Ein kleines Haus [2.Aufl.] 9783035620689, 9783035620672

Moderner Prototyp des minimalen Wohnraums Die Villa le Lac, die seit 2016 zum Weltkulturerbe zählt, hat Le Corbusier 1

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Ein kleines Haus [2.Aufl.]
 9783035620689, 9783035620672

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LE CORBUSIER

E I N

K L E I N E S

BIRKHÄUSER

H A U S

EIN KLEINES HAUS

Die Gegend

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er Bauplatz...

Er liegt am Genfer See, wo die Weinberge in Terrassen aufsteigen; würde man alle ihre Stützmauern aneinanderfügen, so betrüge deren Länge dreißigtausend Kilometer, Une Petite Maison.indd 4

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01.04.2008 12:27:09 Uhr

das heißt drei Viertel des gesamten Erdumfanges! Die Weinbauern leisten ganze Arbeit. Ihr Werk wird hundert, ja vielleicht tausend Jahre überdauern! Nach einem arbeitsreichen Leben sollen mein Vater und meine Mutter in dem kleinen Haus ein Heim für ihre alten Tage finden. Meine Mutter ist Musikerin; leidenschaftliche Liebe zur Natur bestimmte das Wesen meines Vaters. Oft befinde ich mich in den Jahren 1922 und 1923 im Schnellzug Paris–Mailand oder im Orient-Express Paris– Ankara, den Plan eines Hauses in meiner Tasche. Wie? Den Plan bevor der Bauplatz bestimmt ist? Den Plan, für den der Bauplatz erst noch gefunden werden muss? Jawohl. Die Ausgangspunkte des Plans. Erstens: Die Sonne steht im Süden. Südlich, vor den Hügeln, liegt der See. Der See und die sich darin spiegelnden Schneeberge erstrecken sich von Westen nach Osten. Daraus ergibt sich: Das Haus ist gegen Süden orientiert. Der Fassade entlang erstreckt sich der vier Meter tiefe Wohnraum mit einer Frontlänge von sechzehn Metern. Die Länge seines Fensters beträgt elf Meter (ein einziges Fenster!). Zweitens: die „Wohnmaschine“. Genau den einzelnen Funktionen angepasste Dimensionen führen zu äußerster Raumausnützung. Die Anordnung folgt dem Ablauf der einzelnen Tätigkeiten. Bei Annahme eines Minimums an Grundfläche für jede Funktion wurde eine Totalgrundfläche von fünfzig Quadratmetern errechnet. Der fertige Plan des einstöckigen Hauses weist, mit allen Nebenräumen, eine Grundfläche von sechzig Quadratmetern auf. 5

Ein Rundgang

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onsequenz: ein Rundgang. 1. Die Straße; 2. das Gartentor; 3. die Haustüre; 4. die Garderobe (mit Öl-Heizkessel); 5. die Küche; 6. die Waschküche (mit Kellertreppe); 7. der Ausgang zum Hof; 8. der Wohnraum; 9. das Schlafzimmer; 10. das Bad; 11. die Wäschehänge und Wäscheaufbewahrung; 12. das kleine Wohnzimmer für Gäste (mit zwei übereinanderliegenden Betten); 13. ein gedeckter Sitzplatz; 14. die Vorderseite des Hauses und das elf Meter lange Fenster; 15. die Treppe zum Dach. 6

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it dem Plan in der Tasche machten wir uns auf die Suche nach einem Bauplatz. Schon hatten wir verschiedene in die engere Wahl gezogen, als wir eines Tages von der Höhe des Hügels aus den richtigen entdeckten. Er liegt am Ufer des Sees und schien nur auf das kleine Haus zu warten. Die Familie des Weinbauern, der ihn zum Verkauf anbot, war gastfreundlich und liebenswürdig. Wir „begossen“ den Kauf gemeinsam.

Wir haben den Bauplatz entdeckt

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Die geografische Lage

un wurde die geografische Lage des Platzes unserer Wahl bestimmt: In zwanzig Minuten Entfernung liegt der Bahnhof, wo die Züge halten, die Mailand, Zürich, Amsterdam, Paris, London, Marseille miteinander verbinden... 8

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er Plan passt auf das Gelände wie ein Handschuh. Vier Meter vor dem Fenster erstreckt sich der See, vier Meter hinter der Haustüre geht die Straße vorbei. Die zu unterhaltende Grundfläche beträgt dreihundert Quadratmeter und gewährt eine unvergleichliche und unverbaubare Aussicht auf einen der schönsten Horizonte dieser Welt.

Der Plan passt ... 9

Der Schnitt

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ie Höhe des Hauses beträgt zweieinhalb Meter (das gesetzliche Minimum). Es gleicht einer am Boden liegenden Schachtel. Die aufgehende Sonne wird von einem schrägen Oberlicht eingefangen und vollzieht dann im Laufe des Tages ihren Kreislauf vor unserem Hause. 10 10

Sonne, Raum, Grün... alles ist da. Wir befinden uns auf hundertjährigem aufgeschüttetem Land. Dies hindert nicht, dass das Seewasser, dessen Niveau jährlich achtzig Zentimeter steigt und fällt, hinter der Stützmauer eindringt, was gewisse Folgen haben wird, die wir aber damals noch nicht kannten. Die Leute sagten: „Vier Meter vom See entfernt? Sie sind verrückt. Sie werden sich Rheumatismus holen, und die Blendung des Sees wird unerträglich sein!“ „Die Leute“ beobachten und überlegen nicht. Wo ist der Dampf, wenn man Wasser in einem Topf kocht? Über dem Topf, nie aber seitlich davon: Der „Feuchtigkeitsrheumatismus“ (und der Rheumatismus überhaupt) findet sich auf den Höhen von fünfzig und hundert Metern. Die Feuchtigkeit ist über dem Topf! Und die Seeblendung? Die Sonne zieht vor uns von Osten nach Westen und erreicht den Zenit nur zur Sommersonnenwende. Nie wird ihr Einfallswinkel durch das kleine Haus gehen. Sie erreicht (und blendet) die Bewohner der Hügel von fünfzig und hundert Meter Höhe. „Die Leute“ wissen vom Einfallswinkel nichts.

Das kleine Haus wurde 1923 / 24 nach den Plänen Le Corbusiers und Pierre Jeannerets gebaut. 11

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DA S KL E IN E H AU S

Die Landschaft (Zeichnung von L-C, 1921)

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ein Vater lebte noch ein Jahr in diesem Hause. Die Landschaft begeisterte ihn. Während seines arbeitsreichen Lebens, oben in den Neuenburger Bergen, hatte er uns die Augen für die Schönheit der Natur geöffnet. Doch ist die Landschaft dort karg und rauh. Auf der einen Seite riegelt die Bergkette, die letzte Stufe der von der Rhone zum Jura ansteigenden Treppe, den Horizont ab, auf der anderen liegt das tief eingeschnittene Tal des Doubs. Die Gegend war einst abgeschlossen und völlig unbewohnt; erst seit sieben Jahrhunderten ist sie zur Wohnstätte geworden. Aber die Rauheit des Klimas veranlasst jene, die die Möglichkeit dazu haben, eines Tages hinunterzuziehen an den Genfer See, wo die Rebe wächst. 15

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m Jahr 1923 war unser „Schäferweg“ noch ein verlassener Pfad, eine alte römische Straße, die die Bischofsitze von Sitten, Lausanne und Genf miteinander verband. Um 1930 war das Idyll zu Ende; das Straßenbauamt wählte

Die Straße

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Der Eingang

diesen alten Weg, um die internationale Simplonstraße auszubauen. Seither erfüllt der Lärm der Fahrzeuge die einst so arkadische Stille. Zum Glück blickt das kleine Haus nach der anderen Seite und ist geschützt. 17

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as Budget für den Bau war sehr klein. Der Unternehmer nahm eine solche Architektur nicht allzu ernst. Ich selbst war in Paris und musste mich notgedrungen auf

Das Eingangstor

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Die Haustür ist hinter der Hortensie

ihn verlassen! Man verwendete für die Mauern Hohlsteine aus Zement und Sand (gute Wärme- und Kälteleiter und daher ungünstig) ohne genügende Fugenverbindung. 19

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us diesem Grunde musste eines Tages die Nordseite mit einem Schutzmantel aus galvanisiertem Eisenblech verkleidet werden, wie es häufig gegen Witterungsschäden bei Bauernhäusern geschieht. Dieser nützliche Panzer ist außerdem sehr hübsch.

Der Schutzmantel aus galvanisiertem Eisenblech

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Gerade zu jener Zeit kam die Verkehrsaviatik auf mit ihren Kabinen aus gewelltem Aluminium (Breguet). Das kleine Haus war (ohne es zu wollen) hoch modern geworden.

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weck der hier sichtbaren Mauer ist es, die Aussicht im Norden, Osten und teilweise auch im Süden und Westen abzusperren; die allgegenwärtige und übermächtige Landschaft auf allen Seiten wirkt auf die Dauer ermüdend. Gewiss haben Sie auch schon bemerkt, dass man sie Die Mauer versperrt die Aussicht

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Die kleine Bühne für den Hund

unter solchen Bedingungen nicht mehr „sieht“. Um der Landschaft Gewicht zu verleihen, muss man sie einschränken, ihr durch eine radikale Entscheidung ein Maß geben: Den Ausblick durch Mauern versperren, die nur an bestimmten strategischen Punkten durchbrochen sind und die Sicht freigeben. 23

Ein menschliches Maß verleihen

Hier wurde so vorgegangen: Die Ost-, Nord- und Südmauern schließen den kleinen Garten von zehn Meter Seitenlänge wie einen Klosterhof ab und gestalten ihn zu einem grünen Saal. Zur Freude des Hundes – und das spielt für ein Heim 24

keine geringe Rolle – wurde für ihn eine kleine erhöhte Bühne errichtet mit einem Gitter, durch das er die Füße der Passanten auf der Straße sehen kann. Und nun hat er zu tun! Begeistert bellend rast er die zwanzig Meter vom Gitter seiner Bühne bis zum Gitter des Gartentores! Ein menschliches Maß verleihen

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ie Südmauer wurde immerhin durch einen viereckigen Ausschnitt durchbrochen, der einen auf das menschliche Maß beschränkten Teil der Aussicht freigibt und außerdem für Schatten und Kühle sorgt.

Plötzlich hört die Mauer auf

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Die Überraschung ist gelungen

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lötzlich hört die Mauer auf und das Schauspiel ist eröffnet: Licht, Raum, See und Berge. Die Überraschung ist gelungen! 27

Eine Säule

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ie Länge der Hausmauer beträgt hier vier Meter. Die Türe zum Garten, drei Stufen, der Gartensitzplatz. 28

Das Dach des Sitzplatzes wird von einer Säule getragen: sie besteht aus einem Metallrohr von sechs Zentimeter Durchmesser. Sie hat insofern eine besondere Bedeutung, als sie die alte Ufermauer überschneidet und den Kreuzungspunkt des rechten Winkels bildet, dessen Koordinaten das Wasser und die Berge sind.

Vier Meter ...

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an ist ins Haus eingetreten. Das elf Meter lange Fenster verleiht ihm Klasse! Die Rolle des Fensters ist neu: Es wird zum Hauptelement des Hauses. Für die richtigen Proportionen im Innern sind die entscheidenden Punkte: die Höhe des Der Fensterflügel, der Fenstersims, der Fenstersturz

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Durch dieses Oberlicht dringt die aufgehende Sonne

Fenstersimses, die Höhe des Fenstersturzes und die Vorhangvorrichtungen („ein guter Plan für ein Haus fängt bei den Vorhangstangen an“ dixit Corbu), die aus dünnen, mit Beton und Rundeisen verstärkten Eisenstützen Ein guter Plan für ein Haus fängt bei den Vorhangstangen an ... → 31

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bestehen und am Fenstersturz befestigt sind. Einige wenige Mauernischen sind bequem und belasten das Budget nur minimal. Ausdrucksvolle Form des Fensters. Wir werden es sogleich von außen betrachten.

Säule

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Das elf Meter lange Fenster von außen

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ie Rolle und der Mechanismus des Rolladens befinden sich außerhalb des Hauses. So wird das Eindringen kalter Luft durch den Rollladenkasten verhindert. 35

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as Fenster allein ist es, das der Fassade ihren Ausdruck gibt.

Das Fenster

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Ein echtes architektonisches Element

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mmerhin, hier, am äußersten Ende befindet sich ein echtes „architektonisches Element“ (verzeih mir, Vignole!): Ein Brett, das als Bank dient, und dahinter drei 37

Architektur

kleine horizontale Öffnungen, durch die der Keller sein Licht erhält. Das genügt, um glücklich zu machen (wenn Sie anderer Ansicht sind, gehen Sie bitte weiter). 38

Man steigt ...

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Man steigt auf das Dach

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Fünfzehn oder zwanzig Zentimeter Erde

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an steigt auf das Dach. Ein Vergnügen, das manche Zivilisationen schon in früheren Jahrhunderten kannten. Der armierte Beton erlaubt das Terrassendach und, mit fünfzehn oder zwanzig Zentimeter Erde, den Dachgarten. Wir sind oben! Das Gras ist dürr, denn wir sind mitten in den Hundstagen. Was tut’s, jedes Hälmchen bringt Schatten, und die eng ineinander verflochtenen Wurzeln bilden einen dichten isolierenden Filz. Er hält die Wärme und die Kälte ab und ist ein kostenloser Temperaturregler, der nicht die geringste Pflege beansprucht. 41

Hier das Abflussloch für das Regenwasser

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ier das Abflussloch für das Regenwasser. Das Abflussrohr, in welches auch die Auslaufvorrichtungen der 42

Waschtoiletten, der Badewanne, des Ausgusses usw. einmünden, geht mitten durch das Haus. Eines der festen Oberlichter (Glasplatten, mit Dachpappe abgedichtet), die Waschküche, Wäscheaufhänge usw. erhellen. Ein Oberlicht

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Die wilden Geranien ...

ufgepasst! Es ist Ende September. Die Herbst-Flora steht in Blüte, das Dach ist von neuem grün geworden: Ein dichter Pelz aus wilden Geranien hat alles überdeckt. Es ist wunderschön. Im Frühling gibt es junges Gras und Wiesenblumen, im Sommer eine sehr hohe Wiese. Der Dachgarten 44

... im Herbst

lebt aus eigener Kraft, gespeist von der Sonne, dem Regen, den Winden und den samenbringenden Vögeln. (Jetzt, im April 1954, ist das Dach vollständig blau von Vergissmeinnicht. Niemand weiß, wie sie hierher gelangt sind.) 45

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tützt man sich auf eine Schiffs-Reling oder auf den Rand des Daches? Auf dem Dach laufen ...

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Eine Glückseligkeit, die bisher den Katzen allein vorbehalten blieb. Man kehrt zur Erde zurück. Vom Dach herabsteigen ...

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Hier stand früher die Trauerweide

weh! Nach nahezu dreißig Jahren weist die Außenmauer Narben auf, Ausbuchtungen des Betons, es sind die Runzeln und Geschwüre des Hauses. Vergiss nicht, Leser, dass noch im Jahre 1923 dieses Grundstück nackt war wie ein Wurm; lediglich ein einziger von einer Stange gestützter Kirschbaum streckte seine kläglichen drei Zweiglein in die Luft. Heute aber wechseln Schatten und Sonne in angenehmster Weise ab. Der Bau war fertiggestellt. Sofort war man auch an das Pflanzen einer Tanne, einer Pappel, einer Trauerweide, einer Akazie und einer Paulownia gegangen – winziger und schwächlicher Baumsäuglinge. 48

Ich habe es bereits gesagt, das Seewasser drang hinter die Stützmauer ein. Die Sonne brennt, die Erde wärmt, das Wasser ist lau, die Bäume wachsen... Der Kirschbaum ist ein mächtiger Bursche geworden, und meine Mutter macht aus seinen Früchten die Konfitüre für das ganze Jahr. Die Tanne? Sie musste gefällt werden, ihr Schatten bekam der Pappel nicht. Narben ...

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Die Pappel? Sie wuchs ungeheuer. Man sägte sie mittendurch. Schließlich entfernte man sie ganz, da ihre Wurzeln die bescheidenen Fundamente des kleinen Hauses zu kitzeln begannen. Die Akazie? Sie hielt die Sonne vom Salatbeet des Die Paulownia ist allein geblieben

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Ein Kirschbaum. Die Paulownia

Nachbarn ab. Auch sie musste geopfert werden. Die Trauerweide? Sie weinte zu sehr und nahm den Schlafzimmern die Sonne weg. Sie badete ihre Blätter im See und war poetisch durch und durch! Auch die Trauerweide wurde gefällt! 51

Es blieb also nur die Paulownia mit ihren großen, dümmlichen Blättern. Ihr Stamm ist riesig und mit Moosflecken bedeckt wie eine Frühlingswiese mit Löwenzahn. Unerschrocken treibt sie Zweige nach allen Seiten und straft die Gesetze der Statik Lügen. Jedes Jahr muss „ihr“ Ast entfernt werden, das heißt der, der am meisten stört. Ein Kirschbaum. Die Paulownia

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Wasser

Das linke, vom See her aufgenommene Bild zeigt die beiden einzigen überlebenden: den Kirschbaum und die Paulownia. In vier Meter Entfernung von der Fassade hält die alte Mauer die blauen Wasser des Genfer Sees zurück, die oft von rasendem Sturm geschüttelt werden – vom „Vaudeyre“, wie er in dieser Gegend genannt wird. 53

AU C H D I E H ÄU SE R B E KO MME N D E N KE U CHHU STEN

Der wasserdichte Keller war ein Schiff.

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an konnte es ahnen: Etwas musste sich ereignen. Denken Sie daran, dass es sich um ein sehr wohlfeiles Haus handelt. Eine schwere Prüfung suchte es heim: Es barst an einer bestimmten Stelle auseinander. Die Undurchlässigkeit des Daches verhinderte eine Katastrophe. Aber man musste wissen, was los war. Wir suchten und forschten nach der Ursache. 56 56

Bei hohem Wasserstand funktioniert das Anschlussblech auf der Dachterasse!

Da wurde uns eines Tages erzählt, dass die Häuser am Ufer des Genfer Sees bei hohem Wasserstand Spalten bekommen, die sich bei tiefem Wasserstand wieder schließen. Seltsame Art zu atmen! Archimedes hat uns gelehrt: Jeder feste, in eine Flüssigkeit getauchte Körper erhält einen Auftrieb, der gleich dem Volumen der verdrängten Flüssigkeit ist ...

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Zusätzlich schützt das Aluminium vor Hitze und Regen

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Mit Wonne bemerken wir, dass der kleine Keller am westlichen Ende des Hauses – ein wasserdichter Keller –, zum schwimmenden Schiff wird, wenn das Wasser hoch steht, so dass der „Schiff-Keller“ den dem seligen Archimedes so teuren Auftrieb erhält. Zum Verständnis ist hier eine Erklärung nötig: Die Behörden senken den Seespiegel alljährlich einmal, indem sie die Rhone-Schleusen in Genf öffnen, und ermöglichen so den See-Anstössern die Vornahme der nötigen Reparaturen. Die Risse, die das Mauerwerk der alten Häuser am See alljährlich bekommt, beunruhigen niemanden. Die Ziegeldächer leiden kaum darunter. Dagegen macht ein Betonhaus mit Rissen einen recht schlechten Eindruck. Auf der Dachterrasse wurde ein elastisches Anschlussblech aus Kupfer angebracht. Um aber die jährlichen allzu augenfälligen Zeugen eines physikalischen Experimentes zu verdecken, wurde die Fassade mit einer Haut aus Aluminium überzogen. Und so geschah es.

Hinweis : Die Photographien – gemacht nach Angaben von L-C – stammen von Fräulein Peter, Lehrerin der Photographie in Vevey. 59

ZE IC H N U N G E N AU S D E M JA H R E 194 5

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wanzig Jahre nach dem Bau des kleinen Hauses machte ich mir in ein paar Stunden der Muße das Vergnügen, einige Zeichnungen davon anzufertigen. Sie bestätigen, dass die einfache Lösung aus dem Jahre 1923 architektonisch richtig ist, obgleich sie noch aus einer Zeit stammt, in der die Suche nach einer zeitgemäßen und angemessenen Wohnform die Gemüter nicht sonderlich beschäftigte. Die letzte Zeichnung vom September 1951 wurde zum einundneunzigsten Geburtstag meiner Mutter gemacht. 63

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DA S V E R B R E CH E N

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m Jahre 1924, als das kleine Haus fertig war, versammelte sich der Gemeinderat einer Nachbargemeinde, um festzustellen, dass eine derartige Architektur eine „Verschandelung“ der Natur darstelle. Aus Angst, sie möchte trotzdem Schule machen (wer weiß?), verbot er jede Nachahmung für alle Zeiten ... 80

INHALT EIN KLEINES HAUS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 DAS KLEINE HAUS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 AUCH DIE HÄUSER BEKOMMEN DEN KEUCHHUSTEN. . . . . . 55 ZEICHNUNGEN AUS DEM JAHR 1945. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 DAS VERBRECHEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

Nachwort

DIE LEBEN EINES BERÜHMTEN KLEINEN HAUSES  Guillemette Morel Journel Vor etwa einem Dreivierteljahrhundert erschien das Werk, das hier als Faksimile vorliegt. In der Tat hegte Le Corbusier bereits 1954 den Wunsch, eines seiner kleinsten Bücher, Une petite maison, einem seiner kleinsten Bauwerke zu widmen. Wenn er dreißig Jahre nach dessen Bau im Jahr 1924 zu diesem in seinen Ausmaßen von nur sechzig Quadratmetern so bescheidenen Haus zurückkehrte, so deshalb, weil ihm das „Kleine Haus“, auch „Villa Le Lac“ genannt, besonders am Herzen lag. Für seine geliebten Eltern in Vevey am Ufer des Genfersees entworfen, betrachtete er es als antiken „Tempel am Wasser“ (Brief an seine Frau Yvonne, 11. September 1924). Jenseits dieser ideellen Bedeutung liegt die Besonderheit des „Kleinen Hauses“ in der Tatsache, dass es Le Corbusier zu zahlreichen Beschreibungen veranlassen sollte. So analysiert der Architekt im Laufe der Jahre die gestalterische Entwicklung, die Baustelle, die Funktion sowie die räumliche Disposition des Hauses – und schließlich dessen „Leben“. Le Corbusier nimmt folglich eine wechselseitige Position ein, ein Mise en abyme, eine Selbstbezüglichkeit von Autor (des Textes) und Gestalter (der Architektur), wodurch Erstgenannter zum befugten Exegeten des Zweitgenannten wird. Exeget, aber auch Theoretiker, bieten ihm doch die Darstellungen seiner eigenen Gebäude die Gelegenheit, die unterschiedlichen Elemente seiner Doktrin zu formulieren und zu illustrieren. Dies belegen die aufeinanderfolgenden Bände seines Œuvre complète, die seit 1930 beim Züricher Verleger Hans 86

Girsberger erschienen, der auch die Originalausgabe von Une petite maison veröffentlichte, „Ich sage es noch einmal: Es wäre angebracht, immer wieder in seinem eigenen Werk zu lesen. Das Bewusstsein der Begebenheiten ist das Sprungbrett zum Fortschritt“, verkündete Le Corbusier bei einem Vortrag 1929. Das Buch aus dem Jahr 1954 lässt sich folglich besser verstehen, wenn es in die Zeit eingeordnet wird, in der das „Kleine Haus“ im Mittelpunkt der Arbeiten des großen Architekten stand.

Vierzig Jahre der Auseinandersetzung mit dem Werk Die erste Publikation über die Villa Le Lac erschien, noch bevor die Baustelle begonnen hatte, am 28. Dezember 1923 in der Tageszeitung Paris-Journal. Le Corbusier ergreift darin die Gelegenheit, der Kritik seines einstigen Meisters Auguste Perret zu begegnen, die dieser am Fensterband geäußert hatte. Ein Bauplan und eine Perspektive der Rückansicht des Hauses, in dessen Ferne sich die Silhouette der Alpen abzeichnet, begleiten illustrativ diesen ausgiebig zitierten Artikel, in welchem der Architekt erklärt: „Ein wahres Fenster gibt es nur auf einer Seite, doch dieses erstreckt sich entlang der gesamten Fassade und reicht völlig aus, um das ganze Haus zu belichten: Zusätzlich zu seinem Belichtungsvermögen, das ihm seine Dimensionen verleihen, schließt es exakt auf jeweils beiden Seiten an die Raumecken, die die Wände im rechten Winkel zu seiner Fläche bilden. So laufen diese weißen Wände direkt in die Landschaft, ohne das Einstellen vorspringender Mittelpfosten. [ …] In unserer Manieriertheit finden wir das Haus wenig elegant, lassen aber nicht zu, dass ihm jeglicher Komfort abgesprochen wird.“ Die Programmatik geht also über den 87

technischen Aspekt der Belichtung hinaus, um sich ehrgeizigeren Zielen zuzuwenden, die einer rein architektonischen Haltung entspringen: dem Verhältnis zwischen dem Innen und dem Außen (ein fundamentaler Punkt der sogenannten modernen Architektur) und der Inszenierung der Aussicht auf die großartige Landschaft. Drei Jahre später, im Jahr 1926, erfolgte die erste „offizielle“ Präsentation des Hauses durch Le Corbusier persönlich: In seinem Buch Almanach d’architecture moderne greifen drei Seiten mit Fotografien – drei Außenansichten, eine Innenansicht – die bekannte Kontroverse mit Perret auf. Kein Text, knappe Legenden, bis auf jene für die Innenansicht des großen Fensters, die in ihrer vertikalen Anordnung die Seite voll und ganz einnimmt: „Das Fenster hat eine Länge von 10,75 m. Im Winter ist die Landschaft so präsent, als wäre man im Garten. So sind die Tage also nicht mehr trist; vom Morgengrauen bis in die Nacht entfaltet die Natur ihre Metamorphosen.“ Während der Artikel aus dem Jahr 1923 eine Verlagerung von der Technik zur Theorie vollzieht, führt die Legende von 1926 den Leser in die Sphären der Psychologie und der Metaphysik. Bezeichnend ist auch, dass Le Corbusier gerade das „Bandfenster“ des Hauses seiner geliebten Eltern anführt, um das zu verfechten, was eine Art zwangsläufiges Element seiner Kompositionsgrammatik werden sollte: die berühmte Doktrin der „fünf Punkte zu einer neuen Architektur“. Das Fenster des „kleinen Hauses“: wesentliches Element der „Wohnmaschine“ Kurze Zeit später widmete der erste Band des Œuvre complète, der sich auf die Jahre 1910–29 bezieht, eine Doppelseite der „Kleinen Villa am Ufer des Genfer Sees 1925“. Der Bauplan (selt88

samerweise deutsch beschriftet) und ein Längsschnitt werden von sieben Fotografien begleitet, die allesamt mit knappen Legenden versehen sind – „Fassade“, „Der Garten“ etc. – mit Ausnahme, auch hier wieder, einer Innenansicht der Fensteröffnung zum See: „Ein Fenster im menschlichen Maßstab“. Paradoxerweise ist keine einzige menschliche Gestalt auf diesem Bild zu sehen – was aber den Konventionen der Architekturfotografie jener Zeit durchaus entspricht. Der Text behandelt emotionslos die folgenden Punkte: „das aufgeworfene Problem“; die Methode – „den Gewohnheiten zuwider“ – zur Lösung besagten Problems, nämlich die rationelle Entwicklung einer den Bedürfnissen entsprechenden „Wohnmaschine“; die Suche nach einem für diese Maschine geeigneten Gelände; schließlich eine kurze, auch dieses Mal wieder auf Fakten beruhende (es wimmelt von Zahlenangaben) Beschreibung der Elemente des Hauses und seiner Funktion. Diese ungewöhnliche, auf den ersten Blick unzusammenhängende Chronologie des Projektes wird von Le Corbusier ganz und gar verinnerlicht, der dann, ohne zu zögern, in seinem Buch von 1954 bekräftigt: „Den Plan bevor der Bauplatz bestimmt ist? [ …] Jawohl.“ (S. 5). In einem Vortrag mit dem Titel „Der Plan des modernen Hauses“, der 1930 in seinen Feststellungen zu Architektur und Städtebau veröffentlicht wird, führt Le Corbusier das „Kleine Haus“ an, ohne es genau zu nennen. Nachdem er dargestellt hat, dass die „architektonische Revolution [ …] verschiedene Faktoren notwendig“ macht: „1. Klassifizierung, 2. Dimensionierung, 3. Verkehr, 4. Komposition, 5. Proportionierung“, veranschaulicht er den zweiten und dritten Punkt anhand der „Reihenfolge vernünftiger Überlegungen [ …], die den Bau eines ganz kleinen 89

Hauses am Ufer des Genfer Sees leiteten“. Der in seiner Lebendigkeit an die Rhetorik von Vorträgen angepasste Text lässt abwechselnd Frage-, Nominal-, Befehls- oder deklaratorische Sätze aufeinanderfolgen, deren Verben im Präsens oder in der Vergangenheit stehen. Die Fülle von Satzzeichen und aussagekräftigen Adjektiven bildet einen starken Kontrast zur Sparsamkeit der bei den drei Illustrationen eingesetzten Mittel, die den Text begleiten: eine schematische Skizze der Sicht vom Terrain aus; eine Auflistung der Flächen jedes einzelnen Zimmers, schulmäßig zu didaktischen Zwecken erstellt; schließlich noch ein rudimentärer Plan des Hauses, auf dem die Abmessung seiner Breite und die große Wandöffnung zur Landschaft hin abgebildet sind: „Das Haus hat eine Breite von 4 m. Dieses Haus (57 m2) bietet eine Perspektive von insgesamt 14 Metern! Das 11 m lange Fenster lädt die gewaltige Natur zu Gast – ihre Unverfälschtheit, ihre Einheit –, den vom Sturm aufgewühlten See oder die strahlend friedliche Landschaft.“ Die Emphase über diese in kursiver Schrift betonten „14 Meter“ deutet darauf hin, dass es bei diesem Projekt genau darum geht: Kleines groß und schön wirken zu lassen. Wie so oft in Le Corbusiers architekturbezogenen wie literarischen Schriften bestimmt die rhetorische Figur des Oxymorons die Entscheidungen in der Schaffensphase, die auf einer binären Opposition gründen und deren Grenzen es zu überschreiten gilt. Die Zeit vergeht. Mit der einzigen Ausnahme des Buches Une petite maison sollten fünfundzwanzig Jahre verstreichen, bis Le Corbusier das Thema der Villa zweimal wieder aufgreift. Zunächst im Gesamtwerk des Œuvre complète, 1910–60, das Le Corbusier noch zu Lebzeiten, also unter seiner Aufsicht, herausbrachte. Es 90

ergänzt den ersten Band des Œuvre complète (1910–29) aus dem Jahr 1930 um zwei weitere Seiten. Der autoreferenzielle Charakter wird noch durch die Reproduktion von Teilen des Bucheinbandes von Une petite maison sowie von Fotos und Zeichnungen verstärkt – insbesondere der anlässlich des Geburtstags seiner Mutter entstandenen. Die letzte Darstellung der Villa findet sich 1960 in seinem autofiktiven Werk L’Atelier de la recherche patiente. Auf einer einzigen Seite vereinigt es nahezu alle im kleinen Buch aus dem Jahr 1954 genannten Aspekte: die Erinnerung, wachgerufen durch eine Zeichnung, die die Dualität zwischen der gerahmten Sicht durch das „Fenster“ (das die Gartenmauer durchbricht) und dem Panorama vom Haus aus betont; das große Fenster und den Bezug zum See, untermalt durch ein altes Foto mit Blick auf den See; eine schematische Analyse von Entwurfsprozess und architektonischer Lösung, belegt durch eine interessante Skizze, die Bauplan und Errichtung miteinander vereint; und schließlich die (traurige) Lektion der Geschichte, wiedergegeben in einigen bitteren Zeilen über die Ablehnung durch die Gemeindeverwaltung.

Der erste Band der Carnets de la recherche patiente Die erwähnte familiäre Verbundenheit Le Corbusiers mit der Villa Le Lac erklärt, warum er eine in den frühen 1950er Jahren auf die Beine gestellte Sammlung, die den Namen Carnets de la recherche patiente trägt, mit einer ihr gewidmeten Monografie einleiten sollte. Der Titel dieser Serie verweist auf eine Art Konzept, das er geschaffen hatte, um auf die zahlreichen Facetten seiner künstlerischen Arbeit hinzuweisen: die „recherche patiente“. Sein letztes Buch aus dem Jahr 1960 wird diese „unermüd91

liche Suche“ im Titel Atelier de la recherche patiente aufgreifen. Das intensive Engagement des Architekten bei diesem Werk beweist ein Lesezeichen, das sich zwischen den Seiten der Originalausgabe befindet und den folgenden Vermerk trägt: „Dieses kleine Buch erzählt die Geschichte des Hauses, das Le Corbusier im Jahr 1923 am Ufer des Genfersees in Corseaux nahe Vevey für seine Mutter gebaut hat. Texte und Gestaltung stammen ausschließlich von Le Corbusier.“ Gewiss, es war nicht das erste Mal, dass er dieses Gebäude vorstellte, in diesem Fall aber nimmt die Präsentation eine neue Dimension an: Im Laufe der nahezu dreißig Jahre, die zwischen Fertigstellung und Veröffentlichung des kleinen Bandes liegen, hatte der Architekt mehrfach die Möglichkeit gehabt, seine Mutter – und das Haus – zu besuchen. Bei beiden kann er den Lauf der Zeit nachverfolgen. Genau in der Wiedergabe dieses menschlich und architektonisch „Erlebten“ liegen Originalität und Reiz dieses kleinen Buches. Une petite maison erscheint 1954 als broschiertes Buch mit 84 Seiten im Format 16,5 × 12 Zentimeter. Der Einband des aktuell verfügbaren Reprints, mit der Darstellung des von Seite 6 entnommenen, grob gezeichneten Plans, unterscheidet sich von dem der Originalausgabe, die, wenngleich auch ohne Illustration, von Le Corbusier peinlich genau entworfen wurde. Damit kaschiert sie das große Feld, das für den Titel der Buchreihe vorgesehen war, deren Nennung nun vollkommen verschwunden ist. Im Buch selber ist dagegen ein wesentlicher Teil dem Bild gewidmet, ob es sich nun um bewusst skizzenhafte Zeichnungen handelt, von denen einige – auch hier wieder in grober Ausführung – mithilfe eines roten oder blauen flächigen Farbauftrags 92

gestaltet wurden, oder um Fotografien (einige aus jener Zeit) und um eine, wie er nicht zu betonen versäumt, ad hoc und „nach den Angaben von L-C“ durchgeführte Fotoreportage. Das Ganze wirkt beim Durchblättern wie ein Bildband, da die in Schwarzweiß reproduzierten Fotografien angesichts des kleinen Formats immer von beträchtlicher Größe sind: Mindestens eine ihrer Seiten ist systematisch bis zum Rand bedruckt. Die Qualität der Reproduktion ist absichtlich mittelmäßig. Dies wird besonders deutlich bei der Ansicht, der Le Corbusier, wie immer, den Ehrenplatz zuweist: einer Innenansicht vom großen Fenster – über die ganze Doppelseite (S. 32/33). Catherine de Smet erläuterte 2007, dass der Architekt-Autor-Herausgeber auf diesen grobkörnigen Effekt besonders bedacht war und sich ärgerte, wenn das kostbare Papier der Vorzugsausgabe den anschaulichen und nicht rein informativen Charakter der so behandelten Fotos schmälerte.1 Per Hand schrieb er auf den Schuber seines Exemplars folgende wütende Anmerkung: „Diese ‘Luxusausgabe’ ist idiotisch. Verlangt war mattes, offenporiges Naturpapier, die Abzüge waren ‘grob gerastert’ (wie für Zeitungen), um die Gedanken aus den lediglich andeutenden Bildern schweifen zu lassen. Hier jedoch hat das Papier alles herabgewürdigt.“ Was Le Corbusier wünschte, war also weniger realistische Beschreibung als vielmehr Evokation. Dies betraf den Stil des Textes genauso wie die Bearbeitung der Bilder. Dieser Wunsch zeigt sich in der absoluten Ablehnung traditioneller grafischer Ausdrucksformen: „Ich möchte überhaupt keine Architekturfotografien in diesem Buch. Es muss ein für alle Mal darauf verzichtet werden!“ wiederholt er im Juli 1954 seinem Verleger. Wie aber gelingt es 93

diesem Projekt, zu veranschaulichen, ohne übermäßig zu erklären und zu erzählen, ohne alles offenzulegen? Fünf Kapitel, fünf Herangehensweisen Das Buch ist in fünf Kapitel aufgeteilt, die an Länge und Gewichtung, je nach Art der Informationen sowie Charakter und Proportion der Bilder, stark variieren. Dieses allgemeine Ungleichgewicht wird abgeschwächt durch die Doppelseiten, die die einzelnen Kapitel voneinander trennen. In ihrer Leichtigkeit lockern sie das ansonsten äußerst dichte, ja sogar an ein Konzept erinnernde Buch auf. Das Prinzip ist immer dasselbe: auf der linken Seite eine farbige schematische Zeichnung, deren enigmatischer Charakter an gewisse Zeichnungen aus dem 1955 veröffentlichten Künstlerbuch Le Poème de l’angle droit erinnert; auf der rechten Seite der Titel des jeweiligen Kapitels in kleingedruckten Großbuchstaben, was ihm paradoxerweise einen erlesenen Aspekt verleiht. Die Titel selbst, die kaum etwas mit jenen eines typischen Architekturbuches gemein haben, sind die folgenden: 1. „EIN KLEINES HAUS“ (S. 4–11): Le Corbusier beschreibt auf acht Seiten die Begleitumstände, ergänzt durch sechs erklärende schematische Zeichnungen: die Region, die Auftraggeber, die „Ausgangspunkte des Plans“, die „genau den einzelnen Funktionen angepassten Dimensionen“ und die „Konsequenz“, die er daraus abgeleitet hat: einen „Rundgang“, illustriert anhand eines Plans (der für den neuen Einband verwendet wurde), auf dem fünfzehn Stationen entlang eines Architekturspaziergangs aufgezeichnet sind; die Suche nach einem Terrain, das sich für den Plan dieses Hauses und den Bau desselben, „einer am Boden liegenden Schachtel“, eignen sollte. 94

2. „DAS KLEINE HAUS“ (S. 14–53): Der Übergang vom unbestimmten Artikel „ein“ zum bestimmten Artikel „das“ deutet darauf hin, dass sich das Thema konkretisiert. Alles in allem umfasst dieses Kapitel die Hälfte des Bandes. Le Corbusier gelingt hier der literarische Kraftakt zwischen Beschreibung und Erzählung. In einem oft lyrischen Stil und mithilfe von 36 Fotografien aus einer Reportage jener Zeit (aber ohne eine einzige Zeichnung) schildert er die Inszenierung der Landschaft im kleinen, umfriedeten Garten, das Leben des Hauses, seine Probleme mit Rissen, Isolierung etc. Das Vorhaben ist nicht immer leicht, da der Architekt des Gebäudes, der auch Autor jener Architekturbeschreibung ist, mehrere Ebenen der Beobachtung – von der eher konzeptionellen bis zur eher prosaischen – und mehrere Zeitphasen vermengt: den Bau des Hauses Anfang der 1920er Jahre; den Ausbau der öffentlichen Straße im Jahr 1930; die nachträgliche Verkleidung der Fassaden mit Eisenblech; das Altern des Gartens und seiner Bäume – zu dem auch der Hund („und das spielt für ein Heim keine geringe Rolle“) mit seinem Spielen beigetragen hat. Um seinen Leser (auf den sechzig Quadratmetern) nicht allzu sehr zu verlieren, lädt Le Corbusier ihn zu einer Führung ein – die nicht ganz der Reihenfolge des im vorangegangenen Kapitel beschriebenen „Rundgangs“ entspricht, ihn aber auch beim Durchqueren des Hauses von der Fassade der Straßenseite hin zur Seeseite begleitet. Im Hausinneren begeistert er sich für „das Hauptelement des Hauses“ (S. 30), das große Fenster, das allein „der Fassade ihren Ausdruck gibt“ (S. 36). Eine Doppelseite mit dazugehöriger prosaischer, überraschender Legende wurde ihm bereits gewidmet: „ein guter Plan [für ein Haus] fängt bei den Vorhangstangen an …“. Eine Legende, die umso mehr irritiert, als 95

sie – in Form eines ironischen Eigenzitats – dem Text selbst entnommen ist (S. 31): „ein guter Plan fängt bei den Vorhangstangen an – dixit Corbu“. Schnell tritt besagter Corbu wieder aus dem Haus, um auf das Dach zu steigen, wo er bewundernd bei der schönen Aussicht und der Vegetation verweilt, die dort oben von allein wächst. Wieder hinabgestiegen, schildert er lange, mittels kraftvoller medizinischer Metaphern (die ihm seit L’Esprit nouveau lieb und teuer sind) die altersbedingten Veränderungen an Bäumen und Haus: „O weh! Nach nahezu dreißig Jahren weist die Außenmauer Narben auf, Ausbuchtungen des Betons, es sind die Runzeln und Geschwüre des Hauses.“ (S. 48). 3. „AUCH DIE HÄUSER BEKOMMEN DEN KEUCHHUSTEN“ (S. 56–59) setzt diese pathologische Ader fort. Dieses kurze, sich über vier Seiten erstreckende Zwischenspiel schildert in der Weise einer heiteren Anekdote die Risse und Bewegungen, die aufgrund des Wasseranstiegs im See entstanden sind, und die gefundene Lösung einer Verkleidung. Zwei didaktische schematische Darstellungen sowie ein Foto vom Zustand des „Kranken“ (der Fassade zur Seeseite) nach der Sanierung (durch die „Haut aus Aluminium“) dienen der Illustration. Ist der heutige Besucher vielleicht auch schockiert über diese disparate Wirkung der Hülle, so schien sie Le Corbusier allerdings kaum zu stören. Musste er Veränderungen an seinen Werken rechtfertigen, pflegte er zu sagen: „Das Leben hat immer Recht“. 4. „ZEICHNUNGEN AUS DEM JAHRE 1945“ (S. 63–77): „Zum zwanzigjährigen Jubiläum des kleinen Hauses“, so der Autor, widmet er sich dem „Vergnügen, einige Zeichnungen davon anzufertigen“. Zehn Jahre später werden diese auf sieben Doppelseiten abgedruckt, mit – aller scheinbaren Ungeschicklichkeit 96

zum Trotz – sorgfältig im Nachhinein aufgetragenen Farbflächen. „Sie bestätigen“, so Le Corbusier, „dass die einfache Lösung aus dem Jahre 1923 architektonisch richtig ist, obgleich sie noch aus einer Zeit stammt, in der die Suche nach einer zeitgemäßen und angemessenen Wohnform die Gemüter nicht sonderlich beschäftigte“ (S. 63) – eine Art und Weise darauf hinzuweisen, dass der Entwurf des Hauses sich im Kontext einer Reflexion über die „Minimalwohnung“ einordnet, die die Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) 1933 entwickeln sollten. Die Datierung dieser Skizzen verweist a priori auf keine spezielle Lebensphase des Hauses. Warum aber wird sie genannt? Zweifelsohne um zu beweisen, dass Le Corbusiers Interesse am „Kleinen Haus“ von Dauer ist. Im Übrigen trägt die letzte Skizze das Datum 1951 und ist dem Geburtstag seiner Mutter – der Seele dieses Ortes – gewidmet! 5. „DAS VERBRECHEN“ (S. 80): Der klassische Aufbau der Tragödie – sechs Zeilen künden dem Leser an, dass dieses Haus nicht reproduzierbar ist. Dieses kleine Buch mit einer so pessimistischen wie trockenen Bemerkung abzuschließen, mag verwundern, gehört aber zu einer rhetorischen Eigenart Le Corbusiers, die er sein Leben lang beibehalten sollte: die Selbstdarstellung als unverstandener Märtyrer der modernen Architektur. Und dennoch: Wenn auch die Verbitterung das letzte Wort zu haben scheint, so ist das, was bleibt, eine Aussicht, ein großes Fenster, eine liebende Mutter, ein Haus und Bäume.

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Von der Erzählung zur Beschreibung und umgekehrt Glaubt man der bereits erwähnten Umschlagklappe, so erzählt dieses Buch eine Geschichte: jene des „Kleinen Hauses“. Um aber diese Erzählung wiederzugeben, greift Le Corbusier auf zahlreiche Beschreibungen zurück. Wenn das Werk mit dem Incipit „Der Bauplatz …“ beginnt, das mit seiner hängenden Interpunktion, ähnlich der traditionellen Wendung „Es war einmal ...“, zu einem kurzen Anhalten des Atems führt, wenn es sich auf dem dramatischen Höhepunkt des Kapitels „Ein Verbrechen“ wieder schließt, wenn es sich folglich Elementen bedient, die dem Aufbau der Erzählung eigen sind, so dient sein Zweck eher der VerBild-lichung eines Gebäudes. Dem berühmten Satz der Antike ut pictura poesis wird hier auf eindrückliche Weise entsprochen. Bekannt ist, dass Le Corbusier in vielen seiner Texte eine Doppelfigur – zugleich Subjekt und Objekt des Themas – annimmt. Im Fall des ersten Bandes der Carnets de la recherche patiente intensiviert sich diese Dualität noch. In der Tat sollten sich zu diesen beiden Positionen von Autor und Architekt noch folgende hinzugesellen: Der Illustrator – der Architekt ist Autor der erläuternden (im ersten und dritten Kapitel) oder der „vom Künstler“ stammenden Zeichnungen (im vierten Kapitel) – , der künstlerische Leiter der Fotografien (zweites Kapitel), der Grafiker und Produktionsleiter (zuständig für Seitenumbruch, Kontrolle des Rasters der Fotogravüren und Papierwahl), schließlich sogar der Pressesprecher und, sofern er sich um den Vertrieb des Buches kümmert, der Handelsvertreter. Das Archiv der Fondation Le Corbusier bezeugt diese abwechselnd oder gleichzeitig gespielten Rollen anhand einer Vielzahl von aufeinanderfolgenden Entwür98

fen, Manuskripten, Skizzen, internen Notizen oder auch von drei maschinenschriftlichen Fassungen sowie im Schriftverkehr mit dem Verleger. Im Grunde genommen, findet sich die „auf Antithese und Paradoxon gründende Komposition“, die Bruno Reichlin in seiner meisterhaften Strukturanalyse des „Kleinen Hauses“ darlegte, in ihren abstrakten wie konkreten Dimensionen auch in der Art und Weise wieder, in der Le Corbusier dreißig Jahre später – durch Bild und Text – eben dieses Gebäude präsentiert: Die Ebenen der theoretischen Abhandlung überlagern sich, sofern sie nicht gänzlich divergieren.2 Gleichwohl: Letzten Endes findet das Buchobjekt gerade in dieser Komplexität seine Kohärenz und seine Autonomie.

Übersetzung aus dem Französischen von Beate Susanne Hanen

1

 atherine de Smet, Vers une architecture du livre. Le Corbusier, édition et mise en pages, C 1912–1965, Baden, Lars Müller Publishers, 2007.

2

Bruno Reichlin, „La ‘petite maison’ à Corseaux, une analyse structurale“, in: Le Corbusier à Genève, Payot, Lausanne, 1987.

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BUCHGESTALTUNG VON LE CORBUSIER Übersetzung aus dem Französischen: Elsa Girsberger Library of Congress Control Number: 2020931556 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Neuausgabe der Originalausgabe von 1954 Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich (ISBN 978-3-0356-2068-9) und auch in französischer Sprache (Originalausgabe): Print (ISBN 978-3-0356-2065-8) und E-Book (ISBN 978-3-0356-2070-2) sowie in englischer Sprache: Print (ISBN 978-3-0356-2066-5) und E-Book (ISBN 978-3-0356-2068-9) erschienen. © 2020 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston © 2020 Fondation Le Corbusier, Paris Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF∞ Printed in Germany 987654321 ISBN 978-3-0356-2067-2 www.birkhauser.com