Einander helfen: Der Weg zur inklusiven Lernkultur 9783666701702, 9783525701706, 9783647701707

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Einander helfen: Der Weg zur inklusiven Lernkultur
 9783666701702, 9783525701706, 9783647701707

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

André Frank Zimpel

Einander helfen Der Weg zur inklusiven Lernkultur

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

2., erweiterte Auflage Mit 27 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-70170-6 ISBN 978-3-647-70170-7 (E-Book) Umschlagabbildung: dibrova/shutterstock.com © 2014, 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1 Teil I: Anthropologische Wurzeln des Lernens . . . . . . . . 25 Hilfsbereitschaft und Inklusion Ich helfe, also bin ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inklusion in der Bronzezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Helfen geboren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturspezifische Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Helfen und Unterrichten Hilfe zur Selbsthilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zone der nächsten Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfen erkennen und nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterricht als Entwicklungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lernen durch Nachahmung Der kleine Unterschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Imitationslernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der unbewusste Drang zur Nachahmung . . . . . . . . . . . . . . . Sozialorgan Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lernen durch Nachbildung Emulationslernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autismus und Sozialkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragile Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Sonderschüler als Gelehrter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emulationslernen als Entlastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung Teil I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

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Inhalt

2 Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Eine Schule für alle Hamburger Volksentscheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Leistungsdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Soziale Brennpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Chancengleichheit Der Matthäuseffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Taufliege der Begabungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Normalisierungseffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helfen kann glücklich machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Hyperzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Ökonomie des Teilens Die Pluralität des Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das faire Stirnhirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das sich entwickelnde Stirnhirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lernkultur Das werden Berufsverbrecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wie bestimmt das Was . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baustelle Stirnhirn und wilde Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung Teil II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3 Teil III: Beim Helfen lernen – beim Lernen helfen . . . . . 161 Lernschwierigkeiten Auf Hilfe angewiesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gut gemeinte Hilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die didaktische Schleife . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufmerksamkeitsforschung und Trisomie 21 . . . . . . . . . . . . Anschaulichkeit und Abstraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Mehr Raum für Soziales Schulalltag und Hirnforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Kompetenzraster und Gegenstandsanalysen . . . . . . . . . . . . 187

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

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Vorwort zur zweiten Auflage

Es ist wichtig, dass Lehrpersonen das Lernen durch die Brille der Schülerinnen und Schüler sehen, um Überzeugungen und Wissen zum Ziel der Lehrsequenz aufzubauen. All das ist niemals linear und nicht immer einfach. (John Hattie)1 Timo, ein Jugendlicher mit freier Trisomie 21 (Down-Syndrom), ist begeisterter Schwimmer. 2011 legte er in Hamburg erfolgreich die praktischen und theoretischen Rettungsschwimmprüfungen ab.2 Hat er mehr geleistet als andere Prüflinge? Ich meine ja! Erwiesen ist, dass eine Trisomie 21 mit verminderter Muskelspannung einhergeht. Damit aber nicht genug: Im Hamburger Aufmerksamkeits-Computer-Laboratorium (ACL) führen wir derzeit eine Studie zur Verbesserung des Lernerfolgs für Menschen mit einer Trisomie 21 durch. Unser Ziel ist die Untersuchung von 1.000 Menschen mit diesem Syndrom im Vergleich zu 1.000 Menschen ohne Syndrom. Unsere Experimente belegen u. a., dass eine Trisomie 21 mit einer Einengung des Aufmerksamkeitsumfangs auf weniger als drei Objekte zur selben Zeit einhergeht.3 Für einen gelingenden Perspektivwechsel ist das eine entscheidende Information, denn daraus folgt: Der anschauungsgebundene, kleinschrittige und Abstraktionen vermeidende Unterricht an Förderschulen kann den neuropsychologischen Besonderheiten von Menschen mit einer Trisomie 21 kaum Rechnung tragen. Eine erste experimentelle Bestätigung für die pädagogischpraktische Bedeutung dieses empirischen Ergebnisses liefert die Wissenschaftlerin Hefziba Lifshitz-Vahav in Tel Aviv. An der Bar Ilan Universität bereitet sie gegenwärtig 24 Personen mit der Diagnose »geistige Beeinträchtigung« auf ein Bachelorstudium in Erziehungswissenschaft vor. Ein Beispiel ist die 27-jährige Odelia Gabay mit freier Trisomie 21 (Downsyndrom), die wie die meisten im Programm glücklich darüber ist, weiterlernen zu können. An der Bar Ilan Uni© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Vorwort zur zweiten Auflage

versität steht im nächsten Jahr ein Computerkurs an. Danach sollen die Studierenden auch im Büro arbeiten können.4 Im persönlichen Austausch bestätigte mir Lifshitz-Vahav, dass die Anerkennung der Fähigkeit zur Abstraktion bei Menschen mit Trisomie 21 und die geglückte gegenseitige Perspektivübernahme entscheidend für das Gelingen dieses Projektes sind. Die Verbindung zwischen Menschen beruht geradezu auf der Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Wo könnten Menschen diese Fähigkeit besser entwickeln und üben als beim Einanderhelfen? Bildung beeinflusst Gehirne nur indirekt. Dazwischen existiert ein vermittelndes Drittes, das in wissenschaftlichen Untersuchungen gern übersehen oder kleingeredet wird: das subjektive Erleben, die menschliche Innensicht. Unser Erleben ist der Kitt zwischen Kultur und Natur. Zu Recht unterstellen wir allen Menschen eine individuelle Innensicht. Direkt erleben können wir jedoch nur unsere eigene Innenwelt. Insofern verbindet uns mit anderen Menschen etwas, das wir nur über kulturelle Umwege miteinander teilen können. Ohne Schrift, Bilder, Sprache, Mimik, Gestik und andere Zeichen wäre unsere Innenwelt ein einsamer Kerker.5 Im Inklusionsindex findet man unter den Indikatoren der Dimension A »Inklusive Kulturen schaffen« schon an zweiter Stelle (nach »Jede(r) fühlt sich willkommen«) den Indikator A. 1.2 »Die SchülerInnen helfen einander«.6 Dazu gehören elf Fragen. Die erste lautet: »Bitten sich die SchülerInnen gegenseitig um Hilfe und bieten sie Hilfe an, wenn sie gebraucht wird?«7 Erst als letzte Frage folgt: »Erhalten alle – also auch leistungsschwächere – SchülerInnen die Chance, anderen zu helfen?«8 Meiner Ansicht nach ist diese letzte Frage nicht eine unter vielen, sondern die zentrale Frage für das Gelingen von Inklusion. Meine Argumentation in diesem Buch basiert unter anderem auf Kalkulationen des Mathematikers John Nash zur Spieltheorie, denen das Nash-Gleichgewicht9 zugrunde liegt und die zu Fehrs10 Experimenten zur Verhaltensökonomie führten. Ihre Bedeutung spiegelt sich eindrucksvoll in anthropologischen Experimenten von Tomasello zur geteilten Intentionalität11 und in der Entdeckung der Spiegelneuronen durch Rizolatti12 wider. Diese interdisziplinären Forschungsprojekte tragen wesentlich dazu bei, Emotionen wie das © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

Vorwort zur zweiten Auflage

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Gefühl für Fairness, Gemeinschaftssinn und Gegenseitigkeit als einen verlässlichen Eigenwert menschlicher Kulturen sichtbar zu machen. Gibt es auch Meta-Studien, die den Effekt dieses Eigenwertes auf das Lernen in integrativen und inklusiven Schulen messen? Es seien zwei angeführt, die nur scheinbar zu gegensätzlichen Ergebnissen führen: 1. Die Studie von de Graaf, van Hove und Havemann13 zu internationalen Erfahrungen mit der Integration und Inklusion von 1970–2010. Exemplarisch wählten sie für diese Studie Schülerinnen und Schüler mit einer Trisomie 21 aus. Ergebnis: Heranwachsende mit Trisomie 21 werden von Gleichaltrigen in Regelklassen gut akzeptiert. Davon profitieren vor allem deren Lernfähigkeit und Sprachentwicklung. 2. Die Studie des neuseeländischen Pädagogen John Hattie (*1950), die 816 Metaanalysen von 52.649 Einzelstudien umfasst, an denen 83.033.433 Lernende beteiligt waren.14 Die stärksten Lerneffekte haben die Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus und die kognitive Entwicklungsstufe nach Piaget. Der Lerneffekt inklusiver Beschulung rangiert dagegen weit hinten (knapp unter dem Effekt von Hausbesuchen durch Lehrpersonen und knapp über dem Effekt der Nutzung von Taschenrechnern). Hattie selbst schreibt dazu: »Vollständige Inklusion bedeutet, dass Lernende mit besonderem Förderbedarf unter denselben Bedingungen (mit der angemessenen Unterstützung) wie andere Peers unterrichtet werden sollen. Dies, so die Befürworter, führt zu erhöhten Erwartungen durch die Lehrpersonen, mehr Interaktion unter den Lernenden, vermehrtem Lernen und einem höheren Selbstwertgefühl.«15 Werden diese Erwartungen erfüllt? Hattie zufolge ja  – und zwar am stärksten für Lernende mit der Diagnose »geistige Beeinträchtigung«.16 Unter der Fragestellung »Wie bringt man alles zusammen?« kommt Hattie in seiner epochalen Studie zu einem Modell des sichtbaren Lehrens und Lernens, das vor allem auf Perspektivwechsel beruht: »Wenn Lehrer das Lernen durch die Augen ihrer Schüler SEHEN, wenn Lernende sich selbst als ihre eigenen Lehrpersonen SEHEN.«17 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Vorwort zur zweiten Auflage

Die Ergebnisse beider Studien bestätigen: 1. Die geistige Entwicklung (einschließlich Sprach- und Lernfähigkeit) ist abhängig von der Lernkultur, deren Gewährleistung in Förderschulen an strukturelle Grenzen stößt. 2. Die Sozialbeziehungen in inklusiven Klassen bedürfen einer sensiblen pädagogischen Beobachtung und Gestaltung. 3. Sich selbst als hilfreich für andere erleben zu können ist genauso wichtig wie die Fähigkeit, Hilfe annehmen und finden zu können. Denn eine der ärgerlichsten Botschaften an sogenannte »I-Kinder« in Hamburger Inklusionsklassen ist: Du bist auf Hilfe angewiesen, aber für andere alles andere als hilfreich! André Frank Zimpel

Hamburg, im Januar 2014

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Einleitung

Einer hat immer Unrecht: aber mit zweien beginnt die Wahrheit. – Einer kann sich nicht beweisen: aber zweie kann man bereits nicht widerlegen. (Friedrich Nietzsche 1887)1 Das Thema Helfen ist überfrachtet mit moralischen Erwartungen. Nicht nur das Christentum – alle Religionen drehen sich um Erwartungen und Erwartungserwartungen: Wer sollte wem, wann, wie und warum helfen? Hilfserwartungen künden von Heldentaten und menschlichen Abgründen, lassen Menschen weit über sich selbst hinauswachsen und wecken in ihnen tiefe Schuldgefühle. Kurz: Helfen ist der Stoff für die ganz großen Dramen. Niemals hätte ich mich an ein so großes Thema herangewagt, wenn es nicht überraschend neue experimentelle Befunde geben würde. Gemeint sind mathematische und experimentelle Überprüfungen von Spekulationen zur Kooperation. Schließlich ist die individuelle Nutzenmaximierung eine evolutionsbiologische Notwendigkeit. Wie passt das zur tatsächlichen Tendenz vieler Lebewesen, insbesondere des Menschen, zur Kooperation? Spieltheoretische Kalkulationen zeigen, wann Kooperation zur individuellen Nutzenmaximierung beiträgt und wann nicht. Ausgeklügelte Experimente verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, wie zum Beispiel der Verhaltensökonomie, der Anthropologie und der Hirnforschung, können auf dieser mathematischen Basis prüfen, wie weit die Erklärungskraft dieser Kalkulationen reicht. Wenn sie zutreffen, wäre die individuelle Nutzenmaximierung der einzige Grund, der Menschen zur Kooperation veranlasst. Wenn nicht, müsste es neben getarntem Egoismus noch andere Gründe zur Kooperation geben. Die Ergebnisse dieser transdisziplinären Forschung sind schwerwiegend, atemberaubend und folgenreich. Natürlich hätte ich dieses Buch wohl kaum geschrieben, wenn das Thema Hilfe für mich bedeutungslos wäre. Als Psychologe habe © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Einleitung

ich gelernt, Emotionen ernst zu nehmen, und als Sonderpädagoge, was Verantwortung bedeutet. Nun leide ich permanent unter dem schlechten Gewissen, oft nur einen Bruchteil von dem leisten zu können, was eigentlich notwendig wäre. Aber da sind ja auch immer noch die Studierenden und die Forschungsprojekte. Und, wo bleiben die eigene Familie, die Freunde, Nachbarn usw.? Als meiner Frau einmal der Kragen platzte, weil ich ihr lauter wichtige Termine aufzählte und die schrecklichen Folgen für andere ausmalte, wenn ich diese Termine nicht wahrnehmen würde, fragte sie mich genervt: »Was tun die eigentlich für dich?« Im ersten Reflex fand ich die Frage ungerecht und wollte sie mit moralisch überlegenen Argumenten zurückweisen. Doch diese Argumente blieben mir im Halse stecken. Meine Frau hatte ins Schwarze getroffen. Ich selbst scheute Situationen wie der Teufel das Weihwasser, in denen ich auf die Hilfe anderer angewiesen war. Als älterem Bruder war mir von klein auf Helfen zum zweiten Vornamen geworden. Auch in der Schulzeit blieb es eine lieb gewonnene Rolle: Ich organisierte Nachhilfeunterricht und war häufig Adressat vertraulicher Mitteilungen. Als Ratgeber und Helfer sonnte ich mich in einem angenehmen Gefühl der Wichtigkeit. Zu viel Nähe konnte ich dadurch geschickt vermeiden. Mein geheimer Wunsch nach gleichberechtigten Beziehungen eines gegenseitigen Nehmens und Gebens blieb dadurch nicht selten unerfüllt. Es mag sein, dass mir diese Haltung mitunter in meiner beruflichen Karriere genützt hat. Gleichzeitig ist sie aber wahrscheinlich auch die Ursache für unvermittelte Sehnsüchte nach Rückzug. Jede Gemeinschaft mit anderen wird mir dann zu viel. Ich vergrabe mich in mathematischen Problemen, kniffligen Gitarrenriffs, Gartenarbeit – was auch immer … Hauptsache möglichst fern von anderen Personen! Vielleicht würde der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer bei mir Symptome eines Helfersyndroms diagnostizieren. (Aber da ich ja niemandem gern die Gelegenheit gebe, mir zu helfen, wird es dazu sicherlich nicht kommen.) Als Schattenseite des Helfersyndroms führt Schmidbauer die steigenden Fallzahlen von Depressionen und Arbeitsausfällen wegen Burn-out-Problemen in helfenden Berufen an.2 (Na ja, ganz so ernst scheint es mit mir also doch noch nicht zu © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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sein.) Aber das folgende Zitat von Schmidbauer gibt mir doch zu denken: »Der Helfer gibt und ist stark; der Schützling ist schwach und auf den Helfer angewiesen. Die Asymmetrie dieser Situation wird für den hilflosen Helfer zur Droge …«3 Helfen kann in der Tat zur Sucht werden. Die biologischen Hintergründe beginnt die Wissenschaft gerade etwas besser zu verstehen. Helfen hat also neben den sich aus der Situation ergebenden pragmatischen Notwendigkeiten und den rationalen Nutzenabwägungen auch eine oft unterschätzte motivationale und emotionale Triebfeder. Wir Menschen sehen uns selbst sehr gern als hilfsbereit. Anderen zu helfen ist die höchste Form des Selbstwert- und Sinnerlebens, die das Leben für uns bereithält. Wer aber entscheidet, was hilfreich ist und was nicht? Antwort: nicht die Helfenden, sondern immer die Hilfe Empfangenden. Der Fluss des Gebens und Nehmens beim Einanderhelfen ist im Idealfall ein gelingender Gesellschaftstanz. Ich habe lange gebraucht, um zu erkennen, dass das hilflose Helfen genauso ein verzweifelter Solotanz ist wie der Egoismus. Dies gilt ganz besonders für das Helfen beim Lernen. Denn jede nachwachsende Generation, die sich die Errungenschaften einer Kultur zu eigen machen möchte, ist nun einmal auf Hilfe der älteren Generation angewiesen. Heranwachsende wollen sich selbst jedoch auch schon sehr früh als hilfreich für andere erleben. Wenn man diesen menschlichen Impuls ignoriert oder verdrängt, kann das nicht folgenlos bleiben. Unter Leistungsdruck ist das jedoch die Regel. Eine größere Spaßbremse beim Einanderhelfen ist kaum denkbar. Sowohl die Helfenden als auch die Lernenden laufen Gefahr, sich gegenseitig zu entwerten. In meinen Untersuchungen zeigt sich immer wieder, dass das zu lang anhaltenden Aversionen gegen Lerngegenstände führen kann. Auswüchse des Leistungsdrucks aus vergangenen Tagen sind das Nachsitzen, das Sitzenbleiben und die Hilfsschule. Im neuen Gewand des gegenwärtig grassierenden Förderwahns treibt der Leistungsdruck neue Blüten: Nachhilfeunterricht, Karriereplanung in der Grundschule und Förderzentren. Führt Hilfe unter Leistungsdruck nicht zum erwünschten Erfolg, wird automatisch nach Schuldigen gesucht. Wenn die Lehrenden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Einleitung

der Ansicht sind, alles Mögliche versucht zu haben, finden sie die Ursache natürlich in den Lernenden.

Abbildung 1: Helfen unter Leistungsdruck: Frustration wirkt sich negativ auf das Selbstbewusstsein aus und färbt auf Lerngegenstände ab.

Diagnosen, wie zum Beispiel Entwicklungsverzögerung, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Rechenschwäche, Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, sind auf dem Vormarsch. Sie unterwandern die gegenwärtig mit Hochdruck geführte Inklusionsdiskussion. Verzweifelt suchen Behörden und Elternverbände nach Auswegen aus dem Dilemma. 2009 änderte beispielsweise die Hamburgische Bürgerschaft den Paragrafen 12 des Schulgesetzes. Anlass war die Ratifizierung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Dezember 2008. Nun stehen in Hamburg die Türen des allgemeinen Schulsystems auch für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf offen. Eltern machen von diesem Angebot dankbar Gebrauch. Die Anmeldungen im Schuljahr 2011/12 zeigen: Nahezu alle Kinder, bei denen Beeinträchtigungen im Lernen, der Sprache und im Sozialverhalten diagnostiziert wurden, landen in Regelschulen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Die praktischen Lösungen im Schulalltag bleiben jedoch leider viel zu oft alten Ideen der Gleichmacherei auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Mythos konstanter Leistungsdifferenzen verhaftet. Sonderförderung bei Lernschwierigkeiten und Sonderförderung bei Hochbegabungen spielen die Verantwortlichen lautstark als Trumpfkarten gegeneinander aus. Der Tunnelblick auf diese Trumpfkarten lenkt von den größeren Zusammenhängen zwischen Helfen und Lernen zwangsläufig ab. Heranwachsende streben nun einmal zugleich nach Unabhängigkeit und Verbundenheit. Diese Dialektik zwischen Ich und Du, zwischen Autonomie und Angewiesensein, ist eine nie versiegende Quelle individueller Erfahrungen. Wird eine Seite ausgeblendet, breitet sich die für Bildungskasernen und Erziehungsanstalten so typische Einförmigkeit und Leere der langen Flure und austauschbaren Klassenzimmer in den Köpfen aus. In der Sensibilisierung für die Dialektik von Individualisierung und Sozialisierung sehe ich sowohl die größte Chance als auch die gefährlichste Fußangel inklusiver Schulen. Die zentrale Bedeutung der Hilfe zur Selbsthilfe für die geistige Entwicklung des Kindes ist ein Kerngedanke der Reformpädagogik der Ärztin Maria Montessori (1870–1952). Der russische Psychologe Lev Vygotskij (1896–1934) erkannte als Erster die große Bedeutung der Nutzung sozialer Hilfen für die geistige Entwicklung: Fähigkeiten, die ein Kind heute mit Hilfe zeigt, bieten einen Ausblick auf seine Fähigkeiten von morgen (Zone der nächsten Entwicklung). Die Bedeutung, die das spontane Bedürfnis zu helfen für die geistige Entwicklung Heranwachsender hat, ist dagegen noch immer wissenschaftliches Neuland. Bemühungen um Bildungsstandards laufen regelmäßig in die Falle des Lernens im Gleichschritt. Starre Formen der äußeren und inneren Differenzierung fördern dagegen sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Das wird sich so lange nicht ändern, bis wir zu einem wirklichkeitsnahen Verständnis des engen und komplizierten Zusammenhangs zwischen Sozialisierung und Individualisierung unserer Kinder gelangen. Einer Vertiefung dieses Verständnisses auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft widmet sich dieses Buch. Denn die Inklusion soll schließlich der Entwicklung der Kinder dienen – und nicht die Kinder der Inklusion. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Das missverständliche Fachwort Inklusion stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie Einschluss. Mit dem Einschluss von Menschen in Gefängnissen, Psychiatrien, Behindertenanstalten oder Gemeinschaftsunterkünften hat dieser Begriff aber nichts zu tun. Ganz im Gegenteil: Das Fachwort für Einsperren und Abschieben von Menschen in Sondereinrichtungen ist nämlich Exklusion. Es meint den Ausschluss von einer Gemeinschaft. Das Fachwort Inklusion bezeichnet dagegen das Einbeziehen möglichst aller in eine Gemeinschaft. Dieser hohe Anspruch weckt Hoffnungen und Erwartungen, die leicht zu enttäuschen sind. Im Hamburger Abendblatt war zum Beispiel zu lesen, dass eine Schule einen Jungen mit Downsyndrom trotz Rechtsanspruchs auf freie Schulwahl ablehnt. Gemeint war der sechsjährige Milan. Da man bei ihm eine Chromosomenanomalie (Trisomie 21) diagnostizierte, rechnet man mit gravierenden Lernschwierigkeiten. Als ihn seine Eltern in einer integrativen Regelschule in Hamburg Niendorf anmelden wollten, lehnte diese ab, weil sie sich zu wenig vorbereitet fühlte. Frustration ist bei solcher Ablehnung vorprogrammiert. Die Mutter sagte: »Ich war bitter enttäuscht und fühlte mich völlig hilflos.« Milan muss nun einen weiteren Schulweg in Kauf nehmen, um in einer Integrationsklasse unterzukommen. Mangelnde Vorbereitung der Schulen ist nur ein Problem von vielen. Mit dem Begriff Inklusion werden auch berechtigte Ängste vor einer Hybris der Gleichmacherei geweckt. Andere befürchten nicht immer zu Unrecht, dass Inklusion als moralischer Deckmantel für weitere Einsparungen im Bildungssystem herhalten muss. All dies gilt es sorgfältig zu bedenken und ernst zu nehmen. Trotzdem bin ich davon überzeugt: Wenn eine Schule allen das Gefühl vermitteln will, dazuzugehören und als wertvoll anerkannt zu sein, ist das zwar ein sehr hoher, aber keinesfalls ein unberechtigter Anspruch. Schon die prinzipielle Gefahr, dass man wegen Lern-, Sprach-, Verhaltens-, Wahrnehmungs-, Bewegungs- oder Entwicklungsproblemen einfach abgeschoben werden darf, setzt alle Lernenden mehr oder weniger bewusst unter Druck. Diagnosen sollten helfen, die individuellen Lernwege eines Kindes besser zu verstehen und zu respektieren. Wenn Diagnosen jedoch als Argument für Ausgrenzung, Abschiebung oder Abwertung missbraucht werden, lenkt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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das die Lehrenden von ihrem eigentlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag ab. Ausgrenzungs- und Abwertungserfahrungen sind schmerzhafte Kränkungen, sowohl für Heranwachsende als auch für deren Eltern. Die Hirnforschung kann heute mit bildgebenden Verfahren zeigen, dass Gefühle bei sozialer Ablehnung die gleichen Zentren im Gehirn aktivieren, die auch bei körperlichem Schmerz aktiv sind. Bei diesen Zentren handelt es sich um die Inselrinde (einen Teil des Stirnhirns) und den sekundären somatosensorischen Kortex (einen Teil des Scheitelhirns).4

Abbildung 2: Ablehnung schmerzt: Überlappung der Aktivität von Hirnzentren bei physischem Schmerz und sozialer Ablehnung.

Ich möchte Sie einladen, die biopsychosozialen Triebkräfte des Helfens jenseits moralischer Bewertung mit wissenschaftlichen Mitteln zu untersuchen. Als Kompass dieser Untersuchung dient mir das kooperative Dreieck. Das ist ein abstraktes Modell verschiedener Kooperationsformen, die menschliches Helfen stärker charakterisieren als tierische Kooperationsformen: Perspektivwechsel, Teilhabe und Unterricht.

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Abbildung 3: Das kooperative Dreieck: Formen des gegenseitigen Helfens, die in unterschiedlichen Konstellationen kulturbildend sind.

Mir ist natürlich vollkommen klar, dass wissenschaftliche Kenntnisse weder aus einem Egoisten einen Altruisten machen noch einen hilflosen Helfer kurieren können. Als Werkzeugkasten und Landkarte ist dieses Wissen jedoch für Lehrende mit inklusiver Absicht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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von nicht zu unterschätzender Bedeutung: bietet es doch einen wissenschaftlich-rationalen Ausblick auf ein emotional vermintes Gelände. Für ein solches Spannungsfeld ist die Inklusionsdiskussion ein Paradebeispiel. In gewisser Weise ist sie die zweite Etappe eines Ringens um das Selbstverständnis der Helfenden beim Lernen, in dem Behindertenpädagogik, Heilpädagogik und Rehabilitationswissenschaften einen zentralen Platz einnehmen. Ihren Anfang nahm die Inklusionsdiskussion in den frühen 1990er-Jahren. Die Erklärung über die Inklusion als wichtigstes Ziel der internationalen Bildungspolitik war das Hauptergebnis der UNESCO-Konferenz 1994 in Salamanca. Sonderschule … Integration … Inklusion – es gibt keine Unterscheidung ohne Motiv. Was also war passiert? Wie in der Integrationsdiskussion haben wir es mit einer Kränkung eines Selbstverständnisses zu tun – nämlich des Selbstverständnisses der Helfenden. Die gut gemeinte Hilfe in Sondereinrichtungen wurde plötzlich selbst verdächtigt, Ursache von Behinderungen zu sein. Udo Sierck und Nati Radtke prägten in den 1980er-Jahren den Begriff der Wohltätermafia5. In Abwandlungen findet sich dieser Begriff in vielen Veröffentlichungen wieder. Ein Beispiel ist das Buch Im Netz der Pflegemafia von Claus Fussek und Gottlob Schober.6 Man könnte hier auch gut und gern von Helfermafia reden. Denken Sie nur an die Paradoxie, dass man Menschen durch Verbesonderung helfen will, ihre Defizite zu überwinden, aber auf der Metaebene Fakten schafft, um sie als defizitäre Persönlichkeiten abzustempeln. Sonderpädagogisches Handeln steht nicht zuletzt deshalb unter einem spürbaren Legitimationsdruck. Als Gleichnis drängt sich mir die Krise der Medizin des 19. Jahrhunderts auf. Der französische Chemiker und Mikrobiologe Louis Pasteur (1822–1895) hatte eine ähnliche Paradoxie entdeckt: Ärzte, die Krankheiten heilen wollten, verbreiteten die Erreger dieser Krankheit in Wahrheit von Krankenbett zu Krankenbett. Ähnlich ist es mit der Diagnose eines sonderpädagogischen Förderbedarfs: Man will beim Lernen helfen, schafft aber die ungünstigsten Voraussetzungen für diese Hilfe, indem man eine Person als hilfsbedürftig herabstuft. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Einleitung

Es war sicher eine schwere Erschütterung des Selbstverständnisses der Götter in Weiß, als sie erfuhren, dass dieselben Hände auf dem Weg von der Pathologie in den Operationssaal die Krankheiten verbreiteten, die sie eigentlich heilen wollten. Die Entdeckung von Bakterien und Viren war aber auch gleichzeitig ein kraftvoller Neuanfang der Medizin als Wissenschaftsdisziplin. Auch heute ist das Risiko, sich mit antibiotikaresistenten Erregern zu infizieren, in Krankenhäusern am größten. Aber dieses Problem steht im Fokus der Forschung und ist längst kein blinder Fleck mehr. Ich wünsche mir, dass die Behindertenpädagogik die möglichen destruktiven Folgen jeder unreflektierten Hilfe ebenso ernst nehmen würde wie die Medizin die Gefahr von Resistenzen. In dieser Weise könnte sie den Legitimationsdruck auf sonderpädagogisches Handeln im Rahmen der Inklusionsdebatte als eine große gesellschaftliche – insbesondere auch schulpolitische – Herausforderung in einer Zeit zunehmender Desintegration annehmen. Ganz wird sie sich der Gefahr einer Abwertung bei der Feststellung eines Hilfebedarfs wohl nie entledigen können. Aber allein schon in der Sensibilisierung für diese Gefahr sehe ich einen großen Schritt nach vorn. Einerseits schafft Inklusion in Schulen den idealen Rahmen, lebendige Erfahrungen im gegenseitigen Helfen zu sammeln. Andererseits ist hier die Gefahr der Einseitigkeit der Hilfe besonders groß. In der Praxis zeigt sich immer wieder: Hilfe beim Lernen zu verkraften, kostet manchmal sogar mehr Kraft als das Helfen selbst. Helfen stärkt dagegen oft die Helfenden in ihrem Selbstwertgefühl. Auch hier könnte Helfen so etwas wie Suchtcharakter annehmen. Ein entscheidender Maßstab für das Gelingen von Inklusion ist meiner Ansicht nach, ob Menschen mit Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel der oben erwähnte Milan, nur als Hilfe Empfangende gesehen oder auch als Helfende anerkannt werden. Die zentralen Fragen, die sich aus diesen Überlegungen für mich ergeben, sind folgende: Welchen Stellenwert bei der Kompetenzentwicklung hat es, Hilfe anzunehmen und sich selbst als hilfreich für andere zu erleben? Inwieweit ist es möglich, in pädagogischen Prozessen Kreisläufe der gegenseitigen Hilfe und Förderung so zu organisieren, dass niemand nur Hilfe empfängt, sondern auch sich selbst als hilfreich erleben kann? © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Einleitung

Sie werden sich vielleicht fragen: Wer nimmt schon den Rat einer Person an, bei der eine geistige Behinderung diagnostiziert wurde? Aber vielleicht könnten wir gerade von dieser Person lernen, wie man sich trotz Geringschätzung und gesellschaftlicher Abwertung eine unabhängige Perspektive auf die Welt bewahrt und dem Anpassungsdruck an fragwürdige Normen und Denkverbote widerstehen kann. Wer vertraut schon auf die Unterstützung von Menschen mit herausforderndem Verhalten? Aber vielleicht ist so manche unangepasste, rücksichtslose und verletzende Äußerung von solchen Personen ehrlicher als die höflichen und wohlerzogenen Beteuerungen wider besseres Wissen anderer. Wer scheut nicht die schwierige Konversation mit Menschen, deren Sprache von der Norm abweicht? Aber vielleicht sind es gerade diese Menschen, die sich kein Geschwafel leisten können und sich deshalb auf das Wesentliche beschränken. Ein aktuelles Beispiel lieferten mir Studierende an der Universität Hamburg. Hier organisiere ich seit mittlerweile 18 Jahren Formen des Projektstudiums, an denen unter anderem auch Jugendliche mit einer Trisomie 21 teilnehmen. Sie kamen in die Universität, um mit Studierenden gemeinsam lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Damit waren die Studierenden scheinbar auf die Rolle der Helfenden festgelegt. Doch wie so oft sollte sich bald eine Gelegenheit zur Rollenumkehr ergeben. Denn einige der Jugendlichen mit Trisomie 21 forderten die Studierenden beharrlich auf, mit ihnen einen Tanzfilm High School Musical zu drehen. Die Studierenden stellten fest, dass es sie viel Überwindung kostete, vor einer Kamera zu tanzen. Die Jugendlichen mit Trisomie 21 zeigten dagegen keine Scheu. Damit halfen sie den Studierenden, sich auf das Tanzprojekt einzulassen, auf dessen Ergebnis sie heute zu Recht sehr stolz sind. Inklusion bedeutet eben nicht nur, beim Lernen zu helfen, sondern auch beim Helfen zu lernen. Wobei lasse ich mir inzwischen gern von Menschen mit einer Trisomie 21 helfen? Antwort: im Kurzfassen! Mein Vorbild sind Texte der Zeitschrift Ohrenkuss. Beispiel: Der Text von Carina Kühne Das nennt man Evolution: »Manche Fehler können korrigiert werden, einige können tödlich enden und aus manchen Fehlern entsteht etwas Neues.«7 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil I: Anthropologische Wurzeln des Lernens

Die moralische Natur des Menschen hat ihre jetzige Höhe zum Teil durch die Fortschritte der Verstandeskräfte und folglich einer gerechten öffentlichen Meinung erreicht, besonders aber dadurch, dass die Sympathien weicher oder durch Wirkungen der Gewohnheit, des Beispiels, des Unterrichts und des Nachdenkens weiter verbreitet worden sind. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass tugendhafte Neigungen nach langer Übung vererbt werden. (Charles Darwin 1871)1

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Teil I: Anthropologische Wurzeln des Lernens

Hilfsbereitschaft und Inklusion Ich helfe, also bin ich

Der 16-jährige Murat erschien immer pünktlich fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn – nicht selten, um schon nach wenigen Minuten wieder spurlos aus dem Schulgebäude zu verschwinden.2 Mit Jeans, T-Shirt und Jacke – alles ganz in gepflegtem Schwarz – betonte er seine türkische Herkunft. An manchen Tagen begrüßte der Pubertierende mit lässiger Geste Lehrer und Erzieherin, erkundigte sich aufgeregt nach dem Stundenplan, als könne er den Unterricht kaum erwarten, schaute sich ein wenig im Klassenraum um und eilte davon. Ihn aufzuhalten war zwecklos. Bei Nachmittagsveranstaltungen, zum Beispiel einem Theaterbesuch, war er dann wieder pünktlich zur Stelle. Das Bühnengeschehen fesselte ihn nur kurz. Immer wieder strebte er nach draußen und lief im Foyer hektisch auf und ab, bevor er sich wieder auf seinem Platz einfand. Als am nächsten Tag das Theaterstück in der Schule besprochen wurde, war er der Einzige in der Klasse, der die Handlung des Bühnenstückes vollständig wiedergeben konnte. Bei der Schule handelte es sich um eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. In den Geistigbehindertenschulen in Hamburg suchte man zu dieser Zeit fieberhaft nach einer Bezeichnung, die Eltern nicht so sehr abschreckt. 1994 hatte das Kultusministerium3 angeregt, nicht mehr von Geistigbehindertenpädagogik, sondern vom Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zu sprechen, und statt der Bezeichnung geistige Behinderung die Bezeichnung geistige Beeinträchtigung zu verwenden. Bei Murat hatte man also eine geistige Beeinträchtigung diagnostiziert. Diese Diagnose reichte als Erklärung für das Weglaufen kaum aus. Auch ansonsten war sie wenig hilfreich. Deshalb wandte sich Murats Klassenlehrer im Oktober 1994 an die von mir geleitete Beratungsstelle an der Universität Hamburg. Bei meinem ersten Besuch in der Schule blieb Murat den ganzen Vormittag in der Schule, weil uns allein der Musikraum zur Verfügung gestellt wurde. Er ist ein begnadeter Drummer. Zum dumpfen Grundrhythmus der über die Fußmaschine betriebenen Bassdrum © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

Hilfsbereitschaft und Inklusion

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wirbelte er seine Schlagstöcke in wildem Taumel über Schnarrtrommel, Tom Tom, Hi-Hat, Becken, Holzblock, Cow-bell und Schellenkranz. Irgendwie verschränkte er auf dem Schlagzeug in atemloser Geschwindigkeit drei verschiedene Rhythmen. Kaum überholten sie sich im Wettlauf gegeneinander, schon stolperten sie in einen unerwarteten Gleichtakt, der sich schon bald wieder wie ein Derwischtanz in alle Richtungen auszubreiten schien. Doch was sollte ich zu der unverkennbar orientalischen Rhythmik auf der Gitarre spielen? Flamenco! Natürlich, dieser spanische Tanz ist voller rhythmischer Anleihen aus dem Arabischen. Olé! Das funktionierte hervorragend. Ich schlug die Gitarrensaiten in einem Tempo, das ich mir bis dahin niemals zugetraut hätte. Als ich erschöpft aufhörte, verschwand Murat wieder aus der Schule. Beim nächsten Zusammentreffen bat ich ihn, mir Hamburg zu zeigen, weil ich ja noch neu in der Stadt war. Zielstrebig führte Murat mich in ein Kaufhaus einer bekannten Kette. »Nicht sehr originell«, dachte ich. Unterwegs kamen wir an seiner ehemaligen Schule vorbei. Hier hatte er eine integrative Regelklasse besucht, wie er mir stolz erklärte. Bei späteren Gelegenheiten breitete er wehmütig seine Englisch- und Mathematikhefte vor mir aus: »Da war ich noch in einer richtigen Schule«, stellte er lakonisch fest. Als wir das Kaufhaus erreicht hatten, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus: Murat wurde von Kaufhauskunden aus allen möglichen arabischen Ländern gegrüßt. Er erzählte mir: »Die ist aus Tunesien, der ist aus Marokko …« usw. Eine Frau mit zwei kleinen Söhnen, die sie fest an den Händen hielt, steuerte zielstrebig auf uns zu. Ihr Gesicht war so in ihr Kopftuch eingewickelt, dass man es kaum erkennen konnte. Der eine ihrer beiden Söhne hielt einen offensichtlich noch neuen Ball in den Händen, dem jetzt aber die Luft fehlte. Mit ihrem Problem wendete sich die Frau nicht etwa an einen der herumstehenden Verkäufer. Nein, ihre Vertrauensperson war Murat. Soweit ich aus Mimik und Gestik ablesen konnte, empfahl dieser eine Luftpumpe. Als das Mütterchen ratlos mit den Schultern zuckte, winkte er ab und verschwand, um in Windeseile mit der gesuchten Pumpe wieder aufzutauchen, die er lässig auf einer Handfläche balancierte. Mit einem Verkäufer feilschte er, weil die Pumpe einen kaum © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil I: Anthropologische Wurzeln des Lernens

erkennbaren Kratzer im Lack aufwies. Das ins Kopftuch eingewickelte Mütterchen bedankte sich überschwänglich. Jetzt wurde mir klar, was Murat mir zeigen wollte: Hier war er eine Instanz. Er war hier Dolmetscher und Kundenberater zugleich. Die Währung, in der sein Job vergütet wurde, war Respekt. Hier fühlte er sich gebraucht, hier war er jemand. Einige Kundenberatungen später war Murat bereit, mit mir zum Mittagessen wieder in die Schule zu gehen. Im Schulgebäude zeigte er mir beiläufig alle Kinder und Jugendlichen, die nach seiner Aussage Zuckungen hatten. So rätselhaft und befremdlich dieses Gebaren auf mich wirkte, so erschöpft war ich von dem atemlosen Tempo, in dem sich mein Bild von Murat wandelte. Anderentags bei einem Straßenfest sollte sich dieses Rätsel auflösen: Ich traf Murat in Begleitung seiner Eltern. Zwischen den zugleich überfürsorglich und autoritär wirkenden Eltern zeigte sich Murat viel schüchterner als sonst. Und hier bemerkte ich sie zum ersten Mal: die Tics. Seine Gesichtsmuskeln zuckten heftig, begleitet von einem auffälligen Blinzeln und Hüsteln, als würde er das Bellen eines Hundes nachahmen. Endlich war der Groschen gefallen: Murat hat ein Tourettesyndrom! Erinnerten seine blitzartige Reagibilität und sein kreatives Schlagzeugspiel nicht verblüffend an Oliver Sacks Erzählungen von Witty Ticcy Ray4? Darum also war Murat so reaktionsschnell! Seine Art, viele Dinge gleichzeitig zu tun, und bei Mengenangaben immer haargenau um eins zu weit zu zählen, drei Rhythmen auf dem Schlagzeug gleichzeitig kontrolliert zu spielen… und natürlich – sein Interesse für Zuckungen! Er hatte gelernt, seine Tics durch Weglaufen in den Griff zu bekommen. Darum verließ er die Schule manchmal schon nach fünfzehn Minuten. Er flüchtete sofort, wenn er in die Gefahr kam, von Tics geschüttelt zu werden. Die Diagnose war inzwischen medizinisch bestätigt. Gemeinsam mit seiner Klasse schauten wir einen Film über den wohl berühmtesten Menschen mit Tourettesyndrom: Mahmoud Abdul Rauf. Er war von 1990 bis 1996 Basketballspieler bei den Denver Nuggets und Superstar in der NBA. Mit einer Größe von nur 1,85 Metern wirkte er wie ein Zwerg zwischen seinen über zwei Meter großen Mitspie© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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lern. Trotz heftiger Tics, die sich in wilden Zuckungen und heftigem Schreien äußerten, setzte er sich in der NBA, der härtesten Basketballliga der Welt, durch. Murat lief aufgeregt im Zimmer umher, setzte sich immer wieder interessiert zu uns und sagte anschließend zu mir: »Nenn mich ab heute Mahmoud.« Vier Jahre später: In einer Vorlesung berichtete ich das Beispiel von Murat. Da hob sich aus der anonymen Masse der Studierenden eine Hand. Eine schlanke Endvierzigerin mit nachdenklich blauen Augen hatte sich zu Wort gemeldet. Sie erhob sich und sprach mit weicher, fast melodiöser Stimme: »Ich war Murats Lehrerin. Er war Schüler in meiner ehemaligen Klasse, einer integrativen Regelklasse. Wir hatten um ihn gekämpft. Am Ende mussten wir ihn aufgeben. Ich fühlte mich so hilflos. Deshalb habe ich mich entschlossen, noch einmal Sonderpädagogik zu studieren.« Ich war eine Weile sprachlos. Schon immer hatte ich mich für Integration interessiert. Ich sah darin eine interessante wissenschaftliche Herausforderung. Von diesem Tag an aber war mir dieses Thema zur Herzensangelegenheit geworden. Zum ersten Mal dämmerte mir: Der Schlüssel zu Integration und Inklusion liegt im menschlichen Bedürfnis zum Helfen. Genauer: der Sehnsucht sich selbst als hilfreich zu erleben und dem Bedürfnis, Helfenden vertrauen zu können. Menschen wachsen über ihre biologischen Möglichkeiten hinaus, indem sie miteinander Gefühle, Wünsche, Absichten, Ziele, Motive und Überzeugungen teilen.

Wie sollte eine Lernkultur aussehen, die diese spezifisch menschlichen Fähigkeiten fördert? Um dieser Frage nachgehen zu können, stellt sich die Frage nach der Wurzel dieser Sozialkompetenz. Wo kommt sie her? Wie entwickelt sie sich? Welche Phasen durchläuft sie? Welche Bedeutung hat sie für spezifisch menschliche Lernkulturen? In welcher Kultur des Lernens gedeiht sie am besten?

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Inklusion in der Bronzezeit Der Begriff Integration hat für viele den unangenehmen Beiklang, sich in eine Gemeinschaft einfügen zu müssen. Das riecht für sie nach Assimilation und Anpassung. Der Begriff Inklusion soll hier Abhilfe schaffen. Er will sagen: Alle gehören von Anfang an dazu. Wenn von Anfang an niemand ausgegrenzt wird, muss man später auch niemanden wieder integrieren. Für andere klingt das wiederum sehr utopisch. Geht denn das überhaupt? So etwas hat es doch noch nie gegeben, oder? Vielleicht ja doch. Sandra Pichler liest in bis zu über 5000 Jahre alten Gräbern wie in einem aufgeschlagenen Buch. Modrige Knochen und halb verrottete Grabbeilagen erzählen der jungen wissenschaftlichen Mitarbeiterin am Institut für Prähistorische und Naturwissenschaftliche Archäologie an der Universität Basel vom alltäglichen Leben in der Bronzezeit. Ihre Zeitreise führt uns zu Menschen, die uns anatomisch gleich waren. Karikaturähnliche Bilder und Symbole auf Gefäßen und Kultgegenständen berichten von Ackerbau und Viehzucht. Gibt es Spuren von Menschen, bei denen wir heute eine Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung diagnostiziert hätten? Wenn ja, wie ging die Gemeinschaft mit ihnen um? Pichler beantwortet diese Frage exemplarisch anhand einer Ausgrabung in Salzmünde (unweit von Halle an der Saale) aus der nordischen Bronzezeit (circa 1.800 v. Chr.).5 An dem freigelegten Skelett eines gehbehinderten Mädchens zeigen die Oberschenkelknochen, dass beide Knie nach innen ragten. Der Schädel des Mädchens ist sehr lang und schmal. Ein Teil der Schädelnähte ist zu früh verknöchert. Deshalb konnte der Schädel nicht die übliche runde Form entwickeln. Der aus der zu frühen Verknöcherung resultierende Druck führte zu Störungen des Hirnwachstums. Wir können also von einer schweren Schädigung des Gehirns ausgehen, wie wir sie zum Beispiel auch bei einem unbehandelten Hydrocephalus kennen. Die Ockerbestattung in der unmittelbaren Umgebung des Hofes und die an eine Embryonalstellung erinnernde Lage des Skelettes zeigen: Das Mädchen wurde trotz seiner geistigen Beeinträchtigung wie alle anderen Personen der Gemeinschaft behandelt. Charakteristische Kennzeichen von Abnutzung an den Knochen belegen, dass © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Abbildung 4: Zu früh verknöcherter Schädel aus der Bronzezeit. Das Grab eines Mädchens zeugt von einer inklusiven Gemeinschaft circa 1.800 v. Chr.

das Mädchen die gleiche Arbeit verrichtete wie alle anderen Kinder. Das Mädchen wurde weder ausgegrenzt noch schlecht ernährt. Erst im 17. Jahrhundert begann man in Europa mit der systematischen Wegsperrung von sogenannten Narren, Tollen und Wahnsinnigen in Besserungsanstalten (Exklusion). Mit der Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz rechtfertigte man diese Ausgrenzung (Separierung oder Segregation). Die europäische Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert lieferte dafür den geistigen Rahmen. Die These eines engen Zusammenhangs von Aufklärung und Exklusion stammt aus dem Jahre 1961. In seiner Habilitationsschrift Wahn© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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sinn und Gesellschaft – eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft sammelte der Philosoph Michel Foucault (1926–1984) für diese These überzeugende Belege: 1620 gründete man beispielsweise in Hamburg ein Zuchthaus. (Solche Besserungsanstalten waren nicht nur Vorläufer der Gefängnisse, sondern auch der späteren Irrenhäuser.) Zur Besserung empfahl man in der Anstaltsordnung von 1622 Zwangsarbeit.6 Ähnliche Einrichtungen gab es auch in Worcester, Bristol, Norwich, Lyon und Paris. Nur Arbeitswillige sollten freigelassen werden.7 Erst viel später wandelte man die Zuchthäuser in Bildungseinrichtungen um, in denen man auch Lesen, Schreiben, Rechnen und die Heilige Schrift vermittelte.8 Die ersten Spekulationen über die Heilbarkeit des Wahnsinns, den man inzwischen Idiotie getauft hatte, lassen sich für das Jahr 1733 nachweisen.9 Erst in dieser Zeit wurde für die Einweisung Geisteskranker eine gerichtliche Einweisung gefordert.10 1840 gründete der französische Arzt Édouard Séguin (1812–1880) in Paris die erste Geistigbehindertenschule, weil er die Bildungsfähigkeit aller Kinder beweisen wollte.11 Séguin war mit dem Bestsellerautor Victor Hugo (1802–1885) befreundet. Seine Privatschule finanzierte der Vordenker der heutigen Förderschulen mit seinen Einnahmen als Schriftsteller. Der evangelische Pastor und Gründer der Alsterdorfer Anstalten in Hamburg, Heinrich Matthias Sengelmann (1821–1899), kannte Séguin wohl nur vom Hörensagen.12 1863 wurden in die von Sengelmann gegründete Anstalt auch sogenannte Idioten aufgenommen. Sengelmann berichtet: »Schon bei der Gründung der ersten IdiotenAnstalt wurde es also als wünschenswerth erkannt, die schwachsinnigen Kinder nicht ohne Berührung mit vollsinnigen aufwachsen zu lassen. Allmählich aber griff eine andere Ansicht Platz. Der Idiotismus wurde als ein ansteckendes Uebel betrachtet.«13 Heute wissen wir, dass die guten Argumente und Appelle für gemeinsame Bildung und Erziehung Sengelmanns auf Dauer fruchtlos blieben. Man erinnert an die Opfer der Euthanasiemorde in der NS-Zeit in Hamburg jährlich am 8. Mai in gemeinsamen Veranstaltungen – vormittags in Alsterdorf und nachmittags in Ochsenzoll. Zwischen 1938 und 1943 lieferte die Leitung der Alsterdorfer Anstalten mehr als 600 Personen und die Heil- und Pflegeanstalt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Langenhorn fast 4.000 Personen aufgrund geistiger oder psychischer Beeinträchtigung dem sicheren Tod aus. Wie freundlich und unschuldig erscheint doch das Idyll einer bäuerlichen Gemeinschaft in der Bronzezeit im Vergleich zur jüngeren Geschichte der Ausgrenzung und Sonderbehandlung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Außerdem sieht es auf den ersten Blick fast so aus, als wäre die Idee der Inklusion nichts sonderlich Neues. Doch das täuscht – und zwar deshalb, weil es sich bei den aktuellen Anforderungen an Inklusion um mehr handelt, als einfach nur dabei zu sein. Das Problem lässt sich mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770– 1831), dem Philosophen der Dialektik, gut auf den Punkt bringen: Inklusion im heutigen Verständnis ist eine Negation der Negation.14 Zuerst negierte die Idee der Sonderschule die Idee einer Schule für alle. Vordenker einer Schule für alle war zum Beispiel der Theologe und Pädagoge Johann Amos Comenius (1592–1670). Sein langbärtiges Antlitz schmückt viele Gedenktafeln, Gemälde und Denkmäler, die man nach Porträts auf alten Holzschnitten anfertigte. Auch viele Plätze und Straßen benannte man nach ihm. Ich selbst war einige Jahre Mathematik- und Kunstlehrer an einer Comenius-Schule. In seiner Didactica magna forderte Comenius, allen alles zu lehren.15 Séguin griff diesen Anspruch auf. Es gab zu seiner Zeit jedoch Menschen, die als nicht bildbar galten. Um deren Bildbarkeit nachzuweisen, brauchte er eine Sonderschule. Damit negierte er jedoch zwangsläufig die Absicht von Comenius, eine Schule für alle zu schaffen. Der Inklusionsgedanke negiert wiederum die Sonderschule. Negation bedeutet in diesem dialektischen Sinne mehr als eine logische Verneinung. Negation bedeutet soviel wie Aufhebung – und zwar im dreifachen Wortsinne: –– Aufheben im Sinne des Bewahrens, –– Aufheben im Sinne des Überwindens des Alten und –– Aufheben im Sinne einer höheren, bewussteren Stufe. Séguin bewahrte den Anspruch, alle Menschen als bildbar anzusehen. Er überwand den undifferenzierten Anschauungsunterricht zugunsten eines handelnden Unterrichts, ausgerichtet an individu© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil I: Anthropologische Wurzeln des Lernens

ellen Bedingungen und Bedürfnissen beim Lernen. Mit der Achtung der Individualität hob er die Didaktik auf eine höhere Stufe. Inklusion als Negation der Negation ist keine einfache Rückkehr zur inklusiven Dorfgemeinschaft der Bronzezeit: Was wäre zu bewahren? – Die unkomplizierte Einbindung in die Gemeinschaft ohne diskriminierenden Normvergleich. Was wäre zu überwinden? – Die mangelnde medizinische Versorgung und die mangelnde Achtung vor den besonderen Bedingungen, unter denen ein Mensch an einer Gemeinschaft partizipiert. Was wäre die höhere, bewusstere Stufe? – Eine wissenschaftlich begründete Form der Kooperation beim Spielen, Lernen und Arbeiten, in der sich individuelle Stärken entwickeln können und Schwächen durch gegenseitige Hilfe ausgleichen.

Beim Bestreben um eine Inklusion auf einer höheren, bewussteren Stufe kommt uns eine überraschende Entwicklung in der Wissenschaft vom Menschen entgegen – und das ausgerechnet in einer Zeit der Bankenkrise und sich häufender Korruptionsvorwürfe an politisch Verantwortliche. Während viele die Menschheit dem Würgegriff einer grenzenlosen Gier und dem mitleidslosen Machtstreben einiger weniger ausgeliefert sehen, belehrt uns die Wissenschaft eines Besseren: Ausgeklügelte Forschungsmethoden bringen zutage, dass die angeborene Neigung zur gegenseitigen Hilfe eine anthropologische Konstante ist. Das zunehmende Erstaunen über die Intelligenzleistungen von Tieren (Springspinnen, Kraken, Raben, Graupapageien, Bergpapageien, Delfinen, Affen usw.) verwischte in den letzten Jahrzehnten die Sonderstellung des Menschen im Tierreich. Daraus ergab sich eine Erklärungslücke. Wie lässt sich der sogenannte Wagenhebereffekt des menschlichen Lernens erklären, der uns von unseren nächsten Verwandten im Tierreich trennt? Schließlich haben Schimpansen, deren Gene zu circa 98–99 % mit unseren übereinstimmen, bis heute nur unbedeutende lokale Traditionen hervorbringen können. Darüber hinaus befassen sich diese Traditionen mit kaum mehr als © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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einfachen Ritualen der Begrüßung, der Fellpflege, des Fressens und der Fortpflanzung. Da wir mit Schimpansen etwa so verwandt sind wie Löwen mit Tigern, Pferde mit Zebras und Ratten mit Mäusen, hat die Evolution höchstens sechs Millionen Jahre Zeit gehabt, um die kulturelle Differenz hervorzubringen. Manche setzen diesen Zeitraum noch dramatisch kürzer an. Sie geben der Evolution dafür kaum mehr als zwei Millionen oder gar nur 250.000 Jahre.16 Doch was sollte der entscheidende kleine Unterschied zwischen Mensch und Affe sein? Antwort: eine angeborene Neigung zur gegenseitigen Hilfe beim Lernen. Doch welche wissenschaftlichen Belege gibt es dafür?

Zum Helfen geboren Helfen hat viele Gesichter: Es gibt gut gemeinte und erpresste, selbstlose und berechnende, freiwillige und unfreiwillige, professionelle und unprofessionelle, sinnvolle und sinnlose sowie angefragte und ungefragte Hilfe. Menschen helfen Menschen, aber auch Tieren, Pflanzen und ihrer Umwelt. Ich muss nicht weit gehen, um mich davon zu überzeugen. In meiner Wohnumgebung, der Moorlandschaft nördlich von Hamburg, kann man bei schönem Wetter Alt und Jung beim Entenfüttern beobachten. Familienmitglieder helfen sich gegenseitig mit Brotresten aus. Eine Studentin berichtete mir stolz, dass sie an Wochenenden freiwillig hilft, den Birkenbestand in der nördlichen Moorlandschaft Hamburgs zu regulieren. 2011 hat die Loki-Schmidt-Stiftung zum Schutz der Moorlilie und ihres gefährdeten Lebensraums aufgerufen. Da in den Mooren doppelt so viel Kohlenstoff gespeichert ist wie in allen Wäldern weltweit, bedeutet der Schutz der letzten Moore auch Klimaschutz. Egal um welche Form des Helfens es sich auch handelt, immer bedeutet es, dass sich mindestens eine Person um etwas oder jemanden sorgt und dabei ihre kurzsichtigen, aber überlebenswichtigen egoistischen Interessen zurückstellt. Helfen zweigt Kraft, Lebenszeit und Aufmerksamkeit von der unmittelbaren Reproduktion des nackten Überlebens ab. Menschen helfen, weil es ihnen einfach Spaß macht, weil sie sich zuständig fühlen, weil niemand anderes zur Stelle ist oder weil der alltägliche Überlebenskampf es erfordert. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil I: Anthropologische Wurzeln des Lernens

Die Spannweite der Hilfe unter Menschen ist sehr groß: Hilfe kann bei einem kleinen Hinweis beginnen und bei aufopferungsvoller Pflege enden. Sie kann kaum eine Minute Zeit in Anspruch nehmen oder das Leben kosten. Die Sorge um den Nachwuchs und engere Verwandte haben wir mit verschiedenen Tierarten, insbesondere Säugetieren und Vögeln, gemeinsam. Es gibt jedoch viele Formen der menschlichen Hilfe, die sich bei Tieren nicht nachweisen lassen. Tierisches Helfen dreht sich hauptsächlich ums Fressen und um Nachwuchs. Katzen und Erdmännchen liefern ihrem Nachwuchs Beutetiere, die noch am Leben sind. Sie passen dieses Lehrverhalten jedoch nicht an die individuellen Fähigkeiten ihrer Jungen an. Schimpansen (auch Raben und andere Tierarten) können sogar noch mehr: Sie berücksichtigen individuelle Kenntnisse anderer Artgenossen. Beispielsweise beobachten Affen ganz genau, welcher Mensch oder Affe ein Versteck für einen Leckerbissen kennt und wer nicht. Sie machen sich also Gedanken über andere. Allerdings brüten sie dabei sicherlich nicht so komplizierte Gedanken aus, wie die Erwartungserwartungen, mit denen sich Menschen den Kopf zerbrechen können. Ich denke da an Muster wie dieses: A vermutet, dass B weiß, dass er C geholfen hat, und sich deshalb wahrscheinlich benachteiligt fühlt. Die Gemeinsamkeiten von tierischer und menschlicher Hilfe beim Lernen sind klein, die Unterschiede dagegen gewaltig. Zu diesem resignativen Schluss rang sich der 87-jährige Verhaltensforscher David Premack nach langer Forschungserfahrung durch.17 Sein hypnotischer Blick verrät einen investigativen, jung gebliebenen Geist, dem das Grauweiß von Bart und Locken nun auch noch eine Aura von Weisheit verleiht. Immer wenn Eltern ihre Kinder mit einem Zukunftsversprechen bestechen, wenden sie unbewusst ein nach ihm benanntes Prinzip an. (Beispielsweise wenn sie ihre Kinder mit einem Eis als Nachtisch locken, damit sie endlich den vermeintlich so gesunden Spinat hinunterwürgen.) Das Premack-Prinzip besagt, dass ein spontan häufig gezeigtes Verhalten (zum Beispiel: Eisessen) ein Verstärker für ein unwahrscheinlicheres Verhalten (zum Beispiel: Spinatessen) sein kann. Das Premack-Prinzip gilt in bestimmten Situationen zweifelsfrei sowohl für Schimpansen als auch für Menschen. Premack ist aber auch anerkann© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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ter Experte auf dem Gebiet der Erforschung der Sprachfähigkeit von Schimpansen. Gemessen an den hochfliegenden Erwartungen waren die Erfolge ernüchternd. Das hat ihn wohl letztendlich zu der Schlussfolgerung veranlasst: Die Gemeinsamkeiten von Affen und Menschen beim Lernen sind klein, die Unterschiede dagegen gewaltig. Trotzdem sind die kleinen Gemeinsamkeiten von erheblichem Interesse: Ohne eine Belohnung zu erwarten, helfen Schimpansen mitunter einem Artgenossen. Beispielsweise öffnen sie einem anderen Schimpansen die Tür, indem sie einen Bolzen zurückziehen. Offensichtlich wissen sie, dass ihr Artgenosse diesen Mechanismus nicht kennt. Dies tun sie nur, wenn sie beim anderen Schimpansen die Absicht erkennen, den Käfig durch diese Tür tatsächlich verlassen zu wollen.18 Solche Experimente legen nahe, dass menschliche Hilfe nicht nur ein kulturell erlerntes Verhalten darstellt. Weitere Argumente dafür liefern Experimente mit Kleinkindern. Der Vergleich von Schimpansen und Kleinkindern bei kooperativen Aufgabenstellungen zeigt, dass Menschen besonders gut darin sind, ihre Intentionen aufeinander abzustimmen. Sie zeigen schon im sehr jungen Alter ein typisch menschliches Wir-Gefühl. Führend bei der Erforschung dieses Wir-Gefühls ist der 62-jährige Psychologe und Anthropologe Michael Tomasello. Man könnte seine Herkunft aus den USA auf den ersten Blick erkennen, würde er zu seiner John-Lennon-Brille und zu seinem silbergrauen Vollbart noch die obligatorische Baseballmütze tragen. Seit 1999 lehrt er jedoch an der Universität Leipzig als Leiter des Wolfgang-Köhler-Primaten-Forschungszentrums. Sein zentraler Forschungsgegenstand ist die spielerische Kommunikations- und Kooperationslust von Kleinkindern. Davon hat er sich offensichtlich aus seiner eigenen Kindheit einiges bewahrt. Seine Experimente zeigen zunächst die Gemeinsamkeiten: Auch Schimpansen verstehen Absichten, kooperieren und helfen selbstlos. 18 Monate alte Kinder sind bei sozialen Spielen jedoch viel hartnäckiger und sie motivieren ihr Gegenüber zum Weiterspielen mit vielmehr Geschick. Schon einjährige Kinder (14.–18. Monat) helfen ohne vorherige Übung fremden Erwachsenen in vielfältigerer Weise als erwachsene © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Schimpansen: Sie heben beispielsweise heruntergefallene Gegenstände auf, wenn die Person, die diese aufheben will, nicht heranreicht, öffnen verschlossene Schranktüren, wenn die Person, die etwas in den Schrank legen will, keine Hand mehr frei hat, beseitigen Hindernisse, korrigieren Fehler usw. Schmeißt jemand jedoch etwas absichtlich zu Boden oder tritt mutwillig gegen eine Tür, bleibt ihre Hilfsbereitschaft aus. Kleinkinder haben also ein angeborenes Grundverständnis für Situationen, in denen Menschen einander helfen können.

Abbildung 5: Kleinkind eilt spontan zur Hilfe: Experimente am Max-PlanckInstitut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

Kleinkinder unterbrechen sogar ein interessantes Spiel, um zu helfen. Belohnungen und Ermutigungen steigern ihre Hilfsbereitschaft jedoch nicht. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Bei älteren Kindern (20 Monate) kann eine Belohnung die Hilfsbereitschaft sogar unterwandern. Zum Beispiel senkt ein geschenktes Spielzeug als Belohnung für das Helfen die Hilfsbereitschaft der Kinder. Das Premack-Prinzip greift hier ins Leere: Kinder, die in experimentellen Situationen öfter fürs Helfen belohnt wurden, halfen in späteren Situationen seltener.19 Hilfsbereitschaft erhöht die Sympathie: Wenn Kleinkinder (18.– 24. Monat) beobachten, dass Erwachsene mit gespielter Böswilligkeit eine fremde Zeichnung zerreißen, merken sie sich das. Solchen Personen helfen sie danach deutlich seltener. Personen, die eine mutwillig zerrissene Zeichnung dagegen liebevoll wieder zusammenkleben, finden Kleinkinder sympathisch. Solchen fürsorglichen Personen helfen sie in Zukunft deutlich häufiger.20 Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Erklärungen, warum Menschen einander helfen. Darunter auch evolutionsbiologische Erklärungen, die überzeugend mit einer Eigennutzmaximierung argumentieren. Der Hauptgrund für menschliche Kooperation wurde jedoch lange Zeit übersehen: Menschen sind sozialere Tiere als ihre Cousinen und Cousins im Tierreich. Offensichtlich spielt ein WirGefühl, eine angeborene Bereitschaft, sich mit Helfenden zu identifizieren, eine wichtige Rolle für die Hilfsbereitschaft.21 Wenn also schon kleine Kinder ohne Belohnung kooperieren, stellt sich wie von selbst die Frage: Wie ist das eigentlich bei Schimpansen? Das untersuchte Alicia Melis vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Für ihre Experimente nutzt die junge Psychologin ihre guten Forschungskontakte zum Schimpansen-Reservat in Uganda auf der Ngamba-Insel mitten im Viktoriasee: Ein langes Brett mit zwei Behältern für Bananen, das neben dem Käfig liegt, kann man nur zu zweit mit einem Seil heranziehen. Nur wenn beide Affen gleichmäßig ziehen, gelangen sie an die Belohnung. Hier helfen Schimpansen einander. Wird aber das gesamte Futter nur in einen der beiden Behälter gefüllt, schnappt sich der dominantere Schimpanse das Futter für sich allein. Er weigert sich, zu teilen. Der leer ausgegangene Schimpanse weigert sich in Zukunft, zu helfen.22 Helfen unter Umständen ja, aber Teilen nein: Schimpansen sind in diesem Fall Nutzenmaximierer.23 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Wenn es ums Teilen geht, haben Schimpansen ihre Grenzen. Sie sehen Artgenossen als Konkurrenten statt als Helfende. Sie treffen keine Vereinbarungen zum Nachteilsausgleich. Sie können sich gegenseitig ausnutzen, aber nicht einigen. Vielleicht ist das die Trennlinie zwischen Affen und Menschen: Wir Menschen neigen dazu, unsere Handlungsziele abzustimmen, wenn die Umstände es erlauben. Eine angeborene Neigung kann jedoch verkümmern. Ohne eine ermutigende und vertrauenswürdige Umgebung verlieren Kinder ihre biologische Neigung zur Einigung, zur Abstimmung der Intentionen und der Verständigung über gemeinsame Ziele. Hier sind Elternhaus und Bildungseinrichtungen gefordert: Nur das Erleben gelingender Koordinationen von kooperativen Handlungen schöpft das humane Entwicklungspotenzial Heranwachsender aus. Enttäuschtes Vertrauen ist die Hauptquelle von Lern- und Verhaltensproblemen. Die oft überstrapazierte Gegenüberstellung von genetischem Erbe und Umwelteinfluss ist hier irreführend. Wir erben von unseren Eltern schließlich nicht nur Gene, sondern auch deren kulturelle Umwelt. Biologisches und Soziales bilden hier offensichtlich keinen Gegensatz. Vielmehr gilt: Unsere biologische Ausstattung ist auf das Soziale ausgerichtet. Sie bereitet unseren Organismus auf ein soziales Miteinander vor und macht den Sozialkontakt zu einem biologischen Grundbedürfnis wie Essen, Trinken und Schlafen. Erst das kulturelle Lernen ermöglicht uns, zwischen heißhungrigem Fressen und kultiviertem Essen, zwischen sexueller Lust und partnerschaftlicher Intimität usw. zu unterscheiden. Tomasello argumentiert so: Da die kulturelle Organisation des Menschen von derjenigen anderer Tiere so verschieden ist, da das Aufziehen von Tieren innerhalb eines kulturellen Kontextes diese nicht durch ein Wunder in menschenähnliche Kulturwesen verwandelt und da es Menschen mit biologischen Ausfallerscheinungen gibt, sodass sie an ihren Kulturen nicht im vollen Sinne teilhaben, ist die Schlussfolgerung unausweichlich, dass Menschen eine biologisch vererbte Fähigkeit zur kulturellen Lebensform besitzen. Diese Fähigkeit, die ich als Fähigkeit zum Verstehen der Artgenossen als intentionale und

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geistbegabte Akteure beschrieben habe, kommt ab dem Alter von etwa neun Monaten zum Tragen …24 Es ist vielleicht sehr zugespitzt formuliert, aber nicht übertrieben: Die gegenseitige Perspektivübernahme beim Helfen ist eine Kernkompetenz des Menschen wie für Kängurus der Weitsprung, Schwertwale die Unterwasserjagd, Leoparden der Sprint und Fledermäuse der Nachtflug.

Wenn das so ist, stellen sich wie von selbst bange Fragen: Wie artgerecht ist eine Schule, in der Einanderhelfen als Schummeln denunziert wird? Wie menschlich sind Schulen, die den Konkurrenzkampf um Zensuren schüren? Für welche Zukunft kann eine Schule, die für eine entsolidarisierende Karriereplanung missbraucht wird, als Sprungbrett dienen?

Kulturspezifische Einflüsse Beim Füttern zeigte der dreijährige Daniel regelmäßig einen sehr lebhaften Ausdruck von Ekel, wand sich wie ein Wurm und wehrte sich mit Händen und Füßen. Neben einer schweren Epilepsie (Westsyndrom) und gravierenden Bewegungseinschränkungen (rechtsbetonte spastische Tetraparese mit Muskelhypertonus) hatte sich seine Wangenhaut aufgrund ständigen Speichelflusses entzündet. Die Heilerziehungspflegerin der integrativen Kindertageseinrichtung bat mich um Unterstützung. Wenn ich Daniel beim Heben seines Kopfes half, spürte ich, wie sich seine Muskeln überstreckten. Die Eigenreflexe waren lebhaft auslösbar. Er nahm keinen Blickkontakt auf. Bei der langen Liste von Medikamenten gegen seine Epilepsie erschien mir das nicht verwunderlich. Im Gespräch mit der Mutter und dem behandelnden Arzt entschieden wir uns dafür, die Dosis der Medikamente versuchsweise zu reduzieren. Der Unterschied zeigte sich sofort: Mit strahlenden Augen schaute uns Daniel staunend an. Ohne Hilfe konnte er nun den Kopf © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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halten und wenden. Beim Füttern würgte er jedoch weiterhin selbst seine Lieblingsspeisen Pudding und Fruchtjoghurt immer wieder aus. Wollte man ihn zur Kooperation beim Füttern bewegen, indem man seine Lippen mit dem gefüllten Löffel vorsichtig berührte, drückte er sofort heftigen Ekel aus und wehrte sich mit aller Kraft. Der Grund dafür war wahrscheinlich die Tatsache, dass er bis zu seinem dritten Lebensjahr immer wieder über eine Sonde ernährt werden musste. Deshalb versuchte man, ihm die Nahrung ohne Lippenberührung in den Mund zu füllen. Das unerwartete Auftauchen der Nahrung im Rachen löste bei ihm offensichtlich den Würgereiz aus. Während wir mögliche Lösungen des Problems diskutierten, übersahen wir, wie ein fünfjähriges Mädchen der integrativen Kita-Gruppe ihr Spiel unterbrach und sich uns näherte. Plötzlich schnappte sie sich Daniel wie eine Puppe. Mit Schwung und beherzter Vehemenz führte sie den Löffel in seinen Mund. Daniel schluckte, ohne zu würgen. Nach genauer Beobachtung entdeckten wir verblüfft das Geheimnis des Gelingens: Das Mädchen berührte mit dem Löffel Daniels Zähne. Diese Ankündigung akzeptierte er also. Darüber hinaus fühlte er sich im festen Griff und der unbeirrbaren Regie der Fünfjährigen unübersehbar wohl. Niemals hätten wir es gewagt, ihr Daniel anzuvertrauen. Hätte sie uns nicht überrumpelt, wäre mir wohl kaum bewusst geworden, wie wenig Vertrauen wir Erwachsenen in die Fähigkeit von Kindern beim Helfen haben. Viele Experimente der letzten Jahre legen nahe, dass Helfen Kleinkindern ganz natürlich erscheint, ohne dass sie es sich von Erwachsenen abgeschaut haben. Jede Situation, in der ein Mensch an einer Handlung gehindert wird, besitzt einen hohen Aufforderungscharakter zum Helfen. Das ist wie bei einer Dose auf der Straße, die Kinder magisch anzieht, dagegen zu treten, oder eine bizarre Wolkenform, die uns auffordert, Gesichter oder Tierformen hineinzusehen. Anlässe zum Helfen erfassen Kinder mit traumwandlerischer Sicherheit und spontanem Pragmatismus. Später beginnen Kinder, ihr Verhalten auf kulturspezifische Einflüsse abzustimmen.25 Zu dem situativ gegebenen Aufforderungscharakter gesellen sich emotionale Erfahrungen und rationale Erwägungen. Menschen lernen sehr schnell von anderen, welche Hilfen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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zu erwarten sind und welche nicht. Wenn Hilfe ausgenutzt wird, ist die Enttäuschung groß. Enttäuschende Erlebnisse mit dem Helfen sammeln Kinder spätestens während ihrer Schulzeit. Stellen Sie sich folgendes Kindheitserlebnis vor: Während Ihrer Schulzeit weihte Sie ein älterer Schüler in seine Nöte ein. Er berichtete von seiner allein lebenden und schwer erkrankten Oma und beklagte, dass seine Eltern auf Dienstreise wären. Um helfen zu können, bräuchte er nun dringend Fahrgeld. Sie fühlten sich geschmeichelt und drückten ihm voller Mitgefühl Ihr letztes Taschengeld in die Hand. Da lief er triumphierend zu zwei grinsenden Gestalten auf dem Schulhof, die plötzlich mit den Fingern auf Sie zeigten und sich vor Lachen auf die Schenkel klopften. Wie konnten Sie nur auf so einen billigen Trick hereinfallen? Interessant ist nun, wie Sie dieses Erlebnis verarbeitet hätten: Wären Sie mit machiavellistischer Kaltblütigkeit entschlossen gewesen, von nun an lieber andere übers Ohr zu hauen, bevor Sie selbst zum Opfer werden? Wären Sie von nun an ständig vor lauerndem Betrug auf der Hut gewesen und hätten sich einen misanthropischen Argwohn zugelegt? Oder hätten Sie sich Ihr Urvertrauen nicht nehmen lassen, einfach deshalb, weil es sich so einfacher leben lässt? Die vernünftige Maxime »Unterstelle erst einmal die besten Absichten und sei ohne Argwohn!« lässt sich nun einmal leicht ausnutzen. Natürlich lassen uns Enttäuschungen misstrauischer werden. Außerdem leben wir in einer Zeit, in der um Klugheit ein regelrechter Kult veranstaltet wird. Opfer einer Täuschung gewesen zu sein erleben nicht wenige so, als hätten sie einen Intelligenztest nicht bestanden. Das mit dem Intelligenzkult war nicht immer so: Im zweiten der neutestamentlichen Korintherbriefe an die Gemeinde in Korinth, geschrieben um das Jahr 54–57 n. Chr., verteidigte Paulus sein Apostelamt noch mit dem Argument: »Ich rede töricht, ich bin’s wohl mehr (als ihr).«26 Sich für klug zu halten galt viele Jahrhunderte hindurch als Selbstüberhebung: »Denn es steht geschrieben: Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.«27 In Deutschland wirkte diese Denkweise lange nach. Schiller greift in seinem Gedicht »Die Worte des Glaubens« im Jahre 1797 die Formulierung »Verstand der Verständigen« auf. Die dritte Strophe des © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Gedichts endet mit den Zeilen: »Und was kein Verstand der Verständigen sieht,/das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.«28 Stellen Sie sich vor: Jemand bewirbt sich um ein hohes Amt und preist als Eignungskriterium seine Naivität oder gar Dummheit an. Unvorstellbar heute: Wählt mich, denn ich bin dümmer als ihr! Das ist heute wahrlich kein Erfolgsrezept mehr. Für dumm gehalten zu werden ist in der Moderne eine der schwersten Kränkungen. Deshalb sind nicht wenige Menschen sogar bereit, andere zu verletzen, nur um ihnen zu zeigen: Ich bin nicht so blöd, wie ihr vielleicht glaubt. Bei Sokrates hieß es noch: Lieber Unrecht leiden als Unrecht tun. Heute heißt es dagegen gar nicht so selten: Lieber Unrecht tun als sich für dumm verkaufen. Wie Menschen in anderen Kulturen ihre Ehre verteidigen, verteidigen Menschen in westeuropäisch geprägten Kulturen ihre Klugheit: »Für wie dumm halten die mich?« oder »Denkst du etwa, ich bin blöd?« Auf Hilfe beim Lernen angewiesen zu sein ist zwar einerseits eine allgemeinmenschliche Tatsache, anderseits aber auch immer die Quelle einer möglichen Kränkung. Es käme einem Wunder gleich, wenn Enttäuschungen beim Helfen oder die Annahme von Hilfe nicht das Lernen und die geistige Entwicklung von Kindern maßgeblich beeinflussen würden.

Leider ist dieser Einfluss noch zu wenig erforscht: Was geht in einem Kind vor, wenn es als dumm oder unfähig angesehen wird, weil es sich vertrauensvoll auf eine Hilfe einlässt, oder wenn es bemerkt, dass seine Hilfsbereitschaft als wertlos oder gar schädlich eingeschätzt wird? Auch wenn solche Erlebnisse sicherlich nicht selten sind, werden sie im Schulalltag kaum reflektiert.

Helfen und Unterrichten Hilfe zur Selbsthilfe

»Die Kinder helfen gern beim Tischdecken und tragen in den Armen so große Brotlaibe, dass sie ihre Füße nicht mehr sehen können. Sie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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werden in dieser Tätigkeit, Gegenstände hin und her zu tragen, fortfahren, bis sie müde sind«,29 schilderte – beeindruckt von der Hilfsbereitschaft von Kleinkindern – schon die italienische Ärztin und Pädagogin Maria Montessori (1870–1952). Sie sah eine der »gröbsten Unterdrückungen« darin, wenn Erwachsene Kinder bei solchen Hilfstätigkeiten unterbrechen: »Die Störungen vieler ›schwieriger‹ Kinder können in diesen Unterbrechungen ihre Ursache haben.«30 Auf Fotografien, die Montessori als junge Frau zeigen, erscheint sie aus heutiger Sicht wie ein Gespenst aus längst vergangenen Zeiten – mit theatralisch reich dekoriertem Kleid, voluminöser Frisur oder in den Himmel wachsender Hutkrone. Auf Bildern im hohen Alter erscheint sie dagegen überraschend modern, wie eine Vorreiterin aller emanzipierten Großmütter, auf die unsere Zeit mit Recht so stolz ist. Die einen warfen ihr ein katholisch-romantisches Charisma vor, die anderen dagegen einen zu wissenschaftsgläubigen Experimentalismus. Ja, was denn nun? – möchte man fragen. Als erste Frau Italiens mit einem Doktortitel war sie zweifelsfrei genervt von der Doppelmoral, die Frau mit Kind zwar als Heilige verehrt, aber Frauen und Kinder wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Ihr unermüdlicher Einsatz für die Menschenrechte begann bekanntlich mit den rechtlosesten Mitgliedern der Gemeinschaft: mit Kindern, die man als bildungsunfähig abgestempelt und in Psychiatrien weggesperrt hatte. Als Séguin starb, war Montessori gerade 10 Jahre alt. Als kaum Dreißigjährige suchte sie in London vergeblich nach einem Exemplar seines zweiten Buches.31 Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als ein zerlesenes und verstaubtes französisches Exemplar zu übersetzen, das ihr zufällig in die Hände geraten war. Ganz im Geiste Séguins trat Montessori für die Schaffung von Sonderschulen ein. Zweifellos war das zu dieser Zeit ein Fortschritt. In der Praxis stellte sie jedoch unter Beweis, dass ihre Methode – ursprünglich für Kinder mit Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung erdacht – allen Kindern zugutekommt. Unfreiwillig lieferte sie damit ein wichtiges Argument für Inklusion. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass heute viele Montessorischulen eine Vorreiterrolle in der Inklusionsbewegung spielen.32 Kehren wir zurück zum Thema Helfen: Montessori hat schon sehr früh die Bedeutung der Hilfsbereitschaft von Kleinkindern für © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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ihre Entwicklung verteidigt. Sie erkannte auch, dass Kinder spitze darin sind, Hilfe zu erkennen. Sie sammelte ihre ersten Erfahrungen bei Kindern mit Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten. Dabei erkannte sie: Hilfestellungen sind nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch Beziehungsbotschaften. Deshalb können sich Kinder gegen das Annehmen von Hilfe plötzlich sperren. Was steckt dahinter? Das zentrale Motto der Montessori-Pädagogik »Hilf mir, es selbst zu tun!« wird oft als Hilfe zu Selbsthilfe verkürzt und missverstanden. Denn wie viele entmündigende Hilfen werden heute als Hilfe zur Selbsthilfe gerechtfertigt? Im Prinzip könnte man jede Hilfe, die mit der Zukunft droht, als Hilfe zur Selbsthilfe deklarieren. Aber genau das hat Montessori mit Sicherheit nicht gemeint. Schließlich war es nicht Montessori selbst, die den ihr anvertrauten Kindern verkündete: »Ich werde euch helfen, es selbst zu tun!« Das genaue Zitat lautet so: »Hilf mir, es selbst zu tun. Zeige mir, wie es geht, aber tue es nicht für mich. Ich kann und will es allein tun. Habe Geduld, meine Wege zu begreifen. Sie sind vielleicht länger, vielleicht brauche ich mehr Zeit, weil ich mehrere Versuche machen will. Mute mir Fehler und Anstrengungen zu, denn daraus kann ich lernen.«33 Montessori gibt hier die Aussage eines Kindes wieder. Es ging ihr also nicht darum, den Kindern ihre Hilfe aufzuzwängen. Ganz im Gegenteil: Sie hatte beobachtet, wie Kinder von selbst um Hilfe beim Lernen bitten. Es war ihr sehr wichtig, dass die Kinder selbst ihren Hilfebedarf kundtun. Denn erst dann kann man sich auch sicher sein, dass die Hilfe nicht zu früh und nicht zu spät kommt, nicht unter Niveau ist und nicht über die Köpfe hinweggeht, nicht unterfordert, aber auch nicht überfordert. Ohne Hilfe der Erwachsenen müsste jedes Kind die menschliche Kultur neu erfinden: das Feuer bändigen, die Sprache erfinden, Zahlensysteme konstruieren usw. Jede heranwachsende Generation findet eine fertige Kultur vor. Die Komplexität dieser Kultur übersteigt ihre individuellen biologischen Möglichkeiten des Lernens bei Weitem. Deshalb sind Heranwachsende auf die Hilfe einer Generation Erwachsener angewiesen. Montessoris Plädoyer verstehe ich so: Das Angewiesensein auf Hilfe beim Lernen drängt Menschenkinder in eine äußerst verletz© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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liche und ohnmächtige Position. Diese zeigt sich besonders dann, wenn unsensible Erwachsene sie aufgrund ihrer Hilflosigkeit beschämen. Aufgezwungene Hilfsangebote sind auch immer Machtdemonstrationen: Ich kann es, du nicht, deshalb lass mich es lieber für dich tun! Der Satz »Hilf mir, es selbst zu tun!« kennzeichnet eine Doppelbindung. Montessori kommt zu Recht zu dem bitteren Schluss: »Der Erwachsene und das Kind, die einander lieben und miteinander leben sollen, befinden sich durch Missverständnis in einem Konflikt […].«34 Wenn die Rechtfertigung der Hilfe der Erwachsenen darin besteht, dass sie die zukünftige Selbstständigkeit der Kinder fördern, sollten sie aber auch darauf achten, dass diese Zukunft den Kindern nicht als ferne Drohung erscheint. Sie sollten das Licht am Ende des Tunnels ihres Angewiesenseins auf Hilfe stets vor Augen haben. Der antizipierte Zeitraum sollte also dem Vorstellungsvermögen der Kinder entsprechen. Deshalb ist weniger hier oft mehr: Die russische Familie Nikitin, die in den Sechzigerjahren weltweite Berühmtheit erlangte, weil ihre sieben Kinder schon mit drei bis vier Jahren lesen und rechnen konnten, gibt dafür ein von mir gern zitiertes Beispiel: Der zweijährige Aljoscha nähert sich mit einem Topf Milch in den Händen einer verschlossenen Tür und bleibt zweifelnd stehen. Da beide Hände voll sind, weiß er nicht, wie er die Tür öffnen soll. Er versucht, sie mit dem Fuß zu öffnen, aber ohne Erfolg. Er drückt den Topf mit einer Hand an die Brust, aber da schwappt die Milch über, und er kann mit der anderen Hand den Türgriff nicht erreichen. Hätte ich diese Situation beobachtet, wäre mein erster Impuls gewesen, dem zweijährigen Aljoscha zur Hilfe zu eilen und ihm die Tür zu öffnen. Nicht so die Nikitins! Sie spornten ihn auch noch an, nachzudenken. Die Weigerung, ihm zur Hand zu gehen, hat gute Gründe: Erstens ist die Beziehungsbotschaft jeder vorschnellen Hilfe: »Das kannst du nicht!« – und zweitens bringen einen vorschnelle Helfende immer um das eigene Erfolgserlebnis. Die Erfolge der Nikitins sprechen für sich – so auch in diesem Beispiel: Der zweijährige Aljoscha stellte den Topf auf den Boden. Allerdings versperrte er nun die Tür. Nach weiterem Grübeln erfasste er auch dieses Problem: Er musste den Topf nur noch beiseiteschieben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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»Hurra! Geschafft!«, lautet der Kommentar der Eltern: »Ein strahlendes kleines Gesicht, allgemeines Frohlocken. Das wäre ja noch schöner – jetzt ist die Entdeckung also doch zustande gekommen!«35 Die Bedeutung des emotionalen Rückenwinds, der von einer Gemeinschaft ausgeht, die bedingungslos hinter einem steht, kann man als Entwicklungshilfe nicht hoch genug einschätzen. Menschen brauchen diesen Rückenwind für die Entfaltung ihrer Individualität wie die Luft zum Atmen. Wir benötigen Zuspruch nicht nur darin, so sein zu dürfen, wie wir heute schon sind, sondern auch darin, wie wir morgen schon sein könnten.

Diese Zone der nächsten Entwicklung unterscheidet das menschliche Lernen maßgeblich vom Lernen der Menschenaffen. Der nächste Abschnitt zeigt, dass kulturelles Lernen ohne Hilfe nicht möglich ist. Zone der nächsten Entwicklung

Wer macht den Wind? Warum müssen Erwachsene arbeiten? Wieso scheint die Sonne? Wann bekomme ich ein Fahrrad? Wo leben Wölfe? Schon Vorschulkinder finden in Gemeinschaft mit Erwachsenen Antworten auf Fragen, die sie allein nicht finden würden. Gemeinsam kaufen sie mit ihnen Geschenke, planen Geburtstagsfeiern, besuchen Tiere im Park, lernen Schwimmen im See, klettern auf Berge, streifen durch Wälder usw. In Symbol-, Rollen- und Regelspielen mit anderen Kindern lernen sie, sich gedanklich immer besser in die Positionen von Erwachsenen hineinzuversetzen. Diesen Prozess nennt man auch Lernen in der Zone der nächsten Entwicklung oder kurz: Ko-Konstruktion. Im Vergleich mit allen anderen Lebewesen erweisen sich Menschenkinder als besonders pfiffig darin, Hilfen zu erkennen und zu nutzen, wie ich im nächsten Abschnitt verdeutlichen will. Der erste Wissenschaftler, der das experimentell untersuchte, ist Lev Vygotskij (1896–1934) – ein Pädagoge, Literaturkritiker, Kunst- und Entwicklungspsychologe, kurz: ein typischer Vertreter der russischen Intelligenzija in den Zwanzigerjahren. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Lev – so lautet das russische Wort für Löwe. Bei dem Vornamen Löwe erwartet man einen Menschen mit lauter Stimme. Das Gegenteil war wohl der Fall. Vygotskijs Stimme wurde von einem Zeitgenossen sogar als gelb und mürbe beschrieben36 – sicherlich ein Symptom der Tuberkulose, an der Vygotskij viel zu jung sterben sollte. Seine dunklen, für einen knapp über Dreißigjährigen fast zu streng blickenden Augen, verraten eine faustische Leidenschaft. Sein Werk widmet sich der Suche nach dem Wesen des Menschen. Kraftvoll bäumt es sich gegen den verheerenden sozialdarwinistischen Zeitgeist auf. Vygotskijs Tochter Gita (neunjährig, als ihr Vater starb) verfasste nach dem Zerfall der Sowjetunion ein Buch über ihn.37 1999 besuchte ich sie in einem Moskauer Krankenhaus. Sie versicherte mir: Ihr Vater war sehr beliebt in seiner Familie, bei Studierenden sowie bei Kolleginnen und Kollegen. Trotzdem konnte er es vielen nicht recht machen. In der Sowjetunion galten seine Schriften als zu bürgerlich und idealistisch. 1936 kamen seine Texte in der Sowjetunion auf den Index der verbotenen Schriften. In der westlichen Welt wurden sie lange Zeit als marxistische Propaganda unterschätzt. Erst 1962 (in der Zeit der Entstalinisierung) erschien in den USA eine Sammlung von Essays in englischer Übersetzung.38 Schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts schrieb Vygotskij: »[…] der Affe (Schimpanse) kann sinnvoll nur das nachahmen, was er selbstständig zu leisten imstande ist.«39 Kinder dagegen entwickeln in der Zusammenarbeit mit Erwachsenen alle spezifisch menschlichen Eigenschaften: das verbale Denken, die sprachliche Steuerung von Bewegungen, die willkürliche Aufmerksamkeit, das Lesen, Schreiben, Rechnen usw. Vygotskij benennt auch die Quelle dieser Entwicklung: die Nachahmung, »[…] die Möglichkeit, in der Zusammenarbeit eine höhere Stufe der intellektuellen Möglichkeiten zu erreichen, die Möglichkeit, von dem, wozu es nicht fähig ist, mit Hilfe der Nachahmung überzugehen.« 40 Darin liegt Vygotskij zufolge auch das Wesen des Unterrichts. Denn hier – und nur hier – wächst das Kind über seine biologischen Möglichkeiten hinaus: »Darauf beruht die ganze Bedeutung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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des Unterrichts für die Entwicklung, und das bildet auch den Inhalt des Begriffs der Zone der nächsten Entwicklung.«41 Ohne einen die Entwicklung beständig begleitenden Unterricht würden sich Menschen nur wenig von Menschenaffen unterscheiden. Dabei ist Unterricht keinesfalls an Schule gebunden. Immer wenn Kinder mit Hilfe Erwachsener oder älterer Kinder etwas tun, was in ihrer Zone der nächsten Entwicklung liegt, ist das Unterricht. Das widerspricht der landläufigen Vorstellung, aber auch der engeren Sicht der Schulpädagogik auf Unterricht: »In der Schulpädagogik und Didaktik wird Unterricht vorwiegend als eine an die Existenz moderner Bildungssysteme gebundene, institutionalisierte Form des Lehrens und Lernens begriffen.«42 Unterricht findet nicht nur dann statt, wenn Kinder sich in einer Schule aufhalten. Das zentrale Kriterium für Unterricht ist die Gewährung von Hilfen, die in der Zone der nächsten Entwicklung des Kindes liegen. Unterricht kann bekanntlich überall stattfinden: im Wald, im Park, in der Fabrik, im Theater, auf dem Spielplatz, in Museen, beim Lesen usw. Das bedeutet aber auch, dass das Vorhandensein einer Lehrperson und einer Schulbank im Klassenraum mit Blick an die Tafel längst noch keine Garantie dafür ist, dass Unterricht überhaupt stattfindet. Die elementare Voraussetzung dafür, dass ein Geschehen als Unterricht bezeichnet werden kann, ist die Tatsache, dass Lernende die Hilfen, die man ihnen im Unterricht zur Verfügung stellt, auch als solche erkennen.

Wer die Zuschreibung behindert oder defektiv aus dem sozialen Kontext heraus begreifen will, kommt seit den späten 1970er-Jahren nicht mehr an Vygotskij vorbei: Alle eindeutig psychologischen Besonderheiten des defektiven Kindes sind ihrer Grundlage nach nicht biologischer, sondern sozialer Natur. […] In unseren Händen liegt es, so zu handeln, dass das gehörlose, das blinde und das schwachsinnige Kind nicht defektiv

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sind. Dann wird auch das Wort selbst verschwinden, das wahrhafte Zeichen für unseren eigenen Defekt.43

Um den Sinn dieses Appells voll erfassen zu können, ist es hilfreich, sich mit der spezifischen Eigenart des kulturellen Lernens zu befassen. Sie besteht darin, dass kulturelles Lernen auf Zeichensystemen basiert. Das elementarste Zeichen ist die Zeigegeste. Hilfen erkennen und nutzen

Ein beliebtes Slapstick-Motiv: Ein Protagonist ist gerade dabei, sich zu verplappern. Wenn er nicht sofort damit aufhört, bringt er sich in Teufelsküche. Um ihn davor zu bewahren, stößt ihn jemand aufgeregt unter dem Tisch mit dem Fuß an. Der Protagonist ist jedoch so begriffsstutzig, dass er laut fragt: »Warum trittst du mich denn dauernd?« Dieser Slapstick funktioniert nur, weil wir davon ausgehen, dass Menschen in der Regel kleinste Hinweise erkennen und als Hilfe nutzen können. So genügt oft schon ein Blinzeln, ein Fingerzeig oder eine besondere Stimmfärbung im richtigen Augenblick, um dem Verhalten eines Menschen eine plötzliche Wendung zu geben. Nehmen wir an, eine Lehrperson fragt: »Darf man das?« Grundschulkinder werden versuchen – ohne über das Problem tiefer nachzudenken –, im Tonfall Hinweise zu finden, ob hier jetzt »Ja« oder »Nein« die erwartete Antwort wäre. Neben der Änderung des Tonfalls ist auch das Zeigen eine elementare Form des Hinweisens. Als Kinder machten wir uns den Spaß, in einer Nebenstraße auffällig auf das Fenster einer Ruine zu zeigen. Dann versteckten wir uns hinter einem Gebüsch. Alle nachfolgenden Passanten, die uns von Weitem gesehen hatten, schauten zu unserem Amüsement nahezu zwanghaft in das Ruinenfenster hinein. Zeigen ist eine Aufforderung zur geteilten Aufmerksamkeit. Schon einjährige Kinder, die noch nicht sprechen können, informieren andere Personen durch Zeigegesten.44 Tomasello beobachtete kommunikative Zeigegesten bei Kindern schon im Alter von 11–14 Monaten. Er führt dafür unter anderem folgende Beispiele an: Ein Kind zeigt … © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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auf ein Fenster, damit es geöffnet wird, auf eine Tür, weil der Papa vorhat, das Haus zu verlassen, auf ein Glas, das mit Wasser nachgefüllt werden soll, in die Richtung des Geräuschs eines nicht sichtbaren Flugzeugs, um die anderen darauf aufmerksam zu machen, –– auf einen Weihnachtsbaum, um Begeisterung auszudrücken, –– auf eine Stelle am Tisch, wo die Mutter den Kinderstuhl hinstellen soll usw.45 Den Kleinen geht es beim Zeigen nicht nur darum, etwas haben zu wollen. Sie wollen offensichtlich auch schon sehr früh die Aufmerksamkeit der Erwachsenen auf gemeinsame Themen lenken. Sie standen sicherlich schon einmal in einem Tierpark vor einem Affenkäfig und haben beobachtet, wie Besucher sich gegenseitig mit Zeigegesten auf besonders putzige Verhaltensweisen der Tiere aufmerksam machen. Nun drehen wir die Situation einmal um: Stellen Sie sich vor, wie plötzlich ein Affe im Käfig auf Sie zeigt. Es ist keine nach Futter bettelnde Gebärde. Sie bemerken es daran, dass jetzt auch alle anderen Affen im Käfig auf Ihr Gesicht schauen und mit dem Finger auf Sie zeigen. Sie hätten bestimmt das sehr mulmige Gefühl: Hier kann etwas nicht stimmen! Und – Sie hätten recht damit. Es ist in der Tat so, dass selbst Menschenaffen untereinander kaum Zeigegesten verwenden, um sich gegenseitig zu informieren. Nur in Gefangenschaft, wenn sie Menschen dazu bewegen wollen, ihnen Futter zu holen, lernen sie, Zeigegesten informativ einzusetzen. Einjährige Menschenkinder sind da viel informativer – und hilfsbereiter: Sie zeigen Erwachsenen spontan, wo etwas liegt, wenn sie bemerken, dass diese danach suchen. Wie Experimente nahelegen, verfolgen sie dabei keine weiteren Interessen, als der suchenden Person zu helfen.46 »Im Fall des Informierens zeigen sich also Unterschiede zwischen Kindern und Menschenaffen. Im Gegensatz zum instrumentalen Helfen kooperieren Menschen beim Austausch von Informationen auf Gebieten, auf denen Affen dies offensichtlich nicht tun.«47 Eine große Vergleichsstudie zur Intelligenz von Kleinkindern und Menschenaffen unter Leitung der Entwicklungspsychologin Esther © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Herrmann (Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig) zeigt, dass menschliche Intelligenz neu bewertet werden muss:48 Im Unterschied zu Schimpansen besteht die Intelligenz von Menschenkindern vor allem darin, dass sie Hilfen besser erkennen und nutzen können. 105 Zweieinhalbjährige Kinder (Altersdifferenz: plus/minus zwei Monate) traten gegen 106 Schimpansen (Durchschnittsalter: 10 Jahre) an. Um dieses Intelligenzduell mit unseren engsten Verwandten im Tierreich zu ermöglichen, entwickelte Herrmann spezielle Experimente. Unter anderen die Folgenden: 1. Wer erkennt die höhere Summe? Die Kinder sollten aus zwei Schalen diejenige auswählen, in der mehr Würfel liegen. Das können Zweieinhalbjährige in der Regel. Für die Schimpansen gab es Rosinen (einen Leckerbissen, dem sie nur schwer widerstehen können). Auch für Schimpansen ist es keine Hürde, die Schale auszuwählen, in der sich mehr Rosinen befinden. Hier schneiden Kind und Affe also gleich gut ab. 2. Wer nutzt das passende Werkzeug? Hinter einem Gitter lockt ein Spielzeug. Davor liegt ein Stöckchen, mit dem sich die Kinder das Spielzeug angeln könnten. Aber nicht allen Kindern gelingt das so problemlos wie Schimpansen. Um an ein leckeres Stück Banane heranzukommen, wissen sie das Werkzeug geschickt einzusetzen. Beim Gebrauch von Werkzeugen schneiden Kinder ein klein wenig schlechter ab als Schimpansen. (Das gilt auch für andere Aufgaben, wie zum Beispiel das Addieren unterschiedlicher Anzahlen.) 3. Wer erkennt den Hinweis? Die Belohnung steckt unter einem der Becher, die alle wie beim Hütchenspiel hin und her geschoben wurden. Es gibt jedoch einen Hinweis: einen Fingerzeig auf den Becher mit versteckter Belohnung. Kinder verstehen die helfende Geste sofort, Schimpansen dagegen nicht. Greift die Versuchsleiterin nach einem Becher, stürzen sich Schimpansen sofort darauf. Sie sehen in ihr offensichtlich eine Konkurrentin, die ihnen das Futter wegschnappen will. Zeigte die Versuchsleiterin jedoch nur auf den Becher, unter dem die Weintraube liegt, griffen Schimpansen in der Hälfte der Fälle nach dem falschen Becher. Gesten sind für © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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sie kein Hilfsangebot. Schimpansen verstehen nur egoistische Absichten. 18 Monate alte Kinder begreifen dagegen sofort, dass andere Menschen ihnen helfen und mit ihnen teilen wollen.

Abbildung 6: Gesten als Hilfsangebot: Die Versuchsleiterin zeigt auf den linken Becher mit versteckten Leckerbissen, der Schimpanse greift nach dem rechten.

4. Wer kann besser nachahmen? Die aufblasbare Hülle eines Luftballons steckt im Plastikröhrchen fest. Man führt Kindern vor, wie man sie durch Klopfen herauskriegen kann. Für Kinder kein Problem. Auch die Schimpansen schauen zu, wie man eine Bananenscheibe aus dem Röhrchen durch Klopfen herausbekommt. Doch die Demonstration beeindruckt sie eher wenig. Sie versuchen es auf ihre Weise mit Aufbeißen – doch ohne Erfolg. Auch im Lernen durch Imitation sind Affen den Kindern unterlegen. Auch wenn die Schimpansen beim klassischen Hütchenspiel wesentlich häufiger die versteckte Belohnung wiederfinden, in Zeigegesten erkennen sie keinen Hinweis. Imitation und Kommunikation ist offensichtlich das, was menschliches Lernen auszeichnet. Schimpan© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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sen kommen in ihrem natürlichen Lebensraum offensichtlich sehr gut ohne diese Fähigkeiten aus. Dafür brauchen sie ein gutes räumliches Verständnis, um genau zu wissen, wo sie Futter finden. Für Kleinkinder sind dagegen nonverbale Kommunikationsmittel, wie Zeigen und Nachahmung, wichtige Hilfen beim Lernen. In freier Wildbahn zeigen Schimpansen einfach nicht auf Futter, um einem anderen Schimpansen zu sagen: »Hier ist ein Leckerbissen! Ich bin satt. Du kannst ihn haben.« Schimpansen kooperieren nur, wenn sie selbst glauben, davon zu profitieren. In der Nachahmung sind Menschenkinder deutlich besser als die Affen. Auf diese Tatsache komme ich noch einmal zurück. Halten wir jetzt schon einmal fest: Kinder lösten etwa 75 % der Aufgaben zur Nachahmung, die Affen nur 33 %. Menschen sind also schon im zarten Alter von zweieinhalb Jahren unschlagbar in der Nutzung von sozialer Hilfe sowie im Deuten eines Fingerzeigs oder Augenmerks. Diese Experimente am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig verleihen Vygotskijs Theorem der Zone der nächsten Entwicklung neue Überzeugungskraft. Erst die den Menschenkindern angeborene Fähigkeit, Hilfen zu erkennen und zu nutzen, ermöglicht Unterricht. Wenn sich die institutionalisierte Form des Unterrichts in den Schulen zu sehr auf Vergleichsarbeiten und Tests konzentriert, läuft sie Gefahr, ihre eigene Grundlage aus den Augen zu verlieren.

Deshalb halte ich es für wichtig, im nächsten Abschnitt erst einmal die Wechselwirkung zwischen Unterricht und Entwicklung zu diskutieren, bevor ich den roten Faden des Helfens und der Nachahmung für das spezifisch menschliche Lernen wieder aufnehme. Unterricht als Entwicklungshilfe

Der grenzenlose pädagogische Optimismus der Aufklärung räumte dem Unterricht für die geistige Entwicklung eine bis dahin unbe© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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kannte Bedeutung ein. Der englische Aufklärer John Locke (1632– 1704) erfand dafür folgendes Bild: Nehmen wir also an, der Geist sei, wie man sagt, ein unbeschriebenes Blatt, ohne alle Schriftzeichen, frei von allen Ideen; wie werden ihm diese dann zugeführt? Wie gelangt er zu dem gewaltigen Vorrat an Ideen, womit ihn die geschäftige schrankenlose Phantasie des Menschen in nahezu unendlicher Mannigfaltigkeit beschrieben hat? Woher hat er all das Material für seine Vernunft und für seine Erkenntnis? Ich antworte darauf mit einem einzigen Worte: aus der Erfahrung.49

Einige meinen noch heute, dass der Mensch als unbeschriebenes Blatt zur Welt käme und sich nur durch äußere Anregung entwickeln könne. Das Kind entwickelt sich in dieser Vorstellung nicht aktiv von innen heraus, sondern passiv von außen bestimmt. Wäre es so, könnte man die biologischen Bedingungen des Lernens vernachlässigen: Es gibt nur eine Art zu lernen. Ein Lehrplan für alle! Was zählt, ist das Soziale. Individualität ist ein Vorurteil. Alle Kinder sind gleich. In diesem behavioristischen Modell erklären sich Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten aus schlechten Angewohnheiten, die sich durch Unterricht korrigieren lassen. Unterricht und Entwicklung fallen in diesem Modell zusammen. Zugespitzt formuliert: Das Kind ist nur so verständig und vernünftig, wie es ihm sein Unterricht erlaubt. Andere sind der Meinung, dass der Unterricht die natürliche Entwicklung des Kindes künstlich verfälscht. Das würde bedeuten, dass der Unterricht der natürlichen Entwicklung der Triebe und Instinkte Zügel anlegt, um eine immer bessere Anpassung an die Erwartungen der Kultur zu gewährleisten. Biologie und Soziales bilden in dieser Auffassung einen Gegensatz. Ein Beispiel dafür ist die psychoanalytische Gegenüberstellung von Lust- und Realitätsprinzip, ein anderes die Gegenüberstellung von Assimilation und Akkommodation in den Frühwerken Jean Piagets (1896–1980). Im Unterricht geht es dann vor allem um Disziplin und Verzicht. Wünsche und Träume müssen vor erreichbaren, kulturell anerkannten Zielen weichen. Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten wären hier die Folge von Anpassungsschwierigkeiten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Wieder andere meinen, dass Lernen und Entwicklung einen ganzheitlichen Prozess bilden. Ganzheitlich bedeutet hierbei, dass das Kind lernt, indem es sich entwickelt, und umgekehrt: dass es sich entwickelt, indem es lernt. Unterrichtsinhalte sind vergleichbar mit Werkzeugen für die Lebensbewältigung. Sie strukturieren das Wahrnehmungsfeld um. Das ist vergleichbar mit Kippbildern. Wenn zum Beispiel ein Schimpanse ein neues Werkzeug erspäht, zögert er zunächst eine Weile. Vielleicht kratzt er sich erst am Kopf, bevor er einen Aha-Effekt erlebt. So entdecken in diesem gestalt- oder strukturpsychologischen Modell auch Kinder den Nutzen kultureller Werkzeuge. Gemeint sind Kulturtechniken, wie zum Beispiel Lautsprache, Schrift, Mathematik usw. Biologisches und Soziales stehen in diesem Modell im Einklang. Hier erklären sich Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten aus einem Mangel an positiven Erfahrungen beim Gebrauch kultureller Werkzeuge. All diese Erklärungen beruhen zwar auf interessanten experimentellen Befunden, sie lassen jedoch wichtige Fragen offen: –– Wenn Lernende nur das Abbild ihres Unterrichts sind, wie kommen sie dann zu eigenen Entdeckungen und Erfindungen? –– Wenn die Lernenden im Unterricht ihre natürlichen Entwicklungsantriebe unterdrücken, warum haben sie dann mitunter so viel Freude am Lernen? –– Wenn die Lernenden nur über die Entdeckungen lernen, warum ist dann ihre Entwicklung so sehr von einem guten Unterricht abhängig? Diese Fragen erledigen sich von selbst, wenn wir Unterricht als gemeinsames Handeln in der Zone der nächsten Entwicklung verstehen. In dieser Auffassung eilt beim Menschen die soziale Entwicklung seiner biologischen Entwicklung voraus. Der kleine genetische Unterschied zwischen Mensch und Schimpanse äußert sich vor allem in der stärkeren Ausrichtung der Biologie des Menschen auf ein soziales Miteinander. Diese biologische Besonderheit ermöglicht eine spezifisch menschliche Kooperationsform, die wir Unterricht nennen. Tomasello bringt den Gedanken des Unterrichts als Entwicklungshilfe wie folgt auf den Punkt: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Es gibt eine Tatsache, die so offensichtlich ist, dass sie selten, wenn überhaupt jemals erwähnt wird. Wenn Kinder keinen Unterricht von Erwachsenen in Form von Sprache, Bildern und anderen symbolischen Medien erhalten würden, würden sie genauso viel über Dinosaurier wissen wie Platon und Aristoteles, nämlich überhaupt nichts. In der Tat, wenn Kinder den ganzen Tag allein herumliefen, wie es die Mitglieder mancher Primatenarten tun, würden sie nur wenig mehr als nichts über irgendeines der Themen wissen, woraufhin Entwicklungspsychologen heute ihren Sachverstand untersuchen, z. B. über Dinosaurier, Biologie, Baseball, Musik und Mathematik.50

Charakteristisch für diese Auffassung ist, dass man im Kind nicht nur ein biologisches Individuum sieht, das durch Unterricht allmählich sozialisiert wird. Diese Vorstellung mag für Schimpansenkinder in menschlicher Obhut zutreffen, für Menschen aber wird eher umgekehrt ein Schuh daraus: Das Kind ist aufgrund seiner biologischen Ausstattung von Anfang an ein soziales Wesen, das seine Individualität erst in der Kooperation mit anderen Personen entwickeln und ausdifferenzieren kann. Es ist wie beim Wettlauf von Hase und Igel: Von der Ziellinie aus winkt der heraneilenden biologischen Entwicklung immer schon etwas zu. Dieses Etwas ist im Idealfall eine vorbereitete soziale Umgebung voller Verheißungen und Erwartungen. Darum können es Kinder und Jugendliche oft kaum erwarten, älter zu werden. Damit es bei diesem Wettlauf weder zum Sturz noch zur Hetzjagd kommt, bedarf es natürlich einer bestimmten Lernkultur, in der ein ausgewogenes gegenseitiges Helfen die zentrale Rolle spielt. Bemühungen um die Standardisierung des Unterrichts über Lehrpläne vergessen, dass Lernhilfen nur in der komplizierten Wechselwirkung von biologischer Reifung und sozialer Lernkultur zünden können. Schon der griechische Komödiendichter Aristophanes (ca. 448–385 v. Chr.) wusste: Menschen bilden, bedeutet nicht, ein Gefäß zu füllen, sondern ein Feuer zu entfachen. Erst wenn der Funke überspringt, können Lehrende davon ausgehen, dass ihr Hilfsangebot einen Treffer in der Zone der nächsten Entwicklung Lernender gelandet hat. Solange das nicht der Fall ist, dürfte man streng genommen eigentlich auch nicht von Unterricht sprechen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Für Lern- und Verhaltensschwierigkeiten gibt es in diesem Unterrichtsverständnis zwei Gruppen von Ursachen: 1. Überforderung, wenn Unterrichtsbemühungen der Entwicklung zu weit vorauseilen, und 2. Unterforderung, wenn das Bemühen um Unterricht sich an den aktuellen Entwicklungsstand anpasst oder ihm gar hinterherhinkt. Beispiel: Bei einem siebenjährigen Jungen wurden Lernschwierigkeiten diagnostiziert. Deshalb schulte man ihn mit Einverständnis der Mutter in eine Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung ein. In einem Gutachten wurde ihm unter anderem eine schwache Merkfähigkeit bescheinigt. Folgender Befund diente dafür als Beleg: »Lieder kann er sich trotz ständiger Wiederholung noch nicht einmal mechanisch einprägen.« Aber für Sechs- bis Siebenjährige ist gezieltes mechanisches Einprägen schwierig, jedenfalls schwieriger als spontanes unwillkürliches Einprägen. Das machte mich stutzig. Piaget-Experimente, in denen es zum Beispiel um das Umgießen von Flüssigkeiten ging, löste der kaum Siebenjährige zunächst eher anschaulich. Gießt man beispielsweise die Flüssigkeit aus einem schmalen Gefäß in ein breiteres, gab er zunächst an, es sei weniger Flüssigkeit geworden. Bei wenigen helfenden Nachfragen schwenkte er jedoch sofort auf konkret operationale Lösungen um: »Äh, es ist gleich viel geblieben.« Dann legte ich ihm eine Bildgeschichte aus 33 Einzelabbildungen vor. Auf den Bildern ist zu sehen, wie Kinder auf einem Zeltplatz von einem Eichhörnchen in den Wald gelockt werden und sich verlaufen. Als ich ihn bat, eine Geschichte dazu zu erzählen, begann er zu singen – und zwar das Kinderlied Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. Da bemerkte er wohl meinen etwas erstaunten, vielleicht auch unzufriedenen Blick. Sofort beendete er den Gesang und erzählte: »Ach so, ja, da sind zwei Kinder und ihre Eltern. Die Eltern sagen: ›Lauft nicht so weit weg!‹« usw. Nachforschungen ergaben: In der Förderschule hatte man sich aufgrund des Gutachtens darauf beschränkt, mit ihm anhand von Bildkarten das Singen von Kinderliedern zu üben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Um Missverständnissen vorzubeugen: Dieser Fall ist nicht typisch für Förderschulen. Viele engagierte Sonderpädagoginnen und -pädagogen bemühen sich erfolgreich darum, Unterforderungs- und Überforderungssituationen in ihrem Unterricht zu vermeiden. Allerdings zeigt dieses Beispiel, wie defizitäre Diagnosen regelmäßig Unterforderungssituationen provozieren – sowohl in Förderschulen als auch in Integrationsklassen. Integrative und inklusive Schulformen haben zweifelsfrei den Vorteil, dass sie flexibler auf solche Fehleinschätzungen reagieren können. Wenn Inklusion jedoch mehr als Integration sein soll, ist der flexiblere Umgang mit defizitären Diagnosen viel zu wenig. Defizitäre Sichtweisen auf die Entwicklung sollten dann generell der Vergangenheit angehören. Die Voraussetzung dafür wäre jedoch eine neue Lernkultur: die Anerkennung des Hilfebedarfs aller Lernenden und der Pluralität aller möglichen Entwicklungsverläufe als Normalfall.

Eltern von Kindern, bei denen man eine Beeinträchtigung diagnostiziert hatte, fragen oft: Wie soll sich mein Kind entwickeln, wenn es in der Sonderschule nur Kinder vorfindet, deren Entwicklung ebenfalls beeinträchtigt ist? Wie soll es da geeignete Vorbilder zur Nachahmung finden? Eltern von Kindern ohne Beeinträchtigungen fragen sich dagegen: Was passiert, wenn mein Kind unerwünschte Verhaltensweisen von beeinträchtigten Kindern nachahmt? Können wir das verantworten? Schon Vorschulkinder sind im Nachahmen geschickter und motivierter als Menschenaffen. Das belegen Experimente (siehe Kapitel Hilfen erkennen und nutzen). Doch welche kulturelle Bedeutung hat Imitationslernen wirklich? Ein genauerer Blick auf diesen kleinen Unterschied zwischen Mensch und Affe lohnt sich.

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Lernen durch Nachahmung Der kleine Unterschied

Der amerikanische Psychologe Winthrop Kellogg (1898–1972) kam im Jahre 1931 auf eine abenteuerliche Idee: Er adoptierte das sieben Monate alte Schimpansenmädchen Gua als Schwester für seinen zehn Monate alten Sohn Donald. Seine Frau und er bemühten sich redlich, möglichst keine Unterschiede zwischen beiden zu machen. Sie ließen sie im gleichen Bett schlafen und gaben ihnen auch die gleichen Spielsachen. Ihre Hoffnung war, Gua würde sich so wie ihr Sohn zu einem menschlichen Kulturwesen entwickeln.51 Es passierte jedoch das genaue Gegenteil: Die Geschwisterliebe zwischen beiden führte dazu, dass Donald sich Gua zum Vorbild nahm. Mit 19 Monaten konnte er eine Serie unterschiedlicher Keuchlaute ausstoßen, so wie ein richtiger Schimpanse. Allerdings beherrschte der damals Eineinhalbjährige statt der erwarteten fünfzig englischen Wörter nur drei. Deshalb gerieten die Kelloggs in Panik und beendeten das Experiment. Da ihr Sohn Donald immerhin später erfolgreich Medizin in Harvard studierte, hielt sich der vermeintliche intellektuelle Schaden wohl in Grenzen. Emotionale Folgen lassen sich jedoch nur schwer ausschließen. Nicht zuletzt deshalb würde wohl heute jede Ethikkommission zu Recht Experimente dieser Art ablehnen. Trotzdem ist der Ausgang des Experiments sehr lehrreich: Die drei Monate jüngere Gua glänzte schon sehr früh mit intellektuellen Fähigkeiten. Sie entwickelte nahezu menschlich wirkende Manieren: Sie gab einen Kuss, um sich zu entschuldigen; sie machte sich bemerkbar, wenn sie auf Toilette musste; sie reichte mithilfe eines Küchenstuhls an hohe Schränke heran usw. Gua beeindruckte Donald durch Kraft, Sensibilität und Geschicklichkeit. Der bessere Imitator aber war eindeutig Donald. Experimente zeigen immer wieder: Affen vergeuden kaum Zeit mit umständlichem Imitationslernen. Dafür glänzen sie mit Geschick und Geduld beim Ausprobieren. Tomasello unterscheidet zwei Lernformen: das für Schimpansen typische Lernen durch Nachbildung (Emulationslernen) und die für Menschen typische kulturelle Nachahmung (Imitationslernen).52 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Der Hang zur Nachahmung ist sowohl bei Drei- als auch bei Fünfjährigen vorhanden. Dreijährige sind im Imitationslernen jedoch noch unsicherer als Fünfjährige, die zumeist alles auf die Karte des Imitationslernens setzen. Dreijährige greifen da schon eher auf Strategien des Emulationslernens zurück. Offensichtlich entwickelt sich Imitationslernen tatsächlich stufenweise.53 Die Imitationsleistung von Kindern wächst mit zunehmendem Alter. Unterwegs gibt es viele Hürden. Zum Beispiel müssen Kleinkinder die Koordination der Eigenwahrnehmung aus Muskelspindeln mit Gleichgewichts- und Sehsinn erst mühsam lernen.54 Nicht jede beobachtete Handlung lässt sich automatisch nachahmen. Das zeigt eindrucksvoll ein in verwaschenen Graustufen flimmernder Stummfilm. Aufgenommen hat ihn der Gestalt- und Strukturpsychologe Kurt Lewin (1890–1947). Dieser Filmklassiker aus dem Jahre 1929 trägt den Titel Hanna und der Stein.55 Die eineinhalbjährige Hanna steuert auf noch wackeligen Beinen auf einen Stein zu, betastet ihn gründlich mit beiden Händen. Sie will sich auf den Stein setzen, doch immer wieder landet ihr Po im Gras, knapp neben dem Stein. Es ist wie verhext: Kaum wendet sie dem Stein ihren Rücken zu, verschwindet er aus ihrem Sehfeld. Der Film dokumentiert, wie Hanna nicht müde wird, zu üben: den Stein fixieren, sich umdrehen und – ups: Der Stein ist wieder weg. Dabei sieht es doch bei anderen so einfach aus.

Abbildung 7: Emulation statt Imitation: Ein Eineinhalbjähriger visiert den Stein durch seine Beine hindurch an, auf den er sich setzen will.

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Lewins Film zeigt auch, wie ein Junge in Hannas Alter das Problem löst: Er setzt nicht auf Nachahmung, sondern auf Emulation. Erst beugt er sich nach unten, dann visiert er den Stein durch die Beine hindurch an und manövriert nun seinen Po auf die Sitzfläche, ohne ihn dabei jemals aus den Augen zu verlieren. So würden es auch Schimpansen hinkriegen. Auch Menschen lernen durch Nachbildung. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Gelegenheiten zur Nachahmung fehlen, wenn Nachahmung überfordert, wenn Muße zum Selbstausprobieren vorhanden ist oder etwas Neues gesucht wird. Emulationslernen ist jedoch für Menschen eher die zweite Wahl.

Trotzdem ist Emulationslernen aus unserem Alltag nicht wegzudenken: Wie würden Sie ein Billyregal von Ikea aufbauen, genau nach Anleitung oder eher emulativ? Lesen Sie bei jedem Computerprogramm die Installationsanleitung oder starten Sie die Installation einfach, um erst einmal zu sehen, wie weit Sie kommen? Wenn Wissenschaft Neuland beschreitet, gibt es nichts zu imitieren. Forschung wäre ohne Emulationslernen undenkbar. Auch in der Kunst ist Emulation von großer Bedeutung. Sogar viele Puzzle- und Konstruktionsspiele basieren auf Emulationslernen. Auch wenn unsere Neigung zur Imitation groß ist – Emulation ist uns alles andere als fremd. Dasselbe gilt mit ausgetauschten Vorzeichen für Schimpansen: Auch sie imitieren – aber ihre Neigung dazu ist gering. Sie bevorzugen die Emulation. Sie eifern anderen nach, in dem sie geduldig versuchen, einen beobachteten Effekt nachzubilden. Vermutlich handelt es sich um einen kleinen genetischen Unterschied, der Menschen eher zur Imitation und Schimpansen eher zur Emulation neigen lässt. Wie bei Donald und Gua wächst sich dieser feine Unterschied in Auseinandersetzung mit der Umwelt allmählich zu einer gewaltigen Kluft aus. Ich stelle mir das so vor wie bei einer mathematischen Operation, deren Ergebnis man immer wieder auf sich selbst anwendet.56 Ein Beispiel ist folgende quadratische Iteration: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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a0=1; an+1=an2. Gebe ich in einen Taschenrechner als Anfangswert eine Eins ein und drücke immer wieder auf die Funktion Zum Quadrat, ändert sich überhaupt nichts, denn Eins zum Quadrat bleibt Eins, egal wie oft ich das Quadrieren wiederhole: (((…((12)2)2…)2)2)2 = 1. Erhöhe ich den Anfangswert jedoch um einen Kleinstbetrag, sagen wir auf Eins-Komma-Null-Null-Eins, sieht alles anders aus. Der Unterschied zum Anfangswert wächst und wächst. Nach 19 Wiederholungen des Quadrierens habe ich schon eine Zahl mit elf Nullen, nach zwanzig Wiederholungen eine Zahl mit 22 Nullen usw. Ein winziger Unterschied hinter dem Komma kann also riesige Folgen haben. Der kleine genetische Unterschied zwischen Donald und Gua, zwischen Mensch und Schimpanse, zwischen Imitations- und Emulationsneigung, zwischen Lernen durch Nachahmung und Lernen durch Nachbildung, könnte ein ähnlich kleiner Unterschied mit riesigen Folgen sein. Viele Experimente in den letzten Jahrzehnten liefern dafür wertvolle Belege. Imitationslernen

Schon zweijährige Menschenkinder gebrauchen Werkzeuge so, wie es ihnen vorgemacht wurde, selbst wenn die Vorführung offensichtlich überflüssige, nicht zielführende Elemente enthält. Schimpansen suchen dagegen – unbeeindruckt von der Vorführung – nach der effizientesten Methode.57 Beispiel: Erwachsene führen einem Vorschulkind vor, wie es mit einem Stock an eine Süßigkeit herankommt. Doch das ist erst die zweite Szene der Vorführung. Vorher, das ist Szene eins, schwenken sie den Stock so herum, als würden sie einen kleinen Schwerttanz aufführen. Kinder ahmen sowohl Szene eins, den unnützen Schwerttanz, als auch Szene zwei nach, die Szene, die zur Belohnung führt. Schimpansen dagegen lassen Szene eins einfach weg. Sie kommen gleich zur Sache und holen sich ihren Leckerbissen mit dem Stock. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Zu den gleichen Ergebnissen kommt eine Mitarbeiterin des weltberühmten Zoologen Frans de Waal vom Yerkes Primate Center der Emory University in Atlanta. Seit den 1980er-Jahren erforscht de Waal intensiv das kulturelle Miteinander von Schimpansen. Er sieht in ihnen durchaus so etwas wie »wilde Diplomaten«58 und belegte experimentell, dass Schimpansen durchaus hilfsbereit sind. Die ausgeprägte Hilfsbereitschaft des Menschen hat sich eben nicht erst nach der Trennung von der Schimpansenlinie entwickelt.59 Allerdings erreicht sie beim Menschen durch Imitationslernen eine höhere Qualität. Frans de Waals Kollegin, die Tierpsychologin Victoria Horner,60 eine sportliche junge Frau mit blondem Pferdeschwanz und freundlichem Blick, findet mühelos einen direkten Draht zu Kindern und Schimpansen. Sie hat Kinder auf der ganzen Welt getestet und deren Lernstrategie mit wild lebenden Schimpansen verglichen. Auch sie kommt zu dem Ergebnis: Schimpansen folgen beim Lernen dem direkten Weg zum Erfolg. Menschenkinder folgen dagegen akribisch jedem Umweg zum Ziel, den man ihnen vorführt. Menschenkinder imitieren Verhaltensweisen auch dann, wenn sie sehen können, dass diese nicht zielführend sind. Die Abkürzung dagegen ignorieren sie. Menschenaffen sind da viel raffinierter. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, wählten zwei Drittel der Schimpansen den direkten Weg ohne überflüssigen Schnickschnack. Dass die scheinbar sinnlosen Imitationen der Menschenkinder kein Verständnisproblem sind, konnte ein Forschungsteam um Ben Kenward61 von der Universität Uppsala zeigen: An einem recht einfachen Murmelspender führten Erwachsene den Kindern eine umständliche Lösungsstrategie vor. Sie zogen beispielsweise erst am Hebel eines sichtbar leeren Murmelspenders, bevor sie den richtigen betätigten. Das Ergebnis: Wie erwartet, neigen Kinder regelmäßig dazu, es den Erwachsenen gleich zu tun. Haben sie den Mechanismus nicht richtig verstanden? Nein, die physikalische Wirkung verstehen sie in den meisten Fällen. Sie ist ihnen aber völlig schnuppe. Sie interessiert vor allem das Wie. Die Kinder imitieren die unnötige Handlung, weil sie im Gegensatz zu Schimpansen Interesse und Freude an der Nachahmung willkürlicher Vorführungen haben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Experimente anthropologischer Forschung bestätigen für spezifisch menschliche Lernkulturen immer wieder: Die Kernkompetenz des Menschen liegt nicht im geduldigen Problemlösen, sondern in der auf Perspektivübernahme beruhenden Imitation.

Das ist der kleine genetische Unterschied. Um das sprichwörtliche Nachäffen unserer nächsten Verwandten im Tierreich ist es verblüffend schlecht bestellt. Selbst die Geistesriesen unter den Menschenaffen, die Schimpansen, lernen von anderen eher das Was als das Wie. Der unbewusste Drang zur Nachahmung

Die Redewendung »Alle Affen machen nach« beruht sicherlich auf Beobachtungen von Affen in Gefangenschaft. Bei Lernvorgängen in freier Wildbahn zeigen selbst Schimpansen wenig Geschick und Interesse an Nachahmung. Imitation ist für sie offensichtlich Zeitverschwendung. Bei der Futtersuche zählen vor allem das Was und das Wo. Wie sie sich dann ihren Leckerbissen angeln, lernen sie durch geschicktes und geduldiges Ausprobieren. »Imitation oder ›Lernen durch Zuschauen‹ wurde lange Zeit als primitive Lernform im Sinne des ›Nachäffens‹ angesehen und dem Einsichtslernen gegenübergestellt. Heute wird Imitation als höhere Form des Lernens angesehen«,62 resümiert der Biologe und Hirnforscher Gerhard Roth das gegenwärtige Umdenken in der Wissenschaft. Zwar können Schimpansen viele Intelligenztestaufgaben genauso gut lösen wie kleine Kinder (manchmal sogar besser). Aber sobald es um Imitation und andere soziale Anforderungen geht, sind kleine Kinder in der Lage, Schimpansen alt aussehen zu lassen.63 Die unbewusste Neigung zur Imitation eines Gegenübers bleibt beim Menschen bis in das Erwachsenenalter erhalten. Das zeigte ein Forschungsteam um den Neurowissenschaftler Richard Cook vom University College London.64 45 Erwachsene, kombiniert zu verschiedenen, untereinander wechselnden Paaren, spielten in je sechzig Runden das Spiel Schere, Stein, Papier. Sie sollten dabei möglichst viele Punkte sammeln. Schließlich brachte ihnen jeder Punkt einen kleinen Geldbetrag ein. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Dieses Spiel ist mathematisch sehr gut erforscht. Der geniale Mathematiker österreichisch-ungarischer Herkunft John von Neumann (1903–1957) entwickelte das Konzept des modernen Computers und ist der Begründer der Spieltheorie, von der an späterer Stelle noch die Rede sein wird. Sie hilft bei der Strategiewahl in Konfliktund Entscheidungssituationen. Im Falle des Spiels Schere, Stein, Papier kann man sich in folgender Tabelle einen Überblick über die Gewinnchancen aus der Sicht einer spielenden Person verschaffen: Person 2 Schere Person 1

Papier

Stein

P1

P2

P1

P2

P1

P2

Schere

0

0

1

-1

-1

1

Papier

-1

1

0

0

1

-1

Stein

1

-1

-1

1

0

0

Es handelt sich um ein echtes Nullsummenspiel, weil die Summe der Gewinne und Verluste der beiden spielenden Personen zusammen immer gleich Null ist. Die für Person 1 erstrebenswerten Felder sind in der Tabelle grau unterlegt: Schere schneidet Papier, Papier umwickelt Stein und Stein schleift Schere. Welche Strategie sichert ein Maximum der erstrebten Fälle? Wenn Person 1 nun eine reine Strategie wählt, zum Beispiel immer nur die Gebärde für Stein zu zeigen, ist das keine gute Idee. Person 2 wird bald dahinter kommen und nur noch die Gebärde für Papier wählen. Das Gleiche würde bei jeder anderen Geste passieren, auf die sich Person 1 festlegt. Auch die Strategie, zu versuchen, immer die gleiche Figur wie Person 2 zu zeigen, ist nicht rational, weil sie nur zur Pattsituation führt. Die einzige Gewinn versprechende Strategie ist das Zufallsprinzip, die sogenannte gemischte Strategie: In einem Drittel der Fälle die Geste für Schere, in einem Drittel der Fälle die Geste für Papier und in einem Drittel der Fälle die Geste für Stein zu zeigen. Diese © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Strategie ist so einfach, dass man sie mit geschlossenen Augen spielen könnte. Genau das machte sich Cook zunutze. Hier sind seine experimentellen Ergebnisse: Wenn ein Paar Schere, Stein, Papier mit verbundenen Augen spielte, zeigen die beiden Mitspielenden wie erwartet die gemischte Strategie. Nicht aber, wenn eine der beiden mitspielenden Personen ihre Augenbinde abnimmt. Diese Person ohne Augenbinde formte nun häufiger dieselbe Figur wie die Person mit der Augenbinde – und zwar häufiger, als eine Zufallsverteilung es zulässt. Diese Studie zeigt: Schon eine halbe Sekunde Verzögerung genügt, um bei uns Menschen die unbewusste Neigung zur Imitation auszulösen. Da diese reflexartige Imitation bei uns auch dann auftritt, wenn sie uns Nachteile bringt, scheint sie wirklich angeboren zu sein. Die scheinbare Energieverschwendung des Nachahmens hat also einen großen Vorteil: So erlernen Menschen die komplizierten kulturellen Regeln der Sprache, der Schrift, der Mathematik usw. Deshalb ist es auch für Kinder mit Beeinträchtigungen und sozialen Benachteiligungen so wichtig, nicht ausgegrenzt zu werden. Natürlich ist Dabeisein nicht alles. Aber ohne dabei sein zu dürfen, ist alles nichts.

Natürlich gibt es auch viele problematische Nebeneffekte des Imitationslernens, beispielsweise: lächerliche Modeströmungen, gedankenloses Nachbeten von Meinungen und das Festhalten an überholten Konventionen. Der Vorteil wiegt jedoch schwerer. Anthropologen bezeichnen diesen Vorteil anschaulich als »Wagenhebereffekt«:65 Keine Generation beginnt bei null. Auf den Schultern der vorangegangenen Generation sammelt jede heranwachsende Generation ihre eigenen Erfahrungen. Im günstigsten Fall fügt sie dem bestehenden Stand an Wissen und Können neue kulturelle Errungenschaften hinzu.

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Sozialorgan Gehirn Kinder lieben bekanntlich Als-ob-Spiele: Mit Kreide gezeichnete Linien gelten ihnen als unüberwindbare Mauern, Äste dienen ihnen als Laserschwerte, Sand kredenzen sie als leckere Speise, Blumenkränze tragen sie wie die diadembesetzte Krone einer verwunschenen Feenprinzessin und Steine steuern sie über den Boden im Sandkasten, als handele es sich um Unterseeboote, die sich ihren Weg durch bizarre Korallenriffe bahnen. […] Fragt man sie danach, zeigt sich, dass ihnen vollkommen klar ist, dass der Sandkasten kein Korallenriff und die gespielte Feenprinzessin nicht wirklich verwunschen ist.66

Wie ist das bei Tieren? Zwar kann man sensomotorische Übungsspiele bei verschiedenen Säugetierarten beobachten: Delfine erzeugen im Wasser bizarre Ringe und andere komplizierte Luftgebilde.67 Bei wild lebenden Schimpansinnen wurde im Kibale-Nationalpark in Uganda sogar beobachtet, wie sie Stöcke von Zeit zu Zeit in ihren Armen wie Babys wiegten.68 Einem Vergleich mit dem Einfallsreichtum der Spiele von Menschenkindern halten tierische Spiele jedoch keinesfalls stand. Es gibt eine auffällige zeitliche Übereinstimmung zwischen Gehirn- und Spielentwicklung. Das Stirnhirn des Menschen vergrößert sich schubweise: einmal bis zum vierten Lebensjahr und noch einmal zwischen dem siebten und achten Lebensjahr.69 In diesen Altersstufen finden auch die Übergänge zwischen Sujet- und Rollenspiel (circa zwei bis vier Jahre) und Rollen- und Regelspiel (circa fünf bis sieben Jahre) statt.70 Die großen Frontallappen im Gehirn des Menschen unterscheiden sich auch deutlich von denen der Bonobos, Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans.71 Die Reifung der vorderen Bereiche des Stirnhirns ist beim Menschen erst mit dem Ende des Jugendalters abgeschlossen. Es handelt sich also um die Struktur mit der längsten Entwicklungsgeschichte sowohl in der Evolution des Menschen als auch in seiner Individualentwicklung. Eine Studie aus dem Jahre 2010 liefert weitere Indizien: Das Team um den Kinderneurologen Jason Hill an der Washington University © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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in St. Louis deckte Parallelen zwischen der Hirnevolution und der individuellen Hirnentwicklung auf. Hirnscans von 12 Neugeborenen und 12 jungen Erwachsenen ergaben folgendes Bild: Die Großhirnrinde ist bei Neugeborenen ähnlich kompliziert gefaltet wie bei Erwachsenen. Sie besitzt aber nur ein Drittel der Oberfläche. Die Entwicklung nach der Geburt ist uneinheitlich: Große Teile der Schläfen-, Scheitel- und Stirnlappen, die maßgeblich mit der Steuerung der Aufmerksamkeit und der Verarbeitung kultureller Zeichen zu tun haben, erweitern sich fast um das Doppelte im Vergleich zu anderen Hirnzentren.72 Nach der Geburt ähnelt die Struktur der ausgereiften Teile der Großhirnrinde von Menschen der von Tieraffen (Makaken). Auf das Wachstum der nach der Geburt reifenden Regionen besitzen nachgeburtliche Erfahrungen demnach einen großen Einfluss. Diese Erfahrungen sind hauptsächlich Beziehungserfahrungen mit der geteilten Aufmerksamkeit von Eltern und Kindern. Im Stirnhirn befinden sich auch die sogenannten Spiegelneuronen. In seinem Buch Empathie und Spiegelneurone73 berichtet Giacomo Rizzolatti, wie er in den 1980er- und 1990er-Jahren zusammen mit seinem Team an der Universität in Parma (Italien) Elektroden in das Frontalhirn von Makaken (Meerkatzen) einführte. Ziel seiner Untersuchung waren Nerven, die bei Greifbewegungen Impulse an die Hand weitergeben. Bei diesen Untersuchungen überraschte ihn folgende Beobachtung: Bestimmte Nerven im Stirnhirn des Affen feuerten, obwohl er gar keine Greifbewegung ausführte. Die Ursache war bald geklärt: Der Affe hatte die Greifbewegung eines Menschen beobachtet. Unter dem Namen Spiegelneurone erlangte diese Art von Nerven weltweite Berühmtheit. Auch im menschlichen Stirnhirn gibt es Spiegelneurone im prämotorischen Kortex, die sich von beobachteten Bewegungsmelodien anderer Personen anstecken lassen, als wären es eigene Bewegungen. Auch unser Sprechzentrum (Broca) gehört zum prämotorischen Kortex. Schließlich ist Sprechen ja auch eine motorische Handlung, die neben ihrer akustischen auch eine Bewegungsmelodie besitzt. Das menschliche Empathie-System umfasst jedoch mehr: einerseits das Erkennen von Gefühlen, Gedanken und Absichten bei Mitmenschen, andererseits aber auch die Fähigkeit zum Mitleiden. Im © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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menschlichen Gehirn sind an diesem System neben dem Stirnhirn auch Teile des limbischen Systems sowie Bereiche des Scheitel- und Schläfenlappens beteiligt.

Abbildung 8: Teile des Spiegelneuronen-Systems beim Menschen: aktive Bereiche des Hinterhaupt-, Scheitel- und Stirnlappens beim Erkennen einer Handlung.

»Unglücklicherweise wird dieses cortikale System oft als ›Spiegelneuronen-System‹ bezeichnet«, beklagt der Hirnforscher Gerhard Roth, »in Anlehnung an die bei Makakenaffen entdeckten und dort genauer untersuchten Spiegelneuronen. […] Die Spiegelneuronen haben bei Makaken nämlich nichts mit Empathie zu tun […]«74 Makaken zeigen kaum Mitleid oder die Fähigkeit, Absichten anderer zu entschlüsseln. Emotionale Ansteckung und subjektive Perspektivübernahme haben aber offensichtlich evolutionäre Vorläufer in den Nervensystemen unserer evolutionären Verwandtschaft. Beim Menschen sind Mitgefühl und Perspektivübernahme angeborene Tendenzen. Sie sind vergleichbar mit unserer Neigung, in Tintenflecken und knorrigen Bäumen Gestalten zu erkennen. Allerdings ist bei

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den meisten Menschen die Freude an Rohrschachtests, Bleigießen und Kippbildern kaum eine Konkurrenz zur Freude an emotionaler Ansteckung und Perspektivübernahme. Als beredte Zeugen seien Theater, Filmkunst und Romane angeführt. Solche Tendenzen unseres zentralen Nervensystems können wir wie eine Sinnesfunktion verkümmern lassen oder zu höchster Präzision weiterentwickeln.

Lernen durch Nachbildung Emulationslernen

Nicht nur Schimpansen sind beim Lernen Grenzen gesetzt. Auch sie können uns Menschen bei bestimmten Aufgaben vor Augen führen, wo unsere Grenzen liegen. Das japanische Forschungsteam Sana Inoue und Tetsuro Matsuzawa von der Universität Kyoto zeigt, dass fünfjährige Schimpansen bessere Gedächtnisleistungen haben als Menschen. Mit einem spektakulären Experiment demonstrieren sie, in welchem Maße das Schimpansengedächtnis dem menschlichen Gedächtnis überlegen sein kann.75

Abbildung 9: Siebenjähriger Schimpanse als Gedächtniskünstler – Ayumu tippt Zahlen in korrekter Reihenfolge an, selbst wenn sie nach 210 ms verdeckt werden.

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Schimpansenmütter mit Kind wetteiferten mit Universitätsstudenten. Auf einem Bildschirm sahen sie die Ziffern 1 bis 9 in Zufallsanordnung, die dann nach 210 bis 650 Millisekunden von weißen Quadraten verdeckt wurden. Aufgabe war, die Vierecke auf dem Touchscreen in der richtigen Reihenfolge der Nummern anzutippen. Unabhängig von der Dauer der Präsentation der Ziffern waren Schimpansenkinder meist besser als ihre Mütter. Bei den Studenten nahm der Anteil der korrekten Versuche dramatisch ab, je kürzer die Zahlen auf dem Bildschirm zu sehen waren. Der Star im Zahlenmerken war Ayumu, der sieben Jahre alte Sohn der Schimpansendame Ai. Unabhängig von der Präsentationsdauer lag er fast immer richtig. Die Studierenden kamen da nicht mit. Die ausgeprägten Fähigkeiten der Schimpansen im Emulationslernen stehen im starken Kontrast zu ihren geringeren Fähigkeiten im Imitationslernen. Dieser Kontrast erinnert an eine tief greifende Entwicklungsstörung bei Menschen: Bezeichnenderweise haben autistische Kinder biologische Defizite bei genau jenem Komplex von Fertigkeiten, auf den wir uns hier konzentrierten. Sie haben Schwierigkeiten mit einer Reihe verschiedener Fertigkeiten, die gemeinsame Aufmerksamkeit erfordern, sie haben Probleme beim Imitationslernen, sie machen normalerweise keine symbolischen Spiele, sie scheinen nicht dieselbe Art von Selbstverständnis zu haben wie Kinder, die sich normal entwickeln, und sie haben Schwierigkeiten damit, sprachliche Symbole zu lernen und in kommunikativ angemessener Weise zu verwenden.76

Unter zweihundert Menschen mit der Diagnose Autismus findet man circa ein bis zwei Personen mit einer Inselbegabung, die noch viel erstaunlicher ist als die Merkfähigkeit von Ayumu. Ich lernte beispielsweise einen Schüler einer Geistigbehindertenschule kennen, der in der Lage war, beim Anhören seiner Lieblingskassetten genau vorherzusagen, was auf der anderen Seite zu hören war. Man konnte die Tonbandkassette an einer beliebigen Stelle stoppen und umdrehen. Auf die Frage: »Was kommt jetzt?« antwortete er mit traumwandlerischer Sicherheit – und zwar mit genau dem Text oder den Geräuschen, die dann nach Druck der Wiedergabetaste zu hören waren. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Andere können die Anzahlen großer Mengen von Hunderten Stäbchen oder Plättchen simultan erfassen, ohne auch nur den Anflug eines Verständnisses für Rechenoperationen zu zeigen. Diese Inselbegabungen sind zwar selten, aber es gibt sie in verschiedenen Bereichen, auch auf den Gebieten der bildenden Kunst, Musik und Mathematik. Immer zeichnen sie sich jedoch durch ein ungewöhnliches Interesse für Details und eine starke Leidenschaft für Wiederholungen aus. Eine beliebte Erklärung dafür lautet: fotografisches Gedächtnis. Dass dies jedoch nicht so einfach ist, zeigt die Psychologin Beate Hermlin, Professorin am Institut für Psychiatrie der Universität London. Seit Jahrzehnten erforscht sie den Zusammenhang zwischen Autismus und außergewöhnlichen Begabungen. Sie beschreibt beispielsweise liebevoll die vierzigjährige Kate, die kaum mit anderen Personen spricht, dennoch beeindruckende Gedichte schreibt. Sie dokumentierte auch die atemberaubenden Fähigkeiten von Sonderschülern wie Noel und Stephen. Noel Patterson spielt komplizierte Musikstücke nach einmaligem Hören perfekt auf dem Klavier nach. Stephen Wiltshire fertigt unglaublich präzise Zeichnungen an, die bis ins kleinste Detail komplexe Gebäude abbilden und sogar ganze Stadtansichten, beispielsweise von New York, Madrid, London, Los Angeles, Rom und Moskau. Mit ausgeklügelten Experimenten durchleuchtet Hermlin die scheinbar unerklärlichen Fähigkeiten. Ihre Ergebnisse enthalten interessante Hinweise dafür, dass Emulationslernen auch für Menschen unter bestimmten Umständen eine sehr erfolgreiche Lernstrategie sein kann. Beispiel: Bei dem zum Zeitpunkt der Untersuchungen zwanzigjährigen Michael wurde eine schwere Form von Autismus (KannerSyndrom) diagnostiziert. Obwohl er nicht spricht, erreicht er bei geeigneten nicht-sprachlichen Intelligenztests einen IQ von 128. Er reagiert weder auf Worte noch auf Gesten. Er notiert sich jedoch sehr gern große Zahlen, die er im Kopf addieren, multiplizieren, subtrahieren und dividieren kann. Er lebt in einer geschützten Wohngruppe und webt Stoffe mit erstaunlich komplexen Mustern. Seine Eltern – beide haben einen Universitätsabschluss in Mathematik – bemerkten sehr früh seine ungewöhnlichen Rechenfertig© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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keiten. Mit Primzahlen wurde Michael jedoch erstmals während des Experiments konfrontiert. Hermlin gab Michael Zahlenspiele in schriftlicher Form. Die Spiele erforderten das Zerlegen von Zahlen in möglichst kleine Faktoren. Dass Primzahlen die kleinstmöglichen Faktoren sind, begriff er im Nu. Zum Vergleich traten Studierende der Mathematik gegen ihn an. Sie nutzten zur Berechnung von Primzahlen das sogenannte Sieb des Eratosthenes. 77 Michael zerlegte von dreißig Zahlen 22 richtig, die Studierenden nur 18. Michael schaffte die Zerlegung einer Zahl in Primzahlen durchschnittlich in einer Sekunde, die Studierenden brauchten 11,5 Sekunden.78 Hermlins Auswertungen von Fehlermustern und Zeitprofilen legen nahe, dass Michael eine intuitive, nicht-sprachliche Form der oben beschriebenen Eratosthenes-Strategie entwickelt hat. Damit konnte sie überzeugend belegen, dass es sich nicht um ein mechanisches Einprägen handelt. Sie kam im Gegenteil zu dem Ergebnis, dass Menschen mit Inselbegabungen ähnliche Methoden entwickeln wie Mathematiker. Sie sind nur schneller und machen weniger Fehler. Hinter Phänomenen des sogenannten fotografischen Gedächtnisses bei Autismus verbergen sich ausgeklügelte Strategien des Emulationslernens. Aufgrund bestimmter neurologischer Bedingungen sind Menschen gezwungen, nach eigenen Lernwegen zu suchen. Wenn es ihnen gelingt, können sie auch andere ermutigen, nach originelleren Wegen des Lernens zu suchen. Dieses kreative Potenzial wird leider zu selten erkannt. Lernen im Gleichschritt ist die wohl häufigste Barriere für Inklusion.

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Der US-amerikanische Neurologe Vilayanur Ramachandran79 suchte im Hirnstrombild (Elektroenzephalographie, kurz: EEG) von Menschen bestimmte Wellenfrequenzen, die sich wie Spiegelneuronen verhalten. Er fand eine bestimmte Art von Wellen, die bei Personen genau dann unterdrückt werden, wenn diese eine andere Person © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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beobachten. Bei Menschen mit der Diagnose Autismus blieb dieser Effekt jedoch aus. Deshalb vermutet man, dass bei Menschen mit Autismus das Stirnhirn nicht so gut entwickelt ist. Es herrscht zum Beispiel die Ansicht vor, Menschen mit Autismus hätten keine Spiegelneuronen. Das passt auch gut zur These, sie hätten keine Theory of Mind, könnten sich also nicht in andere Personen hineinversetzen usw. Ich glaube, hier beobachtet man etwas Interessantes, erklärt es aber unzureichend. Eine Untersuchung an verstorbenen Menschen mit Autismus zeigte beispielsweise, dass sie nicht weniger Neuronen, sondern sogar mehr Neuronen im Stirnhirn haben.80 Das Problem scheint vielmehr zu sein, dass sie mit diesem Neuronenüberschuss wenig anfangen können, weil ihnen die dafür notwendigen sozialen Informationen verrauschen. Gesichtsmimik, Gesten und Stimmklang nehmen sie so detailreich wahr, dass sie sprichwörtlich vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen.81 Wie sollten sie unter diesen Umständen imitieren? Wenn ihnen Mimik, Gestik und Stimmklang verrauschen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich das, was andere direkt über Imitation lernen, mühsam über Emulation zu erschließen. Dadurch treffen sie die Vorlage nicht selten viel detailgenauer und präziser. Wie mir verschiedene Personen mit diesem Syndrom glaubhaft versicherten, bedeutet Autismus nicht die Abwesenheit von Sehnsucht nach Sozialkontakt. Der neurologische Befund, dass sie mehr Neuronen im Stirnhirn haben als andere, würde gut dazu passen. Menschen mit diesem Syndrom ziehen sich nur deshalb zurück, weil sie Sozialkontakte wegen der mit ihnen einhergehenden Reizüberflutung oft überfordern oder gar ängstigen. Vor wenigen Jahren betreute ich ein studentisches Projekt zur Eingliederung einer Schülerin mit Asperger-Syndrom. Das ist eine leichtere Form im Spektrum autistischer Entwicklungsstörungen. Sarah war Schülerin an einem Gymnasium. Ihr Hauptproblem war, dass sie sich bei kleinsten Ungerechtigkeiten – egal ob sie selbst oder andere Personen davon betroffen waren – maßlos aufregte. Nahm die Aufregung überhand, lief sie verzweifelt aus der Schule weg. Durch dieses Verhalten fühlte sich die Schulleitung in der Ausübung ihrer Fürsorge- und Aufsichtspflicht behindert. Die Folge war, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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dass Sarah ein halbes Jahr nicht am Unterricht teilnehmen durfte. Sie musste unfreiwillig zu Hause bleiben und litt sehr darunter. Dieses Problem sollte unser Projekt zur Wiedereingliederung der Schülerin in die Klasse lösen. Sehr hilfreich war dabei die Entdeckung, dass es in der Schule einen verschlossenen Sanitätsraum gab. Die Schülerin erhielt für diesen Raum einen Zweitschlüssel. Nun musste sie nicht mehr weglaufen. Wenn sie sich beruhigt hatte, kehrte sie in die Klasse zurück. Tests zur Gestaltwahrnehmung zeigten, dass Sarah die Welt anders wahrnimmt als wir. Ich bat sie das folgende Bild zu betrachten und uns zu sagen, ob sie darauf etwas erkennen könnte.

Abbildung 10: Gestalt aus Strichen – die meisten Menschen erkennen auf Anhieb ein Gesicht, obwohl auf diesem Bild nur 111 Striche zu sehen sind.

»Das sind Striche«, antwortete sie. »Ja, aber bilden die Striche vielleicht so etwas wie ein Muster?« »Nein, da gibt es kein Muster«, antwortete Sarah überzeugt. Etwa nach zwanzig Minuten – das Thema hatte längst gewechselt – unterbrach sie das Gespräch mit dem aufgeregten Ausruf: »Jetzt sehe ich ein Muster!« Alle im Raum waren sich ganz sicher, dass sie jetzt sagen würde, sie erkenne auf dem Bild ein Gesicht. Irrtum! © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Sarah erklärte triumphierend »Links und unten auf dem Bild erkennt man so etwas wie einen Waldweg!« Diese Antwort machte mir schlagartig klar, wie schwer es für Sarah war, in Gesichtern zu lesen. Sie sieht sehr deutlich viele Details auf einmal, die Gesamtgestalt jedoch verrauscht ihr in dieser Flut aus Einzelheiten. Menschen mit Autismus können jedoch bei entsprechender pädagogischer Förderung lernen, sich allmählich besser in die Rolle und Position anderer Personen hineinzuversetzen. Die Berliner Psychologin Isabel Dziobek arbeitet beispielsweise erfolgreich mit Fotos, auf denen stark übertriebene Gefühlsausdrücke in einem Puzzle zusammengesetzt werden.82 Wir können im Gegensatz zu Menschen mit Autismus höchstens drei bis vier Reize gleichzeitig bewusst verarbeiten,83 deshalb verschwimmt die unübersichtliche Anzahl von Strichen für uns wie von selbst zu einer Gestalt. Wir sehen erst den Wald, dann die Bäume. Das weite Aufmerksamkeitsfenster von Menschen mit Autismus bewirkt das Gegenteil: Die Flut wahrgenommener Äste, Zweige, Blätter, Baumrindenmuster usw. verrauschen das Gesamtbild. Um sich gegen diese permanente Reizüberflutung zu schützen, halten sich Menschen mit Autismus an kleinen Details fest. Hermlin nennt dieses Phänomen schwache zentrale Kohärenz. Sie meint damit, dass sich für Menschen mit Autismus aus einzelnen Sinneseindrücken nur sehr schwer ein Gesamtzusammenhang ergibt.84 Bei der Gymnasiastin Sarah waren die Details, an denen sie sich festhielt, Regeln. Sie sollten schließlich für alle gelten. Deshalb versetzte sie jede Abweichung in Panik. Dass eine Schülerin mit Autismus einen Gerechtigkeitssinn entwickelt, sich für Literatur interessiert und mit dem Gedanken spielt, Jura zu studieren, zeigt den hohen Wert, den kulturelles Lernen auch für sie besitzt. Soziale Kompetenzen, die sich unter erschwerten Bedingungen (wie zum Beispiel Autismus) entwickeln, sind besonders wertvoll. Sie machen uns etwas bewusst: Eine Kompetenz, die einem in die Wiege gelegt wurde, kann verkümmern. Kulturelles Ler-

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nen ist der Humus, auf dem sich typisch menschliche Fähigkeiten der Kooperation, der Perspektivübernahme und des Mitgefühls entwickeln.

Bei dem heute 49-jährigen Hamburger Schriftsteller und Filmemacher Axel Brauns diagnostizierte man schon in früher Kindheit Autismus. Auch er interessierte sich für Gerechtigkeit, denn nach seinem Abitur studierte er Jura. Als ich ihn bei einer Lesung im Jahre 2002 kennenlernte, schrieb er mir als Widmung in sein Buch: »Für André, der ganz hinten saß, bei guter Luft.« Der Titel des Buches lautet Buntschatten und Fledermäuse.85 So schattenhaft und flattrig wirkten auf ihn auch als Jugendlicher noch seine Mitmenschen. Er sagt dazu: »Gefühle hatte ich als autistisches Kind jede Menge. Auf andere Menschen bezogen waren diese Gefühle verstümmelt, fast nicht mehr vorhanden.« Mit der Kamera ließ der Filmemacher Axel Brauns dokumentieren, wie er zum ersten Mal Gäste zu einem Spielenachmittag eingeladen hatte: Seelenruhig, obwohl die Gäste gleich eintreffen werden, schraubt er einen Tisch zusammen. Das beruhigt offensichtlich die Nerven. Geregelte Abläufe und strenge Konventionen helfen dem Vierzigjährigen, in die Rolle des Gastgebers zu schlüpfen. Brauns sagt dazu: Du musst einfach die Freundschaft als etwas Landkartenartiges ansehen. Wenn ich sage die Hauptstadt der Freundschaft, dann ist das etwas, wo auch der Axel Brauns sagt: ›Ha, da will ich gerne mal hinreisen.‹ Aber nur weil es eben dann mit der Landkarte verbunden ist, und so habe ich gelernt, eben mich selbst auch emotional zu beeinflussen, dass ich mich gezielt ansprach.

So entdeckte Axel Brauns für sich das Gefühl der Geselligkeit. 35 Jahre musste er allerdings ohne dieses Gefühl auskommen. Fragile Potenziale

Ein erstaunliches Beispiel für die Fähigkeit, sogar die Weltsicht von Tieren gedanklich zu simulieren und sich in ihre Perspektive hineinversetzen zu können, bietet die US-Amerikanerin Temple Grandin. Sie ist eine populäre Autistin und Dozentin für Tierwissenschaften an der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Colorado State University in Fort Collins. Ihre bedeutenden Erfolge beim Entwurf von großen Anlagen für die Viehwirtschaft beruhen darauf, dass sie diese Anlagen aus der Innensicht der Tiere bewertet. Sie sagt von sich selbst: »Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier.«86 Bis zum Alter von vier Jahren konnte Grandin nicht sprechen. Ihren Wortschatz erwarb sie sich mühsam wie eine Fremdsprache. Beim Bau von Viehhaltungs- und Transportanlagen für Tiere ist ihr Rat begehrt. Ihren Kunden rät sie: »Versucht, euch doch mal in eure Tiere hineinzuversetzen!«87 Von wegen keine Fähigkeit zur Perspektivübernahme (Theory of Mind)! Nicht immer lassen sich die konkreten neurologischen Ursachen für Autismus eingrenzen. Es gibt jedoch Formen von Autismus, die neurologisch recht gut verstanden sind. Im Juni 2000 fertigte ich ein Gutachten für das Landgericht Hamburg an. Hier ging es um einen jungen Mann mit den typischen Symptomen von Autismus. Die Ursache für Ramons autistische Züge war schnell gefunden: eine vorgeburtliche Schädigung, die zu einer charakteristischen Verkürzung des Stammhirns führte. Die Zellkörper des Stammhirns befinden sich zwischen dem Rückenmark und dem übrigen Gehirn. Als ich den jungen Mann, über den ich das Gutachten schreiben sollte, zum ersten Mal kennenlernte, begleitete er am Schlagzeug eine Theateraufführung an einer Universität. Der junge Mann mit kurz geschorenem blondem Haar begleitete gewissenhaft das Bühnengeschehen und setzte effektvolle Akzente. Obwohl er mit seinem Schlagzeug neben der Bühne saß, galt ihm am Ende der Theateraufführung ein nicht geringer Prozentsatz des lauten Applauses im Saal. Das Publikum setzte sich etwa zu gleichen Teilen aus Erwachsenen mit und ohne Beeinträchtigungen zusammen. Hinweise auf Autismus gaben Ramons Körperhaltung, der etwas unsichere Gang und die nahezu fehlende Gesichtsmimik. So blickte er beim Heruntergehen von der Bühne beispielsweise erst auf jede einzelne Stufe, bevor er einen Fuß darauf setzte. Als ich ihn ansprach, antwortete er mit hoher und leiser Stimme. Sein Blick schien durch mich hindurchzugehen. Er hielt den Kopf etwas schräg und erinnerte mich dabei verblüffend an den Androiden Data vom Raumschiff Enterprise. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Als Grundschüler war Ramon Schüler einer Integrationsklasse gewesen, später besuchte er eine Sonderschule. Man hatte bei ihm eine geistige Beeinträchtigung diagnostiziert. Mein Gutachten sollte klären, warum er in der Tagesförderstätte und seiner Wohngruppe manchmal plötzliche Panikattacken bekam und Hals über Kopf flüchtete. 1994 analysierte die Gynäkologin Patricia M. Rodier an der Universität Rochester (US-Bundesstaat New York) dieses Syndrom, bei dem autistische Züge als Folge eines verkürzten Stammhirns auftreten. Äußerlich erkennbare Merkmale sind ein verkürzter Hals und Missbildungen an der Ohrmuschel.88 Diese biologische Schädigung entsteht zwischen dem 20. und 24. Tag nach der Empfängnis, wenn gerade die ersten Nervenzellen entstehen. Die meisten davon sind Motoneuronen von Hirnnerven. Und zwar steuern sie später die Muskeln von Auge, Ohr, Gesicht, Kiefer, Rachen und Zunge. Zur selben Zeit wie diese Motoneuronen entwickeln sich die Ohrmuscheln und der äußere Gehörgang. Eine Störung dieser Wachstumsprozesse führt zu fehlender Mimik, Überempfindlichkeit gegenüber Berührungen und Geräuschen sowie Schlafstörungen. Die Panikattacken Ramons resultieren in der Tat aus verschiedenen Formen der Reizüberflutung. Er hört herannahende Flugzeuge viel früher als andere. Er zeigt dann genau in die Richtung, in der das Flugzeug später auch zu sehen ist. Wenn er wie beim Schlagzeugspielen die Geräusche selbst auslöst, stören sie ihn nicht. Plötzliche Geräusche, die er nicht einordnen kann, ängstigen ihn jedoch genauso wie das Verhalten von Mitmenschen, das gegen feste Rituale verstößt. Diese Rituale hat er nicht durch Imitation, sondern mühsam über Emulation erworben. Deshalb versetzt ihn jede Abweichung in Panik. Für Integration und Inklusion ist dieses Syndrom eine große Herausforderung. Es gibt jedoch viele gelungene Beispiele. Eine wichtige Voraussetzung ist die genaue Kenntnis der Ursachen für scheinbar unmotivierte Verhaltensweisen. Nach meinen Erfahrungen ist die Aufklärung aller Beteiligten unumgänglich. Rodiers Versuch, alle Formen von Autismus auf eine Wachstumsstörung oder Verletzung des Stammhirns zurückzuführen, ist jedoch gescheitert. Nach dem derzeitigen Stand der Forschung ist © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Autismus ein Sammelbegriff für verschiedene Entwicklungsstörungen und Verletzungen des Gehirns, die sich alle in ähnlicher Weise auswirken. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie die Fähigkeit des Menschen zur geteilten Intentionalität und zum Imitationslernen beeinträchtigen. Dazu kommen eine erhöhte Veränderungsangst, das Verrauschen von Ganzheiten (schwache zentrale Kohärenz) und die Tendenz zur Reizüberflutung (sensory overload). Auf der anderen Seite kann das Fehlen dieser Funktionen andere Potenziale freisetzen. Zu diesen Potenzialen gehören zweifelsfrei die gesteigerte Fähigkeit zum Emulationslernen, die Erweiterung des Aufmerksamkeitsumfangs und der gesteigerte Sinn für Details. Der Aufbruch alter Industriegesellschaften zu modernen Wissens- und Ideengesellschaften eröffnet neue berufliche Anschlussmöglichkeiten für Menschen mit diesen Potenzialen: Von den mehr als fünfzig Mitarbeitern der dänischen Firma Specialisterne beispielsweise haben drei Viertel eine Diagnose innerhalb des Autismusspektrums. Dies ist möglich, weil die Firma spezielle Bildungsprogramme anbietet, die helfen, individuelle Stärken, Lernmotivation und Entwicklungspotenziale zu erkennen. Softwaretests, Qualitätskontrolle und Datenverarbeitung sind Serviceleistungen der Firma, in denen autismustypische Eigenschaften von großem Nutzen sind, wie zum Beispiel: großer Aufmerksamkeitsumfang, Sinn für Details und Ordnung. Die Fähigkeiten zur geteilten Intensionalität und zum Imitationslernen haben sich evolutionär erst sehr spät entwickelt. Der Beginn dieser Entwicklung muss nach dem Zeitpunkt stattgefunden haben, an dem sich die Vererbungslinie von Mensch und Schimpanse trennte. Deshalb ist es kein Wunder, dass diese Fähigkeiten im menschlichen Gehirn nur sehr fragil verankert sind. Es könnte in der Tat so sein, dass Störungen im Autismusspektrum von ganz verschiedenen Entwicklungsstörungen des Gehirns ausgelöst werden können. Egal welche Hirnareale betroffen sind, ihr Funktionsverlust wirkt sich am ehesten auf sehr energieaufwendige und die Kapazität großer Teile des Gehirns in Anspruch nehmende Fähigkeiten aus. Zu

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diesen Fähigkeiten zählen zweifelsfrei Perspektivwechsel und Imitationslernen.

Ich kenne jedenfalls auch Menschen mit Autismus, bei denen ganz andere Hirnverletzungen diagnostiziert wurden als die oben beschriebene Verletzung im Stammhirn. Verletzungen oder Verformungen im Kleinhirn können ebenso mit Autismus einhergehen. Eine andere Möglichkeit sind Verletzungen oder Verformungen im Corpus Calosum, dem sogenannten Hirnbalken, gebildet von rund 250 Millionen Kommissuren- oder Verbindungsnerven zwischen den beiden Hirnhemisphären des Großhirns. Aber auch eine fehlende rechte Hirnhemisphäre kann zur Diagnose Autismus führen, wie der nächste Abschnitt zeigen wird. Ein Sonderschüler als Gelehrter

Mustafa lernte ich 1995 kennen. Er war gerade 13 Jahre alt. Man hatte bei ihm Autismus und eine geistige Beeinträchtigung diagnostiziert. Inzwischen verfügt er über einen deutschen Realschulabschluss, ein in der Türkei staatlich anerkanntes Diplom und eine Stelle als Lehrer in einer Hamburger Moschee. Im grauen Anzug mit weißem Hemd wirkte der 13-jährige Mustafa damals schon älter, als er war. Seine gerade Haltung – als hätte er einen Stock verschluckt – stand im Kontrast zu seinem eher lässigen Gang. Mit erhobenem Kinn und halb gesenkten Augenliedern schien er auf andere immer ein klein wenig herabzuschauen. Es war aber keine Überheblichkeit, sondern Unsicherheit in der Bewertung emotional-sozialer Beziehungen. Trotz dieser Unsicherheit verlieh er seinem Auftreten eine Aura der Würde und Entschlossenheit. Zur Überraschung aller Fachleute gewann Mustafa als 14-jähriger Schüler einer Geistigbehindertenschule die europäische Koranvorlesemeisterschaft. Er trat in Zagreb gegen 15 Teilnehmer an. Sie waren alle viel erfahrener und älter als er. Auch die zwei Teilnehmer aus der Türkei hatten gegen Mustafa keine Chance. In nur 45 Tagen hatte er den ganzen Koran auswendig gelernt. Der Koran besteht aus 114 Suren, die weder inhaltlich noch chronologisch geordnet sind. Die Sprache ist Arabisch. Das war für Mustafa zu diesem Zeitpunkt eine Fremdsprache. Er selbst beherrschte nur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Deutsch und Türkisch. Trotzdem hielt er den kritischen Fragen der Kommission mit Bravour stand. Der Imam beanstandete nur, dass er die Verse mit wenig innerer Beteiligung vortrug. In genaueren Untersuchungen zeigte sich, dass Mustafa die Suren nicht mechanisch auswendig gelernt hatte. Er hatte selbst eine komplizierte Mnemotechnik entwickelt, bei der er die Reimprosa, die absteigende Länge der Verse und logische Verbindungen zwischen ihnen ausnutzte. Nach dieser Meisterschaft war Mustafa nun ein offiziell anerkannter Gelehrter, ein Hafis, der in der Zentralmoschee Hamburg mit seinem Lehrer, dem Hodscha, gemeinsam unterrichtete. Ein Schüler einer Geistigbehindertenschule mit dem Rang eines Gelehrten! In einem Fernsehbericht wurde er als eine Art Wunderknabe angekündigt. Neugierig auf den Kommentar des Hodschas zu diesem Fernsehbericht begab ich mich in die Hamburger Zentralmoschee. Mit weißem Turban und langem Talar erschien er mir wie eine Figur aus einem orientalischen Märchenfilm. Ich fragte ihn offen, was er davon halte, dass Mustafa als Korangelehrter Schüler einer Geistigbehindertenschule ist. Ich hatte als Antwort so etwas erwartet, wie: »Allahs Wege sind eben unergründlich.« Deshalb frappierte mich die lakonische Antwort des Hodschas: »Ich habe die Biografie von Albert Einstein gelesen. Er war auch ein merkwürdiges Kind.« Mit dem New Yorker Neuropsychologen Oliver Sacks, dem ich den Mitschnitt dieser Fernsehsendung geschickt hatte, diskutierte ich meine neuropsychologischen Befunde: Die rechte Hirnhälfte des Vierzehnjährigen hatte sich infolge einer schweren Herzerkrankung auffällig verkleinert. Nach erfolgreicher Behandlung des Herzleidens hatte sich zum Ausgleich mit der Zeit die Leistungsfähigkeit der linken Hemisphäre gesteigert. Da Mustafa rechtshändig ist, ist seine linke Hemisphäre die dominante Hemisphäre. In ihr sind Sprache sowie zeitliches und logisches Denken verankert. Als die Sonderschule Mustafa aufnahm, war sein Gehirn völlig aus dem Gleichgewicht (aufgrund der abgestorbenen Nerven in der schlecht durchbluteten rechten Hemisphäre). Ohne Leistungsdruck – aber mit beständiger Förderung – hatte sein Gehirn allmählich seine © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Balance wiedergefunden. Die schweren autistischen Symptome gingen zurück. Mustafa fand seine Sprache wieder. Er wurde sogar gern als Übersetzer für Schülerinnen und Schüler eingesetzt, die hauptsächlich oder ausschließlich Türkisch verstanden. Bei all ihrem Bemühen kam die Sonderschule jedoch allmählich an ihre Grenzen. Sie begann, Mustafa zu langweilen: »Ich geh gern in die Schule, aber wenn die Lehrerin immer die gleichen Sachen gibt, was man vor dem Tag gemacht hat, dann ist es nämlich blöd. Dann hat man keinen Bock darauf«, sagte Mustafa im Fernsehinterview vor der Kamera. Der Reporter fragte: »Gehörst du in diese Schule?« »Ich gehöre nicht zu dieser Schule«, beteuerte Mustafa ohne Zögern: »Auch wenn sie sagen ›Ich bin geistig behindert‹, ich bin nicht geistig behindert.« Der Abschlusskommentar des Reporters lautete: Wenn Mustafa so etwas über sich selbst sagt, kann man ihn gut verstehen. Aber wenn Wissenschaftler, wie Prof. Dr. Zimpel, sich über den Sonderschulbesuch von Mustafa empören, dann müsste etwas passieren, und zwar schnell. Denn nur dann kann Mustafa davon profitieren.

Natürlich passierte zunächst überhaupt nichts. Und schon gar nicht von selbst. Meine Empörung über die wenigen Möglichkeiten, über die Sonderschulen verfügen, um auf kaum vorhersagbare Entwicklungssprünge der Lernenden reagieren zu können, blieb folgenlos. Nach dem Fernsehbeitrag kam leider auch niemand auf die Idee, die unbestreitbaren pädagogischen Leistungen der Sonderschule bis zu diesem Zeitpunkt zu würdigen. Das einhellige Urteil lautete: Wie konnte man bei diesem Jungen nur eine geistige Behinderung diagnostizieren? Hier zeigt sich der Hauptwiderspruch sonderpädagogischer Förderung: Wenn es dem Kollegium einer Förderschule gelingt, eine Beeinträchtigung zu überwinden, kann die Reaktion darauf paradox sein: Statt einer

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Anerkennung der pädagogischen Leistung ernten die Pädagoginnen und Pädagogen den Vorwurf einer Fehldiagnose.

Dabei zeigte Mustafa immer noch Symptome von Autismus. Sie machten deutlich, dass die Diagnose geistige Beeinträchtigung, die nun schon mehrere Jahre zurücklag, nicht völlig aus der Luft gegriffen war: Die verkümmerte rechte Hirnhälfte bereitete Mustafa immer noch immense Schwierigkeiten bei der Orientierung im Raum. Wegbeschreibungen gab er durch Aufzählung von Details: »Erst kommt da ein Baum, dann die Telefonzelle, das Haltestellenschild…« Beim Fußball sah er nur den Ball, keine Mitspieler. Räumliche Anweisungen, wie etwa »Oben links …« oder »Wenn du hineingehst, gleich auf der rechten Seite!«, befolgte er nur unsicher. Mustafa neigte darüber hinaus dazu, Metaphern und ironische Bemerkungen wörtlich zu nehmen. Ich fragte ihn: »Was will man mit dem Spruch ausdrücken: ›Es ist nicht alles Gold, was glänzt‹?« Er zuckte mit den Schultern und antwortete: »Logisch, Silber glänzt ja auch!« Zwischenmenschliche Beziehungen und Kommunikation über Emotionen bereiteten ihm ebenfalls Probleme. Beim Imitationslernen, zum Beispiel im Hauswirtschaftsunterricht, tat er sich eher schwer. Ich brauchte jedoch kaum zwei Tage, um Mustafa die Bruchrechnung zu erklären. Zum Einstieg nutzte ich die von Montessori entwickelten Bruchkegel und Bruchtürme aus Holz, mit deren Hilfe er sich das Prinzip der gebrochenen Zahlen und des Bruchrechnens selbst erarbeiten konnte. Während ich ihm beim Lernen half, half er mir, zu lernen, wie er Probleme löst: Seine Stärke lag eindeutig im Emulationslernen! Emulationslernen als Entlastung

Sich selbst erklärende Materialien entwickelte Montessori während ihrer Tätigkeit mit Kindern der psychiatrischen Abteilung der römischen Universitätsklinik. Anregungen fand sie unter anderem bei Séguin (siehe auch Kapitel Inklusion in der Bronzezeit und Hilfe zur Selbsthilfe). Als Schlüsselerlebnis schilderte sie die Beobachtung eines etwa dreijährigen Mädchens. Tief versunken in ihre Beschäftigung mit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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einem Einsatzzylinderblock, zog dieses Mädchen kleine Holzzylinder aus dem Block und fügte sie an anderer Stelle wieder ein. Anfänglich störte Montessori das Mädchen nicht. Dann fing sie an zu zählen, wie oft das Mädchen die Übung wiederholte. Als sie bemerkte, dass das Mädchen sehr lange bei der einen Handlung blieb, stellte sie das Kind mit dem kleinen Stuhl, auf dem es saß, auf den Tisch. Das Mädchen sammelte schnell das Steckspiel auf und setzte die Beschäftigung fort. Selbst als Montessori alle Kinder aufforderte, ein Lied zu singen, setzte das Mädchen unbeirrt seine Tätigkeit fort. Montessori zählte 44 Wiederholungen.89 Vielleicht hätte man heute darin ein mögliches Symptom für Autismus vermutet. Jedenfalls handelt es sich hier eindeutig um Lernen durch Nachbildung. Immer wieder zeigt sich: Wenn übersteigerte Erwartungen an das Imitationslernen gestellt werden, wirkt der Rückgriff auf das Emulationslernen entneurotisierend. Ich glaube, das ist eines der Erfolgsrezepte der Montessori-Pädagogik.

Abbildung 11: Montessori-Pädagogik: Freiarbeit ermöglicht neben Imitationslernen auch Emulationslernen.

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Ein weiterer Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, dass er kein Kind ausschließt. Auch Kinder mit schweren Beeinträchtigungen, die überhaupt keine Anzeichen von Imitationslernen zeigen und deshalb auch nicht sprechen lernen, kann man mit geeignetem Material zum Emulationslernen anregen. Verbindet man diesen Ansatz mit dem Unterrichtsbegriff von Vygotskij (siehe auch Kapitel Zone der nächsten Entwicklung und Unterricht als Entwicklungshilfe), wird man feststellen, dass auch Kinder mit schwersten Beeinträchtigungen eine Zone der nächsten Entwicklung haben: Ausgangspunkt der Beobachtung sind die Kreisreaktionen, die sie von sich aus zeigen. Die pädagogische Aufgabe besteht nun darin, aus dieser Beobachtung die Zone der nächsten Entwicklung zu ermitteln. Führen Kinder mit schwersten Beeinträchtigungen Dinge vorwiegend zum Mund, liegt das Handtieren in der Zone ihrer nächsten Entwicklung. Sie können mithilfe anderer lernen, Gegenstände zum Klingen, Klappern, Schaukeln, Vibrieren oder Quietschen zu bringen, ohne sie zum Mund zu führen. Gelingt es ihnen anfänglich nur in Kooperation, diese Effekte zu erzeugen, werden sie später lernen, es von allein zu können. Werfen Kinder mit schwersten Beeinträchtigungen Dinge achtlos weg, sind sie schon eine Entwicklungsstufe weiter. Mithilfe anderer, die ihnen die Gegenstände zurückwerfen oder mit ihnen angenehme Effekte erzeugen, lernen sie dann allmählich etwas Neues. Sie beginnen, sich für die Flugbahn der weggeworfenen Objekte zu interessieren oder Objekte miteinander zu kombinieren. Zum Beispiel können sie nun mit einem Stock auf eine Trommel schlagen oder beim Werfen auf etwas zielen. Gelingt ihnen inzwischen auch das, ist die Zone der nächsten Entwicklung das aktive Suchen von versteckten Dingen und dann die Anbahnung eines Symbolverständnisses mit Unterstützter oder Alternativer Kommunikation usw. Die Grundlagen der Freiarbeit in der Montessori-Pädagogik sind: –– eine pädagogisch vorbereitete Umgebung, –– nach wissenschaftlichen Kriterien hergestelltes und ausgewähltes Sinnesmaterial und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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–– die Anwesenheit ruhiger, zurückhaltender und zugleich hilfsbereit gegenwärtiger Lehrender. Freiarbeit ermöglicht Lernenden, sich ungezwungen mit einem frei gewählten Gegenstand zu beschäftigen. Dabei können sie ihren eigenen Lernweg suchen und finden. Er kann teils auf Imitations- und teils auf Emulationslernen beruhen. Die erste Form mag effizienter sein, die zweite dagegen entlastet und entneurotisiert das Lernen. Die Möglichkeit zum Emulationslernen kommt Kindern zugute, die Imitationslernen überhaupt oder phasenweise einfach zu viel Kraft kostet. Bei Autismus ist dies zweifelsfrei der Regelfall.

Auf Montessoris Freiarbeit und Vygotskijs Unterrichtsbegriff besann ich mich, als die Frage aufkam: Wie soll es nun mit Mustafa weitergehen? Ein Übergang von der Sonderschule in eine Regelschule blieb für Mustafa mit vielen Stolpersteinen gepflastert. Also organisierte ich gemeinsam mit Studierenden verschiedene Nachmittagsprojekte, an denen auch Schülerinnen und Schüler der Sonderschule freiwillig teilnehmen durften. Besonders beliebt waren Biologie, Geschichte und Englisch. Mustafa nahm an allen Projekten teil. Die hilfsbereiten Lehramtsstudierenden rechneten anfänglich mit keinen besonderen Schwierigkeiten. Ihre Kurse entsprachen schließlich jeweils ihren Fachdidaktiken, die sie im Hauptstudium belegten. Doch die Fragen der Schülerinnen und Schüler erwiesen sich als erstaunlich anspruchsvoll. Im Biologiekursus fragten die Studierenden: »Wollt ihr etwas über Pflanzen und Tiere lernen? Wir könnten einen Bauernhof besuchen oder gemeinsam in den Tierpark gehen. Oder interessiert ihr euch für den menschlichen Körper?« Die einhellige Antwort war: »Menschlicher Körper!« »Was interessiert euch am menschlichen Körper? Das Skelett, der Kreislauf, die Verdauung oder die Sexualorgane?« Die einhellige Antwort: »Das Gehirn!« Diese Antwort brachte die Studierenden zunächst in Verlegenheit: kam doch das Gehirn als Organ in ihrer fachdidaktischen Aus© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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bildung kaum vor! Also bereiteten sie sich mit viel Engagement jede Woche auf ihren Projektnachmittag vor. Im Geschichtskursus stellten die Lernenden unter anderem solche Fragen: Wie entstehen Kriege? Wie ist die Sprache entstanden? Woher kommt der Mensch? Wie werden Geschichten zu Geschichte? Wer überprüft, ob es wirklich so war? Die schon vorhandenen Montessori-Materialien an der Schule ergänzten wir durch Materialien, die wir an der Universität Hamburg entweder selbst entwickelt hatten oder aus dem didaktischen Fundus entnehmen konnten. Ein Ziel bestand darin, Mustafa dabei zu unterstützen, irgendwie Anschluss an den Lehrplan der Hauptschule zu finden. Dass es nicht einfach werden würde, illustrierte der besorgte Kommentar der Hauswirtschaftslehrerin: »Wie soll jemand auf die Hauptschule gehen, der noch nicht einmal einen Pfannkuchen backen kann?« Am Ende des Projektes – Mustafa hatte man inzwischen den Besuch einer Hauptschule mit Eingliederungshilfe in Aussicht gestellt – fand eine Präsentation der Ergebnisse in einem Hörsaal der Universität Hamburg statt. Anwesend waren circa dreihundert Studierende und einige Lehrerinnen und Lehrer. Während der Projektpräsentation ergriff Mustafa das Wort: »Tom und Claudia haben uns gesagt: Der Mensch stammt vom Affen ab. Mein Vater sagt: Gott hat den Menschen geschaffen.« Eisiges Schweigen im Hörsaal. Eine Studentin, Lehramt Religion, wagte, das Eis zu brechen: »Für mich ist es auch schwierig, diesen Widerspruch auszuhalten. Da ist auf der einen Seite die Biologie als Wissenschaft, der ich vertraue, und auf der anderen Seite mein Glaube an einen Schöpfer …« Sie wollte Mustafa offensichtlich eine Verständnis-Brücke bauen. Doch Mustafa schnitt ihr das Wort ab. Mit verschränkten Armen verkündete er: »Aber eins kann nur wahr sein!«

Zusammenfassung Teil I Der erste Teil dieses Buches fragte nach den anthropologischen Wurzeln des Lernens. Als biologische Wesen benötigen wir zum Lernen natürlich Sinnesorgane. Davon haben wir allein Tausende als Deh© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

Zusammenfassung Teil I

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nungsrezeptoren in unseren Muskelspindeln. Wir lernen also nicht nur mit Augen und Ohren, sondern mit dem ganzen Körper. Das Vorurteil, Lernschwierigkeiten kämen allein durch Sinnesschwächen in die Welt, ist zäh. Schnarrend wie eine verrostete Gitarrensaite, schwingt dieses Vorurteil in vielen veralteten Worten mit: Irrsinn, Schwachsinn, Wahnsinn, von Sinnen usw. Noch heute thronen Wahrnehmungsstörungen auf den vorderen Plätzen der Erklärungen für Lernschwierigkeiten. Wissenschaft und Praxis haben jedoch längst bewiesen: Blindheit, Gehörlosigkeit und sogar die Kombination beider Beeinträchtigungen hindern uns Menschen nicht am kulturellen Lernen. Es sind nur die lästigen Barrieren im Alltag, die Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen das Leben schwer machen. Im Alltag müssen sie immer wieder darum kämpfen, nicht als hilflos oder gar geistig beeinträchtigt zu gelten. Gedankenlosigkeit und fehlende Bereitschaft, sich einmal in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen, bremsen sie aus: Wie hilfreich ist die schönste Powerpoint-Präsentation für eine Person, die blind ist? Was nützt eine deutliche Aussprache einer Person, die gehörlos ist, wenn die Lehrperson der Klasse auch noch den Rücken zuwendet? Mit Beschriftungen in Brailleschrift, Blindenleitsystemen, Übersetzungen in Gebärdensprache oder Lormen (Gebärden oder Buchstabieren in die Handinnenfläche) ist die Inklusion von Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen längst Alltag. Für alle anderen in ihrer Umgebung ist das eine geniale Gelegenheit, Perspektivübernahme zu trainieren. Auch Menschen mit körperlichen und motorischen Beeinträchtigungen dringen in alle gesellschaftlichen Bereiche vor. Beeinträchtigungen, die früher bewegungs- und sprachlos machten, sind heute längst keine Ausrede mehr für mangelnde Inklusion. Dank eines gewachsenen Bewusstseins für unnötige Alltagsbarrieren öffnen sich viele Türen, die einst verschlossen blieben. Behindertengerechtere Bauvorschriften, Hightech-Protesen und computergestützte Kommunikationstechniken mögen das ihrige dafür leisten. Die größte Herausforderung aber ist immer das Angewiesensein auf die Hilfe anderer Menschen. Wenn die Helfenden bestimmen, was hilfreich ist und was nicht, entsteht ein gefährliches Abhängigkeitsverhältnis. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Deshalb ist es wichtig, dass sich Personen mit Hilfebedarf die Helfenden selbst aussuchen dürfen, sie anleiten und bezahlen (Assistenzmodell). Voraussetzungen für die Teilhabe am kulturellen Lernen sind also weniger die Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeiten, sondern: –– die Kompetenz, mit anderen etwas zu teilen (Informationen, Raum, Zeit und andere Ressourcen), –– die Fähigkeit zum Perspektivwechsel (gleichbedeutend mit Perspektivübernahme oder geteilter Intensionalität) sowie –– das Lernen durch Nachahmung. Doch wie ist das bei Lern- und Verhaltensschwierigkeiten? Es gibt Syndrome, wie zum Beispiel Autismus, bei denen diese Fähigkeiten nicht im vollen Maße vorauszusetzen sind. Um Antworten auf diese Frage zu finden, spürte der erste Teil dieses Buches den anthropologischen Wurzeln des kulturellen Lernens nach. Das kooperative Dreieck diente dabei als Kompass. Es unterscheidet in abstrakter Form verschiedene Kooperationsformen, konkret: Perspektivwechsel, Teilhabe und Unterricht. Die Ergebnisse dieser Spurensuche habe ich hier noch einmal in kompakter Form zusammengefasst: Mitgefühl und Perspektivübernahme sind beim Menschen angeborene Tendenzen. Ohne sie wären Kinos und Fußballstadien rausgeworfenes Geld, Fernsehgeräte und Romane Ladenhüter, Theater und Musikhallen ohne Publikum – und unsere Innenwelt ein einsamer Kerker. Die Evolution hat unser zentrales Nervensystem für die gegenseitige Perspektivübernahme perfektioniert. Allerdings können wir diese Fähigkeit wie eine Sinnesfunktion verkümmern lassen oder zu höchster Präzision weiterentwickeln (siehe auch Kapitel »Sozialorgan Gehirn«). Der gegenseitige Perspektivwechsel ist auch eine wichtige Voraussetzung für gelingende Kooperation (siehe auch Kapitel »Zum Helfen geboren«). Er befähigt Menschen, sich nicht nur darin zu bestätigen, wie sie sind, sondern auch darin, wie sie sein könnten (siehe auch Kapi-

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tel »Hilfe zur Selbsthilfe«). Experimente anthropologischer Forschung zeigen darüber hinaus, wie Menschen eher zur Nachahmung als zum geduldigen Problemlösen neigen (siehe auch Kapitel »Imitationslernen«). Es gibt jedoch ein Syndrom, das die Entwicklung von Perspektivübernahme und Imitationslernen erschwert: Autismus. Aufgrund besonderer neurologischer Bedingungen sind Menschen mit diesem Syndrom gezwungen, nach eigenen Lernwegen zu suchen. Wenn es ihnen gelingt, entsteht ein kreatives Potenzial von unschätzbarem Wert. In inklusiven Klassen könnten alle Lernenden von diesem Potenzial profitieren. Außerdem ermutigen Menschen mit Autismus andere, neben Imitation auch kreativere Lernwege zu suchen. Dies erfordert jedoch eine höhere Pluralität des Lernens in unseren Schulen. Lernen im Gleichschritt ist für Schulbehörden bequem, für Inklusion jedoch das Exil (siehe auch Kapitel »Emulationslernen«). Wenn Menschen mit Autismus unsere sozialen Kompetenzen wie eine »Anthropologie unter Marsianern«90 studieren, halten sie uns einen Spiegel vor das Gesicht: Uns ist eine wertvolle Kompetenz in die Wiege gelegt worden. Es liegt nun in unserer Hand, sie blühen oder verkümmern zu lassen (siehe auch Kapitel »Autismus und Sozialkompetenz«). Inklusion schafft für die Entwicklung dieser Sozialkompetenz ideale Voraussetzungen. Denn niemand fordert unsere Fähigkeiten zur gegenseitigen Perspektivübernahme so heraus wie Menschen mit Beeinträchtigungen. Störungen im Autismusspektrum können ganz verschiedene Ursachen im Gehirn haben (siehe auch Kapitel »Fragile Potenziale«). Dies gibt uns Hinweise darauf, wie unsere Fähigkeiten zur geteilten Intensionalität und zum Imitationslernen im menschlichen Gehirn verankert sind. Nämlich: äußerst fragil! Kein Wunder, wenn man den Zeitdruck bedenkt, unter dem sich die Entwicklungswege von Mensch und Affe trennten. Eine gelungene Perspektivübernahme mobilisiert unser ganzes Gehirn mit all seinen Energiereserven. Deshalb ziehen alle Formen von Stress unsere Fähigkeit und Bereitschaft zum Perspektivwechsel in den Keller. Die beste Vorbeugung gegen Lernschwierigkeiten wäre also Stressvermeidung. Viele Eltern und Behörden glauben jedoch den derzeitigen Stau in unserem Bildungssystem auflösen zu können, indem sie ständig neue Fahrzeuge auf die Autobahn senden.

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Das Ziel jeder sonderpädagogischen Förderung ist am Ende die Eingliederung in eine Gemeinschaft. Das ist schon ein Widerspruch an sich. Man fragt sich: Wieso erst aussondern, wenn man am Ende sowieso wieder eingliedern will? Dieser Widerspruch spiegelt sich in vielen kleinen Paradoxien wider. Wie kleine Scherben schmücken sie die Sonderpädagogik, als wäre sie ein längst verschlissenes Paillettenkleid. Der Glanz vergangener Zeiten lässt sich nur noch ahnen, zum Beispiel als Séguin und Montessori noch Kinder vor der Abschiebung in Psychiatrien bewahrten. Beispiel: Wenn Lehrende an einer Sonderschule es schaffen, Lernende so zu fördern, dass sie von nun an eine Regelschule besuchen können, ist die Anerkennung dafür fraglich. Stattdessen erntet das Kollegium nicht selten im Nachhinein den Vorwurf einer Fehldiagnose (siehe auch Kapitel »Ein Sonderschüler als Gelehrter«). Wenn Inklusion also mehr als Integration sein will, sollten defizitäre Sichtweisen auf die Entwicklung generell der Vergangenheit angehören. Die Voraussetzung dafür wäre jedoch eine neue Lernkultur. Sie könnte aus der Erkenntnis erwachsen, dass alle Lernenden Hilfe brauchen und individuelle Entwicklungsverläufe der Normalfall sind (siehe auch Kapitel »Unterricht als Entwicklungshilfe«). Inklusion bedeutet also viel mehr als Vermeidung von Ausgrenzung. Die unkomplizierte Einbindung in die Gemeinschaft ist das Eine. Das Andere ist die Achtung der besonderen Bedingungen, unter denen Menschen leben. Dazu gehört eine wissenschaftlich begründete Form der Kooperation beim Spielen, Lernen und Arbeiten, in der sich individuelle Stärken entwickeln können und Schwächen durch gegenseitige Hilfe ausgleichen (siehe auch Kapitel »Inklusion in der Bronzezeit«). Letztendlich kann Inklusion damit ein angeborenes menschliches Bedürfnis befriedigen, nämlich das Bedürfnis zu helfen (siehe auch Kapitel »Ich helfe, also bin ich«). Erst das Imitationslernen befähigt Menschen, die komplizierten kulturellen Regeln der Sprache, der Schrift, der Mathematik usw. zu erwerben. Deshalb ist es leichtfertig, Kinder mit Beeinträchtigungen und sozialen Benachteiligungen vom gemeinsamen Lernen auszugrenzen. Dabeisein ist natürlich nicht alles. Aber ohne dabei sein zu dürfen,

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ist alles nichts (siehe auch Kapitel »Der unbewusste Drang zur Nachahmung«). Es gibt Lernformen, die für Inklusion geeigneter sind als andere. Die Montessori-Pädagogik ist dafür ein Beispiel. In Phasen der Freiarbeit ermöglicht sie Lernenden, sich ungezwungen mit einem frei gewählten Gegenstand zu beschäftigen. Dabei können Lernende ihren eigenen Lernweg suchen und finden. Er kann teils auf Imitations- und teils auf Emulationslernen beruhen. Die erste Form mag effizienter sein, die zweite dagegen entlastet und entneurotisiert das Lernen. Die Möglichkeit zum Emulationslernen kommt Kindern zugute, denen Imitationslernen überhaupt oder phasenweise einfach zu viel Kraft kostet. Bei Autismus ist dies zweifelsfrei der Regelfall (siehe auch Kapitel »Emulationslernen als Entlastung«). Menschenkinder besitzen im Unterschied zu unseren nächsten Verwandten im Tierreich die angeborene Fähigkeit, Hilfen zu erkennen und zu nutzen. Das ermöglicht Unterricht. Wenn sich die institutionalisierte Form des Unterrichts in den Schulen zu sehr auf Vergleichsarbeiten und Tests konzentriert, läuft sie Gefahr, ihre eigene Grundlage aus den Augen zu verlieren (siehe auch Kapitel »Hilfen erkennen und nutzen«). Das zentrale Kriterium für Unterricht ist die Gewährung von Hilfen, die in der Zone der nächsten Entwicklung des Kindes liegen. Unterricht findet also nicht nur dann statt, wenn Kinder sich in einer Schule aufhalten. Er kann bekanntlich überall stattfinden: im Wald, im Park, in der Fabrik, im Theater, auf dem Spielplatz, in Museen, in Bibliotheken usw. Das bedeutet aber auch, dass das Vorhandensein einer Lehrperson und einer Schulbank im Klassenraum mit Blick an die Tafel längst noch keine Garantie dafür ist, dass Unterricht überhaupt stattfindet. Die elementare Voraussetzung dafür, dass ein Geschehen als Unterricht bezeichnet werden kann, ist die Tatsache, dass Lernende die Hilfen, die man ihnen im Unterricht zur Verfügung stellt, auch als solche erkennen (siehe auch Kapitel »Zone der nächsten Entwicklung«). Auf Hilfe beim Lernen angewiesen zu sein ist zwar einerseits eine allgemeinmenschliche Tatsache, anderseits aber auch immer die Quelle

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einer möglichen Kränkung. Es käme einem Wunder gleich, wenn Enttäuschungen beim Helfen oder der Annahme von Hilfe nicht das Lernen und die geistige Entwicklung von Kindern maßgeblich beeinflussen würden (siehe auch Kapitel »Kulturspezifische Einflüsse«). Deshalb ist es wichtig, den Unterricht zu entneurotisieren. Die natürliche Neigung zur Imitation charakterisiert menschliches Lernen. Unter Leistungsdruck führt Imitation in eine Sackgasse. Aversionen als Ursache für hartnäckige Lernschwierigkeiten können die Folge sein. Deshalb sollten Lernende über Ausweichmöglichkeiten verfügen. Lernen durch Nachbildung (Emulationslernen), wie es zum Beispiel Montessori-Materialien ermöglichen, ist eine geeignete Alternative (siehe auch Kapitel »Der kleine Unterschied«). Verbindet man den MontessoriAnsatz mit dem Unterrichtsbegriff von Vygotskij, ermöglicht man auch Kindern mit schwersten Beeinträchtigungen die Teilnahme an einem gemeinsamen Unterricht (siehe auch Kapitel »Emulationslernen als Entlastung«).

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

Wenn zwei übereingekommen sind und ihre Kräfte vereinen, dann können sie gemeinsam mehr erreichen und haben folglich gemeinsam mehr Recht auf die Natur als jeder von ihnen allein. Je mehr Leute so in diese Gemeinschaft einbezogen werden, desto mehr Recht haben alle gemeinsam. (Baruch Spinoza 1677)1

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

Eine Schule für alle Hamburger Volksentscheid

»Heute ist ein ziemlicher Scheißtag gewesen«, resümierte die damalige Schulsenatorin von Hamburg, Christa Goetsch.2 Für eine Politikerin und Lehrerin sind das außergewöhnlich harte Worte. Dabei war der 18. Juli 2010 eigentlich ein milder Sommertag. Von Hamburger Schietwetter konnte an diesem Tag also kaum die Rede sein. Trotzdem sollte dieser Sonntag in Deutschland Schulgeschichte schreiben. Was war passiert? Erst die Ankündigung des Rücktritts von Bürgermeister Ole von Beust und dann das Scheitern eines wichtigen Teils der schwarz-grünen Schulreform: die sechsjährige Primarschule. In Deutschland beginnt man schon nach der vierten Klasse, Kinder aufgrund von fragwürdigen Zukunftsprognosen zu sortieren. Dabei vergisst man, dass Bildungsprognosen immer eine starke Tendenz zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen in sich tragen.3 Die Folge: Immer mehr hängt der Bildungserfolg von sozialer Herkunft ab. Damit erweist sich unser Bildungssystem als eine schlechte Verdoppelung gesellschaftlicher Verhältnisse: Gymnasium für Ober- und Mittelschicht – für die Unterschicht bleiben Volksschule, Hauptschule, Stadtteilschule, Förderschule oder was auch immer. Die Weichen werden schon früh gestellt: Kinder aus der Unterschicht besuchen seltener eine Kindertagesstätte, sind schlechter auf die Schule vorbereitet und werden häufiger zurückgestellt. Während der vierjährigen Grundschulzeit bleiben sie dreimal häufiger sitzen als die anderen. Mehr als die Hälfte von ihnen erreicht nur einen Hauptschulabschluss. Sie haben meistens schlechtere Noten, und selbst von denjenigen mit guten Noten erhält nur ein Drittel eine Empfehlung fürs Gymnasium. Noch besorgniserregender: Jährlich verlassen Tausende Schülerinnen und Schüler die Schule ohne jeden Schulabschluss. Auf der einen Seite steigt die Zahl der Diagnosen sonderpädagogischer Förderbedarfe stetig. Auf der anderen Seite übersieht man ernste soziale Notsituationen, psychische Erkrankungen und Syndrome bei Kindern. Beispiel: Aufgrund eines nicht diagnostizierten Tourettesyndroms schoben Eltern ihre zehnjährige Tochter als schwer erziehbar ab. Sie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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floh immer wieder aus verschiedenen Pflegefamilien und Kindereinrichtungen, lebte zeitweise auf der Straße, kam mit 12 Jahren mit ersten Drogen in Kontakt und pendelte seit ihrem 14. Lebensjahr immer wieder zwischen Haft und Obdachlosigkeit. Am Ende dieser Odyssee sagte sie: »Ich halte es draußen nicht mehr aus! Ich will wieder in den Knast, da komme ich klar.«4 Etwa ein Fünftel aller Obdachlosen in Deutschland sind Jugendliche. Pro Jahr laufen circa 9.000 von zu Hause fort. Die Ansichten und Meinungen über die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig und widersprüchlich. Solide empirische Studien zur Ursachenforschung sind rar. Eine Primarschule für alle bis zur sechsten Klasse wäre ein zaghafter Schritt gewesen, um gegen die soziale Ungerechtigkeit vorzugehen. Das Echo auf diesen Reformwillen schwappte jedoch über Hamburg wie eine Sturmflut: Elterninitiativen erzwangen Volksentscheide. Schülerinnen und Schüler besetzten Klassenräume. Es war, als tobte in Hamburg ein Klassenkampf. Am Ende scheiterte das Volksbegehren der Initiative Eine Schule für alle. Der Volksentscheid zur Einführung der Primarschule für alle bis zur sechsten Klasse wurde abgeschmettert. 218.065 Hamburgerinnen und Hamburger waren zwar dafür, aber 276.304 dagegen. Goetsch bezeichnete diese Niederlage als »bitter und enttäuschend«. Der taz kündigte sie jedoch an: »Wir werden weiter kämpfen für eine sozial gerechtere Schule.«5 Gewonnen hatte am Ende die Initiative Wir wollen lernen. Damit meinten die Eltern nicht sich selbst, sondern ihre Kinder. Mit Plakaten heizten sie die Auseinandersetzung an: »Schulreformchaos – NEIN, DANKE«, »Diese Reform darf keine Schule machen«, »Gegen diese Reform hilft nur noch Ihre Unterschrift« und »Goetsch: go home«. Stadtteil für Stadtteil kämpfte die Initiative gegen die Primarschule. Ungeniert warf sie Beziehungen und Kaufkraft in den Ring: Rechtsanwälte als Wortführer, Unternehmer als Geldgeber und Promis als Identifikationsfiguren. Vor der Kamera äußerte sich ein Aktivist gegen die Schulreform: »Dass ein Arbeiterkind mit einem Kind eines Vorstandsvorsitzenden zusammen nachmittags spielt und davon profitiert, mag vielleicht manchmal funktionieren, aber in der Regel wird das nicht der Fall sein.« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

Eine Befürworterin der Schule für alle äußerte: »Wir haben das Gefühl, das ist David gegen Goliath. Und auch jetzt sind wir sehr vorsichtig in dem, was wir tun, weil wir wissen, dass wir sehr mächtige Gegner haben.«6 Unmittelbar nach Bekanntwerden des Ergebnisses dieses Volksentscheids bemerkte die CDU-Politikerin Rita Süssmuth, dass sich die Initiative gegen die Primarschule treffender »Lernen ja, aber nicht mit Schmuddelkindern« hätte nennen sollen. Das war in Essen auf einer gemeinsam mit mir gestalteten bundesweiten Fachtagung für kulturelle Bildung mit dem Titel Transkulturalität und Inklusion. Selbstverständlich gingen viele Aktivisten der Initiative gegen die Primarschule davon aus, dass ihre Kinder kleine Genies seien. Das ist allgemein menschlich. Der folgende Spruch bringt das mit Augenzwinkern auf den Punkt: Manche glauben, Genialität sei erblich. Andere wiederum haben keine Kinder. Die große Mitte in der Gesellschaft hat sich an einen gewissen Wohlstand gewöhnt. Die Schere zwischen Arm und Reich geht seit einem Jahrzehnt aber immer weiter auseinander. Das erzeugt soziale Phobien: Die Kinder sollen es schließlich mindestens so gut haben wie man selbst. Auch Eltern aus meinem Bekanntenkreis, die ansonsten sehr sozial eingestellt sind, empörten sich: »Meine Kinder sollen jetzt die Schwachen mitziehen? Dann müssten meine Kinder ja die Arbeit der Lehrer machen. Von wegen Schule für alle! Solange es für die Elbphilharmonie reicht, lassen wir uns nicht auf das Sparmodell Einheitsschule ein. Nicht mit uns!« Sogar Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen sind skeptisch. So äußerte beispielsweise ein Vater in Bremen seine Bedenken gegenüber einer inklusiven Schule vor der Kamera: »Die Schule muss differenzierten Unterricht machen. Sie muss jedes Kind auf dem Leistungsstandard, auf dem es ist, unterrichten können. Das können einige Schulen, aber eben noch lange nicht alle.«7 Bremen hat als erstes Bundesland Inklusion ins Schulgesetz geschrieben. In inklusiven Klassen lernen circa 22 Kinder. Bei bis zu fünf Kindern kann man von einer diagnostizierten Beeinträchtigung ausgehen. Für sie gibt es eine Lehrperson mit sonderpädagogischer Qualifikation. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Inklusive Schulen kommen auf alle Bundesländer zu. Der Bundestag hat das so bereits Ende 2008 beschlossen: Kinder dürfen nicht aufgrund von Behinderungen vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden. Alle Fraktionen stimmten zu. Eltern befürchten jedoch, ihre Kinder könnten nicht ausreichend gefördert werden. Sie fürchten zunehmende soziale Ungerechtigkeit und Nachteile für ihre Kinder.

Bildungssenatorin Renate Jürgens-Pieper äußerte dazu vor der Kamera: »Dieses Argument ist ein typisch deutsches, weil wir dieses gegliederte Schulwesen haben, in dem wir eben immer wieder versuchen, Kinder zu sortieren, nach ihren Schwächen, nach ihren Stärken. Das ist im europäischen Ausland und anderen Ländern längst beseitigt.«8 Förderschulen werben für sich selbst: Bei uns haben die Kinder mehr Erfolgserlebnisse beim Lernen, hier sind sie richtig, weil wir uns auf ihr Lerntempo einstellen. Doch der Schonraum Förderschule ist nicht so harmlos, wie er auf den ersten Blick erscheint. Welchen Wert hat beispielsweise ein Förderschulabschluss, wenn schon ein Hauptschulabschluss bei der Berufswahl wenig gilt? Außerdem bleibt die bange Frage: Wo zieht man die Grenze? Die Praxis zeigt: Die Hemmungslosigkeit beim Fällen der Diagnosen Wahrnehmungsstörung, Hyperaktivität und Lernschwierigkeiten nimmt derzeitig dramatisch zu. Als schweren Vorwurf an die Bildungsbehörde berichtet der Weser-Kurier vom 26. Februar 2011 von einer Zurückweisung von Diagnosen im Streit um Bremens »Förderkinder«. Die Behördensprecherin Karla Götz wies den Vorwurf der Ignoranz der Diagnosen entschieden zurück und berichtet, dass sich in 21 Fällen gezeigt habe, »dass der Einsatz eines Sonderpädagogen nicht ausreichend begründet war. Teils seien Gutachten veraltet, teils Eltern mangelhaft aufgeklärt worden über die Folgen einer Einstufung als Förderschüler. Und teils hätten sich äußerst lapidare Begründungen in den Akten gefunden. Etwa: ›Das Kind hat Defizite in der Sprache.‹ Oder: ›Es hat noch Rückstände im Lernen.‹«9 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

Die möglichst frühe Diagnostik von Lernschwierigkeiten birgt immer auch die Gefahr sich selbst erfüllender Prophezeiungen in sich. Sie ist auch eine Reaktion auf die Bestrebungen, unter dem Druck der Wirtschaftskrise das Bildungssystem nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben zu optimieren. Die Folge ist Lernen im Gleichschritt und die einseitige Interpretation von Individualität als Normabweichung. Diese Optimierungsbestrebungen finden ihre Resonanz in einer sich ausbreitenden tiefen Verunsicherung in der Mittelschicht. Wieder einmal geht ein Gespenst in der westlichen Welt um: Diesmal ist es die Angst vor dem Wirtschaftswunderland China. Die Schule soll Kinder für den unausweichlichen Konkurrenzkampf in einer globalisierten Welt stärken. Alle schwächenden Einflüsse will man von ihnen fernhalten. Leistungsdruck

Kinder mit Sprach-, Lern- und Verhaltensschwierigkeiten stehen natürlich unter besonderem Verdacht, einen schwächenden Einfluss auf ihre Mitschülerinnen und Mitschüler auszuüben. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite werden spezielle Maßnahmen zur Frühförderung, die ursprünglich als Nachteilsausgleich für diese Kinder gedacht waren, nun zum Teil eines fieberhaft um sich greifenden Förderns nach dem Motto: je früher, desto besser. Auf den ersten Blick scheint die Hirnforschung den Eltern hier recht zu geben. Nicht unsere Gene machen uns intelligent, sondern das, was wir lernen. Kinder lernen schon vor ihrer Geburt. Nach der Geburt vermehren sich die Nervenverbindungen in einer Wachstumsgeschwindigkeit, die im späteren Leben nie wieder zu erreichen ist. Nach der Formel »Use it or loose it«, gehen diese Verbindungen, wenn sie nicht benutzt werden, schnell wieder verloren. Der Neurobiologe Gerald Hüther schreibt dazu: »Die Erkenntnis der Hirnforscher, dass das menschliche Gehirn sich nutzungsabhängig strukturiert, ist in den Köpfen vieler Erwachsener offenbar so angekommen, dass sie jetzt der Meinung sind, man könne mit der Belehrung gar nicht früh genug beginnen und das Gehirn müsse trainiert werden wie ein Muskel, damit es von Anfang an komplexer wird und mehr leistet.«10 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Eine Galionsfigur des derzeitig grassierenden Förderwahns ist die US-amerikanische Rechtswissenschaftlerin Amy Chua. Mit vollen Rahsegeln segelt ihr Dreimaster unter der Parole: Drill, Erpressung und Disziplinierung. Diesem Flaggschiff folgt eine Armada Ehrgeiz zerfressener Eltern. Ihre wachsenden Ansprüche an die Förderung setzen das Schulwesen immer stärker unter Druck. Lehrerinnen und Lehrer müssen sich vor Eltern rechtfertigen, warum sie in der Lesefibel noch zwei Seiten hinter der Parallelklasse zurück sind und warum sie sich beim Üben der Zehnerüberschreitung mehr Zeit lassen als andere. Chua hat eine jüngere Schwester, die unter den Bedingungen einer Trisomie 21 (Downsyndrom) lebt. Sie erlebte das aufopferungsvolle Engagement ihrer Mutter für ihre jüngere Schwester unter sehr widrigen Umständen. Sie selbst schreibt dazu: »Als ich klein war, hatten meine Eltern kein Mitgefühl mit Behinderten. In weiten Teilen Asiens gelten Behinderungen noch heute als Schande, und als meine jüngste Schwester Cynthia mit Downsyndrom zur Welt kam, rieten etliche Verwandte, wir sollten sie doch in die Philippinen schicken und dort in einem Heim unterbringen. Stattdessen deckte sich meine Mutter mit Literatur über Lernschwächen aller Art ein und engagierte sich in Behindertenorganisationen.«11 Doch was ist mit den schulischen und künstlerischen Erfolgen von Chuas Töchtern? Hüther schreibt dazu: »Die primitivste Form, einen solchen emotionalen Lernprozess auszulösen, ist freilich die Androhung einer Strafe oder das Versprechen einer Belohnung. Wenn sich das Kind davon beeindrucken lässt, lernt es, wie es mit möglichst wenig Aufwand möglichst viele Belohnungen erlangt oder angedrohte Strafen vermeidet. Die dabei erworbenen Kenntnisse in beispielsweise Mathe oder Latein sind nur ein Nebeneffekt dieser Dressur. Sie bestehen aus auswendig gelernten Fragmenten, die schnell wieder vergessen werden, sobald die Abrichtung vorbei ist. Dass man durch solche Dressurmaßnahmen bei empfindlicheren Kindern nur Lernstörungen auslösen kann, ist jedem klar, der nicht selbst dieses Verfahren leidvoll ertragen und – wie er oder sie als Erwachsene dann meint – unbeschadet überstanden hat.«12

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

Leistungen unter Zwang bezahlen die Lernenden immer mit Sinnverlust. Eltern finden jedoch in philosophischer, soziologischer, psychologischer und pädagogischer Literatur genügend Ermunterungen, ihren eigenen Kindern durch Drill und Dressur Startvorteile im globalisierten Konkurrenzkampf zu verschaffen. Scheinbar stellt das Schulsystem Eltern vor die Alternative: glückliche Kindheit oder Zukunft. So ist Zukunft keine Verheißung mehr, sondern eine Drohung. Das gilt leider auch für die meisten Gesamtschulen: Es wird beim Lernen ausgesiebt und mit der Zukunft gedroht. Lernende an Hauptschulen werden ausgelacht. Das Abitur gilt als Muss. Dabei gibt es heute so viele Abschlüsse, die auch über Umwege sogar bis zur Uni führen.

Welche Denkmuster liegen dieser Argumentation zugrunde? Beide Seiten fordern Chancengleichheit, sowohl Fürsprecher als auch Gegner einer Schule für alle. Aber es gibt verschiedene Formen der Chancengleichheit. Nicht alle führen zu erwünschten Ergebnissen. Das legen zumindest Simulationen der Spieltheorie nahe. Darauf komme ich an späterer Stelle zurück. Zunächst möchte ich zeigen, wie eine spieltheoretische Simulation hilft, die Bildung sozialer Brennpunkte besser zu verstehen. Soziale Brennpunkte

Der sogenannte Armutsgürtel in Hamburg beginnt in den östlichen Stadteilen Jenfeld und Billstedt. Er zieht sich weiter nach Süden über Veddel und Wilhelmsburg bis zum Stadtteil Harburg. Seit den 1990er-Jahren nimmt die Anzahl gemischter Stadtteile ab, die Extreme nehmen dagegen zu. Der Stadtteil Veddel liegt bei staatlichen Hilfeleistungen (Hartz IV) vorn. Im März 2011 betrug der Anteil 28,6 % der Stadtteilbevölkerung.13 In den privilegierten Wohngegenden liegt die Hilfequote unter 8 %. Das ist zum Beispiel in den Elbvororten sowie in den Stadtteilen nah der Außenalster, im Alstertal und den Walddörfern der Fall. Diese Villenviertel heben sich deutlich ab von Plattenbausiedlungen, wie Mümmelmannsberg, Steilshoop und Osdorfer Born. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund beträgt im Osdorfer Born mehr als die Hälfte (57,9 %) – in Blankenese dagegen nicht einmal ein Fünftel (nur 17,2 %) und in Rissen weniger als ein Sechstel (15,3 %). Im flächengrößten Stadtteil Wilhelmsburg haben fast drei Viertel (73,3 %) der Jugendlichen unter 18 Jahren einen Migrationshintergrund. Eine noch erdrückendere Mehrheit bilden sie auf der Veddel mit 91,2 %.14 Die staatliche Ganztagsschule Slomanstieg im Zentrum der Elbinsel Veddel bietet eine Stadtteilschule für rund 450 Lernende aus 25 verschiedenen Nationen. Sie wirbt mit der sympathischen Einladung: »Wir sind eine Schule für alle: Bei uns sind Kinder aus allen Ländern der Welt, allen Religionen dieser Welt und aller Begabungen willkommen.«15 Die Inklusionsleistung solcher Schulen ist beachtlich. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf beträgt in Veddel zwischen 4 % und 6 %, in Wilhelmsburg sogar zwischen 6 % und 12 %. In den privilegierten Hamburger Elbvororten liegt er dagegen unter 1 %.16 Das Recht der Eltern, ihr Kind mit sonderpädagogischem Hilfebedarf an einer Regelschule anzumelden, führte in einigen Stadtteilschulen zu einem Ansturm. In einigen beträgt nun der Anteil der sogenannten Inklusionskinder weit über 30 %.17 1971 zeigte der Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Thomas Schelling an der Kennedy School der Harvard University, dass eine Abgrenzung von Bevölkerungsgruppen (Segregation) keine direkten Rückschlüsse darauf zulässt, welche Motive (wie zum Beispiel Klassenkampf, Rassismus oder Standesdünkel) dafür verantwortlich sind.18 Mit ein paar Münzen, die er auf einem Schachbrett nach einfachen Regeln bewegte, zeigte er, wie auch verborgene Kräfte zur Segregation führen können. Die Felder symbolisierten Häuser und zwei Sorten von Münzen dienten als unterschiedliche Personengruppen. Die Regel war einfach: Jede Münze blieb da, wo sie ist, bis sie in der Nachbarschaft zur Minderheit wurde. (Genauer: wenn sich auf den acht Nachbarschaftsfeldern weniger als drei gleiche Münzen befanden.) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Die anfängliche Durchmischung der Münzen nach dem Zufallsprinzip führte mit jedem Spielzug zu immer klarer voneinander abgegrenzten Gebieten. Damit zeigte Schelling, dass sich abgeschottete Gemeinschaften prinzipiell auch ohne Vorurteile gegen Hautfarbe, Behinderung, sexuelle Orientierung, Herkunft, Alter, Sprache usw. bilden können. Das soll nicht bedeuten, dass es solche Vorurteile nicht gäbe. Es gibt sie immer noch viel zu häufig. Sie befördern zwar die Bildung sozialer Brennpunkte, müssen aber nicht zwangsläufig deren Ursache sein. Aufklärung und Toleranz allein genügen also nicht, um Desintegration zu verhindern. Heute gilt dieses spieltheoretische Experiment als Klassiker der Sozialwissenschaften und wurde durch viele Computersimulationen bestätigt. 2005 erhielt Schelling den Nobelpreis für seine spieltheoretischen Analysen. Vom Verhalten ganzer Bevölkerungsgruppen (Makroverhalten) lässt sich also nicht automatisch auf die Motive Einzelner (Mikrosystem) schließen.19 Urbane Gettoisierung wie in den New Yorker Bezirken Bronx und Harlem erschien in einem neuen Licht: Soziale Brennpunkte bilden sich auch ohne niedrige Motive, wie Rassenhetze, Deportation, Apartheid, Rechtsradikalismus, Standesdünkel usw. Dafür genügen beispielsweise schon sich gegenseitig hochschaukelnde Einkommens- und Bildungsunterschiede. Der Grund ist verblüffend einfach: Menschen bleiben unter sich, weil sie Angst vor Ausgrenzung haben. Denn Ausgrenzung wird im Gehirn verarbeitet wie körperlicher Schmerz (siehe Einleitung). Minderheiten tun sich also nicht zusammen, weil sie sich abgrenzen wollen, sondern um sich nicht mehr in der Minderheit zu fühlen. Spätestens hier wird klar, dass eine inklusive Bildung natürlich oft nur ein zu kleines Pflaster auf eine mächtigere Wunde ist. Man bedenke nur die strukturelle Arbeitslosigkeit (seit Mitte der 1970erJahre sowohl in Wachstums- als auch in Krisenzeiten) und den sich erhöhenden Anteil von Zeitarbeit – zunehmend mit Löhnen, von denen ohne Zuschuss von Sozialleistungen niemand leben kann. Wohnungen in den privilegierten Stadtvierteln sind mit Hartz IV nun einmal nicht zu bezahlen. Und wie fühlen sich Eltern, wenn sie die Einzigen sind, die das Geld für einen Ausflug nicht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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aufbringen können, sich teure Schulmaterialien nicht leisten können usw. Doch die Einkommen der Eltern sind nicht das einzige Problem. Lehrende an den Schulen klagen: Sie erledigen die Hausaufgaben nicht, weil sie keinen eigenen Arbeitsplatz haben. Kinder dürfen zu Hause nicht laut lesen, weil es die Eltern beim Fernsehen stört. Dazu kommt, dass Industriegebäude, Hauptverkehrsstraßen und Plattenbauten den Raum zum Spielen einschränken. Es mangelt an positiven Rollenvorbildern. Auch in der Freizeit treffen Kinder aus sozialen Brennpunkten kaum auf Kinder aus gehobenen sozialen Schichten. Gegen solche Exklusionsprozesse sind inklusive Schulen natürlich kein ausreichendes Gegengewicht, höchstens ein Feigenblatt. Die frühe Selektion in verschiedene Schultypen verstärkt die Exklusion zusätzlich. Dagegen führt der Neurowissenschaftler Hüther folgende Argumente an: »Die Erfahrungen, die die Mehrzahl der Kinder in Familien aus der Unterschicht machen, unterscheiden sich natürlich erheblich von denen der Kinder aus der Oberschicht. Es ist kein Wunder, dass in ihren Augen als Elfjähriger ganz andere Dinge und Wahrnehmungen wichtig sind. Aufgrund dieser unterschiedlichen Erfahrungen hat sich ihr Hirn ja auch anders strukturiert. Und wenn man die von unten und die von oben dann noch in völlig unterschiedliche weiterführende Bildungseinrichtungen schickt, kann das Hirn dieser Kinder nur noch verschiedener werden, es ist dann optimiert für das betreffende Leben als Mitglied der jeweiligen sozialen Schicht.«20 Eine inklusive Schule kann nicht mehr versprechen, als der zunehmenden Bildung sozialer Brennpunkte entgegenzuwirken, soziale Gräben zu überbrücken, Begegnungen zu ermöglichen und Vorurteile abzubauen. Dadurch läuft Inklusion immer in die Gefahr, Desintegrationsprozesse zu übertünchen. Doch Vorsicht: Dieses Argument kann auch als bequeme Ausrede dienen, um die Hände in den Schoß zu legen. Die UN-Behindertenkonvention ist immerhin eine Chance, wenigstens in Schulen eine schlechte Verdoppelung von Exklusionsprozessen

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zu vermeiden. Der Schopf dieser Gelegenheit will ergriffen sein. Packen wir ihn also mit beiden Händen!

Dass der Abbau sozialer Gegensätze durch inklusive Projekte keinesfalls wenig ist, zeigen sozialpsychologische Experimente immer wieder. Ein Klassiker ist das Ferienlagerexperiment des türkischamerikanischen Sozialpsychologen Sherif Muzafar21 (1906–1988) von der Yale University aus dem Jahre 1954: Er wählte nach dem Zufallsprinzip 22 elfjährige Jungen ohne Verhaltensauffälligkeiten für zwei gleichgroße Gruppen aus. Die Gruppen taufte er wie Irokesenfamilien mit mythischen Tiernamen: Adler und Klapperschlangen. Die Vorbereitung des Experiments durchlief drei Phasen: 1. Phase: Beide Gruppen hatten keinen Kontakt miteinander. Dafür wurde jedoch der Zusammenhalt innerhalb der jeweiligen Gruppen durch gemeinsame positive Aktivitäten gestärkt, wie zum Beispiel Schwimmen oder Projektarbeit. 2. Phase: Zwischen den Adlern und den Klapperschlangen schürte das Forschungsteam Konkurrenzgefühle. Der Effekt: Die Teams protzten bald mit ihren Taten und machten sich über den traurigen Jammerhaufen der jeweils anderen Gruppe lustig. Und das, obwohl sie sich noch nie begegnet waren. 3. Phase: Die Gruppen traten in einer Reihe von Wettbewerben gegeneinander an, wie zum Beispiel beim Fußball oder Tauziehen. Die siegreiche Gruppe erhielt einen Preis. Zusätzlich provozierte man noch eine Reihe von Vorfällen, um die Konflikte zwischen den Gruppen aufzustacheln. Das Ergebnis: Sie beleidigten und verspotteten einander, als wären sie schon immer bittere Feinde gewesen. Die Klapperschlangen besetzten sogar das Baseballfeld und drohten, die Adler zu verprügeln. Das eigentliche Experiment: Nun sollten die Konflikte zwischen den Gruppen wieder abgebaut werden. Ist dies möglich, indem man einfach eine konkurrenzlose Atmosphäre schafft? Wenn nicht, wie dann? Eine konkurrenzlose Atmosphäre allein war nicht in der Lage, den schon angeheizten Konflikt abzukühlen. Das gelang erst, als man die Jungen im Camp dafür gewann, gemeinsam eine Blockhütte zu © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

Chancengleichheit

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bauen. Erst ein übergeordnetes Ziel konnte also die Gruppen zur gemeinsamen Zusammenarbeit bewegen. Das zeigt auch die Praxis: Wettbewerbe zwischen Schulen können zwar den Zusammenhalt innerhalb einer Schule festigen – sie haben jedoch die Tendenz, Inklusionsbemühungen zwischen Wohngegenden zu unterwandern. Gemeinsame, schulübergreifende Projekte sind dafür als Gegengewicht dringend nötig. Ich denke da an Lesepatenschaften, gemeinsame Theateraufführungen, interkulturelle Dialoge über Sport, gemeinsames Musizieren und zusätzliche Kursangebote. In Hamburg stehen für solche Projekte zum Beispiel folgende Initiativen: der Verein zur Förderung der Integration in Hamburg-Wilhelmsburg, die AG für das Puppenspiel e. V., Musikklang Horn e. V., Leseleo e. V. und WoW (Wissen oder Was).22 Leider gibt es von diesen schulübergreifenden Projekten noch viel zu wenig.

Chancengleichheit Der Matthäuseffekt

Wer viel hat, dem wird gegeben; wer wenig hat, dem wird genommen. Diese Faustformel, auch Matthäuseffekt genannt, liegt der Begabungsförderung zugrunde. Die Regel ist einfach: Um in den Genuss einer Begabtenförderung zu gelangen, muss man schon eine Begabung zeigen. Also: Ich muss schon gut Fußball spielen können, um am Training einer bewunderten Mannschaft teilnehmen zu dürfen; ich muss schon ein Instrument beherrschen, um einen begehrten Platz an einer Musikschule zu erhalten usw. Wie voll wäre ein Stadion beim Spiel einer unsportlichen Mannschaft, die mit Fußball nur ihren Mangel an Bewegung ausgleichen will? Auch ein Chor aus unmusikalischen Sängerinnen und Sängern, die nur singen, um ihr musikalisches Defizit auszugleichen, fände wahrscheinlich kein zahlendes Publikum. Wer schon etwas kann, erhält Begabtenförderung. Wer wenig kann, bleibt ohne Begabtenförderung. Das ist das Matthäusprinzip unseres Bildungssystems. Im Rahmen der Sonderpädagogik ist es genau umgekehrt: Wer wenig kann, erhält sonderpädagogische © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Förderung. Wer genug kann, bleibt ohne sonderpädagogische Förderung. Hier geht es ja schließlich um Nachteilsausgleich. Sonderpädagogik steuert in Richtung Ausgleich oder Normalisierung: Schwächen werden als Hilfe- oder Förderbedarf diagnostiziert. Ich muss also beispielsweise eine Schwäche in Mathematik zeigen, um mathematische Sonderförderung zu erhalten; ich muss unsportlich sein, um zu den Extraturnern gezählt zu werden usw. Das Normalisierungsprinzip überzeugt unseren Sinn für Fairness zweifelsfrei leichter als das Matthäusprinzip. Per se ist es sympathischer und sollte eigentlich den Schulfrieden wahren. Anhand mathematischer Simulationen, die auf den Nobelpreisträger Manfred Eigen zurückgehen, lässt sich aber zeigen, dass dieses Prinzip auch seine Schattenseite hat: Es bevorzugt das Mittelmaß.23 Übertragen auf Pädagogik fördert es Normvergleich und Lernen im Gleichschritt. Eigen illustriert das Matthäusprinzip an einem Alles- oder Nichtsspiel: »In diesem Spiel bekommt der, der schon viel hat, noch mehr dazu, und der der wenig hat, wird sein Weniges bald verloren haben.«24 Man legt dafür Quadrate mit zwei unterschiedlichen Farbtönen wie bei einem Schachbrett in Reihen nebeneinander. Das Schachbrettmuster besteht im Alles- oder Nichtsspiel aus 8 x 8 Feldern. 32 davon sind grau und 32 schwarz. Mit zwei Oktaedern würfelt man jeweils ein Feld. Nehmen wir an, es wäre Feld E-IV. Auf der folgenden Abbildung ist zu sehen, dass dieses Feld schwarz ist.

Abbildung 12: Das Alles-oder-Nichts-Spiel von Manfred Eigen: Felder auf dem Schachbrett würfelt man mit Oktaedern.

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Chancengleichheit

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Im zweiten Schritt würfelt man nun so lange, bis man ein Feld erhält, das grau ist. Sagen wir, es handele sich um das Feld D-II. Dieses graue Feld wird nun schwarz gefärbt. So geht es nun immer weiter: würfeln, Farbe bestimmen, würfeln, Farbe ersetzen usw. Da sich der Unterhaltungswert dieses Spiels in Grenzen hält, simuliert man es besser am Computer. Am Computerbildschirm sieht man, wie die Felder in hoher Geschwindigkeit ihre Farben wechseln. Das ordentliche Schachbrettmuster gerät völlig durcheinander. Im Flimmern der wechselnden Farbfelder sieht man, wie die Anteile beider Farben hin und her schwanken. Einmal sieht es fast so aus, als würde Grau sich durchsetzen. Dann gewinnt Schwarz wieder die Oberhand – und am Ende gewinnt dann vielleicht doch Grau. Die eine Farbe gewinnt, was die andere verliert. Auch hier handelt es sich also um ein Nullsummenspiel (siehe auch Kapitel Der unbewusste Drang zur Nachahmung). Trotz Chancengleichheit ist dieses Spiel instabil. Es führt am Ende zu einer Alles-oder-NichtsEntscheidung: Entweder ist das ganze Spielfeld am Ende nur noch schwarz oder ausschließlich grau.25 Zur besseren Übersicht verkleinere ich nun das Schachbrettmuster auf einen kleinen Ausschnitt. Diese Miniaturform besteht nun nur noch aus neun Feldern.

Abbildung 13: Ausschnitt des Schachbretts: Bei dieser Miniaturform des Spiels ist aufgrund der ungeraden Zahl der Felder eine faire Ausgangssituation unmöglich.

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Da die neun eine ungerade Zahl ist, sind die Chancen für eine Farbe erhöht. Im Fall der Miniaturform auf der Abbildung wäre es Schwarz (5:4). In 10.000 Versuchen am Computer zeigte sich: Die Gewinnchancen stehen etwa 51 zu 49 für Schwarz. Das liegt noch überraschend nah bei einer fairen Chance von 1:1. Mit jedem Feldgewinn für Schwarz wird das Spiel für Grau jedoch immer aussichtsloser: Die Chance beträgt dann nur noch 1:3, später 1:13 und schließlich 1:99. Grauanteil der Fläche

Gewinnchance für Grau (gerundet).

4:5

1:1

3:6

1:3

2:7

1 : 13

1:8

1 : 99

Diese Simulation illustriert also: Bei kleinen Unterschieden in der Ausgangssituation lohnt sich die Teilnahme am Wettbewerb für beide Parteien. Vergrößert sich der Unterschied jedoch, verliert für eine Partei das Spiel seinen Reiz. Nehmen wir an, die Gewinnchancen in der Simulation stehen für die Wahrscheinlichkeit, bei einem Fußballspiel in Ballbesitz zu gelangen. Kinder ohne Begabungsförderung im Fußball werden vielleicht bei einer Chance von 1 : 3 sicherlich noch Spaß am gemeinsamen Spiel haben. Bei einer Chance von 1 : 13 lässt der Spaß sicherlich schon merklich nach. Als Statist zuzusehen, wie sich Bessere durch mehr Chancen zum Üben auch noch verbessern, ist nun einmal entmutigend. Es ist schwierig für einen Triangelspieler, während eines Orchesterauftritts mit nur einer einzigen Chance sein Können unter Beweis stellen zu dürfen. Nur Wenige können das aushalten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Im Bildungssystem zeigt sich das Matthäusprinzip darin, dass in Deutschland die Ausgaben für Nachhilfe die Milliardengrenze längst überschritten haben. Die Schule verlässt sich darauf, dass der, der es zahlen kann, Hilfe von außen holt. Soziale Unterschiede werden damit weiter verschärft. Immer mehr Eltern sehen im Gymnasium den einzigen Schlüssel zum Erfolg. Wenn schon Real- und Hauptschulen als peinlich gelten, was ist dann erst mit Sonderschulen? Auch bei der Bildung sozialer Brennpunkte spielt das Matthäusprinzip eine zentrale Rolle: Wer reich ist, wird immer reicher, und wer arm ist, wird immer ärmer. Das ist keine Neiddiskussion, denn wachsende Ungleichheit besitzt in Gemeinschaften eine gewaltige Sprengkraft.

Das Matthäusprinzip basiert auf Wettbewerb. Der kann motivieren und herausfordern, solange die Differenz unter einem kritischen Wert bleibt. Ab wann eine Differenz entmutigt, ist individuell verschieden. Jedenfalls führen Entmutigungen zu weniger Teilhabe. Das ist ein wichtiges Argument der Befürworter eines gegliederten Bildungssystems und von Sonderschulen. Sie hätten recht, wenn das Matthäusprinzip das einzige Ordnungsprinzip in menschlichen Gemeinschaften wäre. Bevor wir uns den Alternativen zum Matthäusprinzip zuwenden, möchte ich noch einmal den engen Zusammenhang von Begabung und Übungsmöglichkeiten herausstellen. Die Taufliege der Begabungsforschung

Ein beliebtes Feld der Begabungsforschung ist das Gedächtnis von Schachmeistern. Scherzhaft kann man deren Rolle in der Begabungsforschung mit der Bedeutung der Taufliegen (Drosophila) für die Vererbungslehre (Genetik) vergleichen. Das schreibt zumindest der Schachexperte und Wissenschaftsjournalist Philip Ross. Der Redakteur beim Wissenschaftsjournal Scientific American ist selbst Schachspieler. Seine Spielstärke ist um 199 Punkte schwächer als die seiner Tochter Laura (Jahrgang 1988). Sie ist Schachmeisterin in den USA. Die Analyse von Hirnscans zeigt: Bei schwächeren Spielern ist der mittlere Schläfenlappen aktiver als Stirn- und Scheitelhirn. Das heißt: Ungeübte Spieler kostet das Schachspiel viel mehr Konzen© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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tration. Sie können auch schwerer zwischen zufällig zusammengewürfelten und wirklich erspielten Positionen der Figuren auf dem Schachbrett unterscheiden. Bei Großmeistern ist das Aktivierungsmuster im Gehirn genau umgekehrt: Der mittlere Schläfenlappen ist weniger aktiv als Stirnund Scheitelhirn. Sie müssen sich weniger konzentrieren, weil sie vollständige Positionsmuster aus dem Langzeitgedächtnis abrufen können.26

Abbildung 14: Hirnaktivierung bei Großmeistern: Der mittlere Schläfenlappen ist weniger aktiv als Stirn- und Scheitelhirn.

Eine Regel besagt, dass es ungefähr zehn Jahre harter Arbeit bedarf, auf irgendeinem Gebiet, wie zum Beispiel Schach, Musik, Sport, Rechnen usw., eine hohe Meisterschaft zu erlangen. Ohne intrinsische Motivation wäre das eine einzige Quälerei. »Selbst sogenannte Wunderkinder wie Gauß in der Mathematik, Mozart in der Musik oder Bobby Fischer im Schach müssen solch ein intensives Training durchlaufen haben – wahrscheinlich fingen sie nur früher damit an und mühten sich mehr als andere«, schreibt Ross und kommt zu folgendem Schluss: »Angestrengtes Üben ist der Schlüssel zum Erfolg – im Schach, in der klassischen Musik, im Sport © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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und auf vielen anderen Gebieten. Nach neuen Forschungsergebnissen spielt Motivation eine wichtigere Rolle als angeborene Fähigkeiten.«27 Angestrengtes Üben ohne intrinsische Motivation (Drill) hat eine negative Wirkung auf die Übungsbereitschaft. Frustration lähmt bekanntlich die Kräfte. Angestrengtes Üben aus eigenem Antrieb mit sozialem Rückenwind weckt dagegen zusätzliche Bereitschaft zur Wiederholung, einfach weil es Spaß macht. Das weitere Wachstum einer Begabung garantieren Erfolgserlebnisse. Denn Erfolge und eigener Ehrgeiz haben bekanntlich die Tendenz, sich gegenseitig hochzuschaukeln. Statt Leistungsdiagnostik bräuchten wir in den Schulen also viel mehr Motivationsdiagnostik und statt Leistungsdruck viel mehr Ermutigung. Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen: Eltern vererben ihren Kindern nicht nur die Gene, sondern auch die Umwelt.

Beispiel: Die oben erwähnte Laura Ross ist die erste Frau aus den USA unter den einhundert besten Spielerinnen und Spielern im Schach. Unter allen weiblichen und männlichen 13-Jährigen war sie 2002 die Bestplatzierte. Sie erreichte vor ihrem zehnten Geburtstag den achten Platz der Schachweltmeisterschaft für Mädchen unter zehn Jahren. In diesem Alter kennen viele Kinder noch nicht einmal die Schachregeln. Wie weit wäre sie ohne ihren schachbegeisterten Papa gekommen? Ohne geeignete Schlüsselerlebnisse kann sich Motivation nun einmal nicht entwickeln. Außerdem spielt das Imitationslernen bei der Motivationsentwicklung eine zentrale Rolle. Genau hier greift wieder das Matthäusprinzip. Ein Elternhaus, das viele Anregungen zum Spielen gibt, in dem man viel und gern liest, Naturerlebnisse teilt, Sport treibt usw., ist für Kinder nun einmal ein immenser Startvorteil. Damit kommen diese Kinder auch leichter in den Genuss einer Begabungsförderung. Den Einfluss von Genen und Umwelt in alle Himmelsrichtungen gedreht, gewendet und gespiegelt: Begabungsförderung führt zum Matthäuseffekt – und der bringt zwangsläufig Gewinner und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Verlierer hervor. Für Letztere bleibt nur der Nachteilsausgleich: das Normalisierungsprinzip. Der Normalisierungseffekt

Wäre das Matthäusprinzip das einzige Ordnungsprinzip in unserer Gesellschaft, wären wir längst eine Art Casting-Gesellschaft. Es gäbe nur eine Frage: Wie verkaufe ich mich am besten, um nicht ausgesiebt zu werden? Erfolg um jeden Preis! Diesem Begabungskult dienen Eltern, wenn sie Unterricht mit Karriereplanung für ihre Sprösslinge verwechseln, und Lehrende, wenn sie Test- und Prüfungsergebnisse zum alleinigen Maßstab ihres Unterrichtens erheben. Natürlich gibt es dazu ein wichtiges Korrektiv: Menschen helfen einander! Die Gegenthese zum Matthäusprinzip lautet: Wer wenig hat, bekommt. Wer viel hat, gibt. Sozialrechtlich sind in Deutschland zum Beispiel Anteile solcher Hilfen für Menschen mit Beeinträchtigungen im Nachteilsausgleich (§ 126 SGB IX) geregelt. Unabhängig von der Ursache, der Art oder Schwere einer Behinderung besteht ein rechtlicher Anspruch auf Nachteilsausgleich. Dieser Nachteilsausgleich im engeren rechtlichen Sinne ist jedoch nicht alles. Ein funktionierendes Normalisierungsprinzip beugt einer Spaltung der Gesellschaft vor. Dieses Prinzip ist unter anderem auch ein Maßstab für die Behindertenpädagogik. Den Normalisierungseffekt simuliert Manfred Eigen (siehe auch Kapitel Der Matthäuseffekt) ebenfalls mit einem spieltheoretischen Modell. Abgesehen von einer kleinen Änderung der Regel ähnelt es dem im vorausgegangenen Abschnitt besprochenen Spiel. Wieder haben wir ein Schachbrettmuster mit zwei Farben vor uns. Wieder würfelt man die Koordinaten eines Feldes. Diesmal wird die ermittelte Farbe jedoch nicht verdoppelt, sondern ausgetauscht. Eigen bezeichnet dieses Nullsummenspiel als Gleichgewichtsspiel.28 Die Wahrscheinlichkeiten verschiedener Ausgänge dieses Spiels sind symmetrisch verteilt (Binomialverteilung). Im Grenzfall konvergiert diese Verteilung gegen eine Gaußsche Normalverteilung: Das Spiel zeigt in sehr anschaulicher Weise, wie sich aufgrund der Schwankungskontrolle (als Folge der speziellen Strategiekombination) ein Gleichgewicht einstellt. Die Wahrscheinlichkeitsver© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Chancengleichheit

teilung […] im jeweiligen Spielergebnis entspricht einer Gaußschen Glockenkurve.29 Das lässt sich bereits an einer Miniaturform dieses Spiels zeigen.

Abbildung 15: Verschiedene Phasen des Gleichgewichtsspiels in der Miniaturform: die mittleren Verhältnisse, 5 : 4 und 4 : 5, sind die wahrscheinlichsten.

In der Abbildung sind drei Beispiele für mittlere Verteilungen dargestellt. Für sie gibt es die größte Anzahl von möglichen Kombinationen. Das ist ein allgemeines Muster: Es gibt auch immer viel mehr Möglichkeiten, eine mittlere Punktzahl in Tests, Klausuren, Prüfungen usw. zu erreichen. Das ist wahrscheinlichkeitstheoretisch leicht zu erklären: Es gibt einfach mehr Möglichkeiten für mittlere Kombinationen.30 Zum Vergleich: Wenn ich zwei Münzen werfe, ist es unwahrscheinlicher, zweimal Kopf zu werfen als die Kombination Kopf und Zahl. Für zweimal Kopf gibt es nur eine Möglichkeit: Münze 1: Kopf, Münze 2: Kopf.

Für Kopf und Zahl gibt es dagegen zwei Möglichkeiten: Münze 1: Kopf, Münze 2: Zahl.

sowie

Münze 1: Zahl, Münze 2: Kopf.

Das Problem ist, dass unsere Neigung zur gedanklichen Vereinfachung und Abstraktion uns hier leicht einen Streich spielt: Wir neigen dazu, die beiden Möglichkeiten – Kopf-Zahl und Zahl-Kopf – als eine einzige Möglichkeit zu betrachten. Dieselbe Illusion entsteht, wenn wir Menschen mit mittleren © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

Werten in Tests als homogene Gruppe betrachten. Denken Sie nur an Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller. Die Normalen erreichen ihren Mittelwert aber auf ganz unterschiedliche Weise. Deshalb sind sie ja in der Überzahl. Also bilden die Normalen eine heterogene Gruppe.31 Das zeigt sich auch in der Miniaturform von Eigens Gleichgewichtsspiel. Der Normalfall sind relativ ausgeglichene Anteile von Grau und Weiß (5 : 4 und 4 : 5). Dafür gibt es jeweils 126 Varianten. Im Vergleich: Für den Extremfall ausschließlich weißer Felder gibt es nur eine Variante. Grauanteil der Fläche ,

,

,

,

,

Anzahl der Varianten

4 : 5 oder 5 : 4

252

3 : 6 oder 6 : 3

168

2 : 7 oder 7 : 2

72

1 : 8 oder 8 : 1

18

0 : 9 oder 9 : 0

2

Beim Gleichgewichtsspiel beschleunigen Ausschläge in die Extrembereiche den Ausgleich. Die Annäherung an mittlere Werte verlangsamen ihn dagegen. Das Normalisierungsprinzip wirkt also stabilisierend. Das Gleichgewichtsspiel kennt kein Ende, damit auch keine Gewinner und Verlierer wie das Alles-oder-Nichts-Spiel. Auf der folgenden Abbildung sind die Häufigkeiten verschiedener Verteilungen dargestellt. Die Abbildung ist das Ergebnis von 50.000 Wiederholungen des Spiels am Computer. Wie zu erwarten war, sind mittlere Anzahlen deutlich häufiger als extrem hohe oder extrem niedrige. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Abbildung 16: Normalisierung im Gleichgewichtsspiel: Die Y-Achse zeigt die Häufigkeit an und die X-Achse verschiedene Grau-Weiß-Verhältnisse.

Normalisierung gleicht aus. Sie verhindert, dass die Schere zwischen arm und reich, zwischen Begabungsförderung und Förderung bei Lernschwierigkeiten zu groß wird. Damit entschärft sie gesellschaftlichen Sprengstoff. Das ist ihre Stärke. Ihre Schwäche ist der Kult um die Mitte. Der Durchschnitt wird zum Maß für alle. Individualität wird nur noch als Abweichung von der Norm gemessen. Gut gemeinte Normalisierungsbemühungen können sich verselbstständigen. Dann werden sie nicht selten zum Problem. Ein Beispiel sind vergleichende Leistungsmessungen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt, um Lernschwierigkeiten vorzubeugen. Jeder Mensch ist ein Universum von Eigenschaften. Tests, Proben oder Prüfungen messen zwangsläufig nur eine vorhersehbare Verteilung von einseitig ausgewählten Eigenschaften einer Gruppe von Kindern. Dazu kommt, dass es sich nur um eine Momentaufnahme handelt. Es ist aber entwicklungspsychologisch naiv, zu erwarten, alle Kinder könnten zum selben Zeitpunkt dasselbe leisten.

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

Emulative und kulturelle Umwege beim Lernen sind die Voraussetzung für Individualität und Begabung (siehe auch Teil I Anthropologische Wurzeln des Lernens). Normen, die man durch Messung und Mittelwertvergleich einer Lernkultur von außen auferlegt, werden zur Barriere beim Lernen und damit selbst zur Ursache für Lernschwierigkeiten. Das wirkt sich besonders negativ auf die intrinsische Motivation beim Helfen und auf gemeinsames Lernen in der Zone der nächsten Entwicklung aus.

Das Normalisierungsprinzip fördert also tatsächlich das Mittelmaß. Als alleiniges Ordnungsprinzip würde es zur Unterdrückung von Individualität und zum Lernen im Gleichschritt führen. Dass dies auch zur Entsolidarisierung führen kann, zeigt sich an Universitäten. Die Messung von Multiple-Choice-Ergebnissen in Standardabweichungen wird in Bachelor- und Mastermodulen immer beliebter: Hier genügt es nicht, gut zu sein, um eine Prüfung zu bestehen, sondern man muss auch hoffen, dass die anderen schlecht sind. Rational gesehen ist Kooperation in einem auf Normalverteilung beruhenden Leistungsbewertungssystem kontraproduktiv. Gibt es einen dritten Weg? Ja, Manfred Eigen nennt ihn den Hyperzyklus.32 Um seine volle Bedeutung für eine inklusive Pädagogik zu erschließen, kehre ich erneut zum zentralen Thema des Helfens zurück. Im Lichte der Hirnforschung erhalten Motive des Helfens gerade eine interessante Neubewertung. Helfen kann glücklich machen

Katrin war der Stolz der Lehrenden und der ganzen Klasse. Die Integration eines Mädchens mit der Diagnose einer geistigen Behinderung ist schließlich etwas ganz Besonderes. Ich war eingeladen, eine Supervision zur Motiventwicklung der Schülerinnen und Schüler der Klasse durchzuführen. So traf ich früh in der Schule ein und nahm am gesamten Schultag teil. Der Klassenraum war hell und besaß viele Regale mit Büchern, Heftern und ansprechenden didaktischen Materialien. Gleich neben der Tür befand sich eine gemütliche Sitzecke. Hier trafen sich die Lernenden und plauderten mit ihrem Lehrer über ihre Erlebnisse am Vortag. Katrin, das Mädchen mit der Diagnose einer geistigen Behinderung, folgte der Unterhaltung wenig und träumte eher vor sich hin. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Als die Schülerinnen und Schüler an ihre Arbeit gingen, war ich erstaunt, wie zielstrebig sie sich aus den Regalen ihre Hefte herausnahmen und von selbst eifrig zu arbeiten anfingen. Es war ihnen nicht vorgeschrieben, zu welchem Unterrichtsfach sie die Aufgaben lösen sollten. So übten die einen grammatische Strukturen, indem sie Lückentexte ausfüllten, andere rechneten Mathematikaufgaben und wieder andere fügten in eine Umrisskarte die fehlenden geografischen Bezeichnungen ein usw. Ich war begeistert von der Geschäftigkeit der Lernenden. »Und Katrin lernt die Uhr«, erklärte mir der Klassenlehrer. Ich sah Katrin, wie sie – etwas weniger emsig als die anderen – ein Puzzle mit verschiedenen Uhrzeigerstellungen und dazu zeitlich passenden Tätigkeiten legte. Genauer: Wenn die Zeigerstellung sieben Uhr anzeigte, war daneben die Abbildung eines Kindes, das gerade aus dem Bett aufstand, sich die Zähne putzte, frühstückte usw. Da ich ja wegen der Lernmotive da war, fing ich an, die Lernenden zu interviewen. »Warum rechnest du diese Aufgaben?«, fragte ich zum Beispiel einen Jungen. »Weil ich, wenn ich damit fertig bin, dann schon diese Aufgaben rechnen darf«, antwortete er und zeigte mir zuvorkommend die Arbeitsblätter für die nächste Aufgabenserie. »Ja, aber wofür rechnest du gerade diese Aufgaben?«, hakte ich nochmals nach. »Na, damit ich weiterkomme!« Jetzt schaute er mich an, als könnte er nicht glauben, dass ich das nicht kapieren wollte. »Wenn ich diese Aufgaben alle gerechnet habe«, jetzt zeigte er mir zwei große Aktenordner, »dann habe ich alles geschafft.« Ähnlich antworteten auch die anderen. Nur Katrin beantwortete meine Frage nach dem Warum mit: »Weil ich die Uhr lernen möchte.« Während ich mich mit Katrin unterhielt, kam ab und zu ein Schüler vorbei und legte ihr im Vorbeigehen ein Puzzle-Stück richtig hin. Als ich weiterging, hörte ich, wie Katrin ihre Nachbarin flüsternd fragte: »Was ist eigentlich Zeit?« Die Nachbarin legte ein Teil von Katrins Puzzle an die richtige Stelle und sagte: »Siehst du, so musst du das machen!« Immer wieder beobachtete ich Lernende, die auf einem Umweg an Katrin vorbeischlenderten. Sie hatten offensichtlich Freude daran, Katrin zu helfen. Sie wirkten auf mich immer ein wenig gerader auf © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

ihrem Weg von Katrin zurück zum Arbeitsplatz. Nur Katrin sank immer mehr in sich selbst zusammen. Helfen gilt als Inbegriff des selbstlosen Handelns. Dass sich Helfen jedoch auch selbst belohnen kann, zeigten experimentell die Psychologinnen Tristen Inagaki und Naomi Eisenberger von der University of California in Los Angeles. Mit bildgebenden Verfahren konnten sie nachweisen, dass Helfen Belohnungszentren tief im Innern des Gehirns aktiviert.33 Das Wichtigste unter ihnen ist der Nucleus accumbens septi (deutsch: der sich an die Scheidewand, das Septum, anlehnende Kern). Es handelt sich um ein Emotionszentrum, das zum limbischen System gehört.

Abbildung 17: Helfen aktiviert das Lustzentrum: Lage des Nucleus accumbens im Gehirn mit vielen Rezeptoren für das Glückshormon Dopamin.

Man bezeichnet dieses Zentrum mit vielen Rezeptoren für den Botenstoff Dopamin auch gern als Lustzentrum und Dopamin als Glückshormon. Die Dopaminkonzentration in diesem Zentrum steigt beim Menschen, wenn sich Anstrengung und positive Überraschung paaren – aber auch bei unerhofftem Geldgewinn, beim Genuss von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Schokolade oder beim Sex. Neu ist, dass sich das High-Gefühl auch dann einstellt, wenn man hilft oder spendet. Helfen kann glücklich machen. Personen, die helfen, zeigen im Magnet-Resonanz-Tomografen eine erhöhte Aktivität im Nucleus accumbens – egal, ob sie etwas bekommen oder etwas abgeben.34 Im Helfen selbst liegt also oft schon eine Belohnung. Verantwortlich dafür ist unsere angeborene Fähigkeit zur Perspektivübernahme. Wie beim Film oder im Theater projizieren wir eigene Empfindungen in andere Personen. Projektion geht jedoch auch immer mit Illusionen einher. Deshalb kann es passieren, dass das Helfen nur die Helfenden stärkt. Hilfestellungen beim Lernen zu verkraften, kostet dagegen oft zusätzliche Energie. Die Ursache liegt im engen Zusammenhang zwischen Helfen, Emotion und Lernen. Positive Emotionen sind wichtig für die Nachhaltigkeit von Gelerntem. Wenn wir uns an Gelerntes erinnern, erinnern wir auch die Emotion beim Lernen. Waren es positive Emotionen, erinnern wir uns gern und häufiger. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn man sich selbst als hilfreich für andere erlebt hat. Bei negativen Emotionen vermeiden wir die Erinnerung. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn man sich unangefragter Hilfe ausgeliefert fühlt.

Katrin war also eine willkommene Gelegenheit, um das Bedürfnis zu helfen ausleben, ausprobieren und weiterentwickeln zu können. Nur Katrin schien mir bei jeder Hilfeleistung immer kleiner und unsicherer zu werden. Das Problem war nur, dass sich von Katrin niemand helfen lassen wollte. Dies wollte ich ändern. Meine Inspirationsquelle war eine weitere spieltheoretische Simulation von Eigen: der Hyperzyklus. Der Hyperzyklus

Manfred Eigen (siehe auch Kapitel Der Matthäuseffekt) beantwortet mit dem Hyperzyklus die Frage: Wie kann man sich den Übergang von einfachen Molekülen zu komplizierteren Kreisläufen des Lebens vorstellen? Der Hyperzyklus erklärt darüber hinaus, wie komplizierte © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

ökologische Systeme sich selbst erhalten – und wie sie zugrunde gehen.35 Er ist aber auch in der Lage, Licht auf komplizierte Wechselwirkungen des gegenseitigen Helfens in menschlichen Gemeinschaften zu werfen. Eine einfache Variante dieser spieltheoretischen Simulation besteht wieder aus einem Schachbrett aus 8 x 8 Quadraten. Diesmal sind die 64 Quadrate allerdings nach Zufallsprinzip gelb, rot, blau und grün gefärbt. Dabei gilt die folgende kreiskausale Regel: Gelb fördert Rot, Rot fördert Blau, Blau fördert Grün und Grün fördert wiederum Gelb.

Abbildung 18: Hyperzyklus: Fällt ein Glied der Kooperation aus, beendet das Matthäusprinzip den Fluss des Gebens und Nehmens.

Die Spielregel besteht aus zwei Schritten: 1. Der Zufallsgenerator wählt zwei beliebige Quadrate A und B aus. 2. Fördert die Farbe eines der acht Nachbarquadrate von B dessen Farbe, nimmt A die Farbe von B an. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Über viele Spielzüge hinweg zeigt das Programm Phasen, in denen jeweils eine Farbe dominiert: auf Gelbphasen folgen Rotphasen, auf Rotphasen folgen Blauphasen usw. Stirbt jedoch eine Farbe aus, entsteht eine Sackgasse. Das Spiel verliert seinen zyklischen und kreiskausalen Charakter und wird vorhersagbar. Am Ende besitzen alle Quadrate die gleiche Farbe. Wie und wann das geschieht, ist zukunftsoffen. Das bedeutet: Wenn ein Kettenglied in der kreiskausalen Förderung ausfällt, bricht die Kooperation zusammen. Der Fluss des gegenseitigen Gebens und Nehmens geht in eine verschärfte Form des Matthäusprinzips über: Am Ende gibt es nur einen Gewinner, alle anderen verlieren. Diesen Zusammenbruch kann man vermeiden, indem man das Spielfeld und die Anzahl der beteiligten Farben erweitert. Ich habe zum Beispiel die Anzahl der beteiligten Farben von vier auf 16 erhöht. Das Spielfeld habe ich auf alle Bildschirmpixel eines Computerbildschirms erweitert.36 Dann kann man beobachten, wie sich das anfängliche Durcheinander der Farbpunkte allmählich zu Flecken ordnet. Doch bald geht das Fleckenmuster in geordnete, spiralenartig ineinander verschlungene Formen über:

Abbildung 19: Drei Phasen eines erweiterten Hyperzyklus: Die Farben ordnen sich selbst zu Mustern, die dann zeitlich oszillieren.

Der Hyperzyklus beschreibt aber darüber hinaus auch ein allgemeines Muster eines Kreislaufs gegenseitiger Förderung und Hilfe. Er zeigt, wie ein Gesamtsystem und alle seine Bestandteile von selbstloser Unterstützung profitieren können. Eine Miniaturform dieses Spiels kommt mit drei Farben aus. Wird ein graues Feld gewürfelt, tauscht man es mit einem schwarzen aus, ein schwarzes mit einem weißen und ein weißes wiederum mit einem grauen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

Abbildung 20: Miniaturform des Hyperzyklus: Grau fördert Schwarz, Schwarz fördert Weiß und Weiß fördert Grau.

Hiermit kann man zeigen, dass auch das Normalisierungsprinzip von kreiskausaler Wechselwirkung profitiert. Es ermöglicht phasenweise Individualisierung, wie an den Spitzen in einem Ablaufprogramm über 21 Spielzüge sichtbar wird.

Abbildung 21: Phasen der Miniaturform eines Hyperzyklus: Die Schwankungen zeigen, dass Farben zeitweilig von der Förderung mehr profitieren als andere.

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Auf die Dauer pegeln sich jedoch die unterschiedlichen Phasen stärkerer Inanspruchnahme von Förderung auf Mittelwerte um drei ein. Dies zeigt die folgende Abbildung mit den mittleren Förderungswerten nach einhundert Spielzügen.

Abbildung 22: Gerechtigkeit durch Individualisierung: Trotz Schwankungen in der Förderung liegen die Mittelwerte bei allen Farben um drei.

Dieses Modell leuchtet uns vielleicht nicht unmittelbar ein, weil wir es anders gelernt haben: Da sich Hilfe ausnutzen lässt, argwöhnen wir, dass Förderung der einen Seite zwangsläufig zur Benachteiligung der anderen Seite führen muss. Der Hyperzyklus zeigt, dass dies nicht in jedem Fall so ist. Das Hyperzyklusprinzip lautet: Wer hat, investiert in die Gemeinschaft. Angewendet auf Bildung: Wer etwas weiß oder kann, teilt es mit den anderen. Der Hyperzyklus regt dazu an, einen pauschalen bevölkerungspolitischen Blick auf Schülerinnen und Schüler zu verlassen. Der Kreislauf gegenseitiger Hilfen beim Lernen fördert eine Gemeinschaft, in der die gegenseitige Perspektivübernahme angeregt und

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gefördert wird. Wichtig ist, dass gegenseitiges Helfen freiwillig bleibt und sich spontan aus der Lernsituation ergibt. Wenn schon Eineinhalbjährige das spontane Bedürfnis zum Helfen zeigen (siehe auch Kapitel Zum Helfen geboren), gilt es bei älteren Kindern, dieses Bedürfnis zu erhalten oder erneut zum Leben zu erwecken. Kulturelles Lernen ist ohne Hilfen in der Zone der nächsten Entwicklung unmöglich. Unangefragte Hilfe, die nicht in der Zone der nächsten Entwicklung liegt, kann dagegen zu Aversionen gegen Lerninhalte führen. Deshalb ist eine Lernatmosphäre erstrebenswert, in der Perspektivwechsel und Einanderhelfen selbstverständlich sind. Da Helfen mit positiven Emotionen einhergeht, sorgt es außerdem für die Nachhaltigkeit des Lernens bei den Helfenden.

Die Fragen, die sich aus diesem Modell für mich ergeben, sind folgende: Ist dieses Modell für das gemeinsame Lernen relevant? Inwieweit ist es möglich, in pädagogischen Prozessen Kreisläufe der gegenseitigen Hilfe und Förderung so zu organisieren, dass niemand nur Hilfe empfängt, sondern auch sich selbst als hilfreich erleben kann? Welchen Stellenwert bei der Kompetenzentwicklung hat es, sich selbst als hilfreich für andere zu erleben? Antworten holte ich mir in Katrins Klasse (siehe auch Kapitel Helfen kann glücklich machen). Der Klassenlehrer ließ sich von mir überreden, einen Wettbewerb auszurufen: Wem gelingt es, Katrin zu erklären, was Zeit ist? Katrin wurde zur Schiedsrichterin ernannt und sollte bewerten, ob die Antworten ihr weiterhelfen. Damit wurde Katrin gleichzeitig zur Helferin der Lehrenden. Ihre Mitschülerinnen und -schüler liefen zu Höchstform auf. Sie unternahmen die tollsten Erklärungsversuche, wie zum Beispiel: –– »Zeit, das ist das, was man mit der Uhr stoppt.« –– »Zeit ist das, was meine Mutti für mich hat, auch wenn sie arbeiten gehen muss.« –– »Zeit ist Geld.« –– »Zeit ist das, was um ist, wenn wir Schulschluss haben.« –– usw. Es wurde viel gelacht. Doch Katrin schüttelte jedes Mal amüsiert den Kopf, wenn wir sie fragten, ob sie nun verstanden hätte, was Zeit sei. Schließlich schlug der Klassenlehrer für die Projektwoche © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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den Titel Alles über die Zeit vor. Eine Gruppe baute Sanduhren, eine andere eine Sonnenuhr und eine weitere Gruppe versuchte, eine Uhr mit einem Pendel zu basteln. Darüber hinaus lasen sie das Märchen Momo von Michael Ende, in dem ein Mädchen gegen sogenannte Zeitdiebe kämpft, überprüften die Pünktlichkeit von Zügen auf dem Bahnhof und besuchten ein Planetarium. Bei der Auswertung des Planetariumbesuchs kam die Rede darauf, dass man mindestens zwei Bewegungen braucht, um die Zeit zu messen. »Zwei Bewegungen«, rief Katrin überrascht, »die Zeiger! Jetzt weiß ich – ich muss die Zeiger vergleichen!« Erst wussten wir überhaupt nicht, was sie meinte. Aber nach einigem Hin und Her wurde klar: Katrin hatte im vollen Vertrauen auf ihr Lernmaterial die Zeigerpositionen auswendig gelernt. Aber je genauer sie dabei vorging, umso mehr Zeigerpositionen fand sie vor. So hätte sie sich prinzipiell unendlich viele Zeigerpositionen einprägen können, ohne dass ihr die Bewegung der Zeiger als Einzelne klar geworden wäre. Es ist eine Sisyphusarbeit, die sie da geleistet hatte, deshalb war ihre Frage: »Was ist Zeit?« so wertvoll, nicht nur für sie selbst, sondern für uns alle. Ich hatte gelernt, dass Hilfe zur Selbsthilfe als pädagogisches Prinzip nicht genügt. Dies habe ich auch anhand von Simulationsmodellen aus der mathematischen Spieltheorie verdeutlicht. Für die Inklusion ist es sehr wichtig, dass der Fluss des Gebens und Nehmens beim Helfen nicht abreißt. Die Lernenden helfen einander. Die Lehrenden helfen nicht nur, sondern lassen auch sich selbst helfen. Dadurch können sie den Fluss des Gebens und Nehmens steuern und den Hyperzyklus immer wieder schließen.

Die Ökonomie des Teilens Die Pluralität des Lernens

Wann begann die einzigartige Kultur des Lernens, die uns Menschen zu dem machte, was wir heute sind? Mit dem ersten Faustkeil vor mehr als zwei Millionen Jahren? Wir können darüber nur spekulieren. Halten wir uns also an Tatsachen: Im nördlichen Thüringen bei Bilzingsleben – das ist eine kleine Gemeinde zwischen dem Kyffhäusergebirge und Erfurt – fand man tief unter der Erde die Überreste © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

eines Dorfes. Die Bewohner waren keine Menschen wie wir, sondern Frühmenschen (Homo erectus). Zwar gingen sie schon aufrecht, ihre Gehirne waren jedoch um ein Drittel bis ein Viertel kleiner als die unsrigen. Sie lebten hier vor circa 370.000 Jahren. Zu dieser Zeit war an anatomisch moderne Menschen wie uns nicht einmal zu denken. Da gab es nicht mal Neandertaler. Trotzdem ist der Zeitraum, der zwischen ihnen und uns liegt, nur ein winziger Bruchteil, in Anbetracht der circa zwei bis drei Milliarden Jahre andauernden Geschichte des Lebens auf der Erde. Verfügten diese Frühmenschen schon über eine Lautsprache wie wir? Irgendwie müssen sie sich jedenfalls untereinander verständigt haben. Der Mittelpunkt ihres Dorfes war ein kreisförmiger gepflasterter Platz mit circa neun Metern Durchmesser. Feuersteinwerkzeuge zum Schneiden, Schaben und Bohren, Geräte aus Knochen und Elfenbein sind beredte Zeugnisse dieser handwerklich geschickten Dorfgemeinschaft.37 Wer hat den ersten Speer erfunden? Für Temple Grandin (siehe auch Kapitel Fragile Potenziale) keine Frage. Die renommierte Wissenschaftlerin und Autistin wird nicht müde, in Talkshows immer wieder sinngemäß zu betonen: Das waren nicht die miteinander plaudernden Spaßvögel, die am Lagerfeuer hockten. Das war irgendjemand mit Asperger-Syndrom, der in der hintersten Ecke der Höhle saß! Wer sollte sonst die Geduld aufbringen, solange auf einen Stein einzuschlagen, bis eine Speerspitze daraus wird? Gibt es bei den Ausgrabungen in Bilzingsleben auch Zeugnisse eines frühmenschlichen Geisteslebens? Ja, gekerbte Tierknochen erinnern verblüffend an Strichlisten, wie man sie noch heute auf Tafeln oder Bierdeckeln findet. In dieser Zeit hatte die Entwicklung immer leistungsfähigerer Merkhilfen längst begonnen. Heute reicht die Palette der Merkhilfen bereits von Notizzetteln, Kalendern, Gebrauchsanweisungen bis zu Fotoalben, Navigationssystemen, iPhones usw. Einige Hilfen haben in menschlichen Kulturen die Tendenz, sich zu materialisieren und damit zu verselbstständigen. Sie werden dadurch unabhängiger von helfenden Personen. Über Bücher können wir uns beispielsweise Ratschläge, Hinweise und andere Hilfen von längst Verstorbenen holen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Wie wurden die Kinder der Frühmenschen unterrichtet? Verständigten sie sich mit Zeigegesten und Gebärden? Ich versuche, mir weit geöffnete Kinderaugen vorzustellen, die aufmerksam feierliche und geheimnisvolle Praktiken der erwachsenden Frühmenschen verfolgten: Lagerfeuer schüren, Essen zubereiten, Jagdvorbereitung, Speere schnitzen usw. Klar ist: Lernkulturen gab es schon in grauer Vorzeit. Wie heutige Lernkulturen brauchten sie alle Arten zu lernen, sowohl Emulationsals auch Imitationslernen. Moderne Archäologie und Anthropologie vermitteln uns eine leise Ahnung davon, wie sehr der Alltag des Jetztmenschen das Produkt einer relativ kurzen Geschichte einer außergewöhnlichen Lernkultur ist: »Die Tatsache, dass die Kultur ein Produkt der Evolution ist, bedeutet nicht, dass jedes ihrer besonderen Merkmale seine eigenen genetischen Grundlagen hat. Dafür stand nicht genügend Zeit zur Verfügung.«38 Das Wort Kultur hat lateinische Wurzeln: cultura (für Landbau, aber auch Pflege von Körper und Geist) stammt von dem Verb colere ab, das neben bebauen auch so viel bedeutet wie wohnen, pflegen und verehren. Die Bedeutung einer Kultur des Lernens, in der es ein plurales Angebot von Lernwegen gibt und in der gegenseitiges Helfen ansteckend wirkt, kennzeichnet ein gelingendes Lernklima. Dieses Lernklima, das immer wieder in den verschiedensten Schulformen zu beobachten ist, wird meiner Ansicht nach zu wenig gewürdigt und durch Leistungsdruck unterwandert. Monokulturen lassen sich eben besser kontrollieren als Mischkulturen. Als 1994 die Salamanca-Erklärung Inklusion als Leitprinzip einer internationalen Bildungspolitik festlegte, gab sie den Anstoß, die vorherrschenden Monokulturen in den Bildungsinstitutionen weltweit zu überwinden. Sie fordert, dass Schulen alle Kinder aufnehmen sollen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, Behinderungen und Begabungen sowie sprachlichen, kulturellen und ethnischen Besonderheiten. Die Praxis zeigt: Forderungen allein genügen nicht. Wichtig

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ist die Bekanntmachung und wissenschaftliche Begleitung gelingender Projekte. Es gibt Schulen, die jahrzehntelang Erfahrungen mit inklusivem Unterricht gesammelt haben und die sich konsequent an den individuellen Bedürfnissen aller Kinder orientieren. Jahrgangsgemischter Unterricht ist ein Beispiel dafür, wie eine Lernkultur gefördert werden kann, in der Lernende gegenseitige Hilfe und Perspektivübernahme täglich praktizieren und üben.

Wenn die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 fordert, ein inklusives Bildungssystem zu errichten, passiert das nicht aus heiterem Himmel. Vielmehr knüpfen die Vereinten Nationen mit dieser Idee an schon bestehende Traditionen der erfolgreichen Integration und Inklusion an. Ein beeindruckendes Beispiel ist die Grundschule Langbargheide aus Hamburg-Lurup. Sie ist Preisträgerin des Jakob Muth-Preises für inklusive Schule 2012: Man könnte sagen, die Grundschule Langbargheide habe einen Standortnachteil: Lurup ist ein sozialer Brennpunkt. Die Schülerinnen und Schüler sprechen 27 verschiedene Sprachen, viele haben Förderbedarf: Lernschwierigkeiten, Sprachprobleme und Verhaltensauffälligkeiten. Man kann aber auch sagen, die Schule Langbargheide habe einen Standortvorteil: Hier hat man seit 18 Jahren Erfahrung mit integrativen Regelklassen, die Zusammenarbeit in Klassenteams, z. B. zwischen Grundschullehrern und Sonderpädagogen, gehört zum Schulalltag.39

Weitere Beispiele in Deutschland sind integrative Kindertagesstätten, Universitäten und Betriebe, in denen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen ausgebildet werden und arbeiten, sowie Projekte, die barrierefreies Wohnen mitten in der Gesellschaft ermöglichen. Um auf solche Traditionen aufmerksam zu machen und neue Projekte bekannt zu machen, gibt es viele Initiativen, wie die Landkarte der inklusiven Beispiele.40 Diese Karte wird ständig erweitert und täglich aktualisiert. Wären solche Traditionen nicht so überzeugend, würde man sie kaum zur Nachahmung empfehlen. Auf welche anthropologische Konstante setzen diese Traditionen? © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Ein Schlagwort ist partizipieren. Es wird ins Deutsche übersetzt mit Wörtern wie sich oder jemanden beteiligen, an etwas teilhaben oder an etwas teilnehmen. Diese drei Wörter haben den Wortstamm teil gemeinsam. Auch in dem Wort partizipieren steckt das lateinische Wort pars für Teil. Beteiligung, Teilhabe und Teilnahme basieren beim Menschen in der Tat auf anthropologischen Konstanten, nämlich: Teilen und Mitteilen. Teilen

Nehmen wir an, jemand gibt Ihnen Geld. Einfach so. Sagen wir zweihundert Euro. Die Sache hat jedoch einen Haken: Sie müssen das Geld teilen – und zwar mit einer fremden Person. Diese Person sitzt im Nebenraum und weiß genau, was hier gespielt wird. Sie dürfen nur ein einziges Angebot formulieren. Jede weitere Kommunikation ist ausgeschlossen. Ist die fremde Person mit Ihrem Angebot unzufrieden, kann sie den Deal ablehnen. Dann ist das Geld futsch – und zwar für beide, für Sie und die fremde Person. Sollte die fremde Person jedoch zähneknirschend auf Ihr Angebot eingehen, erfolgt die Teilung ganz nach Ihrem Vorschlag. Welches Verhalten wäre hier das ökonomischste? Sichern Sie sich 50 %, 75 % oder besser gleich 90 % des Geldbetrages? Heikle Frage, oder? Unrealistisch meinen Sie? Nicht, wenn Sie in eines der modernen Labors für experimentelle Wirtschaftsforschung geraten. Solche Labors schießen an den Universitäten gerade aus dem Boden wie Krokusse im März. Hier bringt man Menschen gezielt in künstliche Entscheidungssituationen. Diese Künstlichkeit ist gewollt, denn sie ermöglicht eine präzise Analyse und ein vollständiges mathematisches Verständnis. Das Beispiel mit den zweihundert Euro ist eine Variante des sogenannten Ultimatumspiels. Es enthält eine logische Falle: das NashGleichgewicht. Dieses Gleichgewicht benennt man seit den 1950erJahren nach dem Mathematiker und Nobelpreisträger John Nash. In der Spieltheorie (siehe auch das Kapitel Der unbewusste Drang zur Nachahmung) tritt dieses Gleichgewicht regelmäßig in Konkurrenzund Konfliktsituationen auf, in denen Parteien nicht miteinander kommunizieren können oder wollen. Die unglaubliche und bewegende Geschichte des an Schizophrenie erkrankten John Forbes Nash hat Silvia Nasar 1998 in ihrem Buch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

A Beautiful Mind festgehalten.41 Später diente dieses Buch auch als Stoff für einen gleichnamigen Hollywoodfilm, in dem Russell Crowe die Rolle des halluzinierenden und verzweifelt um seinen Verstand kämpfenden Genies verkörperte. Als Spieltheoretiker kam Nash zu folgendem Ergebnis: Rechnet man in bestimmten Konkurrenz- und Konfliktsituationen alle möglichen Kombinationen von Strategien durch, landet man bei einem rationalen Endpunkt. Von hier führt jeder Strategiewechsel nur noch zur Verschlechterung für alle Beteiligten. Das ist etwa vergleichbar mit dem Patt der waffenstrotzenden Atommächte im Kalten Krieg. Der rationale Endpunkt des Rechnens kann die Entscheidung sein: Es ist besser zu kooperieren! In anderen Fällen ist es wiederum am rationalsten, nicht zu kooperieren. Letzteres wäre beispielsweise in dem Spiel Schere, Stein, Papier der Fall (siehe Kapitel Der unbewusste Drang zur Nachahmung). Die Ermittlung des Nash-Gleichgewichts bietet rationale Lösungen auf Fragen wie: Welche Methode ist bei der Aufteilung von Ressourcen für alle konkurrierenden Parteien akzeptabel? Welche Rahmenbedingungen befördern eine Win-win-Situation? Welche Preissenkungen sind für mehrere Anbieter auf einem Markt sinnvoll? Usw. Ein sehr einfaches Beispiel für ein Nash-Gleichgewicht bietet das Cut-and-Choose-Spiel: Angenommen, Geschwister streiten sich um einen Rest Sahnetorte. Die Eltern drohen: »Einigt euch oder ihr bekommt beide nichts!« Die Kinder, Bruder und Schwester, ermitteln mit einem Münzwurf oder dem Spiel Schere, Stein, Papier, wer wählen darf. Das andere Kind teilt. Nehmen wir an, die Aufgabe des Teilens fällt dem Bruder zu. Das Nash-Gleichgewicht zeigt sich darin, dass er das verbliebene Tortenstück so gerecht wie nur möglich aufteilen wird. Denn der plötzlich zu einem Pedanten des gerechten Teilens mutierte Bruder weiß ganz genau: Schummeln lohnt sich nicht! Jede List, sich ein größeres Stück abzuschneiden, kann nur schiefgehen. Seine Schwester wird ihm das begehrte größere Kuchenstück vor der Nase wegschnappen. Schließlich darf sie ja vor ihm wählen. Ihm bliebe nur der mickrigere Rest. Je egoistischer seine Absicht, desto fairer wird er also teilen. Dieses Beispiel illustriert: Kooperation kann also auch auf rationalem Wege zustande kommen. Rationale Nutzenmaximierung ist © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

Die Ökonomie des Teilens

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Abbildung 23: Das Nash-Gleichgewicht bei der Cut-and-Choose-Methode: Eine Person teilt, die andere wählt aus.

nicht per se unkooperativ. Sie kann Menschen sogar zur Kooperation nötigen. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn weder intrinsische Motivation für Kooperation vorhanden ist, noch von der Situation ein positiver Aufforderungscharakter zur Kooperation ausgeht. Auch hier sind die Atommächte während des Kalten Krieges ein beredtes Beispiel. Die Bedeutung solcher Fälle im alltäglichen Verhalten von Menschen, die verhandeln, Verträge abschließen, Geld leihen oder verleihen usw., untersucht der 55-jährige Ökonom Ernst Fehr an der Universität Zürich. Er ist Superstar und Medienliebling, wenn es um ökonomische Fragen geht. Im Geheimen sieht man in ihm schon einen Anwärter für einen Nobelpreis. Auch er nutzt das eingangs geschilderte Ultimatumspiel. Zur Erinnerung: An das Geschenk eines Geldbetrages von zweihundert Euro ist die Bedingung geknüpft, dass Sie diesen Betrag mit einer fremden Person einvernehmlich teilen. Ihnen ist nur ein einziger Vorschlag zur Teilung erlaubt. Die fremde Person ist vollständig informiert und darf das Angebot ablehnen. Im Falle der Ablehnung gehen Sie und die fremde Person leer aus. Das Nash-Gleichgewicht liegt hier in einer möglichst ungerechten Teilung. Im Vergleich mit der Cut-and-Choose-Methode haben wir hier genau den umgekehrten Fall. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Schließen wir einmal Cent-Beträge aus. Dann ist dies die rationalste Lösung: Sie nehmen sich 199 Euro und speisen die fremde Person mit dem Minimalbetrag von einem Euro ab. Alles klar! Oder würden Sie anders handeln? Wird die fremde Person dieser Teilung zustimmen? Rational betrachtet: ja! Denn sie hätte keine andere Wahl: Ein Euro wäre immerhin der Spatz in der Hand. Würde sie ihn ablehnen, bekäme sie gar nichts. Doch Menschen sind nicht so einfach gestrickt: Bei Erwachsenen führten Fehr und andere eine groß angelegte Studie mit dem Ultimatumspiel durch. Daran nahmen nicht weniger als 15 Stammesgesellschaften aus vier Kontinenten teil. Das Ergebnis ist eindeutig: Trotz großer kultureller Unterschiede war das Resultat stets weit entfernt von dem, was das Nash-Gleichgewicht vorhersagt. Menschen sind also weniger rational, als man glaubte. Die meisten Menschen legen überall auf der Welt hohen Wert auf Fairness. (Es sei denn, sie haben Wirtschaftswissenschaften studiert.) Menschen sind sogar bereit, Geldbeträge zu opfern, um Unfairness zu bestrafen. Das zeigt sich vor allem am Verhalten der zweiten Person. Wenn sie ein Angebot ablehnt, weil sie es als ungerecht empfindet, schadet sie ja schließlich auch sich selbst. Beim Ultimatum-Spiel ergaben sich jedoch auch messbare kulturelle Unterschiede: Ein besonders knausriger Stamm im Amazonas-Becken gestand im Durchschnitt der fremden Person nur 26 % zu. Westliche Zivilisationen opferten im Schnitt 45 %. Die Insulaner eines besonders großzügigen Volkes in Papua-Neuguinea boten sogar mehr als 50 % an.42 Kooperation kann auch auf rationalem Wege zustande kommen. Rationale Nutzenmaximierung ist nicht per se unkooperativ. Untersuchungen zur Bereitschaft von Menschen zum Teilen legen nahe, dass dem Vertrauen in die Kooperationsbereitschaft offensichtlich angeborene Tendenzen zu Fairness und Solidarität zugrunde liegen. Auch wenn es hier große kulturelle Unterschiede gibt, gibt es eine Gemeinsamkeit: Die meisten Menschen schenken fremden

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Personen Vertrauen und sind bereit, egoistische Impulse zu unterdrücken. Die kulturellen Unterschiede geben Hinweise darauf, inwieweit kooperatives Verhalten kulturell gefördert oder unterdrückt wird.

Das faire Stirnhirn

Die Hemmung egoistischer Impulse kostet Kraft. Denn der Verzicht auf Eigennutz erfordert eine Aktivierung des Stirnhirns (siehe Kapitel Sozialorgan Gehirn). Wie hat man das herausgefunden? Dafür gibt es eine moderne Technik mit einem komplizierten Namen: repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS). Sie ist schmerzfrei und kommt vollkommen ohne chirurgischen Eingriff in das empfindliche Hirngewebe aus. Mit dieser Technik kann man kurzzeitig das Stirnhirn hemmen. Freiwillige Versuchspersonen, bei denen diese Technik zur Anwendung kam, verhielten sich beim Ultimatumspiel plötzlich anders als sonst: Plötzlich konnten sie ihren Impuls zum Eigennutzhandeln nicht mehr zähmen. Zwar erkannten sie noch den Unterschied zwischen gerecht und ungerecht, aber der Egoismus war plötzlich stärker als ihr Ideal von Gerechtigkeit.43 Ohne intaktes Stirnhirn keine Sozialkompetenz. Wenn es so etwas wie einen Platz im Gehirn für Menschlichkeit geben sollte, dann wäre dafür das Stirnhirn Kandidat Nummer eins. Es ist eine grausame Ironie der Geschichte, dass 1949 der portugiesische Neurologe Antonio Egas Moniz (1874–1955) den Medizinnobelpreis »für die Entdeckung des therapeutischen Wertes der präfrontalen Leukotomie bei gewissen Psychosen« erhielt. Zwischen 1936 und 1978 wurden Schnitte in das Stirnhirn bei schätzungsweise 35.000 Personen durchgeführt. Einige betroffene Patienten wurden zu Pflegefällen und büßten ihre Sozialkompetenz ein.44 Der Neurobiologe Gerald Hüther kommentiert das so: Durch diese sogenannte Lobotomie wurde der Teil des Gehirns, in dem diese neuronalen Verschaltungsmuster verankert waren, einfach abgetrennt. Dann war die Erfahrung weg und das verrückte Verhalten auch. Dann war der betreffende Mensch aber auch nicht mehr der, der er vorher gewesen war. Er hatte keine Identität mehr, keine erfahrungsbedingte Ich-Vorstellung, kein Selbstbild. Er konnte

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auch keine neuen Erfahrungen mehr in seinem Hirn verankern und er konnte all das nicht mehr, was von dem im Frontalhirn herausgeformten Netzwerken gesteuert wird: Impulskontrolle, Frustrationstoleranz, Einfühlungsvermögen, Selbstverantwortung, Affektregulation, Handlungsplanung und Folgenabschätzung. Das alles sind unsere sogenannten Metakompetenzen, man nennt sie auch exekutive Frontalhirnfunktionen.45

Die Folgen einer Verletzung des Stirnlappens beschreibt der russische Begründer der Neuropsychologie Alexander Lurija (1902–1977) wie folgt: Solch eine Verletzung lässt die Fähigkeit, zu lernen, wahrzunehmen oder sich zu erinnern, unversehrt. Die Welt bleibt intakt, obwohl das Leben des Betroffenen wahrhaft tragisch ist: Er verliert die Fähigkeit, beständige Ansichten zu bilden und für die Zukunft zu planen oder sein Verhalten zu bestimmen. Er kann lediglich auf Signale reagieren, die von außen kommen, ist jedoch außerstande, sie in Codes umzuwandeln, die sein Verhalten steuern. Er büßt die Fähigkeit ein, seine Defekte zu beurteilen und zu korrigieren. Er kann nicht darüber nachdenken, was er in einer Minute, einer Stunde, einem Tag tun wird. Obwohl er seine Vergangenheit bewahrt hat, verliert er seine Zukunft und zugleich das, was den Menschen zum Menschen macht.46

Der New Yorker Neuropsychologe Oliver Sacks schrieb im Vorwort von Lurijas Buch Der Mann, dessen Welt in Scherben ging: Infolge der schrecklichen Häufigkeit schwerer Kopfverletzungen im Zweiten Weltkrieg eröffnete sich der von Lurija gerade begründeten Neuropsychologie ein weites Betätigungs- und Untersuchungsfeld, und Lurijas Werk ›Die Wiederherstellung der Gehirntätigkeit nach Verwundungen‹ vermittelte neues Verständnis und neue Hoffnung für die Behandlung solcher Patienten.47

1949 hätte man also längst wissen können, dass der Medizinnobelpreis für Egas Moniz eine Fehlentscheidung war. Ausgerechnet die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Begründer eines portugiesischen Egas-Moniz-Studienzentrums für Sprache sollten 1971 der Stirnhirnforschung neuen Auftrieb geben. Gemeint ist das Ehepaar Hanna und António Damásio. Das Medizinerpaar untersuchte 1994 an der Universität von Iowa erneut den Fall des Phineas Gage (1823–1860). Diesmal jedoch mit modernen Simulationsverfahren. Im Jahre 1848 wurde der Vorarbeiter Gage, damals 25 Jahre alt, Opfer einer Sprengung bei Schienenarbeiten. Eine meterlange Eisenstange schoss ihm unterhalb des linken Wangenknochens in den Kopf und trat durch den Stirnknochen wieder heraus. Es war ein Wunder, dass er sich von dieser Verletzung erholte. Die Damasios verglichen die Symptome des Vorarbeiters mit denen von Personen mit teilweise herausoperiertem präfrontalen Kortex aufgrund eines Tumors.48 Zeigt man diesen Personen schockierende Dias von verstümmelten Gliedmaßen, beschreiben sie diese nicht selten mit der gleichen Ruhe als handele es sich um eine neutrale Landschaft oder irgendein ein Haus: »Ein verstümmelter Fuß. Ein Hautdreieck scheint abgerissen. Sehr rot und blutig!« Personen mit intaktem Stirnhirn reagieren auf solche emotionalen Bilder dagegen mit heftiger Ablehnung. Menschen mit Stirnhirnsyndrom zeigen zwar elementare Reaktionen, zum Beispiel auf laute Geräusche, nicht aber auf eben diese emotionalen Anreize. Gleichzeitig haben sie große Probleme, sich zu entscheiden. Ansonsten wirken sie völlig intakt. Sie sind intelligent, können sich Dinge ausgezeichnet merken und lernen Neues. Schwerwiegende Fehler unterlaufen ihnen jedoch, wenn es um persönliche Entscheidungen geht. Das Nachdenken über diese Fehler bereitet ihnen jedoch überhaupt keine Probleme. Sie reden über ihre Fehler ohne die dazu passende Scham, Schuld oder Reue. Meistens sind die Zuhörer beunruhigter über den Bericht als sie selbst. Die Fähigkeit zur gegenseitigen Perspektivübernahme gehört zu den sogenannten exekutiven Frontalhirnfunktionen. Dazu gehören auch andere Metakompetenzen, wie zum Beispiel: Impulskontrolle, Frustrationstoleranz, Einfühlungsvermögen, Selbstver-

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antwortung, Affektregulation, Handlungsplanung und Folgenabschätzung. Die Entwicklung des Stirnhirns hängt nicht allein von genetischen Programmen, aber auch nicht allein von Übung ab, sondern hauptsächlich von der Lernkultur, in der eine Person aufwächst. Sogar die Folgen von Verletzungen im Frontalhirn lassen sich in geeigneten Lernkulturen mildern und durch geeignete soziale Kooperationsformen kompensieren.

Nach einer präfrontalen Schädigung kommt es meist zu einem tief greifenden Persönlichkeitswandel: Soziales Verhalten ist ein besonderes schwieriges Gebiet. Solche Patienten haben Probleme zu entscheiden, wer vertrauenswürdig ist und ihr zukünftiges Verhalten entsprechend abzustimmen. Außerdem fehlt diesen Patienten das Gespür für sozial angemessenes Verhalten. Sie setzen sich über gesellschaftliche Konventionen hinweg und verletzen gelegentlich moralische Regeln.49

So beschreibt sich eine Frau, der man knapp vor ihrem 40. Geburtstag eine Verletzung in ihrem Stirnlappen aufgrund einer Gefäßmissbildung (AVM: arteriovenöse Malformation) beseitigt hatte: »Ich hatte drei Kinder und wollte nicht wahrhaben, dass ich sie hatte. Ich wollte mich nicht um sie kümmern. Ich wollte überhaupt keine Verantwortung übernehmen. Das war wirklich ein drastischer Unterschied. Vorher war ich ein Muttertier.«50 Arte sendete im März 2000 ein Gespräch zwischen dieser Frau (F) und Antonio Damasio (D). Hier ist ein kleiner Ausschnitt: D: »Sagten Sie gerade, Sie hätten Angst vorm Fliegen?« F: »Ja.« D: »Es stimmt also. Auch jetzt noch?« F: »Nein, eigentlich nicht. Nein, ich habe keine Angst mehr. Das ist wahr.« D: »Sie sind doch mit dem Flugzeug hierhergekommen, richtig?« F: »Ja. Und letzte Woche bin ich auch geflogen.« D: »Glauben Sie, Sie haben weniger Angst vorm Fliegen als zuvor?« F: »Ganz sicher, ohne Zweifel. Ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht.« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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D: »Waren die Flüge angenehm?« F: »Die Flüge waren schön. Aber es ist interessant, ich sage weiterhin Dinge, die ich gar nicht mehr wirklich so empfinde. Die andere Person hat so empfunden. Und es ist seltsam, dass ich immer noch so spreche wie zuvor.« D: »OK. War es ein Flug, bei dem Ihr anderes Ich sich unbehaglich fühlte?« F: »Ja, beim Start konnte ich nicht sprechen. Ich sagte zu meinen Kindern: ›Mami kann jetzt nicht sprechen.‹ Ich wollte meine Angst verbergen, aber ich konnte nicht mit ihnen reden.« D: »Die ganze Zeit über?« F: »Beim Start und bei der Landung. Aber jetzt habe ich keine Angst mehr.« D: »Ich glaube, ich könnte diese Operation auch gebrauchen!« Das sich entwickelnde Stirnhirn

Schon während des Zweiten Weltkriegs ersann Lurija Therapien, die von der sozial- und kulturabhängigen Plastizität und Formbarkeit eines verletzten Stirnhirns künden: Da unsere Beobachtungen gezeigt hatten, dass Patienten flüssiger erzählen, wenn sie sich mit jemandem unterhalten, legten wir ihnen nahe, sich beim Antworten eine Gesprächssituation mit einer Person vorzustellen, die ihnen Fragen stellt. Auf diese Weise entwickelte sich das Sprechen als innerer Dialog mit einem imaginären Gesprächspartner. Das half bisweilen, aber nicht immer. Als effektiver erwies sich eine Reihe von Hilfszeichen zu geben, die als äußeres Mittel zur Redeorganisation dienen konnten.51

Dieses Wissen ist nach meinen Erfahrungen auch sehr hilfreich, wenn man es mit Kindern zu tun hat, die sich schon sehr früh Verletzungen im präfrontalen Kortex zugezogen haben.52 Sie brauchen das Gegenüber eines Erwachsenen und die Gespräche mit Gleichaltrigen mehr als alle anderen Kinder! Leider führen ihre Verhaltensprobleme jedoch regelmäßig dazu, dass sie aus Klassenverbänden herausfallen. Ähnlich wie Menschen mit Autismus müssen sie erst mühsam lernen, mit anderen Personen zu kooperieren. Helfen, Perspektiv© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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wechsel und Imitationslernen sind als angeborene Neigungen oft nur sehr schwach ausgeprägt. Meist werfen andere ihnen deshalb Egoismus und eine äußerst verzerrte Sicht sozialer Zusammenhänge vor. Außerdem lernen Kinder mit Stirnhirnsyndrom nur schwer aus sozialen Erfahrungen und haben zusätzlich große Schwierigkeiten, soziale Erfahrungen zu einem Gesamtbild zu vernetzen. Besonders schwer fällt es ihnen, mit anderen zu teilen, wenn sie sich keinen Vorteil dabei ausrechnen können. Aber auch das lernen sie nach meinen Erfahrungen, wenn eine Lernkultur Vertrauen in sie investiert. Unter diesen Bedingungen lernen sie wie Kleinkinder in Phasen, untereinander zu teilen. Zum Beispiel, wenn es Süßigkeiten gibt. Hier ähneln Kleinkinder anfangs den Schimpansen. Sie handeln auch eher wie Nutzenmaximierer: Teilen mit anderen? Möglichst nicht. Doch der Egoismus lässt mit zunehmendem Alter nach. Schließlich ist das Stirnhirn von Kindern ja noch nicht voll ausgereift (siehe Kapitel Sozialorgan Gehirn). Mit wachsendem Alter nimmt bei Kindern die Tendenz zum uneigennützigen Teilen zu. Im Schuleintrittsalter lässt sich parallel zum Wachstumsschub im Stirnhirn ein spontaner Übergang vom Rollen- zum Regelspiel beobachten. Das ist ein weiterer wichtiger Hinweis dafür, dass die Entwicklung der gegenseitigen Perspektivübernahme und die Verinnerlichung sozialer Regeln ein biopsychosozialer Prozess ist. Damit der Unterricht dieser Entwicklung ein kleines Stück vorauseilen kann, benötigt er eine geeignete Lehr- und Lernkultur. Welchen Sinn hat die Perspektivübernahme in Gruppen, in denen Abweichungen von einer Norm als Nachteil gelten? Dazu kommt, dass Ähnlichkeit die Konkurrenz schürt. Schließlich will man sich ja unterscheiden. Die Vorteile einer inklusiven Lernkultur liegen auf der Hand: Erst wenn man die Einmaligkeit jedes Individuums betont, gibt man dem Perspektivwechsel einen universellen Sinn. Ja mehr noch: Gemeinsames Lernen auf unterschiedlichen Wegen erhebt den Perspektivwechsel zu einem zentralen Inhalt des Unterrichts.

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Ernst Fehr (siehe auch Kapitel Teilen) untersuchte 229 Drei- bis Achtjährige im Laborexperiment: Von zwei Bonbons auf einem Teller durfte sich ein Kind nur eins nehmen. Das andere Bonbon konnte es liegen lassen oder einem anderen Kind geben. 50 % der Drei- bis Vierjährigen spendete das andere Bonbon einem anderen Kind. Immerhin! Bei Sieben- bis Achtjährigen waren es sogar schon 80 %. Na gut, vielleicht wollten sie sich ja nur einschmeicheln. Möglicherweise spekulieren sie darauf, dass sich die anderen an ihre Großzügigkeit erinnern, sollte es einmal andersherum kommen. Doch wie ist das, wenn das andere Kind von der Großzügigkeit gar nichts bemerkt? Auch das lässt sich experimentell überprüfen: Diesmal sollten die Kinder ihre Bonbons mit einem anderen Kind teilen, das nur auf einem Foto zu sehen war. Die Drei- bis Vierjährigen dachten gar nicht daran. Sie behielten nahezu alles für sich. Denn Teilen bringt ja in diesem Fall keine Pluspunkte beim Gegenüber. Sie verhielten sich also wie Nutzenmaximierer der alten Schule. Fünf- und Sechsjährige teilten dagegen schon deutlich öfter, etwa in 20 % der Fälle. Bei den Sieben- bis Achtjährigen waren es schon circa 45 %. Aber auch die älteren Kinder sind nicht vollkommen selbstlos. Sie kennen offensichtlich schon Vitamin B: Wenn sie das andere Kind kannten, teilten sie häufiger mit ihm. Wider Erwarten teilten Kinder mit Geschwistern aber tendenziell weniger als Einzelkinder.53 Häufiger moralischer Druck zum Teilen ist ja auch eine Spaßbremse. Da hilft nur noch eins: die Cut-and-Choose-Methode. Mitteilen

Mit dem Teilen von Süßigkeiten mögen sich Kinder anfänglich noch schwer tun, im Teilen von Informationen sind sie jedoch spitze! Schimpansen und Kapuzineraffen behalten dagegen ihre Erfahrungen eher für sich. Das zeigt zum Beispiel folgendes Experiment: Mit einer Puzzlebox spielten gruppenweise sowohl drei- bis vierjährige Kinder als auch Schimpansen und Kapuzineraffen. Wenn sie geschickt in der richtigen Reihenfolge an Rädern drehten, auf Knöpfe drückten und Sichtblenden verschoben, winkten als Belohnungen für die Tiere Futter und für die Kinder begehrte Aufkleber. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Abbildung 24: Kinder kooperieren an einer Puzzlebox: Im Gegensatz zu Schimpansen teilen sie ihre Erfahrungen miteinander.

Der Umfang der Belohnung ließ sich in drei Stufen steigern. Nur ein Drittel der Schimpansen und kein einziger Kapuzineraffe schaffte das oberste Level. Bei den Kindern waren es etwa 40 %. Die Drei- bis Vierjährigen halfen sich gegenseitig, indem sie sich Hinweise gaben und die Lösungen der anderen nachahmten. So kooperativ sind Affen, wie gesagt, nicht. Sie behielten ihr Wissen lieber für sich. Das Hauptinteresse der Kinder lag dagegen eher in der spielerischen Lösung des Problems. Das zeigte sich daran, dass einige die mühsam erworbenen Aufkleber an andere verschenkten.54 Wenn es ums Lernen geht, sind schon Kleinkinder Teamplayer. Anderen etwas mitzuteilen (vergleiche auch das englische Wort tell) ist die Grundlage des kulturellen Lernens. Ohne unser überschäumendes Mitteilungsbedürfnis käme unsere Kulturentwicklung bald zum Stillstand.

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Lernkultur

Schwatzen während des Unterrichts, Vorsagen, Weitergeben von Spickzetteln, Ausplaudern von Geheimnissen, Checken des SMS-Postfachs im Handy usw. sind also zutiefst menschliche Verhaltensweisen. Eine Lernkultur, die das Mitteilungsbedürfnis der Lernenden unterdrückt, wird auf Dauer als lähmend und einengend empfunden. Moderne Unterrichtsformen verstehen es jedoch, das Mitteilungsbedürfnis der Lernenden zu kanalisieren, indem sie ihnen viele Gelegenheiten einräumen, sich mitzuteilen.

Der Neurobiologe und Psychiater Joachim Bauer bringt es wie folgt auf den Punkt: »Erziehung ist ein natürliches Evolutionsprodukt […], vor allem aber ist sie ein Trainingsprogramm für den präfrontalen Kortex.«55 Eine besondere Herausforderung für ein Training der Mitteilungsfähigkeit sind nichtsprechende Kinder oder Kinder aus anderen Kulturen, die kein Deutsch sprechen. Dies bedarf einer Kultur der gegenseitigen Anerkennung. Ohne ein Mindestmaß an Vertrauen ist das jedoch nicht möglich.

Lernkultur Das werden Berufsverbrecher

Im Jahre 1904 glaubte der britische Psychologe Charles Spearman (1863–1945) mit der von ihm entwickelten Faktorenanalyse ein objektives Maß für die allgemeine und angeborene geistige Energie eines Menschen gefunden zu haben. Die Messung dieses Faktors bei Elfjährigen sollte Eltern und Lehrenden jede Hoffnung nehmen, dass die Kinder im Laufe ihres Lebens als Spätentwickler ihre Intelligenz noch irgendwie steigern könnten. Noch heute verlangt man von Lehrern und Lehrerinnen, möglichst früh Empfehlungen zu geben, welche zukünftige Schullaufbahn ihre Schülerinnen und Schüler einschlagen sollen. Welche Prognosen über die zukünftige Entwicklung einer Persönlichkeit sind nach dem aktuellen Stand der Hirnforschung möglich und sinnvoll? Der Neurobiologe Hüther beantwortete diese Frage so:

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Nach dem heutigen Erkenntnisstand der Hirnforschung müssten Prognosen über die künftige Entwicklung eines Kindes durch die jeweilige Erfahrungswelt bestimmt sein, die man diesem Kind fortan ermöglicht. Das bedeutet aber, dass jedes Kind eine bessere Prognose bekäme, wenn man es auf eine Schule schickte, in der es besonders gern lernt. Das wäre dann freilich das Ende der bisherigen Selektionsdiagnostik.56

Ein Beispiel: Am 30. März 2010 war im Hamburger Abendblatt unter der Schlagzeile Das werden Berufsverbrecher zu lesen: So ist der erst 15 Jahre alte Robin A. im vergangenen Mai wegen eines versuchten Raubes zu zehn Monaten Jugendhaft auf Bewährung verurteilt worden. Er war Mitglied einer Bande, die im Internet zum Schein Autos angeboten hatte. Im Januar 2009 hatten die Täter ein Opfer nach Steilshoop gelockt, um diesem den vermeintlichen Wagen zu verkaufen. Doch stattdessen tauchten der damals erst 14 Jahre alte A. und seine Komplizen auf, um den Käufer auszurauben. Sie schossen mit Gas-Pistolen auf dessen Wagen und schlugen mit Eisenstangen gegen die Fenster. Dem Mann gelang im letzten Augenblick die Flucht.57

Robin A. wurde Mitte der 1990er-Jahre im Bürgerkriegsgebiet Serbien-Montenegro geboren. Zu Hause spricht er ausschließlich Roma, im Freundeskreis auch ein wenig serbisch und darüber hinaus recht gut deutsch. Er hat fünf ältere Geschwister. Mit 13 Jahren wurde er bereits Vater, worauf wiederum sein Vater sehr stolz ist. Meine Untersuchung hat ergeben, dass Robin zwar alle Buchstaben kennt, jedoch kein Wort außer seinem eigenen Namen lesen kann. Er besuchte eine Grundschule und wurde anschließend in eine Förderschule eingewiesen. Letztere besuchte er sehr unregelmäßig. Es kam zu häufigen Schulwechseln bis zur siebten Klasse. Da bei Robin ein IQ von 70 diagnostiziert wurde, erfolgte eine schulersetzende Maßnahme: Robin nahm am Zirkusprojekt teil. Dort stehen Einradfahren, Jonglieren, Kunststücke am Trapez und Musizieren in der Zirkuskapelle auf dem Programm. Im Sommer finden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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sogar Ferienkurse im Inselzirkus auf Sylt statt. Am Ende dieses Projektes wollte ihn keine Schule mehr aufnehmen. Nach vielen Bemühungen fand sich eine überbetriebliche Ausbildungswerkstatt, die ihn und seinen Bruder für ein Taschengeld von 60 Euro im Monat vier Tage in der Woche (Montag bis Donnerstag) für ein halbes Jahr aufnahm. Eine Helferkonferenz erzielte folgendes Ergebnis: Die Ausbildungswerkstatt erklärte sich bereit, ihn mit seinem Bruder weiterhin zu beschäftigen – jetzt aber ohne Taschengeld. Schon nach drei Wochen wurde ihnen wegen Unzuverlässigkeit gekündigt. Auf Druck einer Sozialpädagogin erfolgte erneut eine Helferkonferenz, diesmal mit REBUS. Das ist ein Netzwerk von 15 Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen (REBUS), verteilt über das Stadtgebiet von Hamburg, in denen Schulpsychologen, Sozialpädagogen und Lehrer nach Ursachen für schulische Schwierigkeiten suchen und Wege aus einer Krisensituation aufzeigen. Ein Sonderpädagoge erklärte sich bereit, ihn zweimal die Woche zwei Stunden zu unterrichten. An zwei anderen Tagen sollte er an einem Hip-Hop-Projekt teilnehmen. Zusätzlich sollte er das Angebot zum Lesen- und Schreiben-Lernen an unserer Projektkoordinationsstelle an der Hamburger Uni wahrnehmen. Bevor diese Maßnahme jedoch greifen konnte, passierte während der Schulferien die Straftat, und nun sitzt Robin in Haft. Vertrauen in sich selbst und eine Gemeinschaft ist die wichtigste Voraussetzung für Teilhabe. Halbherzige Inklusionsbemühungen, nicht selten auch noch begleitet von sich selbsterfüllenden Prophezeiungen, verschärfen auf Dauer die Exklusion.

Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Joachim Lenders, äußerte zu dem Fall Robin A. im Hamburger Abendblatt: »Wer in diesem Alter schon mit derartigen Taten auffällt, der strebt eine Karriere als Berufsverbrecher an. Da ist Hopfen und Malz verloren.« Hoffen wir, dass das keine selbsterfüllende Prophezeiung ist! Ich teile da eher die Ansicht des Landesvorsitzenden der Opfer© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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schutzeinrichtung Weißer Ring, Wolfgang Sielaff: »Die Ursachen von Jugendgewalt sind bekannt. Es werden aber lediglich die Erscheinungsformen bekämpft.«58 Vertrauen

Schlägereien sowie Erpressung und Diebstahl waren keine Seltenheit unter den Elf- und Zwölfjährigen. Selbst während des Unterrichts konnte wie aus heiterem Himmel eine Prügelei ausbrechen. Es handelte sich um eine aus verschiedenen Kulturen zusammengewürfelte Klasse an einer Förderschule. Das Kollegium beobachtete, wie ausgerechnet diese Rabauken in der Pause miteinander einträchtig Verbrechen, Polizeieinsatz und Gerichtsverhandlung spielten. Das brachte uns im Rahmen eines studentischen Projektes auf die Idee, dieses Spiel aufzugreifen und weiter auszugestalten: Studierende übernahmen die Rollen der Anklage und Verteidigung. Das schon etwas gesättigte Spielinteresse der Lernenden fing dadurch erneut Feuer. Ein Höhepunkt des Projektes war ein Klassenausflug zu einer Gerichtsverhandlung im Hamburger Strafjustizgebäude. Die eher unspektakuläre Hauptverhandlung beinhaltete die Verurteilung eines Jugendlichen, der in Handschellen vorgeführt wurde. Dass dies einen tiefen Eindruck bei den Kindern hinterlassen haben musste, erkannten wir an den Bildern, die sie davon zeichneten. Um die hohe intrinsische Motivation, die vom Thema Gericht und Gesetz ausging, für den Deutschunterricht zu nutzen, erstellten wir mit ihnen gemeinsam ein Gesetzbuch. Filmdokumente und schriftliche Protokolle belegen das große Interesse der Kinder und die Ernsthaftigkeit, mit der sie später in ihren eigenen Verhandlungen Urteile diskutierten und fällten.59 Sprachentwicklung und Schriftspracherwerb machten rasante Fortschritte. Vorbild war das Kameradschaftsgericht des polnischen Pädagogen Janusz Korczak (1878– 1942): In dem von ihm geleiteten Warschauer Waisenhaus regelten die Kinder ihre rechtlichen Angelegenheiten und Streitigkeiten selbst.60 Unsere Befürchtung, dass die ausgesprochenen Strafen zu hart sein würden, bewahrheitete sich nicht. Die Leitung der Gerichtsverhandlung erfolgte nach dem Rotationsprinzip. Das förderte wahrscheinlich den Perspektivwechsel: Mein verhängtes Urteil von heute könnte schon morgen mich selbst treffen. Jedenfalls wurden nur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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leichte Strafen verhängt. Das förderte insgesamt den Gemeinsinn in der Klasse. Da das Gericht jeden Freitag tagte, fragten sich die Lernenden schon ab Mitte der Woche, ob schon irgendjemand etwas ausgefressen hätte. Das passierte jedoch inzwischen immer seltener. Aber: ohne Straftaten keine Gerichtsverhandlung! Also sorgten sie vor. Eine Schülerin oder ein Schüler musste sich jeweils bereit erklären, etwas anzustellen: den Schwamm aus der Nachbarklasse zu entwenden, das Fahrrad einer Lehrperson zu verstecken oder etwas Ähnliches. Die bewusst begangenen Straftaten waren jedenfalls deutlich harmloser als die unberechenbaren Ausbrüche von Gewalt zu Beginn des Projektes. Was Lernende einer Förderschule gemeinsam mit Studierenden auf die Beine stellen können, sollte auch in Inklusionsklassen funktionieren. Die Vorteile solcher Projekte liegen nicht nur in der Förderung des Rechtsbewusstseins sowie der Mitteilungsfähigkeit in Wort und Schrift, sondern vor allem in der Schaffung einer vertrauensvollen Atmosphäre. Auch hier zeigte sich wie bei Laborversuchen mit dem Ultimatum-Spiel: Kinder und Jugendliche lassen sich nicht nur von einem rationalen Eigennutz leiten. Wenn sie das Gefühl haben, zu einem abstrakten Gemeinwohl beitragen zu können, sind sie zu Opfern bereit. Sie schenken Vertrauen und werden dafür in der Regel belohnt. Ist das vielleicht das Geheimnis des Gelingens einer spezifisch menschlichen Kooperation? Ich glaube: ja! Es gibt aber eine Schattenseite des Vertauens: Die meisten Menschen sind auch bereit, Opfer zu bringen, um Menschen zu bestrafen, die gegen ihre Vorstellungen eines Gemeinwohls verstoßen. Menschen, die irgendwie in den Ruf geraten, Egoist, Trittbrettfahrer oder anderweitig Gegner des Gemeinwohls zu sein, haben deshalb einen schweren Stand. Leider lässt sich daraus sehr leicht, ja allzu leicht, politisch destruktives Kapital schlagen. Mit einem Kameradschaftsgericht kann man solchen Bestrebungen die Spitze abbrechen. Besonders bei Kindern und Jugendlichen können dumpfe, ohnmächtige Rachegefühle oder heimlicher Groll blitzartig ausbrechen. Dagegen gibt es nur ein Mittel: eine altersgerechte, transparente und demokratische Konfliktbewältigung, wie zum Beispiel von den Lernenden nach dem Rotationsprinzip geleitete Schulgerichte. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Insgesamt stimmen die Laborversuche der Verhaltensökonomie jedoch optimistisch: Mehr als 80 % aller Personen investieren in eine fremde Person Vertrauen. Sie vertrauen ihr beispielsweise Geld an, wenn diese bei einer Bank das Geld verdoppeln kann. Auch dann, wenn die fremde Person kein rationales Interesse daran hat, ihren Gewinn zu teilen. Die meisten Menschen setzen auf Vertrauen. Dass dieses Vertrauen gerechtfertigt ist, zeigt sich darin, dass sehr viele Personen tatsächlich etwas zurückgeben. Es gibt auch Laborversuche, in denen Spielende selbstsüchtiges Verhalten lernen, weil sie eine Reihe enttäuschender Erfahrungen mit einer Gemeinschaftskasse erleben. Trotzdem zeigten die Versuche, dass die Enttäuschten diese Erfahrungen nicht automatisch auf andere Gruppen übertragen. Sobald sie Anschluss an eine neue Gruppe mit anderen Mitspielenden finden, sind sie wieder bereit, hoffnungsvoll hohe Beiträge in eine Gemeinschaftskasse einzuzahlen.61 Halten wir fest: Menschen schenken mehr Vertrauen, als eine rationale Nutzenabwägung nahelegt. Wird ihr Vertrauen jedoch missbraucht, sind sie bereit, in Vergeltung zu investieren. Kurz: zu vertrauensselig und zugleich rachsüchtig. Als rationale Egoisten kommen Menschen nicht auf die Welt. Nur deshalb funktioniert unser Alltag: Wir vertrauen beim Einkauf, im Restaurant, auf Verträge, auf Gesetze, in der Partnerschaft usw. Ohne dieses Vertrauen funktioniert keine Gemeinschaft. Kinder vertrauen ihren Eltern, Erziehenden und Lehrenden. Wird dieses Verhalten enttäuscht – egal ob bewusst oder unbewusst, objektiv oder subjektiv – verweigern Kinder die Kooperation. Das ist oft ein Schlüssel zum besseren Verständnis von sogenannten Verhaltensstörungen oder Beeinträchtigungen im sozial-emotionalen Verhalten. Ein guter Unterricht zeichnet sich dadurch aus, dass er den Lernenden Hilfen in der Zone ihrer nächsten Entwicklung gibt. Doch wie unterrichten, wenn das Vertrauen der Lernenden in diese Hilfen verloren gegangen ist? Dann hilft nur eins: das Vertrauen wiederherstellen. Eine demokratische Kultur gemeinsamer Entscheidungen bildet dafür die ideale Voraussetzung.

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Lernkultur

Schulen haben eine immense Verantwortung: Es genügt keinesfalls, nur an die Vernunft der Lernenden zu appellieren und sie mit Lerninhalten abzufüttern. Das Was steht immer in enger Wechselwirkung mit dem Wie – und letztendlich entscheidet die Lernkultur über die Lerninhalte, denn Lernkultur ist Metakommunikation. Das Wie bestimmt das Was

Als meine Kinder noch zur Schule gingen, fiel mir auf, dass ein Großteil ihrer Hausaufgaben darin bestand, Referate vorzubereiten. Das kam mir merkwürdig bekannt vor: Gerade hatten sich Lehramtsstudierende bei mir darüber beklagt, dass sich in vielen erziehungswissenschaftlichen Seminaren ein studentisches Referat an das nächste reihe. Mir schwante, dass es da einen Zusammenhang geben muss. Und tatsächlich: Studierende der Erziehungswissenschaften lernen mehr von der Lernkultur, die sie an der Uni vorfinden als aus den Inhalten der Vorlesungen und Seminare. Lernkultur ist Metakommunikation: Das Wie bestimmt das Was. Was für die Universitäten gilt, gilt für allgemeinbildende Schulen erst recht: Lernkultur steht als Sammelbegriff für alle Verhaltensformen, Symbole, Ideen und Werte im Bereich Lehren und Lernen. Eine Lernkultur umfasst die Gesamtheit der Lern- und Entwicklungspotenziale, die über das Zusammenwirken der Mitglieder in Interaktions- und Kommunikationsprozessen auf unterrichtlicher, kollegialer und organisationaler Ebene arrangiert werden. Lernkulturen sind ihren Mitgliedern meist nicht bewusst zugänglich, da sie auf lerntheoretischen Grundannahmen und biografisch erworbenen bzw. organisationshistorisch entwickelten Lernroutinen basieren.62

Das Problem aller Formen von Metakommunikation ist: Sie können sich auch auf sich selbst beziehen. Wenn jemand beispielsweise hysterisch brüllt: »Ich bin ruhig und entspannt!«, erleben wir die Aussage nicht als stimmig. Gleiches gilt für Lehrveranstaltungen: Wie stimmig ist eine Vorlesung, die ein glühendes Plädoyer für dialogisches Lernen beinhaltet, aber keine Zwischenfragen zulässt? Welche Überzeugungskraft hat eine Veranstaltung zum altersgemischten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Lernen, von der Studierende aus dem Grundstudium ausgeschlossen sind? Wie will man Studierenden den Wert offener Unterrichtsformen nahebringen, wenn keine offene Lernatmosphäre vorherrscht? Die evolutionären Voraussetzungen für eine gelingende Lernkultur sind einfach: Die Lernenden respektieren die Erfahrung und das Wissen der Lehrenden, und die Lehrenden haben Vertrauen in die Lernfreude und Anstrengungsbereitschaft der Lernenden, ihnen nachzueifern. Doch machen wir uns nichts vor: Der Schulalltag sieht oft anders aus. Die bürokratische Ermittlung von Lernfortschritten mit Zensuren zweigt jeden noch so kleinen Funken der Begeisterung vom Lerninhalt ab. Sie verlagert das Gewicht auf ein trivialisierendes Bewertungssystem, das vortäuscht, auf die Kommastelle genau zu sein. Was könnte ein Abarbeiten von Stoffbergen auch anderes hervorbringen als eine Mentalität des Abhakens von Gelerntem? Und das soll noch dazu in immer kürzeren Zeiten passieren! Die Folge ist eine Kultur des Misstrauens. Sie vergiftet jede Lernkultur: Misstrauen gegen die Lernenden, die zu faul zum Lernen seien, Misstrauen gegen die Lehrenden, die angeblich vormittags recht und nachmittags freihaben wollen usw. Ohne Anerkennung der pädagogischen Herausforderungen, ohne Rückhalt in der Gesellschaft und ohne den Respekt der Eltern ist es für Lehrerinnen und Lehrer schwierig, sich für eine Lernkultur einzusetzen, in der Misstrauen und Zynismus keinen Platz haben. Wie naiv ist es, von Lernenden, die man gerade vor der Klasse beschämt oder bloßgestellt hat, Disziplin und Respekt zu erwarten? Was bleibt, sind Lernziele, für die weder die Lehrenden noch die Lernenden brennen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass im durchgeplanten Schulalltag die Kultur des Lernens oft der blinde Fleck bleibt. Je durchstrukturierter der Plan, desto mehr stören die Lernenden.

Baustelle Stirnhirn und wilde Zeiten

Dass mit der Lernkultur an vielen Schulen einiges im Argen liegen muss, verdeutlicht die überregionale Wochenzeitung DIE ZEIT © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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mit dem aufrüttelnden Hilferuf der 15-jährigen Schülerin Yakamoz Karakurt: Jeder weiß, dass die Schule nicht das Leben ist. Mein Leben aber ist die Schule, was heißt, dass da etwas falsch gelaufen sein muss. Ich komme um 16 Uhr aus der Schule und gehe nicht vor 23 Uhr ins Bett. Und das liegt nicht daran, dass ich fernsehe, mich entspanne oder sogar Spaß habe. […] Was bringt es mir, wenn ich die chemische Formel von Cola kenne? Was bringt mir dieses unnötige Wissen? Es kann sein, dass es einige Leute interessant finden. Es kann aber nicht sein, dass ich 14 Fächer habe und von mir erwartet wird, in jedem davon eine super Leistung zu bringen. 37 Stunden in der Woche bin ich in der Schule und bringe sie danach auch noch für mehrere Stunden mit nach Hause. Denn in der Schule wird uns wegen der Verkürzung der Schulzeit meist nur noch Theorie beigebracht, damit wir die Übungen zu Hause machen dürfen. […] Ich hasse es, länger arbeiten zu müssen als manche Erwachsene. Ich hasse es, diesem Druck ausgesetzt zu sein. Ich hasse es, wie manche Erwachsene über unser Leben und unsere Schule bestimmen, obwohl sie selbst in ihrer Schulzeit nie mehr als sieben Stunden in der Schule verbracht haben. Das ist mein Problem.63

Unsere Industriegesellschaft befindet sich gerade im Aufbruch zu einer modernen Wissens- und Ideengesellschaft. Die Erwartungen an unser Schulsystem sind gewaltig. Ich kenne Eltern, die ihre neunjährige Tochter zum Nachhilfeunterricht schicken, weil sie in Mathematik eine zwei hat. Die Politik umwirbt Eltern als Wahlvolk. Wissenschaftliche Studien sind das eine, ihre Interpretation das andere. Ausgetragen werden diese Widersprüche letztendlich immer auf dem Rücken der Lehrenden und Lernenden an unseren Schulen. Wie soll sich da eine konstruktive Kultur des Lernens entfalten? Der Erziehungswissenschaftler und Journalist Reinhard Kahl ist der einflussreichste Vordenker einer neuen Lernkultur in Deutschland. Er sieht das so: Es gilt, unser Schulsystem zu entneurotisieren. Und das ist auch der wichtigste Grund für längeres gemeinsames Lernen. Der heimliche

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

Lehrplan einer Schule sollte nicht darin bestehen, dass die Kinder den Unterricht zum Sammeln von Karrierepunkten missbrauchen. So wird man nicht mal Karriere machen. Die Kinder sollten willkommen sein und herausgefordert werden. Sie sollen hören: Ihr könnt mehr, als ihr glaubt. Und nicht etwa: Aus euch wird nichts. […] Man betrachtete Kinder, sobald sie eingeschult wurden, als leere Fässer, die zu füllen sind, und nicht als unterschiedlich geschliffene Prismen, in denen sich die Weltstrahlen jeweils anders brechen.64

Einer inklusiven Lernkultur kommt zugute, dass Heranwachsende sich schnell begeistern, aber ebenso schnell auch wieder das Interesse an Dingen und Themen verlieren. Sie sind offen für Neues, wollen ausprobieren und lassen sich von ihren Emotionen leiten. Erst seit wenigen Jahren ist bekannt, dass dafür eine Unausgeglichenheit im Gehirn verantwortlich ist. Das Stirnhirn vergrößert sich beim Menschen, wie schon festgestellt (siehe Kapitel Sozialorgan Gehirn und Das faire Stirnhirn), bis zum vierten Lebensjahr immens und noch einmal in einem zweiten Schub zwischen dem siebten und achten Lebensjahr. In der Adoleszenz erfolgt erneut ein fundamentaler Umbau der neuronalen Netzwerke in der Großhirnrinde.65 In dieser Phase sind vor allem die Emotionszentren (das limbische System) hyperaktiv, während die Gehirnregionen hinter der Stirn, die für planvolles Handeln vonnöten sind, weniger aktiv sind.66 Der Höhepunkt der wilden Zeiten in der Adoleszenz liegt insbesondere im Alter zwischen 15 und 17 Jahren. Die Reduktion der grauen Substanz zieht sich bis in das frühe Erwachsenenalter hinein. Die Nervenverbindungen (weiße Substanz) nehmen dagegen in der Adoleszenz sehr stark zu. Weil das Gehirn aus der Balance ist, reagieren Adoleszente auf Beziehungskommunikation besonders impulsiv. In diesem Alter entstehen deshalb auch solche psychischen Erkrankungen, die mit tief greifenden Störungen der Anpassung an kulturelle Erwartungen einhergehen, wie zum Beispiel Schizophrenie.67 Die Entwicklungspsychologin Alison Gopnik sieht in der langsamen Reifung des Stirnhirns eine wichtige Chance für das kulturelle Lernen:

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Die mangelhafte Kontrolle durch den präfrontalen Kortex […] mag als ein großes Manko erscheinen. Doch dieses Handicap dürfte dem Lernen immens zugutekommen. Schließlich hat das genannte Stirnhirngebiet später auch die Aufgabe, gerade unwichtige und nebensächliche Gedanken oder Handlungen zu unterdrücken. Ohne derartige Hemmungen erforscht sich die Welt vermutlich viel unvoreingenommener.68

Die typische Spielform des Jugendalters heißt Ernstspiel. Geprägt wurde der Begriff von William Stern (1871–1938), dem Begründer der Differenziellen Psychologie: »Von ›Ernstspiel‹ sprechen wir nur dort, wo eine subjektive Ernsthaftigkeit vorhanden ist, ohne dass die objektive Ernstbedeutung des Tuns ihr entspräche.«69 Mit Ernstspiel charakterisierte Stern treffend eine Entwicklungsphase, die im Pubertätsalter entsteht und die gesamte Adoleszenz charakterisiert. In dieser Phase testen die Adoleszenten aus, wie ernst eine Kultur sich selbst nimmt. Sie haben ein feines Gespür für Unzeitgemäßes, für Unstimmigkeiten zwischen dem Wie und dem Was. Gnadenlos hinterfragen sie den Sinn von Regeln und Ritualen. Lehrerinnen und Lehrern machen sie damit das Leben alles andere als leicht. Allerdings ist es auch ein Privileg, beruflich mit Menschen zu tun zu haben, die einen ständig mit neuen Ideen herausfordern. Wenn wir in Zukunft eine inklusive Gesellschaft wollen, kommen wir an der heranwachsenden Generation in den Schulen und Universitäten nicht vorbei. Nur wenn wir über unseren eigenen Schatten springen, können wir sie für das Ideal der Inklusion gewinnen. Dann werden sie uns dabei mit originellen Ideen und Initiativen tatkräftig unterstützen. Gelingt uns der Sprung über den eigenen Schatten jedoch nicht, werden sie von den leeren Phrasen und nicht gelebten Idealen gnadenlos den Putz abschlagen und uns vor Augen führen, dass wir das, was wir predigen, nicht wirklich meinen.

Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Kultur der Zusammenarbeit von Sonder- und Regelpädagogen bestimmt das Gelingen von Inklu© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

sion. Beim Ringen um eine inklusive Lernkultur geht es nicht um einen Wettbewerb der höchsten Ideale, sondern um einen Blick hinter die Kulissen: Was ist der geheime Lehrplan in unseren Schulen? Wie ernst meinen wir es mit unserem Grundgesetz? Wollen wir wirklich eine inklusive Gesellschaft, oder beugen wir uns nur der UN-Konvention?

Zusammenfassung Teil II Perspektivwechsel, Imitationslernen und gegenseitige Hilfe als anthropologische Wurzeln des menschlichen Lernens waren Gegenstand des ersten Teils dieses Buches. Teil II baut darauf auf und fragt: Welche Lernkultur trägt diesen anthropologischen Potenzialen Rechnung? Antwort: eine inklusive Lernkultur, die auf einem Hyperzyklus gegenseitiger Förderung beruht. Ziel ist eine stärkere Besinnung auf die menschliche Fähigkeit, ein Gefühl der Verbundenheit zu empfinden. Verbundenheit ist nicht mit Abhängigkeit zu verwechseln. Vielmehr gilt: Es gibt keine Freiheit ohne Verbundenheit.70 »Inklusion wird überall dort zur Selbstverständlichkeit«, stellt der Neurobiologe Hüther fest, wo Kindern Gelegenheit geboten wird, sich gemeinsam um etwas zu kümmern, um etwas, was keiner allein schafft und was nur zu schaffen ist, wenn jeder mit seinen jeweiligen besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Gelingen des Ganzen beiträgt. Wo das der Fall ist, wird jeder gebraucht. Dort herrscht ein anderes Klima, es ist das Klima der Welt von morgen.71

Wir Menschen besitzen die angeborene Fähigkeit, andere Menschen anzuerkennen und ihnen Mut zu machen, das zu werden, was sie sein könnten. Das ist der Ausweg aus unserer einseitigen Ressourcenausnutzerkultur.72 Als Alternative empfiehlt uns Hüther den Aufbruch zu individualisierten Potenzialentfaltungsgemeinschaften.73 Ressourcen lassen sich ausbeuten, bis sie versiegen. Einmal geweckte Potenziale entwickeln sich dagegen von selbst. Erfolge kann man auch auf Kosten anderer erzielen. In Konkurrenzgemeinschaften © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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(Matthäusprinzip) bekommen nur die Gewinnenden Rückenwind für das Lernen in der Zone ihrer nächsten Entwicklung. In auf Ausgleich bedachten Gemeinschaften erhalten diesen Rückenwind nur die Lernenden, deren Zone der nächsten Entwicklung das Mittelmaß ist. Das Gelingen individualisierter Gemeinschaften verlangt hingegen ein ausbalanciertes Miteinander. Alle Lernenden erleben, dass sie in Gemeinschaft etwas können, das ihnen allein unmöglich wäre. Alle lernen in ihrer Zone der nächsten Entwicklung. Solch eine individualisierte Gemeinschaft bildete auch Katrins Klasse während des gemeinsamen Projektes Was ist Zeit? (siehe auch Kapitel Hyperzyklus). Was dieses Gelingen ermöglichte, war einzig und allein das Bemühen aller um den Perspektivwechsel: Was hindert Katrin daran, das Messen der Zeit mit Uhren zu verstehen? Die Hauptargumente für inklusives Lernen in individualisierten Gemeinschaften fasse ich wieder mithilfe des kooperativen Dreiecks in Thesenform zusammen: Egal ob man etwas bekommt oder etwas abgibt: Helfen macht glücklich. Das belegen Hirnscans. Ohne die angeborene Fähigkeit des Menschen zur Perspektivübernahme, wäre das schwer zu erklären (siehe auch Kapitel Helfen kann glücklich machen). Der Kreislauf gegenseitiger Hilfen (Hyperzyklus) beim Lernen fördert eine individualisierte Gemeinschaft, die gegenseitige Perspektivübernahme anregt und fördert. Wichtig ist, dass gegenseitiges Helfen freiwillig bleibt und sich spontan aus der Lernsituation ergibt. Da Helfen mit positiven Emotionen einhergeht, sorgt es außerdem für die Nachhaltigkeit des Lernens bei den Helfenden (siehe auch Kapitel Der Hyperzyklus). Die Fähigkeit zur gegenseitigen Perspektivübernahme gehört zu den sogenannten exekutiven Stirnhirnfunktionen. Die Entwicklung des Stirnhirns hängt nicht allein von genetischen Programmen, aber auch nicht allein von Übung ab, sondern hauptsächlich von der Lernkultur, in der eine Person aufwächst. Sogar die Folgen von Verletzungen im Stirnhirn lassen sich in geeigneten Lernkulturen mildern und durch vertrauensvolle Kooperationsformen ausgleichen (siehe auch Kapitel Das faire Stirnhirn).

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Untersuchungen zur Bereitschaft von Menschen zum Teilen legen nahe, dass dem Vertrauen in die Kooperationsbereitschaft offensichtlich angeborene Tendenzen zu Fairness und Solidarität zugrunde liegen. Auch wenn es hier große kulturelle Unterschiede gibt, es gibt eine Gemeinsamkeit: Die meisten Menschen schenken fremden Personen Vertrauen und sind bereit, egoistische Impulse zu unterdrücken (siehe auch Kapitel Teilen). Vertrauen in sich selbst und eine Gemeinschaft sind die wichtigsten Voraussetzungen für Teilhabe. Halbherzige Inklusionsbemühungen verschärfen auf Dauer die Exklusion (siehe auch Kapitel Das werden Berufsverbrecher). Als 1994 die Salamanca-Erklärung Inklusion als Leitprinzip einer internationalen Bildungspolitik festlegte, gab sie den Anstoß, die vorherrschenden Monokulturen in den Bildungsinstitutionen weltweit zu überwinden. Sie fordert, dass Schulen alle Kinder aufnehmen sollen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, Behinderungen und Begabungen sowie sprachlichen, kulturellen und ethnischen Besonderheiten (siehe auch Kapitel Die Pluralität des Lernens). Seit dem 26. März 2009 gilt in Deutschland die UN-Konvention für behinderte Menschen. Dieser UN-Konvention widerspricht die Abschiebung von Menschen in Sondereinrichtungen, wie zum Beispiel Förderschulen. Erstmals gibt es dagegen ein Beschwerderecht. Eltern befürchten jedoch, ihre Kinder könnten nicht ausreichend gefördert werden. Sie fürchten zunehmende soziale Ungerechtigkeit und Nachteile für ihre Kinder (siehe auch Kapitel Hamburger Volksentscheid). Im Bildungssystem zeigt sich das Matthäusprinzip darin, dass in Deutschland die Ausgaben für Nachhilfe die Milliardengrenze längst überschritten haben. Die Schule verlässt sich darauf, dass der, der es zahlen kann, Hilfe von außen holt. Soziale Unterschiede werden damit weiter verschärft. Immer mehr Eltern sehen im Gymnasium den einzigen Schlüssel zum Erfolg. Wenn schon Real- und Hauptschulen als peinlich gelten, was ist dann erst mit Sonderschulen? (Siehe auch Kapitel Der Matthäuseffekt.) Die zunehmende Schere zwischen arm und reich kann eine inklusive Schule natürlich nicht ausgleichen. Sie kann aber einer zunehmenden

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Bildung sozialer Brennpunkte entgegenwirken, soziale Gräben überbrücken, Begegnungen ermöglichen und Vorurteile abbauen (siehe auch Kapitel Soziale Brennpunkte). Wenn wir in Zukunft eine inklusive Gesellschaft wollen, kommen wir an der heranwachsenden Generation in den Schulen und Universitäten nicht vorbei. Inklusion erleben sie meist nur als moralischen Appell. Doch sind die Appellierenden selbst bereit, über ihren eigenen Schatten zu springen? (Siehe auch Kapitel Baustelle Stirnhirn und wilde Zeiten.) Jeder Mensch ist ein Universum von Eigenschaften. Tests, Proben oder Prüfungen messen zwangsläufig nur einseitig ausgewählte Eigenschaften mit einer vorhersehbaren Verteilung über eine Gruppe von Kindern. Dazu kommt, dass es sich nur um eine Momentaufnahme handelt. Normen, die man durch Messung und Mittelwertvergleich einer Lernkultur von außen auferlegt, sind Barrieren beim Lernen. Sie können dadurch selbst die Ursache für Lernschwierigkeiten sein (siehe auch Kapitel Der Normalisierungseffekt). Ein guter Unterricht zeichnet sich dadurch aus, dass er den Lernenden Hilfen in der Zone ihrer nächsten Entwicklung gibt. Doch wie unterrichten, wenn das Vertrauen der Lernenden in diese Hilfen verloren gegangen ist? Dann hilft nur eins: das Vertrauen wiederherstellen. Eine demokratische Kultur gemeinsamer Entscheidungen bildet dafür die ideale Voraussetzung (siehe auch Kapitel Vertrauen). Leistungen unter Zwang bezahlen die Lernenden immer mit Sinnverlust. Eltern finden jedoch in den Medien genügend Ermunterungen, ihren eigenen Kindern durch Drill und Dressur Startvorteile im globalisierten Konkurrenzkampf zu verschaffen. Scheinbar stellt das Schulsystem Eltern vor die Alternative: glückliche Kindheit oder gesicherte Zukunft. So ist Zukunft keine Verheißung mehr, sondern eine Drohung (siehe auch Kapitel Leistungsdruck). Angestrengtes Üben ohne intrinsische Motivation (Drill) hat eine negative Wirkung auf die Übungsbereitschaft. Frustration lähmt bekanntlich die Kräfte. Angestrengtes Üben aus eigenem Antrieb mit sozialem Rückenwind weckt dagegen zusätzliche Bereitschaft zur Wiederholung, einfach weil es Spaß macht.

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Statt Leistungsdiagnostik bräuchten wir in den Schulen also viel mehr Motivationsdiagnostik und statt Leistungsdruck viel mehr Ermutigung (siehe auch Kapitel Die Taufliege der Begabungsforschung). Wenn wir uns an Gelerntes erinnern, erinnern wir auch die Emotion beim Lernen. Waren es positive Emotionen, erinnern wir uns gern und häufiger. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn man sich selbst als hilfreich für andere erlebt hat. Bei negativen Emotionen vermeiden wir die Erinnerung. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn man sich unangefragter Hilfe ausgeliefert fühlt (siehe auch Kapitel Helfen kann glücklich machen). Erst wenn man die Einmaligkeit jedes Individuums betont, gibt man dem Perspektivwechsel einen universellen Sinn. Ja mehr noch: Gemeinsames Lernen auf unterschiedlichen Wegen erhebt den Perspektivwechsel zu einem zentralen Inhalt des Unterrichts (siehe auch Kapitel Das faire Stirnhirn). Wenn es ums Lernen geht, sind schon Kleinkinder Teamplayer. Anderen etwas mitzuteilen ist die Grundlage des kulturellen Lernens. Eine Lernkultur, die das Mitteilungsbedürfnis der Lernenden unterdrückt, wird auf Dauer als lähmend und einengend empfunden. Moderne Unterrichtsformen verstehen es jedoch, das Mitteilungsbedürfnis der Lernenden zu kanalisieren, indem sie ihnen viele Gelegenheiten einräumen, sich mitzuteilen (siehe auch Kapitel Mitteilen). Ohne Anerkennung der pädagogischen Herausforderungen, ohne Rückhalt in der Politik und ohne den Respekt der Eltern ist es für Lehrerinnen und Lehrer schwierig, sich für eine Lernkultur einzusetzen, in der Misstrauen und Zynismus keinen Platz haben. Die Schwierigkeit besteht darin, dass im durchgeplanten Schulalltag die Kultur des Lernens oft der blinde Fleck bleibt. Je durchstrukturierter der Plan, desto mehr stören die Lernenden (siehe auch Kapitel Das Wie bestimmt das Was).

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Teil III: Beim Helfen lernen – beim Lernen helfen

Diese ganze monströse Maschine ist Jahr für Jahr in Tätigkeit, um den Willen zu zerstören, die Energie zu zermahlen und die Lebenskraft des Kindes in Rauch aufgehen zu lassen. Um der Zukunft willen wird gering geachtet, was es heute erfreut, traurig macht, in Erstaunen versetzt, ärgert und interessiert. Für dieses Morgen, das es weder versteht, noch zu verstehen braucht, betrügt man es um viele Lebensjahre. (Janusz Korczak 1916)1

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Teil III: Beim Helfen lernen – beim Lernen helfen

Lernschwierigkeiten Auf Hilfe angewiesen

»Lächeln heißt: Ja!«, erklärte uns eine Mutter. So kommunizierte sie mit ihrer schwerstbehinderten Tochter Magda. Wie aber sollte Magda die besorgte Nachfrage beantworten, ob sie traurig sei? Mit einem Lächeln? Bildsysteme mit Sprachausgabe (Talker) helfen, solche Mehrdeutigkeiten zu vermeiden. Leider hatte man auf Magdas Talker anfänglich nur Bilder für Grundbedürfnisse angebracht: Hunger, Durst, Toilettengang, Müdigkeit usw. Die Schülerin drückte die Taste für Toilettengang, obwohl sie gerade von der Toilette kam. Dann drückte sie die Taste für Durst. Das Getränk, das man ihr gebracht hatte, rührte sie jedoch nicht an. Entnervt nahm man ihr das teure Gerät wieder weg. Später konnten wir zeigen, dass Magda nur ausprobieren wollte, ob die Tasten immer dasselbe bedeuten. Das kann man nur durch Wiederholung herausfinden. Symbole, mit denen man das Spiel Ich sehe etwas, was du nicht siehst spielt, brachten das ans Tageslicht. In der Integrationsklasse spielten die anderen Kinder gern mit. Oft werden Menschen mit schwerer Beeinträchtigung als hilfsbedürftig charakterisiert. Man spricht zum Beispiel mit vorgehaltener Hand davon, dass sie wohl ein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein werden. Wie schrecklich – aber Moment mal! Wie ist das eigentlich bei uns selbst? Gilt das nicht für alle anderen Menschen auch? Ein schönes Beispiel dafür gab im Jahr 1974 der Deutsche Bildungsrat (eine Kommission führender Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Gewerkschaft). In einer Definition des Begriffs geistige Behinderung einigte sich die Kommission auf folgende Formulierung: Geistig behindert ist, wer infolge einer organisch-genetischen oder anderweitigen Schädigung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so beeinträchtigt ist, dass er voraussichtlich lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf.2

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Wenn schon für Individuen der frühen Jäger- und Sammlervölker das nackte Leben von gegenseitiger Hilfe abhing, gilt das für uns Menschen im postindustriellen Zeitalter erst recht. Während wir den postmodernen Traum von der größtmöglichen Unabhängigkeit des Individuums träumen, ist im 21. Jahrhundert die Arbeitsteilung global so weit fortgeschritten, dass viele Menschen selbst in den elementarsten Fragen der Notdurft, Ernährung und Kleidung auf Hilfe anderer angewiesen sind. Wer baut in Deutschland heute schon noch seine Toilette selbst, wer webt die Stoffe für seine Kleidung und ernährt sich ausschließlich aus eigenem Anbau? Und übrigens: Haben wir die Zahlen, die Schrift, die Fahrzeuge und modernen Medien selbst erfunden? Natürlich nicht. Bei allen kulturellen Errungenschaften, die zur Bildung gehören, handelt es sich um Gemeinschaftswerke, die nur durch gegenseitige Hilfe der Menschen untereinander gelingen können. Dies ist jedoch offensichtlich ein blinder Fleck, wenn wir unsere Autonomie genießen und mitleidig auf die Hilflosigkeit von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen herabblicken. Hilfsbedürftig sind wir alle, auch wenn wir das oft ausblenden. Das selektive Schulsystem zieht immer Einzelpersonen in das Licht der Prüfung. Das Beziehungsgefüge, in das Einzelpersonen eingebunden sind, bleibt im Schatten. Im Jahre 2002, bei einem Besuch im MRI (Mental Research Institut) in Palo Alto, sagte der Kommunikationstheoretiker Paul Watzlawick (1921–2007) zu mir: »Für mich gibt es keine Einzelpersonen, nur Beziehungen.« Das hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Wer weiß schon, auf welche Art der Hilfe er oder sie in welcher Situation einmal angewiesen sein wird? Vorurteile gegen Hilfsbedürftigkeit zu überwinden, darin sehe ich eine der wichtigsten Aufgaben moderner Bildung, wenn nicht die wichtigste überhaupt. Unsere eindimensionalen Vorstellungen von helfenden Tätigkeiten gehören wohl zum härtesten Kern eines voreingenommenen Schubladendenkens, das gewöhnlich entweder moralinsauer oder kraftmeierisch daherkommt. Alle pädagogischen Berufe gehören im weitesten Sinne zu den helfenden Berufen. Schon der Begründer der modernen Physik Gali© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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leo Galilei (1564–1642) war der Ansicht, dass man einen Menschen nichts lehren kann, sondern ihm nur helfen kann, es in sich selbst zu entdecken. Doch was bedeutet es für Lehrende, wenn ihre Hilfe bei Lernenden nicht fruchtet oder von ihnen abgelehnt wird? Müssten sie dann nicht eigentlich ihre Art des Helfens infrage stellen? Nicht unbedingt. Ihnen steht ein Werkzeugkasten unterschiedlichster gesellschaftlich anerkannter Diagnosen zur Verfügung, mit denen sie den Schwarzen Peter für eine nicht fruchtende oder abgelehnte Hilfe den Lernenden selbst zuschieben können: Medienverwahrlosung, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie usw. Inklusion verlangt keine Diagnostik, die ein Gestell liefert, um Kinder nach der Art ihres Hilfebedarfs in Schubladen einzuordnen. Vielmehr sollte Diagnostik eine Art Gewebe aus wertschätzenden und Kompetenz zuschreibenden Beobachtungen bilden. Lernende mit ihren Problemen ernst zu nehmen erfordert, sie selbst in die Evaluation von Hilfen einzubeziehen und organisch wachsende Räume für eigenständige Entwicklung zu schaffen. Treffen wir nicht alle ständig auf geistige Barrieren? Sind wir nicht deshalb alle auf lebenslange soziale und pädagogische Hilfe angewiesen? Bildeten die Koryphäen des Bildungsrates hier vielleicht eine Ausnahme? »Sein eigener Stirnknochen verlegt ihm den Weg, an seiner eigenen Stirn schlägt er sich die Stirn blutig.«3 So charakterisierte in den Wintermonaten des Jahres 1920 der Schriftsteller Franz Kafka seine quälenden und schonungslosen Denkexperimente, mit denen er die geistigen Grenzen einsamen Denkens auslotete. Es ist sehr schwierig, eine Grenze zu ziehen zwischen der allgemeinmenschlichen Begrenztheit geistiger Entwicklung und dem, was als geistige Behinderung gilt. Im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen redet man gern von den Schwachen in unserer Gesellschaft. Doch: Wer ist schwach und wer stark? Wenn ein Mensch mit einer Beeinträchtigung die gleiche Leistung vollbringt wie ein Mensch ohne Beeinträchtigung, wer ist dann schwächer und wer stärker? Gehören nicht gerade die zu den Starken, die ihr Leben mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen meistern? © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Wären wir wirklich eine Leistungsgesellschaft, dann würden wir Leistungen mehr respektieren, die Menschen unter erschwerten Bedingungen erbringen. Da dies nicht der Fall ist, sind wir wohl eher eine Erfolgsgesellschaft: Honoriert wird ausschließlich der Erfolg. Nach der Leistung, die dahinter steht, wird kaum gefragt. Was fehlt, ist die Bereitschaft zum Perspektivwechsel. Einerseits bedeutet Inklusion sowohl einen höheren Energieaufwand als auch eine höhere Leistung beim Lernen anzuerkennen. Andererseits sollte Inklusion Erfolg und Leistung relativieren. Stattdessen sollten Metakompetenzen im Mittelpunkt des Lernens stehen, wie zum Beispiel: Impulskontrolle, Frustrationstoleranz, Einfühlungsvermögen, Selbstverantwortung, Affektregulation, Handlungsplanung und Folgenabschätzung (siehe auch Kapitel Das faire Stirnhirn).

People First, die Selbstvertretung von Menschen mit Lernschwierigkeiten, nennt sich in Hamburg Die starken Engel e. V. Sie machen sich stark für die Integration von Menschen mit Lernschwierigkeiten und mehrfacher Beeinträchtigung, indem sie deren Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Selbsthilfe fördern.4 An diesem Beispiel wird einmal mehr deutlich: Gerade Schwächen treiben Menschen dazu an, über sich selbst hinauszuwachsen. Das mehr oder weniger bewusste Ziel ist dabei nicht nur die Selbstständigkeit, sondern auch, von anderen als hilfreich anerkannt zu werden. Denn dieser Hyperzyklus des Gebens und Nehmens bildet das Wesen individualisierter Gemeinschaften. Dieses Wissen ist längst Teil unseres kollektiven Unterbewusstseins. Davon erzählen sogar Volksmärchen: Schneewittchens Retter ist nicht der strahlende Prinz, sondern der kleinste der Sieben Zwerge. Sein Stolpern bewirkt, dass ihr das vergiftete Stück Apfel aus dem Hals fällt. Oder denken Sie an das Märchen Sechse kommen durch die ganze Welt, in dem Kriegsversehrte sich mit ihren sehr individuellen Talenten gemeinsam gegen unfaire Behandlung durchsetzen. Ein ähnliches Dream-Team bilden in dem Kunstmärchen Der Zauberer von Oz Dorothy aus Kansas, ihr kleiner Hund, die Vogelscheuche ohne Verstand, der Blechmann ohne Herz und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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der Löwe ohne Mut. Alle erweisen sich als hilfreich – wie im Hyperzyklus hängt das Gelingen des Projektes an jeder einzelnen Figur. Aus guten Gründen schrecken wir davor zurück, den Menschen zu verzwecken. Liegt der Wert des Lebens eines jeden Menschen nicht in ihm selbst? Ja, natürlich. Aber gehört zu einem erfüllten menschlichen Leben nicht auch, sich selbst als nützlich für andere zu erleben, sich mit ihnen verbunden zu fühlen und gemeinsam mehr zu erreichen, als man allein je schaffen könnte? Ich finde es sehr erstrebenswert, in einer Gesellschaft von Menschen zu leben, die den Wert einer Person nicht nach ihrer Hilfsbereitschaft oder irgendeinem anderen Nutzen für andere bemessen. Das ändert jedoch nichts daran, dass wir möglichst alle Menschen ernst nehmen sollten, vor allem in ihrem Bedürfnis, nützlich zu sein für andere. Gut gemeinte Hilfe

Jeden Tag eine gute Tat. Als Kind beobachtete ich an einer Straßenbahnhaltestelle einen einbeinigen Mann mit zwei Krücken. Ich hatte gerade Timur und sein Trupp5 von Arkadi Gaidar (1904–1941) gelesen und identifizierte mich mit dem Romanhelden Timur. Dieser 14-Jährige hatte einen Hilfstrupp gegründet, mit dem er sich um Benachteiligte kümmerte. Mit der Romanlektüre glaubte ich, meine Lektion in Hilfsbereitschaft gelernt zu haben. Nun galt es, diese Lektion in die Praxis umzusetzen. Als die Straßenbahn eintraf, riss ich die Tür auf und griff dem Mann mit den Krücken beherzt unter den Arm, um ihm in den Waggon hineinzuhelfen. Der aber begann zu fluchen, schlug mit einer seiner Krücken nach mir und jagte mich davon. Ich verstand die Welt nicht mehr. Heute ist mir natürlich klar, dass ich den Mann mit den Krücken aus dem mühsam einstudierten Takt beim Einsteigen gebracht hatte. Er erlebte meine Hilfe als alles andere als hilfreich. Spätestens seit diesem Erlebnis weiß ich: Helfen ist eine komplizierte Angelegenheit. Die Lektion, die mir der einbeinige Mann erteilte, war nur der Auftakt für eine Serie ähnlicher Erfahrungen: Ohne gelungenen Perspektivwechsel schadet Hilfe meist mehr als sie nutzt. Das gilt besonders dann, wenn es um Unterricht geht. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Lena kam aus dem ehemaligen Jugoslawien, einem Kriegsgebiet. Die 14-Jährige mit dunkelbraunem Lockenkopf und feurigem Blick trug eine Brille, die viel zu groß war für ihr blasses und schmales Gesicht. In der Förderschule galt sie als gemeingefährlich: Im Fahrstuhl hatte sie eine Lehrerin angegriffen, die danach unter einem Schleudertrauma litt. Es hieß, Lena geht auf andere unkontrolliert los und ist nicht zu bändigen. Einer Erzieherin hatte sie den Arm gebrochen. Ich sprach die Erzieherin daraufhin an. Sie versicherte mir, es sei ihr Fehler gewesen. Sie hätte Lena in dem Augenblick, als der Unfall passierte, einfach überfordert. In der Klasse, in der sie zuvor war, hatte man behauptet, sie sei ein Monster und für die Schule nicht mehr tragbar. »Ab morgen frühstückst du bei uns«, hatte ihr neuer Klassenlehrer verkündet. Lena verstand sofort, dass sie nun doch in der Schule bleiben durfte. Sie war darüber überaus glücklich. Diesen Vorfall erzählte mir Lena immer wieder, weil es sie offenbar schwer beeindruckt hatte. Meine Frau, die auch an dieser Schule unterrichtete, erzählte mir, wie Lena Spaß daran fand, laut vor sich hin zu singen: »Ich bin behindert!« Meistens war es ihr egal, was die Leute im Bus oder in der S-Bahn von ihr dachten. Schaute jemand doch zu lange in ihre Richtung, fixierte sie die Person mit feindseligem Blick und drohte mit der Faust. Sie war die Letzte, die sich vor einer Prügelei fürchtete. Eines Tages, beim Kochen, weigerte sich Lena zu helfen. Als meine Frau sie aufforderte, sich am Unterricht zu beteiligen, schrie sie: »Weißt du denn nicht, wo wir hier sind, das ist eine Behindertenschule!« Meine Frau konterte: »Wer nicht mithilft, bekommt auch nichts zu essen!« Lena gab nach und nahm widerwillig am Pfannkuchenbraten teil: »Iiih, das Fett spritzt!«, klagte sie. »Das Fett spritzt nicht«, erwiderte meine Frau, »das ist das Wasser, das bei der Hitze verdunstet!« Als Lena ihr nicht glauben wollte, spuckte meine Frau demonstrativ in die Pfanne, um ihr zu zeigen, dass das Wasser verdunstet und nicht das Fett. Freudig spuckte Lena nun selbst in die Pfanne. Essen wollte den Pfannkuchen sowieso niemand mehr. Lena experimentierte mit Wasser und Fett und wollte etwas über Siedetempe© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil III: Beim Helfen lernen – beim Lernen helfen

raturen erfahren. Wie eine Physikerin plante sie Experimente, die sie dann auch geschickt umsetzte. Warum lernte ein so aufgewecktes Mädchen nicht Lesen und Schreiben? Lena lebte mit ihrer Mutter, ihren fünf älteren Brüdern und ihrer jüngeren Schwester in einer engen Zweizimmerwohnung. Sie wusste, was von ihr abhing: Nur wegen ihrer Behinderung hatte man die Familie noch nicht in das Krisengebiet zurückgeschickt! Deshalb rauchte sie wie ein Schlot – trotz Herzerkrankung – und sperrte sich gegen das Lesen- und Schreibenlernen. Lena wurde erst mit zehn Jahren eingeschult. Die Frage, ob sie wirklich nicht lesen und schreiben konnte, bleibt für mich ungeklärt. Im Jahre 2000 wurde die Bundesrepublik Jugoslawien wieder in die UN aufgenommen, und Lena musste mit ihrer Familie unverzüglich ausreisen. Helfen ohne gelungenen Perspektivwechsel kann leicht nach hinten losgehen. Das Gelingen von Inklusion hängt von drei Faktoren maßgeblich ab: Teilhabe, Unterricht und Perspektivwechsel. Fehlt auch nur einer der drei Faktoren des kooperativen Dreiecks, führt Inklusion in die Sackgasse. Das trifft auch auf gut gemeinte didaktische Hilfen zu. Anschaulichkeit soll Kindern mit Lernschwierigkeiten das Lernen erleichtern. Unter Umständen kann Anschaulichkeit jedoch selbst zur Barriere werden.

Das zeigt beispielsweise folgende Gegenstandsanalyse: Die Veranschaulichung geometrischer Figuren durch Realobjekte verschleiert den eigentlichen Sinn der Geometrie. Denn Geometrie bedeutete ursprünglich Land- oder Feldmesskunst. Das griechische Wort geometria (γεωμετρια) heißt wörtlich übersetzt: Landvermessung. Die Euklidische Geometrie hat also vor allem mit abstrakten Mustern zu tun, die beim Messen auftreten. In einer Untersuchung von 360 Kindern verschiedener Regelund Sonderschulen konnte ich Folgendes zeigen: Steht im Geometrieunterricht die Veranschaulichung von geometrischen Figuren im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sehen die Kinder in Dreiecken © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Verkehrsschilder, Kopftücher, Dachstühle oder andere Realobjekte. Geometrisch exakte Dreiecke, die aber extrem spitzwinklig oder stumpfwinklig sind, erkennen sie nicht als Dreiecke an. Dreiecke mit abgerundeten Ecken und eingebogenen Seiten sehen für sie dagegen wie richtige Dreiecke aus. Stellt man den Geometrieunterricht jedoch von Anschauung auf Handlung und Abstraktion um, indem man das Messen von Strecken und Winkeln in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, ändert sich das: Nun sind Strecken für die Lernenden gedachte Luftlinien. Ein Dreieck erkennen sie jetzt als kürzeste Verbindung zwischen drei Punkten, egal wie spitz- oder stumpfwinklig es ist. Von einem Strahl und einer Geraden wissen sie, dass sie nicht messbar sind. Denn der Strahl ist eine Strecke, von der man nur den Anfang kennt, und eine Gerade ist eine Strecke, von der man weder Anfang noch Ende kennt.6 Die gut gemeinte Anschaulichkeit an Förderschulen kann also selbst zu einer Barriere beim Lernen werden. Sie erleichtert nicht nur das Lernen, sie kann auch vom Wesentlichen ablenken. Besser sind gemeinsame Projekte sinnvollen Handelns. Im Falle des Messens von Strecken halfen Radtouren und Wettrennen, um die Aufmerksamkeit der Kinder auf den eigentlichen Sinn der Geometrie zu lenken: auf das Messen und abstrakte Luftlinien. Die didaktische Schleife

Lehrende können sich – wie alle Menschen – meist nur äußerst verschwommen daran erinnern, wie sie einst etwas lernten. Deshalb kann es ihnen plötzlich passieren, dass sie beim Unterrichten unversehens in einen Strudel geraten, den ich didaktische Schleife nenne. Führt der Unterricht nicht zum erwarteten Lernergebnis, zerlegt man den Prozess des Lernens in immer kleinere Zwischenschritte. Beispiel: Ein Kind kann nicht dividieren? Es verwechselt offensichtlich Dividend und Divisor. Soweit so gut. Nun folgt nach meinen Erfahrungen immer wieder eine typische Kette von Fehlschlüssen: Wie steht es denn mit der Orientierung auf dem Blatt? Also üben wir erst einmal, wo oben, unten, links und rechts sind. (Das Kind ist irritiert.) Das klappt auch nicht so gut? Wie sieht es denn mit der Koordination von Auge und Hand aus? Aha, da liegt der Hase im Pfef© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil III: Beim Helfen lernen – beim Lernen helfen

fer: Das Kind sieht zu viel fern. Also gehört es zu den Extraturnern. Vielleicht sollte es erst einmal rückwärts laufen lernen. Bei einer Hospitation beobachtete ich Folgendes: Beim Extraturnen fragte ein Schüler: »Warum soll ich das jetzt lernen?« Die Lehrerin antwortete: »Damit du besser rechnen lernst.« Der Schüler schaute sie kurz ratlos an, drehte sich um und verließ den Raum. Mit jedem Durchlauf einer didaktischen Schleife kann es für Lernende – aber auch für die Lehrenden – immer schwieriger werden, einen Überblick über den ursprünglichen Sinn der Aufgabe zu gewinnen. Schlimmstenfalls verschwindet der ursprüngliche Sinn der Aufgabe spurlos im Strudel der didaktischen Schleife.7 Dabei hatte das Kind nur nicht verstanden, wofür Dividieren gut ist. Ja, wofür ist denn Dividieren gut? Zum Beispiel für faires Teilen. Ist dem Kind klar, dass man in der Mathematik immer gerecht teilt? Hat es schon einmal Gegenstände auf verschiedene Gefäße gleichmäßig verteilt? Worauf richtet es seine Aufmerksamkeit beim Rechnen? Statt den Lernstoff in kleine Stücke zu zerhacken, ist es besser herauszufinden, worauf Lernende ihre Aufmerksamkeit richten. In der Didaktik ist viel von Wahrnehmung, Anschauung und Aktivität die Rede. Die wichtigste Adresse der Didaktik ist jedoch immer die Aufmerksamkeit der Lernenden. Paradoxerweise gerät die Aufmerksamkeit selbst selten in den Fokus der Aufmerksamkeit. Nach der Montessori-Formel entspricht das momentane Verhalten einer Person während der Polarisation der Aufmerksamkeit annähernd dem momentanen Zustand ihrer Innenwelt.8 In der Tat: Beobachten wir Kinder oder Erwachsene, die ganz in ihrer Tätigkeit aufgehen, entsteht der Eindruck, wir könnten ihnen unmittelbar beim Denken und Fühlen zuschauen. Der aus Ungarn stammende Psychologe Mihály Csikszentmihalyi an der Universität von Chicago bezeichnet dieses Zusammenfließen von Innen- und Außenwelt als flow und meint damit so etwas wie einen Aktivitätsrausch. Dabei gehen Aufmerksamkeit, Motivation und die Umgebung eine produktive Harmonie ein. Sie entsteht im Zwischenbereich von einem zögerlichen, ängstlich-nervösen Handeln bei Überforderung und der Unterforderung bei lustlos ausgeführten Routinehandlungen: »Es gibt Leute, die direkt in eine flow-Episode einsteigen können, indem sie ihre Aufmerksamkeit in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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flow-adäquater Weise auf ein umgrenztes Stimulusfeld einschränken und so das Verschmelzen von Bewusstsein und Handlung einleiten.«9 Montessori regte den flow-Zustand (Polarisation der Aufmerksamkeit) an, indem sie eine vorbereitete und entspannte Umgebung herstellte. Die Erwachsenen hielten sich im Hintergrund. Sie verstanden sich ausschließlich als Beobachtende, Helfende und Begleitende der Kinder bei ihren selbst gewählten Tätigkeiten (siehe auch Kapitel Emulationslernen als Entlastung). Freiarbeit ermöglicht Lernenden, sich ungezwungen mit einem frei gewählten Gegenstand zu beschäftigen. Dabei können sie ihren eigenen Lernweg suchen und finden. Es gibt keinen Druck, einander zu helfen. Gerade deshalb sieht man nicht selten, wie sich Kinder in kleinen individualisierten Gemeinschaften zusammenfinden.

Abbildung 25: Freiarbeit in der Montessori-Pädagogik: Gegenseitige Hilfe kommt spontan – ohne moralischen Druck – zustande.

2006 untersuchten die Psychologinnen Angeline Lillard und Nicole Else-Quest10 Kinder in Montessori-Einrichtungen. Es handelte sich um Vorschulkinder zwischen drei und sechs Jahren sowie Grundschulkinder zwischen sechs und zwölf Jahren. Bei kognitiven und sozialen Tests schnitten die Montessori-Schülerinnen und -Schüler deutlich besser ab als andere. Ein klassischer Einwand gegen solche Studien ist: Der Lernerfolg sei auf die engagierten Eltern zurückzuführen. In der Studie von Lillard und Else-Quest konnte dieses Argument widerlegt werden. Dabei kam ihnen das Zufallsverfahren zugute, mit denen man die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Teil III: Beim Helfen lernen – beim Lernen helfen

Kinder für den Schulbesuch der Montessori-Schule in Milwaukee, Wisconsin, auswählt. Der Andrang ist offensichtlich so groß, dass ein Los entscheidet, wer den begehrten Platz in der Montessori-Einrichtung erhält. Die Forscherinnen verglichen nur die Kinder, die durch Losentscheid aufgenommen worden waren (Versuchsgruppe, 59 Kinder), mit denen, die durch Losverfahren in staatlichen Schulen landeten (Kontrollgruppe, 59 Kinder). Die Stärken der Montessori-Kinder waren: Suche nach konstruktiveren Lösungen, viel positivere Bewertung von Gemeinschaft, Bemühen um gewaltfreie Konfliktlösungen. Außerdem schrieben sie am Ende der Grundschulzeit die kreativeren und sehr viel komplexeren Sätze. Nur im mathematischen Bereich waren die Unterschiede nicht signifikant. Was macht die Montessori-Pädagogik richtig? Leitfadeninterviews und Fragebögen zeigen, dass die Stärken der Bildungseinrichtungen vor allem in der Lernkultur liegen: Die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden ist vertrauensvoller, auf Stärken und Schwächen Einzelner geht man differenzierter ein, und es gibt mehr Möglichkeiten, eigene Ideen und Meinungen in den Unterricht einzubringen.11

In einer Montessori-Klasse beobachtete ich, wie die Kinder einer Gruppe von einem Stapel jeweils eine Karte mit einem Bild abhoben. Das Kind, das die Karte gezogen hatte, sollte das englische Wort für die Abbildung finden. Nur wenn die Antwort richtig war, konnte das Kind die Karte an sich nehmen. Das Kind mit dem größten Stapel war ein Mädchen mit einer Trisomie 21 (Downsyndrom). Es blieb lange verborgen, dass Menschen, die unter den Bedingungen einer Trisomie 21 leben, bei solchen Aufgaben ihre Stärken haben. Das Vorurteil, dass Menschen mit einer Trisomie 21 aufgrund ihrer geistigen Behinderung Probleme beim abstrakten Denken hätten, führte dazu, dass man glaubte, das Erlernen der Schriftsprache sei ihnen nicht möglich. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Aufmerksamkeitsforschung und Trisomie 21

Das Buch Die Welt des Nigel Hunt – Tagebuch eines mongoloiden Jungen erregte in den 1960er-Jahren großes Aufsehen. Die Beteuerungen des Vaters im Vorwort illustrieren, dass dieses Buch keinesfalls den Erwartungen entsprach: »Ich erzähle die nüchterne, ungeschminkte Wahrheit, wenn ich sage, dass er das Lexikon aufs Geratewohl öffnete, das Wort ›Arteriosklerose‹ buchstabierte, wobei er es fehlerfrei aussprach, und vergnügt kicherte: ›Was für ein herrliches Wort!‹«12 In den 1970er-Jahren zeigte sich, dass Nigel Hunt kein Ausnahmetalent war. Das frühe Lesenlernen wirkte sich bei vielen Kindern mit einer Trisomie 21 sogar zusätzlich positiv auf die Lautsprachentwicklung aus, wie in den 1980er-Jahren Studien im englischsprachigen Raum zeigten.13 Auch der mittlerweile weltberühmte, diplomierte Grundschullehrer Pablo Pineda mit einer Trisomie 21, der nun auch Hauptdarsteller in dem Kinofilm mit dem Titel: Me Too – Wer will schon normal sein? ist, erlernte schon mit vier Jahren die Buchstaben. Vor der Kamera sagte er: »Ich will in meinem Unterricht auch behinderten Kindern Mut machen. Sie können ein eigenes, glückliches Leben führen.«14 Bei Menschen mit Trisomie 21 ist in der Mehrzahl der Fälle das 21. Chromosom verdreifacht. Selten betrifft die Verdreifachung (Trisomie) nur Teile des 21. Chromosoms. Die Folge sind neben typischen körperlichen Merkmalen (geschrägte Lidachsen und verminderte Muskelspannung) auch neuropsychologische Besonderheiten. Bisher ging man davon aus, dass sich Menschen mit Trisomie 21 eher an der Gesamtgestalt orientieren. Man glaubte, sie sehen eher den Wald als die Bäume. Beispielsweise stellt die Neuropsychologin Ursula Bellugi vom Salk Institute in La Jolla (Kalifornien) fest: »Personen mit Down-Syndrom […] nehmen eher die Gesamtgestalt wahr, übersehen aber viele Details […].«15 In unserem Aufmerksamkeits-Computer-Labor (ACL) an der Universität Hamburg untersuchen wir Aufmerksamkeitsbesonderheiten mit didaktischer Absicht. Dafür setzen wir computergestützte Messverfahren ein (zum Beispiel: Eyetracking und Neurofeedback). Bei einer Vergleichsstudie fanden wir heraus: Dieselben Personen mit einer Trisomie 21, die in einem Moment von der Gesamtge© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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stalt zugunsten der Details abstrahieren, heben schon im nächsten Moment ein Detail hervor und abstrahieren von der Gesamtgestalt. Abstraktion beschreibt in seiner ursprünglichen Bedeutung den Vorgang des Absehens von Eigenschaften. Der eingeschränkte Aufmerksamkeitsumfang von Menschen mit einer Trisomie 21 scheint sie regelrecht zur Abstraktion zu zwingen. (Die Bedeutung des Wortes Abstraktion leitet sich vom lateinischen Wort abstrahere für abziehen oder weglassen ab.) Um beim Bild zu bleiben: Mal sehen Menschen mit Trisomie 21 den Wald ohne Bäume, dann wieder die Bäume, aber keinen Wald. Diese Beobachtung korrespondiert sehr gut damit, dass Personen mit Trisomie 21, die hervorragend das Alphabet beherrschen und fließend bis zu 50 Wörter mit der Ganzwortmethode lesen können, große Probleme haben, neue Wörter analytisch-synthetisch zu erschließen.16 Beispiel: Sie kennen alle Buchstaben sowie die Wörter Salami und Pizza. Beim Wort Salamipizza verfallen sie aber wieder ins buchstabenweise Lesen. Experimentelle Befunde sprechen dafür, dass eine Trisomie 21 mit einer Einengung des Aufmerksamkeitsumfangs auf weniger als drei Objekte zur selben Zeit einhergeht. Diese Hypothese konnten wir in gründlichen Voruntersuchungen bereits bestätigen.17 Dafür nutzten wir Schaubilder, die ein Computerprogramm auf einem Monitor nacheinander präzise 250 Millisekunden präsentiert.18 Unterstützt von der Hermann-Reemtsma-Stiftung, arbeiten wir derzeitig an einer repräsentativen Studie. Menschen mit Trisomie 21 führen ein Leben unter veränderten neurologischen Bedingungen. Die erhöhte Gendosis führt zu zahllosen Veränderungen mit einer Potenzierung von Möglichkeiten, die natürlich auch durch Umweltbedingungen beeinflussbar sind. Deshalb hängt das Gesamtbild von Menschen unter den Bedingungen einer Trisomie 21 zu einem großen Teil natürlich auch von den Umweltbedingungen ab. Die Aufmerksamkeitsbesonderheiten spielen dabei eine oft unterschätzte Rolle. Die Praxis zeigt: entscheidende

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Bedingungen für ihre geistige Entwicklung sind Inklusion, Achtung ihrer Bedürfnisse beim Lernen sowie eine demokratische Lernatmosphäre.

Doch wie ist das mit dem Aufmerksamkeitsumfang bei Menschen ohne Trisomie 21? Die Grenzen unserer Aufmerksamkeit entziehen sich unserer Aufmerksamkeit. Das ist etwa vergleichbar mit den Grenzen unseres Sehfeldes. Hier sehen wir keinesfalls eine schwarze Begrenzungslinie oder Ähnliches. Wir können diese Grenze nur indirekt erfahren, indem wir unseren Kopf drehen und beobachten, an welcher Stelle Gegenstände aus dem Sehfeld verschwinden. In computergestützten experimentellen Untersuchungen ermitteln wir heute vier Einheiten als Limit für die Simultanerfassung. Auch eine historische Analyse der Entwicklung der Schreibweise von Ziffern sowie ontogenetische und interkulturelle Vergleichsstudien legen eine optimale Bündelung von Zeichen in drei bis vier Einheiten nahe. Spätestens bei fünf Einheiten entsteht das Bedürfnis zur Bündelung (Beispiel: römische Zahlen). Schon fünf Striche (IIIII) lassen sich besser in zwei Bündeln erfassen (II III). Bei etlichen Untersuchungen zur Simultanerfassung von Studierenden zeigte sich, dass die ersten Fehler in der Simultanerfassung bei Mengen auftreten, die mehr als fünf Einheiten enthalten. Am INSERM (Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale) im Süden von Paris untersucht ein Forschungsteam um die Neurowissenschaftlerin Manuela Piazza den menschlichen Sinn für

Abbildung 26: Bei Anzahlerkennung aktiv: kariert – immer; gestreift – nur beim Zählen (6–8); schwarz – beim Zählen und auch bei Simultanerfassung (3–4).

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Anzahlen mit Hirnscans. Der Simultanerfassung von Anzahlen bis vier und der Schätzung von Anzahlen ab sechs entsprechen zwei verschiedene Hirnfunktionen, deren Netzwerke sich überlappen. Beteiligt daran sind Teile des Sehzentrums sowie Teile des Scheitelhirns. Der Vergleich zwischen der Simultanerfassung (drei bis vier Einheiten) und dem Zählen der Anzahl (sechs bis neun Einheiten) ergab: Beide Funktionen gehören im Wesentlichen zu ein und demselben neuronalen Netzwerk. Das Zählen aktiviert jedoch einen größeren Bereich dieses Netzwerkes.19 Treffen wir auf Menschen mit sogenannten Inselbegabungen, entwickeln wir eine Ahnung von der Begrenztheit unseres Aufmerksamkeitsumfangs. Denken Sie beispielsweise an den Maler Stephen Wiltshire, bei dem Autismus diagnostiziert wurde (siehe auch Kapitel Emulationslernen). Nach nur einmaliger Betrachtung eines reich mit Stuck verzierten Gebäudes bringt er es, selbst wenn er mit dem Rücken zum Gebäude sitzt, detailgetreu auf das Papier.20 Nach einem Rundflug über Rom zeichnete er eine Ansicht des gesamten Panoramas dieser Stadt mit all ihren Dächern, Bäumen, Straßen, Flüssen usw. Keine sichtbare Form scheint seiner Aufmerksamkeit zu entgehen. Vergleicht man sich mit solchen außergewöhnlichen Menschen, kommt einem das eigene Aufmerksamkeitsfenster nur noch wie ein schmaler Spalt vor. Doch wieso kommen wir im Alltag in unserer komplexen Welt meist viel besser klar als Menschen mit solchen Inselbegabungen? Die Antwort ist: Wir überwinden mit einem wirkungsvollen Gegenmittel die Enge unseres Aufmerksamkeitsfensters. In der Informatik bezeichnet man dieses Gegenmittel als Superzeichen. Anschaulichkeit und Abstraktion

Eine Gebärde ist ein Superzeichen, weil sie abstrakter ist als das, was sie bezeichnet. Zum Beispiel kann eine Gebärde, die einen Hund bezeichnet, selbst nicht bellen. Genauso wenig kann eine Lautgebärde einen Ton erzeugen. Ein Superzeichen bündelt ein unübersichtliches Geschehen in ein übersichtlicheres Zeichen, das an die Stelle ebendieses unübersichtlichen Geschehens tritt. So bündelt die Ziffer 8 eine Anzahl von Einheiten, die wir auch umständlicher als eine Reihe von Strichen darstellen könnten: IIIIIIII. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Superzeichen sind zwar abstrakter als das, was sie bezeichnen, dafür aber viel übersichtlicher und handhabbarer: Nehmen wir als Beispiel den konkreten Satz: In Hamburg leben ungefähr 1.799.144 Menschen. Kaum jemand wird sich eine Million Menschen vorstellen können. Wahrscheinlich nicht einmal Wiltshire, auch wenn er komplette Stadtbilder nach nur einem Hubschrauber-Rundflug zeichnen kann. Ganz anders verhält es sich mit einem ähnlichen Satz, der aber auf einer höheren Abstraktionsstufe angesiedelt ist, weil er sich nicht auf die Stadt Hamburg selbst, sondern auf das Superzeichen für Hamburg bezieht, in diesem Falle den geschriebenen Namen: »Das Wort ›Hamburg‹ besteht aus sieben Buchstaben.« Diese abstraktere Aussage über Hamburg ist selbsterklärend. Darüber hinaus wäre es auch fraglos leichter, sich sieben Buchstaben vorzustellen als die Stadt Hamburg mit all den Menschen, Gebäuden, Straßen, Parks, Seen, Betrieben und Geschäften. Auch gesprochene Worte bestehen aus Superzeichen. Die Kognitionspsychologin Lera Boroditsky von der Standford University in Kalifornien illustriert an einem Beispiel, wie kulturelle Sprachunterschiede das Denken beeinflussen: Pormpuraaw ist eine kleine Siedlung der Aborigines am Westrand der Halbinsel Cape York in Nordaustralien. Ich bitte ein fünf Jahre altes Mädchen, nach Norden zu zeigen. Ohne zu zögern, deutet sie in eine bestimmte Richtung. Mein Kompass bestätigt: Sie hat Recht. Nach meiner Rückkehr in die USA stelle ich dieselbe Frage in einem Hörsaal der Stanford University. Vor mir sitzen angesehene, mehrfach ausgezeichnete Gelehrte; manche besuchen seit 40 Jahren Vorträge in diesem Saal. Ich bitte sie, die Augen zu schließen und nach Norden zu zeigen. Viele weigern sich, weil sie keine Ahnung haben, wo Norden liegt. Die Übrigen denken eine Weile nach und deuten dann in alle möglichen Richtungen. Ich habe diesen Versuch nicht nur in Harvard und Princeton wiederholt, sondern auch in Moskau, London und Peking – stets mit demselben Resultat.21

Schon Vygotskij (siehe auch Kapitel Zone der nächsten Entwicklung) wusste: Das verbale Denken ist verkürztes inneres Sprechen.22 Es verkürzt die Strukturen kultureller Sprachnormen auf wenige Superzei© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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chen und beeinflusst damit auch die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen. Mit Superzeichen steuern wir unsere Aufmerksamkeit, heben verschiedene Aspekte in den Fokus der Aufmerksamkeit und blenden andere Aspekte aus (Abstraktion). Kehren wir nach Pormpuraaw zurück. Anders als Englisch oder Deutsch enthält die dort gesprochene Sprache Kuuk Thaayorre keine relativen Raumausdrücke wie links und rechts. Wer Kuuk Thaayorre spricht, gebraucht absolute Hauptrichtungen wie Norden, Süden, Osten, Westen und so weiter. Zwar geschieht das auch im Deutschen, aber nur bei großen Entfernungen. Wir würden beispielsweise nie sagen: ›Diese Banausen platzieren die Suppenlöffel südöstlich von den Gabeln!‹ Doch auf Kuuk Thaayorre werden immer Himmelsrichtungen verwendet. Darum sagt man etwa ›Die Tasse steht südöstlich vom Teller‹ oder ›Der südlich von Maria stehende Knabe ist mein Bruder‹. Um sich in Pormpuraaw verständlich auszudrücken, muss man daher immer die Windrose im Kopf haben.23

Auch Menschen mit Autismus profitieren von lautsprachlichen Superzeichen. Selbstgespräche können ihnen helfen, alltägliche Aufgaben leichter zu bewältigen. Ein Forschungsteam um David Williams von der Durham University (Großbritannien) kam zu dem experimentellen Ergebnis, dass Menschen mit Autismus zwar eher zum bildlichen Denken neigen, aber durchaus auch zu verbalem Denken fähig sind. Das zeigen zwei Experimente mit Erwachsenen, Versuchsgruppe mit Autismus und Vergleichsgruppe ohne.24 Experiment 1: Die Versuchspersonen sollten sich Bilder einprägen. Dabei wurden sie durch die Aufforderung gestört, immer wieder die Worte Dienstag oder Donnerstag vor sich her zu murmeln. Das erschwerte beiden Gruppen, die Bildreihenfolge korrekt zu erinnern. Also kann Lautsprache auch das eher bildliche Denken von Menschen mit Autismus beeinflussen. Experiment 2: Die Versuchspersonen sollten ein mathematisches Knobelspiel bewältigen. Ausgangsituation: Auf zwei Stäben sind in Zufallsreihenfolge fünf verschieden große gelochte Scheiben aufgespießt. Ziel: Sie sollen auf einem dritten Stab mit möglichst wenigen Zügen der Größe nach sortiert werden. Bedingung: Die Versuchs© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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personen wiederholen während des Spiels ständig die Worte Dienstag oder Donnerstag. Ergebnis: Die meisten Personen der Vergleichsgruppe (ohne Autismus) scheiterten an dieser Ablenkung. Die Personen der Versuchsgruppe (mit Autismus) ließen sich dagegen von dieser Ablenkung kaum stören. Offensichtlich nutzen Menschen mit Autismus Lautsprache zwar für Gedächtnisaufgaben, nicht aber bei der Planung. Das britische Forschungsteam empfiehlt deshalb, Kinder mit Autismus anzuregen, schon möglichst früh beim Planen Selbstgespräche zu führen. Der Grund dafür ist einfach: Lautsprache ist ein Strom von Superzeichen. Mit Superzeichen lassen sich unübersichtliche und verworrene Einzelheiten zu einer Gestalt oder höheren Einheit bündeln. Diesen Prozess bezeichnet man auch als Abstraktion. Alles, was unseren Aufmerksamkeitsumfang überschreitet, verlangt von uns ein akrobatisches hin und her Springen von einem Aufmerksamkeitspunkt zum nächsten.25 Da dieses hin und her Springen hauptsächlich unbewusst erfolgt, bleiben die Grenzen der Aufmerksamkeit meist unbemerkt. Unser enges Aufmerksamkeitsfenster zwingt uns zum Absehen, also zur Abstraktion im elementaren Sinne. Was für uns gilt, gilt für Menschen mit einer Trisomie 21 verstärkt. Das weite Aufmerksamkeitsfenster bei Autismus verführt dagegen zum konkreten Denken und damit zu einer Reizüberflutung mit Details (siehe Kapitel Autismus und Sozialkompetenz). Menschen mit einer Trisomie 21 sind noch mehr auf die Verwendung abstrakter Superzeichen ausgerichtet und angewiesen als andere Menschen. Nur haben sich die Superzeichen während ihrer kulturellen Entwicklung nicht an ihre neuropsychologischen Bedingungen angepasst. Der anschauungsgebundene, kleinschrittige und Abstraktionen vermeidende Unterricht an Förderschulen kann den neuropsychologischen Besonderheiten von Menschen mit einer Trisomie 21 deshalb nur wenig Rechnung tragen.

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Auch Kinder ohne Trisomie 21 profitieren von der Berücksichtigung der Aufmerksamkeitsbesonderheiten von Menschen mit Trisomie 21. Helfen und Perspektivübernahme schärfen das Bewusstsein dafür, dass Abstraktionen Denkhilfen sind. Sie sind an Superzeichen gebunden und schneiden verworrene und unübersichtliche Erscheinungen auf unser enges Aufmerksamkeitsfenster zu. Alle Menschen sind auf solche Denkhilfen angewiesen. Selbst Menschen mit Autismus profitieren davon, weil es sie vor Reizüberflutung schützt. Nachhaltiges Lernen ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass die Lernenden von Abstraktionsstufe zu Abstraktionsstufe hasten, sondern dadurch, dass sie sich souverän zwischen geeigneten Abstraktionsebenen hin und her bewegen können. Je unterschiedlicher die Lernwege sind, umso verschiedener sind auch die Abstraktionsstufen. Das regt die Mitteilungs- und Kooperationsbereitschaft zum Nutzen aller Beteiligten an.

Zum Beispiel kann das Rechnen mit abstrakten Variablen in gewissen Situationen von Vorteil sein, in anderen Situationen kommt es jedoch gerade auf konkrete Zahlen an. Mit Abstraktion und Anschaulichkeit verhält es sich ähnlich wie mit dem Emulations- und Imitationslernen (siehe Teil I Anthropologische Wurzeln des Lernens). Imitationslernen ist effizient, und Emulationslernen fördert die Kreativität. Eine gute Mischung beider Lernformen liegt dem einsichtigen Lernen zugrunde. Abstraktion und Anschauung sind zwei sehr unterschiedliche Schwestern, die jedoch ohne einander nicht auskommen. Die Lösung eines Problems verlangt immer eine gute Mischung von Anschauung und Abstraktion: Die erste fördert das Verstehen und die zweite den Überblick. Lassen Sie mich das der Kürze halber an einem kleinen Beispiel aus einer Integrationsklasse illustrieren. Die Mathematikaufgabe lautete: »Ein sehr umfangreiches Rechenprogramm, aufgeteilt auf fünf Computer, benötigt zwanzig Tage. Nach elf Tagen fallen zwei Computer aus. Wie viele Tage benötigen die Wissenschaftler nun für das Rechenprogramm?« Die Schüler und Schülerinnen suchten nach einer grafischen Lösung. Die meisten nutzten dafür das kartesische Koordinaten© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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system. Aufgrund ungenauer Zeichnungen, unpassender Funktionsgleichungen und anderer Fehlerquellen gab es abweichende Lösungen der Aufgabe. Die einzige grafische Lösung, die alle überzeugen konnte, stammte ausgerechnet von einem Schüler, bei dem eine Lernbehinderung diagnostiziert wurde:

Abbildung 27: Übersichtlichkeit und Anschaulichkeit ergänzen sich: die grafische Lösung einer Textaufgabe von einem Schüler in einer I-Klasse.

Ein Quadrat steht jeweils für die Tagesleistung eines Computers. Die durchgestrichenen Vierecke kennzeichnen die ausgefallene Com© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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puterleistung. Diese ausgefallene Computerleistung müssen nun die restlichen drei Computer erbringen. Dazu brauchen sie weitere sechs Tage. Mich jedenfalls hat diese anschaulichere Lösung mehr überzeugt als die Funktionsgleichung f(x)=5x, die im Zeitdiagramm nach elf Tagen von der Funktion f(x)=3x+22 abgelöst wird. Besser gesagt: Erst durch die anschaulichere Lösung lässt sich der eigentliche Reiz der abstrakteren Lösung voll erfassen.26 Die Mathematik ist – wie die Dichtkunst – auch eine Kunst, mit immer weniger immer mehr zu sagen.27 Daraus resultiert ihre ungeheure Suggestivkraft. Probleme, die unser Vorstellungsvermögen übersteigen, stutzt sie so lange zurecht, bis sie in unser Aufmerksamkeitsfenster passen. Ziel einer gelungenen Didaktik sollte es sein, die Begeisterung für die Vorteile abstrakter Superzeichen zu wecken: Sie machen Unübersichtliches übersichtlich, indem sie es auf unseren engen Aufmerksamkeitsumfang zuschneiden. Damit beschleunigen sie unser Denken. Die Erfahrung zeigt, dass Kinder diese Beschleunigung als Vorteil erleben. Immer wenn das der Fall ist, nehmen sie auch gern den Nachteil von Superzeichen in Kauf: ihre fehlende Anschaulichkeit. Das gemeinsame Lernen mit Personen, die Aufmerksamkeitsbesonderheiten aufweisen, vertieft das Bewusstsein für diese Zusammenhänge. Deshalb profitieren nicht nur Kinder mit Syndromen – wie Autismus oder Trisomie 21 – von Inklusion, sondern auch alle anderen Kinder.

Mehr Raum für Soziales Schulalltag und Hirnforschung

Die meisten Kinder und Jugendlichen sagen, dass sie lieber zu Hause lernen würden als in der Schule. Verglichen mit denen, die lieber in der Schule lernen, waren das bei einer Befragung deutlich mehr als dreimal so viele!28 Woran das liegt? Schauen Sie sich Schulen einmal an! »Wenn die Vorhänge sichtbar beschädigt in Fetzen vor den Fenstern hängen oder die Flure und Toiletten unsauber aussehen, wird den Schülern signalisiert, dass es in solchen Räumen in Ordnung ist, Normen zu verletzen«,29 beklagt der Hirn- und Lernforscher Manfred Spitzer. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

Mehr Raum für Soziales

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Dazu kommt, dass Schulen längst ihr Monopol der Wissensvermittlung verloren haben. Neue Medien sorgen nicht nur für Reizüberflutung mit Gewaltdarstellungen, billiger Action, Pornografie und anderen Geschmacklosigkeiten. Auch ästhetisch ansprechend gestaltete Kinderliteratur, altersgerechtes Bildungsfernsehen und didaktisch wertvolle Lernprogramme am Computer gehören zum modernen Medienalltag. Allein die Möglichkeit, am Computer Texte, Hörspiele und Filme zu produzieren, eröffnet einigermaßen betuchten Privathaushalten ungeahnte Fördermöglichkeiten für ihre Kinder. Engagierte Eltern tauschen untereinander längst didaktisch wertvolle Apps aus. Solche Computerprogramme, die man im Netz herunterladen kann, motivieren Lernende oft mehr als dröger Schulunterricht. Ankündigungen wie »Wir wollen heute die Zehnerüberschreitung üben!« klingen für alle eher nach lästiger Pflicht. Wenn Kinder die Zehnerüberschreitung aber auf einem Tablet-Computer spielerisch üben, merken sie oft gar nicht, dass sie etwas lernen. Konkurrenzlos sind Schulen jedoch als Orte sozialer Begegnung. Keine Facebook-Kontaktliste oder Funktionstaste Freunde finden kann Erlebnisse des sozialen Miteinanders in Schulen ersetzen. Auch wenn Schulen längst ihr Monopol auf Wissensvermittlung verloren haben, ihre Vormachtstellung als Sozialraum für ein lebendiges Miteinander im Kindes- und Jugendalter ist nahezu ungebrochen. Leider wird diese Möglichkeit viel zu oft verschenkt. Dazu kommt die Angst vor der Abwanderung in Privatschulen. Ein Schulleiter einer Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen sagte mir: »Ich bin ja für Inklusion. Ich war selbst Schüler einer integrierten Gesamtschule. Ich hatte sogar behinderte Mitschüler. Aber wenn ich mich jetzt auf Inklusion einlasse, gehen mir die aktiven Eltern an Privatschulen verloren.« Das zeigt mir, wie wenig es der Inklusionsbewegung bis heute gelungen ist, die Vorteile eines gemeinsamen sozialen Lernens einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln (siehe auch Kapitel Hamburger Volksentscheid). Man will für die Kinder das Beste. Alles, was einem einfällt, ist das Matthäusprinzip (siehe auch Kapitel Leistungsdruck und Der Matthäuseffekt). Dabei verfehlt man die Chance auf eine Lernkultur, in der die Kinder gerade die Metakompetenzen entwi© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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ckeln würden, die sich nachhaltig auf Leistungen auswirken (siehe auch Kapitel Das faire Stirnhirn). Zusätzlich verunsichert die Politik Eltern mit nebulösen Botschaften, wie zum Beispiel einem Plakat in Hamburg: »Gute Schüler lernen gemeinsam mit schlechten Schülern«. Es mag schlechtes Obst geben, aber doch keine schlechten Schüler! Weil jemand Lernschwierigkeiten oder Verhaltensprobleme hat, ist er doch noch längst kein schlechter Mensch! Das staatliche Bildungssystem bewegt sich träge wie ein Tanker, der – einmal in Fahrt gekommen – sich nur schwer lenken lässt. Neben diesem Tanker gibt es jedoch die wendigeren Lotsen-Schiffe: die Reformschulen. Ein Indiz für das kränkelnde Bildungssystem ist nicht zuletzt die Zunahme der Zahl der sog. Privatschulen. Man traut sich selbst mehr zu als dem System, macht daher einen eigenen Schulbetrieb auf und hat damit oft gute Erfolge. Denn alle Beteiligten sind nicht zuletzt hoch motiviert und geben ihr Bestes30,

konstatiert Spitzer. Er vergisst jedoch zu erwähnen, dass unter den Privatschulen (genauer: Schulen in freier Trägerschaft) die Reformschulen eine lange Tradition des Ringens um ihre Lernkultur besitzen. Politische Schnellschüsse können sie deshalb besser abfangen. Lehrende, Lernende und Eltern haben in privaten Reformschulen viel mehr Mitspracherecht und damit auch Einfluss auf die Lernkultur als in staatlichen Schulen. Das ist nicht immer bequem. Es sichert aber eine permanente Evaluation des Unterrichts. Neben elitären Schulen gibt es auch inklusive Schulen in freier Trägerschaft. Hier bezahlen Eltern sogar dafür, dass ihre Kinder ohne Beeinträchtigungen zusammen mit Kindern lernen, bei denen eine Beeinträchtigung diagnostiziert wurde. Jahrelange Erfahrungen bei der wissenschaftlichen Begleitung solcher Schulen haben mich überzeugt, dass dieses Geld gut investiert ist. Statt also die Angst vor Abwanderung in elitäre Privatschulen zu schüren, sollten staatliche Schulen mehr von gelingenden Inklusionsprojekten lernen, egal ob es sich um staatliche oder um Schulen in freier Trägerschaft handelt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Die Medizin, die der Psychiater Spitzer der Bildung verschreibt, ist die empirische Forschung. Hier haben wir es zurzeit mit einem grundlegenden Umdenken zu tun: Die Bedeutung des Sozialen bei der Entwicklung des Gehirns erweist sich als viel größer als bisher vermutet.31 Ein wichtiges Argument für den großen Einfluss des Sozialen auf die Hirnentwicklung sind in diesem Zusammenhang auch die bislang unterschätzten Entwicklungspotenziale von Menschen mit einer Trisomie 21. Spitzer würdigt beispielsweise die Tatsache, dass die meisten Kinder mit Downsyndrom heutzutage lesen und schreiben lernen, als einen Existenzbeweis für die große Bedeutung der Umwelt bei der Ausbildung geistiger Leistungsfähigkeit.32 Hüther sieht darin die größte und bedeutendste pädagogische Leistung der letzten drei Jahrzehnte. Er schreibt: Es lässt sich nur erahnen, was aus nicht mit solch einer schweren genetischen Störung belasteten Kindern werden könnte, wenn sie von Eltern, Lehrern und Erziehern so angenommen und begleitet würden, wie das diese Kinder mit Trisomie 21 unter der kompetenten Begleitung von besonderen Pädagogen erfahren durften: Liebevoll, zugewandt, ohne Vorurteile und ohne Erwartungen, ohne Druck, und ohne Angst, einladend, ermutigend und inspirierend, mit Zuversicht und voll Vertrauen, und mit der ganzen didaktischen und methodischen Kompetenz, über die unsere moderne Pädagogik inzwischen verfügt.33

Die Neubewertung dieses Syndroms wirft auch ein neues Licht auf die geistigen Entwicklungspotenziale aller Menschen. Es scheint sich momentan ein Zeitfenster zu öffnen, in dem Menschen mit Trisomie 21 in der Wissenschaft neben den üblichen defizitorientierten Abwertungen auch Respekt erfahren. Doch nicht nur das: Menschen mit einer Trisomie 21 stehen unversehens im Mittelpunkt eines Umdenkens, das nicht nur sie, sondern uns alle betrifft: Entscheidend für die Persönlichkeitsentwicklung ist die Lernkultur (siehe auch Kapitel Das Wie bestimmt das Was), und menschliche Intelligenz beruht vor allem auf Sozialkompetenz (siehe auch Kapitel Hilfen erkennen und nutzen). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Der Hirnforscher Hüther resümiert: »Unser Gehirn ist also in viel stärkerem Maß als bisher angenommen ein soziales, kulturell geformtes Konstrukt. Es wird daher weder in seiner inneren Struktur noch in seiner Funktionsweise zu verstehen sein, solange es isoliert und abgetrennt von den formenden und strukturierenden Einflüssen der sozialen Gemeinschaft betrachtet wird, in der der betreffende Mensch aufgewachsen ist und in der er lebt.«34 Ein weiterer Schlüssel zum besseren Verständnis des Lernens und für Lernschwierigkeiten ist die neurobiologische Erkenntnis, dass Begeisterung Dünger fürs Hirn ist. Hüther erläutert diese Erkenntnis so: »Damit neue neuronale Vernetzungen geknüpft und bestehende Vernetzungen ausgeweitet und stabilisiert werden können, reicht es nicht aus, dass man diese Verschaltungen einfach nur häufig benutzt. Wenn das so wäre, könnten wir ja alles lernen, wenn wir es nur lange genug trainieren. Wir lernen aber nicht alles. Wir lernen nur das, was für uns wichtig ist. Und was ihm wirklich wichtig ist, wofür sich ein Mensch – als kleines Kind oder als Greis – interessiert und deshalb auch begeistern kann, das entscheidet nicht die ›Umwelt‹, sondern das entscheidet er oder sie ganz allein.«35

Wie eine aktuelle empirische Studie zu Lernerfolg, Werten, Gesundheit und kultureller Bildung zeigt, ist Lernfreude an Reformschulen die Regel. Die Bildungsforscher Heiner Barz, Sylva Liebenwein (beide an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) und Dirk Randoll (Alanus Hochschule Alfter) werteten bundesweit problemzentrierte Leitfadeninterviews mit 54 Lernenden, 43 Eltern und 1.470 Fragebögen von Schülerinnen und Schülern aus. Ergebnis: Reformschülerinnen und -schüler finden ihre Schule sehr einladend und freundlich. Unter ihnen gaben deutlich mehr an, dass ihnen das Lernen in der Schule Freude bereite.36 Wenn es um Bildung geht, ist der Mut zur empirischen Forschung keinesfalls der Normalfall, beklagt Spitzer: »Statt Daten und Fakten zur Kenntnis zu nehmen, oder sie von der Wissenschaft einzufordern, hört die Diskussion auf, sich darum zu drehen, was für Kinder gut ist, und dreht sich nur noch um Macht, Geld und die üblichen Eitelkeiten und Personalia«37 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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An anderer Stelle bringt er das Problem wie folgt auf den Punkt: »Hat man keine Daten, kann man nur eine Münze werfen! Im Bereich der Bildung scheint letztlich genau dies der Alltag zu sein.«38 Wo liegen die Schwierigkeiten? Wir unterschätzen das genetische Potenzial des Menschen und die nutzungsabhängige Plastizität seines Gehirns. Das verleitet uns dazu, die Verantwortung für das Lernen auf Faktoren zu schieben, die sich nicht beeinflussen lassen. Hüther benennt dafür unter anderem drei Ursachen: 1. Leistungs-, Erwartungs-, Handlungs- oder sonstiger Druck führen Hüther zufolge zum Rückgriff auf in der Kindheit erworbene Verhaltensmuster oder im Extremfall sogar im Hirnstamm verankerte archaische Notfallreaktionen: Angriff, Verteidigung, panische Flucht oder ohnmächtige Erstarrung.39 2. Mechanistisches Denken aus der Blütezeit des Maschinenzeitalters führt zu trivialisierenden Vorstellungen vom menschlichen Organismus. So werden Ärzte beispielsweise zu Reparateuren, als wären Patienten Videorekorder, Autos oder Waschmaschinen.40 3. Populistische Über- und Fehlinterpretationen von Darwins Evolutionstheorie werfen einen langen Schatten in Bildungseinrichtungen, die sich auf den Prozess der natürlichen Auslese berufen, um Leistungs- und Konkurrenzdruck zu rechtfertigen. Hüther schreibt dazu treffend: »Fachidioten und Leistungssportler kann man durch Wettbewerb erzeugen, aber nicht umfassend gebildete, vielseitig kompetente und umsichtige, vorausschauend denkende und verantwortlich handelnde, in sich ruhende und starke, beziehungsfähige Persönlichkeiten.«41 Kompetenzraster und Gegenstandsanalysen

Manche verwechseln schulisches Lernen mit einem Quiz. Millionär wird, wer alle Fragen richtig beantwortet. Der Rest muss sich mit weniger zufriedengeben. Die Schülerinnen und Schüler lernen so schon sehr früh, das zu sagen, was man von ihnen hören will. Dabei lernen sie aber auch, die Fragen, die sie wirklich bewegen, zu vernachlässigen. Außerdem leidet ihre Eigenwahrnehmung, wenn man ihr Können und Wissen ausschließlich von außen beurteilt. Die Chance, sich als hilfreich für andere zu erleben, ist eine wichtige Voraussetzung für tatsächliches Erleben von Kompetenz. In © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Zensuren ausgedrückt, verlieren Kompetenzen jedoch schnell ihre Überzeugungskraft. Bei der Beurteilung menschlichen Verhaltens treffen Erwartungen auf Erwartungserwartungen. Weder Schulnoten noch Tests können diese Selbstreferenz von Erwartungen hinreichend erfassen. Die zentrale Rolle von Erwartungen erläutert der Bildungswissenschaftler Dietrich Schwanitz wie folgt: Bildung ist der Name eines sozialen Spiels, das durch erhöhte Erwartungen und Erwartungserwartungen in Bezug auf das kulturelle Wissen der Mitspieler gekennzeichnet ist; diese dürfen die Erwartungen und Erwartungserwartungen nicht thematisieren. Ihre Geschicklichkeit besteht darin, diese Erwartungen gleichzeitig zu erkunden und zu erfüllen oder, wenn das nicht gelingt, es den anderen nicht merken zu lassen.42

Dieser Zusammenhang von Erwartungen und Erwartungserwartungen findet sich auch in abstrakteren Testaufgaben. Beispiel: Der britische Intelligenztestforscher Hans Eysenck43 (1916–1997) behauptet, die Zahlenreihe 2, 4, 7, 11, 16 verlange als einzig richtige Lösung nur die 22. Der Informatiker Alexander Dewdney44 testete in den 1980er-Jahren einen Computer mit solchen Intelligenztestaufgaben. Bei manchen Zahlenfolgen fand er zwei gleichermaßen plausible Lösungen. Doch welche Lösung war die richtige? Dazu müsste man wissen, welche Lösung die Testentwickler hören wollten. Man könnte meinen, es handele sich um einen Einzelfall, der nicht weiter von Bedeutung ist. Doch weit gefehlt! Das Problem ist von grundlegender Bedeutung. Mit der Interpolationsformel des französischen Mathematikers Joseph-Louis de Lagrange (1736–1813) lässt sich für jede Zahlenfolge eine Formel finden, die beliebige Zahlen in der erwarteten Reihenfolge produziert. Wenn Eysenck zum Beispiel behauptet, die Zahlenreihe 2, 4, 7, 11, 16 verlange als einzig richtige Lösung nur die 22, so muss ihm widersprochen werden. Jede natürliche Zahl wäre eine mögliche Lösung! Denn es ist egal, welche Zahl man sich ausdenkt: Immer findet sich eine Funktion, die diese Zahl mit den anderen Zahlen in der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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vorgegebenen Reihenfolge durch Anwendung nur einer einzigen Regel verbindet! Es ist leicht zu übersehen, dass die Lösung einer Testaufgabe von uns mehr fordert als nur das Finden einer richtigen Lösung: Wir müssen auch herausfinden, welche Lösung von uns eigentlich erwartet wird. Sogar das Lösen von Zahlenfolgentests kommt also ohne einen Perspektivwechsel nicht aus. Gerade für die Förderung dieser Metakompetenz ist ein inklusiver Unterricht die ideale Lösung. Denn das Wesen eines inklusiven Unterrichts besteht ja darin, dass er auf eine äußere Leistungsdifferenzierung verzichtet. Eine Unterscheidung zwischen inkludierbaren und nicht inkludierbaren Kindern wäre paradox. (Genauso paradox ist die Bezeichnung Inklusionskinder für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf.) Inklusion bedeutet: Konflikte, denen Leistungsdifferenzen zugrunde liegen, kann man nicht durch Verbesonderung entsorgen. Also muss man diese Konflikte didaktisch konstruktiv lösen. Das ist eine ideale Bedingung zur Förderung von Metakompetenzen, wie zum Beispiel Kooperationsbereitschaft, Dialogbereitschaft und Frustrationstoleranz. Schulnoten sind seit ihrer Einführung vor circa 100 Jahren umstritten, weil sie Objektivität nur vortäuschen. Das ist besonders deshalb fatal, weil Zensuren nicht selten über Bildungskarrieren und damit über Zukunftschancen entscheiden. Dabei sind Zensuren bei Lernenden oft gar nicht so unbeliebt – allerdings nur, solange es sich um gute Zensuren handelt. Schlechte Zensuren können dagegen zu schweren Selbstzweifeln, Lernunlust, Aversionen, Depressionen und Versagensängsten führen. Für die Lernmotivation ist das natürlich alles andere als wünschenswert. Zensuren verdeutlichen, dass es in der Schule neben dem konkreten Lernen, dem Erwerb eines individuell erlebten Kompetenzzuwachses, auch eine andere Form des Lernens gibt. Diese abstrakte Form des Lernens zielt auf den Erwerb von Abschlüssen. Neben gesellschaftlicher Anerkennung beinhalten solche Abschlüsse auch die Erlaubnis, nun etwas Bestimmtes tun zu dürfen. Problematisch wird abstraktes Lernen immer dann, wenn es sich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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verselbstständigt. Dies ist immer dann der Fall, wenn man nur noch für Zensuren lernt und man den individuellen Kompetenzzuwachs nicht mehr als befreiend erlebt. Eine Extremform dieses abstrakten Lernens ist das sogenannte Bulimielernen, bei dem gesellschaftlicher Druck Zensuren zum Selbstzweck erhebt. Eine interessante Alternative zu Zensuren sind sogenannte Kompetenzraster: »Das Kompetenzraster ist eine Matrix, mit der in der Senkrechten die (Teil-)Lernbereiche eines Faches und in der Waagerechten in aufsteigender Linie – meist in sechs Stufen – die Kompetenzlevels aufgeführt werden.«45 Dieses tabellarische Raster steckt Entwicklungsziele ab, die in der Regel in der Form von Ich-kann-Sätzen aufgelistet sind. Dadurch betont man die Kompetenzen und gibt den Lernenden auf ihrem Lernweg eine Orientierungshilfe an die Hand. Meist wird das Raster im Klassenraum für alle sichtbar ausgehängt: »Als Zeichen einer erfolgreich erledigten Arbeit erhalten die Schüler einen grünen Punkt auf das Kompetenzraster. Ein roter Punkt wird vom Lehrer für das Beherrschen einer Kompetenz vergeben.«46 Andere Möglichkeiten bieten Reisetagebücher, in denen Lernende ihren individuellen Lernweg dokumentieren, oder Dialog-Journals, in denen Lehrende und Lernende über Briefe, Zeichnungen und Fotos einen Dialog führen. Kompetenzraster halten die Ergebnisse des Dialogs zwischen Lehrenden und Lernenden über verschiedene Lernwege fest: Das Grundanliegen ist, Schülern vor allem zu ›Ich-kann-Erlebnissen‹ zu verhelfen im Gegensatz zu ständigen Defizitbeschreibungen. Ein Lernender kommt am ehesten zu Erfolgserlebnissen, wenn er weiß, welche die Anforderungen (die anzustrebenden Kompetenzen) sind, also wenn Transparenz in Bezug auf die Ziele, Inhalte, Qualitätsniveaus und Bildungsstandards gegeben ist. Wer das Anforderungstableau kennt, kann sich an ihm orientieren, kann prüfen, wie weit er ist und was ihm noch fehlt. Das häufig genannte Prinzip der Selbstreferenzialität meint, das metakognitive Wissen zu fördern. Das ›Sich-über-die-Schulter-schauen‹ wird zur Grundbefindlichkeit. Häufigere Lernstandskontrollen bewahren vor naiven und eventuell falschen Selbsteinschätzungen.47

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In der Praxis konnte ich immer wieder beobachten, wie Lernende dabei zögern, eine Ich-kann-Markierung zu akzeptieren, wenn sie sich unsicher waren. Darin sehe ich ein Indiz dafür, dass sie es wirklich wissen wollen, ob sie etwas können oder nicht. Diese Selbstbezüglichkeit des Lernens geht bei Zensuren meist verloren. Gute Erfahrungen konnte ich mit Kompetenzrastern sammeln, die sich ausdrücklich auf das Helfen berufen – und zwar im Sinne einer Grundstruktur menschlichen Lernens (siehe auch Teil I Anthropologische Wurzeln des Lernens): Ich habe Interesse an … Ich kann mithilfe … Ich kann allein … Ich kann anderen helfen beim … Ich kann mir selbst helfen beim …

Sind in einer Klasse auch Kinder, die unter den Bedingungen einer Schwerstbehinderung leben, erweist sich die erste Spalte als besonders wichtig. Basale Lernformen zeigen in besonderem Maße: Man kann nicht nicht lernen. Geht man von dieser Prämisse aus, lernt man beim Helfen sehr viel über die Interessen der Lernenden. Anschließend kann man über eine Gegenstandsanalyse (siehe auch Kapitel Gut gemeinte Hilfe) nach einem historischen Brückenschlag zum Lerninhalt suchen: Wie ist der Unterrichtsstoff zum Teil des kulturellen Lernens geworden? Welche Probleme konnte man mit ihm lösen? Wie haben sich die Probleme im Laufe der Menschheitsgeschichte geändert? Entwicklungslinien der geistigen Entwicklung (Ontogenese) und der Menschheitsgeschichte (Phylogenese) sind durch Meilensteine miteinander verbunden. Diese Meilensteine geben mehr Orientierung als Lehrpläne. Denn Lehrpläne verschleiern, dass sich Wissen entwickelt. Wenn Wissen erstarrt, gibt es keine echten

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Fragen mehr, weil die Antworten immer schon feststehen. Lernende, die sich mit den vorgefassten Antworten nicht anfreunden können, passen dann nicht ins System. Akzeptiert man Wissen jedoch als vorläufig, als kulturelle Ko-Konstruktion, tritt an die Stelle von richtig und falsch das Erleben von Stimmigkeit und Unstimmigkeit. Unbequeme Fragen sind willkommen. Nichts wird ungeprüft hingenommen. Die Hilfe aller wird gebraucht.

Gegenstandsanalysen zeichnen phylogenetische Entwicklungslinien eines Lerngegenstandes nach. Das Ziel sind ontogenetische Antworten auf die Frage nach der Zone der nächsten Entwicklung (siehe auch Kapitel Zone der nächsten Entwicklung). Für den Zahlbegriff und die Mathematik finden Sie eine solche Gegenstandsanalyse im ersten und dritten Teil meines Buches Der zählende Mensch. Eine kurze Skizze, was eine Gegenstandsanalyse zum Lesen beinhaltet, zeigt folgende Tabelle (in Anlehnung an den Schweizer Didaktiker Urs Ruf48): Ontogenetisch:

Phylogenetisch:

Spurenlesen (z. B.: Fuß- und Handabdrücke in Gips oder mit Farbe auf Papier)

Wahrscheinlich schon Homo erectus (vor ca. zwei Millionen Jahren)

Lesen in Gesichtern (z. B.: Darstellung von Emotionen im Rollenspiel)

Vielleicht schon Homo neanderthalensis (vor ca. 160.000 Jahren)

Interpretation von Bildern (z. B.: Betrachten von Fotoalben, Gemälden, Illustrationen usw.)

Höhlenzeichnungen der Cro-Magnon-Menschen (vor ca. 37.000 Jahren)

Lesen von Bildreihen (z. B.: Bilderbücher, Comics usw.)

Vorläufer der Keilschrift in Sumer (ca. 4000 v. Chr.)

Erkennen von Symbolen (z. B.: Logos von Firmen, Fußballmannschaften, Aufklebern usw.)

Altägyptische Hieroglyphen (ca. 3500 v. Chr.)

Lesen von Silben (z. B.: Ganzwortmethode)

Symbole und Silbenzeichen der Keil- und Hieroglyphenschrift (ca. 2000 v. Chr.)

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Ontogenetisch:

Phylogenetisch:

Erschließen von Wörtern (z. B.: Erkennen von Namen an Initialen)

Phönizische Konsonantenschrift (ca. 1100 v. Chr.)

Lesen von Buchstabenreihen (z. B.: buchstabenweises Lesen)

Klassische griechische Schrift (ca. 900 v. Chr.)

Lesen von Wörtern (z. B.: analytisches Erschließen neuer Wörter)

Schreiben in Zeilen von links nach rechts (ca. 500 n. Chr.); Lücken zwischen Wörtern (ca. 1200)

Lesen von Sätzen und Unterscheidung von Groß- und Kleinbuchstaben (z. B.: Lesen von Sprechwolken in Comics)

Konsequente Verwendung von Satzzeichen sowie Groß- und Kleinschreibung (ca. 1450)

Fließendes Lesen von Briefen, Märchen, Erzählungen usw.

Durchsetzung des Stammprinzips (bis ca. 1900)

Sinn erfassendes, diagonales Lesen von Sach- und Lehrbüchern

Durchsetzung des Bedeutungsprinzips (im 20. Jahrhundert)

Korrekturlesen, Redigieren usw.

Aktuelle Rechtschreibung

Maßstab für die Sachanalyse ist der Lehrplan, Maßstäbe für die Gegenstandsanalyse sind dagegen die Zone der aktuellen Entwicklung und die Fragen der Lernenden. Ergebnis einer Sachanalyse ist eine innere Differenzierung des Unterrichtsstoffes nach Lernvoraussetzungen (dem von außen festgestellten Förderbedarf); Ergebnis der Gegenstandsanalyse ist dagegen die innere Differenzierung des Stoffes nach Lernmotiven und Zeichenebenen in der Zone der nächsten Entwicklung. Dadurch werden Lernende nicht einfach dort abgeholt, wo sie zufällig stehen. Vielmehr bestimmen die Lernenden von vornherein die Richtung ihrer Reise durch den Gegenstandsbereich mit. Wie passt das zum Hyperzyklus des gegenseitigen Helfens? Lassen Sie mich das abschließend anhand eines kleinen Beispiels erläutern: Als ich 1994 meine Professur in Hamburg antrat, lernte ich eine Gruppe von hochbegabten Malerinnen und Malern kennen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Sie nennen sich die Schlumper. Das ist eine Gruppe von Erwachsenen, bei denen zum größten Teil eine geistige Beeinträchtigung diagnostiziert wurde. 1995 nahmen die Schlumper Kontakt mit der Schule Chemnitzstraße auf, einer integrativen Regelschule in einem sozialen Brennpunkt Hamburgs (Altona-Altstadt). Sie waren bereit, noch einmal die Schulbank zu drücken, um lesen und schreiben zu lernen. Allerdings unter einer Bedingung: Die Kinder sollten bei ihnen dafür das Malen lernen. Ein fairer Austausch kultureller Errungenschaften (siehe Tabelle oben): eine relativ junge Kulturtechnik gegen ein kulturelles Ausdrucksmittel, das von jahrtausendelangen Erfahrungen gesättigt ist. Inzwischen ist die Schule Chemnitzstraße eine integrative Ganztagsgrundschule, trägt den Namen Louise Schroeder und wurde 2011 für ihre hervorragenden pädagogischen Konzepte und Leistungen sowie vorbildlichen Projekte mit dem Hamburger Bildungspreis ausgezeichnet. Vieles hat sich also seit 1995 verändert. Nur eines nicht: Die Schlumper bieten noch immer ihre beliebten Malkurse an.

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Nachwort

»Der Mensch empfängt, und er empfängt nicht einen ›Inhalt‹, sondern eine Gegenwart, eine Gegenwart als Kraft.« (Martin Buber 1919)49

Die Inklusion haftet nicht für die Sparpolitik, die in ihrem Namen erfolgt. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass mit dem Aufkommen des Begriffs der Inklusion ein neuer, rauer Wind in Hamburgs Schulen weht. Die spannende Pionierzeit der Integrationsversuche ist vorbei. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, Integrationspioniere, die können das Wort Inklusion schon nicht mehr hören. Der Elternrat der Luise Schröder Schule schreibt an den Hamburger Schulsenator Ties Rabe in einem offenen Brief zur Finanzierung der flächendeckenden Inklusion: Diese Planung beinhaltet eine massive Beschneidung aktueller und seit Jahren erfolgreicher Standards. […] Persönliche Nähe und personelle Kontinuität, die für eine erfolgreiche Arbeit unabdingbar sind, können mit diesen geringen Zuweisungen nicht angemessen gewährleistet werden.

Von allen theoretischen Begründungen für Integration und Inklusion überzeugt mich bis heute die Isolationstheorie50 am meisten. Aktuelle Studien bestätigen ihre Prämissen: Der Psychologe Ian Robbins von der University of Surrey, südwestlich von London, führte Experimente in einer Dunkelkammer eines geräuschfreien Bunkers mit sechs freiwilligen erwachsenen Männern und Frauen durch. Die Experimente zeigen die Abhängigkeit des menschlichen Gehirns von ständiger sozialer und geistiger Anregung. Schon nach 48 Stunden der Isolation von sozial bedeutsamen Umweltinformationen wurden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Nachwort

alle Versuchspersonen von Halluzinationen geplagt. In Konzentrations- und Intelligenztests schnitten sie unmittelbar nach dem Experiment deutlich schlechter ab als vorher. Darüber hinaus ließen sie sich leichter manipulieren und täuschen, weil ihr Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und das eigenständige Denken geschwächt war.51 Bei Kindern ist der Schaden, den soziale Ausgrenzung anrichtet, um ein Vielfaches größer. Bilder aus rumänischen Kinderheimen sind dafür zum Sinnbild geworden. Die sonderpädagogische Fachliteratur dokumentiert die Anfänge der Integrations- und Inklusionsdiskussion in Deutschland bis zum heutigen Tag. Die Aufarbeitung aller Facetten dieser Diskussion würde ein neues Buch füllen. Wie immer in der Wissenschaft findet man da sowohl respektable Meinungsverschiedenheiten als auch überflüssige Spitzfindigkeiten. Mir ging es jedoch um grundlegendere Fragen: Wie kann Inklusion Heranwachsende stärken? Wie kann sie ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen und das Vertrauen in die eigenen Kräfte fördern? Wie können Lernende ohne Beeinträchtigung vom gemeinsamen Lernen mit Kindern profitieren, bei denen eine Beeinträchtigung diagnostiziert wurde? Derzeitig scheint der globalisierte Turbokapitalismus jegliches menschliche Maß zu verlieren. Da beginnt die Wissenschaft, Emotionen als verlässliche Eigenwerte menschlicher Kulturen sichtbar zu machen: das Gefühl für Fairness, Gemeinschaftssinn und Gegenseitigkeit. Man könnte meinen, das sei nicht mehr als ein Treppenwitz der Weltgeschichte, eine kurzfristige Mode, die verständliche Sehnsüchte nach Harmonie bedienen will. Ich glaube aber, es steckt viel mehr dahinter. Das unvorstellbare geistige Potenzial von sieben Milliarden Menschen liegt für die Lösung unserer dringendsten globalen Probleme größtenteils brach. Unzeitgemäße Formen der Konfliktbewältigung, überholte Kooperationsformen und erstarrte Bürokratien sind dafür die Hauptursache. Doch wie sollten wir das ändern, wenn wir es in der Schule nicht besser gelernt haben? Überall dort, wo das Internet an Einfluss gewinnt, verlieren Schulen ihr Monopol der Wissensvermittlung. Wenn Schulen bei der heranwachsenden Generation nicht weiter an Bedeutung verlieren wollen, müssen sie sich neue Aufgaben suchen. Das Einüben demo© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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Nachwort

kratischer Lebensformen – auch wenn es durchaus ermutigende Beispiele gibt – kommt immer noch viel zu kurz. Dazu gehören nun einmal Fähigkeiten zur Kooperation, zum kritischen Denken und zur konstruktiven Konfliktbewältigung. Ein scheindemokratischer Anstrich unseres in seinem Wesen immer noch eher feudal und elitär daherkommenden Schulsystems reicht dafür keinesfalls aus. Das wachsende Interesse an Kooperationsforschung in der Wissenschaft ist also keine Modeerscheinung, sondern ein Gebot der Zeit.

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Literaturverzeichnis

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

Teil I: Anthropologische Wurzeln des Lernens

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Teil II: Lernkultur und Hyperzyklus

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701706 — ISBN E-Book: 9783647701707

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