Ein Foto aus Berlin. Essays, 1997-1994
 9783882212754

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Lasz l6 F. Földenyi

Ein Foto aus Berlin Essays, 1991-1994

Aus den1 Ungarischen übers etzt von Hans Skirecki

Matthes & Seitz

Di e deut sche Au sg ab e ve rd ankt ein e Fö rd e run g de r Üb ersetzun g d em D eut schen Akad emi schen Au stau schdien st , Berlin er Kün stlerpro g ramm.

© 1996 Match es & Seitz Ve rla g G mbH , Hiibn e rstr 11, 806 37 Mün chen.

yk ep Berli11Alle Rech te vorb ehalt en. © Für di e Ori g in alau sga be Egy Fe11 biil, Liget Kö n yve k , 1995. H erstellun g und Um schla gges taltun g Bettin a erg. Satz: Wirth , Best , Mün ch en. Um schla g fot os : Hans Jii, l e,, Sy bCJ'b Mün chen. Dru ck und Bindun g : Spi ege l, Ulm.

ISBN 3- 88221-2 75- 6

INHALT

I. Ein Foto aus Berlin

I 1

II. Ich bin ich - für mich - und zug leich du - für andere Anlehnung durch Ab lehnung . . . . . . . . . . . Die Schule. Walter Benjamin: Deutsche Menschen An der Grenze zwischen Vergangenh eit und Zukunft Perspektiven der Freiheit . Aufklärung um jeden Preis Masken der Machtgier

33 47 65 71

85 95 l I 5

III. Die Last der Heilssuche Im Zaub er der Reichsschönheit Architektur des Untergangs Schindlers Liste: der diskr ete C harm e der Aufk lärun g »Große Wahrhaftigkeit< < Deutsch es Leid . . . . . Verwirrun g der Gefühle

I

27

141

165 177

193 209

227

I V. Berlin er Tagebuch 1988-89

237

D enn Anges ich ts vo n Nawr und Gesch ichte, angesichts Natur

d er g ründlich en U11111omliii1vo n

und Geschichte

war Kan t, wie jede r

g ute Deut sc he von Alt ers her, Pessi llli st; er g laubte an die Moral, Natur

nicht weil sie d ur ch

und Gesch ichte bewi ese n wird, so n-

dern

trotzdem

Geschichte (... ) Nichts tieferen

dass ihr dur ch Natur

und

beständi g w id ersproc hen wird. nämlich

Eindruck

ge lllac ht. Nichts

hat von jeher

c111cn

auf die deutsche hat sie mehr

See le

»vers ucht «.

als diese gefä hrli chste aller Schlu ssfo lgeru nge n , welc he j ede m recht en Romanen Sünde

wider

den Geist

e111 e

ist: cred o q11ia

absurd um est: - mit ihr tritt d ie de u tsche Lo g ik zuerst in d er G esc hicht e des chri stlichen Dogma 's auf; ab er auch heute noch. ein J ahrtau se nd später,

wi ttern wir Drnt-

sc hen von hem e, spät e D eut sc he in jedem Bet rac hte -

Et was vo n Wahrh eit .

wir

sind ebe n. soga r bis in die Lo g ik hin ein. Pcss in1istc n. l· IU EDHICII

NIETZSCHE,

/\l/01:Rcllrii ,/1e, 18//7

Die Wirt sc haftskris e, dies e P rim ado nna des öffcmlichen

Int eresses, die große starhaft e,

ist so da mit allem Pomp , so weit vorne an der lbmpe

der Erei g ni sse, so ,1lk s verstel -

lend, daß sie ihr en wa hr en Ernährer, mit Proviant

der sie

aus fin ste ren Eta p pen spe ist.

un se ren gefä hrli chs ten Fein d : die K1·isc des

Ceis11·s im Verborgenen

hält. Di eses ko lll-

p lizc nhafte Zusammensp

iel hat Jene drau f-

g:ingcri schc Agonie erzeugt , in der cill Volk

von

Erwac hsenen

Elan dem nachtung

mit d em ihm

Kommando

eige nen

zur ge ist ige n Um-

Fol ge zu leisten sich ansc hi ckt. FRIT Z KO RT NER,

l Gast< und >Gegner< we ist darau f hin , daß das An derssein ein Pro bl em ist , das sich ni cht mi t ent spr echenden Mitt eln und M aßn ahm en üb erw ind en läßt, so nd ern in 44

dem wir ein un ausschaltbar es Element de s Lebens sehen müssen. Fremdheit ist nie liquidi erbar; auch die über zeugendste Erhellung wird mich ni cht dazu bringen, j emanden , der ein fremder ist, nicht als fremder zu sehen. »Er hellun g« - als ob es sich um ein technisc hes Problem handelte, als ob gar ich die ausschließliche Quelle des Lichtes wäre. Dabei »beleuchte« ich den Fremden in Wirklichkeit vergebens: an mir gemesse n , bleibt er im »D unkeln «. Statt Erhellung wäre eher ,,Eindunklung« nötig: zulassen, daß das Fremde, das »D unkl e« auch mich überschattet, damit ich die Konturen des auch in mir vorhande n en »Unerhellbaren« sehen kann. Davon bleibe ich noch ich; glei chze itig aber bemerke ich , wie es das als Titel verwen dete Feuerbach-Zitat sagt, auch den in mir lauernden Anderen - den, der aussc hli eß lich für mich Ich ist, für die anderen aber Du. Dann erst kann ich bemerken, was der Fremde und ich geme in haben: das Andere. Der Fremde bleibt davon noch fremd; aber ohne das könnte sich mein vorläufig noch gesundes Verhältnis zu ihm nicht ändern. Nun zeigt sich, daß die Fremdheit kein Defekt ist, der um jeden Preis behoben werden muß. Sie ist notwendig; ohne sie könnte ich - und wir kommen zu einem früheren Gedanken zurück - auc h von der paradiesischen Unschuld nichts wissen. Das Fremdheitserlebnis ist der göttliche Umweg zur Versöhnung mit mir selb st - und an, Ende dieses Umwegs steht auch der Andere , den jeder benötigt. Die Begegnung mit einem Westberliner Busfahrer, bei der w ir beide unsere gegense iti ge Fremdheit spüren; ein Gastarbeiter, den ich nicht als Gast, sondern als Gegner sehe; ein fremdes Volk, das ich für minderwertig halte aber auch ein fremd es Gesic ht, in dessen Anderss ein ich mich vert iefe; ein fremder Körper , den ich mir zu eigen machen möchte; ein fremder Gedanke, der mich verwirrt und verstört. Alles berührt und trifft mich anderswo: meme Gedanken, meinen Verstand, meinen Gesc hm ack, meine Sinnlichkeit, meinen Magen, m eine Haut, meme 45

Einsicht. Ni chts in und an m ein em Wese n könnt e ni cht zur Angriffsflä che für das fr emd e we rd en. Di esem An g riff bin ich imm er wi eder ausgese tzt . Und w enn ich gewa hr we rd e, daß ich ir ge ndwi e auch selb st Teil der Fremdheit bin , daß das uni ver selle Ander ssein mi ch ni cht nur ang reift , so nd ern vo n vornh erein in mir nistet, dann entd ecke ich für di e politi sch e, ex istenti elle, psyc holo gische, ethn olog ische oder religiö se B edeutun g d er Fr emdh eit den ge m ein sam en Nenner , da s, w orin sie ein and er und mir ähn eln. D ann lern e ich mit di eser Fremdh eit zu leb en, und schli eßli ch w ill ich alles, w as an mir gem esse n fremd ist, ni cht dur ch die Betonun g m ein er eige nen Id entit ät aus m ein em Leben filt ern , sond ern ich find e dur ch di e Ak zepti erun g der Fr emdh eit den Weg zur Fremdh eit m ein er selb st, zu di eser lan ge unb emerkt ge bliebenen , ve r gesse nen Wur zel m einer Id entität.

ANL E HNUN G DUR C H ABL E HNUN G Über nationale Identität und Lit eratursprache

Reden wir n icht sc hl ec ht üb er den Nati o n alismu s. O h n e d ie nati o n alistisc he Virulen z würde ü ber Europa un d die Welt sc ho n ein tec h ni sc h es ,

rationales,

rium he rr sc h en.

u n ifo r m es

lmp e-

Der Nat iona lism us wa r

di e let zte Verkrampfun g des Indi vid uum s anges icht s des g rauen Todes, der se iner harrt.

Und rlocl,: Das A u fkommen in jeder

Nation

de s Natio nalis m us de u tet d arauf hin , daß ihr e Orig i-

na lität am Erlösc hen isr. N ICOL.-\S GÖMEZ

D tl V IL A

I. In de m Land , wo ich lebe, läu ft es v ielen kalt üb er d en Rü kk en , we nn sie di ese n Au sdru ck hö ren: n ati o n ale Identi tä t. Z u d iese n ge hö re ich au ch . Di ese r Beg riff ist im Wo rtsc hatz d es öffe ntli ch en Leb en s in Un ga rn d er Au sdru ck , de r in d en zur ü ckli ege nd en J ahr en di e g röß te K arri ere ge m ac ht hat . Ei n klan gvo ller Au sd ru ck, an d em m an sich leicht fest halt en ka nn und mit d em j ed er P o litik er mit Leich tig keit A nh än ge r gew innt. Ein e ve rrühr eri sc he Wo rt b indun g: ma n g laubt , m an äuß ere fre i se in e M einun g, und m erk t ga r ni ch t, w ie we ni g m an frei ist. M an ist Gefa n ge n er ält erer Stereo ty pen , G efan ge n er d er Welle n ati o n alistisc her Vo rurt eile , w ie sie g an z Europ a kenn ze ichn et. Mit eine m Wo rt , w ir h ab en es ni cht mit Fr eih eit zu tun , so nd ern mit freiw illige r Gefa n ge n sch aft .

47

Nationale Identität: diese beid en Wörter haben längst ihre Unschuld ver lor en. Vielleicht so llt en sie ga r nicht beachtet werden . Und dennoch , wenn ich sie höre, ver krampft sich etwas in mir, denn gerade mit diesem Ausdruck vers uchen vie le eine Reinheit zu suggerieren, wie sie nur eine nie gese hene Landschaft, eine zum erstenmal gehörte Musik besitzen mag. Er bedeutet also etwas ande res, als er beim ersten Hören mitzuteilen scheint . Er enthä lt eine scheinbar neutrale Aussage, die abe r dazu imstande ist , nichtneutrale Gefühle aufzuwühlen, denn zu sein em Kern gehören untr ennbar solche Be gr iffe wie die Begehrlichkeit, die Aufforderung , die Rach e, die Ablehnung, die No stalgie, die Resignation, der Zynismus, die zerdr ü ckten Tränen, die kitschige Betrübnis und die Inbrun st. Jeder hört heraus, wofür er empfang lich ist, und natürlich möchte er diese Teilbedeutung für volle Wahrheit halten. Es ist ein hermeneutisches Problem, und trotzdem können sich in Ungarn die Menschen de swegen in die Haare geraten . Was den Verdacht aufkommen läßt, daß die echte Bedeutung der nationalen Id entität vielleicht nicht in dieser oder jf'.ner Tei lw ahrh eit zu suchen ist , sondern in diesem »ln-dieHaare-Geraten« - in Zank und Streit und Angriffen , was die, die diesen Ausdruck verwenden, zu einer echten Gemeinschaft macht . Den ho chmüti gen, beleidigten, belehrenden oder Rechenschaft fordernden Tonfall haben alle gemeinsam - er ist es , der den Nationalisten ebenso ausze ichnet wie den Kosmopoliten , den Liberalen ebenso w ie den Konservativen, den Linken ebenso wie den Rechten. Und das läßt einen weite ren Verdacht aufkommen : Wäre es möglich, daß hint er di esen Wörtern gar kein echter Sinn steckt? Daß sie keine andere Rolle sp ielen als im Ge ländespie l die Zahl, die man sich an die Mütze steckt? Und daß der Magen, die Haut, das Herz, das Blut von etwas ganz anderem sprechen als der Mund, der Begriffe leiert? Wörter, Wörter, Wörter: noch nie ist in Ungarn so vie l

gerede t und gepredigt wo rd en w ie in diesen Tagen; aber noch ni e sind auch die Wörter ihr er Bedeutun g so entl ee rt wo rd en w ie gegenwärtig. Es läuft mir also kalt üb er den Rücken , w enn ich di esen, von einer Pyramide der Verdrängun ge n bedeckten Ausdruck hör e: Nationale Identität. J e länge r ich üb er seinen Sinn g rüble, um so verwaister fühle ich mi ch. Nicht nur, daß der Glaube an die Iden tit ät mit meine m Selb st zerrinnt , auch me in e Vorst ellun g von der Art und Weise meiner national en Id entit ät wird immer nebulös er. Und zugleich wäc hst natürlich m ein Widerstreben . D enn ich komm e aus ein er R eg ion Europas, wo mei nes Wissens noch ni ema nd sich seine Un schuld bewahren konnte , wenn er die Frage der N ation, horribil e dictu, der nationalen Identit ät zu erg ründ en versuchte. Etwas suggeriert mir , daß es sehr wo hl eine nationa le Identit ät gib t (ich ka nn ni cht sagen, ich wä re ja so ge rne ein Un gar, wen n ich doch ein Ungar bin ); aber soba ld ich hint er ihr e Komponent en ko mm en möcht e, ge rät alles durch ein ande r. Di e Id entit ät macht der Verw irrun g P latz . Wär e die gemei nsame Sprache ihr Kriterium? E in e magere Annahme; und üb er haupt, auf sie beruft sich nur, w em endgülti g alle Ar gum ente ausgegangen sind. Oder ist di e gleiche et hnische Geme in schaft Voraussetzung der national en Id entit ät? Dazu wä re eine rass enr ein e Nation in anthropologischem Sinne nötig; ich vermute aber , derlei finden wir ni cht einm al m ehr bei den verstecktesten Stämmen der afrikanischen Urwä lder. Oder setzt nation ale Identität di e politische Loyalität voraus' M an che sage n das; ih ne n sollten w ir besser mit Mißtrau en begegnen. Oder ist eine p olitis che Gemei nschaft , genauer, eine Staatsformation Bedingung für di ese Identität? Viel e, beso nders in Westeuropa , sage n: Ja. Ich sage, etwas leiser : Wi e g ut, wenn es so w äre. Ein beträchtl icher Teil m ein er Landsl eute aber rea gier t auf di ese Annahme j e nach Temperament mit einem Aufstö hn en oder ein em Aufh eul en. M an ist sich also nicht eini g . Angesichts der unter schi ed49

lichst en Definitionen , von den en die m eisten immer ein wenig - aber nur ein wenig! - Wahrheit enthalten, könnt e ich soga r behaupten , daß der Begr iff der nation alen Identität erst mit seiner Unbegr eiflichk eit plast isch zu werden beg innt - zumindest bei uns , in Mittel- und O steuropa , wo dies er Begriff mich am ehesten an ein großes, gewaltiges Loch erinnert. Deshalb schaudere ich, wenn ich ihn höre . Ich weiß, diesem Loch ist schwer auszuweichen; aber ich weiß auch, wenn ich hineinstürz e, werde ich auc h nicht klüger.

II. Nicht zufallig sagt man, einer gegebenen N ation anzugehör en bedeute eine schicksalhafte Determiniertheit. Das Schicksal aber ist Möglichkeit ebenso wie Fügung. Wem eine Fügun g zuteil wurde, der ist rech tens neidisch auf den , dem das Leben eine reiche Auswahl an Mögli chkeiten bietet; der letzt ere bedauert den ersteren, aber wie ein ungarischer Dichter angesichts des Reich en, der den Armen bemitleid et, schre ibt: seine Sorgen zu trag en, solch Narr ist er nicht. Auf dem Weg von Mitteleurop a nach Westen fallt etwas auf: wie unt erschiedlich der Klang der Frage nach der nationalen Identität westlich b eziehung swe ise östlich des Rheins ist. Wenn ich laut die Frag e stell e: was ist die französische Identität?, dann läßt sich ung efähr ahnen, wo h er das Echo kommen w ird. In etwa von der deutschen , der schwei zerischen, der italienischen be ziehun gswe ise der spa nis chen G renze, um die Meere gar nicht zu erwähnen. Aber wenn ich etwas Ähnliches in Ungarn rufe - wie es heutzutage immer mehr tun-, dann warte ich vergeblich auf ein Echo. Die Frage schwingt sich über die Landesgrenzen hinweg und löst sich irgendwo in der Ferne in nichts auf. Kein Wunder , daß jetzt viele immer verbitterter und immer lauter rufen. So lan ge, bis sie schließlich doch das Echo hören 50

- aber dieses Echo kommt von der Mau er ihrer eigenen Seele zurück, die sie deshalb für den Schutzschild der nationalen Identität halten. Sie entd ecken die Kriterien der nationalen Id entität nur in der eigenen Gefühlswelt und sehen darin ein e rein innerliche Frage, eine Privatangelegenheit , di e andere Nationen - da sie es ohnehin nicht verstehen würden - nichts angeht. Das Hinterfragen der nationalen Identität übernimmt die Rolle einer Ersatzreligion . In den westliche n Ländern Europas verfügt das Problem des Nationalg efühls über eine Grundlage, von der aus sich auch Diskussionen und Dialoge führen lassen. In Ost- und Mitteleuropa hat die Geschichte alles in solchem Maße durcheinandergebracht, daß das Nationalgefühl nicht zum Diskussionsgegenstand werde n kann. (1974 wurde z.B. in der DDR der Ausdruck »deutsche Nation « sogar aus der Verfass ung ges trich en.) Eher kommt es in einer Un zahl von Monolo gen zum Ausdruck. Dieser östliche und der westliche Habitus können einander nic ht verständ lich mach en . Ni cht nur ihr e Sprache ist anders, auc h ihre historisch en Erfahrungen unterscheiden sich grundlegend. Wenn im Zusammenhang mit der Frage der n ational en ld entität der Westler den Ostler romantisch und grund los sentimental nennt und dieser wiederum den anderen für gefühllos und kalt rationalistisch hält und sich im Hochmut sein er eige nen Kulturüberlegenheit gefallt (was für die gesa mt e Region von Gombrowicz mit schonungslo ser Selb stkritik en tlarvt wurde), dann sind die se Anschuldi gun ge n doppelt verräterisch. Zum einen en tlarven sie den, dem sie gelten: Unbestreitbar steckt in den Behauptungen beid er Seiten eine tüchtig e Portion Wahrheit. Zum anderen abe r ist - der weltweit geübte n Method e der Ver drän gung und der Projektion entsprechend - die Beschuldigung auc h eine Selbstbeschu ldi gung. Denn es ist nicht ungere chtfertigt, die Frage zu stellen, ob nicht j ede Seite die andere wegen etwas verdammt, dessen sie selbst bedürft e und da s ihr - aus gew ichtig en Gründen - schmerzlich fehlt.

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Was nimmt der eine beim anderen wa hr ? In erster Linie das N ega tive, w ie di e vergangenen zwe i J ahrhund erte zeigen - als ob wir nichts vo nein ander lernen könnten. Der Franzose, der En glän der, der Niederländer und selb st der Spanier beze ichn en den Deutschen, den Polen, den Ungarn, den Tschechen als sen tim enta l - und das ist relativ lobend gemeint . In Wirklichkeit gebührt ihnen, deren Seele in ihrer Situation gemessen unverhältnismäßig weit sei, eher Argwohn. Der Westler wundert sich und versteht nicht, daß der Os tler außerstande ist, darüber nachzudenken, warum sein e nationalen und staatliche n Rahmen sich nicht decken, wie er auch nicht verste ht, warum der Ost ler nicht zu der bescheidenen Einsicht neigt, daß er für seine heut ige, zumeist als un ers pri eßlich er lebte Situation in gew issem Maß selbst verantwortlich ist. Er bringt auch kein Verständnis dafür auf, daß im Osten die metaphysischen Spekulationen, vors ichti ger ausgedr ü ckt: Schicksals fragen so lebensfäh ig sind und daß sie zu einem barockartigen Wuchern der geist igen Leistungen führen, wie Verg leichba res in den lateini schen, aber besonders in den ange lsächsischen Gegenden schwer zu finden ist. In den romantisc hen Spekulationen gewahrt er ein Zeichen von Hilf1osigkeit; er sieht sie als Kompensation, als Selbsttrost, vom Ostler herausgebildet als Ersatz für die versäumten politischen Möglichkeiten. Der Wahrheitsgehalt vo n alledem ließe sich schwerl ich bestreiten. Das jahrhundertelange E lend der polit ischen Z ustände in Mittel- und Osteuropa hat nie jemand ge leug net. »In der Qual der Erde wurze lt die Romantik, und so wird man ein Volk um so romantischer und elegischer finden, je unseliger sein Zustand ist«, mit diesen Worten zitie rt Carl Schmitt in seiner Monographie über die politische Romantik den Junghegelianer Arnold Ruge.' Dieses 1.

Ca rl Schm itt: Politische Romantik,

Ber lin 1982, S. 35-

52

Duncker

& Humblot,

Elegisc he, Romantische ist di e Erk lärun g dafür, daß die os teuropäis chen Völker gegebenenfalls J ahrhund erte im Wint erschlaf vert räumen , sich aber dann, wen n ein e Möglichk eit zum Handeln best eht , nicht zu schön ge istigen Taten, so nd ern zu sinnlo ser Anarchi e, zu Z erstörun ge n und im besse ren Fall zu zielloser Zwietracht hinr eißen lasse n. Sie schwanken zw ischen den beiden Extrem en der Fur cht vor dem Tod der Nation und der national en Aggression, und während sie einerseits auf üb erwä lti gende Weise m etaphy sische Schicksalsfrag en an alys ieren, sind sie ande rerseits ersc hütternd engstirnig, we nn es um praktis chpolitis che E nts cheidungen geht. Ab er w ir w ollen sehen, was ihm am Westl er auffa llt. Er bez ichti gt ihn der Gefühllosigkeit und nennt ihn einen herzlosen Vernunftmenschen, w ähr end er ihn gleichzeiti g aus tiefster Seele beneidet , we il der Westler zufriedener und er fol gre ich er ist. Seine seit Jahrhund erten anda uernd e Mißerfol gsse rie bringt er de shalb , um sie zu ent schuldi ge n , mit der T iefe in Z usammenhang. Er spricht von sich selbs t als ein er K ulturn ation und sieht im and eren j edo ch ein e bloß e Staat sn ation 2 , auch d am it zum Au sdruck brin ge nd, wie wenig es ih m behagt , wenn das Gebild e der N atio n aus schli eßlich als politische Kat ego ri e behand elt wird. Und daran liegt es au ch , daß es zu irr eparabl en Wirrnis sen führt , wenn di e ein e Seite sich in das Leben der and eren ein zumi schen vers ucht . D enk en wir zurü ck an das Friedensprogramm Wil so ns vo nJanuar 1918, das bi s zum heuti ge n Tag best immt , w ie man in Mitt eleurop a üb er di e n ational e Identit ät denkt. E r wo llte der für Westeurop a gü lti gen, im Prin zip wo hlk lin ge nden K atego rie des Selbstbest immun gsrec htes der Völker in ein er Reg ion zur Ge ltun g ver helfen, wo dafür ni cht die Voraus setzun gen be stand en. Da s E rge bni s war, daß Mitteleuropa ni cht dem Weste n ähn lich 2.

V g l. Friedri ch M einecke: Weltbürgertum und Nat ionalstaat,

Mün ch en 1962, S. 10.

53

wurde , sond ern no ch tief er in seine Östlichk eit ver sank. Ein e an sich ration alistis che Üb erleg un g bereitete die Brutstätte der mod ern en N ation alism en vor. Di e b eiden Lukac s- Schül er A gnes H eller und Fere n c Feber drü cken es so au s, auch im N am en d er Un ga rn , die unt er der ent standen en Lage eb enso litt en , w ie die and eren N atio n en vo n Mittel europa: »Al s Prä sident Wilson die mor alisc hen und politi sch en Lehr en aus dem Welten brand des Er sten Weltkri egs in der Lo sun g von der uni ve rsellen An erk ennun g des nati onalen Selb stb estimmun gs recht s zusamm en zufassen ve r suchte und alle Versu che, ein e univ erselle Aut o rit ät zu schaffen , di e zw isch en berechti g ten und unb eg ründ eten An sprüch en unt erscheid en könnt e, scheitert en, d a wa r das E r ge bni s ein e K ett enr eaktion , die unmitt elb ar zu ein em neu en Welt enbrand führt e.« J Wi e schwe r es ist, ein en R o m an oder ein Ge di cht zu üb erse tzen ; als Fußn o te müßt e die Gesc hi chte ein er ga nzen Kul tur unt er der Üb ertr ag un g stehen. Und w ie sch we r ist es erst , au s ein er Spr ache in di e and ere hi stori sc he E r fahrun ge n zu üb ersetzen , o hn e daß w ir sie erleben . De r Westeurop äer ve rsteht unt er natio naler Id entit ät etwas g rundlege nd and eres als der Mitt el- und Os teur o päer , und j eder ve rm erkt beim and eren , w ie schon gesag t , das N ega tive . Ab er n ega ti v nennt er , was ihm selbst schm erzlich fehlt. D er O stler ist b estr ebt , sich vo m »seelen lose n R ati onalismu s«, vom politi schen Pr ag m at ism us, vo n d er libe ral ge n annt en Ge isteshaltun g abzugrenzen - vo n D in ge n , vo r den en sein e Ab scheu doc h üb erflü ssig ist , hatt e er doc h au fg rund sein er hi stori schen Situ atio n gar keine Ge lege nh eit , sie effekti v zu prakti zieren. U nd was ist es, wovon der Westler ni cht ge rn hört ' D ie m eta ph ys ischen Schi cksalsfragen , di e aus Leid sich ent falt end e apoka lyp tisc he Sicht , also all das, was dem wes tli ch en Ge ist in den verga n ge nen 3. Fe n~n c Fehcr - Agnes H eller: Das Pendel der Modernität, Bud apes t 1993, S. 63 .

54

Jahr zehnt en schmerzlich fehlte und fehlt. Ein Hauptkriterium der heutigen westlichen Zivilisation ist gerade das Bestreben, das Leid en aus zuschließ en, und sei es um den Pr eis, daß dadurch g rundl ege nde menschliche Bedürfnisse in Parenthese gesetzt und als irration alistisch abgestempelt werden . In welc hem Winkel Europa s also di e Fra ge der nationalen Identit ät auf die Tagesordnung kommt, sie be schenkt un s ni cht nur mit eigenw illige n Farbtupf ern , sondern auc h mit Krämpf en. Es ist, als hielte jeder imm er ent schlo sse ner an seinem eigen en Weg fest und ve rgä ße, daß die oft besc hwor ene Einheit Europas die Einheit von O sten und Westen bede ut et. Das Vergesse n ist verbreitet. Es ist kein östliches und kein westliches, sondern ein europäis ches Privileg. Kein Wunder , wenn der Dialog heut e so selten ist . Das liegt ni cht an einer Seit e, wie auch ein Weg nur d ann als Weg bezeichnet werden k ann , wenn er in zwe i Ri chtun gen bege hb ar ist.

III.

Ein Dialog zwisc hen Ost und West scheint ziemlich aus sichts los. Dabei ge hören beide zu einem Kontin ent , und sie tr age n denselben Famili ennamen (Europa). Und denno ch, nach der Geb urt ges taltete sich ihr Schi cks al grundverschieden. Mich eri nn ern sie an zwe i Sch weste rn: an di e Ju stin e und di e Juli ett e des M arq uis de Sade. Sie erlebt en das gleiche: ein e Vielzahl vo n Enttäuschungen, Demüti gun ge n , Qualen und Gewa ltt ätigke it en. Trotzdem endetjuli ette als Für stin des Lebens, während Ju stin e immer tiefer stür zt sie k önnt e höch stens Dienstmagd sein. Ein diametral ent gege ngese tzter Aus gan g . Do ch die Geschichte beider ähn elt sich - kein e von ihnen ist wahrhaft glücklich-, und di e Wur ze ln sind ge mein sam . Auch in Europa erlebtjeder etwas and eres; aber es gibt eine Eben e, auf der uns allen das gleiche Schicksal zuteil wird. Europa war immer ein zer55

b röc kelter E rdt eil; und doc h hat sem e E inh eit ni em and bestr itt en. Scho n in de r M yt hologie w urd e sie eben so ersc hr ecken d w ie ve rloc k end dargeste llt: di e w un de rschöne K ö ni gs toc ht er, E u ropa , w ie sie auf de m w ilde n Stier reit et . Ni cht s ist so un ge heuer un d so fur cht err ege nd w ie die Fru ch t der H oc hzeit vo n Go tt und M en sch (vg l. M ino tauros); und doc h gibt es keine Kultur in E ur opa, dere n Kern ni cht die H off nun g auf di ese H oc hzeit w är e (vg l. J esus). O hn e das E rlebni s di ese r Un lös b ark eit und P arado xie ve r fehlt m an auch die eigen tli che, d. h. zuti efst persö nli che Be deutun g der n ationalen Id enti tät . Wenn w ir den B eg riff der n ationalen Id en titä t näher ve rstehen wo llen , schadet es ni cht , we nn w ir üb er di e po litischen , gese llsch aftli chen , staatli chen, ethni schen , geog raphi schen und spiritu ellen A spekt e der N ati on hi na us au ch die ur sprün gliche B edeutun g dieses Wo rt es bedenk en . N atio näm lich bedeut et Ge burt, w ie au ch das un ga rische Wo rt >11 em zet< von den W ö rt ern >zeuge n , ge bäre n , absta m m t. Ge burt bedeut et a pri o ri, in etwas hin ein ge boren zu we rd en. D och in etwas hin ein ge bo ren zu w erd en bedeut et prim är ni cht , daß der M ensch Fam ilie, H aus, Vate rland , H eima t, Lands ch aft und Spr ac he hat, so nd ern d aß er ein Leben hat. Un abdin gbar e Vor aussetzun g des Lebens ab er ist ni cht n ur die Geburt , sond ern au ch der To d , und diese Las t k ann kein er ein em and eren abn ehm en. »Es gibt nur ein en Mu tterbod en , der fremd er ist als der , in dem w ir leben , und das ist der Ko sm os; ein Vater hat un s alle geze ug t, und das ist das All «, schri eb im 2.J ahrhund ert vo r un serer Ze itr echnun g M eleag ro s vo n Ga dara. Und dies ist der Punkt , wo sich das Pro bl em der n ationalen Id enti tät parad oxe rwe ise ni cht einen gt, so nd ern we itet und eine ex istenti elle Bedeutun g gew innt. Die N ation w ird vo n einer rein th eo retischen Frage zu einer w irkli che n gew ichti ge n Ex istenzfrage, we nn ich in ihr gleichzeiti g den Te il und das Ga nze entd ecke - d ie N otwe ndi gk eit , ir ge ndwo hin zu ge hö ren , die aus einer ande ren , einer exis tenti el-

len (oder ko smis chen) Pers pektiv e betrac ht et dennoch p artiell (aber nicht aufh ebbar !) erscheint. Es ge ht nicht darum, daß der Teil, im Ganze n gemessen, ve rschwind et und ir relevan t wird (diese lllu sion des Supran ationalen w urd e von allen link en Bewegungen verkündet) , aber auch ni cht darum , daß d er Teil das Ganze aufsaugt Uene Konservati ven, di e ge rn mit dem Gedanken d es Todes der N atio n sp ielen, gefallen sich unau sges proch en in der komischen Rolle der letzten Vertreter des M ens chh eits gesc hlechts). Das sind immer noch Üb erlegungen , di e im politis chen Rahmen bleib en; sie beto nen das Wir statt des Ich und ver nachlässig en leichtf erti g auch di e Last des Lebens auf den Schultern des Ich. Die Politik bemüht sich um säkular e Lösungen , ab er wä hr end sie das H eil ein er Gemeinschaft vor Aug en h at, verhält sie sich zu den Gliedern di ese r Geme inschaft gleichzeitig zu abstrakt , auf der Eb ene ein er Id eolog ie. Denn eine r Nation angehör en, politisch , ethnisch, sozial, als Staatsbürger usw., kann man letz tlich nur abst rak t . (Was natürlich ni cht bedeut et, daß man nicht auch keiner N ation ang ehö ren kann. ) »Bei un s auf Erden ste ht in der Tat der Fran zose dem Fran zose n am nächsten in der gleichen Sprach e mit einander , kämpfen in den Reihen der gleichen Arm ee , sind durch die gleichen Zölle geschützt, erw er ben und ver lieren gemeinsam usw. Aber in der j en seiti gen Welt gibt es keine Zollgr enz en , keine A rm een, kein e teuren und billi ge n Produkt e, dort erschein t die >Gemein samk eit der Int eresse n Wenn sich aber das Denken nicht mehr im Ele ment der Wahrheit ... bewegen kann , verlieren Widerspruch und Kritik ihren Sinn.« Aber wo steckt die Wahrheit , die Habermas verm ißt ? Wäre es nicht denkbar , daß gerade die Geste der Nietzscheschen Abneigung gegen die objektive Wahrheit den - negativen - Abdruck der Wahrheit bezeichnet? Heidegger w irft die Möglichkeit auf, daß »das Ausbleiben des Seins das Sein selbst als dieses Ausbleiben (ist)« - der Mangel kann ebenso erlebnishaft werden wie die Erfüllung. Hätte Habermas die Kunst oder die Psychoanalyse in seine Untersuchungen einbezogen, hätte er sich vermutlich als sensibler für die Negativitäten der modernen Zeit erwiesen, die keinerlei Moment der dialektischen Vernunft positiv zu machen vermag. Diese Negativ ität en - der Mangel , die Unbestimmbarkeit, der Radikalismus, die Erotik, das Schlechte, das Heilige, der unaufhebbare Augenblick, der Terror - widersetzen sich der Vernunft, der Rationalität, sie sind nicht einverleibbar und zugleich dennoch durch und durch seiend. Sie sind ungeeignet, zum Gegenstand »kommun ikativ en Handelns« zu werden , und deshalb tut Habermas, als existierten sie gar nicht: er nimmt sie nicht zur Kenntnis. Er sucht einzig die »positiven« Wahrheiten und richtet seine Aufmerksamke it auf das Mitteilbare, das Aussprechbare, das Lösbare, auf alles, was Teil des gese llsch aftlichen Konsenses werden kann. Aber Georges Bataille hat vö llig recht, wenn er schreibt, die für die Gesellschaft gü ltig en Normen hätten ihre Kraft einem Etwas zu verdanken, das für die III

Gesellschaft nicht aufarbeitbar ist (zum Beispiel der Sünde, dem Heiligen); die rationale Welt der Arbeit beispielsw eise ist vo n Verboten umgeben, aber diese Verbote gehorchen nicht den Gesetzen der Ratio. Es scheint, als wollte die Theorie des kommunikativen Handeln s von diesen Verboten und Grenzen keine Kenntni s nehm en; während Hab ermas von Nietzsche Rechenschaft über die Wahrheit ver langt , macht er sich selbst ein es anderweitigen Feh lens der Wahrheit schuldig. Im Zusammenhang mit Adorno und Horkheimer schreibt Habermas : »Wer an einem Ort, den di e Philosophie einst mit ihren Letztbegründungen besetzt hielt , in einer Paradoxie verharrt, nimmt nicht nur eine unbequeme Stellung ein; er kann die Ste llun g nur halten, wenn mindestens plausibel zu machen ist , daß es kein en Ausweg gibt.« Existi ert wirk lich ein e Philosophie , deren letztes Wort nicht in Paradoxa , in unlösbaren Widersprüchen erstickt? Hat die Philosophie wirklich die Aufgabe, einen Ausweg zu suc hen? An ein er Stelle schre ibt Habermas, die Philosophie könne nicht auf den Wahrh eitsanspruch verzichten, doch dann fahrt er fort: »Die Ph ilo sop hi e versteht sich nach wie vo r als Hüterin der Rationalität im Sinne ein es unserer Lebensform end ogenen Vernunftanspruchs. « Diese Behauptung, die philosophiegeschichtlich von vornherein von zwe ifelhaf tem Wert ist, ist ein typisches Beispi el for die Myth enbildung, die Habermas allerdings überall verschleiern möchte. Und wenn w irklich das die Philosophie ist, wie so llen wir dann di e von H abe rm as behandelten Theorien bezeichnen? Versucht Habermas nicht, der Philosophie den Sträflingsanzug der Politologie und der Soziologie anz uziehen? Zentrale Kategorie der Theorie des kommunikativen Handelns ist die Lebenswelt. Habermas hat diesen von Husserl entle hnt en Begriff seiner tr ansze nd enta lphilo sophisch-existentiellen B edeutung beraubt und ihn praktisch verstanden - aber der Begriff blieb wenigstens so nebulös 112

und unbestimmt wie die Kategorien, di e Habermas als »das Andere« der Vernunft charakte risi erte. Vermutlich können wir aus dem politisch en Hint ersinn der Theorie am besten auf die Bedeutung zurückschließen , die Habermas dem Wort gibt: Er behandelt nämlich die Lebenswelt zusammen mit den Lebensformen, die letzter en be zeichnet er als konkret , die erstere als allgemein, und ähnlich wie die Lebensformen benutzt er sie gelegentlich auch im Plural. Beide stehen in einem strukturellen Verhältnis zueinander, und die Lebenswelt bietet als Kultur, als Gesellschaft und als Persönlichkeit der konkreten Leb ensform einen Hintergrund. Das Verhältnis zwischen der Lebe nswelt und der Lebensform ist j edoch nach Habermas durch die Polyphonie geken n zeichn et, und zur Realisierung des kommunikativen Handelns ist die Benutzung des Plurals unerläßlich. Dann nämlich können die autonomen Teilöffentlichkeiten entstehen, die nicht nur den ungestörten Gang des kommunikativ en Handelns , sondern auch den Demokratismus gewährleisten. Wem fiele beim Lesen von Habermas ' Erörterun gen nicht die Struktur der heutigen westdeutschen Gesellschaft ein? Und zudem erhebt sich der Verdacht, die Lösung, nach der die Menschen zwei Jahrhunderte lang vergeblich strebten und die Habermas in Aussicht stellte, sei schon zustande gekommen: in Form des sozialliberalen Staates, über dessen Grundbedingungen Habermas mit Hegels Worten sagen kann, er sei vernünftig, weil er ex istiere. Wenn diese Annahme richtig ist, wird Habermas' Antipathie gegen die behandelten Philosophen verständlich: Wie in einem gutorganisierten demokratischen Staat die extreme Ablehnung ein unverdaulicher, terroristischer, schlechter Happen zu sein scheint, so werden für die Theorie des kommunikativen Handelns der eine radikale Geschichtsbetrachtung verkündende Nietzsche , der »anarchistische« Bataille samt Heidegger und Derrid a und eigentlich auch die Philosophie selbst unverdaulich, soweit sie sich sträubt, mit praktischen Lösungen aufzuwarten. IIJ

(A ls Z11sammerifass 11n g) Al s ich da s Buch las, wechse lten sich An erkennun g und Är ge r ab . Ang es icht s der üb erw ältige nden Stoffkenntnis stie g von Kapitel zu Kapitel m eine Enttäuschung, daß d er Verfa sse r so unüb ers ehb ar sein e erworbenen K enntnis se br ac hli ege n läßt. Wie immer , war es auch hi er ärger lich , zu se hen , daß sich ein D enk er mit Schr anken um g ibt und d as in eine m fort leugnet , und wa r ich zu B eg inn angetan vo n der Kühnh eit , mit der H aber ma s bei Marx an ge fan ge n i.'iber H eide gge r und Fou cault bis hin zu B ataill e alle ang riff , so wa r ich später um so enttäuschte r , daß da kaum ein Unter schied zur Kühnh eit der Vereinfa cher und Ni ve llierer bes teht. Bem erkensw ert ist di e Kons equen z, mit d er H aberrna s von Buch zu Buch das Bauwe rk sein er eige n en Th eo rie auf stock t, aber mit der Höh e wächst das Mißtr auen gege nüb er der Stabi lit ät der Fund am ente - und d as bet re ffend e Bu ch k ann j a auch als ein e Art hi stori sc he Fund a m enti erun g betra chtet we rd en . Wenn sc hon vo m hi sto risc h en Fund am ent die R ede ist, m öc hte ich hinzufü ge n: B eim Lesen steigert e ge rade die M ethodik des Verfa sse rs beim Umgang mit d er Verg ange nh eit m eine Abn eig un g . Indem er »da s Ander e« der Vernunft in Klamm ern setzte, kl a mm ert e Haberm as damit ni cht auch eine der stärk sten Tr aditionen der deut sc hen Kultur ein , di e Rom antik , den Nicht-Rationalismu s? Was fi.ir einen Bod en w ird der heuti ge deutsch e Geist haben , wenn m an di ese r Tradition j edes Ergebnis bes tr eitet? Es ist, als hätte beim Lesen mich, den Ni cht-Deut sc hen , di ese Fra ge stärke r besc häfti gt als den Ver fasser . D es halb wa r m ein e An erk ennung für di e stellen we ise unb estr eitb ar brillant en An alysen von Är ge r und Enttäusc hun g dur chzoge n . Do ch da s wä re scho n ein and eres Thema .

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MASKEN

DER MA C HTGIER

Einige Gedanken z u Diedrich Diederichse11 Ehe m an un s unt er Ankla ge stellt, wolle n wi r crn , daß lgehörtAmbiguity< wirklich ni cht mehr ist als ein >Cover for an univocal fascismlösen« möchten. Es scheint, da s Medium Film kam Syberberg dab ei zu Hil fe. Wie auch immer Wagners Opern inszeniert werden, stets bleibt ein fühlb arer Bru ch zw ischen der Musikalität der Werk e und der in der Rege l schwerfalligen Bühn enausführung. Über dies es Problem , das von Appia schon um die Jahrhundert wende g ründli ch bearbeitet wurde, war sich auch Wagn er selbst im klar en, und Ni etzsche bemerkte in einem Brief mit ausdrücklichem Bezug auf den Parsifal, wer diese Op er auf ihr angemessene Weise inszenieren wolle, benötige das Tal ent Dantes. D enn der Parsifal ist - hande lt es sich doch um em Musikdram a - als alles mögliche zu bezeichnen, nur nicht als das, was wohl am naheliegendsten schiene. Er ist nicht di e Ge schichte eines Märchenr eiches od er eines w undertäti ge n Ritt ers, nicht die Vertonung einer mittelalterlichen Legend e 129

- er ist also kein Mär chenbu ch , so nd ern eine eigenw illige, in der Perspektive des Leid ens vo rge führt e Variante der Suche nach dem Heil. Syberberg wa ndt e sich dem M ed ium des Films ni cht zu, um da s, was auf der Bühne rudim ent är bl eib t , zu vervo llk o mmn en - ihm sch webte ni cht ein mit Hollywood-Bravour ge dr eh ter mittelalterl icher M ärc henfilm vo r - , so nd ern um den Parsifal an seinen wa hr en Schauplat z zurü ckzuverl egen : in die Seele. D ie Dramaturgie des Werkes macht den äuß eren Schauplatz · (das ist ein G rundprobl em aller Op ernfilm e), der die Ope r un we ige rli ch zu etwas Anekdotisch em, Genr ebildhaftem de grad iert, von vornherein üb er flü ssig . Syberberg hüt ete sich, da s Wunder mit filmi schen T ricks zu zeigen, denn damit bera ubt e er sie ihr er wa hren Stärke . D er Speer bl eibt nicht in der Luft ste hen , der Z aub erga rt en lö st sich ni cht in Lu ft auf - was ja im Film so ein fach zu bewerkst elligen wäre - , sondern da s Wund er spielt sich in jed em Fall in den Gesichtern ab: im Gesicht der Sch auspieler , die, mit den Mundbewegungen der Sänger , alle Kraft auf das Rollensp iel verwenden. Di e Film we lt ve rli er t ihr e »Obj ek tivität « ni cht allein durch di e Vielzahl surr ealistischer, nur im Traum möglicher Bilder, sond ern auch dur ch di e Betonung der Inn erli chk eit des Geschehens. (Ein solc hes Bild ist beispi elswe ise im r. Aufzug d er tot e Schwan, der auf einer Tragbahre beförde rt w ird , den wir aber Augenblicke später als Porze llan sch wa n in Leb ensgröße w iedersehen - als Statue im N eu sch wa nstei ner Schloß Lud w igs II. Di e »Echt heit « des Req ui sits schlä g t hier deutli ch in ihr en eigenen Gegensa tz um.) Sy berber gs Ausgangspunkt war wahrschein lich das, was im 1. Aufzug G urn em an z dem Parsifal üb er da s Rei ch der G ralsritter mitt eilt: Zum R aum w ird hier die Z eit. In der Tat vo llzieht sich die Gesinnung des H eils, die Erlösung, ni cht in der Z eit ; ni cht zufalli g hat der M ensch, wenn er an ein er E rlösun g teilh at- wo zu nicht unb edin g t ein myth ologischer Rahm en nöti g ist , sie kann schon durch eine BegegI

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nun g, einen Blick, eine B erührun g, einen Ge dank en zu sta nd e komm en -, da s Gefühl, plötzlich auß erhalb der Zeit zu ste hen und ni cht län ger Gefangener der Umst änd e zu sein . Schaup latz des Film-Parsifals ist ni cht ein e Bur g, nicht Mon salvat, so nd ern der Kopf Wagners - ge nau er, ein 15 Meter lan ges, 9 M eter br eit es und 4, 5 M eter hoh es Abbild seiner Totenmaske , das sich an den un ve rmutet sten Stell en öffnet und so ein undur chsi chti ges Lab yrinth bild et. In den Spalten und Öffnun gen , die sich in der Totenmask e bild en, spi elt di e Oper , und we nn gleich sie ebenfa lls einen äußer en Schauplatz zeigen , erinnern so we ni g an einen realen Raum, daß sie der von der Üb erw indun g der Zeit h an delnd en Oper wahrhaftig ein e Traumbühne gewä hrlei sten kö nn en . Die Gesc hi cht e des Parsifal spielt ni cht in der »Welt «. D enk en w ir an Amfortas, desse n Figur so sehr an die des Tristan erinn ert : Er ist der Herr üb er di e Ritt er, der Führ er des Vo lkes. Ab er was ist das für ein Volk, dessen Führ er au ssch ließli ch di e Sehnsu cht besc h äftig t, ein e Sehn su cht ob endre in , deren alleiniges Ziel d er Tod ist? Wenn sich im Film , in der Tem pels zene des I . Aufzugs , zum ers tenm al di e Ritter versam meln , tragen sie Uniformen aus den ve rsch ied ensten E poc hen deut scher Geschichte , und der m erkwürdige Gang, der in di e H alle führt , ist in Fahn en gehüllt (was an die Str aßen Nürnb ergs zur Ze it d es vo n Albert Spe er in szeniert en ersten N azi-Part eitags erinn ert); di e ält esten deutsch en Banner sind ebenso ve rtr eten wie die H akenkreuzflagge. Das Volk , des sen Führer im Bann de s Tod es ste ht, ist selbst auf den Tod eingesc h wore n ; we nn im 3. Aufzug die Ritter einz iehen, gehören zu den Uniformen nicht nur w und erb are Gesichter , so nd ern auch Knoch enschäde l, halb verwes te Köpfe, blutüb erstr ömte Gesic ht er. Ein Trümmerfri edhof giga nti scher Konzeptionen ist au ch der Tempel selb st, und die Ritter mit dem in den Tod ver liebt en Amfort as und dem ein e zu Stein erstarrte M ask e Lud w igs II. tr age nden Titurel an der Spitze sind Boten 13 I

einer Welt, in der alle Schichten der deutschen Geschichte erkennbar sind, die aber in sgesa mt dennoch außerhalb der Geschichte steht. Um den Zauberer Klingsor lieg en im 2. Aufzug - im Hintergrund sehen wir einen B etonbunker vom Atlantik wa ll des Zw eiten Weltkrie gs - die abgeschlage nen Köpfe deutscher Geistesgrößen auf dem Boden , Ludwig II., Wagn er, Marx, Nietzsche: ein Hinweis auf die nicht gehalt enen Versprechen. Am verräterischsten ist die Zeremonie der Gralsritt er im 1. Aufzug: Wir sehen kein Mahl, bei dem Brot und Wein verzehrt werden, wir sehen vielmehr, wie die Ritter - melancholi sches (und vergeblich es) Symbol ihres Schi cks als - eine vergrößert e Kopi e des Steinblock s aus Dürer s Stich Melancholie durch die ve rzaub erte Land schaft aus Ca spar David Friedrichs Junotempel in Agrigent schleppen. Dies ist eine Welt der Utopie, wie auch die Schlüsselfrage des Parsifal das Utopische des H eils ist. Di e Zeit wurde auf di ese Weise tat säc hlich zum Raum; di e Geschichte verdichtete sich zu ein em einzigen Augen blick. Möglich wurde da s dadurch, daß das H eil in die Geschichte »eintrat «, und Parsifals Person garantiert gew issermaßen: wenn sich di e Geschichte aus sich selbst »her ausbew eg t«, dann wird das das Zeich en der Erlösung sein. Doch für Syberberg ist di e Hoffnung auf das Heil und die Erlösung eine üb eraus widersprüchliche Erwartung. Dem Amfortas br acht e seine unh eilbare Wunde (»Sündenfall«) der heilige Speer bei, der Christus in den Leib gestoßen wurde und der nun ihm anvertraut war. Dem Amfortas raubt e der Zauberer Klingsor die Waffe, als den H errscher ge rade »ein furchtbar schön es Weib « be circte - und im Augenblick der Liebe verwundete Klin gs or den Amfortas. Seither blut et die Wunde , und dageg en gibt es nur ein Mittel : den Speer , der sie verursacht hat . Di e Erlösung kommt ni cht von »auß en «, nur da s biet et Erlösung, was auch Qu eJle de s Leid ens ist. Syberb erg hatt e die großartige Idee , di e Wunde ni cht an Amfortas' Körper zu zeigen, so ndern I 32

auf ein em Samtkissen: Sie ist ein an mensch liches Fleisch erinn ernde r, mu schelähnli cher Gegenstand, aus dessen Öffnung ohne Unterlaß di cht es, dunkl es Blut quillt. Das Kissen samt der Wunde wird neben Amfortas einh erge tr age n w ie im Mittelalter di e Gemä lde, und dem Kranken gen ügt ein Blick darauf , damit sein Leid noch wächst. Diese Wunde aber erinnert auffallend auch an eine Vag in a. Wagner räumt e der Frau in di eser Oper ein e wic hti ge Rolle ein ; in Syberbergs Film ge hört die Hauptroll e von vornherein einer Frau: Kundry. Di e Wunde, für die die Liebe verantwortlich ist , k ann vermutl ich nur von der Liebe ge heilt werden. (Im Film sehen w ir zu den hö chsten Stimmen Person en, unt er denen wir Wagners dr ei Freundinn en erkennen: Judith Gauthier, M athilde Wesendonk und Cos ima.) Erlösung bi etet allein da s, wovon m an erlöst werden möcht e - und es ist di ese r an K etze rei g renzend e Gedanke, der Syberbergs Film so hoffnun gslos m acht . Die Ritt er m öc ht en Kundry mö glichst weit weg wissen, aber we nn sie allzu lange fern bleibt , tritt j edes mal ein Ung lü ck ein. »Eine Verw ün scht e «, so wird sie von Gurnemanz bezeichnet, der ni cht als weißbärtiger Großvater ersc heint , son dern als liebe sbereiter, g ut aussehend er Mann im Vollbesitz seine r Kr äfte. (Bei Robert Llo yd, der ihn sp ielt , •>Strahlt « auch die Stimm e, wä hr end man bei Gurn em anz gem einhin an ein en dunkl en Baß gewö hnt ist.) Kundry ist ein zeitlose s Wesen , ebenso w ie di e Ritt er, aber wä hr end sich in den Ritt ern die Gesc hi chte verdic ht et, ist Kundrys Zeitlosigkeit die Verkörperung bodenlosen Fehlens. Syberbergs Kundr y ist in j eder Hin sicht eine absolut e Frau : einmal w ild wie ein Tier, dann m assiv sinnli ch , restlos erot isch reifes Weib, dann wieder geschlechtslos verfe in er te Mutt er, P arsifal als M aria fo lge nd. Ihr e Seufzer und Rufe scheinen die tiefsten Schichten zu erschließen, und vielsage nd ist dies: so of t sie erscheint, klagt sie ni cht nur üb er Müdi gkeit und Sch läfrigkeit, ruft sie nicht nur nach dem Tode und nach dem ew igen Schlaf, sondern ver-

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körp ert sie auch di e imm er verführ eri sche P assivit ät. Edith C leve rs Persönli chk eit ist mit solc hem Gew icht gege nwä rti g, d aß sie im Film un we ige rli ch zu r H aup tperso n w ird . Ob wo hl am End e der Op er d as berühmt e »Erlös un g dem Erlö ser' « Parsifal gilt, bezieht es sich auf sie - sie ist es, die trot z allem nie erlös t we rd en kann. Selb st Ni etzsch e, dessen Verh ältni s zum späten Wag ner bekannt ist, muß einges tehen , er h abe ni e so tief die »schwe rmüti gen Bli cke der Liebe« empfund en w ie beim H ö ren der Panifa l-Ou ve rtür e - und we nn w ir w ollen , könn en w ir die »sch we rmüti ge n Blick e der Liebe« als d en eige ntli chen Tit el des Film s auf fasse n. D aß er Kundr y in den Mitt elpunkt stellt e, setzte Syberberg einem schier unl ös baren Probl em aus. Nun ge ht es nämli ch ni cht m ehr nur um di e Gew innun g des H eils, also di e E rfüllun g der Ut o pi e, so nd ern um di e Liebe, di e in ihr er Leidenschaftli chk eit mit kein erlei Ut o pie ve reinb ar ist: sie führt ni cht zur Erfüllun g, im Gege nt eil, sie stiftet Verw irrun g. Z we i Mö glichk eiten bieten sich an. D er Reg isse ur str eicht entw eder di e ut o pische Erfüllun g heraus, wo dur ch di e Figur Kundr ys un we ige rli ch gew ichtlos wird und sie als einfa che M ärchenh exe, als kr ank es, abso nd erliches Wesen kein erlei H eil den Weg ve rsperr en kann - oder er stellt Kundr y in de n Mitt elp unkt , was allerdin gs damit einh erge ht , d aß di e Leid enschaft zur wahr en Grund substanz des Leben s w ird , der sich au ch di e erse hnt e Utopi e anzup assen hat . Di e unb efri edi gbare, au f das Un endli che au sge richt ete Leid enschaft und di e ihr ent gege ngese tzte Befri edi g un g mü ssen sich an einem speziellen Punkt berühren. Sy berb erg w ählt e letztere Lös un g, die unb estr eitb ar sch w ierige r ist, denn di ese r Punkt kann leicht alles im Umkr eis ve rsenge n . Wenn Am fortas erkl ärt , d as reine Wese n, das ihn erl öse n m üsse, sei de r To d selb st, setzt er di e E rlös un g mit d em To de gleich ; we nn sich herausstellt , d aß die Wund e nur dur ch d en Spee r ge heilt w erd en kann, der sie verur sacht e, w ird d as Mitt el d er E rlös un g di e Liebe - und diese Z we iheit m acht Syberb erg vo n An fan g an 1 34

deutli ch. Alles in diesem Film suggeriert den Li ebestod, an gefange n bei der Szene, in d er Par sifal die üb er den Tod sein er Mutt er beri cht ende Kundry erw ür gen will und sich das Mordv erlang en unmerklich in Liebesver langen umwandelt, bis hin zur letzten Szen e, in der di e Er lösung so eintritt , daß der den Tod und (un ausges pro chen) die Liebe ersehn ende Amforta s mit Kundr y auf di e Art von Tristan und Iso ld e stirbt. Das alles geschieht im Geist Wag ners und nicht des Textbuches. Das Reich des H eils ist der Tod, der Bau stoff d er Utopi e das ekstatis che Sterben. Fr ag lich ist , ob in dieser Kon zeption di e Figur des Parsifals ni cht gew ichtlo s wird. Syb erb erg beu g te di eser Gefahr mit einer g roßarti ge n, schreiben wir ruhi g: ge nialen Lösun g vo r. Er verdoppelte die Gestalt Parsifals, Mitt e des 2. Aufzugs üb ernimmt die Rolle des Jun ge n ein schn eidend kalt es, kristallartig schön es Mädch en - das , w ie der Jun ge, mit der Stimme Rainer Go ldb ergs zu un s spri cht. Der Wechsel tritt ein, als Kundry den Jun ge n geküßt hat und er plöt zlich gew ahr w ird , daß di e Wund e des Amfort as nun in ihm blutet. In den Z ustan d d er Liebe ge rat en, ve rsteht er Amfort as' echten Schmerz - j etzt w ird er fahig zu der im we it esten, in fast schon physis chem Wortsinn aufgefaßten Ant eiln ahm e, zum Micleid (sympathia) . D oc h vo n der Lieb e ange rührt müßt e auch er sich dem Tode ve rlob en und nun kommt es zum Ge sc hle cht ertaus ch, zu diesem merk wü rdi gen Aut oexo rzismu s. Ind em auch die Frau in ihm Gesta lt annimmt , ent zieht sich Parsifal der M acht der Liebe, und da er sich verdoppe lt, gew innt er auch di e Ober hand üb er das mit der E inm aligkeit einhergeh end e Sterben - da s heißt, er wird un geeignet für den Liebestod. Auf diese Weise ver körp ert sich in ihm, an der Welt des Film s ge messen , di e abso lut e N ega tivität. Parsifal zufolge wird Kundry Er lösung zut eil werden, wenn sie aufhört , sich zu sehn en. Damit aber schlö sse sich der Teufelskreis, denn wenn sie auf die Sehnsu cht verzich tete , stürbe sie daran - abe r was wäre der Tod für sie and er35

res als höchstes Sehn en, als hö chste Liebe? Parsifal kann sie nicht vor dem Tode rette n ; und we nn in Sybcrbe rgs Film Parsifal denn oc h als Erlöse r vo r un s steht , dann wa r die Au fgabe, die er erled igte, kein e and ere als die ßeseitigung des Hind ernis ses, das der ekstatisch en Vernichtung, dem Liebestod im Weg sta nd . Er br achte ni cht Leben , so nd ern Tod - er bracht e Amfortas und Kundr y, die unt er dem Lebe n leiden, aber zu sterb en ni cht im stande sind , die E rfüllun g . Den irr end en M ann und die irr end e Frau können nur ein Jun ge und ein Mäd chen erlö sen - ein ges paltener Parsifal. Di e E in-h eit ist in diese m Film nur üb er den Weg dur ch di e Hölle der Zwei -h eit (d er Kri se) zu err eichen. Wir könnt en ihn einen H eili ge n des Bös en nenn en, wenn es sich ni cht um ein wunderschönes Kind hand elt e. D eshalb liegt der Sinn der letz ten Aufford erun g - »Erlö sun g dem Erlöser! « - in ni cht s ande rem als in der Fr age, o b auch Parsifal die Wonn e des erlöse nd en Todes zuteil we rd en kann. In den letzten Au ge nbli cke n des Film s, als Par sifal di e Enthüllun g des Grals veranl aßt, versc hwinden alle; in der Mitt e der Leere erscheint Wagners M aske , vor ihr der Jun ge und das Mädchen, die beiden P arsifal s. Sie umarmen sich , fühl end , daß sie allein ge lassen sind , ausgesc hlo sse n vorn Tode, und daß vo n nun an das Leben sie um ge ben w ird, di ese g roß e Leer e. Ein wa hrhaft anrührender und tragischer Au ge nblick ; es ist, als erw acht en Tri sran und Iso ld e zum Leben , der M ög lichkeit zur Lieb e beraubt. D er 1982 ent stand ene, vier Stunden und fün fzehn Minut en lange Parsifal ist von Syb erb ergs früher en Film en ni cht zu tr enn en. Der dem Parsifal-W erk vorausgegangene , siebens D eutschland (1977 ) beg innt und stündige Hitl er, ein Film a11 end et mit Parsifal-Mu sik , und in gew isser Hin sicht ist der Wag ner-Film als Fort setzun g des Hitl er-Film s zu betrach ten. N ach Sy berb erg näm lich wo llt e Hitl er für das deut sche Volk das Heil errin ge n (der Parsifal war seine Lieb lin gsope r , für die er zum Fest nach dem Sieg eine Ga lav or 136

stellung plante), und so w urd e der Faschism us zur perversesten Variante der Suche nach dem Gral. Für die bedrückende Last der Utopie los igkeit, die nach Syberberg für den deutschen Geist wä hrend der vergangenen andert halb Jahrhunderte chara kt er istis ch war, macht er natürlich ni cht nur Hitler und den Faschismu s vera nt wor tli ch; auch in seinen früheren Filmen spürte er fast schon manisch diesem Prob lem nach . Da s bezieht sich auf den Ludwig - Film (1972, r34 Minuten), auf Theodor Hirn eis (r972) , ein en Film über den Hofkoch Ludwigs II. , au f Karl May (1974, r87 Minuten), in dem eine Spie lart der Flucht in Illu sione n abge hande lt w ird , und auf di e Geschichte des Winifred Wagner 11nddes Hauses Wahnfried 110n 1914 bis 1975 (1975, 5 St und en), in der Winifred die Familiengeschichte der Wagners erzä hlt , wo bei sie die intim en Beziehungen der Familie zu Hitler herau sheb t . Syberberg int eressiert offensichtlich ni ch t der »aufklär erische « Tr end der deut schen Geschichte. Wie er in ein em Aufsatz schr eibt, erreichte Hitl er, daß nach ihm der Irrationali smu s aus dein deutschen Denken au sgerotte t w urd e, ausge hend vo n der überaus primitiven und oberflächli chen Überlegung, der Fas chism us hab e ve rsu cht , sich die g roß e Tradition des deutsc hen Irration alism us anzueignen - di e Rom antik ebenso wie Schop enh auer , Höld erlin o der Ni etzsc he. Dagegen möchte Syber berg mit sein en Filmen und seinen Büchern ankämpfen , um dem Übervernünftigen die Rechte und das Gewicht , di e ihm ge bühr en , zurückzu ge ben ; das dokum en tiert der ParsifalFilm . Wi e die Wunde nur durch den Speer geheilt werden kann , der sie verursacht hat, so könn en die verhängnisvol len Lasten der deut schen Geschichte nur über w und en wer den , we nn das Volk sie nicht abschütte ln , so nd ern sich noch ein m al auflad en w ill, sogar die eig nen Verletzungen öffentlich sage n darf. Syberbergs Film e scheinen den Deutsch en diese Last auf die Schultern heben zu wo llen daher die heftig e Ab lehnun g, mit der sie stet s auf ge no mm en we rd en. Einerseits ist die Län ge der Film e probl e137

m atisch , und di e staatlichen Or ga ne ve rwe ige rn dem Regisse ur unt er and erem de shalb imm er off ener di e Sub ve nti o ni erun g, we il sein e Film e ni cht in das profit ori entiert e K ino netz einb ezoge n we rd en kö nn en . And ere rseit s ist au ch das Sch we ige n viels ag end , das in De ut schland di ese Filme um gibt: J e g rößer der E rfol g im Au sland ist , desto brü sker ist di e Abl ehnun g hi er. Wä hr end Schriftst eller w ie Mi chel Fou cault , Su san Sont ag, M o rav ia und H einer Müll er sein en Film en lan ge Essays w idm ete n (Su san So nt ag m ein t , der Hitl er-Film sei de r beste Film aller Z eiten), bezeichn et die deut sche P resse ihn als H oc hstapler und N est besc hmut zer und sind seine Film e in De u tsc hl and pr akti sch ni cht zugä nglich. Syberb ergs Film e - und beson ders de r Hitl er-Film - nämlich unt erziehen, un ausges prochen , die N achkr iegsge nerationen der deut schen Int elligenz einer h art en Kritik. Di e Link e lehnt unt er and erem deshalb seine Film e so hefti g ab , so d aß sich der Au ßen stehen de des Verd acht s nicht erwe hr en kann, daß Sy berber g sie an empfindli chen Stellen getroff en h at. D enn in sein er An alyse Hitl ers nimmt er di e reibun gs los funk tioni erend en Verdr än gungsm echanism en unt er die Lup e; wo and ere die Fr eih eit zu entd ecken ve rm eint en , nahm er Fallen wa hr. E s ist vielsage nd , daß bei den Ce nt enarium sfeierl ichke iten 1982 in Bay reuth der Parsifal auf abso lut e Abl ehnun g stieß (Wo lfga ng Wagn er, C hef in Bayre uth , äuß erte öffen tlich , er sei n icht gew illt , sich den Film anzusc hau en), d aß auf der Ka sse ler D oc um ent a, wo di e Pr emi ere statt fand , der Saal gä hn end leer wa r , daß m an Syberb ergs Film e in D eutschland pr akti sch nir gend wo sehen kann - wä hr end sich in R o m , im C irco M assim o, Tau send e den Parsifal ansahen , wä h rend er in Barcelona im bi s zu m letzten Pl atz ge füllten O pernh aus geze igt w urd e, w ähr end ihn in der N ew Yo rk er Radi o Mu sic H all sechstaus end M en schen sahen , ein Pariser Kin o den Lud w ig- Film j ahr elang j eden Ab end spielen konn te und in Bud apest di e Kin oka rten für die ParsifalAufführun g alle ausve rkauft wa ren. 138

Der Parsifal ist , es sei nochmals gesagt, nicht em emfacher Opernfilm. Di e Musik der Zukunft sei der Film , schr eibt Syberberg, und in Wagner sieht er ni cht einfa ch einen Erne uere r der Mu sik, so ndern ein en Kün stler , der an di e Schwelle zum Film gelang t war. Üb er die Folg en di eser Behauptung ist sich Syb erb erg im klar en; alle Bildfol gen sein es Films sugge rier en, daß er ni cht Wagner verfilmt, son dern di e or iginär e »Film gemä ßh eit « des Parsifal her ausgearbe it et und die Op er in da s ihr angemesse ne M edium gesetz t hat. Allein darauf ist es zurü ckz uführ en , daß der Film so h efti ge und kontr äre Reaktionen auslöste. Hier ge ht es tatsächlich nicht nur um einen K om ponisten , son dern um den deutschen Geist - seit Thom as Manns Wag ner-E ssay (193 3) ist Wagne r nicht mehr Gegensta nd so leidenschaftlicher Kontrov ersen gewes en , bis dieser Film entstand - und um die selb stkritis che Ersch einun g diese s Geistes. Hätte Syberberg einen Opernfilm in szen iert , wäre er dem für di e D eutsch en so zen tralen Problem der H eilssuche ausgew ichen und ge n au in den Fehl er verfa llen w ie der Geist, den er gar nicht ausdau ernd ge nu g kritisi eren kann: das, was im weitesten Sinn des Wortes politisch ist, hätte er auf eine »ästhetisch e« Ebene verlegt. Die un ge wö hnli ch scharfe Ab lehnun g, auf die der Film in D eut schland stieß, beweist genau da s Gegentei l.

139

Lcni Rief enstahl. Eine verdorbenen Blick.

Frau

mit dem

1rni11e11,aber

dennoch

IM ZAUBER

DER REICHSSCHÖNH

E IT

( Triumph des Willens)

D iese Hu nde von ver leumd erisc hen Intel lektuell en , d ie sich un abl äss ig frage n , w ie man zu g leich ge ni al und po liti sch n iede rträc ht ig sein kann: Cc lin c, Lcn i Riefensta hl ... Eini g d arin , daß es n icht das Wic h tigste ist , ge ni al zu sein , so nd ern zur R asse de r Richti g d cnk cn den zu ge hö ren. Z ugegebe n : den m eisten blieb keine Wahl. J EAN BAUD RILL ARD

Vor eini ge n J ahr en führt e mi ch m ein Weg na ch Nürnb erg . Kur z vo rh er hatt e ich di e M em o ir en Alb ert Sp eers ge lese n , und au f m ein er Fahrt nac h D eut schl and su cht e ich n ac h Spur en ni cht nur H ö ld erlins , H eg els, Klei sts o der Fo nt an es, so nd ern auch d es Dritt en Reichs. Ge n au er: nac h Spuren de r Sp eersch en Vi sio n en - n ach d er Ar chit ek tur d es M ann es, de m Hitl er ni cht nur blind ve rtr aut e, so nd ern mit d em er wo hl auch sein leid en scha ftli ch es Int eresse für di e Archit ek tur tei lte. Ge m ein sa m e rt rä umt en sie ein n eu es Berlin , de n n eu en Ko n g reßp alas t, unt er d esse n Kuppel vielleicht soga r der Eiffel turm Pl atz gefu nd en hätt e, d ie Reich skan zlei, für d en sie selb st den in J ahrhund ert en natürlich ent stand enen P o tsdam er Plat z opfern wollten , ge m einsam g rü be lten sie üb er künfti ge Stadtpl än e, und Hitl er err eicht e sog ar , d aß d er in di ese m Fall skept isc he Arc hi tekt sein em Plan zu stimmt e, Au gs bur g zur g röß ten südd eu tsch en Sta dt aus zub auen und ihr Mün ch en als Vorort an zuschli eßen. Au ch di e P lanun g d es Aufm arsch ge länd es für die R eichspa rt eit age in Mün ch en üb ertru g er d em d a ers t Achtun dzwa n zigj ähri ge n , d er dar aufhin n ebe n di e an d as r4r

Albert Speer mit einem Kollegen betrachten das Modell von Berlin . Als ob sie aus einem Sarg in das erträumte Berlin ernträten , in diese durch den Tod besi eg elt e Modellstadt.

Mittelalter erinnernde Traumstadt eine andere Traumwelt zauberte. Es war ein gigan tisches Vorhab en ; nicht nur die Bezeichnung des Schauplatzes war beinahe schon unaussprechbar (Reichsparteitagsgelände), sondern auch die Größe. Dreißig Quadratkilometer Fläch e wurden bebaut, Leg ionen verdie nt er Pa rt eigenossen konnten zw ischen Brüstungen aus Beton und Marmor, Emporen und Kolos sen aufmarschieren, mit Panzern, Flugzeugen und schwe ren Waff en konnten hier Phantasieschlachten geschlagen werden - inmitten der alt en deutschen Eichen, die die Nadelbäume der umli egende n Wälder ersetzten. Dieses Ge lände (das zur Erinnerung an die im Mai I 93 5 be go nnene Wiederaufrüstung Märzfeld ge tauft wur de) beschwor die Ewigkeit herauf - ganz so w ie die Träume, die den in Raum und Zeit eingesch lossenen M enschen ebenfa lls an die Ewigke it h eranführen. Auc h das war auf seine Weise ein e Traumwelt. Sie wa r dazu berufen, ähnlich wie die Träume den ins Alltagsl eben eingekapselten Verstand zu befr eien und in die Tief e der Seele zu tauc hen , wo die praktischen Ges ichtspunkte und allgemein der Raum und die Zeit eine minimale Rolle spielen . Kein anderer als Hitl er persö nlich erklärte, die »gewa ltig en Bauwe rk e ... werden mith elfen, un ser Volk politisch mehr denn je zu einen und zu stärken, sie werden gesellschaftlich für die D eutschen zum Element des Gefüh ls ein er sto lzen Zusam mengehörigkeit, sie we rd en soz ial die Lächerlichk eit son stiger irdisch er Differenzen gegenüber diesen gewaltigen gigantischen Zeugen unserer Geme in schaft b ewe isen«. Er hätte natürli ch auc h auf Stoneh enge oder die Pyramiden verweisen können, die ja auch nicht als Kultstätt en des beschwerlichen Alltags geba ut wurden. Doch die Trä um e lassen ni cht nur neu e Perspektiven ahnen, sie eignen sich auc h dazu, sie zu verdrängen. In der Nürnberger Innenstadt zuckten die Passanten mit den Schultern , als ich mich nach dem Weg zum Märzfeld erkundigte; un d als mir doch jemand weiterha lf, fiel auc h 143

Modell der »Gro ßen Halle des Volkes «. Daneben, zum Größen verg leich , das Brandenburger Tor .

ihm zuerst die nahe Markthalle ein. Das einsti ge Aufm arschgelände w irkt e ungepflegt; zw isch en den Gran itplatt en wuchs Gra s, im Gebüsch Unrat und Tausende weg gewo rfen er Kondome , die Marmorplatten der Tribünen br öcke lnd und teilw eise ab ge tragen und statt marschi erender Soldat en und elega nt er Offiziere Scharen von türkischen Gastarbeitern, die hi er ihr e klapprigen Autos wuschen und poli erten . Alles wec kte den Ein dru ck einer unglaubli chen Stille - sogar der lärmende Rummelplatz am R and de s Ge ländes. Geradezu krampföaft versuchte er die Stummheit zu durchbr echen, di e die St eine und der Bod en au sstrahlten. Es war die Still e eines toten Mythos, der vorläufig auch in seinem Tat sein noch kräftig genug ist, den , der sich hierher ve rirrt , befangen zu machen. Verständlich , daß die M enschen ihn lieber meid en und di e Erinnerung an ihn aus ihr em Inn eren aus zubrenn en versuchen. Wie auch die an den Film , der da s einzi g w ürdige D en km al des gigantischen Proj ektes ist. Im Herbst 1990 nahm ich mir in Westberlin vor, mir Leni Riefen stahl s 1934 entsta nd enen Film Triu111phdes Willeus übe r das Schauspiel de s VI. Part eit ags, der in Nürnb erg stattfand , anzus ehen . Die Kinoprogramme bl ättert e ich vergebens dur ch , und w enn ich na chfr ag te, w ie ich ihn zu sehen bekommen könnte , wa r die Antwort m eisten s Verblüfftheit. So als hätt e ich eine un erh ö rt e Zot e vo n mir ge geb en. Der ein e hielt mich für indi skret, der and ere für perv ers, ein dritter für einen faschistischen Sympathisant en . Ich muß hin zufüg en , daß die meisten di ese n Film nie gese hen hatt en . Sie hatten ihn nicht allein deshalb ni cht gesehen, we il da s Gese tz sein e öffe ntli che Aufführun g in D eutschl and verbi ete t, sonde rn auch wege n des inneren Verbot es . Ab er ge hört hat ten sie vo n ihm wie au ch da vo n , was ihr e Elt ern und Große ltern seinerz eit gemach t haben. Sie schäm.ten sich für ihr Deutschsein, und das löste bei ihn en - w ie im allge m einen bei M enschen , die sich schämen - e111 en zornigen Selbsthaß aus. Ich , der Ni cht - Deuts che , war auf den einst ir45

gen Mythos neugi eri g; abe r an we n ich mich auch w andte, alle schienen vom Tode des Mythos bes essen. Wahre Leidenschaft sah ich in den Aug en m eisten s nur dann aufle uchten, wenn der früh ere G ege nstand einer Leid enschaft negiert w urde. Um Mißv erständni sse n vorzubeugen : Nicht daß sie ablehnen, was man einzig ablehnen kann , fand ich selt sam , sondern daß sie dabei - w ie die Flage llan ten - geradez u von Genuß erfüllt waren . Und da s weckte bei mir einen Verda cht: Könnt e es sein, daß diese Leidenschaft des Zornes und der Ablehnung , diese tiefe Intoleran z gege nüber dem eigenen Deuts chsein selb st eine Art Ersatz mythos ist? Daß es sich hier nicht einfa ch um di e Bejahung oder die Verneinung des N ationalso ziali smus h andelt, sondern um die Sehn sucht nach Mytho s und irrational er Leidensch aft, die beim Errichten ihrer Tr aumwelt d er •>realen « Welt gegenüber genauso unbarmherzi g sein kann wie sich selbst gegenüber? N at ürli ch schaffte ich es, mir den Film anzuschau en . Der Ang estellt e des Berliner Film arc hiv s be gleitet e mich mit verständnisloser Mi ene in den Kinor aum, ich ließ mi ch unter wegs auf ve rlege ne Erk lärungen ein und beri ef mi ch auf au s der Luft geg riff ene »w issens chaftliche « Beweg gründe. Ich kam nicht umhin , mi ch zu rechtfertigen we der dort noch später vor anderen . Der Gesichtsausdruck mein er deutschen Bekannten nötigt e mich in ein e Situation, als wollte ich •>Liebe machen «, um einen Aufsat z üb er den Orgasmus zu schreib en. Diese Anspielun g auf das Sexuelle ist kein Zufall: D er Dokumentarfilm üb er den einwöc hi ge n Reichsparteitag leg t nämlich ein e sexuelle Met apher nah e - da s im Orgasmus end end e Zueinanderfinden des Führ ers und d er Mass e - , und er wirkt imm er noch so lebendi g, wei l er in d em , wo rüb er w ir heut e ausschließlich aufgrund politisc her , histori scher , w irt schaftlich er od er mens chenr echtli cher Gesichtspunkte urteilen (oder üb erhaupt et was sagen) könn en , auch eine Schicht aufzeigt, di e man auf solcher Grund lage weder ablehnen noch able u g-

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li1 Alles , was w ir sehen , weck e den Eindru ck ein er 111 etaphy sisc/1c11 Or dnun g - ähnli ch wie etwa die b er(.ihmt en Gemälde Cas par Dav id Friedri chs , auf d ene n w ir g leich ermaß en di e mit dem Lineal erschaffene abstrakte Ordnung und die in ihr er w ür gte g lüh end e Inbrun st bewund ern können.

nen kann. Di e latence, alles dur chdrin ge nd e Erotik in diesem Film nimmt einen auch gefa nge n , wenn man im übrige n - aus politis chen oder Geschmacksgründ en - kein Anhäng er der Bew eg un g ist ; wenn man sich aber für die se en gag iert, w ird m an in der Richtigkeit sein er Wahl nur noc h best ärkt. Kein Wund er also, d aß heutzuta ge alle vo r di ese m Film auf der Hut sind. D er Versu chung au szuwe ichen ist leicht er, als sich mit ihr auseinanderzu setzen , ind em man sie erl ebt. Die Erotik, di e sich dur ch Triumph des Willens zieht , ist jedoc h nicht nur honi gs ü ß. Wär e es so, ständ e der Film vo ll und ganz im Di enst propa ga ndisti scher Ziele - eine Anklage, die ni cht nur vo n den militärischen Unt ersuchungskommission en der wes tli chen Allii ert en nach der Bese tzun g D eutschl and s erh obe n w urd e, sondern auch in einem su btil en und vo rurt eilsreichen E ssay vo n Sus an Sontag üb er die Ri efensta hl. In den späteren, propa ga ndi stischen Film en ve rh ält es sich (ebenso wie in den Spi elfilm en des Stalinismu s) tat sächli ch so : Um den Zus chauer zu üb erzeu ge n, genießen di e Held en, was sie tun. So asex uell sie au ch sein mög en , die Frau en hab en str ahl end e Ges ichter, ein rein es Lächeln und ein en dur chdrin genden Bli ck , wä hrend di e M än ner ern st (abe r ni cht dü ster) dr ein sch auen , ihr e Haltun g Kr aft su gge ri ert und ihr e Mi enen ents chlos sen sind. In den Au ge nbli cken der id eo logische n Z u spit zun g könnte n sie leicht üb ere inand er her fallen , und es ist ni cht ausgesc hl ossen, daß das nach dem Vorhang auf dem restlichen , ni cht abgesp ul ten Stü ck Film tatsä chli ch gesc hi eht . Leni Ri efe nstahl gibt ih ren Figuren diese Mö glichkeit ni cht . Ni cht nur , wei l es sich um eine n Dok um ent arfi lm hand elt , in dem es keine »Roll en « und Darst eller gibt (von Hitl er abgesehe n), so ndern wei l hier die Erot ik ni cht der Üb erzeu gun g dient. E rotisc h ist nicht di e Zus pit zun g (das H appy-End), sond ern von der Anlag e her das Ga nze . lhr Film besc hr änkt sich zwar st rikt darauf , die N azipar te i vo rzu stellen , d oc h der Geist, der ihn dur chzieht , wäc hst

über diese Bewegung hinaus. Mir fielen in erste r Linie nicht die naz istischen, sondern die deutschen Wur zeln d es Film es auf; wenn ich das Unmögliche versuche und ihn ni cht in Kenntnis der Geschehnisse nach dem Film, aus dem H eut e zur ückb lick end, betrachte, sondern mit einem damaligen (noch ungebor enen) Ich, dann wendet sich mein e Aufmerksamkeit den vorangegangenen Ere ign issen zu. Damals weiß ich noch nicht von den Judenges etzen, die in Deut schland alsbald gelten werden, ich weiß ni cht von den Kriegsich kenne ni cht den Namen von Auschvorbereitungen, w itz und den anderen Lagern (ve rg esse n wir nicht , daß der Film 1937 auf der Pariser Weltausst ellung von den Franzosen eine Go ldm edai lle bekam!) - aber ich weiß, daß an dem Film Juden mitgearbeitet haben, ich weiß, daß Goeb bels und das Prop agandamin isteri um die Dreharb eiten ersc hwert haben , ich we iß , daß an den Vorbereitungen der Kommunist Walter Ruttmann teilgenomm en hat und wel che Wirkun g Eisenstein und der früh e sow jetische Film auf die Reg isseurin hatten , und ich kenne auch Leni Ri efe nsta hls vo rangega ngen e Spi elfil me, die nicht in der Welt der Politik, sondern in der der B erge spielen und die vo n Kon flikt en zwischen der Hingezog enheit zu den unerreichb aren reinen Gipfe ln und der festhalt enden Kraft der Welt in der Tiefe handeln - gan z im Geist des klassischen deuts chen Idealismus . Freilich ist mir auch bewußt, daß Hitler per sö nli ch die Riefenstahl mit der Herst ellung de s Films beauftragte, und ich glaub e nicht di e Hälft e von dem , was sie in ihren M emoiren üb er ihre absolute Unwissenheit und Un schuldi gkei t be züglich der politi schen Situation j ener Ze it erzählt. A bcr ich sehe, daß es die ser Frau mit dem eigentl ich naiven, aber dennoch verdorbenen Blick ni cht in erste r Lini e darum ge ht , die Nazipart ei populär zu mach en, ich halt e es - horribile dictu - ni cht einma l für ausgesc hl ossen, daß es sie bei der Arb eit an dem Film ga r nicht interes siert e, welc he Bewegung da ihren Part eitag hatte. Im Zusan1m en 149

han g mit ihr em in den Berge n spielenden Film Das blaue Licht nannt e ein R eze nsent die R eg isseurin eine »ihr er Be sesse nheit gläubige Frau Unt erm Terror nahm j eg lich er Geist vorweg etwas Um stür zleri sches an. Denn er bean spru cht e im Anges icht der üb er mä chti gen Ordnung dur ch sein bloß es D ase in eine Selbständigkeit, die kein totalitär es R egime dulden k ann. « (Ado rno ) Das alles hätt e zu einem nuan cierter en Gesamtbild gefü hrt . Und es hätte natürlich eine Bresche in die Mauer der Vorurte ile gesc hla gen . D en n darin lieg t das größt e Probl em von Cohens Film: er beo bachtet alles tendenziös selekt iert und dur ch den Filter vo n Vorurteil en . Men schli ch ist das zu ve rst ehen . Die nuan cier tere Analy se der Nazikun st bedeut et ni cht , daß eine R echt fert ig un g für den Holo cau st ge su cht werden so ll. Aber we nn der Schatten des Holo caus t gewo llt auf etw as zurückgeworfen w ird , das mit ihm au ch indirekt nichts zu tun hat, d an n geht das schw er daneben. Dann w ird die Betrachtun gswe ise des R eg isse ur s eben so despo tisch und ausschließend w ie di e de1jeni gen , di e er veru rte ilt. Auch er or dnet alle s eine m ein zig en Aspekt unt er und st rebt ein e totale Erk läru ng an. Er däm oni siert auch Per so nen , denen eine solche Wichti gkeit zu zuschreibe n unnöti g ist. Alles oder ni cht s - ganz so w ie die faschisti sc hen oder kommuni stischen A us richt unge n . (Sein Film ließ mi ch an Luka cs' Werk Zerstörung der Vernunft denk en, in dem ein schnur ge rad er Weg vom ält eren Schellin g üb er H eidegger n ach Au sch w it z führt. ) In die sem 174

Film sind ni cht nur Coh ens antifaschisti sche Bindun ge n zu erkennen, er m acht auch deutlich, daß di ese Traditionen bis zum heutigen Tag nicht zu einer nuanci ert en D eutun g der faschistischen Kunst im stand e waren. Ich sah mir mit Int eresse di e unb ekannt en Dokumente an; gleich zeitig w uch s meine Verstimmun g, daß ich wieder einmal hinters Licht gefü hrt we rd en sollte. Auch Bruno G anz konnte meine Laun e ni cht h ebe n. Er sprach Cohens T ex t , abe r während ich sein e Stimme h ör te, wo llt e ich mic h lieber an Höld erlin ennnern .

17 5

Wie die chri stlich e Tu gend und das teuflische Böse ihr e Kräfte messen. Goeth und Schind ler: Zweikampf der Geme111pEitze .

LISTE « : »SCHINDLERS DER DISKRETE CHARME DER AUFKLÄRUNG

Nichts vermag Ph antasie

den sü ndi ge n Strude l in der

des Men sc hen so aufzuwcihlen

w ie ei n Geme inpl atz. Deshalb

ko111mt es

vor, daß e in e Red e ode r So nnt agspredigt

die

am tiefst en ver bor gene n Gemeinheiten

im

Men sc hen wec kt un d schürt . UELA HAMVA S:

Karne va l

Di e Dinosaurier b egan nen sich zurü ckzuz iehen; zug leich w urd e über Oskar Schind ler imm er m ehr bekan nt. Dabei ga b es ein e Zeit, als n oc h kein er der b eid en Film e geze ig t w urd e : Spie lb erg wa r schon dab ei, in Krakau Schindlers Liste zu drehen, und g leichze iti g - in den P au sen arbe it ete 1,oc/i an d en K o rr ektur en von ]11mssic Park, di e ihn er i111111er per Satellit err eicht en. Wir könnt en sage n, d em Work aholi c Spie lb erg ge lan g es in diesem Fall, di e »ernste« und d ie »Ge ld«arbeit auf einander abzustimmen; aber die se »Arb eit sw ut « kann un s - w ie John ß crge r - auch mißtrauisch machen. Obendrein ste llt sich un we ige rli ch ein e merkw ürdi ge Frage : Warum hat nicht Schi ndler selbst, die hi storische Figur, sein H eld entum vermarktet? Seien wir ni cht sentim ent al, an t wo rt en w ir nicht sofo rt , für Schindler sei die »h eili ge Sache« wichtiger als alles gewesen. Schli eß lich handelt es sich um ein en gew it zten , gesc hi ckte n , leb ensfro hen Mann, der et was vo m Geld verstand und sein en eige nen Nut zen auch dann für kein en Moment ve rgaß, als er Jud en rettete. Und d enno ch: ni cht nur , daß kein Nationa lheld aus ihm w urd e, er kam ni cht einm al in die Ge schi chtsbüch er. E r war auß erstande, au s sei ne m »Heroismus « eine 177

Karri ere zu schmi eden - so ga r im Gesc häftli chen vers agte er ein um das and ere M al. Warum überli eß dieser D eut sch e das Te rr ain and eren und aus ge rechn et ein em A m erik aner? Da s Rec ht , sein Leben zu verfilmen, hatt e ihm die M etr o Gol dwy n M ayer b ereits 19 62 abge k auft , und o bgleich di e Gesellschaft m ehr ere zehnt aus end D o llar d afür au sgege b en hatt e, w urd e ni cht s aus dem Proj ek t. D ann schri eb der Au str alier Thom as Ken eally einen Rom an üb er ihn ; au f das T hem a wa r er zufalli g ges toßen , und er hatt e sofo rt zugeg riff en , den n es wa r sein innig ster Wun sch , ein en Bestseller zu schr eiben , umj eden Pr eis. D er E~folg ließ auch da au fs ieh wa rt en. Was dennoc h auffallt: Viele w itt ert en in der Gesc hi cht e üb er di e Rettun g vo n 1 2 00 Jud en - un abh än gig vo n ihr er hi storisch en , m ora lischen und religiöse n Be deutun g - vo n vo rnhe re in ein Ceschaft, o hn e es aber unter Dac h und Fach bringe n zu kö nn en. An schein end br aucht alles sein e Z eit. Wi e im Mär chen - und ein we ni g au ch an K ö ni g Mid as erinn ernd - mu ßte Spielb erg in E rscheinu ng tret en , damit au s dem Ge schäft w irkli ch et was w urd e. Und d er Film brau chte n oc h ni cht einm al auf ge führt zu we rden , d amit sich w eltw eit der M echani smu s in Gan g setzte. K eneallys Bu ch w urd e »w iederentd eckt «, und die Bü cherindustri e in aller Welt über zeu gte die K ritik er, die aus dem im übri ge n sehr mitt elm äßi ge n Ro man »un erw art et « einen Bu ch erfol g ma chten; das deutsch e und d as po lni sche Fern sehen produ ziert en ein en D o kum ent arfilm übe r Schindl er , in der deutsch en Pr esse, vo n der Ze it bi s Prinz, fo lg te ein Artikel üb er Schindl er auf den and eren, und als Kr önun g v on alledem Z eichen des ab solut en Er folgs - lud in RTL Go tts chalk neben Film sch auspi elern und Tenni scracks für zehn M inuten auch die vo rh er völli g unb ekannte Witw e, E milie Schindl er , samt eini ge n sy mp ath ischen alten Jud en zu seiner Talk-Sho w ein . Di ese lbe Ges chi chte , imm er wi eder and ers serviert. Di e Ko lumnist en der Ze it o der der FAZ schr eckt en au ch nicht vor einer Zerpflücku n g gesc hi chts -

philosophischer Zusammenhänge zurück, wo bei sie - ni cht ga nz g rundlo s - sagten, die D eutsch en h ätten Schindler ver mutli ch deshalb aus ihr er histori schen Erinnerung ver drän g t, we il er das lebendige Beispi el dafür war, d aß man sehr wohl etwas gegen Hitl er unt erne hm en konnt e; Gottschalk w iederum drü ckte auf die Tränendrüsen - in seine r Sendung fehlt en nu r noch kl eine M arzipan-Krematori en. Warum ist da s alles inte ressa nt? Weil zu den M erkmal en des »realisierten « Erfolgs gehö rt, daß sich scheinb ar unvereinb are Ding e vermischen und ve rfl echt en . Bevo r also überhaupt gefragt werde n könnte, ob die ser Film gu t od er schlecht ist (mei ne M einun g: er ist mitt elmäßi g), sollt en wi r un s dem M echanismus zu we nd en, der ni cht nur fehl erfrei funktioniert, sondern der dies e Frag e auc h von vo rnherein entkr äftet, zw ingt er den Zuschau er do ch in eine Situati on , in der ihn gegensä tzlich e Gefühl e gefange nn eh men. D enn ein wenig m aliziös kann er sag en, na ch vielm aligen Anläuf en hab e es ein Spielberg endlich gesc h afft , Kapital aus der Leid ensgeschichte der Jud en zu schlag en und das ist auch so, we nn w ir w issen, daß der R eg iss eur zugunsten jüdi sch er Organisationen auf j eg lichen Profit ve rzicht et ha t. Aber er kann auch aus der anderen Ri chtun g an d en Film heran ge hen und sag en , Spielberg hab e v iel Ge ld investiert, um der Welt Schindler vorzust e1le n , um etwas zu erzählen , was, be so nd ers in Amerika, nah ezu gänz lich in Vergesse nh eit geraten ist , um also einen Damm gege n da s Vergessen zu errichten . Und dan n kann er, vo r allen Dingen in Europa, auch no ch dies ziti er en: organisierte Skinheads, N ationali smus , Antisemitismu s, Populismus , Au sländ erf eindlichk eit usw . Mit einem Wort , Spielberg ist nichts zu teu er, wenn es darum ge ht , der »Aufkl ärung « zu di enen, der gu ten Sache. B ei di esem Film achte ich also in erst er Linie ni cht dar auf, ob er gut o der schlecht und ob er histori sch authentisch ist, sondern ob ich ihm die unbe streitbar e g ut e Absicht anmerke oder eher das ebenso unb estreitbar von schiech 179

tem Geschmack zeugende Hollywood-Schema, das ja überdeutlich erkenn bar ist. Ich we iß , manche Kritiker halten es für pietätlos, im gegebenen Fall die Ästhetik des Films zu untersuchen; ich weiß auch, wer den Film nur ästhetisch analysiert, kommt moralisch ins Gerede . Dennoch muß man Wolfram Schütte in seiner Argumentation gegen einen Kritiker recht geben, der den ästhetischen Aspekt des Films als zweit- oder gar drittrangige Frage bezeichnet hatte: »Er hätte mehr recht damit, wenn nicht alle diese Fragen unisono vom Tisch gefegt und nicht jeder Versuch inkriminiert würde , ebend iese (un)kritische Resonanz als Teil einer gesellschaftlichen Verblendung zu verstehen, welche außer dem Gedanken politisch-moralischer Instrumentalisierung des Films keine abweichenden Gedanken der gese llschaft lichen Selbstreflexion mehr gestattet.« (Wie Schindler unter deutsche Liste kam, Frankfurter Rundschau, 30.4.1994) Es handelt sich um einen unbestreitbar gutw illi gen und anständigen, aber zug leich eben doch einen HollywoodFilm. Sowohl als auch. Ein Paradoxon. Kein Wunder, daß er die Gemüter so erregen kann - viel stärker, als wenn er nur Hollywood repräsentierte (wie jur assic Park, über den nicht gestritten wurde) oder ausschli(j]lich einer Betrachtungsweise Raum gäbe, wie wir sie beispielsweise in den auch auf deutsch erschienenen Büchern von Primo Levi, Piotr Rawicz oder Imre Kertesz finden. Spielberg wollte statt dessen jedem gerec ht werden und alle Erwartungen erfü llen. E r hatte das breite Publikum im Auge, kokettierte dabei aber mit dem Geist. Wir wissen, dies ist auch das Geheimn is der Mittelmäßigkeit: das Sowohl-Als-auch. Was natürlich die Möglichkeit der von Wolfram Schütte erwähnten »gese llschaftlich en Selbstreflexion« ausschließt. Und die von einem eno rm en finanziellen Hintergrund sub ventionierte Mittelmäßigkeit hat in der Mehrheit der Kritiker weltweit ihr e Handlanger gefunden - was so typisch und verräterisch ist in bezu g auf das intell ek tuell e Niveau der Gegenwa rt wie kaum etwas anderes . Ich möchte hinzu180

fügen: Di e Erfolgsgeschichte dieses Films ist auch eine Fo lg e d er Feigh eit de s Geistes (der freili ch nicht mehr als Geist zu be zeichn en ist, da der Geist zur Vorau sse tzung hat, daß er autonom ist). Denn es ist nur mit Unt erwer fung unter ein e Art morali sc hen Terrors erklärbar, wenn nur we nige in bezu g auf einen Film üb er den Holocau st d as Wort Kit sch auszusprechen wagen - und wer es tut , kann damit rechnen , geä chtet zu werden. Und außerdem können w ir ein typis ches Merkmal der Feigheit beo ba cht en : Die m eiste n Kritiker moralisieren, nur um ni cht gegen d en Kon sen s zu verstoßen, »kämpferisch «. Liest m an Kritik en über d en Film, fallt zum Beispiel die se paradox e Situation auf: J e kämpferischer ein Kritiker ihn verteidigt, um so deutlicher ist, daß er nicht die eigene M einung ve rtritt , so nd ern d em Herdentrieb folgt. Um auf die Fr age zurückzukomm en , wa rum di e Geschi cht e Schindlers auf Spielberg warten mußt e, um endli ch ein gesc häftli cher Erfolg zu werden - m eine Antwort lautet: we il in Europa das Geistesleben derzeit einen Tiefpunkt erreicht h at, bei dem in allen B ereichen das Dur chschnittli ch e maßb es timm end we rden kann und diejenigen d en Ton ange b en könn en, für die früh er ledi glich am Rand des Geisteslebens Platz war. Und di esmal h an delt es sich n icht um d en Gegensatz zw isch en Link s und R echts , so ndern um di e Konfront ation von Dummheit und Int elligenz, von Mittelmäßigk eit und ge isti ge r Autonomie. Stellen wir un s vo r , wie di sso nant der Chor der europäi sc h en Kritik würde, wenn sich unv erhofft ein Adorno , ein Brecht, ein Taub es zu Wort meldete! Gerade die kriti sc he Aufnahm e di eses Films läßt auch das Fehlen ein er int ellige nten kunstauf ges chlossenen Linken so schmerzlich d eutli ch we rd en. Adorno schrieb 1960 in se inem Aufsat z Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?: »Was immer propa ga ndi sti sc h gesch ieht , bleibt zwe ideutig. Man hat mir die Geschichte vo n einer Frau erzählt, die einer Aufführun g des dramatisierten Tagebuchs der Anne Frank beiwohnte und 181

dana ch ers chütt ert sagte: ja , aber das Mädchen h ätte m an do ch we ni gs ten s leben lasse n so llen. Sicherlich wa r selbst das g ut, als erster Schritt zur Einsicht. Abe r der indi viduelle Fall, der aufklärend für da s fur chtbare Ganze einstehen so ll, w urd e gleichzeiti g dur ch seine eigene Indi viduation zum Alibi des G anzen, da s j ene Fr au darüb er ve rgaß . Das Ver tra ckt e solcher Beoba chtun gen bleibt , daß m an ni cht einmal um ihr etw illen Aufführun ge n des Anne - Frank-Stückes, und ähnlichem, widerraten kann, we il ihr e Wirkung ja doch, so viel ein em daran auc h wider st rebt , so sehr es auch an d er W ürd e der Tot en zu freve ln scheint, dem Potentia l des B essere n zufli eßt. Ich glaub e au ch ni cht , d aß dur ch Ge m ein schafts tr effen, B egegn un ge n zw ische n jun ge n D eut schen und jun ge n Israelis und and ere Freundschaftsveranstaltungen allzu viel ges chafft wird, so w ün schbar so lcher Kontakt auch bleibt. Man ge ht dab ei allzu seh r von der Voraussetzung aus, der Anti sem iti sm us hab e etwas Wesentli ches mit den Juden zu tun und könn e durch konkr ete E rfahrun ge n mit Jud en bekämpft we rd en, wä hr end der gen uin e Anti semit vielm ehr dadurch definiert ist, daß er üb erhaupt keine Erfahrung en machen kann, daß er sich nicht anspr echen läßt.« [Amer ika mö ge in Klamm ern stehen. D er Holocaust vollzog sich ni cht dort , und deshalb vermochte er di e erfo lgso rienti ert e am erikanisch e Zivilisation ni cht so zu erschüt tern w ie die europ äische, deren we ite ster Hori zo nt lan ge - sehr lange - durchau s nicht der hand g reifliche Erfolg wa r . K önnt e es sein , da ß nur w ir Europäer Ausch w it z als Skand al der Schöpfun g sehen ? Sieht es auch ein Am.erikaner als solchen? Oder ein Chinese? Od er ein Ind er? Und we nn ni cht - was vö lli g vers tändli ch w är e (denn auch w ir betracht en ja ni cht als wirklich skand alös, was die europ äisch e Zivi lisation jahrhund ertelang auf anderen Kontin en ten angestel lt hat) - , mit welchem R echt erwart en w ir dann von Spielberg, daß er denkt w ie etwa Paul Celan? Und ein weit erer Verdacht: Wenn dieser erfolgr eiche Film 182

ein Abdru ck des erfolgr eichen »Am erican w ay of li fe« ist , bedeut et dann das m aßlo se Ho siann a der eur o päi schen Kritik er ni cht stills ch we igend au ch di e kritiklo se Vergö tt erun g der erfol gso rienti ert en Lebensein stellung - o bendr ein unt er dem D eck ma nt el des Hol oca ust , w as di e von Ad o rno wa hrg eno mmen e Verlet zun g der » Würd e der Tot en « bedeut et ' D ieses Ge fühl hatt e ich beim Lese n von An athema. D er H olocaust und das Bildert1erbot vo n Sieg fri ed Ko hlhamm er (M erkur, H eft 6, 1994 ), in d em der Autor eige ntlich tr effend , doch vollkomm en unkriti sch - von Schi11dlers Li ste b ehauptet, di eses Werk reprä sentiert e >da s Prin zip der Mod em e< (S. 508 ) und >es sei ein Film gege n di e To talitari sm en der alten Welt, deren Weltr ettun g und M enschh eitsbeglü ckung und deren Großinqui sitor en , für die Rettun g des Individuum s und sein säkulares G lü ck< (S. 509 ). Es ist recht merk w ürdi g, daß er dabei üb erh aupt ni cht mit Fasc hi sten o der Kommuni sten po lemi siert , sondern au sge rechn et mit C laud e Lanzmann , einem j ener we ni ge n , di e den H o locau st ni cht m it der ratio nali stischen (d. h.: leid enschaft slosen , letztendli ch: auf Erfol g ori enti erten ) Lo gik der Unb etroff en en zu erfa ssen versuch en - und nennt di e Reinh eit sein es Film s Sh oah, vielleicht we il er das m einun gs bild end e Ge sellschaftsspi el man cher sog enannter Aufklär er ve rdorb en hat , ,ein Char akteristikum totalit ärer , fun da m ent alistischer Re gim e und Bewe g un ge rn (ebenda , S. 508) .] Um Miß ve rständni ssen vor zub euge n , mö cht e ich betonen: Ich billi ge ni cht d en Standpunkt all derer, di e den H olo cau st als Werk des verk ö rperten Bös en ablehn en , denn er sugge riert un ausge sprochen, es existier e ein ab so lut er M aßstab auß erhalb der Welt ; doch ich tue das nicht , um auf diese Weise das B öse zu relativier en, d. h. freizuspr ech en , od er zumind est sein e Verant w ortun g zu schmäl ern . In dem s konBu ch G röße und Scheitern des radikalen Unit1ersalisrn11 strui eren A gnes H eller und Feren c Feher einen solch en Gege nsat z, und Ri chard Ro rty we ist in sein er Kritik des 183

Bu ch es zu Recht darauf hin , d aß di eser Gegensatz ein künstlicher und falscher ist: R elativismus und Ab so lutismus se ien je ein e Seit e de rselben Mün ze vo n zwe ifelh aftem Wert. (Ri chard Rort y, in: H o lrni , Budap est, Au gust 1994 , S. 1228) Es ist, als bedi enten sich di e Kritiker von Schi11dl ers Liste au s Furcht, des R elati v ismu s be schuldigt zu werden, d er Sch euklapp en der ab so lut en Wa hrh eit, dab ei ve rges send, daß das Verbr ec hen d es Holo cau st ger ad e im Namen em er Art abso lut er Wahrh eit bega ngen wurde. In zw isch en ist di e Gefahr der Verkündun g ab solut er Wahrh eit en klar und deutli ch geworden; und we nn j emand dies e Wahrheiten able hnt , b ed eute t das nicht , daß er Erk lärungen oder Fr eispru ch für alle s sucht. Man kann vo rn Holo ca u st sehr wo hl angewi d ert se in, ohne sich dab ei auf abso lu t g ültige Prin zipi en zu b erufen. »Es ist bewundernswert, di e Schuld der schlimmen Ver ga n g enh eit zu bek ennen«, sagt e jüngst Su san Sontag 111 ein em Gespräch. »Ab er das sollte ni cht da s eige n e Urteil ruini eren. « (Frankfurt er Rundschau, 13. T. 96) K ehr en wir zum Film zurück' Für mich hand elt di eses Werk in erster Linie vom d erze iti ge n int ellektuell en Verfall und von der G hettoi sierungj eg lich er ge isti ge r Sou ve ränität . Das ist es, was Spi elb ergs Film noch exe mplaris ch er macht als die Film e Kri eg der Sterne oder E. T. An diesem Problem ge me sse n , ist die geze ig te Stor y, die Geschichte Schindlers , des Kr aka u er Gh etcos oder d er Juden , wa hrhafti g ziemlich gew ichtlo s, und beim Betra cht er d es Films v erbl aßt sie, nachd em er ihn gese hen hat , vo n Tag zu Tag m ehr. Spielberg sc huf- und hi er ge ht es ni cht um sein e subj ekti ve gute Absicht (di e nicht zu b es tr eit en ist , wes ha lb ich ihn selb st auch nicht als Zy nik er beze ichnen wü rd e) - ung ewo llt eine Fallensituation . Al s Ergebnis d er mit Geld ve rwobe nen aufklär eri sc h en Ab sicht stellt sich da s Ge ld hi er un sc huldi g d ar (als neutral es Mitt el) - sc hli eßli ch xc hövt es sich 11icht , nach mat eriellen Zusamme nh ängen zu frage n , wenn es um den Hol oca u st geht. Z uglei ch bes teht k ein Zwe ifel, d aß da s nicht gesc h eh en könnte, we nn nicht au ch di e Aufklärun g

selb st zu ein er käuflichen Ware gewo rd en wä re. (Brill ant estes Be ispiel hierfür ist die Frühj ahr smod evorst ellun g 199 4 in P ar is, bei der - nach dem illu stri ert en B ericht der Süd deut schen Z eitung - Rei K awakubo zu jüdis cher Mu sik M ann equin s aufmar schi eren ließ , deren Kl eider an di e Kl eidun g der Jud en in S chin.dlevs Li ste erinn ert en .) Schindlers Liste als Filmphänomen hand elt also au ch davon , daß h eut e die soge nannt e Aufkl ärun g und der Erfo lg ni cht vo nein ander zu tr enn en und ohn eein and er nicht denkbar sind . Diese r Film ist deshalb in m ein en Au ge n ein e in di e Geschi cht e der Verfol gun g und Rettun g v on Juden verpa ckt e Erfolgsgeschichte. Kein Wund er, daß die Vert re ter der Medi en so einh ellig für ihn P art ei ergreifen - sind ni cht alle Medi en von d er Hoffnun g auf Erfol g b esee lt? Ich mö cht e betonen : Es handelt sich ni cht einfa ch um die Gesc hi cht e vo n Schindl ers Erfol g (w enn gleich au ch sie ein e Roll e spi elt ; Schindl er rett et di e Jud en , di e de r böse Dr ach e Goe th ve rschlin ge n w ill, w ie ein mitt elalterli cher Ritt er - und er ähn elt sehr auch Indi ana Jon es, der die Faschist en imm er so erfo lgreich üb erlis te t!), sond ern um ein e der er folgreichen Akti onen , bei denen , entspr echend darge bo ten , alles Beliebige ve rka uft we rd en kann - sei es die Höll e, sei es di e Aufklärun g . Und ich mö chte gleich hin zufü gen: Di ese Erfolgsgeschichte ist ni cht zu tr enn en vo n der Geschicht e der neuzeitli chen Aufklärun g . Spielb ergs Werk als Film bew eist , daß das Aufklär en nur für den wi chti g ist , der Geld , also M acht , hat . D as w iederum bedeut et, daß sich die krampfhafte Ab sicht , aufzuklär en , zu gleich auf di e Vert eidi gun g der erwo rb ene n Ma cht und des Ge ldes richt et . D enn we r w ill aufkl ären ? Wer auf der Sonn enseite des Lebens steht und deshalb m eint , au sschli eßli ch er verfü ge üb er »Licht «. Und we n w ill er aufklär en ? Diej eni gen , di e no ch auf der Schatt enseit e stehen und sein er An sicht nach ni cht an gemesse n sehen . D esh alb ist es für viele so ärgerli ch , we nn m an sie um j eden Prei s aufklär en o der vom Guten üb erzeugen w ill: m an ma cht ihn en unverm eidli ch ihr e eige ne t 85

Wahrheit streitig und will ihn en eine andersartige Wahrheit aufdr än ge n . Denn es trifft zwar zu, daß die sogenannten notorischen Aufklärer ste ts den Dialog proklamieren, aber in Wirklichkeit verteidigen und stab ilisiere n sie doch nur ihr e eigene n Positionen. Spielberg ist es gel un gen, einen Film zu drehen, der alles andere als zynisch zu nennen ist, der j eden gutmeinenden Menschen überwältigen muß - dessen Logik j edoch (ob man nun an die Story oder an die Dramaturgie oder an di e Vertriebschancen des Films denkt) sich nicht von der von Krieg der Sterne unter sche id et . Um ein en in Mode geko mmenen Ausdruck zu benutzen: So funktioniert die Dialektik der Aiifk lärung . Sie äußert sich bei dies em Film darin, daß der Regisseur ein em Menschen gleicht, der in großer Gese llschaft zwar sein em Gesprächspartner zuhört, aber gleichzeit ig un gew ollt auch die an deren beobachtet (und erinn ert nicht un sere ganze Welt an ein e solche gesellschaftlich e Zusa mm enkunft? ) Innerlich hält er sich immer woan ders auf, nicht dort, wo er dem Anschein nach ist. Er tut als ob. Dafür ein Beispie l. In dem betont in Schwarz und Weiß ged rehten Film ersc heint der Mant el ein es fliehenden jüdi schen Mädchen s unerw art et in Rosa. Später, in einem freige legte n Leichenberg, ersc heint dieser Mante l no ch einmal - ern eut farbig. Für einen Augenblick stocke ich . Ja; jetzt müßte ich gerührt sein : Dunkel und Licht, Farbe und Tod, Gesichtslosigkeit und Unschuld und obendre in ein tot es Kind. Etwas stör t mich dennoch: daß da s alles so gesc hickt ausgedacht ist. So daß ich schließlich deshalb ni cht ang erührt bin , we il ich weiß, der Regisseur w ill, daß ich ge rührt bin. Z ugl eich kann ich, es geht ja um ein Kind, nicht so tun , als ließ e es mich kalt, da s kann ich mir hö chstens innerli ch sage n. Der Regisseur jedoch weiß im vo raus, daß ich ni cht den Mut aufbringe, nach außen hin un ger ührt zu sein, er we iß also auch, daß ich weiß, daß er es weiß . Und so we iter. Beid e tun wir so, als nähmen w ir einand er ernst, dab ei sind wir unabläs sig auf der Hut und acht en auf alles, 186

nur eben auf das Mädchen nicht. Würde man uns fragen, gäben w ir aufricht ig zur Antwort, gewiß, w ir achten nur auf das Mädchen; in Wirklichkeit aber ist die Gleichgültigkeit, die wir zuinnerst em pfind en, ebenso aufrichtig. Kurz, wir lügen zwar nicht, aber w ir sagen auch ni cht die Wahrheit. Wir bene hm en un s w ie moderne, auf gek lärte Menschen. Wir spielen ein Gesellschaftsspiel. So ist der ganze Film. Welche Bildfolgen ich mir auch ins Gedäc htni s rufe, ich sehe , daß keine mit sich selbst id en tisch ist. Jede behauptet etwas und wird dem dann nicht gerecht. Da ist zum Beispiel di e Schwarzweißtechnik. Meine Reaktion: end lich ein Nicht-Farbfilm üb er Au sch witz. Ein Anti-Kommerzwerk. Aber wie sich die Bilder mehren und wie di e Zeit ve rgeht, so sehe ich immer deutli cher nur, w ie vo llkommmm en und w ie schön die einze ln en Aufnahmen sind . Der Fall der Schatten, die Reibung des Lichtes, das Spiel von Schwar z und Weiß - alles ist so üb erwältigend, als wäre Helmut Newton oder Robert Mapplethorpe der Kameramann gewese n. Die Bilder knistern geradezu, so frisch und strah lend ist alles. Ein wenig wurde ich auch an die sch warzweiße n Teile in Lars von Triers Europa erinnert , diesem zu Unrecht to tg eschwiegenen Film, der die Folgen des Weltkriegs äußerst differenziert wiedergibt . Aber wä hr end dort die steri le Perfektion zum Wesenselement der dargestellten Welt werden k onnte , blieb sie hier bloße technische Bravour und stellte verlogen als schön hin , wovon ich weiß, daß es ni cht schön ist. Diese Technik erinne rt ein wen ig auch an die italienischen und französischen Film e der fünfziger J ahre; aber in ihnen drückte das Schwarzwe iß die Farb lo sigkeit des Lebens aus. Hier hingegen fallt der Gegensatz zwischen der professionellen Fehlerlosigkeit der Aufn ahm en und dem vorgeführten Grauen auf. (Spie lb erg versuchte ihn zu überbrücken, indem er unm erk lich auc h das Grauen selb st zu etwas ästhetisch Erträg lich em verfeinerte: die ve rfol gten Juden sind meistens schön, edel und auc h als Verschleppte w ürd e-

voll; der Schmutz des Ghetto s zeugt von der perfekten Arbeit der Au sstatter ; di e Kind er sehen aus, als wären sie aus MuriHos Bildern gestiegen.) Kur z, zu den großen Tricks von Schindlers Liste gehört, daß der Film mit Schwarzweiß die gleiche Wirkun g erzielt, als ob er in Farb e gedreht word en wäre. Er nimmt die H erausford erung von Anti-Hollywood an und erringt mit einem gesc hickten Dr eh einen Schultersieg. Da s Ergebn is ist ein Anti-AntiKommerzfilm. Wieder möchte ich hin zufügen: Ich zweifle nicht an Spi elb ergs Gutgläubigkeit. Was mich na chdenkli ch sti mmt, ist das Schicksa l dies er Gutgläubigkeit, wenn sie die Bedingun ge n der modernen Öffentlichkeit akze pti er t. Oder betrachten wi r die Bli cke. Isaak Stern und Schindler bei der ersten Besprechung . No ch sind beide beim Abta sten , no ch wagen sie nicht, ihre Karten aufzudecken. Dann sehen sie sich in die Augen - genauer, wir sehen, w ie sie sich ans ehen. Sie spie len, daß sie sich nicht versteh en , dab ei sind sie sich üb er die Gedanken des anderen sehr w ohl im klar en - und wir, die Zuschauer, spielen (oder sind zumindest berufen , es zu spielen ), daß wir diese verständnisvolle Vers tändni slosi gke it für tief und m enschli ch halten. Doch wir dur chschauen die Ab sicht des Regisseurs so, wie Stern und Schindler einander durchs chau en. Wir dürfen aber di e Spielr egel n ni cht umstoß en, sonst beginnt der ganze Film rissi g zu werden. Ein anderer Blick: der Gesichtsausdruck Go eth s, des SS-Kommand eur s des Arbeitsla gers, nach einem kur zen Schwank en. D en sadistisch en Unm ensch (ein wa hr er Wolfsm en sch) über zeugt Schindler , daß die echte Kraft im Ver zeihen lieg t . Tatsä chlich verze ih t Goeth am Tag darauf - und dana ch könn en wir in einer lang en stummen Szen e das »Drama « seines Mienenspiel s verfolgen. Die Tugend des Verzeihens erw eist sich als schwächer als die Blutrünstigkeit, und Goet h wande lt sich unter un seren Au gen so, wie der Beichtvater im Exorzist zum Teufel wird . Wie glaubwürdig , suggeriert der Film: ein Ungeheu er, das einen komr88

ple xe n Charakter und eine komplizierte Seele hat (sow ie ob endrein, als Faschi st , gut aussieht). Dabei handelt es sich led iglich um den phr asenhaften Zu samm enstoß zwe ier Gemeinplätze (christliche Tugend, satanische Sünde) j edo ch so, daß alles suggeriert, jetzt, di esmal sei Schluß mit allen Gemeinplätzen. Was w ir sehen, ist ein Anti-AntiGemeinplatz. Das ließ e sich fort setzen. Die jüdi sche Hau shälterin , in der un ve rmittelt d as Selbstbewußtsein erwacht , und während sie kla gt und anklagt, habe ich den Eindruck, sie sei eine Figur aus Dallas. Die Wört er handeln von der Erniedrig un g der Jud en, aber die na salen Diphtonge komm en aus dem Mund einer selbstbewußten Am erikanerin. Das ferne Ko nzentra tionslag er in abendlicher Beleuchtun g: im Prinzip die H ölle auf Erden; in Wirkli chkeit eine Basis auf einem fremd en Plan eten aus einer Science-fiction. Das Krakauer Ghetto: leb en snaher als die Wirkli chk eit, so daß es den E indru ck eines Theaters weckt . Schindler, der Frauenheld: ein biß chen Hochstapler, ein bißch en inkorrekt , aber w ie gut er doch aussieht, und was am w ichti gste n ist, er hat das Herz auf dem rechten Fleck. Und üb erhaupt , we r die Jud en so sehr mag, darf auch leichte (sehr leichte!) Fehler haben . Das macht ihn noch m enschli cher, no ch lieb ens we rt er. Ist Schindlers List e ein schlechter Film? In ge wisser Hinsicht ist er es keine swegs - ich muß das auch dann zuges tehen, we nn mich di ese Aspekt e überhaupt nicht intere ssieren. Ist er dann also gut? Das würde ich auch nicht sag en, obzwa r ich we iß , daß Spielb erg mit ihm ein e gu te Ab sicht verfolgte, außerdem war er be ispi ellos erfolgreich und wurde von der amerikanisch en Filmkritik auch schon zum »besten Film der let zten fünfzig Jahr e« proklami ert. (Was m ag w ohl 1943 auf ge führt worden sein, das nicht einmal von di esem Film üb ertroffen werden konnte?) Wie ist er also dann ;i Wenn ich zuvor geschrieben hab e, sowohl als auch, dann sage ich j etzt: weder-noch. Ein großangelegter

Film, der mich aber kaltläßt. Ich kann kaum sagen, mi ch intere ssiere das Schicksal Schindler s und der Jud en ni cht aber dieser Film hat mein Int eresse ni cht geweckt (um vo n Kathar sis, Erschütterun g, E rgriff enh eit usw. ga r ni cht erst zu red en). Zud em geht es ni cht um den Holocaust, sondern um ein en Film üb er den Hol oca ust. Und das ist sehr wo hl zwe ierlei. Selb st we nn ein e w eltwe it e, von ein em m äc htigen Fin anzapparat ges tüt zte Propagandamasch ine Milli onen M enschen einbleut , d aß es ein und dasselb e sei. Bei E. T. ode r K rieg der Steme verwechselte niem and das Ge nr e des Holl yw oodfilm s mit der geze igten Geschi chte , da war klar: es gi bt ein en eingefa hr enen , gut funkti o ni ere nd en M echanism us (di e Filmindu strie ), und es gibt Artik el, die man verkaufen muß. Jet zt wi ll mir scheinen, der Logik und dem Zwang der Filmindu stri e ge horch end hat der Hol ocaust zu d en verkäuflichen Artike ln aufge schlo ssen. Selbst we nn sich , ein wenig geni ert , alle so ve rhalt en , als wäre es di esm al ausnahm sweise ni cht der Fall. Die Log ik ist jedoch die gleiche. Au schw it z, Dinosauri er, G ummit edd ys, E. T. - unb est ritt en , j eder ist leicht auszunutzen. Die Kind er ebenso w ie im gege benen Fall di e Holo caust-Op fer. Ich akzep tiere di e gute Ab sicht des Film s und wage zu behaupten, Vor auss etzun g für sein Zustandekommen war, daß auch der Regisseur still sch we igen d den allgemeinen Konsens anerkannt e, der die damali ge Darbrin g un g echt er O pfer als histori sche Tatsache bet racht et und darüber hinweggeht. Nicht in Wort en (denn laut läßt sich auch das Gege nt eil behaupt en), so nd ern dur ch di e An erk ennun g der Logik, die das Schicksal d er dam alige n Opf er zu ein em K ett englied der ration alen Ar gum en tation macht. Au ch das ge hört zur Di alektik d er Aufkl ärung: Sie protestiert zwa r mit Wört ern gege n da s Schicksal der Opfer, doch zug leich belegt di e Lo gik ihr er H andlungen , daß sie sich mit di esem Schick sal dur chaus abfind et. Sie pr edi gt Wasser und trinkt Wein . Mit j ed em Wort di ent sie sc heinb ar der )>Wahrh eit «; pr akti sch aber verteidigt sie au ssc hließli ch und

mit allen Mitt eln die eigene Macht . So steht es heut e um die Aufklärung: Die soge nannt en bea mt eten Aufklär er , die Spielberg auf den Schultern tra gend en Kritiker und Int ellektu ellen , formie ren sich zu einer Arm ee, wis send , daß ihr e Ma cht allein dur ch die Koop eration , den K onsens ges ichert w ird. Arm er Voltair e; w ie einsam fohlt e er sich , wenn es ihn in di eses gut funktionier end e gesellschaftliche Gese llschaftss piel versch lü ge' Spielberg w ill mi ch glauben mach en, sein Film handl e von etwas , das sich auf eine in Wört ern und Bild ern gest altete Geschichte redu zieren läßt. Er äußerte, sein prim äres Ziel sei diesmal ni cht ein Erfol gs film gewesen , er hab e, Selhstbeherrschung be zeugend , das Andenken der Opfer ehr en wo llen . Ab er we nn ich mir di ese oder j ene Szene de s Film s gründlicher anschaue, sehe ich , daß vo n etwas ande rem di e Rede ist: von einem Versuch, all das, was den M enschen »heili g« ist (ob nun der Ho locau st oder all die g roßen Werke d er Schwar z-weißfilmkunst ), irg end w ie in die Sphäre des »Profanen« emzub eziehen . Das nennt man, mit anderen Wor ten, Aufklären und Auf ge klärt we rden: d as im Heili gt um Befindli che ans Tage slicht zu bringen. Ich bestr eite di e gute Absicht des Film s und des Re gisseur s nicht im ge ringsten , aber ich bin mir darüber im klaren , daß der M echanismu s, dem er folgt, in tiefem Kontrast zu den Absichten steht, dem er mit Wort en Ausdru ck ver leih t . Ich wäre also nicht verwundert, wenn es dem gutgläubigen Kinobe such er nach di esem Film statt ein es kath artisch en Erlebn isses so erging e, wie es im voran ges tellten Motto der brillante un ga rische Schriftsteller Bela Hamvas, ein tra gisches Opfer der stets auf ihr aussc hli eß liches Re cht auf Aufklärung po chenden soz ialistis chen Id eo logie, vo rausg esag t hat.

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»G ROSSE WAHRHAFTI GKE IT« Roman eines Schicksallosen von Imre K ertesz

Wer das Gesc hehen nicht erlebt hat , w ird es niema ls erfassen.

Und

wer es erlebt

hat ,

wi rd es n iemals ent hüll en. Nic h t wirkl ich, nicht vo llk om m en. EUE WIESEL,

Penser Auschwit z, 1989

Ausgeben möchte ich vo m Anfan g, v on den letzten Sätzen de r letzten Seite, wo Roman ei1·1es Schicksallosen, ein er d er bedeutendsten ungarischen Rom an e der ve rgangenen J ahr zeh nt e, mit ein er Verheißung schli eßt , falls die Verheißung übe r haupt als Schluß und ni cht eh er als Öffnung zu bezeichnen ist - als Öffiiung zum Unbekannten, dorthin , wo der Leser die bish er vom Autor getragene Last we it ersch leppe n muß. Zu u ns spricht ein aus der Dep ortatio n h eimgekehrtes Kind , ein Jun ge, der Auschwit z und Buchenwald hint er sich h at und d ur ch sei n e Erlebnisse erwac h sen geworde n ist und d em nun di e bohrend en Fr agen de r Erwachsenen, die sie ihm w ie eine m Kind ste llen , allmählich läst ig werden - ähnlic h wie Erwac h sen e des kindli chen N örg elns üb er drüs sig werden, d as sie anfan gs als sympa th isch, dann ab er als läs tig empfind en möge n. ,,Denn sogar dort, b ei den Schornsteinen , ga b es in d er Pause zwisc hen den Qualen etw as, da s d em Glück ähnlich war. Alle fragen mi ch imm er nur na ch den Übeln, den ,Gre ueln Über di e Schicksale beu gt>Engagiertheit« zu ersetzen . Und das gilt in sbeso nder e für das Them .a Au schwitz (in dies em Fall: Buchenwald); sich darin nicht zu »engagieren« bed eutet das Risiko, in jed er Hinsicht (Politik, Religion, M enschlichk eit usw. ) nicht salonfahi g zu sein. Einen Au genblick! Was ist aber, wenn es nicht ein Ideologe oder Politiker, sondern ein aus Ausch witz zurück gebrachter Jude ist , der sich >> nicht en gag iert «? (Und w ir wollen abs ehen vom jüdischen Selbsthaß und den verständlichen, aber nicht typi schen Erscheinungsformen psy chischer Konfusion. Wie der Id entifikation mit dem Aggressor oder dem sogenannten Stockholm-S yndrom.) Und es fragt sich natürlich auch, ob Imre Kertes z da s in seinem Rom an wirklich tut. Zu behaupt en, er w isse nicht oder ihn int eressiere ni cht, was das Gut e und was das Schl echte ist , wäre Unsinn; das Bu ch ist auch ein Dokument der uner schütterlichen morali schen Haltung seines Autors - ich w ürd e mi ch ihm jed erzeit anvertrauen. Aber »engagiert « würde ich ihn nicht nennen. Wer sich engagiert, der muß es gege n etwa s machen , da s heißt , er kommt um eine Geste der Ausschli eß ung nicht herum. Eine solche Ausschließun g ist oft verständlich , besonders , w enn es um den Nationalsozialismus ge ht. Wenn wir bei spielsweise Das siebte Kr euz vo n Anna Seghers lesen, besteht kein Zw eifel, für wen sich die Schriftstellerin engagiert und wer die sind, die sie au s ihrer Sicht ausschließt. Mensc hli ch ist das akzeptabel; der 197

Ro m an ist de nn oc h ni cht gelun ge n. Ni cht wege n des m äßige n Talent s seiner Ver fasse rin. Inde m sie sich en gagi ert e, na hm sie, o b sie w ollt e o der ni cht , ein e P arzellierun g der Welt vo r und sah sie w ie ein e Schachparti e, vo n der sie obendr ein im vor aus w ußte, we r sie gew inn en w ürd e: der Spi eler, der ihr näher stand. Sie schli eß t , so gesehen, ein en Teil der Welt au s ihr er Sicht aus. Es komme n zw ar auch di e Böse n vor , w ir sehen sie, w ir erfahr en vo n ihr en Sch rec ken staten , aber dennoch - sie w irken imm er w ie M ärch en wese n. Men schen sind nur di e Op fer; die and eren sind fikti ve Wesen , in di e w ir ni cht hin ein schauen könn en. D ie Verfasse rin zwe ifelt auch an ih rer Ex istenz . D aran lieg t es, da ß di e R o m an e und Film e zu m T hem a Au schw it z so harml os w irk en : in ihn en w ird das Böse ni cht g reifbar. D ie Realität des Böse n aber lös t sich au f, we nn auch di e soge nannt e Realit ät selb st Schaden nimmt - we nn sta tt des Gan zen der Teil in den Mitt elpunkt des Int eresses rü ckt. D as nun führt unwe igerli ch dazu , d aß da s G an ze aus den Au ge n ve rl oren w ir d . Ab er was politi sch vo rüb erge h end m achb ar ist, das ist ex istenti ell lan g fristig m achb ar. »Sch aden« nimmt ni cht nur der Geg ner , so nd ern au ch der, für den m an sich engag iert hat. A cht et m an auf den Teil, w erd en Struktur und Sinn des Ga nzen ni ch t gre ifba r. Doc h we nn wi r daran de nk en , w ie bequ em und sch einb ar pr akti sch es ist , auf den Teil zu acht en un d ni cht auf das Ga nze, dann stellt sich ein e w eitere Fr ag e: Fühl t sich der M ensch nicht vielleicht au f Be fehl des Bö sen eher zum Teil als zum Ga nzen hin gezoge n ? Und we nn es so ist, folg t dann die »enga giert eGlück der Konzentrationslager« nachzugrübeln, Was in meinen Augen ein Zeichen dafür ist, daß All keine Quantität, sondern eine Qualität ist; nicht das Endresultat der Addition von Greueln, sondern Grenzenlosigkeit der Sicht und nicht in Elemente zerlegbar. Es ist Erwachen in dem Sinn, wie Georges Bataille im Zusammenhang mit einem anderen Buch schreibt, das ebenfalls von den Konzentrationslagern handelt (David Rousset: Die Tage unseres Todes, Paris 194 7) : » ... natürlich ist das Erwachen, das ein unablässiges Bewußtsein möglichen Grauens verlangt, mehr als nur ein Mittel zu dessen Vermeidung (oder eines, um ihm gewachsen zu sein, wenn der Moment da ist) . Das Erwachen beginnt mit dem Humor und auch mit der Poesie. Und die Bedeutung des Buches von Rousset liegt nicht zuletzt darin, daß auch der Humor bejaht wird und daß die dabei freiwerdende Sehnsucht - niemals die nach einem satten Glück - eine Sehnsucht nach poesietrunkenen Gefühlen ist.« (Georges Bataille: Reflexionen über Henker und Opfer, in: Der Pfahl IV, München, Matthes & Seitz, 1990, S. 95) Jedes Wort, das Erklärung sucht, versucht - und mag die Absicht noch so redlich sein - das Unzähmbare zu zähmen und wird zur Binsenwahrheit. Aber kann man über das, worüber dieser Roman spricht, anders sprechen als in Bin207

senwahrheiten? Als der Jung e am Ende des Buches nach Hause kommt, wählt er d eshalb lieber das Schwe igen. Er sieht sich denen gege nüb er, di e das, was er weiß, ang ebli ch besser w issen als er, dene n , für die di e Wahrh eit in lau ter Großbuchstaben mehr tau gt als seine persön liche, kl einge schri ebn e Wahrheit. »J a, ja «, sag t der J ourn alist, der den Jun ge n um jeden Preis dazu üb erreden möchte, die Wahrheit in laut er Großbuchstaben zu ver b reiten, » >dort schon, aber . . . ich mein e, da s Konzentrationslager an sich ist nicht natürlich! < Endlich h atte er das ri chtige Wort erwischt , und ich erw id erte dann auc h nichts darauf , denn ich begann allm ählich einzuse hen: üb er bestimmte Di nge kann man mit Fremden, Ahnungslosen, Kindern in gewissem Sinn, nicht diskutier en, um es so zu sagen .« Zu sprechen lohnt allein d arüber, worü ber man nicht sprec hen kann - das suggeriert der Roman . Zwar verstehe ich diese Wahrheit, aber mein e Ratlosigkeit wäc hst und wächs t, wenn ich an di eses schöne Buch denke , das mir so zu schaff en macht. Ich rede mir ein , daß ich es verstehe; vergebens. Am An fan g las ich es als Erwac hs ener, und am Ende war ich selbst ein un w issen des Kind.

208

DEUTSCHES

LEID

Lars von Tri er: Europa

Wenn nicht cnrlli ch jerlcr ein ,e ln c fiir sich Ernst ma cht mit der Supr ematie des G eiste s gege nüb er allen po liti sch en o der ökono mischen Leben sbe zirken;

wenn ni cht endlich

der Widerstand

gege n die Ge istfc indlichk eit

jed er Diktatur

von der politischen

auf die

ge istige Ebene er h oben wird, wo die eigentlichen letzten Entscheidungen

fal len ; we nn

man statt dessen den pro g res sive n Selbstmord der Int elligenz sic h imm er weiter vo llziehen

und

schli eßlich

viellei cht dad ur ch

vollende n läßt, daß man di e letzten, schon heut e fur chtbar

isolierten

ge istigen M en -

schen in ein en ni cht m eh r metaph o rischen Selbstmord

treibt: dann muß die dauernde

ge ist ige Katastroph e un serer Katastrophe ,

we it

Ze it -

verhängnisvoller

eine und

un absehbare r als ihre politi sch en und ökonom ischen Fol geerscheinungen, h artnäckig

die

als Ur sac hen darzustellen

- in ein em vern icht enden

man pfle g t

Unter gang d er

gesa mt en europ äisc hen Kultur ihr Ende mit Schrecken

finden.

FHANZ SC H OENllERNEll

in Die Sa1r1111/1111g, 193 5 (Qucrido,

Amste rd am)

209

In Deutschland sieht die öffentliche Meinung bis zum heutigen Tag im 8. Mai 1945 und der nachfolgenden Zeit die Stunde Null. Sie dauerte nach der Ansicht vie ler bis 1949, als aus den Besatzungszo nen BRD und DDR gebi ldet wurden . Die meisten benutzten den Ausdruck zweifellos in gutem Glauben: für sie bedeutet die »Stunde Null« den Beginn einer neuen Zeit und den Bruch mit dem Hitlersehen System - nach vielen abgebrochenen Versuchen können sie endlich darangehen, ein freies Deutschland aufzu bauen, das auf Waffen verz icht et und dessen Aufmerksamkeit vor allem dem Frieden gilt . Die »Stunde Null« ist ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte insgesamt; vie lleicht kann die traditionelle »deutsche Misere« (Ma rx) diesmal abge lö st werden durch »Reichtum«, weniger in materiellem als vielmehr in politischem und moralischem Sinn. Von Heinrich Böll bis zu der Generation der Achtundsechziger, die sich selbstbewußt (nach 1989 ein wenig verworren und mit zunehmend konservativer Maskierung) für linksorientiert hielt , war die Zeitbezeichnun g in diesem Sinn gang und gäbe. Doch Schlagworte mahnen zur Vorsicht . Denn wenn wir nach dem Ursprung des Ausdrucks forschen , zeigt sich, daß seine gutwilligen Benutzer gerade von denjenigen zu seiner Akzeptanz erzogen wurden, denen nichts an der »Heilung