicht werden. Addison thematisiert hier die Unendlichkeit des Universums mit Planeten und Fixsternen, die in unergründlichen Tiefen des Äthers (SP 426) versänken — ein Bild, das direkt an den zweiten Teil von Shaftesburys >Naturhymnus< in The Moralists anknüpft (CH II 3yoff.). Die Annahme einer »Analogie und Proportion« (ebd.) von den kleinsten Partikeln in der Welt und im Universum verbindet er mit der wichtigen Behauptung, daß eine solche Ansicht des Universums die gleiche »evidence« (ebd.) wie eine mathematische Demonstration beanspruchen könne.72 Das Hauptproblem liegt aber in der Begrenztheit der Imagination, die weder unendlich kleine Partikel noch unendlich ausgedehnte Gegenstände, auch nicht mit technischen Hilfsmitteln, erfassen könne. An dieser Stelle führt Addison den Verstand ein, dem die Fähigkeiten eigneten, die der Imagination fehlten. Denn dieser sei in der Lage, einen unendlichen Raum zu umfassen sowie die infinite Vielfalt von Teilungen der Dinge zu verfolgen, wenn die Imagination schon den Überblick verloren habe 70

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Eine ganz ähnliche Position werden die Schweizer Literaturkritiker Bodmer und Breitinger in ihren poetologischen Schriften vertreten; s.u. Teil I, Kap. III.3. und Teil II, Kap. 3.1. Vgl. dazu M. Hope Nicolson (1935), The Microscope and English Imagination. In: Smith College Studies in Modern Languages. Vol. 16.4, S. 1—92; dies. (1957), Science and Imagination. Ithaca; und K. Richter (1972), Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung. München, S. i99f. Implizit wertet Addison damit Shaftesburys Naturhymnus als vereinbar mit der zeitgenössischen Naturwissenschaft und deren Methoden auf.

und von der Unendlichkeit des leeren Raums verschlungen worden sei (SP 427). Diese Gefahr, die auch aus Shaftesburys >Naturhymnus< bekannt ist, wurde dort durch die Steigerung des Enthusiasmus in Verbindung mit der Vernunft getilgt. 73 Gleichlautend zu dieser Lösung konzipiert Addison nun eine verfeinerte Imagination als Eigenschaft von »beings of a higher nature« (SP 427),74 die mit dem Verstand Schritt halten können (ebd.), indem sie in den materiellen Objekten auch »a scheme of thoughts« (SP 428) zu entdecken imstande sind. Diese Art von Imagination würde sowohl den Verstand >kopieren< als auch die vernünftigen Ideen in die materielle Welt übertragen, woraus nach Addison eine doppelte Befriedigung entsteht. 75 Das heißt für die Imagination, daß sie sich nicht nur auf sinnliche und erfundene Gegenstände beziehen kann, sondern auch auf vernünftige Objekte, was bei ihrer Verbindung mit dem Körper76 einen hohen Grad an Bildung und Verfeinerung voraussetzt. Diese plötzliche Wendung in Addisons Essay ist problematisch. Den »angenehmen Betrug< hat er durch den Primat der Lust der Imagination legitimieren können. Nun versucht er, die drohende Unlust, die aus dem Gebrauch einer bis ins Unendliche erweiterten Einbildungskraft entspringen kann, durch ihre Annäherung an den Verstand abzuwenden. Hauptabsicht ist nämlich die Befriedigung des Gemütes. Versagt die begrenzte Imagination ihren Dienst, muß sie sich an die Muster des Verstandes anpassen. Eine solche Einschränkung der Imagination ist nur plausibel unter der Bedingung einer Hierarchie der Seelen73

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Vgl. CH II 344f- K. Poenicke sieht dies als ein Scheitern der Imagination an, was Addison dadurch zu lösen versuche, daß er »doch wieder auf den unergründlichen Ratschluß einer prima causa zurück[fallt], um die zuvor aufgebrochene Kluft zwischen Vorstellungskraft und Denken einerseits und einer bedrohlichen und einer befreienden Bildwelt andererseits zu schließen«; vgl. Poenicke (1989), S. 82. Poenicke verbindet hier aber eine frühere Passage aus der No. 413 des Spectator mit der in No. 420 beschriebenen Unzulänglichkeit der Imagination und behauptet eine Ambivalenz von Einbildungskraft und Vernunft analog zur einer Ambivalenz von Erhabenen und Schönen. Dabei übersieht er, daß Addison in dieser Nummer die Imagination durch ihre Angleichung an die Vernunft von drohender Unlust zu entlasten beabsichtigt, aber nicht durch den Verweis auf ein allmächtiges Wesen. So hat Poenicke eine wichtige Wende in Addisons Abhandlung, die sich in diesem Aspekt an Shaftesburys Auffassung des vernünftigen Enthusiasmus< orientiert, d.h. auf eine Verfeinerung der Imagination zielt, nicht mitvollzogen. Das Problem besteht m. E. mehr in der Intellektualisierung der Imagination als in ihrer Opposition zur Vernunft. Denn es besteht nicht eine Ambivalenz zwischen Imagination und Vernunft, als vielmehr in der Einbildungskraft selber, die nach Addison Quelle der höchsten Freuden wie auch Leiden sei. Die Anlehnung an das Vorbild Shaftesbury ist unübersehbar, wenn Addison hier von »polite masters of morality, criticism« (SP 427) spricht. »And here the mind receives a great satisfaction, and has two of its faculties gratified at the same time, while the fancy is busy in copying after the understanding, and transcribing ideas out of the intellectual world into the material.« (SP 428) »[...] it acts in conjunction with the body [...].« (SP 427)

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vermögen von den Sinnen als den begrenztesten Vermögen über die Einbildungskraft als deren größtmögliche Erweiterung bis zum Verstand mit der Fähigkeit, auch das Unendliche zu erfassen. Mit der Verfeinerung und Intellektualisierung der Einbildungskraft entsteht erst ihre Ambivalenz, die zum Problem wird: »the imagination is as liable to pain as pleasure« (SP 429) und sie »can so exquisitely ravish or torture the soul« (SP 430). Addisons Einsicht, daß die Imagination ein ambivalentes Vermögen ist — Quelle von »happiness or misery« (ebd.) gleichermaßen — , zeigt die anthropologische Wende des Essays und bleibt damit der Philosophie Shaftesburys verpflichtet. So läßt sich Addisons Konzept der Imagination als prägnante und für die Moralische Wochenschrift popularisierte Fassung von Shaftesburys moralistisch-ästhetischem Konzept der Einbildungskraft verstehen, oder mehr noch als dessen erweiterte Fassung mit Schwerpunkt auf der ästhetischen Lustbefriedigung. Sein Konzept hat nicht nur in England bei Autoren wie Hutcheson, Hume und Burke77 zu einer bedeutsamen Rezeption und Verarbeitung geführt, sondern auch auf die Schweizer Bodmer und Breitinger eingewirkt, wie im nächsten Kapitel zu zeigen ist.

3. Die eklektizistische Position von Bodmer und Breitinger Noch vor Gottsched traten die Literaturkritiker Bodmer und Breitinger 78 mit ihrer Abhandlung Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft (172y)79 auf den Plan. Diese Wolff gewidmete Schrift übernimmt dessen psychologische Bestimmung der Einbildungskraft als eines reproduktiven Vermögens und

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Vgl. Dewitt Thorpe (1935); Engell (1981); T. Eagleton (1990), The Ideology of the Aesthetic. Oxford, Cambridge/Mass., S. 31—69. Zur besonderen Stellung Bodmers und Breitingers im calvinistischen Zürich vgl. R. Meyer (1980), in: Bürger/Bürger/Schulte-Sasse (Hg.), S. 65. Außerdem C. Siegrist (1984), Poetik und Ästhetik von Gottsched bis Baumgarten. In: Grimminger (Hg.), Bd. 3.1., S. 280 — 326; G. Schäfer (1987), »Wohlklingende Schrift« und »rührende Bilder«: Soziologische Studien zur Ästhetik Gottscheds und der Schweizer. Frankfurt/ M. u.a. (= Europäische Hochschulschriften. Reihe i, Bd. 967), S. 37ff. Allgemein vgl. W. Bender (1973), J. J. Bodmer und J. J. Breitinger. Stuttgart (= Sammlung Metzler. Bd. 113). Der vollständige Titel lautet programmatisch Vernünfftige Gedancken und Urtheile von der Beredtsamkeit. Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft: Zur Ausbesserung des Geschmackes: Oder Genaue Untersuchung Aller Arten Beschreibungen, Worinne Die außerlesenste Stellen Der berühmtesten Poeten dieser Zeit mit gründlicher Freyheit beurtheilet werden (Frankfurt und Leipzig 1727). Diese Ausgabe wird im folgenden als EGE mit Seitenzahl in ( ) im Text zitiert.

überträgt sie auf die poetologische Konzeption des Nachahmungsprinzips.80 Das Theorieangebot, in der Einbildungskraft auch ein kombinatorisches Vermögen zu sehen, übergehen sie und realisieren damit nur einen Teil der theoretischen Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen. 81 Doch neben Wolff berufen sich die Schweizer auf eine ganze Reihe weiterer Gewährsmänner unterschiedlicher Provenienz, wobei sie Joseph Addisons Pleasures of the Imagination (EGE Einl., 3of, 49), Pseudo-Longins Abhandlung Über das Erhabene (EGE 5, 25> 82 sowie Quintilians rhetorischer Affekttheorie (EGE 20, i2off.) 83 am meisten Bedeutung beimessen. Die leitende Frage der Schweizer ist, durch welche poetischen Mittel die größtmögliche Rührung beim Rezipienten zu erreichen sei. Publikumsbezug und Affekterregung sind erklärte Ziele der poetischen Darstellung. Der Einbildungskraft kommt hierbei eine zentrale Bedeutung zu: Zum einen kann sie durch die Nachahmung von »Natur und Kunst als Urbilder[n]« (EGE 10) die Illusion einer Begebenheit oder Handlung erzeugen, als ob diese Wirklichkeit seien, und damit das zeitlich begrenzte Vergnügen an

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Neben diesem Aspekt der reproduktiven Einbildungskraft verwerten die Schweizer explizit nur wenige Ideen von ihrem geistigen >MentorAufmerksamkeit< und Übung (EGE 7), die Ausweitung der Einbildungskraft auf die ihr mögliche Vorwegnahme eines »künftigen Zustandes der Welt« (DM §§808-811; EGE 2380°.), dann die Ansicht, daß die Affekte mit der »flüßigen Materie in den Nerven verknüpffet« seien (EGE 97), sowie die Auffassung von den Affekten als »undeutliche[n] Vorstellungen des Guten und Bösen« (EGE 119), die sich vor allem auf Wolffs Deutsche Ethik (1720) bezieht (EGE i83ff.). Ausgeblendet ist in dieser Schrift die Leibniz-Wölfische Konzeption der »möglichen Welten« (DM § 571), der vorherbestimmten Harmonie (DM § 765) und der Präformation der Ideen (DM § 819); stattdessen sind Bodmer und Breitinger Anhänger der AristotelischLockeschen »tabula rasa«-Auffassung (EGE i8of). Vgl. R. Meyer (1980), S. 5 iff. (Pseudo)Longinos (1966), Vom Erhabenen. Übs. v. R. Brandt. Darmstadt. Die spezielle Auseinandersetzung mit dieser Abhandlung Pseudo-Longins war einem nicht realisierten fünften Teil der >Grundsätze der Beredtsamkeit< vorbehalten (EGE, Widmung, o. P.). Doch zitieren die Schweizer ausführlich Pseudo-Longins wirkungsästhetische Vorstellung vom Nutzen der Rede und Dichtung, das Publikum so zu bewegen, daß es die »Bilderreyen« für sichtbare Dinge hält - wie der »helle Schein«, der sich der »Fantasie« »bemächtigt« (EGE 237^). Vgl. dazu M. K. Torbruegge (1971), Bodmer und Longinus. In: Monatshefte 63, S. 341 — 357; Bender (1973), S. 7of.; und C. Zelle (1987), S. 70f. u. pass. Quintilian, Institutio Oratoria (um 90 n. Chr.). Zu Quintilian-Rezeption in Barock und Frühaufklärung vgl. K. Dockhorn (1968), Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne (= Respublica Literaria. 2). Bad Homburg v. d.H.; ders. (1977), Kritische Rhetorik? In: H. F. Plett (Hg.), Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung. München 1977, S. 252-275; und W. Barner (1970), Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen.

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sinnlichen Gegenständen dauerhaft machen (EGE 4-9); zum anderen kann sie die Affekte bestimmen (EGE 119), indem sich der Dichter durch die Sprache der Affekte des >Gemütes< des Lesers bemächtigt (EGE nyff.). Diese poetologische Konzeption der Einbildungskraft enthält mehrere Momente, die es unter den Gesichtspunkten (a) der Vermögenspsychologie, (b) des Realitätsgehaltes und Adressatenbezuges und (c) der Affektivität der Einbildungskraft zu erläutern gilt. 3.1. Wolffsche Vermögenspsychologie in der Poetik Übereinstimmend mit Wolff definieren Bodmer und Breitinger die Einbildungskraft als Vermögen, vergangene Empfindungen von neuem zu erwecken. Diese seien zwar »nicht so deutlich« (EGE 6) wie die ursprünglichen, könnten aber unabhängig von realen Eindrücken einen »großen Zusatz von Klarheit« erhalten, wie es etwa in Träumen der Fall sei (EGE 7).04 Bei der reproduktiven Einbildungskraft geht es den Schweizern jedoch weniger um die Frage, nach welchen Regeln sie abläuft, 85 als vielmehr, wie die Vorstellung eines abwesenden Gegenstandes dennoch Vergnügen bereiten kann und wie sich dieses vermittelte Vergnügen vom realen unterscheidet. Die beiden Fragen werden auf zwei verschiedenen Ebenen beantwortet, auf einer poetologischen und einer anthropologischen. Zu Beginn der Abhandlung beschäftigen sich die Bodmer und Breitinger mit den einzelnen menschlichen Vermögen,86 wobei sie feststellen, daß der Einbildungskraft im Vergleich zur Sinnlichkeit mehr Spielraum zukomme: Vermag die Sinneswahrnehmung nur während der Dauer eines sinnlichen Reizes Vergnügen zu bereiten, kann die Einbildungskraft ein Vergnügen durch seine beliebige Wiederholbarkeit dauerhaft machen (EGE 5f.): denn sie »thut es / daß das Ergötzen / welches er [der Mensch] einmal genossen / stets in seiner Gewalt bleibet / daß er es so offt er will / verneuern und gleichsam verewigen kan.« (EGE 6) So hat die poetische Einbildungskraft nicht nur die Macht inne, Affekte zu erregen, sondern solche Affekte auch immer wieder von neuem erregen zu können. Obgleich die Schweizer diesen Aspekt der beliebigen Reproduzierbarkeit des >Ergötzens< nicht weiterverfolgt haben, rechtfertigen sie an dieser Stelle die Einbildungskraft als eine weise Einrichtung Gottes, weil sie das Vergängliche, Ephemere der sinnlichen Empfindungen zu transzendie84 85

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Vgl. auch Wolff (DM §§ 801-803). Bodmer und Breitinger übergehen Wolffs »Regel der Einbildungskraft« (DM § 238; § 799), die auch Gottsched für das reproduktive Vermögen übernommen hat. Zu Beginn der Abhandlung beziehen sich die Schweizer allgemein auf die menschlichen Vermögen, die fünf Sinne, die »aufmercksame Wundergierigkeit« (EGE i) und die Einbildungskraft, bis sie auf die Funktion des >Poeten< zu sprechen kommen (EGE 7f.).

ren imstande ist und die Lust bis ins Unendliche verlängern kann.87 Auffallend ist der emotionalistische Aspekt: die gottgegebene Einbildungskraft wird allein auf das (ästhetische) Vergnügen bezogen. Damit gehen die Schweizer über die Vorgaben der rationalistischen Philosophie Wolffs hinaus und stellen sie in den Kontext der klassischen Rhetorik.88

3.2. Realitäts- und Adressatenbezug Dieser religiös-anthropologische Gesichtspunkt der Einbildungskraft als Mittel der Überwindung von Vergänglichkeit weicht in der Abhandlung aber einer poetologischen Funktionszuweisung dieses Vermögens. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die Einbildungskraft Vergnügen, also Affekte beim Publikum hervorrufen könne. Die Antwort ist zweigeteilt, sachbezogen und publikumsbezogen: Hieraus kan nun ein jeder leicht abnehmen / daß das Ergötzen / welches eine wolgetroffene Beschreibung in uns stifftet / nicht gerichts von dem Gegenstande / der beschrieben wird / komme; sondern von der Ähnlichkeit des Abdrucks mit dem Urbilde. Es entspringt nehmlich in der Beschreibung von der Vergleichung / so das Gemiith zwischen den Begrieffen [sie!] / welche die Wort in ihm erwecken / und denen Empfindungen anstellt / welche die Gegenstände darinne machen / wann sie selbst zugegen sind. (EGE 29) Wenn denn eine wolgeübte und lebhaffte Einbildungs-Krafft durch deutliche Vorstellungen in eine biegsame empfindliche Seele wircket / die leicht Feuer fängt / so kan das Gemüth nicht ungestört in seiner Ruhe bleiben; sondern es wird / je nachdem der Gegenstand beschaffen ist / welchen es durch einen unvermerckten Betrug der Einbildungs-Krafft gegenwertig siehet und wircklich empfindet / entweder mit einem sanfften Ergötzen / oder Furcht und Schrecken [...] erfüllt. (EGE 119)

Die Zürcher knüpfen hier an die Wölfische Psychologie (deutliche Vorstellungen), an Addison (angenehmer Betrug) und an die rhetorische Tradition an. In dieser Passage ist der Nachahmungsgrundsatz, damit der Wahrheitsanspruch der Poesie, mit ihrem Zweck der Affekterregung und Illusionsbildung beim

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Die religiös konnotierte Rechtfertigung am Anfang lautet: Da es »dem gütigen Schöpffer der Menschen gefallen [habe] das Ergötzen in die Welt zu bringen / die Eitelkeit unserer Tagen damit zu besseren und zu versüssen [...] / hat er die Seele mit einer besondern Krafrt begäbet / daß sie die Begrieffe und die Empfindungen / so sie einmal von den Sinnen empfangen hat / auch in der Abwesenheit und entferntesten Abgelegenheit der Gegenständen nach eigenem Belieben wieder annehmen / hervor holen und aufwecken kan: Diese Krafft der Seelen heissen wir die EinbildungsKrafft«. (EGE 4f.) Bender betont, ohne allerdings anderen Einflüssen nachzugehen, daß die Schweizer in der Schrift von 1727 weitgehend mit den Auffassungen von WolfF und Gottsched konform gingen; vgl. Bender (1973), S. 72.

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Publikum verbunden: Die dargestellte Sache gefällt nicht als Illusion für sich,89 sondern weil sie der empirischen Realität als >Urbild< ähnelt.90 Entscheidend für das ästhetische Vergnügen ist also die Abbildrelation zwischen Fiktivem und Realem, nicht die Nachahmung der Objektwelt. 91 Die platonisierende Redeweise von »Urbild« und »Abbild« ist so zu verstehen, daß der fiktive Gegenstand auf eine empirische Realität zurückbezogen können werden muß. Bodmer und Breitinger verlangen denn auch von einem guten >Poeten< einen großen »Vorrath« (EGE 8) und Reichtum an Erfahrungen, 92 die erst durch die Voraussetzung von »genaueste[r]Charakteren< sowie reale Affekte; Movens ist die affektive Einbildungskraft; sprachliche Mittel sind die »Beschreibung« (EGE 20) sowie Tropen und Figuren (EGE IO9>, 95 die aber nicht mühselig erlernt,

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Hier ist der These Viettas (1986) zu widersprechen, der in der Ausblendung von realen Eindrücken sowohl einen Vorgriff auf Novalis, als auch einen »Entfremdungsprozeß des Subjekts von der Objektwelt« sowie eine Parallele zum »solipsistischen Ausgangspunkt der neuen Reflexionsphilosophie« (S. 119) sieht. Vietta verkennt hier die Verbindlichkeit des Nachahmungsgrundsatz für die Züricher sowie der Traditionen, die er selber auf S. 117 (a.a.O.) aufgezählt hat. Vgl. hierzu Bender (1973, S. 71): »Urbild und Abbild in Übereinstimmung zu bringen, hielt man sowohl in Leipzig als auch in Zürich für die Prämisse jeglichen ästhetischen Vergnügens. Das war 1721 [Discourse der Mahleni]. Und an dieser Prämisse hielten die Schweizer fest.« Vgl. hier die Rezension von Bruck/Feldmeier/Hiebel/Stahl (1971), Der Mimesisbegriff Gottscheds und der Schweizer. Kritische Überlegungen zu Hans Peter Herrmann, Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1970. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 90.2, S. 563-578, hier S. 571 f. Die Forderung von Erfahrungsreichtum beziehr sich auf Natur und Kunst, ländliches und höfisches Leben (EGE 9, 21) sowie den »Charakter der Sitten«, verschiedene Arten des Affektausdrucks, aber auch auf das unnatürliche Verhalten, die Verstellung (EGE, Widmung, o.P.; 100, logff.). In dieser Unterscheidung von natürlicher und zivilisierter Welt folgen sie Addison, der zwar der Natur als Erfahrungsbasis für den Dichter den Vorzug gegeben hat, aber dies auch auf die Künste — zur Kultivierung der Imagination - ausweitet (SP 416). Zur Bedeutsamkeit der Begriffe des >Interesses< und der >Curiosität< — Leitbegriffe in den Discoursen der Maklern (v.a. im i. Theil, XIX. Discours) — vgl. die Studie von F. Schlegel (1986), S. loiff. »Solche Redner / die von einer Leidenschafft entzündet werden / lassen das Hertze reden [...]: Sie zwingen uns alsdann eben dieselben Affecten anzunehmen / von denen sie gerührt werden [...].« (EGE 118) Hier beziehen sich die Autoren explizit auf Quintilian.

vielmehr als unmittelbarer Affektausdruck angewendet werden sollen (EGE ii 7 fF.)." 6 Hierbei sind Autor und Rezipient zu unterscheiden. Denn die Einbildungskraft des Rezipienten vollzieht unwillkürlich, was die Einbildungskraft des Autors willkürlich, »nach eigenem Belieben« (EGE 5, 7, 119) in Szene setzt.97 Gleichwohl ist der Autor den Ansprüchen des Publikums verpflichtet. Demgemäß muß er in seine >Nachbildung< die Aktivität der rezeptiven Einbildungskraft einplanen, die durch die Lust an der Ähnlichkeit von dargestellter und empirischer Wirklichkeit »unvermerckt« den Schein für Realität nimmt. Handelt es sich beim Autor um eine »reichlich angefüllt[e]«, »lebhaffte«, »wolgeübte« und »feuerige« Einbildungskraft (EGE 6, 9, 15, 119, 239), läßt sie beim Leser den »Wahn« entstehen, »als ob« er die dargestellten Dinge wirklich sehe (EGE 9, 31, 239).98 Diese »als-ob«-Funktion der Einbildungskraft, Realität vorzuspiegeln, um den »Leser gleichsam zu bezaubern« (EGE 9), führt vor dem Hintergrund der wirkungsästhetisch sanktionierten Steuerung der Affekte zu einer Legitimierung der Täuschung, wie sie auch Addison im Unterschied zu Shaftesburys grundsätzlichem Mißtrauen gegen jede Art von >Wahn< propagiert hat.99 Allerdings kann die Täuschung auch hier nur eingeschränkte Geltung beanspruchen, da Bodmer und Breitinger dem Leser keine freie Auslegbarkeit des Dargestellten einräumen, sondern die Rückbindung des erzeugten Scheins an die erfahrbare Realität voraussetzen, um diesen vom Odium des Falschen, Lügenhaften zu befreien. So gefällt die Illusion dem Publikum allein deshalb, weil sie auf die empirische Realität verweist (EGE 10, 23, 28ff.) mit der Pointe: je mehr Ähnlichkeit von »Urbild« und »Abdruck«, desto größer 96

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Daß die Schweizer hier ihre Sprachkritik, ohne aber die traditionelle Forderung einer Übereinstimmung von res und verba völlig aufzugeben, mit Erkenntniskritik verbinden, wenn sie von dem Dichter die genaue Beobachtung der Gegenstände verlangen, haben die Rezensenten der Studie von Herrmann (1970) hervorgehoben; vgl. Brück/ Feldmeier u.a. (1971), S. 576. F. Schlegel (1986) stellt die »Gemütsbemeisterung« als »zentral« (S. 99ff.) für die Schweizer heraus. Bodmer und Breitinger heben hervor, daß diese Auffassung des Illusionscharakters und der Affektbezogenheit der Einbildungskraft von ihnen selbst stamme, und sie erst nachträglich auf die gleiche Auffassung in Quintilians Institutio Oratoria gestossen seien, die sie ausführlich zitieren (EGE 120-123). Vgl. dazu K. Dockhorn (1977), wo er die »Quelle des Begriffs der Einbildungskraft« nicht der Romantik oder dem Idealismus zuschreibt, sondern Quintilian, der die Funktion der Einbildungskraft unter Berufung auf die Griechen — darin bestimmte, daß sie abwesende Gegenstände so repräsentiere, als ob man sie gegenwärtig vor Augen habe und dabei mächtig von Affekten bewegt werde (S. 27of.). Dockhorn weist auf die Quintilian-Rezeption bei humanistischen Auroren wie Melanchthon und Luther hin, nicht aber bei den Schweizern. — Auch bei Walch und Zedler ist diese rhetorische Tradition präsent; s.o. Kap. I.3. S.o., Kap. 111.2.3. 8l

das »Ergötzen« (EGE 29).IO° Der illusionäre Charakter der Produkte der Einbildungskraft ist also nur in soweit gerechtfertigt, als sie dem Nachahmungsgrundsatz gehorchen. Um den Widerspruch zwischen wirkungsästhetischem Postulat und Nachahmungsgrundsatz101 zu vermeiden, erklären Bodmer und Breitinger das Vergnügen am Schein zum Vergnügen an der Ähnlichkeit des >Abbildes< mit dem »Urbilde« (EGE 10, 23). Somit führt die Zwecksetzung der Poesie, das Herz zu rühren, nur innerhalb der Grenzen des Nachahmungsgebotes zu einer Aufwertung des poetischen Scheins und einer Aufwertung der affektiven Einbildungskraft als Movens, einen solchen Schein zu erzeugen. 3.3. Die Affektivität der Einbildungskraft Die in der rhetorischen Tradition begründete Steuerung und Beherrschung der Affekte des Publikums durch den Autor spielt für die frühe Poetik der Schweizer eine wesentliche Rolle. Statt aber den möglichen Mißbrauch einer solchen manipulativen Macht kritisch zu reflektieren,102 unterscheiden sie eine »wolcultivierte« von einer »verderbten Imagination«, 103 wofür die Kriterien des Angemessenen, des Ungekünstelten, des Schicklichen gelten (EGE 45, 47, 132). Diese Kriterien beziehen sich auf stilistische Mittel, den Gebrauch von Tropen und Metaphern bei einer poetischen Beschreibung. Die Wirkungen einer »verderbten Einbildungs-Krafft« (EGE 45) sind etwa »leeres Wort-Spiel«, »ungeschicktes Gleichniß« oder »hyberbolische Verschwendung«, die einen dunklen, »verwirrten Begrieff« zur Folge hätten (EGE 44, 45, 48).I04 Sprachli100

Konsequenterweise ist hier das Vergnügen an häßlichen Gegenständen Inbegriffen, sofern sie »Leidenschafften des Schreckens und Mitleidens [...] durch schickliche Beschreibungen« erregten (EGE 29). 101 Grundlegend dazu A. Wetterer (1981), Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern. Tübingen, bes. S. 176—228. Allerdings gilt für diese frühes Zeugnis, daß hier das Problem der Vermittlung zwischen Philosophie und Rhetorik/Poetik noch nicht unter den Stichworten des >Wahrscheinlichen< und des >Wunderbaren< thematisiert wird. Vgl. auch U. Möller (1983), Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und G. Fr. Meier. München, Kap. 3; und Vietta (1986), S. 49ff., wo Wetterers Studie allerdings nicht berücksichtigt ist. 102 A$r[e es etwa Walch und nach ihm Zedler in den analysierten Lexikonartikeln zur Einbildungskraft der Fall ist; s.o. Kap. 1.3. 103 Diese Termini stammen aus dem XIX. Discours der moralischen Wochenschrift Die Discourse der Mahlern (1721-1723), S. i. Vgl. dazu Bender (1973), S. 25; F. Schlegel (1986), S. 99f. 104 Die Kriterien eine >guten Beschreibung< haben die Schweizer in drei Punkten dargelegt: Sie müsse i. »vollständig«, 2. »bewegend und nachdrücklich« und 3. »klar und deutlich« sein (EGE 23f.). Den Metapherngebrauch wollen sie wegen ihrer >verdunkelnden< Wirkung generell auf ein nötiges Minimum einschränken (EGE 25). In der negativen Beurteilung zahlreicher barocker Autoren bieten insbesondere Metaphern den Hauptangriffspunkt, die Palette reicht von »Chimerische[n] Undinge[n]« (EGE 82

ehe Mittel, die nicht von >echter< Leidenschafft (EGE 117, 131, 134^), sondern von der »Kaltsinnigkeit des Hertzens« (EGE 137) herrührten, disqualifizieren Bodmer und Breitinger als »Spiel-Wercke der Fantasie« (EGE 132, 77f.).'°5 Diese Abwertung der Einbildungskraft kontrastiert die vorherige Legitimierung des poetischen Scheins, wobei die Forderung nach >natürlichem Affektausdruck< in der Sprache das einzige poetologische Kriterium bleibt.106 Trotz der Rückbindung der Produkte der Einbildungskraft an die Realität gemäß des Nachahmungsprinzips propagieren die Schweizer am Ende ihrer Abhandlung eine gesteigerte Form dieses affektiv bestimmten Vermögens unter dem Stichwort des »Poetische[n] Enthusiasmus« (EGE 238). Dieser sei [...] die äusserst starcke Leidenschafft / womit das gantz Gemüth eines Authors für seine Materie eingenommen und angefüllet ist. [...] sie jaget die Einbildungs-Krafft in eine ausserordentliche Hitze / und führet den Dichter gleichsam ausser sich selbst / daß er die Einbildungen von den Empfindungen nicht unterscheiden kan. [...] so ist gewiß / daß den Dichtern / wenn ihre Einbildungs-Krafft durch eine starcke Leidenschafft angeflammet ist / das Zukünfftige / so sie wünschen und verlangen gleichsam in dem Bilde vor dem Gesicht schwebet. [...] und sie werden eben dieselben Empfindungen bey ihm (dem Leser) stifften. Seine [des Dichters] Aussprüche werden Weissagungen ähnlich seyn. (EGE 238f.)'°7

Eine solche dem Dichter zugeschriebene >prophetische Gabe< scheint nicht mehr durch das Nachahmungsprinzip beschränkt. Vielmehr geht es um ein Höchstmaß an Affektausdruck, der bewirkt, daß eine entsprechend stark affi-

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31), über »verblümte«, »auschweiffende«, »bunte Metaphorn« (EGE 48, 55, 145) bis zu »ungereimten«, »verstiegenen Einfallen« (EGE 44, 145). Obgleich hier auch von »Spiel-Wercken« und »leere[m] Wortspiel« die Rede ist, begründen die Schweizer dies nicht — wie Wolff und der ihm nahe stehende Gottsched — durch eine dem Prinzip des zureichenden Grundes widersprechende »Dichtungskraft«, versuchen aber trotzdem, klare und deutliche Begriffe zu verteidigen (EGE 24); demnach entspräche die »verderbte Einbildungs-Krafft« bei den Schweizern der >unvernünftigem< Dichtungskraft bei Wolff und Gottsched (DM §§ 242 — 246 und EGW § 896). In diesem Punkt stimmen Bodmer und Breitinger mit Shaftesburys Virtuoso-Ideal der »simplicity« überein, das er entgegen dem >pedantischen Lernen< propagiert (CH I 334f). Eine Passage aus Soliloqui mag das belegen: »The simple Manner, which being the strictest Imitation of Nature, shou'd of right be the compleatest, in the Distribution of its Parts, and Symmetry of its Whole, is yet so far from making any ostentation of Method, that it conceals the Artifice as much as possible: endeavouring only to express the effect of Art, under the appearance of the greatest Ease and Negligence.« (CH I 257; s. auch CH III 22 und 141). Entgegen Viettas (1986) Urteil, daß diese Passage am Ende der Schrift »reichlich unvermittelt« (S. 120) käme, läßt sich der Versuch der Schweizer, den »poetischen Enthusiasmus« als gesteigerte Form der Einbildungskraft zu rechtfertigen, wahrscheinlich auf ihre Miltonbegeisterung sowie ihre durch Addison vermittelte Shaftesbury-Rezeption zurückführen. Zum religiös-theologischen Hintergrund und dessen Entzauberung, der die Milton-Rezeption der Züricher prägte, vgl. G. Schäfer (1987), S. 117-154. 83

zierte Einbildungskraft nicht nur Ähnlichkeit zu vergangenen Erfahrungen herstellt, sondern sogar Zukünftiges als wirklich vor Augen stellen kann. Die Behauptung einer Vorwegnahme des Zukünftigen durch die Einbildungskraft geht möglicherweise auf Wolff zurück.108 Wenn hier aber die weissagende Kraft der Dichtung mit dem >furor poeticustrockener< und >fester< würden (RL 231). 50 Im Zedlerschen Universal-Lexikon (Bd. 5, Sp. 2309) wird der »Chylus« definiert als »der Milch-Safft, welcher im Magen aus den[en] Speisen ausgearbeitet worden«. Bei Descartes spielte der Chylus zur Erklärung von Veränderungen im Blut und der Produktion von Wärme keine Rolle, allerdings gab es eine ganze Reihe von Zeitgenossen Malebranches, die den Zusammenhang von Atmung, Chylus und Lymphe erforschten, wie etwa Johann-Jakob Wepfer (1620—1695), J an van Hörne (1621-1670), Jean Pequet (1622-1674) °der Walter Needham (1631-1691). Vgl. A.v. Haller (1968), Eine Geschichte der Anatomie und Physiologie von Albrecht von Haller. Hg. von C. Zanetti und U. Wimmer-Aeschlimann. Bern, Stuttgart (= Berner Beiträge zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften. N. F. Bd. i), S. 102-107. 11 RL 197-203. In dem Kapitel über die >Luft< geht es um nichts weniger als den Versuch, das Leben aus dem mechanischen Zusammenhang von Herz, Blutkreislauf und der dadurch verursachten Wärme als Bewegungsprinzip zu erklären (RL 202). Hier bezog Malebranche zu einer wichtigen zeitgenössischen Streitfrage der Anatomie Stellung — nämlich, ob das Herz, das als Motor für die Bewegungen der >tierischen Maschine< anerkannt war, alleinige Bewegungsursache sei oder aber passiv bewegt würde. Malebranche schloß sich der Position Descartes' an, der entgegen dem Entdekker des Blutkreislaufs, William Harvey, behauptet hatte, daß das »Herz nur passiv durch die Wärmeausdehnung des Blutes« bewegt würde. Vgl. dazu R. Toellner (1977), »Mechanismus - Vitalismus: ein Paradigmenwechsel? Tesrfall Haller«. In: A. Diemer (Hg.), Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen und die Geschichte der Wissenschaften. Symposion der Gesellschaft für die Wissenschaftsgeschichte anläßlich ihres zehnjährigen Bestehens. Meisenheim am Glan, S. 61-72, hier S. 67. Zu William Harvey vgl. E. Radi (1970), Geschichte der biologischen Theorien in der Neuzeit. ND der Ausgabe von 1909/13. Hildesheim, New York. Bd. i, S. 126—141. ^ Als einer der wichtigsen Ursachen für deren Veränderung führt Malebranche die Bewegung der >Nervenpaare< an, die Herz und Lunge umgäben, und dadurch »toutes les passions« (RL 204) entstehen ließen. Weitere Ursachen seien die Bewegungen der Nerven in den verschiedenen Organen des Körpers (Leber, Galle, Milz, Eingeweide), die unwillkürlich und unbewußt abliefen, jedoch aufgrund ihrer harmonischen Organisiertheit notwendig auf die Vorsehung verwiesen. Hier kritisiert Malebranche das atomistische Weltbild eines Lukrez, das mit seinem Konzept der göttlichen Vorsehung nicht vereinbar sei, weil es die wohlorganisierte »körperliche Maschine< als zufällig begreife (RL 207-211).

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siologischen Konzepts der Eindrücke, Affekte und Ideen ist die Anerkennung der Individualität des Menschen, der »differences [...] entre les esprits« (RL 194): Or, parce que la faculte d'imaginer regoit de grands changemens par ceux qui arrivent aux esprits animaux, & que les esprits animaux sont forts differens selon la differente fermentation ou agitation du sang qui se fait dans le coeur; il est facile de reconnoitre ce qui fait que ies personnes passionnees imaginent les choses tout autrement, que ceux qui les considerent de sang froid. (RL 206)

Diese Auffassung steht vermutlich noch in der Galenischen Tradition der Humoralpathologie, nach der mentale Operationen durch die physikalische Ausstattung, die Mischung der Säfte, determiniert sind. Doch hier ist der Aspekt der Individualität und Veränderlichkeit nicht nur der Personen untereinander, sondern auch ein und derselben Person entscheidend, wobei Malebranche die Mannigfaltigkeit aus der Materie ableitet. Schon zu Anfang des zweiten Buches formuliert er sein anthropologisches Interesse: L'homme ne demeure gueres longtems semblable ä lui-meme: [...] en un mot la vie de l'homme ne consiste que dans la circulation du sang, & dans une autre circulation de pensees & de desirs; & il semble qu'on ne puisse gueres mieux employer son temps, qu'ä rechercher les causes de ces changemens qui nous arrivent, & apprendre ainsi ä nous connoitre nous memes. (RL 195)

Zur Beschreibung des Verhältnisses von Seele und Körper verwendet Malebranche Analogiebildungen, die einen Einblick in seine mechanistische Anthropologie geben. Die Parallelisierung von physiologischen und mentalen Prozessen, wenn er die Zirkulation der Ideen analog zur Zirkulation des Blutes konzipiert, weitet er auch auf den Geltungsbereich des politischen Körpers< aus. So entsprächen die sozialen und politischen Verbindungen der in bestimmte Rollen gebundenen Handlungsträg'er der Gesellschaft (Fürst-Untertan; ElternKind) den kausalen Verbindungen jedes einzelnen Körpers.33 Der nächste Argumentationsschritt ist, daß die physischen wie mentalen Prozesse auf konstante Faktoren beziehbar sein müssen. Malebranche nimmt drei solcher Ursachen an: den göttlichen Willen, die Identität der Zeit (RL 217) und den menschlichen Willen. Voraussetzung dabei ist eine Trennung von Seele und Körper (RL 215). So kann der menschliche Wille Handlungen veranlassen, ohne zu wissen, von welchen körperlichen Abläufen diese begleitet werden, wie auch umgekehrt die Seele keine Kenntnis von den >Erschütterungen< der

Die mögliche Bezugnahme Malebranches auf Hobbes' politische Theorie ist noch nicht erforscht. Eine unabweisbare Parallele besteht in der mechanistischen Anthropologie, die auch Hobbes - trotz seiner Kritik an Descartes' Meditationen - von Harvey und Descartes übernommen hat. Vgl. den ersten Teil von dessen Leviathan (1651). Zur Übertragung anthropologischer Vorstellungen auf das soziopolitische Gemeinwesen s.u. Anm. 61.

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Lebensgeister hat. Trotz dieser Unabhängigkeit seien die Veränderungen in den Nerven und die Vorstellungen in der Seele als parallele Bewegungen angelegt,34 die auf den unveränderlichen Willen des Schöpfers zurückgingen (RL 216). Als Verfechter des Okkasionalismus gelten Malebranche die physischen Eindrücke als sogenannte Gelegenheitsursachen oder Anlässe für das Wirken der >prima causa< (ebd.). Neben dieser überzeitlichen Komponente gebe es eine natürliche Konstante, von Malebranche als »l'identite du temps« (RL 217) bezeichnet, die gewährleiste, daß dieselben Gedanken immer auch mit denselben Eindrücken verknüpft seien. Als dritter Faktor komme der Wille des Menschen hinzu, der über die Ordnung der Ideen entscheide, indem er die arbiträre Verbindung von Gegenstand und sprachlichen Zeichen durch Konventionen allgemein verbindlich mache.35 Gemäß diesen drei genannten Ursachen sind die Ideen des Menschen, die mit sinnlichen Eindrücken konnotiert sind, entweder unwillkürliche, durch den göttlichen Willen verursachte oder natürlich-gesetzmäßige oder willkürlich vereinbarte Verbindungen. Diese Regeln gelten aber nicht nur für die »liaison des idees & des traces« (RL 216), sondern auch für die Verbindung der Ideen untereinander. Hier nennt Malebranche nicht nur Beispiele für die Assoziationsregeln von Koexistenz und Kontiguität, 36 sondern aufgrund der okkasionalistischen Auffassung erkennt er implizit die Gesetzmäßigkeit der Kausalbeziehungen an, auch wenn er die Naturgesetze als Teil der göttlichen Ordnung versteht. Daß er damit den rationalistisch fundierten Kausalitätsbegriff ablehnt, nach dem die »Kausalbeziehungen einsichtige Beziehungen sein

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So heißt es erläuternd: »Mais afin de dormer une idee plus distincte & plus particuliere de l'imagination, il faut scavoir, que toutes les fois qu'il y a du changement dans la partie du cerveau ä laquelle le nerfs aboutissent, il arrive aussi du changement dans Tarne [...].« (RL 192) Diese Auffassung von Verständigung aufgrund von willentlichen Übereinkünften läßt sich als rudimentäre Sprachtheorie deuten, die davon ausgeht, daß Sprache nicht aus physiologischen oder materiellen Faktoren hervorgeht, sondern in dem menschlichen Willen und der >raison< wurzelt. Ohne daß Malebranche die Assoziationsprinzipien hier schon unter diesem Titel abhandeln würde, bezeichnen seine Beispiele doch genau diesen Sachverhalt: wird eine Idee erneuert, so werden auch die Ideen, die zur gleichen Zeit erfolgt sind, aktualisiert (Regel der Koexistenz); ist uns ein Begriff entfallen, umschreiben wir diesen mit benachbarten Begriffen, um uns zu erinnern (Kontiguität); vgl. RL 222f. Malebranche wird auch von Michael Hißmann in seiner Geschichte der Lehre von der Association der Ideen (1776) als früher Vertreter des Assoziationismus gewürdigt (S. 36—43). Nach Hißmann erübrige sich aber die Annahme vom »Willen des Menschen« als Ursache der Ideenverbindung (ebd., S. 37). Zum Assoziationstheorie Malebranches und ihrer Nähe zu Locke vgl. den Beitrag von J. P. Wright (1987), Association, Madness, and the Measures of Probability in Locke and Hume. In: C. Fox (Ed.), Psychology and Literature in the Eighteenth Century. New York, S. 103 — 127, bes. S. ii3f.

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müßten«, 37 macht ihn zum Vorläufer David Humes und dessen Annahme von drei Assoziationsgesetzen.38 Ein anderer Aspekt von Malebranches mechanistischer Theorie der Einbildungskraft ist deren Verbindung mit einem ebenfalls physiologischen Konzept von Gedächtnis und Gewohnheit. Unter der Voraussetzung des psychophysischen Dualismus beschreibt er das Gedächtnis als physische Funktion: »[...] ainsi les fibres du cerveau a'iant une fois receu certaines impressions par le cours des esprits animaux, & par l'action des objects, gardent assez long-temps quelque facilite pour reservoir ces memes dispositions.« (RL 225).·39 Dieser Prozeß ist rein mechanistisch zu denken, deshalb können sich auch Tiere, — denen Malebranche wie Descartes eine Seele abspricht - an manche Dinge erinnern, die Eindrücke in ihnen zurückgelassen haben (RL 229). In dieser Hinsicht ist das Gedächtnis von den Gewohnheiten und Fertigkeiten kaum zu unterscheiden: Wie beim Gedächtnis wiederholte und tiefe Eindrücke durch die Lebensgeister leichter haften blieben, bildeten sich die Fertigkeiten im wiederholten Gebrauch bestimmter Körperteile aus, wenn sie von dem Fluß der Lebensgeister, die immer einen >offenen Weg< im Gehirn oder im Körper suchten, mit mehr »facilite« (RL 228) durchströmt würden. Malebranches Beschreibungen von den Gehirnprozessen sind durchgehend geprägt von der visuellen Vorstellung eines Gewebes oder einer Masse mit Furchen und Kammern, durch die sich fein verzweigte Nervenröhrchen40 hindurchziehen. Das Eindrücken von " Röd (1978), S. 143. 38

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Der Gedanke der gewohnheitsmäßigen Verknüpfung von sinnlichem Eindruck und Begriff weist auf Humes Kausalitätskonzeption voraus. Laut W. Röd (ebd.) ist auch der Okkasionalismus als ein wichtiges Verbindungsstück zum empiristischen Kausalitätsbegriff anzusehen. Die Assoziationsgesetze Humes (contiguity; resemblance; causation) finden sich in Humes Treatise of Human Nature (1739/40), Book I, part I, sec. 4; vgl. die Edition von L. A. Selby-Bigge. Oxford 1978, S. 10—13. Vgl. außerdem R. Specht (1966), Commercium mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Cartesianismus. Stuttgart, Bad Cannstadt, S. 148—175. Mit dieser Definition knüpft Malebranche an Descartes an, der sich zur Erklärung des Gedächtnisses folgenden Bildes bediente: Wenn man in eine Leinwand mit Nadeln Löcher stich, so blieben die kleinen Löcher auch dann noch geöffnet, wenn man die Nadeln schon herausgezogen habe, oder: auch wenn die Löcher schon geschlossen sind, blieben noch Spuren in der Leinwand zurück. Ebenso verhalte es sich mit den >Spiritus animales«, die den Eindruck einer Idee erhalten haben und in die Röhren und Zwischenräume der Fäserchen im Gehirngewebe gelangen. Sie könnten die Fäserchen erweitern und biegen und seien — nach entsprechender Intensität oder Wiederholung des Vorgangs - imstande, verschiedene Figuren, die den Objekten entsprechen, einzuzeichnen, so daß sich die Spuren nicht mehr so leicht verlieren und die Ideen sich auch ohne Gegenwart des Objektes lange Zeit dort bilden können. Vgl. K. E. Rothschuh (Hg.) 1969, Descartes Über den Menschen (1732), S. nof. Zur im 17. Jahrhundert verbreiteten anatomischen Vorstellung der Nerven als Röhrchen, durch die sich ein so feiner Markfaden zieht, daß die >Spiritus animales< vorbeipassieren können, vgl. den bereits zitierten Kommentar von Karl E. Rothschuh (1969) zu Descartes' Über den Menschen, S. 54f. Malebranche hat sich in der Auffassung von

Dingen durch die Bewegung der Lebensgeister ist deshalb ganz materiell zu verstehen als Hinterlassen von Furchen, die sich aufgrund der mit den Jahren veränderlichen Konsistenz des Gehirns immer mehr verfestigen. Dabei korrespondieren eine leichte Beeindruckbarkeit und lebhafte Einbildungskraft mit einer feinen, flexiblen Beschaffenheit der Gehirnfasern, die Malebranche vor allem den Kindern und dem weiblichen Geschlecht zuschreibt (RL 267). Eine »consistance mediocre« des Gehirns sei bei einem reifen, von der Sinnlichkeit befreiten Geist - wie bei Männern zwischen 30 und 50 Jahren 4 ' — zu finden (RL 268), bis endlich im hohen Alter die Nervenbahnen unflexibel, dicker und mit überflüssiger Feuchtigkeit angefüllt seien (RL 229) und deshalb eine Schwächung der Einbildungskraft und des Gedächtnisses zur Folge hätten (RL 272). Die Erklärung der Langlebigkeit von Vorurteilen qua Einbildungen, von Gewohnheiten und anderen aus der Sinnlichkeit abgeleiteten Irrtümern führt Malebranche gleichermaßen auf die Konsistenz der Fasern zurück. Die mittlere Festigkeit kann nützlich sein, weil sie lebhaften Eindrükken Widerstand zu leisten vermag und ein ausgewogenes Urteil durch die >raison< ermöglicht, aber auch nachteilige Auswirkungen haben, weil sie >eingravierten< Vorurteilen und Gewohnheiten Vorschub leistet (RL 220).42 Malebranche konzentriert sich hier auf die negativen Auswirkungen solcher tiefen Spuren in den Gehirnfasern. So erklärt er »la confusion et [...] la faussete de nos idees« (RL 275) dadurch, daß die Lebensgeister ihren Lauf meistens in die gewohnten Bahnen lenkten, in denen schon tiefe Eindrücke oder Furchen vorhanden seien.

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Nerven und Gehirn an Descartes (mit Ausnahme der Lokalisierung der Seele in der Zirbeldrüse) angeschlossen; ebd., S. 100—103. Der Frau wird im Gegensatz zum Mann eine »delicatesse des fibres de leur cerveau« (RL 269) zugeschrieben, was sie naturgemäß zu allen sinnlichen Dingen hinziehe und sie des abstrakten Denkens unfähig mache (RL 267). Diese Auffassung versucht, die in der Theologie- und Philosophiegeschichte immer wieder zu Lasten der Frau ausgelegte Geschlechterdifferenz physiologisch zu befestigen. Damit erneuert Malebranche die bis zur Scholastik und zu Augustinus zurückverfolgbare Ansicht einer ursprünglichen Sinnen- und Sündhaftigkeit des weiblichen Geschlechts durch die Erbsünde Evas. Er benutzt das zeitgenössische physiologische Wissen zur Bestätigung der Vorurteile, die er in dieser Schrift ansonsten so eifrig bekämpft. — Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, questio 92. 1-4. Die deutsche Thomas-Ausgabe. Bd. 7: Erschaffung und Urzustand des Menschen. München, Heidelberg 1941, S. 35-47. Zum Kontext vgl. die Studien der Theologin Elisabeth Gössmann, von denen hier stellvertretend der Aufsatz Anthropologie und soziale Stellung der Frau nach Summen und Sentenzenkommentaren des i J.Jahrhunderts (In: A. Zimmermann (Hg.), Miscellanea Mediaevalia 12.1 (1979), S. 281—297) genannt sei. Vorurteilskritik ist eine zentrale Aufgabe der neuzeitlichen Philosophie (Bacons Entlarvung der Idole; Descartes' Destruktion des Pseudowissens). Seit dem späten 17. Jahrhundert ist sie vor allem mit dem Namen von Christian Thomasius verbunden. Vgl. dazu W. Schneiders (19833), bes. Kap. II und III; M. Pott (1992), Kap. III. 97

Demnach sind Empfindungen und Leidenschaften, Vorurteile, Gewohnheiten und Gedächtnisoperationen als rein physiologisch bedingte Funktionen des Menschen aufzufassen. Die Disposition des Gehirns und die Zusammensetzung des Bluts und der übrigen >Körpersäfte< entscheiden über die Intensität von Eindrücken in den Gehirnfasern. Diese physiologische Ätiologie der Imagination führt Malebranche nun auch in einem Gebiet durch, das zu seiner Zeit, noch wenig empirisch erforscht, um so mehr zur Hypothesenbildung herausforderte: der Embryologie mit dem Spezialgebiet der Erklärung von Muttermalen und Mißbildungen beim menschlichen Fötus.

2. Imaginative Einwirkung der Schwangeren auf den Fötus: Physiologisierung der Erbsündetheorie Malebranches Auffassung des imaginativen Einflusses der Schwangeren auf das Kind steht in einer langen Tradition, die bis zu Aristoteles und Hippokrates zurückreicht und, gestützt auf eine enorme Kasuistik, bis ins späte 18. Jahrhundert fortwirkte. 43 Die Galenische Medizin44 und die magisch-dämonologische Tradition in der Medizin des 16. und frühen 17. Jahrhunderts45 wurde allmählich durch die mechanistische Physiologie abgelöst, wie sie etwa William Harvey (1578-1657) und im Anschluß an ihn Descartes vertreten haben.46 43

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Vgl. L. S. King (1978), The Philosophy of Medicine, Cambridge/Mass., London, S. 161-163; E. Fischer-Homberger (1983), Medizin vor Gericht. Gerichtsmedizin von der Renaissance bis zur Aufklärung. Bern, Stuttgart, Wien, S. 261. Diese beherrschte das 16. und einen Großteil des 17. Jahrhunderts. Vgl. L. S. King (1970), Precursors of Boerhaave's »Instutiones Medicae«. In: Lindeboom (Hg.), Boerhaave and his Time. Leiden, S. 60-68, hier S. 61. Zur latrodämonologie und latromagie vgl. Rothschuh (1978), Konzepte der Medizin in Vergangheit und Gegenwart. Stuttgart, S. 36—46 und 106—157. Zur Imaginationsauffassung bei Ärzten und Naturforschern des 16. und frühen 17. Jahrhunderts vgl. P. Ildefons Betschart (1952), Der Begriff »Imagination« bei Paracelsus. In: Nova acta paracelsia, S. 52—67; L. J. Rather (1967), Thomas Fienus' (1567 — 1631) Dialectical Investigation of the Imagination as Cause and Cure of Bodily Disease. In: Bulletin of the History of Medicine 41, S. 349 — 366; E. FischerHomberger (1979), Aus der Medizingeschichte der Einbildungen. In: Dies., Krankheit Frau und andere Arbeiten zur Medizingeschichte der Frau. Bern u.a., S. 106 — 129; W. Pagel (1984), The Smiling Spleen. Paracelsianism in Storm and Stress. Basel u.a., bes. S. 76—81; S. W. Jackson (1989), Robert Burton and Psychological Healing. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 44, S. 160—178. - Zu Descartes und dem Cartesianismus in der Medizin gibt es eine breite medizinhistorische Forschung. Genannt sei hier nur: L. J. Rather (1970), Old and New Views of the Emotions and Bodily Changes: Wright and Harvey versus Descartes, James and Cannon; G. A. Lindeboom (1979), Descartes and the Medicine. Amsterdam; N. Jolley (1987), Descartes and the Action of Body on Mind. In: Studia Leibnitiana 19.1, S. 41-53; E. Michael und F. S. Michael (1989), Corporeal Ideas in Seventeenth-Century Psychology. In: Journal of the History of Ideas 50, No. i, S. 31-48.

Ohne selbst Naturforscher zu sein, profitiert Malebranche von dieser Verwissenschaftlichung der Medizin. Trotzdem stützt er sich, wie zu zeigen ist, auf Annahmen, die empirisch nicht nachweisbar sind. Zunächst setzt Malebranche voraus, daß Mutter und Kind »les memes sentiments & les memes passions« hätten, sogar »les memes pensees« (RL 234), welche aus der Bewegung des Blutes, mithin der Lebensgeister folgten: »Car enfin le corps de l'enfant ne fait qu'un meme corps avec celui de la mere, se sang & les esprits sont communs ä Tun & ä l'autre« (RL 234f.).47 Doch ihre Seelen seien unterschieden. Empfindungen und Gedanken werden demgemäß nicht als seelische, sondern als physische Bewegungen, die von individuellen körperlichen Dispositionen abhängig sind, verstanden. Unter der Voraussetzung einer »communication [...] entre le cerveau de la mere & celui de son enfant« (ebd.) versucht Malebranche, nicht nur überhaupt die artspezifische Ähnlichkeit zwischen Mutter und Kind zu erklären, sondern auch die Entstehung von Muttermalen und Mißbildungen. Er war wie Descartes und viele seiner Zeitgenossen Anhänger der Präformationstheorie,48 die davon ausging, 47

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Nach Malebranches Ansicht ist der Blutkreislauf von Mutter und ihrer Leibesfrucht nicht getrennt; diese Ansicht ist folgenreich für die These der Übertragbarkeit von physischen wie psychischen Krankheiten und Störungen der Mutter auf die Frucht. In England entfachte sich etwa fünfzig Jahre später genau an diesem Punkt eine Debatte zwischen dem Malebranche-Verteidiger Daniel Turner (1667-1740/41) und dem Arzt James Augustus Blondel (gest. 1734). Letzterer verurteilte aufgrund der Annahme von getrennten Blutkreisläufen die angebliche Entstehung von Muttermalen durch die Einbildungskraft der Schwangeren als »vulgar error«. S.u., Teil II, Kap. 1.2. Malebranche scheint die Vorstellung gehabt zu haben, daß die Schwangerschaft lediglich dem Wachstum oder der Ausbildung der präformierten Keime dient. Ob Malebranche wie Valisnieri (1661 — 1730) und Swammerdam (1637 — 1680), den er auch an einer Stelle zitiert (RL 202), der Theorie der Ovisten anhing, die besagt, daß die >Auswicklung< (evolutio) des bereits voll ausgebildeten Wesens im weiblichen Ei nur noch durch den männlichen Samen ausgelöst werden müsse, oder aber der entgegengesetzten Theorie der Animalculisten, die wie Aristoteles, im 17. Jahrhundert wie Anton van Leeuwenhoek (1632— 1723) und Nicolaus Andry (1658—1731) annahmen, daß die angeblich schon mit Kopf, Armen und Beinen ausgestatteten Samentierchen zur Ernährung und vollständigen >Entwicklung< nur noch der Einlagerung in die Gebährmutter bedürften, läßt sich aus diesem Text nicht eindeutig bestimmen. Malebranche beschäftigt sich jedoch mit der Embryologie nur am Rande, um der Frage nachzugehen, wie sich Unvollkommenes in die unbezweifelbar vollkommene Schöpfung hat einnisten können. - Zu den alternativen embryologischen Modellen, die allerdings beide die Präformationstheorie der Keime voraussetzen, vgl. Rädl (1970), S. 177—181; Thomas Cremer (1985), Von der Zellenlehre zur Chromosomentheorie. Naturwissenschaftliche Erkenntnis und Theoriewechsel in der frühen Zell- und Vererbungsforschung. Berlin, Heidelberg u.a., S. 93f. Vgl. zum Wandel der biologischen Geschlechtertheorie vom 17. zum 18. Jahrhundert die Studie von T. Laqueur (1992), Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt/M., New York [Orig. 1990], bes. Kap. 3-5.

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daß die noch unbefruchteten Keime (männlich oder weiblich) in nuce bereits das ganze Lebewesen enthielten, die — veranlaßt durch die männliche Zeugung - nur noch >auszuwickeln< seien. Nun stellte sich das Problem, wie die Tatsache von Mißgeburten embryologisch herzuleiten ist, die ja nicht als ein »mal ordonnee«49 (RL 242) im Plan Gottes gedeutet werden durften. Wenn Mißbildungen nicht im Keim angelegt waren, konnten sie nur nachträglich, bei >Entwicklung< und Wachstum des Fötus,50 entstanden sein. Damit lag die Verantwortung oder Schuld bei der Mutter, die das Wachstum des eigentlich vollkommenen Keims während der Schwangerschaft in irgendeiner Weise beeinflußt und gestört haben mußte. Diese Schuld geht nach Malebranche bis auf die Erbsünde zurück. 51 Seine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem imaginativen Einfluß läßt sich in dieser Hinsicht als Physiologisierung der Erbsündetheorie deuten. Wie kann aber eine solche Mißbildung Zustandekommen? Malebranche macht zwei Voraussetzungen geltend: Erstens nimmt er an, daß die Mutter dem ungeborenen Kind aufgrund ihrer physischen Verbindung sämtliche Empfindungen und physischen Regungen mitteile; und zweitens, daß es aufgrund der »communication [...] entre notre cerveau & les parties de nötre corps« (RL 235) eine natürliche Anlage zur Nachahmung (imitation) wie zum Mitleiden (compassion) gebe, die sich folglich auch auf das Ungeborene auswirke. Er nennt hier eine Reihe von Beispielen, die nicht quantitative Monstrositäten im Sinne von fehlerhafter Stellung, Mangel oder Vermehrung bestimmter Körperteile betreffen, sondern qualitative Veränderungen der Haut und des Aussehens sowie sonderbare Ängste und Verhaltensweisen des Kindes. Wenn etwa ein Kind zur Welt kommt und auffällige Male an bestimmten Partien des Gesichts oder Körpers aufweist, sei das durch ein >Versehen< bzw. den Schrecken der Mutter begründet, den sie beim Anblick von Personen mit bestimmten Malen empfunden und sie deshalb ihrem Kind an eben diese Stellen >eingedrückt< habe.52 In einem anderen Beispiel berichtet Malebranche von einem totgebore49

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In der Teilübersetzung von A. Buchenaus mit dem Titel Erforschung der Wahrheit in drei Bänden (Bd. i, Buch i bis 3. München 1914) ist dies mit »Versehen in der Natur« wiedergegeben (S. 204). Die deutlichste Stellung, die Malebranche zur zeitgenössischen Embryologie bezieht, ist folgende: »II est vrai que la pensee la plus raisonnable, & la plus conforme ä l'experience sur cette question tres-difficile de la formation du foetus; c'est que les enfans sont dejä presque tout formez avant meme l'action par laquelle ils sont congus; & que leurs meres ne sont que leur donner l'accroissement ordinaire dans le temps de la grossesse.« (RL 243) L'accroissement wird hier nur als Form der Vermehrung oder des Zuwachses (augmentum) verstanden, nicht als qualitative Veränderung. »[...] c'est qu'il y a toutes les apparences possibles que les hommes gardent encore aujourd'hui dans leur cerveau des traces & des impressions de leurs premiers parens.« (RL 247) Malebranche wiederholt hier den nicht nur zu seiner Zeit gern gegebenen Ratschlag, daß die Schwangere, wenn sie etwas sieht, was sie schreckt, sich an einer verborgenen

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nen Kind, das einem gewissen St. Pius vollkommen geähnelt habe. Hier hätte die Schwangere das Bildnis jenes St. Pius, der in einer öffentlichen Zeremonie seliggesprochen wurde, zu intensiv betrachtet und somit dessen Erscheinung dem Neugeborenen durch die Kraft ihrer Imagination aufgeprägt.53 Daß Malebranche selbst an eine solche physische Übertragung von Vorstellungsbildern geglaubt haben muß, ist seiner Beteuerung im Fall der St. Pius-Ähnlichkeit zu entnehmen: »C'est une chose que tout Paris a pü voir aussi-bien que moi, parce qu'on l'a conserve assez long-temps dans de l'esprit de vin.« Der kleine Heilige war also nicht lebensfähig, wurde aber zum fragwürdigen Beweis einer allein durch die weibliche Imagination übertragbaren Veränderung der — eigentlich durch die angenommene Urzeugung vorprogrammierten — Leibesfrucht erhoben. Doch nicht nur Muttermale und Mißgeburten, sondern auch Krankheiten und der angeborene Schrecken vor bestimmten Tieren und Gegenständen seien durch die Imagination der Mutter Übermittel- oder vererbbar (RL 246). Das prominenteste Fallbeispiel jedoch, auf das auch noch im 18. Jahrhundert Bezug immer wieder genommen wird, 54 ist die Geburt eines behinderten Kindes, dessen Gliedmassen an eben den Stellen gebrochen gewesen seien, die bei der Folter durch Rädern gebrochen würden. Die Erklärung, die Malebranche hierfür anbietet, ist die Teilnahme der schwangeren Mutter bei einer öffentlichen Rädertortur eines Delinquenten. Sie sei dadurch zu solchem Schrecken getrieben worden, daß er in dem zarten Körper des Ungeborenen habe nachwirken müssen: A la veue de cette execution si capable d'effrayer une femme, le cours violent des esprits animaux de la mere, alia avec force de son cerveau vers tous les endroits de son corps, qui respondoient ä ceux du criminel, & la meme chose se passa dans ['enfant. Mais, parce que les os de la mere etoient capables de resister ä la violence de ces esprits, ils n'en furent point blessez. [...] Mais ce cours rapide des esprits fuc capable d'enträner les parties molles & tendres des os de l'enfant. (RL 239)

Diese Erklärung basiert auf der Annahme von Trieben zur Nachahmung und zum Mitleid (RL 235) sowie einer Art von »contrecoup« (RL 239), einer Nachwirkung der maternalen Affekte im Fötus. Derartige körperliche Veränderungen seien also durch einen sympathetischen Affekt und dessen Nachwirkung veranlaßt. Malebranches Konzept der physischen Veränderung des ungeborenen Kindes durch die Imagination der Mutter (Mißbildung, körperliche oder gei-

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Stelle des Körpers reiben solle, um die Muttermale an diese Stellen umzulenken (RL 24of.). Vgl. auch den bereits genannten Art. »Muttermal« in Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (1987), Bd. 6 [1935], Sp. 704. Das Kind sei angeblich nicht nur mit dessen Gesichtszügen, sondern auch mit vor der Brust gekreuzten Armen, zum Himmel gewandten Augen, einer kleinen Stirn (da diese auf dem Bildnis kaum zu erkennen gewesen sei) und sogar einer Art Mitra auf den Schultern zur Welt gekommen (RL 24of.). Vgl. L. S. King (1978), S. 176.

stige Behinderung, Muttermal) geht also von einem ganzen Bündel von Faktoren aus, die hier noch einmal kurz benannt seien: gemeinsamer Blutkreislauf von Mutter und Fötus, Intensität des Eindrucks, Qualität der Widerstandskraft der Nerven, Trieb zu Nachahmung und Mitleid, physische Nachwirkung der maternalen Affekte. Ideengeschichtlich interessant ist, daß Malebranche die Lücken der embryologischen Präformationslehre, die sehr gut mit dem christlichen Glauben vereinbar war, nicht zum Anlaß genommen hat, dieses Erklärungsmodell anzuzweifeln. Im Gegenteil, durch die Auffassung des maternalen Einflusses konnte er alles, was der Idee der Urzeugung widersprach, alles Monströse, Krankhafte, Fehlerhafte in der Nachkommenschaft doch noch in das traditionelle Weltbild einfügen. Wurden im 16. und frühen 17. Jahrhundert Mißgeburten auch auf Hexerei und den schädlichen Einfluß des Teufels zurückgeführt, 55 setzte sich gleichzeitig aber bereits ein wissenschaftliches Interesse an Mißbildungen durch, wie es das Werk Daniel Sennerts (1572-1637) belegt.56 Doch in diesem Punkt zeigt es sich, daß Malebranche weniger Naturforscher als Philosoph und Theologe war. Da er keinen empirischen Nachweis für den imaginativen Einfluß auf den Fötus erbringen konnte, vereinnahmte er transitorische Kräfte wie die Sympathie und eine besondere Nachwirkung (contrecoup), ohne die Ergebnisse der zeitgenössischen Anatomie und Physiologie zu verarbeiten und weiterzuentwickeln. Oft stellt sich dem Wissenschaftshistoriker die Frage, warum bestimmte empirische Entdeckungen wie die der Epigenesis von Harvey oder die der Spermatozoen von Leeuwenhoek zu ihrem Zeitpunkt nicht in voller Tragweite zu einer Revolutionierung der bestehenden wissenschaftlichen Anschauungen geführt haben. Auch Malebranche hätte durch die Anbindung an Harveys Vorstellung einer epigenetischen Bildung des Keims57 weniger Schwierigkeiten gehabt, zumindest die nicht vererbten, nachträglich entstandenen Mißbildungen zu erklären, ohne sie als Widerspruch zur göttlichen Ordnung empfinden zu müssen. Trotzdem bleibt aber auch dann die Frage nach der Verursachung solcher Mißbildungen bestehen. Denn die Theorie einer sukzessiven Entwicklung des Embryos im Unterschied zum Wachstum des im Prinzip Vorhandenen beantwortet noch nicht, wie eine Mißbildung entsteht, sie läßt nur die Annahme zu, daß diese sich auch während des Wachstums allmählich herausgebildet haben könnte. Das Problem verschiebt sich also nur: Mißbildungen müßten dann als Veränderungen in der Keimentwicklung angesehen werden, 55

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Vgl. W. Shumaker (1972), The Occult Sciences in the Rennaissance. A Study in Intellectual Patterns. Berkeley u.a., bes. S. 90-107. Vgl. dazu King (1978), S. 153-160. Vgl. Rädl (1970), Bd. i, S. i34ff. und S.

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die durch innere, genetische oder aber durch äußere Einflüsse bewirkt wären. Malebranche geht jedoch in seiner embryologischen Auffassung davon aus, daß die Keime keinesfalls schon fehlerhaft sein könnten, sondern daß jede Veränderung des Ungeborenen, ob positiv oder negativ, nachträglich geschehen müsse.58 Fehlende empirische Beobachtungen über gewaltsame Verletzungen des Uterus (Druck, Stoß etc.) stützten dabei die Zuflucht zum Imaginationismus. In dem Kapitel »Objections & reponses« (RL 249 — 255) schwächt Malebranche die Auffassung von dem sinnlich-affektiven Einfluß entscheidend ab. Er bezeichnet nämlich solche, durch die Imagination der Mutter hervorgerufenen, physischen59 Eindrücke beim Kind als erlangte (acquises) im Unterschied zu den natürlichen (RL 249). Die erlangten Eindrücke charakterisiert er als weniger langlebig und nachhaltig: »les naturelles ne s'effacent point, mais les autres se guerissent avec le temps. Verite dont les consequences sont infmies par rapport ä la Morale.« (RL 251) Er erkennt also die mögliche moralphilosophische Sackgasse, die das Konzept eines unumschränkten Einflusses der Mutter auf die Nachkommenschaft beinhaltet. Nimmt er also mit der Formulierung, daß diese Fehler wie Wunden zuheilten, wenn das Kind zur Welt komme (RL 250), seine Behauptung wieder zurück, daß alle Fehler und »les fausses traces« (RL 251) beim Kind von der Mutter stammten? Hier verläßt Malebranche das Feld der Embryologie und verlagert das Problem auf eine moralphilosophische Ebene. Um die Freiheit des menschlichen Willens zu retten, unterscheidet er nämlich zwischen sehr starken und schwächeren Eindrücken, die von der Mutter auf das Kind wirkten: »[...] elles agissent avec tant de force sur le cerveau de l'enfant & sur le reste de son corps, qu'elles y impriment des vestiges aussi profonds & aussi durables que les traces naturelles« (RL 252); die schwächeren aber verlören sich, indem sie von neuen sinnlichen Eindrücken

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Die positive Bedeutung einer solchen angenommenen physischen Übermittlung von Eindrücken der Mutter auf das Kind sieht Malebranche darin, daß auch lebenserhaltende Funktionen in Anpassung an den jeweiligen Lebensraum >vererbbar< wären. Mit diesem, in einem kurzen Absatz formulierten Gedanken nimmt er — freilich noch nicht nach Arten und bestimmten Verhaltensweisen differenziert — einen Grundsatz der Vererbungslehre von Jean Baptiste Lamarck (1744—1829) vorweg: Erworbene Eigenschaften könnten den Nachkommen durch die Fortpflanzung übermittelt werden, d.h., es gebe eine Veränderung der Art durch die Anpassung an die Lebensumstände: »la propagation du corps humain [...] est absolument necessaire ä la transmission de certaines dispositions du cerveau, qui doivent etre differentes en differens temps & en differens pai's [...].« (RL 242) Die Frage, ob dann nicht auch seelische Empfindungen und begriffliche Kenntnisse von der Mutter übermittelt werden können, beantwortet Malebranche negativ: »Car enfin il n'y a point de traces dans le cerveau, qui puissent par elles-memes reveiller d'autres idees que celles des choses sensibles: parce que le corps n'est pas fait pour instruire l'esprit, & qu'il ne parle ä l'ame que pour lui-meme.« (RL 253) 103

allmählich verdrängt und abgelöst würden. Für die Moralkonzeption ist dieser Schritt deshalb wichtig, weil an die Freiheit des Willens erst dann zu denken ist, wenn die Chance besteht, daß sich der Mensch auch von solchen sinnlichen Determinationen trennen und deren Macht durch die Vernunft überwinden kann.60 Moralität kann also nicht physiologisch abgeleitet werden, sonst wäre der Mensch nicht imstande, sich frei von der Irrtumsanfälligkeit der Sinne, Gewohnheiten und Vorurteile zu machen. Trotz seiner mechanistischen Anthropologie verficht Malebranche also keinen absolut materiellen Determinismus. Dies gilt es anhand des dritten Teiles seines Buches über die Imagination genauer zu erläutern.

3. Kritik an Autoritätsglauben, Wirkungsästhetik und Hexenwahn: »I'lmagination contagieuse« Die erworbenen Irrtümer der Einbildungskraft, für die nicht mehr allein die Affektivität der Mutter verantwortlich zu machen ist, durchziehen Malebranche zufolge das ganze Feld sozialer und politischer Verbindungen und sind letztlich aus der physiologischen Natur des Menschen herleitbar. Die argumentative Grundlage für diese kausale Abhängigkeit bildet die Annahme einer physiologisch bedingten Disposition zur Nachahmung. Die Disposition zur Nachahmung stellt Verbindungen, Akkomodationen Abhängigkeiten, Machtverhältnisse her. Malebranche nimmt an, daß »les hommes [...] sont faits pour composer ensemble plusieurs corps, dont toutes les parties ayent entr'elles une mutuelle correspondance.« (RL 321). Dieser Körper bindet die einzelnen Glieder aneinander, kein Teil kann sich ohne Abstimmung mit den anderen Teilen bewegen. Der so begriffene leibliche Mensch ist also in jeder Beziehung abhängig und determiniert. Die >moralische< Abhängigkeit funktioniert analog zur physiologischen Determination der Ideen:61 60 61

Vgl. dazu ausführlich A. Levi (1964), bes. Kap. n: »The Rationalist Dilemma«. In der jüngeren Forschung werden solche Analogisierungen von Physiologie und Politik oder Ökonomie genauer untersucht. So etwa stellt Descartes' mechanistische Physiologie, basierend auf Harveys Entdeckung des Blutkreislaufes, ein Modell für die politische Theorie von Thomas Hobbes und dessen Zeitgenossen James Harrington bis zu Rousseau bereit. Vgl. dazu Bernhard I. Cohen (1994), Harrington and Harvey: A Theory of State based on the New Physiology. In: Journal of the History of Ideas 55, No. 2, S. 187-210; Joseph Vogl (1994), Homogenese. Zur Naturgeschichte des Menschen bei Buffon. In: H.-J. Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Stuttgart, Weimar, S. 80-95, hier S. 89^ Vgl. auch die materialreiche Studie von D. Peil (1983), Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. München (= Münsterische Mittelalter-Schriften. Bd. 50); und B. Stollberg-Rilinger (1986), Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats. Berlin.

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[...] c'est que nous tenons a notre corps, ä nos parens, ä nos amis, a notre Prince, ä nötre patrie par des liens que nous ne pouvons rompre, & que meme nous aurions honte de tächer de rompre. Nötre ame est unie ä notre corps, & par notre corps ä toutes les choses visibles par une main si puissante, qu'il est impossible par nousmemes de nous en detacher. (RL 35Öf.)

Solche Beziehungen und Abhängigkeiten treten nach Malebranches Beobachtung ausschließlich in Form von Machtverhältnissen in Erscheinung. In sozialer Hinsicht seien sie auf jene Disposition des Gehirns, alles nachzuahmen, was wir bei anderen sehen (RL 320), zurückführbar. Diese Disposition zeige sich in zwei Arten: zum einen als Neigung, durch Größe und Erhabenheit bei anderen einen ehrenvollen Platz zu erhalten, die in der Nachahmung angesehener Personen bis in deren bizarrste Verhaltensweisen, Redensarren, neue Moden und extravagantem Aussehen zum Ausdruck komme und damit die Instabilität der Lebensformen wie Korruption der Sitten nach sich ziehe (RL 322f.); zum anderen zeige sich die Anlage zur Nachahmung in der Beeindruckbarkeit durch eine starke Einbildungskraft aufgrund eines >weichen< und >zarten< Gehirns (RL 323) — ein Argument, das schon für die Erklärung einer physiologischen Übertragbarkeit der Imagination auf den Fötus genutzt wurde. Folglich ist eine »imagination forte & vigoureuse« cette constitution du cerveau, qui le rend capable de vestiges & de traces extremement profondes, & qui remplissent tellement la capacite de l'ame, qu'elles l'empechent d'apporter quelque attention a d'autres choses, qu'ä celles que ces images representent. (ebd.)

Vermittels einer solch affektiven Einbildungskraft lenkten Fürsten die Untergebenen (RL 333 — 339), Gelehrte ihre Kommentatoren und Interpreten (RL 279-309), Eltern ihre Kinder (RL 331-333), Schriftsteller das Publikum (RL 328 — 330, 341 — 369), wie es ihnen jeweils gefalle. In diesem letzten Teil der Abhandlung über die Imagination veranschaulicht Malebranche durch eine Vielzahl von Beispielen die negativen Auswirkungen einer lebhaften Einbildungskraft, um mit Nachdruck davor zu warnen. Interessant macht seine Kritik, daß er das Bündnis von institutionalisierter Macht mit der manipulativen Kraft der Imagination als besondere Gefahr erkennt, ohne sie aber - als Angehöriger einer solchen Institution, in seinem Fall des Ordens der Oratorianer62 — für sich zu reklamieren und zunutze zu machen/'3 Vielmehr spricht er sich 62

Malebranche war Mitglied der katholischen, 1625 von de Berulle gegründeten französischen Priester-Kongregation, der Congregatio Oratorii Jesu et Mariae. Vgl. dazu J. Orcibal (1989), Jansenius d'Ypres (1585-1638). Paris, S. i20f. 63 Trotz seiner Erkenntnis des Bündnisses von institutionalisierter Macht und manipulativer Kraft der Imagination widmet Malebranche seine Recherche aber nicht einer Entlarvung der hinter den Moden, den Vorurteilen und dem Aberglauben stehenden politischen Interessen, wie es nach ihm dann Thomasius und dessen Schüler C. H. Amthor tun sollten. Vgl. dazu Pott (1992), Kap. III.i und III.2. 105

von jeglicher Macht los, die für ihn immer Verführung der Sinne beinhaltet. Stattdessen vertritt er die Normen von Ratio und christlicher Religion, die allein Freiheit von den Irrtümern der Effektiven Einbildungskraft garantieren könnten. Daß damit aber ein nicht weniger wirkungsvoller Machtanspruch formuliert ist, wird von ihm nicht reflektiert. Auf zwei Aspekte der Verführung durch eine lebhafte Imagination ist zum Ende dieses Kapitels noch einzugehen: zum einen auf ein zu Malebranches Zeit äußerst lebhaft diskutiertes Thema: der Hexenwahn, den er eindeutig als Produkt der Imagination entlarvt; zum anderen auf das Verhältnis von Schriftsteller und Publikum, das er am Beispiel von Tertullian, Seneca und Montaigne behandelt (RL 341 — 369). Bei beiden Themen untersucht Malebranche die negativen Auswirkungen der Imagination, d. h. die starke Wirkung der affektivvernunftwidrigen Kräfte des Menschen. Das Verhältnis von Schriftsteller und Publikum ist nach seiner Diagnose ein sinnlich-emotionales, das nicht an der Ratio orientiert ist. Hauptangriffsfläche der Kritik boten ihm die Essais (1572/1588) des französischen Moralisten Michel Montaigne (1533-1592), dem er falsche Lust (RL 360), Eitelkeit und Hochmut (RL 365), >Pyrrhonismus< und »maladie d'esprit« (RL 368) attestiert: »Ses idees sont fausses, mais belles. Ses expressions irregulieres ou hardies, mais agreables.« (RL 369) Mit diesem angenehmen, suggestiven Stil treffe er auch den Geschmack des Publikums: »Le commun des hommes estime le brillant, & non pas le solide, parce que aime davantage ce qui touche le sens, que ce qui instruit la raison.« (ebd.) Diese Feststellung legt ein Auseinandertreten von den Normen der klassizistischen Ästhetik64 und den Ansprüchen des Publikums auf emotionale Befriedigung nahe. Für Malebranche bleibt jedoch der Wahrheitsanspruch der Literatur grundlegend. Wirkungsästhetik und Publikumsbezug der antiken Rhetorik gewinnt er für seine Zeit nichts Positives ab. Vielmehr ist er, ohne allerdings Anhänger von Aristoteles zu sein,05 64

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Vgl. A. Martino (1977 — 1979), Emotionalismus und Empathie. Zur Entstehung bürgerlicher Kunst im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 81-83, S. 117-130, hier S. 118-120. Malebranche äußert sich zur zeitgenössischen schönen Literatur und Ästhetik nicht explizit. Doch läßt seine Freundschaft mit dem Jesuiten Yves-Marie Andre (1675-1764), dessen Hauptwerk Essai sur le beau 1715 erschien, auf eine Nähe zur klassizistischen Ästhetik schließen. Vgl. dazu W. Tatarkiewicz (1987), Geschichte der Ästhetik. Bd. 3. Die Ästhetik der Neuzeit von Petrarca bis Vico [Polnisches Orig. 1967]. Basel, Stuttgart, S. 422. Die philosophische Autorität von Aristoteles und dessen unkritischen Kommentatoren sind Zielscheibe von zahlreichen Angriffen Malebranches. Für die Wahrheitssuche stellt er sich in der >Querelle des anciens des modernes< in philosophischer Hinsicht auf die Seite der letzteren: »II est ce me semble assez inutile a ceux qui vivent presentement de scavoir, s'il y a jamais eu un homme qui s'appelät Aristote; si cet homme a ecrit les livres qui portent son nom; s'il entend une teile chose ou une autre dans un tel endroit de ses Ouvrages: cela ne peut faire un homme ni plus sage ni plus heureux; mais il est tresimportant de sfavoir, si ce qu'il dit est vrai ou faux en soi.« (RL 290)

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Vertreter des Nachahmungsgrundsatzes der Dichtung. Den Stil des Hyperbolischen und Gekünstelten charakterisiert er als Unordnung der Imagination. Zu solcher Übertriebenheit neigten nur »visionnaires« (RL 326): [...] Quand ils se mettent dans la tete de passer pour beaux esprits, & qu'ils s'erigent en Auteurs; car il y a des Auteurs de routes especes, visionnaires & aurres: que d'extravagances, que d'emportemens, que de mouvemens irreguliers! ils n'imitent jamais la nature, tout est affecte, tout est force, tout est guinde. (RL 3271".)

Seine Ablehnung des marinistischen Stils in der Dichtung verbindet er mit der Pathologisierung einer starken Imagination, die sich in den unterschiedlichsten Erscheinungsweisen als Entmachtung des Willens äußere. So bestehe die Gefahr von »folie« (RL 324), wenn die Seele nicht die Oberhand über die Imagination behalte. Herrschten Sinne, Leidenschaften und die Imagination anstelle von »la justesse de l'esprit, [...] la clarte & la nettete dans le discours« (RL 343), seien Irrtum und Wahnsinn die zwangsläufigen Folgen. Jegliche Art von affektiv geladener Einbildungskraft ist bei Malebranche negativ konnotiert, gilt sogar als »maladie de l'esprit« (RL 327, 330), die durch den ungeordneten Lauf der Lebensgeister oder aber durch eine entsprechende Disposition des Gehirns hervorgerufen (RL 323) wird. In beiden Fällen ist der Kranke also machtlos, seine Einbildungskraft unter Kontrolle zu halten. »La communication contagieuse de l'imagination« (RL 335) hat gleichzeitig eine massenpsychotische Wirkung. Malebranche schreibt Personen von einer afifektiven Imagination die Absicht zu, andere zu rühren, zu überreden, zu blenden und sich zu unterwerfen (RL 33of.). Die Einbildungskraft werde als Machtinstrument mißbraucht, um in sozialen Beziehungen die Handlungen der jeweils Untergeordneten nach Belieben zu lenken, ohne daß Verstand und Vernunft noch regulierend eingreifen könnten. Hier sieht er die Gefahr, daß die gottgegebene Abhängigkeit der Menschen voneinander, die den sozialen Zusammenhalt garantiert, durch die Macht der Einbildungskraft gestört wird: So sind Unterwerfung, Herrschaft, Unfreiheit ein Produkt der sinnlich-affektiven Determiniertheit des Menschen, während Willensfreiheit und Verstand von vornherein im Widerspruch zu solchen Machtinteressen stehen. Demgemäß sind die Ansprüche von Sinnlichkeit und Einbildungskraft Haupthindernisse des Handelns aus freiem Willen: »Car la plüpart des hommes se laissent aller ä l'effort de l'impression sensible« (RL 339), wovon auch die >Klügsten< nicht ausgenommen sind: »puisque les hommes memes les plus sages se conduisent plütot par l'imagination des autres, c'est-ä-dire par l'opinion & par la coutume, que par les regies de la raison.« (RL 373) So fällt Malebranches Zeitdiagnose auf allen Ebenen negativ aus — ein empirischer Befund, der die Annahme eines freien Willens nicht bestätigt und in den Zuständigkeitsbereich der Metaphysik verweist. Anders gewendet: Die pessimistische Anthropologie ist ein Mittel, die Ratio und den von der Sinnlichkeit geläuterten christlichen Glauben freizuhalten von den allzumenschlichen 107

Neigungen, Leidenschaften und Irrtümern. In dem Abschnitt über Seneca66 verläßt Malebranche dann die philosophische Untersuchung und nimmt seine Zuflucht zur Augustinischen Prädestinationslehre,67 nach der nur der christliche Glaube für die Gnade empfänglich macht und die Erbsünde zu überwinden hilft. 68 Eine Vermittlung von Metaphysik und Anthropologie gelingt ihm an dieser Stelle nicht. Vielmehr verweist er als Lösung des Dilemmas zwischen Körper und Seele, zwischen Sinnlichkeit und Vernunft auf die christliche Morallehre Augustinischer Herkunft. In dieser Hinsicht ist auch der kurze Abschnitt über Hexerei symptomatisch für Malebranches Umgang mit metaphysischen Problemen: er erprobt sie zuerst auf der Ebene der Physik, um dann seine Untersuchung und Kritik mit einem offenbarungstheologischen Argument abzuschließen. So nimmt er an, daß Hexen- und Aberglauben auf einer hartnäckigen, krankhaften Einbildung beruhten, vergleichbar Molieres Darstellung in Le malade imaginaire (i673)/'9 Gegen Angriffe seien sie enorm widerstandsfähig und hingen letztlich von einem »bouleversement de cerveau« (RL 374) ab. Le plus etrange effet de la force de l'imagination, est la crainte dereglee de l'apparition des esprits, des sortileges, des caracteres, des charmes des Lycanchropes ou Loupsgaroux, & generalement de tout ce qu'on s'imagine dependre de la puissance du demon. [...] Je scai bien que quelques personnes crouveront ä redire, que j'attribue la plüpart des sorcelleries ä la force de l'imagination [...]. (RL 3yof.)

Wenn Malebranche für Hexenwahn und Zauberei allein die Einbildungskraft verantwortlich macht, ist seine ganze physiologische Ätiologie, die er an dieser Stelle nicht noch einmal aufrollt, mitzubedenken. So behandelt er die Hexerei zunächst als psychophysiologisches Problem: Der Hexenwahn entstehe aus einer Unordnung der Einbildungskraft (RL 374), aus einer allgemeinen Furcht vor 66

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Malebranche lehnt Seneca wegen seiner ausschweifenden und »wilden Äusserungen« (RL 345) zwar ab, weil er dadurch Herrschaft über schwächere >Genies< (RL 354) erlange, aber in bezug auf die Morallehre stimmt er ihm wenigstens teilweise zu (RL 356). Hier legt er sein Glaubensbekenntnis ab: »Nous sommes unis a toutes le creatures par l'ordre de Dieu, & nous en dependons absolument par le desordre du peche. De sorte que nous ne pouvons etre heureux, lorsque nous sommes dans la douleur & dans l'inquietude, nous ne devons point esperer d'etre heureux en cette vie, en nous imaginant que nous ne dependons point de toutes le choses, desquelles nous sommes naturellement esclaves. Nous ne pouvons etre heureux que par une foi vive & par une forte esperance [...]; & nous ne pouvons vivre selon les regies de la vertu, & vaincre la nature, si nous ne sommes soutenus par la grace que Jesus-Christ nous a meritee.« (RL 358) Vgl. K. Flasch (1980), Augustin. Einführung in sein Denken. Stuttgart; A. Levi (1964), Kap. n; G. Rodis-Lewis (1990), L'anthropologie cartesienne. Paris, Kap. IV: »Augustinisme et cartesianisme«, S. 101 — 125. Malebranche deutet hier seine Kenntnis dieser Komödie an, die kurz vor der Veröffentlichung der ersten Teils seiner Recherche herauskam.

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einer »puissance invisible« (RL 370) sowie aus den Geschichten, die man sich von Hexenzusammenkünften erzählt. Wenn man diese mehrmals wiederholt, so spinnen sie sich in den Träumen des Nachts weiter, bis ein lebhaftes Bild einer derartigen Zeremonie vor Augen steht. Erzählungen von Hexen, Gespenstern und anderen erstaunlichen Dingen machten vor allem bei Kindern, die naturgemäß schreckhaft seien, einen starken Eindruck, so daß sie das Erzählte real zu sehen meinen. Diese assoziative Wirkung wird in bekannter Weise physiologisch erklärt: »Quand les hommes nous parlent, ils gravent dans nötre cerveau des traces pareilles ä celles qu'ils ont.« (RL 373). Hier wäre der Aspekt der Feinheit oder >Weichheit der Nerven< zu ergänzen, die bei Frauen, Kindern und Greisen besonders groß sein sollen (RL 266—273), weshalb sie auch besonders prädestiniert scheinen, dem Hexenzauber und jeglicher Art von affektiv bedingter Manipulation durch die Einbildungskraft zum Opfer zu fallen. Als Remedium gegen den Hexenwahn empfiehlt Malebranche interessanterweise aber nicht Verfolgung und Bestrafung, sondern einen Umgang, der in gewisser Weise Shaftesburys Spottprobe vorwegnimmt: man sollte Hexen als Narren behandeln, so daß sie ihre Einbildungen und ihren Irrtum bald von selber ablegten. Trotz dieser Kritik des Hexenglaubens als Manipulationssystem will er die Macht von Teufel und Zauberei dennoch nicht gänzlich leugnen, da er diese Annahme benötigt, um die Offenbarung Gottes als erfolgreiches Kampfmittel gegen die Magie verteidigen zu können: Wenn man aber dergleichen Geschichten als Beweise der Macht des Teufels erzähle, der durch die christliche Religion entwaffnet worden, erweise man diesem zu viel Ehre (RL 375). Wer an den Teufel glaubt, enthülle deshalb seine Gottlosigkeit. Dies zeigt, daß Malebranche mit der Wende zum religiösen Bekenntnis die Ebene der wissenschaftlichen Abhandlung verläßt70 und damit das zweite Buch von der Einbildungskraft beschließt. Allerdings führt die Annahme der Existenz von Teufel und Hexen bei ihm nicht zu medizinischen Überlegungen, wie deren Macht sich physisch — etwa durch das Erzeugen von Krankheiten — auswirke. Das hatte dreißig Jahre nach ihm der auf dem Leibnizschen System aufbauende Arzt Friedrich Hoffmann zu begründen versucht, wobei er die Macht des Teufels als Ursache von Krankheiten ansah,71 bis dann durch den Druck des empirischen 70

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Das zeigt sehr gut M. Pott (1992); vgl. seine »Zwischenbemerkung: Malebranche und die Hexen«, ebd. S. 217-225, hier S. 218. Vgl. Friedrich Hoffmann (1704), Philosophische und medicinische Untersuchung von Gewalt und Würkung des Teuffels in natürlichen Cörpern. Frankfurt, Leipzig [lat. Orig., Halle 1703]. Hoffmanns Verfahren war nicht weniger spekulativ als das Malebranches. Hoffmann kam zu dem Ergebnis, daß die Wirkungsmacht des Teufels von verschienen körperlichen Dispositionen und Faktoren abhinge, von Beschaffenheit des Blutes, Geschlecht, Ernährung und Klima. Vgl. dazu den luziden Aufsatz von L. S. King (1974), Friedrich Hoffmann and some Medical Aspects of Witchcraft. In: Clio Medica 9, S. 299-309, hier S. 305. King reiht Hoffmann in die Tradition von Den109

Wissens die dem Teufel zugeschriebenen Funktionen in das System der Naturgesetze überführt wurden. Bei Malebranches Unternehmen, die Ursachen der Irrtümer der Einbildungskraft zu erforschen, ist es wichtig, Analyse und Bewertung zu unterscheiden. Erst dadurch wird klar, daß er naturwissenschaftliche Fragen für den Bereich der Metaphysik zugänglich machte, wobei ihm zur Analyse der Cartesische Leib-SeeleDualismus und das mechanistisch aufgefaßte Lebensgeistermodell ebenso diente wie die Präformationstheorie der Keime. Durch die Anbindung an die zeitgenössische Medizin erhielt seine physiologische Ätiologie der Einbildungskraft ein eigenständiges Gewicht neben den religiös-metaphysischen Problemen, die er zu lösen suchte. So konnte seine mechanistische Anthropologie, obwohl sie von spekulativen Annahmen durchzogen und zur Rettung der christlichen Moral, die im Augustinischen Denken wurzelte,72 gedacht war, auch ohne deren moral theologische Ausrichtung von den nächsten Generationen fruchtbar weiterentwickelt werden. Die Rezeption von Malebranches Buch »De l'Imagination« vollzog sich nicht nur im Bereich der Aberglaubens- und Teufelskritik,73 sondern ebenso im Bereich der mechanistischen Anthropologie mit dem folgenreichen Konzept einer physiologisch determinierten Einbildungskraft. In der Nachfolge wich allerdings die Augustinisch-Cartesische Skepsis gegenüber der Irrtumsanfälligkeit der Sinne einer empiristisch gestützten Rehabilitierung der Sinnlichkeit. Dieser veränderte und positive Begriff der Sinnlichkeit bestimmte die Theorien der Einbildungskraft im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts maßgeblich, die es im zweiten Teil der Arbeit nachzuzeichnen gilt.

Zusammenfassung An den vier rekonstruierten Positionen und ihren Ablegern läßt sich beobachten, daß es um 1700 ein Grundproblem gab, das mit unterschiedlichen Lösungsstrategien angegangen wurde: Die Einbildungskraft, der eine enge Verbindung zu den

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kern des 16. Jahrhunderts wie Johann Weyer oder Reginald Scot ein, welche die Auffassung von dem Verkehr mit Dämonen als krankhaftes Phantasieprodukt beurteilten und die Hexerei ablehnten. Außerdem nennt er als unmittelbare Vorläufer der ambivalenten Position Hoffmanns John Webster (1610—1682), der die Hexen verdammte, und Joseph Glanvill (1636-1680), der an die Macht des Teufels glaubte; ebd. S. 307. M.E hätte er ebenso Malebranche als Vorläufer nennen können. — Zur »latrodaemonologie« vgl. auch K. E. Rothschuh (1978), bes. S. 36—46. Malebranche erkannte wie einige seiner Zeitgenossen — z.B. der Arzt Louis de La Forge (1632-1666) - in Descartes' Anthropologie die Nähe zu der Lehre von Augustinus; vgl. Röd (1978), S. H5f. und 130. Dies hat M. Pott (1992, Kap. IV) rekonstruiert.

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Sinnen und Affekten bescheinigt wurde, konnte die von Verstand und Vernunft gesetzten Grenzen überschreiten und dadurch die akzeptierte Hierarchie erschüttern. In den vorgestellten Auffassungen wurde die Einbildungskraft im Verhältnis zu den oberen Erkenntniskräften bestimmt. Als allgemeine Tendenz läßt sich feststellen, daß man die Kontrolle der Einbildungskraft als eines ambivalenten Vermögens allein dem Verstand und der Vernunft anvertraute. Nur die Art, wie diese Kontrolle auszuführen sei, wurde von den zitierten Autoren recht unterschiedlich beantwortet. Neben dieser Grundtendenz begann man aber auch, die Einbildungskraft in ihrer eigenen Logik zu erforschen: Die Assoziationsgesetze von Ähnlichkeit, Kontiguität und Kausalität wurden von Malebranche, Locke und Wolff, also noch vor ihrer theoretischen Ausarbeitung durch David Hume, ansatzweise formuliert. Desgleichen gab es im ästhetischen Bereich erste Versuche, die Eigengesetzlichkeit der Einbildungskraft gegenüber den rationalistischen Prinzipien zu legitimieren, allerdings ohne sich durchsetzen zu können. Die einzelnen Positionen seien hier noch einmal zusammengefaßt. Die Lexikographen Walch und Zedler, mit ihren geistigen Mentoren Thomasius, A. F. Müller und Budde, machen sich die enge Verbindung der Einbildungskraft mit den Sinnen und Affekten zunutze: als lebendige Seite des Verstandes vermag allein sie, abstrakte moralische Einsichten in eine Handlungsmotivation umzusetzen. Auch die Rhetorik hat diesen Vorzug erkannt. Ihr Vermögen, durch affektiv wirksame Reden und Dichtungen Macht über das Publikum zu erlangen, wird von den genannten Autore gerechtfertigt, sofern sie in den Händen von Weisen oder Gebildeten den weniger Gebildeten und dem >Pöbel< moralische Kenntnisse vermittle. Beide Aspekte betonen die sinnlich-affektive Macht der Einbildungskraft, die unter vernünftigen, moralischen Vorgaben Voraussetzung für tugendgemäßes Handeln ist. Der Lösungsversuch von Wolff akzentuiert die rationalisierbaren Seiten der Einbildungskraft als einer unteren Erkenntniskraft. Während ihre reproduktive Seite keine Probleme aufgibt, wird die Entfaltung ihrer dichterischen und inventiven Kraft auf die Befolgung der logico-ontologischen Prinzipien begrenzt: Ihre Vorstellungsbilder dürfen der Ordnung der Dinge - auch in einer möglichen Welt - nicht widersprechen. An dieses Konzept schließt sich Gottsched an und überträgt es unter dem Signum des Nachahmungs- und Wahrscheinlichkeitsgrundsatzes auf die Poetik und Ästhetik. Auch Shaftesbury strebt in der Form von Essays die Aufklärbarkeit der Einbildungskraft an. Durch die Annahme einer sinnlich-natürlichen Moralität versucht er zum einen, die unvernünftigen >Launen< der Einbildungskraft durch Selbstaufklärerung zu läutern, zum anderen, deren schwärmerische Seiten durch die Konzeption eines vernünftigen Enthusiasmus^ für eine intuitive Form der Naturerkenntnis fruchtbar zu machen. Im Anschluß daran legt Addison den Schwerpunkt auf die ästhetisch-affektive Lust an den Wirkungen der EinbilIII

dungskraft, begegnet aber der Tatsache der Unlust infolge ihrer begrenzten Erkenntnisfähigkeit mit einer Intellektualisierung dieses Vermögens. Bodmer und Breitinger betonen ebenfalls die sinnlich-affektive Seite der Einbildungskraft, um die größtmögliche Publikumswirkung zu garantieren, schränken sie aber gleichzeitig auf die Befolgung rationaler Prinzipien ein. Malebranches Position basiert auf der Cartesischen Dualismus von Seele und Körper. Sinnlichkeit und Einbildungskraft werden als Quellen von Irrtum und Falschheit disqualifiziert und infolgedessen der Kontrolle von Vernunft und christlicher Religion unterstellt. Gleichwohl erforscht Malebranche die physiologischen und physischen Grundlagen dieser menschlichen Funktionen und liefert damit entscheidende Stichworte für die anthropologische Perspektivierung der Einbildungskraft im 18. Jahrhundert. So können abschließend noch einmal die Strategien der Problembearbeitung markiert werden. Walch und Zedler erreichen eine Annäherung der Einbildungskraft an den Verstand durch Integration und Instrumentalisierung ihrer affektiven Seite. Wolff hingegen begründet diese Annäherung unter Exklusion der spezifischen Sinnlichkeit der Einbildungskraft, während Shaftesbury eine solche Annäherung durch deren Integration gewinnt. Bei Addison findet eine gewisse Dissoziierung von ästhetischer Einbildungskraft und Verstand statt, die er aber nicht konsequent durchhält. Dies gilt in ähnlicher Weise für die frühe Position der Schweizer, die ebenfalls einer solchen Dissoziierung das Wort reden, ohne jedoch in der eklektizistischem Übernahme verschiedener Positionen eine systematische Grundlegung der Poetik zu erreichen. Dagegen stützt Malebranche die Unterwerfung der Einbildungskraft unter rationale Kontrolle auf eine detaillierte Analyse ihrer physiologischen Grundlagen, wodurch eine zweigleisige Rezeptionslinie im 18. Jahrhundert angelegt wird.

I 12

ZWEITER TEIL Theorien der Einbildungskraft um 1750

Man erschrickt, wenn man die unermeßliche Weite des Feldes übersieht, an welchem die Menschen gearbeitet haben, und dessen jede besondere Gegend fast eines ins Unendliche fortgehenden Anwachses fähig ist. [...] Alles, was man noch thun kann, ist in dem bekannten Theile nichts als das gewisse zu sagen, und die Muthmassungen, wie die mythischen Zeiten, als eine unbestimmte Gränze des Reiches der Wahrheit mit einem billigen Mißtrauen bey zufügen. 1

Seitdem in den späten i97oer Jahren zunehmend auch anthropologische Themen in das Blickfeld der Literaturhistoriker gerückt sind und sich im darauffolgenden Jahrzehnt eine eigene Forschungsrichtung innerhalb der Germanistik etabliert hat, 2 bedarf eine Behandlung von >Anthropologie und Literatur< im

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A. v. Haller (1971), Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Hg. von Johann Georg Heinzmann. 2 Tie. ND der Ausg. Bern 1787. Frankfurt/M., Tl. i, S. i87f. Vgl. die ideengeschichtlich orientierte Forschung zur literarischen Anthropologies die von H.-J. Schings' Studie Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in der Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts (Stuttgart 1977) initiiert wurde. Zu nennen sind: W. Riedel (1985), Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«. Würzburg; A. Kosenina (1989), Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Arzt< und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg; ders. (1995), Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur >eloquentia corporis< im 18. Jahrhundert. Tübingen (= Theatron. Bd. n); H. Pfotenhauer (1987), Literarische Anthropologie. Selbstbiographie und ihre Geschichte — am Leitfaden des Leibes. Stuttgart. Außerdem wurden in jüngerer Zeit zwei Kolloquien zu diesem Themenkomplex veranstaltet, publiziert von Barkhoff/Sagarra (Hg.) 1992, Anthropologie und Literatur um 1800. München (= Publications of the Institute of Germanic Studies. University of London. Bd. 54); und H.-J. Schings (Hg.) 1994, Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart, Weimar (= Germanistische Symposien Berichtsbände. 15) [Mit einer Auswahlbibliographie zur Erforschung der (literarischen) Anthropologie im 18. Jahrhundert von A. Kosenina]. Vgl. den vorzüglichen Forschungsbericht von W. Riedel (1994), Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: IASL, 6. Sonderheft, S. 93-157.

18. Jahrhundert keiner Rechtfertigung mehr.3 Das Gros der Forschungsbeiträge konzentriert sich allerdings auf das letzte Drittel des 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts4 - eine Phase, in der die Anthropologie durch Ernst Platner (1744—1818) philosophisch fundiert wurde5 und sich ihre disziplinäre Verankerung an den Universitäten vollzog. Die vorliegende Studie greift den Forschungsansatz zur >literarischen Anthropologie< auf und wendet die Fragestellungen im Kontext des >Commercium mentis et corporis< auf Quellen aus dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts an.6 Damit soll aber nicht nur ein weiteres Quellenkorpus erschlossen, sondern auch der Prozeß der allmählichen Spezialisierung der einzelnen Wissensgebiete ins Auge gefaßt werden. Anthropologische Fragestellungen wurden um 1750 sowohl in der Medizin (Physiologie, Pathologie) als auch unter dem Titel der Psychologie als Teilbereich der Metaphysik behandelt, ohne daß man sich aber für die Erörterung von psychophysi-

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Zur Forschungsgeschichte vgl. auch das von 1992-1995 in Hamburg durchgeführte DFG-Projekt Germanistische Aufklärungsforscbung im Schwerpunktprogramm »Wissenschaftsforschung«. Wissenschaftsprozesse in den Forschungen zur deutschen Literatur der Aufklärungszeit in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR zwischen 1965 und 1990, inbesondere die beiden Fallstudien »Empfindsamkeit« und »Literatur und Naturwissenschaft«. Unter dem Titel »Germanistische Aufklärungsforschung seit den siebziger Jahren« ist ein Zwischenbericht von L. Danneberg, M. Schlott, J. Schönert und F. Vollhardt (In: Das achtzehnte Jahrhundert 19.2 (1995), S. 172-192) erschienen. 4 Damit ist eher eine wissenschaftliche Tendenz in der Folge der Studien von M. Linden (Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1976) und H.-J. Schings (1977) angesprochen, ohne daß sie von diesen so festgelegt worden wäre. Die Fixierung auf das späte 18. Jahrhundert ist entscheidend durch den Habilitationsvortrag von O. Marquard Zur Geschichte des philosophischen Begriffs »Anthropologie« seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mitgeprägt worden (in: Collegium Philosophicum. Studien für J. Ritter zum 60. Geburtstag. Basel, Stuttgart 1965, S. 209 — 239). Die Thesen Marquards hat W. Proß im Nachwort seiner Herder-Edition stark modifiziert; vgl. J. G. Herder, Werke. Bd. II. Herder und die Anthropologie der Aufklärung. Hg. von W. Proß. München, Wien 1987, S. H32f. — Daß diese Festlegung in den letzten Jahren modifiziert worden ist, belegt der Forschungsbericht von R. Hafner und W. Schmidt-Biggemann Richtungen und Tendenzen in der deutschen Aufklärungsforschung (In: Das achtzehnte Jahrhundert 19.2 (1995), S. 163—171), der die anthropologische Wende< auch wie in dieser Studie in die fünfziger und sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts datiert. — Zum frühen 19. Jahrhundert vgl. U. Benzenhöfer (1993), Psychiatrie und Anthropologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart (= Schriften zur Wissenschaftsgeschichte. XI). 5 Ernst Platner (1772), Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Erster Theil. Leipzig. 6 Eine andere Richtung verfolgt W. Isers Studie Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie (Frankfurt/M. 1991): auf Grundlage eines überzeitlichen Anthropologiebegriffs wird der wirkungsästhetische Ansatz um ein dreistufiges Fiktionsmodell bereichert. Vgl. auch Iser (1990), Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur. Konstanz (= Konstanzer Universitätsreden. 175).

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sehen Problemen bereits auf die disziplinäre Zuordnung zur Anthropologie verständigt hätte.7 In den Texten der Jahrhundertmitte, in denen die fragliche Verbindung von Seele und Körper als Problem in der Medizin wie in der Affektenlehre, in der Erkenntnistheorie wie in der Ästhetik verhandelt wurde, war auch die Bestimmung der Einbildungskraft eingebunden. Welches Verhältnis nimmt sie zu Sinnlichkeit und Verstand ein, welche Rolle spielt sie im psychophysischen Zusammenhang? Wie unterscheidet sie sich von der sinnlichen Empfindung, wie vom Gedächtnis? Diese Fragen waren es, die den anthropologischen Bezugsrahmen der Einbildungskraft ermitteln sollten. Sie standen wiederum im Kontext einer sensualistischen oder einer rationalistischen Theorie der >inneren< und >äußeren< Sinne. Die Einbildungskraft, die mit dem Gedächtnis zu den inneren Sinnen gehörte, konnte rein materiell, nervenphysiologisch betrachtet werden oder auch als seelische Funktion, der körperliche Prozesse lediglich korrespondierten. Aber sie galt ebenso als ein vermittelndes Vermögen, das eine Verbindung zwischen realen, sinnlichen und abwesenden, möglichen Dingen herstellte. Somit hing die jeweilige Einschätzung der Einbildungskraft, insofern sie der sinnlichen Seite des Menschen zugerechnet wurde, von der Theorie der Sinnlichkeit und der Affekte ab. In dem Maß aber, wie die Einbildungskraft nach ihrem Verhältnis zu Sinnlichkeit und Verstand, nach ihrem Verhältnis zu wirklichen und möglichen Dingen befragt wurde, mußte auch geklärt werden, welche Ursachen und Wirkungen sie hatte, und ob sie als eine von biologischen, psychophysischen und geographischen Faktoren determinierte Funktion oder als ein von Verstand und Willen des Menschen bestimmbares oder gar als ein selbständiges Vermögen zu sehen war. Während sich die moralistische Beurteilung der Einbildungskraft mehr auf ihre unkontrollierten, ausschweifenden Folgen konzentrierte — wie sie im letzten Jahrhundertdrittel in dem Feld der »Schwärmerkuren« medizinisch oder auch literarisch therapiert wurde — ,ö ging die physiologische Untersuchung auf die inneren und äußeren Ursachen solcher >Ausschweifungen< zurück und schuf damit die Voraussetzung für ihre Mäßigung oder Heilung. Die Einstellungen um 1750 waren vielfältig, so vielfältig wie die Zuständigkeitsbe-

Zur Polysemie des Begriffs Anthropologie im 18. Jahrhundert vgl. U. Benzenhöfer (1993), S. 22f. Vgl. Sauder (1974), Empfindsamkeit. Bd. I. Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart, S. 137—147; M. Engel (1994), Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmers in Spätaufklärung und früher Goethezeit. In: Schings (Hg.), Der ganze Mensch, S. 469—498; zu diesbezüglicher Forschung vgl. auch den bereits genannten Forschungsbericht von Riedel (1994), bes. S. io6f. u. S. 133-155; und neuerdings J. Heinz (1996), Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin, New York.

reiche für die Einbildungskraft, die in der Philosophie, in den Wissenschaften und der Ästhetik gleichermaßen als problematischer Gegenstand verhandelt wurde, bis sie verstärkt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts für die neue wissenschaftlichen Disziplinen der Anthropologie und Erfahrungsseelenkunde und bald auch als produktives >Dichtungsvermögen< oder Phantasie für die autonom werdende Ästhetik reserviert wurde.9 Versteht man die Anthropologie als Fachgebiet, das die Erforschung des ganzen Menschen und damit auch des psychophysischen Zusammenhangs zur Aufgabe hat, muß die historische Betrachtung gleichermaßen auf physiologische und philosophisch-psychologische Modelle eingehen. In der folgenden Analyse wird der Versuch gemacht, eine systematische Trennung der um 1750 in Wirklichkeit eng verwobenen Wissensgebiete von Physiologie, Psychologie und Ästhetik vorzunehmen und diese in einzelnen Kapiteln darzulegen. Zunächst werden verschiedene psychophysiologische Modelle der Einbildungskraft erörtert (Kap. I.i. und 1.2.)· Damit soll ein Beitrag zur Rekonstruktion anthropologischer Ansätze in Medizin und Philosophie um 1750 vorgestellt werden, der in der bisherigen Forschung zur Einbildungskraft zu wenig Beachtung gefunden hat.10 Daran schließt sich die Darlegung der psychologischen Erfassung der Einbildungskraft an (Kap. II.i. bis 11.4.). Die Psychologie, die um 1750 auf physiologische Fragen ausgeweitet wurde, bot zugleich ein wichtiges Fundament für die Etablierung der Ästhetik als wissenschaftlicher Disziplin — ein Innovationsprozeß, der simultan zur Entwicklung der Anthropologie verlief.11 Dies ist im dritten Kapitel zu untersuchen (Kap. III.i. bis III.4-). 9

In der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste (Hg. v. J. S. Ersch und J. G. Gruber. Leipzig i8i8ff.) wird die Einbildungskraft ausschließlich als psychologisch-ästhetisches Vermögen definiert; vgl. Bd. 32 (1839), Art. »Einbildungskraft«. Philosophische und ästhetische Aspekte der Einbildungskraft und Phantasie um 1800 sind in vielen Einzelstudien erforscht. Exemplarisch genannt seien: E. Dod (1985), Die Vernünftigkeit der Imagination in Aufklärung und Romantik. Eine komparatistische Studie zu Schillers und Shelleys ästhetischen Theorien in ihrem europäischen Kontext. Tübingen; J. Rieder (1990), Offenbarung und Einbildungskraft. Studien zum Bildungsgang der Jenaer Frühromantiker. Pfaffenweiler (= Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft. Bd. 19); A. Göbels (1994) Ästhetische Erfahrung bei Schiller und Humboldt. Frankfurt/M. u.a. (= Hamburger Beiträge zur Germanistik. Bd. 21); und H. Feger (1995), Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers. Heidelberg (= Probleme der Dichtung. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Bd. 25). 10 So in den Studien von Herrmann (1970), Vietta (1986) und Barck (1993). " Von »Simultaninnovationen« im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bezüglich der Entstehung der wissenschaftlichen Disziplinen von Ästhetik, Anthropologie und Geschichtswissenschaft spricht Odo Marquard (1980), Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. In: B. Fabian u.a. (Hg.), Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubewertung des Menschen. München 1980 (= Studien zum 18. Jahrhundert. Bd. 2/3), S. 193-209, hier S. 195.

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I. Leib-Seele-Problem und Physiologie der Vorstellungen— Ein Beitrag zu einer Geschichte der Anthropologie

In sämtlichen Texten der philosophisch gebildeten Ärzte um 1750, die sich mit der Einbildungskraft beschäftigen, wird diese Funktion in einen psychophysiologischen Kausalzusammenhang gestellt. Unterschiedlich jedoch sind die jeweiligen Ansatzpunkte solcher Erörterungen. Dabei spielt sowohl die Wahl der zur Verfügung stehenden psychophysischen Modelle (Harmonismus, Okkasionalismus, Influxionismus) als auch die Wahl der jeweiligen nervenphysiologischen Empfindungstheorie (Lebensgeistermodell, Saitentheorie) eine wichtige Rolle. In den folgenden Kapiteln wird die physiologische Seite von Empfindung und Einbildungskraft in den Blick genommen, die in den ausgewählten Texten je nach Position des Autors ganz unterschiedliche Bewertungen erfährt. Zu behandeln sind die Aspekte der Nervenphysiologie und der materiellen Disposition der Einbildungskraft sowie der Realitätsbezug der Ideen (Kap. i.i. bis I.6.). Ein zweites medizingeschichtliches Forschungsfeld bietet die Hypothese der Übertragbarkeit von affektiv besetzten Vorstellungsbildern der Schwangeren auf das Ungeborene und deren pathogene Wirkung (Muttermale, Mißbildungen). Sie wurde im ganzen 18. Jahrhundert kontrovers diskutiert und schließlich durch neue embryologische Erkenntnisse widerlegt. Auch diese Debatte liefert einen wichtigen Beitrag zum Problem des psychophysischen Zusammenhangs wie zur Frage des Realitätsbezugs von Ideen (Kap. 1.2.)· Im ersten Kapitel werden vor allem Texte aus den vierziger und frühen fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts untersucht. Ihre Autoren sind Ärzte oder Philosophen wie Johann Georg Krüger, Ernst Anton Nicolai, Johann Christian Bolten und Johann Georg Sulzer, Albrecht von Haller und auch Ludovico Antonio Muratori; letzterer trat mit dem epochemachenden Traktat Delia forza della fantasia umana (1745) hervor, der 1785 mit reichen Kommentaren versehen von G. H. Richerz ins Deutsche übertragen wurde. Von den ausgewählten Autoren sind Krüger, Nicolai und Bolten Vertreter der Halleschen Medizin. Sie gehörten sowohl der Schule des Animisten Georg Ernst Stahl (1660—1734) als auch der Mechanisten Friedrich Hoffmann (1660—1742) und Herman Boerhaave (1668-1738) an, welche die Medizin in Halle in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entscheidend prägten. Ihre philosophische Ausbildung erhielten sie hauptsächlich bei Wolff und seinen Schülern. Dies trifft eingeschränkt auch auf Sulzer zu, der die Positionen von Wolff und Stahl in seinen 119

psychologischen Überlegungen zur Theorie des Vergnügens aufnahm und weiterentwickelte. Albrecht von Haller bildete in dieser Hinsicht ein Gegengewicht zur philosophischen Medizin in Halle, an die er aber auch teilweise anknüpfte. Er suchte sich seine Lehrer an verschiedenen europäischen Universitäten — in Leyden, London, Paris, Basel — und baute den ersten medizinischen Lehrstuhl an der 1737 neugegründeten Universität Göttingen auf, an der er bis 1753 tätig war. Die hier getroffene Auswahl konzentriert sich auf Autoren, die sich als Ärzte um die theoretische sowie therapeutische Behandlung der Einbildungskraft als einer psychischen Funktion bemühten, oder die als Philosophen die Einbildungskraft in einen medizinischen Kontext stellten — wie Sulzer — oder ihr einen rein physiologischen Status zuerkannten — wie Muratori — und von daher das Problem des Commercium von Körper und Seele angingen. Diese verschiedenen Bemühungen gaben entscheidende Impulse zur Herausbildung der Anthropologie als einer wissenschaftlichen Disziplin um 1750. Ihre wissensgeschichtliche Rekonstruktion versteht sich als Beitrag zu einer noch zu schreibenden Geschichte der Anthropologie im 18. Jahrhundert. 12

i. Nervenphysiologischer Prospekt: Animistische und mechanistische Modelle der Einbildungskraft Wird die Tätigkeit der Einbildungskraft als physiologischer Prozeß, und werden ihre Vorstellungsbilder als materielle >Spuren< im Gehirn aufgefaßt, so stellt sich die Frage, wie sinnliche Eindrücke in den Gehirnfasern zu Vorstellungen verarbeitet werden. In physiologischer Hinsicht hängt die Erforschung der Einbildungskraft eng mit der Analyse der Empfindung und der Nerven zusammen. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts existierten zwei konkurrierende Modelle der Sinnesverarbeitung in den Nervenfasern: ein mechanistisches und ein animistisches. Das mechanistische Modell von der Nervenbewegung bedient sich der Theorie der Lebensgeister (Spiritus animales), die sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen läßt.' 3 Sie faßt die Nerven als Röhren oder Kanäle auf, in denen sich eine >subtile Materie< oder ein flüssiger Stoff bewegt, um die äußeren Eindrücke auf die Sinneswerkzeuge zum Gehirn zu übermit-

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Vgl. Riedel (1994), wo er dieses Desiderat formuliert. Vgl. dazu E. Clarke (1968), The Doctrine of the Hollow Nerve in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. In: L. S. Stevenson and R. P. Multhauf (Eds.), Medicine, Science and Culture. Baltimore/Maryland, S. 123 — 141; M. Sonntag (1991), »Gefährte der Seele, Träger des Lebens«. Die medizinischen Spiritus im 16. Jahrhundert. In: Jüttemann/Sonntag/Wulf (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Weinheim, S. 165 — 179.

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teln. Die Theorie der Lebensgeister ist ein intermediäres Konzept zur Überwindung des Leib-Seele-Dualismus. Vertreter dieser Theorie sind Cartesianer wie Malebranche und Friedrich Hoffmann, 14 aber auch Autoren wie Haller, Muratori, Platner und Tissot. Dagegen faßt das Modell des Animismus, das mit dem Namen von Georg Ernst Stahl verbunden ist, die Nerven nicht als hohle, von >Lebensgeistern< durchströmte Röhren auf, sondern vergleicht sie mit gespannten Saiten, die durch Anschlagen in eine »zitternde Bewegung«'5 versetzt werden. Da nach der Hypothese Stahls die Seele eine vollkommene Erkenntnis des Körpers hat und nach dieser Einsicht alle Bewegung in ihm hervorbringen kann/ 6 ist die Annahme von >Spiritus animales< überflüssig. Der Animismus ist ein »psycho-dynamisches Konzept der Medizin«, 17 das einen >Influxus animae< annimmt. Zu den Vertretern des Saitenkonzepts der Nervenbewegung gehören Stahl, Isaac Newton (1643 — 1727) und David Hartley (1705-1757), Joseph Priestley (1733-1804), bedingt auch Charles Bonnet (1720-1793) sowie Krüger und Sulzer.18 Das Konzept von kleinen oszillierenden Bewegungen der Nerven bei einem Sinnesreiz konnte aber auch mit der Lebensgeistertheorie kombiniert werden. So hatte etwa der Naturforscher Krüger eine Art Mittelweg zwischen Mechanismus

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Zu den mechanistischem und antimechanistischen Konzepten von Hoffmann und Stahl vgl. die Studie von F. Duchesnau (1982), La physiologic des lumieres. Empirisme, Modeies et Theories. The Hague, Boston, London, Kap. i u. 2. So in den Worten J. G. Krügers, eines Stahl-Nachfolgers. Vgl. Krüger (1743), Naturlehre, zweyter Theil, welcher die Physiologie, oder die Lehre von dem Leben und der Gesundheit der Menschen in sich fasset. Halle, § 315, S. 586. Zur zeitgenössischen Bewertung des Stahlianismus vgl. die Passagen in Krügers Naturlehre, Tl. II, § 10, S. 18, und § 149, S. 274. Dort nennt Krüger neben der animistischen Hypothese, die er verwirft, noch die zweite, ihm plausible Hypothese der Stahlianer, daß jede Bewegung im Körper mechanisch abliefe. Vgl. R. Toellner (1985), Medizin in der Mitte des 18. Jahrhunderts. In: R. Vierhaus (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen, S. 194 — 217, hier S. 201; vgl. auch L. J. Rather (1961), G. E. Stahl's Psychological Physiology. In Bulletin of the History of Medicine 35, S. 37-49. Um eine Rehabilitierung des Stahlianer Krügers im Kontext von Psychologie, Ästhetik und schöner Literatur haben sich in den letzten Jahren vor allem J. GeyerKordesch und W. Proß bemüht. Vgl. Geyer-Kordesch (1977), Die Psychologie des moralischen Handelns. Psychologie, Medizin und Dramentheorie bei Lessing, Mendelssohn und Nicolai. Phil. Diss. Massachusetts; dies. (1988), Georg Ernst Stahl: Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. [Habilitationsschrift] Münster; vgl. Nachwort und Kommentar von W. Proß in der von ihm herausgegebenen Edition: J. G. Herder, Werke. Bd. II. München, Wien 1987. Zum Einfluß der Stahl-Nachfolger auf Sulzer vgl. ders., »Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten«. Johann Georg Sulzer (1720—1779). In: Hellmut Thomke u.a. (Hg.) 1994, Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770- 1830. Amsterdam, Atlanta, S. 133-148, bes. S. 141-148. 121

und Animismus eingeschlagen, indem er die Theorie der Lebensgeister zwar nicht abstritt, sie aber als unerweisbare Hypothese hinstellte,' 9 so daß der Schweizer Arzt S. A. A. D. Tissot (1728—1797) in seinem Tratte des nerfs et de leurs maladies2° ihn dennoch zu den Befürwortern dieser mechanistischen Theorie zählen zu können glaubte.21 Ist nach den Worten Tissots um 1780 das »Stahlsche System fast in gänzlichem Verfall«,22 da es »niemals, ausser von einer ganz unbeträchtlichen Anzal Ärzte, für wahr angenommen wurde«, 23 so muß entgegen seiner Einschätzung die Wirkung der Stahlianer im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts als ebenso bedeutend veranschlagt werden wie die der Mechanisten.24 Das animistische Modell der Einbildungskraft betont die psychophysische Übereinstimmung unter der Voraussetzung der Seele als Bewegungsprinzip. Sie ist mit der als lebendig gedachten Materie in jeder Tätigkeit verbunden, so daß auch die Wirksamkeit der Einbildungskraft nicht von den Sinnen und dem Körper zu trennen ist.25 Das Verhältnis von Seele und Körper wird dabei als einseitiger >Influxus animae< aufgefaßt - eine Hypothese, die Stahl die Kritik von Leibniz als Vertreter des Harmonismus eingebracht hat.26 Das mechanistische Modell hingegen läßt sich mit der Auffassung einer Wechselwirkung von Seele und Körper verbinden, so daß die Einbildungskraft entweder als materielle oder mentale Funktion konzipiert wird. Über die Zuordnung entscheidet dann die jeweilige Legitimierung des psychophysischen Zusammenhanges. 19

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Man soll »sich nicht etwa die Vorstellung zu machen, als wolte ich das Daseyn der Lebensgeister läugnen. Ich habe nur behauptet, daß man von ihren Eigenschaften nichts gewisses sagen könne. [...] Man kan die Lichtstrahlen nicht sehen, weil sie die Ursache sind, warum wir sehen können«. VgJ. J. G. Krüger (1743), Naturlehre. Th. II, 16. Kapitel: »Von der Empfindung überhaupt«, § 296, S. 546—548. 6 Bde. Lausanne, Paris 1778-1780. S. A. A. D. Tissot (1781-1783), Abhandlung von den Nerven und ihren Krankheiten. Aus dem Französischen übersetzt von F. A. Weber. Bd. 1—4. Winterthur und Leipzig, Bd. i., § 137, S. 16. Ebd., § 139, S. 18.

Ebd., § 140, S. 2i. Zur Wirkung des Stahlianismus vgl. dazu J. Geyer-Kordesch (1988); und Kaiser/ Völker (Hg.) 19853, Georg Ernst Stahl (1659—1734). In: Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg 66. Halle/S. Zur Stahl-Rezeption in der schönen Literatur vgl. W. Mauser (1990), Glückseligkeit und Melancholie in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts - Ein Versuch. In: Melancholie in Literatur und Kunst. Hürtgenwald (= Schriften zur Psychologie, Kunst und Literatur. Bd. i), S. 48-88; und Geyer-Kordesch (1977), Die Psychologie des moralischen Handelns. Psychologie, Medizin und Dramentheorie bei Lessing, Mendelssohn und Nicolai. Ann Arbor/Michigan. — Die Wirkung von Hoffmann und Boerhaave und der Schüler auf die Anthropologie der Spätaufklärung harrt noch detaillierter Forschungen. Vgl. J. Geyer-Kordesch (1988), S. 235-266. Rather/Frerichs (1968/1970), The Leibniz-Stahl Controversy - I und II. In: Clio medica 3, S. 21-40, und Clio Medica 5, S. 53-67.

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i.i. Krügers Theorie der Wechselwirkung — physiologische Pathologie der Einbildungskraft Johann Gottlob Krüger (1715 —1759), seit 1743 Professor der Medizin in Halle und ab 1751 in Helmstedt, behandelt die Einbildungskraft innerhalb seiner Naturlehre27 unter den Gesichtspunkten der »Physiologie« (Teil II) und der »Pathologie« (Teil III).28 Das Vorwort der Naturlehre von Friedrich Hoffmann, dem Freund und späteren Rivalen G. E. Stahls, stellt Krüger in den Umkreis der mechanistischen Medizin, obwohl dieser zugleich auch zu den Nachfolgern Stahls zu rechnen ist.29 In philosophischer Hinsicht stand Krüger durch seine Betonung der Erfahrung und Sinnlichkeit dem englischen Empirismus nahe, während in Halle zur Zeit Krügers die Wolff-Schule dominierte. Sie wurde zunächst durch A. G. Baumgarten (1714-1762) und ab 1740 durch dessen Schüler G. F. Meier (1718 — 1777) wie durch den aus der Verbannung zurückberufenen Wolff selbst repräsentiert.30 Krügers Naturlehre wie auch seine Experimental-Seelenlehre von 1756 fanden in seiner Zeit großes Echo und beeinflußten die Theorie des Erkennens und Empfindens von J. G. Herder,3' zudem gehört Krüger zu den meistgenannten Autoren in Moritz' Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-93).32 Krüger geht von einer psychophysischen Wechselwirkung aus, die er aber meist als »Analogie« oder »Proportion« bezeichnet.33 Empfindung, Einbildungskraft, Gedächtnis und Urteilskraft seien »Seelenwürckungen« (K III, § 8, S. 10), denen jederzeit eine Bewegung der Nerven entspreche und deren Inten27

Johann Gottlob Krüger (1740—1750) [der Weltweisheit und Arztneygelahrtheit Doctors], Naturlehre. 3 Theile. Halle 1740—1750. Diese Ausgabe wird im folgenden als K mit Angabe von Band-, Paragraphen- und Seitenzahl in ( ) zitiert. 28 J. G. Krüger (1750), Naturlehre Dritter Theil, welcher die Pathologie, oder Lehre von den Kranckheiten in sich fasset. Halle. 29 So W. Proß (1994), S. 143. 10 Obwohl in den späten I74oer Jahren durch Baumgarten und Meier die Hierarchie der Erkenntniskräfte umgekehrt wurde, führte der Primat der sinnlichen Erkenntnis bei den Wolfflanern nicht gleichzeitig zur Ablösung des Cartesischen Dualismus und des Leibniz-Wolffschen Harmonismus durch das Modell der psychophysischen Wechselwirkung, wie es Krüger und andere Hallenser Mediziner vertreten haben. In seiner Erkenntnispsychologie knüpfte Meier aber auch an Lockes Empirismus an; vgl. Sommer (1892), Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Ästhetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller. Würzburg, S. 42 — 57. 31 Zu diesem Einfluß vgl. den bereits genannten Kommentar von W. Proß zu Herder (1987), Werke II, S. 1005-1026 und H28ff. 32 R. Bezold (1984), Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg (= Epistemata. Bd. XIV). 33 Auch in seinem mehr als zehn Jahre später erschienenen Versuch einer ExperimentalSeelenlehre (Halle, Helmstädt 1756) bleibt Krüger bei dieser Auffassung, da er sich die »Vereinigung des Leibes und der Seele« (§ 315, S. 317) nicht anders denken könne als in Form einer Wechselwirkung, auch wenn sie sich empirisch nicht erweisen lasse.

sität von der Beschaffenheit des Gehirns abhänge (K III, § 63, S. 63, §§ 8687, S. Saf.). Eine Empfindung erklärt er als proportionales Verhältnis von Gespanntheit der Nerven und einer auf sie einwirkenden Kraft durch äußere Gegenstände: Wenn die Empfindung von einer zitternden Bewegung der Nervenhäute herrühret, und die Wirckung der Ursache, von welcher sie hervorgebracht wird, jederzeit proportional ist; so kan es nicht fehlen, es muß die Empfindung stärcker und lebhafter seyn, je hefftiger die zitternde Bewegung der Nervenhäute gewesen ist. Nun ist aber jederzeit die Bewegung einer Saite desto heftiger, je stärcker sie angestossen worden, und je elastischer sie ist. Derowegen hat man nur auf zweyerley zu sehen, wenn man die Grosse der Empfindung beurtheilen will, nemlich auf die Gewalt, mit welcher die äussern Cörper in die Gliedmasse der Sinne würcken, und auf die Elasticität der Nervenhäute, in denen die Empfindung hervorgebracht wird. (K II, § 315, S. 586)

Diese Saitenmetapher für die Nervenbewegung — die Kraft des Anschlagens und die Elastizität der Nerven entscheiden über die Stärke der »zitternden Bewegung« - bestimmt Krügers Empfindungstheorie im zweiten Band seiner Naturlehre. Im dritten Band jedoch schließt er sich auch an die ebenfalls geläufige Auffassung von der Wirkung des »Nervensaftes« an, dessen Menge und Geschwindigkeit in den Gehirnfasern die Intensität der Vorstellungen der äußeren wie der inneren Sinne determiniere (K III, § 63, S. 62): Wenn wir etwas empfinden, so geht allemahl in dem Nervensafte des Gehirns eine Veränderung vor. Sind wir vermögend, diese Veränderung hervorzubringen: so erfolget auch zugleich die damit verknüpfte Vorstellung. Die Erfahrung lehret, daß wir dergleichen Vermögen besitzen; und wir nennen solches die Einbildungskraft [...]. Diesem zu folge, wird eine starcke Einbildungskraft jederzeit eine grosse Gewalt des Nervensaftes zum Grunde haben. Diese aber nicht so wohl seiner vermehrten Masse, als einer Geschwindigkeit, zuzuschreiben seyn. (K III, § 79, S. 76)

Hier wird vorausgesetzt, daß die Einbildungskraft Empfindungen qua physiologischen Bewegungen willkürlich hervorbringen kann, und daß die Nervenbewegungen bereits mit bestimmten Vorstellungen assoziiert sind. Gleichzeitig ist aber die Funktion der Einbildungskraft von Beschaffenheit und Bewegung des Nervensaftes abhängig. So zeigt sich, daß sie eine aktive und eine passive Seite zugleich hat: Sie hat das Vermögen, auf den Körper einzuwirken, wird dabei aber von der materiellen Basis in ihrer Wirksamkeit bestimmt. Demnach ist der psychophysische Zusammenhang als eine enge und permanente Wechselwirkung gedacht, bei der einmal die Seele als Wirkprinzip, einmal die Schnelligkeit des Nervensaftes im Gehirn — belebt durch das Blut, das zu Kopf steigt — dominanter werden kann. Diese zwei Seiten der Einbildungskraft als eines psychisch bestimmenden oder physisch determinierbaren Vermögens nimmt Krüger in dem zweiten und dritten Teil semer Naturlehre, zwischen deren Veröffentlichung immerhin sieben Jahre liegen, getrennt in den Blick. Die Auffassung der Determinierbarkeit der Einbildungskraft geht dann auch gleich mit ihrer Pathologisierung einher. Zunächst jedoch ist das Verhältnis von Empfindung und Einbildungskraft 124

im Kontext des psychophysischen Zusammenspiels darzulegen, wie es Krüger im zweiten Teil der Naturlehre konzipiert hat. Physiologisch bestimmt Krüger die Einbildung als »eben dieselbe Veränderung« im Gehirn, wie sie auch »von der Würckung eines Cörpers in die Gliedmassen der Sinne« (K II, § 428, S. 727) vor sich geht mit dem Unterschied, daß ein realer Sinneseindruck fehlt. Dem entspricht auf psychologischer Seite die bereits topische Definition der Einbildungskraft als dem »Vermögen, sich abwesende Sachen vorzustellen« (ebd.).34 Von der Empfindung unterscheidet sich die Einbildungskraft »nach dem Grade der Lebhaftigkeit« (K II, § 429, S. 727), sie kann jedoch - und das nimmt Krüger mit allen seinen Zeitgenossen an - genauso lebhaft wie jene werden: Hierbei sind die »Bewegungen in dem Gehirne bey der Einbildungskraft eben so starck, wie bei der Empfindung [...] und können folglich von jenen nicht mehr unterschieden werden« (ebd.). Die physiologische Analyse ergibt, daß in einem solchen Fall die Intensität der materiellen Bewegung eine Differenzierung von realem Sinneseindruck und Vorstellung ohne sinnlichem Pendant nicht zuläßt. Diese in physiologischer Hinsicht fehlende Unterscheidbarkeit von Empfindung und Einbildung kann zu ihrer Verwechslung führen. Wenn etwa ein Mann nicht mehr sagen kann, ob die Geliebte, die er zu sehen meint, real ist oder aber eingebildet, da Empfindung und physiologischer Prozeß in dem ein oder anderen Fall genauso lebhaft sind, so ist er nach Krüger ein Narr oder Verrückter. Solche Leute seien selbst durch die »deutlichsten Vernunftschlüsse« (ebd.) nicht von ihren Einbildungen abzubringen. Krügers Therapievorschlag gegen diese »Art von Narrheit, welche gemeiner ist, als man dencken sollte« (ebd.), beruft sich infolgedessen auf die Macht der Sinnlichkeit: 35 Das einzige Mittel, solchen Leuten aus ihrem Irrchum zu helfen, ist dieses, daß man sie in den Zustand solcher Empfindungen setze, welche gantz offenbar mit ihren Einbildungen streiten, damit sie aus dem daraus erfolgenden Widerspruche schliessen können, daß ihre Einbildungen thöricht sind, (ebd.)30

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Die Erzeugung von Vorstellungen konzipiert Krüger nach dem Wolffschen »Gesetz der Einbildungskraft« (K II, § 40, S. 75; § 430, S. 729): »Die tägliche Erfahrung lehret, daß allemahl, wenn wir uns eine Sache vorstellen, diejenige Sache zugleich mit vorgestellet wird, welche wir mit jener zugleich empfunden haben, oder die mit der vorgestellten Sache eine Ähnlichkeit hat.« (K II, § 430, S. 729) Die Assoziation bezieht sich also auf vorausgegangene Empfindungen und verbindet diese Vorstellungen nach Ähnlichkeit und Koexistenz. Zu Wolffs Theorie der Assoziation vgl. DM § 238 und § 799. In diesem Punkt folgt ihm auch G. F. Meier. S.u. Kap. III.3. Johann August Unzer (1729—1799), ein Schüler Krügers, knüpft an diese Stelle an, wenn er in bezug auf lebhafte Einbildungen, die gewöhnlich schwächer als die ursprünglichen Empfindungen seien, von einem »Zustand der Narrheit, welche eine sehr gemeine Krankheit ist«, spricht. Vgl. Der Arzt (1759- 1764). Eine medicinische Wochenschrift. Hg. v. J. A. Unzer. Tl. III (1760), 69. St., S. 258.

«5

Als Ursache der Lebhaftigkeit von Einbildungen führt er — und diese Auffassung wurde ebenfalls zum Topos — die oftmalige Wiederholung und Erneuerung von Vorstellungen an.37 Die Lebhaftigkeit könne noch gesteigert werden, wenn man sich die Dinge mit einem Affekt vorstelle (ebd.), den Krüger gemäß der Wölfischen Psychologie als starke Empfindung bezeichnet. Hier wird die Einbildungskraft als psychologische Ursache für Empfindungen und Affekte, mithin der ihnen korrespondierenden physiologischen Veränderungen angeführt. Erst im dritten Teil der Naturlehre, der Pathologie, bezieht Krüger solche, die Einbildungskraft begleitenden Affekte auf die starke »Bewegung des Nervensafts« (K III, §, 80, S. 76) oder starke Anspannung der Nerven. Damit zeigt er zugleich die Determination der Einbildungskraft durch die physische Disposition auf: Die Vorstellungen der Einbildungskraft sind desto lebhafter, je grosser die Gewalt des Nervensaftes im Gehirne ist [...]. Hieraus erhellet, warum Patienten zu rasen anfangen, wenn das Blut starck nach dem Kopfe gehet; [...] warum eben dieses bey einem starcken Affecte geschiehet; und warum rasende eine so grosse Stärcke besitzen. [...] Je lebhafter die Empfindungen sind: desto lebhafter sind die Vorstellungen der Einbildungskraft. Die Empfindungen werden sehr lebhaft, wenn die Nerven starck gespannet sind. [...] Derowegen kan auch eine allzustarcke Spannung der Nerven, eine Ursache der Raserey seyn. [...] Hieraus begreifet man, warum bey Hypochondrischen Personen die vermehrte Empfindlichkeit ein Vorbote der Raserey ist. Da es nun sehr wahrscheinlich ist, daß die Fäsergen des Gehirns zu starck gespannet sind, wenn sich eine zu heftige Spannung in den Nerven befindet: so kan die allzustarcke Spannung der Fäsergen des Gehirns, als Ursache der Raserey, angesehen werden. (K III, §§ 86-87, S. 82f.)

Ohne es anscheinend als Widerspruch zu empfinden, Bedient sich Krüger zur Erklärung der Lebhaftigkeit der Einbildungskraft wechselweise des LebensgeisterModells einerseits und der nervenphysiologischen Saitentheorie andererseits.38 37

38

»Eine Vorstellung derselben [der Einbildungskraft], die wir immer gegenwärtig erhalten, und oft erneuern, wird beständig lebhafter, und eben daraus lasset es sich begreifen, warum die Menschen bey einer Sache bisweilen in einen Affect gerathen, welche anderen gantz gleichgültig zu seyn scheinet.« (K III, § 8l, S. 77) Krüger sieht eine solche »vermehrte Übung« als Möglichkeit zur Steigerung der Fertigkeiten sowohl der Einbildungskraft als auch des Gedächtnisses und des Verstandes an (ebd.). Eine ganz ähnliche Position der Verbesserung der sinnlichen Erkenntniskräfte vertritt Meier in seinen Anfangs gründen aller schönen Wissenschaften (1748-1750), s.u. Kap. III.3. Dies könnte als ein Versuch der Harmonisierung der Hoffmann-Schule mit der Lehre Stahls betrachtet werden. Im zweiten Teil seiner Naturlehre im 16. Kapitel »Von der Empfindung überhaupt« befürwortet Krüger zwar die Existenz der Lebensgeister erneut, ohne dabei aber ganz sein Unbehagen verdecken zu können: »Es ist hieraus mehr als zu klar, daß die Häute der Nerven der eigentliche Sitz aller Empfindlichkeit sind. Wollen wir deswegen die Lebensgeister davon gantz ausschliessen? Keineswegs. Sie werden auch dabey das ihrige zu thun finden. Denn warum selten sonst wol alle Nerven inwendig mit der Materie des Hirnmarckes erfüllet seyn, wenn dieses nicht

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Während die Verfechter der Lebensgeistertheorie, die mittels einer metaphysischen Annahme den psychophyischen Dualismus zu überwinden streben, meist am Konzept der Herrschaft der Seele über die körperliche Maschine festhalten,39 stellt die Saitenmetapher für die Empfindung ein Modell bereit, das unter der Voraussetzung eines aktiven Prinzips der Seele eine psychophysische Einheit annimmt und entweder animistisch oder materialistisch40 interpretierbar ist. Daß aber eine Empfindung lediglich als Wirkung einer »zitternden Bewegung« mittels des Sinnesreizes gelten soll, ohne dabei die Annahme der Seele als eines aktiven Prinzipes zu benötigen, ist eine mögliche Konsequenz dieses Modells, die nicht im Sinne Krügers gewesen ist. Vielmehr hält er gegen die Materialisten4' an dem Konzept einer Dualität von Seele und Körper und deren Wechselwirkung fest. Seine verschiedenen Formulierungen von der Wirkung der Seele in den Körper oder des Körpers in die Seele oder auch der Proportionalität von psychophysischen Veränderungen zeigen jedoch, daß er auch der Seele nicht das alleinige Wirkungsprinzip zuschreiben kann. Vielmehr erkennt er an, daß bei einer jeden Empfindung und Vorstellung der Einbildungskraft sowohl der »Nervensaft« als auch die »festen und flüßigen Theile den Nervenhäuten eine subtile Materie mittheilen müste [...]? Eine Nerve verliert seine Empfindlichkeit, sobald er austrocknet.« (K II, § 311, S. 558f.) Auch in seiner Experimental-Seelenlehre (1756) benutzt Krüger im Kontext der Lebhaftigkeit der Vorstellungen den Terminus der »Lebensgeister« (vgl. § 98, S. 274). •w An Malebranches Anthropologie ist gezeigt worden, daß die Seele durchaus nicht immer die Vorherrschaft über die Macht der Sinne und der Einbildungskraft, die zudem durch Vorurteile, Gewohnheiten und gesellschaftlichen Konventionen gestützt wird, beizubehalten imstande ist. Trotzdem ist es aber erklärtes Ziel von Malebranches Recherche, die Regie der Seele zu bewahren, wenn er dessen Erfolg auch pessimistisch beurteilt. S.o., Teil I, Kap. IV. — Die mechanistische Lebensgeistertheorie erwies sich als tragfahiges und anpassungsfähiges Konzept, daß selbst Haller noch mit seiner Vorstellung von einem eigenen Bewegungsprinzip der Materie (Muskeln, Nerven) vereinbar hielt. Vgl. dazu auch R. Toellner (19773), Der zeitgemässe und der unzeitgemässe Haller. In: Ders., Albrecht von Haller (1708-1777). Zehn Vorträge, gehalten am Berner Haller-Symposium vom 6.-8. Okt. 1977. Bern, S. 111 —127, hier S. I22f. 40 So etwa in der Theorie der Assoziationen David Hartleys (1705—1757), die von Joseph Priestley (1733—1804) noch radikalisiert wurde, indem dieser sie vollkommen materialistisch auffaßte. Nach der Deutung F. A. Langes (1866) ließ sich Hartleys System der »vibrations« mit der Auffassung der Orthodoxie vereinbaren, solange Hartley den Körper als Instrument der Seele oder des Geistes ansah, obwohl seine Theorie der Assoziation gleichzeitig zur Konsequenz habe, daß psychische Vorgänge letztlich mit den Gehirnfunktionen identisch seien. Vgl. Lange (1906), Geschichte des Materialismus, 2. Bde. Leipzig, Bd. i, S. 394f. 41 Gegen die Materialisten wendet er ein, daß sie letztlich ein monistisches Modell verträten, da sie das Vermögen zu denken einer »subtilen Materie« im Gehirn zuschrieben; folglich sei die »Würckung des Leibes in die Seele, und der Seele in den Leib nicht anders als die Würckung eines Cörpers in den ändern Cörper anzusehen« (K II, § 433, S. 733). Eine solche Reduktion der Seele auf ein materielles Prinzip lehnt Krüger jedoch ab. 127

des Gehirns« (K III, § 63, S. 62) die Wirkung der Seele determinieren. 42 Krüger hält sich also beide Möglichkeiten offen: die Seele als Causa, aber auch der Körper als Causa. Denn wäre die Einbildungskraft allein eine Wirkung der Seele, wozu er sie am Anfang seiner »Pathologie« gerechnet hat (K III, § 8, S. 10), dann würde sie nicht der Herrschaft von körperlichen Prozessen wie der Nervenanspannung oder heftigen Blutbewegung unterliegen und zur > Raserei < getrieben werden können. Aufgrund dieser Unentschiedenheit läßt sich Krüger allenfalls als ein >verkappter< Stahlianer bezeichnen, da er sowohl vor der Konsequenz einer animistischen Position (Vorherrschaft der Seele) als auch vor einer materialistischen Position (Aufkündigung der Seele) zurückschreckt.43 Durch diese Umkehrung der Perspektive auf die innere Anlage und die Physis als Causa rückt das in den Blick, was den Mediziner Krüger in der Behandlung des psychophysischen Problems interessiert: der Aspekt der Krankheit. So behandelt er Hypochondrie, Raserei und »Melancholie« (K III, § 412, S. 480) als Krankheiten, »bey welche[n] die Begriffe in eine Unordnung gerathen, und die wunderlichsten Einbildungen für ausgemachte Sachen gehalten werden« (ebd.). Ob an der Raserei also die Gewalt des >Nervensaftes< oder die starke Spannung der Nerven schuld ist, spielt in der Konsequenz keine Rolle denn in beiden Fällen ist sie eine Krankheit, die zur Therapie herausfordert. Das Entscheidende ist vielmehr, daß diese >Gemütskrankheit< von physischen Bedingungen abhängt und deshalb nicht mehr allein von der Kraft der Seele und des Intellekts unter Kontrolle gehalten oder von dieser therapiert werden kann. Die Wolffsche Psychologie, die das Ausufern der Einbildungskraft durch die Regeln der Vernunft in den Griff zu bekommen versucht,44 ist demnach mit Krügers Auffassung der physischen Determiniertheit der Einbildungskraft nicht mehr vollständig vereinbar. Vielmehr ist das hier vorgestellte psychophysiologische Modell der Einbildungskraft als ein wichtiger Schritt zu einer »Physiologisierung der Psychologie«45 anzusehen. Auf dieser Grundlage entsteht die neue Anthropologie, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer Leitwissenschaft ausgearbeitet werden sollte. 42

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Die Abhängigkeit der seelischen Handlung von der körperlichen Disposition belegt auch folgendes Zitat: »Was die festen Theile, oder die Fäsergen des Gehirns anbetrifft, so sind sie ungeschickt, ihre Würckung zu thun, wenn sie zu weich oder zu hart sind. Denn so sind sie entweder nicht vermögend, die eingedrückte Bewegung zu erhalten oder sie anzunehmen.« (K III, § 63) Vgl. Krügers Ablehnung der animistischen Lehre: K II, § 10, S. 18, und § 149, S. 274S.o., Teil I, Kap. II. So hat es Manfred Riedel in seinem Forschungsbericht zur literarischen Anthropologie< der Spätaufklärung bezeichnet; vgl. Riedel (1994), S. 108. Hier wird die These vertreten, daß eine solche »Physiologisierung der Psychologie« nicht erst bei >philosophischen Ärzten< der ivyoer Jahre (Weikard, Platner etc.) zu beobachten ist, sondern bereits um 1750 bei Ärzten wie Krüger oder Haller.

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1.2. >Philosophische Pathologie< — Einbildungskraft als Vermögen zur Determinierung des Körpers bei E. A. Nicolai Ernst Anton Nicolai (1722-1802), einer der bedeutendsten Schüler Friedrich Hoffmanns, 46 außerdem Schüler und bald Kollege Krügers, lehrte ab 1748 als Professor der Medizin in Halle und wechselte 1758 nach Jena.47 Seine schmale, aber einflußreiche Schrift Wirkungen der Einbildungskraft in den menschlichen Körper von I744,48 die fast zeitgleich mit dem zweiten Band von Krügers Naturlehre erschien und 1751 bereits zum zweiten Mal aufgelegt wurde,49 entwirft ebenfalls ein anthropologisches Konzept der Einbildungskraft. Dieses basiert jedoch auf einem anderen Seelenmodell als Krügers Theorie, da Nicolai seine medizinische, auf Hoffmann gestützte mechanistische Auffassung sowohl mit dem Stahlschen Konzept des >Influxus animae< als auch mit den metaphysischen Grundlagen der Wolffschen Psychologie zu verbinden strebte.50 Demnach faßt er die Einbildungskraft eindeutig als ein seelisches Vermögen auf, das - wie der Titel der Schrift schon sagt - in den Körper wirkt, nicht aber umgekehrt. Diese Voraussetzung ist entscheidend für Nicolais Theorie der Verursachung von Krankheit und deren Therapie als Wirkung einer lebhaften, mit Affekten verbundenen Einbildungskraft. Nicolai stützt sich auf das Leibniz-Wolffsche Modell einer »genauen Übereinstimmung zwischen Leib und Seele« (§ 25, S. 44). Demnach sind alle Empfindungen und Affekte mit einer gewissen Veränderung im Körper verknüpft, dessen Ursache aber auf seiten des Empfindungs- oder des Begehrungsvermögen liegt, also psychischer Natur ist. Zwar wird auch Nicolai zufolge eine Empfindung durch die Bewegung der Nerven »hervorgebracht« (§ 8, S. 13), was aber nicht notwendig die Annahme einer Einwirkung des Körpers auf die Seele bestätigt, sondern ebenso durch die psychophysische Harmonie erklärt werden kann. 46

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Ein zeitgenössischer Biograph berichtet, daß das Verhältnis von Hoffmann zu Nicolai dem eines Vaters zu seinem Sohne geglichen habe; vgl. DBA 897, 318. Vgl. Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. Hg. v. A. Hirsch. Bd. 4. 3. Aufl. München, Berlin, 1962, S. 359; außerdem DBA 987, 308-357. Eine zweite veränderte und erweiterte Auflage erschien bereits 1751, eine dritte 1753. Im folgenden wird nach der zweiten Auflage in ( ) im Text zitiert, die unter dem Titel Gedancken von den Würckungen der Einbildungskraft erschien. In demselben Jahr erschien in Halle G. F. Meiers Theoretische Lehre von den Gemiithsbewegungen überhaupt, die auch die Einbildungskraft in Bezug zu den Affekten abhandelt und damit in dem gleichen wissenschaftlichen Kontext anzusiedeln ist. Meiers Affektenlehre enthält jedoch im Unterschied zu Krüger keine physiologische Ätiologie der Einbildungskraft. S.u. Kap. II.i. Zu Nicolais Lehrer vgl. K. E. Rothschuh (1976), Studien zu Friedrich Hoffmann. Erster Teil: Hoffmann und die Medizingeschichte. Das Hoffmannsche System und das Aetherprinzip. In: Sudhoffs Archiv 60 (1976), H. 2, S. 163-193; und ders. (19763), Studien zu Friedrich Hoffmann. Zweiter Teil: Hoffmann, Descartes und Leibniz. In: Sudhoffs Archiv 60, H. 3, S. 235-270. I2 9

Konform mit seinen Zeitgenossen definiert er die Einbildungskraft als »Vermögen ehemals gehabte oder vergangene Empfindungen wieder hervorzubringen« (§ 9, S. 16), fügt aber - im Unterschied zu Krüger und Haller etwa gleich ihre andere, ihre produktive Seite hinzu, die er wie Wolff als »Dichtungskraft« bezeichnet. Sie ist »ein Vermögen [...], die Einbildungen zu theilen, und aus Theilen und Trümmern verschiedener Einbildungen neue Vorstellungen zusammenzusetzen und zu erschaffen.« 5 ' (§ 13, S. 24) Für den Arzt Nicolai sind vor allem die Wirkungen einer lebhaften Einbildungskraft interessant. Sind die Einbildungen gewöhnlich schwächer als die Empfindungen, können sie — und das ist uns schon bekannt — durch Wiederholung und durch den »Gebrauch der Aufmercksamkeit« (§ 17, S. 29), aber auch durch die Verbindung mit Affekten lebhafter gemacht werden: Wenn wir uns etwas mit einem Affecte einbilden, oder, was gleich viel ist, wenn eine Einbildung mit einem Affecte verbunden ist, so erreicht diese Einbildung dadurch einen sehr großen Grad an Lebhaftigkeit. (§ 19, S. 32)

Nach Nicolai erregt die Einbildungskraft Affekte dadurch, daß sie entweder vergangene Empfindungen in derselben Stärke erneut hervorbringt oder auch »ganz neue, nie vorher empfundene Affecte« (§ 24, S. 41) erzeugt. Diese Affekte nun verursachten »Veränderungen im Körper« (§ 25, S. 42). Und so wie die Einbildungskraft »in das Gesetz des Appetitus und Abscheus einen starcken Einfluß« hat (§ 40, S. 80), so hat sie auch Macht über den menschlichen Körper: »Die Einbildungskraft kann Veränderungen im menschlichen Körper hervorbringen, und hat einen starcken Einfluß in den gesunden und krancken Zustand eines Menschen.« (§ 27, S. 49) Interessant ist hier, daß kein Unterschied besteht, ob es reproduzierte oder neu zusammengesetzte Vorstellungen sind, die durch entsprechende Lebhaftgkeit physische Veränderungen hervorbringen können. Hinsichtlich der imaginativ-affektiven Beeinflussung des Körpers ist also einzig die Lebhaftigkeit der Vorstellungen, nicht ihre Herkunft entscheidend. Eine solche wirkungsmächtige Übertragbarkeit von Vorstellungen auf den Körper kann auch pathogene Folgen haben. Nicolai erläutert das am Beispiel der Erzeugung von Muttermalen und Mißgeburten durch die Wirkung der affektiven Einbildungskraft der Schwangeren auf das Ungeborene (§§ 4 3 ~ 5 I > S. 87-103). Damit schließt er sich an die noch im 18. Jahrhundert verbreitete Meinung der >ImaginationistenGemütskrankheiten< wie die Melancholie (§ 26, S. 48) erzeugten. In diesem Fall gesteht er sogar das Wirken »körperliche[r] Ursachen« (§ 59, S. 123) auf die Einbildungskraft wie die Beschaffenheit des Gehirns oder körperliche Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Ausscheidung etc. zu. Damit wird aber die Auffassung von dem einseitigen imaginativ-affektiven Einfluß auf die körperliche Maschine nicht relativiert oder zurückgenommen. Denn gemäß der vorausgesetzten psychophysischen Vereinigung korrespondieren die Wirkungen der Seele mit denen des Körpers und umgekehrt. Nicolai sieht sich also nicht veranlaßt, diese Leibniz-Wolffsche Auffassung von der prästabilierten Harmonie zu widerlegen oder dafür Beweise anzuführen. Sie gehört zu den unbezweifelbaren, metaphysischen Fundamenten seines wissenschaftlichen Ansatzes in der Medizin. Was allerdings als eine Erweiterung des Wölfischen Systems gewertet werden kann, ist sein Entwurf einer medizinisch-philosophischen Pathologie, wofür er sich Wolffs Metaphysik mit ihrer psychologischen Theorie der Einbildungskraft, aber auch Meiers Lehre von den Gemütsbewegungen (1744) zunutze macht. Damit ist Nicolai in gewissem Sinn zu den Vorläufern von Karl Philipp Moritz' Konzept der >Seelenkrankheitskunde< und >Seelenheilkunde< in dessen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783— 1793) zu zählen. Da er versucht, einzelne Phänomene aus einer allgemein verbindlichen Theorie, der Wolffschen Vermögenspsychologie, zu deduzieren, steht er allerdings noch am Anfang der Möglichkeiten einer empirischen Psychologie, wie sie sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts allmählich entwickelte, 53 aber auch am Anfang einer »pathologischen Anatomie«, die rein physische Ursachen von Krankheiten des Gemütes für möglich hielt. 54 Abgesehen von seiner Beschäftigung mit Muttermalen und Mißgeburten, sind es nicht merkwürdige psychische Erschei53

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Zur Entwicklung der empirischen Psychologie vgl. den Aufsatz von H. Adler (1988), Fundus Animae — der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung. In DVjs 62 (1988), S. 197-220, hier S. 208; außerdem J. Jahnke (1990), Psychologie im 18. Jahrhundert. Literaturbericht 1980 bis 1989. In: Das achtzehnte Jahrhundert 14.2 (1990), S. 253-278; vgl. auch Bezold (1984). Die Entwicklung einer »pathologischen Anatomie« wurde nach der Studie von S. Bilger (Üble Verdauung und Unarten des Herzens. Hypochondrie bei Johann August Unzer (1727 —1799). Würzburg 1990, S. 24) auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur zögerlich vorangetrieben. Selbst in G. B. Morgagnis Hauptwerk De sedibus et causis morborum per anatomen indtgnatis (Venezia 1761) werde die körperliche Verursachung von Erkrankungen des Gehirns und der Nerven noch zurückgestellt, so daß man mit Foucault von einer »Latenzzeit« (S. 25, Anm. 48) der pathologischen Anatomie bis zu ihrer Wiederentdeckung durch Bichat (1771- 1802) und Corvisart (17551821) um 1800 sprechen könne.

nungen und Fallgeschichten, die Nicolais spezielles Interesse erwecken, auch nicht die physiologischen Grundlagen psychischer Phänomene; vielmehr behandelt sein Text psychische Phänomene (Ekel, Heimweh, Furcht, Träume; §§ 36—41 und 65 — 80) und Krankheiten (Wahnsinn §§ 53 — 59) als seelische Wirkungen der Einbildungskraft, mit denen physiologische Veränderungen und Symptome lediglich korrespondierten. Deshalb erscheint ihm eine ausgearbeitete Psychologie im Sinne Wolffs auch als ausreichend, solche Phänomene zu studieren.53 Am besten ließe sich Nicolais früher Ansatz einer pathogen wirkenden Einbildungskraft mit den Worten des Hallenser Mediziners Johann Christian Bolten als »philosophische Pathologie«56 bezeichnen. Diese philosophische Ausrichtung ändert er entscheidend in seiner späteren Abhandlung, den Gedancken von der Verwirrung des Verstandes, dem Rasen und Phantasieren von 1758, in der er sich eng an die iatromechanische Auffassung seines Lehrers Hoffmann anschließt und die Wirkungen der Einbildungskraft allein als physiologische Veränderungen des Nervensaftes verifiziert. 57 Dieser Positionswechsel erlaubt nicht, Nicolai entweder als Stahlianer oder als Hoffmannianer in die groben Kategorien der Medizingeschichtsschreibung einzuordnen, sondern sie fordert auf, ein differenziertes Bild von der Halleschen Medizin zu entwerfen, für die Mischkonzeptionen wie bei Krüger oder das Schwanken zwischen verschiedenen psychophyischen Modellen wie bei Unzer58 charakteristisch sind. Auch Nicolai hat sich weder klar für eine der Möglichkeiten entschieden, noch die naheliegende alternative Annahme eines >Influxus physicuspsychologische Curen< Eine ganz ähnliche Stellung wie der frühe Nicolai bezieht Bolten zum Nutzen der >Weltweisheit< in der Medizin. Er ist Schüler Georg Friedrich Meiers und des Stahl-Anhängers Johann Junckers (1679—1759) sowie Studienkollege und 55

So auch in seiner Schrift Gedancken von der Verwirrung des Verstandes, dem Rasen und Phantastren (Kopenhagen 1758). 56 Diese Bezeichnung war durchaus gängig, geht man von J. C. Boltens Einteilung der Therapievoraussetzungen von >Gemütskrankheiten< aus (s.u. nächster Abschnitt). Vgl. Bolten (1751), Gedanken von psychologischen Curen. Halle, § i, S. 15, und § 34, S. 61. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden in ( ) im Text zitiert. 57 Die Veränderungen zwischen den Konzeptionen von 1751 und 1758 untersucht ein Aufsatz von Verf., Physiologischer Mechanismus und ästhetische Therapie. Ernst Anton Nicolais Schriften zur Psychopathologie. In: C. Zelle (Hg.), Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen (= Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung) [erscheint voraussichtlich 1999]. 'H Vgl. hierzu die Studie von Bilger (1990).

Freund des Krüger-Schülers Johann August Unzer (1729-1799).59 Der Titel seiner Schrift Gedancken von psychologischen Curen(ij^i') zeigt bereits die Ausrichtung seines Krankheits- und Therapiekonzeptes an. Wie Stefan Bilger in seiner UnzerStudie bündig zusammengefaßt hat, bestimmen folgende drei Themenkreise Boltens Schrift: zum einen die Frage des psychophysischen Zusammenhanges in der Therapie (§ 2, S. 19), zum anderen die metaphysische Begründung der genauesten Harmonie zwischen Seele und Körper (§ 8, S. 24) und zum dritten die Forderung nach philosophisch gebildeten Ärzten (§ 11, S. 28).6° Wichtig ist Boltens expliziter Anschluß an G. F. Meiers Affektenlehre und Ästhetik. 6 ' Von den Philosophen, denen die »Gesezze der Natur bekandt« (ebd.) seien, von der Ästhetik sowie von einer »gesunden christlichen Moral« (§ i, S. 14) erhofft er sich Anleitung für die mit der Heilung von Gemütskrankheiten beauftragten »Arzneiverständigen« (ebd.). Da Bolten die Einbildungskraft und ihre pathologischen Folgen wie die Melancholie (§ 22, S. 47) oder das Delirium (§ 36, S. 64) eindeutig zur Seele rechnet, setzt deren Behandlung psychologische Kenntnisse voraus.63 Doch können solche Seelenkrankheiten sowohl seelische als auch körperliche Ursachen haben (§ 8, S. 24), so daß die Therapie auch entsprechend ausgerichtet sein müsse: Wie die körperliche Seite mit Arzneimitteln zu kurieren sei, so bedarf die Behandlung der seelischen Ursachen einer Zusammenarbeit verschiedener wissenschaftlicher Methoden: Die Ästhetik §.32. Logick §.33. philosophische Pathologie und Moral §.34. sind demnach die Wissenschaften, welche zusammengenommen eine vollständige Wissenschaft aller Regeln ausmachen, welche man zu beobachten hat, alle Kräfte der Seele durchgängig zu verbessern. Alle Kranckheiten der Seele haben ihren Siz [!] in den Erkenntnis- und Begehrungskräften der Seele [...] folglich sind diese Wissenschaften hinreichend, alle Kranckheiten der Seele daraus curiren zu lernen. (§ 35, S. 63) 59

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In Krüger selbst sieht Bolten seinen »theuersten Gönner[s] und Freund[es] (§ 54, S. 95)· Vgl. Bilger (1990), S. 99f. Vgl. § 30, S. 59, und § 34, S. 62 bzgl. Meiers Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (Halle 1744) sowie dessen Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (Halle 1748-1750). Vgl. auch § 2, S. 19: »Solange die Natur der Seele ungehindert würcken kan, so lange ist dieselbe auch gesund. [...] und also ist die genaueste Übereinstimmung ihrer Verrichtungen mit diesen Gesezzen der Natur der Seele eine norhwendige Eigenschaft der gesunden Seele. Diese Gesezze werden uns in der Weltweisheit vorgetragen. [...] Aus diesen endlich gewis und sicher befundenen Gesezzen, sind hernach die ästhetischen, logischen, die pathologischen und die moralischen hergeleitet worden. Diese nun dienen und zur Richtschnur, nach welcher wir die einzelnen Seelen beurtheilen können, ob sie sich gesund befinden.« Vgl. dazu die Studien von W. Leibbrand und A. Wettley (1961), Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie. Freiburg, München (= Orbis academicus. II/I2); und M. Schrenk (1973), Über den Umgang mit Geisteskranken. Die Entwicklung der psychiatrischen Therapie vom »moralischen Regime« in England und Frankreich zu den »psychischen Curen« in Deutschland. Berlin, Heidelberg, New York.

Ein solches Therapiekonzept setzt jedoch voraus, daß alle individuellen Krankengeschichten und psychologischen Besonderheiten allgemein erfaßbar und auf eine und dieselbe Natur der Seele, aus der die Therapie abgeleitet werden soll, zurückführbar sind. Es befördert auch den Optimismus, daß seelische Vorgänge jederzeit bewußt und willentlich gesteuert werden könnten - eine Auffassung, die Bolten aus dem psychologisch-ästhetischen Erziehungskonzept von Meiers Ästhetik für die psychologische Kur< übernehmen konnte.6"4 Wenn aber Bolten dennoch behauptet, daß »jede besondere Leidenschaft [...] eine besondere Art Kranckheit würcken [kann] und deshalb «besondere Regeln, sie zu erzeugen und zu dämpfen» (§ 52,8. 89) erfordere, verfolgt er eine «Aufwertung des Einzelfalls» . 6j Nach Bolten könne es keine starren «Formeln» geben, um den Zustand des «Gemüthes» eines jeden einzelnen Menschen kennenzulernen (§ 32). Im Kontext der Halleschen Medizin um 1750, die für die Erklärung des psychophysischen Zusammenhangs kein einheitliches Konzept vertreten hat, legt Bolten den Akzent auf eine durch Ästhetik und Logik bereicherte »philosophische Pathologie« (§ i, S. 15). Damit wird die Verbindung von Körper und Seele aus der Perspektive der willkürlichen Kraft der Seele thematisiert. Bei ihr müsse jede Therapie, der Bolten gleichzeitig eine moralische Funktion zuschreibt, ansetzen: Die schändlichsten Kranckheiten sind Würckungen der schwärzesten Laster, und ihnen vorzubeugen, ist in denen mehresten Fällen nichts anders, als den Willen bessern. [...] was heißt einen Menschen bekehren, einen Lasterhaften tugendhaft machen, anders, als seinen Willen durch eine psychologische Cur bessern. (§ 53, S. 9of.)

Unter der Voraussetzung von Meiers psychologischer Ästhetik, die allein in der willkürlichen Kraft des Menschen die Verbesserungsmöglichkeit der sinnlichen Kräfte sieht, geraten jedoch die körperlichen Dispositionen und unwillkürlichen Beweggründe von Krankheiten aus dem Blick. So sieht Raimund Bezold mit Recht das anthropologische Konzept Boltens, das »unter den Auspizien der Schulphilosphie« stehe, auch als Grundlage einer zunehmenden »Entsomatisierung der Seelenlehre«, wie sie im Umkreis von Moses Mendelssohn und in spätaufklärerischen Positionen von Marcus Herz oder Moritz' Magazin zur Erfahrungsseelenkunde wiederzufinden sei.66 1.4. Sulzers Theorie der Empfindungen: Philosophische Annäherung an die Physiologie Eine andere psychophysiologische Theorie von Sinnlichkeit und Einbildungskraft stellte Johann Georg Sulzer (1720—1779) in seiner ersten AkademieAbhandlung Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen 64 65 66

S.u. Teil II, Kap. III.3. Vgl. R. Bezold (1984), S. 130. Bezold (1984), S. I29f.

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Empfindungen61 von 1751/52 vor. In der jüngsten Forschung fand diese Schrift unterschiedliche Aufnahme und Bewertung. Bewegt sich diese nach der Beurteilung von Wolfgang Riedel »auf den von Baumgarten vorgezeichneten Pfaden« 68 und atmet »freilich noch ganz den Geist der scholastischen Psychologie«,09 sieht hingegen Wolfgang Proß darin eine »Absage an die herrschende Vorstellungspsychologie«70 und verortet die Schrift in der medizingeschichtlichen Tradition der Schule Georg Ernst Stahls. Nach der Einschätzung von Proß gelangt Sulzer durch den Anschluß an die zeitgenössische physiologische Anthropologie — vor allem an die Stahl-Nachfolger Daniel Georg Coschwitz (1679-1729) und den bereits behandelten Johann Gottlob Krüger - zu einer Erneuerung der Ästhetik, die sich von der Wölfischen Schule absetzt.71 Diese kontroverse Beurteilung hat ihren Grund in der komplexen Anlage von Sulzers Text, in dem er verschiedene Traditionen der Moralphilosophie,72 Ästhetik, Psychologie und Physiologie zu einer Einheit zu verschmelzen sucht, ohne jedoch alle Widersprüche auflösen zu können. Im Kontext dieses Kapitels interessiert die physiologische Begründung der Empfindung und ihr Zusammenhang mit der Einbildungskraft. Ohne daß Sulzer hier ein kohärentes Konzept der Einbildungskraft entworfen hätte, läßt sich doch aus den zahlreichen Passagen, in denen er dieses Vermögen behandelt, ein solches rekonstruieren. Als Hintergrund für die Erörterung der Funktion der Einbildungskraft sei zunächst der Argumentationsgang in seiner ersten Akademie-Abhandlung skizziert. Sulzer geht aus von der anthropologischen Prämisse, daß die Glückseligkeit das hauptsächliche »Interesse der menschlichen Natur« (SV 74) ist: Der Mensch kommt mit »einer allgemeinen Fähigkeit zu unzähligen Neigungen 67

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Erschienen m: Johann Georg Sulzers vermischte Philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig 1773. ND Hildesheim, New York 1974, S. 1—98. Diese Ausgabe wird im folgenden als SV mit Seitenzahl in ( ) zitiert. W. Riedel (i994a), Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: H.-J. Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Stuttgart, Weimar 1994, S. 410 — 439, hier S. 415. Ebd. W. Proß (1994), S. 133, Anm. 3. Hier bezieht sich Proß auf die Studie von A. Tumarkin (1933), Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer. Frauenfeld, Leipzig, S. 79. An dieser Stelle spricht Tumarkin außerdem von einer »Verselbständigung des Willens gegenüber der Erkenntnis, mit der er in der vorkantischen Philosophie fast durchgehends zusammenfiel.« (ebd.) Mehr noch könnte man behaupten, daß Sulzer dem Willen letztlich den Primat vor der Erkenntnis zuspricht. Ebd., S. 143-148. Anna Tumarkin hat auf den Einfluß Shaftesburys und der moral sense-Tradition vor allem in Sulzers Versuch einiger moralischer Betrachtungen über die Werke der Natur (1745) - sowie auf seine kritische Auseinandersetzung mit Humes Skeptizismus aufmerksam gemacht; vgl. Tumarkin (1933), S. 96—104.

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und Leidenschaften auf die Welt« (SV 17, 93). Erst die Umstände geben dieser »unbestimmten Kraft der Seele« (ebd.) eine Richtung. »[D]as Angenehme und Unangenehme [ist] mit allen unsern Vorstellungen so innig verbunden« (SV 4), daß sie von der »Natur der Seele« (SV 5) abhängen müssen. Der Mensch empfindet Vergnügen, wenn die »natürliche Thätigkeit der Seele« (ebd.) oder »die ursprüngliche Vorstellungskraft zu einer lebhaften Wirksamkeit gereizt« (SV 18) wird, und Mißvergnügen, wenn die »Wirksamkeit der Seele [...] ein merkliches Hinderniß« (ebd.) findet. Das dabei empfundene »intellektuelle Vergnügen« entspringt jedoch »aus einerley Quelle« (SV 77, 81, 91) mit den davon unterschiedenen »sinnlichen Vergnügungen« (SV 62, 74f.) und den spontanen »moralischen Neigungen« zu Sympathie, dem Interesse am eigenen Wohl und dem Wohl des anderen (SV 85, 9i). 73 Diese Vergnügungen sind trotz deren verschiedener Vorzüge und Nachteile74 »gleichsam Zwillingsneigungen« (SV 91) und ihrem Ursprung nach »alle gleich edel« (9, 77).75 Diese »wesentlichen Triebfedern« (SV 93) der Seele bringen den »Geschmack am Schönen und Guten« hervor, der in der Natur, welcher man nur »gehorsam« (ebd.) zu werden brauche, verankert sei. Die Pointe der Schrift liegt in der These, daß Sinnlichkeit, Moralität und Intellekt gleichermaßen zum Eudämonismus beitragen können, weil sie alle demselben Tätigkeitstrieb der Seele folgen. Die Sinnlichkeit wird dabei als psychophysischer Mechanismus aufgefaßt, den Sulzer im dritten Abschnitt: »Von den Vergnügungen der Sinne« behandelt. Dieser ist im folgenden genauer darzulegen.76 Ungeachtet welches Leib-Seele-Modell man vertritt,77 muß man Sulzer zufolge den Sinnesapparat oder die sinnlichen Werkzeuge als die »wirkenden Ursachen der sinnlichen Empfindungen ansehen, weil alles vollkommen so erfolgt, als ob sie es wirklich wären.« (SV 54). Die Annahme der nervenphysiologischen Ursache einer Sinneswahrnehmung fände dadurch Bestätigung, »daß die Seele ohne eine analogische Bewegung in den Nerven« (ebd.) nichts empfinden würde. Der psychophysische Zusammenhang garantiert also, daß 73

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Mit den »intellektuellen Vergnügungen« beschäftigt sich der zweite Abschnitt (SV 23 — 50), mit den »sinnlichen« der dritte (SV 50—77), mit den »moralischen« der vierte und letzte Abschnitt (SV 77—98). Siehe dazu die Vergleiche am Ende des dritten (SV 74 — 77) und am Ende des vierten Abschnitts, nach denen das »moralische Vergnügen« gegenüber den beiden anderen vorzuziehen sei: »Die Gegenstände des intellektuellen Vergnügens sind Spekulationen, die an sich nur wenig rühren. Die Gegenstände des moralischen hingegen sind gemeiniglich solche, die in die Sinne fallen, und mit der Glückseligkeit in unmittelbarer Verbindung stehen.« (SV 97f.) In diesem Punkt bezieht sich Sulzer auch auf Maupertuis' Versuch einer philosophischen Moral (SV 73). Zum ästhetisch-moralischen Aspekt von Sulzers Abhandlung s.u. Kap. II.2. Sulzer erwähnt hier (SV 53) sowohl Aristoteles (Influxionismus) als auch Descartes (Dualismus) und Leibniz (prästabilierte Harmonie).

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die Lebhaftigkeit oder die Stärke der Empfindung in der Seele allzeit der Stärke der Bewegung in den Nerven proportionirt ist (ebd.). Diese Proportion setzt zweyerley voraus; die Quantität der Materie, die den Sinn rührt, und ihre Geschwindigkeit. (SV 56) Der Einfluß Krügers bei diesen Formulierungen liegt auf der Hand.78 Sulzer bezieht im folgenden auch gleich Stellung zur Metapher einer angeschlagenen Saite für die Nervenbewegung, die Krüger neben der Nervensaft-Theorie zur Erklärung von lebhaften Empfindungen angeführt hat.79 Sulzer modifiziert diese Auffassung, indem er die reaktive Bewegung der elastischen Nerven als Wirkung schnell wiederholter Sinnesreize ansieht: Man kann nicht sagen, daß die Nerven eine zitternde Bewegung empfangen, die sie eine merkliche Zeit behalten; denn die Nerven sind weder gespannte Seiten [sie!], noch steife Körper. Wären sie das, so würde die Empfindung auch auf einen einzigen augenblicklichen Eindruck fortdauren, welches aber der Erfahrung zuwider ist. So bald man das Auge schließt, oder das Ohr verstopft, hören die Empfindungen auf; dahingegen sie anhalten würden, wenn die Nerven eine merkliche zitternde Bewegung hätten. (SV 57) Für eine kontinuierliche, anhaltende Empfindung reicht also nicht ein einziger auch noch so starker Sinnesreiz aus, sondern es bedarf vielmehr einer »ununterbrochene[n] Folge von Stößen oder Schlägen [...], die so geschwinde hinter einander geschehen, daß wir die Zwischenzeit nicht gewahr werden können.« (SV 56) Somit formuliert Sulzer keine prinzipielle Kritik an dem Saitenmodell der Empfindung. 80 Vielmehr vertritt er die Ansicht, daß die Nerven für die Fortdauer einer Empfindung wiederholt gereizt werden müßten, statt den Reiz je nach Stärke selbst weiterführen zu können. Sulzers Redeweise von »Stößen« oder »Schlägen« weist gleichzeitig daraufhin, daß er das Modell der Lebensgeister oder des Nervensaftes zur Erklärung der Empfindung ablehnt und damit nicht Krügers unentschiedener Position folgt. Sulzer differenziert hier zwischen einfachen und zusammengesetzten (SV 58) sowie zwischen schwachen und starken Empfindungen. Die Stärke des Sinneseindruckes werde »durch eine unendliche Anzahl von Schlägen« (SV 59) erzeugt, die »einen großen Theil des Körpers« bzw. »das ganze Nervensystem« (ebd.) in Mitleidenschaft ziehen können. So seien die sinnlichen Empfindungen auch stärker und lebhafter als die Ideen des Intellekts, weil jene »immer eine

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Vgl. Krüger, K II, §315. S.o., Teil II, Kap. I.i.i. Auch wesentlich später noch, in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1771 - 1774), benutzt Sulzer den Begriff der Saite, wenn auch metaphorisch, so doch in ganz ähnlicher Bedeutung wie in seiner Abhandlung von 1751/52: »Eine allgemeine, wol geordnete Empfindsamkeit ist also der allgemeinste Zwek der schönen Künste. Darum suchen sie jede Sayte der Seele, sowol die, die Lust, als die, welche Unlust erweken, zu rühren«; zitiert nach der 2. Aufl. (Leipzig 1792), Bd. 2, S. 55. 137

große Anzahl von Nerven zugleich« (SV 70) rührten und sich aufgrund der »Verbindung der Nerven« (SV 71) im ganzen Nervensystem ausbreiteten. Den Zustand der »allerangenehmsten Empfindung« bezeichnet er als »holde Wehmut« (SV 72), das Ergebnis von zu heftigen Bewegungen der Nerven hingegen als »Ohnmacht«, »gänzliche Unempfmdlichkeit« (ebd.) und »Zustand dunkler Vorstellungen« (SV 73). So unterscheidet sich der Schmerz von der Lust nur durch ein Zuviel an Reiz. Die Intensität der Empfindung steht auch in Korrelation zu der materiellen Beschaffenheit des Gegenstandes, der den Sinnesreiz auslöst: je feiner die Materie (z.B Licht), desto feiner der durch sie affizierte Sinn (Gesichtsinn). Die Lebhaftigkeit der Empfindung steht also in umgekehrter Proportion zur Feinheit der Nerven (SV 55). Diese Hierarchie der fünf Sinne von fein bis grob8' ist deshalb interessant, weil Sulzer sich in diesem Zusammenhang zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Einbildungskraft äußert. Kann das Gedächtnis die »intellektuellen Ideen« (SV 62) beliebig oft erneuern und »mit ihrer ursprünglichen Klarheit darstellen« (SV 63), daß wir sie »in unserm völligen Besitze haben« (SV 76), so vermag die Einbildungskraft nicht, reale Empfindungen mit ihrer ursprünglichen Lebhaftigkeit zu reproduzieren — es bleibt nur »der Schatten eines genoßenen Vergnügens« (SV 76) zurück. Außerdem wird deren Reproduzierbarkeit umso schwieriger, je gröber die Sinne, je dunkler und lebhafter die Vorstellungen sind. Der Vergleich zwischen sinnlichen und »intellektuellen Vergnügungen« am Ende des Abschnittes erhält die klassische Hierarchie zwischen Körper und Seele, zwischen Empfindung und Verstand aufrecht, um sie ganz zum Schluß der Abhandlung zugunsten der »moralischen Vergnügungen« (SV 97) und zugunsten der Einheit der Natur des Menschen (SV 9193) wieder aufzuheben. Der gedankliche Schritt, der in diesem Vergleich nötig wäre, um die Physiologie der Sinne mit der intellektuellen Lust zu verbinden, wird von Sulzer jedoch nicht konsequent durchgeführt. Es bleibt den Interpreten überlassen, die mögliche Verbindung zu vollziehen. So hat Wolfgang Proß aufgrund der Annahme eines einheitlichen Naturbegriffes und einer »Konsonanz von Nervenprozess und Arten des Vergnügens«82 jegliche Lust auf den psychophysischen Mechanismus zurückgeführt. Wolfgang Riedel hingegen hat genau umgekehrt das sinnliche und moralische Vergnügen als im vornherein »intellektualisiert[e]« Lust gedeutet und aus diesem Grund Sulzers Abhandlung als noch ganz in der Wölfischen Psychologie befangen bewertet.83 Beide Lesarten 81

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Die Gesichtsnerven seien die feinsten, gefolgt von den Gehörnerven, über die Geruchs- und Geschmacksnerven bis zum Sinn des Gefühls als dem gröbsten (SV 55). Proß (1994), S. 143. Riedel (19944), S. 415. Eine Überwindung des Wolffianismus sieht Riedel erst in der Unterscheidung von Empfindung und Vorstellung, wie sie Sulzer 1763 in seinem kleinen Text Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Aus-

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radikalisieren einzelne, in Sulzers Text vorhandene Ansätze, der sowohl in der Wölfischen Tradition steht, als auch medizinische Aspekte, die im Wolffianismus kategorisch ausgeschlossen werden, aufgreift und mit der übernommenen Psychologie zu verbinden sucht. Dieser Syntheseversuch ist jedoch m. E. in der ersten Akademie-Abhandlung nicht gelungen und wirft deshalb die enormen interpretatorischen Schwierigkeiten auf. Wichtig für den Kontext dieses Kapitels ist, daß Sulzer seine Theorie der Empfindungen zwar durch den Anschluß an die zeitgenössische Physiologie untermauert, diese aber für Aufgaben der Glückseligkeit instrumentalisiert. Er erkennt, daß eine Theorie der Empfindungen aufgrund der psychophysischen Einheit, wie sie die Stahl-Schule vertreten hat, nicht ohne physiologische Kenntnisse auskommt. So schlägt er den umgekehrten Weg ein wie etwa Nicolai und Bolten, die aus der zeitgenössischen Psychologie der Wolff-Schule theoretische Anleihen für die medizinische Behandlung von Seelenkrankheiten machten. Eine solche doppelseitige Annäherung an den psychophysischen Zusammenhang von Empfindung, Affekt und Einbildungskraft durch Ärzte und Philosophen war die Grundlage für die Herausbildung der Anthropologie als einer wissenschaftlichen Disziplin, die solch verschiedene Aspekte zu integrieren verstand. 1.5. Muratoris moderater Malebranchismus: Das Konzept der >materiellen Phantasie< Besonderheiten des Psychischen, Träume, Visionen, Schwärmerei und Wahnsinn zu untersuchen, hatte sich auch der zur Vätergeneration Sulzers gehörende Italiener Lodovico Antonio Muratori84 (1672 — 1750) zur Aufgabe gemacht. Seine aufsehenerregende Spätschrift Delia Forza della Fantasia Umana, die solche Phänomene als Wirkungen der Einbildungskraft behandelt, erschien 1745 in Venedig. Muratori war im deutschsprachigen Raum nicht nur durch seine Mit-

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übung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet vollzogen habe. In: Sulzers Vermischte Schriften (1773), S. 225243. Vgl. dazu auch schon C. Knüfer (1911), S. 34-39; Baeumler (1975), S. 130134. Muratori war katholischer Geistlicher, der den katholischen Glauben aber in vielen seiner Schriften angriff. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er als Bibliothekar in Modena. Seine zahlreichen Schriften über Theologie, Recht, Geschichte und Politik, Philosophie und Kunst waren über die Grenzen Italiens hinaus bekannt; nach der Beurteilung Battafaranos war er in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der meistgelesene italienische Autor Europas; vgl. Battafarano (1992), Die deutsche Aufklärung und Ludovico Antonio Muratori. Die Auseinandersetzung mit dem Gelehrten, Literaturkritiker und Moraltheologen in den deutschsprachigen Ländern. In: ders. (Hg.), Deutsche Aufklärung und Italien. Bern u.a., S. 34.

arbeit in den Acta Eruditorum bekannt,85 sondern auch durch seine poetologische Abhandlung Delia perfetta poesia italiana (1706), die schon früh von Bodmer und Breitinger, den Lehrern Sulzers, rezipiert wurde.86 Muratoris Schrift über die Einbildungskraft wirkte nachhaltig in Deutschland und durch die ausführlich kommentierte Übersetzung87 des Göttinger Theologen Georg Hermann Richerz (1756-i79i)88 von 1785 wurde sie auch einem breiteren Publikum näher gebracht. Mit dieser Übersetzung ist ein Rezeptionszeugnis überliefert, das den Diskussionsstand über die anthropologisch konzipierte Einbildungskraft des letzten Jahrhundertdrittels zwischen den Schriften von Christian Garve, Christoph Martin Wieland, Johann Karl Wezel, Leonhard Meister (1778; i795)8y und Johann Gebhard Ehrenreich Maaß (ijg2)9° sowie den Bei85

Vgl. van Gemert (1992), Deutsche Frühaufklärung und Italien. Italienische Gelehrsamkeit in den »Acta Eruditorum« von 1682—1732. In: Battafarano (Hg.), S. 9—13. 86 Der Einfluß von dieser Abhandlung auf die Entwicklung der Poetologie der Schweizer ist gut erforscht; vgl. A. Baeumler (1923; ND 1975), S. 142; J. G. Robertson (1923; ND 1962), S. 263-282; U. Möller (1983), S. 66-82 und 137-139; auch M. Battafarano (1992), S. 33-65, bes. S. 39-48. 87 Ludwig Anton Muratori (1785), Über die Einbildungskraft des Menschen. Mit vielen Zusätzen herausgegeben von Georg Hermann Richerz. 2 Bde. [nach der 4. Aufl. Venedig 1766] Leipzig. Diese Übersetzung wird im folgenden als MR mit Band- und Seitenzahl in ( ) im Text zitiert. Richerz' kommentierte Übersetzung blieb allerdings Fragment. Von den 20 Kapiteln des knapp 250 Seiten umfassenden Originals übersetzte er die ersten zwölf, die durch die Zusätze immerhin auf den etwa vier- bis fünffachen Umfang angewachsen sind. Diese Zusätze können hier nur am Rande einbezogen werden. Richerz' kommentierte Übertragung jedoch, die schon nach den Worten Schlichtegrolls »zu bescheiden den Titel einer blossen Übersetzung führt« (DBA 1030, 258), wäre einer eigenen Untersuchung wert, die auch den Kontext der spätaufklärerischen Literatur über die Einbildungskraft einzubeziehen hätte. Ein Baustein hierfür liefert der Aufsatz von Verf., Muratoris Abhandlung Delia fona della fantasia umana (1745) und ihre kommentierte Übertragung durch G. H. Richerz (1785). Zur Umdeutung von Theologie und Philosophie in Anthropologie. In: Cusatelli/Lieber/Thoma/Tortarolo (Hg.), Gelehrte und Gelehrsamkeit und gelehrte Gesellschaften in Deutschland und Italien im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen [erscheint voraussichtlich 1998]. 88 Richerz war von 1779—1785 Universitätsprediger in Göttingen, in seinen letzten Lebensjahren, die von Krankheit geprägt waren, bekleidete er das Amt des Superintendenten zu Giffhorn. Laut Schlichtegrolls Nekrolog (1791) erbte Richerz »die ganze Reizbarkeit der Nerven und alle hypochondrischen Übel« von seinem Vater, der schon früh an diesem »malum hypochondriacum« gestorben war (vgl. DBA 1030, 244 — 290, hier 249). Interessant an dieser zeitgenössischen Krankheitsdiagnose ist die Annahme der Vererbbarkeit der Hypochondrie, die im späten 18. Jahrhundert als typische und weitverbreitete psychophysische Krankheit mit einem unspezifischen >Symptomschleier< galt. Vgl. J. Heinz (1996), Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin, New York, bes. Kap. 4. 89 Leonhard Meister, Über die Einbildungskraft. Bern 1778. Die 2. Aufl. mit dem Titel Über die Einbildungskraft in ihrem Einfluß auf Geist und Herz (Zürich 1795) ist eine 140

trägen in Moritz' Magazins zur Erfahrungsseelenkunde (1783 —1793) 9 ' dokumentiert. Vierzig Jahre nach dem Erscheinen des italienischen Originals ist die Einbildungskraft ein etabliertes Thema in allen Beiträgen zur empirischen Psychologie, die ihren engen Zusammenhang mit der Physiologie anerkennt. Jegliche psychischen Phänomene von Schwärmerei, Melancholie und Hypochondrie, von Geisterglauben und Wahnsinn, Traum und Schlafwandeln bis zur Lesesucht und Onanie werden nun in wissenschaftlicher wie schöner Literatur auf das Konto des psychophysiologischen Mechanismus der Einbildungskraft geschrieben.92 Am Ende des 18. Jahrhunderts ist damit die Einbildungskraft zum anthropologischen Erklärungsschema par excellence avanciert, wofür Muratoris Kompendium und Richerz' Übersetzung einen entscheidenden Anstoß gegeben haben. In der Kritik an Aristoteles und am Aristotelismus, aber auch an dem Vertreter einer materialistischen Atomistik, Pierre Gassendi (1592-1655), konzipiert Muratori die Einbildungskraft als eine materielle Kraft, die ihren Sitz im Gehirn hat und kein »erkennendes Vermögen« (MR I, 42) besitzt.93 Die Seele mit ihren beiden Vermögen, dem Verstand und dem Willen (MR I, 178), und der Körper oder die organisierte Materie sind klar unterschieden. Vor allem in der Zuschreibung der Einbildungskraft zum Körper, wie es von Malebranche bekannt ist, unterscheidet sich Muratori von den hier behandelten Autoren Krüger, Nicolai und Sulzer. Um das Verhältnis von Verstand und Einbildungskraft zu bestimmen, benutzt er die politische Metapher der konstitutionellen Monarchie, die er gegenläufig zur Tradition verwendet,94 wenn er mit ihr den

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völlig überarbeite Fassung der ersten Ausgabe sowie der Schrift Über die Schwärmerey (Bern 1777). Johann Gebhard Ehrenreich Maaß, Versuch über die Einbildungskraft. Halle, Leipzig 1792 (21797; ND Brüssel 1969). Die Behandlung der Einbildungskraft im Magazin harrt noch einer gesonderten Untersuchung. Beispiele und Analysen liefern die meisten Beiträge in dem Sammelband von H.-J. Schings (Hg.) 1994, Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur; vgl. auch J.-M. Goulemot (1993), Gefährliche Bücher. Erotische Literatur, Pornographie, Leser und Zensur im 18. Jahrhundert. Reinbek; und Heinz (1996). Hier wird die Übersetzung als Textgrundlage verwendet. Zum Vergleich von Original und Übersetzung vgl. den genannten Aufsatz von Verf. [1998]. Zur Entstehung und den verschiedenen Fassungen von Muratoris Abhandlung vgl. den Beitrag von G. Gaspari (1996), Per un Muratori mal noto: Origini e vicende della »Forza della fatasia umana«. In: Corte, buon governo, pubblica felicitä. Politica e coscienza civile ne Muratori. Atti della III giornata di Studie muratoriani. Firenze, S. 221-261. Zur Tradition der politischen Metaphorik, die den Körper und den Organismus als Bildspender auf politische Verhältnisse anwendet, vgl. D. Peil (1983), Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. München (= Münstersche Mittelalter-Schriften. Bd. 50), bes. S. 363-412. 141

psychophysiologischen Zusammenhang erläutert: Der Verstand als der Monarch verläßt niemals sein »geheimes Cabinet« (MR I, 34) und ist auf die Sinne und die Einbildungskraft als »Unterbediente« (ebd.) angewiesen. Sie überbringen ihm, was im »Unterhause« vorgeht, sie machen ihn also mit den »ausser uns befindlichen Gegenständen, ihrer Figur, Bewegung und Würkungen bekannt« (ebd.). Doch der Monarch behält nicht immer die Oberhand. Denn die Einbildungskraft wird durch den »heftigen Kreislauf unseres Bluts oder andere Säfte oder von der Lebhaftigkeit solcher Ideen, wodurch irgendeine Leidenschaft (Haß, Liebe Furcht) erregt wird« (MR I, 226), bestimmt. »Diese interessanten Ideen verlangen gleichsam Audienz, wenn wir sie ihnen auch ungern geben möchten« (ebd.). Denselben Kampf zwischen Verstand und der physisch determinierten Einbildungskraft beobachtet Muratori auch in den Kapiteln über Träume.95 Die Feststellung, daß sich in ihnen sowohl vernünftige, geordnete als auch regellose, unzusammenhängende Elemente mischten, führt ihn dazu, die Einbildungskraft für »Ungereimtes, Lächerliches, Phantastisches« (MR I, 214) verantwortlich zu machen, während er die regelmäßigen und vernünftigen Ideenverbindungen in den Träumen dem Verstand zuschreibt.90 Diese »entgegengesetzten Kräfte«, die doch beide »im Haupte des Menschen vereinigt sind« (MR I, 225), seien der Grund für das unlösbare Dilemma: Der Schöpfer wollte, daß der Verstand die Herrschaft führe, und diesem die Einbildungskraft unterthan sey. [. . .] Dem ungeachtet hat jede der genannten Kräfte eine ihr eigentümliche Kraft, wodurch sie der ändern den Vorrang streitig zu machen sucht. Denn augenscheinlich verursacht die Thätigkeit der materiellen Kraft oft große Unordnungen in der geistigen [. . .]. Ja oft, wenn unser Verstand sich irgendeine Idee zur Beschauung ausgesucht hat, sucht die unbestechliche Einbildungskraft ihn mit Gewalt abzuziehen, und ihn mit ganz ändern Dingen zu beschäftigen. (MR I,

Die Ökonomie von Seele und Körper wird gestört, wenn die intellektuelle Kraft von der materiellen Kraft übertrumpft und die Ordnung der Ideen durcheinander gebracht wird. Das unentschiedene Kräfteverhältnis von Einbildungskraft und Verstand gehöre aber zur alltäglichen Erfahrung, auch wenn es nach Muratoris Auslegung der Religion oder dem Plan Gottes widerspricht. Indem er die Einbildungskraft dem Körper zuordnet, kann er die Seele von der materiell begründeten >Unordnung< freihalten, so daß sie als Korrektiv der physisch bestimmten Vorstellungen einsetzbar ist.97

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Kap. 5: »Von den Träumen« (M I, 213-218); Kap. 6: »Von ruhigen oder regelmäßigen und unregelmäßigen Träumen« (M I, 219 — 230). S. u. Kap. 11.4. In dieser Konzeption gibt es Parallelen zu Malebranche, worauf weiter unten noch eingegangen wird, s.u. S. i46f.

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Gestützt auf einen psychophysischen Dualismus, den Muratori gleichwohl als Commercium90 konzipiert, benutzt er das Lebensgeistermodell, alternativ auch die Humoralpathologie (MR I, 223, 226, 308), um die Entstehung von materiellen Ideen zu erklären: Da alle Nerven im Gehirn endeten, sei man zu der Annahme berechtigt, daß die Nerven »das eigenthümliche Vehikel [sind], vermittelst dessen jeder auf die Sinne gemachter Eindruck zum Gehirn kömmt, und daselbst eine ihm entsprechende Idee zurückläßt« (MR I, 39). Das Gehirn wird auf diese Weise zu einem »Magazin der materiellen Phantasie« (MR I, 47). Zum Beweis für diese Lokalisierung der Einbildungskraft dient das Phänomen von Gedächtnisverlust bei einer Gehirnverletzung (MR I, 42). Über die Art der Eindrücke und Ideen im Gehirn äußert sich Muratori nur in einer kurzen Passage, vermutlich weil er ihre Erklärung durch die Lebensgeistertheorie als bekannt voraussetzt. Hier übt er Kritik an der tradierten Redeweise über sinnliche Eindrücke, die als »Bild« oder »Idee« bezeichnet werden, während sie angemessener durch die Begriffe »Spuren, Merkmale, Zeichen der Figuren oder Bewegungen der Körper« (MR I, 46) ersetzt werden sollten; dies betreffe zumindest die Eindrücke der vier Sinne außer dem Gesichtssinn. Trotzdem bleibt auch er für alle fünf Sinne meist bei der gewohnten Redeweise." Richerz hingegen, der die Eindrücke mitunter als »Spuren« bezeichnet,100 stellt die beiden konkurrierenden Modelle der Nervenbewegung — das der Lebensgeister oder der Schwingungen der Saiten101 — ausführlich dar (MR I, 78-96). Obwohl dieser der Saitentheorie der Empfindung in der Version Sulzers zustimmt, gibt er sich gleichermaßen als Anhänger der Theorie der Lebensgeister oder des Nervensaftes zu erkennen: der Nervensaft transportiere die »Materialien« zur Bearbeitung ins Gehirn, der »Werkstätte der Phantasie« (MR I, 95). Aus der individuellen Beschaffenheit des Gehirns, der Lebensgeister und der sinnlichen Werkzeuge sowie aus dem Lebensalter leitet Richerz dann

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Vgl. das XVII. Kap.: »Del commerzio dell'Anima col Corpo, et della Concupiscenza dell' Uomo« des Italien. Originals (Venedig 1745). Dieser Vorschlag zur Differenzierung in der Redeweise wird von Haller in seinen Anfangsgründen der Phtsiologie (in Bd. V (1772), § 3, S. iO46f., und § 5, S. 1054) aufgegriffen, allerdings ohne daß er sich explizit auf Muratori bezieht. Richerz moniert ebenfalls, daß die Bezeichnung der inneren Eindrücke als Bilder zu sehr vom Auge ausgeht und konstatiert: »Die inneren Gehirneindrücke bestehen indeß worinnen sie wollen, (denn zuverläßiges läßt sich nichts hierüber ausmachen), so sind sie doch nur immer Spuren und unvollkommenen Zeichen der Dinge.« (M I, 92) Hier nennt er Newton, Hartley und Priestley und zitiert auch Sulzers Kritik an den Saitentheorie der Nerven, nach der sie angeblich — einmal angeschlagen - die Schwingung ohne neue Reize oder Schläge fortsetzen sollten; so nimmt Richerz mit Sulzer an, daß dazu »eine grossefn] Anzahl an Schlägen und Stößen« nötig sei. (M I, 90).

die »Verschiedenheit der Phantasie« (MR I, 97) ab — eine Folgerung, die bei Muratori in nuce angelegt ist, ohne daß er sie genauer ausgeführt hätte. Die physiologische Ätiologie der Einbildungskraft wendet Muratori nicht nur auf harmlose Wirkungen wie Traum (MR I, 223) und Schlafwandeln (MR I, 308) an, 102 sondern auch auf pathologische Phänomene wie Wahnsinn und Narrheit (MR II, 2f.). Wahnsinn bestehe »in einer gewaltsamen Verwirrung der im Gehirn aufbewahrten Bilder«, Narrheit in einer »Verwirrung einiger besonderer Ideen« (MR II, 2), wobei letztere bei »den meisten unheilbar« (MR II, i i ) sei. Hier distanziert er sich aber von der Auffassung, >Narren< als psychisch Kranke zu bezeichnen, wo doch vielmehr »ihr Gehirn krank und an gewissen Theilen verhärtet [.,.] sey« (MR II, 245).103 Die Ursachen einer gewaltsamen, irregulären Veränderung des Gehirns sieht er entweder in der »blossen Fieberhitze« (MR II, 2, 6f.) oder in der Einbildungskraft, die auf Affekte und Lebensgeister wirke. Daß eine zu starke oder auch zu schwache Einbildungskraft von der körperlichen Disposition determiniert sei, daß sie vornehmlich »Melancholiker und Hypochondristen« (ebd.) oder »Furchtsame« (MR II, 191, 193, 239), aber auch Personen (meist weibliche) mit einem »hysterischen« oder »epileptischen Wesen« (MR II, 196) zum Opfer habe, braucht Muratori nicht mehr eigens zu begründen. In diesem Punkt kann er auf eine lange Tradition zurückgreifen, 104 an die er anschließt, auch wenn er die Einbildungskraft nicht humoralpathologisch,105 vor allem aber nicht als immaterielle Kraft aufgefaßt wissen will. Sein Hauptziel ist nämlich, so verschiedene extreme Phänomene wie Wahnsinn, religiöse Extasen, Besessenheit oder Exorzismus »ganz natürlich und ohne Dazwischenkunft einer übernatürlichen Ursache« (MR II, 102) zu erklären. »Ganz natürlich« erklären heißt, sie aus physiologischen Unregelmäßigkeiten oder aus einer schwachen Konstitution des Nervengebäudes herzuleiten, womit er sich von der Tradition der Renaissance-Medizin absetzt.

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Wie bereits erwähnt kann Muratori bei den Phänomenen von Traum und Schlafwandeln die Einwirkung der Seele aber auch nicht ausschließen (M I, 221 — 224 un(^ 3°9)· Fünfzehn Jahre später sezierte G. B. Morgagni (1682 — 1771) unter anderem die Gehirne von Geisteskranken, was er in seinem fünfbändigen Werk De sedibus et causis morborum per anatomen indignatis (1761) ausführlich beschrieb. Dessen Ergebnisse, daß die >Raserei< in den meisten Fällen nicht nur zur Verhärtung und Austrocknung des Gehirns, sondern auch zu dessen Deformationen führe, bestätigt dann Haller im fünften Band seiner Elementa physiolgiae; vgl. die deutsche Übersetzung von J. S. Haller: Anfangs gründe der Phtstologie des menschlichen Körpers. 8 Bde. Berlin 1759- 1776, Bd. V, S. 1107-1110. Vgl. Schings (1978); E. Fischer-Homberger (1979), Aus der Medizingschichte der Einbildungen (1978). In: dies., Krankheit Frau und andere Arbeiten zur Medizingeschichte der Frau. Bern, Stuttgart, Wien, S. 106-130, S. 150-153, bes. 106-114. Allerdings ist Muratori hierin nicht ganz präzise im Sprachgebrauch. An manchen Stellen spricht er alternativ von >Säften< und >Lebensgeistern< (z.B. M I, 223 u. 226; M II, 11, 197).

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In diesem Zusammenhang weist er auch die in einem magischen Weltbild verbreitete Annahme ab, daß die »Einbildungskraft fremde Körper verändern, oder krank machen könne« (MR II, 197), die »Avicenna, Pomponatius, Paracelsus, Groll und andre Visionärs« (ebd.) vertreten hätten. Auch in den Lexikonartikeln zur Einbildungskraft von Walch und Zedler, die vor Muraroris italienischer Abhandlung erschienen sind, wird die Tradition der Antike bis zur Frühen Neuzeit als geschichtliche Folie präsent gehalten, aber abgelehnt.100 Muratori zitiert sie gleichfalls herbei, um sie als unbegründet zu verwerfen. Dabei beruft er sich auf die Ärzte Thomas Fienus107 (1567-1631) und Daniel Sennert (1572 — 1637), beide Kritiker von Paracelsus' und van Helmonts antigalenistischer Auffassung einer unmittelbaren, aber immateriellen Verursachung von Krankheit durch die Einbildungskraft. 108 Dem positiven Hinweis auf Fienus lohnt es sich nachzugehen. Fienus, Arzt und Mediziner in Antwerpen und Löwen, ist 1608 selbst mit einem im 18. Jahrhundert vielzitierten Traktat De viribus imaginationis hervorgetreten, in dem er auch die Frage, durch welche Kräfte die Imagination den Körper umformt, zu beantworten sucht.109 Im Unterschied zu Muratori behauptet Fienus zwar, daß die Imagination ein kognitives Vermögen sei und deshalb nicht direkt, sondern nur durch das appetitive Vermögen, i.e. durch die Affekte auf den Körper wirken könne 110 - eine Auffassung, die auf die scholastische Tradition seines Denkens, vor allem auf Thomas von Aquin, verweist. 111 Aber die weiteren Ausführungen und Schlußfolgerungn machen einen Einfluß von Fienus auf Muratori wahrscheinlich, wenn auch mit einer wichtigen Abänderung: Fienus verbindet mit dieser scholastischen Tradition die galenistische Ansicht, daß die Imagination den Körper durch die Bewegung der Säfte und Lebensgeister112 verändern, aber Krankheiten nicht »per se«, sondern 106

Walch (1775), Philosophisches Lexikon, Bd. I, Sp. 945; Zedler, Universal-Lexikon, Bd. VIII (1734), Sp. 535; s.o. Teil I, Kap. 1.3. 107 Fienus wird auch von Walch (ebd., Sp. 948) und Zedler (ebd., Sp. 537) für die Auffassung angeführt, daß es Menschen gebe, die Verstand und Willen durch eine starke Imagination an die Dominanz der Affekte gewöhnten. '°H Vgl. dazu W. Pagel (1984), The Smiling Spleen. Parcelsianism in Storm and Stress. Basel u.a., bes. S. 76 — 81; und P. Ildefons, Der Begriff »Imagination« bei Paracelsus. In: Nova acta paracelsia (1952), S. 52 — 67. 109 »Question IX: Through what powers does the imagination transform the body?« Vgl. die Übersetzung in dem Aufsatz von L. J. Rather (1967), Texts and Documents. Thomas Fienus' (1567-1631) Dialectical Investigation of the Imagination as Cause and Cure of Bodily Disease. In: Bulletin of the History of Medicine 41 (1967), S. 349367. Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf diese Übersetzung. 110 »Conclusion XXXI. The imagination acts on the body through the appetitive power or by means of the emotions [...].« (ebd., S. 356) '"Ebd., S. 354. 112 »Conclusion XXXII. Hence the imagination changes and transforms bodies through the movement of humors and spirits [...].« (ebd., S. 357) 145

nur »per accidens« 113 hervorbringen wie auch heilen könne. Muratori gesteht der Einbildungskraft diese Fähigkeit ebenfalls ausdrücklich zu (MR II, 197), läßt aber die Unterscheidung zwischen akzidentieller und Wesensursache fallen. Den scholastischen Zwischenschritt hat er eingespart, indem er die Einbildungskraft selbst als materielles Vermögen, das folglich auch auf den Körper kausal wirken kann, konzipiert. Diese entscheidende Abänderung hat einen triftigen Grund. Ist die Einbildungskraft kein mentales oder kognitives Vermögen, kann die Ratio von ihren Unbotmäßigkeiten freigehalten werden, auch wenn sie einen starken Einfluß auf Verstand und Willen auszuüben imstande ist. Erkennt man nämlich die enorme und oft destruktive Macht der Imagination an, muß der Mensch hoffnungslos verloren scheinen, wenn ihm nicht die Möglichkeit eines freien Willens und der rationalen Kontrolle zugesprochen wird. Eine solche Aussicht gibt Muratori im XVIII. Kapitel seiner Schrift mit dem Titel »Über die Notwendigkeit, unsere Einbildungskraft wohl zu ordnen und zu verbessern, und die Hilfestellungen, die die rationale Philosophie dafür bereithalten kann«." M Die Sach- und Ausgangslage Muratoris ist mit der von Malebranche in gewissem Sinn vergleichbar: Muratori schreibt als Abbate, als katholischer Geistlicher, und Malebranche als oratorianischer Priester im Dienste der rationalistischen Philosophie. Muratori muß trotz seiner reformkatholischen Positionen115 aber als der weniger Radikale von beiden gelten. Während Malebranches Recherche (1674 — 1678) mit dem zweiten Buch über die Imagination 110 seine erste philosophische Veröffentlichung darstellte, konnte Muratori mit der Spätschrift Delia forza delta fantasia umana auf ein großes Oeuvre zurückblicken und seines Ruhmes in Europa gewiß sein. Beide bieten eine physiologische Ätiologie der Einbildungskraft an, die mit den religiös-moralischen Ansichten vermittelt wird. Der Cartesianer Malebranche bestimmt die Einbildungskraft als ausschließlich physiologisch determiniertes Vermögen und macht sie mit der Sinnlichkeit für Irrtum, Aberglauben und Vorurteile verantwortlich, die den richtigen Glauben und die Erkenntnis der Wahrheit behinderten. Trotz der Disqualifizierung der >ansteckenden< Einbildungskraft hält er ihre physischen wie mo113

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»Conclusion XXXVI. The imagination per se cannot bring on any disease«; und »Conclusion XXXVII. The imagination can per accidens be the cause of many diseases, in various ways [...].« (ebd., S. 36of.) Dieses Kapitel wurde von Richerz nicht mehr übersetzt. Im Original heißt es: »Delia necessitä di ben regolare e correggere la nostra Fantasia, e di gli ajuti, ehe a ciö puö prestare la Filosofia Razionale« (zitiert nach der 4. Aufl. Venezia 1766, S. 179-186; übs. durch Verf.). In den letzten Kapiteln seines Werkes (Kap. XVIII bis XX) behandelt Muratori konsequenterweise auch die Funktion der Moralphilosophie und der christlichen Religion für eine solch vernünftige Kontrolle der Einbildungskraft. Vgl. zu Muratori als Reformkatholiken und Freidenker den genannten Aufsatz von M. Battafarano (1992), hier S. 33 und 49ff. S. o. .Teil I, Kap. IV.

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rauschen Ursachen und Wirkungen aber einer genauen Untersuchung für wert; sie war zu seiner Zeit einzigartig und wurde im 18. Jahrhundert nachhaltig rezipiert. Auch Muratori bestimmt die Einbildungskraft rein materiell und kann dadurch deren Wirkungen in Religion und Magie als ebenso »natürlich« (MR II, 102) wie die Wirkungen im Traum erklären."7 Ihre Macht jedoch hält er im Unterschied zu Malebranche letztlich durch die Mittel der Moralphilosophie und christlichen Religion für kontrollierbar, was er in den letzten drei Kapiteln seiner Abhandlung erörtert und mit Ratschlägen stützt. Beide anthropologische Analysen ergeben, daß das Machtverhältnis von physisch bestimmter Einbildungskraft und Verstand zumeist unausgewogen ist: Denn der Körper kann auf die Seele starken Einfluß ausüben, er kann sich Willen und Verstand unterwerfen. Während nach Malebranches Diagnose eine solche Vermittlung bei dem Großteil der Menschen, selbst bei vielen Gelehrten, zum Scheitern verurteilt ist, endet Muratoris Abhandlung mit einer optimistischen Beurteilung der Aufklärbarkeit des Menschen durch moralistische Techniken. 1.6. Hallers Theorie der Wechselwirkung: Psychische Eindrücke und >Spuren< im Gehirn Albrecht von Haller (1708-1777), einer der berühmtesten Anatomen, Physiologen118 und Botaniker seiner Zeit, Anhänger der Lebensgeistertheorie und damit Gegner der Stahl-Schule,"9 entwickelt im fünften Band der Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers (1759—I770) I 2 ° sein Konzept der Empfindung und der Einbildungskraft. In zahlreichen Anmerkungen belegt

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Zur Traumauffassung um 1750 s.u. Kap. 11.4. "8 Haller gilt als Begründer der Physiologie als wissenschaftlicher Disziplin. Vgl. dazu N. Mani (1988), Physiologische Konzepte von Galen bis Haller. In: Gesnerus 45, S. 165-191, hier S. 177-183. 119 Über seine medizinische Karriere informiert ausführlich das Biographische Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker (hg. von A. Hirsch. Bd. 3. München, Berlin 31962, S. 33-35). Zum wissenschaftlichen Werk vgl. die Monographie R. Toellners (1971), Albrecht von Haller. Über die Einheit im Denken des letzten Universalgelehrten. Wiesbaden (= Sudhoffs Archiv. Beihefte. H. 10). — Hallers Kritik an Stahls Animismus ist unter anderem in dessen Geschichte der Anatomie und Physiologie (17767 77) dokumentiert; vgl. die von C. Zanetti und U. Wimmer-Aeschlimann besorgte Edition (Bern, Stuttgart 1968), S. nof. 120 Band V (1772) der Anfangsgründe ist mit »Die äusserlichen und innerlichen Sinnen« betitelt. Das lateinische Original war unter dem Titel Elementa physiologiae carports humani in 8 Bdn. erschienen (Bern, Lausanne 1757-1766). Die wichtigsten Passagen zur Empfindung und Einbildungskraft finden sich im letzten Teil des fünften Bandes; Zitate werden im folgenden nach der deutschen Ausgabe unter der Sigle H mit Bandzahl in römischer und Seitenzahl in arabischer Ziffer in ( ) belegt.

Haller sein enzyklopädisches Wissen,121 das den Hintergrund bildet für seine Theorie der Sinnesverarbeitung auf physiologischen Grundlagen: Sinnesreize lassen in den Nerven »Spuren« 122 zurück und bieten damit die materielle Bedingung für die Leistungen von Gedächtnis und Einbildungskraft. Haller unterscheidet zwischen Empfindungen, die in der Seele stattfinden und deshalb bewußt werden, und körperlichen Bewegungen, die nicht zu Bewußtsein kommen. 123 Unter dieser Voraussetzung der Trennung von Körper und Seele untersucht er, was bei Empfindungen und Affekten physiologisch vor sich geht. Die Verarbeitung von äußeren Gegenständen durch den Sinnesapparat geschieht in seinen Augen folgendermaßen: Alle die uns bekannten fünf Sinnen, stimmen darin mit einander überein [...], daß ihr äusserster Nerve, in dem Werkzeuge eines jeden Sinnes, von einem fühlbaren Körper berührt wird [...]. Es muß aber diese Berührung des empfindenden Nervens ihre Wirkung dergestalt, dem Gehirn mittheilen [...], daß die Seele von diesen äussern Objecte gerührt werde. [...] wir haben aber erwiesen, daß bei den Nerven keine Schwingungen vorgehen; und folglich geschehen diese Eindrükke der Sinnen, vermittelst des flüßigen Elements [...], und diese Eindrükke gelangen bis zu dem Ort, wo sie sich der Seele darstellen. Und diese Stelle ist das Marke des grossen und kleinen Gehirns. (H V, 1044^

Haller macht also die Bewegung der Lebensgeister für die Übermittlung von Sinneseindrücken in das Gehirn verantwortlich, wobei die These von den Nerven als in Schwingungen versetzbare Saiten abgewiesen wird. Die Seele und das zentrale Nervensystem werden im Gehirn lokalisiert. Obgleich Haller über die Natur der Lebensgeister selbst nichts aussagen kann, 124 hält er sowohl die Flüssigkeit in den Nerven (Nervensaft) als auch deren Flexibilität, Weichheit und vor allem deren Sensibilität für empirisch nachweisbar.125 Bei einem Sin121

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Die meist genannten Autoren sind hier Boerhaave, van Swieten, Bonnet, Condillac, Helvetius, Buffon sowie Hartley und Hooke. Auch Muratori wird mehrmals erwähnt. An deutschen Autoren bezieht er sich in der Passage zum Verhältnis von Empfindung und Einbildung auf Ch. Wolff und E. A. Nicolai (H V, 1064). Damit besteht auch eine Verbindung Hallers zu Halleschen Medizin und Philosophie. So bezeichnet Haller die physiologische Wirkung der Empfindung, etwa in H V, 1061. Vgl. H V, 1052 und § 10: »Die Seele«, S. 1075^ In diesem Kontext schreibt er: »Folglich kann zulezzt das Flüßige der Geister in die Fasern des Gehirnmarkes eindringen, solche krümmen, oder zusammendrükken, denn hier von wissen wir nichts gewisses [...].« (H V, S. 1046) Vgl. die bahnbrechende Arbeit Hallers De partibus corporis bumani sensibilibus et irritabilibus von 1752, worin er den Ertrag seiner nach langjährigen Experimente aufzeigt, daß die Muskelfaser sich auf einen Reiz hin kontrahiert (Irritabilität) und die Nervenfaser auf einen Reiz hin empfindet (Sensibilität): »Denjenigen Teil des menschlichen Körpers, welcher durch ein Berühren von außen kürzer wird, nenne ich reizbar [...]. Empfindlich nenne ich einen solchen Teil des Körpers, dessen Berührung sich die Seele vorstellt«. Vgl. A .v. Haller (1922), Von den empfindlichen und reizbaren Teilen. Deutsch hg. u. eingel. v. K. Sudhoff. Leipzig, S. 14. — Zu diesen zwei Grund-

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nesreiz geschieht im Gehirn nur eine Bewegung, nicht aber ein bestimmter gegenständlicher Eindruck: Man mus aber genau dabei unterscheiden, und zeigen, daß sich weder die Bilder von den Dingen im Gehirn, noch in der Seele vorstellig machen lassen können. Im Sehen fallen [...] Lichtstrahlen, auf die Fasern der Nezzhaut, und sezzen selbige in Bewegung. In unserem Gehirn entsteht nichts als eine Bewegung. [...] Folglich findet zwischen den äusserlichen Körpern, und zwischen dem, was im Gehirn durch ihren Eindrukk vorgeht, zwar ein gewisses Verhältnis, aber kein Bild, nach Maas oder Modell statt. [...] Indessen werden wir dann darum doch nicht hintergangen werden, ob wir gleich nur die Merkmaale, und nicht die Sachen selbst empfinden. (H V, 1046—1051)

Nachdem äußere Gegenstände durch die Verarbeitung im Sinnesapparat lediglich materielle Merkmale oder >Spuren< hinterließen und keine realen Bilder — Haller präzisiert den Sprachgebrauch im Sinne Muratoris126 — , ist zu klären, wie die Seele auf diese Spuren Bezug nimmt und sie als Vorstellungsbilder erkennt. Die Antwort von Haller ist so einfach, wie zunächst erstaunlich: Die Seele habe gelernt, bestimmte Empfindungen mit bestimmten Spuren zu verbinden, denn es bestehe keine natürliche Verbindung zwischen Vorstellungsinhalt und materiellem Sinnesreiz: Hier fangen wir an, die Seele vom Körper zu unterscheiden; denn was im Gehirn geschieht, ist die Bewegung einer markigen Faser; und was in der Seele vorgeht, ist eine, von dieser Bewegung höchst verschiedene Idee. Diese Idee schwebt der Seele vor Augen. Sie stellt sich selbige vor, und sie ist sich bewußt, daß sie sich dieselbe vorstellt; übrigens ist ihr alle Bewegung, so im Gehirn, oder Nerven vorgefallen, völlig unbekannt. (H V, 1052)

Trotz dieser Parallelität der Bewegungen gebe es aber Gründe, eine Wechselwirkung zwischen Seele und Körper anzunehmen. Haller begreift die Merkmalsbildung als willkürlichen 127 Akt der Seele, bei dem sie jedoch auf Empfindungen angewiesen ist. Die Ideen, die wir uns von Dingen machen, beruhen demnach auf sinnlichen Erfahrungen oder physiologischen Prozessen. Diese ge-

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kräften vgl. R. Toellner (1977), Mechanismus — Vitalismus: ein Paradigmawechsel? Testfall Haller. In: A. Diemer (1977), S. 61-72, bes. S. 67-69; und Duchesnau{ 1982), S. 141-234; und Dougherthy (19963), Nervenmorphologie und -physiologic in den 8oer Jahren des 18. Jahrhunderts — Göttinger Beiträge zur Forschung und Theorie der Neurologic in der vorgalvanischen Ära. In: Ders., Gesammelte Aufsätze zu Themen der klassischen Periode der Naturgeschichte. Göttingen, S. 100—124 u. 388-396. Vgl. Muratori/Richerz (1785), MR I, 46. Vgl. auch H V, 1051: »[...] daß alles willkürlich sei, was uns Gott von der Welt zu erkennen verstattet, und nicht nothwendig. Es könnte sich die rothe Farbe im Auge auf einen ändern Eindrukk machen, und in die Seele eine andere Idee hervorbringen.« Oder: »Nun stellet sich unsre Seele die Empfindung vor [...]: nicht das was vorgeht, denn es muß dasselbe oft wiederholt werden, sondern etwas, dem Vorgegangenen ähnliches [...], welches durch ein beständiges, doch willkürliches Gesezze damit verbunden ist [...].« (H V, 1052) 149

langen als solche nicht zu Bewußtsein, da die Seele nicht weiß, was sich im Körper abspielt. Außerdem läßt sich nach der Beobachtung Hallers empirisch nicht deutlich machen, wie die sinnlichen Eindrücke im Gehirn hängen bleiben, nur ist bei jeglicher Art von Gedächtnisleistung davon auszugehen, daß sie hängen bleiben müssen.128 Daher könne nicht der Sinneseindruck, sondern erst das Gedächtnis, das im Gehirn seinen »Wohnsizz« (H V, io6i) 129 habe, einen Beweis für den psychophysischen Mechanismus liefern: [...] So mus folglich in dem körperlichen Gehirne der Sizz der Spuren angetroffen werden, welche die Empfindungen hinter sich gelassen haben, besonders aber müssen darinnen die Merkmaale und Zeichen anzutreffen sein, welche unsre Seele mit den Empfindungen zu verbinden gelernt hat. Und dieses ist der erste Grund von der wechselwirkenden Wirkung des Körpers in die Seele bei Empfindungen, und der Herrschaft der Seele über den Körper, indem sie die Merkmaale, welche niemals ohne die Seele entstehen würden, in das Gehirn eindrükkt. (ebd.)'3°

Unter diesen physiologischen Voraussetzungen von Spuren, Zeichen oder Merkmalen, die bei der Verarbeitung von Sinnesreizen in die >markigen< Nervenfasern des Gehirns gewissermaßen eingeschrieben werden, definiert Haller die eng mit dem Gedächtnis zusammenhängende Einbildungskraft: 131 Diese Spuren mögen nun von sich selbst, oder auf Verlangen der Seele in unserem Gedächtnisse wieder erwachen, so nennet man es Gedächtnis, wenn man sich auf diese Zeichen wieder besinnet, und Einbildung, wenn die Empfindungen selbst wieder rege werden. (H V, 1062)

Von dem Gedächtnis als Vermögen zur Wiedererinnerung ist die reproduktive Einbildungskraft nur dadurch unterschieden, daß sie auch die Empfindungen erneuern kann. Diese Fähigkeit schreibt Haller vor allem dem »Poeten« (H V, 1063) zu. Sie beinhaltet aber auch, daß die naturgemäß schwächer reproduzierte Empfindung »so stark, als eine neue Empfindung (e), und eben so sinnlich (f) 128

An mehreren Stellen spricht Haller nur in Negationen von solchen materiellen >Spuren< oder Bewegungen in den Nerven, so etwa: »Ich glaube erstlich, daß man nicht entdekken werde, was die Sachen für Spuren von sich hinterlassen. Diese Spuren sind keine Bilder [...]. Es sind ferner keine Bewegungen, ob sie gleich aus der Bewegung entstehen [...]. Folglich hinterlassen die Empfindungen Spuren nach sich, es mögen dieselben nun, aufweiche Art man wolle, im Gehirn hängen bleiben.« (H V, io6if, vgl. auch H V, 1046 u. 1064) 129 Mit dieser Behauptung stützt sich Haller auf Autoren wie Bonnet, Murarori und Helvetius. Nach Haller entwickelt sich das Gedächtnis erst allmählich in den ersten acht Lebensjahren, da das ursprünglich »sehr bewegliche Nervensysteme« erst fester werden müßte, so daß die Empfindungen auch »Spuren der Dinge« zurücklassen können (H V, 1057). Hallers konzipiert das Gedächtnis in Abhängigkeit von der körperlichen Beschaffenheit - eine Aufassung, die er mit Huarte (1575; dt. 1752) teilt. 130 Hervorhebungen im Zitat von G. D. '·" Diesen engen Zusammenhang macht auch Hallers Kapitelüberschrift »§ 7. Das Gedächtnis. Die Einbildungskraft« deutlich. 150

werden« kann (H V, io04);132 als Beispiele nennt er »Gesichte«, Fieberphantasien, »trügliche Ideen der Schwermüthigen« und Traumbilder nennt (ebd.). Voraussetzung dafür seien »Aufmerksamkeit« (H V, 1054) sowie wiederholte Sinneseindrücke, »wo durch die Empfindung lebhafter, und dauerhafter wird« (H V, 1065).'" Interessant ist, daß Haller im Anschluß daran die »Raserei« (H V, io95ff.) nicht oder nur indirekt durch die pathogene Wirkung der Einbildungskraft erklärt. Vielmehr sei an der >Raserei< »gemeiniglich eine schnelle Bewegung des Bluts nach dem Gehirn Schuld« (ebd.), die durch ganz verschiedene Ursachen bewirkt sein kann: die gewöhnlichste sei der Genuß von »starkem Weingeiste«; aber auch Arzneimittel, giftige Pflanzen und Opium, sehr kalte oder sehr heiße Witterung, Fieber und Schmerzen, Geisteskrankheiten oder verschiedene Affekte134 könnten zu einer solchen »lebhafte[n] Action im Gehirn« (H V, 1096) führen. Diese sei bei einem »dichterischen Genie« ebenso zu finden wie bei einer »gefährlichen Art von Tollheit« (ebd.), die den Menschen zu grausamen Handlungen veranlassen könne. Die physiologische Erklärung rückt damit >Genie< und >Wahnsinn< in unmittelbare Nähe. Beide seien durch die starke Bewegung des Blutes und die daraus folgende »zu grosse Munterkeit der Ideen« (ebd.) bewirkt. Als Therapie schlägt Haller vor, entweder die »übermäßigen Lebenskräfte [zu] mindern (H V, 1101), durch das damals beliebte Aderlassen etwa, oder die betroffenen Personen durch angedrohte Foltermaßnahmen abzuschrecken, wie es nicht nur Hermann Boerhaave (1668-1738), einer der Lehrer Hallers, >erfolgreich< durchgeführt hatte.' 35 Harmlose Arten von >Wahnwizz< hinge132

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Die Anmerkungen (e) und (f) verweisen auf Wolffs Psychologia empirica (1732), auf Nicolais oben behandelte Schrift Geäancken von den Würckungen der Einbildungskraft in den menschlichen Körper (1744) und auf David Hartley. Haller zitiert für diese Auffassung E. A. Nicolai, Hartley und Allemand (V, § 7, S. 1064). Mit Nicolai ist auf die Schule Wolffs verwiesen, zu der ebenfalls G. F. Meier mit seinen Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften (Halle 1748—1750) zu zählen ist, worin auch er die Intensivierung der Vorstellungen durch Wiederholung behandelt (vgl. die 2. Aufl., Tl. II, § 392, S. 303-306). S.u. Kap. III.3. Affekte definiert Haller zunächst traditionell als die Bewegungen der Seele, die durch die Ideen des Guten, was wir zu erlangen wünschen, und durch die Ideen des Bösen, was wir abzuwenden suchen, erregt werden. Wichtig für ihn als Arzt ist aber, daß Affekte »gewisse merkwürdige und gewaltsame Bewegungen im Körper« verursachen können, »ohne daß wir es wollen, oder, ohne daß wir unsrer dabei bewust sind« (H V, H2of.). Diese Wirkung geschehe durch die Nerven, die »in den Affekten« (H V, 1132) am häufigsten Gewalt auf das Herz und den Kreislauf des Blutes ausübten, in dem sie es entweder schwächten (Gram, Furcht) oder vermehrten (Zorn, Freude, Liebe). Haller nennt das Erschrecken die »gewöhnlichste Kur« (ebd.). — Erinnert sei hier an das berühmte, im 18. Jahrhundert vielzitierte Beispiel Boerhaaves: In einem Haarlemer Waisenhaus fiel ein Mädchen durch plötzliches Erschrecken in heftige >Konvulsionen< und steckte andere Kinder wie in einer Massenpsychose an. Boerhaaves gleich-

gen, eine fixe oder falsche Idee etwa, ließen sich zwar durch «keine Vernunftschlüsse bessern» (H V, 1102), aber durch eine andere starke oder «augenscheinliche Empfindung», «die die irrige Idee verdrengen kann» (ebd.)/36 Hallers Therapiekonzept setzt damit sowohl auf physiologischer als auch auf psychologischer Ebene an, was bei der angenommenen Wechselwirkung zwischen Körper und Seele nur konsequent ist. So faßt Haller in seinen Anfangsgründen den Diskussionsstand seiner Zeit nicht nur zusammen, sondern leistet auch einen wichtigen Beitrag zur Anthropologie, indem er zeigt, wie stark die physische Disposition die psychische Seite des Menschen mitbestimmt. Verschiedene äußere und innere Einflüsse, auch die nervenphysiologisch wirksamen Affekte, determinierten die Einbildungskraft, der durch die Vernunft und den Willen nicht immer beizukommen sei (H V 1102, 1120, 1132). Mit dieser psychophysiologischen Theorie läßt Haller das Konzept einer >philosophischen Pathologie< im Sinne Nicolais als zu einseitig hinter sich. Vielmehr umreißt er die Möglichkeiten der Einbildungskraft zwischen »dichterische[m] Genie« einerseits, und Geisteskrankheit mit körperlichen Folgen137 oder »Tollheit«, die auch zu brutalen Handlungen treiben kann, andererseits. Die Lebhaftigkeit der Ideen im Gehirn ist demnach in ein komplexes Kausalgefüge eingebunden, das eine klare Scheidung in rein psychologische oder physiologische Wirkungen nicht zuläßt. So führt auch Hallers Diagnose der physischen Determinierbarkeit der Einbildungskraft, die er gleichwohl als ein seelisches Vermögen auffaßt, zu ihrer Physiologisierung wie auch Pathologisierung. Die Therapie kann sich deshalb nicht mehr allein auf Philosophie und Ästhetik berufen, sondern hat die wissenschaftlichen Ergebnisse der Medizin einzubeziehen.

wohl erfolgreiche Therapiemethode bestand darin, den Kindern, die kurz vor einem erneuten Anfall standen, mit einem glühenden Eisen zu drohen. Vgl. dazu A. Luyendijk-Elshout (1990), Of Masks and Mills: The Enlightened Doctor and His Frightened Patient. In: G. S. Rousseau (Ed.), The Languages of Psyche. Mind and Body in Enlightenment Thought. Berkeley, Los Angeles, Oxford, S. 186-230; und B. P. M. Schulte (1970), The Concepts of Boerhaave in Psychic Function and Psychpathology. In: G. A. Lindeboom (Ed.), Boerhaave and his Time. Leiden, S. 93—101. ''n Auch Krüger, der hier aber von Haller nicht zitiert wird, hat diese Art von Heilung durch eine den > Vernunftschlüssen < widersprechende Empfindung favorisiert; vgl. Krügers Naturlehre, K II, § 429, S. 727, s.o. Kap. I.i.i. '" Mit Morgagni nimmt Haller an, daß Geisteskrankheiten an der physischen Beschaffenheit des Gehirns (trocken; verhärtet etc.) anatomisch nachgewiesen werden könnten (H V, 1107 -111 o).

Zusammenfassung Die hier ausgewählten, in der Forschung zur literarischen Anthropologie im 18. Jahrhundert bislang wenig beachteten Autoren wurden auf ihren Beitrag befragt, den sie zur Anthropologie um 1750 geleistet und mit dem sie deren Etablierung als einer wissenschaftlichen Disziplin im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vorbereitet haben. Die dargelegten Standpunkte geben Aufschluß über den psychophysischen Status der Einbildungskraft, wobei um die Jahrhundertmitte eine Anbindung von Ärzten an philosophische Konzepte wie auch von Philosophen an die Medizin zu beobachten ist. Die meisten Autoren rechnen dieses Vermögen der Seele zu; eine Ausnahme bildet Muratoris Auffassung^einer »materiellen Phantasie«. Gilt die Einbildungskraft als psychisches Vermögen, stellt sich die Frage, wie sie zum Körper, zu den physiologischen Abläufen steht. Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage ist die Analyse der Empfindungen. Zwei Modelle der Verarbeitung von Sinnesreizen standen im 18. Jahrhundert in Konkurrenz zueinander: das mechanistische und das animistische. Die mechanistische Lehre, die den Dualismus von Seele und Körper voraussetzt, stützt sich auf die Hypothese der Lebensgeister oder des Nervensaftes, um eine sinnliche Empfindung nervenphysiologisch zu erklären. Nach dieser Annahme sind die Nerven hohl, weich und elastisch und werden von Spiritus animales durchströmt. Bei einem Sinnesreiz setzen sie mittels dieser subtilsten Materie die Empfindung bis zum zentralen Nervensystem fort. Die Intensität der Empfindung hängt von der Geschwindigkeit und dem Volumen der Spiritus animales ab. Diese übermitteln die Sinnesdaten zum Gehirn, dem sie als Vorstellungen oder Bilder, präziser als Spuren und Zeichen (Muratori, Haller) >eingedrückt< werden. Das animistische Modell hingegen beschreibt die physiologische Verarbeitung eines Sinnesreizes mithilfe der Saitentheorie der Nerven (Stahl-Schule). Durch einen Sinnesreiz werden die Nerven wie gespannte Saiten angestoßen oder angeschlagen und dadurch in kleine oszillierende Bewegungen versetzt. Dauer und Intensität der Empfindung stehen in Relation zu dem Spannungszustand der Nerven. Ob für die Dauer eines Sinnesreizes die Nerven permanent neu gereizt werden müssen oder ob die Nerven die Schwingungen selbst fortsetzen können, wird kontrovers diskutiert. Von den hier untersuchten Autoren sind Krüger und Sulzer Anhänger dieser Theorie. In England und Frankreich vertraten Isaac Newton, David Hartley, Joseph Priestley und Charles Bonnet ähnliche nervenphysiologische Positionen, die entweder ein dualistisches (Newton, Hartley) oder monistisches Körper-Seele-Modell (Priestley, Bonnet) voraussetzten. Die Einbildungskraft wird allgemein als Vermögen bestimmt, das vergangene Vorstellungen erneuert, indem ehemalige Eindrücke und die damit verknüpften Ideen selbst wieder lebendig werden. Sie nimmt also Bezug auf die nervenphysiologisch >eingeprägtem Sinnesdaten. Wird die Einbildungskraft tä153

tig, gibt es in Folge der beiden konkurrierenden Empfindungsmodelle auch zwei verschiedene Erklärungen für den physiologischen Prozeß bei den reproduzierten Empfindungen, wobei aber gleichzeitig zwischen der Einbildungskraft als aktivem Prinzip und als physisch determinierbarer Funktion zu unterscheiden ist. Durch die Einbildungskraft werden die Nerven in eine ähnliche oder gleichartige Bewegung wie bei einem gegenwärtigen Sinnesreiz versetzt. Diese Bewegung geschieht entweder durch den Fortgang der Spiritus animales oder durch das Anschlagen der Nerven qua Saiten. Dabei kann die Einbildungskraft als aktive, willentliche Kraft auf den Körper wirken (Nicolai, Bolten, Haller, Krüger, Sulzer) oder als körperliche Disposition - wie Alter, Krankheit, Gehirnverletzung oder Temperament — ohne Zutun des Willens wirksam werden und die Seele determinieren (Krüger, Muratori, Haller). In beiden Sichtweisen der Einbildungskraft, als determinierende und als determinierbare Funktion, wird der psychophysische Dualismus zugrundegelegt. Die Wirkung einer lebhaften, affektiven Einbildungskraft erregte am meisten das Interesse der untersuchten Ärzte und Philosophen, denn hier kommen Phänomene wie Schwärmerei, Hellsehen, Wahnsinn und Raserei in den Blick. Zur Erklärung solcher Phänomene wird vorausgesetzt, daß reproduzierte Vorstellungen und Einbildungen gewöhnlich schwächer sind als gegenwärtige Empfindungen. Doch könnten die reproduzierten Empfindungen durch Wiederholung, durch Fixierung oder durch starke Affekte eine ebenso große Intensität erlangen. Den physiologischen Theorien gemäß lassen sich starke Vorstellungen der Einbildungskraft und gegenwärtige Empfindungen nicht unterscheiden: Die Erregung durch Einbildungen, durch Wunsch- oder Wahnvorstellungen kann dieselbe sein wie durch reale Sinnesreize, weshalb die Wirkung der Einbildungskraft überhaupt erst zum Problem wird. An dieser Stelle öffnet sich die Perspektive auf Poetik, Ästhetik und schöne Literatur, in denen bereits seit den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts das Problem der Schwärmerei reflektiert und dargestellt wurde. In Psychologie und Medizin jedoch versuchte man, das Problem wissenschaftlich zu erfassen und therapeutisch zu behandeln. Zu diesem Zweck orientierte man sich an den verfügbaren psychophysischen Theorieangeboten. Bei den untersuchten Autoren gibt es zwei Erklärungsmodelle: Während Krüger, Muratori und Haller überwiegend die individuelle physische Disposition für >merkwürdige< und pathogene Wirkungen der Einbildungskraft verantwortlich machen, behandeln der frühe Nicolai und Bolten diese hauptsächlich als seelische Krankheiten, wobei sie die Psychologie und Ästhetik Wolffs und Meiers zum Ansatzpunkt für die medizinische Therapie nehmen. Bolten ist Anhänger des psychophysischen Harmonismus und vertritt damit ein Modell, das erlaubt, nur die psychologische Seite in Betracht zu ziehen, da die physische Seite ohnehin als mit ihr übereinstimmend deklariert wird. Nicolai hingegen wechselt von einem animistischen zu einem mechanistischen Konzept, ohne aber eine dezidierte Wechselwirkungstheorie anzuvisieren. 154

Krüger und Sulzer wiederum befürworten das Modell einer Proportion und/ oder Wechselwirkung von Körper und Seele. Dabei verwendet Krüger das animistische Modell alternativ zu dem mechanistischen, um einer Reduktion des Körpers auf den Geist wie auch einer Reduktion des Geistes auf die Materie, die er den Materialisten vorwirft, zu entgehen. Seine Konsequenz ist die Annahme einer psychophysischen Wechselwirkung. Als Mittel gegen die Verwechslung von Realität und Wahn empfiehlt Krüger die Erzeugung von widerstreitenden sinnlichen Empfindungen, was auch Haller vertritt. Hallers mechanistische Auffassung, an der er trotz seiner Entdeckung der Sensibilität und Irritabilität der organischen Strukturen festhält, erfaßt das Problem der Einbildungskraft und des Gedächtnisses ebenfalls mit dem Modell einer psychophysischen Wechselwirkung: Bei einem Sinnesreiz werden im Gehirn die >Merkmale< und >Spuren< der Empfindungen niedergelegt; sie bilden die materielle Basis für die Leistung von Gedächtnis - als Besinnung auf die ehemaligen Spuren - und der Einbildungskraft - als der Vergegenwärtigung der vergangenen Empfindung —, wobei aber der Seele die Funktion der Merkmalsbildung zukommt (H V, io6if.). Eine Therapie von psychischen Krankheiten läßt sich deshalb sowohl physiologisch als auch psychologisch angehen. Dagegen bestimmt Muratori die Einbildungskraft rein materiell, wodurch er Wahnsinn, (religiöse) Schwärmerei und Magie >natürlich7).' 49 Krause, für den Blondel als Hauptzielscheibe herhalten mußte, stützte sich auf Imaginationisten, aus deren Schriften er fleißig zitierte' 50 und die er nur noch, argumentativ unterfüttert, zu bestätigen brauchte. Röderer dagegen gründete seine Abhandlung programmatisch auf eigene Erfahrungen als Geburtshelfer' 51 und verwies nur gelegentlich auf andere wissenschaftliche Traktate.' 52 In demselben Jahr wie die Preisschrift wurde auch die deutsche Überitnterstützen. Zitiert nach der Übersetzung aus dem Lateinischen von Christian August Wichmann mit dem Titel Abhandlung von den Muttermälern, welche mit dem, von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg, auf das Jahr 1756 ausgesetzten Preise gekrönt worden; Nebst einer ändern Abhandlung, welche die gegenseitige Meynung behauptet (Leipzig 1758), S. 57. Die deutsche Übersetzung wird im folgenden als KR mit Seitenangabe in ( ) zitiert. 147 So die Darstellung Richerz' in den Zusätzen zu Muratoris Schrift Über die Einbildungskraft, M II, 288. Richerz bezieht sich hier auf Hallers Bibliotheca Anatomica (2 Bde. Zürich 1774-1777), Bd. II, § 1109,8.453. 148 Krause hatte sich der Gelehrtenwelt 1752 schon mit der Abhandlung De homine non machina (Leipzig) vorgestellt. 149 Eine unautorisierte Übersetzung Wichmanns von Krauses Preisschrift war schon ein Jahr zuvor im Hamburgischen Magazin (Bd. 20 [1757], i. St., S. 54-120) erschienen, nachdem dessen Manuskript entwendet worden war. Doch wimmle es nach den Worten Wichmanns in dieser vorabgedruckten Fassung von Übertragungsfehlern und Mißverständnissen seitens des geistigen Diebes, so daß erst der Druck von 1758 die gültige Fassung präsentiert; vgl. den Vorbericht der Übersetzers (o. P.). 150 Krause beruft sich am häufigsten auf den Neffen Hermann Boerhaaves, Abraham Kaau Boerhaave, aber auch mehrmals auf Hippokrates, Plinius und die Alten im allgemeinen, außerdem auf Daniel Sennert, Friedrich Hoffmann, H. Boerhaave, A. v. Haller und den zunächst anonym gebliebenerf J. H. Mauclerc (vgl. KR 89). Mauclerc hatte gegen Blondel eine Gegenschrift verfaßt mit dem Titel Dr. Blondel confuted: or the Ladies vindicated, with the regard to the power of imagination in pregnant women (London 1747; i. Aufl. 1740). 151 »Man erlaube mir nur, dieses Einzige im voraus zu erinnern, daß ich die Beweise für meine Sache mit Beobachtungen und Erfahrungen selbst verfolgt habe, und in meiner ganzen Abhandlung keinen angeben werde, von dessen Wahrheit ich mich nicht durch eigne Bemühungen überzeugt hätte [...]. Ich enthalte mich mit Fleiß der Anführung der Schriftsteller [...].« (KR 58) 152 Dem Verlierer Röderer widerfuhr nach den Worten Richerz', ebenfalls Gegner der Imaginationisten, wenigstens dadurch Gerechtigkeit, daß »die meisten großen Ärzte unsres deutschen Vaterlandes jetzt [also 1785] auf Röderers Seite« stünden (vgl. M II, 289).

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Setzung von Blondeis beiden Abhandlungen mit einem Anhang von Physikalischen Briefen gegen die Behauptung eines solchen Einflusses der Mutter auf das Ungeborene publiziert.' 53 Die beiden Schriften von C. C. Krause und J. G. Röderer vermochten den Streit über den Ursprung der Muttermale zwar nicht endgültig beizulegen, aber sie bereiteten den Wendepunkt der Debatte vor. Ausläufer dieser Debatte wirkten bis ins späte 18. Jahrhundert, wobei die kontroversen Stellungnahmen bald auch in die Popularphilosophie Eingang fanden. Neben einer Fortsetzung von Krauses Preisschrift 154 wurde die Frage von Muttermalen auch in den verschiedenen deutschen Zeitschriften und Sammlungen 155 mit immer neuen Fallbeispielen auseinandergesetzt. Nicht nur Lessing in seinem Laokoon (1766), sondern noch Johann Caspar Lavater (1741-1801) in den Physiognomischen Fragmenten (1775-78) verteidigte den maternalen Einfluß auf die Bildung des Fötus,156 während Jean Paul in Dr. Katzenbergers Badereise (1809) den Umgang mit Mißbildungen satirisch verarbeitete.' 57 Auch war die zu dieser Zeit allgemein akzeptierte Theorie der psychophysischen Wechselwirkung mit der Hypothese der Imaginationisten verträglich, so daß diese keiner neuen theoretischen Untermauerung bedurfte. Vielmehr wurden die bekannten Argumente nur noch variiert, bis sich die Ansicht Blondels 153

Blondel (1756), Drey merkwürdige Physikalische Abhandlungen von der Einbildungskraft der schwangeren Weiber und derselben Wirkung auf ihre Leibesfrucht. Davon die zwei ersten aus dem Englischen, die dritte aber aus den Französischen übersetzt worden. Strasburg. Die dritte Abhandlung hatte J. H. Mauclerc, erklärter Gegner Blondels, übersetzt. Ebenfalls 1756 gab sich J. G. Krüger, wie schon in seiner Naturlehre (Bd. 2, § 471), als Verteidiger des imaginativen Einflusses der Mutter zu erkennen; vgl. Krüger (1756), Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Halle, Helmstedt, §§38-41, S. 156-166. Dieser »weltberühmte Herr« wird auch von dem Übersetzer Wichmann in seinem Vorbericht als Gewährsmann angeführt (o. P.). 154 C. C. Krause (1787), Von der Wirkung und dem Einflüsse der Einbildungskraft auf die Frucht aus Gründen und Erfahrungen erwiesen. Leipzig. 155 Der Göttinger Index deutschsprachiger Zeitschriften von 1750-1815 (erstellt durch die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen unter der Leitung von Klaus Schmidt) verzeichnet unter dem Stichwort »Muttermale« die Omnipräsenz solcher Konzepte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. — Eine historische Aufarbeitung des populärwissenschaftlichen Interesses an Muttermalen gerade im deutschen Sprachraum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts steht noch aus. — In England sammelte z.B. das Gentlemen's Magazine Geschichten von außergewöhnlichen Geburten; vgl. dazu G. S. Rousseau (19913), S. iS^f. 156 Vgl. Lessing (1974), Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders., Werke. Bd. VI (1974). München, S. 19: »Bei uns scheinet sich die 2arte Einbildungskraft der Mütter nur in Ungeheuern zu äußern.« Lavater (1829), Physiognomische Fragmente. 4 Bde. Wien, Bd. i, S. 182: Wirkungen der Einbildungskraft auf die menschliche Bildung; zitiert nach W. Promies (1987), Der Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie. Sechs Kapitel über das Irrationale in der Literatur des Rationalismus. Frankfurt/M. [r. Aufl. München 1966], S. 222f. '57 Vgj dazu E. Agazzi (1995), Teratologisches Vergnügen bei Jean Paul. In: Athenäum 5. S. 43-55-

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ab den späten lyyoer Jahren wissenschaftlich durchzusetzen begann. So wurden im let/ten Drittel des 18. Jahrhunderts die kritischen Stimmen immer lauter, wie die von C. Rickmann (gest. 1772)'5Ö und die des Platner-Schülers J. C. A. Grohmann (1769—1847). I59 Das Problem des Umgangs mit Abnormitäten und Monstern, die Karl von Linne (1707-1778) gleichwohl in das Klassifikationssystem der Naturgeschichte zu integrieren suchte, um vorhandene Lücken zu schließen,160 zeigt deutlich, wie nah sich wissenschaftliche Erklärung und Aberglauben in der Epoche der Aufklärung immer noch waren. Was aber machte die Frage nach Muttermalen und Mißgeburten so attraktiv für die Gelehrtenwelt, daß dazu unaufhörlich neue Geschichten gesammelt und veröffentlicht wurden, mochten sie noch so unwahrscheinlich sein? Und warum konnte sich dieser ansteckende IrrtumImaginationisten< wissenschaftlich vom Gegenteil zu überzeugen? Welche Argumente verwendeten die beiden Parteien? Die beiden Abhandlungen von C. C. Krause und J. G. Röderer, die im folgenden genauer in den Blick zu nehmen sind, können zur Beantwortung dieser Fragen beitragen.16' Denn sie geben einen so prägnanten Querschnitt des Problemstandes um 1750 wieder, daß es erstaunen muß, daß eine Auseinandersetzung mit dieser Quelle in der medizingeschichtlichen Forschungsliteratur bislang unterblieben ist.162 158

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Christian Rickmann (1770), Von der Unwahrheit des Versehens und der Hervorbringung der Muttermahle durch die Einbildungskraft. Jena. Rickmann wird als Nachfolger Röderers in Richerz' Muratori-Kommentar zitiert (vgl. M II, 289). Grohmann allerdings war sich seiner Sache nicht so sicher und hält die Möglichkeit des maternalen Einfluß mittels affektiver Einbildungskraft nicht für ausgeschlossen. Vgl. Johann Christian August Grohmann (1986), Einige Gedanken über die Muttermähler. In: K. P. Moritz' (Hg.), Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde, Bd. 8 [1791]. Nördlingen, i. St., S. 24-38. Carolus Linnaeus (1758), Systema naturae per regna tria naturae. loth edition. Stockholm [i. Aufl. 1735], S. 22 — 25. Vgl. dazu den luziden Aufsatz von K. Park und L. J. Daston (1981), Unnatural Conceptions: the Study of Monsters in Sixteenth- and seventeenth-Century France and England. In: Past and Present 92, S. 20—54; auch Bouce (1987), Imagination, pregnant women, and monsters, in Eighteenth-century England and France. In: Rousseau/Porter (Eds.), Sexual underworlds of the Enlightenment. Manchester, S. 86—100. Die Titel der Übersetzung Wichmanns lauten: Herrn Carl Christian Krausem [...] Abhandlung von den Muttermälern, in welcher die Wirkung, und der Einfluß der Einbildungskraft der Mutter auf ihre Leibesfrucht, wider die Zweifel und Einwürfe der Gegner gerettet, und so viel thunlich, erklärt wird. [KR i — 54] Herrn D. Johann George Röderers [...] Abhandlung von den Muttermälern, in welcher die Zweifel und Einwürfe, wider die Einwirkung der Einbildungskraft der Mutter in ihre Leibesfrucht, in ihrer völligen Stärke vorgestellt werden. (KR 55-88) Die Peterburger Preisfrage findet allenfalls beiläufige Erwähnung - manchmal mit

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Zur Untermauerung ihrer Ansicht stützen sich sowohl Röderer als auch Krause auf die Empirie, was sozusagen wissenschaftlicher Trend war. Doch beide füllen den Begriff der Erfahrung ganz unterschiedlich. Krause versteht unter Erfahrung die beobachtbaren Muttermale und Hautflecken, die eine »Caussal-Verknüpfung« (KR 5, 9) zwischen Mutter und Kind evident und unabweisbar machten, was außerdem von berühmten Ärzten aus dem 17. und frühen r8. Jahrhundert, die er zitiert, bezeugt sei (KR 4-8, 15, 35). Er beteuert, daß er nur von den sichtbaren Wirkungen ausgehe, da dem Menschen die »ersten Ursachen« oder »vornehmsten Kräfte« der Natur unbekannt bleiben müßten (KR 20, 30). Für Röderer hingegen besagt die beliebig erweiterbare Palette an noch so gut bezeugten Fallgeschichten gar nichts, so lange nicht eine physiologische Verbindung von Mutter und Kind empirisch nachweisbar ist. Daher bedeutet Erfahrung für ihn, »verborgne Eigenschaften« (KR 69) abzuweisen und nur den eigenen Beobachtungen zu trauen, die er in seiner Praxis als Geburtshelfer sammeln konnte. Die Differenz der beiden Erfahrungsbegriffe ist darin begründet, daß Krause zum einen die gewohnheitsmäßige kausale Verknüpfung, wie sie David Hume zur Bestimmung der Erfahrung in Anspruch genommen hat, für seine Hypothese vereinnahmt, zum anderen, daß er die Wirkungen der Einbildungskraft nicht als Fiktionen, sondern als erfahrbare, reale Dinge ansieht, womit er in einer anderen, älteren Tradition steht. Nach der medizingeschichtlichen Darstellung von Esther Fischer-Homberger galt die Einbildung bei den Ärzten des 16. und 17. Jahrhunderts - bei Paracelsus, Donatus, van Helmont, Fienus — als »etwas sehr Reales«:'63 obgleich immateriell, konnte sie auf den Körper wirken, dort Krankheiten hervorbringen und bei Schwangeren zur Prägung des Ungeborenen führen. l64 Entsprechend sieht Krause Muttermale als Wirkungen der immateriellen Einbildungskraft der Schwangeren an, die durch ihre Ideen in den eigenen Körper, vor allem aber in den harmonisch mit ihr verbundenen Embryo wirken könne. Krauses Theorie basiert demnach auf zwei Prämissen: erstens, eine Idee der mentalen Einbildungskraft kann pathogen wirken und zum realen, materiellen Bild umgeformt werden; zweitens, Mutter und Embryo sind als leib-seelische Einheit miteinander verbunden. 1 '5 Diese beiden Prämissen sollen die angenom-

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irreführenden Angaben, wie etwa bei Fischer-Homberger (1983), S. 264 mit Anm. 24, S. 433; vgl. auch W. Promies (1987), S. 222. Fischer-Homberger (1979), S. 108; vgl. auch dies. (1983), S. 138-154. Dies. (1979), S. 107-110. Dort heißt es, daß sich der Begriff der Einbildung im 18. Jahrhundert »allmählich entrealisiert« (ebd., S. 111) habe; die Hypochondrie etwa werde zur eingebildeten Krankheit (S. 114), die zwar reale, aber unspezifische Symptome verursache. Auf der Hypothese der Bereinigung von Mutter und Kind< basiert auch E. A. Nicolais Verteidigung des Einflusses: Eine Mißgeburt werde durch Affekte, mit denen »eine unordentliche und zugleich starke Bewegung des Bluts verknüpft ist«, verursacht. Vgl. Nicolai (1746), Gedancken von der Erzeugung des Kindes im Mutterleibe 163

mene »Caussal-Verknüpfung zwischen den Gemüthsbewegungen der Mutter und dem Maale selbst« (KR 5) stützen, wobei die Verknüpfung selbst als evident gilt und deshalb keiner Begründung mehr bedarf. Zur Verteidigung der Prämissen verwendet Krause eine Reihe von Argumenten, die alle auf eine Pathologisierung der Schwangeren und ihrer affektiv besetzten Einbildungskraft hinauslaufen, aus der dann die Schädigung des Ungeborenen folgt. Grundvorstellung Krauses ist die Leibniz-Wolffsche Auffassung »der genauesten Verbindung« von Seele und Körper, aber auch, daß die Seele »völlige Macht über denselben« habe (KR 39). Veränderungen im Körper sind deshalb eine Wirkung der Seele bzw. starke Gemütsbewegungen werden von starken physischen Bewegungen begleitet.166 Krause nimmt hier nur die Affekte in den Blick, deren negative Wirkungen er bei Schwangeren kennt: Schrecken, Furcht und Zorn. Der Schrecken etwa kann »völlige Blässe [...], starke Ohnmächten, Zuckungen«, sogar »plötzliche Todesfälle« bewirken (KR 38f.).167 Wichtig für Krause sind dabei zwei Dinge: Zum einen, »daß die Seele, wenn sie beunruhigt wird, in dem Körper ungemein große Veränderungen hervorbringen könne« (KR 39) und »bis zu denjenigen Theilen der Eingeweide, von welchen das Leben abhängt« (KR 40), wirke; zum anderen, daß die Ideen der Einbildungskraft den Körper nicht nur bewußt und willentlich verändern könnten, sondern daß solche Ideen auch als »angeborenfe]« (KR 33) unbewußt und ohne willentliche Einwirkung den Körper determinierten (KR 28, 35, 38). Derartige »eingepflanzte und angeborne Ideen« (KR 34) seien deshalb auch Tieren zu ihrer Selbsterhaltung zuzusprechen. Damit kann Krause die Auffassung von »materialen Ideen« abweisen, denn durch die Annahme von unbewußten Ideen lassen sich unwillkürliche oder instinktive Handlungen als der Seele zugehörige qualifizieren.

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und der Harmonie und Gemeinschaft, welche die Mutter während der Schwangerschaft mit demselben hat. Halle, Abs. 6, hier § 146, S. 275; und ders. (1751), Gedankken von den Würckungen der Einbildungskraft in den menschlichen Körper. 2. Aufl. Halle, § 44, S. 91—94. Interressant ist hier, daß Nicolai erst in der zweiten Auflage der genannten Abhandlung deutlich für die Imaginationisten Partei ergreift, nachdem er sich in der ersten Auflage noch viel vorsichtiger geäußert hatte: »Alleine das schlimmste ist, daß man dieses nicht erweisen kan, und gesetzt auch, daß diees so wäre, so würden dadurch doch nicht die übrigen Schwierigkeiten gehoben seyn.« (S. 97f.) Die Übertragung der durch die Einbildungskraft erregten Affekte von der Mutter auf das Kind aufgrund desselben Blutkreislaufes gilt auch Nicolai als Hauptursache von Muttermalen und Mißgeburten oder ausgeprägten Antipathien; vgl. Nicolai (1751), §§44-52,8.91-106. Krause zitiert hier interessanterweise nicht Descartes, Leibniz oder Wolff, sondern vorcartesische Autoren wie Donatus, Borelli und Scaliger (KR 39).

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Die Einführung von unbewußten, dennoch körperlich wirksamen Ideen ist ein entscheidendes Argument für Krauses Pathologisierung der Einbildungskraft, die nun in dem nächsten Schritt deutlich wird. Die Schwangerschaft sei nämlich gekennzeichnet durch »unartige Begierden« (KR 20) und »verderbten Appetite« — Krause führt Beispiele von Heißhunger nach rohem Rindfleisch, heißen Kohlen, Erde oder Kot an (KR 42), um den »unglücklichen Zustand« (ebd.) der Schwangeren in aller Drastik anschaulich zu machen. Demnach gilt Schwangerschaft als eine Krankheit (KR 40, 43, 53), als ein Zustand der Schwäche und der Determination der Einbildungskraft durch starke Affekte (KR 42, 49). Aus dieser Annahme läßt sich nun leicht folgern, daß auch die willkürlich nicht zu steuernden Ideen und Affekte der Schwangeren pathogene Wirkungen haben müßten, zumal Krause der Meinung ist, daß die Tätigkeit einer durch Affekte intensivierten Einbildungskraft Erschöpfung und Schwächung des Nervensystems nach sich ziehe (KR 44).l68 Doch wie wirkt die mütterliche Einbildungskraft auf den Embryo? Um die Beeinflußbarkeit plausibel zu machen, bringt Krause hier seine zweite Hypothese zur Geltung: Mutter und Kind teilten dasselbe Nervensystem, da die Frucht durch den Mutterkuchen und die Nabelschnur mit der Gebärmutter »mittelbar« (KR 46) verbunden sei, und auf diese Weise Gebärmutter und Fötus »ein einziges Continuum« (KR 45) bildeten. Da »das Mark der Nerven sich überall völlig gleiche, und von einerley Substanz« sei (ebd.), geschehe im Gehirn der Mutter dasselbe wie in der Gebärmutter: Die Ideen der Schwangeren stimmten mit denen des Ungeborenen überein. Das hat zur Konsequenz, daß dem Fötus jegliche Individualität abgesprochen wird. Auch Malebranche hatte eine derartige Übereinstimmung von Mutter und Kind durch die Verbindung des Gehirns angenommen, schrieb den Einfluß allerdings materiellen Ideen zu.' 69 Doch Krause geht weiter. Er bringt hier die Seele ins Spiel, indem er auch für die Gebärmutter eine »neue Seele« fordert (KR 45), ohne die der Uterus keine Ideen hervorbringen könne. Das bedeutet, daß Krause die Gebärmutter analog zum Gehirn bestimmt, beziehungsweise die Gebärmutter, da sie Ort der Konzeption ist, als Gehirn auffaßt. 170 Diese Zentrierung auf den quasi l6B

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Krause erwähnt hier als einzig positives Beispiel die Notwendigkeit »einer außerordentlichen Stärke« der Einbildungskraft bei Künstlern, deren Anstrengung aber durch schöpferische Pausen unterbrochen werden müßte, um der Gefahr einer Zerrüttung des Gehirns oder der >Raserei< zu entgehen (KR 44). Vgl. Malebranche (1962), Recherche de la verite: »De la communication qui est entre le cerveau de la mere & celui de son enfant« (RL 234). S.o., Teil I, Kap. IV.2. Die Passage lautet: »Wenn man nun hier eine neue Seele annehmen dürfte, welche durch diese außerordentliche, und so zu reden, ganz eigne Berührung der Nerven der Gebärmutter afficirt werde; so würde [...] ohne Zweifel in dieser Seele eben die Idee entstehn, welche der Seele der Mutter in Gedanken schwebt. Wir können dieses zwar nicht unmittelbar voraus setzen, allein der folgende Schluß wird uns doch eben auf dieses führen.« (KR 45) Der folgende Schluß ist die Hypothese einer »nervösen Sub165

mental funktionierenden Uterus ist ein wichtiges Verbindungsstück für die Behauptung der Übertragung von Ideen auf den Fötus. Zur Bestärkung dieser These schreibt Krause am Ende der Abhandlung der Mutter einen »Instinkt« zu, »mehr in die Nerven der Gebärmutter., als in ieden andren Theil ihres Körpers, zu wirken« (KR 53f.), wodurch die Veränderungen der Frucht entstünden. Die behauptete Pathologisierung der Einbildungskraft entwickelt Krause demnach über mehrere Stufen der Argumentation: (i) Schwangerschaft ist Krankheit und führt deshalb (2) zu starken, widernatürlichen Affekten; (3) die Ideen und Affekte bleiben unbewußt, (4) wirken aber in den Körper und konzentrieren sich gemäß einem Instinkt, unwillkürlich in der Gebärmutter;1"71 (5) die Gebärmutter ist durch eine »nervöse Substanz« (KR 46) mit der Frucht verbunden und kann (6) deshalb dieselben Ideen, somit auch körperliche Veränderungen im Fötus hervorbringen, so daß der Fötus aufgrund seiner größeren Empfindlichkeit1"72 beschädigt wird: das Resultat dieses psychophysischen Mechanismus sind Muttermale, womöglich Mißgeburten. In Krauses Standpunkt kommt nicht nur das Zugeständnis eines imaginativen Einflusses, sondern mehr noch die Furcht vor der weiblichen Kontrolle über den Nachwuchs zum Ausdruck. So ist die wissenschaftliche Thematisierung, mithin Pathologisierung der Einbildungskraft der Schwangeren auch ein Akt der Machterhebung von männlichen Gelehrten über die Frau: Die Macht über die Nachkommen, die der männliche Blick der Frau zugestand, wurde sogleich negativ konnotiert. Konsequenterweise wurde dem Vater kein Einfluß über die Nachkommenschaft zugesprochen, so daß er auch nicht für Muttermale und Mißbildungen verantwortlich gemacht werden konnte. Dies setzt die Ansicht voraus, daß Fehler der Nachkommenschaft nicht durch Zeugung, sondern allein während des Wachs-

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stanz« (KR 46) als Verbindung von Frucht und Gebärmutter. — Die Auffassung der Konzeption durch eine Idee ist nicht nur im christlichen Glauben überliefert, sondern auch der Arzt William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufes, hat dem Uterus die Fähigkeit zugesprochen, die Eier qua Ideen dem befruchtenden Mann ähnlich zu bilden. Vgl. Radi (1970), Bd. I, S. 137; und Laqueur (1992), S. 165-171. So behauptet Krause auch, daß die Konzentration der Nervenbewegung auf die Gebärmutter durch die Bewegung des Mutterkuchens, der die Gebärmutter permanent reize, verursacht sei (KR 53). Zum Ende seiner Abhandlung resümiert Krause: »[...] Diese Ideen erhalten eine ungemeine Lebhaftigkeit von dem Affecte der Seele, und von der starken Einbildung, welchen denselben begleitet. Diese Ideen werden der Frucht mitgetheilt, und zwar werden sie in derselben deßwegen geschwinder und lebhafter erweckt, als in der Seele der Mutter selbst, weil auch das Schlagen der Pulsadern, und mithin der Nerven, und überhaupt alle Tätigkeiten, bey Kindern geschwinder und lebhafter sind [...]. Von diesen Ideen wird die Seele des Kindes determinirt, in ihren Körper auf diejenige Art zu wirken, welche die erweckten Ideen veranlassen. [...] Ja die Seele der Frucht phantasirt vielmehr, und ist völlig determinirt [...], so lange zu agiren, als die wirkenden Ideen fort dauern.« (KR 51; die ganze Passage ist im Original hervorgehoben.)

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turns im Uterus entstünden. Die Argumentation gegen die Frau war also nach allen Seiten hin abgesichert. Rätselhaft bleibt jedoch auch für Krause, wie die Übermittlung der Ideen stattfindet: Wie aber die Seele der Frucht in ihren Körper zu der Zeit wirkt, wann sie auf solche Art schwärmt, und auf was für Art und Weise sie so seltsame Dinge in dem Körper bilde, mag ein höherer Geist entscheiden. (KR 52)

Trotzdem gilt ihm die mütterliche Einbildungskraft als einzige evidente Ursache für solche Defekte des Neugeborenen.'73 Eine ähnliche, aber weniger verzweigte Argumentation ist bei dem Naturforscher J. G. Krüger in seinem Versuch einer Experimental-Seelenlehre (1756) zu beobachten. Muttermale gelten ihm als »sichtbare Zeichen« am Kinde, die eine Ähnlichkeit zur Vorstellung der schwangeren Mutter hätten.174 »Die Seele des Kindes«, so Krüger, »bauet sich ihren Körper selbst«* 75 und verwende dabei die lebhaften Vorstellungen der Mutter, die sie zur Berührung ihres Körpers an bestimmten Stellen veranlaßten. An diese Stellen setze dann das Kind, das zarter als die Mutter sei, das körperliche Bild der Vorstellung: das Muttermal. Daß diese Übermittlung stattfindet, hält auch Krüger für unbezweifelbar: »nur ist es schlimm, daß man sie nicht beweisen kann«. 176 Krauses wie auch Krügers Argumentation steht und fällt mit der Annahme einer »harmonischen Circulation« (KR 67) zwischen Mutter und Kind. 177 Krause behauptet, daß »etwas Nervöses« den Mutterkuchen und die Fruchtblase umgebe (KR 46) und sich gleichermaßen in der Nabelschnur befinde (KR 47). Genau an diesem Punkt setzt nun Röderers Kritik an, der eine solche nervöse Verbindung anatomisch für nicht nachweisbar hält (KR 65). Denn zum einen seien der Blutkreislauf von Mutter und Kind gerrennt, 178 und zum anderen sei der Mutterkuchen nicht durch empfindliche Teile mit der Gebärmutter 173

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Die positive Umkehrung, daß Frauen auch vollkommene Kinder imaginieren könnten, wird in diesen Diskussionen nur in Ausnahmen erwähnt. Krüger (1756), Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Halle, Helmstädt, § 38, S. 156. Ebd., § 38, S. 164. Diese Vorstellung stützt die These, daß Krügers physiologische Theorie durch G. E. Stahl beeinflußt ist. Ebd., S. 165. Schon im zweiten Band seiner Naturlehre hatte Krüger diese Ansicht bekräftigt: »Das Kind ist vermittelst der Nabelschnure an den Mutterkuchen befestigt, und bekömmt durch dieselbe das Blut aus den Adern der Mutter, welches zu seiner Ernährung dienet. Und hieraus ist klar, wie die Kranckheiten und Neigungen der Mutter auf das Kind fortgeerbt werden können.« (K II, § 471) Denn es finde keine »Eröffnung der Adern« zwischen Gebärmutter und Mutterkuchen statt; außerdem lasse sich nachweisen, daß Mutter und Embryo verschiedenes Blut hätten und in den Lebensfunktionen »Ruhe, Bewegung, Wachen, Schlafen, Leben, Tod« voneinander getrennt seien (KR 61-63). 167

verbunden, vielmehr sei er nur >angeklebt< und lasse sich so bei der Nachgeburt ganz leicht und schmerzfrei ablösen (KR 64). Deshalb müßte man andere Gründe für die Entstehung von Muttermalen erörtern. Die alternative Erklärung einer Übertragung der Affekte der Mutter auf das Ungeborene durch die Wirkung von Säften weist Röderer zurück, weil diese von zu vielen zufälligen Faktoren abhänge, als daß daraus bestimmte Figuren an einem bestimmten Ort ableitbar wären (KR 66).I?9 Was bleibt, sind nur noch »Wirkungen auf entlegne Dinge (Actiones in distans) ohne Zuthun des Körpers [...], eine willkührliche angenommene und verthaidigte Sympathie [...] und andre verborgne Eigenschaften« (KR 69) für wahrscheinlich zu halten, was Röderer ebenfalls ablehnt. Vielmehr erklärt er Muttermale und Mißgeburten entweder durch gewaltsame äußere Einwirkungen (Druck, Stoß, Sturz, Konvulsionen der Gebärmutter, schwere Geburt etc.; KR 8if.; 85) oder als »Folge von wirklich schrecklichen Krankheiten« (KR 82-84). Damit bezieht er Stellung zum epigenetischen Modell der Keimentwicklung, das in der Embryologie seiner Zeit in Opposition zur Auffassung der Präformation der Keime stand.180 Nach Röderer hätten Überfluß und Mangel an Nahrung und andere äußere Einflüsse eine fehlerhafte Ausbildung des Em-

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Röderer hält nur die Möglichkeit, daß die Mutter auf die Nerven des Embryos mittels verdorbener >Säfte< wirkt, für wahrscheinlich: »Daß vielmehr die unruhigen Zufälle der Nerven in der Mutter erst alsdann das Kind afficiren, wann die Säfte dadurch nach und nach verderbt, und so auf dassselbe fortgeführt worden sind.« (KR 71) Am Ende seiner Schrift gesteht Röderer zu: »Ich will mich also daran begnügen, daß ich hiermit fest setze, Muttermale und Mißgeburten haben einerley Ursprung aus der ersten Empfängniß.« (KR 87) Trotz dieses Zugeständnisses galt er als Verteidiger der »Ursache der sekundären, auf äußerer Einwirkung beruhenden Mißbildungen«; vgl. C. Zanetti und Wimmer-Aeschlimann (Hg.) 1968, Eine Geschichte der Anatomie und Physiologie von Albrecht von Haller. Bern, Stuttgart, S. 135. — An diesem Punkt schieden sich die Geister in der zeitgenössischen Embryologie: In seinem Werk De Monstris (1768) betrachtete A. v. Haller Mißbildungen als präformiert und opponierte gegen die These von ihrer zufälligen Entstehung. Den Druck und dadurch bedingten Nahrungsmangel konnte er eingeschränkt als sekundäre Ursache zugestehen. Vgl. E. Hintzsche (1972), Die Entwicklung der Teratologie seit dem 17. Jahrhundert und ihr Einfluß auf die klinische Medizin. In: Clio Medica 7, S. 55-67, hier S. 57; und die medizingeschichtliche Dissertation von F. A. B. Sturm (1974), Albrecht von Hallers Lehre über die Entstehung der Missbildungen. Bonn, S. 79—83. — Die Naturforscher Charles Bonnet und Spallanzani hingegen lehnten die Vorstellung von monströsen Keimen ab und erklärten Mißbildungen durch die Theorie der Epigenesis als Hilfskonstruktion, während sie ansonsten an die Präformation glaubten. Vgl. C. Bonnet (1775), Betrachtungen über die organisirten Körper [Orig. Amsterdam 1762]. Übs. von Johann August Ephraim Goeze. 2 Tie. Lemgo, Art. 353, S. 329-333; vgl. dazu M. Aloisi (1974/75), Biology in the Eighteenth Century as Seen through the Letters of L. Spallanzani to C. Bonnet. In: Acta medicae patavina 21, S. 9-26, hier S. I2f; King (1978), S. 177. Auch P. L. M. de Maupertuis (1698-1759) widersprach dieser Ansicht von mißgebildeten Keimen; vgl. Stafford (1991), S. 315.

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bryos zur Folge. Der Behauptung, daß die Imagination an Muttermalen oder an Mißgeburten schuld sein könne, widerspricht er vehement, einmal aus statistischen Gründen, zum anderen aus anatomischen (KR 8yf.). Denn Muttermale, die »nichts andres, als Krankheiten der Haut sind« (KR 84), und Mißgeburten kämen sehr selten vor, »außerordentlich heftige[r] Appetit nach verschiednen seltsamen Dingen« (KR 78), starke Gemütsbewegungen und gewaltsame körperliche Einwirkungen (Konvulsionen) hingegen so häufig (KR 79, 70, 78), daß daraus nicht zuverlässig ein kausaler Zusammenhang ableitbar ist. Und umgekehrt kann ebensowenig von Mißgeburten zuverlässig auf bestimmte psychische Störungen der Mutter geschlossen werden. Dieses Argument findet sich auch in Hallers Elementa Physiologiae, die jedoch erst nach Röderers Abhandlung erschienen sind.181 Die faktische Seltenheit von Muttermalen und Mißbildungen im Verhältnis zur Häufigkeit der starken Affekte bei Schwangeren ist neben der Getrenntheit des Nervensystems und des Blutkreislaufs von Mutter und Kind Röderers stärkstes Argument gegen die Imaginationisten.' 82 Ferner fänden sich »die vornehmsten Fehler an den meisten Mißgeburten und ungestalten Bildungen mehr an den innern Eingeweiden, als an der äußerlichen Figur« (KR 87), was nur anatomisch nachgewiesen werden könne. Denn die verminderte Lebensfähigkeit von Mißgeburten - die meisten wurden tot geboren - hänge entscheidend von den Fehlern bei den inneren Organen ab, die »gar nicht um des äußerlichen Fehlers da« (KR 88) seien und mit der äußeren Gestalt keinerlei Zusammenhang hätten. Damit betont Röderer, wie irreführend der visuelle Eindruck sein kann und daß er keine zuverlässigen Aussagen über die Ursachen ihrer Entstehung zuläßt. Warum hat sich aber trotz dieser Gegengründe ein so hartnäckiger Glaube an die imaginative Einwirkung der Schwangeren auf die äußere Erscheinungsform des Kindes aufrechterhalten? Röderer bietet indirekt eine Antwort an, indem er ein Generalthema seines Zeitalters aufgreift: die Aberglaubens- und Vorurteilskritik. Nicht ein Versehen der Mutter ist schuld an den Muttermalen und Monstern, vielmehr lieferten derartige Geschichten von der Ähnlichkeit eines Mals mit dem Anlaß des Schreckens der Schwangeren »Zeugnisse von der schöpferischen Einbildungskraft der Menschen« (KR 74), die durch den Aberglauben betrogen seien: Die Figur der Muttermäler selbst, welche man mit dem Gegenstande vergleicht, der die Gemüthsbewegung verursacht hat, wird von der Einbildung des Pöbels so seltsam verdreht, daß ein Beobachter, dem das Vorurtheil und die Fabel nicht bekannt wäre, sie weit eher für eine ungebildete unordentliche Masse, für eine Warze, für ein ausge181

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Haller (1757 — 1766), Elementa Physiologiae Corporis Humani, vol. VIII, S. 139 — 148; zitiert nach King (1978), S. 177. Allerdings gab es im 18. Jahrhundert noch keine statistischen Untersuchungen über die Häufigkeit solcher fehlerhaften Erscheinungen, sondern Röderer kann sich hier nur auf die eigene Erfahrung berufen. 169

wachsenes Fleisch, für eine ausgedehnte und röthliche Haut, oder für einen andren Fehler der äußern Theile halten würde, als für das Bild von irgend einem Gegenstande. [...] Die Mißgeburten oder Muttermäler stellen nicht die Gegenstände selbst dar, mit welchen man sie zu vergleichen pflegt; sondern die Kräfte der Phantasie drehen dergleichen Bilder heraus. (KR 73)

Röderers Verschiebung der Blickrichtung weg von den Schwangeren auf die Einbildungskraft der Beobachter eröffnet eine psychohistorische Perspektive: Außergewöhnliche, amorphe oder monströse Formen am Menschen wurden nicht mehr, wie in der frühen Neuzeit, als Mirabilia oder Kuriositäten der Natur wahrgenommen/ 83 sondern sie verlangten nach wissenschaftlicher Klassifikation und damit nach Integration in die Naturordnung, die aber um 1750 mangels theoretischer Voraussetzungen in der Embryologie noch nicht gelang.184 Die Möglichkeit, solche Formen mit bekannten Gegenständen zu vergleichen und sie mit den Gemütsbewegungen der Schwangeren zu verknüpfen, bot — solange man daran glaubte — Raum für die Assoziationsfähigkeit, für die »schöpferische Einbildungskraft der Menschen« (KR 74), wie es Röderer nennt. Diese verschaffte sich denn auch in der willkürlichen Interpretation von Hautflecken und mißgestalteten Erscheinungen ein Ventil mit der Folge, Schwangere zu affektiv besetzten, animalischen und krankhaften Wesen abzustempeln. Die Abhandlung von Krause ist für diese Perhorreszierung der Mutter und ihrer Begierden symptomatisch185 und verfehlte ihre Wirkung nicht, schwangeren Frauen Schrecken vor dem Schrecken einzujagen.186 Die moralische Wirkung ist nicht zu unterschätzen, wenn man bedenkt, daß auch abweichendes Sexualverhalten, was im 17. Jahrhundert unter dem Oberbegriff der »Sodomie« behandelt wurde, ebenfalls als Ursache von Mißgeburten angesehen wurde.187 183

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Vgl. dazu P. Findlen (1994), Possessing Nature. Museums, Collecting, and Scientific Culture in Earley Modern Italy. Berkeley, Los Angeles, London. Vgl. dazu Hagner (19953), Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. Wandlungen des Monströsen und die Ordnung des Lebens. In: Hagner (Hg.), 8.73-107, hier S. 86-91. Denn Krause behauptet nicht nur, daß das Leben von schwangeren Frauen auf die Gebärmutter zentriert (KR 53f.), sondern sogar, daß diese »ein andres Thier« (KR 42) sei, dem er durch den Verweis auf »die Alten« (ebd.) zudem noch die Würde und Macht der Tradition zu verleihen weiß. Entscheidend in Krauses Argumentation ist, daß die Schwangere auf ihre unwillkürlichen Affekte und ihre kranke Einbildungskraft festgeschrieben wird. Dadurch wird sie zur Projektionsfläche für alle möglichen Zuschreibungen. Röderer führt einige Gegenbeispiele an, daß Schwangere trotz der Erlebnisse von schrecklichen und extremen Situationen, die sie über die Zukunft ihres Kindes in »jämmerliche Klagen« (KR 78) ausbrechen ließen, völlig gesunde Kinder zur Welt brachten. Der Art. »Mißgeburt« im Zedlerschen Universal-Lextkon brandmarkt eine solche als »Anzeige eines vorhergegangenen unziemlichen viehischen Beyschlaffes« (Bd. 22,

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Wendet man aber die Perspektive wie Röderer auf die Beobachter, fällt die Zuschreibung einer affektiv bestimmten Imagination auf sie selbst zurück. Daß Frauen Meerkatzen oder Eidechsen,'88 einen ganzen Schlag voll Kaninchen, 189 fischartige Wesen, Kinder mit Gänsefuß,190 mit einem Mönchs-, Kalbs- oder Pferdekopf (KR 86)19' oder auch Kinder mit gebrochenen Gliedern zur Welt' 92 gebracht hätten, wie es vielfach erzählt, bekräftigt und von Gelehrten aufgeschrieben wurde, verweist auf die Macht von und den Reiz an ungeheuerlichen, wunderbaren Geschichten.193 Interessant hierbei ist aber, daß dieses Sp. 491). Mißgebildeten Kindern wurde im 17. Jahrhundert nicht nur die Taufe verwehrt, sie galten auch nicht als erbberechtigt und wurden sogar der rechtskräftigen Tötung preisgegeben; allerdings war eine >angemessene< Behandlung von Mißgeburten unter Juristen im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts sehr umstritten, wie es derselbe Artikel belegt (ebd., Sp, 49of.). Zur Polysemie des Begriffs »Sodomie« vgl. A. und W. Leibbrand (1972), Formen des Eros. Kultur- und Geistesgeschichte der Liebe. Bd. II: Von der Reformation bis zur »sexuellen Revolution«. Freiburg, München, S. 255-257. 188 Vgl. Blondel (1756), S. 187-189. 189 Eine der beliebtesten Geschichten ist der Fall der Mary Toft von Goldalming. Sie hatte im Jahr 1726 angeblich 17 Kaninchen und andere kuriose Nachkommen zur Welt gebracht, was sofort zahllose Satiren provozierte. Vgl. dazu L. Lewis Wall (1985), The Sttange Case of Mary Toft (Who was delivered of sixteen rabbits and a Tabby cat in 1726). In: Medical Heritage i, S. 199 — 212; G. S. Rousseau (19913), S. 180—182; und bes. Dennis Todd, Imagining Monstets. Miscreations of the Self in Eighteenth-Century England. Chicago, London 1995. 190 In seiner Schrift über die Einbildungskraft gibt Muratori u.a. folgenden Geschichre wieder: Eine Schwangere hätte eine Schar von Gänsen mit Schirlingssamen und Schweinsbohnen gefüttert und sie dadurch aufgeschreckt. Sie fuhr mit einem Stock dazwischen und schlug damit einer Gans den Fuß lahm, was sie in einen so großen Schrecken versetzte, daß sie einen Sohn mit Gänsefuß zur Welt brachte (M II, 28if.). Muratoris Meinung zum maternalen Einfluß ist unentschieden, doch belegt allein die Wiedergabe dieses Beispiels, daß er mit den Imaginationisten wenigstens geliebäugelt hat. Vgl. auch Stafford (1991), S. 315. 191 Vgl. kritisch Blondel (1756), 8.148—150; affirmativ Zedler, Universal-Lexikon, Bd. 22 (1739), Sp. 489. So auch die Geschichte von dem totgeborenen Kind, das dem Heiligen Pius geglichen haben soll, wie es Malebranche in seiner Recherche bezeugt (RL 24of). 192 Ebd., RL 238 — 240. Röderer wendet in so einem Fall ein, daß die zugefügte Verletzung des Fötus auch während der Schwangerschaft wieder heilen müßte, »wie es bey den Wunden junger Kinder sonst zu geschehen pflegt« (KR 70). — Malebranches Beispiel wurde im 18. Jahrhundert gern zitiert und dadurch berühmt. Vgl. etwa C. Wolff (17393), Vernünftige Gedanken von den Würckungen der Natur. Halle, Bd. i, Th. 4, Kap. VI, § 448. Wolif akzeptiert such Malebranches Erklärung, daß die durch den Affekt des Mitleids erregte Einbildungskraft der Mutter durch die körperliche Verbindung des gemeinsamen Blutkreislaufes den zarteren Körper des Fötus verändern könne. Vgl. außerdem E. A. Nicolai (1751), §46, 8.94-98; zu Haller vgl. King (1978), S. 176. >93 Vieler dieser Geschichten sind auch im zwölften Kapitel von D. Turners De Morbis cutaneis (1714) gesammelt.

Vergnügen am Sensationellen nicht nur ein Phänomen der Volkskultur war — des Pöbels, wie es Köderet nennt, und von dem sich Krause so sehr abzuheben bemüht ist'94 -, sondern daß diese Ansicht die gelehrten Kreise gleichermaßen in Besitz zu nehmen vermochte. Nebenbei bemerkt befriedigten solche Geschichten nicht nur die Neugierde, sondern der weitverbreitete Aberglauben wurde sogar als einträgliche Geldquelle genutzt: beim Verkauf von Fischen oder Kaninchen, angeblichen Mißgeburten, war ein goldener Zahn zu verdienen - Geschäfte, die Röderer als »schändliche Betrügereyen« (KR 76) desavouiert.195 Dieser Umgang mit der Imagination zeigt, wie leicht man damit, wenn man schlau war, Handel oder ein Spiel treiben konnte. Doch wurde die Tatsache von Muttermalen, behaarten Warzen und monströsen Gestalten bei Neugeborenen, die sicherlich schreckten, auch dadurch >bewältigtVersehen< der Mutter zurückgeführt als auf Fehler bei der Befruchtung oder akzidentielle Beeinträchtigungen bei der Ernährung des Fötus.207 Umgekehrt glaubte man, die Eugenie durch ein Fernhalten der Schwangeren von schreckenerregenden, gewaltsamen Szenen und anderen stark beeindruckenden Situationen befördern zu können. Demnach wurde der Frau eine gewisse Macht über die Nachkommenschaft zugeschrieben, da man Bilder und Ideen der weiblichen Einbildungskraft als reale Phänomene betrachtete. Deren Wirkungen als Fiktion, als unrealistische Gedankenspiele oder Hypothesen zu bewerten, kam den Imaginationisten nicht in den Sinn. Gegenüber den Widersachern verteidigten sie ihre Wirkungen vielmehr als unabweisbare Fakten. Die Gegner hingegen machten sich genau diese Unterscheidung von Faktum und Hypothese zunutze und bezeichneten die Annahme der maternalen Imagination als Ursache von Muttermalen und Monstern als »vulgar error«,208 als »Fabel«, als »frommen Betrug« oder Willkürakt der Phantasie (KR 73f.), wie es Röderer formulierte. Dieser wandte sich aufgrund eigener wissenschaftlicher Beobachtungen gegen die Autorität der Tradition. Zur Durchsetzung seiner neuen empirisch fundierten Sichtweise richtete er in seiner nicht-dotierten Preisschrift von 1756 konsequent den Blick auf die betrogene Einbildungskraft der Ärzte, die sich darin in nichts von dem >Pöbel< unterschieden. Nichts konnte die Vertreter des Imaginationismus mehr treffen als der Vorwurf des »pöbelhaften Irrtums« (KR 8), gegen den sie sich am angestrengtesten zur Wehr setzten. Daß sie schließlich nicht recht behalten sollten, hat allerdings bis heute den Aberglauben nicht völlig vertreiben können,209 wie auch die damit verbundene Frage nach einer psychischen Beeinflußbarkeit des Ungeborenen nicht vollkommen geklärt ist.

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Vgl. etwa Nicolai (1751), §§ 143-144, S. 270-274; Bonnet (1775), Betrachtungen über die organisierten Körper. Lemgo, Tl. I, Art. 31 und 353; und ders. (1774), Betrachtung über die Natur [Orig. 1764]. Mit den Zusätzen der italienischen Übs. von Spallanzani und mit einigen eigenen Anm. hg. v. J. D. Titius. 3. Aufl. Leipzig, S. 176-180. So der Kardinalvorwurf in Blondels beiden Schriften gegen die Imaginationisten; vgl. den Titel seiner kurzen Schrift von 1727 und das Vorwort der Abhandlung von 1729 (S. vi). Vgl. Art. »Muttermal« in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (1987). ND [der Ausgabe Berlin, Leipzig 1927 — 1942] Berlin, New York, Bd. 6 [1935], Sp. 703 — 705.

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II. Psychologie der Einbildungskraft

Alle Alten merkten der Seele die Gesetze der Ideenverbindung ab, so wie wir sie kennen. Allein ihre fruchtbare Folgen hat unser Jahrhundert erschöpft. Nur die neuere Psychologie leitet aus ihnen die Erscheinungen der Meditation, der Reverie, des Traums, oder der Meditation des Schlafs, des Unsinns und der Rasery, und aller wichtigen Zustände der menschlichen Seele ab. (Michael Hißmann)

Seit Aristoteles und Platon wurde die Einbildungskraft zur Seele des Menschen gerechnet.1 Galt sie von Anfang an als Mittlerin zwischen Wahrnehmung und Denken, zwischen Sinnlichkeit und Verstand, wurde sie entweder mehr dem Verstand zugerechnet oder aber enger an die Sinne und Affekte des Menschen gebunden. In beiden Fällen steht sie in Verbindung zum Körper, den sie in seinen Bewegungen steuert, dessen Macht sie aber unter bestimmten Umständen auch ausgeliefert sein kann. Wurde im vorherigen Kapitel zur Nervenphysiologie der problematische psychophysische Zusammenhang nach den physiologischen Determinanten befragt, und ließ sich in den verschiedenen Positionen eine Physiologisierung der Einbildungskraft mit ihren pathogenen Wirkungen beobachten, ist im folgenden der Blick auf die andere Seite der Einbildungskraft zu richten: ihre - zumeist — aktive Rolle als ein psychisches Vermögen. Im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts wurde im Zuge der »Rehabilitierung der Sinnlichkeit« 2 auch die mit der Sinnlichkeit verbündete Einbildungs1

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Bis zur Renaissance hatte die Psychologie im größeren Zusammenhang der Naturphilosophie ihren Platz. Die Hauptströmung war die Aristoteles-Rezeption (vor allem von dessen De anima und Parva naturalia), aber auch die platonischen Dialoge (bes. Politeia, Timatos, Phaiäros) und der Neuplatonismus beeinflußten die Psychologie des 15. und 16. Jahrhunderts maßgeblich. Zur Geschichte der Psychologie von Aristoteles und Platon vgl. K. Park und E. Keßler (1988), The Concept of Psychology. In: C. B. Schmitt (Ed.), The Cambridge History of Renaissance Philosophy. Cambridge, S. 455-463. Vgl. außerdem die konzise historische hilfreiche Einleitung von K. Park zu der neuen Pico-Übersetzung von dessen Schrift De imaginatione; vgl. G. Pico della Mirandola (1984), Über die Vorstellung. Hg. v. E. Keßler. München, S. 16-43. Dort rekonstruiert Park die Geschichte der Wechselbeziehung von (Natur-)Philosophie und Medizin von der Antike bis zur Renaissance. Vgl. P. Kondylis (1986), Die Aufklärung im Zeitalter des neuzeitlichen Rationalismus. München, Kap. I.i.; F. Solms (1990), Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder. Stuttgart, Kap. III. 177

kraft als der >dunkle< Bereich der Seele erforscht. Mehr und mehr entdeckte man die psychophysiologischen Zusammenhänge des frei assoziierenden Vermögens und dessen ästhetische Qualitäten, das auch den Bereich des Möglichen und Irrealen umfaßte. Zugleich erkannte man die Gefahren der Ausschweifung und Fehlleitung dieses Vermögens, die es zu erklären und einzudämmen galt. Mit der allmählichen Aufwertung der Einbildungskraft zu einem eigenständigen sinnlichen Vermögen der Seele überholte sich ihre Instrumentalisierung für moralische Zwecke wie auch ihre normative Behandlung nach rationalistischen Prinzipien. Fortan bereiteten jedoch ihre schwärmerischen und psychopathologischen Wirkungen enorme Schwierigkeiten. Wie war sie zu disziplinieren, wie mußte eine erfolgreiche >Schwärmerkur< in Angriff genommen werden? Doch das Schwärmerproblem3 und die Disziplinierung der freigesetzten Leidenschaften4 gehörte erst zu den Folgelasten der genauen psychologischen wie physiologischen Erforschung der Einbildungskraft, obwohl es auch Beispiele aus der zeitgenössischen schönen Literatur gibt. 5 In der wissenschaftlichen Literatur um 1750 wurde dieses Vermögen möglichst eng an die Empfindungen und Affekte gekoppelt, die als Mittel galten, die lebhaften Einbildungen zu vertreiben. Wenn man auch das Cartesische Mißtrauen gegen die Irrtumsanfälligkeit der sinnlichen Vermögen, die eine >cognitio clara et distincta< behinderten, überwunden hatte, konnte sich aufgrund der Positivierung der Sinnlichkeit der Gedanke einer >schöpferischenproduktiven Phantasies die sich eigene Realitäten schafft und sie ohne die Bindung an einen ontologischen Wahrheitsbegriff als legitim anerkennt, noch nicht durchsetzen. Vielmehr erreichte die Traktatliteratur um 1750 eine detaillierte und facettenreiche Bestimmung der psychophysiologischen Zusammenhänge der Einbildungskraft, die auch ihren pathogenen Auswirkungen einschloß. Dadurch entstanden erst die Voraussetzungen für ihre zentrale Bedeutung, die sie dann im letzten Jahrhundertdrittel

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Vgl. Sauder (1974), S. 137-147; Schings (1978), S. I43ff.; Riedel (1994), I28f.; Engel (1994); Heinz (1996), Kap. 4. Vgl. dazu M. Luserke (1995), Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart, Weimar, bes. Teil 3. Das Feld der literarischen Anthropologie ist nicht auf die Spätaufklärung beschränkt, obwohl sich dort am meisten Material findet und sich die Forschung — nach den Studien zur Empfindsamkeit von Sauder (1974) und zur Melancholie von Schings Ü977) ~ darauf konzentriert hat. Doch werden in der schönen Literatur anthropologische Fragen bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts thematisiert. Vgl. dazu etwa W. Mauser (1989), Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung. In: Lessing Yearbook XX, S. 87-120. Zur Schwärmerkur in Wielands Die Abenteuer des Don Sylvia von Rosalva (1764) vgl. W. Erhart (1991), Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands »Agathon«-Projekt. Tübingen, S. 62 — 73; J· Heinz (1994), Von der Schwärmerkur zur Gesprächstherapie — Symptomatik und Darstellung des Schwärmers in Wielands >Don Sylvio< und >Peregrinus ProteusWeltweisenArzneikunst< — zu ermitteln und damit grundsätzliche Bedingungen ihrer Funktion für Denken und Empfinden philosophisch aufzuklären. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts galt die Psychologie noch als Domäne der Metaphysik.7 In den metaphysischen Abhandlungen der Wolffschen Schulphilosophie fand sie ihren systematischen Ort neben Ontologie, Kosmologie und natürlicher Theologie. Innerhalb der Wolffschen Psychologie wurde die Einbildungskraft — wie die Sinne, die Dichtungskraft, der Witz, das Vorhersehungsvermögen etc. — zu den unteren Erkenntnisvermögen gerechnet. Hatten Wolff und sein Schüler Gottsched keinen Zweifel daran gelassen, daß die oberen Erkenntnisvermögen (Verstand, Vernunft) die unteren zu beherrschen hätten,8 wurde bereits von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) und dessen Lehrstuhlnachfolger in Halle, Georg Friedrich Meier (1718-1777), die Hierarchie der Seelenvermögen innerhalb des Wolffschen Systems umgekehrt.9 Der Primat der anschauenden, sinnlichen Erkenntnis vor der abstrakten fand Ausdruck in der durch Baumgarten neu begründeten philosophischen Disziplin der Ästhetik, die »analogen rationis« konzipiert wurde.10 Meier hatte in

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S.o., Teil II, Kap. I.i. und 1.2. Vgl. dazu den Forschungsüberblick von J. Jahnke (1990), Psychologie im 18. Jahrhundert. Literaturbericht 1980 bis 1989. In: Das achtzehnte Jahrhundert. 14.2, S. 253-278. " S.o., Teil I, Kap. II. 9 Vgl. Kondylis (1986), S. 562; M. Pott (1992), S. 326. 10 Vgl. dazu A. Baeumler (1975), Das Irrationalitätsproblem, Darmstadt, S. 188—197; U. Franke (1972), Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden, bes., 5.104—116; A. Nivelle (1977), Literaturästhetik der europäischen Aufklärung. In: W. Hinck (Hg.), Europäische Aufklärung I. Wiesbaden, S. 15 — 56, bes. S. 33f.; F. Gaede (1978), Poetik und Logik. Zu den Grundlagen der literarischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert. Bern, München; H.-M. Schmidt (1982), Sinnlichkeit und Verstand. München, bes. Kap. IV; F. Solms (1990), Kap. II; und M. Jäger (1980), Kommentierende Einführung in Baumgartens »Aesthetica«. Hildesheim, New York (= Philosophische Texte und Studien i), S. 33-40. 7

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seiner Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744) im Anschluß an die Metaphysik Wolffs, dem er diese Schrift widmete, und im Anschluß an die Metaphysik Baumgartens die Bedeutung der »anschauenden Erkenntnis« und »sinnlichen Gewißheit« 11 für die Erregung von Affekten hervorgehoben. Zudem hat er in dieser Schrift die Affektkontrolle der Philologie als Wissenschaft der symbolischen Erkenntnis überantwortet.12 So führte Meiers »Antiintellektualismus«, 13 indem er Tendenzen von Baumgartens Denken vor allem in seiner Ästhetik, den Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften (1748—1750), fortsetzte, zur Erweiterung der philosophischen Untersuchung der unteren Erkenntnisvermögen, der cognitio obscura, die im System von Leibniz und Wolff weitgehend unentwickelt geblieben war.14 Diese Erweiterung innerhalb der Metaphysik hatte nach 1750 die Herausbildung der Ästhetik und Anthropologie zu eigenen Fachdisziplinen zur Folge. Für diesen Ausdifferenzierungsprozeß übte die systematische Erforschung der unteren, als dunkel und verworren geltenden Erkenntnisvermögen eine konstitutive Funktion aus. Die psychologische Analyse der Einbildungskraft in der Frühaufklärung fand also zunächst noch unter der Domäne der Metaphysik statt. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts häuften sich die eigenständigen Abhandlungen, welche ausschließlich eine Untersuchung der Empfindungen, der Affekte oder der Einbildungskraft und der ihr zugeordneten Wirkungen wie Traum, Schlafwandeln oder Wahnsinn zum Gegenstand hatten. Doch überwogen um 1740 die systematischen, nur durch wenige Beispiele illustrierten Untersuchungen über psychologische Themen. Im Falle von Meier etwa wurde das Individuelle solcher Phänomene, trotz des starken Interesses am Dunklen der Seele, noch immer in ein rationales Schema eingepaßt. Parallel dazu setzte sich im deutschsprachigen Raum seit der Mitte des 18. Jahrhunderts allmählich auch das Interesse an individuellen Lebensgeschichten und Fallbeispielen, das Interesse am ganzen Menschen durch, wie es dann die empirisch-psychologischen Schriften seit den i78oer Jahren prägte und in Moritz' Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde seinen historisch prägnantesten Ausdruck fand. 15 Daß aber auch Moritz' Magazin von Anfang an der unlösbare Widerspruch zwischen der Sammlung von Fallge11

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Vgl. Meier (1971), Theoretische Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt. ND der Ausgabe Halle 1744. Frankfurt/M., §§ 57 — 58. Ebd., § 94. P. Kondylis (1986), S. 562. Vgl. H. Adler (1988), Fundus Animae - der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung. In: DVjs 62, S. 197 — 220, hier S. 198. Vgl. dazu die Studie von R. Bezold (1984), Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg. Bezold räumt dem medizinischen Kreis um Moses Mendelssohn in Berlin einen entscheidenden Einfluß auf die Bevorzugung von >psychischen Curen< bei Marcus Herz und Moritz ein (S. 116 — 135). Zu Herz vgl. Martin L. Davies (1995), Identity of History? Marcus Herz and the End of the Enlightenment. Detroit.

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schichten und dem Anspruch nach deren systematischer Einordnung in eine vollkommene Taxonomie begleitete, belegt schon ein Vergleich des Vorschlags zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde (1782) mit den beiden letzten Magazin-Bänden, in denen der neugewonnene Herausgeber, der Philosoph Salomon Maimon (1753 — 1800), eine Systematisierung der gesammelten Fälle anstrebte.' 6 In diesem Kontext der Erweiterung des Systems der Weltweisheit mit der allmählichen Herausbildung der Anthropologie und Ästhetik zu eigenen wissenschaftlichen Disziplinen ist die psychologische Auseinandersetzung und Erfassung der Einbildungskraft um 1750 zu sehen. Im Unterschied zum medizinischen Blick, der die physiologische Nicht-Unterscheidbarkeit von innerer und äußerer Empfindung feststellte (die Nerven sind blind) und die Pathologie der Einbildungskraft wie die Notwendigkeit von Therapiekonzepten erkannte, richtete sich der psychologische Blick auf die Ordnung der Vorstellungen, deren Gegenstandsbezug und damit deren Legitimität. Gleichzeitig finden sich jedoch in der Beurteilung von extremen Auswirkungen der Einbildungskraft Berührungspunkte zwischen Medizin und Psychologie. Problematisch für die psychologisch interessierten Philosophen war dabei das Verhältnis von gegenstandsbezogener Vorstellung und »leerer Einbildung«, von Realität und Schein, von Wahrheit und Irrtum. So hatte sich mit der Umkehrung der Erkenntnishierarchie um 1750 der Bezugspunkt für die Einbildungskraft geändert. Dem weiterhin bestehenden Problem ihrer Kontrollierbarkeit begegnete man nicht mehr mit ihrer Unterwerfung oder Annnäherung an die oberen Erkenntniskräfte, 17 sondern sie wurde nunmehr auf die Sinnlichkeit als Maßstab bezogen. Da man die sinnliche Grundlage der Einbildungskraft erkannt hatte, konnte für ihre Fehlleistungen eine zu schwach ausgebildete Sinnlichkeit verantwortlich gemacht werden. Das Programm, das sich daraus ableiten ließ, ist das einer sinnlich-ästhetischen Erziehung der unteren Erkenntniskräfte, wie es um 1750 von Meier und bald auch von Sulzer vertreten wurde. Im folgenden werden zwei unterschiedliche psychologische Ansätze dargelegt, den Zusammenhang der Einbildungskraft mit den Sinnen und Affekten zu deuten. Der eine stützt sich auf die willkürliche Kraft der Seele, mit der die sinnlichen Vermögen so konditioniert werden, daß sie ästhetische und ethische Normen erfüllen (Kap. II.i.)· Der andere betont die Schlüsselrolle der Einbil16

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Vgl. J. Osinski (1995), Karl Philipp Moritz: Zwischen empirischem Sensualismus und Vermögenspsychologie. Ein Theoriedefizit und seine Folgen. In: M. Fontius und A. Klingenberg (Hg.), Karl Philipp Moritz und das 18. Jahrhundert. Tübingen, S. 201—214; vgl. dazu die Respondenz von Verf., Aporien der Erfahrungsseelenkunde (a.a.O., S. 227-235). Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen. Selbst Meier, der zu den programmatischen Verfechtern einer psychologisch-genetischen Behandlung der Erkenntniskräfte und deren Ausbildung auf sinnlicher Grundlage gehört, gibt die Ansicht der Vormachtmachtstellung von Vernunft und freien Willen nicht auf.

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dungskraft für den >Trieb der Sympathies der als >moralischer Sinn< größtmögliches Vergnügen, vor einem bloß sinnlichen oder intellektuellen Reiz, zu bereiten imstande ist (Kap. II.2.). Beide Ansätze verfolgen eine Funktionalisierung des Vermögens für moralisch-ästhetische Zwecke. In den anschließenden Kapiteln soll aufgezeigt werden, wie um 1750 die reproduktive Einbildungskraft und das Gedächtnis unterschieden wurden (Kap. 11.3.) und wie die psychologische Erklärung des Traums als Produkt der Einbildungskraft zu einer Subjektivierung des bis zum 18. Jahrhundert noch überindividuell gedeuteten Traums führte (Kap. 11.4.). Sowohl in der Theorie des Traumes, dessen physische Determinierbarkeit nicht abgewiesen werden konnte, als auch in der Theorie des Gedächtnisses, das im Gehirn lokalisiert wurde, bestätigt sich für die wissenschaftshistorische Beobachterin, daß sich psychologische Überlegungen immer weniger von physiologischen Konzepten trennen ließen und damit einer Anthropologisierung der Einbildungskraft Vorschub leisteten. In solchen Diskussionen bereitete sich bereits die Etablierung der Anthropologie als Leitwissenschaft der Spätaufklärung vor.

i. Theorie der sinnlichen Erkenntnis und der Affekte bei Baumgarten und Meier In seiner Metaphysica1^ (1739) hatte Alexander Gottlieb Baumgarten die Einbildungskraft in ganz ähnlicher Weise wie Christian Wolff abgehandelt.19 Georg Friedrich Meier, dessen deutsche Übersetzung von Baumgartens Metaphysica 1766 erschien, entwarf auf der Grundlage der Schriften und Vorlesungen seines Lehrers die Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744). Baumgartens Bestimmung der Einbildungskraft läßt sich in wenigen Sätzen skizzieren. Wie Wolff ordnet er sie den sogenannten unteren, sinnlichen Erkenntnisvermögen zu (BM § 383) und definiert sie ebenfalls als Vermögen, sich abwesende, aber vorher empfundene Dinge vorzustellen (BM 414). Ihre Vorstellungen sind dunkel oder weniger klar als die Empfindungen (BM §§ 418, 424, 376), wobei die Intensität der Einbildung von dem Grad der Klarheit der vorausgegangenen Empfindung bestimmt wird. Die »Lebhaftigkeit« der Einbildungen kann durch Wiederholung (BM § 422) und durch die 18

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Die Angaben der §§ in ( ) mit der Sigle BM beziehen sich auf die deutsche Übersetzung Georg Friedrich Meiers mit dem Titel Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik (Halle 1766). Diese Übersetzung nach der ersten Auflage der Metaphysica (Halle 1739) stellt allerdings eine Bearbeitung dar, in die bereits veränderte Auffassungen Meiers gegenüber seinem Lehrer eingeflossen sind. Die für die Position der Einbildungskraft relevanten Paragraphen unterscheiden sich allerdings nicht nennenswert von dem lateinischen Original. S.o., Teil I, Kap. II.i.

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Verbindung mit »Nebenvorstellungen« (BM § 419) erhöht werden, wobei die Intensität auch stärker ist, wenn eine Vorstellung weniger lange zurückliegt als eine andere (BM § 420). Die Differenz von Empfindung und Einbildung kann demnach am Grad der Klarheit und an der »Verschiedenheit der Umstände« (BM § 421), mit denen die Vorstellung verknüpft ist, abgelesen werden. Die Übereinstimmung der reproduzierten mit der ehemaligen Empfindung, sofern der gegenwärtige Zustand der Welt vorgestellt wird (BM § 407), bezeichnet Baumgarten mit Wolff als »wahre Einbildung«, das Gegenteil als eine »leere« (ebd.)·20 Die Einbildungskraft verfährt nach der »associatio idearum« (BM 417), die dafür sorgt, daß ein Teil einer vergangenen Vorstellung wiederum die ganze Vorstellung evoziert.21 Als »Dichtungsvermögen« kann sie aber auch Teile verschiedener Vorstellungen zu einem Ganzen zusammenfügen. Diese »fictiones« (BM § 438) wären entweder >wohlgeordnete Erdichtungen (BM § 441) oder aber »Chimaeren«, »eitele Einbildungen« und damit Irrtümer (BM §§ 439~44°> § 437)· Auch der Traum ist Baumgarten zufolge von dieser Ambivalenz der Vorstellungen, die wahr oder falsch sein können, geprägt (BM § 442). Diese Definition ist aber noch weit entfernt von einer psychophysiologischen Erfassung des Traums, wie sie sich seit 1750 bei Ärzten und Philosophen durchzusetzen begann.22 Zur »facultas poetica« und ihrer >ausschweifenden< Wirkung gehörten auch das Schlafwandeln, die Schwärmerei und schließlich, als extreme Form, die »Verrückung« (BM § 443), wenn ein Wachender »seine Einbildungen für Empfindungen, und seine Empfindungen für Einbildungen hält« (ebd.). Obwohl Baumgarten im Unterschied zu Wolff das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs und das Prinzip vom zureichenden Grunde in den Ausführungen zur Einbildungskraft nicht erwähnt, legt er sie doch für die Bewertung von legitimen oder illegitimen Vorstellungen zugrunde (BM §§ 41—49). Wie Wolff unterscheidet er nämlich zwischen einer wohlgeordneten (»architectonica«, BM § 441), wahren Vorstellung und einer leeren, ausschweifenden, falschen Vorstellung, wofür die benannten Prinzipien als Maßstab gelten. Mit der Einbildungskraft ist demnach auch immer die Ambivalenz ihrer Wirkungen gegeben. Wie sie zu einer klaren, wenn auch nicht deutlichen Erkenntnis führen kann, ist sie auch in Gefahr, Dinge für übereinstimmend zu halten, die sich widersprechen (BM §43i), 23 oder Dinge zu verbinden, die nicht möglich sind (BM § 44o).24 Außerdem kann sie Sinnestäuschungen und

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Vgl. Wolff, DM § 242, § 246. Diese entspricht Wolffs »Regel der Einbildung«, DM § 238, § 799. S.u., Kap. 11.4. Der »Witz« ist das Vermögen, Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen der Dinge zu erkennen (BM § 426). In diesem Fall versagt der Witz, weil er Dinge für übereinstimmend hält, ohne daß sie es wirklich sind. Das wird dem Dichtungsvermögen zugeschrieben (BM §§ 438—441). 183

Vorurteilen erliegen (BM §§ 406—409), wie es schon der Hauptvorwurf der Cartesianer gegen die Sinnlichkeit war. Diese knappe Zusammenfassung zeigt, daß in den wenigen Paragraphen bei Baumgarten der Nutzen der Einbildungskraft für die sinnliche Erkenntnis den Nachteilen die Waage hält. Er vertieft in seiner Metaphystca die Erforschung der dunklen Seiten der Seele nicht mehr, als es Wolff vor ihm getan hatte. In der Aesthetica (1750/58) jedoch erreicht Baumgarten eine »philosophische Emanzipation des Sinnlichen«, wie es der Philosophiehistoriker Kondylis bezeichnet hat,25 indem er die »cognitio sensitiva« zu ihrem Hauptgegenstand erhob und diese zur Bedingung der höheren Erkenntnisvermögen machte. Eine solche Umwertung der Erkenntnishierarchie in Richtung einer »psychologischgenetischen Betrachtung« 26 läßt sich deutlicher noch bei dem BaumgartenSchüler G. F. Meier verfolgen. Bereits in seiner Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt (i744) 2? entwarf Meier eine psychologische Theorie der Einbildungskraft und zeigte ihre zentrale Funktion für die Erregung wie Mäßigung der Affekte auf. Baumgartens oft dunklen Propositionen des metaphysischen Lehrbuches steht Meiers weitschweifiger Stil, der die Erläuterung, lebendige Darstellung und Popularisierung der abstrakten philosophischen Lehrsätze zum Programm hat, gegenüber. Die genauere Untersuchung der unteren Vorstellungs- und Begehrungsvermögen, dem »Grund der Seele« (MA § 49, S. 50f.), hatte nicht nur die Erweiterung des Wolffschen Systems zum Ziel, sondern auch eine Pragmatisierung der Affektenlehre innerhalb der Aufklärung. In seiner Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt beschäftigt sich Meier fast ausschließlich mit der >dunklen ErkenntnisÜbung< und >Gewohnheit< ist ein Hauptaspekt von Meiers Affektenlehre angezeigt. Es gelte nämlich, die Affekte durch den freien Willen in die gewünschte Richtung zu lenken, wobei sich die theoretische Lehre als psychologische Fundierung eines solchen Gebrauchs versteht. Für die Affektkontrolle kommt der Einbildungskraft eine entscheidende Funktion zu, da sie nämlich eine Leidenschaft nach Belieben von neuem erregen und wiederholen kann, so daß sie endlich zur »Fertigkeit und Gewohnheit« wird (MA §§ 82, 79):52 Als Beispiele nennt hier Meier den Ekel vor einer bestimmten Speise oder einen unversöhnlichen Streit aufgrund einer Beleidigung. Der Aspekt der Habitualisierung von Affekten deutet aber gleichzeitig die dadurch begründete Unfreiheit an, wie sie sich etwa bei dem Melancholiker äußere, der sich daran gewöhnt habe, nur mit unangenehmen, verdrießlichen Vorstellungen umzugehen (MA §§ 122, 128, 130). Die von Meier im weiteren Text verfochtene Habitualisierung 53 der affektgebundenen Einbildungskraft setzt folglich bei den positiven, ästhetisch schönen und moralisch nützlichen Affekten an. Um den Zusammenhang von Affekten und Einbildungskraft zu klären, konzentriert er sich auf die Analyse des Gemütszustandes von starken, lebhaften 51

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Meier grenzt sich explizit von den widersprüchlichen Meinungen der »Arzneyverständigen« ab, indem er sich auf die Position der »Metaphysicus«, der nur von der psychologischen Seite der Temperamente handelt, zurückzieht (MA § 118). Er unterscheidet dabei vier Temperamente: ein »vernünftiges«, ein »sinnliches«, ein »lustiges und aufgeräumtes« und ein niedergeschlagenes und finsteres Temperament» (MA § 119, S. 182). Das letztere ist leicht als das herkömmliche Temperament des Melancholikers zu identifizieren, dem Meier auch besondere Aufmerksamkeit schenkt. Vgl. dazu M. Pott (1992), S. 328. Dies erläutert Meier: »Je öfter sie demnach entsteht, desto öfter ist sie möglich. [...] Die Gemüthsbewegung kan so tieffe Wurtzeln schlagen, daß die Seele einen solchen Hang bekommt, der sie auf eine merckliche Art zu der Leidenschaft [...] neigt.« (ebd.) Um die Einbildungskraft zu verbessern, heißt es, »müssen wir ihren Gewohnheitsschwung aufs genaueste kennen lernen.« (MS § 548, S. 72)

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Leidenschaften. Diese veranlaßten eine »grosse Verwirrung des Gemüths«, es werde »gleichsam der gantze Grund der Seele aufgewühlt« und wie von einem Blitzschlag getroffen (MA § 97, S. 139), manchmal sogar mit der Folge von Ohnmacht oder Tod. An einem verwirrten Gemütszustand sei vor allem die >ausschweifende< Einbildungskraft schuld, weil sie ein »Mischmasch [...], ein Chaos, in welchem tausend wider einander lauffende Vorstellungen begriffen sind, ein Chimäre« (MA § 99, S. 144) hervorbringe.54 Diese negative Allianz von Affekten und Einbildungskraft, die Irrtum und Verwirrung des Gemüts hervorrufen kann, sieht Meier in der quantitativen Veränderung der Realität: »Die Gesetze, nach welchen sich hier die Seele richtet, sind den optischen Regeln ähnlich. Unsere Erkenntnißkraft ist in den Leidenschaften ein Vergrösserungs- oder Verkleinerungsglas.« (MA § , S. 149) Interessant ist die daraus gezogene Folgerung: die Wirkung einer lebhaften, affektiven Einbildungskraft kann nämlich nicht nur zur Verwechslung von Empfindungen und Einbildungen führen, sondern sogar >Wahnwitz< oder >Raserei< zur Folge haben (MA § 102). Mit einem Zitat von Horaz - »Ira furor brevis est.« (ebd.) - sucht Meier zu verdeutlichen, daß jede Leidenschaft etwas von der extremen Form der Raserei enthält. Hierbei unterscheidet er aber zwischen Wahnsinn und Schwärmerei: während ein »Wahnwitziger und Rasender« nämlich seine Einbildungen »auf eine habituelle Art« als Empfindungen ansehe (ebd.),55 unterlägen der Phantast oder die »Enthusiastischen Seelen«56 nur einer temporären Verwechslung von Sein und Schein (MA §§ 129-130). Hierfür nennt er im dritten Teil seiner Philosophischen Sitten/ehre^7 (1753-1762) das Beispiel der Religionsschwärmer, »welche ihre Einbildungen für Eingebungen Gottes halten« (MS, § 555, S. 90). Die psychologische Konzeption der Einbildungskraft in der Sittenlehre, auf die hier noch kurz einzugehen ist, deckt sich im wesentlichen mit der Auffassung in der Lehre der Gemüthsbewegungen überhaupt. Sie wird lediglich um praktische Anweisungen zur moralischen Verbesserung der unteren Erkenntniskräfte 54

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Hieraus folgert er, daß eine solche Verwirrung nicht nur »die Mutter des Irrthums« (MA § 99, S. 144) sei, sondern auch der Grund für eine vorübergehende Identitätskrise des Menschen: »Er stimmt mit sich selbst nicht überein, und streitet wider sich selbst.« (ebd.) Konform zu Baumgarten bestimmt Meier die »Verrückung« oder Raserei als einen »höhere[n] Grad der Phantaserey« (MS § 555, S. 90); vgl. BM § 443. Der Enthusiasmus wird im Wolffianismus nicht klar von der Schwärmerei unterschieden, wie es Shaftesbury etwa in seinem A Letter Concerning Enthusiasm (1708) ausgeführt hat. Meier (1753-1762), Philosophische Sittenlehre. 4 Bde. Halle. Die einschlägigen Passagen zur Einbildungskraft finden sich im dritten Band, der im folgenden nach der 2. verb. Auflage von 1764 als MS mit Paragraph- und Seitenzahl zitiert wird. Meier beruft sich in der Vorrede auf den Vorbildcharakter der Ethica pbilosophica (Halle 1740) seines Lehrers A. G. Baumgarten. 191

erweitert,58 die mit der Tugend zu vermitteln sind. Hierfür fordert Meier genaue psychologische Kenntnisse. Zunächst schränkt er die Einbildungskraft auf ihre reproduktive Funktion ein, da die meisten Tugendvorstellungen auf der Erkenntnis vergangener Dinge beruhten (MS § 547, S. 70). In dieser Hinsicht versteht er sie auch als »Erhalter« unserer Erkenntnis, da sie im Unterschied zu den Sinnen für die zeitliche Dauer der Vorstellungen sorge (ebd., S. 71). Ausgehend von ihren möglichen negativen Auswirkungen gibt Meier nun drei praktische Regeln an die Hand, mit der die Einbildungskraft moralischästhetisch kontrolliert werden soll, um nicht ihr »Sklave« zu werden (MS §§ 543» 55°): *· »Man muß dem ersten Anfange der Ausschweifung der Einbildungskraft aufs geschwindeste vorbeugen, und sie [...] im Zaum halten«; 2. außerdem sind alle starken Leidenschaften zu vermeiden, die nach der Erfahrung das »Gemüth verrückt machen können« wie die Liebe oder die Melancholie; und 3. dürfe man »das Schwärmen der Einbildungskraft nicht, durch eine gar zu häufige Vorstellung phantastischer Fabeln und Erdichtungen, erhalten und vermehren.« (MS § 556, S. 92—94) Wie sehr diese Regeln auf eine moralische Reglementierung des ästhetischen Geschmackes angelegt sind, zeigt die daran anschließende Erläuterung: wer nämlich zu viel »Aufmercksamkeit« auf »Märchen, Hexenhistorien, ungereimte Gedichte, abgeschmackte Opern und Romane« richte, sei entweder schon ein Phantast oder befände sich auf dem besten Weg dazu (ebd.).59 Solchen »phantastischen« (ebd.) Elaboraten setzt Meier das positive Beispiel der tugendempfindsamen Romane seines Zeitgenossen Samuel Richardson entgegen.00 58

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Hier verweist Meier auf den zweiten Teil seiner Ästhetik, die Anfangsgründe aller schöner Wissenschaften (1748-1750), der ebenfalls auf eine Verbesserung der unteren Erkenntniskräfte angelegt ist (MS § 541); s.u. Kap. III.3. Die Sittenlehre jedoch zielt auf die moralische Seite solcher Verbesserungen. Dabei betont er die Bedeutung der »Empfindungen und Erfahrungen«, die »der Grund unserer gesamten übrigen Erkenntniß sind. [...] Taugen unsere Sinne nichts: so muß sich der Schade davon über unsern ganzen Willen, und durch das ganze System unserer Handlungen, zu unserm unausbleiblichen Verderben, verbreiten.« (MS § 542, S. jof.) Meiers Moralauffassung bestimmte auch die skeptische Beurteilung der zeitgenössischen Idyllik und Anakreontik, wie das am Beispiel der Anna Louisa Karsch gezeigt wurde. Vgl. S. Mödersheim (1995), »Auch die fruchbarsten Bäume wollen beschnitten sein«: Georg Friedrich Meiers Konzept der Einbildungskraft und Dichtungskraft und die Kritik an Anna Louisa Karsch. In: Verweyen (Hg.), Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Tübingen, S. 37 — 43. An dieser Stelle möchte ich Sabine Mödersheim für die vorzeitige Bereitstellung ihres Aufsatzes danken. — Positiver bewertet Theodor Verweyen Meiers Stellung zur Anakreontik, vgl. ders. (1989), »Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik«. Über das Konfliktpotential der anakreontischen Poesie als Kunst der »sinnlichen Erkenntnis«. In: Norbert Hinske (Hg.), Zentren der Aufklärung I: Halle und der Pietismus. Heidelberg, S. 209 — 238. Die gleiche Wertung findet sich in der Untersuchung, ob es erlaubt sey, Romainen zu lesen. In: Der Gesellige (1987). Eine Moralische Wochenschrift herausgegeben von Samuel

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Doch bei aller Kritik der Schwärmerei unterscheidet er einen guten von einem schlechten Enthusiasmus, bezieht man die von Meier und seinem Kollegen S. G. Lange herausgegebene Moralische Wochenschrift Der Gesellige in die Diskussion moralisch-ästhetischer Normen mit ein. In dem 182. Stück »Von der Enthusiasterey« 6 ' beschreibt der Autor verschiedene Arten dieser »Krankheit« (343, 352), vor der niemand gefeit sei. Sie bezieht sich vor allem auf die Religion (350), auf bestimmte moralische Werte wie Liebe, Freundschaft, Gerechtigkeit sowie auf äußere Faktoren wie Stand, Geburtsort, Nationalität, und ist nicht mit der als »edel« geltenden, hier nicht weiter differenzierten »poetischen Enthusiasterey« zu verwechseln (351). Die Anzeichen dieser Krankheit sind »blinder Eifer« (343), Unwissenheit, Handeln aus »confusen« Vorstellungen (351), Festhalten an angenommenen Meinungen und Vorurteilen (ebd.), wobei die »Erziehung« den »allergrösten« Einfluß ausübe (352). Der Ratschlag, der hier den Leserinnen und Lesern gegeben wird, appelliert an die »Herrschaft über die sinnlichen Kräfte der Seele«: nur »Weisheit und Klugheit« könnten den Enthusiasten mäßigen und von der Sklaverei seiner Leidenschaften befreien (ebd.). Hier empfiehlt der Autor, die >Krankheit< der Enthusiasterei der oberen Erkenntniskräften des Menschen zu unterstellen. Die Verbindungen von Psychologie, Ästhetik und Morallehre sind insofern interessant, als Meier diese Bereiche programmatisch getrennt abhandelte, nicht ohne die Ergebnisse aus der einen Untersuchung für die nächste heranzuziehen. So ist seine Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt als wichtige Voraussetzung seiner Anfangsgründe der schönen Wissenschaften anzusehen/" Die Philosophische Sittenlehre gründete auf die theoretische Affektenlehre und die Ästhetik und machte damit die zuvor ausgeschlossenen Gebiete zum Gegenstand. Die Thematisierung der Einbildungs- und Dichtungskraft als unteren Erkenntnisvermögen in ganz verschiedenen Kontexten - auch in seiner Metaphysik (1757) hatte er diesen einige Paragraphen vorbehalten — kennzeichnet die Spezialisierung der Wissenschaften, wie sie durch Person und Werk Meiers entschieden vorangetrieben und repräsentiert wurde. s

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Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier. 6 Tie. ND der Ausg. Halle 1748-1750, Bd. V (1750), 200. St., S. 113-120. Vgl. Der Gesellige, Bd. IV, 182. St.: Von der Enthusiasterey, S. 343-352. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden in ( ) im Text zitiert. S.u. Kap. III.3. Zu diesem Programm gehören ebenfalls die vier Moralischen Wochenschriften, die Meier mit seinem Hallenser Kollegen Samuel Gotthold Lange in den Jahren zwischen 1748-1768 herausgab. Mit ihnen betrieben sie eine Popularisierung der Wissensbestände, indem sie neben moralisch-lebenspraktischen Fragen sowohl religiöse als auch literarisch-ästhetische und anthropologische Themen behandelten. Vgl. dazu die Studie des Herausgebers der Neudrucke von den Moralischen Wochenschriften Der Mensch und Der Gesellige W. Martens (1968), Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart. 193

Stellt man die popularphilosophisch ausgerichteten Moralischen Wochenschriften neben die anderen Abhandlungen Meiers, läßt sich feststellen, daß er ein doppeltes Programm zur Kontrolle der Einbildungskraft vertritt: einmal betont er stärker die Autorität der rationalen Kräfte, das andere Mal redet er der psychologisch geschulten Konditionierung der sinnlichen Erkenntnis und der Affekte das Wort.64 Doch in beiden Varianten ist die entscheidende Voraussetzung, daß die Tätigkeiten der Einbildungskraft willentliche »Handlungen der Seele« sind, daß also auch den unteren Seelenkräften die Abänderung der psychischen Disposition jederzeit möglich ist. Die Techniken der Affektbeherrschung und der Konditionierung der sinnlichen Kräfte setzen Selbsterkenntnis und Kenntnis der menschlichen Psyche voraus. So kommt Meier zu der optimistischen Annahme, daß selbst die unwillkürlichen psychischen Prozesse wie Träume oder starke Affekte letztlich der Herrschaft des freien Willens unterstellt werden könnten/' 5 Die Aufwertung der Einbildungs- und Dichtungskraft als sinnlichen Erkenntnisvermögen bedeutet demnach nicht auch deren >BefreiungGemütszustände< in den verworrenen, dunklen Bereich der Seele, den es zu verbessern galt. Das Verworrene und Dunkle der Seele wurde als Bedingung für die Entstehung von Lust und Leidenschaft anerkannt, aber ebenso für die »Psychologisierung des Schönen«66 im Bereich der Ästhetik und Poetik genutzt. Die propagierte Ausbildung und Verbesserung der sinnlichen Erkenntniskräfte weist bereits in Richtung einer ästhetischen Erziehung^ wie sie Meier dann in seiner Ästhetik verfolgt hat.6"7 64

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Hier ist eine Parallele zur Halleschen >Psychomedizin< um 1750 zu sehen. So schreibt Krüger der Affektkontrolle in medizinisch-diätetischer Hinsicht — entgegen der stoizistischen Unterdrückung der Affekte — einen zentralen Wert zu, wobei er die »Eigenliebe« als moralischen Maßstab zugrundelegt. Vgl. Krüger (1763), §§ 132 — 136, S. 389-404. In diesem Punkt verwendet er parallele Argumentationsgänge in der Affekten- und der Sittenlehre: Obwohl die Affekte nur mittelbar von der Freiheit abhingen (MA §§ 206—207), könne die Seele trotzdem nach Belieben eine Leidenschaft in sich erzeugen, vergrößern oder schwächen und unterdrücken, sich zur Gewohnheit machen oder ihre Hauptneigung ändern (MA §§ 213 — 218). Ähnlich heißt es in der Sittenlehre, daß es »unleugbar« Träume gebe, die »gar nicht von unserem freyen Willen abhangen«. Da aber die Einbildungskraft im Wachen dem freien Willen unterstehe und diese die Ursache der Träume sei, könne die Wirkung durch die »Einrichtung und Beschaffenheit der Einbildungskraft« mittelbar bestimmt werden (MS § 551, S. 79—80). Vgl. A. Martino (1977-79), Emotionalismus und Empathie. Zur Entstehung bürgerlicher Kunst im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 81-83, S. 117 — 130, hier S. 124. S.u. Kap. III.3.

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Dieser Auffasssung einer Konditionierbarkeit durch die willkürliche Kraft der Seele wird bereits in den Akademie-Abhandlungen Sulzers widersprochen. Sulzer ist gleichermaßen dem Wolffianismus zuzurechnen, 68 nimmt aber auch andere Einflüsse der englischen moral sense-Theorie sowie des Stahlschen nervenphysiologischen Konzeptes auf, womit er ansatzweise die Macht von willkürlichen, unbewußten Neigungen in das psychologische Modell integriert.

2. Theorie der Lust bei Sulzer und Mendelssohn In einem kurzen Text von ~/6^9 verläßt Sulzer die bis dahin akzeptierten Grenzen der Vorstellungspsychologie Wolffs, indem er der »vis repraesentativa« die Empfindung als eigenes Vermögen entgegensetzt (SV 229). Gleichwohl kann sich Sulzer nicht ganz von der Wolffschen Terminologie verabschieden, wenn er die Empfindung als Zustand verworrener Vorstellungen charakterisiert (SV 23o).7° Sie gehört zu den unteren Vorstellungskräften, wenn etwa der Grad der Verworrenheit über die Lebhaftigkeit der Empfindung entscheidet. 7 ' Sulzer zufolge läßt sich jedoch aus der Empfindung nicht auch das Bewußtsein über die Beweggründe unserer Lust und Unlust ableiten: Wir empfinden das Verlangen, oder den Abscheu, ohne zu wissen warum; wir werden von Kräften in Bewegung gesetzt, die wir nicht kennen. Es ist also nicht möglich, nfi 69

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Auch er ist dem Wolffianismus zuzurechnen; vgl. L. W. Beck (1969), S. 286-288. Vgl. Sulzer (1974), Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet. In: ders., Vermischte philosophische Schriften. [ND der Ausgabe Leipzig 1773] Hildesheim, New York, S. 225 — 243, zitiert wie bisher als SV mit Seitenzahl. Die Erregung von starken Empfindungen basiert wie im Wolffianismus auf verworrenen Vorstellungen: »[...] weil die Empfindung allezeit durch eine große Menge von Vorstellungen hervorgebracht wird, die alle auf einmal wirken, und folglich nothwendig verworren sind.« (SV 240) Die Wolffsche Terminologie ist auch in der folgenden Formulierung übernommen: »Denn es ist offenbar, daß man der Empfindlichkeit des Herzens um so viel fähiger ist, um so viel mehr Fertigkeit man hat, die Gegenstände auf eine anschauende Art zu erkennen [...].« (SV 241) Allerdings bestimmte Sulzer zuvor die Empfindung als »eine Handlung der Seele, die mit dem Gegenstand, der sie hervorbringt, oder veranlasset, nichts gemein hat.« (SV 229) — Aus diesem Grund ist der These von W. Riedel, daß mit dieser Schrift von 1763 der »Bruch« mit Wolff vollzogen sei, nur eingeschränkt Recht zu geben; vgl. Riedel (i994a), S. 415. Bei Sulzer wird die Redeweise von den verschiedenen oberen und unteren Seelenvermögen zugunsten der zwei Hauptvermögen von Erkennen/Nachdenken und Empfinden vereinfacht. Doch seien diese durch einen mittleren Zustand, den »Zustand der Betrachtung« (SV 236; im Original hervorgehoben), verbunden, der sowohl die Gegenstandserkenntnis als auch die Selbstbezüglichkeit einer Empfindung sichert. Ein solcher entstehe »wahrscheinlicher Weise aus einer beständigen und schnell aufeinander folgenden Abwechslung des Nachdenkens und des Empfindens« (ebd.). 195

ihnen geradezu zu widerstehen. Wir fühlen die Wunde, ohne den Pfeil zu sehen, der uns verwundet hat. Es ist also gewiß, daß der Mensch nicht Herr über die ersten Bewegungen seiner Seele ist. Es bleibt ihm nicht die geringste Freyheit übrig, zu empfinden, oder nicht zu empfinden. [...] Ich schließe hieraus, daß die Empfindungen und ihre unmittelbaren Folgen unwillkührliche Handlungen der Seele sind. (SV 241 f.)

Durch eine Empfindung erlangen wir nicht die Erkenntnis eines Gegenstandes der Außenwelt wie beim »Nachdenken«, dem anderen Hauptvermögen der Seele, denn »bey der Empfindung ist die Seele bloß mit sich selbst beschäfftiget.« (SV 2290 Nachdenken oder Erkennen bedeutet demnach Selbstvergessenheit, Empfinden hingegen Selbstbezogenheit ohne Gegenstandserkenntnis. Die Folgerung, die Sulzer daraus zieht, steht konträr zu dem Aufklärungsideal einer unumschränkten Affektkontrolle durch die Vernunft, wie sie auch Meier noch - trotz der Aufwertung der sinnlichen Erkenntnis und der Leidenschaften - vertreten hat. Die Moralvorstellung, daß es in der Freiheit des Menschen liege, nach deutlich eingesehenen Gründen handeln zu können, wird unterlaufen durch die Tatsache, daß es dem Erkennen unzugängliche Beweggründe des Handelns gibt, die ebenso zur Natur der Seele zu rechnen sind, Daraus folgt, daß eine Moralerziehung, die an die menschliche Vernunft appelliert, weniger erfolgversprechend ist als eine direkte Einwirkung auf die Empfindungen und Leidenschaften des Menschen - eine Erziehung, die Sulzer in seinen späteren Schriften der Dichtung und Kunst überträgt.72 Die Notwendigkeit einer ästhetischen Erziehung wird demnach bei Sulzer und Meier aus unterschiedlichen Voraussetzungen abgeleitet,73 wenn auch die psychologischen Mittel sehr ähnlich sind. Grundlage dafür bietet Sulzers Theorie des Vergnügens, die er vor allem in seiner Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen1* (1751/52) entwickelt hat.75 Obwohl er darin die unwillkürlichen Handlungen der Seele nicht als Problem erörtert,76 liefert er doch Ansätze zu dessen Bearbeitung: Denn Sulzer zieht den psychophysischen Mechanismus der sinnlichen Lust in Betracht und stellt zudem die moralische Empfindung der

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Eine ästhetische Erziehung verfolgt Sulzer vor allem in seinem Hauptwerk Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771-1774). Vgl. dazu Riedel (19943), S. 410-439 und Diskussionsbericht, S. 548f. Denn bei Meier steht die willkürliche Kraft der Seele im Vordergrund. Zitiert wie bisher als SV mit Seitenzahl. Die kleine Schrift Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen von 1754 baut auf dieser Abhandlung auf und versucht die Theodizeeproblematik durch die Fähigkeit des Menschen zur »Vervollkommnung« bis zu einer »künftigefn] Glückseligkeit« zu lösen. Vgl. Sulzer (1974), Vermischte philosophische Schriften, S. 323-347, hier S. 347. Eine Disjunktion zwischen Erkennen und Empfinden als Voraussetzung der Disjunktion von Sein und Sollen zeichnet sich in dieser Abhandlung noch nicht ab.

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Sympathie ins Zentrum der unreflektierten »Neigung zur Tugend« (SV 91). Wenn er in dieser Abhandlung eine Synthese von Sinnlichkeit, Intellektualität und Moralität in Bezug auf das allgemein verbindliche Gute und Schöne anstrebt, scheint er sich an der klassizistischen Ästhetik zu orientieren. Dem widersprechen jedoch, wie es bereits dargelegt worden ist,77 seine psychophysiologische Fundierung des sinnlichen Vergnügens sowie die englische moral senseTradition des Sympathie-Begriffes, an die Sulzer hier anknüpft. Im Unterschied zu Meier legt er Affekttheorie, Ästhetik und Sittenlehre nicht getrennt dar, sondern zeigt an der Entstehung des Vergnügens - gleichgültig ob es ein intellektuelles, moralisches oder sinnliches ist —, daß es sich auf ein und dieselbe Natur des Menschen bezieht (SV 91—93). In diesem Zusammenhang behandelt Sulzer die Einbildungskraft als sinnliches Vermögen. Was sein Konzept der Einbildungskraft interessant macht, ist die Verbindung mit dem Begriff der Sympathie, die eine unwillkürliche Seite hat: Die sympathetische Beziehung zu moralischen oder ästhetischen Gegenständen setzt die Tätigkeit der Einbildungskraft voraus, indem diese ermöglicht, daß man sich in eine andere Situation oder in eine andere Person hineinversetzen und diese Vorstellung auf sich selbst beziehen kann. Trotz des gleichen Ursprungs der sinnlichen, intellektuellen und moralischen >Vergnügungen< entwirft Sulzer eine Hierarchie der verschiedenen Arten des Vergnügens, wobei er das moralische als das höchste bewertet.78 Dieses sei nämlich im Unterschied zu der intellektuellen Lust auf Dinge bezogen, »die in die Sinne fallen, und mit der Glückseligkeit in unmittelbarer Verbindung stehen« (SV 97f.). Außerdem ist das Vergnügen »für Jedermanns Fähigkeiten«, weil es »nur allgemein und leicht zu erwerbende Eigenschaften des Geistes« erfordert, ohne »viel Studium und Kenntniß« zu verlangen (SV 97). In dieser Hinsicht hat es einen dopppelten Vorzug vor der sinnlichen und intellektuellen Lust. Denn die sinnliche Lust erfreut nur für die Dauer des Sinnenreizes »eine ununterbrochene Folge von Stößen oder Schlägen« (SV 56) —, während 77 78

S.o., Teil II, Kap. 1.1.4. Die Hierarchie der verschiedenen »Vergnügungen« werden in den Vergleichen am Ende des dritten (SV 74-77) und vierten Abschnitts der Abhandlung (SV 97f.) deutlich. Ein Problem von Sulzers erster Akademieabhandlung ist jedoch, daß er die psychophysiologisch so genau beschriebenen »sinnlichen Vergnügungen« nicht auf die moralischen und intellektuellen bezieht. D.h., die psychophysische Theorie des sinnlichen Vergnügens gilt nicht auch für die beiden anderen Arten, was durch die Hierarchie der >Vergnügungen< befestigt wird. Die Frage, wie die drei Arten des Vergnügens, die aus derselben Natur der Seele entspringen, zusammenwirken, und ob sie letztlich alle auf die intellektuelle Natur oder auf den psychophysischen Mechanismus zurückführbar sind, bleibt unbeantwortet. Demgemäß wurde der letzte Abschnitt in Sulzers Abhandlung über die »moralischen Vergnügungen« sowohl als Intellektualisierung des Vergnügens interpretiert (vgl. Riedel (19943), S. 4I4Ü als auch als dessen Physiologisierung (vgl. Proß (1994), S. 141). S.o. Teil II, Kap. 1.1.4. 197

»[djie intellektuellen Vergnügungen nothwendig Kenntnisse, Reflexion, überhaupt Bildung des Geistes, und einen unaufhörlichen Fortgang von einem Grade der Einsicht zum ändern voraussetzen].«79 Die intellektuellen Vergnügen seien deshalb zwar die »anziehendsten und dauerhaftesten« (SV 14), doch neigten sie letztlich zu Spekulationen, die den Menschen kalt ließen (SV 97). Wichtig aber ist, was den Menschen rührt und auch länger als für einen Augenblick zu rühren vermag. An dieser Stelle bringt Sulzer die Einbildungskraft ins Spiel, indem er sie von dem Gedächtnis, das er interessanterweise dem Intellekt zuordnet,80 absetzt: Kann das Gedächtnis die »intellektuellen Ideen [...] mit ihrer ursprünglichen Klarheit darstellen« (SV 02f.) und dadurch das Vergnügen dauerhaft machen (SV SV 76), gelingt dies der Einbildungskraft nicht. Sie ist vielmehr den sinnlichen, aber auch den moralischen Empfindungen (Mitleid, Hoffnung, Furcht etc.) zugeordnet. Genossene sinnliche Vergnügen kann sie nur schwach und schattenhaft wiedergeben (SV 76), zudem wird deren Wiederholbarkeit umso schwieriger, je gröber die Sinne, je dunkler und lebhafter die Vorstellungen sind. Moralische Empfindungen hingegen kann die Einbildungskraft ebenso lebhaft werden lassen, als ob sie wirklich wären. Damit bezieht Sulzer die Lebhaftigkeit der Einbildungen auf die moralischen Empfindungen und Affekte. Nur Empfindungen von Gut und Böse können die Vorstellungen so intensivieren, daß sie wie gegenwärtige Empfindungen wirken. Diese Auffassung hat zwei Konsequenzen: Die reproduzierten Empfindungen, sollen sie (ästhetisch) rühren, müssen moralisch besetzt sein; die sinnlichen und intellektuellen Vergnügen hingegen stehen der moralischen Lust an Intensität nach, weil die einen zu schwach seien und die anderen kalt ließen. Die Ausführungen Sulzers zur »Neigung der Tugend« (SV 91) gelten dem Trieb zur Sympathie, zur Teilnahme an den Belangen des anderen, die ebenso »ohne alle vorhergegangene Überlegung«01 (SV 85) funktioniere wie der Selbsterhaltungstrieb (SV 24, 91). Für die Lustempfindung angesichts eines Guten, auch wenn es sich auf eine andere Person bezieht, ist also der Aspekt der Reflexion nicht entscheidend. Trotzdem müsse der moralischen Empfindung eine deutliche Vorstellung vorausgehen: Die deutliche Idee eines Guts muß nothwendig eine angenehme Empfindung erwekken, auch wenn uns selbst dieses Gut nicht gehört [...].

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So faßt er den zweiten Abschnitt über die »intellektuellen Vergnügungen« prägnant in dem bereits genannten »Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen« zusammen (SV 329). In diesem Punkt weicht Sulzer von der Psychologie Wolffs entscheidend ab, da Wolff und seine Schüler das Gedächtnis lediglich als unteres Erkenntnisvermögen zur Wiedererkennung der durch die Einbildungskraft reproduzierten Ideen betrachteten. Dieses Zitat ist im Original hervorgehoben.

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Wenn wir auf uns selbst wohl Achtung geben, so beobachten wir, daß die Ideen abwesender Dinge eine ähnliche Wirkung auf uns thun, als die Dinge selbst, die sie vorstellen, thun würden. Wenn man sich einen gefährlichen Seesturm recht lebhaft einbilden kann, so empfindet man etwas dem Schrecken ziemlich Ähnliches; und je deutlicher die Einbildung, desto stärker auch die Empfindung. Eben das widerfahrt uns mit allen moralischen Ideen. [...] Weil also die Idee eines Guts oder Übels eben die Eindrücke auf uns macht, als das Gute oder Übel selbst [...], so ist deutlich, da[ß] auch das Gute anderer Menschen, vermöge seiner Natur die angenehme, und ihr Übel die unangenehme Empfindung in uns erregen muß. Woraus die Wahrheit meines Grundsatzes erhellet: daß wir einen natürlichen Hang haben, an dem Guten und Übel anderer Theil zu nehmen. (SV 85f.) Sulzer verbindet an dieser Stelle die Wolffsche Affekttheorie, wonach Affekte die Folge von Vorstellungen sind, mit der moral sense-Auffassung englischer Provenienz.82 Dies führt jedoch zu einem Widerspruch: Obwohl sich die moralische Neigung zur Sympathie unreflektiert einstellen soll, wird ihr doch eine deutliche Vorstellung zugrundegelegt.83 Was Sulzer zu erklären versucht, ist die Wirkung von abwesenden Dingen auf die moralischen Empfindungen, wobei der Einbildungskraft eine Schlüsselrolle zukommt. Sie kann nämlich so lebhafte Vorstellungen hervorbringen, daß sich die dadurch erzeugten Empfindungen und Affekte von realen Eindrücken nicht mehr unterscheiden lassen. Und eben diese Setzung von nicht realen oder fiktiven Gegenständen, also ob sie wirklich seien, wird bei der moralischen Neigung für die glückliche oder unglückliche Situation einer anderen Person wirksam.84 Moralische Empfindungen beruhen demnach nicht auf unmittelbaren Eindrücken, sondern setzen immer schon Vorstellungen von etwas voraus. Entscheidend in diesem Kontext ist Sulzers Folgerung, daß das Gute durch dieselben Kräfte wie das Schöne Empfindungen und Affekte in uns errege. Denn beide beschäftigten die Kräfte der Seele, die entweder »zu einer lebhaften H2

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Vgl. dazu die Studie von W. H. Schrader (1984), Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume. Hamburg (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Bd. 6). In der Redeweise von »deutlichen Vorstellungen« ist Sulzers Auffassung vorausgesetzt, daß nur solche durch die Einbildungskraft auch wieder lebhaft werden können. Wenn er behauptet, daß zur Erzeugung der »moralischen Empfindungen« »die Aufmerksamkeit und die Klarheit der Ideen« (SV 93), »das Nachdenken« (SV 94) und der »Scharfsinn« (SV 95) notwendig seien, widerspricht das seiner zuvor geäußerten Ansicht, daß die sympathetische Neigung und die damit verbundenen Ideen auch »wider Willen« (SV 87) und »ohne vorhergegangene Überlegung« (SV 85), also unwillkürlich entstehen können. Auch Malebranche hat im zweiten Buch seiner Recherche de la verite'(1774— 1778) die Verbindung der Einbildungskraft mit dem Trieb zur Nachahmung und zur Mitempfindung dargelegt, diese gleichwohl materiell aufgefaßt und der notwendigen Kontrolle der Vernunft unterstellt (s.o. Teil I, Kap. IV. 2), während in Sulzers Seelenmodell die Hierarchie zugunsten einer ursprünglichen Moralität aufgehoben ist. 199

Wirksamkeit gereizt« oder aber gehindert würden (SV 18), wodurch eine angenehme oder unangenehme Empfindung entstehe. Mit anderen Worten: Die Seele unterscheidet nicht zwischen moralisch gut oder ästhetisch vollkommen, da in jedem Fall ihre Vorstellungskraft und ihre Triebfedern beschäftigt werden müssen, um lebhafte Empfindungen und Leidenschaften hervorzurufen.85 Es ließe sich weiter folgern: Nicht die tatsächliche Beschaffenheit eines Gegenstandes, einer Begebenheit oder einer Situation verursachen die Lust oder Unlust, sondern diese wird durch das Maß bestimmt, in welchem die Seele — aufmerksam auf einen Gegenstand - zur Ausübung ihres Tätigkeitsstrebens gereizt wird oder nicht. Die Seele wird beschäftigt, wenn man bei einer ins Auge gefaßten Idee »auch wider Willen in eine ganze Reihe von Ideen hineingezogen [wird], die mit dem Hauptgegenstande in nothwendiger Verbindung stehen« (SV Sy).86 Zur Genese des Vergnügens muß Sulzer zufolge die Mannigfaltigkeit der Ideenverbindungen auch auf eine Einheit bezogen werden können (SV 35), um nicht der Relativität der moralischen und ästhetischen Lust Vorschub zu leisten (SV 43-45). Das Schöne wie das Gute werden also aus der einheitlichen Natur der Seele abgeleitet, woraus folgt: »daß die Beziehung, welche die Schönheit auf den Geist hat, nothwendig und mithin unveränderlich ist« (SV 46).8y Kenntnisse und Bildung, deren Unterschiedlichkeit allein durch die vorhandene Relativität des Geschmacks erzeugt würden, veränderten nicht das Wesen des Schönen und seine Wirkung auf den menschlichen >Geistvermischten< oder »schmerzhaftangenehmen Empfindungen«, an denen auch die Einbildungskraft mitwirkt. 92 Für die Entstehung des ästhetischen Vergnügens, das nicht nur »Einheit«, sondern vor allem »Übereinstimmung im Mannigfaltigen« erfordere (85) - in diesem Punkt kritisiert er Sulzers Schönheitsbegriff93 - weist Mendelssohn der Einbildungskraft eine konstitutive Rolle zu. Da sie die Fähigkeit hat, die durch den Verstand deutlich aufgefaßten Teile und Verhältnisse einer Sache aufeinander zu beziehen und zu einem Ganzen zu ordnen (51), ermöglicht sie, die Einheit des Mannigfaltigen zu erkennen, was Lust bereitet: »Die Einbildungskraft kann eine jede Schönheit zwischen die gehörigen Grentzen gleichsam einschränken, indem sie die Theile des Gegenstandes so lange erweitert, oder zusammenziehet, bis wir die erforderliche Mannigfaltigkeit auf einmal fassen können.« (ebd.) Schon hinsichtlich dieser ordnenden, synthetischen Funktion ist ein deutlicher Unterschied zu Sulzers Auffassung zu sehen. Mendelssohn bezieht die Einbildungskraft auf die »sinnliche

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Vgl. den i.-8. und io.-i2. Brief. Vgl. den 9. und 13.-15. Brief. Dieses Problem wird hier jedoch nicht behandelt. Im »Beschluß« der Schrift, S. 107-111. Das Prinzip der »Einheit im Mannigfaltigen« gelte aber nur für die »sinnliche Schönheit« (59, 85), die »göttliche Vollkommenheit« hingegen erfordere auch »Übereinstimmung, Einhelligkeit« (ebd). In diesem Punkt kritisiert Mendelssohn Sulzers Konzeption des ästhetischen Vergnügens, da dieser mit der Einheit vor allem »Leichtigkeit in der Beschäftigung« (56, 128) meinte. So hat es Mendelssohn auch in seinem Entwurf Von dem Vergnügen (a.a.O., S. 127 — 131) gedeutet. Sulzers Ansicht legt er als »Schwachheit« des Schönen (57) aus, die der Vollkommenheit aber nicht zukommen könne und dürfe. Deshalb stellt er der Einheit oder dem »Einerley« (85) die »Einhelligkeit des Mannigfaltigen« qua Vollkommenheit gegenüber, in der Spannung oder Tonus beinhaltet sei. Hier beruft sich Mendelssohn auf Leibniz und die »Arzeneygelehrten« (130), womit er auf den Stahlianismus anspielt. Belegt wird das zudem durch die positive Erwähnung J. G. Krügers (ebd.), auf den sich allerdings auch Sulzer als Gewährsmann für seine psychophysiologische Theorie des Vergnügens stützt. Sieht man von diesen Spitzfindigkeiten ab, ist Mendelssohn der Position Sulzers näher, als er vielleicht zugeben möchte. Denn auch die dreifache Quelle des Vergnügens: »sinnliche Schönheit«, »Vollkommenheit« und »sinnliche Lust« (85) weist eine große Ähnlichkeit zu Sulzers Auffassung der drei Arten der Vergnügungen (intellektuelle, moralische und sinnliche) auf, die zudem in der Sympathie als »Neigung zur Vollkommenheit« bei Sulzer und dem Mitleid als vermischter Empfindung bei Mendelssohn gipfeln. Allerdings ist Mendelssohn stärker an den rationalen Normen Leibniz' und Wolffs (Prinzip vom zureichenden Grunde und des ausgeschlossenen Widerspruchs; vgl. 6of., 65—67) orientiert. — Allerdings ist in dem Konzept der vermischten Empfindungen auch der Einfluß von Dubos' subjektivistischer Kunsttheorie zu erkennen, auf den Gerhard Sauder hingewiesen hat; vgl. ders. (1982), Mendelssohns Theorie der Empfindungen im zeitgenössischen Kontext. In: Lessing Yearbook Suppl.: Humanität und Dialog, S. 237-248.

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Schönheit« (59), auf das »Einerley im Mannigfaltigen« (58),94 das aber von der Vollkommenheit unterschieden ist. Mit Wolff bestimmt er »das reine Vergnügen, [. . .] die Lust« als die »anschauende Erkenntniß einer Vollkommenheit« (66), die dem Prinzip des zureichenden Grundes zu gehorchen habe (65). Doch im Briefwechsel über das Trauerspiel (1756/57) revidiert Mendelssohn diese Ansicht und gibt Lessings These Recht, daß man ästhetische Lust auch an unvollkommenen, häßlichen Gegenständen empfinden könne, sofern sie als Fiktionen die anschauende Erkenntnis reizten.95 In den Briefen über die Empfindungen betrachtet Mendelssohn die Einbildungskraft auch unter einem psychophysischen Aspekt. Wird die »sinnliche Wollust« durch Nervenbewegungen verursacht, so wird der »angenehme Affect« nicht durch einen äußeren Gegenstand erweckt, sondern er »entstehet im Gehirn selbst« (ebd.): Die Vorstellung einer geistigen Vollkommenheit, die Erinnerung einer genossenen sinnlichen Lust, und die Einbildung, die bey dieser Gelegenheit tausend andere angenehme Empfindungen in das Gedächtniß zurück führen, ordnen die Fasern des Gehirns in den gehörigen Ton [. . .]; das Gehirn theilt diese harmonische Spannung den Nerven der übrigen Gliedmassen mit; der Körper geräth in den Zustand der Behaglichkeit [. . .]; der Mensch geräth in einen angenehmen Affect. Daher die Wallung des Geblüts! Daher die mannigfaltigen Bewegungen der Gliedmassen, die du [. . .] in den Stande der Affecten bemerkt hast!

Mendelssohn sieht wie Sulzer eine Konsonanz96 von sinnlicher Empfindung und Nervenbewegung, die sich auf den ganzen Körper auswirke (91). Der erfolgende Zustand »einer holdseligen Eintracht« - bei Sulzer hieß es »holde Wehmuth« 97 - wird durch die Vorstellung einer sinnlich-geistigen Übereinstim94

Dem Dichter wird geraten, die Regeln »nur gleichsam von Ferne auf seine Einbildungskraft wirken« zu lassen (55), da die Begriffe im ästhetischen Genuß nicht deutlich sein müßten. 95 Vgl Lfssings Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel (Hg. und erl. v. R. Petsch. [Leipzig 1910] Darmstadt 1967): Lessing an Mendelssohn am 2. Febr. 1757, und Mendelssohn an Lessing am 2. März 1757, S. 98-102. S. auch Mendelssohn (1968), Bd. II, S. 97— 140: Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen. Vgl. dazu D. Kimpel (1982), Das anthropologische Konzept in literaturästhetischen Schriften Lessings und Mendelssohns. In: Lessing Yearbook Supplement: Humanität und Dialog. Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht, 8.275-286, hier S. 281. 96 Diese psychophysiologische Entsprechung bezeichnet W. Proß als »Konsonanztheorie«, indem er auf die Stahl-Schule und auf Krüger als deren Vertreter verweist; vgl. Proß (1994), S. 148. 97 Sulzer beschreibt diesen Zustand, in dem »die Bewegung sich auf das ganze Nervensystem fortpflanzt« folgendermaßen: »Die Seele sieht sich von unzählig viel Seiten zugleich angegriffen; sie weiß nicht, wo sie ihre Aufmerksamkeit am ersten hinwenden soll. Ist nun die Empfindung an sich selbst angenehm, und überschreitet sie in diesen Umständen einen gewissen Grad der Stärke nicht; so setzt sie die Seele in ihren allerangenehmsten Zustand« (SV 71 f.). S.o. Teil II, Kap. 1.1.4. 203

mung erzeugt, wobei Einbildungskraft und Gedächtnis Ordnungsfunktionen ausüben. Die »harmonische Spannung« von psychophysischen Prozessen als Korrespondenz von Vorstellungen mit Bewegungen der Gehirnfasern, die zu einem »Spiel aller Nerven« (91) führen könne, beruht auf der Ansicht einer »genaue[n] Verknüpfung« zwischen Seele und Körper (130). Diese LeibnizWolffsche Position kann nach Mendelssohns Verständnis mit der Naturlehre Krügers vereinbart werden.98 Sie bestimmt seine Auffassung von der sinnlichen Lust, die trotz des Verlusts der intellektuellen Vollkommenheit durch die Annahme einer Proportion mit dieser Vollkommenheit beanspruchen kann. So wird der physiologische Prozeß der Empfindung mit den rationalistischen Prinzipien in Einklang gebracht, während bei Sulzer die Physiologie der Empfindung auf physikalischen Beobachtungen der Intensität und Geschwindigkeit des Reizes, der Schläge auf die Nerven qua Saiten, beruht." Demnach ließen sich auf der Grundlage des Stahlschen Animismus unterschiedliche Schlußfolgerungen ziehen: Die ästhetische Lust konnte als physiologischer Mechanismus beschrieben werden oder als Erfüllung rationalistischer Vollkommenheitskriterien; und da man annahm, daß körperliche und geistige Vorgänge korrespondierten, waren physiologische Beobachtungen in die Vorgaben der Wolffsche Philosophie integrierbar.100 In dieser Hinsicht ist Mendelssohns Auffassung dem Harmonismus Meiers wesentlich näher, als der Versuch Sulzers, medizinische Kenntnisse zur Fundierung der psychologisch-ästhetischen Theorie zu verwenden. Für die Konzeption der Einbildungskraft ist das insofern folgenreich, als Mendelssohn diesem Vermögen eine synthetische Funktion zuspricht, die das ästhetische Vergnügen ermöglicht. Sulzer hingegen übergeht diesen synthetischen Aspekt und sieht in ihr einerseits ein »Supplement der Sinne« (SV 26), andererseits die Voraussetzung für das sympathetische Interesse an einer anderen Person. Gleichwohl wird die Einbildungskraft in beiden Positionen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, für die Erreichung der Vollkommenheit oder Glückseligkeit funktionalisiert. Die psychologische Theorie der Empfindungen und der Affekte ist in jedem Fall verbunden mit dem Konzept der Einbildungskraft: Diese kann die bloß sinnliche Lust transzendieren, um entweder das 98

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In dem Text Von dem Vergnügen betont Mendelssohn die Parallele seines Harmonismus zu der Position Krügers, der das »allgemeine Gesetz« aufgestellt hat, daß auf jede »Empfindung in den nervösen Teilen unseres Körpers [...] eine ihr «proportionirliche Bewegung in den musculösen Theilen» erfolgt (In: Mendelssohn (1971), Bd. I, S. 130). Dabei wird jedoch Krügers psychophysische Theorie auf den Harmonismus Wolffscher Prägung reduziert. S.o., Teil II, Kap. I.i.i. Auch Meier hatte in seiner Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744) in Anschluß an den Harmonismus von Leibniz und Wolff die körperlichen Bewegungen einfach in genauer Übereinstimmung mit den Empfindungen und Affekten bestimmt, so daß er auf Ergebnisse der Medizin nicht einzugehen brauchte; s.o. Teil II, Kap. II. i.

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ästhetische Vergnügen zu befriedigen, indem sie das Mannigfaltige übereinstimmend macht (Mendelssohn), oder das moralische Vergnügen, indem sie eine lebhafte Vorstellung des Guten erzeugt (Sulzer). So läßt sich das Wissen um ihre zentrale Funktion für die Erregung von Lust und Unlust nicht nur für die Psychologie und Morallehre, sondern ebenso für die Ästhetik und ihre tugendempfindsame Ausrichtung nutzen.

3. Speicher, Reproduktion oder Wiedererkenntnis: Zur Unterscheidung von Gedächtnis und Einbildungskraft [...] Das Gedächtnis ist gleichsam der Magen der Seele, Freude aber und Trauer wie süße und bittere Speise; einmal dem Gedächtnis übergeben, sind sie gleichsam in den Magen eingegangen, der sie verwahren, aber doch nicht schmecken kann. (Augustinus)

Um die Besonderheit der Einbildungskraft zu ermitteln, muß sie von dem Gedächtnis abgegrenzt werden. In der Traktatliteratur um 1750 untersuchte man die Einbildungskraft, sofern sie als reproduktives Vermögen betrachtet wurde, oftmals nur in Relation zum Gedächtnis. Zwischen den beiden Vermögen wurden nicht immer scharfe Grenzlinien gezogen, vielmehr wurden deren Abhängigkeiten und ähnliche Funktionen in psychologischer wie physiologischer Hinsicht erforscht. Eine begriffs- und wissensgeschichtliche Analyse der Einbildungskraft muß also auch deren Verhältnis zu Gedächtnis und Erinnerung berücksichtigen. Die Gedächtnisforschung, die seit den späten igSoer Jahren zu einem wichtigen interdisziplinären Forschungsfeld ausgeweitet worden ist, bietet für die historische Bestimmung der Einbildungskraft Ansätze, die im folgenden kurz skizziert werden. In der Gedächtnisforschung werden Mnemotechniken, ars combinatoria und ars memorativa bis zur Antike, zu der durch den griechischen Dichter Simonides von Keos (um 556-468 v. Chr.) begründeten und durch Cicero, Quintilian und die anonym erschienene Rhetorica ad Herennium weitergeführten Gedächtniskunst zurückverfolgt. 101 Zugleich wird ihre Beziehung zu den heutigen Speichertechniken analysiert, um diese in einen kulturgeschichtlichen Kontext zu stellen. Memoria, Erinnern und Vergessen sind Themen, die ganz verschiedene Disziplinen der Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften zu einer ZuVgl. F. A. Yates (1991), Gedächtnis und Erinnern. Mnemotechnik von Aristoteles bis Shakespeare [Orig.: The Art of Memory. London 1966]. 2. Aufl. Weinheim, Kap. i und 2. Zur Geschichte der Gedächtnistheorien vgl. die Quellensammlung von D. J. Herrmann and R. Chaffin (Eds.) 1988, Memory in Historical Perspective. The Literature before Ebbinghaus. New York, Berlin, Heidelberg u.a. 205

sammenarbeit herausfordern und sich für kulturgeschichtliche oder kulturwissenschaftliche Fragestellungen anbieten. Schrift, Texte, Landkarten, Werke der bildenden Kunst, Museen, Sammlungen, Bibliotheken, Archive werden als Gedächtnisorte und kulturelle Speicher interpretiert. In der fächerübergreifenden Gedächtnisforschung lassen sich versuchsweise ein ideen- und kulturgeschichtlicher,102 ein kulturwissenschaftlicher,103 ein kultursemiotischer104 und ein philosophisch-naturwissenschaftlicher105 Ansatz unterscheiden. Nur letzterer differenziert klar zwischen Gedächtnis und Erinnerung: jenes sei »eine neurophysiologische Funktion, Erinnerung eine kognitive Konstruktion, die bewußt werden muß und dann formuliert werden kann«. 106 Das vorliegende Kapitel schließt sich an den ideen- und kulturgeschichtlichen Forschungsansatz zum Gedächtnis an. Die ausgewählten Quellentexte im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts zeigen, daß die Beschäftigung mit dem Gedächtnis in dem benannten Zeitraum nicht in selbständigen Abhandlungen erfolgte, sondern in einzelnen Kapiteln innerhalb eines größeren Kontextes von 102

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Vgl. J. J. Berns und W. Neuber (Hg.) 1993: Ars memorativa: Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750. Tübingen (= Frühe Neuzeit. Bd. 15). Zu diesem Ansatz sind die Forschungen und Sammelbände von Aleida und Jan Assmann und Dietrich Harth zu rechnen. Genannt seien hier J. Assmann (1992), Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München [mit ausführlicher Bibliographie]; A. Assmann und D. Harth (Hg.) 1991, Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt/M. In dieser Hinsicht versteht Renate Lachmann ihre Arbeit am Gedächtnis. Vgl. das Vorwort Haverkamp/Lachmann (Hg.) 1993, Memoria. Vergessen und Erinnern. München (= Poetik und Hermeneutik. XV), S. XVII-XXVII. Der kultursemiotische Ansatz ist zugleich der umfassendste, ideen- und kulturgeschichtliche Perspektiven der Memoria sind Inbegriffen, wenn auch sie mehr zu heuristischen Zwecken (S. XXIX) genutzt werden. Er bezieht sich auf das »Gesamttextmassiv einer Kultur« (S. XVIII) und beschreibt, was in einer zeitlich bestimmten Kultur eingegrenzt, erinnert und was ausgegrenzt, vergessen wird, dennoch aber als »negativer Speicher« (ebd.) dient. D.h., es wird nicht auf das Gedächtnis in Texten reflektiert, sondern auf Texte als »nicht-personale Träger des Gedächtnisses« (S. XVIII). Lachmann unterscheidet vier Paradigmen: das mnemotechnische, das diagrammtische, das diegetische und das poetische (XX-XXVII). Zu dem philosophisch-naturwissenschaftlichen Ansatz wird die Forschung zur Künstlichen Intelligenz ebenso gerechnet wie die philosophische und psychologische Kognitions-, Lern- und Gedächtnisforschung. Dieser Ansatz intendiert zugleich den Anschluß an die Sozialwissenschaften. Vgl. dazu den von Siegfried J. Schmidt herausgegebenen Sammelband Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedachtnisforschung (Frankfurt/M. 1991). So Schmidt (19913) in seinem einleitenden Beitrag Gedächtnisforschungen: Positionen, Probleme, Perspektiven. In: S. J. Schmidt (Hg.), S. 9-55, hier S. 33. Damit wird die Gedächtnisforschung der Neurobiologie zugeordnet, die Erforschung der Erinnerung hingegen der Philosophie, Psychologie und den Sozialwissenschaften.

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Untersuchungen zum Commercium von Körper und Seele oder zur Geschichte des Verstandes.107 Die Reflexion auf die Memoria fand vor allem in philosophischen und wissenschaftlichen Untersuchungen statt, war aber selbst geprägt von Vergessen und Ausgrenzen. Denn Mnemonik und Mnemotechnik, wie sie bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhundert gepflegt wurden, hatten seit der Verschriftlichung der Memoria, seit der Verbreitung des Buchdruckes, mithin der Enzyklopädien und Lexika eine merklich abnehmende Bedeutung in der europäischen Kultur, wie es Paolo Rossi in seiner Studie Clavis universalis (1960) ausgeführt hat.108 Rekonstruierte Rossi die seit und mit dem Rationalismus von Descartes und Leibniz verschüttete Tradition der Mnemonik und Kombinatorik im 15. bis zum 17. Jahrhundert, 109 hat Francis A. Yates in ihrer bahnbrechenden Studie The art of memory (1966) die mit der antiken Rhetorik eng verbundene Gedächtniskunst von Simonides bis zu den Gedächtnistheatern in der Renaissance erforscht. Diese Tradition wurde bereits im 1 7 . Jahrhundert in die Sphäre der Kuriositäten und Extravaganzen, der Alchimie und des Spiritismus verwiesen, von der man sich in der Philosophie des Rationalismus abzugrenzen bemüht war.110 Statt artifizieller Techniken der Memorierung durch diagrammatische, meist magisch konnotierte Schemata oder durch Ortsgebundenheit von Ideen, durch Eselsbrücken, >Haken< und Klangähnlichkeit von Worten, die ein Gewebe von Assoziationen hervorriefen,111 wurde Wissen nun in kodifizierter Form in Nachschlagewerken und Enzyklopädien festgehalten, welche die Funktion der kollektiven Speicherung von Wissen112 übernahmen und das künstliche Gedächtnis weitgehend ersetzten. 107

Die Quellenlage ist also ganz ähnlich wie bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Einbildungskraft in diesem Zeitraum, die auch nicht in Monographien zum Thema erfolgte - mit Ausnahme von Muratori (1745; dt. 1785) und E. A. Nicolai

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P. Rossi (1983), Clavis univeralis. Arti della memoria e logica combinatoria da Lullo a Leibniz. Bologna [Orig.: Milano, Napoli 1960], Kap. I. Eine Übersetzung ins Deutsche unter dem Titel Clavis Universalis. Künste der Memoria und kombinatorische Logik von Lull bis Leibniz durch Karl Moormann (Hamburg) liegt als unveröffentlichtes Manuskript vor, für dessen Bereitstellung ich dem Übersetzer an dieser Stelle danken möchte (= Literaturwissenschaftliches Seminar Hamburg. Referateservice. 5. und 6. Folge). 109 Rossi betont mehrfach die Kontinuität der künstlichen Memoria in der >modernen< Logik und Wissenschaft bei Bacon, Comenius, Descartes und Leibniz. Vgl. das Vorwort zur Neuauflage von 1983. 110 Rossi (1983), Vorwort. '" Vgl. dazu Yates (1991), S. 21; und J. Coleman (1991), Das Bleichen des Gedächtnisses. St. Bernhards monastische Mnemotechnik. In: Haverkamp/Lachmann (Hg.), Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt/M., S. 207-227, hier S. 208 mit Anm. 5. 1 12 Die Gedächtniskünste waren vor allem eine Technik zur Akkumulation wie zur Generation von kulturellem Sinn und Erfahrung und ihre Praxis diente zur »Veräußerli207

Im 17. und 18. Jahrhundert wurde der Blick auf das Gedächtnis in seiner psychophysiologischen Funktion verengt: es galt, seiner Natur auf die Spur zu kommen, es galt, Genese, Umfang und Grenzen dieses Vermögens zu erforschen. In Verabschiedung der Renaissancetradition interessierte das Gedächtnis als individuelle Funktion zur Speicherung, Reproduktion oder Wiedererkennung vorhergegangener Ideen. Auch hier ist zu beobachten, daß sich anthropologische Fragestellungen zu dem Zusammenhang von Geist und Materie, von Seele und Körper um 1750 mehr und mehr durchsetzten. In gleichem Maße nämlich, wie das Gedächtnis als Voraussetzung aller Wirkungen der Seele galt, mußte auch zugestanden werden, daß diese von zerebralen, physiologischen Vorgängen abhingen. So wurde festgestellt, daß das Gedächtnis durch Vergiftungen, durch Krankheiten und Verletzungen des Gehirns - man lokalisierte es am Hinterkopf — eingeschränkt, sogar zerstört werden konnte. Umgekehrt stellte sich die Frage, durch welche Maßnahmen und Medikamente das Gedächtnis zu stärken sei.113 Fleiß, Training, Erziehung und Gewohnheit wurde grundlegende Bedeutung für die Besserung des Gedächtnisses beigemessen, womit zwar Techniken der klassischen Gedächtniskunst weitergeführt wurden, 114 ohne aber den Ballast an übernatürlich-magischen Verflechtungen der überlieferten Merksysteme mitzuschleppen."5 Außerdem gehörten Abhängig-

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chung« und Kollektivierung der Memoria. Vgl. J. J. Berns und W. Neuber (i993a), Mnemonik zwischen Renaissance und Aufklärung. Ein Ausblick. In: Berns/Neuber (Hg.), S. 373 — 385, hier S. 378; und R. Lachmann (1993), Kultursemiotischer Prospekt. In: Haverkamp/Lachmann (Hg.), S. XVII. Im Zedlerschen Universal-Lexikon ist die Verbreitung eines »Gedächtnis-Balsams« belegt, das durch Einreihen am hinteren Teil des Kopfes sowohl das Gedächtnis stärken als auch seinen Verlust restituieren könne. Vgl. den gleichnamigen Artikel im ro. Bd. (1735), Sp. 559. Vgl. auch die medicinische Wochenschrift Der Arzt, Bd. 6 (1761), 147. St., S. 257-270, hier S. 262-265. Dort wird gleichzeitig vor Scharlatanen gewarnt, die einem angeblich gedächtnisstärkende Mittel verkauften, wenn eher »psychologische Kunstgriffe« gefragt wären (S. 265). Bei schlechtem Gedächtnis, gerade bei phlegmatischen Personen, empfiehlt der Autor statt der beliebten Kräutermixturen mehr Bewegung und mehr Auswendiglernen, rät aber zugleich vom Verzehr von Mohnsamen, Opium, Käse, Kohl und Bohnen ab (S. 269). In dem besagten Stück über das Gedächtnis in der medizinischen Wochenschrift Der Arzt wird mit Hinweis auf das englische Gentleman's Magazine (2/1751) von einer Person namens Jedediah Burton mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit zum Kopfrechnen bei gleichzeitigem Analphabetismus berichtet, was als Beispiel für ein enorm geübtes, künstliches Gedächtnis dient. Dieses Beispiel belegt, daß auch im 18. Jahrhundert die Tradition der Gedächtniskunst, zumindest in Einzelfällen, ihre Reputation noch nicht völlig eingebüßt hatte. Vgl. auch den ausführlichen Art. »Gedächtnißkunst« in Walch (1775), Sp. 1482-1488. G. F. Meier schränkt die Gedächtniskunst, die er bereitwillig aufgreift, auf die Regeln ein, die »auf der Natur des Gedächtnisses beruhen«. Vgl. Meier (1976), Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Tie. ND der 2. Aufl. Halle 1754—1759. Hildesheim, New York; im folgenden zitiert nach der 2. Aufl. (1754 — 59) als MM mit Bandzahl und Paragraph, hier MM II, § 436.

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keit von Lebensalter und der individuellen physischen >Organisation< zu den zentralen Aspekten einer anthropologisch orientierten Sichtweise. "6 Diese wenigen Stichworte zeigen bereits, daß das Gedächtnis detaillierte empirische Beobachtungen verlangte. Doch wurde um 1750 eher die prinzipielle Aufklärung dieses Vermögens als eine Sammlung von Einzelfällen angestrebt. Gleichwohl bekundete sich darin ein ausgeprägtes anthropologisches Interesse an der psychophysiologischen Ausrichtung der einzelnen menschlichen Vermögen, wobei das Verhältnis des Gedächtnisses zur Sinnlichkeit genauso in Frage stand wie das zur Einbildungskraft. Im folgenden werden neben zeitgenössischen Lexikonartikeln Texte aus dem Umkreis des Wolffianismus, des englischen Empirismus, des französischen Materialismus und Sensualismus sowie der philosophischen Medizin behandelt. Anhand dieser begrenzten Thematik wird der Blick bewußt über den deutschsprachigen Raum hinaus auf europäische Wechselbeziehungen gerichtet. Es ist zu zeigen, daß sich in der Zeit um 1750 trotz unterschiedlicher Ansatzpunkte der jeweiligen philosophischen Konzepte dennoch einige gemeinsame Kriterien der Einschätzung des Gedächtnisses im Verhältnis zur Einbildungskraft herausgebildet haben. Im Schrifftum des genannten Zeitraums gibt es drei verschiedene Auffassungen von Gedächtnis. In den Lexika von Walch und Zedler sind sie in den entsprechenden Artikeln zusammengefaßt. Es werden Gedächtnis als »Behaltung der Ideen, die man empfunden« (»memoria«), als Erinnerung oder Wiederholung der vorausgegangenen Vorstellungen (»recordatio«) und als Wiedererkennen (»reminiscentia«) solcher Ideen unterschieden."7 Die Funktionen des Sam116

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Allerdings hatte schon Aristoteles die Abhängigkeit der Memoria von Alter und Temperament herausgestellt. Vgl. Yates (1991), S. 39. Das belegt, daß die medizinischphysiologische Betrachtung des Gedächtnisses ebenfalls eine lange Geschichte hat. Als prominenter Vertreter einer materialistischen Theorie des Gedächtnisses im 16. Jahrhundert ist Huarte mit seiner Schrift Examen de Ingeniös para ias Sciencias (1575) anzusehen, die nicht erst seit Lessings Übersetzung von 1752 für deutsche Autoren eine bedeutende Rolle spielte. Zu Huarte und seiner Rezeption vgl. die Studie von H. J. de Vleeschauwer (1958), Autor de la classification psychologique des sciences. Juan Huarte de San Juan — Francis Bacon - Pierre Charon — d'Alembert. Pretoria (= Mousaion. Bd. 27); und R. Hafner (1995), Johann Gottfried Herders Kulturentstehungstheorie. Hamburg, S. 39ff. Vgl. Walch (1775), Bd. i, Sp. 1479-1482, hier Sp. 1479; Zedler, Bd. 10 (1735), Sp. 552 — 553, hier 552. Vgl. auch Walch, a.a.O., Art. »Besinnen« (Sp. 354 — 356) und »Erinnerung« (Sp. 1093—1099), hier Sp. 1094; und Zedler, Art. »Erinnerung«, Bd. 8 (1734), Sp. 1660-1661, hier Sp. 1661; Art. »Gedächtniß«, Bd. 10 (1735), Sp. 552 — 559; hier Sp. 552. Ähnlich, wie es bereits für die Artikel »Einbildung« und »Einbildungskraft« aufgezeigt worden ist, sind die Artikel »Erinnerung« und »Gedächtnis« bei Zedler eine popularisierende Zusammenfassung der gleichnamigen Artikel bei Walch, weshalb sie möglicherweise von demselben Autor stammen oder aber eine Kopie von Walchs Texten sind. S.o. Teil I, Kap. I.i. und 1.2. 209

melns, Speicherns wie Reproduzierens von Eindrücken gelten bei den meisten Autoren als Hauptmerkmale des Gedächtnisses. Damit setzen sie sich von Wolffund seinen Schülern ab, die ausschließlich die Funktion der Reminiszenz zur Charakterisierung dieses Vermögens gelten lassen. ri8 Dem Gedächtniskonzept Wolffs, reproduzierte Ideen lediglich als vergangene wiedererzuerkennen, ist als erster Nikolaus Hieronymus Gundling (1671 -1729), Anhänger der Philosophie von Thomasius, entschieden entgegengetreten."9 Er vertritt die Ansicht, daß »das Gedächtnüß ohne würckliche Fürstellung nicht begriffen werden« könne, 120 daß es sich außerdem auf das Gesammelte als etwas bereits Erkanntes besinnen muß. Es besteht somit in mehreren Tätigkeiten zugleich: im Sammeln, Aufbewahren, Wiederhervorbringen sowie Wiedererkennen von etwas Gedachtem. Denn: »wieder erkennen supponiret etwas Erkandtes. Dieses etwas muß da und aufbehalten seyn«. 121 Für Gundling bleibt das Gedächtnis durch die Einschränkung auf die Funktion der Rekognition unterbestimmt, da diese ohne erneuernde Vorstellung gar nicht denkbar sei.122 Dieses Argument besagt, daß auch die Reproduktion zur Gedächtnisfunktion gehört, womit diese der Einbildungskraft abgesprochen wird. 123 So spielt das Gedächtnis, das Gundling zur Verstandesseite rechnet, nicht nur die Rolle des Speichers oder Behältnisses,124 sondern auch die der aktiven Reproduktion des Vorgestellten. Diese reproduktive Funktion, die nach Gundling mit in die Bestimmung des Gedächtnisses aufzunehmen sei, hat Wolff jedoch für die Tätigkeit der Einbildungskraft reserviert. Wie sind aber dann diese beiden Vermögen bei Wolff unterschieden? Da er die Redeweise vom Gedächtnis als »Behältniß« für »leere Worte« hält und ablehnt, 125 bleibt für ihn nur die Auffassung von der Reminiszenz als Differenzkriterium für dieses Vermögen übrig. Das Gedächtnis dient also - wie es dann der Wolffianer Gottsched ausdrückt - zur »Versiche118

Wolff (1983), Vernünftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen; zitiert als DM, hier DM §§ 249-252. Wolffs Definition lautet: »Das Gedächtniß ist also nichts anders als das Vermögen Gedancken, die wir vorhin gehabt haben, wieder zu erkennen, daß wir sie schon gehabt haben, wenn sie uns wieder vorkommen.« (§ 249). Vgl. auch J. C. Gottsched (1762), Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, GW § 897; A. G. Baumgarten (1766), Metaphysik, BM § 432; G. F. Meier, MM II, § 437, S. 434. 119 Gundlingiana (1723—1727), Darinnen allerhand für Jurisprudenz, Philosophie, Historie/Critic/Litteratur/und übrige Gelehrsamkeit gehörige Sachen abgehandelt. Halle, 31. Stück (1723), V: »Was man Gedächtniß nenne?«, S. 91-101. Vgl. auch Walch (1775), Bd. i, Sp. 1497; und Zedler, Bd. 10 (1735), Sp. 552. 120 Vgl. Gundlingiana, 31. St., S. 91. 121 Ebd., S. 93. '" Ebd., S. 95. I2i Ebd.: »Gehöret aber das Fürstellen zum Gedächtnüß, so wird dasselbe vergeblich der Einbildungs-Krafft privative beigelegt.« 124 Ebd., S. 98. 125 Wolff, DM § 252. So auch Gottsched, GW § 899. 210

rung«, 126 daß die reproduzierten Vorstellungen nicht bloß eingebildete, sondern tatsächlich vergangene sind: es erfüllt die Funktion der Realitätsprüfung vergangener Vorstellungen. 127 Die Reproduktion selbst jedoch bleibt der Einbildungskraft überlassen, die qua Dichtungskraft auch neue Vorstellungen zusammensetzen kann. Daraus folgt, daß die Tätigkeit der Einbildungskraft logisch früher stattfinden muß als die Funktion des Gedächtnisses, die bereits reproduktive Vorstellungen voraussetzt.128 Während Wolff die logische Abhängigkeit dieser beiden Vermögen betont, versucht Gundling, die logische Untrennbarkeit dieser Funktionen als Beweisgrund für ein komplexeres Gedächtniskonzept zu nehmen, mithin die Einbildungskraft von der reproduktiven Funktion freizuhalten. Daß sich Wolffs Gedächtniskonzept nicht durchsetzen konnte, reflektiert der Göttinger Philosoph Michael Hißmann 129 (1752 — 1784) in seinen Psychologischen Versuchen von 1777: Man schreibt das Bewußtseyn, daß man gewisse gegenwärtige Vorstellungen bey der Abwesenheit des Objektes schon ehedem gehabt, allgemein der Reminiscenz zu, und nicht dem Gedächtniß. Ferner legt man, nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, die Ideen nicht in die Imagination, sondern in das Gedächtniß nieder.'30

Positiv schreibt Hißmann diesem Vermögen die Funktion zu, »Eindrücke, die man durch die äußern und inneren Sinnen erhalten hat, eine Zeitlang aufzubewahren«' 31 und »nachher zu reproduciren«. 132 Auch er plädiert damit für einen komplexen Begriff des Gedächtnisses, das mehrere Funktionen einschließt. Die Metapher des Speichers, die Wolff als >leeren Begriff< disqualifiziert hat, geht letztlich auf die Tradition der Rhetorica ad Herennium (86—82 v. Chr.), gemäß Yates dem klassischen Text der Gedächtniskunst, 133 zurück, wird von Augustinus 134 aufgegriffen und seitdem in verschiedenen Variationen immer 126 127 128 129

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Gottsched, ebd. Vgl. Pimpinella (1988), S. 383. DM § 813. Vgl. auch Meier, MM II, § 439, S. 437. Der bis heute in seiner Bedeutung für die aufklärerische Anthropologiedebatte noch unterschätzte Göttinger Philosophieprofessor Michael Hißmann war neben dieser Schrift auch mit der Lehre von der Association der Ideen (Göttingen 1777) und dem Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte aus den Jahrbüchern der Academie angelegt (Göttingen, Lemgo 1778- 1783), außerdem mit der Übersetzung von Condillacs Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis (Leipzig 1780) [Orig. 1746] hervorgetreten. Michael Hißmann (17773), Psychologische Versuche. Ein Beytrag zur esoterischen Logik. Leipzig, S. 199. Ebd., S. 198. Ebd., S. 200. Vgl. Yates (1991), S. 14. Augustinus (1966), Confessiones/Bekenntisse. Eingeleitet, übs. und erläutert von Joseph Bernhard. 3. Aufl. München, S. 5O2f. u. 508-511. 211

wieder verwendet. Trotz Wolffs Kritik ist diese Vorstellung im 18. Jahrhundert weitverbreitet. Selbst Meier bezeichnet das Gedächtnis als »das allgemeine Vorrathshaus der Erkenntnis in der Seele«.135 Zu ihren bedeutsamsten Vertretern wird heute der italienische Geschichtsphilosoph Giambattista Vico (1668 — 1744) gezählt, der aber zu seinen Lebzeiten so gut wie unrezipiert blieb. Nach Vico umfaßt die Memoria sowohl die Einbildungskraft (»fantasia«) als auch die Erfindungskraft (»ingegno«).130 Das Gedächtnis ist also der Einbildungskraft vorgeordnet. Auch in der Redeweise von »Behaltungskraft« 137 oder »Behältmßkraft«, 138 wie sie Walch verwendet, ist diese sammelnde und konservierende Funktion der Memoria angesprochen. In gleicher Weise teilen die Naturforscher Krüger und Charles Bonnet (1720 — 1793) die Vorstellung vom Gedächtnis als Speicher oder Vorratskammer,139 während Muratori die Akteure tauscht: anstelle des Gedächtnisses macht er die Einbildungskraft zum »Magazin« der Eindrücke und Ideen.'40 Wird aber dem Gedächtnis ebenso wie der Einbildungskraft eine reproduktive Funktion zugeschrieben, so stellt sich die Frage nach der Unterscheidbarkeit der beiden Vermögen. In den Schriften um 1750 werden drei Unterscheidungskriterien von Gedächtnis und Einbildungskraft angeführt: die Ordnung der reproduzierten Ideen (naturgetreu vs. verändert), die Intensität solcher Vorstellungen (schwach vs. lebhaft) und die Art ihrer Herbeiführung (willentlich vs. unwillentlich). Die Frage nach den körperlichen Dispositionen hingegen trägt, mit Ausnahme der Position Muratoris, nicht zu ihrer Unterscheidung bei; vielmehr sind Einbildungskraft und Gedächtnis in dieser Hinsicht von denselben physiologi135

Auch in der Moralischen Wochenschrift Der Mensch, die der Baumgarten-Schüler G. F. Meier mit S. G. Lange herausgegeben hat, wird entsprechend dem zeitgenössischen Sprachgebrauch das Gedächtnis als »Vorraths- und Schatzkammer« bezeichnet. Vgl. Der Mensch, IX. Bd. (1755), 346. St.: »Von dem Gedächtniß und desselben herrlichen Gebrauchs«, S. 57 — 64, hier S. 60. Vgl. auch MM II, § 436, S. 433: »Das Gedächtnis ist [...] das allgemeine Vorrathshaus der Erkenntniß in der Seele«. 136 Vgl. dazu D. P. Verene (1987), Vicos Wissenschaft der Imagination. Theorie und Reflexion der Barbarei. München, S. 86f.; und J. Trabant (1993), Memoria-FantasiaIngegno. In: Haverkamp/Lachmann (Hg.), Vergessen und Erinnern. München, S. 406-424. 137 Walch (1775), Art. »Besinnen«, Sp. 354. 138 Ebd., Art. »Erinnerung«, Sp. 1095. '39 Vgl. Krüger (1756), Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Halle, Helmstädt, § 72, S. 217: Das Gedächtnis ist »das Archiv der Seele, und die Schatzkammer, in welcher sie [die Seele] ihre größten Kostbarkeiten verwahret.« Bonnet (1774), Betrachtung über die Natur [Orig. 1764]. 3. Aufl. Leipzig, Bd. i, S. roo: »[...] machet das Gehirn zu einer Vorrathskammer von Kenntnissen, die sich von Tag zu Tage vermehren [...].« (Hervorhebung im Orig.) 140 Im Original heißt es: »[...] Memoria, il cui magazzino dicemmo riposto nella Fantasia«, vgl. Muratori (1766), Delia forza della fantasia umana. 4. Aufl. Venezia, S. 33 (vgl. auch S. 13 und 15); in der Übersetzung von Richerz: »[...] das Gedächtnis [...], dessen Magazin wir in der Einbildungskraft fanden [...].« (MR I, 212

sehen Determinanten bestimmt. Diese Aussagen sind nun durch Beobachtungen an einzelnen Texten genauer zu belegen. Dabei wird das Augenmerk nicht auf eine detaillierte Darstellung der verschiedenen Gedächtnistheorien gerichtet, sondern auf das spezielle Verhältnis von Gedächtnis und Einbildungskraft. Hierbei ist besonders darauf zu achten, wie in den untersuchten Abhandlungen um 1750 der Bezug dieser beiden Vermögen zu den Empfindungen bestimmt wird. Auf welche Version des Gedächtnisses hatte man sich in den zeitgenössischen Lexika verständigt? Walch — mit dessen Artikeln zum Thema die entsprechenden im Zedlerschen U' niversal-Lexikon weitgehend übereinstimmen 14 ' — definiert das Gedächtnis als »eine besondere Kraft des menschlichen Verstandes, [...] die Ideen anzunehmen und sie zu verwahren.« 142 Mit dieser Bestimmung sind mehrere Entscheidungen getroffen: Das Gedächtnis gilt als menschliches Vermögen, es wird dem Verstand zugeordnet und fungiert als dessen Organ, es nimmt Ideen auf, um sie zu speichern. Ideen wiederum beziehen sich nach Walch, Vertreter von Thomasius' Sensualismus, auf vorausgegangene Empfindungen und sind nicht angeboren.'43 Das Gedächtnis als verstandesmässiges Vermögen unterhält damit eine enge Bindung zu den inneren und äußeren Sinnen, weshalb ihm auch »die Behaltung der Ideen, die man empfunden« hat, zugeschrieben wird.' 44 Neben dem Behalten von Vorstellungen vermag es aber auch, solche verwahrten Ideen wiederhervorzubringen. Demnach gilt die Reproduktion als eine der Tätigkeiten des Gedächtnisses, wie es auch Gundling gegen Wolff behauptet hat. 145 Den Hauptzweck des Gedächtnisses sieht Walch in der Aufbewahrung und Reproduktion vergangener Vorstellungen, womit es — als Instrument des Verstandes — diesem die Materialien zur Wahrheitserkenntnis bereitstellt.'46 Interessant für den Kontext dieser Arbeit ist, wie Walch das Verhältnis von Gedächtnis und Einbildungskraft darlegt. Mit der Unterscheidung von zwei Arten der Erinnerung — einmal der »von ohngefähr«,' 47 die ohne bestimmten Anlaß Ideen reproduziere, zum anderen der Erinnerung aufgrund einer assoziierten gegenwärtigen Empfindung oder Idee, die sich auch »wider unsern Willen« einstellen könne' 48 — zeigt Walch, daß dieses Vermögen sowohl ohne 141

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Es handelt sich um die beiden Artikel »Erinnerung« und »Gedächtnis«; zu den Angaben s.o. Anm. 117. Walch (1775), Bd. I, Art. Gedächtniß, Sp. 1479; ebenso Zedler, Bd. 10 (1735), Sp. 552. Walch, Sp. 1481, und Art. Erinnerung, a.a.O., Sp. 1094. Walch, Sp. 1479. Ebd. Ebd., Sp. 1481; und Sp. 1094. Ebd., Sp. 1095. Diese Art von Erinnerung sei auch charakteristisch für Tiere, z.B. wenn sie durch das Erheben eines Stockes sich an den Schmerz erinnerten, der ihnen zuvor einmal mit einem solchen Stock zugefügt wurde. Vgl. Walch, Sp. 1098 und Sp. 1480. 213

sagbaren Anlaß als auch quasi mechanisch durch entsprechende Assoziationen tätig werden kann. Die Erinnerung durch Assoziation nimmt er genauer in den Blick und zeigt auf, daß Ideen oft mit Affekten verknüpft sind und sich aus diesem Grund besser in das Gedächtnis einprägen.149 Diese Affekte wiederum sind nach der Psychologie Walchs von der Imagination abhängig,'50 so daß dieses Vermögen für die Lebendigkeit und Einprägsamkeit der Ideen verantwortlich ist. Die Lebendigkeit der Affekte selbst ist den sinnlichen Empfindungen zu verdanken, die in Kindheit und Jugend am stärksten und deshalb auch am besten erinnerbar seien. Aufgrund der Verknüpfung von Ideen mit Affekten würden bei der Erinnerung auch die begleitenden Affekte der vergangenen Ideen wieder wachgerufen, sofern die Imagination, Mittlerin und >Motor< der Affekte, beteiligt ist. Somit ergänzen sich Gedächtnis und Einbildungskraft. Letztere stellt die Verbindung zu den Affekten her, während das Gedächtnis willkürlich oder unwillkürlich vergangene Ideen reproduziert. Walch reflektiert neben der Verknüpfung von Vorstellung und Affekt auch das Gesetz der Assoziation der Ideen untereinander, 15 ' das bei der Reproduktion einer Hauptidee zu einer beliebig verlängerbaren Reihe von damit verbundenen besonderen Ideen führe. So könne man sich auf eine vergessene Sache mithilfe der Assoziationsmöglichkeiten von kausaler Relation und raumzeitlicher Nachbarschaft von Ideen besinnen. 152 Mit der Einführung der Assoziationstheorie rückt der Aspekt der Ordnung der Ideen ins Blickfeld. Hier ist eine Verbindung von Walchs Sensualismus zur empiristischen Philosophie erkennbar. David Hume (1711-1776), der die drei Assoziationsgesetze der Ähnlichkeit, Kontiguität und Kausalität aufgestellt hat, 153 betont in seinem Treatise of Human Nature (1739/40), daß ein intaktes '4y Ebd., Sp. 10951". 150 151

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Ebd. S.o.Teil I, Kap. I.i. Ohne daß Walch hier den Terminus der Assoziationsgesetze, die von Malebranche, Wolff und dann von Hume ausformuliert worden sind, gebraucht, ist doch seine Redeweise von »Connexion« der Ideen nach »Verwandtschaft«, nach »Umstand des Orts und der Zeit« sowie als »mittelbare Ideen« »durch Hülfe des Judicii, oder Ingenii« nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung (Sp. logof.) genau in diesem Sinne zu verstehen. Yates hat mit Bezug auf W. D. Ross darauf hingewiesen, daß bereits Aristoteles für die Wiedererinnerung die Prinzipien der Assoziation nach Unähnlichkeit/Ahnlichkeit und Kontiguität als Hilfen benannt hat; vgl. Yates (1991), S. 39 mit Anm. 21, S. 52. Vgl. Hume (1978), Treatise of Human Nature. Ed. by L. A. Selby-Bigge [1888]. 2nd Edition revised by P. H. Nidditch. Oxford, Part I, Sect. IV: »Of the Connexion or association of ideas«, S. 10-13. Vgl. auch Humes Überarbeitung des zur seiner Zeit kaum beachteten Treatise: An Enquiry Concerning Human Understanding (1748); vgl. die dt. Übersetzung von H. Herring (Stuttgart 1982), 3. Abs.: »Über die Assoziation der Ideen«, S. 38—40. Zum Kontext der Assoziationstheorie vgl. M. Kaiich (1970); D. F. Markus (1985), Die Associationstheorieen im XVIII. Jahrhundert [nach der Ausgabe Halle 1901]. Hildesheim, Zürich, New York, Kap. II; und J. P. Wright (1987), Association, Madness, and the Measures of Probability

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Gedächtnis vor allem die ursprüngliche Form und Ordnung der Vorstellungsfolge erhalte: »The chief exercise of the memory is not to preserve the simple ideas, but their order and position.« 154 Genau in diesem Punkt differiert es aber von der Imagination. Denn diese sei »not restrain'd to the same order and form with the original impressions«.155 Hume belegt seine Beobachtung von der »liberty of the imagination to transpose and change its ideas«' 56 durch die Praxis in der Dichtung: In dieser kommen zahlreiche Fabelwesen, geflügelte Pferde oder monströse Riesen vor, ohne daß man sie für fremd und sonderbar halte, weil alle Ideen letztlich auf sinnliche Eindrücke zurückführbar oder aus solchen zusammensetzbar sind.' 57 Humes Auffassung, daß dem Gedächtnis, nicht der Imagination, die Erhaltung der ursprünglichen Ideenordnung obliegt, wird durch Alexander Gerard (1728-1795), der wie Edward Young (1683-1765) für die Entstehung der Genieästhetik eine wichtige Rolle spielt, in einem entscheidenden Aspekt erweitert, dem Aspekt der Kompensation eines mangelhaften Gedächtnisses durch die Imagination. In seinem Essay on Taste (1754) zeigt Gerard, daß die Imagination Gedächtnislücken und andere Defekte ausgleiche, ohne sich dabei an die reale Ordnung der Dinge zu halten: Memory exhibts its ideas in the same form and order which belonged to the things perceived by sense. But the defect of remembrance in the ideas of imagination, as it prevents our referring them to their original sensations, dissolves the natural Connexion of the parts. But when memory has lost their real bounds of union, fancy by its associating power, confers upon them new ties [...]. Imagination attempts to supply the defects of memory, and forms a picture of it in many respects different from the truth, varying the magnitudes, the distances, and the order of the objects.1'8

Gerard vertritt auch die Ansicht, daß allein dem Gedächtnis die Reproduktion von Ideen in der Ordnung, wie sie durch die Sinne wahrgenommen wurden, vorbehalten ist. Wie Hume bestimmt er darin den Hauptunterschied zur Imagination, die aufgrund ihrer Assoziationskraft die Fähigkeit habe, die Vorstel-

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in Locke and Hume. In: C. Fox (Ed.), Psychology and Literature in the Eighteenth Century. New York, S. 103-127, bes. S. n6ff. Allgemein zu Humes Wirkung vgl. Gawlick/Kreimendahl (1987), Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt. Hume (1978), Treatise of Human Nature, Part I, Sect. Ill, S. 9. Ebd. Ebd., S. (im Original hervorgehoben). Ebd. In diesem Punkt steht Humes empiristisch fundierte Assoziationstheorie im direkten Widerspruch zur Wolffs Position einer rationalistisch reglementierten Einbildungskraft: Hatte Wolff solche Fabelwesen als Mißgeburten der Einbildungskraft abgelehnt, werden sie hier aufgrund des Assoziationismus als Folge einer eigenen Logik anerkannt. Alexander Gerard (1754), An Essay on Taste. Edinburgh, Part III, Sect. I, S. J57f. (Hervorhebungen im Original).

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lungsfolgen abzuwandeln und zu variieren. Indem sie die Ausfälle des Gedächtnisses wettmacht, riskiert sie das Sprengen der Grenzen von Wirklichkeit oder Wahrheit, ohne deshalb aber als wild und regellos gelten zu müssen. Denn sie verfährt gemäß Gerard nach den Assoziationsgesetzen von Ähnlichkeit und Gegensätzlichkeit, von Kontiguität und Koexistenz, von Kausalität und Gewohnheit. 159 Einer Regel Folgen schließt Anarchie aus, auch wenn die Regeln nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Mit der Theorie der Assoziation bindet Gerard auch die Einbildungskraft an die logische Ordnung. Ähnlich argumentiert Hume, wenn er behauptet, daß es »selbst in unseren abenteuerlichsten und schwärmerischsten Träumereien [...] zwischen den verschiedenen aufeinanderfolgenden Vorstellungen doch noch eine Verknüpfung« gibt.100 Auch wenn eine Gedankenfolge oder ein Gespräch kaum mehr nachvollziehbar erscheint und von zahlreichen Ablenkungen und Nebenwegen durchkreuzt wird, läßt sich trotzdem das Prinzip der Assoziation und damit Ordnung erkennen. Restituiert das Gedächtnis also die ursprüngliche Ideenordnung, bezieht sich die Einbildungskraft ebenfalls auf vorausgegangene Eindrücke und Ideen, wobei sie allerdings durch deren Variation und Neuzusammensetzung zwar Ordnung, nicht aber die ursprüngliche Ordnung herstellt. Demnach bedeutet Reproduktion der Einbildungskraft bei Hume und Gerard freier Umgang mit vorhergegangenen Ideen, die in einen geordneten Zusammenhang gebracht werden. Keiner der Autoren macht allerdings deutlich, obwohl sie es voraussetzen, daß solche Assoziationsketten eine subjektive Ordnung repräsentieren: Daß man sich etwa bei der Lektüre über Paris an einen guten Freund, den man dort kennt, erinnert und vielleicht an ein gemeinsames Erlebnis denkt — so ein Beispiel Walchs l6r —, hängt von der subjektiven Erfahrung ab, die gewöhnlich von anderen Personen nicht geteilt wird. Nichtsdestoweniger bestätigt auch die individuelle, subjektive Erfahrung die Gültigkeit des Assoziationsprinzips. Gerards Auffassung der Kompensation von Gedächtnismängeln durch die Imagination übernimmt G. H. Richerz im Kommentar seiner Muratori-Übersetzung Über die Einbildungskraft des Menschen (1785): 159

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Das Original lautet: »But wild and lawless as this faculty appears to be, it commonly observes certain general rules, associating chiefly ideas of such objects as are connected by simple relations of resemblance, contrariety, or vicinity; or by the more complex ties of custom, co-existence, causation, or order.« Ebd., S. 158. Auch bei Hume gehören >contrast< und >contrariety< zu den Assoziationsgesetzen, und zwar als Mischung von Kausalität und Ähnlichkeit. Vgl. dazu Kaiich (1970), S. i^,f. Hume (1982), Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Stuttgart, S. 39. Dieses Beispiel führt Walch (1775) in seinem Artikel »Erinnerung« an (Bd. i, Sp. 1095), um gleichzeitig davor zu warnen, solche Assoziationen nicht »mit den eigentlichen judicieusen und ingenieusen Ideen« zu vermischen (Sp. 1096). Damit lehnt er die durch gegenwärtige Ideen ausgelösten Assoziationsketten als unvernünftig und nicht wahrheitsfähig ab.

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Sie [die Phantasie]102 ergänzt die Lücken der Gedächtnißideen durch Zusammensetzungen nach der sonst uns bemerkten Analogie, oder dadurch daß sie bei ihren Fiktionen die Urtheile des gemeinen Menschenverstandes über das, was bey jedem Dinge Wesentlich, Zweckmäßig und Schicklich ist, befolgt. [...] So wenig überhaupt die Treue in der Reproduktion vormaliger Impreßionen und Vorstellungen die Sache der Einbildungskraft ist, so ist diese doch nie unzuverläßiger, als wenn sie durch Leidenschaften begeistert und entflammet wird. Dann vergrössert oder verkleinert, verschönert, oder verhäßlicht sie ohne Maas. (M I, 59)

Die Einbildungskraft kennt also zwei Formen der Reproduktion vergangener Empfindungen: sie ergänzt diese nach den Assoziationsgesetzen, die Richerz mit Hinweis auf die »scharffsinnigen Psychologen«'63 ebenfalls in Ähnlichkeit, Nachbarschaft und Kausalität bestimmt (M I, 57), oder sie läßt sich vom common sense< beraten, wenn sie vergangene Dinge nach ihrer wahrscheinlichen Verbindung erneut hervorbringt. Gleichwohl kann sie aber ausschweifen4 (1749) allen Operationen des menschlichen Verstandes Assoziationsgeserze zugrundelegt,165 das Verhältnis von Einbildungskraft zum Gedächtnis. Die Hauptfunktion des Gedächtnisses besteht darin, vergangene Ideen in der wahrgenommenen Ordnung und ihren ursprünglichen Relationen zu rekapitulieren. Hartley definiert es als »that Faculty by which Traces of 162 163 164

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Richerz gebraucht Phantasie und Einbildungskraft synonym. Womit Hume und seine Anhänger gemeint sind. Vgl. Hartley (1967), Observation on Man, his Frame, his Duty, and his Expectations. 2 Bde. ND [der Ausgabe London 1749] Hildesheim. Im folgenden zitiert als HA mit Bandzahl in römischer und Seitenzahl in arabischer Ziffer. Zum Verhältnis physiologischer und metaphysischer Fragen in Hartleys Hauptwerk vgl. den Aufsatz von S. H. Ford (1987), Coalescence: David Hartley's »Great Apparatus«. In: C. Fox (Ed.), Psychology and Literature in the Eighteenth Century. New York, S. 199 — 223. Vgl. dazu auch schon Hallers Rezension, in: Haller (1971), Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Hg. von J. G. Heinzmann. ND der Ausg. Bern 1787. Frankfurt/M., Bd. i, S. 78-91. Zum Assoziationismus vgl. Kaiich (1970), bes. Kap. VI; und Markus (1985), Kap. III. 217

Sensations and Ideas recur, or are recalled, in the same Order and Proportion, accurately or nearly, as they were once presented.« (HA I, 374) Diese Definition ist bereits durch Hume und Gerard bekannt. Hartley konzentriert sich in der Folge aber auf die Erforschung der physiologischen Abläufe bei mentalen Operationen. So geschieht das Speichern der Sinnesdaten sowie der angehäuften Sinneseindrücke, als »Clusters of Impressions«166 bezeichnet, wie ein Hinterlassen von Spuren.107 Diese dienten dem Gedächtnis als Elemente, die es zu komplexen Ideen zusammensetzt (HA I, 375).l68 Dabei bleibe die Ordnung der Ideencluster erhalten, wenn sie einige Zeit lang nach der realen Empfindung in der Imagination l6y wiederholt und durch sie tiefer eingeprägt werde (ebd.). In physiologischer Hinsicht erweckten die Empfindungen von äußeren Dingen >zitternde Bewegungen der Nerven, die Hartley »vibrations« nennt. Die reproduzierten Empfindungen hingegen ähnelten den ursprünglichen, seien aber wesentlich schwächer, so daß man von »Miniaturzitterungen« sprechen könne.170 Hartley knüpft hier an das nervenphysiologische Konzept der StahlSchule an. Diese hat entgegen der auch im 18. Jahrhundert noch vorherrschenden Lebensgeistertheorie die physiologische Bewegung bei einer Empfindung dadurch erklärt, daß die gespannten Nerven durch Sinnesreize wie Saiten angeschlagen und temporär von selber weiterschwingen würden. 171 Entsprechend sieht Hartley die Nervenvibrationen als eine Folge der einmal durch einen Sinnesreiz in Schwingung versetzten Nerven an; auch die reproduzierten Empfindungen beruhten auf solchen >vibrationszusammengekittet< würden (HA I, 377). Vielfach sei es nämlich der Fall, daß gewisse Ideenkomplexe die Imagination mit so großer Intensität anschlügen, und die Ideen so schnell aufeinanderfolgten, daß man nicht wisse, ob sie Erinnerungen oder Träumereien (Reveries) seien. Außerdem gebe es zahlreiche Leute, die dieselbe falsche Geschichte immer wieder erzählten, bis sie schließlich selbst glaubten, sie würden sich an sie als etwas tatsächlich Geschehenes erinnern. Der Grund hierfür liege 166

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Vgl. dazu, Part I, Chap. I, Sect. II, Prop. 8: HA I, 56. Diese »Rudiments or Elements of Memory« seien »Ideas of the common Appearances and Occurences of Life, under a considerable Variety of subordinate Circumstances.« (HA I, 375) Hier schreibt Hartley der Imagination das Vermögen zur Wiederholung und Vertiefung von Eindrücken und Ideen zu. Demnach bezieh: sich das Gedächtnis nicht direkt auf vergangene Sinneseindrücke, sondern auf die verfestigten Ideen der Imagination. So bezeichnet es Haller in seiner Rezension, vgl. Haller (1971), Bd. i, S. 81. S.o., Teil II, Kap. I.i. und I.i.i.

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in der Lebhaftigkeit der wiederholten Eindrücke, die so eng miteinander verbunden seien wie ein Ensemble wirklich vergangener Ereignisse, auf die sich das Gedächtnis beziehe (ebd.). In psychophysiologischer Hinsicht behauptet Hartley, daß solche Verwechslungen desto häufiger aufträten, je stärker materielle Ursachen auf den Verstand einwirkten, was besonders auf Personen mit einem leicht reizbaren Nervensystem oder auch auf Verrückte zutreffe (HA I, 377f.). Die Auffassung, daß Eindrücke und Ideen durch Wiederholung, Übung und Gewohnheit intensiviert würden, wird um 1750 in allen Positionen — sei sie psychophysiologisch, sei sie psychologisch-ästhetisch ausgerichtet - bestätigt. Hartley untersucht die Verfestigung von Ideen durch wiederholten Gebrauch vor allem in physiologischer Hinsicht, da nach seiner Ansicht alle willentlichen Kräfte von diesem Vermögen abhingen (HA I, 381 f.). So reflektiert er auf die ontogenetische Entwicklung des Gedächtnisses. Sie verlange ein schrittweises Lernen von einfachen Ideen, von Ideenclustern und deren gebräuchlichsten Kombinationen, außerdem das Lernen des Gebrauches von Worten und Ereignissen in Zeichen und Symbolen und der damit verbundenen Methode des Denkens und Urteilens (HA I, 379). Die Erzeugung der Begriffe geschehe durch eine wiederholte Wirkung verschiedener Empfindungen auf die >markige< Substanz des Gehirns, 172 indem die Sinnesreize durch die Art der zitternden Bewegung einen dauerhaften Effekt hinterließen. 173 Die Ideenfolgen verfestigten sich mit den Jahren zunehmend mehr, so daß wiederholte Eindrücke und Ideen bald eine >Hornhaut< des Gehirnmarks bildeten und sich deshalb im hohen Alter kaum noch neue Verbindungen etablieren könnten (ebd.). Die geistige Erziehung und das Alter entscheiden demnach ebenso über die Qualität des Gedächtnisses wie die physische Disposition des Gehirns, die durch Krankheiten, Gehirnerschütterungen und andere Störungen nachhaltig geschädigt werden kann (HA I, 380). Damit hat Hartley ein anthropologisches Konzept des Gedächtnisses entworfen, das äußeren Faktoren, Erziehung und Gewohnheit sowie individuellen physischen Dispositionen am meisten Bedeutung beimißt. 174 In die gleiche Richtung geht die Ansicht des Naturforschers und Arztes Johann Gottlob Krüger, der ebenfalls im Kontext der Stahl-Schule zu sehen ist.175 Er plädiert dafür, die Qualität des Gedächtnisses als kausale Wirkung 172

Im Original: »the Callosity of the medullary Substanz« (HA I, 380). Vgl. dazu kritisch Haller (1971), S. 8 . 174 Hartley stellt auch Überlegungen über die Kriterien eines gutes Gedächtnisses an. Es bestehe sowohl in der Aufnahmefähigkeit als auch dem langen Behalten von Eindrükken: »The most perfect Memory is that which can both receive most readily, and retain most durably.« (HA 1, 381) Eingeschränkt wird diese Aussage aber bereits im nächsten Satz: »But we may suppose, that there are Limits, beyond which these Two different Powers cannot consist with each other.« (ebd.) '" S.o., Teil II, Kap. I . i . i . I7
tabula rasa< an, das seit Aristoteles als Argument gegen den Innatismus, der Theorie von den angeborenen Ideen,178 verwendet wird, und als deren Gegner Krüger sich hiermit zu erkennen gibt. Die Metall-Metapher für das Gedächtnis geht möglicherweise auf den Cartesianer Malebranche zurück, der das Hinterlassen von Eindrücken im wörtlichen Sinne als ein Eingravieren von Spuren in die Gehirnfasern verstanden und mit der Technik des Kupferstechens verglichen hat.179 Krüger lenkt mit diesen Metaphern die Aufmerksamkeit auf die physiologische Disposition des Gedächtnisses. Im fünften Band seiner Anfangsgründe der Physiologie zieht Haller ebenfalls zunächst dessen physiologische Seite in Betracht. Er kommt zu folgendem Ergebnis: Der Mensch wird mit einem sehr beweglichen Nervensystem auf die Welt gebracht, es geschehen die Eindrükke seiner Sinne sehr lebhaft, und sie brechen so gleich in Thränen, und Krämpfe aus. [...] Mit den Jahren wird eben dieses Gehirn immer fester und einigermassen hart. Und alsdann ist die Wirkung der Empfindungen weniger schnell, und weniger stark, es bleiben im Gegentheile die Spuren der Dinge zurükke, und es ist nun diejenige Fähigkeit der Seele, welches man Gedächtnis nennt, gemeiniglich nach den achten Jahre, und bisweilen noch früher, im vollkommenen Stande da. Endlich wird das Gehirn gegen das fünfzigste Jahr immer härter [. ..]. Ifio

Wie Hartley sieht sich Haller durch empirische Beobachtungen darin bestätigt, daß sich im Alter neue Empfindungen immer weniger >eindrücken< könnten, gleichzeitig das Andenken an alte Dinge aber viel dauerhafter sei. Aufgrund der Erfahrung, daß »in den verschiednen Beschaffenheiten des Körpers, das Gedächtnis wachset, oder abnimmt, verschwindet, oder wiederhergestellt wird« (H V, 1061), folgert er, daß »in dem körperlichen Gehirne der Sizz der Spuren angetroffen werden [muß], welche die Empfindungen hinter sich gelassen haben« (ebd.). Nach Hallers physiologischem Modell bleiben nicht Eindrücke oder Bilder, sondern »Spuren« oder »Zeichen« im Gedächtnis zurück (H V,

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Krüger (1756), Versuch einer Experimental-Seelenlehre, § 76, S. 226. Vgl. auch Gottsched, GW I, § 904, S. 523. Krüger (1756), ebd. Anhänger dieser Theorie waren beispielsweise Leibniz und Wolff. Vgl. Malebranche, RL 194. S.o. Teil I, Kap. IV. i, Anm. 39. Vgl. Haller (1759—1776), Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. V (1772); zitiert als H mit Band- und Seitenzahl, hier H V, iO56f.

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io6if.).' 81 Auch er bestätigt die Ansicht, daß die Intensität solcher Spuren entscheidend von der oftmaligen Wiederholung der Empfindungen abhängt, auf die sich das Gedächtnis umso besser besinnen kann, je »tiefer« sie ins Gehirn >eingedrückt< sind (H V, 1064). Um den Stellenwert solcher physiologischen Argumente besser einschätzen zu können, sei hier zum Vergleich eine Passage aus Huartes Abhandlung Examen de Ingeniös para la Sciencias (1575) eingeschoben. Die Berühmtheit dieser Schrift im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts bezeugen zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen; die erste deutsche Übersetzung von Gotthold Ephraim Lessing unter dem Titel Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften erschien 1752. l82 Huarte verbindet Psychologie und Humoralpathologie Galenischer Provenienz. Er untersucht die drei Hauptvermögen Verstand (ratio), Gedächtnis (memoria) und Einbildungskraft (imaginatio), die er mit den drei physischen Grundqualitäten Trockenheit, Feuchtigkeit und Wärme korreliert. Das Gedächtnis definiert er als »eine Weiche des Gehirnes [...], da es durch einen gewissen Grad der Feuchtigkeit geschickt gemacht wird, dasjenige anzunehmen und zu behalten was die Einbildung wahrgenommen hat. 183 Folglich schließe ein starkes Gedächtnis (feucht) das gleichzeitige Bestehen eines großen Verstandes (trokken), nicht aber der Einbildungskraft (warm) aus.184 Indem sich Huarte explizit von Aristoteles abgrenzt, der das Gedächtnis als limitiert anfüllbaren Speicher von materiellen Bildern verstanden hat, kann er aus diesen Voraussetzungen nur folgern, daß aufgrund der Abnahme an Feuchtigkeit bei fortschreitendem Alter sich der Verstand verbessern und entsprechend das Gedächtnis verschlechtern müsse.185 Dies veranschaulicht auch er durch den Vergleich mit Wachs: Die Substanz ihres [der Alten] Gehirns wird also hart und kann den Eindruck der Bilder nicht annehmen; so wie das harte Wachs den Abruck des Siegels sehr schwer, das weiche aber sehr leicht annimmt. Das Gegentheil ereignet sich an jungen Leuten welche wegen der vielen Feuchtigkeit ihres Gehirns [...], wegen seiner grossen Weiche aber ein weit stärkeres Gedächtniß haben, weil die Bilder welche von aussen in das Gehirne kommen in dasselbe [...] einen weit grössern, leichtern, tiefern und deutlichem Eindruck machen können. 186 181

In diesem Punkt jedoch scheint Haller sich eher an Muratori anzuschließen (M I, 46) als an Hartley, dem er wegen der materialistischen Tendenzen seiner Psychologie, die der Theologe und Naturforscher Joseph Priestley so hervorgehoben hat, nur bedingt zustimmen kann. 182 Juan Huarte (1968), Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften. Übersetzt von G. E. Lessing. ND der Ausgabe Zerbst 1752 mit einer kritischen Einleitung und Bibliographie von M. Franzbach. München. Zur Verbreitung und Rezeption dieses Werks vgl. die Einleitung. 183 Ebd., S. I02f. 184 Ebd., S. 82; zum Status der Einbildungskraft vgl. S. 83f. 185 Ebd., S. 81: »[...] die Alten haben viel Verstand, weil sie viel Trockenheit haben und haben wenig Gedächtniß, weil sie wenig Feuchtigkeit haben.« 186 Ebd. 221

Mit der Gegenüberstellung der drei Positionen von Krüger, Haller und Huarte soll nicht die Tragfähigkeit metaphorischer Redeweisen angezweifelt werden. Vielmehr ist es die Absicht zu zeigen, daß die Folgerungen aus der Qualitätszuweisung weich oder hart für das Gedächtnis gemäß den jeweiligen Prämissen ganz unterschiedlich ausfallen: Während Krüger die Weichheit als Grund für Vergeßlichkeit und Haller für große Empfindlichkeit ohne Gewähr der Haltbarkeit von >Spuren< ansieht, beurteilt Huarte sie geradezu als Voraussetzung eines starken Gedächtnisses. Es muß demnach geklärt werden, in welcher Bedeutung hier Gedächtnis überhaupt verwendet wird und welches physiologische Modell ihm jeweils zugrundeliegt. Krüger betont am Gedächtnis das Behalten von Eindrücken, also dessen Speicherfunktion, Haller hingegen fragt nach den Voraussetzungen einer möglichst vollkommenen Reproduktion ehemaliger Vorstellungen und Huarte geht es darum, die drei hypothetischen physischen Grundqualitäten für die menschlichen Vermögen in ihren verschiedenen Konstellationen darzulegen. Die eingefügte Textpassage von Huarte kann deutlich machen, wie sehr sich um 1750 die Voraussetzungen für eine psychophysiologische Auffassung des Gedächtnisses geändert haben. Haller hat nicht nur auf der Basis von Beobachtung und Experiment die Sensibilität der Nervenfasern wie die Irritabilität der Muskelfasern entdeckt und damit der Physiologie zur Etablierung einer Fachdisziplin enormen Auftrieb gegeben, sondern die humoralpathologische Sicht wurde auch durch neue empirische Theorien des psychophysischen Zusammenhangs abgelöst. Wenn bei Haller, Krüger und ihren medizinischen Kollegen überdies von einem weichen oder harten Gehirn in bestimmten Lebensaltern die Rede ist, muß angenommen werden, daß dieser Aussage eigene anatomisch-physiologische Beobachtungen zugrundeliegen. Einer der Autoren, den Haller mehrfach zitiert und der zudem Elemente der Position Hartleys weiterführt, ist der Naturforscher und Philosoph Charles Bonnet.187 Seine Schriften der lyooer Jahre wurden schon um 1770 ins Deutsche übersetzt.'88 Darin hat er ein physiologisches Gedächtniskonzept entworfen, das auf einer ganz ähnlichen Nerventheorie basiert, wie sie Hartley vertritt. Dessen Behauptung, daß der Zustand des Gehirns bei äußeren wie inneren Empfindungen durch »zitternde Bewegungen« (vibrations)109 determiniert sei, schwingt in Bonnets Ansicht, Empfindungen seien »geschwinde Zitterun-

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Bonnets physiologische Psychologie spielt nicht nur durch die Rezeption Hallers, sondern vor allem durch Herders Anknüpfung daran für die Geschichte der Anthropologie auch in Deutschland eine wichtige Rolle. Vgl. hierzu R. Hafner (1994), »L'äme est une neurologic en miniature«: Herder und die Neurophysiologie Charles Bonnets. In: H.-J. Schings (Hg.), Der ganze Mensch, S. 390-409; und Hafner (1995). Im folgenden wird auf diese Übersetzungen rekurriert. HA I, 374. Zu Hartleys Nerventheorie vgl. Hallers Rezension, Über den Menschen [1750]. In: Haller (1971), S. 78-91, bes. S. 78-82.

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gen« I9 ° der Nervenfasern, nach. Damit wenden sich beide von der alten Hypothese der Lebensgeister ab. Bonnet nimmt an, daß die Schwingungen der »Empfindungsfibern« bei einer Erinnerung wie eine kleine Maschine funktionierten/ 9 ' die aber nicht spontan aus eigenem Antrieb, sondern aufgrund ihrer »ursprünglichen Struktur« und aus der »Anordnung der Elemente«' 92 entstünden. Die kleine Maschine sei dazu bestimmt, »den Eindruck des Gegenstandes [...] anzunehmen, zu überliefern, und aufs neue hervorzubringen.«' 93 Diese mechanische Struktur gibt einen Hinweis darauf, daß Bonnet die Erinnerung, die auf sinnliche Eindrücke Bezug nimmt, materialistisch auffaßt. Er fährt fort: [...] Mir däuchte, daß die Erinnerung, weil sie mit dem Körper in einer so genauen Verknüpfung steht, von irgend einer Veränderung abhangen müßte, welche in dem ursprünglichen Zustand der sinnlichen Fibern, durch die Wirkung der äussern Gegenstände, vorgieng [...]. [Also] habe ich gemuthmasset, daß die sinnlichen Fibern allerley mehr oder weniger anhaltende Veränderungen leiden; und daß eben hierin das Physische der Erinnerung und des Gedächtnisses bestehe."-14 Nicht nur überliefert die Fiber der Seele den Eindruck des äussern Gegenstandes; sondern sie zeichnet ihr auch die Erinnerung dieses Gegenstandes aufs neue vor. Diese Erinnerung ist von der sinnlichen Wahrnehmung anders nicht, als durch den Grad der Lebhaftigkeit unterschieden. Sie [...] hängt also, eben wie die sinnliche Wahrnehmung, von einer Bewegung ab, die, wiewol schwächer, in der Fiber vorgehet.'95

Bonnet benennt hier die physiologischen Voraussetzungen der Erinnerung. Sie geschieht durch die Bewegung der Nervenfasern und nicht durch die Kraft des Willens oder der Seele. Diese ist vielmehr angewiesen auf die physische Übermittlung von äußeren Gegenständen. So erscheint Erinnern oder Reproduzieren von ehemaligen Eindrücken als ein passiver Vorgang, wobei die Nerven durch Reize in Bewegung versetzt werden. Die Erinnerung unterscheidet sich kaum von der sinnlichen Wahrnehmung, wenn man ihre physiologische Genese betrachtet. Die Konsequenz ist, daß Struktur und Ordnung der Erinnerung dem physiologischen Arrangement der Sinnesdaten entsprechen. Bonnet sieht in dieser wiederholbaren Ordnung der Vorstellungen »eine von den führnehm-

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Charles Bonnet (1769/70), Philosophische Palingenesie [Orig. Genf 1769]. Übs. von J. C. Lavater. 2 Theile. Zürich, Tl. i, Kap. X, S. 26. Am Anfang der Philosophischen Palingenesie findet sich eine »Abgekürzte Analyse« des Analytischen Versuchs über die Seelenkräfte (1770/71) [Orig. Kopenhagen 1760, übs. von G.G. Schütz. 2 Theile. Bremen, Leipzig], worauf sich diese Passage zu Erinnerung und Gedächtnis bezieht. »Geschwinde Zitterungen« ist die Übersetzung für »oscillations«. 191 Vgl. Bonnet (1769/70), S. 24. 192 Ebd. 191 Ebd., S. 25. 194 Ebd., S. 26 (Hervorhebungen im Original). 195 Ebd., S. 29f. 223

sten Wirkungen des Gedächtnisses.«190 Dabei sei die Reproduktion von Vorstellungen, die nach seiner Ansicht mittels der Einbildungskraft geschieht,197 »gleichfalls mit der Erschütterung derselben Fibern verknüpft«, 198 mit denen die ursprünglichen sinnlichen Eindrücke verbunden waren. Erinnerung bedeutet demnach nicht nur Reproduktion der vergangenen Eindrücke und Vorstellungen, sondern auch Wiederholung der damit verbundenen nervösen Erschütterungen.'99 Daraus läßt sich folgern, daß physiologische Bewegungen Grundlage und Voraussetzung von psychischen Veränderungen sind. Dementsprechend geht es Bonnet darum, anhand nervenphysiologischer Beobachtungen die Determination der seelischen Vermögen durch den körperlichen Mechanismus aufzuzeigen. Damit befördert er die Ansicht, daß Erinnerung, Gedächtnis und die Einbildungskraft nicht als aktive psychische Kräfte in Erscheinung treten, sondern von der jeweiligen physischen Disposition und von materiellen Einflüssen determiniert werden. Ohne in diesem Zusammenhang die Regeln der Assoziation in Anspruch zu nehmen, rückt Bonnet durch die Konzentration auf physische Faktoren die unwillkürliche, leidende Seite der Erinnerung in den Vordergrund. Zugleich bezeichnet er das Gedächtnis, wie eine Reihe seiner Zeitgenossen, als »Vorrathskammer von Kenntnissen« 200 oder auch als ein »Cabinet von Schildereyen, darinn alle Stücke sich bewegen, und sich mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit und Mannichfaltigkeit verbinden«. 201 Über ein solches mechanisches »Cabinet« verfügten vor allem herausragende Künstler und Dichter — Bonnet nennt hier Michelangelo, Raphael, Homer, Virgil, Milton -, deren memorative Gehirnaktivität »ein mannichfaltiges Spiel vieler tausend Fibern« sei.202 Auch im Hinblick auf die künstlerische Produktivität bleibt Bonnet also bei seiner materialistischen Position. Interessant ist, daß sich Bonnet zufolge Einbildungskraft und Gedächtnis nur in der Lebhaftigkeit ihrer Reproduktionen unterscheiden: Der Einbildungskraft komme nur die Intensivierung der wiederholten nervenphysiologischen Erschütterungen zu, womit sie dem Gedächtnis helfe, »die Reihen der Wörter 196

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Ebd., S. 32. Vgl. auch Bonnet (1770/71), Analytischer Versuch, Tl. 2, S. 25; und ders., Betrachtung der Natur [Orig.: Amsterdam 1764], Übs. v. J. D. Titius. Leipzig 1774, S. 98. Bonnet (1769/70), Philosophische Palingenesie, Tl. r, IX, S. 23. Ebd. Ganz ähnlich behauptet der französische Philosoph Condillac: »Wenn eine Vorstellung sich in der Statue erneuert, dann also nicht deshalb, weil sie sich im Körper oder in der Seele erhalten hätte, sondern weil die Bewegung, die ihre physische Gelegenheitsursache ist, sich im Gehirn wiederholt.« Vgl. Condillac (1983), Abhandlung über die Empfindungen [Orig. 1754]. Auf.der Grundlage der Übersetzung von E.Johnson neu bearb. und hg. von L. Kreimendahl. Hamburg, hier S. 19. Bonnet (1774), Betrachtung über die Natur, Bd. i, S. 100. Ebd. Ebd.

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[...] einzuprägen«. 203 Sollen also Eindrücke im Gehirn haften bleiben, gelingt das mit Unterstützung der lebendigen Einbildungskraft besser. Beide Vermögen sind also eng aufeinander bezogen, da ihre Funktionen sich ergänzen. In diesem Punkt vertritt Bonnet die gleiche Ansicht wie Hartley. Dieser hat wiederholten Eindrücken den Status von schwächeren Empfindungen oder Nervenbewegungen en miniature zugesprochen, hält sie aber zugleich für intensivierbar, sofern sie durch die lebendige Kraft der Imagination erneuert würden. Auch Haller schließt sich dieser Anschauung mit Hinweis auf Bonnet an (H V, 1063) — eine Anschauung, die bereits der Philosoph E. B. de Condillac (1715 — 1780) in seinem Tratte des sensations (1754) vertreten hat: Gedächtnis und Einbildungskraft unterschieden sich »nur durch das Mehr oder Weniger«, 204 denn man sage »Gedächtnis«, wenn es die Dinge nur als vergangene zurückruft, und [es] nimmt den Namen »Einbildungskraft« an, wenn es sie mit solcher Stärke vorführt, daß sie gegenwärtig scheinen.205

Die beiden Vermögen sind also zwei Seiten einer Medaille. Dieser Nähe bei gleichzeitiger Aufgabenteilung wird von Haller dadurch Nachdruck verliehen, daß er ihre Behandlung in einem Paragraphen unter der Überschrift »Das Gedächtnis. Die Einbildungskraft« vereinigt (H V, io6i). 2 ° 6 Wie Condillac unterscheidet er die beiden Vermögen allein durch die Intensität der reproduzierten Empfindungen. 207 In der Unterscheidung von Gedächtnis und Einbildungskraft sind sich die Autoren - ob materialistisch orientiert oder nicht also einig: Das Gedächtnis erneuert die Empfindungsspuren in derselben Ordnung, in der sie bei einer Sinneswahrnehmung hinterlassen wurden. Die Einbildungskraft reproduziert vergangene Sinnesdaten, indem sie auch die ursprünglichen Empfindungen wieder lebhaft werden läßt, ohne sich aber strikt an deren Ordnung zu halten.208 Die mögliche Konsequenz einer Verwechslung von gegenwärtiger und reproduzierter Empfindung, die nicht mehr durch den abnehmenden Grad der Intensität auseinanderzuhalten sind, werden aus physiologischer wie aus psychologischer Sicht sehr ähnlich eingeschätzt — ein Befund, der in dieser Arbeit schon mehrfach anhand verschiedener Texte unterschiedlicher Provenienz aufgezeigt worden ist. Wird das Gedächtnis also auf die reproduzierende Tätigkeit eingeschränkt, und wird die Einbildungskraft mehr als repro203 204 205

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Bonnet (1769/70), Philosophische Palingenesie, Tl. i, IX, S. 33. Condillac (1983), S. 14. Ebd. Ganz ähnlich hat es der Wolffianer J. C. Gottsched in den Ersten Gründen der gesammten Weitweisheit (1762) aufgefaßt, vgl. GW I, §§ 887-904. Man meint Condillac zu lesen, wenn es bei Haller heißt: »[...] so nennet man es Gedächtnis, wenn man sich auf diese Zeichen wieder besinnet, und Einbildung, wenn die Empfindungen selbst wieder rege werden.« (H V, 1062) Auch Condillac vertritt diese Position; vgl. Condillac (1983), S. 8 und 17. "5

duktives denn als produktives Vermögen verstanden, schrumpfen die Unterscheidungskriterien zwischen beiden Vermögen auf ein Minimum. Nicht in jedem Fall ließe sich nämlich erkennen, welches der beiden nun gerade am Werke ist. In dieser Hinsicht ist Condillacs und Hallers These einer graduellen Differenz eine gute Möglichkeit zu zeigen, daß Gedächtnis und Einbildungskraft Hand in Hand arbeiten und aufeinander angewiesen sind. Die Darlegung der verschiedenen Gedächtnisauffassungen im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts hat gezeigt, daß Gedächtnis und Einbildungskraft nur selten ganz klar voneinander unterschieden wurden. Alle Autoren bestätigen, daß eine Abhängigkeit zwischen beiden Vermögen besteht und versuchen, ihre verschiedenen Funktionen gegeneinander abzugrenzen. So gilt Wolff und seinen Schülern die Einbildungskraft als Voraussetzung für das Gedächtnis, da dieses lediglich die Instanz für das Wiedererkennen vergangener Vorstellungen ist.209 Auch Krüger gibt sich hierin als Wolffianer zu erkennen, wenn er festlegt, daß »der Witz und die Einbildungskraft die Eltern sind, von welchen das Gedächtniß erzeugt worden.« 210 Ähnlich wird in der von Johann August Unzer herausgegebenen medizinischen Wochenschrift Der Arzt die Einbildungskraft »als Mutter des Gedächtnisses und der Dichtungskraft« bezeichnet.211 Vico hingegen hat das Gedächtnis als übergreifendes Vermögen der Erfindungs- und Einbildungskraft vorausgesetzt. Und Muratori erkennt in seiner Abhandlung Über die Einbildungskraft des Menschen in diesem Vermögen zwar auch die Voraussetzung für das Gedächtnis und alle anderen Erkenntnisvermögen (M I, 63), behauptet aber im Unterschied zu den genannten Autoren, 212 daß in der Einbildungskraft qua reproduktivem Vermögen das »Magazin des Gedächtnisses« (M I, 189) liege: In ihr würden die erlernten Dinge abgelegt, allein sie könne einen Vorrat an Eindrücken speichern (M I, 63). Muratoris Entscheidung für die Einbildungskraft als Speicher (M I, 187; I9if.) anstelle des Gedächtnisses ist wahrscheinlich darin begründet, daß er das Hinterlassen und Sammeln von Eindrücken materiell versteht, das Gedächtnis aber wie Willen und Verstand der Seele zuschreibt. 2 ' 3 Trotz der Immaterialität des Gedächtnisses räumt Muratori ein, daß dessen individuelle Unterschiede eine Folge der »Unähnlichkeit des Baus der Köpfe« und der »verschiedenen Beschaffenheit des Gehirns« seien 20

» Wolff, DM § 813; Meier, MM II, § 439; Gottsched, GW I, §§ 897-900. Vgl. Krüger (1756), Versuch einer Experimental-Seelenlehre, § 68, S. 212. 211 Der Arzt (1759-1764). Eine medicinische Wochenschrift. Tl. III (1760), 69. St.: »Von den Wirkungen der Einbildungskraft in den menschlichen Körper«, S. 257 — 271, hier S. 257. 212 Weiter oben wurden als Vertreter dieser Ansicht außer Walch und Gundling Vico, Meier, Krüger und Bonnet genannt. a 3 ' Die Tatsache, daß vergessene Dinge nicht im Verstand aufzufinden seien, interpretiert Muratori als Grund für die Materialität des Gespeicherten (M I, 181), von der er jedoch das Gedächtnis freihalten will. 210

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( , 190). Damit wird deutlich, daß er dieses seelische Vermögen gleichwohl durch physische Gegebenheiten und Zufälle für determinierbar hält. Die Metaphorik vom Gedächtnis als Vorrats-, Schatzkammer oder Magazin, die Muratori auf die Einbildungskraft übertragen hat, besagt aber nichts über die Art der Speicherung von Sinnesdaten, sondern nur, daß aus einem vorhandenen Reservoir Material entnommen werden kann. Die meisten Autoren jedoch charakterisieren das Gedächtnis sowohl als Speicher wie auch als aktives Vermögen zur Aufnahme, Aufbewahrung und zur Reproduktion von Sinneseindrücken. Demnach ist festzuhalten, daß es als komplexer Begriff für mehrere Akte gleichzeitig verstanden wird: für das Sammeln, Aufbewahren und Behalten, Erneuern, womöglich auch Wiedererkennen von vergangenen Eindrükken. 214 Entsprechend ist nicht nur die Reproduktion, sondern auch die Art, wie Eindrücke im Gedächtnis hinterlassen werden, Gegenstand der Untersuchungen. Hierbei ist das Verhältnis von Gedächtnis und Einbildungskraft zu klären. Autoren wie Hartley, Haller, Bonnet und Condillac und unter umgekehrten Vorzeichen auch Muratori bestimmen es hinsichtlich der Aufnahme und Reproduktion von Empfindungen in einem engen Zusammenwirken beider Vermögen, wobei sie der Einbildungskraft eine intensivierende Wirkung zusprechen. Das Stichwort, das in den untersuchten Texten durchgehend fällt, ist die Wiederholung von Vorstellungen: Durch sie würden Empfindungen nicht nur >tiefer< eingedrückt, sondern sie würden auch — hier die Version Hallers - »lebhafter und dauerhafter« (H V, 1064). Die oftmalige Wiederholung von Empfindungen und Eindrücken gilt als Voraussetzung für eine möglichst vollkommene Erhaltung der Ideenordnung zur Wirklichkeitserkenntnis, worauf es diesen Autoren ankommt. 215 Für den Wolffianer Baumgarten muß hier noch die Klarheit der wiederholten Eindrücke hinzutreten, damit sie tief im Gedächtnis haften bleiben. 2 ' 6 Hume, Gerard und der Muratori-Kommentator Richerz hingegen betonen stärker die Differenz, wenn sie nur das Gedächtnis auf die Reproduktion der ursprünglichen Ideenordnung verpflichten, den Ausgleich seiner Defekte aber dem assoziativ verfahrenden Vermögen der Imagination überlassen. Wichtig jedoch — und das haben nicht nur die erläuterten Artikel Walchs gezeigt - ist die Rolle aktueller Empfindungen, die mit vergangenen Vorstellungsfolgen nach Ort, Zeit, Ähnlichkeit und Kausalität verbunden die Repro214

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Auf das Letztere, die Funktion der Reminiszenz, hatten sich die Wolffianer verständigt, worin aber bereits Meier abweicht. Vgl. Hartley, H I, 375; Condillac (1984), S. 8. Bonnet versteht diese Wiederholung materialistisch als wiederholte gleichförmige Bewegungen in den Nerven, die dadurch »eine natürliche Geschicklichkeit« erlangten, diese Bewegungen »in einer beständigen Ordnung aufs neue hervorzubringen«; vgl. Bonnet (1774), Betrachtung über die Natur, Bd. i, S. g8f; auch Haller, H V, 1062. Vgl. Baumgarten (1766), Metaphysik, BM § 433.

duktion auslösen und bestimmen. Je nach Intensität gegenwärtiger Empfindungen können vergangene Vorstellungen und auch die mit ihnen verknüpften Empfindungen und Affekte wieder wachgerufen werden. Dabei wird meist der Einbildungskraft, teilweise auch dem Gedächtnis die Mittlerfunktion zur sinnlichen Basis zugeschrieben. So läßt sich sagen, daß im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts in wissenschaftlichen Kreisen die grundlegende Bedeutung des Assoziationsprinzips für die Vermögen des Gedächtnisses wie der Einbildungskraft allgemein anerkannt war. Zwar gibt es feine Unterschiede in den einzelnen Theorien, wenn nicht klar ist, ob nur der Einbildungskraft das Verfahren nach solchen Assoziationsregeln217 zuzuschreiben ist oder auch dem Gedächtnis, wenn es ausgehend von gegenwärtigen Empfindungen zurückliegende, damit verbundene Ideen reproduziert.218 Doch wird dadurch die Geltung der Assoziationstheorie nicht widerlegt. Vielmehr ist dann durch Zusatzbestimmungen zu klären, welcher der verfügbaren Gedächtnisauffassungen der Vorzug gegeben wird. Autoren mit medizinischem oder anthropologischem Blick ziehen eine weniger strikte Grenzlinie zwischen Gedächtnis und Einbildungskraft als Autoren mit einem spezifisch psychologischen Blick. Doch ist auch hier noch einmal zwischen Empiristen und Wolffianern zu unterscheiden, da erstere den Ordnungsaspekt der durch das Gedächtnis reproduzierten Ideen betonen und letztere die Reminiszenz, um zu versichern, daß reproduzierte Ideen auch tatsächlich eine vergangene Realität wiedergäben. Umgekehrt läßt sich sagen, daß nur denen eine klare Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Einbildungskraft gelungen ist, die jenem entweder nur die Funktion des Speichers oder der Reminiszenz zugesprochen oder aber die Imagination als ein produktives im Unterschied zum Gedächtnis als einem reproduktivem Vermögen bestimmt haben. Sobald beiden Vermögen die Aufgabe der Reproduktion von Eindrücken und Vorstellungen zugeteilt wird, entsteht das Problem ihrer Differenzierung. Dann sind sie allenfalls an der Intensität solcher Reproduktionen auseinanderzuhalten. Obwohl ein komplexer Gedächtnisbegriff zur Verfügung gestanden hat, stellt sich das Problem der Unterscheidbarkeit beider Vermögen gerade philosophisch interessierten Ärzten um 1750. Indem sie nämlich die physiologischen Voraussetzungen dieser beiden Vermögen untersucht und damit ihre Beziehung zu den Empfindungen thematisiert haben, erscheint das Gedächtnis nicht weniger auf die Sinnlichkeit bezogen als die Einbildungskraft. Das Spezifische der Einbildungskraft wird dann in der Geschwindigkeit der Nervenbewegungen und damit Lebhaftigkeit der Empfindungen, die sie erzeugt, gesehen. Aus ei217

2lH

So die These der Wolffianer, die sie als Bedingung der wiedererkennenden Funktion des Gedächtnisses ansehen. Das hat bereits Walch ausgeführt; vgl. Walch (1775), Bd. i, Art. Gedächtnis, Sp. 1479; und Art. Erinnerung, ebd., Sp. 1095.

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nem physiologischen Blickwinkel spielt die Frage nach ihrer produktiven Funktion demnach eine untergeordnete Rolle. In psychologischer wie auch ästhetischer Perspektive hingegen stehen die Verwechslung von realer und reproduzierter Empfindung sowie die Frage einer erhaltenen oder aufgelösten Ordnung der Ideen im Vordergrund. Diese Fragen sind um 1750 ebenso am Gegenstand des Traumes erprobt worden, dem theoretisch und auch als literarischem Genre mehr Freiheit in der Ausübung der Einbildungskraft zugestanden wurde. Der Traum, dem weniger eine prophetische Aussage entlockt werden sollte, sondern den man vielmehr zum Gegenstand psychologischer wie auch physiologischer Beobachtung erhob, war gleichwohl mit den Kategorien von Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit zu vermitteln. Hier traten die Auffassungen der verschiedenen philosophischen Schulen im europäischen Raum deutlicher auseinander als bei den aufgezeigten Gedächtniskonzepten.

4. Anthropologisierung des Traumes: Ordnung und Unordnung der Ideen im Gehirn Denn der Traum ist nichts anders als ein Fricaßee, welches die Seele aus ihrer Vorrathskammer bereitet, da sie, ohne auf vernünftige Wahl zu sehen, eines nach dem ändern nimmt, wie es ihr zuerst vorkömmt. Ein Eßen wird sauer oder süße, nachden die Sachen sind, welche dazu genommen werden. 2 ' 9 L'imagination de la Veille est un Republique policee, ou la voix du Magistrat remet tout en ordre; l'imagination des Songes est la meme Republique dans letat d'Anarchie. 220 Der ganze Traum bildungskraft. 221

ist eine Creatur unserer Ein-

Träume als Produkt der psychologisch erfaßbaren und individuell geprägten Einbildungskraft anzusehen, war eine Neuerung im 18. Jahrhundert. 222 Sie wurden nicht mehr wie im 16. und 17. Jahrhundert nach bedeutenden Traum219

J. G. Krüger (1756), Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Halle, § 61, S. 200.

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Jean Henry Samuel Formey (1754), Essay sur le Songes. In: Formey, Melanges philosophique. Leiden, S. 159-184. Der Gesellige (1987). Eine Moralische Wochenschrift herausgegeben von S. G. Lange und G. F. Meier. ND der Ausg. Halle 1748-1750. Hildesheim u.a., Bd. 4 (1749), 145. St., S. 4. — Diese Auffassung ist >common sense< um 1750. In seinem Aufsatz Johann Gottlob Krügers »Träume". Zu einer wenig beachteten literarischen Gattung des 18. Jahrhunderts stellt Wolfram Mauser fest, daß durch die Erkenntnis des Zusammenhangs von Einbildungskraft und Traum vor allem ab Mitte des 18. Jahrhunderts eine »fortschreitende Psychologisierung des Vorgangs« stattgefun-

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genera geordnet, um sie als Sendungen der Gestirne, Gottes oder des Teufels mit Hilfe von Traumbüchern interpretieren zu können. Außerdem stützte man sich nicht mehr auf die Technik der >ars memorativa< zur Aktualisierung und Deutung der Träume nach dem Schlafzustand, wie es in der Frühen Neuzeit der Fall war, in der vor allem die prominenten Traumbücher Artemidors oder Cardanos benutzt wurden. 223 Auch im 18. Jahrhundert gab es für solche Traumbücher noch einen Markt, bedenkt man allein die zahlreichen Neuauflagen der berühmten Ryff-Übertragung von Artemidors Traumbuch bis in die Mitte dieses Jahrhunderts. 224 Doch in dieser Zeit hatten sie bereits ihre Autorität, zumindest in gelehrten Kreisen, eingebüßt. Man verließ sich lieber auf den eigenen Verstand und nutzte die Träume zur Selbsterkenntnis. Eine mögliche vorhersagende Bedeutung des Traumes sollte allenfalls aus dem psychologischen Zusammenhang der Einbildungskraft, die aus bekannten Elementen neue Dinge kombiniert, begründet werden. Die Kritik und Ablehnung überlieferter Traumbücher, die in den meisten Abhandlungen um 1750 explizit geäußert wurde, zeugt davon, daß der Glaube an übernatürliche Einwirkungen im Traum fortbestand und die Entschlüsselung der Traumsymbole mithilfe solcher Bücher eine noch durchaus verbreitete Praxis war. Diesem Glauben galt es, etwas entgegenzusetzen. Denn die mantische und astrologische Tradition im Umgang mit Träumen225 widersprach dem aufklärerischen Anspruch, solche

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den hat. In: A. Finck und G. Greciano (Hg.) 1988, Germanistik aus interkultureller Perspektive. Straßburg (= Collection Recherches Germaniques. i), 8.49 — 59, hier S. 54. Vgl. dazu den Beitrag von T. Rahn (1993), Traum und Gedächtnis. Memoriale Affizierungspotentiale und Ordnungsgrade der Traumgenera in der Frühen Neuzeit. In: J. J. Berns und W. Neuber (Hg.), Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400—1750. Tübingen, S. 331-350. Zu den Techniken der Traumdeutung aus übernatürlichen Zeichen bei Cardano und anderen Autoren der Frühen Neuzeit vgl. die Studie von S. Niessen (1989), Traum und Realität — ihre neuzeitliche Trennung. [Diss.] Darmstadt, bes. Kap. 3. Die in der Aufklärungsepoche letzte Auflage der Übertragung ins Deutsche von Walter Hermann Ryff [zuerst 1540] erschien 1753 in Leipzig unter dem Titel Des Griechischen Philosophen Artemidori Grosses und vollkommenes Traum-Buch, In dem der Ursprung, Unterschied und die Bedeutung allerhand Träume, die einem im Schlafe vorkommen können, aus natürlichen Ursachen hergeleitet wird, Nebst einer Erinnerung Philipp Melanchthons vom Unterschied der Träume und angehängten Berichte, was von Träumen zu halten sey. Artemidor, Zeitgenosse Galens, zog vor allem die Traumgesichter (»enypnioi«) und prophetischen Traumbilder (»oneiroi«) in Betracht, erwog aber gleichzeitig ihre Korrespondenz zu körperlichen Veränderungen. Vgl. dazu R. E. Siegel (1973), Galen on Psychology, Psychopathology, and Function and Diseases of the Nervous System. An Analysis of his Doctrines, Observations and Experiments. Basel, München u.a., S. 172. Diese Tradition ist bis zu Hippokrates, Galen und Aristoteles zurückzuverfolgen, obwohl letzterer Visionen und Vorahnungen im Traum für zufällig erklärte. Vgl. dazu L. Binswanger (1928), Wandlungen in der Auffassung und Bedeutung des Traumes von den Griechen bis in die Gegenwart. Berlin; P. Diepgen (1912), Traum und Traumdeutung als medizinisch-naturwissenschaftliches Problem im Mittelalter. Berlin;

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Phänomene aus der Natur des Menschen zu erklären. Dieser Anspruch sollte auch in der Beschäftigung mit einem psychologisch so schwierigen Thema wie dem Traum oder gar dem Schlafwandeln nicht aufgekündigt werden. So ist gerade im Wolffianismus das Bemühen zu sehen, die logischen Prinzipien des Verstandes auch auf die dunkelsten Seiten der Seele anzuwenden und damit die Grenze des Unbewußten und vernünftig nicht mehr Kontrollierbaren auf ein Minimum zu reduzieren. Demgemäß wurde Träumen allenfalls im negativen Sinne eine eigene Traumlogik zugesprochen.226 Sie wurden vielmehr als Fortsetzungen der Gedanken im Wachzustand angesehen und galten deshalb, wenn auch nur mittelbar, durch den Willen und die vernünftige Erkenntnis beeinflußbar.227 Um die Jahrhundertmitte wurde diese Auffassung auch in den Aufklärungsorganen der Moralischen Wochenschriften von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier popularisiert, indem sie dem Publikum moralisierende Traumerzählungen und kurze Abhandlungen über den Nutzen der Träume darboten. Neben dieser theoretischen und moralpragmatischen Erfassung des Traums, die zugleich mit einem normativen Anspruch verbunden war, nur »klare«, »bewußte« Träume ernst zu nehmen, 22 wurde aber auch ein medizinisch-diätetisches Interesse laut, das vor allem von Psychomedizinern wie J. G. Krüger, E. A. Nicolai oder auch A. v. Haller bekundet wurde. 229

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R. E. Siegel (1975), S. 165 — 172; und neuerdings E. Lerner (1994), Himmelsvision und Sinnendelirium. Franziskaner und Professoren als Traumdeuter im Paris des 13. Jahrhunderts. In: Historische Zeitschrift 259, H. 2, S. 337 — 367. Die ganze Ambivalenz, die im Wolffianismus die Beurteilung der Einbildungskraft kennzeichnet — entweder nach rationalen Prinzipien zu verfahren und insofern Wahrheit zu erkennen, oder sich spielerisch ausschweifenden< Assoziationen zu überlassen und damit falsche Vorstellungen, Hirngespinste zu erzeugen —, prägt auch die Einschätzung des Traumes als eines Produktes der Einbildungskraft. In dieser Hinsicht lassen nur die ungeordneten, unzusammenhängenden und widersprüchlichen Bilder auf eine eigene Logik des Traumes schließen. Einen solchen »mittelbaren Einfluß« des Willens auf den Traum vertritt vor allem Georg Friedrich Meier. Darauf ist bei der Lektüre der Moralischen Wochenschriften genauer einzugehen, s.u. S. 2igff. In Wolffs Deutscher Metaphysik (1720) wird der Traum als Zustand klarer und deutlicher Vorstellungen bezeichnet, da man sie unterscheiden und ihrer bewußt werden könne (DM § 801); allerdings seien diese Vorstellungen nicht ineinander gegründet, also unordentlich (§§ 240; 803). Wie Wolff bezeichnet E. A. Nicolai Träume als klare Vorstellungen, von denen wir Bewußtsein haben; vgl. Nicolai (1751), Gedancken von den Würckungen der Einbildungskraft in den menschlichen Körper. Halle, § 65, S. 136; § 75, S. I56f. Zu Wolff und dem Wolffianismus vgl. S. Carboncini (1991), Transzendentale Wahrheit und Traum. Christian Wolffs Antwort auf die Herausforderung durch den Cartesianischen Zweifel. Stuttgart, Bad Cannstatt. Vgl. W. Mauser (1988), S. 53f. Dieser bereits genannte Aufsatz stellt eine Ausnahme in der sehr raren Forschung zu Traumliteratur im 18. Jahrhundert dar. Im folgenden werden die Ergebnisse Mausers, die sich neben diesem medizinisch-ästhetischen Aspekt vor allem auf die Gattung der Traumliteratur als Satire beziehen, durch Beobachtungen an Texten aus dem Wolffianismus, den Moralischen Wochenschriften von

Dadurch wurden andere Aspekte des Traums zur Diskussion gestellt. Die Autoren nutzten die Traumanalyse seit Mitte der vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts nicht nur als Chance, den psychophysischen Zusammenhang des Menschen anhand der körperlichen Ursachen der Träume auf die Spur zu kommen, 230 sondern auch, die unwillkürlichen, unbewußten Beweggründe des Handelns kennenzulernen. Folglich äußerte sich in der Beschäftigung mit dem Traum ein klares anthropologisches Interesse, das über die Klassifizierung des Traums innerhalb des philosophischen Systems wie etwa in Baumgartens Melaphysica (1735) hinausging. 231 Auch die philosophischen Schriften materialistischer und sensualistischer Provenienz wie David Hartleys Observations on Man (1749), E. B. de Condillacs Tratte des sensations (1754) und die Abhandlungen Charles Bonnets räumten dem Traum als psychophysiologischem Phänomen einen besonderen Stellenwert ein. 232 Seit den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts häuften sich die Abhandlungen zu diesem Thema. Als literarische Gattung wurde der Traum zur Satire, Utopie oder Gesellschaftskritik genutzt.233 Das Ziel des vorliegenden Kapitels ist eine Verbindung der verschiedenen Perspektiven von Psychologie, Physiologie und Moralistik im Umgang mit den Phänomenen des Traumes aufzuzeigen, wobei der Aspekt des literarischen Genres Traum jedoch nicht weiterverfolgt wird. 234 Lange/Meier, außerdem an den theoretischen Positionen von Hartley, Condillac, Muratori, Formey und Haller zum Thema Traum ergänzt und erweitert. 230 Die psychophysiologische Betrachtung des Traumes hat eine ebenso lange Tradition wie deren mantische Deutung; diese Traditionslinien verlaufen parallel und überschneiden sich vielfach. So hat beispielsweise auch Jeremias Lossius im späten 17. Jahrhundert die physischen Ursachen des Traumes thematisiert. Vgl. J. Lossius (1701), Curiose Gedancken von Alpe. Übs. von M. M. Dresden, Leipzig. 231 In seiner Metaphysica (1735) handelt Baumgarten den Traum innerhalb nur eines Paragraphen (§ 442) ab, in dem er klare von falschen, natürliche von unnatürlichen und auch von übernatürlichen Träumen unterscheidet. Vgl. auch dessen Aesthetica (1750/58), in der er den Traum mit den Gestalten der Poesie parallelisiert und an ihn denselben Maßstab wie an Fabelwesen anlegt, die wegen ihrer inneren Widersprüchlichkeit aus dem Bereich des >schönen Denkens< herauszuhalten seien. Vgl. H. R. Schweizer (1973), Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Eine Interpretation der »Aesthetica« A. G. Baumgartens mit teilweise Wiedergabe des latein. Textes und dt. Übersetzung. Basel, Stuttgart, §§ 455-456, S. :88f. 232 Französische Traumabhandlungen in ihrem europäischen Kontext hat bereits L. G. Crocker untersucht; vgl. dessen Aufsatz L'Analyse des reves au XVHIe siede (In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 23 (1963), S. 271 — 310). 233 So Wolfram Mauser (1988) bzgl. der Träume (1754) des Naturforschers und Arztes J. G. Krüger. — Eine psychoanalytische Interpretation des Traum-Literatur in bezug auf Gleim, Uz und J. N. Götz hat Yves Carbonnel in dem Aufsatz Le reve rococo. Essai sur thematique de reve chez le poetes rococo de l'Ecole de Halle geliefert (In: Cahiers d'etudes germaniques 7 (1983), S. 69—91). 214 Für die englische Traktat- und schöne Literatur um 1750 vgl. den Aufsatz von Janet E. Aikins (1987), Accounting for Dreams in Clarissa. The Clash of Probabilities. In: C. Fox (Ed.), Psychology and Literature in the i8th Century. New York, S. 167-197. 232

Der allmähliche Wandel im Umgang mit Träumen und Traumbüchern im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts läßt sich ansatzweise an dem Artikel »Traum« im Zedlerschen Universallexikon ablesen.235 Galt dort zwar noch die Einteilung der Träume in göttliche, teuflische und natürliche, also profane,236 heißt es jedoch, daß die Zusendung von Träumen durch Gott zu dieser Zeit ebenso wenig mehr zu erwarten, geschweige den nachzuweisen sei, wie die Behauptung, daß der Teufel solche verursachen könne.237 Wenn auch die Sammlung religiöser und weissagender Traumgeschichten von der Antike bis zum 17. Jahrhundert den Hauptteil des Artikels bestreitet, so ist der Autor des Artikels trotzdem durchgängig der Auffassung, daß sich die meisten sogenannten prophetischen Träume ohne Zuhilfenahme übernatürlicher Kräfte erklären ließen.238 Dies belegt auch das fünf Spalten lange Zitat aus einem Artikel aus Bayles Historischem und Kritischem Wörterbuch.iy) Das Zitat beginnt, wie folgt: Es wäre zum Besten und zur Ruhe des Gemüthes unzehliger Leute zu wünschen [...], daß man von denen Träumen niemahls, als von einer Sache geredet hätte, die das Zukünfftige vorhersaget. Denn die Leute, die einmahl in diesen Gedancken ersoffen sind, bilden sich ein, daß die meisten Bilder, welche sich ihren Gedanken im Traume vorstellen, eben so viel gefährliche Vorhersagungen sind.240

In dem Bayle-Zitat mit der klaren Absage an eine prophetische Bedeutung des Traumes wird ein wichtiges Argument verwendet, das auch in der Folgezeit immer wieder zur Disqualifizierung der antiken Traumbücher sowie der >Traumdeuterei< schlechthin zu lesen ist: sie vermehrten die »pöbelhaffte

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Zedler, Universal-Lexikon. Halle, Leipzig, Bd. 45 (1745), Sp. 173 — 208. Genauso wurden sie auch in Walchs Philosophischem Lexikon (1775) klassifiziert, vgl. Bd. II, Sp. 1183. Für die folgenden Belege vgl. den Traum-Artikel in Zedlers Universal-L·xikon (Bd. 45): »Die Worte Gottes beym Mose gehen nur auf eine gewisse Zeit« (Sp. 187). »Wenn man demnach die Träume, worinnen etwas besonders, oder gar Göttliches gesucht wird, recht erweget, so wird sichs finden, daß sie nicht von Gott herkommen; Zumahl, da nicht zu erweisen stehet, daß man noch heutiges Tages Göttliche Träume erwarten könne.« (Sp. 196) — »[...] Man kann aber diese Träume eigentlich nicht teuflische nennen, weil sie nicht unmittelbar von ihm herrühren; sondern sie entstehen natürlicher Weise von denen Gedanken, womit solche ohnedem halb wahnsinnige Leute sich vielfältig schleppen, nachdem sie närrisches Zeug in den Büchern gelesen, oder von ändern gehöret haben.« (Sp. 199-200) Daß es auch schon in der Renaissance eine »Tendenz zur Naturalisierung des Magischen und Wunderbaren« gab, weist Niessen bei Cardano auch mit Blick auf Pomponazzi und Paracelsus nach; vgl. Niessen (1989), S. 128. Das Original von Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique erschien 1695 — 1697 in Rotterdam. J. C. Gottscheds Übersetzung ins Deutsche unter dem Titel Historisches und Kritisches Wörterbuch wurde 1744 publiziert. — In der Moralischen Wochenschrift Der Gesellige wird auf diesen im Universal-Lexikon zitierten Majus-Artikel Bayles Bezug genommen; vgl. Der Gesellige, Bd. V (1749), 145. Sr., S. 5. Zedler, Bd. 45 (1745), Sp. 202. 233

Sage«241 und wären »gemeiniglich« eine Sache »alte[r] Weiber«.242 Die Behandlung des Traums stand bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem im Kontext der Aberglaubens- und Vorurteilskritik. So wurde auch in der Moralischen Wochenschrift Der Mensch im 395. Stück des zehnten Bandes (1755) die Ansicht, daß Träume einen Blick in die Zukunft erlaubten, als »lächerlicher Aberglaube« und »pöbelhaftes Vorurtheil« entlarvt und der Verfasser von Traumbüchern als »Dumkopf, [...] Phantast, oder [...] Betrieger« gebrandmarkt.243 Der richtige Umgang mit Träumen im Sinne des bürgerlichen Tugendideals der Moralischen Wochenschriften wird den Lesern gleich im Anschluß anempfohlen: Die vernünftige und sicherste Traumdeuterey besteht darin, daß man die Träume als Zeichen, nicht etwa unserer uns bevorstehenden glücklichen oder unglücklichen Zufälle, sondern als Zeichen unserer Gesinnung und ganzen Gemüthsbeschaffenheit betrachte. Daher denn [...] die Pflicht entsteht, vermöge welcher ein vernünftiger Mensch seine Träume als Mittel der Selbsterkenntnis zu gebrauchen verbunden ist. 244

In dieser Passage wird der Wandel von einer überindividuellen, weissagenden Traumbedeutung hin zu einer Individualisierung des Trauminhalts für die Erkenntnis der eigenen moralischen Natur anschaulich. Die Absage an eine mantische oder prophetische Deutung von Träumen wird in den populär ausgerichteten Moralischen Wochenschriften von Lange/Meier über den Perspektivwechsel auf die jeweils konkrete Lebenssituation begründet.245 Durch die Änderung der Blickrichtung auf die eigenen Handlungsmotive und >Gemütszustände< in den Traumbildern soll der Mensch aber auch für seine Handlungen im schlafenden Zustand verantwortlich gemacht werden. Unter der Prämisse, daß die Vorstellungen und Handlungen im Traum von dem Zustand der Einbildungskraft 241 242

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Ebd., Sp. 205. Ebd., Sp. 20l. Vgl. Der Mensch (1992). Eine Moralische Wochenschrift herausgegeben S. G. Lange und G. F. Meier. ND der Ausg. Halle 1751-1755. 10 Bde. in 5 Bdn. Hildesheim u.a., Bd. X, 395. St.: Betrachtung von Träumen, nebst Traumliebs Schreiben, hier S. 202. Ebd. In der Moralischen Wochenschrift Der Glückselige wird dem Leser geraten: »Allein, wenn man nicht durch seinen eigenen Verstand die Deutung leicht finden kan: so gebe man sich ja keine Mühe. Nimmermehr sind Traumbücher im Stande, hier was zu leisten, weil die Umstände des Verfassers davon keine Deutungen meist veranlaßt haben; unsere Umstände hingegen ganz anders sind.« Vgl. Der Glückselige (1763 — 1768). Eine Moralische Wochenschrift herausgegeben von S. G. Lange und G. F. Meier. 12 Bde. Halle, Bd. IV (1764), 121. St., S. 281. Auch Krüger kritisiert in der Vorrede seiner Träume (1758), daß in den Traumbüchern das Individuelle unzulässig verallgemeinert werde, ohne daß - wie nach der Methode des Hippokrates - eine große Anzahl an Einzelfällen gesammelt worden sei. Er folgert daraus, daß Traumbücher deshalb »nirgends häufiger als in den Händen des niedrigen Pöbels angetroffen werden.« (o. P.)

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und der Dichtungskraft 246 im Wachzustand »mittelbar« abhingen — denn die Wirkung sei wie die Ursache247 — , werden drei »Pflichten« 248 für den Menschen formuliert. Neben der »Beförderung der Selbsterkenntnis«, worin »unstreitig der gröste Nutzen« 249 der Träume liege, soll der Mensch »seine Phantasie und Dichtungskraft [...] verbessern«, indem er sich vor dem Einschlafen »mit lauter guten und erlaubten Gedanken« beschäftigt250 und außerdem lasterhafte, sündige Vorstellungen unterdrückt, denn: Ein Mensch, der des Tages über an lauter unkeusche Sachen denkt, und brünstig einer Frauensperson nachwiehert, und seine unkeusche Begierden aufs äusserste sättiget; [...] so wird er dadurch ein noch größerer Hurenjäger, und noch dazu mit dem Unterschied, daß er im Traum sein eigener Bordelwirth ist. 25 ' Die Drastik dieser Passage sollte abschrecken, und der naheliegende Umkehrschluß — wer erotisch-sexuelle Träume hat, pflegt auch des Tages solche Begierden — konnte seine Wirkung nicht verfehlen. So wie man sich durch den ordnungsgemäßen Gebrauch der unteren Seelenkräfte angewöhnen könne, »regelmäßig zu phantasiren und zu dichten« 2 ' 2 und somit auch tugendhaft zu träumen, gilt eben der umgekehrte Fall, läßt man seine Einbildungs- und 246

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An der Unterscheidung von Einbildungskraft und Dichtungskraft, deren »Gewebe« den Traum konstituiert (ebd., S. 194), läßt sich die Handschrift Meiers erkennen, der dezidierter als Wolff und Baumgarten das Vermögen zur Reproduktion (Einbildungskraft) von dem zur neuen Zusammensetzung der Ideen (Dichtungskraft) gegeneinander abgrenzte. In diesem 395. Stück der Moralischen Wochenschrift Der Mensch heißt es von den Träumen, daß manches in der »Einrichtung und Beschaffenheit von dem freyen Willen, aber nur, auf eine entfernte und mittelbare Art, herrühre. [...] Nun weiß jedermann, daß eine Wirkung nicht anders beschaffen ist, als ihre Ursach. [...] Die Kräfte der Seele können im Schlaf nicht anders wirken, als sie beschaffen sind.« (S. igof.) Dasselbe Argument wurde bereits in der Moralischen Wochenschrift Der Gesellige in dem etwas weniger ausführlichen 145. Stück: Von der nützlichen Anwendung des Träumern benutzt; vgl. Bd. IV (1749), 145. St., S. 5: »Der ganze Traum ist eine Creatur unserer Einbildungskraft. Nun ist die Wirkung allemal so beschaffen, als ihre Ursach. Folglich beruhet die Beschaffenheit unserer Träume auf der Natur unserer Einbildungskraft. Ein Mensch, der im Wachen seine Einbildungskraft verbessert, und dieselbe angewöhnt, ihm lauter angenehme Bilder darzustellen, der muß nothwendig mehrentheils angenehme Träume haben.« Vgl. auch die Passage in Meiers Philosophischer Sittenlehre: »Ich behaupte [...], daß manche Träume [...] auf eine mittelbare und entfernte Art, von der Freyheit des Menschen abhangen, und daß man also mit recht sagen könne, ein Mensch könne im Traume [...] sündigen oder rechtmäßig handeln.« (zitiert nach der 2. Aufl. (Halle 1762-1766, Th. 3 (1764), S. 79. Der Mensch, Bd. X, 395. St., S. 199-203. Ebd., S. 206. Dieser Nutzen wird auch in den anderen Moralischen Wochenschriften von Lange/Meier betont. Vgl. Der Mensch, Bd. IV (1749), S. 6; Der Glückselige, Bd. IV (1764), 119. St., S. 248. Der Mensch, Bd. X, 395. St., S. 199. Ebd., S. 200. Ebd., S. 197.

Dichtungskraft »verwildern«. 253 Die Auffassung von unmoralischen Träumen ist nur dann sinnvoll, wenn der Traum als eine direkte Weiterführung der psychischen Inhalte des Wachzustandes betrachtet wird. Widersprüche, Ersatzbefriedigungen oder das Durchbrechen von unterdrückten Wünschen im Traum scheinen hier ausgeschlossen zu sein. Der Traum gilt als Spiegel, manchmal sogar als klarerer Spiegel des Wachzustandes: Durch ihn könne man »seine wahre Gesinnung gewissermaßen viel untrieglicher erkennen«, 254 denn im Traum »denken und handeln wir ganz unverstelt«. 255 Allerdings ist direkt an das 395. Stück ein kurzes Bekenntnis unter dem fiktiven Namen »Traumlieb« angefügt, das die hier ausgeführte Ansicht wieder aufhebt: Der anonyme Verfasser berichtet über sein karges Leben am Tag bei Wasser, Brot und »schlecht zugerichtetem Gemüse«,256 das er durch die Vorstellung opulenter Gerichte im Traum kompensiert, die zudem »weder Magendrücken, noch Übelkeiten« 257 hervorriefen. Da das Bekenntnis mit dem sparsamen, bürgerlichen Tugendideal vereinbar war, konnte es hier an eine Stelle treten, an der es dem Ideal eines kontrollierbaren tugendgemäßen Traumes aufgrund entsprechender Geisteshaltung direkt widersprach. In gleicher Weise wird in der Moralischen Wochenschrift Der Glückselige die Möglichkeit ersatzhafter Wunschbefriedigung im Traum gutgeheißen,258 ohne den heiklen Fall guter Träume trotz eines lasterhaften Lebens als Gegenbeispiel in Betracht zu ziehen.259 Dieser Befund zeigt, daß die Konsequenz einer widersprüchlichen Technik zur moralpragmatischen Beeinflussung der Träume nicht reflektiert wurde: Um Sünde zu vermeiden, mußte die Einbildungskraft im Wachen korrigiert werden, damit sie entsprechend, wenn auch mittelbar, den Traum prägen könnte;200 fehlte es jedoch einem solchen tugendgemäßen Leben an GlückseligkeitNachtwanderngnoseologia inferior< gehören außerdem die Aufmerksamkeit, das Abstraktionsvermögen, Witz und Scharfsinnigkeit, Gedächtnis, Geschmack, das Vermögen zu vermuten und vorherzusehen sowie das Bezeichnungsvermögen. Mit dieser Einteilung folgt Meier seinem Lehrer Baumgarten; vgl. ders. (1988), §§ 30—38. MM I, §§ 181 — 182, S. 429^ Meier stützt sich hier auf Baumgartens Metaphysica (1979), wo dieser die >symbolische Erkenntnis< für wirkungslos hinsichtlich der Antriebskräfte der Seele bezeichnet, die >anschauende Erkenntnis< hingegen als rührend, bewegend, tätig, wirksam: »solo intuitiua mouens« (§ 669; vgl. auch §§ 620 u. 652). MM I, § 182, S. 430. 259

striert Meier im ersten Abschnitt seiner Anfangs gründe am Beispiel der Betrachtung der Haut einer »schönen Person« durch die Lupe.18 Indem er die anschauende Erkenntnis und das sinnliche Vergnügen des Publikums betonte, führte er Ansätze der Poetik Bodmers und Breitingers weiter, fundierte sie aber theoretisch in der durch Baumgarten neubegründeten Ästhetik. Während die Schweizer eine »Rationalisierung und Verwissenschaftlichung der Poetik und Kunsttheorie« anstrebten,19 ohne das »Wahre der Einbildung« 20 erkenntnistheoretisch abzusichern zu können, 21 versuchten Baumgarten und Meier philosophisch fundierter als diese, der Ästhetik einen Ort im System der Weltweisheit zuzuweisen. Ihre Integration in das philosophische Programm verpflichtete sie auf die Beförderung der Glückseligkeit und funktionalisierte sie dadurch für außerästhetische Zwecke.22 Die Zürcher sahen in ihren poetologischen Schriften von 1740/41 die Rührung des Publikums als unablässige Bedingung der beabsichtigten Tugendund Wahrheitsvermittlung an. So war ihre Poetik von Anfang mit dem unauflöslichen Widerspruch behaftet, philosophische Wahrheit mit >poetischer Wahrscheinlichkeit zu versöhnen.23 Dichtung sollte durch die Einbildungskraft des Poeten auf die des Rezipienten, also auf die sogenannten unteren Ifi

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MM I, § 23, S. 39: »Die Wangen einer schönen Person, aufweichen die Rosen mit einer jugendlichen Pracht blühen, sind schön, so lange man sie mit blossen Augen betrachtet.« Doch betrachtet man sie unter einem Vergrösserungsglas wird man es »kaum glauben, daß eine eckelhafte Fläche, die mit einem großen Gewebe überzogen ist, die voller Berge und Thäler ist, deren Schweislöcher mit Unreinigkeit angefült sind, und welche über und über mit Hären bewachsen ist, der Sitz desjenigen Liebreitzes sey, der die Herzen verwundet.« — Zu diesem in der Forschung vieldiskutierten Beispiel vgl. M. Jäger (1984), Die Ästhetik als Antwort auf das kopernikanische Weltbild. Die Beziehungen zwischen den Naturwissenschaften und der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers. Hildesheim, Zürich, New York (= Philosophische Texte und Studien. Bd. 10), S. 190 — 216. A. Costazza (1992), Imkatio Naturae in der Poetik der italienischen und der deutschen Aufklärung. In: I. M. Battafarano (Hg.), Deutsche Aufklärung und Italien. Bern, Frankfurt/M. u.a. (= IRIS. Bd. 6), S. 87-130, hier S. 91. Vgl. Breitinger (1966), Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe [Zürich] 1740. 2 Bde., Stuttgart; im folgenden zitiert als BC mit Band- und Seitenzahl, hier BC I, 139. Vgl. A. Wetterer (1981), Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern. Tübingen, S. 225. Vgl. Vollhardt (1995), Die Grundregel des Geschmacks. Zur Theorie der Nachahmung bei Charles Batteux und Georg Friedrich Meier. In: T. Verweyen (Hg.), Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Tübingen (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, i), S. 26 — 36, hier S. 28 mit Anm. 8; dies wendet F. Vollhardt zu Recht gegen die These A. Nivelles (1971) ein, der behauptet, daß Meier die Unabhängigkeit der Kunst angestrebt habe. Zu Gottsched s.o., Teil I, Kap. II.2; zur frühen Poetik der Schweizer s.o. Teil I, Kap. III.3. - Vgl. dazu Wetterer (1981), bes. S. 217-228.

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Kräfte der Seele wirken. 24 Denn »poetische Schilderey« oder »Beschreibungen seien nichts anders, als mit geschickten Ausdrücken vorgestellte Phantasie-Bilder«. 25 Eine >poetische Beschreibung< konnte also dadurch ästhetisches Vergnügen erwecken, daß »sie die Phantasie der Leser und Hörer mit Bildern von vortrefflich schönen, großen und ungestümen Sachen anfüllet.« 26 Gleichzeitig jedoch sah Breitinger in der »Rede- und Dichtkunst [...] allgemeine Dollmetscherinnen der Weißheit und [...] Lehrerinnen der Tugend«, da sie die Bitteren PillenGlaublichkeit< des Dargestellten fest, womit sie innerhalb der Grenzen des System der Weltweisheit blieben. In der Hinsicht, die Affekterregung des Publikums zum ästhetischen MaßStab zu machen, stimmten die Schweizer mit der emotionalistischen Ästhetik Jean-Baptiste Dubos' (1670-1742) überein. Die Rezeption und Verbreitung seines Hauptwerkes, den Reflexions critiques sur la Poesie et sur la Peinture (1719), im deutschsprachigen Raum, die Alberto Martino untersucht hat,28 wurde allerdings bis in die I74oer Jahre durch Widerstände erschwert:29 Der wirkungsästhetischen Forderung nach >Rührung des Herzens< standen Wahrheitsanspruch und moralische Zweckbestimmung der Kunst entgegen, wie sie Gottsched und die Schweizer verfochten und die noch den tugendempfindsamen Mitleidsbegriff Sulzers, Mendelssohns und Lessings bestimmten. 30 Das ästheti24

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Bodmer (1966), Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Faksimiledruck nach der Ausgabe [Zürich] 1740. Mit einem Nachwort v. W. Bender. Stuttgart, S. 14. Breitinger (1967), Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse. Faksimiledruck nach der Ausgabe [Zürich] 1740. Mit einem Nachwort von M. Windfuhr. Stuttgart, S. 8. Bodmer (1971), Critische Betrachtung über die poetischen Gemähide der Dichter. ND der Ausgabe Zürich 1741. Frankfurt/M., S. 126. BC I, 8f. — Zur Poesie als >verzuckerter Pille< bei den Schweizern vgl. Herrmann (1970), S. 265-269. A. Martino (1972), Geschichte der dramatischen Theorien in Deutschland im 18. Jahrhundert I. Die Dramaturgie der Aufklärung (1730—1780). Tübingen, S. i —108. Zelle zufolge wurde eine Umorientierung in der Dubos-Rezeption erst durch die Übersetzung des grundlegenden ersten Abschnittes des ersten Teils von dessen Reflexions critiques in den Bremer Beiträgen von 1745 - nach der anfänglichen Fixierung auf den zweiten Teil mit der klimatheoretischen Begründung des Geschmacksrelativismus - eingeleitet; vgl. C. Zelle (1987), »Angenehmes Grauen«. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg, S. 304 — 315, hier S. 308. C. Zelle (1987), S. 305 u. 311; und Vollhardt, Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum naturrechtlichen Denken und >schöner Literatur« im 18. Jahrhundert. Tübingen [erscheint voraussichtlich 1998]. 261

sehe Vergnügen sollte auf seine moralische Zuverlässigkeit geprüft werden, anstatt dem Publikumsbedürfnis nach Zeitvertreib und Zerstreuung nachzugeben.3' Während Dubos die Horazische Formel »et prodesse volunt et delectare poetae« zugunsten des Vergnügens der Rezipienten umwertete, hielt aber auch er durchgehend an dem Nachahmungsgrundsatz fest:32 Trotz des für künstlerische »Genies« geforderten klassischen »furor poeticus« durften die dargestellten Figuren und Handlungen die Norm der Wahrscheinlichkeit nicht verletzen; andernfalls liefen sie Gefahr, die Natur »nach den falschen Hirngespinsten« zu zeichnen, »die sich ihre allzuglühende Einbildungskraft davon gemacht hatte.« 33 In dieser Einschränkung der Einbildungskraft auf das Nachahmungsprinzip trafen sich rationalistische und emotionalistische Poetik. Dubos' wirkungsästhetische Forderung nach Publikumsbezug setzte nicht notwendig die rationalistischen Normen außer Kraft: »Der Zuschauer behält bey den stärksten Gemüthsbewegungen seinen gesunden Verstand. Er gerät in Hitze, ohne auszuschweifen.« 34 Wenn auch das Vergnügen des Publikums im Vordergrund stand, so konnte es doch nur innerhalb gesetzter ästhetischer Regeln erregt und befriedigt werden: selbst die glühendste Einbildungskraft war mit dem Nachahmungsgrundsatz, der bei Dubos allerdings nicht in der rationalistischen Philosophie fundiert war, zu vermitteln. Ähnlich schrieben auch Bodmer und Breitinger der Poesie und Beredsamkeit die Aufgabe zu, sich des Herzens und >Gemütes< zu bemächtigen35 sowie durch das »Neue und Ungemeine« 36 größtmögliches >Ergötzen< beim Publikum zu erregen. Das rhetorisch verankerte Ziel der Affekterregung gründete auf der anthropologischen Einsicht, daß der Großteil der Menschen durch Empfindungen und Leidenschaften bestimmt sei, außerdem nur ein geringes Bil31

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Was in der Theaterpraxis jedoch selten gelang, wie es sich Lessing, Schiller und Sulzer schließlich eingestehen mußten; ebd., S. 3oyf. A. Tumarkin (1930), Die Überwindung der Mimesislehre in der Kunsttheorie des XVIII. Jahrhunderts. Zur Vorgeschichte der Romantik. In: Festgabe für S. Singer. Tübingen, S. 40 — 55, hier S. 44. — Die These J. Schmidts, daß Naturnachahmung und Nachahmungsgrundsatz keine feststehenden Normen, sondern »Leerbegriffe« waren und sich mit dem Naturbegriff von Epoche zu Epoche änderten bzw. neu gefüllt werden mußten, vereinfacht jedoch den Sachverhalt der seit Aristoteles andauerenden Auseinandersetzung zu sehr; vgl. J. Schmidt (1985), Die Geschichte des GenieGedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik. 1750-1945. Darmstadt, Bd. i, hier S. 13. Dubos (1760), Kritische Betrachtungen über die Poesie und Malerey. Aus dem Französischen des Herrn Abtes Du Bös [übs. von G. B. Funk]. 3 Tie. Kopenhagen, Tl. II, 2. Abs., S. i$f. Ebd., Tl. 1,43. Abs., 8.401. BC I, 6f. u. pass. Vgl. dazu F. Schlegel (1986), Sich »von dem Gemüthe des Lesers Meister« machen. Zur Wirkungsästhetik der Poetik Bodmers und Breitingers. Frankfurt/M. BC I, in.

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dungsniveau besitze, und man sich deshalb zur Vermittlung von »Tugend und Wahrheit« 37 dieses sinnlichen Teils annehmen müsse: Alleine da der größte Haufen der Menschen zu den abgezogenen Untersuchungen des reinen Verstandes nicht aufgelegt, [...] sondern alleine von den Sinnen geleitet wird, und sich nach einer empfindlichen Lust sehnet, die man ohne mühsames Bestreben erlangen kan, so ist es nicht zu verwundern, daß die Weltweisheit zu allen Zeiten [...] ihre so heilsamen Lehren bey den wenigsten Leuten den erforderlichen Eingang gefunden ha[t].·'8 Breitinger sieht Aufgabe und Vorzug der Dichtung darin, den Mangel der Philosophie auszugleichen. Jene könne sich nämlich die Wirkung der Einbildungskraft, die lebhafte Vorstellungen abwesender Dinge an die Stelle von Empfindungen setze und dadurch Affekte errege,39 zunutze machen, um philosophische Erkenntnis und moralische Besserung beim Rezipienten zu erreichen. 40 Die Einbildungskraft steht dabei im Dienst der Vermittlung von philosophischer Wahrheit und Moralität,41 ohne sich jedoch um »den innerlichen Grund und das wahre Wesen der Dinge« zu bekümmern, 42 wie es Breitinger im ersten Abschnitt seiner Criüschen Abhandlung von den [...] Gleichnissen (1740) ausführt: die Phantasie »steht bey der äusserlichen Fläche stille, und siehet die Sachen nicht tiefer ein, als die cörperlichen Sinne gehen«. 43 Aus diesem Grund

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BC I, S. 9.

·'« BC I, I, S. 5f.; s. auch BC I, 469. 39 BC I, I4f.: »Beyde, der Mahler und der Poet, haben einerley Vorhaben, nemlich dem Menschen abwesende Dinge als gegenwärtig vorzustellen, und ihm dieselben gleichsam zu fühlen und zu empfinden zu geben.« 40 BC I, S. 283: »Und in diesem Sinne [Darstellung von vollkommenen Mustern] ist es freylich das eigene Thun der Poesie, die moralische Fähigkeit des Menschen zu dem guten oder zu dem bösen vollkommener zu machen, und sie auf einen höhern Grad, als sie gewöhnlich steiget, zu setzen; eine Art der Vorstellung, die nothwendig einen erbaulichen und nützlichen Einfluß auf die Verbesserung der Sitten haben muß!« 41 BC I, 112: »[...] so sehen wir zugleich, worinnen das poetische Schöne bestehet, nemlich, es ist ein hell leuchtender Strahl des Wahren, welcher mit solcher Kraft auf die Sinnen und das Gemüthe eindringet, daß wir uns nicht erwehren können, [...] denselbigen zu fühlen; es ist unsere angebohrene vorwitzige Begierde nach Wissenschaft«. Dieses ästhetische Vergnügen werde durch den »Schein der Wahrheit« (BC I, 139) erzeugt: »Der Poet hintergeht uns [...] zum Behuf der Wahrheit durch ein angenommenen Schein der Falschheit«, dessen »vermeinten Widerspruch« zu enthüllen, »nothwendig angenehm und mit Ergetzen verknüpfet« sei (BC I, 141 f.). 42 Breitinger (1967), S. 7. Breitinger gebraucht Phantasie und Einbildung(skraft) synonym. 43 Ebd. — Vgl. dazu Preisendanz (1964), Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (Don Sylvio, Agathon). In: H. R. Jauß (Hg.), Nachahmung und Illusion. München (= Poetik und Hermeneutik. I), S. 72 — 95 u. Diskussion S. 196-203, hier S. 75f.; Wetterer (1981), S. 2i9f.; Schmidt (1982), S. 139 u. pass.; Siegrist (1984), S. 297. 263

fordert Breitinger eine eigene »Logik der Phantasie«,44 die durch Vergleiche »Ähnlichkeiten und Verwandtschaften der Dinge« entdecke und »GleichnißBilder« herstelle.45 Breitinger gelingt in dieser Abhandlung allerdings keine klare Unterscheidung zwischen Phantasie und »Witz (ingenium, esprit)«,46 welcher auch von Wolff und Gottsched als Vermögen, die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen der Dinge zu erkennen und Vergleichung anzustellen, definiert worden war.47 In seiner Critischen Dichtkunst geht Breitinger einen Schritt weiter, indem er die Einbildungskraft unter dem Gesichtspunkt einer »abstractionem Imaginationis« näher bestimmt:48 Sie bestehe darin, daß der Poet den Zusatz von dem Widerwärtigen, der die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit eines Gegenstandes auf einen gemässigten Grad setzet, in seiner Nachahmung weglasse, und hergegen, was die Natur [...] mit ungleichem Maasse vertheilet hat, aufmercksam und sorgfältig zusammensuche, und [...] in seinem vorzustellenden Bilde geschickt vereinige.49

Der Zweck dieser Auswahl sei es, Charaktere und Beschreibungen so zu entwikkeln, daß sie beim Publikum einen »lebhaften und [...] deutlichen Begrif machen«. 50 In beiden Abhandlungen werden die Vermögen von Witz und Einbildungskraft 51 auf das poetisch Wahrscheinliche bezogen, um es von der Wahrheitserkenntnis zu unterscheiden: Wie diese [die Bilder des reinen Verstandes] die Quelle aller Erkänntniß und Wahrheit sind, so sind die Bildnisse der Phantasie die ersten Elemente der Poesie und

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Breitinger (1967), S. 9. - Nach E. Bergmann (Die Begründung der deutschen Ästhetik durch A. G. Baumgarten und G. F. Meier. Leipzig 1911) folgt er darin dem WolffSchüler Georg Bernhard Bilfinger (1693-1750), der bereits 1725 in seine Dilucidationes »eine Art Logik der unteren Erkenntnisvermögen« forderte (S. 2); allerdings komme Breitinger in seiner Critischen Dichtkunst auf diesen Gedanken nicht mehr zurück (S. 5). Breitinger (1967), S. 9. Ebd. Gottsched, CD II, § n, S. 102. — Insofern ist der Einschätzung H.-M. Schmidts Recht zu geben, daß sowohl bei Gottsched als auch bei den Schweizern Witz und Einbildungskraft eine »einheitliche Struktur« bildeten und darin die Frontstellung der beiden Parteien nicht begründbar sei; dies wendet er gegen die Studien von Herrmann (1970) und Stahl (1975) ein. Vgl. Schmidt (1982), S. 108-111 mit Anm. 51. BC I, S. 286. BC I, S. 286f. Ebd. - Vgl. dazu Bretzigheimer (1986), S. i^f. Ebd., S. 6: »Es ist mir manchmal in den Sinn gekommen, daß die Einbildungskraft ebensowohl als der Verstand einer gewissen Logik vonnöten habe. Wer eine Erkenntnis des Wahrscheinlichen, mit welchem die Phantasie umgeht, erlangen will, muß eben also, wie in der Vernunftlehre geschieht, vom Einfachen zum Vielfachen fortgehen. Er muss für das erste die Einbildungskraft mit einem reichen Vorrat von sinnlichen Bildern versehen.«

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Wohlberedenheit, als in welchen das Wahrscheinliche die Stelle der Wahrheit einnimmt. 52 Das Wahre des Verstandes gehöret für die Weltweisheit, hingegen eignet der Poet sich das Wahre der Einbildung zu [.. .].*·*

Die zweite Passage, die aus Breitingers Critischer Dichtkunst stammt, zielt in dieselbe Richtung einer Dissoziation von Philosophie und Poesie: Für die poetische Darstellung ist die >Glaublichkeit< ausreichend, sie muß nicht bis zur tieferen Erkenntnis der Dinge durchdringen. Wenn Breitinger aber in diesem Kontext die ästhetische Illusion durch das Wunderbare als »vermummtes Wahrscheinliches«54 der Enthüllung des Publikums überantwortet, reduziert er »dennoch das Wahre der Einbildung auf das Wahre des Verstandes«, wie es Wolfgang Preisendanz formuliert hat. 55 Er schreckt letztlich vor den Konsequenzen seiner Unterscheidung von >poetischer Wahrscheinlichkeit< und philosophischer Wahrheit zurück. 56 Immerhin machten Bodmer und Breitinger mit ihrer Apologie von Miltons religiösem Epos Paradise Lost (1667), woran sich der Streit mit Gottsched entzündete,57 und mit ihren ausführlichen Abhandlungen über die Stilmittel der Gleichnisse,38 Metaphern und »Machtwörter« eines deutlich: Für die Lockerung der rationalistischen Funktionalisierung der Einbildungskraft ist die Trennung von philosophischer Wahrheit und >poetischer Wahrscheinlichkeit< ein wichtiger argumentativer Schritt.59 Auch wenn die Schweizer den Widerspruch 52

Vgl. Breitinger (1967), S. 8. " B C I , i38f. 54 BC I, 132. 55 Vgl. dazu Preisendanz (1964), S. 79.; W. Bender (1973), J. J. Bodmer und J.J. Breitinger. Stuttgart, S. 92f.; Schmidt (1982), S. 131. 5n Nach Wetterer (1981) gibt Breitinger zwei Lösungsversuche des Widerspruchs zwischen Wahrheitsanspruch und publikumswirksamem Schein des Falschen. Der eine betrifft den Verstand, der andere die Einbildungskraft und Sinnlichkeit überhaupt: Beim ersten erkenntnistheoretisch orientierten Lösungsversuch greift Breitinger auf die »vernünftige Wahrheit hinter dem Schein des Falschen« zurück und macht die Entdeckung der Täuschung zur Quelle des Vergnügens; beim zweiten argumentiert er mehr auf der Ebene der Sinnlichkeit und rechtfertigt das >FalscheWahre der Einbildung^ während das >Wahre des Verstandes< in die Weltweisheit verwiesen wird. Vgl. Wetterer (1981), S. 224f. 57

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Einen chronologischen Forschungsüberblick über die Literaturfehde zwischen Zürich und Leipzig geben Horch/Schulz (1988), Das Wunderbare und die Poetik der Frühaufklärung. Gottsched und die Schweizer. Darmstadt (= Erträge der Forschung. Bd. 262). Zu den Mängeln dieser Forschungserträge vgl. die Rez. von C. Zelle (1990). In: Lessing Yearbook XXII, S. 257-260. Vgl. hierzu das Nachwort von M. Windfuhr zu Breitingers Critischer Abhandlung von den [...] Gleichnissen (ND Stuttgart 1967), S. 3*-5*. Ebenso hat Immanuel Jakob Pyra (1715—1744) die Einbildungskraft aufzuwerten versucht, indem er sie - wie Breitinger - der Kategorie der Wahrscheinlichkeit zuordnete, die Vernunft aber auf die Erkenntnis von Wahrheit bezog. Seine Gegner, 265

zwischen Publikums- und Wahrheitsanspruch nicht mit dem verfügbaren theoretischen Instrumentarium aufzulösen verstanden,00 waren sie doch auf der Suche nach einer >Logik der Phantasies dem > Wahren der EinbildungLogik der Phantasie< ist auch die allmähliche Lockerung des Nachahmungsgrundsatzes zu sehen, die durch die kritische Auseinandersetzung mit Charles Batteux' epochemachender Abhandlung Les beaux arts reduits ä un meme principe (1746) erfolgte/'4 Am philosophisch fundiertesten und wirksamsten von allen hat Meier in seinen Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften (1757), die gleichzeitig als »seine Ästhetik letzter Hand« 65 anzusehen sind, Batteux widerlegt.66 Dort zeigt er, daß Batteux' erster Grundsatz einerseits zu umfassend, andererseits zu unbestimmt sei, da er zu viele Ausnahmen der Regel (wie etwa im Falle der Oper) berücksichtigen müsse:67 zu umfassend, weil sich die Nachahmung der Natur nicht ausschließlich auf die >schönen Künste und Wissenschaften« beziehe, sondern ebenso auf Vernunft- und Sittenlehre wie technische Künste; zu unbestimmt, weil er nicht klar mache, »welche Natur nachgeahmt werden soll«68 (ob nur wirklich vorhandene oder auch erdichtete Dinge). Folglich könne die Erfüllung der Forderung nach Naturnachahmung den Bedingungen eines ersten Grundsatzes der schönen Künste nicht gerecht werden. Meier selbst sah sich aufgefordert, im Gegenzug einen solchen ersten Grundatz zu formulieren, der seinen Kriterien genügte: Als diese erste »Regel« bestimmt er »die

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Verstandes unterstellt und damit aus der Philosophie und Anthropologie ausgetrieben hat (S. 233-245). In dieser Hinsicht bezeichnet Siegrist (1984) die Poetik der Schweizer als ein »Übergangsphänomen« (S. 300) zwischen Gottsched und Baumgarten/Meier; vgl. auch K.Bohnen (1974), 8.91-94; und W. Bender (1980), Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert: Baumgarten, Meier und Breitinger. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99, S. 481-506. Batteux/Schlegel (1976), Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Franz, übs. u. mit Abhandlungen begleitet v. J. A. Schlegel. 2 Tie. in i Bd. [ND der 3. von neuem verb. u. verm. Aufl. Leipzig 1770] Hildesheim, New York. — Zur Rezeption und Kritik von Batteux' Werk wie zu den Widersprüchen bei den Kritikern vgl. I. v. d. Lühe (1979), Natur und Nachahmung in der ästhetischen Theorie zwischen Aufklärung und Sturm und Drang. Untersuchungen zur Batteux-Rezeption in Deutschland. Bonn (= Abhandlungen zur Kunst-, Musikund Literaturwissenschaft. Bd. 283); C. Siegrist (1969), Batteux-Rezeption und Nachahmungslehre in Deutschland. In: G. Großklaus (Hg.), Geistesgeschichtliche Perspektiven. Rückblick - Augenblick - Ausblick. Bonn, S. 171-190. Zur europäischen Diskussion der Nachahmungstheorie im 18. Jahrhundert vgl. den genannten Aufsatz von A. Costazza (1992), wo auch die einschlägige Forschungsliteratur angeführt ist. Vgl. Bergmann (1911), S. 183. Vgl. dazu Costazza (1992), S. iO2f., und neuerdings den bereits zitierten Aufsatz von F. Vollhardt (1995). Meier (1757), Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften. Halle, §§ 16-18, S. 34-39. Ebd., § 18, S. 38. 267

größte Schönheit der sinnlichen Erkenntniß.«69 Den Begriff der schönen sinnlichen Erkenntnis jedoch schränkt er in den Betrachtungen gegenüber seinen Anfangsgründen ein: sie gehe nämlich über eine sinnliche Empfindung (süß, sauer etc.) hinaus, indem sie sinnlich und deutlich zugleich sei, da in ihr untere und obere Erkenntnisvermögen »in Gesellschaft« tätig seien.70 Den Zweck der >schönen Künste und Wissenschaftern sieht Meier folglich in der Hervorbringung einer solchen »schönen sinnlichen Erkenntniß in den Lesern, Zuhörern und Zuschauern«.71 Hier in den Betrachtungen unterscheidet er zwischen den verschiedenen Künsten, wenn er behauptet, daß Rede- und Dichtkunst »die schönen Begriffe« durch die Einbildungskraft in das »Gemüth« des Publikums brächten — schließlich sind sie auf Sprache angewiesen —, während die anderen Künste >nur< auf die »äusserlichen Sinne« wirkten. 72 In seinen Anfangsgründen hingegen hat sich Meier auf die Rhetorik und Poetik konzentriert und untersucht demgemäß die psychologischen Voraussetzungen eines >schönen GeistesWahrheiten < durch die poetische Darstellung reflektiert. Im Kontext der vorliegenden Studie ist die Frage, welche Funktion der Einbildungskraft bei einer solchen Wahrheitsvermittlung zugesprochen wurde, von besonderem Interesse.

2. Allegorie und Anschaulichkeit — Fabeltheorie im Spannungsfeld zwischen praktischer Philosophie und Poesie Was soll sie [die Fabel] also in der Philosophie? Etwa weil Wolf in seiner Praktischen Philosophie an sie gedachte? Lieber rücke ich sie völlig heraus, ins Land der sinnlichen Welt, der Erfahrungssätze, der Lebensregeln, der anschauenden Leute, der Kinder, des Volks. Dahin setzt sie Aristoteles, deßen Rhetorik doch keine Metaphysik ist: hier wohnte sie, und hier laß sie wohnen auf dem Reihn zwischen Philosophie und Poesie. (Johann Gottfried Herder) Nicht nur die Zweckbestimmung der Dichtung durch außerästhetische Normen von Wahrheit, philosophischer Erkenntnis und Moralität läßt sich an der Fabeltheorie der Aufklärung exemplarisch belegen,73 sondern auch der allmähliche Wandel von einer erkenntnispsychologischen zu einer die ästhetischen Stilmittel reflektierenden Poetik (Bodmer, Breitinger, Geliert) bis hin zur Auflösung der paradigmatischen Rolle der Fabel für die Dichtungstheorie durch Lessing und Herder.74 In der Fabeldiskussion der Aufklärungsepoche 73

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Allgemein zur Fabeltheorie im 18. Jahrhundert vgl. M. Staege (1929), Die Geschichte der deutschen Fabeltheorie. [Phil. Diss. Basel] Bern; W. Briegel-Florig (1965), Geschichte der Fabelforschung in Deutschland. [Phil. Diss.] Freiburg; E. Leibfried (1974), Philosophisches Lehrgedicht und Fabel. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 11: Europäische Aufklärung. Hg. v. W. Hinck. Frankfurt/M., S. 75—90; H.-W. Jäger (1984), Lehrdichtung. In: Grimminger (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 3.2. München, S. 500-544, bes. S. 535-544; W. Freytag (1985/86), Die Fabel als Allegorie. Zur poetologischen Begriffssprache der Fabeltheorie von der Spätantike bis ins 18. Jahrhundert. Teil I. In: Mittellateinisches Jahrbuch 20, S. 66—102 u. Teil II. In: Mittellateinisches Jahrbuch 21, 8.3 — 33; M. Schrader (1991), Sprache und Lebenswelt. Fabeltheorien des 18. Jahrhunderts. Hildesheim, Zürich, New York (= Germanistische Texte und Studien. Bd. 38). — Zur »außerästhetischen« Bestimmung der Fabel vgl. Schrader (1991), bes. S. 10—16 u. pass. Ebd., S. 89—129. Den »paradigmatischen Status der Fabel« bei Gottsched und den Schweizern betont auch Schmidt (1982), S. 113 — 123. Nicht halten läßt sich die These von H. O. Horch und G.-M. Schulz, daß die Wertschätzung der Äsopischen Fabel im 18. Jahrhundert »von der Forschung eher als Kuriosum behandelt wird«; vgl. Horch/Schulz (1988), S. 152. 269

in Deutschland stand durchgehend das Verhältnis von (moral-)philosophischer Wahrheit und poetischer Darstellung, von Wahrscheinlichem und Wunderbarem, von Fiktion und Wirklichkeit in Frage. Entschiedener als bei Wolff, der die Fabel in Umdeutung der rhetorischen Tradition im Rahmen der praktischen Philosophie abhandelte, war bei seinen Nachfolgern die (dichterische) Einbildungskraft als Quelle sowohl der Produktion als auch des rezeptiven Vergnügens an poetischer Sprache und Bildern ein zentraler Bestandteil der Erörterungen. Infolge des didaktischen Zieles, >moralische Wahrheiten< so darzustellen, daß sie anschaulich wurden und damit handlungsleitende Normen übermittelten, war für die Fabel in der Aufklärungsepoche die Verbindung von Philosophie und Poesie konstitutiv, hierin vergleichbar der zeitgenössischen Lehrdichtung.75 Daraus ergab sich die Frage, in welcher Weise die Einbildungskraft, die der Poesie bzw. Fabel zugeordnet wurde,76 auf Verstand und philosophische Wahrheit zu beziehen sei. Wurde sie bei Wolff und Gottsched der rationalen Kontrolle unterstellt, erlangte sie durch die Rehabilitierung der >unteren< Erkenntnisvermögen durch die Schüler Wolffs wie durch den Einfluß von Empirismus und Sensualismus allmählich einen gleichberechtigten Status neben den Prinzipien des Verstandes. Da die poetologische Auseinandersetzung seit Wolff unter erkenntnispsychologischen Vorgaben geführt wurde, ist auch an ihr — und paradigmatisch an der Fabel — die Veränderung der Funktionszuweisung der Einbildungskraft rekonstruierbar. Um es aber hier noch einmal zu betonen: ihre vollständige Loslösung von rationaler Kontrolle zu einem rein produktiven, amimetischen Vermögen wie in der Romantik oder ihre Vereinigung mit der Vernunft unter poetischen Vorzeichen wie etwa bei Novalis77 war um die Mitte des 18. Jahrhunderts durchaus noch nicht erreicht.78 Zwar war es seit den poetologischen Schriften von Bodmer und Breitinger ein dauerhaftes Bestreben, die >Logik der Phantasie< gegenüber der >Logik des Verstandes< zu profilieren und dadurch einen Ansatzpunkt für die Autonomie der Dichtung neben Er75

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Vgl. dazu K. Richter (1972), Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung. München (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Texte und Abhandlungen. Bd. 19); H.-W. Jäger (1984), S. 500-544; und W. Proß (1984), Lyrik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Grimminger (Hg.), 3.2., S. 545-568. Zumindest in der Diktion von Breitinger: »Das Wahre des Verstandes gehöret für die Weltweißheit, hingegen eignet der Poet sich das Wahre der Einbildung zu.« (BCI, 139) Vgl. dazu Barck (1993), Poesie und Imagination. Studien zu ihrer Reflexionsgeschichte zwischen Aufklärung und Moderne. Stuttgart, Weimar, Teil I, S. 79-115. Oft werden in der Romantik erreichte Positionen in die Aufklärung zurückprojiziert und damit gerade die Schweizer als deren Vorläufer tituliert, wie etwa bei B. Barth (1991), Schellings Philosophie der Kunst. Göttliche Imagination und ästhetische Einbildungskraft. Freiburg, München, bes. S. 100—106: »Die Autonomie der poetischen Einbildungskraft. Bodmer, Breitinger«.

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kenntnistheorie und Ethik zu liefern. Trotzdem blieb aber die Bindung der Einbildungskraft an die Forderung der Wahrscheinlichkeit und der Naturnachahmung bestehen, wenn diese auch durch die massive Batteux-Kritik nicht mehr die Geltung des ersten Grundsatzes der schönen Künste beanspruchen konnte.79 Wolffs Untersuchung der Fabel im Rahmen der praktischen Philosophie80 enthielt entscheidende Elemente, die im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts sowohl Übernahme als auch Kritik seiner Konzeption bestimmte. Deshalb sei sie hier kurz dargelegt. Galt die Fabel in der rhetorischen Tradition, die bis zu Aristoteles zurückreicht, vor allem als ein Mittel zur überzeugenden Demonstration abstrakter Sachverhalte für das Publikum, bestimmte Wolff sie unter philosophischen Vorgaben als Instrument der Vermittlung von Wahrheit und Moralität:81 »Fabel nennt man die Erzählung irgendeines Geschehens, das erfunden wurde, um eine Wahrheit zumal eine moralische Wahrheit zu lehren.«82 Sie müsse so beschaffen sein, daß sie im Leser die Erkenntnis der vorgestellten Wahrheit hervorbringt und seine »Zustimmung« erheischt.83 Das setzt voraus, daß die in der Fabel enthaltene abstrakte Erkenntnis an dessen intellektuelles Niveau angepaßt wird. Eine moralische Wahrheit könne sich nur dann einschärfen, wenn sie sozusagen die Sprache des Publikums spricht und Vorstellungen evoziert, die auf eigene Erfahrungen gestützt sind.84 Erst konventionalisierte Verbindungen von Worten mit bestimmten Vorstellungen — nach dem Assoziationsprinzip der Ähnlichkeit — garantierten, daß das Gemeinte auch tatsächlich verstanden wird. Nach Wolff verwandle die Fabelerzählung die Wahrheit in eine >anschauende Erkenntnis< (cognitio intuitiva), die »am meisten der Menge angemessen«85 sei, aber genauso den Gebildeten nütze, schwierge Sachverhalte

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Vgl. I. v. Lühe (1979); A. Costazza (1992); Vollhardt (1995). Wolff (1739), Philosophia practica imiversalis. Bd. II, Frankfurt, Leipzig, §§ 302322. 81 Vgl. Schrader (1991), S. 12 u. 23. 82 Die Übertragung aus dem Lateinischen stammt von Hermann Kleber und Josef M. Werle. In: Leibfried/Werle (1978), Texte zur Theorie der Fabel. Stuttgart, S. 34-42, hier: S. 34 (= § 302). Nach dieser Übersetzung wird im folgenden zitiert, die Angabe der §§ des Originals erfolgt im Anschluß daran. *> Ebd., S. 38 (= § 305). 84 Ebd., S. 39 (= § 306): »Was in der Fabel erfunden wird, soll im Volke bekannt sein. Denn die Fabel soll den Begriff einer Wahrheit, vor allem einer moralischen, im Geiste hervorbringen. Deswegen ist es notwendig, daß jeder, wer auch immer sie erzählen hört, sich eine Vorstellung davon machen kann. [...] Wie ja, wenn man ein Wort hört, durch die Vorstellungskraft die Vorstellung nur desjenigen Gegenstandes hervorgerufen wird, den man öfters zusammen mit genau diesem Wort wahrgenommen hat, so ist es auch notwendig, daß das, was in der Fabel erfunden wird [...], schon vorher öfters wahrgenommen sein muß«. bittere Pillen< werden sozusagen nur in schöner Verpackung geschluckt. Mit Hilfe der KörperSeele-Metapher behauptet Breitinger nicht nur die »Ähnlichkeit« (BC I, 168), sondern sogar das >Commercium< (BC I, 169), die »nothwendige Übereinstimmung der Erzählung mit der Lehre« als »Haupt-Absicht der Fabel« (BC I, 171 u. 173). Demnach ist das Wunderbare im allegorischen >Kleid< der Fabelerzählung keine ontologische Kategorie,114 sondern ein rhetorisches Mittel der Affekterregung; sie ist damit funktional auf die Erzählung und ihre didaktische Ausrichtung bezogen. Maskierung, sinnliche Verfremdung der moralischen Lehre, um sie erst zum Objekt der Aufmerksamkeit zu machen, sind also ein »poetischer Trick«," 5 dem die anthropologische Überzeugung zugrundeliegt, daß der Mensch, vor allem der >große Haufens nur über seine sinnlich-affektive Anlagen allmählich zur moralischen Beurteilung und Reflexion gelangen könne."6 Aus diesem Grund lehnt Breitinger auch das Pro- und Epimythion der Fabel ab (BC I, I73f.)."7 Gemäß der Qualifizierung des Wunderbaren als eines »vermummte[n] Wahrscheinliche[n]« (BC I, 132) im vorausgehenden 114

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Vgl. Preisendanz (1964), S. 76; W. Bender (1973), J. J. Bodmer und J. J. Breitinger. Stuttgart, S. 93. Das war der Ansatzpunkt für Lessings Kritik an Breitinger. Vgl. hierzu Barner/ Grimm/Kiesel/Kramer u.a. (1987), Lessing: Epoche — Werk — Wirkung. 5., neubearbeitete Aufl. München, S. 229. Zu Lessings Fabeltheorie s.u., S. 252 — 254. Das belegt folgende Formulierung: »Denn da die Erzehlung in der Fabel eben darum erfunden worden, die moralischen Bestraffungen dadurch gantz verdeckt vorzustellen, und die bittern Wahrheiten durch die Einkleidung in fremde Geschichten recht angenehm zu machen; so ist eben von sich selbst klar und offenbar, daß dieser Absicht der Erzehlung gemäß die Lehre so lange verborgen bleiben sollte, biß sie sich aus der Erzehlung nach und nach an dem Ende selbst deutlich entdecken würde. Auf diese Weise wird der Geist des Lesers angenehm geübet, und ihm überlassen, sich selbst in dem ähnlichen Beyspiele zu finden, und darinnen seine wahre Gestalt als in einem hellen Spiegel zu erkennen.« (BC I, I74f.; s. auch 179). Damit wendet er sich gegen Wolff, Gottsched und andere zeitgenössische Fabelautoren. — Das 128. Stück im 3. Tl. der Moralischen Wochenschrift Der Gesellige, dessen Verfasser vermutlich G. F. Meier ist, da sich der Inhalt mit dessen Ausführungen zur Fabel in den Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften deckt (MM I, §§ 107 — 111), definiert die Fabel ganz ähnlich wie Breitinger und Batteux. Ihre Merkmale seien das »Wahrscheinliche, Wunderbare, und Sittliche oder Lehrende« (ebd., S. 267; im Original hervorgehoben), wobei die »Sittenlehre« in einem »kleine[n] Knoten«, der plötzlich aufgelöst werde, zu verbergen sei, ohne aber eine »Auslegung nöthig« zu haben

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Abschnitt der Critischen Dichtkunst schränkt er auch hier die allegorische Erzählung auf die Grenzen der Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit 1 ' 8 ein und schlägt damit in rhetorischer wie in nachahmungs- und produktionsästhetischer Perspektive den gleichen Weg ein wie Gottsched."9 In wirkungsästhetischer Hinsicht jedoch legitimiert er das Wunderbare als ein poetisches Mittel des »Betrug[s] der Einbildung« (BC I, 200). I2 ° Diese betont er im Unterschied zu Gottsched, der die poetische Einbildungskraft im Rekurs auf die allgemeinen Regeln der Vernunft und das Mimesisgebot legitimiert hat: 121 Denn in der Betrachtung der allegorischen Erzählung halte sich der Leser selbst »in gewisser Weise vor den Erfinder dessen, was man ihm verborgen hatte« (BC I, 179). Die beiden Positionen von Breitinger und Gottsched — letzterer hat ja auch die allegorische >Einkleidung< der Wahrheit und das Wunderbare zu den poetischen Techniken der Fabel gerechnet — unterscheiden sich also nur um eine Nuance: Gottsched erkennt in dem Wunderbaren ein Stilmittel der Versinnlichung des Abstrakten zur Erregung der Aufmerksamkeit der wenig Gebildeten, Breitinger aber ein Mittel der vom Dichter willkürlich herbeigeführten Täuschung zum Zweck des ästhetischen Vergnügens und dessen Aufdeckung durch den Leser. So leistet die Fabel nach Breitinger mehr, als nur den Ungelehrten und wenig Gebildeten mittels >anschauender Erkenntnis< (Wolff) oder allegorischer, am konkreten Fall versinnlichter Wahrheit (Gottsched) moralische Wahrheiten einsichtig und leichter verständlich zu machen. 122 In der Fabel seien nämlich Angenehmes und Lehrreich-Erbauliches verbunden, indem sie den Leser täuscht und ihn dazu führt, die durch die Einbildungskraft er-

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(ebd., S. 2690. Zum »Knoten« der Fabelhandlung vgl. auch Batteux/Schlegel (1976), I. 355-357· BC I, i8jf.: »Aber dieses Wunderbare der Fabel hat seine verschiedenen Grade, nach denen es sich von dem Wahrscheinlichen entfernet; doch niemahls so weit, daß es alle Wahrscheinlichkeit übersteigt.« Zur Verbindung des Wunderbaren mit dem Wahrscheinlichen wie zur Naturnachahmung in der Äsopischen Fabel vgl. auch BC I, 2o6f., 2 I 2 f . , S. 222f., 220, 233, 236, 2$2, 259f.

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Vgl. Schrader (1991), S. 54. 120 BC I, 199^: »Demnach beruhet die Wahrscheinlichkeit dieser wunderbaren Dichtung auf einem angenehmen und sehr gewohnten Betrug unsrer Einbildung; da wir dasjenige, was wir aus vernünftiger Betrachtung der Dinge unsrer Lehre und Unterricht unmittelbar schöpfen, der Absicht derselben zuzuschreiben pflegen, und sie daher auch als unsre Lehrmeister ansehen [...]. Auf diesen Betrug der Einbildung gründen sich die gewöhnlichen und auch in der gemeinen Rede üblichen figürlichen RedensArten.« 121 Vgl. Schrader (1991), S. 62. '" Die gleiche Auffassung findet sich allerdings auch bei Breitinger, der von der allegorischen Erzählung sagt, daß sie »allein zur Absicht hat, zu belustigen und zu erklären, oder auf eine angenehme Weise zu unterrichten, und für solche Leute zu dienen, deren Verstand zur Einsicht philosophischer Erweise viel zu trag und schwach ist.« (BC I, 213) 2/7

zeugte Illusion aufzudecken: 123 erst dadurch werde er der Lehre gewahr, beziehe die in »fremde Handlungen« (BC I, 179) eingekleidete Wahrheit auf sich selbst und könne ohne Sanktionierung entsprechende moralische Folgerungen daraus ziehen. So bedarf erfolgreiche Normvermittlung der Illusion und des Wunderbaren, um das Interesse des Publikums, bei dem Breitinger ein natürliches Streben nach Erkenntnis und Bildung voraussetzt, zu gewinnen. Neu seit Wolffs Fabelabhandlung sind daher i. die Überführung der philosophischen Fabelkonzeption in den Kontext der Poetologie, gleichwohl mit erkenntnistheoretischem Anspruch (Gottsched), 2. die Erörterung poetischer Techniken (allegorische Erzählung, Wunderbares)124 zur Vermittlung der moralischen Lehre sowie die Betonung des Vergnügens am Seltenen, Ungemeinen, Außerordentlichen und 3. die Legitimierung der poetischen Täuschung, die den Menschen erst für die Belehrung aufnahmebereit macht (Breitinger). Christian Fürchtegott Geliert (1715 — 1769), dessen >anmutig< erzählte Fabeln sich um 1750 großer Popularität erfreuten, 125 steht in der Tradition von La Fontaine, La Motte und Breitinger. Unter dem Motto: »Eine gute Fabel nutzt indem sie vergnügt«,126 besteht sein Beitrag zur Fabeldiskussion vor allem in der Reflexion auf die poetischen Stilmittel des Fabulierens (44 — 55), 127 mit denen der Leser >angenehm unterwiesen* werden kann. 128 Konform zu Breitinger ist Gellem erkenntnistheoretische Voraussetzung, daß man mit der unter poetischen Bildern >versteckten< Wahrheit »auf kurze[m], doch königliche[m] Wege am leichtesten in die Gemüther der Menschen dringen« könne (57): »es kann aus den Bildern [...], ein jeder beßer als durch philosophische Beweise einsehen was wahr, was recht, was gerecht, was schön, und was anständig ist.« (ebd.) Ganz ähnlich wie seine Vorläufer sieht er die Fabel129 als sinnliches Mittel der sittlichen Unterweisung von wenig Gebildeten bzw. des »Pöbels« (ebd. u. i8f.; 50f.) ebenso wie von Jugendlichen und dem >weiblichen Geschlecddht< (ebd.). In Übereinstimmung mit Breitinger hält auch er »Seltenes, Neues und Wunderbares« (17) für die Voraussetzung der Erregung von Aufmerksamkeit des 123

An diesem Prozeß sind vor allem die »Scharfsinnigkeit, mittels welcher er [der Geist des Menschen] mehr siehet, als man ihm zeiget« und die Beurteilungskraft oder Reflexion beteiligt (BC I, 178-180). 124 Darin bekundet sich aber eine lange Tradition; vgl. Freytag (1985 u. 1986). "> Vgl. Jäger (1984), S. 537f126 C. F. Geliert (1966), Schriften zur Theorie und Geschichte der Fabel. Historischkritische Ausgabe bearbeitet von S. Scheibe. Tübingen [enthält Abhandlungen von 1744, 1746 und 1756], S. 57 (Hervorhebung im Original). Als Textgrundlage dient hier Gellerts lateinisch abgefaßte Schrift Depoesi apologorum eorumque scriptoribus (1744). Zitate nach dieser Ausgabe im folgenden in ( ) im Text. 127 Vgl. dazu Schrader (1991), S. 78-87. 128 Nach Geliert sei die »Absicht der Fabel eine angenehme Unterweisung« (17; Hervorhebung im Original). 129 Geliert benutzt die Fabel ebenfalls als Modell für die Dichtung (vgl. etwa S. 15-17). 278

Publikums, dessen Reiz aber — gemäß dem Nachahmungsgrundsatz — an die Wahrscheinlichkeit geknüpft bleibe (ebd. u. 2O-35). 1 - 30 Allerdings meint Geliert, Breitingers Fabeldefinition als »ein lehrreiches, wunderbares Ding« (15) um den »Begriff der Erdichtung« (ebd.) erweitern zu müssen, denn die »Erfindung des Poeten« (ebd.) stelle — im Unterschied zu einer historischen Erzählung — die zufällige Abfolge von Ereignissen in einen sinnvollen Zusammenhang.' 31 So bleibt Geliert in theoretischer wie praktischer Ausführung zwar im Rahmen der tradierten Fabelkonzeptionen, setzt aber die poetische Sprachform in den Stand der heuristischen Wahrheitsvermittlung, indem sie sogar erfolgreicher für die moralische Belehrung genutzt werden könne als »philosophische Beweisen Im Unterschied zur Fabelauffassung von Wolff und Gottsched, die auf der Hierarchie der Erkenntnisvermögen basiert und die Fabel zu einem defizitären Instrument der philosophischen Erkenntnis erklärt, und entschiedener als Breitinger sieht Geliert die poetischen Stilmittel der Fabel als ein eigenständiges Medium der Wahrheitsvermittlung an, wobei er aber zugleich an der zeitgenössischen Übereinkunft der moralischen Funktion von Dichtung festhält. 132 In Auseinandersetzung und polemischer Kritik besonders an de La Motte, David Henri Richer (1685-1748), Breitinger und Batteux entwickelt Lessing in seinen Abhandlungen über die Fabel von I759' 33 eine Theorie der Äsopischen Fabel als Gattungsbegriff auf philosophischer Grundlage. Er knüpft an Wolffs Fabeltheorie der Vermittlung praktischer Philosophie an und übernimmt dessen Begriff der »anschauenden Erkenntnis« (L 371), womit er die rhetorische Funktion von Vergnügen und Affekterregung durch Dichtung aus der Gattungsbestimmung ausschließt: »Der Fabuliste [...] hat mit unsern Leidenschaften nichts zu tun, sondern allein mit unserer Erkenntnis.« (L 376)'34 Gegen die Ansicht La Mottes und Breitingers, daß die Fabel »eine unter die Allegorie einer Handlung versteckte Lehre« (L 358)1-35 sei, wendet Lessing zweierlei ein: erstens, daß nicht jede Fabel eine Allegorie sei (L 362), da keine Ähnlichkeit 130

Wie Breitinger fordert Geliert die »Übereinstimmung der Fabel mit ihrer Moral« (37-43)· 131 Ausdrücklich jedoch bestimmte Breitinger das Moment poetischer Erfindung des Rabulisten« in der Unterscheidung von historischer und allegorischer Erzählung, so daß Gellerts Begriff der »Erdichtung« nicht darüber hinausgeht (vgl. BC I, i7if.). 132 Schrader(i99i), S. 8yf. '·" Lessing, Werke. Bd. 5 (1973): Literaturkritik. Poetik und Philologie. Bearb. von Jörg Schönen. München, S. 353-419, Erläuterungen, S. 890 — 909. Diese Ausgabe wird zitiert als L mit Seitenzahl in ( ) im Text. 134 An Batteux kritisiert Lessing die Vermischung der verschiedenen Gattungen von Epopöe und Drama mit der Fabel, da beide, »der heroische und dramatische Dichter [...] die Erregung der Leidenschaften zu ihrem vornehmsten Endzwecke« machten (L 376), wo doch die Fabel nur auf die »anschauende Erkenntnis« ziele. 135 Im Original hervorgehoben. 279

zwischen Allgemeinem und Besonderem, sondern nur zwischen erdichtetem einzelnem Fall und realer Begebenheit bestehen könne;136 und zweitens, daß die »moralische Lehre in die Handlung weder versteckt noch verkleidet, sondern durch sie der anschauenden Erkenntnis fähig gemacht werde.« (L 371) In dieser Abgrenzung liegt zugleich die zentrale Bestimmung der Fabel. Die Lehre müsse mit »Klarheit« und »Lebhaftigkeit [...] aus allen Teilen einer guten Fabel auf einmal hervorstrahle[n]« (L 370), so daß es »gar keine Mühe« kostet, diese zu erkennen. Statt Täuschung und Entdeckung, in denen Breitinger die entscheidenden Mittel der Wirksamkeit der Fabel sieht, also Klarheit, Lebhaftigkeit, Anschaulichkeit. Die Begriffe von Ähnlichkeit und Allegorie sind Lessing zufolge nicht geeignet, das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem zu erfassen. Vielmehr geschehe die Vermittlung des moralischen Lehrsatzes, dem Endzweck, »wofür die Fabel erfunden wird« (L 367), durch einen einzelnen Fall, der das Allgemeine repräsentiert.137 Ein Bild, Gleichnis oder Emblem ist nach Lessing aber noch keine Fabel, solange es nicht eine »Handlung« vorstellt, deren »Folge von Veränderungen [...] zusammen ein Ganzes ausmachen.« (ebd.)138 Erst die »Übereinstimmung aller Teile zu einem Endzwecke« (ebd.)139 könne »einen einzigen anschauenden Begriff [...] erwecken« (L 368). Voraussetzung für eine solche anschauende Erkenntnis ist aber nicht nur die Einheit der Teile mit dem Ganzen, sondern daß der einzelne Fall auch als »wirklich« (L 379) vorgestellt werde. In diesem Kontext führt Lessing den Begriff der »Individualität« (L 381) ein: nur der Einzelfall, das Besondere, könne der Fabel die verlangte Wirklichkeit geben und den moralischen Lehrsatz anschaulich machen, nicht umgekehrt. Lessing erläutert dies an der Unterscheidung zwischen anschauender Erkenntnis, die »vor sich selbst klar« ist, und symbolischer 136

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Hier unterscheidet Lessing einfache und zusammengesetzte Fabeln: Einfach sei die Fabel, »wenn ich aus der erdichteten Begebenheit derselben, bloß irgendeine allgemeine Wahrheit folgern lasse« (L 356), zusammengesetzt hingegen, »wenn die Wahrheit, die sie uns anschauend zu erkennen gibt, auf einen wirklich geschehenen oder doch, als wirklich geschehen, angenommenen Fall weiter angewendet wird.« (ebd.) Daraus schließt er, daß einfache Fabeln »unmöglich allegorisch« (L 361) sein könnten, denn es könne keine Ähnlichkeit zwischen den »bestimmten Subjekten der Fabel, und den allgemeinen Subjekten ihres Satzes« bestehen (L 360), während dies bei zusammengesetzten möglich sei, in denen die besonderen Teile unter demselben Allgemeinen begriffen werden. (L 361). Zum Begriff der Repräsentanz bei Lessing vgl. Schrader (1991), S. 92f. u. 108. — Vgl. auch die instruktive Studie von D. v. Mücke (1991), Virtue and the Veil of Illusion. Generic Innovation and Pedagogical Project in Eighteenth-Century Literature. Stanford/Calif., 8 . 7 — 1 1 u. 18 — 37. Dort zeigt v. Mücke den Zusammenhang von Anschaulichkeit als unmittelbarer Erfahrung< (i.S. Rousseaus) und dem Ideal einer ästhetischen > Transparenz der Zeichen< auf, um daraus die um 1750 neu entstandene Verbindung von Ästhetik und Pädagogik herzuleiten. Hervorhebung im Original. Hervorhebung im Original.

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Erkenntnis, die »ihre Klarheit von der anschauenden« entlehne (L 382), da das »Allgemeine nur in dem Besondern anschauend erkannt werden« (ebd.) kann.' 40 Im Unterschied zur Exempellehre, die den Einzelfall zur Erläuterung des Allgemeinen benutzt und damit nur zu »symbolischen Schlüssen« (ebd.) führe, fordert Lessing eine größtmögliche Konkretisierung des Allgemeinen an einem individuellen, wirklichen Fall nach dem »Prinzipium der Reduktion« (L 4i6). MI Nicht durch die Möglichkeit,142 sondern erst durch die Individualität der Handlung könne die »anschauende Erkenntnis den höchsten Grad ihrer Lebhaftigkeit erreichen, und so mächtig, als möglich, auf den Willen wirken« (L 383). Die moralerziehende Wirkung der Fabel ist demnach nicht an die Allegorie und deren Enthüllung oder an die Verflechtung von Vergnügen und Belehrung, sondern allein an die anschauende Erkenntnis gebunden, die erzieherische Funktion hat. Lessing setzt voraus, daß Anschaulichkeit mehr belehrende Überzeugungskraft besitzt als Abstraktion.' 43 Von der wirkungsästhetischen Forderung des Vergnügens, von der »lustige[n] Schwatzhaftigkeit« (L 408) La Fontaines und Batteux' »Zieraten« (L 410) will er die Fabel allerdings freihalten, ihr Wesen sei nämlich »Präzision und Kürze« (L 407).' 44 Sein gattungstheoretischer Begriff der Fabel schränkt diese also auf ihre erkennende Funktion ein, wobei er die anschauende Erkenntnis, die als ein >unteres Erkenntnisvermögen< bereits durch die Ästhetik von Baumgarten und Meier aufgewertet worden ist, neben der >symbolischen< nobilitiert. Damit ist auch der soziale Rangunterschied zwischen den beiden Formen der Erkenntnis aufgehoben.' 45 Die moralische Wahrheit soll nicht für weniger Gebildete schön eingekleidet werden, sondern sie soll >nacktSchmuckesder anschauenden Erkenntnis fähig zu machen< (L 371). Die unterschiedlichen Begriffe von Anschaulichkeit sind darin begründet, daß Herder diese nicht auf die Relation von Allgemeinem und Besonderem, Abstraktem und Konkretem bezieht, sondern ausschließlich auf das Verhältnis von Teil und Ganzem. Damit ist er Lessing, dem es gleichfalls um die Wirklichkeit und Individualität der dargestellten Handlung geht, jedoch näher, als es zunächst erscheinen mag. Was Herder kritisiert, ist die Supposition eines Abstrakten, Allgemeinen als Ausgangspunkt der Fabel, das sie zum heuristischen Mittel der Wahrheitserkenntnis degradiert (HW II, 199), während sie doch eine «doppelte Wirklichkeit»,' 53 nämlich «Erfahrungssätze in Ausübung»' 54 darstelle. Der Fabeldichter ist damit ein Lehrer der praktischen Klugheit, der statt allgemeiner moralischer Sätze Lebenserfahrung anschaulich macht und sinnlich von dieser überzeugt. 155 Dies betont Herder erneut in seinen späteren Überlegungen zur Fabel, wobei er auch die Kritik an Lessings Prinzip der 151

Hervorhebung im Original. Allerdings ohne »die Verworrenheit der Triebfedern und Umstände, die meistens jede menschliche Veränderung begleiten« (HW 194), im einzelnen zu zeigen. '" Schrader (1991), S. 112. 154 Ebd. 155 Ebd., S. H4f. Die Auseinandersetzung mit Lessing und der Fabel setzte Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) fort, hier HW XV 561. — Schrader zeigt auf, daß Herder in der Abhandlung Über Bild. Dichtung und Fabel (1801) und vor allem in der Adrastea (1803), die hier beide nicht mehr in die Untersuchung einbezogen werden, die Fabelproduktion als »Wechselverhältnis von Nachahmung und Imagination« (S. 117) definiert habe, wobei die dichterische Imagination die Instanz sei, »durch die die «ewigen» Gesetze der Natur im Bild allererst anschaubar« (ebd.) würden. So werde die Fabel »nicht mehr primär als Form der Erkenntnis begriffen, sondern vom Prozeß dichterischer Produktivität her definiert« (S. 128). Diese Umdeutung der Fabel wird aber erst im späten 18. Jahrhundert erreicht und steht im Kontext der Autonomisierung von Kunst und Dichtung gegenüber ethischen und erkenntnistheoretischen Vorgaben. 152

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«Reduction vom Allgemeinen aufs Besondere» (HW XV, 565) fortsetzt und alternativ dazu die «Analogie» oder «analogische Erfindungskraft» (HW XV, 552) als zentrale >Denkform< der Fabel etabliert.156 In den skizzierten Positionen und Gegenpositionen von Wolff, Gottsched, Breitinger, Geliert, Lessing und Herder wurde die Fabel einerseits als Paradigma für die Dichtung, andererseits als Gattungsbegriff thematisiert. Einig waren sich die Autoren darin, daß durch die Fabel Klugheitsregeln, Moralität, zum Teil auch philosophische Erkenntnis vermittelt werden solle. Doch über die Form und die Verfahren der Vermittlung entfachte der Streit, der vornehmlich die Diskussion poetischer Grundsätze im Verhältnis zu philosophischen Wahrheiten zum Gegenstand hatte. Die Erfindungs- und die Einbildungskraft, die bei Wolff und Gottsched nicht spezifisch ästhetisch konnotiert wurden, sondern deren Einsatz bei allen empirischen Schlüssen in Philosophie und Wissenschaft eine heuristische Funktion zugeschrieben wurde, konnte infolgedessen nicht zur Grenzziehung zwischen Poesie und Philosophie beitragen. Stattdessen wurde die Diskussion auf die Begriffe des Wunderbaren, Möglichen und Wahrscheinlichen, der Allegorie, Ähnlichkeit und Analogie, des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem, von Teil und Ganzem verlagert. Als Voraussetzung galt, daß die Fabel erfunden oder erdichtet wird mit dem Zweck, durch die Einbildungskraft des Publikums Vergnügen und praktische Klugheit oder aber anschauende Erkenntnis der moralischen Lehre zu vermitteln. Obwohl die Fabeltheorie der Aufklärungsepoche die Funktion der Einbildungskraft nicht als zentrales Problem thematisierte, da ihre Möglichkeiten und Grenzen stellvertretend an anderen, mit ihr verbundenen Begriffen ermittelt wurden, läßt sich trotzdem an der Verwendung dieser Begriffe zeigen, daß die Einbildungskraft in den Dienst der moralischen Normvermittlung gestellt wurde. Wie Ästhetik und Poetik von der Ethik nicht getrennt waren, so hatte auch die Erarbeitung eines spezifisch poetischen Begriffs der Einbildungskraft mit einer Reihe von Schwierigkeiten zu kämpfen: Sie mußte sich den Normen des rationalistischen Wahrheitsbegriffs, wenn nicht unterordnen, so doch zumindest mit ihnen arrangieren; sie mußte die Funktionalisierung der Dichtung für außerästhetische Zwecke tragen; sie galt nicht nur als Mittel, die anschauende Erkenntnis zu befördern, sondern als intermediäres Vermögen schlechthin, um die für die Fabel konstitutive Verbindung von praktischer Philosophie und Poesie aufrechtzuerhalten; mit ihrer Hilfe konnten moralische Sätze oder Klug156

Auf den Zusammenhang von Analogie, Erfindungskraft und Einbildungskraft und der damit verbundenen »Geschichte des menschlichen Verstandes« bei Herder kann hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. hierzu Schrader (1991), S. 113—117 u. 129; H. D. Irmscher (1981), Bemerkungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders. In: DVjs 55, S. 64-97; und das Nachwort von W. Proß (1987) zu Herders Werken II, bes. S. nyjff.

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heitsregeln allegorisch verpackt und entschlüsselt, am Einzelfall der anschauenden Erkenntnis zugänglich gemacht oder in eine wirkliche Handlung umgesetzt werden; ihre Produktivität war an die Grenzen ethischer und erkenntnistheoretischer Ziele gebunden, innerhalb derer aber ihre Möglichkeiten erprobt und gegenüber rationalistischen Normvorstellungen erweitert wurden. Mit der gattungstheoretischen Bestimmung der Fabel erfolgte auch die Anerkennung ihres lebensweltlichen Ursprungs und die Einsicht, daß Anschaulichkeit, >Wirklichkeit< und Individualität der dargestellten Handlung die effektivste praktische Wirkung auf das Publikum auszuüben vermöchten. Für die Erfindungs- und die Einbildungskraft hatte das zur Konsequenz, daß sie nicht darauf beschränkt waren, das Wunderbare oder die >Geschichte aus einer anderen Welt< poetisch wahrscheinlich und dadurch ansprechend zu machen, sondern daß sie in der poetischen Darstellung moralische Regeln in >Ausübung< zeigten, um durch Anschaulichkeit auf die Einbildungskraft des Lesers einzuwirken. Nicht der Allegorie, sondern dem besonderen Fall, der wirklichen Handlung kam nun mehr Bildmächtigkeit zu. Mit Lessing und Herder war also nicht mehr poetische Wahrscheinlichkeit der Maßstab für die Fabel, sondern die Anschaulichkeit der als wirklich vorgestellten Handlung.

3. Psychologische Konditionierung der Einbildungskraft in der Ästhetik von Georg Friedrich Meier Einbildungen sind nichts anders, als ein Echo der Empfindungen. (Johann August Unzer) Meiers Anfangs gründe aller schönen Wissenschaften1^ in drei Teilen (1748—1750) sind unter dem starken Eindruck von Baumgartens lateinisch gehaltenen Ästhetik-Vorlesungen entstanden.159 Diesen bezeichnet er als den »Erfinder der Aesthetik«,' 00 weil er sie — im Unterschied zur langen Tradition seit der antiken Rhetorik und Poetik — erstmals systematisch ausgeführt habe.' 6 ' Wie 158

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Zitate, die sich auf diesen zweiten Teil der Anfangsgründe beziehen, werden im folgenden in ( ) im Text belegt; ansonsten werden die Anfangsgründe wie zuvor als MM mit Bandzahl in römischer und Paragraph in arabischer Ziffer zitiert. Auf Grundlage von Baumgartens Kollegheften, die Meier auch für seine eigenen Ästhetik-Vorlesungen als Nachfolger Baumgartens in Halle seit dem Wintersemester 1745/46 benutzt hatte, veröffentlichte Meier seine Anfangsgründe noch vor der Aesthetica (1750/58) seines Lehres. Vgl. dazu Bergmann (1911), Die Begründung der deutschen Ästhetik durch A. G. Baumgarten und G. F. Meier. Leipzig, S. 23 u. 141. MM I § 6, S. 9. Ebd., S. ii. Meier benennt hier die nach seiner Ansicht für die Geschichte der Ästhetik wichtigen Autoren: Die antike Tradition sieht er durch Aristoteles, Cicero, Quintilian und (Pseudo)Longin vertreten, an neueren Autoren führt er Bouhours, Crousaz, Pop«, König, Bodmer und Breitinger an (ebd., S. )· 285

Baumgarten definiert Meier die Ästhetik als Wissenschaft, »die von der sinnlichen Erkenntnis und der Bezeichnung derselben überhaupt« handelt.162 In ihrer Einteilung in einen theoretischen und einen praktischen Teil,103 wobei erstere wiederum in eine »natürliche« und eine »künstliche Ästhetik«' 64 nach dem Vorbild der Vernunftlehre zerfalle, folgt er ebenfalls seinem Lehrer. Weil Meier sich so nah an die Einteilungen, Definitionen und Gedanken Baumgartens hielt, sind seine Anfangsgründe oft als »bloße erweiternde Ausführung« 105 abgewertet und wegen »einer nahezu unerträglichen Weitschweifigkeit«166 diskreditiert worden. Bis heute gilt er als Popularisator der Ästhetik Baumgartens, was pejorativ,107 aber auch affirmativ gemeint sein kann. In der Rezeptionsgeschichte bis Kant galt Baumgarten als Urheber der Ästhetik als einer wissenschaftlichen Disziplin, während die Verbreitung seiner ästhetischen Hauptschrift, die zudem unvollendet blieb, vor allem Meier zu verdanken war.'68 Die 162

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MM I § 2, S. 3 und § 4, S. 7. Ebd., §7. Die theoretische Ästhetik ist unterteilt in i. eine heuristische, die »von den schönen Gedanken« handelt und die Regeln aufzeigt, »durch deren Beobachtung dieselben können erzeugt und gefunden werden, 2. eine methodologische, die «von der schönen und ästhetischen Ordnung der schönen Gedanken» handelt, und 3. eine semiotische, die die ästhetische Bezeichnung der «schönen Gedanken» zum Gegenstand hat. Ebd., § 8, S. 13?. — Darin folgt Meier der klassischen Rhetorik, welche die drei Phasen der inventio, dispositio und elocutio für die Konstruktion einer Rede oder eines Gedichts unterschieden hat; vgl. U. Möller (1983), S. 89. MM I § 12. Vgl. F. Braitmaier (1972), Geschichte der Poetischen Theorie und Kritik von den Diskursen der Maler bis auf Lessing. Zwei Teile in einem Band [ND der Ausgabe Frauenfeld 1888/89] Hildesheim, New York. Tl. 2, S. 52. Gleichwohl räumt Braitmaier ein, daß »Meiers Anfangsgründe [...] als erster Versuch der modernen Ästhetik in Deutschland betrachtet werden« können, während Baumgarten »doch nur der letzte Ausläufer der Wolffischen Schulphilosophie« sei (ebd., S. 53). Vgl. auch Knüfer (1911), S. 22; und Menzer (1957), S. 782. Vgl. Grau (1916), Die Entwicklung des Bewusstseinsbegriffes im XVII. und XVIII. Jahrhundert. Halle a.S., S. 201. Der Beginn des kurzen Meier-Kapitels von Silvio Vietta ist symptomatisch für eine solche Abwertung und Marginalisierung: »[...] Schon die ältere Ästhetikforschung ist sich weitgehend einig in ihrem Urteil, daß Meier die Ästhetik Baumgartens zwar popularisiert, dabei auch vergröbert und dogmatisch verhärtet, nicht aber substantiell erweitert habe. [...] An der Berechtigung dieses Urteils zu zweifeln, besteht kein Anlaß. So können wir uns bei der Darstellung seiner Position auch kurzhalten.« Vgl. Vietta (1986), S. 142; als Beleg für die ältere Forschung dient hier jedoch nur die Studie von H. v. Stein (1886), Die Entstehung der neueren Ästhetik. Stuttgart. Bergmann (1911), S. 23. Bergmanns Studie widmet Baumgarten nur das Anfangskapitel, während sich die elf restlichen Kapitel mit Meiers Ästhetik beschäftigen. Umgekehrt ist H. R. Schweizer mehr um die Würdigung Baumgartens jenseits einer popularisierenden Überlagerung durch Meier bemüht; vgl. die Einführung zu seiner Übersetzung von: A. G. Baumgarten (1988), Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der »Aesthetica« (1750/58). Hamburg, S. IXf. - A. Nivelle beschreibt Meier als eine »paradoxe Figur« (S. 39), da er weniger originell als Baumgar-

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neuere Forschung zur Ästhetikgeschichte wandte sich vor allem Baumgartens Schriften zu109 und rückte damit Meiers Ästhetik, seine Eigenleistungen und Neuansätze, in den Schatten.' 70 Meiers Stil läßt sich aber auch als bewußte Technik deuten, mit Wiederholungen, Erläuterungen und Beispielen zugleich die sinnliche Erkenntnis anzusprechen, die ihm allein als die lebendige gilt. Seine Leistung ist in einer Popularisierung und Pragmatisierung der Aufklärungsziele zu sehen, die er durch seine philosophischen und ästhetischen Abhandlungen wie auch durch die mit S. G. Lange herausgegebenen Moralischen Wochenschriften vorantrieb. Schon 1892 hat Robert Sommer die über Baumgarten hinausweisenden ideengeschichtlichen Verbindungen von Meiers Ästhetik und Psychologie hergestellt, da sie nicht nur die Popularisierung der Lehren Wolffs und Baumgartens leisteten, sondern im Kontext des Empirismus Francis Bacons und John Lockes sowie der Leibnizschen Vorstellungspsychologie stünden. 17 ' Zudem be-

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ten, aber viel einflußreicher gewesen sei. Nivelle folgert, daß Meier »seinen Ruhm [...] nur den sprachlichen Schwierigkeiten des Baumgartenschen Textes« verdanke; damit erneuert er die Tradition der Marginalisierung Meiers. Vgl. Nivelle (1971), Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik. 2., erg. Aufl. Berlin, New York, S. 46. Neben den Baumgarten-Übersetzungen und Kommentaren von H. R. Schweizer und auch H. Paetzold seien hier repräsentativ folgende Untersuchungen genannt: Cassirer (1932), Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen, S. 453ff; U. Franke (1972), Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden (= Studia Leibnitiana Supplementa. Bd. IX); M. Jäger (1980), Kommentierende Einführung in Baumgartens »Aesthetica«. Zur entstehenden wissenschaftlichen Ästhetik des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Hildesheim, New York; Schmidt (1982), S. nyff.; H. Adler (1988); F. Solms (1990). Auch der 1976 veröffentlichte Neudruck von Meiers Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften im Georg Olms Verlag (Hildesheim, New York) hat keine merkliche Rezeption nach sich gezogen; so fehlt bis heute eine neuere historisch-systematische Studie zur Ästhetik Meiers. Immer noch sehen wir uns auf E. Bergmanns einschlägige Meier-Studie von 1911 und die Dissertation von F. Wiebecke (Die Poetik Georg Friedrich Meiers. Ein Beitrag zur Geschichte der Dichtungstheorie im 18. Jahrhundert. Diss. Göttingen 1967) verwiesen. Eine der Ausnahmen ist das Kapitel zu Meier in U. Möller (1983), S. 83—97; und der Aufsatz von Vollhardt (1995), Die Grundregel des Geschmacks. Zur Theorie der Nachahmung bei Charles Batteux und Georg Friedrich Meier. In: Verweyen (Hg.), Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. In Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Kertscher. Tübingen (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, i), S. 26-36. Vgl. R. Sommer (1892), Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller. Würzburg, bes. S. 42-57. Sommer zufolge sei Meier allerdings die Vereinigung dieser verschiedenen Strömungen nicht geglückt, ebd., S. 49. — Auf Locke und Bacon bezieht sich Meier vor allem im vierten Abschnitt des zweiten Teils seiner Anfangsgründe in der Erörterung der Begriffe der Erfahrung, der Beobachtung und des Experiments (MM II §§ 344 — 370). Auf den Locke-Einfluß verweist auch Knüfer (1911), S. 22. Dagegen hat A. Baeumler Meiers Philosophie zwar auch dem Lockeschen Sensualismus zugeordnet, unterscheidet ihn 287

zieht sich Meier auf die Lehren der zeitgenössischen Sinnesphysiologie, womit er an dem für Halle spezifischen Diskussionskontext von Philosophie und Medizin teilhatte. 172 In dieser Hinsicht hat er die explizite Ausgliederung der >Arzneiwissenschaft< aus der Psychologie revidiert, wie er sie in seiner Affektenlehre von 1744 noch vertrat: Dort wertete er die Affekte entgegen ihre Zuordnung zum Körper durch Descartes dadurch auf, daß er sie als »Handlungen der Seele«173 auffaßte, die sich mit dem Körper in einer vorherbestimmten Übereinstimmung befänden. Eine physiologische Betrachtung erübrigte sich also.'74 In seinen Anfangsgründen hingegen unterscheidet Meier bei der sinnlichen Erkenntnis ein >natürliches< und ein >willkürliches< Vermögen.175 Das natürliche Erkenntnisvermögen werde durch die jeweilige Lage des Körpers und die physiologische Disposition determiniert, 176 während das willkürliche von der Freiheit abhänge, die bei ihm Wahlfreiheit bedeutet. 177 In der Betrachtung der natürlichen Vorstellungsvermögen knüpft er zwar an physiologische Theorien an, ohne sie aber mit Namen von Ärzten und Naturforschern zu verbinden.178 Nur in einem Fall konkretisiert er seine Quelle und nennt den Namen Nicolas Malebranches (1638-1715). Dies geschieht bezeichnenderweise in dem Kapitel über die Einbildungskraft (§ 376, S. 267), womit er sich auf das zweite Buch von dessen Recherche de la verite (1674) bezieht. Damit zitiert er die Cartesianische Auffassung herbei, die er in seiner Affektenlehre so strikt abgewiesen hat, um ihre Geltung aber auch auf das natürliche, also physiologisch determinierte Erkenntnisvermögen einzuschränken. Die folgenreiche dualistische Voraussetzung Malebranches, die die sinnlich-affektive Natur des Menschen allein dem Körper zuschreibt und sie der Seele qua Verstand aber dadurch von Baumgarten, daß dieser an Leibniz angeknüpft habe, während Meier der »schlechteste Leibnizianer« gewesen sei; vgl. Baeumler (1975), S. 126. 172 Es besteht vor allem eine enge Verbindung zwischen Meier und seinem Freund, dem Arzt Johann August Unzer, den er im Vorwort zum zweiten Teil der Anfangsgründe (o. P.) nennt, um sich aber von dessen Kritik an Meiers früherer Auffassung des psychophysischen Harmonismus zu distanzieren. — Die Verbindung von Unzers Anthropologie und Meiers Ästhetik sind noch genauer zu erforschen. Einige Hinweise gibt das Nachwort von C. Zelle in: J. A. Unzer (1995), Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, mit einer Vorrede vom Gelde begleitet von Herrn Johann Gottlob Kürgern. Halle, S. 70 — 96. '" MA § 34, S. 39. 174 S.o., Teil II, Kap. II.i. 175 MM II § 277. Diese Zweiteilung gilt auch für die anderen >unteren< Erkenntnisvermögen: § 297 (Aufmerksamkeit), § 317 (Abstraktionsvermögen), § 377 (Einbildungskraft), § 459 (Dichtungskraft). 176 MM II § 275, S. 34: »Zu der Lage des Körpers rechnen wir nicht nur den Ort, den er mitten in dem Umfange der ganzen Schöpfung einnimt, sondern auch die ganze inwendige jedesmalige Einrichtung und Beschaffenheit desselben.« 177 MM II § 277, S. 38f. und § 297, S. 87. 178 MM II § 285, S. 51; § 334, S. 158; § 376, S. 265-267. 288

und Vernunft entgegensetzt, kann Meier freilich nicht akzeptieren, ist seine Position doch in der Leibniz-Wölfischen Vorstellungspsychologie fundiert, deren Hierarchie er allerdings umgekehrt hat.' 79 Diese wenigen Hinweise zeigen bereits, daß Meiers Projekt der Ästhetik aufs Engste mit der Psychologie und der zeitgenössischen Anthropologie in Halle verbunden ist. Für die Begründung der Ästhetik knüpft er zugleich an rhetorische Vorgaben an. Sein Ziel ist es, die Erzeugung der größtmöglichen »Schönheit der sinnlichen Erkenntnis«, 100 d.h. die Hervorbringung möglichst reicher, großer, lebhafter, rührender und sinnlich gewisser Vorstellungen theoretisch zu fundieren. 18 ' Gegenüber Baumgartens Aesthetica sind die Akzente jedoch verlagert. Denn der zweite Teil der Anfangsgründe liefert eine detaillierte Untersuchung und Anleitung zur Verbesserung der einzelnen sinnlichen Erkenntnisvermögen. Dazu gehören auch lange Kapitel zur Einbildungskraft und zur Dichtungskraft, welche Meier im Unterschied zu Wolff und Baumgarten nicht als Variante der ersteren, sondern als eigenes Vermögen bestimmt. 182 Auch in der zentralen Bedeutung, die Meier der auf Sinnlichkeit basierenden Einbildungskraft für die ganze Erkenntnis beimißt, geht er über seinen Lehrer hinaus. 103 Deshalb läßt sich die These von einer Marginalisierung der Psychologie in seiner Ästhetik nicht aufrechterhalten. 184 Im folgenden ist zu zeigen, wie Meier seine psychologischen Kenntnisse nutzt, um ein Konzept der Konditionierung der sinnlichen Erkenntniskräfte, insbesondere der Einbildungs- und Dichtungskraft des Menschen zu entwikkeln, statt sie allein der Herrschaft von Verstand und Vernunft zu unterstellen.' 85 Die Ästhetik ist vor allem auf die Ausbildung und Verbesserung der 179

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Zur Umkehrung der Wölfischen Hierarchie der Erkenntnis- und Begehrungskräfte und ihrer Umwandlung in eine »psychologisch-genetische Betrachtung« vgl. Pott (1992), S. 326, im Anschluß an Kondylis (1986). So lautet die alternative Grundregel in Meiers Batteux-Kritik; vgl. Meier (1757), Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften. Halle, § 20, S. 43. Diese ästhetischen Kriterien hat Meier im ersten Band seiner Anfangsgründe entwikkelt. Vgl. dazu Wiebecke (1967); und Möller (1983), S. 88-97. MM II §§ 456-465. S.u. Abschnitt (5) dieses Kapitels. Vgl. Beck (1969), S. 286: »Meier [...] was important as a popularizer of Baumgarten, but he goes beyond him in recognizing the role of imagination in all intellectual activity, even in the formation and application of concepts in the process of knowing.« Die Psychologie wird von Bergmann (1911, S. 142) und Menzer (1957, S. 783) für nebensächlich erklärt, während Sommer (1892) sie als grundlegendes Element der Ästhetik würdigt (S. 24 — 57). Vgl. hierzu auch die Beiträge von G. Dürbeck (1997), Fiktion und Wirklichkeit in Philosophie und Ästhetik. Zur Konzeption der Einbildungskraft bei Christian Wolff und Georg Friedrich Meier. In: Daniel Fulda und Thomas Prüfer (Hg.), Faktenglaube und fiktionales Wissen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne. Frankfurt/M. u.a., S. 25—42. 289

sinnlichen Erkenntnis gerichtet — analog zur Verbesserung der oberen Erkenntnisvermögen in der Vernunftlehre.186 Entsprechend heißt es in dem Auszug aus den Anfangs gründen von 1758: »Die Ästhetik, oder die Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, ist die Wissenschaft der Regeln, nach welchen die sinnliche Erkenntniß, und die Bezeichnung derselben, verbessert werden muß.« 187 Diese gegenüber den Anfangsgründen von 1748 erweiterte Definition (MM I, §§ 2 u. 4) charakterisiert Meiers Projekt der Ästhetik, das er — so die These - auch als eine Technik der psychologischen Beherrschung der Empfindungen und Vorstellungen nach ästhetischen und ethischen Normen versteht; sie setzt eine hohes Maß an Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis voraus. Meiers Theorie der Einbildungskraft wird in fünf Schritten dargelegt: (i) ausgehend von deren sinnliche Grundlage, sind (2) die Unterscheidung von >natürlicher< und >willkürlicher< Einbildungskraft und deren Konsequenz (3) einer psychologischen Beherrschung der sinnlichen Erkenntniskräfte, (4) die Bekämpfung von >Ausschweifungen< und (5) die psychologisch-ästhetische Konditionierung der Dichtungskraft zu erläutern. (i) Quelle und Maßstab für die Einbildungskraft ist nach Meiers Auffassung die sinnliche Erfahrung. Die Einbildungskraft definiert er als »Vermögen, sich vergangene Empfindungen von neuem vorzustellen« (§ 372, S. 258),l88 womit er sie auf die reproduktive Funktion einschränkt. "9 Zugleich bindet er sie aber auch so eng wie möglich an die Sinnlichkeit, die gemäß seiner >psychologischgenetischen< Auffassung der Erkenntnis enorm aufgewertet wird. Gemäß Lokkes empiristischer Erkenntnistheorie legt er fest:190 »Die Empfindungen machen die ganze Grundlage unserer Seele und der ganzen übrigen Erkenntniß

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MM II, § 253, S. 2f. Meier (1758), Auszug aus den Anfangsgründen aller schönen Künste und Wissenschaften. Halle, § r, S. 5. Vgl. Baumgarten (1963), Metaphysica, §§ 557-559. Die reproduktive Einbildungskraft und das Gedächtnis sind darin unterschieden, daß jene die Tätigkeit der Erneuerung bezeichnet, während dieses lediglich zur Erkenntnis und Versicherung dient, »daß eine durch die Einbildungskraft von neuem vorgestellte Sache eben diejenige sey, die wir uns vordem vorgestellt haben« (§ 437, S. 434). Damit schließt sich Meier an die Begriffsbestimmung Wolffs an. S.o. Teil II, Kap. II.3. 1754 hielt Meier — als erster in Deutschland — eine Vorlesung über Lockes Essay Concerning Human Understanding, die allerdings nur vier Hörer hatte; vgl. Bergmann (1911), S. 27. 1757 folgte die Übersetzung von Lockes Versuch vom Menschlichen Verstande (Altenburg) durch Heinrich Engelhard Poleyen. G. W. Leibniz' Noitveaux Essais sur l'entendement humain — die bedeutendste Kritik an Lockes Essay im 18. Jahrhundert — erschienen erst 1765. Vgl. dazu G. Zart (1881), Einfluss der englischen Philosophie seit Bacon auf die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts. Berlin; und U. Thiel (1990), John Locke. Reinbek, S. 125-132.

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aus.«' 9 ' Unter dieser Voraussetzung determiniert die Qualität der Sinne und Empfindungen sowohl die Einbildungskraft als auch alle anderen Vermögen der Seele. Nur die Einbildungskraft jedoch ermögliche, »diese Welt [...] in ihrem vergangenen Zustande vorzustellen« (§ 372, S. 259). Demnach garantiert sie Erkenntnis über die zeitlich begrenzte sinnliche Wahrnehmung hinaus. Dabei sind die Empfindungen und Erfahrungen ihre Grundlage, so daß die »ästhetische Verbesserung der Einbildungskraft« (§ 393, S. 307), die Meier zum zentralen Gegenstand seiner Anfangsgründe macht, bei der Verbesserung der Sinnlichkeit ansetzen (§ 374, § 380) muß. Aus diesem Grund ist zunächst der Begriff der Erfahrung zu klären, der im zweiten Teil der Anfangsgründe in die psychologisch-ästhetische Erörterung eingeführt wird. Unter Erfahrung verstehe man »eine jede klare Erkenntniß, die wir durch die Sinne erlangen.« (§ 344, S. 184) Meier unterscheidet dabei zwischen >unmittelbaren und >mittelbarer< Erfahrung: Die »unmittelbare Erfahrung« bestehe in »klaren Empfindungen« (ebd.) und sei entweder einfach oder zusammengesetzt, während die mittelbare zwar eine Erkenntnis, aber keine Empfindung, jedoch »aus den Empfindungen hergeleitet« sei (ebd., S. 186). Beide Erfahrungstypen teilt er noch einmal in eine »deutliche« oder eine »undeutliche und sinnliche Erkenntniß« ein (ebd., S. 187): Die deutliche sei Gegenstand der »logische[n] Erfahrungskunst« (empirica logica), die undeutliche und sinnliche indessen Gegenstand der »empirica aesthetica«.' 92 Damit schließt er bereits die dunklen 191

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Die Fortsetzung dieser Textstelle lautet: »Sie sind die ersten Vorstellungen unserer Seele, man nehme ihr alle Empfindungen, sie wird gar nichts mehr denken. Alle unsere gelehrte und philosophische Erkenntnis abstrahieren wir von den Empfindungen, und ohne Sinne ist gar kein Erkenntnisvermögen in der Seele möglich. Je besser also unsere Empfindungen sind, desto besser kan auch unsere übrige Erkenntniß seyn; und je schlechter jene sind, desto elender muß auch nothwendig diese seyn.« (§ 339, S. 169; vgl. auch MM I § 220 und MS § 542, S. 56) — Auch bei Baumgarten heißt es: »Ergo phantasia perceptiones reproducuntur, & nihil est in phantasia, quod non ante fuerit in sensu«; vgl. Baumgarten (1963), § 559. MM II, S. 187. In seinen Betrachtungen über den ersten Grundsatz (1757) differenziert Meier den Begriff der sinnlichen Erkenntnis allerdings noch einmal, indem er »ganz sinnliche« Empfindungen ohne die »geringste Deutlichkeit« (wie süß und sauer) von Empfindungen, die »sinnlich und deutlich zugleich« sind, unterscheidet (§21, S. 44f.). Für die ästhetische Vorstellung im Vergleich zur rein sinnlichen gelte deshalb, daß in ihr untere und obere Erkenntniskräfte »in Gesellschaft« (ebd.) arbeiteten, wobei aber — so die weitere Einschränkung Meiers — die Erkenntnis »zwar deutlich, aber vornemlich sinnlich« (ebd.) sei. Daraus ist zu folgern, daß er in seiner >Ästhetik letzter Hand< die Beteiligung von Verstand und Vernunft an ästhetischer Erkenntnis wieder stärker hervorhebt und somit die dominierende Bearbeitung der >unteren< Erkenntnisvermögen in seinen Anfangsgründen abschwächt. Allerdings betont Meier auch hier den Nutzen der Ästhetik für die >Weltweisheitwillkürlichen Einbildungskraftnatürliche< wahllos verfahre und ethisch ambivalent sei: sie erneuere gute und schlechte Einbildungen gleichermaßen; die willkürliche hingegen sei in der Lage, mithilfe der >Beurteilungskraft< die tugendhaften und für ihren Zweck nützlichsten Vorstellungen von den unmoralischen und schädlichen abzusondern (ebd.). An dieser Stelle zeigt sich, daß Meiers Unterscheidung von natürlicher und willkürlicher Einbildungskraft nicht nur die Funktion hat, die Physiologie unter Beibehaltung der Auffassung einer aktiven Seele einbeziehen zu können, sondern zugleich ein Mittel ist, moralisch Unbotmäßiges zu unterdrücken, indem es der mit Moralität verbundenen Wahlfreiheit des Menschen überantwortet wird. Da er jedoch, anders als die moral sense-Theoretiker, eine ethische Ambivalenz der Empfindungen, mithin der Einbildungen als gegeben annimmt, muß er die ästhetische Normierung der sinnlichen Erkenntnisvermögen mit ihrer moralischen Normierung verbinden. Im ersten Teil seiner Anfangsgründe hat Meier auch den Fall von ästhetischem Vergnügen an schrecklichen oder verabscheuungswürdigen Dingen erwogen, diese aber gleichwohl an das Vollkommenheitsideal gebunden: Unmoralisches kann schön und vollkommen gedacht werden, insofern es durch die Darstellung lebhafte, rührende, große Vorstellungen erweckt 2 ' 7 und einen »angenehmen Verdrus« 2 ' 8 erregt. Meier vollzieht hier noch nicht die Konsequenz einer Differenzierung von objektiver Unvollkommenheit und subjektiver Vollkommenheit, um eine Theorie der vermischten Empfindungen wie Mendelssohn und Lessing zu entwerfen. 219 Er betont nämlich, daß das Unvollkommene nur insofern gefällt, als es den Betrachter oder Leser selbst nicht betrifft und er sich in Sicherheit weiß (§ 201). Im zweiten Teil der Anfangsgründe geht es unter anderem um die Scheidung zwischen moralisch nützlichen und verwerflichen Vorstellungen. So führt Meier 217

2Itt 219

Meier bleibt hier im Rahmen der klassizistischen Vollkommenheitsästhetik. Wie Baumgarten in seiner Aesthetica lehnt auch er das Monströse und Deformierte ab und fordert für das Häßliche, daß es >schön< darzustellen sei. Vgl. hierzu Zelle (1987), S. 301. MM I, § 182, 8.432. Ebd., S. 303. — Weiter unten im zweiten Teil der Anfangsgründe unterscheidet Meier deutlich zwischen subjektiver Vollkommenheit durch das Vergnügen an einer Sache und objektiver Unvollkommenheit: »Folglich kan eine Einbildung überaus süß seyn, und so wohl sie selbst als auch der Gegenstand sind böse und schädlich. So machen die Sclaven der Laster tausend süsse Träume, von ihren vergangenen Sünden, und sie werden dadurch gereitzt, dieselben von neuen zu wiederholen. Wer wolte aber glauben, daß beydes, die Sünde und die vergnügende Einbildung davon, was guts wäre?« (§ 398, S. 3250 — Martino hingegen sieht bei Meier bereits die »Subjektivierung und Psychologisierung des Schönen« vollzogen; vgl. Martino (1977 — 79), S. 124. 299

fünf praktische Regeln zur Unterdrückung von »niederträchtigen, kriechenden, pöbelhaften, geilen, unflätigen, unedlen« Einbildungen (§ 393, S. 307) an, die reziprok zur Verstärkung der ethisch und ästhetisch angemessenen Vorstellungen angelegt sind: Die Empfindung unmoralischer Dinge soll verhindert oder wenigstens nicht durch Wiederholung eingeschärft werden, indem man die Erneuerung solange wie möglich aufschiebe, bis sie sich vielleicht von selbst verliere; außerdem sei von lasterhaften Gedanken und mit ihnen verknüpften Vorstellungen zu abstrahieren und abzulenken, indem man die Aufmerksamkeit auf >schöne Gedanken< richte.220 Zur Ablenkung schlägt Meier bezeichnenderweise nicht das Studieren oder wissenschaftliche Arbeit vor, da sie zu schwach seien, die Aufmerksamkeit zu fesseln, sondern gesellschaftlich-kulturelle Beschäftigungen wie Reisen, Konzertbesuche, Weintrinken, >artigen< sozialen Umgang oder die Lektüre von tugendhaften Romanen. 221 So ist die Funktion der Einbildungskraft durch Verstärkung und Konzentration auf »ästhetisch grosse und würdige Gegenstände« (§ 394, S. 312) und zugleich durch Unterdrückung und Ablenkung von ästhetisch und ethisch unangemessenen Vorstellungen charakterisiert. Als Bedingungen für die Erkenntnis des Schönen gelten »Stärke und Ausdehnung oder Fruchtbarkeit der Einbildungskraft« (§ 395, S. 315), wobei er betont, daß Stärke und Lebhaftigkeit nicht mit Ausschweifung zu verwechseln sind. (4) Diese Einschränkung ist wichtig, da traditionell die Lebhaftigkeit der Einbildungskraft, die Meier so sehr verficht, meist auch ihre Ausschweifung bedeutete. Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß die Einbildungen normalerweise schwächer als die ursprünglichen Empfindungen sind.222 Werden jene aber genauso lebhaft oder sogar lebhafter, sind sie leicht mit den Empfindungen zu verwechseln - ein Phänomen, das Meier und seine Zeitgenossen als Schwärmerei, Phantasterei, wachende Träumerei oder Verrückung bezeichnet haben. Wie bereits erwähnt, kennt er zwei Formen von >Irrthümern der Phantasie< oder Schwärmerei, einmal die Verwechslung von Empfindung und Einbildung, zum anderen die Verwechslung von Einbildung und Erdichtung, wenn Vorstellungen ohne Korrelat in der Wirklichkeit verbunden werden (§ 395). In beiden Fällen sei die Einbildung psychologisch zu überprüfen, indem man beobachtet, ob die Einbildung tatsächlich eine vergangene Empfindung wiederholt, oder aber durch Teilung und Verknüpfung mit anderen Vorstellungen entstellt oder durch Abstraktion »verstümmelt« worden ist (§ 390, S. 299^). Meier verteilt hier Seitenhiebe gegen die >Lügen< von Historienerzählern, die ihre Geschichten meist auch noch für wahr hielten (ebd.). Um eine Verwechslung von Empfindung und Einbildung zu vermeiden, gebe es zwei untrügliche Mittel: entwe220

MM II § 393, S. 307-310 und § 396, S. 318. "' Ebd., S. 31 of. 222 MM II § 341, S. 179; § 378, S. 270 u. § 384, S. 284. 300

der das »innere Gefühl« (§ 391, S. 302), das den Unterschied zwischen äußerer und innerer Empfindung kennt, oder, wenn dies nicht ausreicht, die Achtung auf die Einbildung, die sich immer auf eine ehemalige sinnliche Erfahrung zurückführen lassen muß. Beide Mittel berufen sich auf die Selbstreflexion, die allerdings — was Meier hier nicht zu bedenken gibt - im Zustand der »Phantasterey«, der »Enthusiasterey und Verrückung« (ebd., S. 301) eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt ist. Die Kontrolle der überbordenden Einbildungskraft wird folglich nicht Verstand und Vernunft unterstellt, sondern dem durch Selbstbeobachtung geschulten >inneren GefühlExperiment< angestellt, in dem die Verwechslung von Wirklichkeit und halluzinatorischer Einbildung durch eine lebhafte, reale Empfindung kuriert werden soll. Erzählt wird die Geschichte eines Offiziers namens Brasilienthal, der infolge schwerer Wunden eine fieberhafte, »gewaltige Verrückung des Gehirns« (243) erlitten hat: Als er aufgrund seiner Jugend und »Festigkeit des Körpers« (ebd.) nach etlichen Wochen seinen Verstand zurückerlangt hat, wird er gewahr, daß er von einer Nonne, einer »allerliebste[n] junge[n] Person« (244), Tag und Nacht gepflegt worden ist, was ihn mit Dankbarkeit und Scham erfüllt und wie schwer zu erraten ist — bald in glühende Liebe zu ihr entbrennen läßt. Doch sein von Geburt an »feuriges Temperament« verleitet ihn, so kommentiert der Erzähler, zur »Ausschweifung seiner allzu zärtlichen Empfindung« (245), die ihm ein nicht wiedergutzumachendes Schuldgefühl einflößt und ihn in Melancholie stürzt, aber seine Leidenschaft wie eine »verzehrende Flamme« (247) nährt. Hier geschieht das Unvermeidliche: er offenbart dem frommen, aufopfernden Mädchen namens Wilhelmine seine Liebe und bringt sie dadurch in so große Gewissenskonflikte, daß sie — durch die lange Pflege zudem körperlich völlig erschöpft — bald darauf stirbt. Was bleibt, ist das Bild von ihr, das Brasilienthals ganze unrettbare Liebe in Bann schlägt. An dieser Stelle greifen Freunde des Offiziers ein. In der Überzeugung, daß seine lebhafte Einbildung, das »Phantom« (251), »beym Anblick eines wirklichen Gegenstandes, der [...] viel Ähnlichkeit mit jenem hatte« (ebd.), verschwinden würde, konfrontieren sie ihn bei einem inszenierten Abendessen mit der Gegenwart einer »vollkommen ähnlichen Person« (ebd.). Als diese auf ein Zeichen hereinkommt, ruft der Offizier aus: »Rettet mich! Ich bin verlohren! Ich sähe nur eine, und itzt sehe ich ihrer zwey.« (253) Die tragische Pointe der Therapie: Brasilienthal verstirbt just in diesem Augenblick.

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Der Glückselige (1763-1768). Eine Moralische Wochenschrift herausgegeben von S. G. Lange und G. F. Meier. 12. Bde. Halle, Bd. n (1768), S. 240 — 253; nach dieser Ausgabe wird im folgenden in ( ) im Text zitiert. 301

Diese kurze Geschichte verdeutlicht die psychologische Ansicht, daß aus einem sowohl >feurigen< (244) als auch melancholischen Temperament (245) und einer »allzu zärtlichen Empfindung« eine fixe Idee entstehen kann. Dabei wird die Intensität der Einbildungskraft aus der individuellen physischen und affektiven Disposition hergeleitet. Ihre Intensität schlägt dann in >Ausschweifung< um, wenn die Einbildung für realer gehalten wird als die Wirklichkeit selbst. Daraus läßt sich folgern, daß die beabsichtigte Intensivierung der Einbildungskraft, für die Meier im psychologischen Teil seiner Anfangsgründe eintritt, die Stärke der Empfindung zum Maßstab hat. Die Geschichte liefert aber nicht nur die Ätiologie einer wahnhaften Einbildungskraft aufgrund einer besonderen affektiven Disposition, sondern sie ist auch ein Beleg dafür, daß der Einsatz einer starken, dem Vorstellungsbild widersprechenden Empfindung als Therapiemittel gegen eine lebhafte Einbildung angesehen wurde. Daß diese erst das tragische Ende auslöste, wird jedoch nicht bedacht. Damit ist ein weiterer Bezug von Meiers >empirischer< Psychologie zur anthropologisch orientierten Medizin um 1750, besonders zu Johann Gottlob Krüger hergestellt. Schon dieser hat nämlich im zweiten Teil seiner Naturlehre (1743) zur erfolgreichen Bekämpfung der >NarrheitVernunftschlüsseErdichtung< verbundenen Teile ästhetisch nicht »proportioniret« (ebd.) seien, da große und würdige Sachen mit kleinen und >kriechenden< Vorstellungen kombiniert würden. Spätestens hier wird deutlich, daß die ästhetischen Kriterien in Orientierung an moralischen und gesellschaftlichen Normen, hier der Ständeklausel, gewonnen sind; insofern wird die Dichtungskraft außerästhetisch bestimmt. 233 Meier reflektiert 230

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MM I, §91 — 113. Die »ästhetische Wahrscheinlichkeit« wird in dem Kapitel zur Dichtungskraft neben den anderen ästhetischen Kriterien am häufigsten für deren Normierung genannt: MM II, §457, 8.487; §458, 8.490; §461, 8.496; §463, S. 500; § 464, S. 501. Ausdehnung und Reichtum seien i. durch Zusammensetzung der Teile »sehr vieler Einbildungen«, 2. durch die Verbindung der »Theile auf eine überaus vielfältige Art« und 3. durch die Abstraktion von vielen Teilen der Einbildungen zu erlangen (§ 460, S. 492). Vgl. auch MM I, § 73. Schon in seiner Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmackes der Deutschen in Absicht auf die schönen Wissenschaften (1746) hat Meier den Harlekin und die Romane »nach dem gewöhnlichen Schrot und Korne« gebrandmarkt; zitiert nach Menzer (1957), 8.781. — Zur Verurteilung des Harlekins bei Gottsched vgl. Grimm (1983), S. 650. Vgl. MM I, § 74, S. 141: »Weil keine wahre aesthetische Schönheit der Tugend zuwider seyn mus, so müssen alle schönen Gedanken dergestalt beschaffen seyn, daß die Tugend durch dieselbe nicht verletzt wird.« — Zum Programm der literarischen Bildung bei Wolffund im Wolffianismus vgl. D. Kimpel (1983), S. 203 — 236.

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nicht, daß er in diesem Punkt der sonst von ihm so angefochtenen Regelpoetik Gottscheds näher rückt, als ihm lieb sein konnte. 234 So wird die ambivalente Funktion der Dichtungskraft nicht nur an ästhetische und ethische Konventionen gebunden, sondern zusätzlich auch sozialen Normvorstellungen unterworfen. Der »allergrößte Fehler der Dichtungskraft« sei »die unsinnige Ausschweifung [...], vermöge welcher sie utopische Chimären ausheckt« (§ 463, S. 499). Diese Gefahr drohe, wenn die verschiedenen sinnlichen Erkenntniskräfte nicht verbessert würden und die >Erdichtungen< nicht die Regel der »ästhetischen Wahrscheinlichkeit« (ebd., S. 500) befolgten. Als Korrektiv nennt Meier die >Scharfsinnigkeit< 235 sowie »den Gebrauch des Verstandes und der Vernunft«, durch den die Dichtung »philosophisch« zu beurteilen sei. (ebd.). Damit deckt sich die rationale Reglementierung der >dichterischen< Einbildungskraft, wie sie Wolff, Gottsched und Baumgarten - trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen — vertreten haben, mit Meiers Auffassung von der Dichtungskraft. Auch Sulzer wird ihnen darin folgen. 2 ' 6 Meiers Position gewinnt also nur in der psychologisch versierten Konditionierung der Einbildungs- und Dichtungskraft ein eigenes Profil. 237 Für die Einübung in einen ästhetisch und ethisch angemessenen Gebrauch der sinnlichen Erkenntniskräfte sind Verstand und Vernunft zunächst nicht von Bedeutung. Doch die mögliche >Ausschweifungästhetischen IrrtümerUngeheuernWeltweise< ein erfolgreiches Gegenmittel hätten. Daraus folgert er, daß die entsprechende Erziehung der Dichtungskraft bereits in der Kindheit einsetzen muß. MM I, 3. Abs., §§ 68-70, 73-76, 82, 84 und 86-87. Dort heißt es: »Man kann also kein untrügerlicheres Mittel wider alle Phantasterey, und also auch wider die Enthusiasterey, vorschlagen, als wenn man seine Sinne nicht 305

die sinnliche Erfahrung gebunden ist, in der Sinnlichkeit selbst ein Korrektiv hat. Insofern sind die Feinde der Schwärmerei benannt: einerseits das >innere Gefühls die Reflexion240 auf die Empfindungen, andererseits die Beurteilung der Einbildungen durch >ScharfsinnWeltweisheit< versteht, mag das folgenden Zitat belegen: Glücklich wären wir, wenn wir nur der Natur folgten, und alle unsere Kräfte ihrer Natur gemäs verbesserten. Allein wir verderben alles, und daher komt es [...], daß die Schönheit des Geistes, der Stärke des Verstandes sehr ofte widerspricht. Zwar wil ich nicht sagen, daß eine ganz vollkommene Schönheit des Geistes eine Feindin der grossen Vernunft sey. Keineswegs. Sondern, wenn jemand sich beständig und ganz allein auf die Vergrösserung der sinlichen Erkenntniskräfte befleißiget, und dabey die gehörigen Übungen des Verstandes und der Vernunft ganz beyseite setzt, so kan er sich so sehr an das sinlich Schöne gewöhnen, daß ihm alle tiefsinnigen philosophischen Gedanken dunkel und unbegreiflich sind. Solche Leute tändeln und schäckern nur mit der Wahrheit. 24 '

Abschließend ist zu sagen, daß Meier mit der Aufwertung der Sinnlichkeit, mithin der Einbildungskraft eine gezielte psychologisch-ästhetische Verbesserung der einzelnen sinnlichen Vermögen verbindet. Er konzipiert das Schöne in Relation zu den sinnlichen Erkenntnisbedingungen, wobei das Subjekt in den Mittelpunkt der Ästhetik rückt. Die Konditionierung der Einbildungskraft und Dichtungskraft kann als Versuch angesehen werden, den physischen Determinationen des Menschen Rechnung zu tragen und den sinnlichen Vermögen selbst die regulierenden Mittel über die Sinnlichkeit zuzuordnen. Damit wird die Herrschaft der Vernunft über die Sinnlichkeit durch eine psychologisch ausgebildete Beherrschtheit der sinnlichen Erkenntniskräfte ersetzt. Für die Einbildungskraft bedeutet das, daß Meier sie als ein reproduktives Vermögen sieht, das die sinnliche Erfahrung zum Korrektiv hat, für die Dichtungskraft hingegen, daß er sie wegen ihrer Tendenz zur >Ausschweifung< und ihrer möglichen Autonomie von der Erfahrungswirklichkeit doch dem Verstand und der Vernunft unterstellt, um ihre ästhetische, ethische und soziale Angemessenheit zu sichern. Wenn er für die Einbildungskraft auch die Beschickte Wahl< der ästhetisch und ethisch nützlichen Vorstellungen fordert, setzt er die Ambivalenz der Empfindungen voraus. Seine Position bleibt also von einem aufklärerischen Optimismus geprägt, die psychischen und physischen Kräfte durch psy-

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nur gehörig verbessert, sondern auch die Natur seiner Einbildungskraft recht kennenlernt.« (§ 391, S. 303) Meier selbst benutzt den Begriff der Reflexion nicht. Vielmehr spricht er von »Achtung geben«, »innere[m] Gefühl« (§ 391, S. 302), >Aufmerksamkeitsich selbst Kennenlernen·!, was er in Bezug auf die sinnlichen Erkenntniskräfte verwendet; die Selbsterkenntnis beruht demnach auf sinnlichen Beobachtungen. MM I §220, S. 519.

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chologisch geschulte Reflexion verbessern zu können. Der Einbildungskraft wird dabei die Aufgabe zugewiesen, die richtige Wahl zwischen ethisch wie ästhetisch angemessenen und unangemessenen Vorstellungen zu treffen. Dadurch wird sie zu einem wichtigen Instrument der ästhetisch-moralischen Erziehung.

4. Erfahrung - Übung - Re2eption: Sulzers wirkungsästhetisches Konzept der künstlerischen Einbildungskraft Die Einbildungskraft [...] ist die Mutter des Gedächtnisses und der Dichtungskrafc; sie ist die Nachahmerin der Sinne, und durch ihre Kraft können wir mit dem Dichter sagen: Das, was wir empfinden, verewigt sich. (Johann August Unzer) Sie ist eigentlich die Mutter aller schönen Künste. (Johann Georg Sulzer) Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771 ~74) 242 leidet bis heute unter dem Verdikt, daß sie bereits bei Erscheinen anachronistisch gewesen sei und einen veraltete ästhetische Position wiedergebe.243 So meint Silvio Vietta, Sulzers Auffassung der Einbildungskraft noch der Frühaufklärung oder wenigstens ihrer Popularisierung zuordnen zu können. 244 Lewis W. Beck und Alberto Martine hingegen stellen Sulzer zwar auch in die Tradition des Wolffianismus, wobei sie aber zugestehen, daß er diese durch die Rezeption der zeitgenössischen

242

J. G. Sulzer (1792—1794), Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. 4 Tie. Neue, verm. 2. Aufl. Leipzig [i. Aufl. 1771 — 1774]. Diese Ausgbae wird im folgenden in ( ) im Text mit Angabe von Band- in römischen und Seitenzahl in arabischen Ziffern zitiert. 243 Sulzers Allgemeine Theorie, die vor allem auf die i75oer Jahre zurückgeht — der Autor hatte fast 20 Jahre daran gearbeitet -, stieß bereits bei der Sturm-und-Drang-Generation auf »enttäuschte Ablehnung«, wie es etwa die Rezensionen J. H. Mercks und Goethes in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen (i 1.2. und 18. 12. 1772; Nr. XII u. CI) zum Ausdruck brachten. Vgl. W. Riedel (1991), Art. Sulzer. In: W. Kiily (Hg.), Literatur-Lexikon. Bd. n. Gütersloh, München, S. 287-289, hier S. 288. - W. Proß sieht die »vernichtenden Urteile« Goethes und Mercks zur Sulzers »Physik der Seele« vor allem durch deren »Hinwendung zu einer theoriefreien psychologischen Betrachtung« motiviert; vgl. W. Proß (1994), S. ^ . 244 Vgl. Vietta (1986), S. 145-147; dort heißt es, daß »die Sulzersche Theorie zum Zeitpunkt ihres Erscheinens eher ein Dokument der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen« (S. 147) gewesen sei. 307

Physiologie245 sowie der emotionalistischen Ästhetik Dubos'246 erweitert und umgedeutet habe. Anna Tumarkin betont zudem die Mittlerrolle Sulzers zu Kants Ästhetik und Johannes Dobai sieht in ihm den »Vorläufer« Schillers.247 Diese Einordnung Sulzers zwischen Dubos, Wolff, Baumgarten, Kant und Schiller wird von Wolfgang Riedel weitgehend geteilt.248 Sulzers enzyklopädisch angelegte Allgemeine Theorie, die trotz einiger zeitgenössischer Verrisse sehr erfolgreich war, so daß sie erweitert und mehrfach aufgelegt wurde, enthält einen konzisen Artikel zur Einbildungskraft, der die oben aufgezeigten poetologischen-ästhetischen Auffassungen um 1750 zusammenfaßt und reflektiert. Aus diesem Grund soll Sulzers Einschätzung der Einbildungsund Dichtungskraft zum Abschluß des Ästhetik-Kapitels dargelegt werden, auch wenn seine Allgemeine Theorie, geht man nach dem Erscheinungsjahr, nicht mehr in den ausgewählten Untersuchungszeitraum fällt. Seine Position weist zudem etliche Parallelen zu Meiers psychologisch-ästhetischer Begründung der Einbildungskraft auf, die Sulzer produktionsästhetisch spezifiziert. Er definiert die Einbildungskraft als »Vermögen der Seele die Gegenstände der Sinnen und der innerlichen Empfindungen sich klar vorzustellen, wenn sie gleich nicht gegenwärtig auf sie wirken.« (ro) Diese Bestimmung deckt sich, was den Begriff der >Klarheit< der Vorstellungen angeht, mit der Tradition der Wölfischen Schulphilosophie, die aber in einem entscheidenden Aspekt umgedeutet ist: Die Redeweise von »Gegenstände[n] der Sinnen und der innerlichen Empfindungen«, aufweiche die Einbildungskraft rekurriert, ist ein Beleg für einen veränderten Vorstellungsbegriff. Bedenkt man Sulzers Differenzierung von Empfindung und Vorstellung, wie er sie in einem kurzen Text von 1763 aufgezeigt hat,249 wird hier die (reproduktive) Einbildungskraft auf die sinn2

« Vgl. Beck (1969), S. 287. S.o. Teil II, Kap. 1.1.4. und .2. Vgl. Martino (1977-79), S. 124. 247 Vgl. Tumarkin (1933), bes. S. 71-145; ähnlich Baeumler (1975), S. 134; und J. Dobai (1978), Die bildenden Künste in Johann Georg Sulzers Ästhetik. Seine »Allgemeine Theorie der Schönen Künste«. Winterthur, S. 9 248 Vgl. Riedel (1991), S. 288; und ders. (1994). — Mit diesen Zuordnungen wird Viettas These, daß Sulzer lediglich »noch einmal den frühaufklärerischen Stand der Poetik und Ästhetik in Form von Lexikonartikeln festgehalten« habe, widerlegt; vgl. Vietta (1986), S. 147, bei dem obendrein eine Auseinandersetzung mit neuerer Forschungsliteratur fehlt. 249 Vgl. Sulzer (1974), Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet. In: ders., Vermischte Philosophische Schriften, S. 225-243. - Riedel (19943) erkennt in diesem Text den »Bruch« (S. 415) mit Wolff, während Beck behauptet hat, daß dieser Text nicht wirklich eine Überwindung der »one faculty-theory« Wolffs darstelle, weil Sulzer die Verbindung von Empfindung und Willen noch aufrechterhalte und damit das Ästhetische mit dem Moralischen vermische; vgl. Beck (1969), S. 288. Diese These wird auch durch Sulzers Artikel »Empfindung« in der Allgemeinen Theorie (II 53 — 59) bestätigt, wo er zwar die undeutliche von der deutlichen Erkenntnis unterscheidet, für beide Arten 246

308

lich-emotive Seite des Menschen bezogen, mithin ihr Anteil an deutlichen, vernünftigen Vorstellungen implizit negiert. Sulzer ist zwar mit zeitgenössischen Theorien der Sinnesphysiologie vertraut,250 bezieht sich hier jedoch auf einen allgemeineren Begriff der Sinnlichkeit und Erfahrung, wie er von Meier in seinen Anfangsgründen in Anknüpfung an Locke und Bacon entwickelt worden ist.251 Ebenso wie Meier argumentiert er, daß die Optimierung der Einbildungskraft eine Verbesserung der Sinne voraussetze (II nf.): die »Gabe der Natur« müsse durch »Übung gestärkt« (ebd.) werden, um die »Bildung« und »die feinere Sinnlichkeit des Künstlers« (II 12) zu vermehren. Obwohl Sulzer die Einbildungskraft als »einer der vorzüglichsten Eigenschaften der Seele« (10) jedem Menschen zuspricht, fokussiert er in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste den Blick auf den Künstler, dem dieses Vermögen im besonderen Maß zukommen müsse (II ; 683). So gilt seine Aufmerksamkeit dem künstlerischen »Genie« (II n), das durch eine ganze Reihe von Fähigkeiten charakterisiert wird. An etlichen Stellen hebt er nicht nur Übung, Fertigkeit und Erziehung, 252 sondern auch Erfahrung, Aufnahmebereitschaft und »scharfe[n] Beobachtungsgeist« (II 13) als zentrale Eigenschaften eines guten Künstlers hervor; wie bei Meier gilt hierfür Homer als uneingeschränktes Vorbild. Der Künstler müsse: die Gegenstände seiner Kunst zuerst in der Natur gesehen oder empfunden haben [...]. Also muß er unaufhörlich seine Sinnen für jeden Gegenstand offen halten, daß ihm nichts entgehe; er muß den mannigfaltigen Scenen der Natur und des sittlichen Lebens der Menschen überall nachgehen, sie in mehreren Ländern und unter mehreren Völkern aufsuchen [...]. (ebd.) Die Tätigkeit der Einbildungskraft ist ganz eng an die sinnliche Erfahrung gebunden, die wie bei Meier von »undeutliche[n]«, verworrenen Empfindungen, also von der »grobem Sinnlichkeit« (II 12), unterschieden wird. 253 In geringer Abwandlung zu den ästhetischen Kriterien des Baumgarten-Schülers

aber den Begriff der Vorstellung verwendet; außerdem charakterisiert er eine undeutliche Erkenntnis/Empfindung dadurch, daß sie auf die Begehrungskräfte wirke und die Vorstellung des Angenehmen oder Widrigen erwecke (II 53), was Becks These einer Indifferenz von Empfindung und Affekt in Sulzers Psychologie stützt. i5 °S.o. Teil II, Kap. 1.1.4. 251 S.o. Teil II, Kap. 111.3. 5 Vgl. auch Art. »Dichtungskraft« (I 684). 2 " Sulzer teilt die Sinnlichkeit in verschiedene Grade der Distinktheit ein: die >gröbern Sinne< qualifiziert er als »leidend« und träge (II 12), die >feineren< hingegen als wirksam, tätig und lebhaft (II 13); nur diese seien zu verstärken. Sulzers Auffassung geht letztlich in die gleiche Richtung wie Meiers Unterscheidung von >natürlichen und »willkürlicher Einbildungskraft* (MM II § 377); allerdings hat Meier in seinen Anfangsgründen die Aufgabe der Verbesserung der sinnlichen Vermögen als Integration der natürlichen Disposition des Menschen verstanden, während Sulzer vor allem die Verfeinerung und Erziehung betont. 309

charakterisiert Sulzer die Einbildungskraft durch »Leichtigkeit«, »Lebhaftigkeit« und »Ausdehnung« (II 11).254 Die Leichtigkeit sei für den Reichtum der Vorstellungen verantwortlich,255 während die Lebhaftigkeit - bei Meier die »Stärke der Einbildungskraft« 250 — »Wärme«, »Feuer«, »Begeisterung« (II i i , 14) erzeuge.257 Ihre >Ausdehnung< sieht er als Hauptursache für »Ordnung, Plan und Ebenmaaß in größern Werken« (II n) — eine Bestimmung, die Meier der »ästhetischen Größe« einer schönen Erkenntnis zugesprochen hat.2'8 Da Sulzer auch die Übung 259 und >Fertigkeit< der Einbildungskraft zu den grundlegenden Voraussetzungen eines Künstlers rechnet, ist seine Auffassung stark an der Baumgarten-Meierschen Ästhetik orientiert. Konform mit dieser verlangt er »den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit« (I 683) für die ästhetische Darstellung, ohne jedoch in diesem Kontext die Kategorie des Neuen, Wunderbaren, Außerordentlichen der Poetik seiner Zürcher Lehrer zu erörtern. Vielmehr redet er einer Psychologisierung und Subjektivierung des Schönen das Wort, wenn er die psychologischen Voraussetzungen des Individuums, insbesondere des Künstlers in den Blick nimmt. So formuliert er: »Es ist zur Theorie der Künste höchst wichtig, daß man sich die bewunderungswürdige Wirksamkeit der Einbildungskraft durch genaue Beobachtung besonderer Fälle wol bekannt mache.« (II 14) Die Aufhellung der »dunkeln Seiten der Seele [...], wo sie durch sehr undeutliche und dunkle Begriffe handelt«, 260 hat Sulzer schon in seiner Schrift Kurzer Begriff aller Wissenschaften (1745/59) gefordert. Sein Interesse an den dunklen, >unbewußten< Phänomenen der Seele26' zieht sich durch seine Schriften wie ein roter Faden. Als Anknüpfungspunkte 254

Nach Meier sind die »Hauptvollkommenheit[en]« der Einbildungskraft: Ausdehnung, Stärke und anhaltender Gebrauch/Übung (MM II §§ 381—386). 235 Meier hat Reichtum und Mannigfaltigkeit der Vorstellungen auf die »Ausdehnung« der Einbildungskraft zurückgeführt (MM II, §§ 256; 381). 256 Vgl. MM II § 383,8.281. 257 Sulzers Auffassung der Begeisterung oder des Enthusiasmus geht auf den durch Bodmer und Breitinger vermittelten Shaftesbury-Einfluß zurück. Vgl. Grudzinski (1913). Zum »poetischen Enthusiasmus< bei den Zürchern s.o. Teil I, Kap. III.3.c. — Auch Meier hat den wirkungsästhetischen Aspekt der »Entzückung« des Dichters, der erst eine lebendige Erkenntnis erzeuge, betont (MM I §§221 und MA § 13); vgl. dazu Möller (1983), S. 85-87. 2H ' Die »ästhetische Größe« bedeutet bei Meier aber nicht nur die >Proportioniertheit< der Vorstellungen (MM I §§ 65; 73), sondern auch deren Mannigfaltigheit und »Menge der Theile« (ebd., § 31). 259 Die »ästhetische Übung« zählte auch Baumgarten zu den wesentlichen Voraussetzungen eines »erfolgreichen Ästhetikers«, worauf sich Meier bezogen hat; vgl. Baumgarten (1988), Theoretische Ästhetik, §§ 47-61, S. 29-39. 260 Sulzer (1786), Kurzer Begriff aller Wissenschaften. 6. Aufl. Frankfurt, Leipzig, § 206. Diese Schrift erschien zuerst 1745 und dann 1759 in zweiter, völlig überarbeiteter Fassung, nach der hier zitiert wird. 261 Vgl. Adler (1988), S. 203; Riedel (19943), bes. S. 410-423. Proß gebraucht in diesem Zusammenhang den Begriff des >Unbewußtenempirische< Psychologie der Wolff-Schule als auch die zeitgenössische Medizin genommen.262 Wenn er selbst in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste daran erinnert, ist das ein Beleg dafür, daß er die Ästhetik in engem Zusammenhang mit der psychologischen Begründung der Kunsttheorie sieht, mehr noch, daß er psychologische Beobachtungen zur Grundlage seiner ästhetischen Theorie macht. Dies ist zwar aus der Entwicklung der Ästhetik auf Grundlage der Leibniz-Wölfischen Metaphysik und Psychologie erklärbar, aber die geforderte »Beobachtung besonderer Fälle« ist ein wichtiger Schritt über die rationale Psychologie hinaus, deren Mittel Sulzer verwendet, um das Einzelne, Individuelle, Subjektive mit seinen dunklen und unbewußten Seiten zu erfassen. Diese neue Perspektive auf die menschliche Seele weist ebenso auf die >Erfahrungsseelenkunde< des späten 18. Jahrhunderts voraus, wie sie auch die individuellen, subjektbezogenen Komponenten der Ästhetik in den Blick nimmt. In dieser Hinsicht geht Sulzer einen Schritt weiter als Meier, der in seinen Anfangsgründen die psychologische Konditionierung der sinnlichen Erkenntnisvermögen, speziell der Einbildungs- und Dichtungskraft, als Aufgabe der Ästhetik verstanden hat. Nachdrücklicher als dieser lenkt Sulzer den Blick auf das einzelne ästhetische Subjekt. Gleichwohl untersucht auch er die allgemeinen psychologischen Bedingungen künstlerischer Produktion, die er in der verfeinerten sinnlichen Empfindung (II 12) und der wirksamen Einbildungskraft sieht, die »leicht und schnell« (II 10), willkürlich und »fast allezeit« die sinnlichen Erfahrungen »in sich selbst hervorbringen« (II n) kann und »ähnliche Vorstellungen auch in ändern zu erwecken« (ebd.) versteht. Doch sind bei Sulzer noch andere Anknüpfungspunkte als an die psychologisch-genetische Umdeutung der Wölfischen Schulphilosophie durch Baumgarten und Meier zu finden. Wenn Sulzer die Einbildungskraft als »Zeughaus, woraus er [der Künstler] die Waffen nimmt, die ihm die Siege über die Gemüther der Menschen erwerben helfen« (II 13), charakterisiert, ist das eine Anspielung sowohl auf Muratoris Metapher des »Magazin[s]«26i als auch auf die rhetorisch-wirkungsästhetische Auffassung der >Gemütsbemeisterung< von Bodmer und Breitinger. 264 Muratori hat aus der Speicherfunktion der Einbildungskraft allerdings nicht auch ihre Irrtumsfreiheit abgeleitet. Vielmehr hat er die 262

Sulzer (1786), §§ 205-207; vgl. Riedel (19943), S. 413^ S.o. Teil II, Kap. 1.1.4. und II.2.

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Muratori, der die Einbildungskraft anstelle des Gedächtnisses als Speicher betrachtet (M I, 189; 47), wird von Sulzer auch in der anschließenden Bibliographie genannt. — Wenn Meier von »eingesammelten« Empfindungen, von einem »reichen Vorrath« und »Materialien« (MM II §§457—458, 8.4870 als den Quellen der Dichtungskraft spricht, die ihr durch Einbildungskraft und Gedächtnis (ebd., S. 486) dargeboten würden, geht das in eine ähnliche Richtung; zudem bezeichnet dieser das Gedächtnis auch als »allgemeine[s] Vorrathshaus der Erkenntniß in der Seele« (MM II § 436, S- 433)· Vgl. F. Schlegel (1986). S.o. Teil I, Kap. 111.3. und Teil II, Kap. III.i.

prinzipielle Ambivalenz dieses Vermögens hervorgehoben, die nach seiner Diagnose zu einem beständigen Konflikt zwischen >materieller Phantasie< und Vernunft, zwischen Körper und Seele führe. Die Benennung des Konflikts ist ein Zugeständnis an die Macht der Einbildungskraft, die Muratori zufolge nur durch die Herrschaft von Ratio und christlicher Religion in ihre Schranken gewiesen werden könne. 265 Sulzer hingegen räumt zwar ein, daß die Einbildungskraft »an sich leichtsinnig, ausschweifend und abentheuerlich« (II n) sei, was auch für die Spielart der Dichtungskraft (I 6840 gilt, doch unterscheidet er, ähnlich wie Meier, zwischen einem Korrektiv für die Einbildungskraft und einem für die Dichtungskraft. Letztere unterstellt er der Herrschaft eines »scharfen Verstand[es]« und »gesunden Urtheils« (ebd.),266 während er das Korrektiv der Einbildungskraft in dem Zusammenspiel zwischen oberen und unteren Seelenkräfte sieht: »Ein feines Gefühl der Ordnung und Übereinstimmung [...], durchdringende Beurtheilungskraft, und starke [...] gegründete Empfindungen, müssen die Herrschaft über sie behalten.« (ebd.) Diese Aussage ist als Zustimmung zur Position Baumgartens und Meiers, daß in der Ästhetik die >sinnliche Erkenntnis< Vorrang habe, zu werten. Bestätigt wird dies zusätzlich durch Sulzers Charakterisierung des Künstlers, daß er sich »den sinnlichen Eindrücken mit Geschmack und Überlegung so zu überlassen [habe], daß man jedes reizbare darin bemerkt, ohne es ergründen oder der Prüfung des Verstandes unterwerfen zu wollen« (II, 12). Dabei wird der >Geschmack< oder die >Beurteilungskraft< zu den sinnlichen Erkenntnisvermögen gerechnet,207 wie es die Kontrastierung von Künstler und Naturforscher illustriert: der Künstler überlasse sich der »angenehmen Empfindung [...] mit Geschmack, indem er jedes einzelne dieser Empfindung besonders, aber doch immer auch alles zugleich empfinden will« (II 12), während der Naturforscher einen »Hang« habe, »in jeder Vorstellung das einzelne aufzusuchen, abzusondern und mit Deutlichkeit zu fassen«, dadurch aber die »Sinnlichkeit, die eine Stütze der Einbildungskraft ist«, zerstört (ebd.). Analyse, Abstraktion und deutliche Erkenntnis stehen Synthese, Konkretheit und sinnlicher Erkenntnis gegenüber.208 Hat Breitinger bereits 1740 265 266

267

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S.o. Teil II, Kap. 1.1.5. Auch Meier hat erst bei der >Dichtungskraft< die Notwendigkeit einer Kontrolle durch Scharfsinn, Verstand und Vernunft betont (MM II § 457). In Meiers Auffassung ist der Geschmack oder die Beurteilungskraft sowohl auf die oberen als auch auf die unteren Erkenntnisvermögen bezogen, wobei die oberen die »Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten« deutlich, die unteren undeutlich erkennen (MM II §§ 467). Aus diesem Grund ist Viettas (1986) These, daß Sulzers Forderung nach Beherrschung der Einbildungskraft durch den Verstand an Gottsched gemahne (S. 146), ebenso unzutreffend, wie seine Behauptung, daß Sulzers Begriff der Einbildungskraft »geradezu in Opposition zur Poetik der Schweizer« stehe, auch wenn in ihm — »dank der Anstrengungen der Schweizer« — eine »positive Konnotation mitschwingt« (S. 145).

312

behauptet, daß die Einbildungskraft »bey der äusserlichen Fläche stille« stehe und um »den innerlichen Grund und das wahre Wesen der Dinge« nicht bekümmert sei,26y so schränkt auch Sulzer ihre Funktion auf Anschaulichkeit und sinnliche Empfindung ein: der Künstler müsse sich »vorzüglich bemühen, Begriff, Wahrheit und allgemeine Kenntniß mehr anschauend in sinnlichen Gegenständen zu empfinden, als durch den reinen Verstand.« (ebd.)270 Sulzer greift damit das Problem der Dissoziierung von Ästhetik und Metaphysik, wie es in den vierziger und fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts die poetologischästhetische Diskussion bestimmte, auf, um die anschauende Erkenntnis für den Ästhetiker zu reservieren.271 Zwar haben auch Baumgarten und Meier die Priorität der anschauenden vor der symbolischen oder Verstandeserkenntnis vertreten,272 doch erst Sulzer und auch Lessing, auf den gleich noch einzugehen ist, haben die Einbildungskraft selbst »von einem Seelenvermögen zur ästhetischen Urteilsinstanz« 273 umgewendet. Dazu gehört, daß sie die Einbildungskraft des Rezipienten in ihre ästhetischen Überlegungen einbezogen haben, wenn auch auf unterschiedliche Weise. So bleibt Sulzer nicht bei der wirkungsästhetischen Forderung stehen, den Betrachter durch das eigene >Feuer< der Einbildungskraft in Begeisterung zu versetzen (II n, 14), sondern charakterisiert den rezeptionsästhetischen Vollzug folgendermaßen: Es giebt tausend Fälle, wo der Künstler nicht alles darstellen kann, was der, für den sein Werk bestimmt ist, sich vorstellen muß, um den ganzen Eindruck zu empfangen, den man auf ihn machen will. Da kommt dem Künstler die Einbildungskraft seines Zuhörers, oder Zusehers zu Hülfe. Wenn diese durch irgend eine in dem Werke

269 270

271 272

273

Die detaillierte Kritik an der Studie von Herrmann (1970) in der Rezension von Bruck/Feldmeier/Hiebel/Stahl (1971), jener habe das Verhältnis von Gottsched und den Schweizern durch »schematische Oppositionen« (S. 577) verunklärt, trifft in diesem Punkt ebenso auf Vietta zu. Erst die Zuschreibung des Begriffs einer schöpferischen Einbildungskraft, den Bodmer und Breitinger in ihrer Poetik entwickelt hätten, im Unterschied zu Gottscheds Reglementierung dieses Vermögens durch Verstand und vernünftigen Geschmack, und die Feststellung, daß Sulzer die Einbildungskraft nur als reproduktives Vermögen definiert habe, verleitet Vietta zu diesen Fehleinschätzungen. Breitinger (1967), Critische Abhandlung von [...] den Gleichnisse[n]. Stuttgart, S. 7. Vgl. auch die Passage im Art. »Dichtungskraft« der Allgemeinen Theorie: »Durch die Dichtungskraft bekommen abgezogene und schwere Begriffe ein körperliches Wesen, wodurch sie lebhaft und leicht faßlich werden; durch sie bekommen Charaktere, Sitten, Handlungen, Begebenheiten den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit, indem jedes einzelne dadurch in sein rechtes Licht gesetzt, und die Wahrheit des Ganzen augenscheinlich wird.« (I 683) S.o. Teil II, Kap. III.i. Baumgarten (1963), Metaphysica, §§ 620, 669; ders. (1988), Theoretische Ästhetik, § 37; Meier (1976), Anfangsgründe, MM I § 181. Lessing (1973), Abhandlungen über die Fabel, L II 31. Vgl. K. Bohnen (1974), S. 90, der dies für Lessing konstatiert. 313

liegende Ursache in lebhafte Wirksamkeit gesetzt wird, so thut sie alsdenn das Übrige von selbst. (II 14)

Angeregt durch eine beliebige Einzelheit des ästhetischen Objektes ergänzt die Einbildungskraft des Betrachters automatisch die fehlenden Teile zu einem Ganzen. Aufgrund dieser synthetischen Funktion muß in einer ästhetischen Darstellung nicht alles bis zum letzten ausgeführt sein. Dieser >Mechanismuszärtliche< Empfindung verursacht wird, hat dieses Vermögen unter rezeptionsästhetischem Aspekt zwei Seiten: zum einen vollendet es aufgrund des Assoziationsprinzipes das Kunstwerk im Prozeß der Rezeption, zum anderen steigert es die darin angelegten Empfindungen zu Affekten. In der Zeit, als Sulzer seine Allgemeine Theorie verfaßte, trat Lessing mit seiner ästhetisch-archäologischen Abhandlung Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) hervor. Sie enthält Ansätze zu einer rezeptionsästhetischen Theorie der Einbildungskraft, die Sulzer jedoch in seinem diesbezüglichen Artikel außer Acht läßt. Zur Verdeutlichung seiner Position sei sie mit Lessings Auffassung in einigen Punkten konfrontiert. 275 Beide Autoren sind sich darin einig, daß der Künstler »niemals für die Sinnen, sondern für die Einbildungskraft arbeitet« (I 683). Doch Lessing münzt dies ausschließlich auf 274 Verschiedene Artikel wie »Ebenmass«, »Ordnung«, »Verhältnis«, »Mannigfaltigkeit«, »Einheit«, »Vollkommenheit« u.a. belegen Sulzers Auffassung, daß ein Kunstwerk ein >Ganzes< repräsentieren muß, womit er sich an die Kategorien der Vollkommenheitsästhetik anlehnt. Zum »Labyrinth der Begriffe« und dem Versuch, daraus Sulzers Kunsttheorie zu extrapolieren vgl. die Studie von J. Dobai (1978), Kap. I, hier S. 50; auch Baeumler (1975), S. 131. 275 Eine eigene Interpretation von Lessings Theorie der Einbildungskraft im Laokoon ist hier nicht beabsichtigt. Verwiesen sei auf zwei sehr unterschiedliche Deutungen bei K. Bohnen (1974), bes. S. 86-102; und D. Wellbery (1984), Lessing's Laokoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge, London u.a., bes. S. 156161, i89f. Vgl. auch die kurze Darstellung bei Alt (1996), S. 102 — 115, der m.E. aber mit der Betonung einer neuen Illusionsästhetik die wirkungsästhetische Seite von Lessings Ästhetik aus dem Auge verliert. 314

den Rezipienten. So heißt es in seiner berümt gewordenen Formulierung: »[...] was wir in einem Kunstwerke schön finden, das findet nicht unser Auge, sondern unsere Einbildungskraft, durch das Auge, schön.« 276 Während aber in den zitierten Passagen Lessing nur die rezeptionsästhetische, Sulzer nur die produktionsästhetische Seite in den Blick nimmt, kommen beide Autoren hinsichtlich der Wirkung der >Leerstellen< 277 des ästhetischen Objektes auf den Betrachter zu vergleichbaren Ansichten, wenn auch Lessings Position die weitaus radikalere ist. Dieser hat nämlich die Qualität eines Kunstwerkes in Relation zu dem infiniten Imaginationsprozeß, den es auszulösen imstande ist, bestimmt. Für die Wahl des ästhetischen Objektes genüge es, wenn es »einen einzigen [fruchtbaren] Augenblick« enthalte: Dasjenige aber nur ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. [...] In dem ganzen Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben. Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, und sie nötigen, da sie über den sinnlichen Eindruck nicht hinaus kann, sich unter ihm mit schwächern Bildern zu beschäftigen, über die sie die sichtbare Fülle des Ausdrucks als ihre Grenze scheuet.278

Lessing macht die auf einen besonderen Gesichtspunkt fokussierte Darstellungsform zur Bedingung des freien Spiels der Einbildungskraft. Sie kann das ästhetische Wohlgefallen auslösen. Kunst wird durch die Spannung von Gegenwärtigen und Abwesenden konstituiert, wobei die Dichtung gegenüber der bildenden Künsten im Vorteil sei, weil bereits durch die Sprache die materiale Präsenz der Objekte überschritten werde.279 Lessing betont den »transitorischen« 280 Aspekt der Einbildungskraft, der ihr Spiel - besonders in der Poesie — zu einem unabschließbaren Prozeß macht. 28 ' Demgegenüber behauptet Sulzer zwar auch, daß das nicht in allen Teilen ausgeführte Kunstwerk erst durch die Einbildungskraft des Rezipienten zu einem Ganzen vollendet werde, macht dies jedoch nicht zur zentralen Bedingung des ästhetischen Vergnügens. 276

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Vgl. Lessing (1974), Werke. Bd. VI: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Bearb. v. A. v. Schirnding. München, 7-187, hier S. 52. Zur vieldiskutierten >LeerstellenLebhaftigkeit und >Ausdehnung< der Einbildungskraft zur Bedingung der ästhetischen Wirkung, während für Lessing der »fruchtbare Augenblicks der in einem »einzige[n] Gesichtspunkt«282 bestehen kann, eine konstituitve Rolle spielt.283 Sulzers wirkungsästhetisches Konzept wertet zugleich die Rolle des Betrachters auf, ohne aber dessen Einbildungskraft, die durch das Kunstwerk erst ins Spiel gebracht wird, zur alleinigen Bedingung des Ästhetischen zu machen.284 Dies blieb der nächsten Generation vorbehalten.

282 283

284

Vgl. Lessing (1974), S. 21. Zur detaillierten Aufschlüsselung der Bedingungen der künstlerischen Produktion vgl. die Tabelle 2 bei Wellbery (1984), S. 113. Nach der Deutung Bohnens (1974) hat auch Lessing nicht vermocht, »eine ästhetische Autonomie der Einbildungskraft zu begründen« (S. 98), da diese sich mit der Vernunft verbinden müsse, um »in der Naturgemäßheit der Darstellung« die »menschliche Form«, die »Idealität eines Menschenbildes« (ebd.) erblicken zu können.

3 l6

Verzeichnis der Siglen

BC

BM CD CH

DM

EGE

BC

GW

H

HA HW

K KR

Breitinger 1966: Johann Jacob Breitinger, Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe [Zürich] 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. 2 Bde. Stuttgart. Baumgarten 1766: Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysik. [Übersetzt von Georg Friedrich Meier]. Halle [Orig.: Metaphysica. Halle 1739]. Gottsched 1962: Johann Christoph, Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. [ND der 4., sehr verm. Auflage. Leipzig 1751] Darmstadt. Shaftesbury 1978: Anthony Ashley Cooper Shaftesbury, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Vol. I —III. Faksimiledruck der Ausgabe London 1711. Hildesheim, New York (= Anglistica & Americana. 123). Wolff 1983: Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken Von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. ND [nach der n. Auflage Halle i.M. 1751] herausgegeben von C. A. Corr. Hildesheim, New York [= Deutsche Metaphysik]. Bodmer/Breitinger 1727: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, Vernünfftige Gedancken und Urtheile Von der Beredtsamkeit. Von dem Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft; Zur Ausbesserung des Geschmackes: Oder Genaue Untersuchung Aller Arten Beschreibungen/Worinne Die außerlesenste Stellen Der berühmtesten Poeten dieser Zeit mit gründlicher Freyheit beurtheilet werden. Franckfurt/O., Leipzig. Breitinger 1966: Johann Jacob Breitinger, Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe [Zürich] 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. 2 Bde. Stuttgart. Gottsched 1983: Johann Christoph Gottsched, Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, darinn alle philosophische Wissenschaften, in ihrer natürlichen Verknüpfung, in zween Theilen abgehandelt werden, Zum Gebrauche akademischer Lectionen entworfen, mit einer kurzen philosophischen Historic, nöthigen Kupfern und einem Register versehen. In: Gottsched, Gesammelte Werke. Herausgegeben von P. M. Mitchell. Bd. 5, Teil i [ND der 7., verm. und verb. Aufl. Leipzig 1762] Berlin, New York [i. Aufl. Leipzig 1731]. Haller 1759—1776: Albrecht von Haller, Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. 8 Bde. Übersetzt von Johann Samuel Hallen. Berlin, Leipzig. Hartley 1967: David Hartley, Observation on Man, his Frame, his Duty, and his Expectations. 2 vols. [ND der Ausg. London 1749]. Hildesheim. Herder 1967: Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke. Herausgegeben von Bernhard Suphan. 32 Bde. [ND der Ausg. Berlin 1877-1899] Hildesheim. Krüger 1740—1750: Johann Gottlob Krüger, Naturlehre. 3 Theile. Halle. Krause 1758: Johann Christian Krause, Abhandlung von den Muttermälern, welche mit dem, von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. 317

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Petersburg, auf das Jahr 1756 ausgesetzten Preise gekrönt worden; Nebst einer ändern Abhandlung, welche die gegenseitige Meynung behauptet [von Johann Georg Röderer]. Aus dem Lateinischen übersetzt von Christian August Wichmann. Leipzig. Lessing 1970-1779: Gotthold Ephraim Lessing, Werke in 8 Bdn. Herausgegeben von Herbert G. Göpfert in Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Albert von Schirnding und Jörg Schönert. München. Muratori 1766: Ludovico Antonio Muratori, Delia Forza della Fantasia Umana. 4. ed. Venezia [i. ed. 1745]. Meier 1971: Georg Friedrich Meier, Theoretische Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt. ND der Ausgabe Halle 1744. Frankfurt/M. Graciän 1715 — 1717: Balthasar Gracians Oracul, Das mit sich führen, und stets bey der hand haben kan, Das ist; Kunst-Regeln der Klugheit, vormahls von Herrn Amelot de la Houssay unter dem Titel, L'Homme de Cour ins Frantzösische anietzo aber Aus dem Spanischen Original welches durch und durch hinzu gefüget worden, ins Deutsche übersetzet, mit neuen Anmerkungen von D. August Friedrich Müllern. Leipzig. Muratori 1785: Lodovico Antonio Muratori, Über die Einbildungskraft des Menschen. Mit vielen Zusätzen herausgegeben von Georg Hermann Richerz. 2 Theile. [nach der 4. Aufl. Venedig 1766]. Leipzig. Meier 1976: Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Theile. [ND der 2. Aufl. Halle 1754-1759] Hildesheim, New York. Meier 1762-1766: Georg Friedrich Meier, Philosophische Sittenlehre. 5 Theile. 2., u. verb. Aufl. Halle [i. Aufl. Halle 1753-1761]. Wolff 1968: Christian Wolff, Psychologia empirica. ND [nach der 2. Auflage Frankfurt, Leipzig 1738] herausgegeben und bearbeitet von J. Ecole. Hildesheim, New York [i. Aufl. 1732], Malebranche 1962: Nicolas Malebranche, CEuvres de Malebranche. Tome I. Recherche de la verite oü l'on traite de la nature de l'esprit de l'homme et de l'usage qu'il en doit faire pour eviter I'erreur dans les sciences. Edite par Genevieve Rodis-Lewis. Paris. Addison 1873: Joseph Addison, Works in 6 vols. With Notes by Richard Hurd. Vol. Ill: The Spectator. London. Sulzer 1974: Johann Georg(e) Sulzer, Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Teile in i Band. [ND der Ausgabe Leipzig 1773] Hildesheim, New York. Walch 1775": Johann Georg Wakh, Philosophisches Lexikon. 2 Bde. 4., erw. Auflage. Leipzig, [i. Aufl. 1726]. Zedler 1731-1754: Johann Heinrich Zedler, Großes Vollständiges UniversalLexikon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. Halle und Leipzig, 4 Suppl.-bde. Leipzig [ND Graz 1961 — 1964].

Verzeichnis der Abkürzungen

DBA

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Deutsches Biographisches Archiv. Eine Kumulation aus 254 der wichtigsten biographischen Nachschlagewerke für den deutschen Bereich bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Herausgegeben von Bernhard Fabian. Bearbeitet unter der Leitung von Willi Grozny. Microfiche Edition. München. Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Neudruck/Reprint, Faksimiledruck

Literaturverzeichnis

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Namensverzeichnis

Addison, Joseph 6, 32, 35, jof., 67-77, 80, 83, ii2, 241 Adelung, Johann Christoph 50 Adler, Hans 131, 180, 256, 287, 310 Agazzi, Elena 161 Agrippa von Nettesheim, Cornelius 31 Aikins, Janet E. 232 Alberti, Michael 159 Alembert, Jean Le Rond d' 17 Algazel, al-Ghasali 31 Aloisi, Massimo 168 Alt, Peter-Andre 10, 266 Andre, Yves-Marie 106 Aristoteles 33, 88, 106, 136, 141, 157, 177, 209, 214, 220, 230, 249, 285 Arndt, Hans Werner 44 Artemidor 230 Assmann, Aleida 206 Augustinus, Aurelius 88, 90, 108, no, 157, 203, 2 i i Avicenna 31, 88, 145, 157, 159

253, 258-260, 264, 267, 285-291, 293. 299- 3041"·. 308-313 Bayle, Pierre 17, 233 Beck, Lewis White 8, 35, 195, 289, 307-309 Becker, Ursel-Margret 67 Becker-Cantarino, Bärbel 238 Begemann, Christian 3, 189, 252 Bender, Wolfgang 76f., 80, 82, 265^ 275 Benzenhöfer, Udo n6f. Bergmann, Ernst 264, 267, 285-287,

Berns, Jörg Jochen 206, 208, 230 Betschart, P. Ildefons 98, 145 Bezold, Raimund 123, 131, 134, 156, 180 Bianchi, M. 15, 35 Bichat, Marie Frangois Xavier 131 Bilfinger, Georg Bernhard 264 Bilger, Stefan 131-133 Binswanger, Ludwig 230 Birke, Joachim 43,46^,185 Blackall, Eric A. 55 Baasner, Rainer 40 Blondel, James Augustus 157-161, Bablot, Benjamin 174 171-175 Bacon, Francis 86, 97, 156, 159, 207, Blumenbach, Johann Friedrich 173 287, 290 Bodemer, Charles W. 87 Baeumler, Alfred 43, 54, 139, 179, 266, Bodmer, Johann Jakob 6, 10, 32, 35, 42, 287f., 308, 314 46, 50f., 74, 76-85, 112, 140, 239, Bamberger, Fritz 201 258, 260-266, 269^, 276, 285, 310Barck, Karlheinz 1,2, 17, 89, 118, 270 . 313 Barkhoff, Jürgen 115 Böckmann, Paul 266 Barner, Wilfried 23, 77, 276, 281, 315 Bödeker, Hans Erich 5 Barth, Bernhard 270 Böhme, Gernot 266 Battafarano, Italo Michele 52, i39f-, Böhme, Hartmut 266 146, 260 Boerhaave, Herman 98, 119, 122, 148, Batteux, Charles 260, 266-268, 270, I5if., 160, I74f., 241 270f., 279, 281, 287, 289 Bohnen, Klaus 54, 267, 313, 316 Baumgarten, Alexander Gottlieb 35, 42, Boileau-Despreaux, Nicolas 50f. 44-46, 54f., 123, 135, I79f., 182Bolten, Johann Christian 8, 119, 132134, 139, 154 186, 188, 191, 210, 212, 227, 232, 350

Bonnet, Charles 121, 148, 150, 153, 168, 176, 212, 222-227, 240-245, 248,254 Borelli, Giovanni Alfonso 164 Bornscheuer, Lothar 5 Bouce, Paul-Gabriel 162 Bouhours, Dominique 285 Braitmaier, Friedrich 286 Breitinger, Johann Jakob 6, 10, 32, 35, 42, 46, 561"., 74, 76-85, ii2, 140, 187, 239, 258, 260-267, 2691"., 275280, 284?., 310-313 Bretzigheimer, Gerlinde 264, 273 Briegel-Florig, Waltraud 269 Briesmeier, Dietrich 24 Brockes, Barthold Hinrich 551"., 241 Brück, Jan 52, 8of., 266, 313 Budde, Johann Franz 21, 29-32, 87, 111 Bürger, Christa 32, 76 Bürger, Peter 76 Buffon, Georges Louis Leclerc de 148, 174 Bundy, Murray Wright 15 Burke, Edmund 67, 76 Byrd, M. 52 Caesar, C. Julius 32 Canone, Eugenio 15, 17 Carboncini, Sonia 231 Carbonnel, Yves 232 Cardano, Gerolamo 230 Carels, Peter E. 18 Casaubonus 31 Cassirer, Ernst 58, 64, 258, 287 Chaffin, Roger 205 Cicero, M. Tullius 205, 285 Clarke, Edwin 92, 120 Cocking, J. M. 15 Cohen, Bernhard I. 104 Coleman, Janet 207 Comenius, Johann Amos 27,207 Condillac, Etienne Bonnot de 148, 211, 224-227, 231, 240-246, 254 Corr, Charles A. 34 Corvisart des Märest, Jean Nicolas 131 Coschwitz, Daniel Georg 135 Costazza, Alessandro 52, 260, 267, 271 Cremer, Thomas i73f. Crocker, Lester G. 232 Croll, Oswald 145

Crousaz, Jean Pierre de 284 Cunningham, Andrew 88, 159 Currie, P. 57 Cusatelli, Giorgio 140 Danneberg, Lutz 116 Daston, Lorraine J. 162, 180 Davies, Martin L. 180 Delille, Jaques 68 Dennis, John 56 Descartes, Rene 36, 38, 56, 68, 86-91, 93-99, 104, 108, no, 129, 136, 174, 184^, 207, 288, 292 Diderot, Denis 17 Dieckmann, Herbert 50 Diemer, Alwin 93, 149 Diepgen, Paul 230 Dobai, Johannes 308,314 Dockhorn, Klaus 77, 80 Dod, Elmar 118 Dougherty, Frank William Peter 149, Dreitzel, Horst 18 Dubos, Jean Baptiste 56, 84, 202, 26if., 308 Duchesnau, Franfois 121, 149 Dürbeck, Gabriele 41, 88, 132, 140, 181, 289 Eagleton, Terry 76 Ecole, Jean 34 Engel, Manfred 116, 178, 248, 252 Engell.J. 67,76 Erhart, Walter 56, 178 Ersch, J. S. 1 18 Ewinkel, Irene 157 Fabian, Bernhard 5 , 1 1 8 Fattori, M. 15, 35 Feger, Hans 118 Feldmeier, Eckart 8of., 266, 313 Fernel, Jean 87 Ficino, Marsilio 31 Fienus, Thomas 98, 145, 164 Findlen, Paula 170 Fischer-Homberger, Esther 98, 157, 159, 163 Flasch, Kurt 108 Flory, Dan 18 Fontius, Martin 88, 181 Ford, Stephen H. 217

144,

351

Formey, Johann Heinrich Samuel 229, 232, 240-245 Forssmann, Knut 22-24 Foucault, Michel 7, 131 Fox, Christopher 9 5 , 2 1 7 , 2 3 2 Franke, Ursula 179, 287, 297 Freiesleben, Christoph Heinrich von 24 French, Roger 88, 159 Frerichs, J. B. 122 Freytag, Wiebke 269, 273, 278 Friderici, Gottlieb 159 Fries, Thomas 57 Fröhner, Annette 18 Fulda, Daniel 41, 289 Gadamer, Hans-Georg 3 Gaede, Friedrich 179 Galen(us) 53, 88, 94, 98, 147, 156, 230 Gaonach, J.-M. 86, 92 Garmann, Gerburg 252 Garve, Christian 140 Gaspari, Gianmarco 141 Gassendi, Pierre 141 Gawlick, Günter 215 Geitner, Ursula 23 Geliert, Christian Fürchtegott 269, 278f., 284 Gemert, Guillaume van 140 Gerard, Alexander 2155., 218, 227 Geyer-Kordesch, Johanna 8, 88, I2if., 159,293 Glanvill, Joseph no Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 232 Glenister, T.W. 88, 156 Göbels, Armin 118 Gössmann, Elisabeth 97 Goethe, Johann Wolfgang von 307 Götz, Johann Nikolaus 232 Goeze, Johann August Ephraim 168 Goltz, Dietlinde 251 Gombocz, Istvo 52f. Gottsched, Johann Christoph 6, 35, 39, 42f.,

46-57,

225f., 233,

258,

82f.,

III,

200, 264,

179, 266,

210, 270,

273-279, 284, 3041"., 3i2f~. Goulemot, Jean Marie 141 Graciän, Baltasar 2 1 — 2 4 Grau, Kurt Joachim 286 Grimm, Gunter E. 5if., 273-276, 281, 304. 315 Grimm, Jacob 50

Grimm, Wilhelm 50 Grimminger, Rolf 23, 53, 55-57, 84 Grohmann, Johann Christian August 162 Großklaus, Götz 267 Gruber, J. G. 118 Grudzinski, Herbert 56, 310 Gründer, Karlfried 3 Gundling, Nikolaus Hieronymus 2iof., 213 Gunnerus, Johann Ernst 296 Hafner, Ralph 116, 209, 222 Hagner, Michael 158, 170, 175 Haller, Albrecht von 93, 115, 119—121, I27f., 130, i43f., 147-155, 160, i68f., I74f., 217-220, 222, 220f., 231, 240-244, 298 Hardenberg, Friedrich von (s. Novalis) Harrington, James 104 Harth, Dietrich 206 Hartley, David 121, 127, 143, 148, 151, 153, 217-222, 225, 227, 232, 240248, 254 Harvey, William 87, 93, 98, 102, 104, 166 Haverkamp, Anselm 2o6f., 208, 212 Heinz, Jutta 117, 140, 178 Heinzmann, Johann Georg 115, 217 Helmont, Franziskus Merkurius van 31, 145, 164 Helvetius, Claude-Adrien 148, 150 Herder, Johann Gottfried i, 36, 61, 116, I 2 i , 123, 222, 208f., 282 — 285 Herrmann, Douglas J. 205 Herrmann, Hans Peter i, 10, 17, 27, 39, 46, 80, ii8, 266, 274, 313 Herz, Marcus 134, 180 Heydenreich, Karl Heinrich 189 Hiebel, Hans 8of., 266, 313 Hinck, Walter 179, 266, 269 Hinrichs, Ernst 5 Hinske, Norbert 192, 297 Hintzsche, Erich 168, 175 Hippokrates 88, 156, 160, 230 Hirsch, A. 129, 147 Hißmann, Michael 39, 95, 177, 211 Hobbes, Thomas 56, 70, 94, 104 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 252 Hoffmann, Friedrich 8, 38, 87, 109, 119, i2if., 126, 129, 160

Hoffmeister, Gerhard 23 Homann, K. 15 Hooke, Robert 148 Horaz 191, 262 Horch, Hans Otto 46, 265, 269 Hörne, Jan van 93 Houssaie, Nicolas Amelot de la 23f. Huarte, Juan 53, 150, 209, 22if. Hübener, Wolfgang 42 Huet, Marie-Helene 158 Hume, David 28, 39, 67, 76, 95f., i n , 135, 163, 2i4f., 217*"., 227, 254 Hutcheson, Francis 28, 56 Irmscher, Hans Dietrich 284 Iser, Wolfgang 2, 116, 315 Jablonski, Johann Theodor 158, 173 Jackson, S. W. 98 Jäger, Hans-Wolf 56, 270, 278 Jäger, Michael 44f., 179, 260, 287 Jahnke, Jürgen 131, 179 Jauß, Hans Robert 50, 263 Jean Paul 115, 161, 252 Johnson, Eduard 224 Jordan, Lothar 56 Jüttemann, Gert 91, 120 Juncker, Johann 132 Kästner, Abraham Gotthelf 40 Kafker, Franz A. 17f. Kaiser, Wolfram 38, 122 Kaiich, Martin 70, 2i6f. Kant, Immanuel 8, 35, 118, 123, 266, 287, 298, 3o8f. Kaplan, Steven L. 7 Karsch, Anna Louisa 192 Kertscher, Hans-Joachim 266, 287 Keßler, Eckhard 197 Kiesel, Helmuth 276, 281, 315 Killy, Walther 307 Kimpel, Dieter 53, 203, 272f., 304 King, Lester S. 98, 102, 109, 157, 168, 171, I73f. Klingenberg, Anneliese 88, 181 Klopstock, Friedrich Gottlieb 56 Knüfer, Carl 36f., 139, 286f. König, Johann Ulrich 53,285 Kondylis, Panajotis 3, 6, 23 — 25, 54, 177, I79f., 184, 256, 258f., 289 Koselleck, Reinhart 4

Kosenina, Alexander 115 Kramer, Martin 276, 281, 315 Krause, Karl Christian 160-167, 172, 295 Kreimendahl, Lothar 215, 224 Krüger, Joachim 45 Krüger, Johann Gottlob 8f., 119, 121133. 135- !37, M 1 - I 5 2 ~ I 5 5 . 159167, 173, iSjf., 194, 202, 204, 212, 2 I 9 f , 222,

226,

229,

2 3 l f . , 234,

240-244, 2 4 8 - 2 5 2 , 288, 293,

236, 298,

302

Krünitz, Johann Georg Küntzel, Heinrich 64

18

LaCapra, Dominick 7 Lacoste, J. 87 La Fontaine, Jean de 281 La Motte, Antoine Houdar de 275, 279 Lachmann, Renate 206-208, 212 Lamarck, Jean Baptiste Antoine Pierre de Monet de 103 Lange, Friedrich Albert 127, 245 Lange, Samuel Gotthold 193, 212, 229, 2 3 i f , 234-239, 249^, 286, 301 Laqueur, Thomas 166, 173 Lavater, Johann Kaspar 161, 227 Leeuwenhoek, Anton van 102 Leibbrand, Annemarie (geb. Wettley) 133. 171 Leibbrand, Werner 133, 171 Leibfried, Erwin 269, 27if. Leibniz, Gottfried Wilhelm von 5, 36, 38f, 42, 77, 109, 122, 129, 131, 136, 164, 180, 202, 207, 220, 256, 258, 274, 288-290, 292, 295, 311 Lerner, E. 231 Lessing, Gotthold Ephraim 53, 121, 161, 203, 209, 22l, 20if, 269, 276, 279-286, 299, 313-316 Levi, Anthony 88, 90, 105, 108 Lichtenberg, Georg Christoph 40 Lieber, Maria 140 Lindeboom, G. A. 98. Linden, Mareta 116 Linne, Carl von 162 Locke, John 30,54,56,68,70,95,111, 123, 215, 287, 290, 294 (Pseudo-)Longin 56, 77, 285 Lossius, Jeremias 232 Lovejoy, Arthur O. 3, 66

353

Liihe, Irmela von der 267, 271 Liitkehaus, Ludger 242 Lukina, Tatjana A. 174 Lukrez 93 Luserke, Matthias 178 Luyendijk-Elshout, Antonie 152 Maaß, Johann Gebhard Ehrenreich Malebranche, Nicolas ${., Sf., 16, 21, 26,

30,

32f.,

86-112,

121,

I4lf.,

i40f., 127, 155, 165, 171, i74f., 199, 220, 288, 292-296 Maler, Anselm 56, 84 Mani, Nikolaus 147 Markus, D. F. 39, 214, 217 Marquard, Odo 5, n 6, 118 Martens, Wolfgang 57, 193 Martino, Alberto 106, 194, 261, 299, Martinson, Steven D. 266 Mauclerc, John Henry i6of. Maupertuis, Pierre Louis Moreau 136, 168, 174 Mauser, Wolfram 88, 122, 178, 23 if., 238, 250 McCarthy, John 10,266 Meier, Georg Friedrich 7f., 10, 35, 41, 45f., 54, 82, 88, 123, i25f., 129- 134, 151, 154, 179-194, 196, 20l, 204, 2 8,

2

,

212,

220f.,

229,

23lf.,

234-240, 249f., 253, 256-261, 264, 266-268, 276, 281, 285-306, 308-

313

Meister, Leon(h)ard 140 Mendelssohn, Moses 35, 121, 134, 180, 195, 201-205, 253, 261, 293, 299 Menzer, Paul 187, 289, 298 Merck, Johann Heinrich 307 Meusel, Johann Georg 24 Meyer, Reinharr 32, 46, 76 Michael, E. 98 Michael, F. S. 98 Michelangelo, M. Buonarrotti 224 Milton, John 32, 35, 69, 83f., 224, 265, 275 Mödersheim, Sabine 192 Möller, Uwe 35, 82, 84, 140, 286f., 289, 302, 310 Moliere, Jean Baptiste Poquelin 108 Montaigne, Michel Eyquem de 106 Moormann, Karl 207 354

Morgagni, Giovanni Battista 131, 152 Moritz, Karl Philipp 10, 88, 123, 141, 162, i79f., 251, 311 Mücke, Dorothea E. von 280 Müller, August Friedrich 21-28, 42, in Multhauf, R. P. 92, 120 Muratori, Ludovico Antonio 84, H9f., I2i, 139-150, 153-155»

144, 131,

34,

88, 160,

171, 207, 212, 2 l 6 , 22O, 220f., 232,

24of„ 243^, 248, 251, 254, 31 if. Naumann-Beyer, Waltraud 256 Needham, Walter 93 Neuber, Wolfgang 206, 208, 230 Newton, Isaac 23, 121, 143, 153 Nicolai, Christoph Friedrich 121, 203 Nicolai, Ernst Anton 9, 30, 119, 129— 132, 139, 141, I5if., 154, i63f., 171, 176, 207, 231, 240-243, 293f. Nicolson, Marjorie Hope 74 Niessen, Stefan 230, 233 Nietzsche, Friedrich 57 Nivelle, Armand 179, 260, 266, 286f. Novalis (Friedrich von Hardenberg) 252, 270 Oberg, Barbara Bowen Orcibal, Jean 105 Ortmeier, Anno 69 Osinski, Jutta 181 Ovid 69

244

Paetzold, Heinz 287 Pagel, Walter 98, 145 Pago, Thomas 52f. Paracelsus, Theophrastus Bombastus 31, 145 Park, Katharine 162, 177 Peil, Dietmar 104, 141 Pequet, Jean 93 Peters, Uwe Henrik 251 Petrarca, Francesco 106 Petsch, Robert 203 Peursen, Cornelis-Anthonie van 43, 272 Pfotenhauer, Helmut 115 Pico della Mirandola, Giovanni 177 Pimpinella, Pietro 35, 39, 43 Platner, Ernst H5f., 121, 128, 162 Platon 177

Plett, Heinrich F. 77 Plinius d. Ä. (C. Plinius Secundus) 88, 156, 160 Plutarch 88 Pockels, Carl Friedrich 88 Poenicke, Klaus 69, 75 Poleyen, Heinrich Engelhard 290 Pomponazzi, Pietro 31, 145 Pope, Alexander 158, 285 Porter, Roy 162 Poster, Mark 7 Pott, Martin 2, 44, 54, 88f., 97, 105, ie>9f., 159, 179, 184, 189, 289 Preisendanz, Wolfgang 263, 265^, 276 Price, Lawrence Mardsen 55 Pries, Christine 56, 69 Priestley, Joseph 121, 127, 143, 153, 221

Promies, Wolfgang 3, 161 Proß, Wolfgang 61, 116, 121, 123, 135, 138, 197, 203, 270, 284, 310 Prüfer, Thomas 41, 289 Pyra, Immanuel Jakob 205f. Quintilian

77, 8of., 205, 285

Radi, Emanuel 93, 102, 166 Raffaelo (Raphael), Santi 224 Rann, Thomas 230 Rather, L. J. 98, I 2 i f . , 145 Richardson, Samuel 192 Richer, David Henri 279 Richerz, Georg Hermann 88, 119, 140 — 147, 149, 160, 212, 2i6f., 227, 243, 247, 251 Richter, Karl 74, 270 Richter, Melvin 3 Ricken, Ulrich 89 Rickmann, Christian 162 Riedel, Wolfgang 2, 8, 88, 115, 117, 120, 128, 135, 138, 178, 195 — 197, 307f., 31 of. Rieder, Joachim 118 Ritter, Joachim 3, 15, 116 Robertson, J. G. 140 Robinet, Andre 92 Rodis-Lewis, Genevieve 86, 108 Rod, Wolfgang 23, 34, 42, 96 Röderer, Johann Georg 160-162,167 — 172, I74f., 176 Rosenmeyer, Thomas G. 15

Ross, W. D. 214 Rossi, Paolo 207 Rothschuh, Karl E. 38, 91, 96, 98, no, 129 Rousseau, G. S. 23, 57, 152, 158, 162, 171, 280 Rüdiger, Andreas 21, 24f. Ryff, Hermann 230 Sagarra, Eda 115 Sauder, Gerhard 28, 57, 84, 89, 116, 178, 202 Saxl, Fritz 58 Scaliger, Joseph Justus 164 Schäfer, Gerhard 76, 83 Scheibe, Siegfried 278 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 270 Schings, Hans-Jürgen 2, 89, 104, n^f., 117, 123, 135, 141, 144, 178, 222, 256 Schirnding, Albert von 315 Schlegel, Friedrich 68, 8of., 82, 262, 311 Schlegel, Johann Adolf 267, 277, 281 Schlegel, Johann Elias 273 Schlichtegroll, Friedrich 140 Schlott, Michael 116 Schmidt, Horst-Michael 42, 46, 51, 179, 258, 263, 265^, 269, 272, 274f., 287 Schmidt, Jochen 262,266 Schmidt, Klaus 161 Schmidt, Siegfried J. 206 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 5, 116 Schmidt-Haberkamp, Barbara 55 Schneiders, Werner 23, 27, 43f., 89, 97, 272 Schobinger, Jean-Pierre 87 Schöffler, Herbert 56 Schönert, Jörg 116,279 Schopenhauer, Arthur 21 f. Schrader, Monika 269, 271-275, 277280, 283f. Schrader, Wolfgang H. 28, 60, 66, 199 Schrecker, P. 87 Schrenk, Martin 133 Schütz, Christian Gottfried 223, 245 Schulte, B. P. M. 152 Schulte, Hans H. 58 Schulte-Sasse, Jochen 76

355

Schultz, Heiner 4 Schulz, Georg-Michael 46, 265, 269 Schweizer, Hans-Rudolf 232, 286f. Scot, Renigald 105 Sennert, Daniel 102, 145, 160, 174 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Earl of 5f., 16, 28, 54-69, 74-76, 80, 83f., inf., 135, 191, 201, 310 Shakespeare, William 73 Shelley, Mary Wollstoncraft 118 Shumaker, Wayne 102 Siegel, Rudolph E. 23of., 241 Siegrist, Christoph 53, 55, 76, 263, z66f. Simonides von Keos 205 Smellie, William 158 Smollett, Tobias 158 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 57 Solms, Friedhelm 177, 179, 258, 287 Sommer, Robert 286f., 296 Sonntag, Michael 91, 120 Spalding, Johann Joachim 55,201 Spallanzani, Lazzaro 168, 173, 176 Sparn, Walter 3 Specht, Rainer 96 Spinoza, Baruch de 86 Stackelberg, Jürgen von 22, 24 Staege, Max 269 Stafford, Barbara Maria 59, 157, 168, 171 Stahl, Georg Ernst 8, 38, 88, 119, 12 if., 126, 135, 139, 147, 153, 159 Stahl, Karl-Heinz 8of., 266, 313 Steele, Richard 57, 241 Stein, Heinrich von 286 Stevenson, L. S. 92, 120 Stichweh, Rudolf 4 Stötzel, Georg 5 Stollberg-Rilinger, Barbara 104 Stolle, Gottlieb 87 Strube, Werner 258 Sturm, Friedrich August Bernhard 168, 175 Sudhoff, Karl 148 Sulzer, Johann Georg 10, 35, 56, ngf-, I 2 i , 134-139, 141, 143, 153-155, 195-205, 253, 257, 20lf., 307-316

Suphan, Bernhard 268, 282 Swammerdam, Jan Jakob 87 Swedenborg, Emanuel 31 Swieten, Gerard van 148, 174 356

Swift, Jonathan

52

Tatarkiewicz, Wladyslaw 106 Thiel, Udo 290 Thoma, Heinz 140 Thomas von Aquin 97 Thomasius, Christian 23f., 20f., 34, 40, 42, 55, 59,97, 105, 213 Thomke, Hellmut 121 Thorpe, Clarence Dewitt 56, 67f., 76 Tieck, Ludwig 252 Tissot, Samuel Auguste Andre David 12if., 242 Titius, Johann Daniel 176, 224, 240 Todd, Dennis 171 Toellner, Richard 93, 121, 127, 147, 149 Tonelli, Giorgio 42 Torbruegge, Marilyn K. 77 Totarolo, Edoardo 140 Trabant, Jürgen 212 Trede.J.H. 15 Tumarkin, Anna 56, 135, 261, 308 Turner, Daniel i57f., 171, 174 Unzer, Johann August 8f., 125, 131 — 133, 208, 226, 242, 250, 285, 288, 293, 296, 307 Uz, Johann Peter 232 Verene, Donald Philipp 212 Vergil 69, 224 Verweyen, Theodor 192, 260, 266, 287, 297 Vetter, Theodor 57 Vico, Giambattista 106, 212 Vierhaus, Rudolf 3, 5, 121 Vietta, Silvio 1 — 3, 10, 17, 39, 46, 80, 83f., Spf., 118, 266, 286, 307?., 3i2f. Virchow, Rudolf 156 Vleeschauwer, H. J. de 209 Völker, Arina 122 Vogl, Joseph 104 Vollhardt, Friedrich 23, 116, 20of., 267, 271, 287 Voltaire, Fra^ois Marie Arouet de 17, 68 Walch, Johann Georg 5, 15-34, 4 2 > 80, 82, 87f., gof., inf., 145, 208 — 210, 212-214, 216, 228, 233, 249

Wall, L. Lewis 171 Warning, Rainer 315 Wavers, Elke 52 Webster, John 31, no Weikard, Melchior Adam 128 Weisbach, Christian 24 Wellbery, David 3151". Wepfer, Johann Jakob 93 Werle.J. M. 27if. Wetterer, Angelika 53, 82, 260, 263, 205f., 275 Weyer, Johann ι ίο Wezel, Johann Carl 115, 140 Wichmann, Christian August 160, 162 Wiebecke, Ferdinand 287, 289 Wieland, Christoph Martin 56, 140, 263 Willems, Gottfried 281 Willis, Thomas 87 Wilson, Philip K. 158 Wimmer-Aeschlimann, Ursula 93, 145, 168, 175 Windfuhr, Manfred 265 Winkler, Karl Tilman 58 Wolff, Caspar Friedrich 174

Wolff, Christian 5, 8, 15, 25, 33 — 50, 53f, 57, 68, 77-79, 83f., inf., 119, 123, 125, I28f., 131, 135, 138^,154, 164, 171, I79f., 182 — 185, 187 — 189, 195, 198, 2Olf., 204, 2 I O ,

2I2f., 215,

2 1 7 , 220, 220, 2 3 1 , 235, 24of., 244, 247-249, 256, 2 5 8 , 264, 270-279,

28if., 284, 286f., 289, 292-295, 304^, 307f., 311 Wolff, Erwin 57f., 61 Wright, John P. 95,214 Wulf, Christoph 91, 120 Yates, Frances A. 214

205, 207, 209, 211,

Zanetti, Carlo 93, 145, 168, 175 Zart, G. 290 Zedler, Johann Heinrich 5, 15-34, 80, 82, 87f., 93, inf., 145, 158, ijof., 173, 208-210, 213, 233 Zelle, Garsten 8, 54, 50f., 132, 261, 265^, 288, 296, 299 Zimmermann, A. 97

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