Ein Traum vom Mittelalter: Die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit 9783412329082, 3412152028, 9783412152024

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Ein Traum vom Mittelalter: Die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit
 9783412329082, 3412152028, 9783412152024

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Annette Kreutziger-Herr Ein Traum vom Mittelalter

Annette Kreutziger-Herr

Ein Traum vom Mittelalter Die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit

2003 B Ö H L A U VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Für Anna-Zoë und Vincent-Immanuel

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Reading the Legend, Gemälde von Lili Martin Spencer, 1854 (Smith College Museum of Art, Northampton, USA).

© 2003 by Böhlau Verlag GmbH Sc Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 913 90-0, Fax (0221) 91390-11 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Satz: Dr. Melanie Unseld, Hamburg Druck und Bindung: Strauss Offsetdruck GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 3-412-15202-8

Inhalt

Einleitung

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Erster Teil Mittelalterliche Musik und ihre Ideengeschichte im 18. und 19. Jahrhundert I. Präfiguration des historischen Blicks in Deutschland: »Alte Zeit« um 1800 Goethe entdeckt die Gotik? Das Interesse am Mittelalter um 1800 Mittelalterrezeption der Frühromantik? II. Imagination alter Musik Phänomenologie der »ächten, alten Musik« (Anton F. J. Thibaut).... Altdeutsche Schule und gotischer Bach Minnesang und die künsderische Produktion historischen Sinnes.... III. Das Mittelalter in der Musikgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts Koordinaten im musikhistorischen System Die Darstellung von mittelalterlicher Musikgeschichte Konturen eines mittelalterlichen Komponisten im 19. Jahrhundert: Guillaume de Machaut, Trouvère und »Contrapunktist von métier«

15 19 19 28 33 42 42 52 64 89 89 110 122

Zweiter Teil Ein Traum wird wesentlich: Klangarchäologie des Mittelalters und Musikerfindung im 20. Jahrhundert I.

Zwischen Entdeckung und Erfindung: Die Musik des Mittelalters um 1900 Zeitgenössisches Mittelalter Eine kurze Geschichte der musikwissenschaftlichen Mediävistik um 1900 Strategien der Aneignung mittelalterlicher Musik Auffuhrungspraxis als methodisches Problem II. Mittelalterbilder zum Sehen: Ausgaben und Konzepte Kräftig geschnittene Bilder: Musikalische Rekonstruktion auf dem Papier Ausgaben mittelalterlicher Musik »Aufräumungsarbeit im Bereich des Mittelalters«: Musikhistorische Konzepte

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Dritter Teil Traumbilder und ihre Spuren: Mittelalterliche Musik in der Rezeption

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I.

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Mittelaltersehnsüchte und Mittelalterdekor Formen der Mittelalterrezeption Kompositorische Annäherungen an das Mittelalter Mittelalterbilder zum Hören I: Zwischen Musealisierung und Popularisierung. II. Inszenierungen: Alterität des Mittelalters zum Hören Mittelalterbilder zum Hören II: Hildegard von Bingen Mittelalterbilder zum Hören III: Guillaume de Machaut III. Traumsequenzen: Das Flüstern der Musen Schwierigkeiten mit dem musikalischen Mittelalter Von der Bilderflut der Geschichte: Imagination und Historiographie Einladung zum Bildersturz Dank Verzeichnis der zitierten Literatur Anhang Überblick über die Verbreitung der Musik Machauts (1800-1899) Überblick über die Verbreitung der Musik Machauts (1900-1957) Dokumentation der Konzertprogramme I. Paris 1914 II. Karlsruhe 1922 III. Hamburg 1924 IV. Erlangen 1927 V. Jacques Handschin: Die mittelalterlichen Aufführungen in Zürich, Bern und Basel, 1927 VI. »Gotische Mehrstimmigkeit« auf der Beethoven-Zentenarfeier Wien 1927 Abbildungsverzeichnis Personenregister Sachregister

215 225 225 238 251 251 258 265 275 277 341 342 350 350 355 367 397 403 408 409 412 419

Einleitung

Im dritten Buch seines 1832 veröffentlichen Romans Notre-Dame de Paris zeichnet Victor Hugo ein Bild des »gotischen Paris«, das in der Schilderung des Festgeläutes an Ostern oder Pfingsten kulminiert: »Im Augenblick, da die Sonne emportaucht, geht ein Zittern durch all die unzähligen Kirchen. Ein leises Anklingen zieht von der einen zur andern, wie das Zeichen, das sich die Musikanten geben, wenn das Stück beginnen soll. Da seht ihr plötzlich - denn es gibt Augenblicke, wo das Ohr zu sehen vermeint - , wie sich aus jedem Turm, einer Rauchsäule gleich, die Töne lösen. Die Klangwellen jedes Turmes steigen, zuerst getrennt von den andern, senkrecht und rein in den lichten Morgenhimmel hinauf. Im Anschwellen aber mischen sie sich, verschmelzen miteinander und verlieren sich im herrlichen Zusammenklang. Jetzt flutet, wogt und wirbelt über der Stadt eine einzige große Schallwelle, die unaufhörlich aus den zahllosen Glockentürmen quillt und ihre betäubenden Schwingungen weit über den Horizont hinausschickt. [...] Ganz in der Tiefe des Tonmeeres aber könnt ihr undeutlich den Gesang unterscheiden, der im Innern der Kirche erschallt und durch die Poren ihrer widerhallenden Gewölbe hindurchdringt. - Wahrlich, das ist eine Oper, die zu hören sich lohnt.«

Victor Hugo entwirft ein grandioses Klangbild, in dem die Schilderung von Musik sei sie von Glocken oder von menschlichen Stimmen erzeugt — den Mittelpunkt bildet. Es ist, als habe Hugo um die zentrale Bedeutung gewusst, die das Hören im Mittelalter einnahm — von der Taube des Heiligen Geistes, die Papst Gregor liturgische Gesänge ins Ohr flüstert, bis zur Klangfülle der Messe —, und es scheint, als habe er gerade deshalb die tragische Figur eines tauben Glöckners ins Zentrum seines Romans um den Untergang der mittelalterlichen Welt gestellt. Horst Wenzel beschreibt in seinem Buch Hören und Sehen, S drift undBiid: Kultur und Gedächtnis im Mittelalter 'yvne. Bedeutung, die Auge und Ohr fur die mittelalterliche Gesellschaft hatten. Das Körpergedächtnis nahm hier eine zentrale Rolle ein und war über das Schriftgedächtnis gestellt, erkenn- und nachlesbar bereits bei Augustinus, der in seinen Confessiones über die fuhrende Rolle des Ohres nachgedacht hatte. Der taube Glöckner als Prototyp des Tragischen im Mittelalter - man mag über der Lektüre von Victor Hugos Roman vergessen, dass wir uns nicht wirklich im Mittelalter, sondern in einem der Meisterwerke der französischen Romantik befinden, so lebensprall und sinnenfroh kommen die Bilder daher und füllen unsere Imagination mit Bildern und Klängen. Jedoch ist eine Pointe in dieser Schilderung mittelalterlicher Klänge, dass um 1830 mittelalterliche Musik — der einzige möglicherweise rekonstruierbare Aspekt einer mittelalterlichen städtischen oder ländlichen Klangaura überhaupt — so gut wie unbekannt ist. Nur als Kolorit kann deshalb die Musik in Hugos Roman begegnen, die Schilderung von Messgesang oder Spielmannsmusik verbleibt naturgemäß im Vagen, verleiht jedoch der Suche nach literarisierter Geschichte fiktionale Tiefenwirkung. Kein anderer Effekt ist beabsichtigt, wenn in Matthew G. Lewis bereits 1796 erschienenem Roman Der Mönch der Abt des Mailänder Kapuzinerklosters Ambrosio in seiner gewaltigen Eingangspredigt die Qualen der ewigen Verdammnis schildert, während seine Stimme zu einer »himmlischen Melodie« wird, die die Zuhörer über den Abgrund der Vernichtung in selige Gefilde zu tragen vermag.

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Musik als Gegenstand der Forschung Musik als klingendes Attribut ist ein Kulturgut und zugleich ein Forschungsgegenstand für die Wissenschaft. Anders jedoch als alle anderen historischen Artefakte und Überreste materieller Kultur ist Musik unwiederbringlich verloren, wenn die Geschichte voranschreitet. Notationen und Noten vermitteln nicht die Essenz des Erklingenden, überliefern nicht die Fülle der Informationen, die notwendig sind, um eine Auffuhrung nachzuvollziehen — sie deuten sie nur an und lassen etwas von der Lebendigkeit und Schönheit erahnen, die einmal die Zeit als Klang gestaltet haben mag. Es ist ein methodisches und musikphilosophisches Grundproblem, dass ein musikalisches Artefakt erst vollständig anwesend, wenn es vollständig erklungen, also ¿erklungen ist. Musik vermag wie keine andere Kunst die Flüchtigkeit von Zeit und Sterblichkeit durch ihr ureigenes Wesen zu illustrieren, während sie für viele Philosophen zugleich diejenige Vermittlerin ist, die am überzeugendsten in die Transzendenz hineinreichen kann. Die Realisation von Musik ist untrennbar von den Möglichkeiten der Gegenwart und ist in höchstem Grade abhängig von Einfühlung und Kenntnis, von emotionalem Nachvollzug und theoretischer Durchdringung. Musik ist ein flüchtiges Etwas, das nur im Erklingen Dauer gewinnt und diese Dauer sogleich preisgeben muss um zu sein. Musik wohnt also in einem geheimen, unsichtbaren Raum, in dem, was Ernst Bloch einmal »die Geheimlandschaft des höchsten Guts« genannt hat. Ihre Rekonstruktion und ihr Erklingen sind angesiedelt im Spannungsfeld zwischen Musealisierung — Musik als klingende Geschichte — und emotionaler Identifizierung — Musik als klingende Gegenwart. Musik als tönender Sinnzusammenhang ist eine auf die jeweilige Gegenwart ausgerichtete Kunst, ihr Sinn realisiert sich tatsächlich erst im Erklingen. Dabei sind jene Momente, in denen die »eigentliche« Bedeutung von Musik aufleuchtet, nicht notierbar und erschließen sich erst in der Kommunikation zwischen Komponist und Interpret. Die Gewohnheit, zwischen Abweichungen vom Notentext — den geringen Varianten, die den Charakter der Interpretation bestimmen — und der musikalischen Bedeutung einen Zusammenhang zu empfinden, ist in dem Gefühl begründet, Musik sei beredt, ohne dass es eindeutig und unmissverständlich wäre, was sie eigentlich sagt. Sie erscheint als expressive Sprache ohne fest umrissenen Inhalt und Gegenstand. Das Problem und die Chance klanglicher Realisation notierter Musik ist also evident, es kulminiert im Dilemma historischer Rekonstruktion musikalischer Geschichte und gewinnt an Brisanz, wenn Auge und Ohr auf die Musikkultur weit entfernter Geschichte gerichtet sind. Mittelalterliche Musik - ein unbekanntes Phänomen Für die Musikgeschichte Europas ist mittelalterliche Kultur dasjenige Phänomen, das den weitest möglichen Abstand zur Gegenwart andeutet. Da aus der Antike kaum musikalische Zeugnisse vorhanden und die wenigen überlieferten höchst umstritten sind, ist die Musik des Mittelalters die älteste Musik Europas, zu der ein Zugang möglich erscheint. Dabei ist diese Musikkultur nicht einfach durch Suchen und Fin8

den zu entdecken — es braucht zunächst einen inneren Zugang zum Mittelalter, der Augen und Ohren für etwas unerhört Neues und Anderes zu öffnen im Stande ist. Während im 18. Jahrhundert das Mittelalter als finstere, rückständige, pfáffische Epoche gilt und in Geschichtsbüchern häufig mit nur einem Satz bedacht wird - als europäische Epoche, die am besten übergangen werden sollte - , mausert sich das Mittelalter um 1800 zu einem Sehnsuchtspunkt ersten Ranges, weg von dem rhapsodischen Vorspiel historischer Betrachtung und hin zur monumentalen Bedeutung mittelalterlicher Kultur. Vorboten waren im 18. Jahrhundert bereits die englischen gotiic novels und die Zuwendung zur gotischen Architektur - man denke hier nur an Strawberry Hill von Horace Walpole und seinen frühen Versuch einer literarischen Umsetzung des Mittelalters in der Castle of Otranto —, fortgeführt von den Waver/ey Novels von Sir Walter Scott, denen auch später Victor Hugos Notre-Dame de Paris verpflichtet sein wird. Goethes Hymnus auf das Straßburger Münster von 1772 ist ein frühes Zeugnis, in dem auf recht unspektakuläre Art die Grundlagen einer anderen Kunstästhetik angedeutet sind, durchweg wird das Mittelalter nach und nach im deutschsprachigen Raum, in Frankreich und in England zu einer idealen Epoche, die zunächst bau- und literaturhistorisch, später auch historisch und musikhistorisch Vorbildcharakter und sinnstiftende Funktionen übernimmt. Im späten 18. Jahrhundert beginnt eine ideengeschichtliche Tradition, die historischen Konzepten mittelalterlicher Musik den Weg bereitet. Während englische Theorien zu gotischen Wäldern und Pflanzendomen der Vorstellung organischen Wachstums in der Musikgeschichte und speziell mittelalterlicher Musikgeschichte zuarbeiten, finden sich erste Spuren der konkreten Beschäftigung mit Alter Musik um 1800. Diese determinieren den historischen Blick auf das Mittelalter: Alte Musik meint hier besonders das, was wir heute »Musik der Renaissance und des Frühbarock« nennen würden, mittelalterliche Musik ist hier unbekannt, aber Haltung und Einstellung dieser Musikform gegenüber prägen das Prokrustesbett der musikalischen Theoriebildung, in das mittelalterliche Musik hineingelegt werden wird. Eine »Phänomenologie der ächten, alten Musik« wird entwickelt, die Zeichen der Zeit sind vom Historismus bestimmt. Im 19. Jahrhundert folgen in Deutschland die Berliner Singakademie und der Heidelberger Singverein von Anton Friedrich Thibaut, dem Autor des vielgelesenen Pamphlets Über Reinheit der Tonkunst — ein Sangesbund, der zwischen 1811 und 1814 gebildet wird und bis zum Tode Thibauts im Jahre 1840 besteht. Diese Institutionen greifen die frühe englische Idee einer Academy of Ancient Music auf, die 1710 in London gegründet worden war. Für den Heidelberger Singverein, der sich der Alten Musik verschreibt, greift Thibaut auf die Neuausgaben älterer geistlicher Vokalmusik zurück, die ab 1806 in Paris von Alexandre Choron veröffentlicht werden, und diese Ausgaben bilden die Grundlage der Konzerte. Auch in Paris wird die Liebe zur älteren Musik weidlich gepflegt: 1817 gründet Choron ein privates Konservatorium, die Institution rvyale de musique classique et religieuse, die das Ziel verfolgt, sowohl Kantoren auszubilden als auch eine Wertschätzung für eine musique sacrée et classique zu installieren — ein Bestreben, das von der Nachfolgeinstitution, der Ecole de Musique Religieuse et Classique von Louis Niedermeyer noch ausgebaut werden wird. Diesen Bestrebungen ist eine dezidiert historische Haltung gemeinsam, sie alle, auf sehr unterschiedliche, national-patriotisch gefärbte Art, verschreiben sich der Pflege älterer Musik, die dem gebildeten Publikum nahegebracht und durch eine neu begründete Auffuhrungspraxis wiederbelebt werden soll. 9

Während sich zwischen 1800 und 1820 die Grundzüge historischen Denkens herausbilden und der Historismus zur dominierenden geisteswissenschaftlichen Strömung wird, ist die empirische Aneignung geschichtlicher Traditionen auch in der das Konzertleben begleitenden Musikforschung das Ziel. Man fühlt eine Verpflichtung der Geschichte gegenüber, Friedrich Rumohr spricht 1812 gar vom »Begrabensein in den Tiefen unserer vaterländischen Vorwelt«. Es ist ein europaweiter Aufschwung historischen Interesses spürbar, der auch die musikhistorische Forschung ergreift — um einen Neuanfang historischer Traditionsbildung zu wagen. Die durch Felix Mendelssohn Bartholdy und andere vorbereitete Wiederbelebung der Musik Johann Sebastian Bachs wird mit der Gotik in Verbindung gebracht und mit deutscher Größe verbunden, während das bereits während der Aufklärung vereinzelt verfolgte, zaghafte Interesse am deutschen Minnesang aufgegriffen wird und — etwa durch die Arbeiten von Karl Lachmann — sowohl philologische Zuwendung als auch künstlerische Auseinandersetzungen anzulocken versteht. Mittelalter bedeutet im 19. Jahrhundert zumeist Minnesang, und das romantische Interesse am Minnesang geht nicht nur eine bezaubernde Liaison mit der Blüte des Kunstliedes ein, es gewinnt auch an ungeahnter Durchschlagskraft durch die Zuwendung Richard Wagners zum deutschen Mittelalter. Hier rückt der Minnesang als Imagination ins Zentrum und hier werden aus dem Mittelalter stammende Geschichten, die sich um Minnesänger und Minnesang ranken — wie zum Beispiel das Nibelungenlied, der Parzival, Lohengtin, Tristan und Isolde - einem breiten Publikum vermittelt. Auch heute speist sich das Interesse am Mittelalter vielfach aus den Bühnenwerken Richard Wagners, die in der einen oder anderen Weise alle mit dem Mittelalter zusammenhängen, vom Tanniäuser an ausschließlich mit der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters. Sie vermitteln wirkungsmächtige Bilder, gegen die sich die parallel entwickelnde Fachwissenschaft als blasse Faktenhuberei ausnimmt. Und diese kann sich gegen Wagners Einfluss — nicht nur auf das populäre Mittelalterbild, sondern auch auf den fachinternen Diskurs — nur schwer wehren. Wagners Vorstellungen mit Minnesang werden sogar von der frühen Musikgeschichtsschreibung als »musikhistorische Quellen« aufgegriffen und nicht als das, was sie sind: ein Traum von Mittelalter. Hier wird die Verzahnung von Musikgeschichtsschreibung, zeitgenössischer Musikgeschichte und historischer Imagination im 19. Jahrhundert deutlich — und die Verbindung bildet der von Georges Duby in die Mentalitätsgeschichtsschreibung eingeführte Begriff »Imagination«. Dieser Begriff, der dem Traum verwandt ist und dem Dialog zwischen imqgina/id und memoria entspringt, wird in dem Netzwerk der Ideen und Bestrebungen wirksam. Die Imagination füllt die Leerstellen historischer Rekonstruktion, aber diese kulturhistorischen Phänomene betreffen im 19. Jahrhundert immer noch nicht die mittelalterliche Musik selbst, von der bis 1900 nicht mehr als fünfzig Beispiele bekannt sind — viel zu wenig, um die Notation zu verstehen und um ein Bild der Musikgeschichte vom 8. bis zum 15. Jahrhundert zu entwerfen. Mittelalterliche Musik - eine schwierige Wiederentdeckung Musikhistorisches Interesse an älterer Musik nimmt seinen Ausgangspunkt im 18. Jahrhundert in England, wo die großen Sammlungen mittelalterlicher Handschriften 10

von John Stow, Robert Cotton und Robert Harley in die British Libraty übergehen und den bedeutendsten Musikhistorikern der Aufklärung, Charles Burney und Sir John Hawkins, erste Ahnungen einer mittelalterlichen Musikgeschichte vermitteln. Die berühmte Sammlung von Martin Gerbert, Scriptones ecclesiastici, in der 1784 wesentliche musiktheoretische Schriften aus dem Mittelalter veröffentlicht werden, ist eine zentrale Quelle für das 19. Jahrhundert, dem die Musik des Mittelalters zwar unbekannt ist, die Theorie hingegen damit zugänglich gemacht wird. Ein Pionier der Forschung ist der französische Musikhistoriker François-Louis Perne, der 1814 als heldenhafter Pionier die vollständige Transkription einer polyphonen Messe des 14. Jahrhunderts versucht, sie jedoch unveröffentlicht lässt. Die ersten umfassenden Studien zum Mittelalter von Raphael Georg Kiesewetter und die erste musikwissenschaftliche Monographie, die sich im Titel dezidiert dem Mittelalter widmet, die Histoire de ¿'harmonie au Moyen Age (1852) des belgischen Juristen und Musikhistorikers Edmond-Charles de Coussemaker, sind weitere, naiv-unbeholfene Annäherungsversuche und öffnen einen Spalt der Tür zur Mittelalterforschung großen Stils. Der Durchbruch geschieht um 1900, in Deutschland und Frankreich explodiert die musikwissenschaftliche Mittelalterforschung geradezu, die im 19. Jahrhundert entwickelte historische Methode findet hier ein überzeugendes Arbeitsfeld. So werden die Notationen mehrstimmiger Musik des 12. bis 15. Jahrhunderts auf Grund der vergrößerten Materialbasis les- und übertragbar und in zuvor nicht gekanntem Umfang werden nun Handschriften kopiert, studiert, übertragen, ediert — mittelalterliche Musik entfaltet sich zum Gegenstand der Forschung. Die nun mögliche Interpretation musikalischer Denkmäler im Zusammenhang mit den schon länger bekannten Theoretikerquellen, die nur gemeinsam mit übertragenen Musikzeugnissen verständlich sind, führt zu einem plausiblen Bild mittelalterlicher Musikgeschichte, und die Institutionalisierung der Musikwissenschaft beginnt mit einer Fülle von Publikationsorganen, Institutionen, Denkmälerausgaben und Standesorganisationen einen fachwissenschaftlichen Diskurs über mittelalterliche Musik. Dabei trägt nun eine dem Unterfangen günstig gestimmte öffentliche Meinung wesentlich zur Konstruktion mittelalterlicher Musikgeschichte bei. Der Feuereifer, mit dem die ersten musikwissenschaftlichen Mediävisten ans Werk gehen, ergibt sich zum einen aus der Pionierrolle, die als solche be- und ergriffen wird, zum anderen aus der Forderung einer musikalischen Öffentlichkeit nach Neuem. Nachdem die Weltausstellungen 1889 und 1900 in Paris Zeugnisse fremder Völker und fremder Kulturen vorgestellt hatten, war der Wunsch erwacht, auch die fremde eigene Kultur kennen zulernen — im Sinne eines »Zurück zu den Anfängen«. Was zunächst nur als fachinternes Desiderat und als Wunsch nach Vervollständigung des eigenen historischen Weltbildes erscheint, wird schließlich als Möglichkeit einer Wiederbelegung mittelalterlicher Musik und ihrer Integration in das zeitgenössische Konzertleben begriffen. Und hierbei spielt ein mentalitätsgeschichtliches Argument eine Rolle: Der epochale Umbruch, der durch den Ersten Weltkrieg markiert ist und der essentielle Auswirkungen auf das Interesse an Geschichte - oder der Flucht vor ihr — zeitigt. Die musikwissenschaftliche Mittelalterforschung in Deutschland agiert aus einer besonderen Position, die sie als vermittelnde Instanz im kulturellen Dialog einnimmt: Sie eröffnet den Blick auf Alte Musik und vereinigt in Deutschland die Anliegen von Mittekiterforschung und Jugendmusikbewegung. Mit der Bereitstellung musikwissenschaftlicher Ergebnisse in Notenform und dem Anliegen einer Rekonstruktion 11

mittelalterlicher Musik, die sich zunächst als komplexe, aber technisch doch unvergleichlich leichter aufzuführende Musik herausstellt als die Musik der Spätromantik oder der sogenannten Zweiten Wiener Schule, zieht die Blockflöte, das Paradeinstrument der deutschen Jugendmusikbewegung, ein in die klangliche Realisation Alter Musik. So setzen sich sowohl die musikwissenschaftliche Mittelalterforschung als auch die Jugendmusikbewegung ein für das wiederentdeckte Alte. Die Blockflöte, tragbar und relativ einfach zu handhaben, wird durch diese zeilgeschichtliche Verschränkung zum mittelalterlichen Instrument. Die neuzeitliche Präsenz mittelalterlicher Musik ist das Ergebnis eines äußerst komplexen Konstruktionsprozesses, und dieser, von Menschenhand aktiv gestaltete Prozess, hat einen Forschungsgegenstand bereitgestellt, ohne den es kein Studium mittelalterlicher Musikgeschichte hätte geben können - und keine mittelalterliche Musik in der Kirche oder im Konzertsaal. Mittelalterliche Musik, die im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert von zahlreichen Ensembles aufgeführt wird und auf die ebenso zahlreiche Komponisten produktiv reagierten und reagieren, entpuppt sich bei genauem Hinsehen als jene Musik, die ab 1900 von Musikhistorikern konstruiert und bereitgestellt wurde. Sie kann auf Grund dieser Basis im 20. Jahrhundert zur Legitimationsstrategie für die musikalische Avantgarde werden, zahllose Komponisten zu eigenen Werken inspirieren, einen Weg aus der dur/moll-tonalen »Falle« weisen und eine Art chronologisch ferner Exotik repräsentieren. Manche Komponisten, die von den Erfahrungen der Komposition für den Film profitieren, spielen mit den vielfältigen Mittelalterbildern in der kollektiven Erinnerung, die aus dem 19. Jahrhundert entstammen, und illuminieren sie durch Klangfetzen, sie präsentieren ein diffuses Bild mittelalterlichen Lebens voller Mönche und Nonnen, Äbte und Äbtissinnen, Spielleute, Vaganten, Kreuzritter, geknechteter Bauern, Zwerge und Einhörner, Hexen und Zauberer, Minstreis und Minnesänger, schöner Prinzessinnen und hässlicher Glöckner, Diakone, Eremiten und Engel, Sarazenen, Päpste und würdevoller Könige, die prachtvolle Burgen über grünen (Eichen-)wäldern bewohnen und in gotischen Kathedralen nicht nur ihre Sünden bekennen, sondern auch ihr eigenes Bewusstsein von der Harmonie der Schöpfung bezeugen. So ist für viele Komponisten das Mittelalter nicht ausschließlich als stilistisches Vorbild interessant, es vermittelt ein ganz eigenes Lebensgefühl, in dem ganzheitliches Denken und Spiritualität integraler Teil der Musikästhetik zu sein scheinen. Der Traum von Mittelalter speist sich hier, am Ende des 20. Jahrhunderts, aus ganz anderen Quellen als noch die Mittelalterimagination des 19. Jahrhunderts — oder sind es dieselben Quellen mit unterschiedlichen Namen versehen? Das vorliegende Buch unternimmt den Versuch, diese Geschichte der mittelalterlichen Musik in der Neuzeit zu schreiben. Sie nähert sich der Wiederbelebung und Erfindung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit aus unterschiedlichen Perspektiven und ist ein Gehversuch auf unerforschtem Terrain. Als Beginn einer historiographischen Aufarbeitung mittelalterlicher Musikgeschichte in der Neuzeit ist das Buch eine kulturhistorische Arbeit, die als ÁÁ^/geschichte der quellenkundlichen und analytischen Interpretation von musikalischen Kunstwerken und Texten zugewandt ist, als Kulturgescbicbte hingegen sich mit dem Wandel im Laufe von zwei Jahrhunderten beschäftigt, also Kontext und Kausalität einbezieht. Kulturhistorische Phänomene zeigen viele Seiten, je nach Standpunkt der Betrachtenden. Diskursivität und Interdisziplinarität helfen dabei, den Standpunkt permanent zu modifizieren.

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Der Historiker Peter Jelavich hat beschlieben, warum es »so schwer ist, übergreifende Methoden für die Kulturgeschichte zu entwickeln«. Je genauer der Blick auf die einzelnen kulturellen Phänomene fallt, desto mehr erscheinen tradierte Gattungsgrenzen als Ergebnisse von Historismus und neuzeitlichem Wissenschaftsverständnis. Denn schließlich bedingen sich Komplexität und Unvollständigkeit in der Beschreibung kultureller Phänomene, Methodenvielfalt und Methodenfulle eröffnen einen möglichen Zugang zur überwältigenden Anzahl kultureller Zeugnisse. Und im Bereich der Kultur hängt alles auf irgendeine Art mit allem zusammen. Während sich in den zwei betrachteten Jahrhunderten - das 19. und das 20. Jahrhundert — stets ausschnittsweise und exemplarisch der Zuwachs an Quellen und an Wissen über ihre Bedeutung nachzeichnen lässt, nimmt man die phasenweise Veränderung des Forschungsgegenstandes wahr — das Bild mittelalterlicher Musik tritt konturierter hervor, der Traum kann gleichsam im Wachzustand betrachtet werden. Der Blick weitet sich von den ideengeschichtlichen Spuren, und graduell rücken konkrete Konzepte und Ausgaben, schließlich einzelne Werke und ihre Rezeptionsgeschichte im 20. Jahrhundert in den Mittelpunkt der Betrachtung. Dabei steht naturgemäß zwischen Quelle, Interpretation und Darstellung das »historische Erzählen« (förn Rüsen) im Zentrum, etwas, was Historiker im 21. Jahrhundert weiter kultivieren werden. Die Flüchtigkeit Alter Musik zu bannen und zur Produktion historischen Sinnes für die Gegenwart beizutragen, ist die Aufgabe der Untersuchung. Mittelalterliche Musik wird als Imagination beschrieben, als eine reine Gegenwartskunst in ihrem Erklingen, und sollte man aus dieser Beobachtung folgern, man könne die Suche nach historischer Erkenntnis aufgeben, so ginge diese Schlussfolgerung vorbei am eigentlichen Sinn musikhistorischer Forschung. Dieser Sinn liegt immer im Erklingen von Musik, nie in ihrer ausschließlichen Archivierung, und das Nachdenken über den Imaginationsgrad der Rekonstruktion spornt an zur Überprüfbarkeit historischer Prämissen, nicht zu ihrer Stillegung. Es kommt also im Wesentlichen auf die Sprache an, in der man sich über Musik mit anderen verständigt. Denn neben dem Erklingen von Musik selbst gibt es nur eine Möglichkeit, ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen: das Gespräch. Bevor dieses Gespräch beginnt, soll noch ein Wort fallen über das Motto-Gemälde des vorliegenden Bandes, das sich im Smith College Museum of Art, Northampton, Massachusetts, befindet. 1852 malte Lilly Martin Spencer in New York das Gemälde Reading the hegend, ein Bild, in dem in romantischer Darstellung ein junges Paar vor Blarney Casde in Irland dargestellt ist. Neben dem meisterlichen Umgang mit Pinsel und der Umsetzung akademischer Vorgaben figürlicher Darstellung fallt besonders die sorgfältige Balance von Licht und Dunkel in den Blick, die verschiedenen räumlichen Ebenen sind dramatisch aus dem reichen, komplexen Chiaroscuro der Ober- und Unterhälfte des Bildes herausgearbeitet. In einer natürlichen Aufwärtsbewegung wird der dunkle Bodenbereich mit dem aufstrebenden, altersschwachen Turm verbunden, das junge Paar in Bezug zur geschichtsschweren Burg gesetzt. Die Burg wächst wie ein Traum aus dem Unterholz und Überwuchs des umgebenden Waldes heraus. Die Bilderzählung beginnt mit dem selbstbewussten Hund, der Stock und Hut in edler Manier bewacht — mehr gendeman als sein Herr, der in natürlicher Pose am Boden ausgestreckt ist. In der rechten Hand der jungen Frau werden die Bänder ihrer viktorianischen Haube gehalten, die über die Kniee zu rutschen droht. Aufmerksam hört sie zu, ganz in sich ruhend, ihr Blick gleitet hinüber zur Burg, man sieht die Vorstellungen des Vorgelesenen Gestalt annehmen. Indem hier 13

das Gesicht der Frau fxir die Betrachter sichtbar ist, der Mann ihnen jedoch den Rücken zuwendet, wird in dem Gemälde mit Bedacht und als Rarität für das 19. Jahrhundert die Erfahrung einer Frau in den Mittelpunkt gestellt. Es geht um iirnn Blick auf die Geschichte, um ibren Traum vom Mittelalter.

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I.

Präfiguration des historischen Blicks in Deutschland: »Alte Zeit« um 1800

»Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts die Rittergeschichten m i t Gespenstern, links o h n e Gespenster, nach Belieben.« (Heinrich von Kleist, Notiz nach einem Bibliotheksbesuch)

Jacob Burckhardt fragte sich »mit Zagen« zu Beginn seiner Griechischen Kulturgeschichte, »wo man anfangeη solle. Die Antwort wird lauten: Jedenfa//s irgendwo. Vor allem: Da Dinge sich allerorts berühren, sind Wiederholungen unvermeidlich.«1 Wo also anfangen? Da um 1900 die mittelalterliche Musik im Wesentlichen in Deutschland entdeckt, erforscht, transkribiert und veröffentlicht werden wird, sind die ideengeschichtlichen Voraussetzungen für diese Entdeckung im Wesentlichen auch im deutschen Sprachraum zu suchen, ohne die rezeptionsgeschichtlichen Verflechtungen mit England und Frankreich zu unterschätzen. Goethe ist zudem nicht nur Deutschlands einflussreichster Schriftsteller, sein Hymnus auf das Straßburger Münster, der zu Beginn einer genauen Lesung unterzogen werden soll, dokumentiert die Vorbereitung einer Kunstästhetik, die in der gotischen Kathedralarchitektur weniger »krausborstige Ungeheuer« als vielmehr Schönheit und Ebenmaß zu erblicken weiß. An seinem Text lässt sich exemplarisch zeigen, wie viel gedankliche Arbeit einer affektiven Umwertung vorausgeht. Gleichzeitig wird deutlich, wie eine nachträgliche Mittelalterbegeisterung in diesem Text mehr entdecken konnte als tatsächlich enthalten ist.

Goethe entdeckt die Gotik? Im November 1772 erscheint bei Deinet in Frankfurt am Main anonym ein kleines Heftchen als Flugschrift, das einen Text mit dem Titel »Von Deutscher Baukunst« enthält. Der Text wird 1773 in Herders Sammlung Ven deutscherArt undKunst. Einige ßiegende Blätter in Hamburg nachgedruckt,2 ist ein Hymnus auf Erwin von Steinbach, den Planer und Baumeister einiger Teile des Straßburger Münsters, und stammt von dem jungen Johann Wolfgang von Goethe. Er entsteht in einer Zeit, in der über dem Westchor des Mainzer Doms der Vierungsturm neugotisch inspiriert emporwächst,3 am städtischen Theater in Bologna Bühnendekorationen des frühen 18. Jahrhunderts mit mittelalterlichen Motiven auftauchen, in der Bauhütte der Kathedrale von Orleans bereits Vorbereitungen für eine Restauration des Domes laufen und archaisierende Veränderungen an böhmischen Zisterzienserkirchen vorgenommen werden. Burckhardt 1929-34, Bd. VIII, S. 5 (Hervorhebungen von J. B.). Goethe 1998, Bd. 12. Vgl. dazu Keller 1974, Gneisse 1901, Sander 1923, Fischer 1948, Robson-Scott 1965, Beutler 1943. Vgl. Kautzsch/Neeb 1919. Baumeister ist hier Franz Ignaz von Neumann (Sohn von Johann Balthasar Neumann).

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Aber Goethe weiß von alldem nichts. Anders als in England, dessen Interesse an Gotik nie versiegt4 und dessen Gotiic Reviva/von einem Gotiic Survival· beantwortet wird, ist in Frankreich und Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert nur auf lokaler Ebene eine durchgehende Verehrung für alte gotische Dome auszumachen. Hier findet Neugotik kein Interesse, hier speist sich eine Verehrung für die unvollendeten Dome in Straßburg und Köln aus munizipalem Stolz, in beiden Städten erscheinen (wie auch in Chartres und Reims) sogar »Münster- und Thurmbüchlein«.6 Aber anders als die Antiquare und Lokalhistoriker, die ihren heimischen Domen lokalpatriotisches und kunsthistorisches Interesse zuteil werden lassen, interessiert Goethe sich nicht für das Alter des Baus, sondern für den Baumeister des Münsters und die künstlerische Form [Abb. 1], die er weder lobt noch kritisiert, sondern der er sich überlässt: »Unter der Rubrik G o t i s c h , gleich dem Artikel eines Wörterbuchs, häufte ich alle synonymische Mißverständnisse, die mir von Unbestimmtem, Ungeordnetem, Unnatürlichem, Zusammengestoppeltem, Aufgeflicktem, Überladenem jemals durch den Kopf gezogen waren. Nicht gescheiter als ein Volk, das die ganze fremde Welt barbarisch nennt, hieß alles G o t i s c h , was nicht in mein System paßte, von dem gedrechselten bunten Puppen- und Bilderwerk an, womit unsre bürgerlichen Edelleute ihre Häuser schmücken, bis zu den ersten Resten der älteren deutschen Baukunst, über die ich, auf Anlaß einiger abenteuerlicher Schnörkel, in den allgemeinen Gesang stimmte: >Ganz von Zierat erdrückt!, und so graute mir's im Gehen vorm Anblick eines mißgeformten krausborstigen Ungeheuers.«

Dann jedoch sieht Goethe das Münster und wechselt von ironisch-komischer Abwehr ins Pathetische: »Mit welcher unerwarteter Empfindung überraschte mich der Anblick, als ich davor trat! Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil es aus tausend harmonierenden Einzelnheiten [siel] bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte. [...] Schwer ist's dem Menschengeist, wenn seines Bruders Werk so hoch erhaben ist, daß er nur beugen und anbeten muß. [...] Da offenbarte sich mir, in leisen Ahndungen, der Genius des großen Werkmeisters. Was staunst du? lispelt' er mir entgegen. Alle diese Massen waren notwendig, und siehst du sie nicht an allen älteren Kirchen meiner Stadt?« 7

Gegen Ende kommt Goethe auf Erwin von Steinbach, den »fürtrefflichen Werkmeister«, wie es auf dem von Goethe zitierten Grabstein heißt, zurück. Er beschreibt in einer Apotheose das Gefühl, die Wahrheit und die Schönheit der Verhältnisse gemeint sind Zahlenproportionen — und vergleicht Erwin von Steinbach gar mit einem Gesalbten Gottes. Diese Verhältnisse stehen in einem Kontrast zu »starker, rauher, deutscher Seele, auf dem eingeschränkten düstern Pfaffenschauplatz des medii aevi« — als sei die Kathedrale als individuelles Kunstwerk ein Kontrast zu jener Zeit, der es historisch doch entstammt. Schließlich wendet sich Goethe in einem Vergleich der eigenen Gegenwart zu und wirft ihr vor, »fremde Gewächse zu ihrem Verderben« einzusammeln, so dass, als Gipfel der Absurdität, einmal sogar ein

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Das Gothic RtvivaJist durchweg von neugotischen Bauwerken inspiriert. Vgl. Addison 1967 und die groß angelegte, faszinierende Studie zu einer Leitfigur des 18. Jahrhunderts, Horace Walpole: Miller 1986. Keller 1974, S. 31. Ib., S. 73. Goethe 1998, Bd. 12, S. 10 f.

Künstler das Portal »einer altdeutschen Kirche« mit einem »stattlichen antiken Säulenwerk« habe schmücken wollen. Die Schrift etabliert mit dichterischer Raffinesse die Gotik als deutschen Baustil,8 entdeckt im Rauhen eine ganz eigene Schönheit; und das, obwohl das Straßburger Münster nur Anlass, nicht jedoch sein eigentlicher Gegenstand ist. Als sich Goethe einige Jahre später erneut dem Straßburger Münster widmet und seine Dritte Wa/ffairt noci Erwins Grabe im Ju/i 1775 niederschreibt, erwähnt er auch hier den Innenraum nicht. Erst 35 Jahre später, 1810, greift Goethe die Frage nach der Entstehung der Gotik unter stilgeschichtlichem Aspekt auf und streift nun zum einen Johann Gottfried von Herders skurrile Vorstellung, die Gotik sei eine »offenbar sarazenische Pflanze,«9 zum anderen die Theorie, die Gotik habe sich von Süden nach Norden (und nicht von Westen nach Norden) entwickelt.10 Aber dies sind Marginalien. Als Goethe schließlich in Dichtung und Wairieit rückblickend seine Straßburger Jugendzeit schildert, steht er schon in Kontakt mit Sulpice Boisserée, dessen große Publikation über den Kölner Dom11 schließlich zur Fertigstellung des Doms führen und einen Gotikenthusiasmus ungeahnten Ausmaßes entfalten wird. Umwertung der Gotik Goethes Hymnus ist das erste, wenn auch zwiespältige und zum Teil bewusst missverstandene Zeugnis für die Wiederentdeckung der Größe gotischer Baukunst im deutschen Sprachraum, und es ist bezeichnend, das s hier die Umwertung der Gotik weder von Baumeistern, Architekturtheoretikern oder Historikern, noch von Malern oder Gartenkünsdern geleistet wird, sondern von Deutschlands größtem Dichter.12 Auch wenn es Goethe weniger um das Werk eines Genius als um das Genie selbst geht und er den Genie-Kult des Sturm und Drang auf ein Bauwerk ausdehnt, so hat sein Hymnus auf das Straßburger Münster im öffentlichen Diskurs Gewicht. Es ist immerhin Goethe, der sich äußert. Die begriffliche Aufwertung der Zahlenproportionen, ihrer Ganzheit und Einheit und die Erwähnung von der »Harmonie der Massen« sind ebenso zukunftsträchtig wie die Rede vom »organisch gewachsenen Bau«. In dem ein Jahr später erschienenen Nachdruck stellt Herder, der zunächst kein Freund des gotischen Stils ist, in einem editorischen Kunstgriff Paolo Frisis kritiGoethe schreibt in Dichtung und Wairèei/, Dritter Teil, 12. Buch: »Was ich über jene Baukunst gedacht und gewähnt hatte, schrieb ich zusammen. Das erste, worauf ich drang, war, daß man sie deutsch und nicht gotisch nennen, nicht für ausländisch, sondern für vaterländisch halten solle.« Goethe 1998, Bd. 9, S. 507. Die Sarazenen gelten im 18. Jahrhundert als Inbegriff der »Araber« und sind traditionell die Gegner der Kreuzfahrer während der mittelalterlichen Kreuzzüge. Die Theorie besagt im wesentlichen, die Gotik sei als »sarazenischer Baustil« von Kreuzfahrern in den Norden gebracht worden. Vgl. dazu Goethe/Reinhard 1957, Brief vom 14. Mai 1810 (Nr. 49): »Am wunderbarsten kommt mir dabei der deutsche Patriotismus vor, der diese offenbar sarazenische Pflanze als aus seinem Grund und Boden entsprungen gem darstellen möchte. Doch bleibt im ganzen die Epoche, in welcher sich dieser Geschmack der Baukunst von Süden nach Norden verbreitete, immer höchst merkwürdig. Mir kommt das ganze Wesen wie ein Raupen- und Puppenzustand vor [...]«, S. 126. Boisserée 1823. Einige Diagramme und ein Atlas mit achtzehn Bildtafeln war bereits 1821 in Stuttgart erschienen. Keller 1974, S. 81.

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sehen Versuch über die got bische Baukunst {Saggio sopra ¿'architettura gotica) hinter Goethes Hymnus. Paolo Frisi widmet sich primär statischen Überlegungen, und Herder leitet die Studie mit einer redaktionellen Notiz ein: »Der folgende Aufsatz, der beinahe das Gegenteil und auf die entgegengesetzte Weise behauptet, ist beigerückt worden, um vielleicht zu einem dritten mittlem Anlaß zu geben: wo durch Data untersucht werden wo? wann? und wie eigentlich gotische Baukunst entstanden? Was in ihr nordisches Bedürfnis und Ausnahme von der Regel größerer Schönheit oder etwa selbst größerer Plan einer neuen Art von Schönheit sei usw.« 13

»Nordisch« greift den Topos des durch die Alpen zweigeteilten Europas auf. Und während der Begriff des »nordischen Bedürfnisses« hundertfiinfzig Jahre später in eigenartiger Verkleidung bei dem Musikwissenschaftler Rudolf von Ficker aufgegriffen werden wird, interessieren in den 1770er Jahren Herders Fragen noch niemanden, auch Herder selbst nur wenig oder zumindest unter anderen Gesichtspunkten, und so trifft Goethes Text auf unterschiedliche Erwartungen: Während Herder in ihm Betrachtungen über Statik und Bautechnik vermisst, wundern sich romantische Literaten, dass Goethe weder ein Wort über den Innenraum verliert noch beim Betrachten des Domes von einem mystischen Schauer überfallen wird.14 Die neugotische Strömung in der Architektur erreicht Deutschland im Vergleich zu England mit einem halben Jahrhundert Verspätung,15 und die Bemühungen um eine Aufwertung mittelalterlicher Kultur betreffen im 18. Jahrhundert im deutschen Sprachraum primär mittelhochdeutsche Literatur. Die philologischen Anstrengungen jedoch spielen sich in einem kleinen Kreis ab, der von aufklärerischer Kritik mit herber Verachtung belegt wird. Im Deutschen Museum von 1780 ist abfällig von »Minneklingklang« die Rede,16 und Goethe selbst äußert sich mehrfach nicht sehr schmeichelhaft über mittelhochdeutsche Literatur. Er habe einfach »keine Lust«,17 mittelhochdeutsch zu lernen und ist darin d'accordmit Herder, der ebenfalls »keine Zeit und Lust« hat, »altdeutsche Gedichte« zu lesen.18 Friedrich II. reagiert preußisch eindeutig und kann sich als König eine klare Aussage leisten, wenn er sich bei Christoph Heinrich Myller für eine Edition des Nibelungenliedes mit den Worten bedankt, er würde in seiner Büchersammlung »dergleichen elendes Zeug nicht dulten, sondern herausschmeißen.«19 Im 18. Jahrhundert liegen die Anfänge der Mittelalter-Rezeption, und die moderne Beschäftigung mit dem Mittelalter wurzelt im Weltbild der Aufklärungsepoche.20 Aber wenn auch beispielsweise ein repräsentativer Querschnitt der Literatur der staufischen Blütezeit um 1200 aus einer Zeit der in Vollendung stehenden ritterlichen Standesethik um 1800 vorliegt, so werden diese Ausgaben doch selten zur Hand genommen.21 Johann Jakob Bodmers erste Ausgabe mittelhochdeutscher « '4 15 16 17

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Vgl. Herder, Notiz in Herder 1773. Vgl. Keller 1974, S. 31. Ib.,S. 81. Anonym 1780, S. 324. Zitiert in Lempicki 1968, S. 329. Zitiert in Paul 1901, S. 53. Zitiert in Brüggemann 1908, S. 2. Krauss 1965, S. 277. Brinker-Gabler 1973, S. 48.

Dichtung (1748) findet so gut wie keine Liebhaber,22 Myllers und Bodmers Bemühungen um das Nibelungenlied ernten nicht nur bei Friedrich II. Hohn und Spott, die Subskriptionsverzeichnisse zeigen einen höchst heterogenen Rezipientenkreis, von dem nur der geringste Teil die Schriften tatsächlich studiert haben dürfte. Die althochdeutsche und mittelhochdeutsche Literatur — die »deutschen Dichter aus dem Zeitalter der schwäbischen Kaiser,«23 wie es zu Beginn von Hofstäters Ausgabe Altdeutscher Gedicbte aus den Zeiten der Tiifelrunde heißt — erscheint durchweg in kleinen Auflagen und mit schlechter Distribution, zum Teil im Selbstverlag, da Buchhändler und Verleger aus ökonomischen Gründen nur in verwegenen Ausnahmefällen geneigt sind, solch riskante Projekte zu unterstützen. Einstimmig wird die »Kaltherzigkeit des Publikums« beklagt.24 So stehen Goethes Bemühungen um ästhetische Aufwertung, die nur zum Teil als »Entdeckung der Gotik« gewertet werden können, in einem spannungsvollen Verhältnis zu dem komplexen Diskurs über die literarischen Produkte aus mittelalterlicher Zeit, die durchweg als »unförmige Vermummungen des dumpfen, von Hierarchien und Damen abhängigen Rittergeistes«25 gewertet werden. Dass das Interesse am Mittelalter gegen Ende des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum leicht zunimmt, ist jedenfalls nicht der mehr antiquarisch-enzyklopädischen als literarischen »rümlichen Bemühung« Bodmers und anderer zuzuschreiben, sondern verdankt sich der Gegenwartsliteratur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Der große Erfolg von Goethes Göt% von Berliciingen lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit ebenso auf das Mittelalter, wie um 1800 die Neugier an der historischen Figur Hans Sachs — Inbegriff des mittelalterlichen Gemütsmenschen — die Phantasie beflügelt. Schließlich ist die deutsche Hexameterübersetzung des Ossian 1784 durch Michael Denis zu erwähnen.26 Diese in ihrer Schwermütigkeit und Exotik schillernden Texte werden mit Begeisterung gelesen, unter anderem befördert durch die Übersetzung einer längeren Passage, die Eingang in Goethes Roman Die Leiden desjungen Werthervoa. 1774 gefunden hatte. Gotische Variationen: Hei/ige Haine undFeenpaläste Ein weiterer Strang im literarischen Diskurs, der sich um Goethes Hymnus rankt, gewinnt im 18. Jahrhundert an Bedeutung, und er hat weniger mit Literatur oder Musik zu tun als mit Vorstellungen von Wachstum, von Naturhafügkeit und von Nationalkulturen - auch wenn die Überzeugung einer organisch wachsenden Kunst des Mittelalters später in die Konzeption mittelalterlicher Musikgeschichte einfließen wird. Der Diskurs speist sich aus dem Rätselraten um die mittelalterliche Kathedral22 23 24

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Vgl. Arens 1969, S. 158 f. Hofstäter 1811, S. III. Neumann 1986, S. 113. Vgl. dazu Hofstäter: »Die deutschen Dichter aus dem Zeitalter der schwäbischen Kaiser haben seit Bodmers rumlicher Bemühung die Aufmerksamkeit deutscher Gelehrter an sich gezogen. Gesänge und Rittergedichte wurden begierig aufgenommen. Allein die Spannung war von kurzer Dauer. Die Ursache ist bekannt. Man verstand sie nicht.« Hofstäter 1811, S. III. Voß 1808. Sie stützt sich auf die 1760 erschienenen, durch James MacPherson herausgegebenen und übersetzten, in Wahrheit jedoch größtenteils von ihm selbst geschaffenen Heldengedichte. Vgl. zum Beispiel MacPherson 1996, Ossian 1974 und Grewe 1982. Vgl. auch Wessel 1994.

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architektur, für die das Schlagwort »Gotik« auch schon im 18. Jahrhundert undifferenziert eingesetzt wird. In diesem, von der germanischen Philologie gänzlich abgetrennten Gedankenstrang vereinigen sich einzelne Konzeptionen und bilden für das 19. Jahrhundert ein Reservoir an Bildern und Imaginationen, die die affektive Umwertung der Gotik befördern. Sie belegen einen Diskurs um die ästhetische Bedeutung der gotischen Kathedralen, der weniger vom Raumgefühl als vom organischen Wachstum ausgeht und zeigt: Akustische Erfahrung ist keine Kategorie in der Entdeckung der Kathedralarchitektur. Das Raumgefühl spielt keine Rolle. Gleichzeitig kann man hier eine besondere Variante des für die Musikgeschichtsschreibung zentralen Fortschnttsbegriffs entdecken. Wilhelm Heinse weiß weder um den französischen Ursprung der Gotik, noch kennt er Kreuzrippengewölbe, Dienste, Spitzbögen, Strebewerke oder Doppelturmfassaden, als er 1780 das erste Mal Straßburg besucht. Auch er versucht, seine Empfindungen in Worte zu fassen, und greift — acht Jahre nach Goethes Hymnus auf das Straßburger Münster — bei der Beschreibung des Doms zu einem aufschlussreichen Vergleich. Dieser Vergleich läuft nicht auf historische Ableitung, sondern auf ästhetische Erklärung dieser absonderlichen Baukunst hinaus. Während Heinse nämlich auf seiner Reise den Florentiner Dom trotz seiner »ziemlichen reinfen] Proportion« abscheulich findet und eine Durchschnittskirche wie Santa Maria degli Angeli unterhalb Assisis »für ihre herrliche majestätische Proportion«27 lobt, kommt ihm beim Anblick des Münsters keineswegs der Gedanke an mathematische Proportionen oder gar an eine »Harmonie der Massen« im Sinne Goethes. Heinse entwirft ein Bild, das geradezu das Gegenteil mathematischer Proportionen ist, indem er fragt: »Woher habt ihr eure Verhältniße anders her, als von den Sinnen, vom Aug und vom Gefühl? Und diese, woher wieder anders, als von der Natur? [...] Sechs Stämme auf jeder Seite des Hauptgangs. Zwey vierfach so starke Stämme, die die beyden innern Seiten der Thürme ausmachen, und mit diesem Gange eine Reyhe bilden. Eben so hinten im Chor zwey Stämme, nur nicht so schlank und hoch, aus Säulen mit Kapitalen zusammengesetzt. Welches also zusammen auf jeder Seite zehn, doppelt 20 ausmachen. Oben formieren sie einen deutsch gewölbten Bogen. Die Zwischenräume von Stamm zu Stamm sind mit gemahlten Fenstern erleuchtet, die wie luftige Zweige das Licht durchlassen.«2®

Zehn Jahre später greift der Reisende Georg Forster zu derselben Analogie, um das Innere des Kölner Domchors adäquat zu erfassen: »Die Pracht des himmelan sich wölbenden Chors hat eine majestätische Einfalt, die alle Vorstellung übertrifft. In ungeheurer Länge stehen die Gruppen schlanker Säulen da, wie die Bäume eines uraJien Forstes. Nur am höchsten Gipfel sind sie in eine Krone von Asten gespalten, die sich mit ihren Nachbaren in spitzen Bogen wölbt und dem Auge, das ihnen folgen will, fast unerreichbar ist. [...] Die griechische Baukunst ist unstreitig der Inbegriff des Vollendeten, Übereinstimmenden, Beziehungsvollen, Erlesenen, mit einem Worte: des Schönen. Hier indessen, an den gothischen Säulen, die, einzeln genommen, wie Rohrhalme schwanken würden und nur in großer Anzahl zu einem Schafte vereinigt Masse machen und ihren geraden Wuchs behalten können, unter ihren Bogen, die gleichsam auf nichts ruhen, luftig schweben, wie die schattenrei-

Heinse 1909, S. 121 und S. 157. Ib., S. 14. Und in Bezug auf den Turm schreibt Heinse: »Das Durchbrochene gab ihm das natürlichst zackichte und luftige von einer Fichte. Und woher soll sonst ein Thurm seinen Ursprung in der Natur haben, als von einem hohen Baum?« Ib., S. 13.

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chen Wipfelgewölbe des Waldes — hier schwelgt der Sinn im Übermut des künstlerischen Beginnens. [Sie] stehen wie Erscheinungen aus einer anderen Welt, wie Feenpalläste da.« 29

Mit dem traumhaften Bild von Wald und Feenpalast, das der mystisch verklärten Natur entstammt, wird die Kathedrale zum ersten Mal als säkulare Erscheinung aufgefasst. Ihr Ursprung wird hier nicht mit religiöser Schau oder künsderisch-mathematisch errechneten Proportionen in Verbindung gebracht, sondern »im Übermut des künsderischen Beginnens«. Es ist der Topos vom Ursprung des gotischen Domes im Wald, der diesen massiven Bauwerken Würde und Bedeutung abzugewinnen weiß; gleichzeitig schwingt die Einschätzung von mittelalterlicher Kunst als »kindlicher Kunst« mit Man meint, einer »Kunst im Werden« zusehen zu können. Das Naturhafte verschmilzt mit dem Kindlichen, die postulierte Abwesenheit planerischen Vorgehens wird als Tugend erfasst. Das Naturhafte ist zwar das »edle Wilde«, aber zugleich auch das bedrohlich Ungeformte und Ungebändigte, das Unberechenbare. Forster gruselt es geradezu in der Konfrontation mit dieser Erscheinung »aus einer anderen Welt«, er möchte »die Nacht dort nicht einsam durchwachen.«30 Gotischer Wa/dund»gothiscbe Wölbungen« Die Analogie von Wald und Gotik durchzieht das Schrifttum des 18. Jahrhunderts, angefangen von Michel Félibiens Histoire de /'Abbaye Raya/e de Si. Denis de France (1706) bis hin zu Texten des englischen Bischofs William Warburton.31 Warburton hatte 1751 die phantastische Theorie entwickelt, die Ursprünge der gotischen Architektur lägen in einer bewussten Nachahmung germanischer Haine, und auf die Ähnlichkeit von Alleen und gotischen Kathedralen verwiesen.32 James Hall beschreibt 1813 in seinem Essay on (be Origins, Histo/y and Principies of Gothic Architecture sogar eigene Experimente, bei denen er in einem planvollen Feldversuch Weidenruten hatte Wurzeln schlagen lassen und auf diese Weise eine vollkommene Einheit von natürlichem Holz und organischer Architektur herbeiführen konnte33 [Abb. 2]. Im 19. Jahrhundert entfaltet Schlegels Schrift Grund^iige dergotbiscben Baukunst, die wie Fosters Beschreibung in einen Reisebericht eingebunden ist, den größten Einfluss. Es heißt hier: »Das Wesen der gotischen Baukunst besteht [...] in der naturähnlichen Fülle und Unendlichkeit der innern Gestaltung und äußern blumenreichen Verzierungen. Daher die unermüdlichen und unzähligen steten Wiederholungen der gleichen Zierraten, daher das Vegetabilische derselben.«34

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Forster 1979, S. 49 f. [Hervorhebung von ΑΚΗ]. Dass mit dem Bild vom Wald nicht unbedingt nur Positives verknüpft ist, belegt der weitere Text: Forster bemerkt, dass »gegen das Ende [des] Aufenthaltes« durch die Dunkelheit, in der »von unseren Tritten wiederhallenden Gewölben, zwischen den Gräbern der Kuhrfiirsten, Bischöfe und Ritter, die da in Stein gehauen liegen, manches schaurige Bild der Vorzeit« auftauche. Ib., S. 50 f., vgl. auch ib. S. 52. Vgl. dazu Keller 1974, S. 13 f.; Hermann/Laugier 1962, S. 245 und S. 240; dazu auch Frankl 1960, S. 385-392. Für eine ausführliche Diskussion der Mystifizierung des Waldes siehe Shama 1996, hierbei besonders das Kapitel »Das grünende Kreuz«, S. 207-265. Warburton 1751, S. 267 ff. Hall 1813. Schlegel 1958, S. 179 f.

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Goethe kannte beim Verfassen seines Hymnus auf das Straßburger Münster den Naturtopos und vermied ihn wohlweislich. Bei seinem zweiten Besuch allerdings ersteigt er den Turm der Kathedrale und schreibt an eine neue fiktive Generation gotischer Architekten: »Vermannigfaltige die ungeheure Mauer, dass sie aufsteige gleich einem hocherhabnen, weitverbreiteten Baume Gottes, der mit tausend Ästen, Millionen Zweigen und Blättern [...] verkündet die Herrlichkeit des Herrn, seines Meisters.«35 Und es verwundert nicht, dass das Bild vom gotischen Dom als Wald kein Raumgefühl und keinen Sinn für kühle Proportionen zulässt. Sämtliche Autoren des 18. Jahrhunderts schreiten in den Begegnungen mit gotischen Domen weder die Joche eines Langhauses ab, noch nehmen sie den Wechsel im Rhythmus der Mittelschiffstützen oder die Zentralisierung der Vierung wahr. Auch die Steigerung der Belichtung zum Chorumgang hin bleibt im 18. und frühen 19. Jahrhundert unbemerkt und wird deshalb auch nicht angesprochen. Der Weg von der Waldallegorie führt in der deutschen Geistesgeschichte zur Gotik als deutscher Kunst, und dieser Weg nimmt einen Umweg über die Antike. Friedrich Wilhelm Schelling, Kantianer und zentraler Vertreter des deutschen Idealismus, bemüht ebenso den Vergleich zwischen Wald und Gotik, erwägt die Theorie eines indischen Ursprungs der gotischen Architektur (wie vielleicht Schlegel kurz vor ihm), zitiert die Sarazenentheorie, die Goethe und Herder schon beschäftigt hatte, und wendet sich dann Tacitus zu, der gewusst habe, dass die Germanen ihre Götter unter Bäumen angebetet hätten.36 Der Kreis schließt sich. Die Gotik könnte, so Schelling, aus einem natürlichen Verhältnis des germanischen Menschen zu seiner Umwelt entstanden und dann nach England transportiert worden sein.37 Die Verbindung von Gotik und deutschem Wald ist SQ herbeigeholt wie naheliegend für die Zeit um 1800. Seit dem frühen 16. Jahrhundert gibt es in Deutschland tatsächlich eine lebhafte Tacitus-Rezeption,38 in der die Germanen mit einer imaginierten Waldheimat verschmelzen, der deutsche Wald »zum natürlichen Protagonisten des deutschen Unterschieds« avanciert und immer weniger Schauplatz, dafür immer mehr Thema wird.39 Noch einflussreicher als Schelling ist Herders Engagement für eine »deutsche Kultur«. Herder setzt sich als Vertreter eines Volksgedächtnisses und als Begründer des Begriffs der Nation für eine Kultur ein, die organisch in der Landschaft, den Bräuchen und den Gemeinschaften der heimischen Traditionen wurzelt und in volkstümlichen Künsten wie Folklore, Balladen, Volksliedern, Märchen und Volksdichtung Ausdruck findet.40 Herder unterstreicht nun die 35

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Goethe 1965, S. 19 f. Schelling 1907, Bd. III, S. 231-233. Ib. Vgl. Shama 1996, besonders das Kapitel »Der Holzweg«, S. 91-152. Ib., S. 116 f. Das Thema umfasst die gesamte Tacitus-Rezeption im deutschsprachigen Raum, die sich besonders bis zum dreißigjährigen Krieg, der 1648 zu Ende ging und den Traum von Deutschland in Scherben zurückließ. Aber sie wird am Ende des 17. Jahrhunderts wieder aufgegriffen. Auf die Verflechtungen zwischen germanischer Ideologie, politischer Konzeption des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und Humanismusrezeption geht Simon Shama ausfuhrlich ein. (S. 118-137) Vgl. Herder 1877-1913, Herder 1994, Herder 1773, Herder 1763/1765, Herder 1774, Herder 1958 und Herder 1978. Vgl. dazu auch Herders Schriften Uber die neuen deutsche Literatur [1767], Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1772]; Auch eine Philosophie der Geschichte tpr Bildung der Menschheit [1774]; Ideen %ur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1784-91].

Bedeutung des Mittelalters, das er als heilig, gemeinschaftlich gesinnt und heldisch darstellt. In seiner Vorstellung verschmilzt die mittelalterliche Welt, »von Minnesängern bevölkert«, mit der unverdorbenen einheimischen Landschaft.41 Damit verbundene Themen wie der Klopstocksche Hainbund, das Thema der Eiche als Sinnbild von Germania, der verdorrte Baum Barbarossas, der Eichenfetischismus, in dem Eichenwälder zu patriotischen Tempeln werden,42 die Anbetung der Tanne und des Tannenwaldes, der vielfach verwendete Begriff des »Tabernakel«, der schon im frühen 16. Jahrhundert sowohl »Laub« und »Blattwerk«, als auch »heilige Stätte« bedeutet43 haben, um nur einige Themen zu erwähnen, bilden geheime Verbindungen zur Konstruktion einer deutseben Gotik. Die Waldromantik geht mit der Sehnsucht nach nationaler Einheit und der Konstruktion einer zeitgenössischen, romantischen Bedeutung der Gotik eine tiefe Verbindung ein und taucht als prozesshaftes Bild »organischer Geschichte« in der Musiktheorie des 19. Jahrhunderts ebenso auf wie in der literarischen Überhöhung einer deutschen Vergangenheit. 1823, zur 300-Jahr-Feier von Ulrich von Huttens Ritteraufstand, malt Caspar David Friedrich ein Gemälde, in dem Religion und Patriotismus, Altertum und Zukunft, schließlich Germania selbst, vereint sind: U/ricb von Huttens Grab [Abb. 3]. Eine Gestalt in Hosen des 19. Jahrhunderts, mit altdeutschem Hut und typischem Renaissancemantel beugt sich über Huttens Grab. Die historisch hybride Aufmachung soll an die Freiwilligen der Befreiungskriege gegen Napoleon erinnern — bewusst archaisch, »als würde das Gewebe der älteren Generation patriotischer Humanisten aus dieser Zeit von Celtis und Luther auf ihre geistigen Nachfahren buchstäblich abfärben«.44 Die modernen Helden der Befreiungskriege liegen rings um Huttens Grab begraben — diese überatores Germaniae werden mit Hermann in Verbindung gebracht, der wiederum das historische Vorbild von Hutten gewesen war. Als ob der Zusammenhang von alter und moderner Germania nicht deutlich genug wäre, sprießt eine junge deutsche Eiche aus dem Grab und eine hohe Tanne bildet den Baldachin über dem Grabmal.45 Vollendet wird das Bild von geistiger Auferstehung der deutschen Nation durch den sakralen Raum, in dem die Szenerie angesiedelt ist: In einer überwucherten gotischen Ruine verschmelzen symbolhaft Wald und gotische Kathedrale. Und Caspar David Friedrich hatte Vorbilder für solcherlei Ikonographie. Acht Jahre zuvor - 1815 - hat Karl Friedrich Schinkel sein Gemälde Mitte/a/ter/icbe Stadt am F/uß [Abb. 4] gemalt, eines von mehreren mit einer imaginierten Gotik im Zentrum. Entstanden während der patriotischen Freiheitskriege, in denen Preußen die napoleonische Besatzung abzuschütteln versucht hatte, ist nationale Identität auch hier ein zentrales Thema der Malerei. Vor einem tiefgrauen, verhangenen Gewitterhimmel leuchtet die Westfassade eines gotischen Domes. Der nördliche Fassadenturm ist noch unvollendet, aber auf dem Baugerüst weht die weiße Fahne mit Reichsadler und bildet angestrahlt den Mittelpunkt des Gemäldes. Schinkel greift in seiner Bildersprache den damals noch unvollendeten Kölner Dom äußerst detailreich auf und vollzieht auf eigene Art, in einem imaginierten historisierten Raum, die hoch41

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»So war es kaum verwunderlich, dass diese mittelalterlichen Inspirationen die früheste Generation der deutschen Romantiker in die Wälder ziehen ließ.« Shama 1996, S. 120. Vgl. Hürlimann 1987. Oettinger 1962. Shama 1996, S. 120. Vgl. dazu ib., S. 126.

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gotische Baukunst nach. Dass die Gotik mit dem festlichen Einzug eines Herrschers in seine Residenz verknüpft ist, unterstützt die Bedeutung mittelalterlicher Architektur für die zeitgenössische Identitätsbildung — es ist naheliegend, in dieser Szene ein Gleichnis auf die siegreiche Rückkehr des preußischen Königs Wilhelm III. aus den Napoleonischen Kriegen zu sehen. Und in Schinkels Mittelaltertraum wird die imaginierte Gotik zum Symbol deutscher Einheit, von wogenden Eichenwäldern umschlossen, während sich ein Regenbogen über der Szenerie wölbt und den Beginn einer neuen Zeit ankündigt.

Das Interesse am Mittelalter um 1800 Es ist ein ebenso historischer Gemeinplatz wie ein großes Missverständnis, dass die deutschen Frühromantiker in der Zeit zwischen 1790 und dem Einstellen der Zeitschrift Athäneum 1801 das »finstere Mittelalter« wiederentdeckt und in ein Sehnsuchtsobjekt ersten Ranges verwandelt hätten. Wilhelm Heinrich Wackenroders Her%ensergießungen eines kunstäebenden Klosterbruders von 1797, Ludwig Tiecks Fran% Sternbaids Wanderungen voix 1798 und Novalis' programmatische Schrift Die Christenheit oder Europa von 1799 gelten hierbei als Ausgangspunkte der Mittelalterbegeisterung in Deutschland. Die Fragen, wie viel Mittelalter jedoch tatsächlich in diesen Texten steckt und welche Interessen sich hinter der Konstruktion frühromantischer Mittelalterrezeption verbergen, können durch eine gründliche Lektüre der Texte beantwortet werden. Im Folgenden werden zunächst grundlegende Beobachtungen zur Situation um 1800 zusammengetragen, die schließlich helfen können, den Gemeinplatz als Konstruktion zu durchschauen. Dass im 19. Jahrhundert die Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur und Kultur in Frankreich, England und Deutschland Hochkonjunktur hat, kann niemand bezweifeln. So tragen in England beispielsweise die Gedichte und Novellen von Sir Walter Scott wesentlich dazu bei, das Mittelalter »pleasant and attractive« erscheinen zu lassen.46 Scott, der sämtliche verfügbare Literatur von Geoffrey Chaucer studiert hatte,47 wird für seine historische Erzählweise und korrekte Darstellung 1834 von dem Kritiker und Historiker Thierry gelobt: »Everything peculiar to the time and place, the exterior of men, the aspect of the country and of the habitations, costumes, and manners, are described with the most minute truthfulness.«4®

Auch die Betonung einer Differenz zwischen ancient times und moderntimes,;die die Mittelalterromane Scotts durchzieht, wird von den zeitgenössischen Kritikern hervorgehoben. Im Bewusstsein fortschreitender Geschichte, die zur Verfeinerung der Sitten und Vertiefung des Denkens führt, finden die meisten Romane Scotts statt »in

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»He took the Middle Ages from the misty, murky and uncomfortable past and peopled them with honest, human characters, who seemed life-like and understandable. He took away the heroic qualities of Fingal and substituted more everyday characteristics. He made history a popular subject, and what is more, a readable one. « Addison 1967, S. 54. Vgl. Mitchell 1987, besonders S. 1-39: »Scott's Knowledge of Medieval Literature«. Thierry 1978, S. 123.

a time of disorder just before the emergence of a new order, and they are typically elegiac, mourning what is about to be lost while announcing what is to come.«49 In Frankreich bewegen drei Bücher während der napoleonischen Zeit das öffentliche Bewusstsein derart, dass mit der Restauration auch hier eine Mittelalterbegeisterung um sich greift, die später Victor Hugo in seinem Notre-Dame de Paris so meisterhaft ausgestalten wird. Dabei handelt es sich zum einen um das 1802 veröffentlichte Werk Le Génie du Christianisme von François René Vicomte de Chateaubriand, eine Apotheose der katholischen Kirche, die die Schönheit und Inspiration des Christentums — wie sie in gotischen Kathedralen und im Rittertum deutlich werden - gegen den »gefährlichen Einfluss« von Voltaire und anderen Aufklärern ausspielt.50 Das zweite Werk, das in Frankreich die Wahrnehmung des Mittelalters schärft, ist De /'A/kmagne von Madame de Staël.51 Ihr Hauptanliegen ist die Beschreibung der Bedeutung des Mittelalters für die deutsche Gegenwartsliteratur und ihre Hauptthese ist die Zweiteilung der europäischen Temperamente: »Si l'on n'admet pas que la paganisme et le Christianisme, le Nord et le Midi, l'antiquité et le moyen âge, la chevalerie et les institutions grecques et romaines, se sont partagé l'empire de la littérature, l'on ne pas viendra jamais à juger sous un point de vue philosophique le goût antique et le goût moderne.«5^

Das Buch erscheint 1810 in Paris, wird zunächst konfisziert und 1813 in London erneut veröffentlicht. Aufschlussreich, wenn auch wenig beachtet, ist ein anderer Text von Madame de Staël mit dem Titel De La Littérature Considérée Dans Ses Rapports Avec Les Institutions Soaa/es aus dem Jahr 1800, in dem sie ihre späteren Thesen vorbereitet. Bereits hier wird das Mittelalter in die Kontinuität europäischer Kultur gestellt und der Bruch mit der Vergangenheit an der Schwelle zur Renaissance relativiert.53 Das dritte jener bewusstseinsprägenden Bücher ist die Kunstgeschichte des französischen Antiquars Seroux d' Agincourt, die erste Geschichte ausschließlich mittelalterlicher Kunst.54 Ihr Einfluss auf die Öffentlichkeit ist zwar weniger spektakulär als der Einfluss von Victor Hugo und auch Madame de Staël, aber wenn der Einfluss auch weniger sichtbar ist, so ist er doch fühlbar. Agincourt, der sein kunsthistorisches Projekt bereits Ende des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, die Arbeit jedoch wegen der Französischen Revolution unterbrechen und für den ersten Erscheinungstermin des ersten von sechs Bänden bis 1811 warten musste, behandelt die Kunst im Zeitraum zwischen dem 4. und dem 16. Jahrhundert. Er spricht dabei nicht von Renaissance, sondern von Renouvellement. Ausgangspunkt seiner Untersuchung war, die »Leere« zwischen Antike und neuzeitlicher Kunst zu füllen, ohne den ästhetischen 49 50 51

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Cottom 1985, S. 128. Vgl. dazu Shaw 1996, besonders die Essays von Ina Ferris, Rohan Maitzen und Marilyn Orr. »On ne pouvait entrer dans une église gothique sans épouver une sorte de frissonnement et un sentiment vague de la Divinité. « Chateaubriand 1802, S. 366. Madame de Staël war während der Diktatur Napoleons ins Exil gegangen und hatte ihre Zeit mit Reisen durch Deutschland und Österreich verbracht. Sie hatte verschiedene Romantiker kennen gelernt, unter denen August Wilhelm Schlegel ihr Freund und Reisegefährte wurde, und so ist ihr Verständnis von deutschsprachiger Literatur primär »romantisch« beeinflusst und durch die ästhetische Überhöhung der romantischen Schule geprägt. Staël 1810, Teil II, S. 12. In: De Staël-Holstein 1836. Seroux d' Agincourt 1823.

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Wert des Forschungsgegenstandes hervorzuheben,55 aber die öffentliche Reaktion ging in eine andere Richtung: Die Fülle an Material legte den Grundstein für eine Anerkennung mittelalterlicher Kunst um ihrer selbst willen.56 In seiner H/stein du Romanticism von 1868 beschreibt Théophile Gautier rückblickend den Einfluss der Texte von Chateaubriand und Madame de Staël und sieht in ihnen das Bemühen, dem Klassizismus eines Louis XIV. mit Hilfe der Wiederbelebung des Mittelalters ein neues Lebensgefühl entgegenzusetzen. Gemeinsam mit den französischen Übersetzungen der Werke von Sir Walter Scott, besonders der Waveriy Novels, die ab 1816 in Frankreich erscheinen, tragen Chateaubriands und Madame de Staëls Bücher dazu bei, die französische Gesellschaft »moyenâgeuse« zu machen,57 bevor ein Werk wie Notre-Dame de Paris von Victor Hugo 1832 das Mittelalter endgültig popularisieren wird. Aber diese herausragenden Beispiele für eine aktive Bewertung und Zuwendung zum Mittelalter im 19. Jahrhundert greifen auf Rezeptionsstrategien und Traditionen zurück, die vor die Jahrhundertschwelle zurückreichen. Drei Aspekte der MitteJa/ter-Re^eption vor 1800 Horace Walpoles 1764 erschienene, und im 19. Jahrhundert viel rezipierte »gotische Geschichte« The Castk of Otranto, die Romane von Sir Walter Scott, die Texte der Frühromantiker, die Schriften von Chateaubriand und die Texte Madame de Staëls sind grundlegend für die Mittelalterrezeption ab 1800, die auch Heinrich von Kleist anlässlich eines Bibliotheksbesuchs beschreibt: »Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts die Rittergeschichten m i t Gespenstern, links o h n e Gespenster, nach Belieben.«58 Aber ganz so schaurig und öffentlichkeitswirksam war die literarische Beschäftigung mit dem Mittelalter keineswegs, so neu war sie auch nicht: Denn die literarischen Strömungen können ja um 1800 auf die — wenn auch einem kleinen Kreis vorbehaltene — Mittelalterrezeption der Aufklärung zurückgreifen. Mit bemerkenswerten Rechtfertigungsstrategien feiert sich der europäische Adel als Nachfolger der mittelalterlichen Ritterschicht und Maximilian I. als den letzten Ritter, wobei tatsächlich die Höfe der Mechthild von Rottenburg, des Kaisers Maximilian I. und des Herzogs Albrecht IV. von Bayern-München als Zentren einer eigenen spätromantischen Ritterromantik stilisiert werden.59 Historisch betrachtet ist der Ritterbegriff bereits im Hochmittelalter ein ideologischer terminus, der soziale Gegensätze unter einer gemeinsamen Idee zuzudecken sucht.60 So war der Begriff bereits hier ein kultureller, der »zur Selbstbeschreibung eines Standes dient, der sich aufgrund des Verlustes seiner realen Funktionen immer mehr durch Bezug auf eine 55

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»L'Histoire générale, et la Philosophie m'ont semblé réclamer contre cet oubli, et vouloir que le vide fut rempli«, Seroux d'Agincourt 1823, Discours préliminaire, V. Haskell 1993, S. 196. Addison 1967, S. 111. Vgl. dazu Maigron 1898. Kleist 1977, Bd. 2, S. 563. Diese Höfe wurden zudem eigenartigerweise in der Forschung als »romantisch« bezeichnet, was die intensivierende Wiederaufnahme und verstärkte Auseinandersetzung mit dem höfischen Roman im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert in eine historische Parallele zur romantischen Rezeption des Mittelalters im 19. Jahrhundert setzt. Vgl. dazu Nicolai 1963. Kritisch dazu: Wenzel 1986. Vgl. Borst 1976.

Ideologie rechtfertigen muß.«61 Diese grundlegende Situation des Adels verschärft sich im Anden régime. Die Tendenz zur Zentralisierung von Herrschaft findet im französischen Absolutismus einen Höhepunkt, und auch hier dient die Berufung auf höfische Ethik dazu, eine privilegierte Stellung zu rechtfertigen.62 Äußerliches Merkmal dieser Traditionslinie ist die Rezeption und Neuinterpretation mittelalterlicher Baukunst an englischen und deutschen Höfen im ausgehenden 18. Jahrhundert, später gefolgt von der Hinwendung zur mittelalterlichen Kunst in Frankreich. Als prominentes Beispiel ist hier Horace Walpoles in der Nähe von Twickenham gelegenes Anwesen Strawberry fJ/Y46ì das zwischen 1747 und 1777 zu einem neugotischen, burgähnlichen Gebäude umgebaut wurde, zu nennen. Ferner ist das Gotische Haus hervorzuheben, das für den englischen Park in Wörlitz unter Leitung des Baumeister Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorf für Fürst Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau gebaut wurde (Baubeginn 1773, Erweiterungen bis 1813). Bedeutsam sind schließlich auch die für den Landgrafen Wilhelm EX. auf der Wilhelmshöhe bei Kassel zwischen 1793 und 1800 errichtete Löwenburg und die bereits als malerische Ruine 1797 von Christian Wilhelm Tischbein geplante und gebaute A/te Burg Fürstenstein in Schlesien, bezeichnenderweise an Stelle einiger mittelalterlicher Mauerreste. Schließlich müssen die Burgen des deutschen Ordens in Preußen genannt werden, die die Verwaltung Preußens Ende des 18. Jahrhunderts abreißen oder zumindest einer anderen Verwendung zufuhren wollte. Die Leiter der preußischen Bauverwaltung, David und Friedrich Gilly, bereisen 1794 im Auftrag Friedrich Wilhelms II. die Burgen, um die Wirtschaftlichkeit einer anderen Nutzung auszurechnen und Zeichnungen anzufertigen.64 Der öffentliche Widerstand, der sich bald gegen eine Fremdnutzung regt und schließlich ab 1815 zur ersten Restaurierung mittelalterlicher Burgen auf preußischem Territorium führte, ist ein sprechendes Beispiel für die neue Wahrnehmung und Deutung von Bauwerken aus mittelalterlicher Zeit. Ein weiterer Aspekt, der die Beschäftigung mit dem Mittelalter vor 1800 betrifft, gehört im eigentlichen Sinne nicht der Rezeption, sondern der Tradition an: das Nachleben mittelalterlicher Stoffe, das sich durch den Renaissancehumanismus zieht und in Kontinuität die Jahrhunderte durchwandert. So werden jene Stoffe zum Beispiel »in ihren Prosabearbeitungen und sprachlich verjüngt auf der Ebene trivialer Lesestoffe« weitergetragen.65 Das literarische Interesse am Rittertum und seinen Idealen bleibt bestehen, die Ritterromane dienen in der frühen Neuzeit als Unterhaltungslektüre, abgewertet in ihrem literarischen Verdienst durch die Forderungen klassizistischer Literaturästhetik. Als wichtiges Genre spielen sogenannte »Volksbücher«66 im Leben der Unterschichten im frühneuzeitlichen Europa eine Rolle, und neben Sage und Märchen haben trivialisierte mittelalterliche Stoffe darin eine herausragende Position. Sie alle garantieren eine erstaunliche Stoffkontinuität. Natürlich

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Reisenleitner 1992, S. 74. Vgl. dazu Hohendahl/Lützeler 1979. Horace Walpole legt zudem 1764 mit dem Roman Tie Cas/k of O/ran/o: A Grundlage für das literarische Genre der go/iic novel Vgl. dazu Miller 1986. Ich danke Prof. Dr. Jürgen Sarnowsky für diesen Hinweis. Reisenleitner 1992, S. 76. Vgl. Bollenbeck 1979.

Go/bic Story die

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dominieren hier die Ritter als volkstümliche Helden, 67 im Besonderen die Herrschergestalten der ritterlichen Tradition, wie zum Beispiel Kaiser Barbarossa oder Friedrich II.68 Mit der englischen Vorliebe des 18. Jahrhunderts für Schauerromane, den gothic novels, zeigt sich zudem das Phänomen, dass in der Szenerie von Burg und Kathedrale »die archivarisch-historische Wiederentdeckung ohne Bruch in eine ästhetisch motivierte relecture über [ging], die bereits von romantischen Illusionen getragen war.« 69 Die gothic nove,/erreicht schließlich auch Deutschland, wie neben anderen Tiecks und Wackenroders Übersetzungen belegen, die der Verleger Carl August Nicolai ab 1800 herausgibt. Schließlich sind gelehrte Bemühungen der Aufklärung zu nennen.70 In Frankreich, Deutschland und England setzt mit der Aufklärung auch eine vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Mittelalter ein, die Teil der enzyklopädischen und antiquarisch-sammlerischen Anstrengungen in diesen drei Ländern ist. Hierbei spielt das Entstehen der bürgerlichen Wissenschaft eine ebenso große Rolle wie der vermehrte Bildungsdrang bürgerlicher Schichten. So veröffentlicht bereits 1679 Hoffmann von Hoffmannswaldau einige Minnelieder, ihm folgen Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger mit ihren MinnesängerAusgaben und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der 1764 einige »Gedichte nach Minnesängern« der Öffentlichkeit übergibt.71 Außerdem erscheinen zwischen 1760 und 1800 etwa siebzig Editionen und Teileditionen mittelhoch- und mittelniederdeutscher Dichtungen. Unter ihnen befinden sich das Nibelungenlieaf72 Hartmanns Iwetn und Armer Heinrieb, Wolframs Parava/ und Willehalm, Gottfrieds Tristan, Heinrichs von Veldeke Eneit, der Renner von Hugo von Trimberg, Freidanks Bescheidenheit und Boners Edelstein, Strickers Karl, die Dichtungen Konrads von Würzburg, Flore und Blancheßur, ein Winterlied Neidharts, ein Märe und Fastnachtspiele Rosenplüts, Johannes Rothes Gedicht Von der Keuschheit und das Bihtebuoch:73 Hinzu kommen jene Sprachdenkmäler, die zwar nicht ediert, wohl aber übersetzt, bearbeitet, referiert oder zumindest kurz beschrieben werden, so Eilharts Tristrant, Ulrichs von Zatzikhoven Lancelot, Wirnts von Grafenberg Wigalois, eine Vielzahl von Dichtungen aus dem Bereich der Dietrich-Epik, geistliche Texte wie der Belial, Diefiinßphn Zeichen desJüngsten Gerichts, das Passional der Heiligen, dazu auch Historisches wie Gottfried Hagens Chronik von Köln oder die Preußische Chronik des Nikolaus von Jeroschin. Begleitet werden diese Editionen durch ein Wörterbuch zur »altdeutschen Literatur« und einige kleine lexikalische Untersuchungen, es gibt erste Fachzeitschriften und ein erstes Lehrbuch, 74 das den Zugang zu Sprache und Dichtung des Mittelalters, des »Altdeutschen« zu erleichtern sucht.75 »Altdeutsch« ist im 18. und 19. Jahrhundert ein vager

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Vgl. Burke 1981. Vgl. Graus 1975. Grimm 1978, S. 136. Vgl. z. B. Schmid 1979. Vgl. Reisenleitner, 1992, S. 82. Myllers und Bodmers Bemühungen um das Nibelungenlied (1757 und 1782). Vgl. dazu Ehrismann 1975. Neumann 1986, S. 108. Willenbücher 1789. Ib.

Begriff, erst heute umfasst ei die Zeit zwischen dem 8. und dem Beginn des 11. Jahrhundert. Mittelaltertezeption der Frühiomantik? Die Ansicht, die deutsche Frühromantik hätte ihre Wurzeln in der Wiedererweckung eines »deutschen« Mittelalters, ist ein Missverständnis mit weitreichenden Folgen. Nicht nür die nationalsozialistische Geschichtsschreibung wird dieses Missverständnis fortschreiben und im eigenen Interesse ausbauen, auch die Geschichtsschreibung nach 1945 setzt diese Ansicht - wenn auch modifiziert - fort. Das Missverständnis beginnt bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Heinrich Heine spricht in seiner 1836 erschienenen polemischen Schrift Die romantisch Scbu/e von der »Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters.«76 Mit diesem Begriff wendet er sich einer Gruppe von Autoren und einer Epoche - der Romantik - zu, der er nicht zuletzt seinen eigenen ironischen Umgang mit der Literatur- und Kulturgeschichte Europas verdankt. Heines Hinweis auf die »kristkatholische Weltansicht« dieser Autoren, die untrennbar mit der Poesie des Mittelalters verbunden sei, ist hierbei ebenso aufschlussreich wie der Hinweis auf die »Wiedereinführung jener katholisch-feudalistischen Denkweise«, welche dem politischen Zustand Deutschlands »besonders günstig« sei.77 Offener nimmt Heine das terminologisch nicht gefestigte Schlagwort »Mittelalter« in einem unveröffentlichten Gedicht mit dem sprechenden Titel »Mittelalterliche Rohheit« wieder auf:78 Weicht dem Aufschwung schöner Künste: Instrument moderner Bildung Ist vorzüglich das Klavier. Auch die Eisenbahnen wirken Heilsam aufs Familienleben Sintemal sie uns erleichtern Die Entfernung von der Sippschaft. Wie bedaur' ich, daß die Darre Meines Rückgratmarks mich hindert, Lange Zeit noch zu verweilen In dergleichen Fortschrittswelt!

Heine 1979, Bd. 8/1, S. 126. Hier offenbart sich Heines Geschichtsrezeption und die Zielrichtung seines Angriffs, die tatsächlich mehr über seinen eigenen ästhetischen Standort als über das Wesen romantischer Poesie aussagt. Heine identifiziert die katholische Kirche und die Aristokratie des halbfeudalen Deutschland des 19. Jahrhunderts mit einer geschichtlichen Konstellation von Adel und Kirche - mit der mittelalterlichen Feudalzeit und ihrem Lehnswesen. Auf ihr lastet die Tradition eines Verdiktes, das die Aufklärung durchzieht und als Gemeinplatz die Überhöhung des neuzeitlichen Menschen erreichen sollte. Vgl. Schmid 1979, S. 6. Heine 1986.

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Die Rede von der »mittelalterlichen Rohheit«, die hier das alte Verdikt vom »barbarischen Mittelalter« aufgreift und spätere Pejorative vorwegnimmt, ist eine Abrechnung mit dem deutschen Bürgertum seiner Zeit und bietet, in seiner Argumentationsweise, das Modell einer Ideologiekritik. Das Gedicht, das zwischen 1852 und 1856 entsteht, kann bereits mit den selbstaufgestellten Prämissen spielen und sie mit jovialer Geste in den Raum werfen. Gleichzeitig steht Heine eine Literaturkritik zur Seite, die an einer begrifflichen Verdichtung interessiert ist. Heines Rede von der »Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters« erweist sich als Polemik ersten Grades. WiJAe/m Heinrich

Wackenroder

Mit seinen Schriften ist Wilhelm Heinrich Wackenroder der einflussreichste »Theoretiker« der Romantik. In seinen Reiseberichten an die Eltern beschreibt er beispielsweise die altfränkische Welt Nürnbergs und konstruiert hier einen Sehnsuchtspunkt der deutschen Romantik. Nürnberg wird als altdeutsches Kleinod auch in Tiecks Franç Sternba/ds Wanderungen und später in den ausgreifenden Debatten um die TannÁzÁ'/í/--Legende eine wichtige Rolle spielen. Tieck erwähnt jedoch mit aufklärerischnüchternem Blick die Zurückgebliebenheit der Region und wendet sich in seinen Her^ensergießungen und in den Phantasien eindeutig nicht dem Mittelalter zu. Wackenroders Schriften behandeln, angeregt durch Studien der Kunstgeschichte bei dem Göttinger Kunsthistoriker und Leiter des Kupferstichkabinetts Johann Dominicus Fiorillo,79 ausschließlich die italienische Renaissance — der Begriff kommt freilich vor Jacob Burckhardt nicht vor —, sie widmen sich Künsdern wie Raffael, Michelangelo, Leonardo, Piero di Cosimo, Francesco Francia und auch einer Vielzahl seinerzeit kaum bekannter Künsder wie Cimabue, Beccafumi, Contucci, Polidoro da Caravaggio, Mariotto Albertineiii, Panneggiano, Lippo Dalmasio und Spinello.80 Das Wort »katholisch« fällt in keinem der Aufsätze, es taucht zuerst bei Tieck auf, der nach Wackenroders Tod die Herausgabe von dessen Werken übernimmt. Aber auch der Begriff »Mittelalter« begegnet bei Wackenroder nur am Rand. 8 ! ihm geht es um andere Fragen. So nehmen sich Wackenroders Texte auf den ersten Blick als »Dokumente vollendeter Renaissance-Rezeption« aus, die mit ihrem angedeuteten Mystizismus auf die spätere Verschmelzung von Mittelalterimagination und Mystik hindeuten.82 Aber Wackenroders Bezug zum »Altdeutschen« ist bedeutsam:

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Vgl. dazu Wackenroder 1991 /I, S. 291 ff. und S. 297 ff.

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Wackenroder, HerqertsergießuiigeH eines Munstfiebenden KJosterbrxders, darin: »Sehnsucht nach Italien«, »Der merkwürdige Tod des zu seiner Zeit weit berühmten alten Mahlers Francesco Francia, des Ersten aus der Lombardischen Schule«, »Ein Brief des jungen Florentinischen Mahlers Antonio an seinen Freunde Jacobo in Rom«, »Von den Seltsamkeiten des alten Mahlers, Piero di Cosimo, aus der Florentinischen Schule«, »Die Größe des Michel Angelo Buonarotti«, und andere, in: Wackenroder 1991/1, S. 51-145. Vgl. Vietta 1994. Eine Ausnahme macht der Roman Das KJoster Neitey. Eine Geschichte aus dem Mittetatter, die 1796 erschien. Hierbei handelt es sich um eine Übersetzung des englischen Romans Net/ey Abbey von Richard Warner und vereint in sich Facetten der Unterhaltungsliteratur um 1790. Der Roman ist Rittergeschichte und Schauerroman, Gespenstergeschichte und Familiengemälde in einem. Der Untertitel »Eine Geschichte aus dem Mittelalter« ist hierbei das Wackenrodersche Äquivalent für »A Gothic Story«. Vgl. Wackenroder 1991/2, S. 301-401. Beutin nennt dies »mittelalterliche Zentralphantasien«: Beutin 1996, S. 50.

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Wackentoder beginnt sich ab 1792, für ältere deutsche Literatur zu interessieren. So lässt er sich auf seiner Nürnberg-Reise 1793 den Straßburger Druck des Dietrich von Bern (1577) bei dem Gelehrten Georg Wolfgang Panzer, dem Herausgeber der Annakn a'erä/terert deutschen Literatur, kopieren, studiert zwischen 1795 und 1799 sogenannte mittelalterliche Volksbücher und Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts und erarbeitet sich 1799/1800 die Grundlagen zur Beschäftigung mit der Literatur des deutschen Mittelalters. Es gelingt Wackenroder schließlich, Tieck zur Beschäftigung mit »altdeutscher Literatur« zu bewegen. Ludwig Tieck Auch Ludwig Tieck erwähnt den Terminus »Mittelalter« kaum, spricht mehr vom »Altdeutschen«, vom »schwäbischen Zeitalter« und von »altfränkischer Zeit«. Einmal jedoch fällt der Begriff Mittelalter an zentraler Stelle, und zwar in einer Auseinandersetzung mit Wackenroder: Letzterer ist 1792 Schüler an der Realschule in Berlin, wo er bei Erduin Julius Koch 83 mit der älteren deutschen Literatur bekannt gemacht wird. Wackenroder berichtet Tieck begeistert von »mancher sehr interessanten Bekanntschaft mit altdeutschen Dichtern,« 84 nachdem er zwei Wochen zuvor Tieck »Proben eines altdeutschen Gedichtes« vorgelegt hatte. 85 Wackenroder führt aus, er habe gesehen, dass das Studium der »altdeutschen Dichter, mit einigem Geist betrieben, sehr viel Anziehendes habe.« 86 Tieck, der zu jenem Zeitpunkt mit anderem beschäftigt ist, warnt jedoch: »Vertiefe Dich übrigens ja nicht zu sehr in die Poesie des Mittelalters, es ist so ein erstaunliches Feld von Schönheit vor uns, ganz Europa und Asien und vorzüglich das alte Griechenland und das neue England, daß ich fast verzweifle, mich je an diese Nachklänge der Provencalen zu wagen. Vergiss ja über das Angenehme das wahre Schöne nicht. So viel ich die Minnesänger kenne, herrscht auch eine erstaunliche Einförmigkeit in allen ihren Ideen, es ist überhaupt schon gar keine Empfehlung für den poetischen Geist des Zeitalters, daß es nur diese eine Art von Gedichten gab, nur diesen Zirkel von Empfindungen, in denen sich jeder wieder mit mehr oder weniger Glück herumdrehte.«8?

Tieck steht hier für den umfassenden Rezeptionsanspruch der Frühromantik, der sich gegen eine zu enge Sichtweise wendet. Es ist aufschlussreich, dass Tieck bei Wackenioders Stichwort »altdeutsche Dichter« ausschließlich an Minnesang denken muss, und er gibt mit seinem Urteil das allgemeine Verdikt der kulturellen Öffentlichkeit seiner Zeit wieder: Das Aufklärungslager sieht im Minnesang ein »ewiges Ei-

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Erduin Julius Kochs Interesse an der älteren deutschen Sprache und Literatur war durch Christoph Heinrich Myller geweckt worden, der die früheste Sammlung mittelhochdeutscher Gedichte herausgab. Vgl. dazu Wackenroder 1991/2, S. 507 und Myller 1784 und Myller 1785. Wackenroder an Tieck, 11. Dezember 1792, in: Wackenroder 1991/2, S. 97. Wackenroder an Tieck, 27. November 1792, ib. S. 90. »Schon Sprache, Etymologie, und Wortverwandtschaften, (besonders auch das Wohlklingende der alten Ostfränkischen Sprache) machen das Lesen jener alten Ueberbleibsel interessant. Aber auch davon abstrahirt, findet man viel Genie und poetischen Geist darin. « Wackenroder an Tieck, 11. Dezember 1792, ib. S. 97. Tieck an Wackenroder, zwischen dem 20. Dezember 1792 und dem 7. Januar 1793, ib., S. 107.

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nerley« und eine »Armuth des Geistes«.88 Erst drei Jahre später beginnt Tieck mit seinen Studien zur altdeutschen Literatur, beschäftigt sich mit Volksbüchern und mit Haris Sachs, um schließlich im Jenaer Kreis zu einem germanistischen Studium zu finden, das ihn zum führenden Fachvertreter und zu einem der ersten Lehrstuhlanwärter der Germanistik machen wird. In Tiecks einflussreichem Roman Fran% Stembaids Wanderungen von 1798 wird nicht das Mittelalter, auch kein »Butzenscheibenzauber von lokalpatriotischer Zeichnung«,89 sondern eine altdeutsche Vergangenheit beschworen: mehr Typus wahrhaftigen Lebens als Epoche, mehr poetologisches als historisierendes Potential. Gleichzeitig kann man hier schon eine Akzentverschiebung beobachten: Für Italien werden bereits jene Charakteristika der - nicht so benannten — Renaissance reklamiert, während dieselbe Zeit nördlich der Alpen unter dem Begriff Mittelalter firmiert.90 Tieck betrachtet den Zeitraum »altdeutsch« wie einen abendländischen Mythos, dem das Wunder vergangener Jahrhunderte entspringt, in Abwesenheit der Kategorie des Historischen ebenso wie einer exakten Chronologie. Friedrich Rumohr schreibt 1812, zu keiner Zeit sei das »rege Streben, die vaterländische Vorzeit kennen zu lernen, sichtbarer und allgemein verbreiteter gewesen« als im frühen 19. Jahrhundert, überall werde »munter und rüstig Hand ans Werk« gelegt, die so »schmählich verkannte Vorzeit« in ihrer alten, »eigenthümlichen Pracht und Herrlichkeit« wiedererstehen zu lassen.9! Diese Formulierung Rumohrs charakterisiert die Anfänge des Historismus, denen Tiecks Anliegen mit einem ausgefeilten poetologischen Programm nur zum Teil dienen kann. Tiecks Bestrebungen werden in seiner Gescbicbte von den Haimonskindern in ¡¡wawpg a/tfränkiscien Bindern deutlich: »Lieber Leser, Ich weiß nicht, ob dein Gemüt zuweilen so gestimmt ist, daß du dich gern und willig in die Zeit deiner Kindheit zurückversetzest. [...] Von allen Zerstreuungen verlassen, kann man dann zuweilen an alten wunderlichen Zeichnungen oder Holzstichen ein Vergnügen finden

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Zitiert in: Schmid 1979, S. 361. Das Urteil wiederholt sich später in Schillers und Kotzebues Kritik an der Romantik mit dem Diktum vom »Almanach der Sperlinge«: »Wenn die Sperlinge auf dem Dach [...] je auf den Einfall kommen sollten, zu schreiben oder einen »Almanach für Liebe und Freundschaft* herauszugeben, so läßt sich zehn gegen eins wetten, er würde ungefähr ebenso geschaffen sein. Welch eine Armut von Ideen, die diesen >Minneliedern< zum Grupde liegt! Ein Garten, ein Baum, eine Hecke, ein Wald und ein Liedchen; ganz recht! das sind ungefähr die Gegenstände alle, die in dem Kopfe eines Sperlings Platz haben!« Johann Daniel Falk gibt diese Äußerung Schillers aus Anlass des Erscheinens von Tiecks Minneiieder aus dem Schwäbischen ZafadervÀedei. Zitiert in: Borcherdt 1948, S. 619 f. Thalmann 1978, S. 1000. Bei Wackenroder hatten sich symbolisch Dürer und Raffael in einer Traumsequenz die Hand gereicht »Ehrfurchtsvoll ging ich zwischen ihnen durch, und siehe! da standen abgesondert von allen Raphael und Albrecht Dürer Hand in Hand, leibhaftig vor meinen Augen, und sahen in freundlicher Ruhe schweigend ihre beisammenhangenden Gemähide an.« Wackenroder 1991/1, S. 49. Der Aufsatz »Ehrengedächtniß unsers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürer« war 1796 in der Zeitschrift Deu/schhad erschienen, die sich als kämpferisches Forum für liberal-republikanische Ideen verstand und übrigens von dem Musiker und Schriftsteller Johann Friedrich Reichardt herausgegeben wurde.. »Jeder, der Lust und Kraft fühlt, muß unverdrossen in die Tiefen unserer vaterländischen Vorwelt sich begraben und aus versteckten, unbekannten Klüften oder verlassenen Gängen, was edlen oder nützlichen Metalles er findet, Wohlgemuth zu Tage fördern.« Rumohr 1812, S. 224 f.

und sich in ihnen verlieren; man betrachtet dann wohl aufmerksam ein unzusammenhängendes und fast unverständiges Bild, wo vorn eine Ratsversammlung im königlichen Palaste sitzt und man hinten das Meer mit Schiffen und Wolken, ohne alle perspektivische Kunst, wahrnimmt. Möchtest du doch, o mein Lieber, ein solches und kein andres Vergnügen in gegenwärtigen altfränkischen Bildern erwarten, die wir dir jetzt vor die Augen führen w o l l e n . « 9 2

Die »unzusammenhängenden« Bilder und der Mangel an Perspektive entsprechen einem Geschmack, der sich gegen klassische Ideale und Aufklärung wendet und das Zufallige und Unzusammenhängende als ästhetischen Wert favorisiert. Dabei zeigt sich nicht unbedingt eine Einsicht in die spezifischen historischen Ausprägungen der Bildkunst des 13., 14. oder des 15. Jahrhunderts, es geht um das »Vergnügen« am Mittelalterlichen, um das von »der Gegenwart Abgehobene«, das »Verformen der Welt«.93 Die Überbetonung des Volkstümlichen im Werk der Frühromantiker ist eine nachträgliche Konstruktion der Rezeption. Neben dem Begriff des »Altdeutschen« fuhrt Tieck auch den Begriff der »nordischen Natur« weiter, der bereits bei Wilhelm Heinse zu lesen war. In Fran% S ternbalds Wanderungen heißt es: »Mein lieber Sternbald, wir sind gewiß nicht für die Bildsäulen, die man jetzt entdeckt hat und immer mehr entdeckt, und aus denen viele, die sich klug dünken, was Sonderliches machen wollen, diese Antiken verstehen wir nicht mehr, unser Fach ist die wairt nordische Natur, je mehr wir diese erreichen, je wahrer und lieblicher wir diese ausdrücken, je mehr sind wir K ü n s t l e r . « ' *

Tieck nimmt Bezug auf die Ausgrabungen Johann Joachim Winckelmanns und auf die Meinung der kulturell interessierten Öffentlichkeit, kein gegenwärtiges Kunstwerk könne auch nur annähernd an die Antike heranreichen. Mit dem Ausdruck »die wahre nordische Natur« setzt eine Betonung des Abendländischen ein — nicht des Germanischen -, die den Eigenwert der Kultur nördlich der Alpen hervorhebt, im Gegensatz zur ausgeschmückten Kultur südlich der Alpen, wie sie in den Hençensergießungen und im Sternba/d ersehnt wird. Madame de Staël greift mit ihrem Konzept von einer Zweiteilung der europäischen Temperamente ebenfalls auf diese Vorstellung zurück. Nova/is Novalis' Abhandlung Die Christenheit oder Eumpa gilt gemeinhin als >Gründungsurkunde< romantischer Mittelalterrezeption. Diese Schrift, die sich als »Hypostasierung eines Mittelalterbildes« und als »Apologie von nicht durchdachten Herrschaftsverhältnissen« lesen lässt,95 war ursprünglich bestimmt fur das Jenaer Athenäum; jenes Organ, das zwischen 1798 und 1801 erscheint und in dem die wichtigsten theoretischen Auseinandersetzungen der Frühromantik stattfinden. Der Text wird jedoch im Athenäum nicht veröffentlicht und auch in den von Schlegel und Tieck herausgegebenen Schriften von Novalis in der ersten, zweiten und dritten Auflage (1802, 1805, 1815) nur in Auszügen zugänglich gemacht. So ist das tatsächliche Rezeptionspotential schwer einzuschätzen. Der Text erscheint 1826 erstmals vollständig, in der Hoch92 93 94 95

Tieck 1978, S. 193. Grunewald 1986, S. 437 und Thalmann 1978, S. 1001. Tieck 1978a, S. 764 [Hervorhebung von ΑΚΗ]. Reisenleitner 1992, S. 85.

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Zeit romantischer, literarischer Mittelalteridealisierung, und wird 1839 von den Vormärzlern Arnold Ruge und Theodor Echtermeyer als »reaktionär-konservativ« gebrandmarkt. 96 Die späte Veröffentlichung, die den Essay seines Entstehungskontextes und seines mentalitätshistorischen Umfeldes beraubt, hat tatsächlich dazu geführt, mehr die katholisierende Tendenz zu entdecken, als auf seine kosmopolitischaufgeklärte Intention zu sehen. Dabei geht es Novalis noch nicht einmal um eine Restauration der römisch-katholischen Kirche, auch nicht um Luthers Begriff der »unsichtbaren Kirche«, sondern um eine verwirklichte civitas dei, die mit charakteristisch frühromantischem Missionseifer imaginiert wird, das Friedensreich Gottes, in dem politisches und religiöses Handeln, politische Implikationen und religiöse Inhalte untrennbar verschmelzen: 97 »Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Erdteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. - Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte ein Oberhaupt, die großen politischen Kräfte. - Eine zahlreiche Zunft, zu der jedermann den Zutritt hatte, stand unmittelbar unter demselben und vollführte seine Winke und strebte mit Eifer, seine wohltätige Macht zu befestigen. Jedes Glied dieser Gesellschaft wurde allenthalben geehrt, und wenn die gemeinen Leute Trost oder Hülfe, Schutz oder Rat bei ihm suchten, und gerne dafür seine mannigfaltigen Bedürfnisse reichlich versorgten, so fand es auch bei den Mächtigeren Schutz, Ansehn und Gehör, und alle pflegten diese auserwählten, mit wunderbaren Kräfte ausgerüsteten Männer, wie Kinder des Himmels, deren Gegenwart und Zuneigung mannigfachen Segen verbreitete.«9®

Tatsächlich raubt die Trennung der religiösen und politischen Schichten der Schrift dem Anliegen Novalis' seine Spitze. Der Weg von der religiösen Legitimierung von Herrschaft zu einer radikalen Verweltlichung behagte Novalis nicht, 99 fur ihn blieben politische und religiöse Fragen eng miteinander verflochten: »Die Christenheit muß wieder lebendig und wirksam werden und sich wieder ein[e] Kirche ohne Rücksicht auf Landesgrän2en bilden.« 100 Weiteren Aufschluss über Novalis' Mittelalterbild bietet der in zeitlicher Nähe entstandene Roman Heinrich von Oferdingen. Die Figur des Heinrich durchläuft einen Weg von Erwartung zur Erfüllung und enthält deutliche Anklänge an die ParzivalGestalt. 101 Der hier realisierte Prozess ist der Weg des naiven zum sentimentalen Menschen, »des reinen Herzens zum Wissen durch unsägliches Leiden und rasdoser Irrfahrt bis zur Erringung des Seins und der Verklärung.« 102 In einer Poetisierung der Welt werden die Zeiten in diesem Roman aufgehoben, ein idealisiertes Mittelalter vorgestellt, das jedoch, unscharf und vage, das Historische zum Mythischen werden lässt und umgekehrt. Und es ist die Sehnsucht, die im Innersten das Bild formt:

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Vgl. Ruge/Echtermeyer 1986. Vgl. Alefeld 1996, S. 131 f. Novalis 1981, S. 526. Vgl. Alefeld 1996, die überlegt, ob »angesichts des von Robespierre sakral inszenierten Tugendkultes eine erfolgreiche semantische Operation« überhaupt stattgefunden hat (ib., S. 131). Vgl. Sautermeister 1989. Novalis 1975, S. 750. Vgl, dazu (J e n prinzipiellen Vorbildcharakter des Parzival für die Gestaltung poetischer Kindheit in Müller 1961. Samuel 1925, S. 266.

»Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst, fern ab liegt mir alle Habsucht aber die blaue Blume sehn' ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken. So ist mir noch nie zumute gewesen: es ist, als hätt' ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert.«

Ideologische Vervinnahmung Einen ersten Hinweis auf die ideologische Vereinnahmung der Frühromantik gibt Goethes »Propyläen-Bundesgenosse« Heinrich Meyer in einem Aufsatz, der von Goethe veranlasst worden war, um sich vom »klosterbruderisirende[n], sternbaldisirende[n] Unwesen« der Frühromantiker ein für alle Mal abzusetzen.104 Meyers Text Neu-deutsche religiöspatriotische Kunst, 1817 erschienen, widmet sich den Hertçensergie/unge» Wackenroders und der nachfolgenden Rezeption und beobachtet a l l g e m e i n einen Zug zur neupatriotischen Richtung. Er bemerkt, wie hier die Wackenroderschen Begriffe »Wiederauflebung« oder »Wiederaufstehung der Kunst« — die sich eindeutig auf die Renaissance beziehen — durch den weitaus undifferenzierteren Begriff des »Mittelalters« ersetzt werden, wodurch der italienische Anteil an der »Wiederauflebung« alter Zeit zugunsten des deutschen getilgt ist. Man könne von den Jahren 1806 oder 1808 an wahrnehmen, so Meyer, »wie sich durch ganz Deutschland, unter den höheren und niederen Classen, die Vorliebe für alles Alt-Nationale, oder als solches Angesehene erhielt, sich erweiterte, ja, während der Epoche feindlichen Drucks und Kränkungen nur desto höher stieg.«105

Die Rede von der »Epoche feindlichen Drucks und Kränkungen« bezieht sich auf die Nationalisierung der Revolution durch Napoleon, seinen Einmarsch in Österreich und die sich anschließenden Freiheitskriege, die in ganz Europa in eine Nationalisierung der Politik und in die Entstehung von Nationalstaaten münden. Die restaurativen Mächte in Deutschland, die sich für die Befreiung Deutschlands von der Napoleonischen Diktatur einsetzen, feiern beispielsweise im Zuge ihrer patriotischen Begeisterung für alles »Vaterländische« ganz besonders Ludwig Tieck, den »König der Romantik«. Indirekt hatte Tieck durch seine Beschäftigung mit »altdeutschen« Texten zur Wiederentdeckung und auch Verklärung von mittelalterlicher Geschichte — und damit zu einer möglichen Geschichte von Kaiser und Reich — beigetragen, einer Geschichte, die im frühen 19. Jahrhundert zum Inbegriff der reaktionären Bewegung in Deutschland geworden war.106 Die Rezeptionsgeschichte, die der frühromantischen Literaturästhetik nationalpolitische Interessen unterschiebt, versammelt Autoren aus den verschiedensten ästhetischen Lagern und Epochen. Paradigmatisch ist hierbei, dass die bereits national-politisch vereinnahmte Romantik 1845 in August Friedrich Christian Vilmars Geschichte der deutschen Nationalliteratur107 verkürzt behandelt und eine Ubereinstimmung des »Traums vom heilen Mittelalter mit der politischen Realität des ausgehenden 18. und 103 104

Novalis 1981, S. 240. Vietta 1994, S. 152.

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Zitiert in ib. Klett 1989, S. 17. Vilmar 1845.

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des beginnenden 19. Jahrhunderts« vorgeführt wird. 108 Den Beginn dieser im Detail falschen Interpretation der Anliegen Wackenroders, Tiecks und Novalis' hatte Heinrich Heines Rede von der »Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters« eingeleitet. Die Sichtweise erstreckt sich dann aber auch über die literaturwissenschaftliche Rezeption der Romantik im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert: bei Hermann Hettner, Rudolf Heym, weniger allerdings bei Ricarda Huch, 1 0 9 die stärker als andere Literaturkritiker sich ausschließlich an die Primärquellen wendet, wandert weiter durch die breite geistesgeschichtliche Romantikdiskussion in den zwanziger Jahren 1 1 0 und erreicht schließlich die Literaturgeschichtsschreibung des Nationalsozialismus. 111 In diesem Rezeptionsstrang verschwindet auch in einer Rede von »deutschen Stammesqualitäten in der deutschen Romantik« 112 der bei Wackenroder und Tieck so ausgeprägte Toleranzgedanke, der die Wiederentdeckung einer alten, vor-aufklärerischen Zeit um 1800 als Ausblick auf eine Kunst jenseits nationaler Interessen erlaubte und eine tiefe Verbindung von Hochrenaissance 113 und Frühromantik bildet. Man kann die Geschichte der Mittelalterrezeption im 18. Jahrhundert als eine Geschichte des gescheiterten Bemühens um Breitenwirkung begreifen. Ab 1800 verschwimmt das schöne Bild vom Goldenen Zeitalter 114 in einer charakteristisch engen Verbindung von Poetik und Heilsgeschichte mit dem sich formenden Mittelalterbild des historischen Denkens. Tatsächlich sagt bereits Wackenroders wackerer Klosterbruder Einige Worte überAllgemeinheit, Tokran^undMenschenliebe. »Warum verdammt ihr den Indianer nicht, daß er indianisch, und nicht unsre Sprache redet? — Und doch wollt ihr das Mittelalter verdammen, daß es nicht solche Tempel baute, wie Griechenland? —«115 Die Abgrenzung gegenüber der Ästhetik Winckelmanns, der tatsächlich »die Sprache der wilden Indianer« belächelt hatte, 116 bedeutet keine Hypostasierung des Mittelalters, oder gar eine aufdämmernde Nationalisierung des Kunstbegriffs, sondern die Sehnsucht nach gleichberechtigter, würdevoller Zuwendung im Sinne Her-

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»Seine rückhaltlose Unterstützung der romantischen Bestrebung eines Zurück zum Mittelalter, als einer Flucht vor der Realität der Gegenwart in eine idealisierte Vergangenheit ideologischer Ausfluss der politischen Ohnmacht des deutschen Bürgertums gegenüber der Herrschaft des Feudalabsolutismus — macht seine Stellung im Kampf um die ökonomische und politische Emanzipation der deutschen Bourgeoisie deutlich.« Behm 1974, S. 246. Huch 1920. Vietta 1994, S. 162. »Deutsches Mittelalter, ewige Blüte nördlichen Volkstums und nördlicher Kunst und ihr Eigenrecht gegenüber vielgelobter südlicher verkündete Wilhelm Heinrich Wackenroder in

seinen Her^tnsergießungen tines /kuns/ütbemien KJosterbrvders von 1797.« Linden 1937, S. 332. Vgl.

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Vietta/Kemper 1993. Linden 1937, S. 332. Man denke hierbei an die Philosophie Pico della Mirándolas. Vgl. Picco della Mirandola 1990. Vgl. dazu Cassirer 1962 und Rudolph 1994. Vgl. auch Vietta 1994a, S. 162. Vgl. dazu Lichtenhahn 1978, S. 502-512. Vgl. dazu Ursprung 1924 und Müller-Blattau 1930a. Wackenroder 1991/1, S. 87. Winckelmann 1968, S. 56.

derscher Geschichtsphilosophie. Und sie strebt die elementare Gleichrangigkeit aller großen Weltkunst an, wie sie Wackenroder formuliert hatte: 1 1 7 »[Gott] erblickt in jeglichem Werke der Kunst, unter allen Zonen der Erde, die Spur von dem himmlischen Funken, der, von Ihm ausgegangen, durch die Brust des Menschen hindurch, in dessen kleine Schöpfungen überging, aus denen er dem großen Schöpfer wieder entgegenglimmt. Ihm ist der gothische Tempel so wohlgefällig als der Tempel der Griechen; und die rohe Kriegsmusik der Wilden ist Ihm ein so lieblicher Klang, als kunstreiche Chöre und Kirchengesänge.« 11 ®

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Vgl. dazu Herder 1784-1791. Wackenroder 1991/1, S. 87.

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II.

Imagination alter Musik

»In gewissem Sinne ist die Auffassung, dass Geschichte die Vereinigung von Wissenschaft und Kunst sei, nur ein weiteres Indiz für die Überholtheit der Vorstellungen, die die Historiker von beiden haben.« (Hayden White, »Die Last der Geschichte«)

In Johann Gottfried Herders GöttefgespräcA; das 1785 erscheint, unterhalten sich die Musen der Dichtkunst, der Malerei und der Musik vor Apollos Richterstuhl, und die Tonkunst offenbart, sie rufe »die Töne hervor, wie die Seele Gedanken hervorruft, •wie Jupiter Welten hervorrief.«1 Die höchste Bestimmung der Tonkunst, unterstreicht Herder in seiner wirkungsmächtigen Schrift Cacilia, die acht Jahre später erscheint, ist deshalb die »heilige Musik, geistliche Tonkunst,« die Gott zwar auf verschiedene Weise loben könne,2 die sich jedoch am vollkommensten in der Ineinssetzung von Vokalmusik und geistlicher Musik zeige. Herder fordert eine neue Kirchenmusik, die zur Andacht anrege, und sieht hierfür die Vorbilder in der »Musik der Alten«. Die Frage, die er an die Schutzheilige der Musik, St. Cäcilia, richtet: »Mit welchen Wunder- und Herzenstönen hast du deine Lieblinge, Leo, Durante, Palestrina, Marcello, Pergolesi, Bach, Händel begeistert?«3 Dabei unterstreicht Herder, dass »die Basis der heiligen Musik [der] Chor« sei und verwahrt sich gegen »ein theatralisches Gewand« der Kirchenmusik: Die stilistische Trennung von dramatischer Musik und Kirchenmusik wird hier argumentativ vorbereitet.4 Was hatte Herder tatsächlich bewogen, mit Göttergespräch und Cacilia, für eine Restauration der Kirchenmusik einzutreten?

Phänomenologie der »ächten, alten Musik« (Anton F. J. Thibaut) Es war die Reise von Herders Freund Johann Friedrich Reichardt 1783 nach Italien, auf der Reichardt nicht nur das erste Mal Werke von Palestrina hörte, sondern sich auch Abschriften von siebzehn Werken Palestrinas und anderer »Altitaliener« verschaffen konnte. Reichardt, der Komponist und Kapellmeister von Friedrich II. und später Friedrich Wilhelm II., ist die Schlüsselfigur der Palestrina-Renaissance in Deutschland. Sein Berliner Haus ist Treffpunkt für Intellektuelle wie Goethe, Herder,5 Jacobi, Lavater und Moses Mendelssohn, ist Spielstätte und Gedankenfeld für Ludwig Tieck. Später ist sein Gut Giebichenstein in der Nähe von Halle, auf das sich 1 2 3

Herder 1785, S. 233. Herder 1793, S. 253. Ib., S. 260.

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Ib., S. 261 und S. 265. Die Wertschätzung ist auch an gegenseitigen Nachdrucken in Reichardts Magazin oder in Herders Zerstreute» Blättern abzulesen.

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Musikalischem

Reichardt 1794 zurückzieht, ein Ort prägender Musikerlebnisse für viele Schriftsteller der Frühromantik und Romantik. Zu unterschiedlichen Zeiten sind Wackenroder, Tieck, die Brüder Grimm, Fichte, Jean Paul, Schleiermacher, Novalis, Hegel und Ε. T. A. Hoffmann bei Reichardt zu Gast.6 Sein Musikalisches Kunstmaga^n, das zwischen 1782 und 1791 erscheint, ist eine Mischung aus Musikkritik, Musikästhetik und gedruckten Noten, der es um die Instruierung des öffentlichen Geschmacks geht, in Berlin begründet er 1783, kurz nach der Rückkehr aus Italien, das Concert spiri fue/ nach Pariser Vorbild und veröffentlicht in Folge zahlreiche Aufsätze, die prägend für die Restauration der Kirchenmusik werden. Angeregt durch Reichardt bricht der Komponist Karl Friedrich Fasch in Berlin mit seinen bisherigen musikästhetischen Positionen. Er komponiert nach dem Vorbild einer sechzehnstimmigen Messe, die Reichardt und andere dem römischen Kapellmeister Orazio Benevoli7 zuschreiben, eine eigene vierchörige Messe, deren Kyrie 1791 in Reichardts Musikalischem Kxnstmaga^in veröffentlicht wird,8 und bemüht sich durch seine 1791 in Berlin ins Leben gerufene Singakademie,9 die die Gründung zahlloser ähnlicher Institutionen im Europa des 19. Jahrhunderts nach sich zieht, um die Wiederbelebung einer im religiösen Ritus fundierten a-cappella-Musik.10 Unabhängig von der Verbindung von Biographie und Werk wird der »PalestrinaStil« zum Satzideal, das folgenreich 1725 erstmals auf lateinisch von Johann Joseph Fux in seinen Gradus adParnassum beschrieben11 und in der Folge zum musikpädagogischen Ausgangspunkt eines strengen, gereinigten diatonischen Kontrapunkts geworden war. Aber der Palestrina-Stil ist auch eine ästhetische Vorgabe, in der »die untergründig mitschwingende kirchliche Ebene oft genug Basis und Motivation« ist.12 In diesem ästhetischen Ideal wird der a-cappella-Stil Palestrinas zu einem idealisierten Gegenmodell einer Bewegung, die sich die Restauration der Kirchenmusik zum Ziel setzt. Dabei erfahrt diese Bewegung die eigene Gegenwart als Zeit religiösen, sittlichen und kirchenmusikalischen Verfalls. Das rettende ästhetische Ideal, das die Verbindung von religiöser, sittlicher und kirchenmusikalischer Erneuerung darstellt, wird im kompositorischen Genie erblickt. Palestrina wird dafür benannt, und die in seiner Musik beobachtete vernunftgemäße mathematische Basis seiner Musik wird zur »faszinierend rätselhaften Zahlenmystik«.!3 Neben der Subjektivierung der Musikästhetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die die Domäne der Musik

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Salmen 1963, S. 207. Orazio Benevoli lebte von 1605 bis 1672. Bekannt ist Benevoli heute noch für die sogenannte Missa saHburgensis, die vielleicht zur Einweihung des Salzburger Doms 1628 komponiert wurde. Vgl. Hintermaier 1975. Auch im 19. Jahrhundert wird die Messe Benevoli zugeschrieben, obwohl sie vermutlich von Ignaz von Biber stammt. Musikalisches Kunstmagazin 2 (1791), S. 106-121. Carl Friedrich Fasch hat die Singakademie zunächst vermutlich nur gegründet, um seine eigene sechzehnstimmige a-cappella-Messe auffuhren zu können. Vgl. Geck 1998, S. 6. Zelter berichtet, Fasch habe daraufhin eine sechzehnstimmige Messe a-cappella komponiert mit der Begründung, es solle »nach 170 Jahren irgend ein Kenner« sehen, dass »es um diese Zeit noch einen deutschen Harmonisten gegeben, der sich an den sechszehnstimmigen Satz gewagt und ihn bestanden hatte.« Zelter" 1801, S. 26. Hier erhält Fux (fiktiven) Unterricht von Palestrina. Fux 1742. Lüttig 1994, S. 7. Schlager 1972. Vgl. Krummacher 1979 und Lüttig 1994, S. 59. 43

als »reine, allgemeinmenschliche Rührung«" sieht und »Musik als ein Ausdruck unserer Empfindungen«15 betrachtet, wird in der Palestrina-Renaissance die zweite, wesentliche musikästhetische Strömung sichtbar: die Besinnung auf eine alte, sakrale Funktion von Musik, auf eine Musik also, die »himmlische Andacht« und »heilig« ist. 16 Ε. T. A. Hoffmann, der, ebenso wie Wackenroder, von seinem Kontrapunkdehrer Reichardt geprägt ist, nimmt 1814 in seinem Text Aite und neue Kirchenmusik Positionen vorweg, die erst später bei Thibaut wirkungsmächtig werden sollen. In diesem Aufsatz greift Hoffmann auch das Bild eines Goldenen Zeitalters auf. 17 Ziel der Bemühungen ist letztlich die Wiedereinführung der alten Musik in den Gottesdienst selbst, wie dies für den Protestantismus bald in Berlin durch Carl von Winterfeld, für den Katholizismus später in Regensburg durch Carl Proske und Franz Xaver Witt realisiert wird.18 Dabei kennt Hoffmann insgesamt wenig >echten PalestrinaHeute Abend könnte ich keinem Menschen feynd sein.«Miserere mei Domine!< klingt, und deren langsame, tiefe Töne gleich sündenbeladenen Pilgrimmen in tiefen Thälern dahinschleichen. - Ihre bußfertige Muse ruht lange auf denselben Accorden [...]. Manchmal treten bittere, herzzerknirschende Accorde dazwischen, wobey unsre Seele ganz zusammenschrumpft vor Gott; aber dann lösen krystallhelle, durchsichtige Klänge die Bande unser Herzens wieder auf, und trösten und erheitern unser Inneres. Zuletzt endlich wird der Gang des Gesanges noch langsamer als zuvor, und von e i n e m tiefen Grundton, wie von dem gerührten Gewissen festgehalten, windet sich die innige Demuth in mannichfach-verschlungenen Beugungen herum, und kann sich von der schönen Bußübung nicht trennen, - bis sie endlich ihre ganze aufgelöste Seele in einem langen, leise-verhallenden Seufzer aushaucht. —«40

Berglingers Aufsatz lässt den Einfluss Herders, besonders der Artikel Göttergespräch und Cäct/ia, ebenso durchschimmern wie musikhistorische und musikästhetische Positionen, die Wackenroder der Lektüre der A/igemeinen Geschichte der Musik von Johann

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Thibaut 1825, S. 12 und S. 79 f. Thibaut 1907, S. 26. Hoffmann 1820-22, S. 175. Vgl. dazu Keil 1994, S. 250. Wackenroder 1991/1 S. 212 f.

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Nikolaus Forkel41 und einem kurzen Studium bei Forkel in Göttingen entnimmt. Prägend sind für Wackenroder jedoch vor allem sein Kompositionslehrer Johann Friedrich Fasch, bei dem Wackenroder in den 1790er Jahren studiert, sowie Johann Friedrich Reichardt42, dessen 1779 erschienenen Roman Leben des berühmten Tonkünst¿ers Heinrich Wi¿he¡m Guide» er besonders schätzt. Während Wackenroders Romanfigur nicht nur den epochalen Konflikt zwischen zunehmender Subjektivierung der Ästhetik und gleichzeitig verstärkter religiöser Rückbindung in der Kunst austrägt, ist der Anhang eine Station innerhalb der Geschichte der Hinwendung zur alten Musik. So basieren die Hergnsergießungen und die Phantasien über die Kunst, in denen Roman und Anhänge veröffentlicht werden, auf einem für damalige Zeiten breiten Studium der zugänglichen kunstgeschichtlichen Quellen, und sie spiegeln das aktuelle Wissen um die musikhistorische Entwicklung Ende des 18. Jahrhunderts wider. So wird die Musik Palestrinas bei Berglinger/ Wackenroder vom Inbegriff der primaprattica, des gebundenen Stils, zum Leitbild harmonischer Musik und durch die erhebenden Adjektive »rein« und »heilig« gekennzeichnet. Diese Charakterisierung basiert allerdings auf einem aufführungspraktischen Missverständnis: Mit der Wiederentdeckung einiger Handschriften und Erstdrucke Ende des 18. Jahrhunderts und in Unkenntnis der weißen Mensuralnotation wird die Semibrevis als ganze Note verstanden und die Musik zunächst extrem langsam (etwa vier Mal so langsam wie vermutlich korrekt) realisiert. Anders als im Thibaut-Kreis wenden sich Gustav Billroth, Otto Nicolai und Raphael Georg Kiesewetter und andere früh gegen die schleppenden Tempi. Auch Mendelssohn Bartholdy setzte bei seinen Aufführungen älterer Musik durchweg flotte Zeitmaße an. Auffallend ist hier also eine Musikauffassung, die einerseits von Dichtern getragen in ein quietistisches Ideal mündet, andererseits von Musikern umgesetzt die Musik »aus der Schlafmütze« herausholen möchte, wie es 1825 in der Ceci/ia zu lesen war.43 Rezeptionsmächtig wird für die Pionierphase der Historischen Aufführungspraxis jedoch durchweg die erstgenannte Auffassung werden. Unnotierte Ornamentierung, improvisierte Ausschmückung mit ausladenden Koloraturen und Diminution, die als tradierte Musikpraxis im Palestrina-Zeitalter ausgeübt, wenn auch nicht im Notentext überliefert wurden, sind zu dieser Zeit ebenso wenig bekannt wie die Tatsache, dass die päpstliche Kapelle zum Teil aus exzellent ausgebildeten Kastraten bestand und auch colla-parte-Spiel von Instrumenten praktiziert wurde. Dies wird in der Enzyklika Annus qui aus dem Jahre 1749 von Papst Benedikt XIV. belegt, die sich zwar gegen das Eindringen der >musica theatralis< in den Gottesdienst wendet und Blechblasinstrumente, Pauken, Flöten, Psalterien und Lauten als für liturgische Musik untaugliche Instrumente ablehnt, hingegen Streichinstrumente, Orgel und Oboen sogar ex officio zulässt.44 Das harmonische Bild, das die Palestrina-Renaissance zeichnet, ist tatsächlich kein Gegenmodell zum musiktheoretischen Ideal eines kontrapunktischen Palestrina-

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Vgl. Wackenroder an Tieck, 17. November 1792, in: Wackenroder 1991/2, S. 84. Vgl. Salinen 1963, S. 73. Lichtenfeld 1969, S. 52. Vgl. Feilerer 1976, S. 149-152.

Stils, sondern ein Gegenmodell zur Instrumentalmusik.45 Der Harmoniker Palestrina wird mit seinem dissonanzenarmen Stil zum Inbegriff einer »reinen« Musik des Goldenen Zeitalters.46 Dabei ist für Hoffmann die Vorstellung von »vollkommen konsonierenden Akkorden«, die den Begriff der Harmonik umschreibt, eng verknüpft mit dem Begriff der »Harmonie« im Sinne von »Konsonanz« und spielt mit der Doppelbedeutung von musikalischer und metaphorischer Bedeutung. Während die weltliche Musik primär Ausdruckskunst ist, soll die geistliche Musik mit Engelszungen reden und als Urbild der Musik keine »kunstvolle Harmonisierung«, sondern reine Harmonie sein.47 Tatsächlich kann man Hoffmanns musikästhetischen Schriften einen Zwiespalt entnehmen. Hoffmann entwickelt eine Musikästhetik, die zerrieben wird zwischen idealisierter Musik ferner Vergangenheit und gegenwärtiger Musik, die Hoffmann nicht nur als Komponist mitgestaltet, sondern auch in zahlreichen Aufsätzen theoretisch aufarbeitet und ästhetisch begründet. Dabei ist die »Neuentdeckung der Dissonanz,« 48 die sich am Beginn der musikalischen Romantik als Phänomen abzeichnet, untrennbar mit der Apotheose der Musik der Renaissance als Inbegriff einer harmonischen Kunst verbunden. In den ersten »vorromantischen«49 Musikwerken — den französischen Rettungs- und Revolutionsopern der 1790er Jahre wie beispielsweise André-Ernest-Modeste Grétrys Gui/hume Te//{\ 791), Luigi Cherubinis Lodoïska (1791) und La Caverne von François Le Sueur (1793) - wird eine musikalische Sprache entwickelt, die auf »äußerste Effekte« aus ist, 50 und die sich im Fall von Lodoïska sogar als »überwältigend Neues« 51 darstellt. Dabei markiert die Entdeckung, dass »a/Je Musik ihrem Wesen nach prinzipiell dissonant ist, dass diese Dissonanzen aber, wie Schumann schreibt, >ganz prächtig klingeneigentliche Tonkunst.«53 Die Idealisierung der Musik Palestrinas als harmonische 45

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Die Palestrina-Renaissance ist auch undenkbar ohne die durch Kant angestoßene Auseinandersetzung um die Möglichkeit einer absoluten Musik, sprich: Instrumentalmusik. Vgl. dazu Lichtenhahn, 1983. Hier auch die Diskussion von Hans Georg Nägelis Vorlesungen über Musik, in denen als »Ziel und Gipfel der Instrumentalwirkung« ein »Phantasie-Leben« postuliert werde, das weniger durch das »Tonspiel« als vielmehr »durch den Formgehalt des Kunstwerks« gewonnen werde (ib., S. 382). Vgl. Nägeli 1826. Auch Hoffmann, dessen Messe in d-Moll von 1805 ein Beispiel fur polyphonen Stil in moderner Instrumentation ist, sieht in Palestrina keinen Kontrapunktiker und schreibt: »Ohne allen Schmuck, ohne melodischen Schwung, folgen meistens vollkommen konsonierende Akkorde aufeinander.« Hoffmann 1977, S. 215. Korff 1953, S. 555. Keil 1994, S. 245. Dahlhaus und Miller sprechen von »vorromantischer Oper«, René Wellek hingegen von »präromantischer Oper«, Edward J. Dent von »romantic Opera«. Vgl. Dahlhaus/Miller 1999, S. 158-215, Wellek 1965, S. 117, Dent 1976. Dahlhaus/Miller 1999, S. 189. Ib., S. 193. Carl Maria von Weber formuliert 1812 über Lodoïska »Emst, oft bis zum düstern Brüten — stets die schärfest-bezeichnendsten Mittel wählend, daher glühendes Kolorit [...], die Ideen hingeworfen, die aber [...] mit dem üppig gewürztesten harmonischen Reichtume geschmückt.« Weber 1908, S. 245. Keil 1994, S. 245. Dahlhaus/Miller 1999, S. 39.

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Kunst des Goldenen Zeitalters erscheint in diesem Zusammenhang als philosophisches Gegenmodell einer dissonanzenreicheren Instrumentalkunst, die als opus metapbysimm begriffen wird.54 Wenn Beethoven 1815/1816 zu einem Opernprojekt notiert, »Dissonanzen vielleicht in der ganzen Oper nicht aufgelöst oder ganz anders, da sich in diesen wüsten Zeiten unsere verfeinerte Musik nicht denken lässt, «55 so ist dieser Wertschätzung der Dissonanz auch eine sozialgeschichtliche Bedeutung eingeschrieben, die indirekt auf tiefere Schichten des Begriffes »Harmonie« verweist. Auch im musiktheoretischen Diskurs findet die Auseinandersetzung um Thibauts Riinbeit der Tonkunst und um die kirchenreformerischen Bemühungen des Cäcilianismus des 19. Jahrhunderts einen Niederschlag. So schreibt Siegfried Wilhelm Dehn in seiner Lehre vom Contrapunkt, dem Canon und der Fuge, nebst Analysen von Duetten, Terzetten etc. von Orlando di Lasso, Marce/k, Pa/estrina, die 1859 in Berlin erscheint,56 die Kunst des Kontrapunkts sei nichts wesentlich anderes »als die Kunst, mehrere Melodien selbstständig neben einander herzufuhren, so dass deren "Zusammenklang zugleich eine gute Harmonie ergibt«57. Und Bellermann argumentiert in seinem Contrapunkt zwar mit einer anderen Terminologie als Hoffmann und Thibaut, die inhaltliche Zuspitzung aber ist dieselbe. Auch Bellermann sieht einen Verfallsprozess in der Musikgeschichte, der bei ihm nach den großen Werken von Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach einsetzt (Josquin und Ockeghem, die auch schon über eine »staunenswerte Vokaltechnik« verfügen, fallen auf Grund der Kompliziertheit ihrer Werke heraus und werden zu Vorläufern): »Werfen wir einen Blick auf die Geschichte der Musik, so bemerken wir, dass in keiner Zeit die Stimmen sangbarer und mit mehr Kunst geführt sind, als in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, der Blüthezeit des Acapellagesanges.«58 Lasso und Palestrina werden als Genies im musikhistorischen Konzept, das im 19. Jahrhundert durchweg Heroengeschichte ist, verankert. Gleichzeitig gewinnen die so herausgehobenen Renaissancekomponisten an Bedeutung für die Wiederbelebung der Musik des 12. bis 14. Jahrhunderts. Ab 1909 wird beispielsweise Thibaut, der zuvor als Gegner »der Romantik in der Musik« benannt ist, zum Vorbereiter »des Sinns und Verständnisses für ältere Musik, besonders Kirchenmusik«,59 ohne auf die moralische Komponente von Thibauts Anliegen einzugehen. Eine 1907 erschienene Auflage der Reinheit der Tonkunst unterstreicht weiterhin ihre »aktuelle Bedeutung«60 angesichts der Verfallserscheinungen der Musik der Nach-Palestrinazeit: das vielfach sprungweise Fortschreiten in gebrochenen Akkorden, der häufige Gebrauch kleiner Notengattungen (Achtel und Sechzehntel), die Einfuhrung der »sentimentalen kleinen Septime«, der regelmäßige Periodenbau, der große Stimmumfang, ein »arienhaftes Gepräge mit unpassenden Verzierungen und Schnörkeleien«, ferner angesichts schwächlicher Verse die »Beschrän-

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Friedrich Nietzsche, zitiert in Dahlhaus/Miller 1999, S. 42. Nottebohm 1887, S. 329. Dehn 1859; Exemplar der Berliner Staatsbibliothek 1 A 44 196. Ib. Bellermann 1862, S. VIII. Vgl. Riemann 1882, S. 916. Der Text bleibt bis zur 7. Auflage unverändert. Riemann 1909a, S. 1409. Thibaut 1907, S. 1*.

kung auf die ionische und äolische Tonart«.61 Bei dieser Äußerung wird rückblickend deutlich, dass der an Palestrinas Werk orientierte a-cappella-Stil erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Satzideal wird.62 Hoffmanns erhabene Dreiklänge oder Wackenroders herzzerknirschende Akkorde sind tatsächlich genauso wenig Palestrina-Stil wie Cherubinis Cours - in seiner Differenzierung zwischen alter und neuer Satztechnik - ein streng befolgtes Satzideal postuliert. In der literarischen Idealisierung vom Goldenen Zeitalter in der Musik zeigt sich die frühromantische Begeisterung als Reflex auf den Subjektivismus, der in der Genieästhetik des 19. Jahrhundert so sprechend zum Ausdruck kommt. Man sieht in der Palestrina-Begeisterung die endgültige Ablösung einer »vernunfitgerichteten musiktheoretischen Fundierung durch eine historisch-ästhetische Legitimierung«.63 Als Gipfelpunkt dieser ästhetischen Diskussion setzen sich die Schriften des österreichischen Cäcilianers Johann Evangelist Habert 1899 mit den musiktheoretischen Vorläufern und musikhistorischen Konzepten auseinander und stellen Palestrina der Musik Richard Wagners gegenüber. Wie auch schon andere musiktheoretische Werke vor ihm,64 beginnt Habert mit einem Rekurs auf die Musikgeschichte: Der Historismus hat die Musiktheorie eingeholt. Auch hier werden die tonartlichen Parameter der Klassischen Vokalpolyphonie mit den »dur-moll-tonalen Ohren des 19. Jahrhunderts« gehört.65 Dies offenbart sich bei Habert weniger in der Beschreibung satztechnischer Details als vielmehr im systematischen Aufbau seines Lehrbuchs. So beschreibt er, wie sich die Tonleitern aus den Kirchentonarten entwickelt haben und entdeckt einen historischen Kreis, der sich bei Wagner zu schließen scheint: »Der Anfang des Gral-Motivs im >Parsifal< ist ein echt gregorianisches Motiv.«66 In Haberts Werk wird alte Satztechnik mit moderner Kompositionshaltung verbunden, die ästhetische Qualität an den Voraussetzungen der eigenen Zeit gemessen, die für ihn besonders bei Richard Wagner zum Ausdruck kommen. Musikhistorisch setzt er die tonartliche Disposition bei Palestrina mit der akkordischen Progression bei Bach gleich und entwickelt die Vorstellung einer ungebrochenen ästhetisch nachvollziehbaren Linie — den tonartlichen Gesamtverlauf. Der Palestrina-Stil ist für ihn kein Satzideal, aber er hofft auf eine communis opimo zwischen Palestrina und Wagner.67 In einem Vergleich der beiden Komponisten wird hier, in einer nunmehr systematischen, im Gegensatz zu einer chronologischen Aufarbeitung der Satztechnik, »die Identität eines ästhetischen Moments« 68 zweier Genies beschrieben: »Richard Wagner, der die alte Vokalmusik gut kannte [...], hat sich auch die Wirkung solcher Folgen sehr zu nutze gemacht, zum Beispiel im Tanniäuser, III. Akt, Schluss der ersten Szene, als Wolfram beginnt, auf der Harfe zu spielen. [...] 61

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Ib., S. 12*. Der auf Palestrina zurückgehende a-cappella-Stil, der vom frühen 17. Jahrhundert als sti/e antico die Kirchenmusik bis hin zu J. S. Bach und anderen prägt, ist hiermit natürlich nicht gemeint. Angesprochen ist die, unter der Voraussetzung des Traditionsbruchs erneut belebte Rezeption unter den Vorzeichen des Historismus. Lüttig 1994, S. 352. André 1832/1835, Bellermann 1862, Oberhoffer 1860, Haller 1891. Vgl. Lüttig 1994, S. 264. und Dahlhaus, »Kirchenmusik und bürgerlicher Geist«, in Dahlhaus 1996, S. 147-158. Habert 1899, S. VIII. Vgl. dazu Scharnagl 1988. Lüttig 1994, S. 355. Ib., S. 269.

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In der zweiten Szene desselben Aktes, in der Einleitung zum Liede an den Abendstern, vor den Worten >Da scheinst du, o lieblichster der Sterne< [...] und am Ende dieser Einleitung.«69 Dabei legt Wagner in seiner Bearbeitung von Palestrinas StabatMater, auf die Habert hier zum Vergleich zurückgreift, bereits jene suggestive Kraft an den Tag, die später in den Parsifal-CaättA Ausdruck finden wird. In der Bearbeitung für achtstimmigen Doppelchor entfaltet sich eine Klangpracht, die nicht mehr, wie Heinrich Besseler formuliert, »die verzehrende Hingabe eines Romantikers an die alte Musik« an den Tag legt, sondern Wagners Palestrina-Rezeption offenbart, in der die »religiöse Symbolkraft des alten Stils« der Überhöhung und »Weihe eines neuen, elementaren Sensualismus« dient.70 Aufschlussreich ist an diesem musikhistorischen Diskurs die musikästhetische Gleichsetzung von Palestrina und Wagner, die Hervorhebung einer musikhistorisch direkten Linie, die primär in der Anwendung der korrekten Regeln der Stimmführung und in der Konstatierung eines gemeinsamen musikästhetischen Ideals besteht. Die ästhetische Qualität bleibt für Habert von Palestrina bis Wagner bruchlos bestehen, die Rezeption wird vice versa zur Ästhetik und die Originalität beider Komponisten ein Ideal, das nicht mehr lehrbar erscheint, da es an das Originalgenie gebunden ist. Der Kunstwert eines Kunstwerks, so Habert, verfalle, wenn »das Außerordentliche zum Alltäglichen«71 herabgezogen werde. In der Musikgeschichte bleiben die Heroen unter sich.72

Altdeutsche Schule und gotischer Bach »Wie es eine Zeit gab, wo die Dome des Mittelalters als Erzeugnisse eines barbarischen Kunststandpunctes völlig ignoriert wurde, so geschah es auch Bach, dessen Werke mit jenen Domen viel Gemeinschaftliches haben, dass man seiner nicht mehr gedachte.«73 Die hier angedeutete Verbindung von Johann Sebastian Bach zur Gotik entstammt der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Argumentation wurzelt jedoch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bereits 1782 erschien in Reichardts MusikaäscAem Kunstmagagn ein Aufsatz mit dem schlichten Titel »Johann Sebastian Bach«, in dem zum Vergleich mit Bachs Fugenkunst das Straßburger Münster hinzugezogen wird. Allerdings verwendet Reichardt nicht das Straßburger Münster per se als Vergleichsobjekt, sondern das Münster in seiner symbolischen Überhöhung durch Goethes Text Von deutscher Baukunst. Auch wenn Reichardt einschränkend bemerkt, Bach hätte jenen »hohen Wahrheitssinn« und »das tiefe Gefühl für Ausdruck«, das Händel auszeichne, nicht besessen74 —, so sieht er in ihm doch »unseren größten Harmoni-

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Habert 1899, S. 89. Besseler 1959, S. 195. Habert 1899, S. 375. Vgl. dazu Lüttig 1994, S. 271. Brendel 1848, S. 217. Interessanterweise wird gerade dieses Argument rezeptionsgeschichtlich vertauscht werden, wenn im 20. Jahrhundert »Bachs musikalischer Tiefsinn« gegen Händeis »tändelnde

ker«. Reichardt zitiert zentrale Passagen von Goethes Text und kommentiert: »Wer fühlt hier nicht tiefe Analogie mit unserm harmonischen Gebäude!«75 Dabei kannte Reichardt zu dem Zeitpunkt weder die Mattbäuspassion noch das Magnificat Bachs und gibt im Anhang die f-Moll-Fuge aus dem Wob/temperierten K/avierTeA. II wieder, zu der er bemerkt, dass sie »von all diesem nicht viel zeigen« könne, da in dieser Fuge »durchaus eine so ausdrucksvolle sprechende Melodie drinnen« sei, die sie unter Bachs Fugenschaffen hervorragen lasse. Es geht Reichardt nicht um eine Analogie von gotischer Kathedralarchitektur und linearer Stimmführung oder polyphoner Satzweise: Es geht um das Aufwerten eines aus Reichardts Sicht zu Unrecht vergessenen Komponisten, wobei Reichardt weder Fugen und »ziselierte Bauweise« konkret gleichsetzt noch von »gotischen Fugen« spricht, wie es in 1920er Jahren geschehen wird.76 Die ästhetische Überhöhung Bachs geschieht mit Hilfe des Textes eines schon in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts unangefochtenen Autors, Johann Wolfgang von Goethe. Dabei wirbt Reichardt, ebenso wie Goethe, weniger um eine Anerkennung der herausragenden Eigenschaften von Bach, bzw. dem Straßburger Münster, vielmehr sind die Aufsätze Einladungen, sich einem Gefühl der Größe und der Verwunderung auch dann zu überlassen, wenn es nicht erklärbar wäre und wenn alle klassischen Proportionen fehlten, oder, wie in Bachs Fall, gar eines »tiefen Gefühls für Ausdruck« entbehrten. Die Texte haben nicht jene visionäre Präzision, mit der beispielsweise Robert Schumann in seinem Artikel Neue Bahnen Johannes Brahms prophetisch als berühmten Komponisten ankündigt und mit dem Hinweis auf »ein geheimes Bündnis verwandter Geister« der Öffentlichkeit präsentiert und anempfiehlt.77 Die von Reichardt angedeutete Verbindung von Bach und Straßburger Münster basiert jedoch tatsächlich auf »einem geheimen Bündnis verwandter Geister«: auf der Identifizierung mit dem Sakralen. Bach als Kirchenkomponist und das Münster als Sakralbau teilen die geheimnisvolle Welt des Geistigen. Komponist und Münster werden zu Symbolen kirchlicher Kultur. Der Vergleich zwischen Gotik und Bach ist also weniger kunsthistorischer als ästhetischer Natur. Er öffnet eine Tür, hebt das Verdikt zeitgenössischer Ästhetik auf und regt an zu einer frischen Sichtweise. Die sich anbahnende Wiederentdeckung der Gotik kongruiert mit einer sich anbahnenden Wiederentdeckung der Werke Bachs. Und erst dann schreibt Carl Maria von Weber in Bezug auf die »wunderbarsten Verkettungen der Stimmführungen« von dem »wahrhaft gotischen Dome der Kunstkirche«, die Bach erbaue.78 Hinter diesem Bild steht jedoch eine romantische Sicht von Polyphonie — analog zur Palestrina-Rezeption —, die Polyphonie »vertikal«, also »harmonisch« deutet. Und wenn Philipp Spitta das Spezifische der Gotik mit »Zum Himmel hinan!« umschreibt, entspricht dieses Bild der zeitgenössischen Gotikvorstellung, die in gotischen Domen himmelstürmende Bauten erblickt. Der metaphysisch-religiöse Charakter der Musik Bachs entspricht den mystisch zum Himmel stre-

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Tonkunst« ausgespielt wird. Vgl. dazu Spitta 1873-1880, Bd. I, S. 175. Vgl. Sandberger 1997, S. 202-204. Reichardt 1782, S. 197 [4o Mus. Β 333 = Rara, Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz]. Vgl. dazu Fontaine 2000. Schumann 1853. Weber o.J.,S. 84.

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benden Pfeilern spätmittelalterlicher Sakralbauten.79 Und das monumentale neogotische Projekt der Vollendung des Kölner Doms ist deshalb in unserem Zusammenhang von Bedeutung, weil Bachs Vokalwerke wieder mit der gotischen Architektur verglichen werden.80 Es ist hierbei konkret Hoffmann, der zuerst den strukturellen Vergleich von Gotik und Bach einfuhrt und diesmal bezeichnenderweise zu Bachs Vokalmusik greift. Die Rezeptionsmächtigkeit von Goethes Hymnus wiederum zeigt sich darin, dass hier das Straßburger Münster als Inbegriff der Gotik gilt. Johannes Kreisler fuhrt jedenfalls aus: »Man stritt heute viel über unsern Sebastian Bach und über die alten Italiener, man konnte sich durchaus nicht vereinigen, wem der Vorzug gebühre. Da sagte mein geistreicher Freund: Sebastian Bach verhält sich zur Musik der alten Italiener ebenso, wie das Münster in Straßburg zu der Peterskirche in Rom.< Wie tief hat mich das wahre, lebendige Bild ergriffen! - ich sehe in Bachs achtstimmigen Motetten den kühnen wundervollen, romantischen Bau des Münsters mit all den phantastischen Verzierungen, die künstlich zum Ganzen verschlungen, stolz und prächtig in die Lüfte emporsteigen.«®!

Der Leiter der Berliner Singakademie und Goethe-Freund Carl Friedrich Zelter greift sogar zu einem direkten Vergleich von Straßburger Münster und Bachscher Harmonik: »Unter eigner Art von Harmonie ist hier eine solche zu verstehen, die aus lauter obligaten Melodien zusammen gesetzt ist, etwa wie der Thurm der Münsterkirche zu Straßburg, der aus acht Treppen zusammen gesetzt ist, welche hinauffuhren und zugleich der Turm selbst s ind.«82

Deutsche Gotik unddeutscher Bad Ein weiteres verbindendes Element ist die Vereinnahmung gotischen Baustils als Nationalkunst. Während die Gotik bei Goethe, im Sturm und Drang, in Früh- und Hochromantik fraglos als deutsche Kunst betrachtet wird, repräsentiert Bach nach 1829 »deutschen Geist« und »deutsche Nationalkultur«. Die »bemerkenswerte Hinterlassenschaft« Bachs wird ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts83 zunächst im kleinen Kreis von Liebhabern und connaisseurs als nationales Kulturgut verwaltet. Ihnen geht es also weniger um die »praktische Wiederbelebung älterer Musik«, wie es Friedrich W. Riedel formuliert hatte,84 sondern um die Lebendigerhaltung eines klassischen, also unvergänglichen Komponisten. 85 Und dabei sind die von Goethe mit Interesse verfolgten Pläne zur Rekonstruktion des Kölner Doms 8 6 oder die ab 1848 verwirklichte Rekonstruktion der Wartburg ebenso Taten des Historismus wie die Wiederherstellung der Mattitüuspassion. 79 SO

Vgl. Sandberger 1997, S. 73. Sandberger 2000, S. 22.

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Hoffmann 1814, S. 52. Zitiert in Sandberger 2000, S. 22. 1751 erscheint Telemanns Huldigungsgedicht auf Johann Sebastian Bach, das bereits von einem patriotischen Ton durchdrungen ist. Vgl. Sandberger 1997, S. 204. Riedel 1966, S. 10. Auch in Geck 1967, S. 5.

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Vgl. Geck 1967, S. 5 f. Und Forkel, der erste Bach-Biograph, hatte die Erhaltung des Andenkens als »National-Angelegenheit« gewürdigt. Forkel 1802, S. 12. Geck 1967, S. 5.

Die 1850 gegründete Bach-Gesellschaft: betrachtet schließlich die Herausgabe der Werke Bachs als »Ehrenschuld der Nation,87 es ginge darum, »den deutschen Geist wieder zu Ehren und zur Herrschaft« zu bringen, das sei, so Spitta, Bachs Verdienst gewesen.88 Und Wagner ergänzt: »Doch Bachs Geist, der deutsche Geist, trat aus dem Mysterium der wunderbarsten Musik, seiner Neugeburtsstätte hervor. Als Goethes Göt% erschien, jubelte er auf: >Das ist deutsch! [...] Das deutsche Volk hat seine Wiedergeburt, die Entwicklung seiner höchsten Fähigkeiten, durch seinen konservativen Sinn, sein inniges Haften an sich, seiner Eigentümlichkeit erreicht.«89 Und August Reichensperger, ein engagierter Fürsprecher für eine Vollendung des Kölner Doms, unterstreicht, dass »ein Volk, welches das Ruhmwürdige seiner Vergangenheit nicht zu erkennen und hochzuhalten« wisse, tatsächlich seiner »rümlichen Vergangenheit nicht werth« sei. Und nur wenige Monate vor der Enthüllung des Bach-Denkmals 1843 in Leipzig (und nach der Enthüllung des berühmten Luther-Denkmals) weiht Ludwig I., König von Bayern, die nach seinen Ideen von Leo von Klenze erbaute Walhalla ein, jene legendäre Ruhmeshalle, die der symbolischen Verewigung und Vergegenwärtigung der »großen« Deutschen dienen sollte.90 Parallel zum Baubeginn der Walhalla wird der Grundstein zur Wiederaufnahme der Vollendung des Kölner Doms gelegt, der die Jahrhunderte als unvollendetes Meisterwerk überstanden hatte.91 Wiederentdeckte Mattbäuspassion und mitte¿a¿teríicbe Mysterien Am 11. März 1829 führt Felix Mendelssohn Bartholdy die Mattbäuspassion von Bach in der Berliner Singakademie auf, und diese Wiederaufführung ist »eigentlich eine erste Entdeckung«, mit der »die Idee einer Gotik, in der aus äußerster Differenzierung des Einzelnen eine erhaben-monumentale Gesamtwirkung resultiert, eine Idee, die seit Goethes Hymnus auf das Straßburger Münster zu einer idée fixe der deutschen Ästhetik geworden war, gleichsam musikalisch eingelöst« wird.92 Eine überwältigende »ideelle Wirkung« ging von diesem Ereignis aus. Gemeinsam mit der Gewohnheit des musikalischen Umgangs mit dem Wob/temperierten KJavier (1722), das zum Pflichtprogramm in allen deutschen Bürgerhäusern mit Klavier gehörte, wurde die hier hervorgerufene Aura einer »heiligen Tonkunst« im Sinne Wa87

Bach 1851-1899, Bd. I, Vorwort Das Projekt der Bach-Gesamtausgabe ist veriegerisch so wenig erfolgreich wie die vergleichbaren Editionen der Werke Händeis und Palestrinas. Die Öffentlichkeit nimmt in einer verengten Rezeption nur wenige Werke wahr, die trotz ihrer Popularität kein Interesse an dem übrigen Schaffen wecken. Vgl. Heinemann/Hinrichsen 1999, S. 14.

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Spitta 1873-1880, Bd. II, S. 763 und S. 374. Wagner spricht von Bach als »der Geschichte des innerlichsten Lebens des deutschen Geistes während des grauenvollen Jahrhunderts der gänzlichen Erloschenheit des deutschen Volkes«. Wagner 1865-78, S. 95 f. Ib., S. 97. Sandberger 2000, S. 21. Vgl. dazu Sandberger 1997, besonders S. 67-75.

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An dem Dom, dessen Kirchenschiff 1320 nach französischem Vorbild fertiggestellt und 1322 eingeweiht worden war, wurde bis 1560 kontinuierlich gearbeitet bis die Arbeiten zu einem Stillstand kommen, um schließlich 1842 wiederaufgegriffen zu werden. Der Dom wird 1880 eingeweiht. Vorschläge für die Vollendung des Doms in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts enthielten auch Hinweise darauf, aus dem Kölner Dom eine Art deutsche Westminster Abbey zu machen, eine deutsche Nationalkirche.

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Dahlhaus 1996, S. 25.

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ckenroders zur Substanz der romantischen Bach-Renaissance, die weit in das 20. Jahrhundert hineinreichen wird - ein tatsächlich fundamentaler Vorgang in der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts.93 Gleichzeitig zeigt das Ereignis den Weg in die Öffentlichkeit, den die Musik im 19. Jahrhundert einschlägt.94 Das Ereignis bereitet die Öffentlichkeit auf noch weit ältere europäische Musik als die Bachs vor. Mit der Berliner Passions-Feier wird die mehr als fünfzig Jahre währende Bemühung um ältere Musik öffentlich, wie sie der Berliner Kreis um Reichardt, später der Heidelberger Kreis um Thibaut repräsentiert. Dass die zeitgenössische Konzeption von Gotik eher mit der Musik Bachs verknüpft ist als mit derjenigen Palestrinas, ist dabei eine rezeptionsgeschichtliche Pointe. Was Bach und Palestrina unterscheidet und zu dieser historischen Schieflage Anlass gibt, ist natürlich ihre Nationalität. Der Widerspruch von Universalität und Nationalismus wird in der Rezeption dieser beiden Komponisten verstärkt spürbar sein: Im 19. Jahrhundert müssen sich Kontrapunktlehrer entscheiden, ob sie Palestrina oder Bach als Satzideal lehren wollen, und Knud Jeppesen bringt 1927 in seinem Buch Kontrapunkt: Lehrbuch der KJassischen VokaJpofyphonie die Kurzformel Palestrina versus Bach schließlich auf den Punkt: Er sieht zwei gleichberechtigte Grundlinien polyphoner Komposition historisch begründet, in denen jedoch einmal die Harmonie aus der Melodie, ein anderes Mal die Melodie aus der Harmonie entstehe. Seine Entscheidung für Palestrina begründet Jeppesen schließlich damit, dass »vom historisch-biologischen Standpunkt aus betrachtet [...] aber nur der erste Grundgedanke wahr« 9 5 sei. Während vom Didaktischen her die Entscheidung für den Palestrina-Stil als Lehrprogramm im 19. Jahrhundert konstitutiv wird,96 ist die Instrumentalmusik Bachs bereits im hausmusikalischen Alltag rezeptionsgeschichtlich wirksam, und die Vokalmusik beginnt, ihre eigene musikästhetische Wirkung zu entfalten. Die Musikliteratur des 19. Jahrhunderts ist, nach der Aufführung der Matthäuspassion durch Mendelssohn, durchzogen von Vergleichen zwischen Bach und Gotik. Bach wird zum Architekten eines »wahrhaft gotischen Domes der Kunstkirche«, wie Carl Maria von Weber meint,97 Bach baue, so Ludwig Nohl, mit seinen Werken »einen ewigen Himmelsdom«,98 Carl Heinrich Bitter, preußischer Finanzminister und Bach-Biograph, sieht in der Matthäuspassion »den stolzen Bau eines Kunstwerkes wie einen majestätischen Dom« emporstreben.99 Adolf Bernhard Marx erblickt in ihrem Eingangschor eine »überreiche Kunst in ihrer Zusammenwirkung«, die so einfach sei »wie das Straßburger Münster, das uns Goethe sehen gelehrt«100, und Spitta fühlt sich durch den Chor O Mensch, bewein dein ' Sünde großgar an »jene gothischen Wunderbau93

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Ib. Riemann meint sogar, die Wiederaufführung der Matthäuspassion sei ein »Markstein im Konzertleben Deutschlands, ja der ganzen Welt«, in: Geck 1967, S. 5. Als Parsifal von Richard Wagner 1882 uraufgeführt wird, schaut die ganze gebildete Welt gespannt nach Bayreuth, allein die Zahl der im Urauffiihrungsjahr erschienen Kritiken geht in die Hunderte. »Der Weg in die Öffentlichkeit, den die Musik des 19. Jahrhunderts mit der Entdeckung der Matthäuspassion angetreten hatte, endet bei Wagner. « Geck 1967, S. 61. Jeppesen 1927, S. 29. Vgl. Lüttig 1994. Weber o. J., S. 84 f. Nohl 1882, S. 101. Zitiert in Sandberger 2000, S. 22 und Sandberger 1997, S. 72. Adolf Bernhard Marx, zitiert in Geck 1967, S. 66.

ten« erinnert, »wie sie gotterfìillter Sinn im Mittelalter zur Ehre des Höchsten aufführte.« Spitta blickt in seiner historischen Einordnung der Bachschen Passionen auch ins Mittelalter zurück und sieht in ihnen »eine Erneuerung der mittelalterlichen geistlichen Schauspiele [...] auf einer unvergleichlich höheren Kunststufe«, die ihn dazu führt, die Passionen als »Passionsspiele« oder »Mysterien« zu bezeichnen.101 Es ist im 19. Jahrhundert ein musikhistorischer Gemeinplatz, in den »Mysterien der mittelalterlichen Kirche« — den ludi — die Anfänge »moderner dramatischer Kunst« zu erkennen, zu denen auch die Bachschen Oratorien zählen.102 Eine aüdeutscbe Scbuk? Die religiös-ästhetischen Bilder und Analogien formen den Mythos Bach als nationales Monument, in dem die »nationale Kunst der Gotik« ein sprechendes und anschauliches Bild für die nationale Größe darstellt Auge und Ohr gehen eine ahistorische Partnerschaft ein, um dem zeitgenössischen Verständnis konkrete Anregungen für die Formung einer nationalen Identität zu vermitteln. Diese Vorstellung zeigt auch Wirkung in der Musikgeschichtsschreibung und in der Formung eines kongruenten Konzeptes von europäischer, respektive deutscher Musikgeschichte. Franz Brendel konstruiert in einem folgenreichen Vortrag, den er 1859 zur Eröffnung der Tonkünsder-Vereinigung hält,103 eine altdeutsche und neudeutsche Schule, wobei im Adjektiv »altdeutsch« das Assoziationsfeld mitschwingt, das Tieck und andere um den Begriff geformt hatten. Brendel rückt die Kritik an älterer Musik dadurch ins Positive, dass er deren »instinctmäßige Seite« als »Grundlage alles künstlerischen Schaffens« adelt. Kiesewetter und andere Musikhistoriker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten in viel älterer, monophoner Musik — Musik, die Brendel in seiner Argumentation jedoch nicht meint - weniger Kunstwerke als vielmehr Produkte der Natürlichkeit im Sinne Herders gesehen, was sie im Licht der rückschauenden Gegenwart zu Vorstufen einer vollen Entfaltung künstlerischen Geistes macht, und nicht zu eigenständigen künsderischen Äußerungen. So zieht Brendel jene Argumentation heran, die die Musikhistoriographie für die »Kindheit der Kunst« in Antike und Mittelalter eingesetzt hatte. Indem terminologisch unscharf verfahren wird, erscheinen Bach und Händel als Träger einer deutschen Musikgeschichte ohne fremde Einflüsse. Brendel fuhrt weiter aus: »Auch die großen Meister der Vergangenheit sind durchaus nicht etwa gedankenlose Naturalisten gewesen; je größer die Naturkraft ist, die unbewußte Seite, um so erhöhter und mächtiger zeigt sich zugleich die Intelligenz, zu allen Zeiten und in allen Epochen. Aber der geschichtliche Fortgang in der Kunstentwicklung besteht trotzdem specieller darin, daß die bewußte Seite sich immer mehr herausringt, so daß frühere Schöpfungen, von einer späteren Stufe aus betrachtet, immer als naiv erscheinen. [...] Was das Harmonische betrifft, so kam es in alter Zeit zunächst darauf an, roher Natürlichkeit gegenüber die Gesetze des musikalischen Wohlklangs aufzufinden. Daher die vielen Einschränkungen und Verbote. Nachdem dies längst erreicht, sind wir dahin gekommen, mit Bewußtsein dem Idealen das Übergewicht einräumen zu können,

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Spitta 1873-1880, Bd. II, S. 333. Nohl 1882, S. 113. Brendel 1859.

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natürlich immer unter theilweiser Anerkennung der früheren Grundlagen, so also, daß jede Epoche darin relativ im Recht ist.«104

Bach und Händel erfasst Brendel mit dem Begriff des »Altdeutschen«, und u m die Gegenposition, die »Neudeutschen« Franz Liszt und Hector Berlioz, zu deutschen Komponisten formen zu können, bedient er sich eines argumentativen Tricks: »Nicht der Geburtsort kann in geistigen Dingen entscheidend sein, ebenso wenig, als in anderen Fällen die Jahreszahl, denn es trifft sich sehr oft, daß ein später Lebender geistig einer früheren Richtung angehört, also dahin zu stellen ist, und umgekehrt. Der vorliegende Fall ist sonach ein durchaus analoger. Beide Künstler [d. s. Liszt und Berlioz] wären nicht das geworden, was sie sind, wenn sie nicht früh schon durch den deutschen Geist sich genährt hätten, und an ihm erstarkt wären. So muß auch die Stätte ihrer Werke in Deutschland sein, und in diesem Sinne schlug ich daher die Bezeichnung: neudeutsche Schule, für die ganze nach Beethoven'sche Entwicklung vor. Wir gewinnen dadurch zugleich an Übersichtlichkeit der Gruppierung und an Einfachheit und Consequenz der Namen. Die protestantische Kirchenmusik bis zum Einschluß von Bach und Händel fuhrt längst schon den Namen: altdeutsche Schule. Die unter dem Einfluß Italiens stehende Epoche der Wiener Meister ist die Zeit der Classicität, der ebenmäßigen Durchdringung von Idealem und Realem. Beethoven reicht dem specifisch germanischen Norden wieder die Hand und eröffnet die neudeutsche Schule.«10^

Hier bereits begegnet die Konstruktion einer deutschen Musikgeschichte, die später Richard Wagner in den Mittelpunkt stellen oder aber die Linie Beethoven-BrahmsSchönberg vorführen wird; doch ist in unserem Zusammenhang ausschließlich die Terminologie einer »altdeutschen Schule« und die musikhistorische Verknüpfung von Mittelalter und Bach von Belang. Noch Ende des 19. Jahrhunderts verlegt Ludwig Nohl, 1 0 6 der begeisterte Wagnerianer und solide ausgebildete Musikhistoriker, Bach ins Mittelalter. In seiner Λ/igemeinen Musikgeschichte ist der Erste Teil überschrieben »Von den alten Völkern bis zu Sebastian Bach«. Und innerhalb dieses ersten Teils folgen zwei Kapitel, wobei das erste Kapitel sich der rhythmisch-melodischen Homophonie der alten Welt widmet und die Musik der vorhellenischen Völker und die Musik der Griechen beschreibt. Das zweite Kapitel ist überschrieben: »Die harmonische Polyphonie des Mittelalters«. Es umfasst den gregorianischen Gesang und die Anfänge des Kontrapunkts, die »große römische Schule (1450-1600) « und schließlich »die norddeutsche Organistenschule (1600-1750).« Die gemeinsame Klammer ist fur Ludwig Nohl der gregorianische Choral, und später, in der protestantischen Tradition, der evangelische, deutsche Choral, der unter Bachs Händen zum »ewigen Gut der Menschheit« wird, 1 0 7 eine Formulierung, die die frühromantische Sicht einer »nationalen Weltliteratur« 108 aufgreift. Schließlich wird Palestrina zum Repräsentanten katholischer Kirchenmusik, Bach zum Vertreter der protestantischen Kirchenmusik erkoren. Alles, was Bach geschaffen habe, stehe »wie

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Ib., S. 272. Ib., S. 273. Er lebte von 1831 bis 1885, hatte in Berlin unter anderem bei Siegfried Wilhelm Dehn studiert und wurde 1865 von Ludwig II. auf eine Honorarprofessur an die Universität München berufen. Von 1872 an war er als Dozent für Musikgeschichte und Ästhetik an der Universität Heidelberg tätig. Seine populäre AI/gemeine Geschichte der Musik fand eine rege Verbreitung und wurde mehrfach aufgelegt. Nohl 1882, S. 100. Vgl. Huyssen 1969; Strich 1957; Weber 1977.

die musikalischen Heiligenbilder Palestrinas durchaus auf dem Goldgrund der religiösen Empfindung«.109 Ehrenfried Muthesius fuhrt diese Gedanken 1925 weiter und ergänzt, dass Bach »nicht die Wiederholung [...], sondern die Vollendung der Gotik« sei,!10 und 1932 wird Bachs Lukas-Passtort mit gleichzeitiger Projektion von Holzschnitten aus dem 15. Jahrhundert unter der Leitung von Carl Orff im Rahmen der »Zeitgenössischen Konzerte« im Künstlerhaus am Lenbachplatz in München aufgeführt.111 Mittelalterliche Ikonographie erläutert die Musik »im Himmelsdom«.112 Etne Büste »unter einer Bedeckung imgothiscien Gescbmacke« An einem Ort verbinden sich Gotik und Bach sogar konkret: im Leipziger BachDenkmal von 1843 [Abb. 8]. Mendelssohn gibt die Büste bei Eduard Bendemann113 in Auftrag (ausgeführt wurde sie von dem Bildhauer Hermann Knaur), der zur Zeit der Erstellung des Denkmals eine Professur an der Dresdner Akademie innehat, den Mendelssohn jedoch noch aus seiner Düsseldorfer Zeit kennt. Bendemann verkehrt in Dresden mit Tieck, Robert Schumann, Ferdinand Hiller und Ludwig Richter114 und ist ein vielseitig interessierter Mann. Die Bemühungen um die Bach-Gesamtausgabe verfolgt er ebenso interessiert wie den Einsatz Mendelssohns für die Musik Bachs. Gleichzeitig ist Bendemann mit den romantischen Bemühungen um die »altdeutsche Zeit« bestens vertraut: 1840 illustriert er eine neue Übersetzung des Nibelungenliedes,115 ferner begleitet er Gedichte des deutschnationalen Poeten Adolf Boettger mit Radierungen,116 der mit der Gedichtsammlung Auf der U^artburg und einer Sammlung alter deutscher Romanzen unter dem Titel Eichenbiaiter bekannt geworden war.117 Bendemanns Entwurf für das Bach-Denkmal weicht von den zeitgenössischen Konventionen erheblich ab.118 Der Stifter Mendelssohn und Bendemann verständigen sich bis ins Detail auf die Gestaltung. Zunächst war eine Büste auf einem schlichten, griechisch-antikisierenden Postament geplant, dann auch eine monumentale Ganzfigur. Aber Bendemann entwirft, auf Mendelssohns Anregung hin, schließlich einen filigran ziselierten Sockel mit einem tabernakelartigen Aufsatz. 109 110 111

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Nohl 1882, S. 104. Muthesius 1925, S. 397. Orff 1975, S. 142 f. Nohl 1882, S. 102. Dessen Ruhm gründet sich auf seine Hauptwerke Die trauernden Juden im ·Ε*7/(1835) und Jeremias KJage aufde* Trümmerν ponJerusalem (1835), in denen »für die Kritik und das Publikum eine dem Zeitgefühl entsprechende Melancholie sichtbar wurden.« Dieser Erfolg wurde auch getragen von der Kunsterwartung der 1830er Jahre, die in Richtung einer Wiederbelebung der Historienmalerei ging - »er verfiel entsprechend schnell«. Kunstmuseum 1997, Bd. 1, S. 112 (Artikel »Eduard Bendemann« S. 111-116). Sein Haus war in Düsseldorf ab 1859, nachdem er die Leitung der Düsseldorfer Akademie übernommen hatte, Anziehungspunkt bedeutender Persönlichkeiten wie Clara Schumann, Josef Joachim oder Hermann Ludwig Ferdinand Heimholte. Vgl. Saur 1994, S. 618-620. Marbach 1840. Neben ausgezeichneten Portraits entstanden Illustrationen zum Nibe/ungen/ied sowie zahlreiche andere Buchillustrationen. Thieme/Becker 1909, S. 300 f. Boettger 1847a. Boettger 1847a und Boettger 1847 sowie Boettger/Fischer 1835. Vgl. dazu Rothe 1982 und Heinemann 1999.

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Die Seitenflächen bieten Platz für eine Bachbüste sowie einige Reliefs.119 Hier ist offensichtlich eine Bildsprache verwirklicht, die die Nähe zum Sakralen zu deutlich werden lässt, denn Mendelssohn schreibt an Bendemann: »Ein Desiderium habe ich: könnte nicht statt des Kreuzes an der Spitze des Ganzen, irgendeine andre Verzierung stehen? Das Denkmal erinnert mich sonst zu sehr an ein katholisches Marienbild, wenn man von fern das Kreuz darauf sieht.« Für die Gestaltung der Seitenreliefs hingegen wünscht sich Mendelssohn die Darstellung kirchlicher Bezüge. Er fragt Bendemann, ob nicht »eins der Basrelief- oder NieÜobilder von Bach's Cantorstelle« wiedergegeben werden könne oder gar ein »älterer Engel, der kleine Jungen singen lehrt«. 120 Er äußert Bendemann gegenüber weitere Vorschläge, die der Künsder sich umzusetzen bemüht. Letztendlich illustriert das Denkmal also Mendelssohns Bachbild und seine Sicht auf die Gotik. Er schreibt an seine Mutter: »Vorgestern war Bendemann hier, um es noch einmal zu besichtigen; da waren alle inneren Gerüste weggenommen, und die vielen Säulen und Säulchen und Schnörkel, vor allem die Basreliefs und das alte prächtige Perückengesicht prangten frei im Sonnenschein, und machten mir große Freude. Das Ganze mit seinen vielen zierlichen Verzierungen erinnert mich wirklich an den alten Sebastian Bach.« 121

Die Idee, ein Denkmal zu Ehren Johann Sebastian Bachs »im gotischen Stile« auszugestalten, war naheliegend. Sie verbindet sich mit den Analogien zwischen gotischem Baustil und Bachs polyphonem Kompositionsstil und evoziert alle Assoziationsfelder des Sakralen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt des neugotischen Denkmals, das die Sprache zeitgenössischer Sakralarchitektur aufgreift, steht somit nicht der unvergängliche Klassiker deutscher Musik, sondern der Kirchenmusiker Bach, der selbstverständlich das »Denkmal des deutschen Wesens« 122 ist. Robert Schumann reflektiert in seinem Bericht der »Einweihungsfeier von Bach's Denkmal zu Leipzig«: »Indeß war das Denkmal (eine Büste unter einer Bedeckung im gothischen Geschmacke) enthüllt worden. Die Einweihungsfeier wurde ganz einfach nur durch Vortrag zweier Choräle und eines Motettenstücks von Bach, zwischen welchen ein Rathsmitglied eine Rede hielt, begangen. Das Denkmal steht vor dem Hiller'schen, nahe der Stätte, wo Bach seine großen Werke aufführte. Es ist bescheiden, aber es wird dauern.« 123 Gotische Ikonographie undaltdeutsche Kunst Die Büste »unter einer Bedeckung im gothischen Geschmacke« verweist auf die Verwendung gotischer Stilelemente zur Illustration deutscher »Nationalthemen« - schon Wilhelm Heinse sprach vom »deutschen Bogen« und meinte einen gotischen Spitzbogen-, und man wird auch hier fündig. Als Beispiel sei die Sammlung Martín Luthers Geistliche Lieder mit den seinen Lebzeiten gebräuchlichen Singweisen [Abb. 9] genannt, die 1848, von Philipp Wackernagel herausgegeben, im 19. Jahrhundert mehrfach wieder-

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Siehe Heinemann 1999, S. 432. Beide Zitate in ib., S. 432. Brief Mendelssohn an seine Mutter vom 11. Dezember 1842, in: Mendelssohn 1875, S. 366 f. Spitta 1873-1880, Bd. II, S. 398. Schumann 1843.

aufgelegt wild. Diese Sammlung enthält zentrale geistliche Choräle in einer historisierenden Fassung, die sich für den häuslichen Gebrauch, aber auch für den Gottesdienstgebrauch eignen. Luther, den schon Herder füir seinen »altdeutschen Witz und Verstand« gerühmt hatte, 124 und den Wackenroder als frühen Ahnherrn seiner Überhöhung der Tonkunst entdeckt,125 wird wie Bach in den Taumel deutscher Nationalapotheose gezogen und zum Symbol, obwohl er, anders als Bach, zu »allen Zeiten ein Zeichen« war, »dem widersprochen wurde.« 126 Und als Nationalsymbol wird auch Luther »gothisiert«. In einer eigenen Mischung aus »altdeutschem Stil«, adaptierter gotischer Ikonographie und sich an Ludwig Richtet anlehnender Rezeption der graphischen Arbeiten Albrecht Dürers, illustriert Gustav König eine Ausgabe der Lutherschen Choräle.127 Dabei ist König die Darstellung Luthers und biblischer Szenen so vertraut, dass er den Spitznamen »Lutherkönig« trägt. König malt zahlreiche Lutherbilder, Bibelillustrationen, Psalmbilder, Kartons und Glasgemälde zu biblischen Themen, auch das Ölgemälde Luder, das Abendmab/austeilend (1845).128

So illustrieren eine Kreuzigungsszene, König David (der Stammvater Jesu) und eine Auferstehungsillustration die von Luther übersetzte Antiphon Media vita in morte sumus, das auf Psalm 46 basierende Reformationslied Einfeste Burg ist unser GottvmA. mit einer Illustration zum Jüngsten Gericht untermalt, die motivisch Michelangelos Jüngstes Geriebt aus der Sixtinischen Kapelle mit dem Kampf des Heiligen Georg gegen den Drachen zusammenbringt; zusätzlich findet sich eine Wiederaufnahme von Philipp Otto Runges Sonnenblumenmotiv, das als Ursprungsmotiv auftaucht. 129 Ein Kinder/ied, φ singen aider die green ertfeinde Còristi und seiner hei/igen kireben, den Pabs und den Türken [Abb. 10] ist illustriert mit einer Radierung von apokalyptischer Symbolkraft: In einem angedeuteten hochgotischen Bau mit Rosette und Spitztürmen zeigt der Erzengel Gabriel auf das leere Buch des Lebens, 130 während unten ein Engel, über Wasser schwebend, einen Mühlstein trägt und damit auf Offenbarung, Kapitel 18 verweist »Und ein Engel hob einen Stein auf, so groß wie ein Mühlstein, warf ihn ins Meer und sprach: So wird in einem Sturm niedergeworfen die große Stadt Babylon und nicht mehr gefunden werden.« In einer charakteristischen rezeptionsästhetischen Wendung symbolisiert die Gotik für Gustav König nicht den Baustil der »erzfeinde Christi und seiner heiligen kirche«, zu denen der Papst und mit ihm doch die römisch-katholische Kirche zu zählen wäre. Die Gotik ist hier kirchlich-religiöser Stil schlechthin, fungiert als Chiffre für religiöse Mystik und wird eingesetzt als ornamentale Zeichenschrift mit nationalem Sinn. Sie ist nicht mehr Symbol römisch-katholischer Macht, oder »kristkatholischer Weltsicht«, sondern protestantischer Größe, die durch Luther, »den großen Reformator,«131 am eindrucksvollsten dargestellt wird.

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Zitiert in Fischer 1995, S. 553. Wackenroder 1991/1, S. 45. Loewenich 1982, S. 13. Ζ. B. Winterfeld 1840 und Tucher 1848. Vgl. auch Ebrard 1871. Vgl. Traeger 1987, S. 52. Verweis auf Offenbarung 17:8: »Und es werden sich wundern, die auf Erden wohnen, deren Namen nicht geschrieben stehen im Buch des Lebens vom Anfang der Welt an [...].« »Martin Luther«, in: Riemann 1882, S. 539.

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»Altdeutsch« ist das Stichwort: Tieck und Wackenroder hatten in zahlreichen Aufsätzen die Kunstwelt auf die Bedeutung der »altdeutschen Kunst« aufmerksam gemacht, worunter sie die Zeit des späten Mittelalters und der Dürer-Zeit verstanden. Diese theoretisch-literarischen Arbeiten sind eine Vorbereitung auf das Interesse, das die »altdeutschen Gemälde« ab 1803 erwecken, »als infolge der Säkularisation sich die Tore der Klöster und Kirchen öffneten und Kunstschätze aus den dunklen Winkeln an die Öffentlichkeit gelangten«. Tatsächlich wurde »der Markt überschwemmt mit Bildern«.132 In der Umgebung Kölns und am Niederrhein gehören die Brüder Sulpice und Melchior Boisserée 133 zu den eifrigsten Sammlern »altdeutscher Kunst«. Und als »altdeutsche Kunst« gelten Stephan Lochner, Jan van Eyck, Hans Memling, Albrecht Dürer, Matthias Grünewald, Lucas Cranach der Ältere und Albrecht Altdorfer. 134 Dabei ist der Begriff »altdeutsch« im Zusammenhang mit kunstgeschichtlichen Einzel- und Gesamtdarstellungen des 19. Jahrhunderts aufschlussreich und hat mentalitätsgeschichtliche Beziehungen zur Terminologie, wie sie in Literatur und Musik Verwendung findet. So liest man im Handbuch der Kunstgeschichte von 1861, »altdeutsch« sei die »Auffassungsweise der gothischen Periode,« die sich Künstler zu eigen gemacht hätten, aber der Artikel fährt dann fort zu unterstreichen, diese Auffassung der ernsthaften Künsder gehe von einem »edlen Zug der Linien und feierlichen Rhythmus der Gruppierungen aus, womit sie eine entschieden plastische Formbezeichnung in der Antike und der römischen Schule des 16. Jahrhunderts verbinden.«^3®

Im Neuen A//gemeinen Künstlerlexikon von 1835-1852 kann man über den Nazarener Friedrich Overbeck lesen: »Mittelalterliche Poesie und Kunst hatten aufs neue ihre romantische Pracht und tiefsinnige Schönheit entfaltet, und man sammelte mit Lieb und Sorgfalt Werke der früheren Vorzeit [...] und stellte die Malereien der alten Meister zu wiederholter Betrachtung aus. Man erkannte in diesen Werken eine Reinheit und Unschuld, eine Tiefe des Gemütslebens, eine Frömmigkeit des Herzens, welche man in den neueren Werken der Kunst nicht ausgesprochen fand und so nun mußte es kommen, daß begabtere Geister [...] das Mittelalter zum Vorbild nahmen.« 13 ^

»Altdeutsch« ist im deutschsprachigen 19. Jahrhundert ein diffuser Begriff, den weder Künsder noch kunstgeschichtliche Forschung definieren. Da Stilgeschichte erst mit Alois Riegl 137 und Heinrich Wölfflin 138 Einzug in der Kunstgeschichte hält, geht es bei einem ersten Zugang zu »altdeutscher Malerei« nicht um Quellenkenntnis im historischen Sinne. Von »göttlicher Eingebung« - so Wackenroder über Raffael und Michelangelo - ist die Rede, und Wackenroder strebt keine Definitionsmacht über den Begriff »altdeutsch« an. Vielmehr spricht die »altdeutsche Zeit« ein Feld von Assoziationen an, in dem Begriffe wie Religion, Vaterländisches, alte deutsche Herrlichkeit, Mystik, symbolische Bedeutung der Kunst, »christlich-deutsches 132

133 »4 135 136 «7 138

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Gröschel 1937, S. 7. Vgl. Barclay 1994, S. 10. Vgl. Poensgen 1949, S. 145-195. Weidner 1983, S. 25. Kugler 1861, S. 504-507. Nagler 1835-1852, S. 553. Riegl 1893. Wölfflin 1899 und Wölfflin 1915.

Altertum, ein starkes, frommes Mittelalter, « 1 3 9 romantische Pracht, mittelalterliche Poesie und »tiefsinnige Schönheit« das Grundvokabular bilden.140 Vermutlich hätten Informationen über Lebensweise, Religion, Kunst, Stilentwicklungen den Künsderkreis der Nazarener oder den sogenannten »Lukasbund« irritiert und den unmittelbaren Zugang zu einem Lebens- und Kunstgefühl, das für die Nazarener die Malerei vor 1600 repräsentierte, eher behindert als ermöglicht. Aufschlussreich für die Rezeption »altdeutscher Meister« ist jedoch die »Übersetzung« des »altdeutschen Styls« in eine zeitgenössische Bildersprache. Ludwig Richter knüpft, um ein Beispiel herauszugreifen, besonders an die Bildersprache Albrecht Dürers an. Richter hatte die Anregung dazu vom Kreise der Nazarener erhalten, der wiederum durch die Lektüre der Arbeiten Tiecks, Wackenroders und Friedrich Schlegels auf die Malerei vor 1600 aufmerksam gemacht worden war. Die Nazarener erheben die religiöse Wand- und Tafelkunst der Florentiner Meister und des jungen RaffaeL,141 Richter hingegen setzt sich speziell mit Dürer auseinander. In einer vergleichenden Betrachtung sieht man, wie Richter zwar die zeichnerischen und graphischen Techniken Dürers nicht übernimmt, an ihnen aber seinen Personalstil entwickelt. Er realisiert in Anlehnung an Dürer Bildtiefe und Bildräumlichkeit bei gleichzeitiger Flächenhaftigkeit von Figuren oder Bilderschichten. Richter übernimmt von Dürer Bildmotivik, ikonographische und formale Bildelemente im Sinne einer »persönlichen und zeitgemäßen Stilisierung« bis hin zum wörtlichen Bildzitat. Die Endehnung und Adaption Dürerscher Bildelemente stellt er zum Teil in einen anderen Kontext, setzt sie jedoch im Sinne einer »einfachen, problemlosen Frömmigkeit« ein. So ist die Dürer-Rezeption Richters bis hinein in die Ornamentik und die technisch-künsderische Gestaltung eine Rezeption, die zum eigenen Stil Richters wird. 142 Zahlreiche offensichtliche und weniger offensichtliche Beispiele zeigen die unmittelbare Referenz. So rekurriert etwa Richters Portrait von Hans Sachs (1494-1576) [Abb. 11] in mehreren Bildmotiven auf Dürer. In dieser Illustration zur Geschichte des Deutschen Vo/kes erkennen wir ausschnitthaft Dürers Stich Hieronymus im Gehaus [Abb. 12]. Auch kann man vermuten, Richter habe Goethes idealisierendes Gedicht »Erklärung eines alten Holzschnittes vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung« aus dem Jahr 1776 gekannt, ein Gedicht, das den Dichter als naturhaften, rechtschaffenen, gemütlichen Dichter vermittelt, und in dem unter anderem die »Tätig Ehrbarkeit« zu Sachs spricht: Sondern die Welt soll vor dir stehn, Wie Albrecht Dürer sie gesehen: Ihr festes Leben und Männlichkeit, Ihr inner Maß und Ständigkeit! Das Gedicht schließt mit den Versen:

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Führig o.J.,S. 52. Weidner 1983, S. 29. Ib., S. 8. »Dieser Vorgang vollzieht sich in einer gewissen Variationsbreite, die von Umwelt, Zeitgeist, Zeitstil, Personalstil, Anlaß und Auftrag der Bildentstehung abhängig ist und je nach Relevanz dieser Faktoren Erkennbarkeit des Vorbildes edeichtert oder erschwert.« Ib., S. 170.

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Weil er so heimlich glücklich lebt, Da droben in den Wolken schwebt Ein Eichenkranz, ewig jung belaubt, Den setzt die Nachwelt ihm aufs Haupt; In Froschpfuhl all das Volk verbannt, Das seinen Meister je verkannt.143 Hans Sachs und Hieronymus werden schreibend oder dichtend portraitiert. Folianten gehören in das »Gehaus« von Hans Sachs ebenso wie in das »Gehaus« des Hieronymus. Anstelle von Totenkopf und Stundenglas finden sich bei Hans Sachs Werkzeuge und Erzeugnisse der Schuhmacherei. Die Beschäftigung mit heiligen und göttlichen Figuren geschieht bei Dürer häufig durch die Umsetzung des Sakralen ins Profane - ein Heiliger, von Attributen des Alltags umgeben —, hier bei Richter geschieht das Gegenteil: Aus »Profanfiguren« werden Heilige, ein einfacher Bürgersmann wird in ein Milieu gesetzt, das an den Heiligen Hieronymus erinnert. Oder können wir eine Art milde Ironisierung erblicken, wenn abgestreifte Schuhe neben einem Folianten zum Stehen kommen? Mit diesem Schritt in künsderisches Neuland, das die »Öffnung des Mythologischen ins Alltägliche, Weltliche, Gegenwärtige«144 vorbereitet, wird eine zentrale Figur des deutschen Meistersangs um 1500 zugleich historisiert, mystifiziert aber auch ironisiert. Der »wackere Hans Sachs, « 1 4 5 dessen »ernstliche Trauerspiele, liebliche Trauerspiele, seltsame Fastnachtsspiele« Johann Gustav Büsching 1816 und 1819 herausgegeben hatte und dem Albert Lortzing mit seiner Oper Harn Sachs, die zur Vierhundertjahrfeier der Buchdruckkunst 1840 aufgeführt wird, ein Denkmal setzt, symbolisiert die urwüchsige Kraft, volkstümliche Frische und handwerkliche Solidität in der Kunst, als deren Inbegriff in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die »altdeutsche Zeit«, hier konkreter das 16. Jahrhundert, erscheint. Mit Richters Portrait des Hans Sachs setzt eine Sakralisierung und Typisierung des deutschen Meistersangs ein, die als Mittelalterrezeption ganz eigener Art zukunftsweisendes Potential in sich birgt.

Minnesang und die künstlerische Produktion historischen Sinnes Die Wiederentdeckung von Welt und Musik der Trouvères, Troubadours, Minnesänger und Meistersinger ist ein Kapitel Mittelalterrezeption, in dem historische Rekonstruktion und Imagination zu einem für die breite Öffentlichkeit erfassbaren, positiv gefärbten Bild vom Mittelalter verwoben sind. In diesem Bild spielen weder der Klerus, noch der brutale Lehnsherr eine tragende Rolle: Es ist die unerfüllte Liebe, die als das zentrale Thema europäischer Literaturgeschichte den mittelalterlichen Menschen in modernes Licht taucht. In einer Blütezeit des Liedes, als die man das 19. Jahrhundert sehen kann, erscheinen der Minnesang und die Liedkunst der Trouvères und Troubadours als Vorläufer der eigenen Ästhetik, musikalisch

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Goethe 1998/Bd. 1, S. 136 und S. 139. Weidner 1983, S. 112. Wackenroder 1991/1, S. 90-96.

entwickelt an Themen, die denen des 19. Jahrhunderts nicht unähnlich sind und mentalitätsgeschichtliche Gemeinsamkeiten mit dem Mittelalter ausbilden. Auch kommt die Rekonstruktion großer Teile weltlicher Monophonie jenem musikhistorischen Bild entgegen, das von der Musik der ersten Christen bis zur Vokalpolyphonie Josquins eine »Kindheit der Kunst«146 reklamiert und die Musik weitgehend von der Natur selbst diktiert sieht: »naive [...], mais aussi pure de toute fausse convention«,147 heißt es in einer frühen musikgeschichtlichen Abhandlung. Mit dem Minnesang tritt eine zentrale Facette mittelalterlichen Musiklebens ins Rampenlicht, bevor die Rekonstruktion von Mehrstimmigkeit unternommen werden kann. Schließlich ist die Rekonstruktion von Minnesang und von den Chansons von Trouvères und Troubadours ein Projekt, an dem sich die schon länger formierten philologischen Disziplinen besonders erproben können und mit dem überprüfbare Kriterien zur Textedition ebenso entwickelt werden wie neue Ansätze zur Vermitdung an ein interessiertes Publikum. Ausgangspunkt für die deutschsprachige Minnesangrezeption ist hierbei die Ausgabe der Minne/iederaus dem Schwäbischen Zeita/tervon Ludwig Tieck. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts folgen die ersten quellenkritischen Ausgaben Karl Lachmanns,148 und die Minnesangrezeption gipfelt in den Diskussionen um die rhythmische Interpretation der Melodien, an der auch der Musiktheoretiker und Publizist Hugo Riemann maßgeblich beteiligt ist. Die Überlegung, ob vielleicht die originale Quadratnotation überhaupt keine messbare Rhythmik im Sinne unserer modernen Notenschrift enthält und sich deshalb einer Übertragung in unsere Notenschrift entzieht, wird im 19. Jahrhundert zu keinem Zeitpunkt in Betracht gezogen.149 Und schließlich wird die akademische Auseinandersetzung mit der rhythmischen Interpretation zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar ein erstes Todesopfer fordern — Mittelalterrezeption kann ein gefährliches Unterfangen sein. Besonders wirkungsmächtig sind im 19. Jahrhundert natürlich zudem die die Musikdramen Richard Wagners, in denen aus dem Mittelalter stammende Geschichten, die sich unter anderem auch um Minnesänger und Minnesang ranken, einem breiten Publikum nahegebracht werden. In der einen oder anderen Weise hängen alle Bühnenwerke Wagners mit dem Mittelalter, vom Tannhäuser an ausschließlich mit der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, zusammen und vermitteln rezeptionsträchtige Bilder. Was ist jedoch tatsächlich an Primärquellen im 19. Jahrhundert ediert? Es ist zunächst und hauptsächlich die Liebeslieddichtung des Minnesang - jene höfische Dichtung, die sich in der Zeit zwischen 1150 und 1350 parallel zur Lyrik der provençalischen Troubadours und den nordfranzösischen Trouvères entwickelt, eine durch feste Regeln geordnete adlige Standesdichtung.150 Etwa 1200 Minnelieder — Texte — sind erhalten, 110 Autoren namentlich bekannt, die Melodien hingegen sind nahezu vollständig verloren. Eine Musikgeschichte des deutschen Minnesangs wird es aus diesem Grunde niemals wirklich geben können. Auch aus dem Donauländischen Minnesang haben sich keine Melodien erhalten, ebenso wenig aus der Hoch146

Ambros 1864, S. XVIII.

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Bottée de Toulmon 1835, S. 4. Vgl. ζ. B. Lachmann 1833 und Lachmann 1857. Vgl. Lug 2000a, besonders S. 4 f. Brunner 1997a, S. 302.

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Zeit des Minnesang zwischen 1190 und 1210. Zu einzelnen Texten, die in einer Phase der Rezeption romanischer Vorbilder geschaffen wurden, konnte man aus dem vergleichsweise reichhaltigen romanischen Repertoire Melodien zurückgewinnen, die deutsche Autoren mehr oder weniger sicher für Kontrafakturen verwendeten. Die bedeutendsten Liederhandschriften befinden sich in Jena, Wien, Kolmar, Donaueschingen, Mondsee, wobei die Jenaer Liederhandschrift als umfangreichste Melodienquelle für das 13. Jahrhundert eine herausragende Stellung einnimmt.151 Einen Ausnahmefall der Überlieferung bilden die Neidhartlieder.152 Ludwig Tieck und die Minneiieder aus dem Schwäbischen Zeita/ter

Mit der Herausgabe der Manessischen Handschrift (= Liederhandschrift C) durch Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger beginnt 1758/59 die neuzeitliche Auseinandersetzung mit dem Minnesang,153 eine Fülle an altdeutscher und mittelhochdeutscher Literatur — »der deutschen Dichter aus dem Zeitalter der schwäbischen Kaiser,« wie es 1811 rückblickend heißt154 - war bereits bis 1800 veröffentlicht worden, alle in durchweg kleinen Auflagen und entsprechend geringer Verbreitung. Aber publikumswirksam, anregend für die Fachwissenschaft und erfüllt von zeitgenössischer Bedeutung wird der Minnesang erst von Ludwig Tieck aufgearbeitet. Sein Engagement für den Minnesang, das seiner ganz eigenen Poetologie entspringt, formiert sich anhand einer Auseinandersetzung mit dem Klassizismus, und seine Ausgabe ist das Zwischenglied zwischen der älteren rhapsodisch-antiquarischen und der neueren deutschen Philologie. In Tiecks Gesamtwerk findet sich, im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Autoren, keine Klage über den Verlust antiker Normen oder eines Wertesystems, das sich an der klassischen Antike entwickelt.155 Die Vertreter eines klassizistischen Ideals sind sich der Gefahr einer einseitigen Idealisierung nicht bewusst und stilisieren ungebrochen die Klassik156 zum Identifikationsmuster für die Gegenwart. Tieck begreift hingegen die Auflösung des Klassischen als Befreiung von einem System: Erneut war in seinen Augen die Möglichkeit gegeben, die antike Kultur als eine überraschend vielfaltige und fremde Welt zu entziffern, sie nach eigener Anschauung zu beurteilen und sie mit anderen Epochen und Kulturen zu vergleichen, was bedeutet: sie zu relativieren. Der eigenen Gegenwart und der eigenen Vergangenheit kann Tieck so aus einer erweiterten Perspektive gegenübertreten157 und in seinen philologischen Studien weniger auf das Wiedergewinnen einer Nationalliteratur zielen, als vielmehr auf die Wiederherstellung 151 152

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Vgl. Tervooren/Müller 1972. Vgl. dazu Holl 1901 und Pickerodt-Uthleb 1975. Die bedeutendsten sind die drei alemannischen Sammelhandschriften: A = Kleine Heidelberger Liederhandschrift (D-Heu, Cpg.357; Ende 13. Jh., Elsaß), Β = Weingartener Liederhandschrift (D-Sl, HB XIII, 1; Anfang 14. Jh.) und vor allem C = Große Heidelberger (Manessische) Liederhandschrift (D-Heu, Cpg. 848; 1. Hälfte 14. Jh., Zürich). Bodmer/Breitinger 1758/1759. Hofstäter 1811,S. III. Nottelmann-Feil 1996, S. 14. Sichtbar in der Abwendung von den Prinzipien Nachahmung, Repräsentation und Mimesis, die bis zum Klassizismus die Relationsverhältnisse innerhalb der Kunst bestimmten. Vgl. Behler 1992, S. 14 f. Vgl. Nottelmann-Feil 1996, S. 16.

der »Einen Poesie« 158 . August Wilhelm Schlegel schreibt 1804 in einer seiner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, dass Tieck in seiner Vorrede zu einer Auswahl aus den Minnesingern einen »geistreichen Überblick des Ganzen der Romantischen Poesie« gegeben habe, 159 und er meint damit die althochdeutsche und mittelhochdeutsche Dichtung, die durch einen schwärmerischen, abenteuerlichen und wunderbaren Charakter ausgezeichnet sei. Dabei charakterisiert Schlegel hier nur die vorliegende Dichtkunst, ohne historische oder historiographische Bezüge zu meinen. Aber in der Folge wird »romantisch« Verwendung finden, um in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Dichtung, Kultur und Lebensauffassung des Mittelalters zu kennzeichnen und sich erst später auf die Literatur, das Denken und die künstlerischen Anschauungen der Romantik beziehen. 160 In der Rückschau erinnert sich Tieck, dass er sich seit 1801 intensiv mit »der altdeutschen Poesie beschäftigt« habe. 161 Er nutzt ausgiebig die Königliche Bibliothek in Dresden, ist begeistert vom Nibelungenlied und zieht nach Ziebingen auf das Gut des Grafen von Finkenstein: »In der Einsamkeit des Landes verfiel ich auf das Studium der Minnesänger, von Manesse gesammelt, nachdem ich schon die Nibelungen und das Heldenbuch mit Fleiß und Aufmerksamkeit gelesen hatte.« 162 Bereits ein Jahr später, im Herbst 1803, erscheinen die MinneJieder aus dem Schwäbischen Zeitalter, und zwar »neu bearbeitet und herausgegeben von Ludwig Tieck mit Kupfern« [Abb. 13]. Tieck hatte in seinen vorausgegangenen Studien zur altdeutschen Literatur nicht nur die Vorarbeiten zahlreicher Philologen kennen gelernt und sich besonders Bodmers und Breitingers Arbeit zu eigen gemacht, er hatte auch gleichzeitig die Ablehnung des 18. Jahrhunderts gegenüber mittelalterlicher Dichtung gesehen. So wusste Tieck, dass gerade Berlin, als einer der zentralen Orte der Aufklärung im deutschsprachigen Raum, nicht der beste Ort war, um eine literarische Gegenbewegung einzuleiten, die sich weniger um stoffgeschichtliche Kontinuität als vielmehr um eine Wiederentdeckung des »authentischen« Alten bemühen würde. Es ist Tiecks Reputation, seiner editorischen Methode und seiner Vorrede zu verdanken, dass die übliche Häme ausblieb und die Ausgabe bereits 1809 vergriffen war. Tatsächlich sind die Minnelieder insofern ein Meilenstein, als hier das erste Mal der Durchbruch »altdeutscher Literatur zu weiten Kreisen einer Leserschaft gelingt. »Die Ausgabe«, vinterstreicht Tieck, sei tatsächlich überhaupt »nicht für Gelehrte, sondern für echte Liebhaber angestellt [...], die es zu genießen wissen, das Gelehrte kann in Zukunft noch immer geschehen, wenn dieses

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Tieck 1803, S. I. Schlegel 1884, S. II. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts verfestigt sich der Begriff »romantisch« (romantique, romantic) im Sinne von gefühlsbetont, schwärmerisch, verträumt, »nach Art der Romane« (wobei hier abenteuerliche Vers- oder Prosaerzählungen gemeint sind), die sich im 18. Jahrhunderts semantisch vom Bezug auf den Roman gelöst hatten. Ende des 18. Jahrhunderts wird »romantisch« der Gegenbegriff zu »klassisch« und hier, bei den Schlegels, das erste Mal synonym mit »mittelalterlich« verwendet. Bezeichnenderweise hat nur das Adjektiv »romantisch« diese schillernde Doppelbedeutung; die zugehörigen Substantivbildungen beziehen sich nur auf die Hinwendung zum Volkstümlichen, Nationalen, Gefühlsmäßigen, Irrationalen oder auf die Bewegung selbst, die zwischen 1790 und 1830 angesiedelt ist. Tieck 1828-1854, S. LXXVIII. Tieck 1848-1852, Bd. I, S. IX.

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Effekt macht; es ist bisher von dieser Art genug versucht und hat nichts gefruchtet.« 163 Tieck will weder den Nachweis philologischer Gelehrsamkeit fähren, noch durch übertriebene Eingriffe das Originalkolorit der mittelalterlichen Dichtungen zerstören. 1 6 4 Er geht einen Mittelweg: Auf der Grundlage der Samm/ung von Minnesingern at/s dem scbwaebiscfan Zeiftunrfe^ von Bodmer und Breitinger dichtet er in bezaubernder Unbefangenheit, ganz im Stil romantischer Stimmungspoesie, die Gedichte der Minnesänger zum Teil um und bemüht sich, den naiven Ton der Vorlagen herauszuarbeiten, 166 eine »Neubearbeitung«, wie Tieck es nennt. Er überspringt Gedichte mit Zeitbezug oder eindeutiger Erotik, er tilgt aus seiner Sicht veraltete Begriffe und undeutliche Stellen, behält jedoch grundsätzlich die alte Form bei. Er vereinheitlicht die Interpunktion, macht sich Gedanken über die Vers- und Stropheneinteilung, schreibt sämtliche Substantive grundsätzlich groß und erbittet beim Verleger die Verwendung des Schrifttyps »Antiqua« anstelle der üblichen »Fraktur«. Der zentrale Aspekt des Buches ist jedoch die Vorrede, die eine Brücke von den mittelhochdeutschen Quellen zum literarischen Verständnis seiner Zeit schlägt. Dabei ist bezeichnend, dass die Vorrede erst in einer zweiten Ausgabe enthalten ist, die ebenfalls 1803 erscheint. In dieser Ausgabe sind Druckfehler korrigiert, das Druckfehlerverzeichnis fehlt nun, und die Vignetten Philipp Otto Runges, die Tieck für die Ausgabe erbeten hatte, sind umgestellt, so dass eine Kupfer-Vignette Runges (»Schlangenring«) den Gedichten vorangeht. Ob die Vorrede, die nun eingefügt ist, auf Betreiben des Verlegers geschrieben wurde, kann nicht entschieden werden. 167 Tiecks Vorrede ist durchdrungen von Zweifeln an der Unübertrefflichkeit der eigenen Zeit: »Sehen wir auf die unlängst verflossene Zeit zurück, die sich durch Gleichgültigkeit, Mißverständnisse oder das Nichtbeachten der Werke der schönen Künste auszeichnet, so müssen wir über die schnelle Veränderung erstaunen, die in einem so kurzen Zeitraum bewirkt hat, daß man sich nicht nur für die Denkmäler verflossener Zeitalter interessirt, sondern sie würdigt, und nicht nur mit einseitigem und verblendetem Eifer bewundert, sondern durch ein höheres Streben sich bemüht, jeden Geist auf seine ihm eigene Art zu verstehen und zu fassen, und alle Werke der verschiedensten Künstler, so sehr sie alle für sich selbst das Höchste sein mögen, als Theile Einer Poesie, Einer Kunst anzuschauen, auf diesem Wege ein iei/iges unbe/kann/es Landzxi ahnden und endlich zu entdecken, von dem alle gerührten und begeisterten Gemüther geweissagt haben.«16®

Wackenroders Überzeugung, die er in den Her^ensergießungen eines kunsi/iebenden Klosterbruders formuliert hatte, findet sich hier wieder: die Gleichrangigkeit der Künste.

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Tieck/Schlegel 1972, S. 134. Z. B. Gleim 1773. Vgl. auch Zybura 1994, S. 128 f. Bodmer/Breitinger 1758/1759. Erst bei der Edition des Nibelungenliedes wird Tieck auch auf die Handschriften zurückgreifen. Er verbringt den Winter 1804/05 in München, wo er die Nibelungenhandschrift D mit der Myllerschen Ausgabe kollationiert. Vgl. Schweikert 1971, Bd. 2, S. 280. Die Tatsache, dass aus dem Jahr 1803 zwei Ausgaben der Minnelieder überliefert sind, wird in der Sekundärliteratur zu Tieck nirgendwo erwähnt. Vermutlich wird der 1966 erschienene Hildesheimer Nachdruck der zweiten Fassung (mit der Vorrede) zur Grundlage genommen, ohne die Originalpublikation zu konsultieren. Tieck 1803, S. I [Hervorhebung von ΑΚΗ],

Tieck erweitert jedoch Wackenroders Vorstellung um einen für die spätere Rezeption des Mittelalters entscheidenden Gedanken, nämlich »auf diesem Wege ein heiliges unbekanntes Land zu ahnden und endlich zu entdecken, von dem alle gerührten und begeisterten Gemüther geweissagt haben.« Er spielt auf die Legenden vom Goldenen Zeitalter an und verschränkt sie mit »dem Wunderglauben der Kindheit, der schönen Ahndungen des jugendlichen Lebens zur Reifheit der Phantasie«. Tieck spielt auf die individuelle Erfahrung der Kindheit an, die sich auf die kollektive historische Erfahrung einer wiederzuentdeckenden Vorzeit übertragen lasse: »So erklärt und ergänzt die alte Zeit die neue, und umgekehrt. Wenn es uns vielleicht unmöglich fallt, die alte Poesie ganz auf ihre eigenthümliche Art zu verstehn und zu fühlen, so macht wieder die Entfernung ein innigeres Verständnis möglich, als es die Zeitgenossen selbst fassen konnten.«^'

Die Kindheitsideologie der Romantik, der Tiecks auch in seinem eigenem literarischen Schaffen aus frühromantischer Zeit, von Fran% Sternba/ds Wanderungen bis zu den Haimondsfandern, gehuldigt hat, wird hier mit dem Gedanken an eine Weltpoesie verknüpft, die den berühmten Satz »so erklärt und ergänzt die alte Zeit die neue, und umgekehrt« begreiflich werden lässt. In Verbindung mit dem von Novalis ausgesprochenen Begriff des »Romantisierens« durch die Distanz wird der Abstand zu den altdeutschen Texten kein historisch-chronologisches Problem, sondern eine ästhetische Herausforderung. Und sie kann nur durch »ein innigeres Verständnis« gemeistert werden. Im Zusammenhang mit einem Uberblick über die vorausgegangene Minnesang-Forschung widmet sich Tieck auch den Gründen für die Ablehnung älterer Literatur, die er unter anderem auch in dem »Glauben an die Barberey des sogenannten Mittelalters« sieht. Tieck gibt sodann einen kurzen Überblick über die Minnesangdichtung, wobei er den Ursprung der Minnesang-Literatur im Einfluss der provenzalischen Troubadourlyrik ausmacht. Er legt »die Blüthe der romantischen Poesie« für das 12. und 13. Jahrhundert fest und schreibt, dass »Heinrich von Veldeck« der erste der berühmten »Dichter der Deutschen« sei. Jeder Minnesänger wird kommentiert, auch das Nibelungenlied erwähnt, das er weit vor der Zeit der Minnesänger ansiedelt und als »wahres Epos« bezeichnet, »das noch vieles vom Ton eines epischen Zeitalters« habe. Nach diesem historischen Exkurs beschreibt Tieck eine Ästhetik des Minnesangs und würdigt die Vielfalt der Vers-, Strophen- und Reimformen. Er unterstreicht, dass jeder Dichter seinen eigenen Ausdruck, seine eigene Sprache habe, er würdigt die Kenntnis der Assonanz, verweist auf das Beispiel des Kürenbergers und schätzt, dass auch Lieder ganz ohne Reim begegnen. Schließlich kommt er auf die Verbindung von Poesie und Musik zu sprechen und hebt hervor, jeder Minnesänger habe sich bemüht, für seinen Text »eine neue Melodie, einen Ton zu erfinden, in welchem er die meisten seiner Gedichte schrieb und sang.« Und Tieck unterstreicht, dass aus seiner Sicht Poesie ein allgemeines Bedürfnis des Lebens war, von diesem ungetrennt. Dabei formuliert er einen Gedanken, den Kiesewetter einige Jahrzehnte später ungebrochen wiedergeben wird: »Die Poesie war ein allgemeines Bedürfnis des Lebens, und von diesem ungetrennt, daher erscheint sie so gesund und frei, und so viel Kunst und strenge Schule auch so manche Gedichte dieser Zeit verrathen, so möchte man doch diese Poesie nicht Kunst nennen; sie ist gelernt, aber 169

Ib., S. II.

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nicht um gelehrt zu erscheinen, die Meisterschaft verbirgt sich in der Unschuld und Liebe, der Poet ist unbesorgt um das Interesse, daher bleibt er in aller Künstlichkeit so einfaltig und naiv.«

Dabei schätzt Tieck besonders Hans Sachs, dessen »Witz und komische Laune wirklich fröhlich, dessen Ansicht des Lebens auf eine große Art vernünftig« sei, und dessen Gedichte »oft sogar das Gepräge einer ältern und viel poetischem Zeit« trügen. Schließlich legt er seine editorische Praxis offen: »Es gelingt vielleicht durch diesen Versuch etwas mehr Theilnahme für diese Gedichte zu erregen, als sich bisher beim deutschen Publikum gezeigt hat. Die bisherigen Proben, die man mittheilte, waren meist zu sehr modernisiert und verändert. [...] Ich habe alles weggelassen, was nur den Gelehrten interessiren kann, alles, was sich auf die Geschichte der Zeit bezieht, und ich habe lieber einigemal den Nahmen von Städten und Ländern unterdrückt, um das Gedicht allgemeiner zu machen. Ich habe versucht, die Strafen in Ordnung zu bringen, zuweilen habe ich unbedeutende ausgelassen, oder sie auch in der Stellung verändert, wenn es mir nöthig schien. Es ist nicht immer mit Sicherheit der Anfang oder das Ende eines Gedichtes zu bestimmen, weil in der Handschrift gewöhnlich alle gleichartigen Verse eines Dichters beisammen stehen, es auch oft den Schein hat, als wären manche nur Anfänge oder Fragmente aus Gedichten, nicht aber die Gedichte selbst. Ich habe mir immer die Melodie der Lieder deutlich zu machen gesucht, und sie nach meiner Vorstellung abgetheilt, indessen läßt sich vielleicht bei manchen der künstlichen Lieder eine andre Eintheilung treffen. Einige dunkle Stellen habe ich willkürlich genommen und andre vorsätzlich verändert, doch sind einige Gedichte dunkel geblieben, wie das vom Kürenberg, in welchem man wohl die Haupt-Idee erkennt, nicht aber deutlich sieht, ob es ein Lied ist, oder es Fragmente verschiedener Lieder sind. Das Wichtigste schien mir, nichts an dem eigentlichen Character der Gedichte und ihrer Sprache zu verändern, daher durfte keine Form des Verses verletzt werden, dies war aber zu vermeiden nicht möglich, wenn man nicht manche der alten Worte so ließ, wie sie ursprünglich gebraucht waren. In der neueren Sprache verliehren alle diese Gedichte zu viel, daher ist es keine unbillige Forderung, wenn der Herausgeber verlangt, dass ihm die Leser auf halbem Wege entgegen kommen sollen, so wie er ihnen halb entgegen geht.«! 7 "

Um einschätzen zu können, wie weit der Leser dem Herausgeber tatsächlich entgegen kommen soll, folgt hier eine Strophe aus »Si wunderwol gemachet wip« von Walther von der Vogelweide. Tieck lässt die letzte Strophe fort, in der der Dichter seine Angebetete dem Bade entsteigen sieht, und folgt in seiner Nachdichtung dem mittelhochdeutschen Text, so gut er kann: Got hât ir wengel höhen flîz, er streich sô tiure varwe dar, Sô reine rôt, sô reine wîz, hie roeseloht, dort lilijenvar. Ob ichz vor Sünden rar gesagen, sô siehe ichs iemer gerner an dan himel oder himelwagen. owê waz lob ich tumber man? mach ich si mir ze her, vil lîhte wirt mîns mundes lop mîns herzen sêr.171

Gott that ihren Wänglein hohen Fleiß, Macht sie aus theuern Farben ganz, So reines Roth, so reines Weiß, Da Rosenlicht, da Lilienglanz. Wann ich es darf von Sünden sagen, Ich sehe sie immer lieber an Denne alle Himmel oder Himmels-Wagen; O weh! Was lob' ich dummer Mann Und mache sie mir zu hoch? Vielleicht wird meines Herzens Lob meines Herzens Gram noch. 172

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Zitate Tieck 1803, S. VIII, S. X , S. X V , S. X V f., S. X V I und S. X X - X X I I .

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Waither von der Vogelweide, »Si wunderwol gemachet wip«, in: Pörksen 1982, Zitat S. 108.

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Tiecks Auffassung vom Minnesang kommt am deutlichsten in einem eigenen Minnelied zum Ausdruck, das er der Minne/ieder-Kxxsvi&A. anfügt. Hier werden Sprachbilder aus dem Minnesang - Naturträume, das liebende Herz, Schönheit, zarte Gedanken aufgegriffen und zu einem Gedicht von elf Strophen à acht Versen (abccdbee) zusammengefügt. Ironie, selbstmideidige Trauer, die zum Teil derbe Direktheit der Minnelieder weichen einem sonderbar blassen, schwebenden Ton: Was noch zarter ist als Töne, Scherzend Mehr als Melodie und Düfte, Selber nicht berührt die Lüfte, lebend in der eignen Schöne Lieblich schmerzend? — Ach es sind die Liebsgedanken Die in Wehmuth, Sehnsucht, Andacht, wie in Blumenkelchen schwanken. Wem die Lippen sind verschlossen Klängen, Wem nicht Blumen Winter giebet Und er treu und sehnlich liebet Ganz von Ahndungen umgössen, In Gesängen Muß sein Herz heimlich zerrinnen, Wunsch, Andenken ewiges, sind die Blumen, die er kann gewinnen. 173 Im Zusammenhang mit Tiecks Minnelied wird auch die Wahl der Vignetten für seine Minne/ieder-hv&güoe. verständlich. Man könnte vermuten, Tieck hätte mit der Herausgabe der »schönsten Stücke der Poesie« aus der Manessischen Handschrift auch eine Herausgabe der schönsten Stücke der Illumination (in Form von Durchzeichnungen aus der Handschrift selbst oder in Form von Kupferstichen aus der Manessischen Handschrift) ausgewählt, aber er zieht diese Möglichkeit nicht in Betracht. Mittelalterliche Buchmalerei ist für ihn ohne Wert — er warnt sogar davor, die »Ungeschicklichkeit« in den alten Gemälden für »Ausdruck des Gemüts« zu halten 174 und schreibt 1817, nachdem er das erste Mal die Manessische Handschrift hat einsehen können, dass zwar viele Illustrationen »historische Beziehungen«, sie insgesamt jedoch »nicht Zeichnung und Styl« haben, »gar keinen, nicht einmal den ihrer Zeit.« 175

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Walther von der Vogelweide, »Sie wunder wohl gemachet Weib«, in: Tieck 1803, S. 195. Tieck, »Die Geliebten und die Schönen«, in Tieck 1803, S. 283 f. Tieck 1848-1852, Bd. 1, S. 240. Wiederholt verweist er darauf, wie sinnlos es sei, die Kunst mittelalterlicher Zeiten wiederholen zu wollen (vgl. Bd. 2, S. 157) und spricht davon, dass seit ihrer Wiederentdeckung die aus der Zeit vor der höchsten Vollendung der Kunst stammenden Gemälde von vielen überschätzt worden seien (vgl. Bd. 1, S. 254). In seiner Novelle »Das Gemälde« wird zudem ein junger nazarenischer Maler leicht komisch dargestellt. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass Tieck in einem bislang unveröffentlichten sechshundertseitigen Manuskript zur Geschichte und Theorie der bildenden Künste die deutsche Malerei des Mittelalters stillschweigend übergeht. Siehe Grunewald 1986, S. 447. Brief von Tieck an von der Hagen vom 29. April 1818, in: Grunewald 1986, S. 437. Die Überzeugung, die Illustrationen der Manessischen Handschrift hätten keinen ästhetischen

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Aber es ist nicht Tiecks Unvermögen, in den Illuminationen der Manessischen Handschrift keine ästhetischen Meriten entdecken zu können, sondern vielmehr seine Überzeugung, im Minnesang im Wackenroderschen Sinne einen Ausschnitt aus der Einen Poesie wot sich zu haben. Dies lässt ihn davon überzeugt sein, »ein innigeres Verständnis«, als es die mittelalterlichen Zeitgenossen für den Minnesang aufbringen konnten, zu besitzen. Dass die mittelalterlichen Zeitgenossen nicht in der Lage waren, die Kraft der Dichtungen zu begreifen und angemessen zu dechiffrieren, erklären die misslungenen Illuminationen. Und letztlich geht es Tieck nicht um eine Abbildung der Wirklichkeit - wie Tieck sie in den mittelalterlichen kolorierten Zeichnungen vermutet —, sondern um die Abbildung der inneren Welt. 176 Der Maler Philipp Otto Runge, der wie kaum ein anderer Maler um 1800 von einer »neuen Zeit« träumt, wird von Tieck beauftragt, die Minne/ieder zu illustrieren. Runges Kunstanschauung, die sich in zentralen Aspekten mit derjenigen Tiecks deckt, geht einher mit einer religions- und kunstgeschichtlichen Zeitaltertheorie, in der man, nach antikem Mythos, Katholizismus, Protestantismus nun an der Schwelle zur Religion des »einen Gottes« stünde, wie Runge die Weltanschauung der Zukunft nennt. Diese Konzeption ist Novalis' triadischem Entfaltungsmodell von Ursprung (Katholische Kirche des Mittelalters), Entzweiung (Reformation) und Wiedervereinigung in neuer Qualität (die postulierte Neuordnung Europas), mit einem Christentum, das als ersehnte Liebes- und Friedensreligion das neue Zeitalter charakterisieren wird, nicht unähnlich. 177 Analog dazu beschreibt er die entsprechenden kunsthistorischen Epochen, die nun dabei wären, einer »abstrakteren Kunst« Platz zu machen, der Kunst des von Runge herbeigesehnten neuen Zeitalters. 178 Und aus Runges Sicht kann es für diese neue Kunst keine historischen Vorbilder geben: Sie muss erfunden und aus den innersten Tiefen der Seele heraufbefördert werden. So trifft sich Runges romantisch-spekulativer Idealismus mit Tiecks Wackenroder-Rezeption und seinem Bemühen um eine Poetisierung des menschlichen Lebens. 1 7 9 Beide treffen sich in ihrer Kritik am Klassizismus, an der Reduktion der aufklärerischen Erkenntnistheorie wofür Tieck von den Brüdern Schlegel gelobt wird — und ihrer Ablehnung einer gesellschaftlich sanktionierten Regelpoetik, die einer neu anbrechenden Zeit nicht mehr

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Eigenwert und seien nur auf Grund ihrer »historischen Beziehungen [...] wichtig« - also bezüglich ihres Aussagewertes zu heraldischen-, Waffen- und kostümgeschichtlichen Aspekten — deckt sich nicht nur mit dem zeitgenössischen Urteil, das der Malerei vor Dürer — der Tieck in seinem Fran% S/embaid ein Denkmal gesetzt hatte - verständnislos gegenüberstand, es deckt sich auch mit dem Urteil Bodmers, der bereits 1748 geschrieben hatte: »Die prächtigen Mahlereyen, die vor jedem Poeten stehen, machen das Werk besonders kostbar und ansehnlich. Die Zeichnung ist nach dem Übeln Geschmack der damahligen Zeiten sehr schlecht, aber das Colorit ist überaus hoch und lebhaft. [...] Überhaupt sind diese Gemähide in Absicht auf die Kleidung, die Waffen, die Krieges-Rüstungen und dergleichen sehr brauchbar, und setzen manche Beschreibungen dieser Stücke, die wir in den Poeten oder Geschichtsschreibern sonst nicht verstehen könnten, in das erforderliche Licht.« Bodmer 1748, S. V f. »Alle Kunst ist allegorisch [...]. Ich will nicht Bäume und Berge abschreiben, sondern mein Gemüt, meine Stimmung, die mich in dieser Stunde regiert, diese will ich mir selber festhalten, und den übrigen Verständigen mitteilen«, lässt Tieck seinen Franz Sternbald sagen. Tieck 1978a, S. 198. Vgl. dazu Münk 1994, S. 561. Vgl. Peter Betthausen, »Vorwort«, in: Runge 1982, S. 11 f. Vgl. Mühl 1983, S. 2.

entspricht. Die Arbeit an den Mmne/iedern verläuft reibungslos: Tieck und Runge gehen im März 1803 mit einer Begeisterung ans Werk,180 die auch in Briefen an Dritte nachklingt.181 Die Illustrationen zu den Minne/iedem zeigen als Hauptmotive Blumen und Kinder, dazu drei Vignetten der Erdhalbkugel, wie sie auf Kupferstichen in alten Ausgaben von Jakob Böhmes Schriften zu finden sind. Die Verteilung der Vignetten in der zweiten Fassung von 1803 ist folgende: Titelvignette (Nr. 1), »Schlangenring« (Nr. 2), Illustration zu »Kayser Heinrich« (Nr. 3), am Textende »Liebesgedanken, die in Blumenkelchen schwanken« (Nr. 4) und schließlich die Rosengenien als Illustration für Tiecks Minnelied (Nr. 5). Die Illustration »Schlangenring« [Abb. 14] etwa zeigt zwei Genien, die auf zwei Rosen kniend sich über dem Erdball einander zuneigen. Sie berühren sich in einer Flamme, die in das Schlangensymbol der Ewigkeit gestellt ist. Die Vignette zu »Kayser Heinrich« [Abb. 15] ist ein Echo von Walthers von der Vogelweide auch schon um 1800 bekanntem Gedicht: »Ich saz ûf eime steine und dahte bein mit beine:

M.

dô dâhte ich mir vil ange, wie man zer weite sollte leben. «182 Gleichzeitig bildet die Darstellung des unbekleideten, kindlichen Genius den denkbar größten Kontrast zum Bild Kaiser Heinrichs VI., der in der Manessischen Handschrift als Majestas Imperatori!, als höchster weltlicher Herrscher des christlichen Abendlandes, mit allen Insignien der Macht ausgestattet, die Sammlung eröffnet. Am Ende der Mimeüeder, die mit den Gedichten des Kanzlers den Abschluss finden, ist eine Vignette eingefügt, in der über dem Erdball ein Genius auf einer Lilie - dem Symbol der Reinheit - ruht. In dieser Vignette fordert ein einer Rose entsteigendes Englein den Genius zur Anbetung des Höchsten auf, dessen Symbol die »JehovaSonne« ist183 [Abb. 16]. Und zwei Genien nehmen im letzten Bild, das Tiecks eigenes Minnelied illustriert, die Titelvignette auf. Hier umarmen sich zwei Rosengenien, über dem Erdball schwebend, auf einer Lilie, gekrönt von Blumenkränzen [Abb. 17]. Die Minne/ieder-Vignetten weisen über die besondere Ästhetik Runges und Tiecks hinaus auf die allgemeine Kindheitsideologie der Romantik, die mit dieser romantischen Deutung der Manessischen Handschrift: eine besonders sprechende Verbindung eingehet. Für Runge ist das reinste Sinnbild der Kunst das Kind, wie er es beispielsweise in seinem Gemälde Der Morgen verwirklicht, und er wählt Kinder, um der Literatur aus der »Kindheit der Kunst« zu entsprechen. Für ihn ist in Kindern eine

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Brief Runge vom 23. März 1803 und 6. April 1803. Runge 1840/1841, S. 204 und S. 208. »Hör mal, ich werde ganz was Göttliches herausgeben, ich sage Dir jetzt nur soviel, aber die Weltgeschichte wird sowas nicht erlebt haben. Fürs erste sende ich Dir hier zwölf Minnelieder, [...] sie werden zu Michaelis wohl erscheinen, mit verschiednen Vignetten und kleinen Sachen von P. O. R. geziert; mein Werk soll dann auch erscheinen, hoff ich, mit verschiedenen Gedichten von Ludwig Tieck begleitet, so arbeitet man sich einander Hand in Hand.« zitiert in: Runge 1982, S. 131 f. Walther von der Vogelweide, »Ich saz ûf eime steine«, zitiert in: Walther 1981, S. 5. Runge 1982, S. 13.

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Innigkeit des religiösen Gefühls zu spüren,184 und deshalb ist die Kritik, die Tiecks Minne/iederms dem aufklärerischen Lager trifft, nur zum Teil eine Kritik an mittelalterlicher Literatur: Sie wehrt sich auch gegen die offensichtliche Herausforderung des Klassizismus durch eine Apotheose des Kindlichen. Tiecks Minneiieder werden nichtsdestotrotz zu einem wichtigen Anstoß für die in der Epoche der Romantik entstehende Germanistik. Neben den Bemühungen der Brentanos um das deutsche Volkslied - die Sammlung Des Knaben Wunderhorn wird zu einem echten Volksbuch des 19. Jahrhunderts - entfaltet sich das Interesse am deutschsprachigen Minnesang, greift auf Anfänge germanistischer Philologie aus dem 18. Jahrhundert zurück, lernt von den bereits etablierten Methoden der Altphilologie und verbindet sich mit der quellenkritischen Methode, die im besonderen Karl Lachmann begründet. Sie besteht darin, bei der Herausgabe von älteren Texten nach dem sogenannten codex optimus zu suchen, jener Quelle, die auf Grund stemmatischer Konstruktionen als dichternahe Ausgangsfassung erkennbar und als zu edierende Hauptquelle zu wählen ist. Hier wird Lachmann zum Begründer moderner Textkritik und einer besonderen Editionsmethode.185 Diese Methode ordnet Texte in einen materiellen und immateriellen Kontext ein und fuhrt zu Vorstellungen und Prämissen über mittelalterliche Uberlieferungsbedingungen, die bis ins 20. Jahrhundert nachwirken.186 Lachmann und sein Berliner Nachfolger Moritz von Haupt prägen das moderne Bild mittelhochdeutscher Editionen elementar: 1827 erscheinen die Gedichte Walthers von der Vogelweide, Des Minnesangs Früh/ing wird 1857 von Lachmann und Haupt gemeinsam herausgegeben, die Lieder von Neidhart von Reuenthal 1858 von Haupt. Die bis heute umfassendste Sammlung der mittelhochdeutschen Lieddichtung insgesamt, in der auch auf die Melodien Bezug genommen wird, publiziert Friedrich Heinrich von der Hagen 1838 in vier Bänden unter dem Titel Minnesinger, und diese Ausgabe legt den Grundstein zur Erforschung des deutschen Minnesangs im 19. Jahrhundert. Hagen publiziert 1850 Teile der Manessischen Handschrift in seiner Ausgabe Minnesänger aus der Zeit der Hohenstaufen, die ebenfalls große Bedeutung erlangt.187 Das durchgehende Interesse am Minnesang im 19. Jahrhundert wird nicht nur durch die kontinuierliche Bedeutung von Tiecks Minne/ieder-Ausübe. für das gesamte 19. Jahrhundert deutlich, es geht über die wissenschaftliche Erschließung des Minnesangs hinaus. Denn das Interesse am Minnesang schlägt sich in einer unüberschaubaren Fülle an popularisierenden Textausgaben nieder, denen Vertonungen folgen. Berühmtheit erlangen die Minneüeder (1810) von Georg Friedrich Benecke 188 , die Deutsche Antho/ogie, oder B/umenkse aus den KJassikern der Deutschen (1821) und die Hesperischen Nachk/änge in deutschen Weisen (1824), beide von Friedrich Rassmann 18 ', ferner die Auswahl der Minnesängerßr Vor/esung und Schu/gebrauch (1845) von Karl Heinrich Volckmar190, aber auch eine Legende in zwanzig Liedern Der Minnesänger (1835) von

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U. a. Brief Runge vom 9. März 1802, in: Runge 1840/1841, S. 11. Vgl. zum Beispiel Pölzl 1889 und Huit 1991. Vgl. hierzu Spaarnay 1948; Stackmann 1964; Schweikle 1993; Kühnel 1976. Hagen 1850. Benecke 1810. Rassmann 1821 und Rassmann 1824. Volckmar 1845.

Josef Sutner191. Weiterhin erreichen die Minne/ieder HiJdebo/ds von ScinvangauP2 die 1871 Johannes Schrott herausgibt, das A/te Goid(\?H%) von Karl Ströse193 und Adalbert Schröters Minneliederauswahl in seiner Sammlung Minnesangs Rosen^ei^ ein großes Publikum. Ein Übriges trägt die schöne Ausgabe Deutsch Minnesänger in Bi/d und Wort von Hyacinth Holland und Eduard von Luttich zur Beliebtheit des Minnesangs im 19. Jahrhundert bei.195 Weiter erreicht eine unüberschaubare Flut an Vertonungen die interessierte Öffentlichkeit, wobei diese Flut zum einen als Reaktion auf den Reichtum an zugänglichem Textmaterial zu deuten ist, zum anderen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch als Reaktion (oder als kammermusikalischer Ableger) der Wagner-Manie- ohne dass man das eine vom anderen trennen könnte. Hier sind frei komponierte und gedichtete Minnelieder ebenso vertreten wie »Originalausgaben«, die sich im Ergebnis von Neukompositionen kaum unterscheiden. In jedem Werkverzeichnis bekannter und unbekannter Liedkomponisten des 19. Jahrhunderts begegnet das Mittelalter als Stofflieferant, Ritter und Raubritter durchziehen das Kunstlied des 19. Jahrhunderts, und der Minnesang ist ein zentrales Thema romantischer Liedkunst. Zum Teil gehen die Dichtungen auf Tiecks Minnelieder zurück, zum Teil auf andere freie Dichtungen oder populäre Ausgaben, angefangen mit dem Lied Minneso/d: Wem der Minnedienstge/ingt von Joseph Wölfl, dem op. 10/4 von Heinrich Bellermann [Abb. 18], den Äiinne/iedern aus op. 8, op. 34 und aus op. 47 von Mendelssohn und in Stades Minneüedop. 1/1 mit dem Titel Nun so/ist du Hebte ¿ange Sommerzeit, einem Text von »Heinrich dem Erlauchten, Markgraf von Meissen (1218-1288) «, der auch in Arnold Krugs op. 19/8 und in Bruno Ramanns op. 39/5 wieder auftaucht. Die Minneiieder von Heinrich Hofmann196 und die Minneüeder aus dem Mitteibocbdeutscben von Paul Umlauft197 sind hier ebenso zu erwähnen wie Simon Sechters op. 64 (Minnesänger %u Rbeingrafenstein) und Schumanns op. 33/2, das Heinrich Heines Text Minnesänger Zu dem Wettgesange schreiten aufnimmt und im Minnespie/ auf einen Rückert-Text in op. 101 weitergeführt wird. Wilhelm Tauberts Minnelieder »für das Pianoforte« mit dem Titel Kein Lust obn treues Lieben, die um 1840 entstehen, sind wie Adolf Jensens Minneweisen, op. 6, auf Dichtungen von Emanuel Geibel, dessen Texte auch Clara und Robert Schumann, Mendelssohn und Max Bruch vertonen, Beispiele für populäre Minnesangrezeption im Lied. Und der Hinweis in Jensens op. 6/3 auf die Art der Darstellung - »nicht zu schnell, mit galantem Vortrage« —, belegt indirekt die Begeisterung für den Minnesang, indem mittelalterliche Lebensformen und ihre Regeln gesellschaftlichen Umgangs zu einem Modell für das Biedermeier werden. Dabei zeigen die Ausgaben, neben Samteinbänden und Metallbeschlägen, zum Teil eine illustrative Aufbereitung der Lieder, die bereits vertraute Bildelemente der Mittelalterrezeption verwendet. Die Verbindung von ritterlichen Insignien, neogotischen Spitzbögen, Wappen und Degen mit dem Bild mittelalterlicher Musik ist bereits so tief verankert, dass sie authentisch erscheint.

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Sutner 1835.

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Schrott 1871.

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Ströse 1878.

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Schröter 1898.

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Holland 1878.

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Hofmann o. J.

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Umlauft o. J.

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Bild, Wort und Ton vereinigen sich zu einem Miniaturgesamtwerk der Mittelalterrezeption. Als Beispiel seien Deckblätter von zahlreichen Ausgaben mit modernen »Minneliedern« genannt - beispielsweise Heinrich Hoffmanns Minne/ieder oder Bruno Ramanns A/bumfiirstücher Minnesinger—, die Bildelemente der Hochgotik einsetzen. [Abb. 19] In Frankreich und Deutschland finden sich zudem zahlreiche Ausgaben, die im Zusammenhang mit anderen Werkgruppen auch Minnesang und/oder Lieder der Troubadours und Trouvères präsentieren. So stellen sich die Echos du temps passé von Jean-Baptiste Théodore Wekerlin als historisierende Anthologien dar, während die dansons Tendres du 12me au Í8me Sièek von Edouard Moullé immerhin als »remises au jour et harmonisées« eingeführt sind. Julien Tiersot, Musikwissenschaftler und Volksmusikforscher, beschreibt im Vorwort zu seinen Chants de Ja Vieille France, die um 1910 erscheinen, die monophone Natur der Lieder, wobei er dies durch das Adverb »essentiellement« einschränkt. Er erwähnt Übertragungen von Pierre Aubry, die er verwenden konnte, und schreibt: »Toutes ces chansons sont essentiellement monodiques, et, sauf peut-être les dernières, conçues indépendémment de toute influence d'harmonie. Par là elles apparaissent comme les productions les plus spontanées de notre art, et donnent une idée plus sincère du génie musical français que les œuvres polyphoniques, dont l'origine et la composition sont, en vérité, arti- ' ficielles.«19»

Unter den auf Authentizität zielenden deutschsprachigen Minnesang-Ausgaben ragen zwei heraus: Die Origina/gesänge von Troubadours undMinnesingern des 12. bis 14. Jahrhundertsvon Franz M. Böhme 199 und das A/bumßirstücher Minnesinger undLiederdichter-von Bruno Ramann. 200 Böhmes Origina/gesänge sind ein ambitioniertes Projekt, in dem Lieder folgender Troubadours und Minnesänger aufgenommen sind: Chatelain de Couci, Thibaut de Navarre, Tannhäuser, Neidhart, Meister Alexander, Witzlaw von Rügen und Oswald von Wolkenstein. Die Lieder werden jeweils mit einem historischen Kommentar zur Quelle, Veröffentlichungsgeschichte von Lied und Text und einer kurzen Anmerkung zum Textinhalt eingeleitet. Hauptquellen für Böhme sind die Jenaer Liederhandschrift sowie die Musikgeschichten von Charles Burney, Jean-Benjamin de La Borde, Raphael Georg Kiesewetter und August Wilhelm Ambros. Als Beispiel sei das dritte Lied angeführt, das »Minnelied von Thibaut, König von Navarra (f 1254)«. Böhme übernimmt das Lied von Kiesewetter und Ambros [Abb. 20], bearbeitet die Melodie nur leicht, gibt dem Rhythmus in einzelnen Takten mehr Esprit und fügt einen angenehmen Klaviersatz hinzu. Der Umgang mit dem Minnesang, wie er in den ersten Musikgeschichten vorgeführt wird, trägt bereits reiche Früchte und vermittelt Komponisten zugleich die Sicherheit, sich an die musikhistorische Forschung der Zeit anlehnen zu können. Die Bearbeitung erscheint nicht als Eingriff oder Verfremdung, sondern als Freilegung der ursprünglichen Intention von Dichter und Autor. 201

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»Vorwort« zu Tiersot o. J. Böhme O.J. Ramann o. J. Vgl. dazu das Kapitel »Koordinaten im musikhistorischen System«.

Ramanns Aibumßirst/icher Minnesinger unii Liederdichter enthält zwanzig Lieder 202 , geschrieben auf »adlige« Gedichte. Die Textdichter reichen von Friedrich I. (Barbarossa), Heinrich VI. oder Conradin von Schwaben, dem letzten Hohenstaufen, über Maria Stuart und Prinz Georg von Oldenburg bis zu Ludwig I. von Bayern, Kaiser Maximilian von Mexiko und Karl VI., König von Schweden und Norwegen. Der musikalische Stil orientiert sich am Lied Mendelssohns und Brahms', die Textbearbeitung erinnert noch nicht einmal entfernt an Minnesang. Ein Gedicht Friedrich Barbarossas, der in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts lebte, lautet jedenfalls: Ritter aus dem Franzenland, edle Frauen catalonisch, Zierlichkeit von Genuas Strand, feine Sitten castüianisch, Aus Provence der Lieder Tand, Tänze lieb ich trevisanisch, aragonschen Wuchs gewandt, feine Worte italiänisch, englisch sei Gesicht und Hand und das Mägdelein toscanisch.203 Der Minnesang ist hier in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts angekommen und entspricht einer künstlerischen Produktion historischen Sinns. 1918 erscheint ein reprographischer Nachdruck der Minneiieder Tiecks, in dem unterstrichen wird, das Buch »führe uns in eine Zeit zurück, die der Gegenwart in tieferem Sinne verwandt« sei. 204 Ob damit die Zeit der Minnesänger oder die Romantik gemeint ist, wird offengelassen. Minnesang undMitfeia/ter bei Richard Wagner Guido Adler, der erste Universitätsprofessor für Musikwissenschaft, berichtet in seiner Autobiographie Wol/en und Wirken von einem Gespräch, das er mit Richard Wagner anlässlich der Uraufführung des Parsifa/1876 führte. Wagner fragt Adler nach seinem Wissenschaftsbegriff, und Adler antwortet: »Da ich nicht die nach meinen Ansprüchen notwendige Begabung für die produktive Kunst habe und die reproduzierende mich nicht befriedigt und ausfüllt, so greife ich zur Wissenschaft der Musik, besonders mit Hinblick auf die Aufdeckung der Geschichte und der Zuganglichmachung unvergänglicher Werke der Vergangenheit. Auch diese können dem Künstler nützen, geradeso wie Sie Ihre Stoffe den Ergebnissen der literarhistorischen Forschung entnommen haben.«2"!'

An diesem Zitat ist die Rede von der »Aufdeckung der Geschichte und der Zugänglichmachung unvergänglicher Werke der Vergangenheit« ebenso aufschlussreich wie der Hinweis, Wagner habe seine Stoffe den Ergebnissen der literarhistorischen For202 203 204 205

Die Sammlung umfasst folgende Lieder von Bruno Ramann: op. 39/1-5; op. 40/6-9; op. 41/10-13; op. 42/14-16; op. 47/17-20. »Ritter aus dem Franzenland«. Gedicht von Friedrich I., deutscher Kaiser. Bruno Ramann, op. 39/1. Gustav Pauli, Vorwort in Tieck 1918. Adler 1935, S. 15 f.

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schung entnommen. Aus Adlers Sicht - und diese teilen andere Pioniere der Historischen Musikwissenschaft - ist Wagners musikdramatisches Schaffen vom Tanniämer an ein Ergebnis der neu zugänglich gemachten mittelhochdeutschen Texte, die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Hülle und Fülle erschienen waren. Dabei hatte Wagner seinerseits vor einer ungefilterten Übernahme historischer Stoffe in Oper und Drama von 1851 gewarnt und formuliert, wahre Geschichte sei kein Stoff für das Drama - weg vom geschichtlichen Vorgang und hin zum Mythos müsse der Weg im musiktheatralischen Prozess gehen.206 Gleichzeitig ist sich Adler bewusst, dass Wagner die mittelalterlichen Quellen in romantischer Brechung kennen gelernt hatte, und er arbeitet die Grundlage von Wagners Mittelalterrezeption, die er in den Schriften von E. T. A. Hoffmann, Tieck, Heinrich Heine und anderen verankert sieht, heraus. Adler bemerkt zwar, dass die Musikdramen Wagners seit dem Tannbäuser von der romantischen Literatur seiner Zeit veranlasst sind, erblickt in ihnen jedoch einen opernästhetischen Durchbruch zum »mittelalterlichen Kern«. Und das schreibt ihnen historischen Erkenntniswert zu: »Wagner griff nach dem Urstoffe der Sagen. Er [...] entnimmt ihnen nur die wirksamen poetischen Motive, verarbeitet sie selbständig und schafft so neue organische Gebilde in freier Metamorphose des Überkommenen. Er vermeidet die Verschwommenheit in der Erfassung und Behandlung dieser Stoffe, wie sie sich vielfach bei den romantischen Dichtern zum Schaden der Dichtung fühlbar macht, er schält den Kern heraus und umgibt ihn mit einer neuen poetischen Hülle. Er erwägt mit Klarheit die treibenden Motive der Handlung, die mit dramatischer Schlagkraft wirken. Er fuhrt mit dem überkommenen Material neue Gebäude in meisterhafter Art auf.« 207

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Wagners Quellen und Vorlagen beispielsweise für seine Oper Tannòà'user undder Sängerkrieg auf Wart'bürg, die 1845 uraufgeführt wird, durchaus Ergebnisse der »literarhistorischen Forschung« des frühen 19. Jahrhunderts hinzuziehen. Seine Bibliothek, die Wagner 1848 bei seiner Flucht aus Dresden zurücklassen musste und die sich heute im Wagner-Museum in Bayreuth befindet,208 zeugt davon ebenso wie Wagners autobiographische Schriften, in denen er Inspirationsquellen und Entstehungsphasen offen legt. Gleichzeitig ist deutlich, dass Wagner mittelalterliche Textquellen in moderner — in philologischer und auch poetischer — Brechung kennen gelernt hatte: Von den vorgestellten mittelalterlichen Werken kennt Wagner nur die Inhalte — weder die Originaltexte noch die dazugehörigen Melodien.209 Auch ist bei Wagner durchweg kein Interesse an historistischer Wiederbelebung älterer Musik auszumachen, wie seinen Verdikten gegen historische Konzerte und seinen Äußerungen zur »Ungeeignetheit aller Wiedervorfiihrungsversuche« zu entnehmen ist.210 Wagners »mittelalterliche« Opern sind tatsächlich eine Rezeption jenes Mittelalterbildes, das die Literatur und Geschichtsschreibung des beginnenden 19. Jahrhunderts gezeichnet hatte.211

2°6 2°7 208 209 210 211

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Fischer 1986, S. 513. Ib., S. 84. Vgl. dazu Westernhagen 1966 und Eger 1983. Müller 1999, S. 44. Geck 1969, S. 142-145. Vgl. dazu Borchmeyer 1989, S. 103 f.; Mertens 1989; Wapnewski 1978.

Für dieses fui die Zeitgenossen Wagnets kaum zu entwirrende Verwirrspiel mit echtem und imaginiertem Mittelalter legt Wagner selbst ein kompliziertes Textlabyrinth an. Wenn Wagner äußert, im Lohengrin habe er »ein vollkommenes Bild des Mittelalters gegeben,«2!2 und wenn Cosima Wagner ergänzt, der Lohengrin sei das einzige Monument »für die Schönheit des Mittelalters«213, so liegt in diesen Äußerungen die Auffassung, erst die Umformung im Werk des 19. Jahrhunderts, und nicht die mittelalterlichen Werke selbst, gäben ein wahrhaftiges Mittelalterbild.214 Auch die textliche Unscharfe - ist das Mittelalter oder die Zeit Wagners gemeint? - ist Teil der Traumstrategie. Dabei wird in den Äußerungen Wagners nur die im 19. Jahrhundert gängige Überzeugung reflektiert, in den Epen Wolframs von Eschenbach, im NibeJungen/kdund im höfischen Roman Lohengrin, der um 1285 entstanden ist, seien die Erzählstoffe der mündlichen Tradition nicht adäquat vermittelt und literarisch aufbereitet, sondern vielmehr verfälscht worden. Erst Wagner hebt den Schatz der deutschen Heldenepik, »schält den Kern heraus«, wie Adler schreibt, und extrahiert den mythischen Gehalt der Geschichten. Für die Zeitgenossen legt Wagner die »Quellen alles wahren Menschenthums«, nämlich »die alten deutschen Sagen« frei215 - eine Verquickung von Humanität und nationalen Wurzeln, die schon in der Idee einer »deutschen Weltliteratur« zum Ausdruck kam und nach dem Krieg 1870/71 zur Ideologie wird. Wagner geht es weniger um das historische Mittelalter als vielmehr um die eigene Gegenwart, wenn nicht gar um die eigene Biographie. Interessanterweise wecken jedoch die Werke Wagners ein großes Interesse am Mittelalter und erschließen es für eine breite gebildete Öffentlichkeit. Wagner ist der machtvollste Vermittler mittelalterlicher Stoffe.216 Dass dabei das idealisierte Mittelalter als Zufluchtsort und Projektionsfläche dient und als historische Zeit verschwindet, ist für die Rezeption ohne Bedeutung. In einem Taumel der Wagnerbegeisterung wird das Mittelalter zu einem sehnsuchtsvollen Gegenbild; die Hörer gehen blindlings in die Falle und nehmen auch hier die Mittelalterrekonstruktion, die schon in der romantischen Literatur und der »mittelalterlichen« Ikonographie des 19. Jahrhunderts - für Notenund Texteditionen - begegnete, für bare Münze: »Mit welch zauberhafter Verwirrung durchdrang es mich! Alles erschien mir geheimnisvoll an ihm: die neuen Klänge der Orchestrierung, das Timbre, die Rhythmen, die Themen, die ganze wilde Poesie des entlegenen Mittelalters, die grausamen Legenden und das düstere Fieber unserer verborgenen Wünsche und Ängste.« 21 ^

Die Begegnung mit der Musik Wagners raubt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur Romain Rolland alle Sinne, sondern bewegt jeden, der sich mit ihr beschäftigt. Sie ist ein Thema, das jedes Gespräch sogleich auf einen Siedepunkt zuführen konnte.218 Und um die Verbindung zu zeigen von authentischem Mittelalter, literarisch aufbereitetem Mittelalter und der Rezeption des Wagnerschen Mittelalters 212 213 214 215 216 217

218

Richard Wagner an seine Frau, Brief vom 6. Juni 1879, in: Wagner 1976/1977, Bd. II, S. 361. Ib. Mertens 1989, S. 9. Nohl 1869, S. 53. Vgl. dazu beispielsweise Müller 1989. Rolland 1908, S. 279 f. Barry 1880/1881.

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als vermeintlich authentischer Mittelalterrekonstruktion - weniger als Mittelalterimagination - , seien einige Bemerkungen zum Tannhäuser eingefügt, jener Oper, mit der Wagner die Wende zum deutschen Mittelalter vollzieht. Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg Die Stoffquellen und Vorlagen, die Wagner für seine »große romantische Oper« verwendet, sind gut bekannt: Wagner beschäftigt sich zwischen 1843 und 1845 eingehend, mehr oder minder gleichzeitig, mit all jenen Mittelalterquellen und —Stoffen,219 die er später für seine musikdramatischen Werke verwenden wird. Dabei ist für den Tannhäuservon Bedeutung, dass die Geschichte vom Minnesänger Tannhäuser durch den modernisierten Wiederabdruck 1806 in Des Knaben Wunderbar»®** ebenso bekannt war wie durch das ironische Gedicht Der Tannhäuser von Heinrich Heine, das 1837 als Abschluss des Essays »Elementargeister« im dritten Band seines Sakn221 erschienen war. Wagner kennt ferner die Novelle »Der getreue Eckart und der Tannhäuser« aus dem Phantasus von Ludwig Tieck, aber ihn interessiert nicht — und in den ersten literarhistorischen Untersuchungen zur Tannhäuser-Legende ist dies auch nicht bekannt —, wie diese Sängersage im Mittelalter entstanden ist und wie sie mit dem historischen Minnesänger Tannhûser aus dem 13. Jahrhundert zusammenhängt, von dem Lieder und drei Melodien erhalten sind.222 Angeregt durch Samuel Lehrs, einen Philologen, mit dem er sich in Paris angefreundet hatte, kombiniert Wagner die Tannhäuser-Legende mit dem legendenhaften Sängerkrieg auf Wartburg.223 Wagner kennt den Sängerkrieg aus Ε. T. A. Hoffmanns Novelle Der Kampf der Sängefi2A (1819) aus dem zweiten Teil der Serapionsbrüder, und er kennt vermutlich ebenfalls das romantische Schauspiel in fünf Aufzügen Die Minnesinger auf der Wartburgxon Christoph Kuffner, das 1819 in Wien aufgeführt und 1825 gedruckt worden war, sowie Fouqués 1828 erschienenes Dichterspiel Der Sängerkrieg auf der Wartburg und das 1836 erschienene Theaterstück Der Kampf auf der Wartburg der Gräfin Hahn-Hahn.225 Wagner fügt den Textquellen ferner zwei Stoffe aus den Sagen des Thüringer Raumes hinzu: Die mit dem Hörselberg verknüpfte Sage vom Venusberg, die er Ludwig Bechsteins Die Sagen von Eisenach und der Wartburg dem Hörseiberg und Reinhardsbrunn entnimmt,226 sowie Reflexe aus den Legenden um die Heilige Elisabeth,

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Vgl. Müller 1999, S. 33 f. »Der Tannhäuser«, in: Arnim/Brentano 1806, S. 79-82. Diese Fassung lässt sich nur bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Wagner erwähnt diese Quelle in seinen autobiographischen Schriften nicht, in: Borchmeyer 1989, S. 102-108. Vgl. Müller 1999, S. 34. Samuel Lehrs macht Wagner auf den Text des Königsberger Philologen Christian Theodor Ludwig Lucas aufmerksam. In dessen Text Uber den Krieg von Wartburg wird die These vertreten, im späteren Volksglauben sei der Sänger Tannhäuser mit Heinrich von Ofterdingen verschmolzen worden. Vgl. dazu Mertens 1989, S. 15. Vgl. Hewett-Thayer 1948, S. 526 f. Grosse 1986, S. 383. Bechstein 1835. Wagner wird von Bechsteins Sagensammlung für den Prosaentwurf zu einer geplanten Oper Der Venusberg inspiriert, der zwischen dem 28. Juni und dem 6. Juli 1842 auf Burg Schreckenstein bei Aussig entsteht, einer malerischen Ruine über dem Elbetal.

deren Name mit der Wartburg verknüpft ist. Für die Quellen Wagners sind die mittelalterlichen Vorlagen ohne Belang. Die herausgearbeiteten Eigenarten eines Gottfried von Straßburg oder Wolfram von Eschenbach sind tatsächlich der Originalität und dichterischen Kraft des Thomas von Britanje oder des Chrestien de Troyes zuzuschreiben227 - sie erscheinen jedoch in der Sicht Wagners als historische Figuren, nicht als literarisierte Spiegelungen und Stilisierungen der Autoren aus dem Mittelalter. Aus Wagners Sicht gebührt das Privileg zu stilisieren und den mythischen Kern herauszuschälen der späteren Zeit, nicht der jeweiligen Gegenwart. So wird aus den unterschiedlichen Textvorlagen, die allesamt der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstammen, eine Kombination unterschiedlicher Quellen, die jedoch nicht nur Ergänzung und Erweiterung, sondern programmatische Konfrontation ist: Zwei Welten treffen aufeinander, die Welt des Tannhäuser und die Welt der Wartburg, und ihre Beziehung ist spannungsvoll.228 Die historische Gestalt der Landgräfin Elisabeth von Thüringen,229 über deren reale Biographie sich Wagner kühn hinwegsetzt, um aus ihr eine Gegenfigur zur Venus zu formen, ergänzt den Stoff um das Element einer »Erlösung durch die Liebe«. Wagner selbst äußert zwar, der poetische Grundzug des Tannbäuser sei »die hohe Tragik des Entsagens«,230 aber die Erlösung durch Liebe erst im Jenseits ist weniger Entsagung, mehr Verschiebung auf diejenige Ebene, auf der die Einlösung stattfindet. In diesem Sinne führt Wagner hier die poetische Konzeption seiner Oper Derßiegende HoJJänder fort. Indirekt entspricht die Konzeption einer Erlösung nach dem Tod dem Kern mittelalterlicher Büßerlegenden, die im christlichen Kontext der Oper verständlich werden: »Der Gnade Heil ist dem Büßer beschieden, er geht nun ein in der Seligen Frieden.«231 Neben dem Zentralmotiv einer Erlösung durch Liebe, einer Konstante in Wagners Gesamtwerk, ist das konstituierende dramaturgische Prinzip des Tanniäuser der Konflikt des einzelnen mit der Gesellschaft, wobei hier, in der Verwendung von Minnesang und Minnesängern, ein für Wagner idealer Stoff gefunden ist, um die Künsderproblematik zu stilisieren. Der Minnesänger, als Prototyp des Künsders, vereinigt Dichter und Sänger in sich und spiegelt das Anliegen eines Komponisten, der sich um das Gesamtkunstwerk bemüht und sich in seiner Rolle als Künsder im Dauerkonflikt mit Institutionen und kritischer Öffentlichkeit befindet.232 Wagners Teilnahme am Dresdner Aufstand 1849 hatte ihn tatsächlich, wie Johannes Wolf schreibt, zu »einem Geächteten gemacht«233. Versteckt wird dieses moderne Thema, das typisch für die Genieästhetik des 19. Jahrhunderts ist, in hochdramatischer Leitmotivtechnik, psychologisch ausgerichteter Personenführung und einem konventionellen Bühnenbild, das die Vorstellungen 227

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Wapnewski 1978, S. 22. Wapnewski 1985, S. 223. Marggraf 1999. Wagner zitiert hier Schopenhauer: »Wenn [im Tannhäuse^ ein poetischer Grundzug ausgedrückt ist, so ist es die hohe Tragik des Entsagens, der wohlmotivierten, endlich notwendig eintretenden, einzig edösenden Verneinung des Willens«. Brief an August Rockel, 23. August 1856. In: Glasenapp 1977, Bd. 2, S. 89. Mertens 1989, S. 22. Diese Spitze bleibt den Rezensenten der Uraufführung durchweg verborgen: »Langweilig« findet der Dresdner Dramaturg Karl Gutzkow die Oper, »außerordentlich gewöhnlich« urteilt der Rezensent der Dresdner Abendzeitung. Zitiert in Friedrich 1999, S. 67 f. Wolf 1929, S. 63.

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vom Mittelalter realisiert. Besonders der Dekorationstyp des mittelalterlichen Prachtsaals, der als anspruchsvollstes Motiv der historischen Oper in Paris in den 1830er Jahren zur Vollendung geführt und seitdem in vielen Opern eingesetzt worden war,234 ist ein grandioses »Täuschungsmanöver« im Bemühen um Historisierung. Wagner holt den Pariser Bühnenbildner Edouard Désiré Joseph Desplechin, der unter anderem die Bühnenbilder für die Hugenotten von Giacomo Meyerbeer, die Jüdin von Jacques Halévy und La Favorite von Gaetano Donizetti erstellt hatte, für die Uraufführung des Tanni/äuser nach Dresden; und hier erarbeitet Desplechin ein Bühnenbild als »Mittelaltertraum des 19. Jahrhunderts«235. Der Entwurf hat sich nicht erhalten, aber ein Aquarell des Modells für den zweiten Aktes der Uraufführung ist überliefert [Abb. 21]: Es zeigt einen Saal im Obergeschoss der Wartburg, ein weiter Bogen bietet freien Blick auf verschiedene Burggebäude, die Söllergalerie ist für den Auftritt der Gäste vorbereitet, eine hohe, schrägperspektivisch in die Tiefe führende Bogenreihe mit Statuen fängt den Blick. Der prachtvolle Saal ist in einem romanisch-byzantinisch idealisierten Prachtstil gehalten, mit inkrustierten Säulen, Löwenkapitellen, Skulpturenschmuck und schimmernden Goldmosaiken. Dabei übersteigen die räumlichen, architektonischen und künstlerischen Dimensionen dieser imaginierten Wartburg — erst 1848 wurde mit dem Wiederaufbau der Burgruine begonnen — alles, was sich aus dem 13. Jahrhundert an Burgen erhalten hat, und es musste jedem historisch halbwegs Unterrichteten klar sein, dass ein Saal auf der Wartburg um 1207 niemals so ausgesehen haben konnte. Der Raum ist ausschließlich theatralisch gedacht, das historisch Richtige tritt hinter die Vergegenwärtigung eines hohen Stils der eigenen kulturellen Vergangenheit zurück. Es geht im Tannhäuser um ein im doppelten Sinne künstliches Paradies, um das Paradies der Frau Venus auf der Bühne, das dem Künsder Zuflucht gewährt, und um das künstliche Paradies des Mittelalters, das in der Rekonstruktion zum Sehnsuchtsort wird.236 Bezeichnenderweise entscheidet sich Wagner 1861 anlässlich der Tanniäuser-Kuiführung in Paris für ein dezidiert gotisches Bühnenbild [Abb. 22], Mitderweile ist »Gotik« so eng mit dem Begriff eines romantisierten Mittelalters verknüpft, dass »Gotik« wie eine Ikone eingesetzt werden kann. Da bereitet es auch keine Schwierigkeiten, wenn der Prachtsaal eher an englische Spätgotik (die sich an der Pariser Oper Mitte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreut) als an deutsche Burgenarchitektur des frühen 13. Jahrhundert erinnert. Die Verwendung romantischer Textquellen und die Ergänzung der Komposition durch die optische Gestaltung zu einem »Mittelaltertraum«, während gleichzeitig noch nicht einmal die damals bereits bekannten Melodien der Minnesänger einbezogen werden, macht den Tarinbäuser zu einer durch und durch romantischen Oper. Aber sie steht in einem Spannungsfeld zur zeitgleich an Land gewinnenden Geschichtswissenschaft und Philologie, die, als zentrale historische Arbeitsfelder, ihren Anspruch sogar auf die künstlerische Produktion historischen Sinns geltend machen. So schreibt Wagner: »Ich fugte dem Namen meines Helden Tannhäuser die Benennung desjenigen Sagenstoffes hinzu, welchen ich, ursprünglich der Tannhäuser-Mythe fremd, mit dieser in Verbindung ge234

Friedrich 1999, S. 67-69.

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Bauer 1999, S. 203. Vgl. Mayer 1966.

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bracht hatte, woran leider später der von mir so sehr geschätzte Sagen-Forscher und Erneuerer Simrock Anstoß nahm.« 237

Mitte/a/tertraum, lVagnem^eption undMustkgeschichtsscbreibung Wagners Tannhauser wird im 19. Jahrhundert durchweg nicht als Mittekltertraum oder Mittelalterimagination begriffen, sondern als Mittelalterrekonstruktion gesehen — ein Phänomen, das die Mittelalterrezeption insgesamt umgreift. Der glühende Wagnerverehrer Ludwig II. 238 gibt seiner Überzeugung, Wagner hätte in seinen musikdramatischen Werken Historie realisiert, die als »reales Bühnenbild« nachbau- und erlebbar sei, in Form konkreter künsderischer Pläne Ausdruck, die irgendwo zwischen Historismus und Wahnsinn angesiedelt sind: »Ich habe die Absicht, die alte Burgruine Hohenschwangau bei der Pöllatschlucht neu aufbauen zu lassen im echten Styl der alten deutschen Ritterburgen und muß Ihnen gestehen, daß ich mich sehr darauf freue, dort einst (in drei Jahren) zu hausen; mehrere Gastzimmer [...] sollen wohnlich und anheimelnd dort eingerichtet werden; Sie kennen ihn, den angebeteten Gast, den ich dort beherbergen möchte; der Punkt ist einer der schönsten, die zu finden sind, heilig und unnahbar, ein würdiger Tempel für den göttlichen Freund, durch den einzig Heil und wahrer Segen der Welt erblühte. Auch Reminiscenzen aus Tannhäuser (Sängersaal mit Aussicht auf die Burg im Hintergrund) und Lohengrin (Burghof, offener Gang, Weg zu Kapelle) werden Sie dort finden, in jeder Beziehung schöner und wohnlicher wird diese Burg werden als das untere Hohenschwangau, das jährlich von der Prosa meiner Mutter entweiht wird; Sie werden sich rächen die entweihten Götter und oben weilen bei uns auf steiler Höh', umweht von Himmelsluft.« 239

1867 besucht Ludwig II. mit seinem Bruder Otto auf Empfehlung Richard Wagners die Wartburg bei Eisenach, eine Neuinszenierung des Tannbäuser steht bevor, und Ludwig II., der seinen ersten Besuch des Tannhäuser 2xn 22. Dezember 1862 alljährlich wie einen Feiertag begeht, ist angetan davon, den Schauplatz dieser Oper und ihre Umgebung kennen zulernen.240 Aber beim Reisen bleibt es nicht: Neben dem Bau von Hohenschwangau und Neuschwanstein,241 die mit Fresken zu Motiven aus Wagners Opern und anderen mittelalterlichen Legenden ausgestaltet sind, lässt Ludwig II. 1877 in der Nähe der Hundinghütte im Wald bei Linderhof die Einsiedelei des Gumemanz aus dem dritten Aufzug des Parsifa/ errichten, wohin er sich zur Lektüre des 1880 an ihn gesandten Vorspiels zurückzieht. Und er wähnt dort »im Geist die hehren Posaunenklänge« zu hören, die von »der Gralburg her« erschallen.242

237 238 239 240

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Zitiert ib. Vgl. dazu Nägele 1995. Ludwig II. an Richard Wagner, 13. Mai 1868, in: König Ludwig/Wagner 1936, Bd. II, S. 224 f. Ein Verlangen, das seinem grundsätzlichen Bedürfnis entspricht, an die sagenhaften oder authentischen Schauplätze der von ihm bevorzugten Bühnenstücke zu reisen, um sie sich an historischer oder vermeintlich historischer Stätte des Geschehens zu vergegenwärtigen. Vgl. Russ 1974, S. 3 f. Vgl. Baumgartner/Desing 1979. König Ludwig/Wagner 1936, Bd. III, S. 189.

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Die Überzeugung von Ludwig II., im Wagnerschen Werk sei Historie vergegenwärtigt, teilen viele Zeitgenossen. Man kann beobachten, dass Wagners Werke musikhistorische oder literaturwissenschaftliche Forschungen beschleunigen oder sogar anstoßen. Dies ist den breiten Diskussionen um die historische Exaktheit der Musikdramen Wagners ebenso zu entnehmen wie der Rede von »realistischer Wahrheit und nationaler Wärme«, mit der Wagner beispielsweise in den Meistersingern von Nürnberg »ein Stück altdeutschen Lebens« verwirklicht habe. 243 So veröffentlicht 1875, sieben Jahre nach der Uraufführung der Meistersinger, der Literaturwissenschaftler Karl Goedecke 79 Meistersänger-Töne in einer Handschrift aus der Mitte des 16. Jahrhunderts von Valentin Voigt und Dichtungen von Hans Sachs,244 während der Musikhistoriker August Wilhelm Ambros in seiner einflussreichen Musikgeschichte ein Kapitel über »Die Minnesinger und die Meistersinger. - Das Zunftwesen des Musikantenthums« einfugt und hier besonders ausführlich auf »jenen berühmten Wettstreit« eingeht, »der mit dem Namen des Sängerkrieges bezeichnet und selbst wieder öfter Gegenstand dichterischer Darstellung geworden.«245 Ambros zählt im Übrigen, wie viele Musikhistoriker, zu den Verehrern der Musik Wagners, wie seine Culturhistorischen BiJder aus dem Musikleben der Gegenwart belegen.246 Manche Musikhistoriker fugen in dieser Zeit grassierender Wagneriana epidemic^1 in ihre Musikgeschichten ein Wagner-Portrait als Frontispiz ein, 248 andere widmen ihm zentrale Passagen in musikhistorischen Abhandlungen europäischer Musikgeschichte oder schreiben die europäische Musikgeschichte regelrecht auf Wagner zu. Für Guido Adler, dessen Buch über Wagner 1904 erscheint, befindet sich dessen musikdramatisches Schaffen in der Tradition der Frühgeschichte der Oper, Wagner steht »als Opernkomponist im Rahmen der Kultur- und Kunstepoche der Renaissance. Die Grundbestrebungen, die bei Wagner hervortreten, decken sich mehr oder weniger mit jenen der Gründer dieser Kulturepoche im allgemeinen und der Vertreter der Hochrenaissance im musikalischen Drama im besonderen.«249 Dabei sieht Adler in Wagner einen uomo universale, wie er von Jacob Burckhardt in dessen Kultur der Renaissance in Italien 1860 beschrieben worden war. Wagner ist der Vollender einer historischen Entwicklung - eine Idee, die Adler im Übrigen aus Ambros' Cu/turhistorischen Bildern^ endehnt —, und Adler bemüht sich, das zeitgenössische Wagnerbild eines ungestümen, hypertrophen Neuerers durch den engen Bezug zur Musikgeschichte zu entkräften. Sein Ansinnen erinnert an Arnold Schönbergs Bemühungen, das Neue einer Kompositionstechnik mit zwölf aufeinander bezogenen Tönen in der musikalischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts zu verankern 251 : 243 244 245 246 247 248 249 250

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Uraufführungskritik der Oper Die Meistersinger von Nürnberg, in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung Nr. 8 (1869), S. 62. Ohne Angabe des Autors, vermutlich Friedrich Chrysander. Goedeke 1875. Vgl. auch Goedeke/Tittmann 1867-83 und Goedeke/Tittmann 1869-85. Ambros 1864, S. 247. Ambros 1860. Blaze de Bury 1876. Vgl. dazu Chrysander 1876. Siehe dazu Brinkmann 1985. Keller 1907. Adler 1904, S. 3. Ambros 1860, S. 144-153. Darin auch: »Wenn man die zwei Gipfelspitzen des Parnassus als die Sitze der Poesie und der Musik ansehen wollte, so müßte der Parnassus zwischen beiden einen kleinen Monte nuovo emportreiben, auf dem sich Wagner seßhaft machen könnte.« (S. 146). Schönberg 1947.

»Es war die Stunde gekommen, da der richtige Mann erschien, auf den Jean Paul Richter harrte, auf den Mann, der eine echte Oper zugleich dichtete und setzte; denn bisher warf der Sonnengott die Dichtergaben mit der Rechten, die Tongabe mit der Linken zwei weit auseinander stehenden Menschen zu.p52] £>¡e Geschichte zeigt uns zwar, daß Jean Paul Richter mit seiner Meinung, daß diese beiden Gaben noch nie vereint gewesen seien, nicht recht habe. Im Mittelalter waren Dicht- und Tonkunst bei den Minnesängern, Hymnen- und Sequenzsängern vereint. Wir hören dann von einzelnen Künstlern, die ihre Werke dichteten und in Töne setzten, auf allen Gebieten. Im Drama war seit den ersten Singspielen eines Adam de la Halle (um 1270) diese Doppelgabe wiederholt vereint. [...] Bei Wagner gedieh das Zusammentreffen, das Ineinandergreifen von Dichtkunst und Tonkunst zu höchster Potenz. In seinen Dramen handeln Charaktere, die aus der Musik gestaltet sind. [...] Dichtung und Musik bilden eine fest verschlungene Einheit, die der ästhetischen Forderung nach Einheitlichkeit des Kunstwerkes in höchstem Maße entspricht.«25^

In diesem Zusammenhang ist auch die Haltung Hugo Riemanns zu Richard Wagnet von Interesse. Riemanns eigene Forschungen zum Mittelalter und seine Texte, die die Arbeit von musikwissenschaftlichen Mediävisten synthetisieren und publizistisch aufbereiten, sind für die Gründungsphase der Musikwissenschaft von eminenter Bedeutung. »Der größte dramatische Komponist des 19. Jahrhunderts und ohne Zweifel einer der energischsten, konzentriertesten musikalischen Denker aller Zeiten, zugleich ein Dichter von hochgenialer und großartiger Konzeption«, schreibt Riemann über Wagner, und fährt fort, er sei keine Alltagserscheinung, sondern ein »exemptes Genie.«254 Riemann muss seiner Verehrung für Wagner sogar ein persönliches Opfer bringen: Als Nachfolger von Heinrich Carl Breidenstein in Bonn, einem der ersten Musikprofessoren der neueren deutschen Universitätsgeschichte (1824 habilitiert, 1826 zum außerordentlichen Professor ernannt), der ihn 1876 zu seinem Nachfolger vorgeschlagen hatte, kommt Riemann nicht in Frage, weil er »sich der Wagnerschen Musik zu gewendet und den Boden der Klassizität verlassen« habe.255 Riemann, der stets mehr Musiktheoretiker als Musikhistoriker ist, nimmt in seinen Schriften häufig auf Wagner Bezug und räumt in seinem Handbuch der Musikgeschichte Wagners Opernästhetik und kompositorischer Entwicklung viel Raum ein. Aufgewachsen in einem Haus, in dem die Musik Liszts, Wagners und Berlioz' gepflegt und verehrt wird, erarbeitet er sich in einem »verkehrten Bildungsgang« die übrige Musikgeschichte,256 ankert schließlich in der Wiener Klassik als dem Höhepunkt der Musikgeschichte und entwickelt eine tiefe Liebe zur Musik von Johannes Brahms. Dabei ist es Riemanns Universalität, die zumindest die europäische Musik umfasst und die ihn zum Wanderer zwischen rivalisierenden musikalischen Schulen werden 252

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Adler bezieht sich hier auf das Vorwort zu E. T. A. Hoffmanns Märchen Dergoikne Topf, das 1813 erschienen war. Adler 1904, S. 165 f. Riemann 1882, S. 989. Der Eintrag bleibt bis zur letzten, von Riemann betreuten Auflage 1919 mit kleinen Änderungen identisch. Riemann, »Die Musik seit Wagners Heimgang. Ein Totentanz«, in Riemann 1901a, S. 35: »Mit seiner fast feindseligen Abwehr alles Theatralischen und Virtuosen ist Johannes Brahms das nothwendige Komplement der Wagnerschen Kunst und die einzige selbständige und wirklich bedeutende Erscheinung in dem Nebelstreifen, den der Komet hinter sich her zieht.« Kahl 1956, S. 54. Ib., S. XII f.

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lässt, zugleich das Gegenstück zu seiner Überzeugung, die Musikgeschichte sei ein Kontinuum von Fragestellungen, die wiederum Ausdruck unverrückbarer Urgesetze der Musik seien. 257 Riemann postuliert eine Musikästhetik, die sich im Laufe der Jahrhunderte kaum geändert habe, Ausdruck seiner Überzeugung von einer Kontinuität des musikalischen Hörens: »In ihrem Gesamtverlaufe ist doch erfreulicherweise die Geschichte der Musiktheorie so unverkennbar ein Fortschreiten zu immer schärferer Präzisierung und Formulierung derselben Erkenntnisse, daß wir alle Ursache haben, uns den Unterschied zwischen der Art zu Hören vor Jahrtausenden und der heutigen möglichst klein vorzustellen.«258 Riemann legt aus diesem Grund dieselben Kriterien an den Minnesang an wie an die Opern Wagners, alte, ältere und neuere Musik sind von einander nicht kategorisch abgesetzt, und Riemann sieht keinen Grund darin, für die so genannte alte Musik eigene musikalische Kategorien zu entwickeln.259 Er beschäftigt sich mit mittelalterlicher Mehrstimmigkeit ebenso wie mit dem Kunstlied Johannes Brahms', verteidigt Wagner, 260 prangert den Antisemitismus im Musikschrifttum des späten 19. Jahrhunderts an und ist bemüht, die Autonomie der Musik, die er als Ergebnis eines Jahrhunderte langen Emanzipationsprozesses sieht, zu verteidigen.261 Die Musikgeschichte ist ihm ein Kontinuum an Fragestellungen, die musikalischen Werke bilden die jeweils zugeordneten Antworten. So verwundert es nicht, dass Riemann auch auf die theoretischen Schriften und musikdramatischen Werke Wagners zurückgreift, wenn er sich dem Thema »Sprachmelodie und Sprachrhythmus« zuwendet. Dieses Thema ist für den Umgang mit der Neumenschrift und für ihre Übertragung von entscheidender Bedeutung, und Riemann verweist beispielsweise in seinem Handbuch der Musikgeschichte auf Wagners Schrift Oper undDrama. »Was da Wagner über Einhaltung regelmäßiger Zeitabstände für die Hauptbetonungen auch beim bloßen Sprechen sagt, ist wohl geeignet, von denjenigen beherzigt zu werden, welche mit einem sogenannten >freien Rhythmus< fur den gregorianischen Gesang auszukommen glauben. Ich unterlasse es hier, ein ausfuhrliches Zitat einzurücken, verweise aber mit allem Nachdruck auf die merkwürdige Auslassung eines hervorragenden schöpferischen Genius über die das scheinbar strenger Formen sich entschlagende Schaffen leitende Gesetze künstlerischer Gestaltung. Treten wir mit solchergestalt frei gemachtem Blick an die Neumennotierungen heran, so werden wir weniger deren Unvollkommenheiten sehen als vielmehr ihre seltenen positiven Eigenschaft. Wir erkennen dann mit Staunen und Bewunderung, daß das unsere heutige No257 258 259

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Seidel 1995, S. 34. Riemann 1912, S. VI. Seidel 1995, S. 30. Seidel geht auch auf Riemanns 1901 veröffentlichten Traktat De can tufractibiii von Magister Ugolinus de Maltero Thuringus ein, ein Gelehrtenscherz Riemanns, in dem er u. a. Joseph Haydns Gott erbaite Fran% den Kaiser als das Troubadourlied Dies servasse ausgibt. Vgl. zum Beispiel folgende Notiz über das moderne Kapellmeistertum, in dem er Richard Wagner verteidigt, dem vorgeworfen wurde, er sei dafür verantwortlich, das »alte Traditionen der Temponahme über den Haufen« geworfen werden: »Es ist immer noch zweierlei, ob ein Meister wie Wagner gegen einzelne Verlotterungen auftritt und versucht, dem Kunstwerke zu seinem guten Rechte zu verhelfen, oder ob ein >Moderner< mit dem Vorsatze an das Pult tritt, >dafür zu sorgen, dass die Zuhörer das liebe alte Werk nicht wieder erkennen sollen.« Riemann 1901b, S. 227. Riemann, »Hie Wagner! Hie Schumann!«, in: Bayreuther Blätter Vol. 3 (1880), nachgedruckt in Riemann 1901b, S. 204-214.

tenschrift so himmelhoch über alle anderen Notierungsweisen erhebende Moment der direkten Anschaulichkeit ein Erbteil der Neumenschrift ist, daß unsere Notenschrift nur eine im Laufe der Jahrhunderte konsequent ausgebaute Neumierung ist.« 262

Riemann zieht deshalb Wagner als Gewährsmann heran, weil er in Wagners musikdramatischem Schaffen nicht nur künstlerischen Ausdruck, sondern auch musikhistorische Erkenntnis verankert sieht und weil er in den 1880er Jahren beginnt, das Rätsel der Minnesang-Melodien zu lösen. 263 Schließlich, angeregt und beeinflusst durch Paul Runges Veröffentlichung zur Colmarer Handschrift,264 interpretiert Riemann, die Neumierung nicht in Anlehnung an die franconische Mensuraltheorie,265 sondern an den Sprachrhythmus. Wagners kompositorischer Umgang mit Sprache, zudem am Thema des Minne- und Meistersangs vorgeführt, ist für Riemann der Beleg seiner eigenen wissenschaftlichen These, 266 die er in Äußerungen Wagners wie der folgenden wurzeln sieht: »Wir kommen hiermit auf die natürliche Grundlage des Rhythmus im Sprachverse, wie er in den Hebungen und Senkungen des Akzentes sich darstellt und wie er einzig durch Steigerung zum musikalischen Rhythmus in höchster Bestimmtheit und unendlicher Mannigfaltigkeit sich äußern kann.« 26 ?

Riemanns Zugang zum Minnesang ist theoretisch und systematisch, er glaubt ein System, »ein wissenschaftliches Verfahren«, gefunden zu haben, das sich gegen »Willkür in der Hauptsache mit scheinbarer Originaltreue in der Nebensache« wendet und die Übertragung der Melodien »streng nach dem immanenten Rhythmus des Textes« ausführt.268 Und die unbeirrbare Strenge und Konsequenz Wagners sowie die enge Verknüpfung von Text und Musik in seiner musikdramatischen Konzeption lassen Wagner zum geheimen Verbündeten Riemanns in den Auseinandersetzungen um die korrekte Sichtweise des Minnesangs werden. Ähnlich wie die meisten Zeitgenossen entnimmt auch Riemann den Opern Wagners musikhistorische Einsichten, folgt Wagners Sicht auf Wolfram von Eschenbach und sieht in ihm nicht den Dichter anzüglicher Texte — seit 1833 waren Dichtungen Wolfgang von Eschenbachs durch Karl Lachmann zugänglich gemacht worden —, sondern einen Prototyp des mittelalterlichen Minnesangs, einen Vertreter der Hohen Minne: »Minnesänger heißen die ritterlichen Lyriker Deutschlands im 12.-13. Jahrhundert, welche Zeitgenossen der provencalischen und nordfranzösischen Troubadoure ^Trouvères) waren, sich aber von ihnen durch eine innigere keuschere Auffassung des Frauendienstes (Minne) unterscheiden. Die Gesänge der M. wurden wie die der Troubadours mit Begleitung eines 262

Riemann 1920, Erster Band/Zweiter Teil, »Die Neumenschrift«, S. 94 f.

263

Riemann formuliert bereits 1882 im Artikel »Minnesänger«: »Die Notierungen der Melodien der M. sind wie die der Troubadourgesänge mit Vorsicht zu untersuchen und nicht ohne weiteres nach der Mensuraltheorie ihrer Zeit zu übertragen, vielmehr (besonders die älteren) als schlicht mit Längen und Kürzen notiert anzusehen«. Riemann 1882, S. 589. Runge 1896.

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Dabei ist aufschlussreich, dass Runge zwar als erster die Theorie formuliert, Riemann sie jedoch publizistisch weiterträgt und in Folge von dem »1896 von Paul Runge und Hugo Riemann« aufgestelltem Prinzip schreibt.

266

Vgl. dazu Riemann 1905.

267

Wagner 1850/1851, III. Teü, Unterkapitel: Wortvers und Stabreim, S. 251.

268

Riemann 1905a, S. 837.

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Saiteninstruments (Spitzharfe, Fiedel) vorgetragen. Der Minnesang blühte zuerst in Österreich, breitete sich von dort nach dem Rhein und später nach Thüringen und Sachsen aus. Berühmte Repräsentanten sind: von Küremberg, Dietmar von Eist, Heinrich von Veldeke, Reinmar, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, vor allem Walther von der Vogelweide. Ein anschauliches Bild vom Wesen des Minnesangs entwarf Richard Wagner in seinem Tannhäuser, wo besonders der Wolfram ein Typus des Minnegesangs in seiner idealen Reinheit ist. Näheres über die M: s. in v. d. Hagens >Sammlung der Dichtung d. M.< (1838, 4 Bde.) und in dem Auszug nebst Einleitung v. Bartsch (1864), bei Wolf >Über die Lais, Sequenzen und Leiche< (1841), u. a. Die Notierungen der Melodien der M. sind wie die der Troubadourgesänge mit Vorsicht zu untersuchen und nicht ohne weiteres nach der Mensuraltheorie ihrer Zeit zu übertragen, vielmehr (besonders die älteren) als schlicht mit Längen und Kürzen notiert anzusehen. . .«2® Man hört in Riemanns Artikel »Minnesänger« ein Echo seiner Wagnerverehrung und seiner eigenen Studien zum Minnesang — ein Artikel, der zum ersten Mal 1882 im Musik-Lexikon erscheint, bis zur elften Auflage 1929 ständig abgeändert die Ergebnisse musikwissenschaftlicher Forschungen zum Minnesang einbezieht und sich von einem Unterton, der die Überlegenheit deutscher gegenüber französischer Liedkunst suggeriert, graduell entfernt. Unangetastet bleibt hingegen fast vierzig Jahre lang der Hinweis auf Wagners Tat>»Muserûs musikhistorisches Anschauungsobjekt.

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Riemann 1882, S. 589

III. Das Mittelalter in der Musikgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts

»Das 19. Jahrhundert hat eine Region der Einbildungskraft entdeckt, deren Kraft frühere Zeitalter sicher nicht einmal geahnt haben. [...] Das Chimärische entsteht jetzt auf der schwarzen und weißen Oberfläche der gedruckten Schriftzeichen, aus dem geschlossenen staubigen Band, der, geöffnet, einen Schwärm vergessener Wörter entläßt. [...] Das Imaginäre haust zwischen Buch und Lampe. Man trägt das Phantastische nicht mehr im Herzen, man erwartet es auch nicht mehr von den Ungereimtheiten der Natur; man schöpft es aus der Genauigkeit des Wissens; im Dokument harrt sein Reichtum. Man braucht, um zu träumen, nicht mehr die Augen zu schließen, man muß lesen. Das wahre Bild ist Kenntnis.« (Michel Foucault, Nachwort zu Gustave Flauberts Die Versuchung des Heiligen Antoniu^

Koordinaten im musikhistorischen System »Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen,«1 formuliert Leopold von Ranke. Unbefangener Beobachter, nicht Richter sollte der Historiker sein; Sehen und Zuschauen - das sind die Tätigkeiten des akribisch arbeitenden Historikers. Aber Ranke war sich zugleich bewusst, dass er einem Ideal zustrebte, das nicht erreichbar sein würde. Schon die Formulierung »ich wünschte« deutet darauf hin, und in seinen Ana/ecten der englischen Geschichte spricht er aus, er stelle ein nicht zu realisierendes Ideal auf. 2 Der Glaube jedoch an einen durch methodische Disziplinierung ermöglichten Zugriff auf die Vergangenheit, der gerecht und unparteiisch erscheint, durchdringt die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts: Das historische Denken wird professionell. Dabei konstituiert sich Historismus wissenschaftsspezifisch innerhalb eines Prozesses, der in Deutschland durch die Namen Leopold von Ranke und Wilhelm Ranke 1870, S. 103. »Alles hängt zusammen: kritisches Studium der echten Quellen; unparteiische Auffassung; objektive Darstellung; - das Ziel ist die Vergegenwärtigung der vollen Wahrheit. Ich stelle da ein Ideal auf, von dem man sagen wird, es sei nicht zu realisieren. So verhält es sich nun einmal: die Idee ist unermeßlich, die Leistung der Natur nach beschränkt.« Ranke 1872, S. 114.

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von Humboldt bezeichnet ist und in den 1820er Jahren die beherrschende geistige Strömung an der Universität in Berlin wird. Ranke ist eine vor- und übernationalistische Vorstellung von der europäischen Geschichte als einem politischen und kulturellen Kontinuum zu eigen, in dem die einzelnen europäischen Nationen ihren Platz einnehmen — eine Oberzeugung, die Musikhistoriker mit Abwandlung für die europäische Musikgeschichte teilen. Darüber hinaus werden weitere grundlegende Koordinaten des musikhistorischen Systems durch die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts festgelegt, die mit der Etablierung der quellenorientierten kritischen Methode zugleich eine epistemologische Grundlage liefert. In Anlehnung an Ranke und in gemeinsamer Ablehnung der Romantik begreift sich ein großer Teil der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts als »realistische Historiographie« — das Modell einer wahrhaft authentischen und dem hohen Berufsethos genügenden Geschichtsschreibung.3 Epociendiskussion:

Wann ist Mitte/alter?

Mit dem Begriff »Epoche« werden, so Hans Blumenberg, durch »große Phrasierungen des Geschichtsverlaufs« »historische Individualitäten« geschaffen,4 wobei die Epoche durchaus ein methodisches Ordnungsmittel von zweifelhafter Zuverlässigkeit ist, denn »ein Bewußtsein der entschiedenen Trennung von einer Vergangenheit, wie es die frühe Neuzeit ausgebildet hat, kann keiner anderen Epoche in ähnlicher Weise abverlangt werden.«5 Blumenberg fahrt fort: »Daß die Neuzeit sich selbst als Weltzeitalter definierte und realisieren wollte, darf ihr noch nicht den Vorzug vor dem Mittelalter geben, das eher zu verheimlichen suchte, daß es nicht mehr die Antike mit ihren vermeintlichen Vorwegnahmen des Christentums war. [...] Während es für das entstehende Mittelalter der Sinn der Rezeption antiker Materialien war, den Grund dieser Rezeption zu verbergen, gab sich die entstehende Neuzeit entschlossen zum Geschichtsbruch, um den Vorgang der >Umbesetzung< in seiner Bezogenheit auf ein konstantes Bedürfnisraster zu verdecken.«6

Das erste Mal wird der Begriff »Mittelalter« 1382 von Filippo Villani impliziert, der in einem Traktat über die Mittelmeerinseln schreibt, sie hätten verschiedene Namen gehabt »priscis mediis modernisque temporibus«.7 Historische Ereignisse in Antike, Gegenwart und eine Zwischenzeit einzuteilen, ist für den Frühhumanismus eine Selbstverständlichkeit,8 und diese Vorstellung prägt den europäischen Begriff der eigenen Vergangenheit fur die folgenden sechshundert Jahre. Ob nun media tempora (1382), media tempestas (1469), media aetas (1518), medium tempus (1586) oder medium saeculum (1625) - immer ist es eine Zwischenepoche, die die Neuzeit von 3 4 5

White 1994, S. 214. Vgl. dazu Deisenroth 1983. Blumenberg 1966, S. 531. Ib., S. 537 f.

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Ib., S. 538. McLaughlin 1987. Johan Huizinga, der Villani nicht erwähnt, verfolgt mit Hilfe der Arbeiten von Godefroid Kurth den Begriff bis in das 15. Jahrhundert zurück und sieht seinen Ursprung ebenfalls im Humanismus verankert. Huizinga beschreibt als älteste Quelle für den Begriff die Schrift Le débat des hérauts d'armes de Frame et d'Angleterre, die zwischen 1453 und 1461 entstanden sein muss. Vgl. Huizinga 1954, S. 216. Vgl. dazu Gordon 1925. Kreutziger-Herr 1991, S. 19-28.

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der Antike trennt. Im Verlauf der neueren Geschichte gibt es keinen grundsätzlichen Disput darüber, dass sich zwischen 1350 und 1550 ein fundamentaler Wandel vollzieht, der die Künste, die Technologie und die politische Ordnung betrifft - aber die Anwendung der Begriffe »Mittelalter« und »Renaissance« mit dem Werturteil, das sie häufig implizieren, wird durchweg problematisiert. Dabei ist es bereits die Abwesenheit einer positiven Konnotation, in Verwendung eines Begriffes ex negativo, die auf das Mittelalter als dunkle Epoche verweist und sie, mit ihrem postulierten Verfall von Bildung und Kultur, deutlich sowohl von der kulturellen Blütezeit der Antike unterscheidet, als auch von der Wiedergeburt antiker Traditionen in der Renaissance abhebt. So verwendet die Historia tripartita von Christoph Cellarius (1634-1707), das berühmteste Beispiel für einen Gebrauch des Wortes, den Begriff für eine Epocheneinteilung der Welt und wertet die Mittelzeit als Rückschritt der europäischen Geschichte. Die in den Weltgeschichten des Humanismus angestrebte Unscharfe, die den Begriff zugunsten einer philosophischen Aufwertung der eigenen Zeit im Vagen belässt und damit die Antike zum ästhetischem Vorbild erhebt, ist im 20. Jahrhundert präzisen Definitionen gewichen, die jedoch durchweg umstritten sind. Die genaue zeitliche Abgrenzung des Mittelalters von Antike und Neuzeit in der Forschung wird ebenso diskutiert, wie die Periodisierung des Mittelalters selbst in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter, je nachdem, welche politischen, sozialen, wirtschaftlichen oder geistesgeschichtlichen Entwicklungen und welches der europäischen Länder man als Periodisierungsgrundlage annimmt. Für den Übergang von Mittelalter zur Renaissance werden dabei entweder die Eroberung Konstantinopels durch die Türken (1453), die Entdeckung Amerikas (1492), der Beginn der Reformation mit Luthers Anschlag der Thesen (1517) oder sogar die Französische Revolution (1789) benannt. Auch der Beginn der Epoche »Mittelalter«, der Übergang von Antike zum Mittelalter, muss differenziert werden: Weder das Toleranzedikt Konstantins (313), noch die Eroberung Roms durch die Goten unter Alarichl. (410) noch die Absetzung des letzten weströmischen Kaisers Romulus Augustus (476) bedeuteten für die Zeitgenossen epochale Einschnitte. Dabei reichen die Datierungsversuche der Forschung vom 3. Jahrhundert bis zur Kaiserkrönung Karls des Großen und der sich daran anschließenden Formung einer europäischen, abendländischen Kultur im Jahr 800. Ungeachtet der unterschiedlichen Ansätze wird der Begriff Mittelalter, wie HansWerner Goetz betont, heute »fast allgemein akzeptiert für eine Epoche, die ihr durchaus eigenes Gepräge besitzt« und deren Ende schwierig zu fassen ist. Denn je mehr unsere Zeit sich vom Mittelalter entfernt, desto mehr wird sie sich der Unterschiede auch der folgenden Jahrhunderte zur Gegenwart bewusst.9 So führt diese Beobachtung zurück auf die Überlegungen Blumenbergs und schlägt die »Entschlossenheit zum Geschichtsbruch« vor, als Erklärungsmuster für den Gebrauch des Schlagwortes vom »rückständigen« und »finsteren Mittelalter«10 oder auch vom »mittelalterlichen Menschen«. Für den Beginn der Neuzeit wird prägend das sechsbändige Werk History of the Decline and Fa// of the Roman Empiré von Edward Gibbon, das zwischen 1776 und 1788 erscheint, zahlreiche Auflagen und Fassungen erlebt und dem 19. Jahrhundert Goetz 2000, S. 33. Arnold 1981 und Robinson 1984. Für eine Ausgabe um 1900 siehe Gibbon 1896-1900.

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eine epochale Zäsur der europäischen Geschichte vermittelt. Für die Festigung des Begriffes »Mittelalter« ist jedoch ihr Ende von größerer Bedeutung für das 19. Jahrhundert. In den 1820er Jahren bildet sich beispielsweise in Frankreich jener Diskursraum heraus, der schließlich von der Renaissance des Lettres et des Arts zu den Lettres et Arts de Ja Renaissance führt.12 Ein wesentlicher Auslöser für die lebhafte Diskussion ist hier der Roman Notre-Dame de Paris von Victor Hugo, der für das Eigenrecht mittelalterlicher Kunst eintritt. Gemeinsam mit Jules Michelets Histoire de Ja France; die ebenfalls 1830 erscheint und in der ebenso wie bei Victor Hugo die Architektur der gotischen Kirchen als Ausdruck einer kollektiven Erfahrung gedeutet ist, wird das Spannungsfeld zwischen den beiden, zwischen Antike und Gegenwart liegenden Epochen deutlich. In der Folge wächst das Bewusstsein von der schützenswerten Funktion der Baudenkmäler aus Renaissance und Mittelalter, und Louis Vitet wird als inspecteur generai beauftragt, die historischen Monumente zu betreuen.13 Die 1831 gegründete Zeitschrift L'Artiste, deren erste Nummer ein mit mittelalterlichen Motiven geziertes Titelblatt trägt (und ab der dritten Nummer von einer Renaissance-Vase geschmückt ist), zeigt die Perspektivenvielfalt und die Bedeutung der wiederentdeckten Kunst der Vergangenheit. Das erste Heft enthält zudem zwei Besprechungen von Victor Hugos Notre-Dame de Paris. Jules Michelets 1854 erschienenes Werk La Renaissance, der siebte Band seiner Histoire de France, wird das erste Werk, das erstmals im Titel allein den Begriff führt, es zeigt in Verdichtung die Ergebnisse der terminologischen Diskussion und verdeutlicht die französische Aneignung der italienischen Renaissance — hier erst wird, in der historischen Konzentration und Interpretation, 1/ Rinascimento zu einer Gründungsepoche der Moderne. Sechs Jahre nach Michelets Renaissance erscheint Jacob Burckhardts Ka/tur der Renaissance in Italien,^ die Michelets Konzept der Renaissance als Frühzeit der Moderne übernimmt und zunächst im deutschsprachigen Raum, schließlich auch in Frankreich und England rezipiert wird. Hier ist mit der Einführung und Etablierung des Begriffs Renaissance zugleich eine Definition für das Mittelalter gegeben. Burckhardt verwendet den französischen Begriff »Renaissance« für ein italienisches Phänomen aus der speziellen Sprachkonvention und Bedeutung heraus,15 mit der dieser Begriff im 19. Jahrhundert in die Diskussion um historische Zeiträume eingeführt worden war, und durch die unbeabsichtigte Popularisierung des Begriffs »Renaissance« wird das Mittelalter zunächst das, was vor der Renaissance lag. Gleichzeitig ist das Buch des RankeSchülers Burckhardt ein denkbar ungeeignetes Werk für die Einteilung der europäischen Geschichte in Epochen. Burckhardt selbst schreibt, dass eine der wesentlichen Schwierigkeiten der Kulturgeschichte die willkürlichen Kategorien seien, in die man »ein großes geistiges Kontinuum« zerschneiden müsse.16 Geschichte ist für Burckhardt kein Prozess fortschreitender Entwicklung, und das Buch unterstützt nicht die Vorstellung einer »leitenden Idee in der Geschichte«. Für ihn ist keine Epoche Vorstufe zur jeweils folgenden, sondern Geschichte ist für ihn ein »Hochgetriebenwerden und Zurückfallen, Auftürmen und Erschöpfung, und das 12 13

Stierle 1987, S. 470. Ib., S. 482.

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Burckhardt 1860. Vgl. auch Burckhardt 1855. Paccard 1812; Lacroix/Sere 1848-1851; Arnd 1856. Burckhardt 1988, S. 3.

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immer wieder eingeführte Bild dafür jene Welle, >auf welcher wir im Ozean treibenAllein, wir sind diese Welle selbst. «Herrenmenschen< hervorgebracht hat.« (S. 76 f.). Und Hermann Hesse spricht sogar vom »Burckhardt'schen Renaissancekultus«, der die Zeit der Jahrhundertwende kennzeichne. In: Hesse 1904.

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lektüre allei deutschsprachigen historischen Seminare wird und ab 1900 auf den Schreibtischen der Gründerväter der Historischen Musikwissenschaft zu finden sein wird, sind die Eckpunkte schwarz auf weiß zusammengefasst. Hier beginnt das Mittelalter 476 (Odokar erobert den römischen Thron) und endet 1453 (Eroberung Konstantinopels), 1492 (Entdeckung Amerikas) oder 1517 (Reformation).24 Das MitteJa/ter als Epochefür die Musikgescticitsscbreibung Es fallt auf, dass in der Musikgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts der Begriff Mittelalter mal Verwendung findet, mal zugunsten stilgeschichtlicher Merkmale gemieden wird. Die terminologische Unschärfe, die erst in Folge von Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance in Ita/ien und ihrer Übertragung auf die Musikgeschichtsschreibung an Zuspitzung und damit an Emphase gewinnt, ist ein Symptom dafür, dass es einen musikgeschichtlichen Diskursraum für die Epoche Mittelalter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht gibt. Als Beispiel möge der Komponist Guillaume Du Fay 25 genannt werden, der heute aus stilistischen und kompositionsgeschichtlichen Gründen als Renaissancekomponist gilt. In einigen Anthologien des 19. Jahrhunderts markiert er den Anfang »mehrstimmiger mittelalterlicher Musik,«26 während Friedlich Rochlitz in seiner beliebten und verbreiteten Sammlung vorzüglicher Gesangstöcke der anerkanntgrößten Meister derfür Musik entscheidendsten Nationerp die alte Musikgeschichte mit Du Fay beginnen lässt. Adrien de la Fage hatte geplant, seine 1844 in Paris erschienene Histoire générale de Ja musique et de ¿a danse durch einen zweiten Band zu erweitern, und hier das, was wir heute als Renaissance bezeichnen würden, als zweiten Teil des Mittelalters — »viendra ensuite la seconde partie du moyen-âge ou la renaissance«28 — zu behandeln. »Die Markierung einer Schwelle setzt die Verdrängung dessen voraus, was jenseits der Schwelle liegt«, schreibt Karlheinz Stierle,29 und diese Beobachtung könnte für die Musikgeschichtsschreibung des späten 18. und 19. Jahrhunderts treffender nicht sein. In Frankreich ist dabei bereits im 18. Jahrhundert der Bogen gespannt von der ersten Musikgeschichte in französischer Sprache, Histoire de ¿a musique^ von Pierre Bonnet-Bourdelot (1715) bis hin zur Histoiregénérale critique etphilologique de Ja musiqu^ von Charles-Henri de Blainville (1767).32 Wenn auch ältere Musik in diesen Abhandlungen erwähnt wird, findet mittelalterliche Musik nur am Rande Beachtung. Der Beginn dessen, was Tibor Kneif »musikalische Mittelalterkunde«33 nennt, ist erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auszumachen. Im französischen, englischen und deutschen Sprachraum entwickelt sich, parallel zu Bemühungen der Auf24

Bernheim, 1889, S. 70 f.

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Siehe zur Namensschreibung Planchart 1993.

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Vgl. Kneif 1964, S. 131. Drei Bände, erschienen ab 1837. Vorwort von Fage 1844. Stierle 1987, S. 457. Bonnet-Bourdelot 1715. Blainville 1767. Vgl. dazu Vendrix 1993. Kneif 1963, S. 65.

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klärung um Weltbeschreibung, Welterklärung und Weltdeutung, die musikalische Universalgeschichte, die Anleihen bei der allgemeinen Geschichtsschreibung, Kirchengeschichtsschreibung, allgemeinen Kulturgeschichte und Literaturgeschichte nimmt. Wenn auch keiner der Musikhistoriker ein spezielles Interesse am Mittelalter hat, so legen doch die Arbeiten von John Hawkins, Charles Burney, Jean-Benjamin de La Borde, von dem Fürstabt von St. Blasien, Martin Gerbert, und Johannes Nikolaus Forkel die Grundlage für die spezielle Mittelalterforschung der Romantik, in der mittelalterliche Musik zum eigenständigen Forschungsgegenstand avanciert, anstatt nur Teil einer allgemeinen Musikgeschichte zu sein. Man spürt in diesen Darstellungen das Bemühen um Universalität und innere Logik der Darstellung, zugleich ist man verwundert, wie wenig sich einzelne Werke zum Teil aufeinander beziehen. So stützen sich Burney und Forkel kaum auf die Arbeit der Vorgänger, auch wenn sie sie erwähnen, sondern sie beziehen ihre Informationen aus kompilativen Arbeiten wie d e m G/ossarium ad scriptores mediae et inimae htinitatis v o n

Charles du Fresne Du Cange.34 Forkel erwähnt zwar die Musikgeschichte von Charles Burney, verwendet aber ihre Ergebnisse nicht. Martin Gerbert nimmt in seine bedeutende Sammlung Scriptoreskeine Texte von Hothby, Robert de Handlo, Walter Odington oder Tinctoris auf, die als Musiktheoretiker bereits bei Hawkins und Burney Erwähnung finden. Auch werden - außer bei Hawkins und Burney durchweg die praktischen Quellen der mittelalterlichen Musik aus unterschiedlichen Gründen nicht hinzugezogen, Forkel erwähnt gar: »Von den allerältesten Praktikern, nehmlich von Wilhelm Dufay und Binchois, die nach Tinctors Nachricht den Contrapunkt zuerst in Frankreich ausgeübt haben sollen, ist nach aller Wahrscheinlichkeit keine einzige Note mehr vorhanden.«36 Im Laufe des 19. Jahrhunderts treten durch die Pionierarbeiten von Raphael Georg Kiesewetter und Edmond de Coussemaker die ersten Zeugnisse mittelalterlicher Musikgeschichte ans Tageslicht.37 Während zeilgleich in Paris eine Fülle von Einzelinformationen zur alten Musik zusammengetragen werden, erarbeitet man in Solesmes Grundlagenstudien zur Rekonstruktion des Gregorianischen Chorals »in seiner mittelalterlichen Gestalt«.38 Für diese interessieren sich zunächst ausschließlich Kirchenmusiker aus dem cäcilianischen Lager, später — im Zuge einer Welle nationaler Forschung nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 - gewinnen die Studien an Bedeutung für die französische Nation. Für die Musikgeschichtsschreibung des beginnenden 20. Jahrhunderts ist der Begriff »Mittelalter« ein Erbe des späten 19. Jahrhunderts. In einer Zeit, in der kaum

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Du Fresne 1681. Ein Glossar, das Begriffe des Mittel- und Spätlateins definiert und sich auch der Begriffe cantus, discantus, musica, Organum und ihrer Ethymologie annimmt. Gerbert 1784. Forkel 1801, S. 515. Eine Vielzahl an Einzelforschern ist besonders in Frankreich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Mittelalterstudien beteiligt. Friedrich Ludwig erwähnt rückblickend einige Mitarbeiter an der Revue musicale von François-Joseph Fétis, die ab 1827 in Paris erscheint, an der Rime airieoUgque, an den Anna/es Arrbéo/ogiques, die seit 1844 in Paris erscheinen und an der Revue Je ία musique, die, von Danjou ediert, ab 1845 erscheint. Zu diesen Musikhistorikern zählen beispielsweise Perne, Bottée de Toulmon, Vincent, Raillard, Coussemaker, Nisard, Morelot und Clément. Vgl. Ludwig 1923, S. 435. ib., S. 435. Er verweist auch auf Gatard 1913 (S. 99 ff.); Gastoué 1913 (S. 207 ff.) und Rousseau 1910. Dazu Bergeron 1989, Bergeron 1995a und Bergeron 1998 sowie Pasler 1999.

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Kompositionen aus Mittelalter oder Renaissance bekannt waren, gewann die Diskussion um eine Abgrenzung zwischen Mittelalter und Renaissance dann an Momentum, als stilistische Kriterien entwickelt und musikgeschichtliche Epochenbildung zum Ziel quellenkundlicher Forschung wurden - das »Stilkonzept« rückte ins Zentrum musikhistorischer Forschung.39 Im 19. Jahrhundert haben Musikhistoriker jenen Kulturhistorikern nichts entgegenzusetzen, die sich der italienischen Kultur und den an ihr beteiligten Künsten widmen, allen voran Jacob Burckhardt, zumal Burckhardt und andere ihren Renaissancebegriff anhand von Quellen entwickeln, die bereits für die Erfahrung gebildeter Männer und Frauen seit den Tagen der sogenannten »Grand Tour« prägend gewesen waren— jener ein bis zwei Jahre dauernden Bildungsreise durch Europa, die für junge Adlige und wohlhabende Bürgersöhne zum Pflichtprogramm nach dem UniversitätsStudium gehört hatte. Für das späte 20. Jahrhundert ist eine andere Entwicklung zu beobachten: Die Frage, ob jene Musik, die als »mittelalterliche Musik« in modernem Gewand den gegenwärtigen Hörer erreicht, tatsächlich »mittelalterlich« ist, 40 führt zu weitergehenden Überlegungen, die nur heute, da alle wesentlichen Quellen für die Musikgeschichte zwischen dem 10. und 17. Jahrhundert bekannt sind, möglich sind, und sie führt zu der Beobachtung, dass die Begriffe »Mittelalter« und »Renaissance« für die Musikgeschichtsschreibung im 21. Jahrhundert zugunsten stärkerer Differenzierung an Bedeutung verlieren. Es ist aufschlussreich, dass im Jahr 2001 keine einheitliche präzise zeitliche Eingrenzung für die mittelalterliche Musik, sehr wohl aber für die Musik der Renaissance zu finden ist. Während Christopher Page in seinem Lexikoneintrag im Ne» Grove Dictionary of Music and Musicians (Second Edition), zum Stichwort »Medieval« die Eingrenzung kritisch befragt und sich nicht fesdegen möchte, definiert Lewis Lockwood in demselben musikwissenschaftlichen Standardwerk die musikalische Renaissance für die Zeit zwischen 1430 und 1600.41 Viele Veröffentlichungen der letzten Jahren verwenden zugunsten detaillierter Terminologie kaum noch die Begriffe »Mittelalter« oder »mittelalterlich«, und die bedeutendste Veröffentlichung der letzten Jahre meidet für ihre präzise Diskussion der Grundlegung einer europäischen Musik die beiden Begriffe, wo immer sie kann. Es handelt sich hier um Reinhard Strohms Studie The Rise of European Music, 13801500;42 die in einer erweiterten geographischen und kulturellen Perspektive die Genese musikalischen Lebens im genannten Zeitraum darstellt. Die Frage, was mittelalterlich an der Musikproduktion des 14. Jahrhunderts sei, tritt hinter die Frage zurück, auf welche Art Musik als gedankliches Konzept, als Ausdruck und Praxis von bestimmenden Ideologien — oder Mentalitäten — der Zeit beeinflusst ist, welchen Denkkollektiven und intellektuellen Kräftefelder sie ausgesetzt ist. Es scheint, als seien der Begriff »Mittelalter« und sein Adjektiv dabei, historisch zu werden.

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Kaiisch 2000, S. 78. Vgl. Christopher Page, »Medieval music«, in: The New Grope, 2. Edition, Bd. 16, S. 226. New Grove, 2. Ausgabe, Bd. 16, »Medieval«, S. 221-227, und Bd. 21, »Renaissance«, S. 179186. Einen Artikel »Middle Ages« gibt es im New Grove nicht. Cambridge 1993.

Perioàn in der Musikgeschichte Das Bonmot Johann Gustav Droysens, in der Geschichte gebe es so wenig Epochen wie auf dem Erdkörper Aquatorlinien und Meridiankreise,43 veranschaulicht, dass Epocheneinteilung nur ein Hilfsmittel der Geschichtswissenschaft ist, das mit der historischen Wirklichkeit wenig zu tun hat. Durch Periodisierung wird versucht, jeweils einen Zeitausschnitt vom Inhalt des Gedachten und Geschehenen her als Einheit zu erfassen, und dafür bieten sich neben dem Fortschrittsprinzip das Prinzip des Stils, das Prinzip der Morphologie oder auch das Prinzip des Wandels an.44 Daraus jedoch wird deutlich, dass eine klare Fixierung von Perioden nur mit klaren Prinzipien der Periodisierung ausgestaltet werden kann, etwas, was in der Musikgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts nicht der Fall ist. Allein das Prinzip des Fortschritts, ansatzweise verwoben mit dem morphologischen Prinzip organischen Wachstums, sieht in der Musikgeschichte eine Folge von Kausalzusammenhängen, die in Stationen eingeteilt werden können. Marpurgs konzeptionelle Durchdringung von Musikgeschichte beispielsweise ist nicht typisch für die Mitte des 18. Jahrhunderts,45 deren Wissensstand sich eher in Johann Adolphs Scheibes Kritischem Musikufà und seiner Abhandlung vom Ursprung und Alter der Musik manifestiert, worin die Vokalmusik »schon im Paradies durch den ersten Menschen erfunden worden« sei und in der ohne Frage »Adam und Eva ihren Schöpfungstag singend gefeiert« hätten.47 Während Kiesewetter seine Musikgeschichte nach Jahrhunderten ordnet, schlägt der Musikhistoriker Heinrich Adolf Köstlin 1875 eine Epocheneinteilung vor, die einstimmige, mehrstimmige und sogenannte »thematisch-dialektische« Musik unterscheidet. Sein musikhistorisches Verständnis entwickelt eine Konzeption, die sich an einem einzigen Stilmerkmal ausrichtet und es durch die verschiedensten Völker und Zeiten verfolgt.48 Guido Adlers Unterteilung in drei große Stilperioden — Erste Stilperiode: Einstimmige Musik; Zweite Stilperiode: Mehrstimmigkeit; Dritte Stilperiode: Beginn mit der Oper im 17. Jahrhundert - greift Köstlins Periodisierung auf, jedoch unter anderen Voraussetzungen. Die Einzelmonographien zur mittelalterlichen Geschichte thematisieren das Problem der Periodisierung nicht: Sie setzen stillschweigend seine Lösung voraus. Erst nach 1870, nach Jacob Burckhardt, ist ein musikhistorisches Bewusstsein für eine Epoche »Mittelalter« vorhanden. Musikhistoriker übernehmen also seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Begriffe der sich zügig entwickelnden Kunst- und Geschichtswissenschaften, um musikhistorische Perioden zu kennzeichnen. Burckhardts Cicerone; eine Studie zu Architektur, Skulptur und Malerei von der Antike bis zum Barock, enthält bereits Kapitel über die Renaissance, die sich aufspalten in die Frührenaissance (1420-1500), Hochrenaissance (1500-1540) sowie eine Übergangszeit zum Barock (1540-1580), und es ist offensichtlich, dass Ambros Burckhardts Studien, be43 44

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Droysen 1972, S. 20. Freitag 1979, S. 61-224. Noch einige Jahre zuvor hatte Marpurg ohne Periodisierung die Entwicklung der mehrstimmigen Musik in seinen Historìscb-Kri/ìschen Beiträgen ^ursiufnahme cürMusiA beschrieben. Scheibe 1745, Teil 1 : Abteilung II. Scheibe 1745, S. 78. In der »mehrstimmigen Epoche« ist die organale Musik ebenso berücksichtigt, wie die niederländische Vokalpolyphonie und fuhrt hinüber zur dritten Epoche, der Klassik, die er als den Gipfelpunkt mehrstimmiger Musik erfasst. S. Köstlin 1875.

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sonders Die Kit/tur der Renaissance in Ita/ien kannte, denn der dritte Band seiner Musikgeschichte, der 1868 erscheint, widmet sich bereits im Titel (die beiden ersten Bände hießen schlicht Geschichte der Musiß) dem »Zeitalter der Renaissance«, das Ambros auf das 15. und 16. Jahrhundert festlegt. 49 In Anlehnung an Burckhardt sieht Ambros die Renaissance charakterisiert durch eine Emanzipation weltlicher Musik und die Entfaltung der Komponistenpersönlichkeit als Schöpfer unvergänglicher Werke. Man hört das Echo von Ambros' Burckhardt-Lektüre, und analog zu Burckhardts Beschreibung des uomo universa/e — Burckhardt hatte formuliert, dass die größte Leistung der Kultur darin bestanden habe, »den ganzen vollen Gehalt des Menschen entdeckt und zutage gefördert« zu haben 50 - sieht auch Ambros im 15. Jahrhundert nicht den Abschluss einer Periode der Musikgeschichte, sondern den Beginn der Neuzeit. Mit Engagement tritt er im Vorwort des ersten Bandes der Musikgeschichte für die Musik Josquins und seiner Zeitgenossen ein und weiß zugleich, dass er mit diesem Engagement auf der sicheren Seite steht: Wenn auch die Musikhistoriker durchweg alle ernstzunehmende Musik mit Palestrina beginnen lassen, so hat doch immerhin die Kunstgeschichte bereits äußerst wirkungsmächtig und einflussreich die geschichtliche Bedeutung und Größe des 15. Jahrhunderts unterstreichen können. Ambros schreibt: »Ich sah die Missa Papae Marcelli und verglich sie mit den Messen der Vorgänger Palestrina's und ich werde Jedem sehr dankbar sein, der mir bestimmt und deutlich zeigt, wo denn darin die >Reformneue StylMorgenroth einer neuen Zeifa eigentlich zu finden ist [...]. Palestrina hält sich zu seinem Lehrer Goudimel genau wie sich der Raphael der ersten Periode, der Raphael des Sposalizio und der Disputa, zu seinem Lehrer Perugino verhält. Das Entzücken des Papstes und der Cardinale über die rneue, wahre Kirchenmusik< war nur die offizielle Anerkennung eines Styles, der in fortgesetzter und gesteigerter Kunstübung von selbst emporgeblüht war, wie die Blume aus der Knospe. Es ist ein grosses Unglück für die Musikgeschichte, dass man bis heute, missverstandenen Zeugnissen zu Liebe, zwischen der Missa Papae Marceiti und aller älteren Musik eine chinesische Mauer zieht, durch welche nicht einmal ein Verbindungspförtchen fuhrt.«

Universaler Fortschritt und evolutionäres Geschichtsbild In der Musikgeschichtsschreibung der Aufklärung ist die Vorstellung von ständig fortschreitender und Fortschritt machender Menschheitsgeschichte so gegenwärtig, dass sie als nicht hinterfragte Prämisse die Literatur durchzieht. Das Konzept »Fortschritt« ist dabei eine Meta-Erzählung — nach Jean-François Lyotards La condition postmoderne und Hayden Whites Metabistory —,52 und das Fortschrittsprinzip hat so viele Facetten, dass man bisweilen meint, es gar mit »geologischen erdgeschichtlichen Vorgängen,« mit einer Struktur von Schichtungen in der menschlichen Kultur zu tun zu haben, wie der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus einmal schrieb. 53 Geschichte wird hier als (Natur)prozess begriffen, durchsetzt vom rationalistischen Entwicklungsgedanken. Ausgehend von den Schriften Descartes' und Voltaires, in denen die 49

Ambros 1868.

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Burckhardt 1988, S. 221.

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Ambros 1864, S. XV f. Lyotard 1994 und White 1994. Carl Dahlhaus über Hugo Riemann, in: Dahlhaus 1977, S. 85.

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enonne Wissenserweiterung der eigenen Zeit als Erscheinungsform einer »aufs Höchste entwickelten Vernunft und ihrer Entfaltung von primitiven Anfängen bis zur Gegenwart« beschrieben wird, 54 nimmt die Musikgeschichtsschreibung dieses Ordnungsprinzip auf, und zwar weniger, um daraus Erkenntnis zu gewinnen, als primär, um die eigene Fortschrittlichkeit konsequent nachzuweisen. Im Sinne der aufklärerischen Lebensaltertheorie, die an ein antikes Muster anknüpft, deutet beispielsweise 1788 Johann Nikolaus Forkel in seiner Musikgeschichte die Perioden der Menschheitsgeschichte als Kindheit, Jünglingsjahre und reifes Mannesalter, 55 und dieses Ordnungsprinzip hilft Forkel, zum einen die Geschichtlichkeit zu thematisieren, zum anderen die Relativität europäischer Musikgeschichte im Vergleich zur Entwicklung außereuropäischer Musik einzuordnen. Für Forkel steht außer Frage, dass die Menschheitsgeschichte Fortschritt bedeutet. Sie ist bei ihm ein Prozess zunehmender Erkenntnis, der »hinsichtlich der Kunst die Stadien der u n mittelbaren Empfindungl von Raphael Georg Kiesewetter ist ebenso dem Fortschrittsbegriff verpflichtet. Kiesewetter isoliert die Musikgeschichte aus der übrigen Geschichtsschreibung, übernimmt aber deren Ordnungsprinzip. Der Begriff »Fortschritt« kann im Fall der Musik Unterschiedliches bedeuten, und verschiedene Axiome, die manchmal einzeln, häufig kombiniert eingesetzt werden, lassen sich in der Musikhistoriographie zwischen 1750 und 1930 beobachten: stärkere, rationale Durchdringung des musikalischen Materials, die in Theorie und Reflexion von Musikgeschichte sichtbar wird; allmähliche Steigerung des sinnlichen Ausdrucks der Musik; Vereinfachung und Rationalisierung der Notenschrift; zunehmende Komplexität musikalischen Ausdrucks; ästhetische Autonomie und zunehmende Unabhängigkeit von Institutionen und Rahmenbedingungen. Für musikhistorische Konzeptionen zum Mittelalter bedeutet die Orientierung an diesem Fortschrittsgedanken, dass das Mittelalter durchweg den Anfang einer Entwicklung markiert, aus der erst später etwas Sinnvolles entsteht. So sieht man in ihr eine zum Teil leblose, zum Teil überemotionale, theoretisch nicht reflektierte Musik, man vermisst sinnlichen Ausdruck, beurteilt Neumenschrift und Mensuralnotation als unlogisch und undurchdacht, klassifiziert sie als simpel und »schlecht« und brandmarkt ihre mangelnde Autonomie gegenüber den Institutionen Kirche oder Adel. Als Beispiele seien zwei in diesem Zusammenhang selten erwähnte Schriften aus der Mitte des 19. Jahrhunderts erwähnt eine Rezension Théodore Nisards als Auseinandersetzung mit den Chants de /a Sainte-Chapeüe von 1850 und die Musikgeschichte von Franz Brendel, die 1852 in Leipzig erscheint. 58 Félix Clement hatte für einen Staatsakt, Fête de h Justice, am 3. November 1849 französische Musik des 13. Jahrhunderts auffuhren lassen, was den Musikhistoriker Théodore Nisard zu folgender Kritik herausfordert:

Freitag 1979, S. 63. Forkel, »Versuch einer Metaphysik der Tonkunst«, in Forkel 1788, S. 1,11 f., 16, 69. Arlt 1974, S. 61. Kiesewetter 1834. Brendel 1850.

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»Ainsi, ce n'est pas, ce ne peut pas être au XHIe siècles qu'il faut chercher, avec M. Félix Clément, la perfection de la musique plane. Je le répète: ce siècle, en fait de musique, n'est la perfection de rien, ni du plain-chant, ni de l'harmonie, ni du drame, ni de la chanson. Pour nier cet axiome, il faut méconnaître complètement l'histoire de l'art, il faut en un mot s'éprendre aveuglement de passion pour une époque sans savoir ce qu'elle est, ce qui l'a précédée, ce qui l'a suivie: étrange philosophie, s'il en fut jamais, que les faits frappent d'impuissance, et qui jettera toujours ses adeptes dans des systèmes injustifiables!«^

Nisard geht von zwei musikalischen Welten im Mittelalter aus, der »musique plane« und dem »l'art nouveau«, der für ihn »diaphonie, symphonie, déchant, Organum« ist. Beide Welten hätten erst im 16. Jahrhundert — Palestrina ist auch bei Nisard der Vollender der Gotik - einen Grad der Vollkommenheit erreicht, wobei sich schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, durch die »illustre école flamande«, jenes musikalische Ideal andeutet, das schließlich in den »inimitables productions de Palestrina« gipfeln wird. 60 Und innerhalb einer Entwicklung, die auf ein Ziel hinsteuert, das die Musikhistoriograhie mittlerweile erreicht zu haben glaubte, ist die Erinnerung an die vorausgehenden Stationen nicht notwendig. Franz Brendel sieht in seinem zukunftsorientierten Geschichtsbild die Musik Richard Wagners als den Höhepunkt einer Musikgeschichte: »Wie durch Hucbald der erste Anstoss zur Harmonie gegeben wurde, so sehen wir hier einen zweiten Fortschritt angebahnt, eine bessere Notierungsweise, die für die fortschreitende Kunst ein wesentliches Erforderniss war, und es offenbart sich uns schon hier, indem wir sehen wie ein Stein nach dem andern zu dem grossen Gebäude herzugebracht wird, jene Gesetzmässigkeit des Ganges, jene innere Nothwendigkeit der Entwicklung, von welcher die gesammte nachfolgende Zeit ein immer sprechenderes Zeugniss ablegt. Ein so wüstes Durcheinander beim ersten Blick jene Bestrebungen des Mittelalters zeigen, so entdecken wir bei näherer Betrachtung doch bald die Idee, welche das Zerstreute verknüpft, die Idee, welche alle diese Erscheinungen hervorruft, und dies ist das Interessante bei diesen zunächst minder interessanten geschichtlichen Thatsachen.«61

Tatsächlich diskutieren wenige — auch nicht Nisard und Brendel —, was Fortschritt in der Musik überhaupt bedeutet. Diese Frage stellt um die Mitte des 19. Jahrhunderts Heinrich Bellermann, er bemüht sich in seiner Studie Uber die En/wick/ung der mehrstimmigen Musik darum, unter den »heutigen lebenden Musikern Verständnis und Liebe zu jenen alten Meistern, welche mit dem Ablauf des 16. Jahrhunderts diese erste Blüthezeit mehrstimmigen Gesanges so ruhmvoll abschließen, wiederzuerwecken.« 62 Diese Forderung umfasst zwar nicht explizit die Musik des Mittelalters, sie steht aber quer zur prinzipiellen zeitgenössischen musikhistoriographischen Auffassung, die in der Musik Beethovens respektive Wagners den vorläufigen Höhepunkt der musikalischen Entwicklung sieht. So räumt Bellermann ein, dass tatsächlich manche in einer Rückkehr zum Ideal des Palestrina-Stils »einen Rückschritt« sehen würden, und sie hätten ja auch recht damit, da die »Entwicklung des gesamten Menschengeschlechts [...] auf Tradition« basiere, in der der Nachlebende das verbessere und vervollkommene, »was der Vorgänger erfunden und erdacht hat.« Aber manche Traditionen reißen ab, unterstreicht Bellermann, und verweist auf das astronomische 59 60

Nisard 1850, S. 3. Ib., S. 2.

61 62

Brendel 1850, S. 14 f. Bellermann 1867, S. 37.

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Wissen der Griechen im Vergleich zu dem des Mittelalters. Er argumentiert also mit einer unnatürlichen Entwicklung, die sich von der Klimax rückwärts, statt vorwärts bewegt habe. Auf die Blütezeit des mehrstimmigen Gesanges hätte nämlich theoretischerweise eine weitere Blütezeit folgen müssen. Bellermann findet die Lösung darin, dass »das Instrumentalspiel immer mehr überhand« genommen und den Gesang verdrängt habe. Durch diese Fehlentwicklung sei der mehrstimmige a-cappellaGesang schließlich gänzlich untergegangen: »Das todte Instrument that ja Alles, was man von ihm verlangte. [...] Und wie leicht verführerisch war es da für Componisten, in diesem Instrumentenspiel eine Erweiterung seines Kunstgebietes zu erblicken.

Die Idee des Fortschritts, ein Axiom, das weder zu belegen noch zu widerlegen ist, fordert die Musikhistorie besonders dann heraus, wenn die musikalischen Produkte alter Zeit zu Sehnsuchtspunkten musikalischen Fortschritts werden und die Axiome sich umkehren: Wenn ab 1900 mittelalterliche Musik begriffen wird als Kunst mit sinnlichem Ausdruck und mathematisch durchdachter Proportion, wenn ihre Notenschrift als zum Teil der unsrigen überlegen erachtet wird und mittelalterliche Musik plötzlich als Musik gilt, die entweder auf das Wesentliche reduziert, oder in ihrer Komplexität nicht zu erfassen ist, dann ist diese neue Sichtweise eine Herausforderung an die Musikgeschichtsschreibung. Um 1920 avanciert die Komplexität spätmittelalterlicher Musik zu einem Adelsprädikat und verliert ihren Charakter als Vorstufe einer Entwicklung zugunsten verstärkter Eigenständigkeit und historischer Größe. In Kiesewetters Ga/erie der a/teti Contrapunktisten nehmen alle Komponisten vor Du Fay in einem Vorsaal Platz. 64 Ab 1900 werden sie zu gefeierten Kostbarkeiten in der Ausstellung historischer Tonkunst. Organische Musikgeschichte Eng verknüpft mit dem Fortschrittskonzept ist die Vorstellung von Musikgeschichte als einem organischen Prozess, der zugleich, ohne dass sich die Autoren dessen bewusst sind, ein Gegenmodell zu den akustischen Bedingungen des Musizierens darstellt: Pflanzen wachsen laudos. Die Vorstellung vom organischen ungezügelten Wachstum, die menschlich-kulturelle Entwicklung als Naturprozess ansieht, fand bereits in jenen Überlegungen zur Gotik Niederschlag, die diese als »natürlichen Stil« definierten und in der »pflanzengleichen« mittelalterlichen Kathedralarchitektur ein Symbol primitiver Naturkunst erblickten. Aber die Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts entwickelt das Konzept weiter, durch die Suche nach stärkerer Systematisierung wird das Bild — auch die mittelalterliche Kathedralarchitektur — zum Vehikel für ein Verständnis von Kultur, das aus der Erkenntnis der »inneren Zusammenhänge der einzelnen Bereiche menschlichen Lebens resultiert und in entscheidendem Maße auf die genetische Musikgeschichtsschreibung gewirkt hat.« 65 So kann Raphael Georg Kiesewetter in seinen SchicksaJe» schreiben: »Manches, das einst da gewesen [...] sehen wir in einer viel späteren Periode wieder entstehen, wenn auch nicht schon in höchster Vollkommenheit, doch in einer so veredelten Gestalt, daß 63 64

65

Ib., S. 38 f. Kiesewetter 1847. Freitag 1979, S. 64.

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man es für mehr denn bloß fur die Reife jener früher geblühten und verblühten, oder nur noch an unbesuchten Orten, in ungünstigem Boden färb- und kraftlos vegetierenden Pflanze ansehen kann.

Die Anspielungen an die Biologie sind ungemein zahlreich, häufig hilft die Vorstellung vom vegetativen, natürlichen Wachstum, um gar nicht erst nach konstruktiven Prinzipien im Wildwuchs kulturellen Prozesses suchen zu müssen. 67 Kiesewetters Neffe, August Wilhelm Ambros, dessen Musikgeschichte die Nachfolge von Kiesewetters Geschichte der Musik antritt, formuliert bereits mit terminologischer Eindeutigkeit und auffälliger Nähe zur sich rasant entfaltenden Biologie und Evolutionslehre - 1859 war Darwins On the Origin of Species by Means of'NaturaiSelection erschienen: »Ich begreife die entwickelte Kunst nur, wenn ich ihre Vorstufen, ihr allmähliges Herankommen begriffen habe. Wir wollen nicht beliebig ausgewählte mehr oder minder gelungene Kunstwerke nach der Idealelle messen, die wir uns nach Sebastian Bach, oder Mozart, oder Beethoven, oder wem sonst zurecht geschnitzt [...]: wir wollen die historische Entwicklung in ihrer Berechtigung verstehen lernen, gerade so wie der Naturforscher die höheren Organismen der Schöpfung nur durch gewissenhafte Durchforschung der niederen und niedrigsten begreifen lernt. Es ist sehr leicht, aber auch nichts werth über die barbarischen Contrapunkte eines Adam de la Hale, Machault, Jehan Lescurel, Landino u.s.w. im Bewußtsein, >wie wir's zuletzt so herrlich weit gebracht zu spotten, w i r müssen sie als nothwendige Durchgangspunkte gelten lassen.« 6 "

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verdichtet sich die Begrifflichkeit eines evolutionären, organischen Wachstums. Mangels musikhistorischer Zeugnisse kann die Musikhistoriographie der Romantik in der Frühzeit europäischer Musik eine organische Entwicklung nicht en ^/¿«/nachweisen, sondern nur vermuten. Dies unternimmt zum ersten Mal Guido Adler. Er leitet aus der Vorstellung einer organischen Entwicklung der Musik Perioden ab und schreibt zu Beginn seines Aufsatzes »Die historischen Grundclassen der christlich-abendländischen Musik bis 1600«: »Die Entwicklung der Tonkunst ist organisch. In stetiger Aufeinanderfolge reiht sich ein Entwicklungsmoment an das andere an, um den Organismus zur Vollendung zu bringen.« 69 Mit erstaunlicher Konsequenz verfolgt Adler noch fast vierzig Jahre später die Vorstellung, dass »der Gesamtorganismus der Kunst« wie jeder Organismus auf Kontinuität und Veränderung beruhe. 70 Die Rede von einem »organischen Entwicklungsgang« oder von der »Genetik der Kunsttatsachen« 71 ist vermittelt durch Herbert Spencers VeraJJgemeinerung derEvo/utionstheorie, durch Ernst Bernheims genetische Geschichtsschreibung 72 und die Kunsttheorie Hans Tietzes. 73 Sie hat aber auch eine direkte geistesgeschichtliche Verbindung zu Herder, der die Naturgeschichte wie auch 66

Kiesewetter 1841 a, S. VIII.

67

Kneif 1963, S. 118. Ambros 1891, darin aus der unveränderten Vorrede von 1864, S. VI. Vgl. das Kapitel »Die Historie unter dem Diktat der Ästhetik«, in: Heinz 1968, S. 23-42. Adler 1880, Sp. 689. »Aus dem Gesamtverlauf der vielverzweigten Kunsterscheinungen ergibt sich eine Stetigkeit der Entwicklung.« Adler 1919, S. 14 f. Ib., S. 14 und S. 123. Vgl. Adler 1935, S. 18: »Bald glaubte ich zu erkennen, daß die Entwicklung der Tonkunst organisch sei.« Bernheim 1889. Vgl. dazu Dömling 1974, S. 11.

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die Geschichte der Menschheit als Entwicklungsgang aufgefasst und in ihr ein zusammenhängendes Ganzes, einen einheitlichen Werdegang erblickt hatte. Die Überzeugung von einer einheitlichen Menschheitsgeschichte, die in Adlers evolutionärem Geschichtsbild Ausdruck findet, wird bei Herder mit den austauschbaren Adjektiven »organisch« oder »genetisch«74 ausgeschmückt. Während Herder jedoch die prinzipielle Untrennbarkeit von Natur- und Menschheitsgeschichte in diesem vereinheitlichenden Konzept einer evolutionären Geschichte unterstreicht, wird das Bild organischen Wachsens in der Musikgeschichte zum Ordnungsprinzip, das sich bei Guido Adler zum Stilprinzip mausert. Adler übersetzt »organic(us)«, vermutlich wider besseres Wissen und in Übereinstimmung mit dem Denken seiner Zeit, als »organisch«. So manifestiert sich für Adler in den Anfängen der Mehrstimmigkeit eine musica organica. »Die älteste uns bekannte co η temp oräre (gleichzeitige) Hinzufügung einer zweiten Stimme, die erste Art der musica orgaηica, d. i. der organischen, organisch eine Stimme aus der anderen entwickelnden Musik, ist die Diaphonie-, dieselbe ist entweder eine diaphonia basifica, ein Gesang, der auf einem Grundtone oder auf dem Grundtone mit Quint als einer continuierlichen Grundlage ausgeführt wird, oder eine diaphonie organica, die eigentliche organische Stimmenentgegensetzung, deren ursprüngliche Erscheinungsweise das Organum ist. [...] Die Ausbildung dieser, ihrer Entstehung nach dem 9. Jahrhundert angehörigen embryonalen polyphonen Elemente, war eine stete, eine dem Wesen der Musik entsprechende, organische.«7^

Die Kunst erweist sich in der Vorstellung organischer Musikgeschichte als der Natur ebenbürtig. Hucba/dund das Organum Die meisten Musikgeschichten — ob sie sich an ein »Dilettantenpublikum« wenden oder wissenschaftlicher Natur sind — setzen sich mit »Hucbald und dem Organum« auseinander. Raphael Georg Kiesewetter benennt beispielsweise seine erste musikhistorische Epoche, die er in das 10. Jahrhundert verlegt,76 nach Hucbald, Ambros widmet gar dem Thema »Hucbald von St. Amand und das Organum« ein eigenes Kapitel.77 Durchweg wird Hucbald mit dem Beginn der Mehrstimmigkeit verbunden, da er als der Verfasser der Traktate Musica enchiriadis und De barmonica ins/itutione gilt. Dieser Traktat wird heute auf etwa 880 datiert und gilt als erste systematisch organisierte Schrift zur mittelalterlichen Musiktheorie. Der Titel stammt nicht von dem in Tournai etwa zwischen 840 und 930 lebenden Mönch Hucbald, sondern von Martin Gerbert — der Hucbald im übrigen noch jede Menge anderer Traktate zuschreibt.78 74

Vgl. Knoll 1992, S. 135. Im Übrigen war durch Schiller und Schelling der Begriff des Organischen in der philosophischen und historiographischen Literatur um 1800 zu großer, wiederum mit anderen Akzenten versehener Bedeutung gelangt.

75

Adler 1880, Sp. 707.

76

Kiesewetter 1834. Ambros 1864, S. 122-144. Cita et vera divisio monochordi in diatonico genera (GS 1,122), Alia musica (GS 1,125), De mensuris organicarum fistularum (GS I, 147), De cymbalorum ponderibus (GS, I, 149), De quinqué symphoniis (GS, I, 149), Musica enchiriadis (GS, I, 152), >Scholia< enchiriadis de arte musica (GS, 1,173), Commemoratio brevis de tonis et psalmis modulandis (GS, I, 213). Vgl. dazu Müller 1884 und Palisca 1979. Die Musica enchiriadis wird bis in die 1880er Jahre für einen Traktat Hucbalds gehalten.

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Aufgrund dieser Zuordnung gilt Hucbald mit seinen Beschreibungen von Skalen, Tetrachorden und der Hexachordlehre als der Begründer und Erfinder der Mehrstimmigkeit und als erster Musiktheoretiker des Abendlandes.79 Die Bedeutung Hucbalds basiert aber auch auf einer Musikgeschichtsschreibung, die nicht ohne Namen auskommen kann. Die Möglichkeit einer primär mündlich tradierten musikalischen Kultur wird ebenso wenig ak2eptiert wie die Möglichkeit einer musikalischen Entwicklung ohne Komponisten im emphatischen Sinne. Daher steht Hucbald für einen Gründungsmythos der europäischen Musikgeschichte, die für die Musikhistoriker des 19. Jahrhunderts erst mit der Mehrstimmigkeit beginnt. Neben Autoren, die die Idee der Mehrstimmigkeit zwar loben, die Ausfuhrung jedoch als krude und primitiv tadeln,80 widmet sich Hucbald und dem Organum besonders ausführlich der französische Musikforscher Auguste Bottée de Toulmon. In seinem Discours sur Ja question: Faire /'histoire de /'art musica/ depuis /e commencement de /'ère chrétienne Jusqu'à nos Jours, einem anspruchvollen Vorhaben für das Jahr 1835, begründet er zunächst ausfuhrlich die Schwierigkeiten, denen man im Laufe des Studiums mittelalterlicher Musik begegnet: »Les études sérieuses auxquelles l'on est obligé de se livrer dans des recherches semblables auraient donc paru inutiles, et, on doit dire le mot, tout-à-faitridicules.Il faut encore aujourd'hui presque du courage pour arouer à tout le monde que l'on s'en occupe, et l'on ne trouve grâce auprès de certaines personnes qu'à la faveur de la vogue obtenue par le moyen-âge et ce qui peut s'y rapporter.«

Er unterstreicht den zukunftsträchtigen Gedanken, dass die mittelalterliche Musik genau in der Mitte zwischen Mathematik und Poesie anzusiedeln sei, und entwirft die Theorie, die »moderne« Musik sei inmitten unter den sich in den Katakomben verbergenden Urchristen entstanden, inmitten von einfachen, unkultivierten Menschen, denen die Natur eine naive, von falschen Konventionen freie Musik diktiert habe. Aber die langsam erstarkende Kirche, so Bottée de Toulmon, konnte diese freie Musik, die eventuell in die Zeit der Barbarei zurückfuhren würde, nicht dulden und musste auf das griechische Tonsystem zurückgreifen, um die Musik zu formen. So wendet sich Bottée de Toulmon Ambrosius zu, dann Gregor, bemerkt die Abwesenheit von Leittönen in den Modi und die Anwesenheit von »tonique et dominante«. Er beschreibt, wie dieses System der Kirchentöne sich hätte entwickeln können, wenn nicht die Musik gezwungen worden wäre, zum griechischen Tonsystem zurückzukehren. Unter diesen Voraussetzungen schreibt also Hucbald seine Organum-Traktate: »Ce fut donc cette route que l'on suivit, puisque Hucbald, moine de Saint-Amand, écrivit dans le commencement du Xe siècle quelques traités obscurs dans lesquels il n'admet comme consonnances que la quarte, la quinte et l'octave; c'est cette effroyable harmonie qu'il nomme Organum. Videbis nasci, dit cet homme vénérable, suavem ex 6àc sonorum commixtione concentum/ ! k Das einzige musiktheoretische Werk, das noch vor Hucbald liegt, ist die Musica disàp/inœ von Aurelianus. Vgl. Krüger 1869: »Riehl steigert das Entsetzen durch die Behauptung [...], er würde sogar wohlerzogene Hunde [...] nur mit entschiedenem Geheule begrüssen. Unsere menschlichen Zeitgenossen sind nicht alle so wohlerzogen; hörten wir doch selbst auf einem Weserdampfer 1848 eine fahrende Trompeter-Horde auf freiheitsdürstiges Verlangen die Marseillaise anstimmen und dabei ein Hucbald'sches Organum in optimaformaauffuhren, ohne dass die begeisterten Zuhörer etwas Anderes heulten als Beifall.« (S. 35 f.).

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Der »effroyable harmonie« des Organum folgt das Quartorganum Guidos, »qu'au contraire il rend le monstre plus monstrueux encore.« Erst die Mensuralnotation, wie Franco sie beschreibe, lasse Licht ins Dunkel und zeige im Vergleich, wie viel besser die Musik der frankonischen Zeit in Bezug auf das zum Organum sei: »II est fâcheux que l'horrible Organum, dont nous avons parlé plus haut, ait longtemps survécu au milieu de ces connaissances mieux réglées et soit venu, par sa présence de convention, arrêter l'amélioration de la musique pratique. On le verra longtemps encore planer, comme un principe malfaisant, sur la musique du moyen-âge, à une époque même très avancée.«8^

In der späteren Zeit wird also ebenfalls der musikalische Fortschritt getrübt: Das Organum, »l'horrible Organum«, schwebt weiterhin als »böses Prinzip« über der Musik des Mittelalters. Natur, das Vo/kstöm/icbe und das Nationa/e Die rational durchdrungene Auseinandersetzung mit der Natur ist für Johann Nikolaus Forkel eine unabdingbare Voraussetzung für Kunst, die nicht nur der Intuition entspringen soll: »Die bloße Natur bringt zwar die Anlage zu den schönen Künsten hervor [...]. Aber jede Kunst hat und verlangt eine Behandlungsart, die nicht mehr das Werk der bloßen Natur ist, sondern entweder durch Unterricht oder durch angewendetes Nachdenken bei der Übung erlernt werden muß.«82 Der Musikwissenschafder Hans Heinrich Eggebrecht geht im 20. Jahrhundert sogar so weit, in allem Hörbaren, »sofern es zur Musik gelangen soll, das theoretische Denken [als] wesentliche Instanz« zu konstatieren.83 Während jedoch bei den Musikwissenschafdern Eggebrecht und Dahlhaus prinzipiell jeder menschliche Eingriff auch im Sinne eines »theoretischen Denkens« über das musikalische Tun die amorphe Masse Klang zur Kunst formt, ist bei Forkel und sämtlichen Musikhistorikern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Standard wesentlich höher angesetzt. In einer unversöhnlichen Gegenüberstellung von Kunst und Natur erkennt Forkel zum Beispiel den Melodien der Troubadours, Trouvères, Minne- und Meistersänger ihren Kunstcharakter ab, da sie eben keine »Früchte der Kunst, sondern der Natur« seien.84 Im Kern geht es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in allen gelehrten Musikgesprächen um den Begriff der Natur und seiner Wandlungen. Und der Diskurs manifestiert sich in Überlegungen zum Komplex »Volk« und »Nation«, wie sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der Folge von Herders Forderungen diskutiert und umgesetzt werden. Sie fuhren schließlich zu einer Neuentdeckung des Volkshaften und Natürlichen. Forkel sieht eine Verbindung zwischen der Unkenntnis musikalischer Notation bei einem Volk und der Unvollkommenheit von dessen Musik: »Der Mangel der musikalischen Schreibekunst ist stets ein sicheres, unwidersprechüches Zeugnis von der allerniedrigsten Stufe musikalischer Vollkommenheit.«8^

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Zitate Bottée de Toulmon 1835, S. 2 f., S. 4-8, S. 12. Forkel 1801, S. 103. Eggebrecht 1991a, S. 188. Forkel 1801, S.V. Ib., S. 106. Vgl. dazu Kneif 1963, S. 90-98.

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Herder hingegen hatte in seinem Aufsatz »Über Ossian und die Lieder alter Völker«, 1773 abgedruckt in der Sammlung Von deutscher Art undKunst. Einige fliegende Biatterwo übrigens auch Goethes Hymnus auf das Straßburger Münster erschienen war - , ausgeführt, Poesie sei nicht Angelegenheit weniger Gebildeter, sondern eine aus der jeweiligen Zeit zu verstehende Völkergabe. Jede echte Kunst müsse original und national sein. Nicht die Bildung mache den Dichter, sondern die echte und tiefe Empfindung. Wahrheit und Natürlichkeit seien allein der Volksdichtung eigen, die »nicht fürs Papier gemacht«86 sei: »Wissen Sie also, daß je wilder, das ist je lebendiger, je freiwürckender ein Volk ist, (denn mehr heißt dies Wort doch nicht!) desto wilder, das ist desto lebendiger, freier, sinnlicher, lyrisch handelnder müssen auch, wenn es Lieder hat, seine Lieder seyn! Je entfernter von künstlicher, wissenschaftlicher Denkart, Sprache und Letternart das Volk ist: desto weniger müssen auch seine Lieder fürs Papier gemacht, und tote Letternverse sein.«"?

1778/79 erscheint Herders erste Sammlung von Volksliedern, die in der zweiten Auflage von 1807 den Namen Stimmen der Völker erhält. In diesen Ausgaben erweist sich Herder als akribischer Herausgeber und Sammler, aber auch als Nachdichter fremdsprachlicher Volkspoesie. Die bei Herder engagiert formulierten Ideen werden bereits 1782 von Reichardt aufgegriffen: Er veröffentlicht ein Volkslied in seinem Musikalischen Kunstmaga^in und lobt die Melodie, die »so ganz den Gang der Traurigkeit« gehe, ähnlich wie die »schöne Choralmelodie: aus tiefer Noth schrey ich zu dir, die ursprünglich wohl auch eine Volksmelodie ist.« 88 Gemeinsam mit einer Fülle anderer Faktoren haben die Ideen Herders im 19. Jahrhundert zwei wesentliche Konsequenzen: Eine romantische Hinwendung zu einem sogenannten Natürlichen und Ursprünglichen, das sich in zahllosen Studien zur Volkspoesie, Volksdichtung, zu Volksmärchen und Naturpoesie äußert, und eine bis dato unerreichte Apotheose des Kindlichen. Letztere ist eng mit der Ursprünglichkeit verknüpft und läutet eine Bewegung ein, die, parallel zum Prinzip »Fortschritt« ein Prinzip »Rückschritt«, eine Rückkehr zu den Ursprüngen, fordert und im Kindlichen dessen Höhepunkt erblickt. Die Hinwendung zum Natürlichen bewegt unter anderem Wilhelm Grimm dazu, sich engagiert für Volksmärchen und Volksdichtung einzusetzen und eine Unterscheidung zwischen Naturpoesie und Kunstpoesie zu postulieren. Naturpoesie ist für Wilhelm Grimm beispielsweise das Nibelungenlied und das Heldenbuch, während er unter Kunstpoesie all jene Werke aus »altdeutscher Zeit« begreift, die auf einer fremdsprachigen, fran2ösischen Quelle beruhen — also einen großen Teil der höfischen, mittelhochdeutschen Literatur: »Diesen Rittergedichten ist die Unschuld der Naturpoesie [...] verlorengegangen«,89 kritisiert er. Neben der ästhetischen Überhöhung der Naturpoesie stellen sich praktische Fragen für den Umgang mit Naturpoesie und Kunstpoesie, die ohne gründliche Kenntnis des Alt- und Mittelhochdeutschen nicht verstehbar sind. Wilhelm Grimm fordert für eine Kunstpoesie die Übersetzung, die ihr »das Langweilige, Unpoetische und 86

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Herder, »Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker«. Herder 1773. Ib., S. 164. In: Kjtmtmqgag» 1782,1. Stück, S. 154 (Mus. Β 333. Rara in der Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz, Unter den Linden). Vgl. Rautenberg 1985, S. 70 f.

Unrhythmische ihrer Manier«90 nehmen könne, und er sieht drei Möglichkeiten für den Umgang mit der Naturpoesie: Modernisierung, vollständige Neubearbeitung oder Übersetzung. Ähnliche Fragen stellen sich auch Musikhistoriker im Zusammenhang mit den einstimmigen Melodien der Trouvères und Troubadours, die durchweg, in Grimmscher Terminologie, der Naturpoesie zugeordnet werden. Aus dem Interesse am Ursprünglichen und Volkstümlichen folgt schließlich auch die Hinwendung zum Kind, zur Kindlichkeit, das als »pars pro toto [...] den Anspruch auf Anfang und auf Progressivität« zu befriedigen scheint.91 So notiert Novalis in seinem Allgemeinen Brvuillon. »GESCH(ICHTS)LEHRE. Neu und Jung ist Eins. Neu ist das Obj(ect). Jung das Subject. / Bekannt und Alt sind auch nahe verwandt.«9^

Das Besinnen auf den Anfang entspricht Herders Vorstellungen von Volk und Nation, mit einer »geschichtsphilosophischen Analogie der Phylo- und Ontogenese des Menschengeschlechts und den weitreichenden Konsequenzen, die das Ursprüngliche mit der Spekulation um die Genese der Poesie verbindet.«93 Was sich bei Herder auf das Ursprüngliche und Natürliche der Völker bezog, wird hier nun auf das Ursprüngliche übertragen, das sich ontogenetisch in jedem Menschen in seinen frühen Lebensstadien ereigne. Während Forkel mit der Aberkennung ihres Kunstcharakters die »volkstümlichen Melodien« der Troubadours und Trouvères als »Naturprodukte« unterschätzt, wertet diese Charakterisierung die Melodien in der Musikgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts gerade auf. Deren Natürlichkeit wird bei Raphael Georg Kiesewetter zum Qualitätsmerkmal.94 Und Forkels Ansicht kommentiert Kiesewetter 1838 mit dem Hinweis auf die vom »Instinct einer glücklichen Natur geleiteten, ungelehrten, das heisst, nicht schulmässig, sondern nur technisch unterrichteten Liederdichter und Sänger«.95 Auch wenn Kiesewetter selbst keine Melodien der Minnesänger kennt,96 so schätzt er doch die »volksmäßigen Melodien« der Trouvères, verweist auf die ab 1838 zugänglichen Gesänge der Troubadours 97 und würdigt diese Melodien in seiner Abhandlung Schicksale und Bescòaffenieii des ivelilicòen Gesanges vomßuhen Mittelalter bis Erfindung des dramatischen Styles und den Anfingen der Oper, die 1841 in Leipzig erscheint. 9

Grimm 1881, S. 71.

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Alefeld 1996, S. 14 f. Vgl. dazu Richter 1987 besonders die Kapitel »Kinderkult. Ein Grundmuster« und »Der Bruch zwischen Erwachsenen und Kindern«, S. 18-29; Richter 1992; Kreutziger-Herr 1997; Adelmann 1923; Ewers 1989; Herter 1961; Speyer 1930; Ariès 1994; Assmann 1978; Hengst 1981. Novalis 1798/1799. Alefeld 1996, S. 15. Kiesewetter 1829, S. 48. Kiesewetter 1838. »Bekanntlich ist von den Melodien unserer Minnesänger (Zeit- und Kunstgenossen der Troubadours) bisher keine Spur aufgefunden worden; wir sind in völliger Unkenntniss über ihre musikalische Kunst; alle bisherigen Nachrichten und gelehrten Abhandlungen über dieselben haben sich nur auf ihre Poesie beziehen können: vielleicht (wie wollen es als deutsche Patrioten gern glauben) haben sie den Troubadours an Kunst, Geschmack und Erfindung auch in musikalischer Beziehung nicht nachgestanden.« Kiesewetter 1838, Sp. 234. Ib. (mit Notenbeilagen).

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In einer geschichtlichen Schau durchschreitet Kiesewetter die Vokalmusik: vom »einfachen weltlichen Gesang« (»das eigentliche Volkslied«, die Gesänge der Troubadours und Romanciers und die Lieder »im einfachsten Styl« von gelehrten französischen Dichtern und Tonsetzern) über »contrapunktierte Gesänge in verschiedener Gestalt« (Beispiele für »frühen, noch sehr rohen Contrapunkt« und »allmählich gebesserten Contrapunkt«) bis hin zu Kapiteln über »eigentliche Monodie, als solche erdacht, nicht aus dem Contrapunkt hervorgegangen«, die schließlich den »Blick auf den Fortgang der Oper, im Verlaufe des ersten Jahrhunderts ihres Bestehens« freigeben. In Ermangelung von notierten Volksweisen des 14. und 15. Jahrhunderts extrahiert Kiesewetter aus den Tenores mehrstimmiger Chansons die französischen Volksweisen.98 Analog zu Wilhelm Grimms Vorstellungen zum Umgang mit Naturpoesie - Kiesewetter spricht weniger vom Natürlichen als vom »Instinctmäßigen«, meint jedoch dasselbe —, fordert er, die natürlichen Melodien einfach beizubehalten Grimm hatte Modernisierung, vollständige Neubearbeitung oder Übersetzung vorgeschlagen. Er kritisiert einige Veröffentlichungen von François-Louis Perne, vermutlich Francisque Michels Ausgabe der Werke des Trouvères Chastelain de Couci (hier Châtelain de Coucy), die in der ältesten Trouvère-, bzw. Troubadourhandschrift99 überliefert sind und die Perne mit Klavierbegleitung versehen vorgelegt h a t t e , u n d er rügt Burney, der in seiner modernen Version von Troubadourmelodien ebenfalls eine Begleitung, zudem noch eine englische Übersetzung hinzugefugt, und die Musik zudem in einen modernen Viervierteltakt gebracht hatte [Abb. 23]: 101 »Die zu diesen Liedern von Burney gesetzte Klavierbegleitung lasse ich mit Absicht weg; ich kann solche >Appretirung< nicht gut heissen: wir wissen (und bilden uns was Rechtes darauf ein), dass wir mit unserer heutigen Harmonie einer und derselben Melodie bald diese, bald jene Farbe zu geben vermögen; jene Weisen waren aber an und für sich blos als Melodien, ohne Begleitung (oder wenigstens nicht mit fortgesetzter, harmonischer Begleitung) erfunden. Zudem drängt sich der Verdacht allzu leicht auf, dass bei solcher Bearbeitung die Original-Melodien an manchen Stellen, der Begleitung zu Liebe, einigen Zwang haben erleiden müssen.«102

Kiesewetter unterstreicht andererseits, dass die »Übersetzer« der Melodien zudem die Tonarten der Lieder zumeist verkannt hätten, ergänzt den Hinweis auf die Musica ficta und schreibt: »Die Lieblingstonarten und Leitern in den Liedern der Troubadours sind F-dur, D-moll und G-moll, und nicht ohne einige Verwunderung (mit Rücksicht auf die Zeit) findet man sogar schon eine versetzte Tonleiter G-dur.« 103 Es sind zum einen die Freiheiten in der Harmonisierung einstimmiger Melodien, die Kiesewetter stören, zum anderen, und das ist der Hauptgrund für die Kritik, verschleiere eine Begleitung und Bearbeitung die ursprüngliche Natürlichkeit der Melodien und verkenne deren Schlichtheit, die auch in klaren Tonartenverhältnissen zum Ausdruck komme.

98

Kiesewetter 1841a, S. 4 f.

99

Im Chansonnier de Saint-Germain-des-Prés.

100

Michel 1830. Vgl. hierzu einen Kommentar in Kiesewetter 1838, besonders Sp. 239.

101

Burney 1776/1782, Bd. II, S. 290.

101

Ib.

102

Kiesewetter 1838, Sp. 240.

103

Ib., Sp. 242.

108

Mit dem Lob des »Volksliedes als solchem« ist bereits eine Kritik an den Komponisten mehrstimmiger Musik angedeutet, und sie wird im zweiten Kapitel von Kiesewetters Sdicksa/e ausgesprochen.104 Er diskutiert drei Notenbeispiele, die er von Fétis und Bottée de Toulmon übernimmt.105 Besonders im Blick auf einen »sogenannten Motetus« von Adam de la Halle sei es unbegreiflich, wie, auch in der Kindheit der Kunst, ein Schüler solchen Charivari habe schreiben können - eine Musik, in der Quinten und Octavenfolgen dem Zuhörer zur Erholung gedient hätten. Und er wendet sich zwei Kompositionen des 14. Jahrhunderts zu, Non avràpietà-von Francesco Landini und Dous viairv gratieux νon Guillaume de Machaut, und kritisiert ihre Kompliziertheit. Zuvor hatte er bereits einige einstimmige Beispiele von Machaut vorgestellt. Im Vergleich zu Adam de la Halle stellt Kiesewetter nun fest: »Nur wenig besser ist, etwa hundert Jahre später, die hier [...] zu betrachtende dreistimmige Canzone von Francesco Landino (einem Florentiner um das Jahr 1360), der zu seiner Zeit als ein ausgezeichneter Orgelspieler berühmt war. Um nichts besser erscheint [...] eine dreistimmige Chanson von dem (mit Landino ungefähr gleichzeitigen) französischen Dichter und Tonsetzer Guillaume de Machault, dessen (ganz hübsche) Chansons und Lays bereits in den vorhergegangenen Abschnitten gezeigt worden sind. Es scheint ganz unmöglich, dass solche Compositionen dort, wo man nur für das einfache Lied Sinn hatte und daran sich zu ergötzen gewöhnt war, jemals zum Anhören gebracht worden seien: sie waren wohl nur für eine geschlossene Gesellschaft von Schul-Pedanten geschrieben, oder für solche, die entschlossen waren, und Selbstverleugnung genug hatten, auf Kosten ihrer Ohren für Kenner der rneuen Kunst< gelten zu wollen.« 10

Die musikalische Entwicklung zeigte erst dann Fortschritte, wie Kiesewetter weiter folgert, als Dichter »aufstanden«, die »eine Nationalliteratur schufen, deren Werke ihren Eindruck und dauernden Einfluss nicht verhehlen konnten.« Gemeint sind Dante und Petrarca und ihre Bemühungen um die Nobilitierung des volgare. Es ist das Natürliche, Volksmäßige, das sich hier bei Kiesewetter durchsetzt und der Musikgeschichte neue Impulse gibt. Er verweist zusätzlich — mit einem Zitat aus Goethes Italienischer Reise — auf »Gondelfuhrer in Venedig« und auf »Improvisatoren in Italien«, in deren Gesangsvortrag »mehr oder minder der Einfluß der Musik des Tages bemerkbar werden muss.« Konsequenterweise kommentiert Kiesewetter die Wiedergabe von Landinis Non avrà pietà va. Bezug auf »das Instinctmäßige«. Er teilt die baihta in zwei Teile, ohne von ripresa, piedi, volta zu sprechen, unterschlägt den vierten Vers der ripresa und kommentiert den Beginn der piedi mit der Erklärung »von unbewusstem Instinct dictirt«107 [Abb. 24]. Diese ersten dreizehn Takte erscheinen ihm besonders gelungen, das dreistimmige Rondeau Dous viairegracieuxwoa Machaut hingegen, das Kiesewetter ebenfalls überträgt, jedoch hier den Text unsinnig unterlegt und ihn zudem dem Triplum und nicht dem Cantus zuordnet, kommentiert er mit dem Cicero-Zitat »O

104 105

106 107

Kiesewetter 1841a, S. 10. Kiesewetter unterstreicht, er habe die Beispiele »nach Franco« übertragen. Er hatte über Franco mehrere Studien angefertigt und dessen Wirkungszeit als erster Musikhistoriker in das richtige Jahrhundert verlegt. Vgl. unter anderem Kiesewetter 1838a. Dieses und die folgenden Zitate aus Kiesewetter 1841a, S. 10-12. Notenbeispiel No. 13, S. 6 im Anhang zu Kiesewetter 1841a.

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tempora! O mores!«108Aus seiner Sicht überlagert die zu ambitionierte Haltung des Komponisten den »natürlichen Instinct« und lässt das Kunstwerk missraten. Die Darstellung von mittelalterlicher Musikgeschichte »Von den allerältesten Praktikern, nehmlich von Wilhelm Dufay und Binchois, die nach Tinctors Nachricht den Contrapunkt zuerst in Frankreich ausgeübt haben sollen, ist nach aller Wahrscheinlichkeit keine einzige Note mehr vorhanden.«109 Diese Einschätzung Forkels von 1801 überrascht, da einige mittelalterliche Handschriften bereits Jahrzehnte zuvor in Burneys Genera/ History of Musi^ beschrieben worden waren und Martin Gerbert in seinem Werk De cante et musica sacra aprima eccksiae aetate usque adpresens tempufi^· nicht nur die Existenz musikalischer Schriftproben behauptet, sondern sie sogar mit zweiundzwanzig Faksimile-Tafeln belegt, unter denen sich Notationsproben der russisch-orthodoxen Kirche, deutsche Choralnotation, Tabulatoren, aber auch eine französische Motette der Ars Nova befinden. Forkels Einschätzung wird von Kiesewetter in seiner 1834 erschienenen Musikgeschichte dahingehend abgewandelt, dass er aus dem 14. Jahrhundert »sehr wenig, und, vermuthlich nur zufallig, nicht eben Vorzügliches auf uns gekommen«112 wähnt. Wiederum etwa dreißig Jahre später, nachdem Auguste Bottée de Toulmon, Raphael Georg Kiesewetter, Edmond de Coussemaker und andere eine Fülle an Beispielen mittelalterlicher Musik vorgelegt haben, schreibt August Wilhelm Ambros im zweiten, 1864 erschienenen Band seiner Musikgeschichte, dass »etwas Bleibendes eigentlich nur der traktatenschreibende Musikgelehrte hinterlassen« konnte. »Wir besitzen aus [dem Mittelalter] eigentlich gar keine musikalischen Kunstdenkmale, weil in der That keine existierten.«113 Man kann nur vermuten, dass diese Schlußfolgerung durch unterschiedliche Blickwinkel zustande kommt: Forkels Ai/gememe Geschichte der Musik, die nur bis zur Renaissance gelangt, ist zwar eine Zusammenfassung des musikalischen und nichtmusikalischen Schrifttums über die mittelalterliche Tonkunst und erfasst bis dahin erschienene musikhistoriographische Literatur, geht jedoch über sie nicht hinaus und zieht beispielsweise aus Burneys Beschreibungen von Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts keine Schlüsse. Kiesewetter und Ambros hingegen argumentieren weniger mit einem quantitativen als mit einem qualitativen Argument. Die Materialbasis, die Kiesewetter präsentieren kann, ist zwar klein, deutet aber bereits auf eine reiche musikalische Kultur im Mittelalter hin. Ambros wiederum kann in seiner Geschichte der Musik weitere Beispiele präsentieren. So hatte sich Kiesewetter 1845 über das Auffinden einer Reihe bedeu-

108 Ν»

Notenbeispiel No. 14, S. 7, ib. Forkel 1801, S. 515.

110

Vgl. Burney 1776/1782, Bd. II, Chapter III: Of the formation of the Time-table, and state of Music from that Discovery till about the Middle of the Fourteenth century, besonders S. 303-305. Gerbert 1774. Kiesewetter 1834, S. 40. Ambros 1864, S. 410.

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tender Codices durch Edmond de Coussemaker begeistert geäußert,!14 dessen erste Forschungsergebnisse noch zu Lebzeiten, dessen bedeutende Schrift- und Quellenpublikationen allerdings erst nach Kiesewetters Tod die Öffentlichkeit erreichen. Ambros kennt sowohl die Publikationen seines Onkels Kiesewetter als auch die Publikationen Coussemakers. Aber die vorliegenden musikalischen Proben aus der Zeit vor dem 15. Jahrhundert sind für ihn keine »musikalischen Kunstdenkmale« im Sinne eines klassisch-romantischen Werkbegriffs, und Ambros unterstreicht, dass im Mittelalter der Musiker »ein Diener des Augenblicks« gewesen sei, nicht daran interessiert, »in die Annalen der Unsterblichkeit eingetragen zu werden«.!15 Damit trennt sich Ambros zwar theoretisch von der Überheblichkeit aller mittelalterlichen Musik gegenüber — dem Sinne nach: Es gab musikalische Kunstwerke, sie wurden nur nicht aufgezeichnet —, sieht jedoch erst mit Du Fay »wirkliche musikalische Kunstwerke« verwirklicht, die er auf die »Sicherheit und Leichtigkeit« in der Behandlung der Kunstmittel zurückführt.116 Im Vergleich zu den musikalischen Zeugnissen der Renaissance und analog zu Burckhardt ist für Ambros schließlich der erste uomo universa/e der Musikgeschichte Josquin, und Ambros scheut keine sprachlichen Mittel, um die Musik Du Fays und Josquins in der Musikgeschichte zu verankern: »Wer den Cölner Dom oder den Genter Altar nur noch >historisch< interessant fände, weil ersterer nicht aussieht wie ein Glaspalast zu Industrieausstellungen und letzterer nicht wie ein Salonbild von Winterhalter, würde sich unsterblich blamieren! Jene Tonsätze können aber wirklich an gothische Dome erinnern. Wie in diesen die ganze strenge Spekulation der mittelalterlichen Scholastik mit aller Seelentiefe, allem Herzensaufschwunge der mittelalterlichen Mystik ein wunderbares Bündnis schließt, wie dem ganzen Bau irgend eine mathematisch durch den Verstand berechenbare Formel zu Grunde liegt, die in allen seinen Theilen, im Großen wie im Kleinen, ihren Ausdruck findet, selbst die reiche Fülle des anscheinend so völlig phantastischen Zierwerks hervorruft, das alles zusammen aber den Geist emporfuhrt zu Ahnungen des Höchsten: so tönt etwas ganz Wunderbares, etwas Uberirdisches aus diesen aus irgend einer kleinen Formel (Thema) aufgebauten Tonsätzen, und jener wundersam erweiterte Schluß, den ich den >Josquinschen Sehnsuchtsblick< nenne, mahnt mich immer an die Kreuzblume.« 11 ^

Musikgeschichtsschreibung ist im 19. Jahrhundert Knochenarbeit. Ambros beschreibt anschaulich, unter welchen Mühen die Forscher in »wenig besuchten Winkeln großer Bibliotheken, im Staub der Archive« nach Quellen suchen, und, wenn sie musikalische Zeugnisse entdeckt haben, sie erst »aus ihrem Zauberschlaf« erwecken müssen.118 So ist verständlich, dass kein Musikhistoriker des 19. Jahrhunderts eine klare Vorstellung von der Bedeutung der unterschiedlichen Notationen mittelalterlicher Musik haben kann, von den Zusammenhängen von Neumenschrift, Buchstabennotation, Modal- und Mensuralnotation, von Verbreitung und Alter, aber auch von den Eigenarten der unterschiedlichen Notationssysteme und Aufzeichnungsweisen. Und auch, als im Laufe des 19. Jahrhunderts stärker als zuvor die Quellen älterer Musikgeschichte ins Blickfeld 114 115

H6 1" «8

Kiesewetter 1845, S. 1 ff. Ambros 1864, S. 410. Ib., S. 359 und S. 404 f. Ambros 1964, S. XIX. Ambros 1864, S. 450.

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rücken, stehen Fragen nach der Eigenart der Notenschrift und die Grenzen einer Übertragbarkeit selten im Zentrum des Interesses: E s geht primär um Entzifferung und Übertragung. Neben Martin Gerberts ersten Veröffentlichungen von Schriftproben finden sich weitere Beispiele mittelalterlicher Notation in Charles Burneys Genera/ History,119 in dem Essai sur ία musique ancienne et moderne von Jean-Benjamin de La Borde, 1 2 0 Christian Kalkbrenners Histoire de ¿a Musique von. 1802, erst etwa dreißig Jahre später in einer Publikation von Auguste Bottée de Toulmon 1 2 1 und in den Studien von Raphael Georg Kiesewetter, die zwischen 1834 und 1848 erscheinen. Edmond-Charles de Coussemaker präsentiert schließlich eine Reihe von Faksimiles und Übertragungen in seiner Histoire de /'/harmonie au Moyen Age von 1852 — Schriftproben, die nicht eingebettet sind in die Überlegungen um das Verhältnis von Notenschrift und Text, welche die theoretische Diskussion des 18. Jahrhunderts bereichert hatten. 122 Allein Carl von Winterfeld schreibt im Zusammenhang einer Edition von Kompositionen des 16. und 17. Jahrhunderts, in ihnen sei zwar »die ältere Schreibweise [...] zuweilen mit der neuen allgemein verbindlichen vertauscht worden«, aber dadurch sei »nur das Bezeichnende aber, nicht das Bezeichnete [...] anders geworden.« 123 Diese scheinbar unbekümmerte Feststellung steht in einem Spannungsverhältnis zur Diskussion um die musikalische Schrift im 18. Jahrhundert. 124 Ob durch eine Übertragung, leichte oder starke Bearbeitung mittelalterlicher Kunst tatsächlich »nur das Bezeichnende aber, nicht das Bezeichnete anders wird, ist im 19. Jahrhundert ausschließlich eine theoretische Herausforderung für die Philologie. Denn die Philologie muss sich im Zusammenhang mit althochdeutscher Literatur und mit der Lyrik von Troubadours und Trouvères aus dem Wunsch nach Vermittlung und Verbreitung heraus zuerst diesen Fragen stellen - die Überlegungen von Wilhelm Grimm um Kunst- und Naturpoesie gelten auch hier. Die Diskussion wird in der Musikhistoriographie und Paläographie im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts schließlich von pragmatischen Fragen geprägt und fällt interessanterweise hinter die Überlegungen zur Notenschrift um 1800 zurück. Erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wird die Diskussion durch Herbert Birtner und Leo Schrade versuchsweise erneut angestoßen, später durch Thrasybulos Georgiades, Ewald Jammers und Carl Dahlhaus wieder aufgegriffen. 125 Die Überzeugung, in den mittelalterlichen Notationen eine unnötig komplizierte Notenschrift vor sich zu haben, prägt Interpretationen und Umgangsweisen, die auf eine zumindest ästhetisch unproblematische »Übersetzung« von einer unvollkommenen in eine vollkommene Sprache hinauslaufen. So schreibt Forkel im zweiten Band seiner A/Zgemeinen Geschichte der Musik. »Um fernere Untersuchung über diese verwickelte Materie zu erleichtern, die genau genommen die Grundlage der Notenschrift bis spät ins siebenzehnte Jahrhundert geblieben ist, deren 119 120 121 122 123 124 125

Burney 1776/1782, Bd. II, S. 300 ff. La Borde 1780, z. B. »Commencement de douce saison bele« von Chastelain de Coucy, das La Borde mit Übertragung wiedergibt. Diese Chanson gilt heute als zweifelhaft. Z. B. Bottée de Toulmon 1836. Arlt 1974. Winterfeld 1834, S. XI. Hervorhebungen von Gabrieli. Arlt 1974, S. 47 f. Vgl. dazu ib., S. 48 und Einleitung zu Arlt 1979.

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Kenntniß aber noch immer wenigstens nicht ganz entbehrt werden kann, wenn wir Töne aus den Jahrhunderten nach Franco bis zum Anfang des achtzehnten entziffern, und ihren Werth gehörig kennen lernen w o l l e n , 1 2 6 g e in Versuch die bisher gegebenen Beyspiele, nach dessen eigenen Regeln in neuere Noten zu übersetzen, vielleicht nicht undienlich seyn.« 12 7 m

a

Die alten Regeln sind Notbehelf, ein Ersatz für jene Eigenschaften, die die neuere Notenschrift ganz selbstverständlich aufweist. In der rezeptionsästhetischen Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Notationen wird die Ansicht vertreten, die neuere Notenschrift brauche aus guten Gründen Regeln wie beispielsweise die Franconischen nicht mehr. Man müsse also lediglich die alte Notenschrift entziffern und durch eine geläufige ersetzen — Forkel wunderte sich, warum die mittelalterliche Notenschrift so viel Verwirrung in so einfache Dinge hineintrüge. Dabei tritt die Tatsache, dass sich beispielsweise ein musikalischer Sinn darin ausdrücken könne, dass eine dreizeitige Longa durch eine Brevis imperfiziert werde, noch nicht ins Bewusstsein, und das Fehlen von Taktstrichen oder die Notierung in getrennten Stimmen wird durchweg als Manko empfunden - Merkmale, die heute als wesentlich für die nachmittelalterliche Musik gelten.128 Um dies im einzelnen noch weiter zu verdeutlichen, möchte ich drei herausragende Musikgeschichten vorstellen und ihren Zugang zur mittelalterlichen Musik beschreiben. A Genera/History of Musk voti Cbaríes Burney (Ί776-1789) »Das einzige Werk [...], das den Namen einer Geschichte der Musik wirklicht verdient hat«,129 resümiert Kiesewetter rückblickend 1847 über die Genera/History of Music, deren erster Band 1776 erschienen war. Im zweiten Band von 1782 behandelt Burney die Musikgeschichte des Mittelalters und stützt sich hierbei auf die unterschiedlichsten Quellen: Er nennt im Vorwort die Arbeiten von Bontempi, Padre Martini, Bonnet-Bourdelot, Blainville, Printz, Marpurg, ferner die Arbeiten von Martin Gerbert.130 Er verwendet auch diejenigen Kapitel aus der 1776 erschienen Musikgeschichte von Sir John Hawkins, in denen mittelalterliche Musikgeschichte erörtert wird, ohne dies jedoch speziell zu kennzeichnen, und er ergänzt diese Sammlung an Sekundärliteratur durch Besuche europäischer Bibliotheken, die ihm zahlreiche Handschriften zugänglich machen und die ihn beispielsweise das 1474 erschienene Terminorum Musicae Diffini/orium von Johannes Tinctoris, das nur in wenigen gedruckten Exemplaren vorhanden ist, entdecken lassen. Auch wendet sich Burney in kritischen Fragen an Lebeuf, Martin Gerbert oder Padre Martini, mit denen er einen regen Briefwechsel fuhrt. Schließlich ist es die kritische Haltung allen Autoritäten gegenüber, die er mit seinem Freund Voltaire teilt und die ihn für einen 126

Forkel paraphrasiert hier einen Satz von Burney. Vgl. Burney 1776/1782, Bd. II, S. 305.

127

Forkel 1801, S. 400. Bockholdt 1971, S. 152. Kiesewetter 1847, S. XIII. 1848 erschien die englische Ausgabe von Kiesewetter 1834 in der Übersetzung von Robert Müller, deren Vorbereitung etwa fünf Jahre in Anspruch genommen hatte. Kiesewetter wollte mit dieser Bemerkung auch unterstreichen, dass er nicht mit Burneys Werk in Konkurrenz zu treten gedachte, gleichwohl er sich seiner kompendienhaften Leistung bewusst war. Vgl. dazu Kier 1968, S. 165. Bontempi 1695; Martini 1757/1770; Blainville 1767; Printz 1690; Marpurg 1759; Gerbert 1774.

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frischen, unverstellten Blick auf die Frühzeit europäischer Musik prädestiniert.13! Burney hat grundsätzlich kein Interesse an spekulativer Musiktheorie: Seine Mittelalterkapitel sind durch begriffliche Vereinfachung und Verallgemeinerung charakterisiert. Seinem musikgeschichtlichen Werk ist ein launiger Ton eigen, der auch daher rührt, dass für Burney Musik »an innocent luxury, unnecessary, indeed to our existence«132 ist — ein fur die deutschsprachige Musikgeschichte des späten 18. Jahrhunderts unfassbares englisches Bonmot, das zudem auch noch von Sir John Hawkins unterschrieben wird.133 Im Zentrum von Burneys General History steht die Musik der Gegenwart, und mit selbstgewisser Überheblichkeit wendet sich der Autor den »dark ages of ignorance and superstition«134 zu. Für Burney, der ausgebildeter Musiker war, liegt Fortschritt musikalischer Entwicklung in der Steigerung des sinnlichen Ausdrucks. Dramatische Musik und hierbei vor allem die Oper ist für ihn der Höhepunkt musikalischer Äußerung. Von dieser Warte aus müssen die Anfange der Musik primitiv und naiv erscheinen, und Beispiele mittelalterlicher Musik »too contemptible for criticism« sein.135 Auch ist für Burney der Begriff »gotisch« - analog zu Goethes Begriff, wie er ihn in seinem Hymnus ausführt — mit allem Negativen verknüpft: »Melody was so gothic and devoid of grace, that good poets disdained its company or assistance.«136 Burneys vier dem Mittelalter gewidmete Kapitel lassen ihn im schnellen Schritt die Zeit von den Anfängen kirchlicher Musik bis zum Notendruck durchschreiten. Natürlich beginnt Burney mit den Schriften Guidos, er erkennt, dass das »Organum« kein Instrument, sondern eine Form mehrstimmiger Musik137 ist. Er erörtert die Mensuralnotation nach Franco, dessen Traktat er in der Bodleian Library in Oxford138 studiert und dessen Bedeutung für die Notationsgeschichte er erkennt vermutlich auch durch Gespräche mit Martin Gerbert, der diesen bedeutenden Traktat in seine .finvention formelles die Empfindung für das Werden der Form als Grund des ästhetischen Vergnügens [...] und in all diesem kombinatorischen Spiel mit der Sprache die Freude am Singen selbst [...] als letzter Grund der poetischen Tätigkeit.«

Es ist das Verständnis des Gegenwärtigen, das die Erkenntnis des Vergangenen befördert und umgekehrt, eine rezeptionsgeschichtliche und rezeptionsästhetische Konvergenz, die nicht unmittelbar die Zeitgenossenschaft des Vergangenen sucht oder die Differenz zwischen Ursprünglichem und Gegenwärtigem aus den Augen verliert, die jedoch die Vergangenheit als »essentiale Wirklichkeit« empfindet. Der Anreiz zur Suche nach einem Zugang zu mittelalterlicher Literatur und Kunst liegt in ihrer »Alterität im Vergleich zu anderen Epochen [...], die die Überwindung des Zeitabstands zu einer ständigen Aufgabe hermeneutisch kontrollierter Interpretation macht.«29 Gleichzeitig ist die »Überwindung des Zeitabstands« ebenso fiktiv wie die mögliche Aufrechterhaltung zeitlicher Barrieren. Die geschichtlichen Zeiten erscheinen nur als Chronologie — das Bewusstsein hingegen erfasst und erlebt sie als parallele Phänomene. Das Modell der »rezeptionsgeschichtlichen Konvergenz« von Jauss erklärt die Hinwendung zum Mittelalter um 1900 und verweist auf die positiven Auswirkungen: Wenn auch die Konzeption eines modernen Mittelalters eine moderne Imagination ist, so verhilft sie doch kulturellem Strandgut der Geschichte zu neuem Leben. Offen bleibt, welches Leben das kulturelle Strandgut, seines ursprünglichen Kontextes beraubt, in der Gegenwart annehmen wird.30

Eine kurze Geschichte der musikwissenschaftlichen Mediävistik um 1900 Die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik, die in ihrer Rekonstruktion und Erfindung für das 20. Jahrhundert mündet, ist die Forschungsleistung einer Gruppe von Musikwissenschaftlern, die in ihrer Mehrheit aus dem deutschsprachigen Raum stammen. Sie arbeiten zum Teil mit-, zum Teil gegeneinander, und ihre Arbeit ist geprägt von dem, was der polnische Bakteriologe Ludwik Fleck ein »Denkkollektiv« genannt hat. Dieser Begriff nimmt Thomas S. Kuhns Wissenschaftsparadigmen und Pi28 29 30

138

Ib., S. 389 f. [Hervorhebung von ΑΚΗ]. Zitate Jauss 1977, S. 390 und S. 388. Stewart 1993, S. 133.

erre Bourdieus Konzept des intellektuellen Kräftefeldes um Jahrzehnte vorweg. Schon 1934 beobachtet Fleck, dass »das Erkennen [...] kein individueller Prozess eines theoretischen >Bewusstseins überhaupt [ist], es ist das Ergebnis sozialer Tätigkeit, da der jeweilige Erkenntnisstand die einem Individuum gezogenen Grenzen überschreitet.«31 Jede einzelne Entdeckung, so Fleck, ist »eine Neuschöpfung der ganzen Welt eines Denkkollektivs«. So bildet sich ein allseitig zusammenhängendes »Getriebe der Tatsachen«, durch beständige Wechselwirkung sich im Gleichgewicht erhaltend. Dieses zusammenhängende Geflecht verleiht der Tatsachenwelt »massive Beharrlichkeit und erweckt das Gefühl fixer Wirklichkeit, selbständiger Existenz einer Welt. Je weniger zusammenhängend das System des Wissens, desto magischer ist es, desto weniger stabil und wunderfähiger die Wirklichkeit.«32 Grundlegung undInstitutiona/isierung derMusikivissenschaß Das 19. Jahrhundert sieht eine Professionalisierung der Musikforschung,33 die sich sowohl in der Etablierung der historisch-kritischen Methode als auch in der Institutionalisierung und Bündelung von Individualstudien äußert. 1868 wird die Gese/ischa/t fiir Musikforschung gegründet, das Wort »Musikwissenschaft«, das zuerst bei Johann Bernhard Logier 1827 aufgetaucht war,34 etabliert sich in den 1860er Jahren. Im 19. Jahrhundert entstehen Musikgeschichten mit wissenschaftlichem Anspruch wie die Histoire générale de ία musique von François-Joseph Fétis, 35 die Geschichte der europäischabendländischen Musik von Raphael Georg Kiesewetter und die Geschichte der Musik von August Wilhelm Ambros. Das umfassendste biographische Lexikon des 19. Jahrhunderts ist die Biographie universe/ie des musiciens et bibliographiegénéra/e de /a musique; ebenfalls von Fétis, mit Hilfe eines großen Mitarbeiterstabes erstellt.36 Es entstehen Gesamtausgaben — zwischen 1851 und 1899 z.B. erscheint die erste, nach neuem wissenschaftlichen Verständnis historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Johann Sebastian Bachs, zu der das Bachjahr 1850 den Anstoß gegeben hatte - und Werkverzeichnisse, wie das von Ludwig Ritter von Kochel angelegte Verzeichnis der Werke Mozarts37 oder Gustav Nottebohms Verzeichnisse der Werke Beethovens38 und Schuberts.39 Sie sind Zeichen einer Professionalisierung der Musikforschung. Gleichzeitig expandiert die naturwissenschaftlich orientierte Musikforschung. Gustav Theodor Fechners empirische Studie Elemente der Psychophysifö10 stellt einen Zusammenhang von physikalischen Gesetzmäßigkeiten und dem ästhetischem Erleben von Musik her, während das Buch des Physiologen und Akustikers Hermann von Helmholtz Die Lehre pon den Tonempßndungen a/sphysiologische Grundlagefiirdie Theorie der Musik die Rolle von Obertönen für die Wahrnehmung von musikalischen M 32

Fleck 1935, S. 54. I b , S . 135.

33

Vgl. dazu Kreutziger-Herr/Rösing 1998. Logier 1827. Fétis o.J. Fétis 1835-1844. Kochel 1862. Nottebohm 1868. Nottebohm 1874. Fechner 1860.

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Klängen ebenso erörtert wie die Frage nach den Ursachen (Schwebungen) und Auswirkungen (Dissonanzen) von Rauhigkeitsempfindungen41 eine wesentliche Grundlage für die Arbeiten von Hugo Riemann bildet Schließlich entwickelt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die musikethnologische Forschung: Durch die Einrichtung von Phonogrammarchiven in Berlin und Wien wird eine Materialbasis bereitgestellt, und unter der Leitung des Philosophen und Musikpsychologen Carl Stumpf sind es insbesondere Otto Abraham, Erich Moritz von Hornbostel und Curt Sachs in Berlin, Robert Lach und Richard Wallaschek in Wien, die wissenschaftliche Kriterien zur Analyse und Interpretation von Feldaufnahmen erarbeiten.42 Das Anliegen der Musikethnologie, »Universalien im Sinn von interkulturellen musikalischen Gestaltungs- und Rezeptionskriterien verbindlich zu beschreiben,«43 ist auch eine Bereicherung und Herausforderung der frühen musikalischen Mediävistik, die sich einer zeitlich fernen, fremden Musikkultur nähert. Guido Adler, der erste Universitätsprofessor für das nun dezidiert so benannte Fach Musikwissenschaft im deutschen Sprachraum — Hanslick hatte noch einen Lehrstuhl für »Geschichte und Ästhetik der Musik« innegehabt -, 44 und zudem der einzige Ordinarius für Musikwissenschaft jüdischer Herkunft, der je an einer deutschsprachigen Universität lehrte, ist auch der erste, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dezidiert als Musikwissenschaftler — und nicht als Musikhistoriker oder Musikkritiker — begreift Sein »proklamiertes Selbstverständnis« ist das eines Initiators, Organisators, schließlich das eines Gelehrten, der methodenorientiert und selbstkritisch die theoretischen Grundlagen für das Fach Musikwissenschaft legt.45 Seine Abhandlung »Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft« ist eine Art Gründungsurkunde der Musikwissenschaft,46 das eine Fach Musikwissenschaft ist hier unterteilt in zwei große Bereiche — Historische und Systematische Musikwissenschaft —, und das 1898 gegründete Musikwissenschaftliche Institut an der Universität Wien ist das erste Institut seiner Art, das die von Adler beförderte Methodenvielfalt postuliert. Dabei kann nicht genug unterstrichen werden, dass es Adler nicht um die Etablierung einer Historischen Musikwissenschaft, sondern um die Erweiterung und größtmögliche Vielfalt «zwWissenschaft der Tonkunst geht.47

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Heimholte 1863. Kreutziger-Herr/Rösing, 1998, S. 44. Ib. An musikwissenschaftlichen Universitätsprofessoren sind ferner zu erwähnen: Eduard Hanslick (1861 in Wien, Guido Adler wird 1898 sein Nachfolger; Hanslick hatte einen Lehrstuhl für »Geschichte und Ästhetik der Musik« inne), Heinrich Bellermann (ab 1866 in Berlin, Nachfolger von Α. B. Marx, der schon ab 1830 Professor für Musikgeschichte in Berlin gewesen war), August Wilhelm Ambros (ab 1869 in Prag) sowie Gustav Jacobsthal (1875 in Straßburg). Vgl. Eggebrecht 1967a, S. 616. Vgl. auch Jaschinski 1997, Sp. 1802. 1872 gründet John Knowles Paine das Department of Music der Harvard University, das auf Harmonisierung von britischer College-Tradition und Humboldtschem Universitätsideal zielt. Vgl. dazu Wolff 1998, S. 51. Gruber 1998, S. 12.

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Adler 1885. Ib., S. 10. Vgl. dazu Heinz 1968, S. 35-42.

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Aufgabe des historischen Bereichs innerhalb des Faches Musikwissenschaft sei unter anderem die Etablierung von »Historischen Grundclassen« und das Studium der »Historischen Aufeinanderfolge der Gesetze«, Aufgabe des systematischen Bereichs die Erforschung der »in den einzelnen Zweigen der Tonkunst höchst stehenden Gesetze« in Harmonik, Rhythmik, Melodik, ferner die Musikästhetik, Musikdidaktik sowie die Musikologie (= Musikethnologie), die bei Adler nicht eigenständig fungiert, sondern Teil der Systematischen Musikwissenschaft ist. Durch die Einfuhrung der Begriffe »Stil« und »Grundclassen« schlägt Adler ein alternatives methodologisches Konzept vor, um das Fach, im Gegensatz zu anderen konkurrierenden Musikwissenschaftskonzepten, grundlegend neu zu orientieren48 und seine methodische Offenheit zu sichern, gleichzeitig jedoch seine interdisziplinären Verflechtungen zu einer fachinternen Multidisziplinarität umzudeuten. Mit seinem Ansatz der Stilkritik glaubt Adler, wie Albrecht Schneider in seiner Studie zur Musikgeschichtsschreibung und Frühgeschichte der Musik unterstreicht, »an die - bei Hegel niemals strikt bewiesene - Koinzidenz des Logischen und des Historischen«, die Stilentwicklung läuft in einem »teleologisch vorgeordneten Gesamtorganismus«49 ab. Dieser »Gesamtorganismus« ist die Kunstmusik Zentraleuropas, die Adlers zentraler und geschätzter Forschungsgegenstand ist, aber die Opusmusik wird bei ihm als »Werke-Musik« aus vielfältigen Blickwinkeln betrachtet, mit dem Anspruch kritischer Selbstreflexion. Je mehr die Musikästhetik des späten 19. Jahrhunderts und beginnenden 20. Jahrhunderts, deren Fortschrittserwartung nach »Rechtfertigung und nach Erinnerung an das Wesen der Musik« verlangt, und je mehr die Musik als »Sinnträger des Geistes in seiner Geschichtlichkeit«, unterstützt von Genieästhetik und Vorstellungen von einer die Zeit überdauernden Opus-Musik begriffen wird, desto mehr »fallt der Musikwissenschaft die Aufgabe zu, die Grundlagen der gegenwärtigen Musik in der Geschichte der Musik aufzuweisen. Die Musikwissenschaft im modernen Sinne hat hier ihren Ursprung.«50 Auch wenn der Formulierung von Hans Heinrich Eggebrecht ein gewisses Pathos nicht abgesprochen werden kann, so trifft sie doch einen zentralen Kern: Die Entwicklung der Disziplin Musikwissenschaft ist ohne den Historismus und die damit verbundene Orientierung an der Musik der Vergangenheit nicht denkbar, jene Musik der Vergangenheit, die bereits im Konzertleben des 19. Jahrhundert einen immer größeren Raum einnimmt und die »historischen Grundclassen« der Musik bis zu einem gewissen Grade präsentiert. So unterstreicht Friedrich Chrysander in seinem Vorwort zu den von ihm begründeten Jahrbüchernför musika/ische Wissensehaß, man wolle das Augenmerk auf die »veröffentlichten Lebensbeschreibungen halb oder ganz vergessener Tonkünsder« richten, um »ein Verlangen nach ihren Werken zu erregen«, wodurch Kunstbildung und geschichtliche Erkenntnis gleichermaßen gefördert würden. 51 Und Gurlitt begreift die Musikwissenschaft gar »als Abkömmling der deutschen romantischen Geisteswissenschaft«, verteidigt ihre Grundrichtung »als eine geschichtliche« und fasst ihr

48

Kaiisch 1998.

49

50

Schneider 1984, S. 137. Speziell zu Adler siehe ib. S. 137-139, vgl. dort auch Schneiders kritische Analyse von Adlers Stilkritik, ib., S. 139. Eggebrecht 1967a, S. 616.

51

Chrysander 1863, S. 16.

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Anliegen zusammen als »geistig-geschichtliches Betrachten und Ergründen von Musik und Musizieren.«52 Innerhalb der Etablierung und Institutionalisierung einer musikwissenschaftlichen Methode spielt die musikalische Mediävistik eine besondere Rolle. Die Gegebenheiten einer Musik, die auf unklaren theoretischen, ästhetischen, zeichenschriftlichen Grundlagen basiert, erfordern die Entwicklung einer eigenen Methode. Mittelalterliche Musik ist die älteste schriftlich fixierte Musik Europas und bietet für eine mit universalem Anspruch auftretende Musikwissenschaft ein gutes Anschauungsobjekt. Gleichzeitig nutzen die Gründerväter der musikalischen Mediävistik die von Adler postulierte fachinterne Methodenvielfalt nicht und schlagen mittelalterliche Musik als Forschungsgegenstand ausschließlich der Historischen Musikwissenschaft zu. Musikalische Mediävistik um 1'900: Sieben Faktoren Im deutschsprachigen Raum findet die Grundlegung der musikalischen Mediävistik mit Akribie und Engagement statt. Und die wesentlichen Grundlinien für das Bild mittelalterlicher Musik, das bis heute die musikalische Mediävistik prägt, werden in deutschsprachigen Publikationen entwickelt und in deutschen Standesorganisationen institutionalisiert. Einzelne Forschungsleistungen aus England jedoch, und besonders die Unterstützung von Studien zur nationalen Musikgeschichte, die nach dem Krieg 1870/71 in Frankreich zu beobachten ist, sind wichtige Faktoren für die Disziplin. Das Bild der frühen mediävistischen Musikhistoriographie ist daher voller Parallelen, Dichotomien, Neuheiten. Europaweit beginnen seit etwa 1910 die Theorien zu Instinkt und Intuition, die Henri Bergson entwickelt und die die Rolle des Intellekts und planvollen Handelns relativieren, auch die positivistischen Geisteswissenschaften zu erreichen.53 Zunächst jedoch geht es ab 1895 um Grundlagenarbeit, und den Musikwissenschaftlern, die sich in England, Frankreich und Deutschland tief in die mittelalterliche Musikgeschichte hineingraben, sind einige Grundüberzeugungen gemeinsam: Sie fühlen sich der Vergangenheit verpflichtet, spüren die Morgenluft neuer Entdeckungen, legen Wert auf Quellenmaterial aus erster Hand, haben ein spezielles Interesse an mittelalterlicher Musik — jenem weißen Fleck auf der Landkarte, den die historistische Musikforschung des 19. Jahrhunderts nicht hatte auffüllen können — und bemühen sich darum, die Rolle der mittelalterlichen Musik im Gesamtzusammenhang der europäischen Musikgeschichte zu begreifen.54 Dabei ragen in Frankreich drei Institutionen und mit ihnen drei Musikhistoriker heraus, die mit ihren Vorstellungen das Bild mittelalterlicher Musik für Frankreich prägen: Maurice Emmanuel (Pariser Konservatorium), Vincent d'Indy (Schola Cantorum) und Jules Combarieu (Collège 52

53 54

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Gurlitt 1939, S. 1-2. Gurlitt etabliert in seinem Text auch deshalb den »geisteswissenschaftlich-philologisch-historischen Erkenntniswert« der Musikwissenschaft, weil er öffentlichen Druck wahrnimmt, Wissenschaft eher mit Naturwissenschaft gleichzusetzen und prinzipiell einen naturwissenschaftlich-mathematisch-physikalischen Erkenntniswert höher zu achten. Das Entstehungsjahr 1938 spielt hierbei eine große Rolle. Der bei Gurlitt ansonsten, im Gegensatz zu anderen Musikwissenschaftlern, nicht begegnende Nationalismus ist in diesem Text besonders eindringlich vertreten. Ob dies aus taktischen Gründen geschah, vermag ich nicht zu entscheiden. Vgl. dazu Bergson 1908,1909,1911 und 1921. Vgl. Doukhan 1996, S. 22.

de France). Sie erschließen das Gebiet der mittelalterlichen Musik für die französische Öffentlichkeit, ohne im Einzelnen als Mediävisten - wie etwa Amédée Gastoué und Pierre Aubry — hervorgetreten zu sein, und etablieren Mittelalterstudien in einzelnen Curricula, beeinflussen schließlich die musikalische Sprache zeitgenössischer Musik. Einen ersten kurzen Rückblick auf die Geschichte der musikalischen Mediävistik gibt bereits 1923 Friedrich Ludwig, der gleichzeitig ihr Begründer ist.55 Er beschreibt einige herausragende Arbeiten französischer und deutscher Musikhistoriker, widmet sich eingehend Coussemakers Forschungen und verweist auf die Lücke von »einem Menschenalter«, nach der erst Pierre Aubry — kurz danach Peter Wagner, Johannes Wolf und er selbst - Coussemakers Forschungsgebiet wieder aufgegriffen habe. Die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zeigen tatsächlich keine nennenswerten Forschungen, auch die erste mediävistische Dissertation, die 1870 erschienene Arbeit von Gustav Jacobsthal zur Mensura/noienschriß des 12. und 13. Jahrhunderts;56 ist im Grunde nur eine gründliche Interpretation des Musiktraktates des Franco von Köln — in Fortführung der frühen Arbeiten zu Franco von Köln von Raphael-Georg Kiesewetter. Diese zeitliche Lücke ist auch bedingt durch die Zäsur des deutschfranzösische Krieges von 1870/71: Es ist kaum verwunderlich, dass in dieser Zeit philologische Studien brachliegen. Seit 1900 beginnt die musikwissenschaftliche Mittelalterforschung in Deutschland geradezu zu explodieren. Auch in Frankreich regt sich einiges, wenn auch nicht ganz so extensiv. Man kann für dieses Wiederaufleben der musikwissenschaftliche Mittelalterforschung sieben Faktoren ausmachen: 1. Um 1900 werden die Notationen mehrstimmiger Musik des 12. bis 15. Jahrhunderts auf Grund der vergrößerten Materialbasis les- und übertragbar. In zuvor nicht gekanntem Umfang werden nun Handschriften kopiert, studiert, übertragen, ediert — mittelalterliche Musik entfaltet sich zum Gegenstand der Forschung. 2. Die nun mögliche Interpretation musikalischer Denkmäler im Zusammenhang mit den schon länger bekannten Theoretikerquellen, die nur gemeinsam mit übertragenen Musikzeugnissen verständlich sind, führt zu einem kohärenten Bild mittelalterlicher Musikgeschichte. 3. Die Institutionalisierung der Musikwissenschaft beginnt mit einer Fülle von Publikationsorganen, Institutionen, Denkmälerausgaben und Standesorganisationen einen fachwissenschaftlichen Diskurs über die mittelalterliche Musik, der zuvor nur in kleinem, eher privaten Rahmen möglich war — so zum Beispiel geprägt durch die Freundschaften zwischen Charles Burney und Martin Gerbert oder zwischen Siegfried Dehn und Auguste Bottée de Toulmon. 4. Eine dem Unterfangen günstig gestimmte öffentliche Meinung trägt wesentlich zur Konstruktion mittelalterlicher Musikgeschichte bei. Der Feuereifer, mit dem die ersten musikwissenschaftlichen Mediävisten ans Werk gehen, ergibt sich zum einen aus der Pionierrolle, die als solche be- und ergriffen wird, zum anderen aus der Forderung einer musikalischen Öffentlichkeit, nach den Zeugnissen fremder Völker und fremder Kulturen, die unter anderem durch die Pariser Weltausstellungen von 1889 und 1900 bekannt werden, auch die fremde eigene Kultur kennenzulernen — im Sinne eines »zurück zu den Anfängen«. Was zunächst nur als fachinternes Desiderat 55 56

Ludwig 1923. Jacobsthal 1870. Vgl. dazu Jacbosthal 1873.

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und als Wunsch nach Vervollständigung des eigenen historischen Weltbildes erscheint, wird schließlich als Möglichkeit einer Wiederbelegung mittelalterlicher Musik und ihre Integration in das zeitgenössische Konzerdeben begriffen. Und hierbei spielt ein mentalitätsgeschichtliches Argument eine Rolle, das eine eigene Studie erforderte: der epochale Umbruch, der durch den Ersten Weltkrieg markiert ist und der essentielle Auswirkungen auf das Interesse an Geschichte - oder der Flucht vor ihr - zeitigt. 5. Die musikwissenschaftliche Mittelalterforschung agiert auch aus einer besonderen Position, die sie im kulturellen Dialog als Mediatrix einnimmt Sie eröffnet den Blick auf alte Musik, die, als Reaktion auf die Neue Musik, zur Alten Musik avanciert - nun mit emphatischem großem A, wie häufig unterstrichen wird. Sie ist jetzt eine Musik, die sich gegen das herrschende klassisch-romantische Repertoire richtet. 6. In einer besonderen Konvergenz vereinigen sich in Deutschland die Anliegen von Mittelalterforschung und Jugendmusikbewegung. Mit der Bereitstellung musikwissenschaftlicher Ergebnisse in Notenform und dem Anliegen einer Rekonstruktion mittelalterlicher Musik, die sich zunächst als komplexe, aber technisch doch unvergleichlich leichter aufzuführende Musik darstellt als die Musik der Spätromantik oder der sogenannten Zweiten Wiener Schule, zieht die Blockflöte, das Paradeinstrument der deutschen Jugendmusikbewegung und ausgerüstet mit einem eigenen Ethos, ein in die klangliche Realisation Alter Musik. So lehnen beide Interessengruppen »das Pathos des überkommenen und nach dem Krieg weithin als sinnlos, hohl empfundenen spätromantischen Kunst- und Künsder-Ideals« ab und setzen sich ein für das wiederentdeckte Alte. 57 Reinhold Stapelberg, selbst Vertreter der unter anderem durch Fritz Jöde initiierten und institutionalisierten Jugendmusikbewegung, beschreibt das Anliegen auch darin, den trennenden Graben zwischen einer »Musik der Wenigen« und der »Musik der Vielen« zu überwinden. Und mit einer, ihm sicherlich nicht bewussten, tragikomischen Wendung fährt er fort: »In der zweiten Welle des Industriezeitalters, die die Frage nach dem Verhältnis zwischen Arbeiter und Kunst neu stellt, fordert [Fritz Jöde] eine neue Besinnung der Kunst in der Richtung auf die individuelle und gemeinschaftliche Gestaltung des Lebens der >VielenLaßt die Akkordeonspieler nicht alleinGibt es einen harmonischen Weg von der Blockflöte, von der Laute, vom Cembalo zum Bandonium und zur Jazztrompete?wie zenissner Wolke Donnerdröhnenc »qualunque melodia più dolce suona quaggiù e più a se l'anima tira um n u r wenige, zudem äußerst disparate Beispiele herauszugreifen: Sie alle widmen sich der Aufarbeitung deutscher Geschichte und suchen (besonders die letzten drei Beispiele) im Mittelalter nach den Wurzeln des Nationalstaates. Bei Manitius heißt es, Deutschland sei im 12. Jahrhundert »immer noch der mächtigste Staat des Abendlandes« und habe damit die »romanischen Nationen« herausgefordert, ihn »in geistiger und materieller Beziehung« zu überflügeln. 187 Diese markante, sozialdarwinistische Deutung komplexer sozialgeschichtlicher Entwicklungen im Mittelalter — in Kombination mit der Andeutung von Verschwörungstheorien gegen die deutsche Nation — weist voraus auf eine Terminologie, die von völkischer Wortwahl geprägt sein wird. Sie ist das Extrem einer Deutung, die die deutsche Geschichtswissenschaft mehr oder weniger beherrscht. Alexander Deisenroth fuhrt aus, wie vor allem die Ranke-Schule, »autorisiert durch die angeblich neue und wissenschaftliche historische Methode« auf der Basis vermehrter Quelleneditionen, ein Geschichtsbild entfaltet, in dem die Überlegenheit des deutschen Volkes über andere Völker und die hierarchisch-ständische Gliederung der Gesellschaft »als Konstanten deutschen >Volksgeistes< aus der mittelalterlichen Geschichte abgeleitet erscheinen«.188 In diesem Diskurs dient die Rede vom »nordischen Prinzip« dazu, den deutschen Volksgeist zu erklären - in einer feinen Differenz wird jedoch auch deutlich, dass die Begriffe »nordisch« und »gotisch« auch ohne nationalen Einschlag eingesetzt werden können. Dass dies in den 1920er Jahren nur noch selten begegnet, belegt eine Per-

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Nietzsche 1873, S. 159 f. Deisenroth 1983, Schieder 1992 und Schieder/Deuerlein 1970. Im Statut vom 20. August 1858 wird die Aufgabe der Mitglieder - unter der Leitung von Leopold von Ranke — formuliert als »Auffindung und Herausgabe wertvollen Quellenmaterials für die deutsche Geschichte in deren ganzem Umfang.« In: Schnabel 1958, S. 7. Helmholt 1899. Darin auch die umstrittene Darstellung mittelalterlicher Geschichte von Karl Lamprecht. Manitius 1889. Ib., S. 639. Deisenroth 1983, Vorrede.

siflage von Paul Frankl, dem offensichtlich die Ohren vom »nordischen Geist« geklungen haben, der in einem »gotisch-nordischen Prinzip« wohne: »Immer war es da, ist es da, lauert auf Bestätigung, setzt sich durch gegen die von Romanen aufgedrungene, ästhetische, politische, juristische Kultur, von Orientalen stammende religiöse Idee des Christentums, geht mit ihnen ein Zwittergebilde ein, läßt sich in der Zeit der Humanisten wieder halb überwältigen [...] und kommt im Barock wieder ziemlich oben auf.«189

Auffuhrungspraxis als methodisches Problem In ihrer Gründungsphase steht die musikalische Mediävistik am Scheideweg: Soll sie eine Wissenschaft zum Hören oder eine Wissenschaft zum Sehen werden? Dabei dreht sich die Frage unabhängig von den Auffüihrungsversuchen mittelalterlicher Musik um Grundsätzliches: nach Sinn und Zweck der mediävistischen Studien und nach einer möglichen Verbindung von historischer Forschung und musikalischer Praxis. Zunächst ist es Johannes Wolf, der grundlegende Überlegungen Uber den Wert der Auffübmngspraxisßir die Historische Erkenntnis anstellt und ungelöste Probleme sieht, die vom unklaren Zusammenhang von Notation und Improvisation, vokaler oder instrumentaler Ausfuhrung bis hin zu den Fragen nach Leittönen, Kadenzen gehen. Er schreibt: »Tatsächlich liegen doch die Verhältnisse so, daß auf die Förderarbeit aus den Schächten der Musikwissenschaft fast aller Fleiß verwendet worden ist Gewiß sind auch historische Zusammenhänge geknüpft und der entwicklungsgeschichtliche Gang festgelegt worden. Aber die wahre Erkenntnis und damit die richtige Abschätzung des Kunstwerks liegt noch im Argen, der klare Blick in das Kunstschaffen und Kunstleben fehlt noch.«!' 0

Wolf sieht als Teil der Wiedererweckung alter Musik auch die klangliche Realisation, die ihm jedoch auf Grund der spärlichen Erkenntnisse kaum zu leisten möglich erscheint. Anders hingegen Rudolf von Ficker, der das Problem klanglicher Realisierung alter Musik geradezu in den Mittelpunkt seines Interesses rückt und erst im Klang das Werk des Wissenschafders als vollendet ansieht. Ihn bekümmert im Zusammenhang einer konkreten Umsetzung weniger der Mangel an historischen Fakten, und sein Zugang ist mehr ein geistesgeschichtlicher als ein musikwissenschaftlicher, wenn Ficker hinter dem musikalischen Werk verborgene Kräfte und Energien« ausmacht: »Trotz der bedeutenden Ergebnisse der modernen musikalischen Materialforschung dringt von der Musik ferner Epochen noch heute kaum ein lebendiger Ton an unser Ohr. Denn die Werke werden erst dann ihr Geheimnis enthüllen und klingende Gestalt annehmen können, wenn wir die hinter den toten Formen verborgenen Kräfte und Energien erkennen und aus ihrer Erstarrung zu lösen vermögen. [...] Die Musikwissenschaft wird sich daher bald über die Frage klar werden müssen, ob sie akustische oder optische Eindrücke zu vermitteln hat, ob ihr das Musikhören oder das Musiksehen wichtiger erscheint?«!'!

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Frankl 1923, S. 23. Wolf 1925, S. 199-202. Ficker 1930b, S. 34.

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Ist die Musikwissenschaft eine Wissenschaft zum Hören oder zum Sehen? Soll sie die zu Tage geförderten mittelalterlichen Musikbeispiele wissenschaftlich aufbereiten oder für die Praxis umarbeiten? Ist der Zweck letztendlich die lebendige Musizierpraxis? Ficker geht als erster Musikhistoriker diesen Fragen systematisch nach und beantwortet sie mit eigenen Editionen. Er erkennt die Bedeutung des Notenbildes fur die Musik, die er zwar für unvollkommen hält, aber gleichzeitig als unverzichtbares Vehikel zum Verständnis fremder Musik entdeckt: Für ihn ist das originale Notenbild eine Seite der Musik selbst. Dass im einzelnen diese Erkenntnis auch bei Ficker nicht konsequent umgesetzt wird, ist weniger entscheidend als Fickers Folgerung aus dieser Beobachtung: Sie konstituiert als einen fundamentalen Aspekt des Verständnisses die Auffuhrung selbst. Da das Notenbild also in einer Übertragung nicht wirklich »aktualisiert« wird, kann nur die Auffuhrung zum Kern des Kunstwerkes vordringen — die »toten Formen aus ihrer Erstarrung« lösen. Die wissenschaftliche Erforschung der Musik solle von Anfang an mit konkreten musikalischen Vorstellungen arbeiten, auf solche hinarbeiten,192 und Ficker wünscht sich, dass »das Verhältnis wieder enger werde, so eng, wie es einst im 15. Jahrhundert war, als der große Theoretiker Tinctoris einen seiner lateinischen Traktate den Meistern Binchois und Ockeghem widmen konnte.« Es sei sehr zu hoffen, dass die alte humanistische Idee von der unbedingten wechselseitigen Befruchtung von Kunst und Wissenschaft (also Musikschaffen und Musikwissenschaft) wieder ernstlich auflebe. 193 Ficker sieht in den Aufführungsversuchen Gurlitts in den 1920er Jahren eine zentrale Möglichkeit, »die Frage nach dem Sinne und der Bedeutung dieser Musik einer Klärung« entgegenzuführen — eine Frage, die durch die »leidenschaftliche Zuwendung unserer Zeit zu den im Laufe der Jahrhunderte völlig verdunkelten Problemen jener Strömungen, welche im Mittelalter das gewaltige Phänomen der abendländischen Mehrstimmigkeit erstehen ließen,« 194 aufgeworfen werde. Theodor Kroyer teilt Fickers Enthusiasmus und Radikalität; auch er sieht die Musikwissenschaft am Scheideweg: »Wieweit [ist] die Wiedererweckung des historischen Klangbildes in der musikalischen Denkmälerpraxis überhaupt möglich? Wo stehen wir heute? Die Musikwissenschaft hat in ihrer Arbeit erst nach anfanglichem Tasten und Irren den Kurs gefunden, den ihre Schwestern (man muß es sagen) von je gesteuert sind, den Weg der Wahrheit. Sie ist erst jetzt so ganz von dem Willen durchdrungen, den Weg der Kompromisse zu verlassen. Das ist der Punkt, wo sie sich heute erneuert, wo sie den mit ihr zweck- und sinnverbundenen Wissenschaften wesensnah und ganz gegenwartsnah ist, wo sie [...] erkennt, daß die Idee der >Wissenschaft< im höchsten Sinne des Wortes auch ihre höchste Idee sein muß - die Einsicht, daß die Ausfindung und Wiedererweckung des mannigfaltig wechselnden historischen Klangideals zur Ganzheit-Erfassung aller Musik unentbehrlich ist In diesem Teil der Forschungsarbeit liegt augenblicklich ihr Fortschritt überhaupt. [...] Nicht die Objektivierung der Denkmälerarbeit, nicht die geisteswissenschaftliche Synthese allein, sondern die Treue gegen das Original auch im Klangbild muß die Zielsetzung und die einheitliche Gestaltung unserer Arbeit fürderhin bestimmen.« 19 ^

192 193 194 195

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Vgl. Kunze 1983, S. 115 f. Ib. S. 118. Ficker 1925, S. 503 f. Kroyer 1930, S. 61.

Kroyer tritt für eine Auffuhrungspraxis ein, die das historische Klangbild wiedererwecken möchte und zudem in der »subjektiven Auffassung die größte Gefahr« sieht.196 Kroyers und Fickers Überlegungen nehmen das Credo der Bewegung für Historische Aufführungspraxis vorweg, die nach dem Zweiten Weltkrieg an Momentum und Öffentlichkeit gewinnt. Ihr Anliegen umfasst den radikalen Bruch mit klanglichen Idealen des 19. Jahrhunderts, mit modernem Instrumentarium und Adaptionen: Es gehe darum, »to interpret early music on its own terms rather than ours«, schrieb Robert Donington. 197 Aber die Verbindung von Musikpraxis und Musikwissenschaft gestaltet sich an diesem zentralen Punkt problematisch. Zu wenig kann die musikwissenschaftliche Forschung tatsächlich der Musikpraxis vermitteln, und zu gering schätzt die musikhistorische Forschung einen Zugang zu historischem Material, der zu einem gewissen Grad aus /ria/and¿mv besteht. Aus diesem Grund ist für die meisten Musikwissenschaftler ihr Fachgebiet eine Wissenschaft zum Sehen, geprägt »bei allem Idealismus, der ihren Vertretern von je innewohnte«, auf dem leisen Beharren »auf einer im Grunde rationalistisch gefärbten Denkweise.«198 Und nur wenige sehen einen methodisch engen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis, den Arnold Schering formuliert: »Das ist [...] das Besondere und Eigenthiimliche am Charakter der Musikwissenschaft - wenigstens ihres größten Teiles, dessen, der sich mit den Denkmälern beschäftigt —, daß sie diese Denkmäler nicht in jedem Augenblick fertig, nicht in ihrer realen Klanggestalt vorfindet, sondern sie zu einer solchen erst umdeuten muß, sei es durch die lebendige Klangphantasie, sei es durch wirkliches Erklingenlassen, wobei infolge der Subjektivität des Deutungsakts nach dem ersten niemals ein zweites vollkommenes gleiches Bild entstehen kann. Wir sind also in hohem Maße von der lebendigen Kunstübung abhängig.« 199

Diese Forderung Scherings steht im Zentrum seines Vortrages »Musikwissenschaft und Kunst der Gegenwart«, in dem er bedauert, dass das enge Verhältnis von theoretischer Reflektion und zeitgenössischer Musik sowie historischer Aufführungspraxis zerbrochen sei. Heinrich Besseler hatte 1924 bereits unterstrichen, dass Musikgeschichte »auch eine Geschichte des KJanges und des Hörenn umfasse und das Musikgeschichte »nicht zuletzt ein Stück Geistesgescbidte« sei. 200 Das Eintreten für eine Wissenschaft zum Hören ist zum einen ein Ergebnis der erlebten Möglichkeit von Aufführungen, wie sie Gurlitt in Hamburg und Karlsruhe, Becking in Erlangen und Tübingen,201 Kroyer in Leipzig vorgeführt hatten, zum anderen auch eine Reaktion auf die Frühzeit der musikalischen Mediävistik, die bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges — einer Zäsur, nach der alle wesentlichen Forschungen zum Erliegen kommen — durchweg eine Wiederbelebung älterer Musik weder für möglich noch für wünschenswert gehalten hatte. Während Friedrich Ludwig 1905 schreibt: »Der in erster Linie stehende Zweck von Untersuchungen und Publi196 197

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200 201

Ib., S. 79. Donington 1977, S. 27 f. Die erste Veröffentlichung zur historischen Auffuhrungspraxis ist Dolmetsch 1916. Vgl. dazu »The present-day performance of music written between 1110 and 1500 presents the students of interpretation with immense problems, many of which will probably never be solved. « Dart 1954, S. 150. Ib. Schering 1926, S. 9. Besseler 1924/1925, S. 54. Vgl. den Anhang der vorliegenden Arbeit.

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katìonen über die mittelalterliche Mehrstimmigkeit ist kein praktischer, sondern ein wissenschaftlicher«202, stellt er fünfzehn Jahre später eigene, unveröffentlichte Übertragungen für Konzerte zur Verfugung und verfolgt mit Engagement den Wiederauffuhrungsversuch Gurlitts in Karlsruhe. Für Ludwig bleiben es allerdings akustische Museumsstücke: Er nutzt einen Konzertbericht, um die historische Grundlagenforschung zu bereichern und um zentrale Aspekte der Fachgeschichte zu illustrieren. Die wesentliche Aufgabe der musikalischen Mediävistik als einer Wissenschaft zum Sehen bleibt unberührt. Ein erstes Konzert im 1 9. Jahrhundert Am 3. November 1849 findet in Paris die Vereidigung der republikanischen Beamtenschaft statt. Als Ort ist die Sainte-Chapelle gewählt, und Félix Clément, Historiker, Komponist und Mitglied der französischen Commission Jes Arts et des Édifices religieux, wird gebeten, diese Fête de k Justice musikalisch auszugestalten. Die Wahl des Ortes ist von Bedeutung, handelt es sich doch bei der Sainte-Chapelle um eine Kirche, die ganz besonders die doppelte Funktion der französischen Könige im religiösen und politischen Bereich repräsentiert. Sie ist auf der Ile-de-laCité gelegen, westlich von Notre-Dame, und beherbergte unter anderem eine Dornenkrone als Reliquie, die aus der Zeit der Kreuzzüge stammt. Die im 13. Jahrhundert im Rayonnant-Stil erbaute Kirche wird im 19. Jahrhundert durch J. B. Lassus und Viollet-le-Duc wiederhergestellt und erreicht, analog zum Kölner Dom in Deutschland, als Symbol nationaler Größe besondere Bedeutung. Das Konzert, das Clément ausrichtet, besteht aus monophoner, von ihm polyphon ausgesetzter und mit Orgelbegleitung versehener Sakralmusik. Er veröffentlicht sie 1849 unter dem Titel Tirés de manuscrits du 13. Sièc/e, traduits et mis enparties avec accompagnement d'otgue. Der belgische Organist und Herausgeber Théodore Nisard reagiert kritisch auf diese Bearbeitungen,203 wobei ihn nicht nur die mehrstimmige Bearbeitung oder die Orgelbegleitung stört, sondern hauptsächlich die Tatsache, dass sich Clément mit Enthusiasmus einer Musik angenommen hatte, die Nisard eines Nachdenkens für unwürdig hält: »Cet écrivain [Félix Clément], Posant en exiome que l'art religieux du XlIIe siècle est l'idéal du genre, a publié des morceaux de musique sacrée de cette époque, du moins il le dit, et les a proposés comme des modèles à suivre. D'abord, je laisse aux hommes compétents le soin d'admettre ou de combattre ce que la thèse de certains archéologues modernes a de général et d'absolu. Je ne veux et ne dois parler ici que de musique. Eh bien! j'avance, contrairement à l'opinion de M. Félix Clément, que la perfection de la musique religieuse ne peut pas être placée au XlIIe siècle.«20^

Und Clément beantworte folgende Fragen nicht: »A-t-il révélé des mélodies liturgiques qui puissent réellement faire connaître la supériorité du XlIIe siècle? Les a-t-il bien traduit en notation moderne? En a-t-il saisi et indiqué le vrai mode

202

Ludwig 1904/1905, S. 620. Diese Bemerkung ist aber auch eine Abgrenzung gegen Johannes Wolf, der in seinen Übertragungen Tempi-Angaben macht. Auf die Problematik WolfLudwig wurde bereits hingewiesen.

203

Nisard 1850. Vgl. dazu Nisard 1856 und Nisard 1860. Nisard 1850, S. 2.

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d'exécution, d'après les règles pratiques du temps? L'harmonie vocale et instrumentale dont il les a ornées est-elle bien du XHIe siècle, ou du moins est-elle en rapport rigoureux avec l'ancienne tonalité musicale?«20®

Die Bearbeitungen einstimmiger, gregorianischer Melodien zu vierstimmigen Sätzen mit Orgelbegleitung ist in diesem Zusammenhang also nicht verwerflich, weil sie ahistorisch ist, sondern weil sie im Grunde die Dürftigkeit der Musik des 13. Jahrhunderts verschleiert. Es wäre besser gewesen, Clément hätte sich anstelle einer »glorification du XlIIe siècle« an die unvergleichliche »magnificence, l'ampleur, la correction et la richesse de celle que l'on trouve plus tard dans les Œuvres de l'ecole flamande et de l'ecole romaine«206 erinnert, und so der Sainte-Chapelle eine akustische Ausgestaltung geliefert, die ihrer historischen Bedeutung entsprochen hätte. Friedrich Ludwig freilich sieht dies Konzert als »einen der Höhepunkte des Wiederauflebens mittelalterlicher Kunst auch in der Praxis«.207 Les Primitifs de ¿a Musique Française, 1914 Fünfundsechzig Jahre später findet an demselben geschichtsträchdgen Ort ein Konzert mit mittelalterlicher Musik statt, das von Amédée Gastoué organisiert ist. Beispiele aus den Anfängen französischer Musikgeschichte stehen nun jedoch im Mittelpunkt des Interesses und schmücken kein staatstragendes Ereignis. Das Konzert wird vom Rezensenten der Tribune de Saint-Gervais als »magnifique séance, qui fut le >clou< du Congrès«208 bezeichnet und ist tatsächlich eine Pioniertat. Das Programmheft ziert ein spätmittelalterliches Relief, das zwei Lautenisten zeigt [Abb. 35] - im Konzert werden für die Musik des 12. und 13. Jahrhunderts Instrumente eingesetzt: »Le rôle des instruments dans la musique de ces époques est nettement marqué par les pièces et la notation de certaines œuvres du manuscrit de motets de Bamberg, publié par Aubry, et plus encore dans celles du manuscrit en ars nova du trésor d'Apt [...]. Nous avons choisi comme instruments ceux dont le timbre nous a paru le plus proche de ceux du moyen âge, tout en obtenant le meilleur effet acoustique.«20®

Für Gastoué deuten untextierte Passagen, lange Haltetöne im Ténor oder Hoquetuspartien auf instrumentale Ausführung, und Gastoué kann sich wie selbstverständlich auf eine lange Tradition musikhistorischen Diskurses um mittelalterliches Instrumentarium berufen, indem er auf die These Riemanns von der instrumentalen Begleitung mittelalterlicher Musik, von der noch zu sprechen sein wird, rekurriert. Der Einführungstext verweist auf Gastoués Anliegen, möglichst typische Beispiele für die frühe Musikgeschichte Frankreichs zu präsentieren. Er erwähnt die Musikforscher, auf deren Mittelalterstudien die Auffuhrung basiert, so unter anderen Dom Pothier, Aubry, Ludwig und Coussemaker, und verweist im Programmheft auf einzelne Quellen.

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206 207 208 20®

Ib., S. 4. [S. 1-23], Ib., S. 22 f. Ludwig 1923, S. 435. Berruyer 1914, S. 175. Gastoué, Vorwort im Konzertprogrammheft. Vgl. den Anhang der vorliegenden Arbeit.

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Das Konzert hat drei Teile - »très ingénieusement composé«210 - und präsentiert bereits hier die übliche Dreiteilung, die auch die Musikgeschichtsschreibung für das Mittelalter durchhält: Pièces liturgiques (Xle — Xlle Siècles) L'ars antiqua et les trouvères (Xlle — XlIIe Siècles) L'ars nova: Une Messe en musique (XTVe Siècle et débuts du XVe) [Abb. 36-38] Insgesamt werden siebzehn Stücke präsentiert, wobei der dritte Teil eine zusammengestellte Messe ist. Interessanterweise ist Gastoué die Messe Machauts nicht bekannt, oder er kennt die Übertragung von Perne nicht Gastoué hat offensichtlich geplant, ein Stück von Machaut — der als Dichter seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich erneut an Ansehen gewonnen hatte - in das Programm einzufügen, greift jedoch zu der Motette Virtutibus mrabi/is/Impudenter, mit dem Hinweis »dans le style de Guillaume de Machaut«. Musik des Mitte/alters in Karlsruhe und Hamburg, 1922und 1924 Die Konzerte, die Gurlitt mit den Mitgliedern seines musikwissenschaftlichen Seminars in Hamburg und Karlsruhe durchführt, übertreffen in ihrem professionellen Anspruch alle vorangegangenen Versuche, wobei in diesem Fall die Bedeutung dieser Konzerte auch deshalb so eminent erscheint, weil Besprechungen Besselers und Ludwigs ihnen historisches Gewicht und Fortdauer verliehen haben. Sie sind präsent, weil über sie geschrieben wurde. Gleichzeitig kulminiert in ihnen auf besondere Art das Denkkollektiv der frühen musikwissenschaftlichen Mediävistik. Gurlitt, Schüler Riemanns, arbeitet für die Konzerte zum einen eng mit Ludwig zusammen, der Übertragungen zur Verfugung stellt, zum anderen indirekt mit anderen Musikwissenschaftlern, deren Übertragungen bereits publiziert worden waren. Besseler, ein Schüler von Ludwig, und Ludwig selbst besprechen ausführlich beide Konzerte, während es gleichzeitig keine Frage ist, dass die Idee für die Konzerte im Leipziger Collegium Musicum entstand — sowohl Gurlitt als auch Handschin hatten bei Riemann in Leipzig studiert und das Collegium hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg zur berühmten Einrichtung entwickelt, die sich der Alten, besonders allerdings deutschen Musik widmete.211 Riemann hatte mit seinen populären Editionen mittelalterlicher Musik die Tür geöffnet für eine neue Form musikalischer Praxis, und diese findet in den Konzerten in Karlsruhe und Hamburg lebhaften Ausdruck. Das Konzert in Karlsruhe fand 1922 in der Badischen Kunsthalle statt, und im Vorwort des Programmheftes wird deutlich, dass es um mehr geht als nur um neue Klänge: »Um die dem Bewusstsein der Allgemeinheit ferngerückte Welt des Mittelalters lebendiger werden zu lassen, um die Werke der bildenden Kunst aus ihrer musealen Isoliertheit herauszulösen und sie in einen umfassenderen Komplex mittelalterlicher Geistigkeit einzufügen, soll mit diesen Veranstaltungen der Versuch gemacht werden, in der Umgebung dieser Kunstwerke Probleme der Musik des Mittelalters zu Gehör zu bringen. [...] Die räumlichen Voraus210 211

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Berruyer 1914, S. 173. Potter 1998, S. 94.

Setzungen waren der Durchfuhrung des Planes günstig; sie ermöglichten die unmittelbare Verbindung der optischen und akustischen Einstellung; die Brücke von der Welt der Farbe zu der des Tones kann leicht geschlagen werden. Die geistige Einheit wird vervollständigt durch den Vortrag mittelalterlicher Texte, die zwischen den einzelnen musikalischen Werken verlesen werden.« 212

Die drei Konzerte unterliegen einer feinen Dramaturgie: Ein Vortrag von Wilibald Gurlitt leitet die Konzertreihe ein,213 interpolierte geistliche und weltliche Dichtung, Predigt und Legende sowie die »altdeutschen Bilder« entfalten eine Gesamtschau des Mittelalters, das Programmheft spricht bereits mit seiner an »neogotische Ikonographie« angelehnten Symbolik eine eigene Sprache. 214 Im Anschluss an Gurlitts Vortrag findet das erste Konzert statt mit »Musica ecclesiastica« (Pfingstalleluia, Graduale vom Gründonnerstag und andere gregorianische Musik), gefolgt am nächsten Tag von einem Konzert mit »Musica composita« (Beispiele aus der Schule von Notre-Dame, Ars Antiqua und Ars Nova, Guillaume de Machaut und andere; alles geistliche Musik) und schließlich am letzten Tag mit einem Konzert »Musica vulgaris« (weltliche Musik aus dem 13.-15. Jahrhundert, unter anderem von Walter von der Vogelweide, Francesco Landini und Gilles Binchois). Auch in diesen Konzerten treten Instrumente zu den Vokalstimmen hinzu, wobei die Vortragenden zum Großteil unsichtbar bleiben. Die Kunsthalle erscheint mit ihren »altdeutschen Sälen« als bedeutungsvoller Raum, dem mit dem Entziehen der Musiker aus dem Blickfeld der Zuschauer eine religiöse Weihe widerfahrt — die Zuschauer werden zu Zuhörern, sie werden frei, sich akustisch auf den Klang, optisch ausschließlich auf die Bildwerke zu konzentrieren. So ist der Zweck des Konzertes kein wissenschaftlich-didaktischer, sondern ein künstlerischer. Ludwig sieht in diesem Anliegen den Grund für die Tatsache, dass der Beginn des Konzertes nicht mit einem Beispiel aus der ältesten Entwicklung der Mehrstimmigkeit gestaltet ist, sondern »gleich mit einem Meisterwerk, dem zweistimmigen Aüe/uya Pascha nostrum immo/atus est Christus mit den eingefügten dreistimmigen Motetten Gauekatxmà Radix, also dem Alleluya in seiner letzten (dritten) Gestalt, die ihm Perotinus Magnus oder einer seiner unmittelbaren Nachfolger gab.« 215 Die theoretische Reflexion und sprachliche Rekonstruktion des Gehörten und Erlebten, die das Karlsruher Konzert der Nachwelt überliefert, wird von Heinrich Besseler in seiner Besprechung des Hamburger Konzertes von 1924 [Abb. 39] fortgeführt, wobei hier, wie in Ludwigs Bericht, zentrale Ideen und Anliegen der eigenen Forschungen zur Sprache kommen. Besseler reflektiert kritischer als Ludwig die Geschichte der eigenen Disziplin und arbeitet seinen Lieblingsgedanken der »Eigengestalt der Epoche«, den er von Leopold von Ranke übernimmt, bis ins Detail 212

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Storck, »Vorwort«, in: Programmheft zu den Konzerten »Musik des Mittelalters« in der Badischen Kunsthalle Karlsruhe, 24.-26. September 1922, S. 1. Vgl. Anhang der vorliegenden Arbeit. Gurlitt hatte geplant, einen grundlegenden Text der Viertet/aArscbrjftfir Literaturwissenschaft und Geistesgeschichtc zur Verfügung zu stellen, der jedoch niemals erschien. Vermutlich war Fickers Aufsatz »Die Musik des Mittelalters und ihre Beziehungen zum Geistesleben« Ausdruck seiner eigenen Uberzeugungen, bzw. so nahe an seinen Überzeugungen, dass er seinen eigenen Artikel zurückzog. Der Vortrag Gurlitts ist nicht erhalten - der Inhalt erschließt sich ausschließlich aus Ludwigs und vor allem Besselers Bemerkungen. Vgl d a s Kapitel »Gotische Ikonographie und altdeutsche Kunst«. Ludwig 1923, S. 438.

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aus. 216 Er nutzt, genau wie Ludwig, die Gelegenheit einer öffentlichen Präsentation zur Darstellung historischer Zusammenhänge. Besseler ist angetan von dem Ordnungsprinzip der Sphären, das die Konzerte in Karlsruhe und Hamburg durchzieht, und er sieht im Hamburger Konzert Verbesserungen verwirklicht: So unterstreicht er, dass in Hamburg die Musik im Mittelpunkt stand, ohne durch Bilder oder Zwischentexte eingeengt zu sein, und er begrüßt die Vergrößerung des Aufgebots an Mitwirkenden: » N e b e n Mitgliedern des Freiburger Seminars und Benediktinern wurde diesmal ein Knabenchor für eine Reihe von Motetten herangezogen: die auf dienender devotio und vollkommener Unterordnung der Person ruhende G r ö ß e der mittelalterlichen Musik war nicht überzeugender darzustellen, als es diese kleinen Sänger mit ihrer natürlichen Sachlichkeit zuwege brach t e n . « 2 ! 7

Die »Anonymität der Ausführenden«, die in Karlsruhe gegeben war und auch dazu diente, die Zuhörer nicht von der Bildbetrachtung abzulenken, ist hier nur teilweise möglich: Sänger, Spieler und Tänzer treten vor den Augen des Publikums auf, während beispielsweise das Proprium der Ostersonntagsmesse zu Beginn »unsichtbar« von Chor und Sänger vorgetragen wird. Grundsätzlich beobachtet Besseler die Verwirklichung einer lebendigen Einheit zwischen Musikanschauung des Mittelalters und Aufführung in der Gegenwart, die sich im Miterleben konstituiert. Die Doppel- und Tripelmotetten, die stellvertretend für andere Gattungen die Musikanschauung zur Ausführung bringen, sind »nicht zum Zuhören, sondern zum Singen oder inneren Mitmachen bestimmt. Das heißt: sie wollen nicht als einheitliches Klanggebilde von einem Zuhörer hingenommen werden, sondern ihr musikalischer Sinn erfüllt sich in der lebendigen Beziehung zwischen den Ausführenden.«218 Besseler ergänzt, die Auflösung des Tonalitätsgefiihls in der Gegenwart erleichtere das »rein zuhörende Auffassen«, aber er warnt: »[Es] muß nachdrücklich auf das Mißverständnis hingewiesen werden, hier nach gewohnter Art ein äußeres Hörzentrum vorauszusetzen. Dieses liegt vielmehr in jeder der gleichberechtigten Stimmen, die zunächst selbst ausgeführt und nur nebenher auf die anderen bezogen wird. Ein derartig mitgehendes Hören richtet sich vor allem auf ein regelmäßig empfundenes klares Abstandsverhältnis zur benachbarten Stimme.« 2 1 '

Mit der Vorstellung eines inneren »Hörzentrums« in der Musik des 13. Jahrhunderts unterstreicht Besseler, dass mittelalterliche Musik nicht »Konzertmusik«, sondern dienende Kunst sei und er trägt zugleich seiner — und Gurlitts — Überzeugung Rechnung, dass ohne die innere Zustimmving und emotionale Einbindung eine gelungene Wiedererweckung mittelalterlicher Musik in der Gegenwart nicht zu leisten sei. Das Hamburger Konzert unterscheidet sich auch in einem anderen Punkt vom Konzert in Karlsruhe: Nun waren die Vorführungen in eine größere Konzeption eingespannt, die »mittelalterliche und zeitgenössische Musik im Kammerstil« in selbständigen Zyklen einander gegenüberstellte. Besseler kommentiert dies mit dem Hinweis auf die »in der heutigen Kunst unleugbar vorhandenen, gewissen älteren schein-

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Besseler 1924/1925.

2"

ib., S. 44.

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Ib., S. 46.

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Ib.

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bare verwandte Tendenzen«, die allerdings erst im Laufe der Zeit - aus Mangel an adäquater Terminologie für die zeitgenössische Musik — deutlicher würden.220 Die Idee, zeitgenössische Musik und mittelalterliche Musik zusammen aufzuführen oder miteinander zu konfrontieren, stammt von Rudolf Schulz-Dornburg, dem künsderischen Leiter des Städtischen Orchesters in Bochum. Vom 14.-18. Dezember 1923 findet in Bochum eine Veranstaltungsreihe statt, in deren Zentrum zwei Konzerte stehen. Ein Konzert mit »gregorianischer Musik unter Mitwirkung von Benediktinern sowie Knaben-, Frauen- und Männerstimmen«, zu dessen Einfuhrung Pater Fidelius Böser spricht, geht am 14. Dezember über die Bühne, vier Tage später leitet Schulz-Dornburg ein Konzert, in dem Heinrich Kaminskis Concerto grosso und Respighis Concerto gregoriano gespielt werden und Cornells Doppers Ciaconnagotica zur deutschen Erstaufführung kommt.221 Ein Jahr später wird diese Idee in großem Rahmen aufgegriffen: Aus einem Konzert mit gregorianischer und einem Konzert mit zeitgenössischer Musik in Bochum werden in Hamburg drei Konzerte mit mittelalterlicher Musik unterschiedlichster couleurs und vier Konzerte mit zeitgenössischer Musik, die von Rudolf SchulzDornburg geleitet werden.222 Jeder Abend mit zeitgenössischer Musik wird durch einen Vortrag von Josef Müller-Blattau eingeleitet.223 Gustav Becking und das Erfanger Collegium Musicum In der musikhistoriographischen Literatur taucht der Name Gustav Becking selten auf, dabei zählt sein Collegium Musicum zu den bedeutenden Ensembles, die sich früh der Historischen Aufführungspraxis verschreiben. Sämtliche Unterlagen, die Aufschluss über Programme oder Programmgestaltung geben könnten, sind verloren,224 allein einige Texte Beckings wurden ediert, die einen eigenständigen, kritischdistanzierten Standpunkt zur eigenen Disziplin und originelle Ideen zur mittelalterlichen Musik verraten. Becking ist der einzige Musikwissenschaftler, der in den 1920er Jahren einen »Geist der Gotik« bestreitet und die »organische Verbindung von Gegenwart und Mittelalter« als Konstruktion durchschaut.225 Er setzt sich mit Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes auseinander und wendet sich dezidiert gegen den Fortschrittsbegriff der Musikhistoriographie, den er in zahlreichen Texten seiner Kollegen zwischen und in den Zeilen erblickt. Wilibald Gurlitt und Gustav Becking bemühen sich in den 1920er Jahren um die Wiedererweckung mittelalterlicher Musik, gründen mit ihren Schülern Collegia mu220

lb.,S. 54.

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Schmidt/Weber 1995, S. 257. Ib., S. 173. VgLErpf 1924, S. 209. Becking wurde 1945 in Prag erschossen - Manuskripte, Vorarbeiten zu Büchern und Notizen hatte er in Kartons durch den Zweiten Weltkrieg gerettet, aber auch von diesem Material ist nur ein Bruchteil vorhanden (von 62 ausgearbeiteten Vorträgen liegen nur die Notizen zu 11 Vorträgen vor). So lässt sich Beckings Beitrag zur Grundlegung der musikalischen Mediävistik nur schwer bestimmen. Ich danke dem Sohn von Kad Dèzes, Raymond Dèzes, für diese Information. Er erschien ursprünglich im Archiv »Deutsche Musikpflege« in Bremen als maschinengeschriebener Text in einem Heft, das die Nr. 1 trug. Ob Nr. 2 jemals erschienen ist, mag bezweifelt werden. Becking 1925, S. 263.

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sica und erptoben die Möglichkeiten des mittelalterlichen Instrumentariums, füir das sie beispielsweise Nachkonstruktionen von Blockflöten aus dem 17. Jahrhundert anfertigen lassen. So setzt Becking am 1. Oktober 1925 Blockflöten-Nachkonstruktionen (als Vorbild diente ein Satz von Hieronymus Franziskus Kinsecker — Nürnberg um 1675 -, der im Germanischen Nationalmuseum aufbewahrt wird) in einem Konzert anlässlich der SS. Versammlung Deutscher Pädagogen undSchu/männer in Erlangen ein. Karl Dèzes und Werner Danckert, Schüler Beckings, spielen die Altflöten, und es werden Werke von Machaut und Du Fay zu Gehör gebracht. Bei diesem Ereignis tritt auch die von Oskar Dischner geleitete Erknger Vereinigung ^urPßege mitte/a/ter/icher Musik in Erscheinung.226 Um einen Eindruck von der Frühzeit der Auffuhrungspraxis zu vermitteln, sei eine Einschätzung von Raymond Dèzes zitiert: »Eins der größten Probleme bei der wissenschaftlichen Erforschung und Übertragung mittelalterlicher Musik in der Zeit um den Ersten Weltkrieg war zweifellos, anders als heute, die Nichtexistenz von Tonaufnahmen zu Vergleichszwecken (unabhängig davon, ob man sie nun fur >richtig< hält oder nicht) - die einzige Möglichkeit zu >hören< war damals die Wiedergabe auf dem Klavier zu versuchen (bei rhythmischen Spezialitäten wie dem >hoquetus< sicher nicht ganz einfach!). So hat mein Vater das von mir erwähnte >Kyrie< von Dufay erst 25 Jahre nach seiner Veröffentlichung vom Bremer Knabenchor von Harald Wolff, dem ich damals angehörte, gesungen hören können. Schon aus diesem Grund war Beckings Erlanger >Collegium< eine für einen Musikhistoriker einzigartige Möglichkeit, seine Rekonstruktionen zu überprüfen. Das im Text erwähnte Neupert'sche Cembalo wurde damals überaus mühevoll von meinem Vater von seiner Wohltemperiertheit auf Mittelalter umgestimmt.« 22 ^

Ein Konzertprogramm vom 6. Februar 1926, in dem Mitglieder des Erlanger Collegium musicum »Musik des Mittelalters« in der Universität Tübingen vorführen, zeigt den wissenschaftlichen Anspruch des Konzertes.228 In vier, in chronologischer Ordnung aufeinander folgenden Teilen wird, unter Aussparung von Guillaume de Machaut und Perotinus, denen höchstwahrscheinlich eigene Konzerte gewidmet waren, der Bogen von Leoninus über Du Fay bis zu Binchois, Obrecht und Willaert gespannt, wobei die beiden letzteren als Komponisten »vom Ausgang des Mittelalters« bezeichnet sind. An der Zusammenstellung fällt sowohl der internationale Zuschnitt auf, der keinen einzelnen musikgeschichtlichen Strang zu konstruieren trachtet, als auch die Mischung von geistlichen und weltlichen Werken. Das Programm reflektiert Beckings mehrfach formuliertes Anliegen: die »Wiedereinführung« mittelalterlicher Musik in den »Kreis lebendiger Kunstübung«, einer Musik, die »für zumindest vier ganze Jahrhunderte erschlossen« sei und die »eine Quelle erhabensten Menschentums« darstelle.229

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Information aus www.uni-erlangen.de. Brief vom 7. Februar 2000 von Raymond Dèzes an die Verfasserin. Ich danke Monsieur Dèzes herzlich für die Genehmigung zum Wiederabdruck des Briefes und für die Gesprächsbereitschaft. Vgl. das Konzertprogramm im Anhang des vorliegenden Buches. Becking 1925, S. 348.

Beetboven-Zentenarfeier in Wien 1927 Die Konzerte mittelalterlicher Musik zwischen 1914 und 1927 haben alle durchweg akademischen Charakter. Sie werden mit Vorträgen eingeleitet, von Mitgliedern musikwissenschaftlicher Seminare organisiert und ausgeführt, zum Großteil vor einem Spezialistenpublikum aufgeführt. Das von Guido Adler initiierte Konzert auf der Beethoven-Zentenarfeier, die vom 26. bis 31. März 1927 in Wien stattfindet, ist hiervon zunächst keine Ausnahme — es richtet sich an die Teilnehmer des musikwissenschaftlichen Beethoven-Kongresses. Gleichzeitig jedoch ist auch das Interesse der Öffentlichkeit so groß, dass das Konzert wiederholt werden muss. Guido Adler begründet nachträglich die Zusammenstellung und Einfügung eines Konzertes mit »Gotischer Mehrstimmigkeit« in die 1927 in Wien stattfindenden Feierlichkeiten zur hundertsten Wiederkehr des Todestages von Ludwig van Beethoven mit dem Hinweis, das Interesse, das sich der Musik des Mittelalters zuwende, sei »schon durch die inneren Beziehungen zu der Moderne unserer Tage geweckt«, und fügt am Ende seines Berichtes hinzu, das Konzert der »gotischen Mehrstimmigkeit« sei schließlich wider Erwarten keine »Sache der Kongressisten« geblieben, »sondern aus allen Gesellschaftskreisen war ein Zudrang bemerkbar, der eine Ermutigung für zukünftige Veranstaltungen dieser Art ist.« 230 »Der Erfolg, der Eindruck dieser tief erschauten sogenannten >Primitive< war geradezu phänomenal.«231 Rudolf von Ficker war von Guido Adler beauftragt worden, das Konzert vorzubereiten und ein geeignetes Programm zusammenzustellen: Ficker greift, als Kontrast zu und in singulärem Bezug auf Beethoven, auf ein Programm zurück, das, in der musikhistorischen Schau des 20. Jahrhunderts, herausragende mittelalterliche Werke präsentiert. Sie werden unter der Überschrift »Musik der Gotik« dem kunstliebenden Publikum nahegebracht. Unter den Teilnehmern von Kongress und Konzert befinden sich die »tragenden Säulen« der Musikforschung der 1920er Jahre aus ganz Europa, Musikwissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, Knud Jeppesen aus Kopenhagen, Edward Dent aus Cambridge, Henry Prunières aus Paris, Otto Johannes Gombosi aus Budapest, aber es befinden sich auch Komponisten unter den Besuchern. Besonders bei einem hinterlässt die »Gotische Mehrstimmigkeit« einen nachhaltigen Eindruck: Carl Orff. Im März 1930 hört Orff erneut im Rahmen der »Vereinigung für zeitgenössische Musik« Fickers Perotin-Bearbeitung, die er besonders in der Kombination mit Werken Hindemiths und Strawinskys als »geistigen Brückenschlag über mehr als 700 Jahre hinweg« empfindet. 232 Die Musik trifft ihn wie ein Naturereignis, und als Rudolf von Ficker 1931 einem Ruf an die Universität München folgt, nimmt Orff Kontakt zu Ficker auf. Ficker, dessen Ausgabe des Sederunt Principes von Perotin mittlerweile erschienen war, wiederholt das Konzert mit »Gotischer Mehrstimmigkeit« in München und stellt die mittelalterliche Musik in den Mittelpunkt der Aktivitäten des Münchner Instituts.233 Orff schreibt von den »aufsehenerregenden Perotin-Bearbeitungen und Aufführungen«,234 und man merkt ein Echo der Gespräche

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Adler 1927, S. 4 f. Adler 1935, S. 113. Vgl. Morent 2000, S. 252. Vgl. Dangel-Hofmann 1990, S. 15 f., Anmerkungen. Orff 1975, S. 71.

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mit Rudolf von Fickei, wenn Orff wegen der Carmina Burana auf die Codices Montpellier und Bamberg verweist und analog dazu in seinem eigenen Werk die Doppeltextigkeit von lateinisch und deutsch verwenden möchte.235 Es existieren keine Tondokumente von den Aufführungen Fickers, aber eine Aufnahme des Bayerischen Rundfunks aus dem Jahr 1950, die sich im Titel dezidiert auf Fickers Bearbeitung bezieht und mit Fickers Beratung zustande kam, orientiert sich am Klangideal der von Ficker geleiteten Konzerte. Im Zusammenhang mit dieser Aufnahme von Perotins Sederunt Principes auf Grundlage der Bearbeitung Rudolf von Fickers wird der Einfluss von Klangideal und verwirklichter Musikästhetik auf die Carmina Burana deutlich.236 Hier ist etwas von einer elementaren Wucht spürbar, einer bodenständigen Sinnlichkeit, die im Mittelalter das »Idealbild einer religiös motivierten Volkskultur«237 sieht und weniger auf Differenzierung, als auf massiven Klang, wogende Klangmassen, expressive Dynamik, große melodische Bögen und Steigerungseffekte setzt. Yvette Gui/bertund die Schoia Cantorum Die Frage nach einer Aufführungspraxis mittelalterlicher Musik stellt sich auch der Chanteuse Yvette Guilbert, die mit Aristide Bruant das französische Chanson um 1900 auf ungeahnte künsderische Höhen hebt.238 In ihrem Engagement für eine Popularisierung der altfranzösischen Chanson wird eine besondere Form der Vermittlung mittelalterlicher Musik deutlich: Hier ist Auffuhrungspraxis ein didaktisches Anliegen und hier werden in den ans Licht gebrachten Musikstücken unerreichte Kunstwerke erblickt. Yvette Guilbert ist eine der bedeutendsten Sängerinnen der Jahrhundertwende [Abb. 40]. Sie beginnt ihre Kartiere zunächst als Schauspielerin am Théâtre Bouffe du Nord in Paris und entwickelt sich hier zur gefeierten Künstlerin im Kleinkunstfach, das sie als Diseuse239 und Kabarettistin aus der Zweitrangigkeit und Belanglosigkeit herausholt. Ihre Chansons sind Sittenbilder der Be/k Epoque, naturalistische Lyrik. Um die Jahrhundertwende wird sie ein Star nicht nur in Paris und Frankreich, sondern auch in Deutschland - hier besonders in Berlin -, England, Italien und seit dem 17. Dezember 1895 in Nordamerika, wo sie, von Oscar

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Brief Orff an Hoffmann vom 4. April 1934, in: Dangel-Hoffmann 1990, S. 19.

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Es gibt zwei Aufnahmen: Sederunt Principes, in der Bearbeitung von Rudolf von Ficker für Knabenchor, gemischten Chor und Orchester, Chor des Bayerischen Rundfunks, Knabenchor Augsburg, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Chorleitung: Josef Kugler, Leitung: Eugen Jochum, aufgenommen am 11. Mai 1950 (15Ό5"). Sederunt Principes, in der Bearbeitung von Rudolf von Ficker, Chor (Leitung: Kurt Prestel) und Symphonieorchester (Eugen Jochum) des Bayerischen Rundfunks, aufgenommen am 22. November 1957 (16Ό0"). Die erste Aufnahme wurde bei der Trauerfeier für Rudolf von Ficker in der Münchener Ludwigskirche 1954 gespielt. Bushart 1990, S. 15. vgl. zum Beispiel Block 1897, S. 192-231; Barbier/Vernillat 1956-1961; Carco 1954; Duvau 1954, S. 91-108; Lesure 1952; Schmidt 1982; Veraillat/Charpentreau 1968; Vernillat/Charpentreau 1977; Vogel 1981. Dieser Begriff (dire, frz. = sprechen) stammt von Yvette Guilbert. Der übliche Ausdruck war »Chanteuse«. Vgl. Nordeau 1892.

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Hammerstein eingeladen, am Olympia Theater in New York mit großem Erfolg debütiert. Yvette Guilbert bildet sich kontinuierlich fort und eignet sich so eine solide Allgemeinbildung und historisches Wissen an.240 In den Jahren um die Jahrhundertwende vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel ihres Repertoires und der Zielrichtung ihrer Kunst, und sie »desertiert« vom café-concert zum anspruchsvollen historischen Lied: Die Guilbert des sogenannten ersten Repertoires hatte ihre naturalistischen und gesellschaftskritischen Chansons - zu denen zum Beispiel La Fi//e à ma Taufe, Le Ρ'tit Cochon, Les Vieux Messieurs und Visite à Nino» gehören241 — in einfarbigen, ärmellosen Kleidern und bis zum Ellenbogen reichenden schwarzen Handschuhen vorgetragen, wobei sie sowohl die Sprech- als auch die Gesangsstimme eingesetzt hatte, um das Chanson als drame condense'voiz\xXi>t\. Aber nun geht es um etwas anderes: Sie löst 1900 ihre Verträge und zieht sich von der Öffentlichkeit zurück, um »dem Zauber der alten Bücher nachzugehen und um endlich dem >Chanson< von Frankreich eine Atmosphäre zu schaffen, die seiner würdig wäre.«242 In den folgenden Jahren überarbeitet sie ihr gesamtes Repertoire und stellt es in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts auf Tourneen in Europa vor — 1906 auch in den USA243. Intellektuelle und Künsder wie Peter Altenberg, Pierre Louys, Claude Monet, Henri de Toulouse-Lautrec, Catulle Mendès, Emile Zola und andere dichten Huldigungstexte und bringen ihr Ovationen dar. Tatsächlich verändert und entwickelt sich Yvette Guilbert: Sie entwirft eine eigene Ästhetik der Gesangs- und Vortragskunst sowie eine Methode der Gesangs- und Schauspieldidaktik, die ihr u. a. 1917 einen Lehrauftrag an der David Mannes Schoo/m New York einbringt und sie veranlasst, ihre Schoo/ for artistic Theatre\s\ New York zu gründen.244 Zusätzlich zu ihren didaktischen Schriften erscheinen schließlich Autobiographien, so La chanson de ma fie. Mes mémoires (Paris 1927),245 L'art de chanter un chanson (Paris 1928),246 Lapassant émerveillée (Paris 1929), Mes lettres d'amour (Paris 1933), und posthum Autres temps autres chants (Puas, 1946). Daneben erscheint noch La Vedette (Paris 1902). Guilberts sogenanntes zweites Repertoire ist eine Mittelalterrezeption besonderer Art: In diesem Repertoire historischer Lieder Frankreichs verwirklicht Guilbert sich auf einzigartige Weise, während sie Geschichte vermittelt und sich Anerkennung bei einem kleineren, intellektuellen Publikum erwirbt, was durch die zahlreichen Auftritte in amerikanischen Colleges und internationalen Universitäten, Gesellschaften für Alte Musik und anderen gebildeten und spezialisierten Kreisen belegt ist. Im Mittelpunkt steht »alte französische Vokalmusik«, wobei ein Schwerpunkt auf der französischen religiösen Vokalmusik des Mittelalters liegt. Ihre Entdeckungen veröffentlicht sie in mehreren Folgen: In der Co/iection Yvette Gui/hert avec i'es airs originaux anciens erscheinen — ohne Jahresangabe, vermutlich 1906 — insgesamt vier Bände, unter denen der erste Band Lieder aus Mittelalter und Renaissance, Chansons 240 241

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Lahm 1961, S. 10. Aus der Reihe Répertoire Bloch, Berlin. Hanke 1974, S. 99. Ib., S. 108.

Yvette Guitbert,

deutsch von Bolten-Bäckers, Theaterverlag Eduard

Ib., S. 125. Guilbert 1928. Guilbert 1981.

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du Mayen Age à h Renaissame, enthält247 und 1 9 1 1 separat erneut unter Chansons anciennes veröffentlicht wird, die »Originalmelodien« diesmal harmonisiert v o n G u s t a v e Ferrari. D i e insgesamt sechs Bände der Reihe Chansons anciennes rvcueiffies et reconstituées sowie die Bände der Légendes dorées (1914), deren Edition primär ihr langjähriger Begleiter G u s t a v e Ferrari besorgt, werden in den Jahren 1 9 1 1 bis 1 9 1 4 v e r ö f f e n t l i c h t 248 I m Zentrum des zweiten Repertoires der Y v e t t e Guilbert steht die Invokation vergangener Zeiten, die die Guilbert auf allen Ebenen zu erreichen sucht: Zusätzlich zu ihren Liederausgaben strebt sie, auf die Liedkunst des 12.-15. Jahrhunderts bezogen, eine A r t »mittelalterliches Gesamtkunstwerk« an, das aus speziellen Bühnenbildern, K o s t ü m e n und besonders Gesten und Vortragsweisen besteht: »Das überfüllte Auditorium maximum [der Columbia University, New York] war kaum wiederzuerkennen. An der hinteren Schmalseite stand eine Bühne. Als der purpurne Vorhang aufgezogen wurde, ging ein Raunen der Bewunderung durch den bis auf den letzten Platz gefüllten Raum. Die anwesenden Romanisten wähnten, in eine der bebilderten Pergamentseiten der berühmten Troubador-Handschrift Cantigas de Santa Maria m schauen. Vor der malerischen Kulisse eines altprovenzalischen Schlosses stand unbeweglich eine Gruppe von Troubadors mit ihren Gauklern in der historischen Tracht ihres Standes. Plötzlich löste ein einzelnes Händeklatschen einen Beifall aus, der sich rasch zu Ovationen steigerte. Er galt einer Frau, die soeben im prachtvollen Schleppenkleid und Tütenhut der vornehmen Provenzalinnen des 12. Jahrhunderts die Bühne betreten hatte. Kurz vor der Rampe verhielt sie im Schritt, den linken Fuß etwas vorgestellt, während der lange, seltsam flexible Hals, auf dem die Schatten der Ohrringe zitterten, leicht nach rechts geneigt war. Das Publikum unterbrach seine Sympathiebezeigungen in dem Augenblick, als die Frau ihre Arme hob und ihre Lippen zu bewegen begann. Die Lieder, die sie anstimmte, beschworen den Geist der provenzalischen Minnelyrik. Doch wesentlicher als das Was war das Wie ihres Vortrages. [...] Als sie in ihrer imposanten Kostümierung vor den namhaftesten amerikanischen Philologen, Kulturhistorikern, Musikwissenschaftlern und Romanisten auftrat, verloren die Gelehrten das Gefühl fur Zeit und Raum. Vor dem geistigen Auge des Publikums verwandelten sich plötzlich die Bühnenkulissen in die Schloßtürme des troubadorfreundlichen Grafen von Baux und die Guilbert in die Mäzenin der altprovenzalischen Dichter-Sängerin Eleonore von Poitiers, die hin und wieder selbst eine Kanzone interpretiert hatte. An dem besagten Abend trug die Guilbert im Rahmen szenischer Arrangements Lieder aus dem Chansonnier du Rei (13. Jahrhundert), Pastorellen von Marcabru und Stücke von Adam de la Halle vor. Jedesmal schickte sie einen kurzen Auszug aus den Vidas voran, jenen altüberlieferten Troubador-Biografien, die zur Wiege der nachantiken europäischen Prosa werden sollten.«249 D i e Bemühungen u m historische Akkuratesse werden v o n den anwesenden Mediävisten nicht als Versuche einer Künstlerin gewertet, authentisch zu erscheinen, sondern als willkommene Ergänzung zur eigenen A r b e i t u m eine Wiederbelebung des A l t e n empfunden. A u f Einladung v o n Charles Bordes tritt die »princesse de nos chansons de France«, wie es in der Tribune de Saint-Gervais heißt, mehrfach in der Scho/a Cantorum in Paris auf und gibt K o n z e r t e für die Société Les Chansons de

Vol. I.: Du Moyen-Age à la Renaissance. 12 Chansons; Vol. II: »Bergers et Musettes«. 12. Chansons; Vol. III: »Chansons de tous les Temps«. 12 Chansons; Vol. IV: Chansons et Rondes Anciennes. 14 Chansons, alle erschienen bei Schott und Söhne in Mainz. Kutsch/Riemens 1987,1. Band, Sp. 1193. Hanke 1974, S. 103 f. Yvette Guilbert gastierte ab 1906 alle zwei Jahre in den USA, wobei sie allein von der Columbia University insgesamt sieben Mal eingeladen wurde. 180

France.250 Die Société wird 1 9 0 6 v o n Pierre Aubry, Charles Bordes, Gabriel Fauré, André Hailays, Pierre Lalo, Vincent d'Indy, Julien Tiersot und anderen gegründet, und die Konzerte, die sie gemeinsam mit den Cianieurs de Saint-Getvais durchfuhrt, haben den Zweck »à la remise en honneur des chansons de nos pères dont tant de délicieux spécimens sont encore enfouis dans nos bibliothèques«. Und die Bemühungen sind v o n Erfolg gekrönt: »C'est une façon comme une autre de rester gothiques avant tout.« 2 5 1 Ferner begleiten die Société' des Instruments anciens und die Pariser Gesellschaft fur Blasinstrumente Yvette Guilbert auf den verschiedensten Auslandstourneen. 2 5 2 Der Altphilologe H. B. Alexander der Lincoln University in New Y o r k schreibt 1 9 1 7 gar ein Huldigungsgedicht, in dem die mittelalterlichen Frauen alle »im Lied, in der Seele der Yvette Guilbert« 2 5 3 wiedergefunden werden. In ihrem Buch L'art de chanter un chanson wendet sich Yvette Guilbert der »Kunst des plastischen Ausdrucks« zu und entwickelt eine eigene A r t des Vortrages: So schreibt sie, François Coppée zitierend: »Um moderne Chansontexte zu singen, muß man sein Paris kennen, um Chansons vergangener Jahrhunderte zu singen, muß man seine Klassiker kennen. [...] Die Plastik aller Plastiken, das ist die Vollendung, zu der man streben muß, will man alte Chansons singen, die in ihrer Art so verschieden sind.«25'* U m zu erläutern, was es bedeutet, »die Wahrheit der thematischen Aussage« den Geboten der Plastik nicht unterzuordnen, greift sie auf eine Begebenheit zurück, die sich in ihrer Schule in New Y o r k um 1 9 1 7 zugetragen hat: »Die Bildhauerkunst des Mittelalters hat gelegentlich für die Ausstattung von Bauwerken auf Spielleute und Narren zurückgegriffen, die durch die Städte zogen, in den Straßen sangen und tanzten und durch Grimassen und Körperverrenkungen die Menschen zum Lachen brachten. Zahlreiche Wasserspeier an berühmten Kathedralen wurden den mittelalterlichen Bildhauern durch jene Fratzenschneider und Possenreißer suggeriert. Diese Skulpturen sind höchst sonderbare Gestalten, die wir an vielen Kathedralen bewundern können. Eines Tages bat [die Tänzerin Miss Wilcoxon] mich, für das Einstudieren eines gotischen Tanzes mittelalterliche Musik zu besorgen. Ich legte ihr daraufhin Abbildungen von Plastiken vor, die sie dazu veranlaßten, drei Monate lang täglich mit Akrobaten zu üben. Als sie schließlich ihre Muskulatur ausreichend trainiert hatte, ließ ich sie die verrenkten Posen jener Wasserspeier einnehmen und in den Liedpausen das zu der jeweiligen verzerrten Körperhaltung passende Gesicht ziehen. Während einer unserer Veranstaltungen tanzte sie eine Estampida aus dem 13. Jahrhundert und hatte damit einen außerordentlichen Erfolg. Dank ihrer >artistischen Lehrmeister stählte sie derart ihren Körper, daß sie längere Zeit in absoluter Bewegungslosigkeit auf einem Bein verharren konnte, während sie das andere mit dem Fuß auf dem Knie aufstützte.« 255

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Gallus 1906. Es ist unklar, wer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt. Zwei andere Artikel werden von Jean de Muris unterzeichnet Ib., S. 18. Hanke 1974, S. 110. Zitiert ib., S. 124. Guilbert 1981, S. 63. Ib., S.68 f. Bei Yvette Guilbert gewinnt der tänzerische Ausdruck keine Eigendynamik, aber sie geht mit dem expressionistischen Konzept von Tanz - wie es z. B. Mary Wigman, Rudolf von Laban und andere prägten - konform. Um die Jahrhundertwende hatten Isadora Duncan (Duncan 1903) und Emile Jacques Dalcroze tänzerische Visionen entworfen, 181

Die Auseinandersetzung mit den »choix esthétiques explicites«256 ist bezeichnend für das »mittelalterliche Repertoire« einer Diseuse der Jahrhundertwende, und die ästhetischen Präferenzen werden deutlich in der Auseinandersetzung zwischen Publikum und Sänger, dem Sich-Wieder-Finden in einem bestimmten Repertoire oder auch in dem Ablehnen eines anderen. In diesem Sinne bleibt die Wiederbelebung des mittelalterlichen französischen Chansons durch Yvette Guilbert und die Entwicklung eines »gotischen Tanzes« [Abb. 41] die Sache einer intellektuellen Minderheit, deren Einfluss auf das Mittelalterbild des 20. Jahrhunderts noch zu bestimmen ist. Im Ringen um die adäquate Form der Vermittlung von Geschichte und geschichtlicher Authentizität trägt die »Wissenschaft zum Sehen« einen Sieg davon und weist der Kreativität einen Platz außerhalb ihrer selbst zu. Die Historische Aufführungspraxis, ebenfalls um »historische Reinheit« bemüht, konstruiert im 20. Jahrhundert das Ethos der Wahrhaftigkeit und wird aus diesem Grund Yvette Guilberts Zugang zum altfranzösischen Chanson als Spielerei ansehen. Guilberts Postulat »lebendiger Geschichte« gewinnt aber dann an Attraktivität, wenn künsderisches Einfühlungsvermögen zum adäquaten Vehikel für die Vermitdung von Geschichte in die Gegenwart wird — und die Suche nach Authentizität zugunsten des Anliegens, Geschichte vermiffe/n zu wollen, zurücktritt. Die Suche ist heute ebenso aktuell wie vor hundert Jahren.

und eine neue Art des Tanzes philosophisch und sozial zu begründen gesucht. Yvette Guilbert hingegen nähert sich dem Tanz von der musikalisch-dramatischen Seite: Was sie mit der zeitgenössischen Tanztheorie verbindet, ist der Verzicht auf Schönheit zugunsten der Wahrhaftigkeit. »Les choix esthétiques explicites se constituent en effet souvent par opposition aux choix des groupes les plus proches dans l'espace social, avec qui la concurrence est la plus directe. «Bourdieu 1979, S. 64.

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II.

Mittelalterbilder zum Sehen: Ausgaben und Konzepte

»Dem Prägnanzbedürfnis aller, die Subjekte der Geschichte sein möchten, Genüge zu verschaffen, kann freilich nie genug getan werden; es entstanden da seit je allzu kräftig geschnittene Bilder.«

(Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuheit)

Kräftig geschnittene Bilder: Musikalische Rekonstruktion auf dem Papier In Form von Umarbeitungen erreicht mittelalterliche Musik die Leser der Gegenwart, schließlich ist Musik vor 1600 in einer Notenschrift überliefert, die heutigen Musikern nicht unmittelbar zugänglich ist Spezialwissen ist nötig, um sie zu dechiffrieren und in ein für heute adäquates Medium zu übertragen. Die unbekümmerte Überzeugung Carl von Winterfeld in Bezug auf Editionen älterer Musik, dass in dem Austausch von älterer durch neuere Schreibweise »nur das Bezeichnende aber, nicht das Bezeichnete [...] anders« wird, 1 ist in der Pionierzeit der musikalischen Mediävistik zu spüren. In Ausgaben mittelalterlicher Musik, die sich an den praktizierenden Musiker wenden, ist von einer »Originalgestalt« der Melodien die Rede, selbst dann, wenn zum Beispiel beim Minnesang, die Melodien nach Tonhöhe und Rhythmus bearbeitet wurden und zum Großteil sogar ein Klaviersatz die ursprünglich einstimmig überlieferte Musik in einen polyphonen Satz zwingt. Dabei spielt auch die dem Historismus entspringende Überzeugung eine Rolle, Geschichte - wie auch immer vermittelt — in die Gegenwart transportieren zu können: Der Gedanke, der Übertragung eines Stückes müsse ein eingehendes Verständnis seiner Struktur vorausgehen, wird noch nicht einmal als theoretische Möglichkeit in Erwägung gezogen, 2 unabhängig von der Beantwortung der Frage, wann ein musikalisches Kunstwerk vollständig verstanden ist. Die Quelle selbst, und nicht das, was sie impliziert, steht also im Zentrum des Interesses. So wird beispielsweise Friedrich Ludwigs Aufmerksamkeit von einer kritischen Bemerkung Amédée Gastoués geweckt, der über Hugo Riemann und andere Mediävisten geschrieben hatte: »n'ont qu'une médiocre valeur et confinent souvent à la plus haute fantaisie«. 3 Ludwig unterstreicht die Wörter »haute« und »Riemann« und kommentiert mit energischer Geste am Rand: »richtig!« 4 Imagination als Vermittlungsinstanz zwischen Quelle und dem Musiker oder Musikhörer der Gegenwart hat Winterfeld 1834, S. XI [Hervorhebungen des Autors]. Vgl. Arlt 2000, S. 94. Gastoué 1922, S. 7. Exemplar des Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Göttingen. Exemplar von Friedrich Ludwig im Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Göttingen.

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für ihn in wissenschaftlichen Ausgaben keinen Platz - seine Ausgaben beanspruchen eine größere Nähe zur mittelalterlichen Musik als Bearbeitungen und rekonstruieren die Außensicht der Musik für eine neue Zeit 5 Dennoch tragen sie, genau wie populäre Bearbeitungen, Prämissen in die Übertragungen und treffen Entscheidungen, die nur in der Präsentation eines objektiven Antlitzes verborgen bleiben.6 Vertrauen und eine Immunität gegen Kritik, die die wissenschaftlichen Editionen mittelalterlicher Musik ausstrahlen, sind Begleiterscheinung der Pionierphase der musikwissenschaftlichen Mediävistik. Rückblickend erscheint für die Frage, wie mittelalterliche Tonsprache in eine moderne Sprachform übersetzt werden könne, konkret: die Auseinandersetzung um eine Palestrina-Gesamtausgabe, symptomatisch: Der bedeutende Palestrina-Forscher Giuseppe Baini plant in den 1830er Jahren im Auftrag der preußischen Regierung, eine sechsunddreißigbändige Palestrina-Gesamtausgabe bei Breitkopf & Härtel. Sämtliche Koordinaten des Vorhabens sind besprochen. Dann aber bekommen Geldgeber und Verlag die Skizzen Bainis zu Gesicht und stellen mit Verwunderung fest, dass Baini einen einfachen Wiederabdruck der alten Erstdrucke plant - ohne Änderung der Notenschlüssel oder Transpositionen. Die Beteiligten äußern ihre Verwunderung und verweisen auf die Bedürfnisse der heutigen Musiker — das Projekt wird abgelehnt.7 Die Diskussion um die richtige Form der Edition Alter Musik entflammt erneut um 1868, als die ersten vier Halbbände der Denkmäler der Tonkunsi erscheinen und im Theologischen LiteraturbiattvoTíí 6. Mai 1868 besprochen werden. Adolf Thürlings stellt die Ausgabe vor, deren Ziel u. a. sei, alte Manuskripte und Drucke »wieder Gemeingut der musikalischen Welt werden [zu lassen], wie sie denn auch wahrlich nicht verdient haben, Jahrhunderte lang der Vergessenheit anheimzufallen.«8 Der erste Band enthält einige Motetten Palestrinas,9 die Heinrich Bellermann herausgibt. Die Bearbeitung der Erstdrucke für den praktischen Gebrauch weckt nun, über zwanzig Jahre nach Bainis geplanter Palestrina-Ausgabe, heftigen Widerstand: »Auch die Originalschlüssel hätten dreist beibehalten werden dürfen, wenn nicht allenfalls die ungebräuchlichsten (Mezzosopran- und Barytonschlüssel) eine Ausnahme wünschenswerth machten. Wer die Sachen des Palestrina-Stiles nicht nach der Originalbezeichnung in beliebiger

Jacobsthal hatte in der ersten neuzeitlichen Dissertation zur mittelalterlichen Musik geschrieben: »Für die Forschung auf dem Gebiet der Geschichte der Musik ist zweierlei unerläßlich: einmal die Kenntnis des Contrapunktes, und dann das Verständniss der Notenschriften, wie sie in den verschiedenen Zeiten angewandt wurden. Erschliesst uns der Contrapunkt das eigenste Wesen der Tonkunst und ihrer Werke, so macht uns die Kenntniss der Notenschriften diesselben überhaupt erst zugänglich; denn nicht immer hat man die Töne so notirt, wie wir heut zu Tage.« Jacobsthal 1870, Nr. 32, S. 253. Diese Tatsache belegt Thomas Kuhns These, dass Paradigmen auf dem Gebiet der Wissenschaft zunächst immer dadurch ausgezeichnet sind, dass »wachsendes Vertrauen in die Lehrbücher oder gleichwertige Publikationen« ihre unveränderliche Begleiterscheinung ist. Kuhn 1967, S. 148. Vgl. Chrysander 1868. 1841-1846 erscheinen sieben Bände mit Werken Palestrinas, herausgegeben von Baini in der Raas/ta di Musica Sacra„ zum Teil posthum, da Baini 1844 starb. Zitiert nach Chrysander 1868, S. 357. Palestrina 1869. Die erste Palestrina-Edition erscheint zwischen 1863 und 1894, hg. von dem Musikwissenschaftler und Priester Franz Xaver Haberl. 184

Tonhöhe ohne Mühe lesen und ausführen kann, oder glaubt, es nicht lernen zu können, der bleibe dem Heiligthume der Kirchenmusik fern.« 10

Chrysander, der niemand aus dem »Heiligthume der Kirchenmusik« ausschließen möchte, reagiert auf diese Kritik mit musikalischem Pragmatismus. Er beschreibt die Gründe, warum die einzelnen Singstimmen in den Erstdrucken so notiert wurden, wie sie notiert sind, erörtert ausfuhrlich den Zusammenhang von Aufführung und Notation, macht einen klaren Unterschied von »antiquarisch verfahrender« Wiedergabe der alten Schlüssel und einer »modernen Vereinfachung« und kommt zu dem Schluss, es sei die Pflicht »der Kundigen«, dem »der Sache ferner Stehenden den Zugang zu erleichtern«.11 Es stehen sich hier zwei unterschiedliche Positionen gegenüber, die eine Verpflichtung der Vergangenheit gegenüber gegen eine Verpflichtung gegenüber der Gegenwart ausspielen — auch Zielgruppe und Sinn der Ausgaben werden damit unterschiedlich bewertet.

Ausgaben mittelalterlicher Musik Im Gegensatz zu musikwissenschaftlichen Schriften zielen Ausgaben mittelalterlicher Musik unmittelbar auf den Kern der Sache selbst. Wissenschaftliche Ausgaben, die, wie Ludwigs Machaut-Ausgabe oder Guido Adlers Trienter Codices, zunächst den Zweck verfolgen, einen Forschungsgegenstand zu etablieren und Musik wie ein Museumsstück zur Analyse freizugeben, stehen in diesem Punkt praktischen Ausgaben und Bearbeitungen diametral gegenüber. In allen Vermittlungsformen jedoch walten Prämissen und Strategien, die einflussreich das Bild mittelalterlicher Musik formen und es zu einer Präsenz werden lassen — sei es unter wissenschaftlichem (ergänzen?: auffuhrungspraktischen) oder unter didaktischem Blickwinkel. Unter den Ausgaben sollen fünf herausgegriffen werden, die ein besonders »kräftiges Bild schneiden«: Hausmusik aus A/ter Zeit von Hugo Riemann, Friedrich Ludwigs Ausgabe der Werk von Guillaume de Machaut, Ciatiteries du Moyen Age von Yvette Guilbert, Neidhart und die MaienJiedervon Hugo Riemann, und Sederunt Principes von Rudolf von Ficker. Hausmusik aus Alter Zeit (1906) Der belgische Musikwissenschaftler Charles van den Borren schreibt 1957 rückblickend über seine erste Begegnung mit älterer Musik: »Hugo Riemann avait été le premier, si je ne me trompe, à en donner des transcriptions pour l'usage pratique, dans sa collection Hausmusik aus Atter Zeit. C'est là que, pour la première fois, je fis connaissance de cet art nouveau, dont la révélation fut pour moi un coup de foudre, en dépit des >tripatouillages< assez singuliers dont il avait été l'objet de la part de ce chercheur emèrite,

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Zitiert in: Chrysander 1868, S. 357. Ein grundlegender Charakterzug des Cäcilianismus: So basierten schon in Thibauts Gesangsverein die Zugangsbedingungen auf strengen musikalischen und moralischen Kriterien. Chrysander 1868, S. 358 f.

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qu'un excès d'imagination entraînait parfois dans des aventures paramusicologiques, si je puis ainsi dire.«12

Die Ausgabe Hausmusik aus A/ter Zeit. Intime Gesänge mit Instrumentai-Begkitung aus dem 14. bis IS. Jahrhundert erscheint 1906 und markiert einen Meilenstein in der Wiederentdeckung der Musik des Mittelalters. Schon vor der Hausmusik waren um die Jahrhundertwende einzelne Übertragungen veröffentlicht worden, so 1904 in Johannes Wolfs Geschichte der MensuraZ-Notation von 1250-1460\ deren dritter Band ausschließlich Übertragungen enthält, und in Harry Ellis Wooldridges Oxford Histoiy ofMusic, die 1905 in London erschienen war, und deren ersten Bände die Geschichte der Polyphonie von den Anfängen des Organums bis zum Ende des 16. Jahrhunderts akribisch darlegen. Auch hier sind Übertragungen einzelner Kompositionen enthalten, die Wooldridge entweder auf der Grundlage der mitderweile veröffentlichten Faksimiles von Oxford, Bibl. Bodl. Cod., Can. misc. 213 13 und Florenz, Bibl. Laur. Cim. 87 14 anfertigen oder aus den Ausgaben von Coussemaker, Wolf und anderen übernehmen kann. Aber Riemanns Hausmusik hat einen anderen Stellenwert. Hier wird zum ersten Mal Alte Musik einem Laien- oder auch Expertenpublikum nahegebracht. Und dies mit dem emphatischen großen »A«, das den Gegensatz zur »Neuen Musik« ausspielt. Riemanns eigene musikalische Erfahrungen fließen ebenso in die Form und Art der Bearbeitung ein wie seine Vorstellungen von Historischer Aufführungspraxis. Die »eigenartigen Mogeleien«, von denen Charles van den Borren spricht und denen der »tüchtige Wissenschaftler« Riemann die Liedsätze des 14. und 15. Jahrhunderts unterzogen habe, verweisen darauf, dass Riemann offensichtlich eine Notwendigkeit sah, die mittelalterlichen Liedsätze herauszuputzen - eine Notwendigkeit, die Riemann, so Charles van den Borren, zu »paramusikologischen Abenteuern« 15 veranlasst. Diese »paramusikologischen Abenteuer« beziehen sich sowohl auf die Bearbeitung der musikalischen Faktur und des Textes als auch auf die deutsche Übersetzung, deren Sprach- und Formgefühl auf die deutsche Hochromantik à la Eichendorff zurückgreift und vermutlich von Riemann selbst stammt. Riemann hat eine Fülle von Alter Musik ediert, analysiert, an ihr Theorien entwickelt, ihre Schrift erforscht,16 ihre Geschichte in zahlreichen Aufsätzen und Büchern, darunter im Handbuch der Musikgeschichte und im Musik-Lexikon, beschrieben. Der Forscher, der sich »nur zum Musiktheoretiker, nicht aber zum Musikhistoriker« berufen gefühlt habe,17 hatte ein enzyklopädisches Interesse an einer Musikgeschichte, in der die Musik aller Zeiten einen Platz finden sollte. Seine Überzeugungen spiegeln sich in den Vorstellungen von musikalischer Edition, die er 1912 im Vorwort seiner Musikgeschichte in Beispielen ausführt und die so gar nicht zu den Editionen selbst passen wollen: »Die Stücke sind nirgend modernisiert oder sonst irgendwie zurecht gemacht, um einem heutigen Geschmacke mundgerecht zu werden und ein streng wissenschaftlicher Charakter ist der

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Borren 1959, S. 18. Stainer 1898. Wolf 1923. Borren 1959, S. 18. Riemann 1878; Riemann 1881; Riemann 1896; Riemann 1909; Riemann 1910. Gurlitt 1950, S. 18.

Sammlung gewahrt worden. Dieselbe wird darum auch dem mit ernsten musikgeschichtlichen Studien Beschäftigten Dienste leisten und ihm eventuelle Wege weisen, die ihn schneller vorwärts bringen. Gewiß wird man mit einiger Verwunderung erkennen, daß mit der Abstreifung alles Altertümlichen und Ungewohnten in der Form der Aufzeichnung (rein graphisch) gar manches recht alte Stück uns gar nicht mehr altertümlich vorkommt, sondern in einer wohlvertrauten Sprache zu uns spricht. Aber ich denke, das ist doch der eigentliche Zweck der historischen Forschung, das allen Zeiten gemeinsame Urgesetzliche, das alles Empfinden und künstlerische Gestalten beherrscht, erkennbar zu machenl« 1 "

Das »allen Zeiten gemeinsame Urgesetzliche« zu entdecken ist der Kern seines musikgeschichtlichen Credos. Seine Eingriffe in die musikalischen Beispiele, die die Hausmusik, aber auch in geringerem Maße die Musikgeschichte in Beispielen betreffen, tasten in Riemanns Vorstellung die Musik nicht an, sondern bringen ihre Substanz nur klarer ans Licht,19 das »allen Zeiten gemeinsame Urgesetzliche«. Da es im Kern mehr um Gemeinsamkeiten als um Unterschiede geht, kann Riemann alle Beispiele auf den modernen Takt beziehen, »ihre melodischen Einheiten im Sinne der modernen, von ihm entwickelten Motivtheorie« auszeichnen, sie damit »innerlich und oft auch äußerlich« dynamisieren und die Harmonie der Kadenzen »justieren«.20 Der Ausgangspunkt für seine musikhistorischen Überlegungen ist dabei die Musik seit Beethoven:21 An ihr misst Riemann auch die Harmonik, Metrik und Melodik sämtlicher Musik ¿»/-Beethoven. Die Hausmusik erscheint 1906 in drei Heften, mit je acht Stücken. Da Riemann weder Quellenkunde noch Studienreisen zur Quellenforschung betrieben hat, muss er auf die ab der Jahrhundertwende reichlich sprudelnde Quelle an Editionen zurückgreifen. Im Fall der Hausmusik sind das zum Beispiel die von Guido Adler in den Denkmä/em der Tonkunst in Österreich veröffentlichten Trienter Codices,22 die Stainerschen Transkriptionen (und einige Faksimiles) ausgewählter Kompositionen von Guillaume Dufay und Zeitgenossen aus der Handschrift Oxford, Bibl. Bodl. Cod. Can. misc. 213,23 oder auch Beispiele aus Wooldridges History of Music. Auf die von Johannes Wolf in seiner Geschichte der Mensural-Notation von 1250-1460veröffentlichten diplomatischen Faksimiles (die Wolf »Schriftproben« nennt) und Übertragungen greift Riemann nicht zurück, vermutlich, um nicht dieselben Stücke in demselben Verlag zu veröffentlichen. Das Vorwort gibt zwar nicht Auskunft über Riemanns Arbeitsweise, aber über die Bestimmung der Hefte: »Für die Ausführung der Werke dieser Sammlung ist, firme Spieler vorausgesetzt, im allgemeinen einfache Besetzung ausreichend und wohl der Praxis der Zeit streng entsprechend. [...] Überhaupt steht aber einer mehrfachen Besetzung der Instrumentalstimmen kein ästhetisches Bedenken im Wege: besonders empfiehlt sich dieselbe für die Stücke, in welchen der Herausgeber die Viola >col basso all'ottava< verlangt hat. [...] Für den Sänger ist ein Exemplar der Partitur unerläßlich; besondere Singstimmen sind deshalb gar nicht hergestellt worden. Bei

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Riemann, »Vorwort«, in: Riemann 1912a. Vgl. Seidel 1995, S. 34. Ib. Riemann 1901. DTÖ 1900 und DTÖ 1904. Stainer 1898. 187

stärkerer Besetzung ist eine Unterstützung durch Klavier zu empfehlen (jedenfalls beim Einstudieren).« 24

Im Gegensatz zur Musikgeschichte in Beispielen enthält die Ausgabe keinen Kommentar zu den einzelnen Stücken. Allein die Quelle (Primär-, nicht Riemanns Sekundärquelle) und die Originallage sind jedem einzelnen Stück beigegeben. Auch ob die Hausmusik auf Veranlassung des Verlegers zustande kam - wie die Musikgeschichte in Beispielen - oder auf Riemanns Initiative zurückgeht, wie die Illustrationen %ur Musikgeschichte.; kann nicht beantwortet werden. Sie findet jedenfalls ein Jahr später eine Nachfolgepublikation mit Deutsche Hausmusik aus vierJahrhunderten, diesmal herausgegeben von Hugo Leichtentritt.25 Die Riemannsche Hausmusik-Snaicùang vereint Beispiele des deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Repertoires des 14. und 15. Jahrhunderts, das Madrigal Fra duri scogli san%' alcun governo von Dom Paolo da Firenze ist ebenso vertreten wie die Ballade De toutes ßours von Guillaume de Machaut (dessen Lebensdaten Riemann mit 1284-1372 angibt), das Rondeau Deplus enplus von Gilles Binchois und der Spiegelkanon O celestial lume a gli occhi me; von Bartolomeo Brolo. Mit immerhin zehn von 24 Kompositionen ist Guillaume Du Fay vertreten. Du Fay war um die Jahrhundertwende durch die monumentale Monographie von Franz Xaver Haberl,26 durch die Veröffentlichungen von Sir John, John F. R. und E. C. Stainer sowie durch die Trienter Codices besonders gründlich erforscht worden und war damit jener Komponist, von dem die meisten Kompositionen in Faksimile-Form und/oder Übertragung zur Verfugung standen.27 Das gesamte zweite Heft ist Du Fay gewidmet, im ersten und dritten Heft jeweils eine Komposition. Als Beispiel sei Cejour de l'an von Guillaume Du Fay [Abb. 42] in der Bearbeitung von Riemann [Abb. 43] herausgegriffen. Das trochäische Dreiklangsmotiv, dessen Struktur die Faktur des Liedsatzes prägt, wird in allen drei Stimmen wiederholt, wobei durchgehend Diskant und Tenor den kontrapunktischen Zusammenhalt prägen. Der Contratenor hat hierbei die untergeordnete Rolle, er bewegt sich in demselben Tonraum wie der Tenor. Wie in allen weltlichen Liedsätzen und in den Motetten Du Fays besteht die Kunst auch hier in der Verknüpfung asymmetrisch konzipierter Einzelstimmen zu einem Ganzen. Von diesem eleganten Individualstil Du Fays bleibt in der Hausmusik wenig übrig. Riemann ändert die Anordnung der Stimmen zu Canto I, Canto II, Canto III, Violini, Viole, Bassi, 28 er wählt als Übertragungsmodus den 6/8Takt (6/8 und 3/4 sind verschiedene Metren, implizieren aber auch ein anderes Tempo: 6/8 deutet auf eine Originalfaktur, die sich primär in Semibreven und Minimen bewegt, 3/4 hingegen auf ein Stück, das mehr auf Breven und Semibreven basiert). Der Liedsatz, der in tempus imperfectum und prolatio maior steht, ist bei Riemann 24 25 26 27

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Riemann 1906. Leichtentritt 1907. Haberl 1885. Die Optra omnia von Guillaume Du Fay sind auch die erste Veröffentlichung des American Institute ofMusicologa. 1947 erscheint der erste Band mit Motetten, 1948 der zweite Band mit isorhythmischen Motetten, 1949 zwei Messen als der dritte und vierte Band. Der Herausgeber war Guillaume de Van (— William Devan), nach dessen Freitod übernahm Besseler die Herausgabe und schloss die Herausgabe des Gesamtwerkes Du Fays 1966 ab. Die bei den Stainers noch der Handschrift folgt: Canto I ( = Discantas in der Hs.), Canto II (Ct. in der Hs.), Canto III (Tenor in der Hs.).

ein heiteres, auftaktig tänzerisches Stück, das er zwar nach d-Moll versetzt, jedoch con mofo giojoso überschreibt und dessen Stimmeinsätze er mit doke markiert. Sämtliche Noten, die keinen Text tragen, finden sich im Instrumentalteil wieder, wobei Riemann zusätzlich den Text so aufteilt, dass das Rondeau nun musikalisch zwei gleichlange Teile à 14 Takten besitzt, mit jeweils fünf Takten Instrumentalvor- respektive -nachspiel. Abzüglich der zwei Takte Instrumentalzwischenteile - zwischen Abschnitt I und Abschnitt II - ergeben sich jeweils acht Takte. Die überraschende Tatsache, dass bei Du Fay achttaktige Perioden zu finden sind, verdankt sich freilich einem Trick: Die Longa am Ende des Stückes wird bei Riemann zu einer Brevis und der Text wird — anders als bei den Stainers — im zweiten Teil auf acht (und eine überhängende punktierte Viertel am Schluss des Canto I) zusammengeschoben.29 Die Angaben zu Charakter und Ausdruck, die zahlreichen Eintragungen zu Dynamik und Agogik, der einprägsame deutsche Text, die Textunterlegung sämtlicher Strophen und die Anordnung der Musik mit Wiederholungszeichen — die in diesem Fall den Aufbau eines Rondeau auch optisch darstellen - vermitteln Nähe zum Mittelalter, allerdings eher zum Mittelalter des hausmusikliebenden 19. als zu dem des 15. Jahrhunderts. Riemanns Intention ist überdeutlich: Seine Hausmusik bringt das erste Mal Musik aus Λ/ter Zeit einem großen Publikum nahe. Und mit dieser Ausgabe stellt sich immerhin die Frage, wie die Vermittlung von »unbearbeitetem« Mittelalter gelingen könnte. Bemerkenswert ist Riemanns Offenlegung der eigenen Prämissen: Zu keinem Zeitpunkt bleibt dem Benutzer der Ausgabe verborgen, dass Eingriffe in die Originalgestalt der Musik des 14. und 15. Jahrhunderts vorgenommen wurden. LudivigsMadaut-Ediiio»

(,1926-1929)

Friedrich Ludwigs über viele Jahre hindurch erarbeitete Machaut-Edition mit dem Titel Gui/Jaume de Maebaut. Musikalische Werke etabliert einen Forschungsgegenstand für die Musikwissenschaft und einen Ausgangspunkt für viele Bereiche der musikwissenschaftlichen Mediävistik. Ihre ersten drei Bände erscheinen 1926, 1928 und 1929, der vierte Band, der unter anderen Werken Machauts die Messe enthält, wird erst 1943 aus dem Nachlass Ludwig von Heinrich Besseler herausgegeben. Die bereits fertiggestellten Druckplatten werden allerdings durch einen Brand vernichtet, so dass dieser Band erst 1954 erscheinen kann. Die Ausgabe erfasst nicht nur sämtliche Handschriften, Varianten, Erwähnungen von Biographie oder Werk, sondern auch im Kommentar sämtliche Sekundärliteratur. Aus dem Notenbild lassen sich, in Verbindung mit den Kommentaren am Ende jedes Stückes, die erforderlichen philologischen Schlüsse ziehen — Rückschlüsse auf das originale Notenbild mit der originalen Schlüsselving, den Quellen für die cantus firmi, handschriftlichen Varianten und der Textverteilung. Als Besonderheit stellt die Ausgabe den isorhythmischen Aufbau der Motetten dar, wie er von Ludwig entdeckt worden war. [Abb. 44]

David Fallows schreibt »It is possible to say that tegular four-bar balancing is extremely rare in the written polyphonic music of the fifteenth century. Most of the surviving polyphony is courtly; and the ideal seems to have been that in this style such strict regularity was carefully avoided in favour of a more elegant balance.« Fallows 1987, S. 96.

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Diese Gesamtausgabe ist eine wissenschaftliche Meisterleistung und setzt einen Standard. Sie übertrifft an Akribie sämtliche Ausgaben älterer Musik, die ihr vorangegangen waren, und sie hat ein klares Konzept: Sie wendet sich an den Musikforscher, nicht an den ausübenden Musiker, sie präsentiert einen Forschungsgegenstand, kein »Erlebnisobjekt für den Musiker«.30 Sie wurzelt in der Philologie des 19. Jahrhunderts, ebenso beeinflusst durch Ludwigs Freundschaft mit dem Philologen Wilhelm Meyer31 wie durch die Geistestradition, in der Ludwig sich begreift.32 Auch sind es die Editionsptin2ipien selber, die aus der Philologie abgeleitet sind. So schreibt Ludwig in der Einleitung zu seiner Ausgabe, die Kürzel für die verschiedenen MachautHandschriften verwendend: »Während in den bisherigen Ausgaben von Kompositionen Machatit's meist die Fassung G wiedergegeben ist, kann, da die musikalische Überlieferung in F-G leider nur allzuoft durch Fehler entstellt ist, eine musikalische Gesamtausgabe nur A oder Vg, die beide in hohem Maße musikalisch korrekt, wenngleich auch sie nicht absolut fehlerfrei sind, in den Mittelpunkt stellen. Ich entschied mich für Vg, da deren musikalische Fassung diese Wahl durchaus rechtfertigt und da dadurch gleichzeitig die Uberlieferung dieses schwer zugänglichen Kodex als Haupttext erscheint. [...] Die Varianten der Textunterlage sind für Vg und G und gegebenenfalls für weitere kollationierte gute Hss. genau angegeben, da in den guten Hss. der Text durchaus sorgfaltig unterlegt erscheint; dagegen ist davon Abstand genommen, den kritischen Apparat mit der Anführung der wertlosen willkürlichen Abweichungen von dieser ursprünglichen guten und einleuchtenden Textunterlage, die in den französischen und für die französische Musik auch in den italienischen Musiksammelhss. so oft entgegentreten, regelmäßig zu belasten.« 33

Die hier formulierte Methode lehnt sich an die Editionstechnik Karl Lachmanns an: In einer genealogischen Klassifikation der Manuskripte, die in »Familien« eingeteilt sind, wird durch die Klassifizierung ein mechanisches, d. h. objektives Mittel an die Hand gegeben, falsche Lesarten, die in den Text eines Autors durch Kopisten hineingeraten sein mochten, zu erkennen und zu eliminieren und so den verlorengegangenen Urtext zu rekonstruieren. Den Gegensatz dazu bildet die editorische Methode von Josef Bédier, die eine in sich konsistente Quelle, nicht notwendigerweise den Haupttext, wiedergibt. Bédier wendet sich 1928 gegen textliche Rekonstruktionen und Klassifizierungen von Lesarten — eine Erweiterung seiner damals noch eher schematisch angelegten Bemerkungen zur Editionspraxis, die er anlässlich seiner 1913 erschienenen Ausgabe des Lai ώ /'ombrfi*1 gemacht hatte. Bédiers Kritik stellt Lachmann als Vertreter einer spezifisch deutschen Wissenschaftstradition hin, die sich aus Idealismus und Positivismus speise, und sie rügt die Vertreter der Lachmannschen Methode für ihren mechanistischen Ansatz, der letztendlich von Subjektivität geprägt sei.35 Kritiker der »Bédier«Methode argumentieren, das s sie im Grunde keine Methode sei, da sie editorischen Entscheidungen aus dem Weg gehe. Der Hauptkritikpunkt ist, dass eine Handschrift 30 31 32 33 34 35

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Ficker 1930a, Vorwort. Vgl. den Briefwechsel zwischen Ludwig und Meyer: Cod. Ms. W. Meyer in der Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Vgl. dazu das Kapitel »Forscherportrait Friedrich Ludwig«. Machaut 1928 [Hervorhebung von ΑΚΗ], S. 45*. Bédier 1928. Bédiers Kritik beruht offensichtlich auf einer Kenntnis der Lachmannschen Methode, die ihm durch Gaston Paris vermittelt worden war.

wiederzugeben, und sei sie auch »die beste«, im Grunde darauf hinauslaufe, den Text überhaupt nicht zu edieren. 36 Beide Methoden beinhalten Elemente der Interpretation. 37 Die Übertragung der an Texten geschulten Methode Lachmanns (und Meyers) auf Musik gelingt durch den Werkbegriff, den Ludwig dadurch begründet, dass Machaut seine eigenen Handschriften überwacht und auf der einmal schriftlich fixierten Gestalt seiner Kompositionen beharrt habe. 38 Ein musikalisches Werk erscheint in einer gültigen Fassung, die es herauszufinden und zu edieren gilt: Die Handschriftenbeschreibungen und Konkordanzverzeichnisse erstellen Stammbäume von Varianten und nähern sich einem angenommenen Urtext. Dabei geht Ludwig mit Sorgfalt vor, seine zahllosen Abschriften — Mehrfachabschriften der Handschriften, Einzelkopien jeder einzelnen Handschriftenseite, die Kopierfehler weitestgehend ausschließen [Abb. 45 und Abb. 46] — belegen dies, so dass nachfolgende Editionen nur Fehler korrigierten, ohne die prinzipielle Transparenz der Arbeit zu übertreffen. 39 Gleichzeitig hat die Edition selbst gesteckte Grenzen: Sie präsentiert mit den ihr gegebenen Mitteln die äußere Schicht der Musik Machauts, vermittelt jedoch keine zeitgenössische Bedeutung — weder für Machauts Zeitgenossen noch für Ludwigs Leser im 20. Jahrhundert — und ist als wissenschaftliche Edition für ein entzaubertes Zeitalter keine »Produktion historischen Sinns«. Auch basiert sie auf der Prämisse, das originale Erscheinungsbild sei nicht eine wesentliche Seite der Musik selbst, sondern ein unwesentlicher Aspekt ihrer Überlieferung in einer uns nicht mehr geläufigen, unvollkommenen Notenschrift. Glücklicherweise, so die Prämisse weiter, ist diese Notenschrift entziffer- und damit austauschbar, 40 will heißen: sie ist in die Gegenwart übersetzbar, so dass der Blick in die Handschrift überflüssig erscheint. Diese Überzeugung zeigt erneut die Nähe dieser Editionstechnik zur Editionstechnik von Texten, denn hier verhält sich die Musik zur Notenschrift wie Sprache zur Sprachschrift. Und erst im Bereich der Sprachschrift erhält der Begriff »entziffern« seine volle Legitimität. 41 Auch erschließt sich dem Leser auf diese Art nichts von der Schönheit und anmutigen Phantasie, mit der die Handschriften von der poetischen Welt Machauts erzählen. Dieser Aspekt versinkt vollständig in der Reduktion der »Handschrift« auf die in ihr mitgeteilten Informationen. Die Initialen werden wie der normale Text gedruckt, die Werke erhalten Nummern und einen kritischen Apparat. Gleichzeitig ist alles getilgt, was in der Handschrift auf die Präsenz oder den Eingriff einer lebendigen Hand hinweist. Das Physische der Handschrift wird zum Immateriellen, ein metaphysisches Kunstwerk entsteht.

36 37 38 39

40 41

Huit 1991, S. 118. Ib., S. 126 f. Vgl. dazu Dömiing 1970, S. 86. Ludwig ist zudem der letzte Musikwissenschaftler, der das Manuskript Vg sehen konnte, das sich weiterhin in New York in Privatbesitz befindet und durch eine Familienstreitigkeit seit Jahrzehnten nicht mehr zugänglich ist 2001 wurde Margaret Bent u. a. eine kurze Einsicht in die Handschrift gewährt. Bockholdt 1971, S. 154 f. Ib., S. 155.

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Hinter der weitgehenden Veränderung, die aus der Handschrift des 14. Jahrhunderts ein rezipierbares Objekt für das 20. Jahrhundert werden lässt, waltet, so kann man folgern, die Trennung von Wesen und Erscheinving, die nicht nur für die Philosophie Hegels von elementarer Bedeutung war, sondern die Geisteswissenschaften bis zu einem gewissen Grade auch heute durchdringt. Diese Trennung ermöglicht die Reproduzierbarkeit von Kunst, beliebige Wiederholbarkeit und Transformation in einen fremden Kontext. An diesem Punkt wird deutlich, auf welcher Ebene die Integration von mittelalterlicher Musik in die Gegenwart stattfindet: Sie wird den Bedingungen des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffes vollständig unterworfen, das Werk, das durch die Übertragungen und den analytischen Druck entsteht, ist das Werk, das rezipierbar wird. Dies zeigt sich vor allem am dritten Band der Edition, den Motetten Guillaume de Machauts. Er stellt einen Schwerpunkt dar, und hier werden die Eingriffe ins Extrem gefuhrt: Das Druckbild hebt die isorhythmische Struktur der Motetten hervor — das Bild vermittelt eine Analyse des Stückes. Dies impliziert, dass die sprachliche und rhetorische Seite der musikalischen Werke sekundär seien, ihre mathematisch-konstruktiven Eigenschaften hingegen primär. Es ist kein Zufall, dass die produktive Rezeption von Guillaume de Machaut, des »grand rhettorique de nouvelle fourme«, sich jahrzehntelang ausschließlich auf diesen Aspekt seiner Musik konzentrieren wird. dan feries du Moyen Age (1926) Yvette Guilbert ist die erste Sängerin, die in Form einer comédie humaine sämtliche Liedformen des Mittelalters zum Leben erweckt: die Wach-, Morgen-, Abend-, Klage-, Tanz-, Wege-, Abschieds-, Entschuldigungs-, Rätsel- und Prahllieder der Troubadours, Pastorellen und Liebeslieder; ferner die Lieder der Goliards, der Scholaren und Vaganten, hauptsächlich Trink-, Spiel- und Schürzenlieder. In Guilberts Vorstellung bekommt jede Epoche ihr eigenes Chat Noir, ihren Ort der Opposition, mit dem Unterschied, dass »damals die studentische Jugend gegen den Papst, den Klerus und die feudale Korruption aufbegehrte«. 42 Sie entdeckt für das populäre Repertoire Adam de la Halle und sein Singspiel Robin et Marion, Eustache Deschamps und andere rbe'toriqueurs des 14. Jahrhunderts, die altfranzösische Folklore und ein Kleinod wie Margeton allant au MouJin, das sie häufig ins Programm nimmt. Sie empfindet manche Dichter des Mittelalters als »bisweilen überraschend >modern«< und verweist auf Gaston Paris, 43 einen Pionier der Editionspraxis. 44 Sie entdeckt mit Hilfe der aufblühenden Mediävistik die altfranzösische Poesie und erblickt in ihr das Urbild des Chanson. 1926 veröffentlicht Yvette Guilbert vierzig Chansons, die ausschließlich der Zeit zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert entstammen: Còanteries du Moyen Ag^ [Abb. 47], Die Lieder werden diesmal, im Gegensatz zu vorangegangenen Ausgaben, 42 4Î 44

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zitiert in Hanke 1974, S. 114 f. Zitiert ib., S. 112 f. Gaston Paris schreibt: »Notre vieille littérature [...] est une mine inépuisable de renseignements sur les moeurs, les usages, les costumes, toute la vie privée de l'ancienne France.« Vorwort, in: Paris 1910. Guilbert 1926. In der Sekundärliteratur zu Yvette Guilbert wird ausschließlich die 1911 erschienene Sammlung Chansons du Moyen Age à ία Renaissance trwähnt.

vom Komponisten und Arrangeur Edmond W. Rickett46 harmonisiert und bearbeitet. Die Chanteries enthalten vier Werke, die, wenn auch zum Teil indirekt, auf Machaut zurückgehen: Im ersten Band der Cbanteriesfindensich zwei Arrangements des Tenors von Motette 16, Pourquoy me bat mes maris?, hier Adam de la Halle zugeschrieben und in moderner Orthographie als Pourquoi me bat mon mari? aufgeführt. Das erste Arrangement enthält den Hinweis auf Guillaume de Machaut als Textdichter und bezeichnet ihn als »Poète du XTVe Siècle«, was zu dem Paradoxon führt, eine Komposition des 13. Jahrhunderts mit einem Text des 14. Jahrhunderts vorzufinden; das zweite Arrangement desselben Tenors enthält keinen Hinweis auf Machaut. Hier wird nur der Tenor aus Motette Nr. 16 überarbeitet übernommen, nach dem Textanfang »Pourquoi me bat mon mari« wird ein moderner Text angefugt, der das Thema häuslicher Auseinandersetzung aufgreift. Im zweiten Band der Chanteries sind Bearbeitungen des Virelai Nr. 1 Hé! Dame de vai//ance und des Virelai Nr. 2 Loyauté veuiJ toujours maintenir zu finden, das auf Machauts Virelai Nr. 2 zurückgeht. Pierry Aubry hatte bereits 1905 das Faksimile des Stückes aus der Machaut-Handschrift A (= Bibl. Nat., fonds frc. 1584) in seiner Sammlung Lesp/us anciens monuments de ¿a musiquefrançaise veröffentlicht und eine allerdings fehlerhafte Übertragung beigefügt (die sich offensichtlich auf die Version des Stückes in der Machaut-Handschrift G bezieht). Der Text wird gekürzt und in moderne Orthographie gebracht, die Refrainform des Virelai zu einer dreiteiligen Liedform gepresst, wobei der Mittelteil aus zwei mal vier Takten besteht. Insgesamt wird die Melodie durch Verlängerung oder Verkürzung der Notenwerte so verändert, dass sich achttaktige Phrasen ergeben. Die Begleitung besteht aus einem modernen Klaviersatz, der das Virelai in melancholisches g-Moll taucht. Die Lieder sind stark bearbeitet und befinden sich hierin in der Tradition von Wekerlins Echos du Temps Passé. Ausschließlich die »neue« Melodik und zum Teil modale Rhythmik bleiben als fremdartiges Element erhalten. Friedrich Ludwig kannte die Bearbeitungen von Guilbert und Rickett47 und bewertete diese als »Herausgabe« von Machautschen Werken — auch wenn er »historische Ungereimtheiten« konstatiert. Bei der Analyse der Melodie der zweiten Fassung von Pourquoi me bat mon mari merkt er beispielsweise an, dass der größte Teil der Melodie aus dem Renart /e Nouvei stammt und meint, die übrigen Takte seien »wohl modern dazu erfunden« worden.48 In Bezug auf den kessen, modernen Text schreibt Ludwig, dass ihm die Quelle nicht bekannt sei — ohne anzumerken dass der Text dem Chanson-Repertoire der Jahrhundertwende, in dem es von Liebeständeleien und Ehekrächen nur so wimmelt, derart ähnelt, dass der Hinweis auf Adam de la Halle als Textautor wahrscheinlich gefälscht ist. Es ist zu vermuten, dass

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Rickett wurde u. a. durch das Märchenspiel Snow White and The Sven Dwarfs (Snow White and the Seven Dwarfs. A faiiy tale based on the story of the Brothers Grimm. Text von Jessie Braham White; Musik von Edmond W. Rickett. Überarbeitete Fassung, New York 1925) und durch die Herausgabe und Bearbeitung einiger Gilbert und Sullivan Opern berühmt: Ruddigore: or, The witch's cune. Text von W. S. Gilbert, Musik von Arthur Sullivan. Und The Yeomen of the Guard· or, The merryman and his maid Text von W. S. Gilbert, Musik von Arthur Sullivan. Edward W. Rickett leitete ζ. Β. auch 1937 die zweite Produktion der Oper The Grand Duke, or The Statutory Dueiv on Gilbert/Sullivan, die diese Oper in New York bekannt macht Vgl. Hoogland/Rickett 1940, S. 126. Vgl. die Hinweise zu Virelai 1 und Virelai 2 sowie Motette Nr. 16 in Machaut 1926 und Machaut 1929. Machaut 1929, S. 61. 193

Ludwig das Repertoire des 14. Jahrhunderts vertrauter war als das Repertoire seiner eigenen Zeit. Neidbart von Reuentba/, Mai/ieder und Winterk/agen (um 1900) Hugo Riemann wendet sich um 1900 der geschlossensten Handschriftengruppe im spärlich überlieferten deutschen Minnesang (was die Melodien betrifft) zu: Den Neidhart-Handschriften.49 Neidhart erscheint Riemann mit seinen 150 Liedern (davon 84 Fremdtexte) und seiner in vagen Umrissen greifbaren Biographie als »Minnesänger zum Anfassen«. Und er ist als Zeitgenosse Walthers von der Vogelweide, von dem so gut wie keine musikalischen Zeugnisse existieren, ein adäquates Referenzobjekt für den wichtigsten deutschsprachigen Minnesänger. Zugleich bildet seine Lieddichtung einen Sonderfall: Er transponiert die Grundsituation des höfischen Minnesangs in das ihm gänzlich unangemessene Milieu der bäuerlichen Umgebung. Schauplatz ist das Dorf, der Liebhaber tritt als Ritter auf, die Minnedamen sind Bauernmädchen. Entsprechend derb und schroff prallen die aus dem Minnesang entlehnten Stilmittel auf die bäuerliche Sphäre. Zwei Liedtypen werden von ihm geformt: Die Sommer- und die Winterlieder, die sich auch in der formalen Gestaltung unterscheiden. Die Winterlieder sind durchweg Kanzonen (AAB), während die Sommerlieder aus verhältnismäßig knappen zweiteiligen Strophenformen (A/B) bestehen, mit relativ kurzen Zeilen.50 Hugo Riemann beginnt sich um 1895 intensiv mit dem Minnesang zu beschäftigen. In Frankreich und Deutschland ist zu dem Zeitpunkt eine Diskussion um die »korrekte rhythmische Auflösung« entflammt — Riemann schlägt anhand der Veröffentlichungen von Paul Runge der Singweisen der Colmarer Handschrift eine Ubertragung vor, die den musikalischen Rhythmus aus dem Metrum der Gedichte leistet.51 Für Riemann ist ein System anwendbar auf alle Erscheinungsformen, und so überträgt er zunächst 1897 im Musikalischen Wochenblatt alle Neidhart (respektive Nithart)-Melodien, die Friedrich von der Hagen veröffentlicht hatte, gefolgt von einem repräsentativen Querschnitt von Beispielen des deutschen Minnesang.52 Gleichzeitig soll die »korrekte Übertragung« zur Realisierung des Minnesang in der Gegenwart fuhren, und Riemann bearbeitet die Originalmelodien für Männerchor, die um 1900 unter dem Titel Maiüeder und Winterkiagen erscheinen und die sich in Melodie und Text für Männerchöre eignen, die landauf landab unter so sprechenden Namen wie »Liedertafel Harmonie« zu Häuf aktiv sind. Das Stück Wieder ist im Mai entsprossen (Im Original: Mei bat wunnik/icb entsprössen) zeigt die Verbindung zum Männerchorrepertoire um 1900 und zugleich den Abstand zwischen einstimmigem und rhythmisch unorganisiertem Original und seiner Bearbeitung durch Riemann [Abb. 48]. Im Handbuch der Musikgeschichte veröffentlicht Riemann 1904 weitere Melodien, die er nach demselben Prinzip überträgt, 1905 erscheint eine Edition von Hugo Leichtentritt,53 diesmal die Punktierungen tilgend und sich auf Riemanns Fassung im Musikalischen Wochenb/att beziehend. 49 50 51 52 53

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Vgl. Brunner 1997, S. 187-191. Vgl. ib., S. 190. Riemann 1909a, S. 962. Hagen 1850; Riemann 1905. Vgl. dazu Riemann 1905a, S. 263-266. Leichtentritt 1907, S. 65.

Sederunt Principes (1930) Perotinus gilt seit Coussemakers Veröffentlichungen von Faksimiles und Übertragungen, seit Ludwigs Aufsatz »Perotinus magnus« und Fickers doppelter Ausgabe des Organums Sederunt Principes iL· erster großer Komponist der europäischen Musik. Rudolf von Ficker formt aus dieser musikgeschichtlichen Konstruktion einen »Epochentermin der Musikgeschichte«54. Dabei begreift er Musikgeschichte als Geistesgeschichte: Für ihn ist das einzelne Kunstwerk Zeugnis einer geistigen Konstellation, und Ficker entwirft, genauer, er »konstruiert infolgedessen eine geistesgeschichtliche Konstellation des gesamten Mittelalters, in welcher der Musik der Notre-Dame-Epoche eine besondere Stellung zukommt.«55 Er sieht in Perotins Organa sein eigenes Konzept »primärer Klangformen«56 verwirklicht: In einer dialektischen Bewegung sei durch die Begegnung von »nordischem Klangtypus« und »südlichem Choral« die abendländische Mehrstimmigkeit entstanden. Als Prototyp gilt ihm das Organum dupium Léonins, dessen Ténor (als ursprünglich südliche Melodie) völlig durch die Begegnung mit dem nordisch-gotischen Prinzip erstarrt sei. Über diesem Ténor erhebt sich nun frei eine melismatische Linie. Die Musik Perotins tritt in den 1920er Jahren einen Siegeszug an: Sie begegnet in sämtlichen Konzerten mit mittelalterlicher Musik, und Perotinus avanciert zum mittelalterlichen Komponisten schlechthin. Dabei gewinnt für die Rezeptionsgeschichte Perotins im 20. Jahrhundert besonders das Organum Sederunt Principes an Bedeutung. Es erklingt erstmals in der Neuzeit im April 1929 unter Fickers Leitung in der Wiener Burgkapelle, im Mai desselben Jahres in der Salle Pleyel in Paris57 und erscheint 1930 als Klavierauszug mit einer umfangreichen Einleitung und einem kritischen Bericht bei der Universal Edition. Fickers Edition von Sederunt Principes ist zweigeteilt: Zum einen die Bearbeitung des Organums [Abb. 49] in monumentaler Besetzung (chorische Knaben- und Männerstimmen; 4 Oboen, 3 Fagotte, 2 Trompeten, 2 Posaunen, Celesta, Glocken, Triangel und 3 Violen), zum anderen eine »Kritische Übertragung« im Anhang. Die Orchestrierung ist vergleichbar mit Leopold Stokowskis Bearbeitungen der Werke J. S. Bachs - Ficker strukturiert das Werk zudem durch wechselnde Tempi und organisiert die Dynamik analog dem Kopfsatz einer Sinfonie von Anton Bruckner. Die kritische Übertragung ist ebenso aufschlussreich: Sie nimmt Fickers Ausgabe der Trienter Codices 58 für die Denkmäter der Tonkunst in Österreich vorweg und ist eine »gotisierte Umschrift« der Handschrift, die an Stelle von modernen Taktstrichen unauffällige Gliederungszeichen einsetzt, alte Schlüssel und Mensuralnoten beibehält, sie jedoch wie moderne Noten verwendet. Ficker war überzeugt, dass, wie Rudolf Bockholdt ausführt, »das originale Notenbild eine Seite der Musik selbst darstellt«.59 Zugleich ist seine Ausgabe unentschlossen: Sie erweckt den Eindruck von Authentizität, während sie durchaus »modern« ist, eine geradezu neogotische Edition. In diesem Sinne ist die kritische Übertragung des Sederunt Principes ein

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Gratzer 1992, S. 27.

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Stenzl 2000, S. 28 f. Ficker 1930b. Vgl. Stenzl 2000, S. 37. D T Ö 1933. Bockholdt 1971, S. 156.

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Beispiel für die Aufbereitung mittelalterlicher Musik, die die optischen Gewohnheiten und den praktischen Umgang mit Musik im 20. Jahrhundert nicht gefährdet, sondern die fremde Musik in die Verständniskategorien des 20. Jahrhunderts einpasst. Ficker schreibt im Vorwort zu seiner Ausgabe: »Aus dunkler Vergangenheit treten neue Gestalten, neue Werke, deren bizarre Formen allem Hergebrachten zu widersprechen, jedem Versuche einer Verklanglichung und ästhetischen Wertung zu widerstreben scheinen. Selbst das Schaffen Perotins, den schon die Zeitgenossen den Großen nannten, war bisher nur stilistisches Untersuchungsobjekt einiger Forscher, ohne jemals Erlebnisobjekt des Musikers zu werden. Diese Erkenntnis stellt die wissenschaftliche Forschung vor die neue und vielleicht schwierigste Aufgabe: das Kunstwerk nicht nur der Form nach zu untersuchen, sondern darüber hinaus es auch Musik werden zu lassen.«*®

»Aufräumungsarbeit im Bereich des Mittelalters«: Musikhistorische Konzepte Das Bild vom Mittelalter, das sich die Musikwissenschaft um 1900 macht, bereitet das Bild mittelalterlicher Musik für die Öffentlichkeit vor und setzt sich zusammen aus zahllosen »Textbausteinen«. Jeder einzelne Baustein hat eine eigene Geschichte, die nicht zuletzt in der Forscherbiographie verankert ist. Die Konzepte oder Modelle, die füir die mittelalterliche Musik entworfen werden, unterscheiden sich an Schlüssigkeit, historischer Belegbarkeit und an Wirkungsmacht, die wiederum auf Faktoren wie rhetorische Kraft, Definitionsmacht über Begrifflichkeiten, Schulen und Institutionen, Zeiträume und Gelegenheiten zurückgehen. Vieles diktiert auch das Leben selbst: Pierre Aubrys und Gustav Beckings gewaltsamer Tod, sowie Friedrich Ludwigs frühes Ableben lassen viele Forschungspläne unvollendet; die nationalsozialistische Ideologie schließlich, die während der Weimarer Republik vorbereitet wird und auch den jungen Institutionen Richtungen und Bahnen aufzwingt, die ganz anders hätten verlaufen können, beeinflusst das »intellektuelle Kräftefeld« der musikwissenschaftlichen Mediävistik elementar.61 So ist die Pionierzeit der musikalischen Mediävistik ein Feld divergierender Konzepte. Einige dieser Theorien sollen Revue passieren — ohne sie an dieser Stelle großformatig präsentieren zu können. Wilibald Gurlitts Klangstil-Theorie,62 dessen Methodenbewusstsein auf Dilthey zurückzufuhren ist, oder auch Rudolf von Fickers geistesgeschichtlicher Ansatz, der u.a. nur in der Rezeption der Texte Wilhelm Worringers und des Kunsthistorikers Max Dvorak verstanden werden kann,63 gehören zu den differenziertesten Modellen ihrer Zeit und erforderten eigene Untersuchungen.

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Ficker 1930b, Vorwort. Gerhard 2000. Gurlitt 1966. Worringer 1908; Worringer 1911; Dvorak 1918; Dvorak 1928.

Ein neues Gescbicòisbi/d? Die Wissenschaft, die, so Jacques Handschin, »zur Aufräumungsarbeit im Bereich des Mittelalters erstarkt ist«,64 sucht in den 1920er Jahren nach einem veränderten Geschichtsbild. Das evolutionäre Musikgeschichtskonzept benötigt eine neue Leitidee. Heinrich Besseler findet sie in der »Eigengestalt der Epochen«, Rudolf von Ficker schlägt einen neuen Zugang über einen ideologisierten Erlebnisbegriff vor, vergleicht mittelalterliche Musikgeschichte gar mit der Entdeckung außereuropäischer Musik und erblickt im »Primitiven« die Größe und Einmaligkeit kultureller Zeugnisse. So beobachtet er ein Aufhorchen, wenn wir »aus einem Grammophon plötzlich den einförmigen Gesang eines wilden Südsee-Insulaners« hören: »Heute ist uns bereits das Lachen vergangen, mit dem wir ehemals im Gefühle unserer Überlegenheit einen solchen Gesang begleiteten; wir empfinden vielmehr, daß sich uns hier das Phänomen eines musikalischen Urgeschehens in einer Reinheit darbietet, die unsere europäische Musikindustrie nicht kennt. Ahnlich verhält es sich, wenn wir heute die schrankenlose Vitalität einer orientalischen Melodie hören. Wir stellen heute doch nicht mehr wie früher einfach fest, daß der betreffende Sänger unrein oder falsch singt und konstruieren daraus ein ästhetisches Fehlurteil. Nein, wir beginnen uns vielmehr einzugestehen, daß das Melodiebewußtsein jenes Orientalen von einer Stärke ist, die unser melodisches Auffassungsvermögen weit übertrifft.«6^

Man spürt in seiner Emphase ein Echo von Pablo Picassos und Darius Milhauds Begeisterung an sogenannten »Negermasken« und der »primitiven Kunst« indigener Kulturen,66 aber deutlich wird auch, dass Ficker ein Paradigma ins Wanken bringen möchte. Ob die »Gefühle der Überlegenheit« tatsächlich um 1925 verschwunden sind, mag ebenso bezweifelt werden wie die Authentizität des Postulates vom Melodiebewusstsein außereuropäischer Völker, das dem europäischen Melodiebewusstsein überlegen sei. Riemanns drastische (allerdings zu dem Zeitpunkt zwanzig Jahre alte) Äußerung zu den »fragwürdigen Gesangsleistungen farbiger Weiber«67 wäre hier ebenso zu nennen wie die Kämpfe, die die Musikethnologie um ihre Anerkennung ausfechten muss. In Fickers Texten, die sich um die Alterität des Mittelalters drehen, irritiert zudem die Ideologisierung und Abwertung des Französischen, wie sie sich besonders in seinen Texten der späten 1920er Jahre Bahn bricht. Prägnanter und reflektierter spricht Karl Dèzes das Problem des Geschichtsbildes für den Umgang mit mittelalterlicher Musik an — ein Gedanke, den Jacques Handschin aufgreifen und vertiefen wird. Dèzes verweist ausdrücklich auf Beckings musikgeschichtliche Vorlesung - und sein Aufsatz spiegelt Beckings Geschichtsauffassung wider. Dèzes entdeckt in Charles van den Borrens Buch über Guillaume Du Fay 68 eine »evolutionistische Geschichtsauffassung des 19. Jahrhunderts« und schreibt: »In der Musikwissenschaft gilt als Norm, als vermeintliches Entwicklungsziel, das Musikideal der Wiener Klassiker mit seiner >Zellenbauweise< und seiner naturalistischen, auf der Kadenzformel basierenden strukturellen Harmonik. Es ist nicht Aufgabe dieser Besprechung, ein 64 65 66 67 68

Handschin 1927, S. 338. Ficker 1925. Vgl. Dömling 1974, S. 28. Riemann 1923, S. VI. Borren 1926.

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Weltbild wie die Evolutionstheorie geschichtsphilosophisch zu >widerlegen< - wie wenn derartige Ideen von axiomatischem Charakter überhaupt zu begründen oder zu widerlegen wären. Ich kann ihr nur als einem inzwischen historisch gewordenen Weltbild - mag ihr auch die ältere Generation zum Teil heute noch anhängen - ein anderes entgegenstellen, das im Gegensatz zu der verhältnismäßig jungen und in ihren Grundlagen noch unsicher fundierten Musikwissenschaft auf den übrigen Gebieten der Kunstwissenschaft schon seit längerer Zeit[ 69 ] als notwendige Basis der hier herrschenden Bestrebungen, über das Material hinaus zum Sinn der Dinge vorzudringen, sich allgemein durchgesetzt hat. Ich meine das Weltbild, das sich auf die Theorie des historischen Relativismus stützt, für den es nicht die Musik, sondern nur Musiken, nicht die Ästhetik, sondern Ästhetiken gibt, der es ablehnt, ein Kunstwerk nach seinen näheren oder ferneren Beziehungen zu unserem klassischen Schönheitsideal [...] zu werten und sich bemüht, es aus seiner eigenen Ästhetik heraus und diese wieder aus der gesamten Geisteshaltung der Zeit heraus zu begreifen.«^ Dèzes sieht in V a n den Borrens Zugang zu D u Fay formale Kriterien am Werke, mit Hilfe derer eine Entwicklungsreihe konstruiert werde, die v o n den ersten Versuchen der Mehrstimmigkeit bis zu den musikalischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts reiche. D u Fay ist auch bei van den Borren nur ein Pionier, der sich »unter mühseliger Arbeit aus dem Urwald des Scholastizismus und der harmonischen Willkür< [gemeint ist die ars nova] « herausarbeite. 71 Schließlich wendet sich Dèzes Machaut zu und nimmt mit seiner klaren Analyse die Entdeckung Machauts wenige Jahre später vorweg, während er das Geschichtsbild der ersten Generation musikwissenschaftlicher Mediävisten zu den Akten legt: »Wenn Machaut als Hauptrepräsentant der >ars nova< an dem noch nicht Erfullenkönnen des Ideals der Palestrinaepoche zu einer Null zusammenschrumpft, so ist das schon von vornherein ein Beweis, daß seinem Werke Tendenzen untergeschoben sind, die es schon in Anbetracht der kläglichen Erfüllung nie und nimmer gehabt haben kann. Denn die notwendige Voraussetzung dieser relativistischen Einstellung, die der im übrigen schon überholte Worringer in seinen Formproblemen der Gotik dahin definierte, daß man immer >alles konnte, was man wolltenatural sweetness< of the harmony, but that only because it anticipates their cherished >perfect chord< habits. Objectively, we can only say that it exemplifies the English tendency, already 73 74 75 70

Vgl. Treitler 1994, S, 345. Becking 1921, S. 295. Ib., S. 294. Ludwig 1910, S. 267.

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mentioned, toward massive vocal sonority. [...] Under these circumstances I think we ought not to force the Summer Canon into an evolutionary order.«??

Auf Grund des paläographischen Befundes datiert er den Sommerkanon zurück ins 13. Jahrhundert und unterstreicht in anderem Zusammenhang, dass kanonische Techniken nicht länger als Zeichen für musikalischen Fortschritt betrachtet werden können.78 Aufgrund ähnlicher Überlegungen revidiert Handschin Ludwigs Datierungen für die Quellen der Schule von Notre-Dame und sieht stilistische Unterschiede, weniger eine chronologische Entwicklung. So schreibt Handschin in Bezug auf einige einfache Stücke im 11. Faszikel von Wl, dass sich ihre relative Bescheidenheit weniger mit ihrem Alter als mit einer anderen Zweckbestimmung erkläre.79 Im Diskurs über den Fortschrittsbegriff tritt das Dilemma der Musikhistoriographie um 1900 zu Tage: Sie wird konfrontiert mit einer ihr fremden und fremdartigen Musik und muss zugleich — neben der Klärung von fundamentalen quellenkundlichen Fragen — das aus dem 19. Jahrhundert fortwirkende Wissenschaftsparadigma kontinuierlichen musikalischen Fortschritts vom Einfachen zum Komplexen (das auch die vermeintliche Überlegenheit europäischer gegenüber außereuropäischer Kultur erklären helfen soll) herausfordern. Italien als »Wiege derArs Nova« Eine Überraschung stellte im 19. Jahrhundert die Entdeckung Kiesewetters dar, »statt des Landes, unter dessen tiefblauem Himmel dem Dichtergotte Lorbeer, die königliche erste Cypresse, die edle Pinie ihre Häupter erheben, dessen laue Nächte von Orangendüften gewürzt werden, in dessen vulkanischem Boden Glutweine reifen, wo die zertrümmerten Reste antiker Kunst lehren, was Maß, Klarheit, Harmonie und Formschönheit sei, vielmehr das prosaisch verständige, gewerbefleissig handeltreibende Alluvialand im Nordwestwinkel Europas die eigentliche Heimat der zauberhaftesten unter den Künsten sei.«80 Für Kiesewetter markiert das 15. Jahrhundert den Beginn ernstzunehmender Musik, und Ambros, der ebenso wie Kiesewetter die Ifa/ieniscòe Reise von Goethe kannte und liebte, baut die Forschungsansätze Kiesewetters auf Grund der Quellenforschungen Coussemakers wesentlich aus. Riemann hingegen, der sich wiederum ein Jahrhundert weiter zurück bewegt, sieht in Italien, nicht in Frankreich, den Ursprung der Ars nova und greift damit eine Grundidee Kiesewetters auf, der den ersten musikalischen Fortschritt im »Land wo die Zitronen blüh'n« erblickte - parallel zu Dante und Petrarca.81 Gleichzeitig ist die These für einen Musikhistoriker insofern naheliegend, als Italien als Ursprungsland der Oper eine besondere Stellung einnimmt — und was läge näher, als die Entwicklungslinie durch einen einzigen Sprachraum zu führen? Riemann ist von der Trecento-Musik zutiefst beeindruckt, einer Musik, mit der außer ihm nur Ludwig und Wolf um 1900 wirklich vertraut sind: Er schätzt die seinem eigenen Geschichtsbild entsprechende ausgeprägtere Tonalität der Stücke und entdeckt eine Satztechnik, die eine zarte Melodie von Unterstimmen begleiten lässt. 77 78 79

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Handschin 1949, S. 49. Handschin 1981, S. 229. Handschin 1927/1928. Vgl. dazu Busse Berger i. V. Ambros 1864, S. 398. Vgl. Kiesewetter 1841a, S. 10-12.

Um den Ursprung dieser Musik zu verstehen, schaut Riemann nicht ins Frankreich des 13. Jahrhunderts, sondern nach England, wo er jene Terzen und Sexten entdeckt, die ihm im italienischen Repertoire des 14. Jahrhunderts so gut gefallen.82 Aus diesem Blickwinkel heraus ergibt sich eine direkte Linie von England nach Italien. Riemann kommentiert im Handbuch der Musikgeschichte: »Merkwürdigerweise hat Joh. Wolf, der uns erstmalig Denkmäler der musikalischen Kunst des 14. Jahrhunderts in größerer Zahl zugänglich gemacht hat, nicht bemerkt, daß die Italiener nicht nur den Umschwung im Notenschriftwesen vorbereitet haben, den Philipp de Vitry Frankreich und den Niederlanden vermittelte, sondern - was viel wichtiger ist - auch den neuen Stil geschaffen, welcher für die Ars nova das schließlich doch Bedeutendste ist, den Stil, der mit den Traditionen des Organums auffällig bricht und den Satz auf Parallelfuhrung in Terzen und Sexten anstatt auf Gegenbewegung basiert Dies Ergebnis der Untersuchung der Denkmäler ist in hohem Grade überraschend und eröffnet ganz neue Gesichtspunkte, die allerdings geeignet sind, die Rolle, welche England in der Zeit der Entstehung des voll ausgebildeten, noch heute als korrekt anerkennbaren kontrapunktischen Satzes gespielt hat, stark herabzudrücken und doch Power, Benet, Dunstaple usw. als nicht speziell auf englischem musikalischem Boden entstandene Erscheinungen hinzustellen. Florenz wird damit zur Geburtsstätte einer Stilwandlung, die kaum minder wichtig ist als die dreihundert Jahre später erfolgende Rückkehr zur (begleiteten) Monodie.«®'

»Florenz als Geburtsstätte einer Stilwandlung«, als »die Wiege der Ars nova«, die später in Frankreich zur Vollendung gelangt sei, durchzieht als Erklärungsmodell von nun an sämtliche Schriften Riemanns und wird in der Rezeption — auch durch die zweite Generation der Mittelalterforscher auf dem Gebiet der Musik - äußerst wirkungsmächtig. Zusätzlich verbindet Riemann, ebenfalls Kiesewetter aufgreifend, ohne ihn zu nennen, »die pulsierende Kraft der Poesie der Troubadours« mit der Entwicklung des vo/gare durch Dante — seine Theorie an zwei bereits etablierte Größen heftend. Zudem führt Riemann im weiteren Verlauf aus, die Florentiner Ars Nova knüpfe nicht an die »mühseligen Versuche der Pariser Schule« an, sie fuge keine Motetten »über einen tonarmen Tenor« zusammen oder baue »Rondeaux und Kondukten in schwerfälliger Orgelmanier«, sondern trete vielmehr »mit ganz neuen bodenständischen Formen« auf, und dies »mit solcher Sicherheit und Naturfrische, daß jeder Verdacht einer theoretischen Entstehung von vornherein ausgeschlossen ist. Nein, diese Florentiner Neue Kunst ist vielmehr ein echter indigener Sproß italienischen Genies.«8^

Man erkennt in Wortwahl und Emphase einen Rekurs auf den sogenannten Rettaissancismus der Jahrhundertwende mit seiner Begeisterung fur den uomo universa/e Burckhardts, und man kann sich sicherlich vorstellen, welche Randglossen Ludwig — dem Wolf mit seinen Trecento-Studien den Rang abgelaufen hatte — mit heftiger Geste in seine Exemplare der Riemannschen Werke einträgt.85

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Riemann 1905a, S. 295 f. Ib., S. 296. Ib., S. 305 f. Vgl. dazu Leech-Wilkinson 2000, S. 298-300. 201

Das Kunstlied des 14. und IS. Jahrhunderts und die Instrumenta/musik des Mittelalters Im zweiten Heft von Hugo Riemanns Hausmusik aus A/ter Zeit (1906) findet sich Du Fays Rondeau CeJour de ¿'an fourdrajJoy e mener, das in Stainers Dufay and his contemporaries sowohl als Faksimile als auch in einer Übertragung erschienen war.86 [Abb. 42] Das Faksimile eröffnet im Band der Stainers den Abdruck von insgesamt acht Faksimiles, und das aus gutem Grund: Der optische Eindruck des Faksimiles lässt für die Stainers, und kurz danach mit weitreichenden Folgen auch für andere, keinen Zweifel an der damaligen Auffiihrungspraxis der weltlichen Liedpraxis des Spätmittelalters aufkommen — die nun als Spiegelbild zur Liedkultur des 19. Jahrhunderts erscheint.87 So verweisen die Stainers auf das dreistimmige Rondeau Estrines moy,je vous estriñera^ in dem in der Handschrift (Oxford, Bibl. Bodl. Cod. Can. Misc. 213, fol. 20v) der Text in dialogischer Form auf nur zwei Stimmen verteilt ist, während die dritte — der Contratenor — ausschließlich die Worte »Estriñes moy« trägt: »Here, therefore, it is clear that the contra-tenor part must have been played and not sung, and that of the two upper parts which sustain the dialogue, those portions can have been sung to which the words of the dialogue are allotted, the remaining portions, which occur while the singer is not speaking, but being spoken to, being rendered by instruments alone.« 88

Die Ausgabe der Stainers greift den mit Hawkins und Burney begonnenen Diskurs um mittelalterliche Instrumentalmusik auf, der im 19. Jahrhundert zum musikhistorischen Allgemeingut geworden war. In diesem Diskurs gibt es natürlich keine eigenständige mittelalterliche Instrumentalmusik, da »von einer ordentlich eingerichteten Instrumentalmusik« niemand vor dem 16. Jahrhundert etwas gewusst habe, so Kiesewetter im Blick auf Forkels Überlegungen zu diesem Thema.89 Aber Instrumente begleiten durchweg weltliche und geistliche Musik — von den Troubadours bis zu Liedsätzen des 15. Jahrhunderts. Kiesewetter beschäftigt das Thema kontinuierlich, er bespricht Instrumente in seiner Studie Schicksa/e und Beschaffenheit des we/t/ichen Gesanges und fertigt eine deutsche Übersetzung von Bottée de Toulmons Dissertation an.90 Die Instrumentalmusik begegnet uns hier als »die Gefährtin der Vokalmusik«.91 In diesem Punkt, der für die Musikhistoriker die Größe Palestrinas mit dem Postulat des reinen a-cappella-Stils im Vergleich zum »stillosen« Mittelalter herausstellt, wird der a-cappella-Stil zum Satzideal innerhalb einer fortschrittsorientierten Geschichtskonzeption.

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Stainer 1898, Faksimile I, Übertragung S. 102-104. Stainer 1898, S. 15. John Stainer hatte 1895 anhand einer Quelle, die Riemann offensichtlich nicht kannte, seine Überlegungen zur Auffiihrungspraxis des 15. Jahrhunderts ausführlich dargelegt. Stainer 1895/1896. Stainer 1898, S. 16. Kiesewetter 1843, S. 223. Vgl. Forkel 1801, S. 751. Nachlass von Siegfried Dehn in der Staatsbibliothek zu Berlin. Kiesewetter kommentiert sogar in Bezug auf die instrumentierte Fassung einer PalestrinaMesse, die Instrumentierung taste die musikalische Substanz nicht an; aus dem Zusammenhang der Aussage wird deutlich, dass ihm das Postulat einer »Reinheit der Tonkunst« aus historischen Gründen als Ideologie erschien. Kiesewetter 1844, S. 214.

Die Frage der Instrumentalmusik ist Teil der musikhistorischen Diskussion, weil sie zum einen anschaulich und farbig eine ferne Musikkultur zu konstruieren hilft. Zum anderen aber bleibt sie offen, weil sie mangels musikalischer Zeugnisse nicht beantwortet werden kann. Coussemaker, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts mehr Handschriften als sämtliche Musikhistoriker vor ihm studiert, formuliert einmal - in Bezug auf einen Conductus - , die Unterstimme sei vokal, die Oberstimme hingegen instrumental auszuführen, während er für die Gattung der Motette überlegt, ob die Tenore nicht prinzipiell instrumental auszuführen seien.92 Alle Musikhistoriker beziehen sich in Ermangelung direkter Zeugnisse auf drei Referenzquellen: die Ikonographie, in der Musiker mit Instrumenten dargestellt sind, die Textunterlegung in den Quellen und jene Textstellen, die bei bestimmter Deutung auf Instrumentalbeteiligung hinweisen könnten. Dass sich die Überzeugung, mittelalterliche Musik sei durchweg - ob weltlich oder geistlich - instrumental begleitet worden, gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht zu einem Paradigma verdichtet hat, sieht man an einer Bemerkung von Wooldridge, der in Bezug auf Machauts weltliche Lieder meinte, die Oberstimme würde den Text tragen, »the remaining voices probably singing upon some vowl, in the old manner«.93 Die selbstverständliche Bemerkung »in the old manner« verweist auf Wooldridges alltäglichen Umgang mit der englischen Chortradition. In der Gründungsphase der historischen Musikwissenschaft verdichtet sich die Überzeugung, dass bei der Aufführung mittelalterlicher Vokalmusik eine instrumentale Begleitung existiert habe, und derjenige Musikwissenschaftler, der aus der Diskussion um mittelalterliche Instrumente, der ästhetischen Überhöhung der Instrumentalmusik im 19. Jahrhundert und der Abwesenheit von Zeugnissen, die diese Frage für das Mittelalter beantworten könnten, eine publizistisch äußerst wirksame Theorie formt, ist Hugo Riemann. Während Riemann 1893 in seinen Iüustrationen %ur Musikgeschichte Beispiele für Polyphonie des 15. Jahrhunderts ohne Instrumentalbegleitung94 geliefert hatte, verdichtet sich mit dem Erscheinen von Stainers Dufay and bis Contemporaries Riemanns musikhistorisches Weltbild, das mit seiner Überzeugung vom italienischen Ursprung der Ars Nova kongruiert. Er sieht das erste Mal ein Faksimile, das ihm nur übertragbar erscheint bei der Annahme einer instrumentalen Begleitung und er sieht sein eigenes Postulat einer einheitlichen Musikgeschichte bestätigt.95 In der Vokalmusik des frühen 15. Jahrhunderts entdeckt Riemann eine Analogie zum deutschen Lied Robert Schumanns und Johannes Brahms': »Das weltliche Kunstlied« vor 1600. Riemann erwähnt in seinen Veröffentlichungen Stainers Dufay and his Contemporaries nicht, eine Publikation, der eine Schlüsselfunktion innerhalb der Formung des Paradigmas zukommt, aber man kann die Spuren lesen.96 Riemann beschreibt in seinem in hoher Auflage erscheinenden Handbuch der Musikgeschichte eine 92 93 94 95

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Coussemaker 1865, S. 67 f. und S. 111. Wooldrige 1905, S. 25. Riemann 1893. So sind seine Eingriffe in die musikalische Faktur als Versuche zu bewerten, ihren wahren Kern ans Licht zu bringen, auch wenn in seiner eigenen Bearbeitung kaum mehr als offene Quinten - im Sinne eines zeitlichen Lokalkolorits - übrigbleiben. Riemann greift auf das Repertoire der Stainers in seiner Hausmusik zurück und erwähnt es mehrfach in seinem Musik-Lexikon. Zudem hatte Adler im Vorwort zu den Trienter Codices (DTÖ 1900) von den Stainers geschrieben und sein befreundeter Kollege Johannes Wolf hatte die Veröffentlichung besprochen (Wolf 1899/1900).

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»höchst respektable Blüte des Kunstliedes«,97 und geht zurück auf musikhistorische Abhandlungen des 19. Jahrhunderts, in denen die Frage nach der Beteiligung von Instrumenten sowohl in mittelalterlicher geistlicher als auch weltlicher Musik diskutiert worden war.98 In diesem Rückgriff auf Abhandlungen über mittelalterliches Instrumentarium zeigt sich eine, von Riemann sicherlich unbeabsichtigte Parallele: Schon Bottée de Toulmon war in seinem Urteil über mittelalterliche Musikinstrumente von seiner eigenen Hörerfahrung geprägt gewesen, die ein so klangfarbenstarkes, wenn auch den Zeitgenossen bizarr erscheinendes Werk wie die GrandMesse des Morts von Hector Berlioz — die 1837 mit großem Erfolg in Paris uraufgeführt worden war99 — ebenso einbezog wie Werke von Luigi Cherubini und Anton Reicha, bei denen Bottée de Toulmon in Paris studiert hatte.100 Die von Riemann zuerst formulierte These wird als wissenschaftliche Tatsache publÌ2Ìert und zum musikhistorischen Allgemeingut für das 20. Jahrhundert.101 Hugo Leichtentritt102 und andere bauen die These weiter aus oder integrieren sie in ihr eigenes musikhistorisches Weltbild. Arnold Schering führt sie weiter und konstruiert »das kolorierte Orgelmadrigal des Trecento«, in dem der Text nur noch zum besseren Verständnis der Instrumentalkomposition, nicht jedoch zum Singen gedacht sei. 103 Friedrich Ludwig, der streng quellenkundlich arbeitende Musikhistoriker, ist durchweg vorsichtig mit seinen Äußerungen zu diesem Thema, aber auch er überlegt, er könne sich für die französische und italienische Musik des 14. Jahrhunderts denken, »daß der Tenor auf [dem Portativ] gespielt wurde«, ergänzt jedoch, es solle nicht seine Aufgabe sein, »zu den vielen Hypothesen über die Instrumental-Praxis des Mittelalters eine neue [...] hinzuzufügen.« 104 Ludwig unterstützt die von Gurlitt für Karlsruhe und Hamburg ausgerichteten Konzerte mit eigenen Übertragungen und schreibt 1922 sogar von »mittelalterlichen Meisterwerken reiner Instrumentalmusik«.105 Auch wenn Ludwig in sein Exemplar des Handbuchs der Musikgeschichte zu Riemanns Instrumentalthese die Bemerkung »unglaublich« an den Rand notiert hatte, so tut die These — in Verbindung mit den mittlerweile reichlich publizierten Zeugnissen mittelalterlicher Ikonographie — doch ihre Wirkung und lässt 1924 schließlich Ludwigs philologische Überzeugungen zugunsten des neuen Paradigmas in den Hintergrund treten. Die durch Eduard Grell und Gustav Jacobsthal vermittelte Überzeugung eines geistlichen a-cappella-Stils lässt Ludwig zwar die Instrumentalthese für die geistliche Musik nicht in Betracht ziehen, aber er schreibt in Bezug auf die »mehrstimmige weltliche Kunst« des 13. Jahrhunderts: »Sie hatte den Kontrast eines begleitenden Tenors und der neuen Perotinischen Melodie in der Oberstimme als Morgengabe in ihre Wiege gelegt erhalten. Sie verzichtet nun oft auf vokale Ausführung des Tenors, um seinen Charakter als Begleitstimme noch stärker auszuprägen, und 97 98 99

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Riemann 1905a, S. 539. Zum Beispiel Bottée de Toulmon 1838, der sich wiederum auf Du Fresne 1681 bezieht. 1 843 erscheint Berlioz' Grand traitéd'instrumentation et d'orchestration modernes. Vgl. auch Bottée de Toulmon 1836, Bottée de Toulmon 1836a und Bottée de Toulmon 1841. Leech-Wilkinson 2000. Vgl. auch Apel 1950, S. 14 f. Leichtentritt 1905/1906. Schering 1911/1912. Ludwig 1902/1903, S. 29 f. Ludwig 1923, S. 442.

läßt den Tenor von einem Instrument ausfuhren. So wird sie zum instrumental begleiteten Lied - zum erstenmal erscheint diese wichtige Form in der Musikgeschichte.«^

Die Auseinandersetzungen um die Auffuhrungspraxis mittelalterlicher Musik zeigen an diesem Punkt, wie wirkungsmächtig und geradezu konstitutiv die musikwissenschaftliche Forschung für die »Hörlandschaft« des 20. Jahrhunderts ist. Neben der Bereitstellung von Notenmaterial, das die Auffuhrungspraxis mittelalterlicher Musik erst ermöglicht, formt und prägt die Musikwissenschaft mit ihren Prämissen eine »Musik des Mittelalters« und nimmt Einfluss auf ihre akustische Umsetzung. Johan Huizingas Bild einer spätmittelalterlichen Welt voller Farben und Kontraste wird seit den Erlanger Konzerten in den 1920er Jahren und in der institutionalisierten Auffuhrungspraxis zwischen 1950 und 1980 hörbar in klangfarbenreicher mittelalterlicher Instrumentalmusik:107 Hier kongruieren unbegründete wissenschaftliche These, literarische Aufbereitung und zeitgenössisches Bedürfnis nach neuen Klängen - in einer Zeit ebenfalls voller Farben und Kontraste. Aber Blockflötenbegleitung und auf dem Portativ gespielte Orgelpunkte sind keine »mittelalterlichen Klänge«, sondern Aspekte eines geschlossenen Wissenschaftsparadigmas, das bereits in den 1920er Jahren eine sprechende Verbindung mit Jugendmusikbewegung und zeitgenössischer Musik eingegangen ist.

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Ludwig 1924, S. 199. Vgl. Huizinga 1924 und Page 1993.

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I.

Mittelaltersehnsüchte und Mittelalterdekor

»Stell Dir das Organ der Erinnerung vor wie den Mann an der Gepäckaufbewahrung eines brodelnden Kopfbahnhofs, der auf deinen kümmerlichen Krempel aufpasst, bis du den wieder mal brauchst. Nun überleg mal, worauf der alles Acht geben soll. Und für so wenig Geldl Und so wenig Dankl Kein Wunder, dass der Schalter die halbe Zeit nicht besetzt ist.« (Julian Barnes, Darüber mierï)

Die toten Dinge — das Strandgut der Geschichte oder jene Fundstücke der Vergangenheit, die uns heute etwas bedeuten und unser Leben mit Sinnhaftigkeit bereichem, werden tatsächlich in einer eigenen Ordnung präsentiert, die nicht der Ordnung der Schlacht, der Akquise von Geschichtlichkeit entspricht Das Organ der Erinnerung unterliegt fluktuierenden Regeln.

Formen der Mittelalterrezeption So ordnet auch Mittelalterrezeption — als Form der Erinnerung an das Mittelalter jene Aspekte mittelalterlicher Kultur neu, die im Blick der Gegenwart aufleuchten, und es lassen sich vier Arten der Mittelalterrezeption beobachten, die wesentliche Ausprägungen erfassen: »1. Die produktive, d. h. schöpferische Mittelalter-Rezeption: Stoffe, Werke, Themen oder auch Autoren aus dem Mittelalter werden in einem schöpferischen Akt zu einem neuen Werk verarbeitet; 2. die reproduktive Mittelalter-Rezeption: mittelalterliche Werke werden auf eine Weise, die man als >authentisch< ansieht, in ihrer mittelalterlichen Lebensform rekonstruiert, etwa durch musikalische Aufführungen oder Renovierungen (ζ. B. von Gemälden oder Bauwerken); 3. die wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption: mittelalterliche Autoren, Werke, Ereignisse oder Sachverhalte werden mit den Arbeitsmethoden der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin untersucht und erklärt; 4. die politisch-ideologische Mittelalter-Rezeption: Werke, Themen, >Ideen< oder Personen des Mittelalters werden für politische Zwecke im weitesten Sinn verwendet und verarbeitet, etwa zur Legitimierung oder zur Abwertung (man denke hier ζ. B. an den Begriff >Kreuzzug< und die damit zusammenhängende Ideologie).«^ Diese Gestaltungsmöglichkeiten von Mittelalterrezeption tauchen in den seltensten Fällen getrennt auf. So sind Mittelalterreproduktionen auch von Ideologien geprägt, die wissenschaftliche Mittelalterrezeption kann künstlerische Qualität annehmen, eine schöpferische Mittelalterrezeption sich als Mittelalterreproduktion ausgeben. Und die Mittelalterrezeption selbst wirft Fragen nach adäquaten Zugängen zum Müller 1986, S. 507-510.

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Mittelalter auf, die in den letzten Jahien in den Mittelpunkt des Interesses gerückt sind. Der Mittelalter-Wissenschaftler, wie der Germanist Ulrich Müller ihn oder sie nennt, scheint besonders für die zweite und dritte Art der Mittelalterrezeption zuständig zu sein, aber auch für die erste Art ist er angesprochen — Müller fordert allerdings die Ergänzung der Arbeitsmethoden, damit »ihm auch die Erklärung des neuen Werkes möglichst umfassend«2 gelinge. Die vierte Art reicht, so Müller, in den eigenen weltanschaulichen und wissenschaftlichen Standpunkt hinein und fordert zur historischen und ideologischen Bewertung auf. Die drei ersten Arten der Mittelalterrezeption lassen sich auf das Gebiet der Musik mühelos übertragen: Die produktive, also schöpferische Mittelalterrezeption umfasst den gesamten Bereich der mittelalterlichen Stoffe, Werke oder Themen aus dem Mittelalter, die beispielsweise in Opern, Liedern, Oratorien oder, wie im 20. Jahrhundert, multi-medialen Werken aufgegriffen, umgeformt, neuinterpretiert werden. Sie umfasst aber auch die produktive Auseinandersetzung von Komponisten mit den Zeugnissen mittelalterlicher Kultur. Die zweite Art, die reproduktive Mittelalterrezeption, bezieht sich auf dem Gebiet der Musik auf die Transkription musikalischer Zeugnisse aus dem Mittelalter, aber sie bezieht sich auch auf die Historische Aufführungspraxis, und diese Zuordnung verweist bereits auf die dritte Art, die wissenschaftliche Mittelalterrezeption, die zum einen ebenfalls Anspruch erhebt auf die historische Rekonstruktion zum Sehen (in Form von Ausgaben) und zum Hören (in Form von Aufnahmen und Aufführungen), zum anderen die gesamte Rekonstruktion mittelalterlicher Musikgeschichte zu unternehmen wagt — mit einem Authentizitätsanspruch, der bis vor einigen Jahren unangefochten Bestand hatte. Wenn Müller schreibt, man müsse im jeweiligen Einzelfall genau zwischen wissenschaftlicher Bestandsaufnahme, Beschreibung und Urteilsfindung einerseits sowie qualitativer Bewertung andererseits unterscheiden, sowie die jeweils angemessene Untersuchungsperspektive wählen, dann wird hier bereits die Problematik für zahlreiche Aspekte der wissenschaftlichen Rekonstruktion musikalischen Mittelalters deutlich: Die wissenschaftliche Bestandsaufnahme eines Codex des Trecento beispielsweise ist untrennbar von der Untersuchungsperspektive auf diesen historischen Zeitraum, die Übertragung einer Motette des 13. oder einer französischen Chansons des 14. Jahrhunderts ist tatsächlich nicht adäquat zu leisten ohne eine vorausgegangene Analyse des Stückes, wie sie Wulf Arlt gefordert hat.3 Die Entzifferung (»déchiffrer«) solle dem Lesen (»lire«) der Stücke vorausgehen - eine Forderung, die das in der Pionierphase der Musikwissenschaft entwickelte Verfahren der Primäredition abschaffen könnte. Müllers Ansatz lädt alle an der Mittelalterforschung beteiligten Fächer zur Überprüfung der Forschungsobjekte ein und fordert auf, die Trennung von Textsorten, Kunstformen und wissenschaftlichen Rekonstruktionen aufzuheben, beziehungsweise im Einzelfall nicht mehr gewohnheitsmäßig zu begründen. Indirekt ist damit die Gegenwart als Ausgangspunkt für den Zugang zum Mittelalter reklamiert, und dies kommt auch in der engen Verbindung zum Ausdruck, die zwischen Wissenschaft und Kunst in der Formung der Mittelalterbilder besteht: Es ist zumeist die Spezialdisziplin, die das zu rezipierende Material zu Tage fördert. So haben sich zahlreiche Studien aus den 1980er und 1990er Jahren darauf konzentriert, zu zeigen, dass eine Ib., S. 509. Arlt 2000, passim.

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Trennung von populärwissenschaftlicher Herangehensweise, künstlerisch-produktivem Zugang und wissenschaftlicher Rekonstruktion im Einzelfall dazu führt, wesentliche Formungsmomente zu übersehen.4 Einfluss gewann hierbei das populäre Buch Inventing tie Midd/e Ages. Tie Lives, Works, and Ideas of/be Great Medievalists of the Twentieth-Century von Norman F. Cantor, der hier die Arbeit von zwanzig Mediävisten - unter ihnen kein Musikhistoriker - vorstellt, die Verbindungen zwischen wissenschaftlicher Forschung und beispielsweise der Mittelalterrezeption im HollywoodFilm analysiert und den rezeptiven Charakter von Mediävistik heraushebt.5 K/ingende Mitteh/terre^eption Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wendet sich der Blick zurück auf ein Jahrhundert vielfältigster musikalischer Entwicklungen, auf ein Jahrhundert der beliebigen Reproduzierbarkeit von Musik und auf »die in unterschiedlichen Kulturräumen entwickelten >MusikenErbesEigentlichenAndere< ist ein Gegenüber, das fiktiv bleibt, ein Traumbild, eine Spiegelung des eigenen Blickes. Je weniger ein Gegenstand bekannt ist, je größer die zeitliche Distanz, desto größer der Freiraum, um »Leerstellen« zu schließen. Daher kommt es, dass uns das Mittelalter sehr nah erscheint, aber fremd bleiben muss.11 Die Interessen der Gegenwart diktieren die historischen Bilder. Aber dieser unbekümmerte Zugang zum musikalischen Mittelalter, der auch eine große Sehnsucht nach Werten und Normen verrät, hat heute eine andere Qualität als die Zuwendung zum Mittelalter in den 1920er Jahren. Der heutige Zugang ist geprägt von wesentlichen Positionen der Postmoderne. Besonders die rekonstruktiven Aspekte und Kräfte der Postmoderne, die in Hybridisierungen deutlich werden und eine neue und wilde Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart hervorbringen, zeigen einen interessanten Zugang zur Vergangenheit. Hier symbolisiert das Mittelalter, als Sonderform der Vergangenheit, verlorene Integrität, einen mythischen Ort, in den das Subjekt nicht zurückkehren kann. Häufig wird die Vergangenheit mit Zartheit betrachtet, weniger mit Überlegenheit oder mit parodistischem Interesse In der Vielfalt der musikalischen Hinwendungen zur Vergangenheit — obwohl die Bemühungen auf Hochtouren laufen, die Alterität zu wahren — verschwindet das vertraute Andere des Mittelalters, .um in den Kategorien der Gegenwart einen Platz zu finden und zum fremden Eigenen zu werden. Ob die Zugänge zum Mittelalter Zeichen »kollektiven Schwindelgefühls von Neutralisierung«12 oder als neue, nach-

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Vgl. Kuspit 1990. Vgl. zur Postmoderne: Docherty 1993, Goodman 1978, Habermas 1987, Hassan 1986, Huyssen/Scherpe 1993, Kolleritsch 1993, Lyotard 1994, Racevskis 1993, Welsch 1993 und Welsch 1994. Vgl. hierzu auch Möller 2000. Müller 1983, S. 194. Vgl. Kreutziger-Herr 1991, S. 194 f. Baudrillard 1983, S. 43.

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oder postmoderne »Gesinnung der ästhetischen Moderne«! 3 zu werten sind, muss zum jetzigen Zeitpunkt offen bleiben und kann erst in der historischen Rückschau auf die Jahrtausendwende adäquat beschrieben werden. Die Zuwendung zum Mittelalter entspringt durchweg jedoch ernsthaftem Bemühen um Sinnhafügkeit und musikalische Erneuerung, die mit Hilfe mittelalterlichen Klangkolorits zu gelingen scheint. An diesem Punkt wird deutlich: Zynismus ist keine adäquate Reaktion auf kompositorische Versuche, in der Gegenwart - mittlerweile eine »Zeit der historischen Zweideutigkeit« und »schon eine kleinlaute Endzeit«14 — musikalische Gestaltungsräume zu suchen und zu finden.

Kompositorische Annäherungen an das Mittelalter »Ich kenne die Musik nicht, die mich heute erwartet, und ich bin voll Ahnung und suchendem Vorgefühl, voll von Wünschen, wie es sein möge, und voll Vorgenuß und Zuversicht, es werde sehr schön sein.« (Hermann Hesse, Musiß)

Die Frage »Welche Einflüsse hatte die Wiederbelebung der älteren Musik im 19. Jahrhundert?« bewegt 1900 den Musikhistoriker Richard Hohenemser, und er beobachtet: »Zwar hat der Einfluss der alten Meister zuweilen auch auf Irrwege gelockt, und wir haben überall, wo uns dies der Fall zu sein schien, ausdrücklich darauf hingewiesen. Aber gegen die nach allen Seiten hin anregende und befruchtende Wirkung der alten Musik fallen die wenigen Fehlgriffe, deren Veranlassung sie wurde, nicht ins Gewicht.«

Dagegen ist die »anregende und befruchtende Wirkung der alten Musik« im 20. Jahrhundert tatsächlich ein weites Feld: Im 20. Jahrhundert vervielfachen sich - nicht zuletzt durch das Aufkommen der Langspielplatte und der Popularisierung mittelalterlicher Musik seit den 1950er Jahren — die Möglichkeiten für Komponisten, Zugang zu mittelalterlicher Musik zu erhalten.16 Dieser Entwicklung liegt eine Fülle an mittelalterlicher Musik zugrunde, die seit den 1920er Jahren als kritische Edition, Faksimile-Ausgabe, adaptierte Umschrift oder Bearbeitung veröffentlicht wird. Denn für Komponisten haben Texte über mittelalterliche Musik oder ästhetische Verortungen ihres Wertes in der Gegenwart nicht jene Bedeutung, die Ausgaben oder Aufführungen einnehmen — die Medien beeinflussen sich zumeist medienkonform. Die Edition älterer — später auch mittelalterlicher — Musik in Denkmälerausgaben17 und Einzelpublikationen führt nicht nur um Habermas 1994, S. 179. Peter Sloterdijk, »Nach der Geschichte«, in: Sloterdijk 1993, S. 272 f. Hohenemser 1900, Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz zu Berlin, Mus. Ha. 123-4. Eiste 1986. Vgl. etwa Raccoüa di musica sacra, Rom seit 1841, Musica sacra, Regensburg seit 1839, Tresor musical, Brüssel seit 1865, Patiographie musicate, Solesmes und Tournai seit 1889, Denkmäür

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1900 zu produktiver Rezeption in der französischen Orgelmusik, 18 in der besonders der gregorianische Choral eine entscheidende Rolle einnimmt: In Leos Janáceks 1926 komponierter Sinfonieita beispielsweise wird eine Melodie zitiert, die der Komponist in einer Ausgabe des Musik-Lexikons von Hugo Riemann gefunden hatte, für Carl Orffs Carmina Burana waren, wie erwähnt, die Ausgaben und besonders die Auffuhrungen Rudolf von Fickers mit dem durch sie vermittelten archaischen Klangbild von elementarer Bedeutung. Für viele Komponisten der Nachkriegszeit spielen Ausgaben oder Aufnahmen mittelalterlicher Musik eine zentrale Rolle, und es fallt auf, dass erneut für die Zeit zwischen 1980 und 2000 nicht nur ivor/dmusic eine starke Referenzfunktion einnimmt, sondern erneut auch mittelalterliche Musik. Ein Musikaustausch besonderer Art findet statt, der vergleichbar ist mit der Übernahme von Elementen aus »Musiken fremder Kulturen«. Für kompositorische Aneignungen des Fremden, oder Anderen, hat der Musiksoziologe Helmut Rösing Gesichtspunkte beschrieben, die sich auch in der Bemächtigung mittelalterlichen musikalischen Materials wiederfinden lassen: Die Integration fremden Materials in den eigenen Musikstil kann als exotische Zutat erfolgen, ein anderer Stil wird mit eigenen musikalischen Mitteln imitiert, rhythmische, melodische und/oder klangliche Elemente der anderen Musik dienen als Inspirationsquelle und Legitimation für die Veränderung tradierter Kompositionsregeln, der Kompositionsbegriff selbst wird als Folge der Beschäftigung mit Musik und Kulturen fremder Völker durch Schaffung eines neuen Kompositionsstils in Frage gestellt und neu definiert. Ferner löst sich der tradierte abendländische Kompositionsbegriff durch Montage, bzw. Sampling der verschiedensten Partikel von Musik anderer Zeiten, Stile, Kulturen auf - im Extremfall bis hin zum Verzicht auf eigene Kreativität. Und die kompositorische Auseinandersetzung mit fremden »Musiken« findet schließlich im fiktiven Raum der eigenen Vorstellung statt.19 Moderner Minnesang beispielsweise unternimmt den Versuch, eine in Vergessenheit geratene Form musikalischer Präsentation wiederzubeleben. Komponisten wenden sich mittelalterlichem Material zu, indem sie es bearbeiten: so geschehen bereits in den Macòaui-Ba/iaden von Wolfgang Fortner aus den 1950er Jahren und in einer Fülle von Werken der Komponisten Klaus Huber und Isabel Mundry, in den LandiniBearbeitungen von Johannes Schöllhorn oder der Cicomeita von Manfred Stahnke aus den 1990er Jahren. Einige Komponisten bemühen sich um die Imitation mittelalterlicher Modelle oder komponieren mittelalterliche Musik nach — ein Paradebeispiel dafür ist Harrison Birtwistles Hoquetus David—, besonders für Komponisten der Darmstädter Schule dienen rhythmische Modelle als Inspirationsquelle und Legitimationsstrategie. Manche Komponisten, die von den Erfahrungen der Komposition für den Film profitieren, spielen mit den vielfältigen Mittelalterbildern in der kollektiven Erinnerung, illuminieren sie durch Klangfetzen, und präsentieren ein diffuses Bild mittelalterlichen Lebens voller skurriler Figuren wie Spielleute, Nonnen, Vaganten, Kreuzritter, geknechteter Bauern, Zwerge und Einhörner, Päpste und würdevoller

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Deutscher Tonkunst (DDT), Leipzig seit 1892, Denkmakr der Tonkunst in Österreich (DTÖ), Wien seit 1894. Alexandre Guilmant L'orgue liturgste (1884-1889), Charles Widor Symphonie Gothique (1895) und Symphonie Remane (1900), Eugène Gigout: Albumgrégorien (1985). Rösing 1998, S. 174 f.

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Könige, die prachtvolle Burgen und phantastische Dome bewahren. John Coriglianos Gitarrenkonzert Troubadours aus dem Jahre 1993 ist ein ebenso packendes Beispiel für diese Form des Zugangs wie John Adams' Orchesterwerk Meister Eckiardt W ' g u a ckie aus seiner zwischen 1984 und 1985 komponierten Harmonie/ehre. Die Musik des 14. Jahrhunderts ist als Referenzobjekt für Lou Harrison, Manfred Stahnke, Johannes Schöllhorn, Harrison Birtwistle, Joanne Metealf, Ned Rorem, Unsuk Chin und György Ligeti ebenso entscheidend wie die geistliche einstimmige Musik des 11. bis 13. Jahrhunderts für Sofia Gubaidulina, Alfred Schnittke (z. B. Minnesang für gemischten Chor aus den Jahren 1984-1985), Arvo Pärt, Cary Boyce, Richard Einhorn, Patricia van Ness, Sid Corbett und andere. Für viele Komponisten ist das Mittelalter nicht nur als stilistisches Vorbild interessant — das im 20. Jahrhundert einen kompositorischen Weg jenseits von Zwölftonmusik, Neoklassik und Spätromantik ermöglicht - , es vermittelt auch ein besonderes Lebensgefuhl. Hier sieht man eine Fortführung der frühen musikwissenschaftlichen Konstruktion mittelalterlicher Musik, wie sie beispielsweise durch Wilibald Gurlitt in Karlsruhe und Hamburg versucht, und von Friedrich Ludwig und Heinrich Besseler kommentiert wurde. Während Ludwig einen »echten mittelalterlichen Gemeinschaftssinn«20 auszumachen vermochte, heißt es bei Besseler: »[Gurlitts] Betrachtung geht von der Gebundenheit des mittelalterlichen Daseins aus. Alles Leben, Schaffen, Empfangen geschieht in der Gemeinschaft, die sich dem Einzelnen darbietet als abgestuftes Reich von Körperschaften und Ständen, vom umfassendsten Kreis der Kirche angefangen. Die auf Überlieferung und Autorität gegründete, letztlich stets auf die religiöse Mitte bezogene Umwelt umfasst alle Elemente als Glieder eines Organismus; damit ist eine selbstherrliche Kunst, die dem Leben von sich aus einen Sinn zu geben beansprucht, im Mittelalter unmöglich. Im Gegensatz zur modernen, in der Renaissance durchbrechenden Verabsolutierung des Ästhetischen weist jedes mittelalterliche Kunstwerk über sich hinaus in einen Lebenszusammenhang, ist zunächst und wesentlich als etwas anderes da: als religiöses Symbol, Verkündigung einer außerästhetischen Idee usw.«21

Mittelalterliche und zeitgenössische musikalische Welten verbinden sich in Projektionen, kein weiter Weg führt von dieser Einschätzung eines mittelalterlichen Lebensgefühls zu Brendan Perry von der Gruppe Dead Can Dance; die als Pionierband mittelalterliche Musik in die Popmusik eingeführt hat: »I'm very interested in medieval society because the actual structure was very simple to understand. The relation of music and religion and other aspects portrayed more things simply. We live in a world now which is far more complex. The idea of history as a learning process is looking for things that are still constant, never changing. Through finding these threads one can form definite ideas about the world we Uve in.«22

Die Genres mischen und die Formen verändern sich, die Ästhetik jedoch gleicht sich an — ein ästhetisches Merkmal der Postmoderne. Die Annäherungen von WoridBeai und der Einzug mittelalterlicher Musik in die musikalische Avantgarde im Spiegel der Musizierpraxis der Historischen Aufführungspraxis, sind Überlegungen wert:

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Ludwig 1923, S. 439. Besseler 1924/1925, S. 43. Zitiert in: Kirsten Yri, MedievaiBorrowings in Pop and Rock, im Druck befindliches Manuskript. Ich danke Kirsten Yri sehr herzlich für die Überlassung ihres Textes.

»Overall, the image of the Middle Ages presented is >premodernhistorical< might have formed a saving exception to this pattern; up to Mozart's time, at least, musical values were generally closer to those of what we now call pop than to those of our classical culture. But to ask that of Early Music may be asking the impossible. It is a product of the classical value system, after all, and its beneficiary. It cannot be expected to rebel. On the contrary, it has measurably augmented its inventory of timbres and become perhaps the least moribund aspect of our classical musical life. That is accomplishment enough.« 3 "

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wagt niemand mehr von historischer Authentizität zu sprechen, gleichzeitig werben weiterhin einige Ensembles mit dem Adjektiv »original«, um sich von den zahllosen Einspielungen eines begrenzten Repertoires abzuheben. 39 Aufführungen: Mit Instrumenten oder ohne sie? Ein Nachdenken über die Beteiligung von Instrumenten an der modernen Aufführung weltlicher Chansons aus dem Mittelalter hat eingesetzt, und es verweist zurück auf die Entstehung der Instrumentalhypothese. Daniel Leech-Wilkinson hat in seiner 2002 erschienenen Studie ausführlich die Entstehung dieser Hypothese nachgezeichnet. 40 Es sei hier rekapituliert, dass Hugo Riemann an Interpretationen der ersten verfugbaren Schriftbilder mittelalterlicher polyphoner Musik die These entwickelt hatte, das mittelalterliche Chanson des 14. und 15. Jahrhunderts sei eine instrumental begleitete Form gewesen - analog dem Kunstlied des 19. Jahrhunderts. Diese These wurde von Hugo Leichtentritt, Arnold Schering und anderen — einem Denkkollektiv im Sinne von Ludwik Fleck 41 — ausgebaut und publiziert, besonders in Schriften, die Musikern und Komponisten zugänglich waren. In der Rückschau erscheint die Quellenlage, auf deren Grund Hugo Riemann die Instrumentalhypothese entwickelte und als Tatsache der mittelalterlichen Instrumentalpraxis beschreiben konnte, äußerst dürftig, sie hatte aber eine Rückendeckung in einer bis in das 18. Jahrhundert zurückgehenden Forschungstradition: der ikonographischen Erforschung der Instrumente des Mittelalters. Diese Erforschung, die in Ermangelung musikalischer Zeugnisse oder eines Verständnisses der musikalischen Quellen, anhand von Handschriften, primär aber von Reliefs an mittelalterlichen Sakralbauten abgeleitet wurde, war — nicht erst seit Charles Burney — selbstverständlicher Teil musikhistorischer Untersuchungen. Hugo Leichtentritts umfangreicher Artikel »Was lehren uns die Bildwerke des 14.-17. Jahrhunderts über die Instrumentalmusik der Zeit?« tat sein Übriges, diese lange Tradition aufzugreifen und publizistisch wirksam werden zu lassen. 42 Die besondere Form einer »natürlichen Interpretation«, eine Vorstellung, »die so eng mit Beobachtungen verbunden ist, dass es besonderer Anstrengungen bedarf, ihr Vorhandensein zu erkennen und ihren Inhalt zu bestimmen« 43 , bildet die Grundlage für weitergehende Theorien zur Instru38 39 40 41 42 43

Taruskin 1995, S. 170. Vgl. hierzu vor allen Dingen Leech-Wilkinson 2002, aber auch Linde/Rapp 2000 und Reidemeister 1988. Leech-Wilkinson 2002, S. 13-87. Fleck 1935. Leichtentritt 1905/1906. Feyerabend 1976, S. 89.

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mentalmusik des Mittelalters. Selbst Friedrich Ludwig stimmte der Instrumentalhypothese zu, wie aus seinen Anmerkungen zu den Veröffentlichungen von Ambros und Coussemaker44 ebenso deutlich wird wie aus seinen Veröffentlichungen und seiner Unterstützung der ersten Aufführungsversuche durch Gurlitt. Die Auffiihrungspraxis durch die Vielzahl von Ensembles vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, die wiederum die musikalische Praxis jüngerer Ensembles prägte, beförderten den Prozess, aus einer um die Wende zum 20. Jahrhundert geäußerten These einen »Denkstil« zu formen - ein Denkstil, der im deutschsprachigen Raum entwickelt wurde und den praktischen Zugang zur mittelalterlichen Musik weltweit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts prägte. Christopher Page, der mit den Gothic Voices die Debatte um Instrumentalbegleitung angestoßen hatte, trat mit seinen Aufführungen den akustischen Beweis an, dass Musik des 14. Jahrhunderts ohne Instrumentalbegleitung »schön« klingen kann. Im instrumentenlosen Klang wurden auch bislang verborgene Aspekte der musikalischen Struktur herausgearbeitet und hörbar. Dennoch klärt diese neue, nach dem derzeit herrschenden Denkstil historisch überzeugende Hypothese nicht die untextierten Tenores und die untextierten Melismen in einer Fülle von Handschriften zur Musik des 14. und 15. Jahrhunderts. »Tibetisches Mitteh/ter«; Hören undSehen am Beispiel von Perotinus 1988 erschien die Aufnahme Perotinus, die bahnbrechend für eine Wende im Bereich Mittelalter zum Hören wurde. Das Hilliard Ensemble, eine der profiliertesten Formationen für die Aufführung Alter Musik, hatte die Einspielung vorgenommen. Neu war nicht nur ein sound, der sich an Jazz und Avantgarde orientierte, man denke etwa an Meredith Monk, neu war auch ein ungewöhnlicher Umgang mit dem Problem der Musicaßcta und ein Zugang zu mittelalterlicher Musik, der historisierende Bemühungen vollständig ablehnt. Sederunt Principes ist in vier Quellen überliefert45, die sich allerdings in zentralen Punkten widersprechen, so dass alle Transkriptionen tatsächlich Interpretationen, Lesarten des Stückes sind — keineswegs eindeutig, vielmehr vielfältig und widersprüchlich. Aufführungen müssen sich jeweils für eine Fassung entscheiden und Tonlage, Zäsurbildungen und das Problem der »musica ficta« pragmatisch klären — und werden damit zu weiteren Lesarten.46 In diesem Fall entschied sich Paul Hillier, das b am Ende der ersten melodischen Phrase auszulassen. Natürlich ist die Evidenz der Handschriften widersprüchlich, allerdings spricht die Tatsache, dass sowohl W1 (Manuskript Wolfenbütte]) als auch F (Medicea Laureitela) ein b bei mindestens zwei der oberen Notensysteme vorschreiben, eher für als gegen das b. Tatsächlich ist jedoch zu vermuten, dass Hilliers Entscheidung weniger eine philologische, als eine

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In der Bibliothek des Musikwissenschaftlichen Seminars Göttingen, MG I A 44/2 und MG I O 78/2. Eine Quelle liegt im Manuskript Wolfenbüttel 677 (= W 1, Example 3) vor. Eine weitere Fassung findet sich in der Handschrift der Medicea-Laurenzia Plut. 29/1 (F), in der Handschrift Wolfenbüttel 1206 (W2) und im Manuskript der Bibliotheca Nacional Madrid Hh 167 (M). Die Version in W2 ist unvollständig ebenso wie M, aber M liefert zusätzlich eine tropierte Fassung des Organums. Vgl. Thurston 1970, S. 133.

künstlerisch-ästhetische war: Durch den Verzicht auf die Leittönigkeit stellt sich beim Hören ein Gefühl von Archaik ein. Diese Interpretation erhält Unterstützung durch den einführenden Begleittext. Beginnend mit einem Zitat aus David Neels Tibetan Journey, in dem »each atom perpetually sings its song, and the sound, at every moment, creates dense and subde forms«, beschreibt Hillier die lange Reise, die wir unternehmen müssen, um Perotinus zu hören. Hören ist für Hillier nicht allein ein physischer Akt, sondern ein Erkenntnisprozess, ein Moment der Empathie: »Pérotin speaks to the 20th-century listener quite naturally as a composer of minimalist music, nor is he alone in this amongst the composers of both the Ars Antiqua and the Ars Nova. The concept of minimalism is of course a modern phenomenon; but the attitudes and purposes that stimulate minimalism (in its various guises) occur frequently throughout history and in both Western and non-Western cultures.«4?

Die Verbindung zwischen Mittelalter und Minimalmusik, zwischen dem mystischen Ort Tibet und dem mystischen Ort Mittelalter ist aufschlussreich. Steve Reich, einer der Begründer der Minimalmusik, hatte kurz zuvor seine Musicfor 18 Musicians für dasselbe Label eingespielt ECM, das bis dahin berühmte Label für handverlesene Aufnahmen von Meredith Monk, John Adams, europäischem Jazz und World Music, fügte nun seinem Repertoire die Alte Musik hinzu - »the early music of the Hilliard Ensemble seems a logical extension of the ECM catalogue — a music of emotion and integrity suffused with an underlying sense of tonality,« 48 wie John Levin analysierte. Gemeinsamer Nenner des Repertoires sind die Abwesenheit von dur-moll-tonaler Klangorganisation, dem zentralen Charakteristikum westlicher Musik, und die Betonung meditativer Einkehr. Gleichzeitig haben Minimalmusik und die Musik des Magnus Liber weiteres gemeinsam, allerdings unter der Voraussetzung der aktuellen rhythmischen Lesart der Organa aus dem Magnus Uber. Die Klangorganisation ist diatonal, die Satzfaktur fließend und von gleichmäßigem Zeitmaß bestimmt. Stimmkreuzungen, kurze Motive, Ostinati prägen das Klangbild. Unähnlich sind sich Minimalismus und die Musik des Magnus Uberin unterschiedlichen Dissonanztypen, dem Einsatz von Präkomposition, Klangfarbenspektren (mit denen in der Minimalmusik häufig gearbeitet wird) und im unterschiedlich kanonisierten musikalischen Material. Die Perotinus-Aufnahme ist eine erste postmoderne Präsentation von Musik des 12. und 13. Jahrhunderts. Analog zu Personalisierungstendenzen der Popularmusik wird hier ein Name — »Perotinus« — zum Programm, und diese hier begonnene Personalisierung einer Musikkultur, die bisher nur unzutreffend und hilfsweise mit der »Schule von Notre-Dame« bezeichnet worden ist, hat eine Fortführung in der Gegenwart gefunden. Das im Januar 2000 erschienene Musik-Konzepte-Heft Perotinus— wenn auch mit konterkarierenden Beobachtungen von Jürg Stenzl versehen — und Rudolf Flotzingers Veröffentlichung Perotinus musicus. Wegbereiter abend/ändiscfon Komponierend führen diese Richtung fort und versuchen, Perotinus in die große Kompositionsgeschichte Europas zu integrieren. Dabei ist weiterhin nicht mehr biographisches Material als vorher verfügbar — der »Komponist« gewinnt an Konturen

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Ib. Levin 1995, S. 19.

49

Flotzinger 2000.

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durch die Gleichsetzung des »Komponisten« mit Petrus Parvus, einem Pariser Theologen des späten 12. Jahrhunderts. Hinter den Bestrebungen, auch im Mittelalter »große Komponisten« wiederzufinden, ist die ungebrochene Tradition aus der Gründungsphase der musikwissenschaftlichen Mediävistik mit ihrem Legitimierungsanspruch zu erkennen, und sie verdeutlicht die Fortführung einer Methodik, die sich einem möglichen Anderen des Mittelalters — einer anderen Form von Musikkultur und einer anderen Form von Überlieferung — nicht öffnen kann. Die Individualisierung und biographische Zuspitzung kultureller Phänomene, die um 2000 in vielen Kulturbereichen zu beobachten ist, ist andererseits eine Gegenbewegung zur wissenschaftsgeschichtlichen Situation um 1900, die auch mit Adlers revolutionärem stilgeschichtlichen Konzept, mit der Bestimmung »namenloser« historischer Entwicklungen und mit der Suche nach übergeordneten Prinzipien — seien sie gotisch, nordisch oder fortschrittlich - charakterisiert werden kann. Aber die Überlieferung mittelalterlicher Musikkultur ist auch heute nicht mehr als ein photographisches Standbild aus einem Film, den wir nur andeutungsweise kennen und dessen Tonspur uns nicht mehr übermittelt werden wird.

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II.

Inszenierungen: Alterität des Mittelalters zum Hören

»Ja, jetzt ist die Zeit des Fragens - wenn ich mir dafür auch einen anderen Ort gewünscht hätte als diese enge Lichtung, zum Beispiel den inneren Kreis einer Wagenburg. >Lichtung< heißt für mich Mittelalter, und das Mittelalter ist doch vorbei, oder? Was für ein unwirklicher Ort. Unwirklich? So wird das Fragen ihn wirklich machen.« (Peter Handke, Das Spie/vom Fragen oder Die Reise sonoren Lanä)

Hildegard von Bingen (1098-1179) ist für die Musikgeschichte der Neu2eit eine Entdeckung des späten 20. Jahrhunderts, und sie nimmt in der reproduktiven und produktiven musikalische Mittelalterrezeption eine ganz andere Stellung ein als Guillaume de Machaut (ca. 1300-1377). Dies liegt zum einen an streng voneinander getrennt ablaufenden Rezeptionsmustern, es liegt auch an dem unterschiedlichen Rezeptionsgegenstand: Guillaume de Machaut war vor der Etablierung als Forschungsgegenstand in den 1920er Jahren bereits zu Lebzeiten ein gefeierter Komponist und Dichter, während Hildegard von Bingen erst durch die Rezeption zu einer Komponistin wurde. Im »kontinuitätsbildenden Dialog von Werk und Publikum«,1 der zwischen ästhetischem und historischem Wert des Rezeptionsgegenstandes vermittelt, sind unterschiedliche Motivationen und methodische Zugange auszumachen, denen eine Untersuchung zur Rezeption der Hildegard von Bingen in der zeitgenössischen Musikgeschichte Rechnung tragen muss.

Mittelalterbilder zum Hören II: Hildegard von Bingen Hildegard von Bingen, »sister of wisdom« (Barbara Newman)

Hildegard von Bingen war nicht nur eine bedeutende Äbtissin, Mystikerin, Diplomatin, Autorin zahlreicher Schriften über medizinische und naturwissenschaftliche Fragen, Klostergründerin, Beraterin hochrangiger Persönlichkeiten ihrer Zeit — was ihr unter Zeitgenossen den Namen »rheinische Sybille« einbrachte — und Verfasserin von Briefen und Visionen, sie war auch eine Dichterin und eine der wenigen uns bekannten Frauen des Mittelalters, die komponierten. Ihre Gedichtsammlung Sjmpbonia 'isX durchaus dem Sequenzenbuch Notkers, den Dichtungen und Traktaten Walter von Châtillon, den Hymnen Abaelards und den Sequenzen Adams de St. Vic-

Jauss 1994, S. 127.

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tor an die Seite zu stellen,2 das ihr zugeschriebene musikalische Werk ist eines der umfassendsten, das wir von einer namentlich bekannten Person aus dem 12. Jahrhundert kennen. Neben den von Hildegard gedichteten und vertonten Gesängen, steht der Ordo Virtutum als besonderes Werk da. Aus 82 Melodien bestehend, repräsentiert er den Kampf um die Seele, anima, der zwischen sechszehn Tugenden und dem Teufel mit einer mystisch-enigmatischen Sprache ausgetragen wird. Dieses Mysterienspiel, das man auch als geistliches Singspiel oder liturgisches Drama bezeichnen könnte, ist ein frühes Beispiel seiner Art in der europäischen Musikgeschichte,3 und den späteren, überlieferten »Weihnachts- und Osterspielen, denen sich bald Stoffe aus den Heiligen-Leben zugesellten, stellt Hildegard etwas durchaus Eigenes zur Seite: das Schicksal der Einzelseele, der Menschheit, ihre Verfuhrung durch den Teufel, ihre reuige Rückkehr zu den Tugenden. Satan singt nicht — in Umdeutung eines geläufigen Spruches kann man sagen: >der Böse hat keine Lieder< - , Lied und Lob sind das Wesen der Engel.

Ihre Gesänge sind in deutscher Neumenschrift auf vier Notenlinien (teilweise ist die fünfte, für den Text gezogene Linie als fünfte Notenlinie einbezogen) überliefert, die Texte sind in karolingischer Minuskel5 geschrieben. Ihre Gesänge unterteilen sich in Antiphonen, Responsorien, Sequenzen, Hymnen, freie, hymnenartige Stücke und schließlich je ein Kyrie und ein Alleluia. Sie bilden (mit Abweichungen) einen liturgischen Zyklus, der die Gesänge einzelnen Festen zuordnet. Verständlicherweise sind die meisten Gesänge den Lokalheiligen gewidmet: Hl. Rupertus, Hl. Disibod (der Patron des Klosters wird von ihr in den Rang eines vir aposfoticus erhoben) und die Hl. Ursula mit ihren 11.000 Jungfrauen. 6 Die erste Redaktion hat Hildegard von Bingen nachweislich zwischen 1151 und 1158 veranlasst. Hi/degard von Bingen in der Rezeption Neben einigen Studien zu Hildegards Schaffen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen waren,7 beginnt die Rezeptionsgeschichte der Musik Hildegards und damit ihre Entdeckung erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wobei von einer Editionsgeschichte, wie sie für andere mittelalterliche Komponisten wie Perotinus oder Machaut geschrieben werden kann, nicht die Rede ist. 1913 ver-

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Vgl. Berschin/Schipperges 1995, S. 4. Vgl. z. B. auch Brunner 1997, S. 93, und Lanczkowski 1988, S. 52-79. John Stevens bezeichnet den Ordo Virtutum gar als »the earliest known morality play« (Stevens 1986, S. 315). Vgl. auch Dronke 1970, S. 180 ff. Vgl. unabhängig davon die Diskussionen um den Ordo Propbttarum des 11. Jahrhunderts: Smoldon 1980, S. 149. Smoldon behandelt Hildegards Ordo Virtutum weder in dem ausfuhrlichen Einleitungsteil, noch in dem Kapitel über das 12. Jahrhundert. Joseph Schmidt-Görg, »Die Gesänge der Heiligen Hildegard«, in: Hildegard von Bingen 1969, S. 14. Vgl. auch Gronau 1985, S. 221-231. Mit runden Formen; deutliche Brechung der Bögen bei c, e und o. Vgl. auch Thornton 1994. Zu Sjimp/boniavgl. auch: Dronke 1969/1970, Richert Pfau 1990. Z. B. Schmelzeis 1879, Böckeier 1880, Roth 1880, In Kehrein 1873 werden die Sequenzen

O ignis spiri tus, O virga M diadema und Opraesui verae civitatis Hildegard zugeschrieben.

öffentlicht Joseph Gmelch in seinem heute nur noch schwer zugänglichen Buch Die Kompositionen der bei/igen Hildegard* zum ersten Mal den musikalischen Teil der Wiesbadener Handschrift, dem sogenannten Rupertsberger Riesenkodex.9 Zeitgleich erscheint Dom L. Davids Studie zu Hildegards Kompositionen in der Revue du ώαηίgrégorien^, während zwei Jahre zuvor eines der ersten Lebensbilder Hildegards in deutscher Sprache veröffentlicht worden war11. Der Weg für weitergehende wissenschaftliche Untersuchungen war damit theoretisch frei. Kurz darauf fertigte Schwester Pudentiana Barth eine komplette Abschrift des gesamten Kodex an und übertrug die Neumen in Choralnotation. 1922 erschien innerhalb der einflussreichen deutschsprachigen Verö/fentßcbungen der Gregorianischen Akademie Freiburg (Schweif), die von Peter Wagner herausgegeben wurden, eine umfangreiche Studie von Ludwig Bronarski,12 die mit Literaturverzeichnis, einem Überblick über Hildegards kompositorisches Schaffen, Analysen der Gesänge nach Kirchentonarten, stilkritischen Anmerkungen und dem Versuch einer historischen Einordnung auf mehr als hundert Seiten Hildegards Kompositionen in den Blickpunkt der Fachwelt rückte. Ergänzt wurde diese Studie durch den 1927 zum ersten Mal herausgegebenen Ordo Virtutum.13 Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich das Interesse an der komponierenden Äbtissin fort: Immer wieder erscheinen einzelne Studien und Veröffentlichungen, und die Möglichkeiten werden erkundet, eine kritische Gesamtedition der Gesänge Hildegards herauszugeben, nachdem die Autorschaft Hildegards sowohl für die visionären Schriften als auch für die Gesänge schlüssig nachgewiesen worden war.14 Pudentiana Barth, Immaculata Ritscher und Joseph Schmidt-Görg legen nach langjähriger Arbeit 1969 eine erste kritische Edition15 vor, die 1998 durch eine Faksimile-Edition des Rupertsberger Riesenkodex ergänzt wird. Bereits 1988 hatte Barbara Newman die Gesänge kritisch ediert,16 1990 legt Marianne Richert Pfau die nach Bronarski umfangreichste Studie zu Hildegard von Bingens Sjmpbonia vor,17 und 1991 erscheint der Gesangsteil der Handschrift Dendermonde im Faksimile.18 Eine Neuedition der Hildegardschen Gesänge durch Marianne Richert Pfau ist in der amerikanischen Hi/degardPuMsiing Company erschienen. Die Fülle der Veröffentlichungen jedoch täuscht: Zentrale Fragen, die eine musikhistorische Einordnung ermöglichen, werden zumeist umgangen. Untersuchungen zum Vergleichsrepertoire und zu den »Rezeptionshandschriften« liegen ebenso wenig 8 9 10

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« 14 15 16 17

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Gmelch [1913]. Die Bezeichnung »Riesenkodex« bezieht sich auf Umfang (481 Pergamentblätter) und Größe (460 mm χ 300 mm). David 1913, S. 20 ff. Seit 1898 waren bereits zu einzelnen Liedern Hildegards (u.a. auch zu ihrer Sequen^ O virga ac diadema) und zu ihrem einzigen Kyrie Studien in der in Grenoble erscheinenden Revue du cianigrégorien erschienen. May 1911. Bronarski 1922. Hildegard von Bingen, Orth Virtutum. Vgl. dazu Böckeier 1923, S. 300 und Böckeier 1925, S. 25 und S. 135. Schrader/Führkötter 1956 und Schwitzgebel 1979. Vgl. auch Pothier 1898a, S. 6 ff. und Pothier 1898, S. 59. Hildegard von Bingen, Lieder. Newman 1988, Poucke 1991, dazu auch Stühlmeyer 1996. Richert Pfau 1990a. Poucke 1991.

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vor wie Studien zu den diastematischen Neumen, mit denen Hildegards Gesänge überliefert sind und die ζ. B. auch die Eigentümlichkeiten der in den Handschriften vorkommenden verschiedenen Formen des Quilismas klären könnten. Hierbei sind die Fragen nach gotischer oder verstärkt gotischer Neumenschrift ebenso entscheidend für eine korrekte Einordnung der Quellen wie stilkritische Untersuchungen an der Musik selbst. Auch wissen wir über die konkrete Musikpraxis im Rupertsberger Kloster oder in der Tochterabtei so gut wie nichts, auch wenn wir mitderweile, durch Studien von Felix Heinzer, Hildegards erstes Kloster am Disibodenberg dem sogenannten Hirsauer Reformkreis19 zuordnen können. Untersuchungen hierzu wurden auf dem musikwissenschaftlichen Kongress zu Hildegard von Bingen im September 1998 in Bingen vorgestellt. Ob tatsächlich Hildegard von Bingen und ihre Nonnen in weißen Kleidern und herabwallendem Haar an Festtagen singend und tanzend durch das Kloster am Rupertsberg zogen - was eher an präraffaelitische Gemälde wie Garten der Hesperielen oder Die goidenen Treppen von Edward Burne-Jones als an das 12. Jahrhundert denken lässt20 - , ob der Ordo Vtrtutum zur Klosterweihe mit Mönch Volmar in der Rolle des Teufels aufgeführt wurde oder doch nur ein Lesetext ist, wie bislang vermutet wurde, ob wirklich Instrumente während der liturgischen Handlungen Einsatz fanden, ob Hildegard von Bingen tatsächlich »niemals eine Neume oder irgendwelchen Gesang erlernt hatte«, gehört in den Bereich von Legende und Vermutung. Hildegard von Bingen ist mit ihren Werken in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkt in den Rang einer modernen Komponistin erhoben worden, als Vertreterin eines Künsdertypus, der als »quasi mythischer Schöpfer eines besonderen, individuellen Werkes« gelten darf.21 Ihren geistlichen Gesängen wird geniales Potential unterstellt, während gleichzeitig — interessanterweise mit derselben Begründung - herausgelöste Klangfetzen ihrer Musik sowohl im E- wie im U-Musikbereich in Hülle und Fülle auftauchen, so, als hätte ihre Musik weder einen sinnhaften und sinnvermittelnden Text noch jene Geschlossenheit und phantasievolle Kraft der Gestaltung, die ihr eigen sein müsste, wenn man sie denn für genial hält. Da ist zunächst der Begriff »Symphonia«, der Geschlossenheit und Werkcharakter suggeriert. Er wird in der Hildegard-Forschung und in der Popularisierung ihrer Musik seit Jahrzehnten für ihr musikalisches Werk verwendet, tatsächlich findet sich der Titel »Symphonia armonie celestium revelationum« nicht in den musikalischen Handschriften. Er taucht auf zu Beginn von Hildegards zweiter großer Visionsschrift, dem zwischen 1158 und 1163 entstandenen »Buch der Lebensverdienste«, dem Uber vitae meritorum.; und kann, muss sich aber nicht auf Musik beziehen.22 Die Übersetzung meint wörtlich den Zusammenklang oder die Symphonie der Harmonie himmlischer Offenbarung. Vgl. Heinzer 1992, siehe auch Haug 1994 sowie Küster 1991. Die gedankliche Verbindung scheint die Herausgeber von Régine Pemouds Hildegard von Bingen. Ihre ii^eit. Ibr Wirken. Ihre Vision (Pernoud 1996) ebenfalls geleitet zu haben: Auf dem Schutzumschlag findet sich ein Ausschnitt aus dem Gemälde »Convent Thoughts« von Charles Allston Collins von 1851. Cogan 1995, S. 155. Hildegardis Liber Vi/e meritorum, hg. von Angela Carlevaris, Turnhoult 1995 (= CCCM 90), S. 8: Z. 4-13 für die gesamte relevante Passage.

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Eine Anzahl von Gesängen - allerdings ohne Melodien - erscheint bereits in der ersten großen Visionsschrift Savias, an der Hildegard laut ihrem Uber vitae meritomm zehn Jahre arbeitete, sie muss zwischen 1141 und 1151 entstanden sein. Aber wurde in dieser Zeit auch die Musik geschrieben? Es besteht weiterhin Unklarheit über Entstehung und Zusammenstellung der Gesänge. Hildegard selbst und die Quellen, die die Gesänge überliefern, verwenden den Titel nicht, und er meint keineswegs ein geschlossenes Werkcorpus. Zudem lassen sich, wie Michael Klaper herausgearbeitet hat, in der Vita Sanctae Hildegards der Mönche Gottfried und Theoderich, die zwischen 1181 und 1187 abgeschlossen wurde, mehrere Textschichten ausmachen, es gibt Vitenfragmente, sogenannte autobiographische Passagen und eine klar zu erkennende redaktionelle Schicht. Zitate aus Hildegards Briefen, die wiederum gesondert überliefert sind, wurden ebenso hineingeflochten wie Augenzeugenberichte. Theoderich, der Hildegard nicht kannte, verband die unterschiedlichen Texte zu drei Büchern, die dem typischen Schema der Heiligenvita genügen. Keine Aussage zu Hildegards kompositorischer Tätigkeit reicht hierbei hinter die Zeit vor 1170 zurück, also in jene Zeit, in der die Gesänge entstanden sein dürften. Klar erkennbar ist das Ziel der Heiligenvita: Es soll die Heilige in einer Zeit religiösen Umbruchs positionieren und die Möglichkeiten für den Fortbestand der Klöster festigen.23 Neben der Tatsache, dass es keine Belege für eine kompositorische Tätigkeit aus der Entstehungszeit der Gesänge selbst gibt, ist eine weitere Hauptschwierigkeit, das musikalische Schaffen Hildegards einzuschätzen, in einem geeigneten Vergleichskontext innerhalb des 12. Jahrhunderts begründet. Die überlieferten Gesänge und ihr Drama Ordo Virtutum bilden ein Corpus von sowohl textlich als auch musikalisch unvergleichlicher Geschlossenheit, ein monolithischer Solitär nicht bloß in der einstimmigen Musik ihrer Lebenszeit sondern auch früherer Jahrhunderte. Die Musik ist in einem einmaligen Stil geschrieben, aber die Überlieferung der Gesänge ist ebenso einmalig: Sie fanden ausschließlich lokale Verbreitung, es lässt sich keine nennenswerte Rezeption außerhalb des Rupertsberges belegen. Sämtliche derzeit bekannte Aufzeichnungen von notierten Gesängen der Hildegard aus dem 12. Jahrhundert stehen offensichtlich mit dem Rupertsberg in direkter Verbindung24. Nicht einmal in einem, in ihrem eigenen Kloster am Disibodenberg entstandenen Antiphonar, der Handschrift Engelberg 103, zeigen sich irgendwelche Spuren von Hildegards liturgischen Gesängen.25 Nimmt man die Vi/a Sanctae Hi/degardis, die Berichte Guilbert von Gemblouxs, Hildegards Sekretär, und Volmars zusammen, in denen über Hildegards kompositorisches Schaffen gesprochen wird, so kann man vermuten, sie erblickten in der musikalischen Produktion eine Chance, das Staunenerregende und Unerhörte an Hildegard herauszustreichen — die Musik als einmaliges Attribut für eine zu kanonisierende Heilige zu konstruieren. Denn meist wird in unmittelbarer Nähe der Berichte über die »simplicitas« Hildegards gesprochen — eine Einfachheit, die beispielsweise den maßgebenden Pariser Theologen ihrer Zeit überlegen sei. In der Tat gehört es nicht zur hagiographischen Tradition, dass in einem Heiligenleben das Verfassen von Gesängen erwähnt wird — und wenn die Musik gleichsam ausschließ23 24 25

Vgl. hierzu Klaper 2000. Michael Klaper, in: Kreutziger-Herr/Redepenning 2000, S. 212. Felix Heinzer, Hildegard und ihr liturgisches Umfeld, Manuskript.

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lieh als Attribut, weniger um der musica als um der Heiligkeit der Äbtissin willen, entstanden sein mag? Allein 2um Gebrauch für ihr eigenes Kloster? Mit der Zerstörung des Rupertsberger Klosters im Dreißigjährigen Krieg jedenfalls wurden alle Informationen über eine mögliche andere Liturgie im Rupertsberger Kloster vernichtet Es existieren keine Liturgica von Hildegards eigenem Orden. Der Stellenwert, den Musik in Hildegards Theologie und Liturgiepraxis einnahm, kann bestimmt werden - unklar bleibt hingegen, wie die Musik in ihrer Zeit zu beurteilen ist. Dass ihre Musik zu Lebzeiten berühmt und sogar bis Paris hin geschätzt wurde - eine Behauptung, die sich nur am Rupertsberg, nicht jedoch in anderen Quellen findet - , dass Hildegard die erste Komponistin der europäischen Musikgeschichte war und mit ihren Gesängen überzeitliche Werke der Nachwelt hinterlassen wollte, sind aus musikhistorischer Sicht problematische Behauptungen. Es ist ein nicht zu ignorierendes Faktum, dass die Musik Hildegards sogar in ihrem eigenen Kloster keine Spuren hinterlassen hat - von Zeitgenossen und Nachfahren ganz zu schweigen. Hildegard von Bingen — Musika/iscbe Präsenz

1990er ¡airen

Hildegard von Bingen — »nie war sie so wertvoll wie heute«26, als Disco-Queen und Vorreiterin von Techno-Ekstase, ihre Kompositionen ertränkt in einer, wie Der Spiege/seinerzeit titelte, »elektronisch gepanschten Sakral-Sülze«27 — diese Zugänge zeigen einen veränderten Begriff von Historizität und einen Verlust an Geschichtsbewusstsein, da sie sowohl mit dem aktuellen Stand der musikalischen Hildegard-Forschung als auch mit den mittelalterlichen Bedingungen des Komponierens nichts gemeinsam haben. Aber ist das überhaupt nötig? Eine Annäherung an Musik oder Texte entlegener Zeiten kann durchaus ein produktiver Versuch sein, in dem die Andersartigkeit nicht eingeebnet ist: »[Den Komponisten] wird das >Heraufkommende im Altem mehr fesseln und praktisch beschäftigen als das Archaisch-Historische, das Antiquarische der Alten Musik, das er anderen überlassen muß und gern überläßt. Das heißt aber, dass er bei kompositorischer Beschäftigung mit historischer Musik irgendeiner Epoche nicht affirmativ eine Jetzthin fertige Welt< bestätigt, sondern kritisch nach ihrer »möglichen Fortbedeutung