Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat [1 ed.] 9783428511587, 9783428111589

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Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat [1 ed.]
 9783428511587, 9783428111589

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Martin Führ · Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat

Schriften zur Rechtstheorie Heft 216

Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat Von Martin Führ

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Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main hat diese Arbeit im Jahre 2001/2002 als Habilitation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-11158-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Die Arbeit verdankt Ihr Entstehen verschiedenen Forschungszusammenhängen, die ohne entsprechende Förderung nicht hätten entstehen können. Der intensive interdisziplinäre Dialog, wie ihn seit 1997 die Darmstädter Forschungsgruppe „sofia" und in den Jahren 1998/1999 die Forschungsgruppe „Rationale Umweltpolitik - Rationales Umweltrecht" am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld ermöglichte, war essentiell für die Entwicklung der Fragestellung und die Klärung der vielfältigen „Schnittstellenprobleme". Als Förderer zu nennen sind hier die Volkswagenstiftung und die Universität Bielefeld. Zu danken ist aber auch der Fachhochschule Darmstadt, die in großzügiger Weise Forschungsmöglichkeiten eröffnete und mithalf, die „teaching load" zu verringern. Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main nahm die Arbeit im Wintersemester 2001/2002 als Habilitationsschrift an. Ich danke Herrn Professor Erhard Denninger, der die Arbeit betreut und in kollegialer Diskussion immer wieder sehr gefördert hat. Die Anregungen von Herrn Professor Eckard Rehbinder zu zivilrechtlichen Fragestellungen sowie zur ökonomischen Theorie haben der Arbeit wichtige Impulse verliehen. Für Ermutigung und Mahnung in der Konzeptionsphase danke ich Herrn Professor Rudolf Steinberg ebenso wie Herrn Professor Alexander Roßnagel, Heidelberg/Kassel, für den entscheidenden Anstoß bei der Wahl des Themas. Ohne die durch Offenheit und Solidarität getragene Atmosphäre im sofiaForschungsteam, entscheidend geprägt durch Kilian Bizer, wäre es nicht möglich gewesen, die Untersuchung neben der fortbestehenden Lehrbelastung und dem Dekansamt voran zu treiben. In der Bielefelder Forschungsgruppe, umsichtig geleitet durch Gertrude Lübbe-Wolff, konnte ich in vielfacher Weise von Anregungen und Kritik profitieren. Mein besonderer Dank gilt daneben auch Gerd Winter, Wolfgang Köck, Ute Sacksofsky, Erik Gawel, Bernd Hansjürgens, Gerard Rowe, Lutz Meinken, Bernhard Wegener sowie Wolfgang Huber, Gerhard Roller und Weyma Lübbe. Zu danken habe ich auch meiner Frau, Silke Kleihauer, die eigene Ambitionen zurückstellte und - vor allem in der Bielefelder Zeit - die familiäre Last praktisch alleine zu tragen hatte.

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Vorwort

Die Arbeit wurde im Juli 2001 abgeschlossen und im Frühjahr 2002 in einzelnen Abschnitten überarbeitet. Rechtsprechung und Literatur sind bis Sommer 2001 systematisch berücksichtigt. Darmstadt, im Dezember 2002

Martin Führ

Inhaltsübersicht Α. Einleitung I. II. III. IV.

Ausgangsthese Eigen-Verantwortung als Herausforderung für das Recht Fragen an die Rechtswissenschaft Gang der Untersuchung

B. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts I. II. III. IV.

Ausformung von „Verantwortung" Verantwortungskategorien Unvollkommene Pflichten im Kontext von Recht und Tugend Freiheits- und Staatsverständnis

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot I. Unvollkommene Pflichten in der Rechtsanwendung II. Verantwortungsteilung innerhalb der öffentlichen Gewalt III. Entstehungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen von Rücksichtnahmegeboten IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie V. Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme VI. Anreizstruktur für die Akteure D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse I. II. III. IV.

Rationales Recht - rationales Verhaltensmodell Auf dem Weg zu einer Verhaltenstheorie für das Recht Elemente eines Verhaltensmodells Erklärungsgehalt des institutionenökonomischen Modells

E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive I. II. III. IV.

Einführung Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten Rechtfertigung der Beeinträchtigung Zusammenfassung

21 21 22 33 39 43 43 53 65 82 104 104 129 152 160 192 212 218 219 226 239 285 288 288 297 352 385

8

Inhaltsübersicht

F. Eigen-Verantwortung als Element rechtlicher Institutionenbildung . . . . 386 I. II. III. IV. V. VI.

Verantwortungskategorien und ihre verhaltensbeeinflussende Wirkung . 386 Rücksichtnahme als Leitbild der Institutionenevolution 389 Wahl der Steuerungsformen 395 Anwendungsmöglichkeiten juristischer Institutionenanalyse 402 Verknüpfungsleistung des institutionenökonomischen Ansatzes 404 Steuerung und Institutionenbildung als Interaktionsprozeß 407

Entscheidungsregister

415

Literaturverzeichnis

419

Sachverzeichnis

453

nsverzeichnis Α. Einleitung I. Ausgangsthese II. Eigen-Verantwortung als Herausforderung für das Recht 1. Grenzen imperativer Steuerung 2. Erscheinungsformen rechtlicher Regulierung 3. Responsives Recht 4. Verknüpfungen zu den Verhaltenswissenschaften 5. Ergebnis III. Fragen an die Rechtswissenschaft 1. Sinkende Gerechtigkeitsunmittelbarkeit des Rechts 2. Prinzipienkonflikte im einfachen Recht 3. Institutionelle Einbettung unvollkommener Pflichten 4. Verantwortungsteilung und Verantwortungsvervielfachung IV. Gang der Untersuchung

21 21 22 23 25 28 31 33 33 33 35 36 38 39

B. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts I. Ausformung von „Verantwortung" 1. Totalität der Verantwortung? 2. Verantwortung als soziales Konstrukt 3. Konstituierende Elemente 4. Verantwortete Freiheit? 5. Folgenanlastung und Verantwortungsinstanz 6. Ergebnis II. Verantwortungskategorien 1. Begriff „Eigen-Verantwortung" a) Unvollständige Programmierung b) Dialogische Konstellationen c) Institutionelle Einbettung d) Individuelles Verhalten 2. Abgrenzungen a) Verhältnis zur „Verantwortlichkeit" b) Verhältnis zur „Selbst-Verantwortung" 3. Begriffsbestimmung III. Unvollkommene Pflichten im Kontext von Recht und Tugend 1. Trennung von Recht und Moral a) System der Pflichten bei Kant b) Pflichtcharakter als Trennungslinie

43 43 43 46 47 50 51 53 53 54 55 56 57 58 58 59 62 64 65 65 66 69

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nsverzeichnis c) Perspektive der Nichtinterferenz 2. Recht, Moral und Sittlichkeit bei Hegel 3. Ergebnis IV. Freiheits- und Staatsverständnis 1. Freiheit vom Staat 2. Präformiertes Freiheitsverständnis a) Teilhabe-Perspektive b) Kritik des „Eingriffsdenkens" c) Ergebnis 3. Erweitertes Freiheits Verständnis a) Erweiterung der Grundrechtsfunktionen b) Optimierung personaler Freiheit c) Reduktionistische Dogmatik und Denkstil 4. Überlagerung der Freiheitssphären

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot I. Unvollkommene Pflichten in der RechtsanWendung 1. Sorgfalt und Rücksichtnahme im Zivilrecht a) Sorgfaltspflichten aa) Weitere Verhaltenspflichten bb) Gemeinsamkeiten der ergänzenden Sorgfaltspflichten b) Obliegenheiten c) Gemeinsame Funktionen d) Ergebnis 2. Rücksichtnahmegebote im Verwaltungsrecht 3. Rücksichtnahmegebot im Baurecht a) Anwendung in „unbeplanten" Bereichen b) Ein Irrweg des Richterrechts? 4. Zwischenergebnis 5. Rücksichtnahme in der Verfassungsgerichtsrechtsprechung a) Wechselbezügliche Verhältnismäßigkeit unter Privaten b) Rücksichtnahme im Verhältnis Bürger-Staat c) Ergebnis 6. Konfliktkonstellationen a) Offene Verhaltenspflichten im Gegenseitigkeitsverhältnis b) Offene Verhaltenspflichten gegenüber dem Allgemeinwohl aa) Global konkretisierte Steuerungsziele bei fehlender Individualisierung bb) Individualisierte Pflichten bei fehlender Konkretisierung . . . c) Indirekt steuernde institutionelle Bedingungen d) Übergreifende Fragestellungen II. Verantwortungsteilung innerhalb der öffentlichen Gewalt 1. Eigene Verantwortung der Kommunen a) Aufgabenverteilungsprinzip

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nsverzeichnis b) Organisationshoheit c) Ergebnis 2. Gubernative Eigen-Verantwortung a) Handlungsmaßstab b) Fehlende Kontrollinstrumente? c) Ergebnis 3. „Shared Responsibility" auf Gemeinschaftsebene a) Loyale Zusammenarbeit in den Gemeinschaften b) Handlungsformen der Gemeinschaften aa) Empfehlung und Stellungnahme bb) Richtlinie c) Ergebnis 4. Rücksichtnahmeforderungen im Bund-Länder-Verhältnis 5. Ergebnis III. Entstehungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen von Rücksichtnahmegeboten 1. Voraussetzungen 2. Rechtsfolgen a) Befugnisbegrenzende Anforderungen b) Sorgfaltspflichten zugunsten des Gegenübers c) Wechselbezügliche Verhältnismäßigkeitsprüfung 3. Besonderheiten bei der Gewaltenkooperation 4. Ergebnis IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie 1. Auflösung von Prinzipienkonflikten a) „Wechselwirkungs-Theorie" b) Verhältnismäßige Zuordnung konfligierender Prinzipiennormen . c) „Schonender Ausgleich" und „praktische Konkordanz" d) Zwischenergebnis e) Konflikt mit dem „Trennungsdenken" f) Ergebnis 2. Relativität und Solidarität a) Wechselbezügliche Relativierung b) Übermaßverbot im Gleichordnungsverhältnis aa) Eingriff als Voraussetzung der Verhältnismäßigkeitsprüfung . bb) Juristisches Knappheitsproblem cc) Vernunftgemäße Organisation gemeinsamen Freiheitsgebrauches dd) Wohlfahrtsoptimierung und Solidarität ee) Konsequenzen aus dem Solidaritätsgedanken c) Ergebnis 3. Wechselbeziehung ingerenter Freiheitssphären a) Begründungsansätze

133 136 137 139 139 141 142 143 144 145 147 148 149 150 152 152 153 155 155 158 160 160 160 161 161 162 163 164 164 169 170 171 171 172 172 173 176 179 181 182 183

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nsverzeichnis b) Einwände c) Konflikt-Auflösung d) Ergebnis 4. Verfassungsrechtlicher „Schlüsselbegriff 4 5. Optimierung im System des Rechts 6. Ergebnis V. Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme 1. Anwendungsebenen des Rücksichtnahmegebotes a) Appell zu nicht-hoheitlicher Lösung als Verfassungserwartung . . b) Vorrang des Gesetzgebers c) Judikative und administrative Auslegungs- und Gestaltungsspielräume aa) Argumentationsstruktur bei Abwägungsproblemen bb) Drittwirkungsproblematik cc) Einfachgesetzliche Abwägung d) Ergebnis 2. (Grund-) Recht auf Rücksichtnahme? a) Rücksichtnahme im Hoheitsverhältnis b) Rücksichtnahme im GleichordnungsVerhältnis c) Ergebnis 3. (Grund-) Pflichtigkeit zur Rücksichtnahme? a) Verhältnis zu den „Grundpflichten" b) Verhältnis zu den Grundrechten c) Ergebnis 4. Inhalt und Funktion des Rücksichtnahmegebotes VI. Anreizstruktur für die Akteure 1. Anreizsituation privater Akteure 2. Anreizsituation im Binnenbereich der öffentlichen Gewalt 3. Ergebnis

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse I. Rationales Recht - rationales Verhaltensmodell 1. Rationalität und Legitimation des Rechts 2. Steuerungsfunktion des Rechts 3. Erweiterung der Steuerungsformen 4. Materielle Rationalitätskriterien des Rechts 5. Grenzen materiell-rationaler Konfliktbewältigung 6. Ergebnis II. Auf dem Weg zu einer Verhaltenstheorie für das Recht 1. Juristische Forderungen nach Realanalyse 2. Das Menschenbild im Recht 3. Verhaltensmodelle in der Rechtswissenschaft 4. Rechtswissenschaft und Verhaltenswissenschaften 5. Ergebnis

184 185 186 187 189 191 192 192 192 195 196 196 197 199 200 200 201 201 205 206 207 208 209 210 212 213 215 216 218 219 219 221 222 223 224 225 226 226 229 230 235 238

nsverzeichnis III. Elemente eines Verhaltensmodells 1. Methodische Grundannahmen 2. Ökonomische Effizienz und juristische Rationalität a) Ökonomisches Prinzip und Effizienz b) Gerechtigkeit und Effizienz aa) Wohlfahrtsökonomischer Effizienzbegriff bb) Zugang der Rechtswissenschaft cc) Effizienz als Garant von Gerechtigkeit c) Ökonomische Analyse und juristische Abwägung d) Ergebnis 3. Ökonomisches Modell menschlichen Verhaltens a) Das klassische Modell des „homo oeconomicus" b) Modellerweiterungen c) Empirie der „Anomalien" und normative Bindungen d) Nutzenfundierung normativer Bindungen e) Bedeutung von Institutionen 4. Institutionenökonomisches Verhaltensmodell a) Rationalitätsbegriff b) Besonderheiten des institutionenökonomischen Modells c) Der Schritt zum „homo oeconomicus institutionalis" d) Juristische Rezeption IV. Erklärungsgehalt des institutionenökonomischen Modells E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive I. Einführung 1. Funktion des Eingriffs-Begriffes 2. Informatorische Maßnahmen als Eingriff? 3. Begriffliche Vorklärungen 4. Zuordnung der Wertungsfragen 5. Weitere Untersuchungsschritte II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten 1. Freiheitsverkürzende Einwirkung a) Perspektive des Grundrechtsträgers b) Wirkungsanalyse als Ausgangspunkt normativer Zuordnung . . . . c) Zwangsgleiche Wirkung d) Ergebnis 2. Bestimmung des Gewährleistungsinhaltes a) Subjektive Perspektive aa) Das Beispiel der Wettbewerbsfreiheit bb) Präformierter Schutzbereich cc) Ergebnis b) Grundrechtliche Ordnungsintentionen c) Kontextbezogene Schutzbereichsbestimmung

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nsverzeichnis aa) Normative und „positive" Perspektive bb) Noch einmal: Beispiel Wettbewerbsfreiheit (1) Exklusives Recht auf Außendarstellung? (2) Schutz der berufsbezogenen Ehre (3) Hinweis auf gesetzeswidriges Verhalten (4) Fazit cc) Ergebnis d) Normänderungsrisiko und grundrechtlicher Normbestandsschutz e) Grenzfragen der Einwirkung aa) Präferenzbildung, Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht bb) Geringfügigkeitsgrenze der Einwirkung f) Ergebnis 3. Zurechnung zur öffentlichen Gewalt a) Finalität des hoheitlichen Vorgehens b) Intensität der Grundrechtseinwirkung c) Unmittelbarkeit des Wirkungszusammenhanges d) Ergebnis 4. Gesetzgeberische Einwirkungen ohne Beeinträchtigungsqualität? . . 5. Zusammenfassung III. Rechtfertigung der Beeinträchtigung 1. Gesetzesvorbehalt 2. Materielle Anforderungen und ihre Verbindungen zur ökonomischen Analyse a) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aa) Zielbestimmung bb) Geeignetheit cc) Erforderlichkeit dd) Angemessenheit ee) Ergebnis b) Allgemeiner Gleichheitssatz aa) Willkürverbot als Begründungszwang bb) Gesteigerte Begründungsanforderungen cc) Strukturiertes Wertungsproblem dd) Einsatzmöglichkeiten verhaltenswissenschaftlicher Analyse . . c) Ergebnis 3. Reichweite der materiellen Rationalkriterien a) Kontrollnorm und Maßstabsnorm b) Materielle und prozedurale Rationalität c) Verfassungsgerichtliche Kontrolldichte d) Anreize für verfassungsrichterliche Zurückhaltung e) Wertungsvorrang der Legislative und realwissenschaftliche Fundierung

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nsverzeichnis 4. Ergebnis IV. Zusammenfassung

384 385

F. Eigen-Verantwortung als Element rechtlicher Institutionenbildung . . . . I. Verantwortungskategorien und ihre verhaltensbeeinflussende Wirkung . II. Rücksichtnahme als Leitbild der Institutionenevolution III. Wahl der Steuerungsformen 1. Verhaltensmodell als Grundlage der Instrumenten wähl 2. Ansatzpunkte institutioneller Gestaltung a) Bereitstellung und Verarbeitung von Informationen b) Intrapersonelle Koordination c) Binnenkoordination in Organisationen d) Soziale Kooperation 3. Ergebnis IV. Anwendungsmöglichkeiten juristischer Institutionenanalyse V. Verknüpfungsleistung des institutionenökonomischen Ansatzes VI. Steuerung und Institutionenbildung als Interaktionsprozeß 1. Funktion „symbolischer" Politik 2. Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln 3. Gegenstromprinzip evolutionärer Institutionenbildung 4. Normative Kraft der Rechtsordnung

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Entscheidungsregister

415

Literaturverzeichnis

419

Sachverzeichnis

453

Abbildungsverzeichnis Abb. 1 : Übersicht über die Verantwortungskategorien

80

Abb. 2: Das Rücksichtnahmegebot als wechselbezügliche Verhältnismäßigkeitsprüfung 159 Abb. 3: Das klassische Verhaltensmodell des homo oeconomicus

264

Abb. 4: Das Verhaltensmodell des homo oeconomicus institutionalis

284

Abb. 5: Grundrechts-Beeinträchtigungen

353

Abb. 6: Verhältnis materieller und prozeduraler Rationalität in der Gesetzgebung 378

Abungsverzeichnis a. a. Ο. Abs. abw. AcP a. F. AfP AöR ARSP

am angeführten Ort Absatz abweichend Archiv für die civilistische Praxis alte Fassung Archiv für Presserecht Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Art.

Artikel

BA BauGB

Berliner Ausgabe (der Schriften von Immanuel Kant) Baugesetzbuch

BauNVO

Β aunutzungs Verordnung

BauR

Baurecht - Zeitschrift für das gesamte öffentliche und zivile Baurecht Bayerische Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaates Bayern Bundesbaugesetz Bundesberggesetz Begründer Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bundesumweltministerium Bundestags-Drucksache Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Die öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt Amtliche Entscheidungssammlung (des jeweiligen Gerichts) Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft Europäische Gemeinschaft/Europäische Gemeinschaften Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften

BayVBl. BayVerf BBauG BBergG Begr. BFH BGB BGH BGHSt BGHZ BMU BT-Drs. BVerfG BVerwG DÖV DRiZ DVB1. E EAGV EG EG-Abl. 2 Führ

18 EGKSV EGV

Einl. EuGH EuGRZ EuZW f. FAZ ff. Fn. FS GG ggf. HdbVerfR Herv. d. V. Herv. i. O. HGB hrsg. Hrsg. HStR ibd. ISO IUR JA JuS JZ KJ Kor. KritV Ms. m. w. N. NJW Nr. NuR NVwZ NWVB1. OVG

Abkürzungsverzeichnis Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung des Vertrages von Amsterdam (die Fassung des Vertrages von Maastricht wird als a. F. bezeichnet) Einleitung Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechtszeitschrift Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht folgende Seite Frankfurter Allgemeine Zeitung fortfolgende Seiten Fußnote Festschrift Grundgesetz gegebenenfalls Benda, Ernst/Maihofer, Werner/Vogel, Hans-Jochen (Hrsg.) 1994: Handbuch des Verfassungsrechts, Berlin Hervorhebung des Verfassers Hervorhebung im Original Handelsgesetzbuch herausgegeben Herausgeber Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.) 1987-1997: Handbuch des Staatsrechts, Bände 1-9, Heidelberg ibidem International Standardization Organisation Informationsdienst Umweltrecht (jetzt ZUR) Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Kritische Justiz Brief des Paulus an die Korinther Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Manuskript mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Nummer Natur und Recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Oberverwaltungsgericht

Abkürzungsverzeichnis RG RGZ Rn. s. S. sog. Sp. st. Rspr. StVO u. a. UBA UPR UVP v. VCI Verf Verf. VerwArch VG VGH vgl. Vgl. VOC VVDStRL ZfBR ZfU ZG ZParl ZRP ZRS ZStW ZUR

Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Randnummer siehe Seite sogenannte Spalte ständige Rechtsprechung Straßenverkehrsordnung unter anderem Umweltbundesamt Umwelt- und Planungsrecht Umweltverträglichkeitsprüfung vom Verband der Chemischen Industrie Verfassung, VerfassungsVerfasser, Verfasserin Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichthof vergleiche Vergleiche volotile organic compounds Verhandlungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer Zeitschrift für Baurecht Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht Zeitschrift für die gesamte Straftrechtswissenschaft Zeitschrift für Umweltrecht

Α . Einleitung Ι . Ausgangsthese Der Arbeit liegt die These zugrunde, der Rechtsstaat sei für die Bewältigung seiner Steuerungsaufgaben auf Regelungsmuster angewiesen, die sich in der Kategorie der „Eigen-Verantwortung" 1 zusammenfassen lassen. Diese Kategorie ist angesiedelt zwischen der strikten Bindung durch Rechtsregeln und dem Bereich rechtlich freien Beliebens. Kennzeichnend für die darunter zu fassenden Regelungsmuster ist, daß an den Einzelnen keine a priori eindeutigen, „strikten" Pflichten gerichtet sind, das Recht aber gleichwohl ein Verhalten erwartet, welches nicht von freiem Belieben bestimmt ist, sondern sich auch an den Belangen Dritter oder der Allgemeinheit orientiert. Diese Verhaltenserwartung ist gestützt auf zwei sich ergänzende Quellen. Sie ist zum einen formuliert in „unvollkommenen Pflichten", bei denen es sich um Pflichten des Rechts und nicht lediglich um solche der Tugend handelt. Daneben kommen weitere, in der Regel indirekt steuernde „Anreizmechanismen" zum Tragen. Beide Elemente, unvollkommene Pflichten und deren ergänzende motivationeile Einbettung, formen einen institutionellen Rahmen,2 in dessen Kontext sich eigenverantwortliches Verhalten entfalten kann. Aus der Verbindung der beiden Elemente resultieren spezifische, über strikte Rechtsregeln an Inhalt und Reichweite hinaus reichende Möglichkeiten der Verhaltensbeeinflussung. Darin liegt einerseits die Chance, Steuerungserfolge auf schonendere Weise zu erzielen, andererseits besteht aber die Gefahr, Rechtspositionen auf „sanftem Wege" auszuhöhlen. Rechtspflichten aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung zeichnen sich dadurch aus, daß sie ihm Hinblick auf das jeweilige Steuerungsziel keinen unmittelbar zwingenden Charakter haben, jedoch auf andere Weise einen Beitrag zur Verwirklichung dieses Zieles leisten. Das Fehlen eines unmittelbaren Zwangscharakters kann darin begründet sein, daß das Recht nur all1

Es wird nicht verkannt, daß der Begriff „Eigen-Verantwortung", ebenso wie der der Selbst-Verantwortung einen Pleonasmus darstellt (Merten 1996, 13). Beide Begriffe sind gleichwohl - wenn auch mit unterschiedlichen Bedeutungsgehalten gebräuchlich. Sie sollen auch im folgenden zur Kennzeichnung unterschiedlicher Verantwortungskonstellationen herangezogen werden. Sie erfüllen damit eine analytische Funktion (siehe Kapitel B, Abschnitt II). 2 Zu dem hier zugrundegelegten Verständnis des Begriffs der „Institution" siehe Abschnitt III. 3.

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Α. Einleitung

gemeine Anforderungen enthält, es daher eines konkretisierenden Zwischenschrittes bedarf. Der zwingende Gehalt des Rechts kann sich aber auch lediglich auf Neben- oder Teilaspekte beziehen, die dann mittelbar dazu beitragen sollen, den „eigentlichen" Verhaltenserfolg zu erreichen. In allen Fällen ist es aber so, daß das Recht - unterschiedlich ausgestaltete - Instrumente der Folgenanlastung bereit hält. Das vom Adressaten erwartete Verhalten ist zwar nicht von vornherein genau vorgegeben, gleichwohl versucht die öffentliche Gewalt, mit rechtlich ausgestalteten Instrumenten der Folgenanlastung das Verhalten im Sinne ihrer Steuerungsziele zu beeinflussen. Dabei ist eine große Spannbreite der Ausgestaltungen zu beobachten: Sie reicht von allgemeinen „Zielfestlegungen" unterschiedlichen Konkretisierungs- und Verbindlichkeitsgrades über offen gefaßte „Grundpflichten" des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts bis hin zu ergänzenden Anforderungen informationeller, prozeduraler oder organisatorischer Art. Gemeinsam ist diesen Erscheinungsformen, daß - gestützt auf das Recht - das Verhalten der Adressaten in eine bestimmte Richtung gelenkt werden soll. Jedoch läßt sich das erwünschte Verhalten in der Regel nicht - oder jedenfalls nicht unmittelbar - erzwingen. Der Begriff „Eigen-Verantwortung" bezeichnet damit eine Konstellation, in der die Freiheit auch innerhalb der durch „striktes Recht" gezogenen Grenzen mit rechtlich vermittelten Verhaltenserwartungen belastet ist, die sich stützen auf unvollkommene Pflichten bzw. „Pflichtigkeiten" sowie auf zusätzliche Anreize aus ergänzenden Randbedingungen. Aus den verschiedenen Einzelelementen entsteht ein institutionelles Gesamtgefüge, welches in differenzierter Weise die Motivationslage der Akteure beeinflußt und auf diese Weise dazu beiträgt, die Steuerungsziele zu erreichen. Es handelt sich also um einen rechtlich überlagerten und in gewissem Maße kontrollierten bzw. kontrollierbaren Verhaltensspielraum. Die Grenzen klassisch-imperativer, regeiförmiger Steuerung und der darauf zugeschnittenen rechtsstaatlichen Vorkehrungen sind überschritten.

I I . Eigen-Verantwortung als Herausforderung für das Recht Die Integration von unvollkommenen Pflichten und der damit verbundenen Eigen-Verantwortung in das Recht setzte nicht erst in den letzten Jahren ein. Diese Entwicklung reicht vielmehr bis in die Anfänge des modernen Rechts zurück (Wieacker 1960), wahrscheinlich lassen sich Elemente davon in allen Rechtsordnungen nachweisen (Frankenberg/Rödel 1981, 16). Dennoch ist nicht zu übersehen, daß für die jüngere Entwicklung eine „Verdichtung der Sozialkontakte und damit der Verantwortung besonders charakteristisch" ist (Wieacker 1960, 12). Dementsprechend greift der

II. Eigen-Verantwortung als Herausforderung für das Recht

23

„einfache" Gesetzgeber zunehmend auf unvollkommene Pflichten zurück, die unter Anwendung von Prinzipiennormen aufzufüllen sind. Zu verweisen ist etwa auf die nach und nach in den verschiedenen Regelungsbereichen des Umweltrechts verankerten „Grundpflichten", 3 aber auch auf eine Vielzahl von Normen, deren Anwendung die Abwägung kollidierender Prinzipien voraussetzt. Bei manchen Normen, etwa im Bereich des Planungsrechts (dazu Koch 2000), ist die Optimierungsfunktion offenkundig. Aber auch bei solchen, die auf den ersten Blick einen regeiförmigen Charakter nahelegen, zeigt sich, daß in der konkreten Anwendung, etwa bei der Klärung von Auslegungsfragen, auf die „dahinterliegenden" Prinzipien zurückzugreifen ist. Sobald man sich darauf einläßt, hinter die oberflächliche Erscheinung zu blicken, treten die Prinzipien-Kollisionen hervor. 4 Aufgabe der Rechtsanwender, vor allem der Rechtsprechung ist es dann, die Prinzipien-Kollisionen in konkreten Konflikten zu bewältigen. Die dort gefundenen Ergebnisse werden umgekehrt aber auch in regeiförmiges Recht überführt, wie sich etwa beim AGB-Gesetz zeigen läßt. 5 Die Beobachtung, das Recht stehe vor der Aufgabe, Prinzipienkonflikte zu bewältigen (Alexy 1985), ist nicht auf das Verfassungsrecht beschränkt. Auch im einfachen Recht finden sich neben der Steuerung mittels strikter „Rechtsregeln" zunehmend Verhaltensanforderungen, die unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten. W i l l man diese für den konkreten Fall handhabbar machen, ist man gezwungen, nach den jeweils involvierten Zwecken zu fragen und diese miteinander in Verhältnis zu setzen. Damit erreicht der Rechtsanwender die Ebene der Prinzipien mit dem diesen innewohnendem Optimierungsauftrag, der anhand von Ziel-Mittel-Begründungsmustern auszufüllen ist. Beispiele dafür finden sich auf der Ebene des einfachen Rechts sowohl im Zivilrecht als auch im öffentlichen Recht. 6 1. Grenzen imperativer Steuerung Wenn der Staat auf die Kategorie der Eigen-Verantwortung zurückgreift, verzichtet er auf unmittelbare imperative Steuerung. Der „Verzicht" ist hier nicht im wörtlichen Sinne gemeint; denn oftmals fehlt es gerade an den Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit imperative Steuerung wirksam das Verhalten der Akteure beeinflussen kann. Erfolgreiche impera3 Für eine Zusammenstellung der einfachgesetzlichen Grundpflichten siehe Kapitel C, Abschnitt I. 6. b) bb) sowie Führ 1998 a, 12. 4 Vgl. Koch/Rüßmann 1982, 67 ff. u. 104 ff., dort unter Bezug auf Podlech 1971 und Schlink 1976. 5 Aber auch dann bleiben Normen, die unvollkommene Pflichten enthalten, offenbar weiterhin notwendig, wie die Generalklausel in § 9 AGB G nahelegt. 6 Siehe dazu Kübler 1990, 696 ff. sowie die Bestandsaufnahme in Kapitel C.

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Α. Einleitung

ti ve Steuerung setzt in der Regel voraus (Ritter 1990, 70 f.), daß der Staat auf ein relativ einfach strukturiertes gesellschaftliches Umfeld trifft; denn nur dann ist es möglich, in einem abstrakt-generellen Gesetz eine überschaubare Anzahl von Tatbeständen zu definieren und ihnen jeweils bestimmte Rechtsfolgen zuzuweisen. Bei inhomogenen Steuerungsfeldern kann es sein, daß der Erlaß genereller Normen ab einem bestimmten Punkt kaum weiterführend ist. Eine weitere Erfolgsbedingung für imperatives Handeln des Staates liegt darin, daß sich die angestrebten Steuerungseffekte im wesentlichen über geradlinige, einfach strukturierte Wirkungsketten erreichen lassen; nur dann lassen sich die Verhaltensanforderungen eindeutig und bestimmt formulieren und an den jeweiligen Adressaten richten. Erforderlich sind relativ konstante gesellschaftliche Verhältnisse, weil sonst der Aufwand für die Anpassung der generellen Normen und deren erneuten Umsetzung auf den Einzelfall zu hoch wird. Hoheitliche Kraftentfaltung setzt zudem voraus, daß der Staat über die relevanten Informationen verfügt; denn sonst wird die im Rechtsstaat erforderliche „Richtigkeitsgewähr" des hoheitlichen Handelns brüchig. Eine weitere Annahme besteht darin, daß die intendierten Ziele zu erreichen sind, ohne von den Adressaten eigene Initiativen oder eine Identifizierung mit den Steuerungszielen zu verlangen. Auf die Motivlage der Adressaten kommt es grundsätzlich nicht an; vielmehr sind die einseitig-hoheitlichen Machtmittel darauf angelegt, etwaigen Widerstand zu brechen. 7 Diese Voraussetzungen sind in vielen Steuerungsfeldern nicht gegeben, was kein grundsätzlich neues Phänomen darstellt. So läßt sich beispielsweise der Gebrauch von Generalklauseln im Zivilrecht (etwa der Verweis auf „Treu und Glauben"), aber etwa auch im Polizeirecht als Versuch werten, der Vielfalt der Steuerungsaufgaben durch inhaltlich offene Anforderungen zu begegnen. Regelungsmuster der Kategorie „Eigen-Verantwortung" sind daher keine Erscheinung der jüngeren Entwicklung, sondern seit langem Bestandteil der Rechtsordnung (Hoffmann-Riem 1996, 311). Allerdings dürfte sich der Anwendungsbereich erheblich ausgeweitet haben (Grimm 2001, 496). Dies gilt etwa für die Handlungsfelder, in denen der Staat die ihm anvertraute Aufgabe nicht allein erfüllen kann, weil er auf eine aktive Mitwirkung der Bürger angewiesen ist. So ist in manchen Fällen zwar das Steuerungsproblem bekannt, eine konkrete Lösung steht jedoch noch nicht zur Verfügung, sondern ist erst unter Beteiligung - oftmals mehrerer - Akteure zu entwickeln. Beispiele finden sich nicht nur im technischen Arbeits- und Umweltschutz, sondern etwa auch bei der umwelt7 Nicht zuletzt im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie muß sich schließlich jedes hoheitliche Instrument in die Normenhierarchie einordnen und nach den Kriterien von „richtig" oder „falsch" bzw. „rechtmäßig" oder „rechtswidrig" definieren lassen.

II. Eigen-Verantwortung als Herausforderung für das Recht

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und gesundheitsbezogenen Produktpolitik oder der Nutzung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien. Hier geht es um die Mobilisierung von Wissen, Kreativität und Engagement der jeweiligen Akteure, ohne die sich die technischen, stofflichen oder organisatorischen Fragen nicht beantworten lassen. Soll dies gelingen, reicht es nicht aus, „Schranken" der Grundrechtsbetätigung zu errichten; die gesellschaftlichen Steuerungsziele sind vielmehr nur zu erreichen, wenn sich die Grundrechtsträger für eine „proaktive", also über verbindliche rechtliche Vorgaben hinausgehende Mitwirkung gewinnen lassen (Grimm 1986, 45). Es kann mithin gute Gründe für den Staat geben, auf das Regelungsmuster der Eigen-Verantwortung zurückzugreifen, anstatt strikte Rechtsregeln zu erlassen. Es reicht aber nicht, lediglich in allgemeinen Wendungen darauf hinzuweisen, der Staat sei „immer mehr auf die Konsens- und Mitwirkungsbereitschaft der Normadressaten angewiesen";8 vielmehr ist nach den institutionellen Bedingungen zu fragen, die gegeben sein müssen, damit der Staat berechtigterweise erwarten kann, auf diesem Wege die ihm anvertrauten Aufgaben in einer Weise zu erfüllen, die den Anforderungen des Verfassungsrechts gerecht wird. 2. Erscheinungsformen rechtlicher Regulierung Die soeben beschriebene Entwicklung läßt sich einordnen in verschiedene „Grundmuster" (Typen) rechtlicher Regulierung. Nonet/Selznik (1978) 9 entwickeln - vor dem Hintergrund der US-amerikanischen rechtssoziologischen Diskussion Ende der 60-er und Anfang der 70-er Jahre - eine dreigeteilte Typologie des Rechts. Sie stellen drei Erscheinungsformen nebeneinander: Das repressive Recht (repressive law), das autonome Recht (autonomous law) und das responsive Recht (responsive law). Auch wenn sie davon ausgehen, daß gegenwärtig alle drei Erscheinungsformen nebeneinander wirkmächtig sind, sehen sie doch eine gewisse, auch historische Stufenfolge. Das repressive Recht hatte zunächst die Funktion, staatliche Herrschaft überhaupt zu etablieren. Dementsprechend weitgefaßt ist der Gestaltungsraum der Obrigkeit, während die rechtliche Position der Individuen nur schwach ausgeprägt ist. Eine Mißachtung der Interessen der Rechts8

Hoffmann-Riem 1987, 380. Hoffmann-Riem weist zutreffend darauf hin, Selbststeuerungsmechanismen müßten „bereichsspezifisch so ersonnen und umgesetzt werden, daß sie den jeweiligen Funktionsweisen gerecht werden". Er demonstriert dies am Beispiel des Versammlungsrechts, wo er auf der Grundlage einer Problemanalyse eine Reihe von Ausgestaltungsvorschlägen unterbreitet (Hoffmann-Riem 1987, 384 ff.). 9 Siehe dazu auch das „idealtypisch-abstrahierende Epochen-Schema" der Entwicklung zum „Präventionsstaat" bei Denninger 1988, 11 f.

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Α. Einleitung

unterworfenen ist kennzeichnend für den repressiven Typus. Hier liegt der wesentliche Unterschied zum Typ des autonomen Rechts. Ihm ist es gelungen, sich von der politischen Gewalt zu emanzipieren. Die Gewaltenteilung sichert die Unabhängigkeit der Dritten Gewalt. Das Recht erreicht eine gegenüber der staatlichen Machtausübung „autonome" Funktion. Rechtlich gebunden sind nicht mehr nur die „Untertanen", sondern auch die Obrigkeit. Der Zweck des Rechts geht jetzt nicht mehr nur dahin, die staatliche Herrschaft - im Zweifel mittels des Strafrechts - durchzusetzen, sondern sie überzeugend zu legitimieren. Wesentliches Mittel dazu ist der - vor allem im Verwaltungsrecht angesiedelte - Gedanke des rechtsstaatlichen Verfahrens (procedural fairness). Dieser ist die Quelle ausgefeilter Verfahrensregeln, die grundsätzlich für alle Beteiligten gleichermaßen verbindlich sind. Während das repressive Recht einseitig Unterordnung und Gehorsam fordert, besteht für den Einzelnen jetzt die Möglichkeit, sich im Rahmen der prozeduralen Möglichkeiten zu beteiligen: Er kann, gestützt auf die Grundrechte, auch den Rechtsgehorsam der regulierenden und administrierenden Instanzen einfordern. Aus dem einseitigen wird ein wechselbezügliches Rechtsverhältnis. Diese zweite Stufe entspricht weitgehend der von Max Weber 10 beschriebenen Form der „legalen Herrschaft". Sie spiegelt sich zugleich in dem gesellschaftlich vorherrschenden Verwaltungsaufbau. Die legale Herrschaft unter dem autonomen Recht verlangt nach bürokratischen Strukturen. 11 Die Beobachtung, daß diese Strukturen jedenfalls partiell in Auflösung begriffen sind, verdeutlicht den Eintritt in die nächste Stufe: Während für die Durchsetzung repressiven Rechts vorbürokratische Strukturen angemessen waren, markiert die postbürokratische Gesellschaft das Heraufdämmern eines weiteren Rechtstypus', der sich mit dem Begriff „responsives" Recht umschreiben läßt (siehe Abschnitt II. 3). Diese Erscheinungsform erwächst aus den Schwächen der autonomen Variante. Die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit, etwa die Erstarrung in fixierten Verfahrensregeln, machen das autonome Recht angreifbar. Der mit dem Rechtsstaat untrennbar verbundene Gedanke materieller Gerechtigkeit eröffnet eine Basis rechtlich fundierter Kritik. Je mehr die materiellen Regeln sich ausdifferenzieren und je mehr die Verfahrensregeln sich verästeln, desto öfter versagt beim Anwachsen der Staatsaufgaben zugleich die Steuerungsleistung rechtlich fixierter Regeln. Der Rechtsanwender ist daher gezwungen, nach den dahinter stehenden allgemeinen Prinzipien zu fragen. Das Rechtssystem kann die einzelfallbezogene Lösung von Prinzipienkonflikten letztlich nur unter Rückgriff auf die Gerechtigkeitsidee begründen. Indem es dies tut, öffnen sich die 10 In dem Aufsatz: „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft", 1922; abgedruckt in: Weber 1968, 151 ff. 11 Weber 1968, 153 f.; Nonet/Selznik 1978, 16 und 22.

II. Eigen-Verantwortung als Herausforderung für das Recht

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Türen zu einer an allgemeinen Zielen orientierten rechtlichen Interpretation. Gefragt wird dann, welche Lösung den offen oder implizit formulierten Prinzipien oder Zielen 1 2 am besten, d.h. unter möglichst geringem Eingriff in konkurrierende rechtlich geschützte Positionen, gerecht wird. Mit dieser Frage steht aber implizit auch der Herrschaftsanspruch des Rechts auf dem Prüfstand. In der Tradition des - nun rechtsstaatlich gebändigten - repressiven Rechts geht die Vorstellung dahin, Verhaltensimperative mittels des „Rechts-Befehls" an die „Gehorchenden" (Weber 1968, 152) weiterzugeben. Der hoheitliche Wille ist notfalls auch gegen Widerstand durchzusetzen. Dazu steht das Arsenal der staatlichen Gewalt zur Verfügung; etwa in Gestalt des Verwaltungszwanges. Dieses Steuerungsmodell ist vergleichsweise einfach gestrickt. Um nicht die Zwangsmaßnahmen erdulden zu müssen, wird der einzelne dem Rechtsbefehl folgen. Diese mechanistische Vorstellung übersieht aber die vielfachen Voraussetzungen, die für ihre Verwirklichung gegeben sein müssen, und die Hemmnisse, die ihrer Umsetzung entgegenstehen.13 Zudem ist das Recht nicht die einzige Ebene, auf der die Individuen Verhaltensimperative erfahren. Da das autonome Recht aber dazu tendiert, sich von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abzukoppeln und in der eigenen Begrifflichkeit und Systembildung zu verharren, gerät es in Gefahr, diese Imperative zu übersehen. Aus ihnen können sich jedoch Motive für Umgehungsstrategien entwickeln, denen das Recht dann mit den - rechtsstaatlich begrenzten Mitteln wiederum auf die Spur zu kommen hat. Die dazu verfügbaren Kontrollmöglichkeiten des Staates sind allerdings bereits in tatsächlicher Hinsicht stark eingeschränkt. Rechtsstaatlich motivierte Verfahrensanforderungen errichten weitere Hürden, die der Aufdeckung und Ahndung von Verstößen entgegen stehen. Das hierarchische Steuerungsmodell des Gesetzes-Befehls stößt aber auch noch in anderer Hinsicht an Grenzen, nämlich dann, wenn es nicht darum geht, unerwünschte Verhaltensweisen zu untersagen, sondern darum, die Akteure für die Mitwirkung bei der Lösung anstehender Probleme zu gewinnen. Hier benötigt das Recht eine andere Strategie. Es muß „versuchen, das Wünschbare geschehen zu lassen" 14 und die Adressaten für eine aktive 12 Zu dieser Unterscheidung siehe Schulze-Fielitz (1990, 28), der auf die von Dworkin (1984, 145 ff.) entwickelte Kategorie der „policies" verweist; eine Kategorie, die sich auf kollektive Güter bezieht. Während Prinzipien für die Gerichte unmittelbar entscheidungsleitend sind, bedürfen Zielsetzungen politischer Kompromißund Ausgleichsentscheidungen durch die demokratischen Institutionen. Schulze-Fielitz weist darauf hin, daß diese Entscheidung „wohl nicht immer trennscharf 4 sei. In der Tat ist auch für den Ausgleich der Prinzipien primär der demokratisch legitimierte Gesetzgeber berufen (siehe Kapitel E, Abschnitt III. 3). 13 Siehe Abschnitt II. 1.

Α. Einleitung

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Mitwirkung zu gewinnen. In derartigen Konstellationen läßt sich dies mit hoheitlichem Zwangsbefehl allein nicht viel erreichen; selbst für Teilerfolge ist bereits ein hoher Steuerungsinput erforderlich. In dieser Situation bietet es sich an, über Modifizierungen im Steuerungsmodell nachzudenken. 3. Responsives Recht Die als „responsiv" bezeichneten Steuerungsformen 15 lassen sich verstehen als Antwort auf die geschilderten Schwierigkeiten. Das responsive Recht ergänzt den regelgebundenen, hierarchischen und staatsfixierten Ansatz des autonomen Rechts um prinzipienorientierte, kooperative und pluralistische Elemente. So wie in der Managementlehre eine Veränderung bürokratischer Strukturen durch eine Verlagerung von Entscheidungskompetenz und ein „management by objectives" gefordert wird, stellt das responsive Recht Ziel- und Zweckbestimmungen in den Vordergrund, an deren Verwirklichung die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte zu beteiligen sind. Das Recht verläßt sich dabei nicht mehr vorrangig auf seine - insoweit stumpf gewordene - Zwangsgewalt, sondern fragt bewußt nach Steuerungsalternativen und bedient sich derer in ihrer ganzen Vielfalt. Das Recht sucht die Mitwirkung der Akteure durch Überzeugung zu gewinnen, verläßt sich allerdings nicht allein darauf. Vielmehr ist es aufgefordert, einen institutionellen Rahmen bereit zu stellen, der auf eine Stärkung der Motivationsimpulse und die Ermöglichung der angestrebten Verhaltensweisen ausgerichtet ist. Daneben kommen aber herkömmliche Formen der Überwachung und Kontrolle weiterhin zum Einsatz; sie haben aber im wesentlichen eine ergänzende Funktion. 16 Dementsprechend liegt der Schwerpunkt der recht14

Czempiel 1999; der diese Forderung im Hinblick auf die Nato-Strategie Kosovo-Konflikt formuliert und vorschlägt, mit einem gemischtinstrumentellen Ansatz die Bevölkerung Serbiens als Verbündeten zu gewinnen. 15 Zum Ansatz „responsiver Regulierung" siehe Ayres/Braithwaite 1992. Zu den Möglichkeiten, den Begriff „responsives Recht" inhaltlich auszufüllen, siehe auch Morlok 1993, 266 (unter Verweis auf Teubner 1975). 16 In den Worten von Nonet/Selznik (1978, 111; Herv. im Orig.): „Responsive law aims at enablement and facilitation; restrictive accountability is a secondary function. A new kind of lawyerly expertise is envisioned - expertise in the articulation of principles of institutional

design and institutional

diagnosis. Such principles

would analyze the characteristic institutional problems that are associated with carrying out different kinds of mandates and exercising different kinds of powers in different kinds of environments, and would point to the institutional mechanisms by which such problems may be corrected or moderated. The long term goal would be a capacity „to determine the most harmonious fit between the purposes and characteristics of particular agencies and various control techniques" (Stewart 1975, 1810). Hier findet sich bereits die Forderung nach maßgeschneiderten institutionellen Arrangements („most harmonious fit"); konkret bezogen auf das Verhältnis zwischen behördlicher Funktion und externer Kontrolle.

II. Eigen-Verantwortung als Herausforderung für das Recht

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liehen Debatte auch nicht mehr in der regeiförmigen Programmierung des Verwaltungsvollzuges 17 und der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle behördlichen Handelns. Damit verliert der demokratisch legitimierte Gesetzgeber an direkter Steuerungsmacht, weil er nicht mehr Verwaltungshandeln regeiförmig programmiert, sondern lediglich allgemeine Zweck- und Zielbestimmungen vorgibt, deren weitere Ausfüllung auf anderen Ebenen erfolgt; eine Entwicklung, die bereits seit längerem zu beobachten ist und von vielen Seiten kritisch kommentiert wird. 1 8 Der Verlust an Steuerungsmacht erscheint dann als besonders einschneidend, wenn man ihn aus der Perspektive des imperativen Steuerungsleitbildes heraus betrachtet und von der „Einheit des Staates als dem Zentrum der Macht, der Politik und des Rechts" 19 ausgeht. Versteht man Verhaltenssteuerung durch Recht hingegen als einen interaktiven Prozeß zwischen regulativen Instanzen und individuellen Entscheidungen dann ergibt sich ein anderes Bild: - Die Individuen haben sich für ihren Handlungsraum an den Vorgaben zu orientieren. Ihr Verhalten läßt sich als „Antwort" tive Leitlinien verstehen, zugleich weist die Rechtsordnung entsprechende „Verantwortung" zu und füllt diese materiell menteil auf.

normativen auf normaihnen eine und instru-

- Das Recht „antwortet" seinerseits auf Defizite bei der Verwirklichung gesellschaftlicher Ziele; sei es dadurch, daß es diese Ziele relativiert, sei es dadurch, daß es die Steuerungsimpulse verändert. Dabei knüpft es an die bestehende Eigen-Motivation an und ist durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehalten, diese möglichst schonend in Richtung verstärkter Zielerreichung zu verschieben. Der Gleichbehandlungsgrundsatz soll zudem ungerechtfertigte Lastenverteilungen verhindern. Aus sozial- und politikwissenschaftlicher Perspektive hervorzuheben ist zum einen der Prozeßcharakter, der von den regulativen Instanzen eine kontinuierliche Realanalyse fordert, um gegebenenfalls die Steuerungsparameter nachzuführen („nachzujustieren"). Zum anderen führt der Gedanke der Interaktion zu einer veränderten Sichtweise im Verhältnis der beiden Seiten: Stellt sich sowohl der Vorgang der Regulierung als auch die Anpassung des Verhaltens als „Antwort" auf die Reaktion der anderen Seite dar, wird deutlich, daß beide Seiten für das Erreichen ihrer Ziele auf das jeweilige „Gegenüber" angewiesen sind. Daraus ergibt sich, daß sie wechselseitig die in17

Zur Neubestimmung des Verhältnisses von „Vollzug und Verhandlung" infolge der Spannung zwischen „normativer Bindung und empirischer Responsivität" siehe Rossen 1999, 268 ff. 18 Denninger 1988 und 1990, Lübbe-Wolff 1991, Roßnagel 1996 sowie SchmidtPreuß 1997 und Di Fabio 1997. 19 Denninger 1998, 13; in Abgrenzung von dem präkonstitutionellen Staatsverständnis bei Isensee.

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Α. Einleitung

stitutionellen Randbedingungen des Gegenübers in Rechnung zu stellen haben. 2 0 Die Herausforderung an das Recht umschreibt Mayntz (1996, 155) mit der Forderung nach einem „Management der gesellschaftlichen Interdependenzen", welches sowohl die negative wie die positive Koordination der verschiedenen Teilsysteme verlange; dazu zähle „sowohl die Verhinderung oder zumindest Begrenzung negativer Externalitäten wie die kooperative Lösung von Problemen des übergeordneten Systems". 21 Im responsiven Recht treten dementsprechend andere Steuerungsformen in den Vordergrund: Der „Verzicht" auf regeiförmige imperative Steuerung wird kompensiert durch einen verstärkte Nutzung von Prinzipiennormen 22 im öffentlichen Recht; zugleich gewinnt das Zivilrecht an Bedeutung. 23 Wer diese Entwicklung allein mit den Kriterien des öffentlich-rechtlich dominierten „autonomen Rechts" beurteilt, läuft Gefahr, einen verengten Maßstab anzuwenden, welcher den Besonderheiten responsiver Arrangements nicht gerecht wird. 2 4 Für den Gesetzgeber bedeutet dies eine Aktzentverschiebung weg vom hoheitlichen, als „souverän" verstandenen Dezisionismus hin zum behutsamen Begleiten sozialer Prozesse. 25 Die Regelungsadressaten verlieren ein Stückweit ihre Rolle als „hilflose" Individuen, die dem übermächtigen Re-

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Für einen disziplinenübergreifenden steuerungstheoretischen Ansatz, der von einer „Theorie struktureller Koppelung" der verschiedenen Handlungsebenen ausgeht, siehe Görlitz/Burth 1998 sowie Burth 1999. 21 Mayntz (1996, 165) weist darauf hin, die Gesellschaftstheorie müsse „das von der alten Steuerungstheorie implizierte kybernetische Modell aufgeben, ohne ein Modell autopoietischer Selbstregelung an seine Stelle setzen zu können. Eine Theorie, die die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung zum Gegenstand hat, muß vielmehr die Interferenz zwischen autoritativer Staatsintervention, Verhandlungsprozessen zwischen politischen und gesellschaftlichen Akteuren, organisierter Selbstregelung, Marktprozessen und spontaner Strukturbidlung zu ihrem zentralen Thema machen." 22 Die von Nonet/Selznik hervorgehobene Gegenüberstellung von „rule" und „principle" entspricht der Begrifflichkeit von Dworkin 1977/1984 und Alexy 1985, 71 ff. Siehe dazu auch Kapitel C, Abschnitt IV. 1. 23 Siehe die Beiträge in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann 1996. 24 Dies bedeutet freilich nicht, daß nicht auch institutionelle Arrangements responsiven Charakters die rechtsstaatlichen Rationalkriterien zu erfüllen hätten. Allerdings erweist sich ihre Prüfung als schwieriger, weil es oftmals an einer unmittelbaren Intervention fehlt. Hier bedarf es einer Fortentwicklung der juristischen Dogmatik (siehe Kapitel E). Will das Recht Reichweite und Schwere indirekt wirkender hoheitlicher Intervention einordnen und alternativen Lösungsmöglichkeiten vergleichend gegenüberstellen, bedarf es dabei - noch stärker als bei unmittelbarer Intervention - der Unterstützung durch die Verhaltenswissenschaften. 25 Zu dem damit angesprochenen Funktionsbeschreibung der Rechtsordnung und den Bezügen zum VerfassungsVerständnis bei Wilhelm von Humboldt und Konrad Hesse siehe Kapitel F, Abschnitt VI. 4.

II. Eigen-Verantwortung als Herausforderung für das Recht

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gulierungsapparat ausgeliefert sind. Die Individuen haben es nämlich durchaus in der Hand, ihr Verhalten eigenverantwortlich an den Steuerungszielen zu orientieren und damit regulative Intervention entbehrlich zu machen oder abzumildern. Das hoheitliche Über-Unterordnungsverhältnis verschwindet zwar keineswegs vollständig, wird jedoch ein stückweit eingeebnet. Dies ändert allerdings nichts daran, daß die antagonistischen Interessen bestehen bleiben. Es kommt darauf an, diese zu erkennen und durch geeignete institutionelle Arrangements dafür zu sorgen, daß die Akteure in Verfolgung ihrer Eigen-Interessen ihren Beitrag zur Erreichung der überindividuellen Ziele zu leisten.

4. Verknüpfungen zu den Verhaltenswissenschaften Parallel zu dieser Entwicklung ist zu beobachten, daß in den letzten Jahren die Forderung zunehmend Gehör findet, Gesetze seien einer Prüfung auf ökonomische Rationalität zu unterziehen. 26 Angesichts der gemeinsamen geistesgeschichtlichen Wurzeln und der methodischen Übereinstimmung der zentralen rationalitätssichernden Grundfragen zwischen dem „ökonomischen Prinzip" auf der einen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf der anderen Seite 27 kann dies nicht grundsätzlich überraschen. Erklärungsbedürftig ist allerdings, aus welchen Gründen diese Verbindung gerade in den letzten Jahren besonders in den Vordergrund tritt. Die Ursache dafür dürfte in der zentralen Bedeutung der juristischen Zweck-MittelBetrachtung zu sehen sein: Der materiale Rechtsstaat eröffnet eine inhaltliche Kontrolle formell rechtsstaatlicher Gesetze. Entscheidend ist nicht mehr nur, ob überhaupt eine gesetzliche Grundlage vorhanden ist; es gilt vielmehr der „erweiterte Vorbehalt" des verhältnismäßigen und gleichbehandlungskonformen Gesetzes. Für die verfassungsrechtliche Prüfung, ob dieser Vorbehalt erfüllt ist, stehen aber keine festen Rechts-Regeln, sondern lediglich Rechts-Prinzipien des Verfassungsrechts zur Verfügung (Grundrechte, Staatszielbestimmungen, Gemeinwohlbelange). Prinzipien verlangen nach einer Optimierung, die sich zur ihrer Begründung Ziel-Mittel-Relationen zu bedienen hat. Damit ergibt sich bei der Anwendung des Verfassungsrechts eine unmittelbare Parallele zur Ziel-Mittel-Optimierung anhand des ökonomischen Prinzips. Die Akzentverschiebung in der juristischen Binnenperspektive in Richtung auf ein „responsives Recht" verlangt nach intensiveren Verknüpfungen zu den Nachbardisziplinen: Mit der zunehmenden Bedeutung von Prinzi26 Zu den früheren Stadien der Auseinandersetzung und der unterschiedlichen Entwicklung in den USA siehe Lepsius 1999, 430 ff. 27 Siehe dazu Kapitel D, Abschnitt III. 2 und Kapitel E, Abschnitt III. 2.

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Α. Einleitung

piennormen steigt der Bedarf an veränderten Analyse- und Begründungsmustern. Während in der Auslegung und Anwendung von Regeln die juristische Definitionsgewalt relativ problemlos aufrechterhalten werden kann, gilt dies bei Prinzipiennormen nur noch in eingeschränktem Maße. Die dabei anzuwendenden Argumentationsmuster bewegen sich nicht mehr vorrangig im für „Fachfremde" wenig transparenten Bereich juristischer Begrifflichkeit, sondern müssen Zweck-Mittel-Relationen darstellen und auf dieser Grundlage eine Entscheidung begründen. Damit bestehen aber Bezugspunkte zu Nachbarwissenschaften, wie der Ökonomie und den Politikwissenschaften, die sich auf der Grundlage des rational c/iö/c£-Paradigmas ebenfalls mit diesen Fragen befassen. Das Recht ist gezwungen, sich auf eine Argumentationsebene zu begeben, bei der andere Disziplinen die Definitionsgewalt des Rechts erfolgreich hinterfragen können. Umgekehrt gewendet, kann das Recht seine Entscheidungen nur dann überzeugend begründen, wenn sie auch vor dem Hintergrund dieser Rationalitätskonzepte zumindest plausibel erscheinen. Erkenntisfortschritte in den Nachbardisziplinen steigern die Anforderungen an den Grad der Plausibilität und stellen das Recht vor neue Herausforderungen. Für das Recht besteht damit gleichzeitig die Chance, von den Erkenntnissen der Nachbardisziplinen zu profitieren. Das Recht kommt jedenfalls im Ergebnis nicht umhin, sich der Konkurrenz von Nachbardisziplinen zu stellen (Behrens 1988, 224). Aus der Erweiterung des Steuerungsmodells ergibt sich zudem, daß das Recht nicht mehr einfach davon ausgehen kann, daß die Rechtsunterworfenen die Rechtsbefehle „gehorsam" ausführen. Es muß sich auch aus diesem Grund auf das Erkenntnisprogramm der Verhaltenswissenschaften einlassen. Es muß fragen, welche Faktoren das Verhalten bestimmen und unter welchen Randbedingungen Veränderungen in Richtung auf das angestrebte Verhalten zu erwarten sind. 28 Die damit verbundenen Erweiterungen bleiben für diejenigen, die sich professionell mit dem Recht befassen, nicht folgenlos. Sie sind gezwungen, sich auf Denkstrukturen und Denkstile der Nachbardisziplinen einzulassen; ein Vorgang, der nach der über lange Zeit zu beobachtenden Separierung des Rechts nicht ohne Friktionen zu bewältigen sein wird. Diese Integrationsleistung ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil auch bei einem responsiv gestalteten Rechtsrahmen wesentliche Aufgaben in den Händen der Rechtsanwender verbleiben. Die Responsivität des Rechts zu erhöhen ist damit nicht allein eine Aufgabe der Rechtsetzung, sondern mindestens in gleichem Maße eine Herausforderung für die Rechtsanwendung und für die dabei herangezogene Dogmatik. 2 9 28

Siehe dazu Beschreibung des Ansatzes „Responsiver Regulierung" bei Bizer/ Führ 1999 und 2001.

III. Fragen an die Rechtswissenschaft

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5. Ergebnis Der vermehrte Rückgriff auf Regelungsmuster der Kategorie der EigenVerantwortung erklärt sich aus den veränderten gesellschaftlichen Wirkungsbedingungen: Der Staat kann die an ihn gerichteten Steuerungsaufgaben nicht mehr vorrangig auf klassisch-imperativen, einseitig-regulativem Wege bewältigen, sondern ist auf vermehrt auf andere Handlungsformen angewiesen. Das Recht steht vor der Aufgabe, diese Erscheinungsformen hoheitlichen Handelns mit dem ihm zu Gebote stehenden Instrumentarium zu bewältigen. Dabei ist es gezwungen, sich auf das Erkenntnisprogramm der Verhaltenswissenschaften einzulassen.

I I I . Fragen an die Rechtswissenschaft Die von der Kategorie der Eigen-Verantwortung aufgeworfenen rechtswissenschaftlichen Fragen lassen sich unterteilen in zwei Ebenen: Auf der einen Seite ist zu klären, wie für die konkrete Handlungssituation die Verhaltensanforderungen zu bestimmen sind; oder, anders gefaßt: Welches ist der jeweils heranzuziehende Verantwortungsmaßstab? Damit sind begründungstheoretische Fragen angesprochen, die für Theorie und Dogmatik des Rechts von Bedeutung sind. Auf der anderen Seite sind die verschiedenen Mechanismen der Folgenanlastung im Hinblick auf die daraus resultierenden freiheitsbeeinträchtigenden Wirkungen genauer zu betrachten. Dazu bedarf es eines theoretischen Rahmens, in den sich die Wirkungen einordnen lassen. Auf der Grundlage einer wirkungsanalytischen Perspektive sollte es dann möglich sein, auch die nicht-imperativen Handlungsformen des Staates so einzuordnen, daß die Instrumente des Rechtsstaats ihre freiheitssichernde Funktion erfüllen können.

1. Sinkende Gerechtigkeitsunmittelbarkeit des Rechts Stellen Regelungsmuster aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung kein „neues" Phänomen dar, könnte man die Auffassung vertreten, es reiche aus, die bislang übersehenen Entwicklungen offenzulegen und es dabei zu belas29

Die auf die Dogmatik zukommende Aufgabe umschreibt Morlok (1993, 268): „Ein ebenso sensibler wie fleißiger Gesetzgeber kann durch seine Aktivitäten am Rechtsbestand die Responsivität des Rechtssystems befördern. Auch ist eine entsprechende Fassung rechtlicher Normierungen einer Öffnung für Umwelteinflüsse förderlich. Entscheidendes wird aber in jedem Fall auch immer von der Dogmatik, welche die konkrete Anwendung des Rechts bestimmt, geleistet werden müssen. Die responsive Ausgestaltung der Umweltbeziehungen des Rechtssystems bleibt zu einem erheblichen Teil Aufgabe der Dogmatik." 3 Führ

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Α. Einleitung

sen, die Wahrnehmungsdefizite auszugleichen. Ein derartiger Ansatz würde allerdings den grundsätzlichen Fragen nicht gerecht, die mit dieser Entwicklung verknüpft sind. Die in den letzten Jahren zu beobachtende verstärkte Nutzung entsprechender Regelungsmuster schafft für das Recht ein Problem, das seine Legitimationsgrundlage berührt und daher existenziellen Charakter annehmen kann: Die Frage, wie eine gerechte Sozialordnung anzusteuern sei, „läßt sich immer seltener unmittelbar durch Rechtsetzung" beantworten (Grimm 1973 a, 7). Gerechtigkeit wird vielmehr zunehmend auf anderen Wegen angesteuert, insbesondere durch die Gestaltung der wirtschafts-, sozial- und bildungspolitischen Rahmenbedingungen. Das Recht verliert seine Gerechtigkeitsunmittelbarkeit und nimmt instrumentellen Charakter an. Seine Steuerungsfunktion, die neben die alte Garantiefunktion tritt, kann das Recht „nur erfüllen, wenn es fähig ist, die Komplexität der zu steuernden Sachbereiche in sich aufzunehmen" (Grimm 1973 a, 7). In dem Maße, wie das Recht seine „Gerechtigkeitsunmittelbarkeit" verliert, wird auch dem Vertrauen in die „Faktische Kraft des Normativen" (v. Wangenheim 2002) die - ohnehin brüchige - Grundlage entzogen. Das Recht kann noch weniger als bislang davon ausgehen, die Umsetzung der von ihm aufgestellten Verhaltensanforderungen sei im wesentlichen eine Frage der Effektivität der rechtsförmigen Sanktionsapparate. Wenn das Recht seine Gerechtigkeitsorientierung nicht aufgeben will, ist es darauf angewiesen, „mittelbare" Wege der Verhaltensbeeinflussung zu beschreiten. Um den praktischen Steuerungsbeitrag der dazu einsetzbaren Instrumente abschätzen zu können, sind Informationen darüber erforderlich, welche weiteren Parameter jenseits rechtsförmiger Sanktionen das Verhalten der Akteure bestimmen. Das Recht benötigt damit eine Vorstellung menschlichen Verhaltens, auf die es seine Prognose darüber stützen kann, ob auf dem in's Auge gefaßten Wege die Gemeinwohlziele verwirklicht und zugleich die Freiheitsrechte nicht übermäßig belastet werden. Indem das Recht sich für Fragen der Verhaltensmodellierung öffnet, verläßt es die rein normative Ebene und nimmt Elemente einer „Realwissenschaft" 30 in sich auf. Auf dieser Grundlage lassen sich - möglichst empirisch gestützte - Aussagen darüber treffen, welche rechtlichen Gestaltungsoptionen vor dem Hintergrund der vorfindlichen Motivationslage in welchem Ausmaß geeignet erscheinen, das Verhalten der Akteure in Richtung auf die Steuerungsziele zu beeinflussen. Auf diese Fragen ist die juristische Dogmatik, die im Kern noch immer vom klassisch-liberalen Freiheitsbild und dem korrespondierenden imperativen Steuerungsleitbild geprägt ist, schlecht vorbereitet. Zu konstatieren sind „deutliche Defizite einer Theoriebildung im intermediären Be30

Zu dem Begriff und den Bezügen zur Rechtswissenschaft siehe Albert 1993 und Eidenmüller 1999.

III. Fragen an die Rechtswissenschaft

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reich von staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Selbstregulierung" (Trute 1996, 964). Dabei dürfte es kaum ausreichen, den „Abbau eines kohärenten, souveränen und wertgeleiteten Staatswillens" zu beklagen (Di Fabio 1997), denn die Option der Rückkehr zum hierarchischen Staat dürfte verschlossen sein. Wenn in der Veränderung der staatlichen Steuerung der Versuch zu sehen ist, die staatliche Handlungsfähigkeit unter veränderten Bedingungen zu erhalten, „dann ist die einseitige Betonung hierarchischer Steuerung kaum eine realistische Position" (Trute 1996, 964). Der Staat ist ja gerade nicht in der Weise „souverän", die es ihm gestatten würde, einen kohärenten und wertgeleiteten Willen zu formulieren und diesen dann imperativ durchzusetzen. Ist diese Rückzugsmöglichkeit damit ausgeschlossen, ist der Frage nicht länger auszuweichen, wie sich gleichwohl die Funktionen der spezifischen rechtsstaatlichen Sicherungsinstrumentarien aufrecht erhalten lassen, die auf die imperativen Handlungsformen ausgerichtet sind und die mit deren partieller Ablösung ebenfalls an Bedeutung verlieren. Die klassische Funktion der Grundrechte, „Eingriffe" an formale Kriterien zu binden und unter Rechtfertigungszwang zu stellen, ist dann aus einer Perspektive zu reformulieren, die nicht mehr primär auf staatliches Eingriffshandeln und die dazu entwickelten formalen Kriterien abstellt, sondern auch andere Handlungsformen und die daraus resultierenden Wirkungen auf den Gebrauch grundrechtlicher Freiheit in das dogmatische Gebäude integriert.

2. Prinzipienkonflikte im einfachen Recht Unvollkommene Rechtspflichten beinhalten keinen klaren Gesetzesbefehl, dem der Einzelne in Gesetzesgehorsam Folge zu leisten hat, während er sich im übrigen im Bereich rechtlich unbelasteter (Willkür-) Freiheit uneingeschränkt verwirklichen kann. Ein Staats- und Freiheitsverständnis, welches von klar abgrenzbaren Rechtssphären ausgeht, hat Schwierigkeiten, die Kategorie der Eigen-Verantwortung einzuordnen. Auf der Grundlage dieser Perspektive kann man darin wohl nur einen „dilatorischen Formelkompromiß" (Schmitt 1928, 32) sehen, in dem die Entscheidungsschwäche des Gesetzgebers zum Ausdruck kommt. Aus dieser Sicht liegt darin zugleich eine - möglicherweise besonders subtile - Form zusätzlicher Einschränkung der Freiheit (Di Fabio 1997; Leisner 1998). Man kann aber andererseits auch auf die Möglichkeit verweisen, durch Anwendung von Regelungsmustern aus der Kategorie „Eigen-Verantwortung" die Grenzen „strikten Rechts" offener zu fassen und damit zusätzliche - wenn auch durch Pflichtigkeiten belastete - Freiheitsräume zu eröffnen. Dann erscheint die Kategorie der „Eigen-Verantwortung" als eine „fundamentale gedanklich-politische Regelungsgrundlage". 31 Der Gesetzgeber verankert dazu auch im einfachen 3*

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Α. Einleitung

Recht Normen mit Prinzipiencharakter und verzichtet in gewissem Umfang auf regeiförmige Verhaltenssteuerung. Das Aufeinandertreffen von Prinzipiennormen wäre dann nicht allein ein Phänomen der Grundrechtstheorie (Alexy 1985), sondern auch bei der Anwendung des einfachen Rechts zu bewältigen. In dem Steuerungsansatz, den jeweiligen Akteuren einen erweiterten Entscheidungsspielraum bewußt zu überantworten, diesen aber mit Pflichtigkeiten zu verbinden, wäre dann eine „Optimierungsstrategie" (Denninger 1988, 7) zu sehen. Optimierungsbedarf ergibt sich bei konfligierenden individualrechtlichen Gewährleistungen sowie im Hinblick auf die Wahrung von Allgemeinwohlbelangen. Zur Lösung des Optimierungsproblems stehen dem Recht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz und Übermaßverbot zwei elementare materiell-rationale Begründungsmuster zur Verfügung, auf die es daher bei allen Optimierungsaufgaben immer wieder zurückgreift (Koch 2000, 249/ 257). Prinzipienkonflikte auf der grundrechtlichen Ebene verlangen damit nach den gleichen Begründungsmustern wie solche auf der Ebene des einfachen Rechts. Dies macht es fraglich, ob die Aussage, Auslegungsprobleme des einfachen Rechts würden in solchen Fällen umstandslos unter Rückgriff auf die Grundrechte gelöst, ohne weiteres zutrifft. Vielmehr wäre präziser zu fragen, in welchem Umfang es den Rechtsanwendern in den unterschiedlichen Konfliktlagen jeweils gestattet ist, auf die beiden elementaren Argumentationsmuster zurückzugreifen.

3. Institutionelle Einbettung unvollkommener Pflichten Wenn die Optimierungsstrategie erfolgreich sein soll, dann ist der Verzicht auf imperative Steuerung und die daraus resultierende Anreizwirkung so zu kompensieren, daß der angestrebte Verhaltenserfolg auf andere Weise gewährleistet ist. Unvollkommene Pflichten für sich allein reichen dazu insoweit ist den kritischen Stimmen beizupflichten - in der Regel nicht aus. Wenn es nicht bei rein appelativer Verantwortungsrhetorik und bloßer - und damit „leerer" - Symbolik (Lübbe-Wolff 1999, 15 f. und 2000a, 25) bleiben soll, bedarf es eines „institutionellen" Rahmens, der auch jenseits strikter Rechtsregeln in der Lage ist, die Motivationslage der Akteure hinreichend zu beeinflussen. Der Begriff der Institution 32 soll hier im sozialwissenschaftlichen Sinne verstanden werden. 33 Gemeint sind nicht soziale Gebilde (dafür soll der Be31 So Kloepfer 1998, 190 (§ 4 Rn. 55), der dies für den Bereich des Umweltrechts konstatiert und einen derartigen Ansatz als „Prinzip der kontrollierten Eigenverantwortlichkeit" bezeichnet. Die Bestandsaufnahme in Kapitel C wird zeigen, daß dieses Regelungsmuster in allen Teilgebieten der Rechtsordnung zum Tragen kommt.

III. Fragen an die Rechtswissenschaft

37

griff „Organisation" verwandt werden) oder Organe des Staates im Sinne „politischer Institutionen". Der Begriff „Institution" bezeichnet vielmehr „ein System formaler und informaler Regeln einschließlich der Vorkehrungen zu deren Durchsetzung", 34 welches die Motivationsfaktoren individuellen Verhaltens 35 beeinflußt. Der auf diesen Begriff gestützte Ansatz 3 6 soll es ermöglichen, die zu betrachtenden Phänomene in einen übergreifenden Orientierungsrahmen einzuordnen. 37 Er weist über das rechtswissenschaftliche Verständnis hinaus, weil er auch nicht-rechtliche Institutionen (wie etwa gesellschaftliche Konventionen oder habituelle Verhaltensweisen), aber auch marktförmig vermittelte Anreizstrukturen mit umfaßt. 38 Dabei ist nicht zu übersehen, daß auch die „außerrechtlichen" Institutionen ihrerseits durch Rechtsnormen beeinflußt sind. Ein veränderter Rechtsrahmen hat daher wenn auch ggf. nur indirekt und mit zeitlicher Verzögerung - Einfluß auf außerrechtliche Institutionen. Umgekehrt ist selbstverständlich auch das Recht eingebettet in den jeweils aktuellen institutionellen Kontext. Es nimmt, etwa bei der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe, Einflüsse außerrechtlicher Institutionen in sich auf. Wenn es zutrifft, daß die Generalklauseln ihren Inhalt auch aus außerrechtlichen Quellen schöpfen (Isensee 1999, Rn. 157), bleibt aber doch jeweils aus der Perspektive des Rechts zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang dies im Einzelfall geschehen soll. Dies setzt aber voraus, daß man in der Lage ist, das Phänomen als solches zu analysieren. Der übergreifende institutio32 Siehe dazu Lipp/Hofmann/Hubig 1995, die Beiträge in Göhler 1997 sowie die Nachweise in Kapitel D in Abschnitt III. 4 und bei Fn. 186. 33 Siehe Mayntz/Scharpf 1995, 39 ff. sowie die prägnante Darstellung bei Lohmann 1999, 51 ff. 34 Vgl. Richter/Furobotn 1996, 7. Institutionen definieren damit die verhaltensbestimmenden Parameter von Gesellschaften und insbesondere von Wirtschaften (North 1992). 35 Zu einem die institutionelle Perspektive integrierenden Modell menschlichen Verhaltens siehe Kapitel D, Abschnitt III. 4. 36 Inhaltliche Bezüge bestehen zu dem „institutionellen" Freiheits- und Grundrechtsverständnis Hegels (siehe Kapitel B, Abschnitt III. 2), zu dem „institutionellen" Ansatz von Häberle (Häberle 1983, 140 ff. u. 180 ff.; siehe dazu die kritische Würdigung bei Lübbe-Wolff 1988, 65 ff.) sowie dem „funktionalistisch-institutionellen" Grundrechtsverständnis von Luhmann (Luhmann 1974; siehe dazu LübbeWolff 1988, 291 f. sowie Kapitel E bei Fn. 101). 37 Siehe dazu auch den Ausgangspunkt der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls (1999, 3): „Justice is the first virtue of social institutions" (dt.: Rawls 1979, 19); zu dem von Rawls verwendeten Institutionenbegriff, den er im folgenden wieder etwas einschränkt, da er sich auf beschränkt auf die Analyse der „basic structure of society, or more exactly, the way in which the major social institutions distribute fundamental rights and duties and determine the division of advantages from social cooperation", siehe Rawls 1999, 6 ff. (dt.: 1979, 23 ff.). 38 Bizer 1998 und Engel 1999, 4 ff.

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Α. Einleitung

nelle Ansatz soll dies ermöglichen. Der Begriff der Institution eröffnet dazu einen analytischen Rahmen, der es erlaubt, die verhaltensbeeinflussende Wirkung unterschiedlicher hoheitlicher Handlungsformen genauer zu betrachten und mit den dogmatischen Kategorien des Rechts zu verknüpfen. Der zu entwickelnde Ansatz beinhaltet damit einen „interdisziplinären Brückenschlag" zwischen dem Recht und den Verhaltenswissenschaften. Aus der Verknüpfung von realwissenschaftlicher und normativer Perspektive ergeben sich eine Reihe interdisziplinärer Verständigungsprobleme, die sich wissenschaftstheoretisch auf den jeweils vorherrschenden „Denkstil" (Heck 1980 und 1983 b) zurückführen lassen. Die Verständigungsaufgaben dürften sich für das Recht nur dann bewältigen lassen, wenn man bereit ist, sich für Denkstile anderer Disziplinen zu öffnen.

4. Verantwortungsteilung und Verantwortungsvervielfachung Strikt-imperative Verhaltensvorgaben trennen die Pflichtenbereiche gegeneinander ab, denen private Akteure in ihrem Zusammenwirken, aber auch die Träger öffentlicher Gewalt unterworfen sind. Damit werden zugleich die jeweiligen Verantwortungsbereiche definiert. Mit dem „Verzicht" auf strikt gefaßte Pflichten wird gedanklich von sich überlagernden Verantwortungsbereichen auszugehen sein. Damit stellt sich die Frage, in welcher Weise sich in derartigen Konstellationen die Handlungsbefugnisse und die korrespondierenden Verhaltenspflichten bestimmen lassen. Sicherlich zutreffend ist die Feststellung, das Rechtstaatsprinzip hindere Verantwortungsteilungen als solche nicht; 3 9 allerdings nähert man sich der Problemstellung wohl von der falschen Seite, denn das Recht mit seiner Funktion, soziale Prozesse zu ordnen, hat es ständig damit zu tun, daß seine Adressaten vor der Frage stehen, wie sie eine Aufgabe, die ohne Kooperation nicht zu verwirklichen ist, gemeinsam angehen und unter Berücksichtigung der involvierten Interessen möglichst sinnvoll ordnen können. Verantwortungsteilungen zu organisieren, dürfte damit jedenfalls eine, wenn nicht sogar die zentrale Aufgabe des Rechts sein. Die Vorstellung, die dabei zu formulierenden Pflichtenkreise ließen sich in geometrischer Exaktheit gegeneinander abzirkeln, dürfte dabei der sozialen Wirklichkeit in aller Regel nicht gerecht werden. Hier dominiert vielmehr eine arbeitsteilige Organisation der übernommen Aufgaben; und zwar durchgängig von der Familie über die Wirtschaft 40 bis hin zu politischen Entscheidungsprozessen. 41 Eine Ingerenz der Pflichtenkreise wird sich dabei oftmals nicht vermeiden las39 Trute 1996, 956; siehe dazu aber auch Trute 1999 und Voßkuhle 1999. Zu Verantwortungsteilungen aus institutionenökonomischer Sicht siehe Suchanek 1999 und Lohmann 1999.

IV. Gang der Untersuchung

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sen; mehr noch: wer sich in soziale Kooperation begibt, läßt sich aus eigenem Entschluß auf eine gemeinsam übernommene Verantwortung ein. Damit einher geht unvermeidlich in gewissem Umfang eine „Verantwortungsdiffusion", die nicht etwa rechtsstaatlich untersagt ist (so wohl Trute 1996, 956); vielmehr ist eine Ingerenz der Verantwortungssphären der Regelfall der vom Recht zu bewältigen sozialen Prozesse. 42 Nicht nur für das Strafrecht gilt dabei, daß aus Arbeitsteilung „nicht Verantwortungsteilung, sondern Verantwortungsvervielfachung" 43 resultiert. Dieser Multiplikationseffekt läßt sich aber nur dann erklären (und rechtfertigen), wenn man das Phänomen ingerenter Verantwortungsbereiche anerkennt. Die Aufgabe des Rechts besteht somit darin, soziale Kooperation mit der daraus resultierenden Verantwortungsdiffusion zu ermöglichen und zugleich Mechanismen der individuellen Zuordnung bereitzustellen. Zu bejahen ist mithin die Notwendigkeit einer „rechtsstaatlichen Formung" 4 4 derartiger Verantwortungskonstellationen.

I V . Gang der Untersuchung Die Problembeschreibung macht deutlich, daß im weiteren zwei miteinander verwobene Stränge zu verfolgen sind. Der erste widmet sich der Frage, wie sich unvollkommene Pflichten in das juristische System integrieren lassen. Zunächst ist eine begriffliche Abgrenzung und eine Einordnung in das System des Rechts vorzunehmen. Ausgehend von einer Bestandsauf40

Für das sich verändernde Verhältniss von öffentlichem und privatem Sektor läßt sich von „Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff 4 sprechen, was aber auch für diese Konstellation kein neues Phänomen darstellt (Trute 1999, 14 ff.). 41 Für die verschiedenen Staatsfunktionen wird daher folgerichtig vorgeschlagen, statt von Gewaltenteilung von „Gewaltenkooperation" zu sprechen (v. Bogdandy 2000, 148). 42 Die Liste möglicher Beispiele ist unüberschaubar. Herausgegriffen seien etwa die Fragen nach der Gewährleistung privater Vertraulichkeit in der Telekommunikation (Bizer 1998) oder die Bereitstellung von Infrastrukturleistungen (Hermes 1998, 146 ff.) sowie die exemplarischen Darstellungen in Schuppert 1999: für den Bereich der Industrienanlagenüberwachung (Laskowski), der inneren Sicherheit (Gusy und Pitschas), der Justiz (Hoffmann-Riem), des Abfallrechts (Schmidt-Preuß) und der Informationsordnung (Schoch). 43 Schmidt-Salzer 1988, 1942. Schmidt-Salzer gelangt - noch vor der Lederspray-Entscheidung des BGH vom 6.7.1990 (BGHSt 37, 106 = NJW 1990, 2560) zu der Einschätzung: „ebenso wie sich innerbetrieblich die Verantwortlichkeiten gegenseitig ergänzen, sich aber auch überlagern und überschneiden, überlagern, überschneiden und ergänzen sich gegebenenfalls auch die strafrechtlichen Sorgfaltspflichten der einzelnen Mitarbeiter. Deshalb bedeutet die tatsächliche Arbeitsteilung strafrechtlich eine Verantwortungsvervielfachung" (Schmidt-Salzer 1988, 1942). 44 Trute 1996, 956. Siehe dazu auch Voßkuhle 1999, 63 ff.

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Α. Einleitung

nähme sind die dem Recht zur Verfügung stehenden Mechanismen der Konfliktbewältigung zu analysieren und zu systematisieren. Beim zweiten Strang ist zu klären, in welchem Umfang sich das Recht auf die verhaltensbeeinflussende Wirkung von Instrumenten stützen kann und darf, die nicht - wie der klassische hoheitliche Verhaltensbefehl - auf unmittelbare Verhaltenslenkung, sondern darauf gerichtet sind, lediglich mittelbar das Verhalten zu beeinflussen. Um die Steuerungskraft derartiger Ansätze einschätzen zu können, bedarf es eines Verhaltensmodells, welches es erlaubt, Aussagen zu den Wirkungen der indirekt steuernden Instrumente zu machen. Der zweite Strang wendet sich daher zunächst den Verhaltenswissenschaften zu und beschreibt die Grundelemente eines für Zwecke der Rechtswissenschaft geeigneten Verhaltensmodells. Das Modell soll es ermöglichen, die verhaltensbeeinflussenden Wirkungen der institutionellen Rahmenbedingungen genauer zu bestimmen, die zur motivationellen Einbettung der unvollkommenen Pflichten notwendig sind. Darauf aufbauend ist dann für die einzelnen Stationen der Grundrechtsprüfung aufzuzeigen, welche Unterstützungsleistungen von einer wirkungsanalytischen Betrachtung zu erwarten sind. Um die beiden Stränge zu verfolgen und zusammenzuführen sind fünf thematische Schwerpunkte zu durchschreiten. Zunächst ist die analytische Kategorie der Eigen-Verantwortung genauer zu bestimmen. Dabei ist der Frage nachzugehen, wie das Regelungsmuster der Eigen-Verantwortung im Kontext von Recht und Tugend, aber auch in der Kontroverse über das angemessene Freiheits- und Staatsverständnis einzuordnen ist (Kapitel B). Trifft die Annahme zu, die Kategorie der Eigen-Verantwortung sei dem Recht auch bislang nicht fremd, dann müßten sich in der Rechtsanwendung Entscheidungsmuster für die Bewältigung unvollkommener Pflichten auffinden lassen. Im Rahmen einer Bestandsaufnahme der Judikatur zu offenen Rechtsbegriffen im Rahmen des Zivil-, Verwaltungs- und Verfassungsrechts sowie der Verantwortungsteilungen innerhalb der öffentlichen Gewalt sind diese Konfliktbewältigungsmuster nachzuzeichnen, um sie rechtstheoretisch und rechtsdogmatisch einzuordnen (Kapitel C). Es wird sich zeigen, daß die Rationalkriterien der wechselbezüglichen Verhältnismäßigkeitsprüfung einen formalen Rahmen eröffnen, der es ermöglicht, die einzelnen Konfliktsituationen auf genereller Ebene, aber auch im konkreten Einzelfall in nachvollziehbarer Weise zu bewältigen. Die Rationalkriterien spannen einen argumentativen Rahmen auf, der in seiner Wirkung darauf gerichtet ist, die Beteiligten zu gegenseitiger Rücksichtnahme anzuhalten. Fügt man die einzelnen Prüf-Vektoren aus dem „Rationalprogramm des Rechts" zusammen, zeigt sich als Resultante ein wechselbezüglich aufgebautes Rücksichtnahmegebot.

IV. Gang der Untersuchung

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Wenn das Recht darauf abzielt, menschliches Verhalten zu beeinflussen, muß es sich darüber informieren, welche Motivationsimpulse von den Festlegungen der Rechtsordnung ausgehen. Es benötigt ein Verhaltensmodell, mit dessen Hilfe sich Art und Intensität der Beeinflussung menschlichen Verhaltens durch das Recht abzuschätzen lassen. Die Notwendigkeit, derartige Wirkungsanalysen anzustellen, nimmt im gleichem Maße zu wie die Erwartung sinkt, die Steuerungsaufgaben seien gesetzesunmittelbar-imperativ zu lösen. Die auf dem Wege „indirekter Steuerung" zu erzielende verhaltensbeeinflussende Wirkung und die damit einhergehende Freiheitsbeeinträchtigung erschließen sich allerdings erst dann, wenn man den jeweiligen institutionellen Kontext in die Betrachtung mit einbezieht. Den methodischen Grundlagen einer derartigen „Institutionenanalyse" ist in Kapitel D nachzugehen. Im Mittelpunkt steht die Frage nach einem aus der Perspektive des Rechts tauglichen Modell der Bestimmungsfaktoren menschlichen Verhaltens. Für das zu entwickelnde Verhaltensmodell soll der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens als Grundlage dienen, der jedoch im Licht der empirischen Befunde der neueren „spieltheoretischen" und sozialpsychologischen Forschung sowie der darauf gestützten modelltheoretischen Diskussion abzuwandeln ist. Mit der Erkenntnis, daß grundrechtliche Freiheit nicht allein durch imperatives Handeln des Staates gefährdet ist, ist zugleich die Frage aufgeworfen, wie sich die Wirkungen anderer staatlicher Handlungsformen dogmatisch bewältigen lassen. Die Frage nach der Grundrechtsrelevanz „mittelbarer" Beeinträchtigungen individueller Entfaltungsmöglichkeiten infolge hoheitlicher Handlungen läßt sich auf der Grundlage des in Kapitel D entwickelten wirkungsanalytischen Ansatzes präziser fassen. Das Kapitel E unternimmt daher den Versuch, die grundrechtliche Eingriffsprüfung aus der Perspektive der Einwirkungen auf die Motivationsfaktoren individuellen Verhaltens zu reformulieren. Dabei wird sich zeigen, daß die wirkungsanalytische Betrachtung in der Lage ist, die „klassischen" Eingriffe und die „sonstigen Beeinträchtigungen" in einen Ansatz zu integrieren und damit die abwehrrechtliche Schutzfunktion klarer zu konturieren. Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung kann die wirkungsanalytische Betrachtung vor allem bei der Frage, ob die eingesetzten Instrumente „erforderlich" sind, wichtige Beiträge liefern, indem sie auf alternative Gestaltungsoptionen aufmerksam macht. Die Schlußfolgerungen für die Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts zu formulieren, ist Gegenstand von Kapitel F. Das Rücksichtnahmegebot erweist sich dabei als allgemeiner Rechtsgrundsatz, der bei den Regulierungsund Interpretationsaufgaben eine Leitbildfunktion übernimmt. Das institutionenökonomische Verhaltensmodell öffnet den Blick für die ganze Bandbreite der verhaltensbestimmenden Faktoren und die sich daraus ergeben-

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Α. Einleitung

den Steuerungsoptionen. Stellt man diese in systematischer Form zusammen, ergibt sich ein „Wahrnehmungsraster", welches dem Gesetzgeber die Suche nach schonenderen Steuerungsalternativen im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung erleichtert. Er ist damit besser in der Lage, die vorfindliche Motivationsstruktur zu berücksichtigen, und davon ausgehend eine Strategie „responsiver Regulierung" zu entwickeln. Die dazu eingesetzten Steuerungsinstrumente, einschließlich solcher aus der Kategorie der EigenVerantwortung, lassen sich anhand einer Grundrechtsdogmatik, die explizit die Wirkungsperspektive integriert, so einordnen, daß die freiheitssichernde Intention der Rationalkriterien des Rechts verstärkt zum Tragen kommt. Aus der spezifischen Verknüpfung von wirklichkeitswissenschaftlicher und normativer Perspekte ergibt sich schließlich die Erwartung, auf diesem Wege lasse ich die „normative Kraft der Rechtsordnung" besser zur Entfaltung bringen.

Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts I. Ausformung von „Verantwortung" In verschiedenen Disziplinen wird in den letzten Jahrzehnten wieder intensiv über die Frage diskutiert, was unter Verantwortung zu verstehen sei und welche Rolle sie im Betrieb, in Wirtschaft und Gesellschaft sowie in der Politik übernehmen kann bzw. in welcher Weise sie in der Ethik, der Ökonomie und im Recht zu verstehen sei.1 Dabei hat sich eine uneinheitliche, oftmals diffuse Begrifflichkeit entwickelt. In der Alltagssprache, aber auch im juristischen Sprachgebrauch finden sich die Begriffe „Verantwortung" und „Verantwortlichkeit" in unterschiedlichen - teils in normativen, teils in deskriptiven - Bedeutungsgehalten.2 Im folgenden steht die normative Bedeutung im Mittelpunkt. Verantwortung im Rechtssinne berührt sich hier mit ethischen Bedeutungsgehalten des Begriffes. Im folgenden sind die konstituierenden Elemente von „Verantwortung" 3 genauer zu betrachten. Ziel ist es dabei, die Voraussetzungen zu umschreiben, unter denen die Zuschreibung von Verantwortung rechtlich wirksam werden kann.

1. Totalität der Verantwortung? Der Bedeutungsgehalt des Begriffes „Verantwortung" hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Wenn heute dieser Begriff gebraucht wird, schwingen gleichwohl noch immer die früheren Bedeutungsschichten mit. Sie sind daher kurz zu skizzieren, um auf dieser Grundlage die unterschiedlichen Ausprägungen eines rechtlichen Verantwortungsbegriffes zu charakterisieren. Verfolgt man die sprachgeschichtlichen Wurzeln der Wortgruppe Verantwortung, findet sich dieser Begriff in der deutschen Sprache erst relativ spät, nämlich im Mittelhochdeutschen, wo er vor allem im Rechtsleben eine Rolle spielt (Grimm/Grimm 1956, Sp. 81). Dies legt eine Übernahme aus dem Lateinischen nahe. Picht (1969, 319) äußert die Vermutung, das 1 Siehe nur die Beiträge in Lampe 1989, Hohmann 1992, Bayertz 1995 sowie die Werke von Jonas 1979 und Saladin 1984; weitere Nachweise bei H. Dreier 2000. 2 Vgl. Forschner 1989, 590 sowie zusammenfassend Murswiek 1985, 39 ff. Verantwortung kann man daher als „Familienbegriff' bezeichnen (Krawietz 1995, 200 unter Verweis auf Wittgenstein). 3 Zu den begrifflichen Differenzierungen siehe Abschnitt II.

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

Auftauchen des Begriffs hänge rechtsgeschichtlich mit dem Vordringen des Inquisitionsprozesses zusammen. Das Wort „verantworten" scheint dabei den im römischen Rechtsleben geläufigen Begriffen wie respondere, responsio, responsum zu entsprechen (Wieacker 1988, 560 ff.). Gemeint ist dann, eine Sache vor Gericht zu verteidigen bzw. ein Handeln zu rechtfertigen, und zwar in der Weise, daß auf eine (An-) Klage zu antworten ist (Schwardtländer 1974, 1579). Die lateinische Wurzel reicht allerdings über diese eher formale Erwiderungsfunktion hinaus und bezieht die materielle Grundlage des gerichtlich geltend gemachten Anspruchs mit ein, wenn für „respondeo" die Bedeutung von „ein Gegenversprechen leisten, zusagen" genannt wird. Hier zeigt sich der Wortstamm von „spondeo", der ein feierliches und förmliches Geloben und Sichverpflichten bezeichnet.4 Der Begriff Verantwortung weist in seiner heutigen Bedeutung allerdings über die Situation in einem Verfahren der weltlichen Gerichtsbarkeit hinaus. Der volle Bedeutungsgehalt erschließt sich erst, wenn man seine Funktion in der christlichen Ethik mitberücksichtigt. Aus der Perspektive des „jüngsten Gerichts", wo die Lebenden und die Toten vor den Richterstuhl Christi zu treten haben (2. Kor. 5, 10), entspringt die Vorstellung, das menschliche Leben diene insgesamt der Vorbereitung auf diese letzte „Verantwortung". Zu richten ist dort nicht nur über das tatsächliche Handeln, vielmehr sind selbst bloße Gedanken, also rein innerliche Vorgänge, Gegenstand des Richterspruchs: Der Mensch hat sich „schlechthin", in allen seinen Facetten dem göttlichen Richter zu stellen. Daraus resultiert der „eigentümliche Überschuß" (Picht 1969, 320), der mit dem Begriff der Verantwortung verbunden ist. Er ist nicht beschränkt auf die Verwendung im religiösen Kontext, sondern findet sich auch in der säkularisierten Ethik, die mit dem Begriff auch die damit verbundenen Vorstellungen und Bedeutungsgehalte übernommen hat. Dieser Bedeutungstransfer dürfte im gesamten „christlichen Abendland" zu beobachten sein, also etwa auch in England und Frankreich. 5 Der Raum, in dem sich die umfassende Verantwortung entfalten kann, ist nach der christlichen Vorstellung das Gewissen. „Die Selbstbesinnung in der Prüfung des Gewissens erschließt der Seele jenen Innenraum, in dem sich dann die europäische Moralität in ihren christlichen und säkularisierten Formen erst entfalten konnte" (Picht 1969, 321). Während in der christlichen Vorstellung Gott als „Gegenüber" der Verantwortung prägend ist, verflüchtigt sich der dialogische Charakter der Verantwortung in der säkularisierten Ethik der Neuzeit. Jetzt ist das „denkende Ich" die Instanz, der sich die sittliche Vernunft zu stellen hat. Verantwortung bedeutet dann: Verantwortung des Menschen vor sich selbst und für 4

Petschenig 1971, 430 und 463. Dagegen scheint ein derart umfassendes Verständnis der lateinischen Form und der römischen Ethik noch fremd zu sein (Picht 1969, 319). 5

I. Ausformung von „Verantwortung"

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sich selbst. Den Maßstab bildet dann die - in diesem doppelten Sinne autonome Vernunft. Die klassische Formel für den auf die autonome Vernunft zurückbezogenen Begriff der Verantwortung ist der kategorische Imperativ bei Kant. Die darin zum Ausdruck kommende Reflexion des denkenden Ich auf sein eigenes Denken, läßt sich verstehen als die säkularisierte Form der christlichen Sorge der Seele um ihr Heil und um ihre Wahrheit, die sich eröffnet in der Dialektik von Gewissen und Bewußtsein (conscientia in der doppelten Bedeutung des Wortes; Picht 1969, 322). Kennzeichnend für dieses säkularisierte Verständnis ist der Verzicht auf einen externen (oder als extern gedachten) Dialogpartner. Mit dem Dialogpartner geht ein „Gegenüber" verloren, was den Charakter der Verantwortung in Richtung auf eine reine innerliche Selbst-Verantwortung verschiebt; damit fehlt aber zugleich eine Instanz, die nicht nur anhand der unerbittlichen Gesetze richtet, sondern es auch in der Hand hat, Gnade walten zu lassen. Wenn der Verantwortungsbegriff aber zugleich den umfassenden, äußeres Verhalten und zugleich innere Regungen mit einschließenden Gegenstand beibehält, schließt er ein Verständnis ein, welches ihn für totalitäres Denken anziehend macht (Picht 1969, 339). So dürfte es auch kein Zufall sein, daß Hans Jonas von der „Totalität der Verantwortungen" spricht, die „das totale Sein ihrer Objekte umspannen, daß heißt alle Aspekte desselben, von der nackten Existenz bis zu den höchsten Interessen". 6 Diese Deutung ist aus ethischer Sicht zu verwerfen, weil Verantwortung - will sie nicht einen unerfüllbaren und damit „unmenschlichen" Absolutheitsanspruch aufstellen 7 - sich nur auf einen klar umrissenen Gegenstand beziehen kann und die zumutbaren Handlungsmöglichkeiten zu berücksichtigen hat. Für das Recht, welches soziale Beziehungen zum Gegenstand und für diese unter den Aspekten der Freiheit, der Friedenssicherung und der Gerechtigkeit einen Ordnungsrahmen bereitzustellen hat, gelten weitere Einschränkungen. Zum einen kann es nicht darum gehen, Verantwortung nur rein privat vor dem „inneren Auge" stattfinden zu lassen; vielmehr muß eine äußerlich wirksame Form der Folgenanlastung hinzutreten. Zum anderen ist ein „totales" Verständnis im Sinne von Jonas sowohl mit der Freiheit des Verantwortungsträgers als auch mit der eines möglichen Gegenübers unvereinbar. Soll der Begriff der Verantwortung im Rechtsleben eine Rolle spielen, sind diese Einschränkungen zu beachten. Es kommt demnach dar6

Jonas 1979, 189; angelegt bereits unmittelbar nach der Einführung seines „neuen Imperativs", seines Prinzips Verantwortung (Jonas 1979, 37). Zur Gefahr einer Totalisierung der Moral siehe H. Lübbe 1987, 37 ff. sowie Hegselmann/ Kliemt 1997 a, 16 f. Zu dem Verantwortungsbegriff von Jonas siehe Abschnitt I. 3. 7 Zu den Grenzen eines solchen Ansatzes siehe Nida-Rümelin 1995 (90 f. und passim), der darin eine „überbordende Verantwortlichkeit" sieht, die mit der Integrität der Person unvereinbar sei.

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

auf an, jeweils konkret die Voraussetzungen und Bedingungen verantwortlichen Handelns zu betrachten und nach angemessenen Formen rechtlicher Umsetzung zu suchen.

2. Verantwortung als soziales Konstrukt Verantwortlich wird der Einzelne, indem er gefordert ist. Wie er dem Gefordertsein entspricht, d.h wie er auf die Anforderungen antwortet, bleibt ihm selber überlassen (Logstrup 1962, 1254); allerdings nicht im Sinne einer ungebundenen Beliebigkeit des Verhaltens. 8 Denn Verantwortung steht stets im Verhältnis zu - fremd- oder selbstgesetzten - Anforderungen. Dafür, wie diese Antwort konkret ausfällt, hat sich der Einzelne zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigungslast setzt gedanklich die Freiheit der Willensbildung, des Handlungsentschlusses und der Umsetzungshandlung voraus. 9 Von Verantwortung läßt sich daher nicht sprechen, wenn man annimmt, menschliches Verhalten sei vollständig determiniert (sei es durch ethische Anforderungen, sei es durch Präferenzen und Eigennutzkalkül). Zum Meinungsstreit zwischen Determinismus und Indeterminismus 10 Stellung zu nehmen, besteht im vorliegenden Zusammenhang indes kein Anlaß. Selbst wenn es zutreffen sollte, daß wir unsere Ziele und Präferenzen nicht frei entwickeln, bleibt uns doch die Möglichkeit, tugendbezogene oder rechtliche Anfragen, die an uns gerichtet sind, anzunehmen oder abzulehnen. 11 Zumindest ist dies die normative Forderung, die dem Konzept der Verantwortung zugrunde liegt. 1 2 Verantwortung ist demnach als ein soziales Konstrukt 13 zu verstehen. Seine Funktion liegt darin, menschliches Verhalten in sozial erwünschte Bahnen zu lenken. Um diese Funktion zu erfüllen, wird 8

Huber (1998, 32 f.) formuliert die „Einsicht, daß alle Verantwortung Selbstbegrenzung zur Voraussetzung hat" und will diese Grenzen dialogisch bestimmen: „Daß der Mensch Verantwortung trägt, ist nicht das erste, was über ihn zu sagen ist; dem geht schon immer voraus, daß er angeredet wird und dieser Ansprache zu entsprechen lernt. Angesprochen wird er von Menschen, mit denen ihn gemeinsames Leben verbindet, von der außermenschlichen Natur, die seine Wahrnehmung wachruft, von dem göttlichen Geist, der ihn zum Bewußtsein seiner Würde verhilft. Weil der Mensch schon angesprochen ist, bevor er zu antworten weiß, bildet die Selbstbegrenzung die erste Pflicht seiner Freiheit". 9 Aristotoles 1966, 64 ff. (NE III l i l l a 22-24); Forschner 1989, 590 f. 10 Zu Geschichte und Konzept des Determinismus und der Gegenpositionen siehe Walter 1998, 32 ff. m.w.N. 11 Zur Willensfreiheit und ihren „neurophilosophischen" Einordnung ausführlich Walter 1998 sowie die Beiträge in Metzinger 1995, 455 ff. 12 Bayertz 1995 a, 12. Die Erfahrungstatsache, daß unser Tun und Lassen von praktischen Entscheidungen abhängig ist, bleibt davon unberührt. Wir erleben uns als frei, wenn und weil wir den Eindruck haben, daß uns Handlungsmöglichkeiten offenstehen (Krawietz 1995, 205 f.).

I. Ausformung von „Verantwortung"

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die Willensfreiheit für den Regelfall 14 normativ vorausgesetzt. Es ist lediglich festzustellen, daß ein Individuum hinter einer allgemeinen Norm zurückbleibt. Um der Effektivität der Verhaltensbeeinflussung willen ist ihm sein Verhalten persönlich zuzurechnen und mit Sanktionen zu verbinden. Normativ wird damit zugleich unterstellt, daß sich die Motivationslage und damit das Verhalten des Einzelnen durch externe Randbedingungen beeinflussen lassen. Daß Verantwortung sozial konstituiert ist, zeigt sich vor allem daran, daß wir nicht für alle Folgen unseres Handelns „verantwortlich" sind. Das Wirtschaftsleben ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Bestimmte Folgen, etwa der Konkurs eines Konkurrenten und die daraus resultierenden sozialen Folgen für Inhaber und Beschäftigte, werden ausdrücklich in Kauf genommen. 1 5 Die Freiheit, nicht nur die der wirtschaftlichen Betätigung, lebt davon, für andere Folgen setzen zu können, ohne dafür Konsequenzen erdulden zu müssen. 16 Das Recht grenzt damit bestimmte Handlungsfolgen, die bei rein kausaler Betrachtung dem Individuum zuzurechnen wären, aus dem Verantwortungsbereich aus.

3. Konstituierende Elemente Verantwortung als Kategorie der Rechtsordnung bedarf der Präzisierung. Ansatzpunkt dafür sind die Elemente, die eine Verantwortungs-Konstellation kennzeichnen. Die einzelnen Elemente lassen sich wie folgt beschreiben: 1 7

13

Dies dürfte auch für den Bereich der Selbst-Verantwortung gelten, wo sich der Einzelne im Hinblick auf das eigene Wohlergehen aufgrund eines „guten Gewissens" an den Tugendpflichten orientiert. Denn die Internalisierung der entsprechenden Sanktionsmechanismen ist das Ergebnis sozial vermittelter Prägung, die auch auf die Wirkung von Institutionen zurückzuführen ist. Zu der Beeinflußung der Präferenzen durch Institutionen siehe das in Kapitel D, Abschnitt III. 4, entwickelte Verhaltensmodell. 14 Für außergewöhnliche Lagen finden Sonderregelungen, siehe etwa §§ 20 f. StGB oder §§ 6, 105 Abs. 2 BGB. 15 Historisch betrachtet ist dies eine jüngere Entwicklung. Das Zunftwesen des Mittelalters zielte dagegen explizit auf eine Ausschaltung der Konkurrenz und der Verhinderung technologischer Innovation. Zuwiderhandlungen wurden auch strafrechtlich verfolgt; die Erfindung und Nutzung arbeitssparender Maschinen soll sogar mit dem Tode bestraft worden sein (Bayertz 1995 a, 23). 16 Die „Verantwortungslosigkeit" für die sozialen Folgen individuellen Handelns ist nach Preuß (1979, 37 f.) die „Substanz der bürgerlichen Freiheit". 17 Forschner 1989, 589 ff.; Lenk/Maring 1992, 81 f.

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

- Jemand (Verantwortungssubjekt bzw. Verantwortungsträger) ist - ßr etwas (Verantwortungsobjekt bzw. Verantwortungsgegenstand, z.B. Handlungen, Handlungsfolgen, Zustände, Aufgaben) - in bezug auf ein präskriptives bzw. normatives Kriterium (Verantwortungsmaßstab) - gegenüber einem Adressaten 18 - vor einer Verantwortungsinstanz 19 (mit Urteilsfunktion und Sanktionsmöglichkeiten) - im Rahmen eines Verantwortungsbereiches (mit-) verantwortlich. Der Begriff Verantwortung bezeichnet damit eine konkrete Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Verantwortungsträger und einem Verantwortungsgegenstand innerhalb eines abgrenzbaren Verantwortungsbereiches. Für das Recht kommt es darauf an, die einzelnen Elemente getrennt in den Blick zu nehmen, um den Gefahren eines Ausuferns der Verantwortungszuweisung zu begegnen. Dem wird eine Formulierung nicht gerecht, wonach „der Verantwortungsgegenstand das Gesamtverhalten des Verantwortungsträgers in seinem Verantwortungsbereich" sei. 20 Auch wenn diese Formulierung im Hinblick auf einen der Verfassung zu entnehmenden Verantwortungsbegriff gewählt wird, zeigen sich doch die Gefahren eines unreflektierten Umgangs mit dem Begriff „Verantwortung" im Recht. Pauschale Verantwortungszuweisungen, die von einer Präzisierung der einzelnen Verantwortungselemente absehen, sind in mehrfacher Hinsicht problematisch. Aus rechtlicher Sicht stellt sich die Frage der Verbindlichkeit. Um eine uferlose Inpflichtnahme zu vermeiden, bedarf es einer ebenso pauschalen Begrenzung (etwa der formelhafte Verweis auf „ultra posse nemo obligatur"; vgl. Sachs 1995, 18

Der Adressat der Verantwortung ist nicht unbedingt mit der Verantwortungsinstanz identisch; unklar insoweit Sachs (1995, 879), wo „Verantwortungsadressaten" oder einem „Gegenüber des Verantwortungsträgers" die Rede, vor dem es sich zu verantworten gilt. Die sei an einem Beispiel verdeutlicht: Wer es übernommen hat, die wertvollen Orchideen (Verantwortungsobjekt) des Nachbarn (Verantwortungsadressat) in dessen Urlaub zu gießen, dies aber unterläßt, hat sich gegebenenfalls vor Gericht (Verantwortungsinstanz) zu „verantworten", welches in Abhängigkeit von dem Charakter der eingegangenen Verbindlichkeit (Verantwortungsmaßstab) entscheiden wird. Für sein Verhalten rechenschaftspflichtig ist man in erster Linie gegenüber dem Adressaten; je nach Sprach- bzw. Betrachtungsweise dann auch gegenüber der Verantwortungsinstanz, welche über die auszusprechenden Sanktionen zu entscheiden hat. Der Adressat kann aber zugleich auch Verantwortungsinstanz sein; wenn etwa den Orchideen-Besitzer beschließt, eine „informelle" soziale Sanktion zu verhängen und den nachlässigen Nachbarn fortan nicht mehr zu grüßen. Betrachtet man allein die „moralische" Verantwortung, dann wird „Adressat" und „Instanz" oftmals zusammenfallen. 19 Forschner 1989, 591. Siehe dazu auch Isensee 1982, 615. 20 Sachs 1995, 876. Ähnlich offen Depenheuer 1996; kritisch dazu Grimm 1996.

I. Ausformung von „Verantwortung"

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877). Der konkrete Gehalt verschwimmt dann und es bleibt beim bloßen Appell, verantwortlich zu handeln. Die handlungsleitende Wirkung eines unspezifischen Appells dürfte marginal bleiben. 21 Dann aber ist mit der Zuweisung von Verantwortung auch in lediglich „moralischer" Hinsicht wenig gewonnen. Die eigentliche Intention der Zuweisung von Verantwortung bleibt unerfüllt. Der undifferenzierte Umgang mit dem Verantwortungsbegriff ist „ i m Anschluß an Hans Jonas endemisch geworden". 22 Jonas (1979) entwickelt sein „Prinzip Verantwortung" vom Gegenstand der Verantwortung her: das der menschlichen Macht unterworfene Lebendige (1979, 27), letztlich die „Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden" (36). Jonas geht es um die „Affizierung eines Gefühls", welches - über das bloße Anerkennen der Würde hinaus - aus der Verantwortung für das gefährdete Objekt erwachsen soll (170). Daraus ergeben sich in erster Linie Forderungen an die öffentliche Politik, 2 3 weniger an privates Verhalten (37). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß für Jonas die Konkretisierung der einzelnen Verantwortungselemente und die Frage der Folgenanlastung an den Verantwortungsträger allenfalls am Rande eine Rolle spielen (172 ff.). Sein Verantwortungskonzept baut vielmehr auf die „Ehrfurcht für das, was der Mensch war und ist"; sie allein enthülle den heute Handelnden ein „Heiliges", das heißt etwas „unter keinen Umständen zu Verletzendes" (393). Die jedenfalls verbale Absolutheit 24 dieses Verantwortungsmaßstabes kontrastiert dabei mit der Unbestimmtheit der einzelnen Verantwortungselemente. Wer in welchem Verantwortungsbereich für was konkret einzustehen hat, bleibt offen. Die weitreichende Wirkung von Jonas mag nicht zuletzt mit diesem verkürzten Begriff der Verantwortung zusammenhängen. Indem er die Frage der individuellen Folgenanlastung ausklammert, entgeht er der Notwendigkeit, seine Forderungen bis zu Ende zu denken und in das System der Verantwortungselemente einzuordnen. Indem die Konsequenzen seiner Forderungen unbestimmt bleiben, ist es offenbar möglich, sich von dem angesprochenen Gefühl anrühren zu lassen ohne sich darüber klar zu werden, was dies für das eigene Verhalten bedeutet. Dabei tritt dann in den Hintergrund, daß die moralische Forderung, wonach alle für alles Verant21

Was bleibt, ist allenfalls ein schlechtes Gewissen; mangels konkreter Möglichkeit, es durch eigenes Handeln zu beruhigen, dürfte dies kaum eine motivationale Stärkung des mit dem Appell verfolgten Zieles darstellen. 22 Lübbe-Wolff 1999, 16 m.w.N.; wobei diese Entwicklung nicht allein Jonas anzulasten ist. Siehe auch die Kritik an dem Verantwortungskonzept von Jonas bei Krawietz 1995, 191 ff. 23 Für einen Versuch, die Forderungen von Jonas in das Recht zu übertragen, siehe Schubert 1998, 280 ff. 24 Denn die Frage, wann die lebendige Natur bzw. das, was der Mensch war und ist, denn konkret verletzt sei, ist damit noch nicht beantwortet. 4 Führ

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

wortung übernehmen sollten, sich selbst aufhebt, da sie Handlungsfähigkeit ausschließt (van den Daele 1988, 47). Eine Konkretisierung der Verantwortungszuweisung anhand der einzelnen Verantwortungselemente ist daher unverzichtbar.

4. Verantwortete Freiheit? Wenn man aus der „Verantwortung als solcher" konkrete, auch rechtliche Schlußfolgerungen herleiten will, kommt der bereits angesprochende „Überschuß" im Bedeutungsgehalt des Begriffes ins Spiel, der ein Einfallstor für weitreichende inhaltliche Aufladungen darstellt. Daraus können Gefahren für Freiheit resultieren, wenn bestimmte Sichtweisen in der Ausfüllung der Verantwortung zum Tragen kommen und damit zugleich den Umfang der Freiheit definieren. Diese Gefahr zeigt sich etwa bei Saladin (1984), der „Verantwortung als Staatsprinzip" etablieren will. Saladin gelangt zu der Schlußfolgerung: „„Verantwortete Freiheit" ist Freiheit zum Nächsten. [...] Die Grundrechte sind somit viel eher vom Du als vom Ich her zu denken und zu gestalten" 25 . Diese Äußerungen sind geprägt von einem in der Tradition von Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer stehenden christlichem Verständnis von Verantwortung. 26 Solange es bei einer individuellen ethischen Aussage 27 bleibt, ist ein derartiger Ansatz unproblematisch. Dies ändert sich aber, sobald dieses Verantwortungsverständnis im Recht Verbindlichkeit erlangen soll. Diese beiden Ebenen drohen aber bei Saladin ineinander aufzugehen, wenn er grundrechtliche Freiheit aus dem Gedanken der Nächstenliebe 28 heraus generell „viel eher vom Du als vom Ich her" verstehen will. Aus juristischer Sicht abzulehnen sind daher Versuche, aus der „Verantwortung als solcher" bzw. von einem wie auch immer verstandenen „Prinzip Verantwortung" (Schubert 1998, 271 ff.) normative Schlußfolgerungen abzuleiten. Das bedeutet nicht, daß „Verantwortung" und auch ein „Denken aus der Sicht des Gegenübers" im Recht keine Bedeutung hat. Jedoch ist 25

Saladin 1984, 204 (Herv. im Orig.). Saladin verweist auf Starck (1981, 460), dessen Aussagen sich allerdings nur auf die geistesgeschichtlichen Grundlagen der Menschenwürde beziehen und auch keinen Vorrang des „Du" behaupten. Der Ansatz von Saladin ist also bereits in der grundrechtstheoretischen Akzentverschiebung weitergehender, zudem will er daraus konkrete Folgerungen für einzelne Grundrechte ableiten (Saladin 1975, 458 ff.). 26 Saladin 1984, 21 ff. Zu weiteren Bezügen einer Sichtweise, die sich am Gebot der Nächstenliebe orientiert, siehe Lübbe-Wolff 1982, 228 ff. sowie unten Abschnitt III. 2. 27 Also bei „Selbst-Verantwortung" im Sinne von Abschnitt II. 2. b). 28 Siehe auch Saladin 1975, 433 ff./462, wo er den Versuch unternimmt, eine christologische Grundrechtstheorie zu entwickeln (dazu bereits in Fn. 25).

I. Ausformung von „Verantwortung"

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für die jeweilige Handlungskonstellation konkret zu fragen, wie die einzelnen Elemente des Verantwortungsbegriffes jeweils spezifisch zu präzisieren sind.

5. Folgenanlastung und Verantwortungsinstanz Im „Urbild der Verantwortung" spielt die Sanktion eine zentrale Rolle (Sachs 1995, 880). Aus der Art und Weise, wie der Verantwortung entsprochen wurde, ergeben sich Konsequenzen, die den Verantwortungsträger betreffen. 29 Soll die Zuschreibung von Verantwortung die Funktion erfüllen, normgeleitetes Verhalten des Verantwortungssubjektes zu erreichen, hat sie an den handlungsbestimmenden Faktoren anzusetzen. Hier stellt sich die Frage nach den jeweiligen Handlungsmotiven, die nicht mehr normativ, sondern empirisch zu beantworten ist. Es geht dabei um den „richtigen Ansatzpunkt" (Schlick 1984, 162), die Handlungsmotive so zu beeinflussen, daß der gewünschte Steuerungserfolg zu erwarten ist. 3 0 Um diesen Steuerungserfolg zu gewährleisten, schließt der Verantwortungsbegriff einen Mechanismus der Folgenanlastung ein. Wie dieser Mechanismus ausgestaltet und was er zu bewirken in der Lage ist, darin liegt die „Nagelprobe" auf die Inhalte jedes Verantwortungskonzeptes. Fehlt eine Folgenanlastung, dann sollte man nicht von Verantwortung sprechen. Die Folgenanlastung kann über das Recht erfolgen; sie kann aber auch über Anreizmechanismen erfolgen, die auf Institutionen außerhalb des Rechts beruhen. In den meisten Fällen werden die beide Anlastungsmechanismen zusammenwirken. Die Ausformung der rechtlichen Verantwortung hat sich in den außerrechtlichen Kontext einzufügen. Das für jede Verantwortungskonstellation schlechthin konstituierende Element der Folgenanlastung verlangt damit die Analyse der durch das Recht geschaffenen und der außerrechtlichen institutionellen Randbedingungen im Hinblick auf die daraus resultierenden Effekte auf die Motivationslage der Akteure. 31 Über die Folgenanlastung zu befinden, ist die Funktion der Verantwortungsinstanz:. Sie beurteilt, ob der Verantwortungsträger seiner Aufgabe entsprochen hat, und spricht gegebenenfalls - positive oder negative - Sanktionen aus. Auf welche Weise die Sanktionen den Verantwortungsträger erreichen, ist dabei grundsätzlich offen. Es ist nicht so, daß dafür in jedem Fall 29

Lübbe-Wolff 1999, 13. In diesem Sinne wird der Begriff der „Verantwortung" auch in der Betriebswirtschaftslehre gebraucht (Wöhe 1990, 184; Gabler 1997, 3998). 30 Diese Überlegungen gelten auch ganz allgemein für die Wahl geeigneter rechtlicher Steuerungsinstrumente; siehe dazu Kapitel D, Abschnitt II. 1. 31 Zum Ansatz, die motivationsbestimmenden Faktoren auf der Basis eines institutionell geprägten Verhaltensmodells zu analysieren, siehe Kapitel D, Abschnitt III. 4. 4*

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

- wie etwa in der klassischen Verantwortungskonstellation eines strafprozessualen Verfahrens - ein hoheitliches Organ eine Einzelfallentscheidung herbeizuführen hat. Vielmehr ist es durchaus möglich, daß die Folgenanlastung auf andere Weise erfolgt. Die institutionellen Regeln ermöglichen es dann auch nicht-hoheitlichen Akteuren, durch ihr Verhalten gegenüber dem Verantwortungsträger für ihn die Folgen spürbar zu machen. Beispielhaft zu nennen sind etwa die Reaktionen im Wege marktlicher Mechanismen: 32 Über die institutionellen Grundlagen des Marktes formt der Staat die Möglichkeiten individueller Folgenanlastung unter den Privaten. 33 Wenn in der Debatte um einen „schlanken Staat" von Deregulierung und einer Stärkung der Selbst- bzw. Eigen-Verantwortung die Rede ist, dann ist die Frage, auf welchem Wege und in welchem Umfang eine Folgenanlastung erfolgen soll, der eigentliche - allerdings oftmals verdeckte - Kern der Auseinandersetzung (Lübbe-Wolff 1999, 14 f.). In der Folge des appellativen Verantwortungsbegriffs von Jonas, 34 wird hier in vielerlei Zusammenhängen von „Verantwortung" gesprochen, dabei bleibt aber oftmals im unklaren, wer für welchen Bereich Verantwortung zu tragen hat und in welcher Weise die Folgenzurechnung erfolgen soll. 3 5 Offenbar gehen die Teilnehmer an diesen „Verantwortungsdiskursen" von unterschiedlichen Verantwortungsinstanzen aus. Während manche meinen, Verantwortung trage man nur vor sich selbst, betonen andere die Bedeutung externer Instanzen mit entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten. Der Streit geht damit im Kern um die Frage, ob eine interne Rechtfertigung ausreicht, den Steuerungserfolg herbeizuführen, oder ob eine externe Folgenanlastung hinzuzutreten hat.

32 Zur Folgenanlastung als zentrales Element des Verursacherprinzips in der ökonomischen Markttheorie siehe Ewringmann 1994, Sp. 2678 f. 33 So fordert etwa die Monopolkommission (1994, 330 f.), im Bereich der Energiewirtschaft die „unternehmerische Eigenverantwortlichkeit" dadurch zu stärken, daß wettbewerbliche Strukturen vermehrt zum Tragen kommen. Der Sache nach wird damit gefordert, daß die Konsequenzen unternehmerischer Fehlentscheidungen von den Unternehmen zu tragen sind und nicht auf die Kunden abgewälzt werden können, denen aufgrund des Versorgungsmonopols keine Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung stehen und die daher „zwangsweise" an einen Lieferanten gebunden sind. Die Monopolkommission fordert damit einen wirtschaftlich vermittelten „Mechanismus der Folgenanlastung". 34 1979; siehe Abschnitt I. 3. 35 In aktuellen bundesdeutschen Diskussion steht sehr das Predigen von Moral im Vordergrund (Hegselmann/Kliemt 1997 a, 16). Zwar ist meist von „Zurechnung" der Handlungsfolgen die Rede, aber in welcher Weise diese erfolgen soll und welche Konsequenzen daraus erwachsen, bleibt unbestimmt (siehe etwa Bayertz 1995 a, 5 ff.; anders auf S. 22 f.).

II. Verantwortungskategorien

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6. Ergebnis Verantwortung im rechtlichen Sinne ist das Ergebnis einer normativen Zuweisung mit dem Ziel, das Verhalten in sozial akzeptable Bahnen zu lenken. Um dieses Ziel zu erreichen, ist nach den je konkreten Bedingungen des Freiheitsgebrauches, nach der jeweiligen rechtlichen Ausgestaltung und nach den in diesem Kontext wirksamen Elementen der Verantwortungszuschreibung zu fragen. Kernelement ist dabei die Art und Weise der Folgenanlastung, die wiederum die Motivationslage des Verantwortungsträgers beeinflussen soll. Gefordert ist damit eine juristische und empirische Analyse der „Institutionen", die eine Verantwortungskonstellation bestimmen. Ausgeschlossen sind nach den Ergebnissen der vorstehenden Überlegungen Ansätze, die Verantwortung pauschal und undifferenziert zuordnen wollen. Darin läge eine juristisch und ethisch abzulehnende Ausuferung des Begriffs Verantwortung. In der aktuellen Debatte wird der Begriff allerdings oftmals in dieser Weise gebraucht. Im Rahmen dieser Arbeit soll daher (u.a., um sich von dieser Redeweise abzugrenzen) von „Eigen-Verantwortung" bzw. von „Verantwortlichkeit" gesprochen werden, wenn es um Verantwortung im Rechtssinne geht; die Verantwortung in ethischer Hinsicht wird mit „Selbst-Verantwortung" bezeichnet. Der Begriff „Verantwortung" fungiert als Oberbegriff der im folgenden genauer zu umschreibenden Verantwortungskategorien.

I I . Verantwortungskategorien Nach allgemeiner Auffassung zeichnet sich Verantwortung aus durch ein „Moment der Selbständigkeit im Rahmen allgemeiner Pflichten und Normen". 3 6 Verantwortung ist demnach abhängig von Inhalt und Konkretisierungsgrad der sie jeweils konstituierenden Pflichten: Gegenstand und Reichweite der Pflichtenstellung bestimmen das Ausmaß der Verantwortung. Exakt definierte Pflichten verlangen eine „pünktliche Befolgung" (H. Dreier 1999, 21); derartige Pflichten konstituieren eine „Verantwortlichkeit". 37 Offener gefaßte Pflichten können hingegen nicht punktgenau befolgt werden. Sie beinhalten zudem nicht lediglich eine Pflicht, sondern zugleich eine Zuweisung von Kompetenzen, von „Eigenmacht"; allerdings nicht im Sinne ungebundener Beliebigkeit, sondern in einer durch Pflichtigkeiten „belasteten" und mit institutionell verankerten Mechanismen der Folgenanlastung verknüpften Weise. Diese Konstellation läßt sich als „Verantwortung" be-

36 37

Rendtdorff 1993, 118. Ähnlich Bayertz 1995a, 34. Siehe Abschnitt II. 2. a) sowie die Übersicht auf Seite 80.

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

zeichnen, wobei im weiteren zwischen „Selbst-Verantwortung" 38 und „Eigen-Verantwortung" unterschieden werden kann. 3 9

1. Begriff „Eigen-Verantwortung" Der Begriff der „Eigen-Verantwortung" soll ein Phänomen der Rechtsordnung charakterisieren. Er beschreibt eine Handlungssituation, in der einem Akteur eine bestimmte Aufgabe übertragen ist, es sich jedoch - jedenfalls ex ante - nicht genau sagen läßt, welches Verhalten das Recht konkret von ihm erwartet. Der Begriff „Eigen-Verantwortung" bezeichnet die in Bezug auf Gemeinwohlbelange (und Rechtspositionen Dritter) gebundene individuelle Freiheit. Das Präfix „Eigen" bringt zum Ausdruck, daß die partielle Offenheit der Pflichten nicht nur Raum läßt für „Eigen-Initiative" des Adressaten, sondern auch darauf angewiesen ist, diese zu stimulieren. Damit ergibt sich ein Bezug zu einer wesentlichen Triebfeder menschlichen Verhaltens: dem Eigennutz, der als gegeben und als durchaus legitimer Parameter anzuerkennen ist. Soweit im Eigennutz der motivationsbestimmende Faktor zu sehen ist, befindet sich hier ein Ansatzpunkt für mögliche Steuerungserfolge. An dieser Stelle kann dann die Folgenanlastung im Rahmen des Verantwortungskonzeptes ansetzen. Die Pflichtenlage der Kategorie „Eigen-Verantwortung" zeichnet sich oftmals dadurch aus, daß der Gegenstand der Verantwortung positiv umschrieben ist. Es geht also nicht darum, präzise benannte Verhaltensweisen zu unterlassen (negative Kennzeichnung nach dem Grundmuster „Du sollst nicht stehlen/töten" etc.), sondern sein Verhalten so einzurichten, daß positiv formulierte Anforderungen erfüllt werden (etwa: „Verhalte Dich so, wie Treu und Glauben es erfordern"). Verbote lassen sich von vornherein eindeutig und bestimmt beschreiben, wenn sie sich auf einen klar abgrenzbaren Tatbestand beziehen; dem korrespondiert eine „strikte" rechtliche „Verantwortlichkeit". Daneben gibt es offener gefaßte Verbote, bei denen es sich zugleich um Gebote handelt. Das Verbot, bei Unglücksfällen die erforderliche und zumutbare Hilfeleistung zu unterlassen (§ 323 c StGB), etwa entspricht - bei Weglassen der zweifachen negativen Bestimmung - dem Ge38 Der Begriff bezeichnet eine Konstellation, in dem die einschlägigen Pflichten dem Bereich der Tugend zuzuordnen sind. Die Bezeichnung „Selbst-Verantwortung" bringt zum Ausdruck, daß die Folgenanlastung primär vor dem forum internum des Individuums selbst erfolgt [siehe Abschnitt II. 2. b)]. 39 Man kann noch weitere Formen der Verantwortung unterscheiden (Hart 1968; dazu Ronellenfitsch 1995, 26 f.) Die Kategorie der Eigen-Verantwortung nimmt im wesentlichen die Hart'sehe „Aufgaben- und Rollenverantwortung" auf, beinhaltet aber Teile der anderen dort bezeichneten Verantwortungsformen. So resultiert aus der Eigen-Verantwortung eine korrespondierende straf- und zivilrechtliche Haftung; auch zieht sie eine „Organisations- und Rechenschaftsverantwortung" nach sich.

II. Verantwortungskategorien

55

bot „leiste Hilfe". Unsere Gesellschaft ist der Auffassung, daß es sich dabei um eine Rechtspflicht handelt. Gleiches gilt - in abgestufter Form - für eine ganze Reihe von sog. „Grundpflichten" des öffentlichen Rechts. Sie sind ebenfalls inhaltlich offen, geben zwar jeweils eine „Grundrichtung" an, auf die das Verhalten auszurichten ist, sagen aber nicht (jedenfalls nicht aus sich heraus abschließend), in welchem Grad und in welchem Zeitrahmen sich das Verhalten daran auszurichten hat. Dennoch sollen auch aus diesen allgemein formulierten gesetzlichen Grundpflichten Rechtswirkungen erwachsen. 40 a) Unvollständige

Programmierung

Erfaßt sind auf diese Weise Aufgaben, deren Erledigung sich gerade nicht im einzelnen programmieren läßt. Was konkret zu tun ist, läßt sich vorab nicht sagen.41 Dennoch stellt das Recht entsprechende Pflichten auf. Man spricht dann davon, hier werde Verantwortung zugewiesen. 42 Zum Teil bedient sich mittlerweile der Gesetzgeber auch außerhalb des Familienrechts 43 und der Kompetenzabgrenzung im Binnenbereich der öffentlichen Gewalt 4 4 des Begriffes der Verantwortung, so etwa bei der „Produktverantwortung" des Herstellers nach § 22 Krw-/AbfG, die darauf gerichtet ist, bereits in der Produktentwicklung und -gestaltung die Ziele einer Kreislaufwirtschaft mit zu berücksichtigen 4 5 Die Verantwortung ist dabei nur „rahmenmäßig" vom Gegenstand her bestimmt. Der Zweck der Verpflichtung ist mehr oder weniger genau umschrieben; aber was konkret zu tun ist, um den Auftrag zu erfüllen, ist nicht vorgegeben. 46 Vom Einzelnen verlangt das Recht bestimmte, der übertragenen Aufgabe abträgliche Verhaltensweisen zu unterlassen. Gefordert ist aber ebenso, eigene Aktivitäten zu entfalten, um der Aufgabe gerecht zu werden. Welche Unterlassungen und Aktivitäten dies im einzelnen sind, hängt ab von der jeweiligen Situation. Der Verantwortungsträger hat also nicht Weisungen, Befehle, inhaltlich genau 40 Die Rechtswirkungen werden teilweise mit dem Begriff der „Obliegenheit" umschrieben (Jarass 1986, 315). Zu klären ist allerdings, in welchem Umfang damit die Bedeutungsgehalte des Zivilrechts [siehe Kapitel C, Abschnitt I. 1. b)] übernommen werden sollen. 41 Zu der ökonomischen „Theorie unvollständiger Verträge" siehe in Fn. 93. 42 Kaufmann 1992, 44 ff.; Bayertz 1995a, 34 ff.; Depenheuer 1996, 110. 43 Siehe dazu bei Fn. 49. 44 Etwa in Art. 28 Abs. 2 GG; siehe dazu Kapitel C, Abschnitt II. 45 Siehe dazu Schräder 1997, Waechter 1999 sowie unten Kapitel D bei Fn. 54. 46 Murswiek 1985, 33 f. Soziologisch betrachtet erfüllt die Zuschreibung von Verantwortung eine „spezifische Funktion im Rahmen von Organisationen, nämlich die Lösung gerade derjenigen Probleme, die sich durch die Organisation nicht in genereller Weise regeln lassen" (Kaufmann 1992, 67).

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

bestimmte Gebote zu vollziehen, sondern selbst zu erkennen, was zu tun ist; was nämlich die Situation im Hinblick auf die Erfüllung des Auftrages von ihm verlangt 4 7 Die Anforderungen, die sich aus der Zuweisung von Eigen-Verantwortung ergeben, lassen sich hoheitlich und dauerhaft nicht zugleich abstrakt und präzise beschreiben; daraus resultiert ihre - aus der ex ante Betrachtung - inhaltliche Offenheit. Dies muß aber nicht heißen, daß sich nicht mit den Mitteln des Rechts in einer konkreten Situation (und bei einem Rechtsstreit nach Durchlaufen des gerichtlichen Verfahrens dann ex post) sagen ließe, daß die Rechtsordnung dieses oder jenes Verhalten verlangt und daß mit einer Abweichung von diesen Anforderungen auch rechtliche Konsequenzen verbunden sind. Welche Anforderungen dies sind, ergibt sich aus der Handlungssituation der beteiligten Akteure, also aus deren spezifischem Kontext, einschließlich der individuell bestehenden Handlungsmöglichkeiten. b) Dialogische Konstellationen Die Konstellationen, die unter die Kategorie der „Eigen-Verantwortung" fallen, zeichnen sich oftmals dadurch aus, daß die Akteure in gewissem Umfang (wechselseitig) aufeinander angewiesen sind. Daraus resultiert ein Element des Dialogs unter den Akteuren. Indem sie sich aufeinander „einlassen", öffnen sie sich für „Anfragen" des Gegenübers und erklären sich bereit, auf diese zu „antworten". 48 Erwächst daraus eine - privatautonom eingegangene oder gesetzlich angeordnete - Pflichtenstellung, die im Konfliktfalle auch rechtlich durchzusetzende Sanktionen beinhaltet, ist von Verantwortung im Rechtssinne zu sprechen. Paradigmatisch kommt dies in der „Elternverantwortung" nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zum Ausdruck. Hier „sind Recht und Pflicht von vornherein unlöslich miteinander verbunden; die Pflicht ist nicht eine das Recht begrenzende Schranke, sondern ein wesensbestimmender Bestandteil dieses „Elternrechts", das insoweit treffender als „Elternverantwortung" bezeichnet werden kann" (BVerfGE 24, 119/143). Der Begriff „Eigen-Verantwortung" ist in diesem Zusammenhang auch im einfachen Recht verankert: Nach § 1627 BGB haben die Eltern in gegenseitigem Einvernehmen die elterliche Sorge „in eigener Verantwortung ... zum Wohle des Kindes auszuüben". Das Kindeswohl ist die „oberste Richtschnur" - und damit der Verantwor47

Murswiek 1985, 34; Freyer, 198 f. Eine derartige Konstellation weist damit Bezüge zu Ansätzen einer auf Diskurs gegründeten Ethik sowie einer darauf aufbauenden Demokratietheorie auf, siehe Müller 1993, 23 ff. 48

II. Verantwortungskategorien

57

tungsmaßstab - der elterlichen Pflege und Erziehung; Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG statuiert „Grundrecht und Grundpflicht zugleich" (BVerfGE 59, 360/ 376). 4 9 Ist damit eine Vfcrschränkung (im Gegensatz zu extern hinzutretender Beschränkung) eines Grundrechts mit einer inhaltlich offen gefaßten, weil lediglich allgemein und positiv zu umschreibenden Pflichtenstellung als mit dem Freiheitsverständnis der Grundrechte prinzipiell vereinbar anerkannt, dürfte es nicht ausgeschlossen sein, strukturell ähnliche, wenn auch in der Regel nicht so weitgehende Überlagerungen von Freiheitsrecht und Pflichtbindung auch in anderen Konstellationen anzunehmen. In diesem Überlagerungsbereich wäre dann eine vermittelnde Ebene zwischen ungebundener (Willkür-) Freiheit und strikt, regeiförmig gefaßten Schranken anzunehmen, die sowohl Elemente von - bloß ethischer - Selbst-Verantwortung als auch von klar gefaßter rechtlicher Verantwortlichkeit beinhalten würde. Diese Zwischenform könnte insoweit problematisch sein, als dort „unvollkommene Pflichten" Aufnahme in die Rechtsordnung finden, deren Platz gemeinhin in der Tugendlehre gesehen wird (siehe Abschnitt III). c) Institutionelle

Einbettung

Klärungsbedürftig ist zudem, in welchem Umfang sich das Recht darauf verlassen darf, der Verantwortungsträger werde von sich aus erkennen, welches Verhalten von ihm gefordert wird und sein Verhalten daran ausrichten. Beläßt man es dabei, lediglich unvollkommene Pflichten zu proklamieren und nicht weiter nach den Verwirklichungsbedingungen zu fragen, dann liegt es nahe, darin lediglich eine Form „symbolischer Gesetzgebung" 50 zu sehen. W i l l das Recht seinem Anspruch gerecht werden, das menschliche Verhalten zu beeinflussen, ist daher weitergehend danach zu fragen, welche Faktoren das Verhalten beeinflussen und in welchem Umfang ergänzende institutionelle Arrangements geboten sind. Um diese Frage zu beantworten, sind die vorfindlichen institutionellen Rahmenbedingungen daraufhin zu analysieren, inwieweit sie ein pflichtenkonformes Verhalten fördern, behin49

Die Literatur folgt dieser Interpretation; vgl. Gröschner 1996, Rn. 68. Der Begriff wird hier in seiner umgangssprachlichen Bedeutung im Sinne von „Schein-Gesetzgebung" gebraucht. Eine solche Gesetzgebung ist in rechtsstaatlicher Perspektive bedenklich (Bryde 1993, 18; Lübbe-Wolff 2000b). Davon zu unterscheiden ist die „zeichenhafte Bedeutung", die im staatlichen Handeln, einschließlich der Gesetzgebung, eine wichtige Funktion bei der Sichtbarmachung und Veränderung fundamentaler Wertaussagen erfüllt. Eine in diesem Sinne symbolische Gesetzgebung dürfte trotz ihrer problematischen Seiten im demokratischen Rechtsstaat unverzichtbar sein; siehe Führ 1999b, 294 f. sowie Kapitel F, Abschnitt VI. 1. 50

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

dem oder gar ausschließen. Erst im Zusammenspiel von unvollkommenen Pflichten und den ergänzenden, institutionell vermittelten Anreizen läßt sich die Steuerungsleistung von regulativen Strategien, die Eigen-Verantwortung fruchtbar machen wollen, analysieren und bewerten. 51 d) Individuelles

Verhalten

Der analytische Zugriff, der sich mit der Kategorie der Eigen-Verantwortung verbindet, richtet sich auf das Verhalten einzelner Akteure. Davon zu unterscheiden sind kooperative Handlungsformen, wie sie zum Teil ebenfalls unter dem Stichwort „Eigen-Verantwortung", meist aber unter der Bezeichnung „Selbst-Regulierung" 52 diskutiert werden. Dabei geht es um die (partielle) Verlagerung der Definitionsgewalt über allgemeine Normen in die Hände gesellschaftlicher Gruppen, also um eine Verantwortungsteilung zwischen öffentlichem und privatem Sektor (Trute 1999). Im Mittelpunkt des hier auf der Grundlage des methodologischen Individualismus verfolgten Ansatzes steht das Verhalten von einzelnen Akteuren in konkreten Entscheidungssituationen. Eine dieser Entscheidungsituationen kann das Verhalten in Erscheinungsformen kollektiver Selbst-Regulierung, etwa in privaten Normungsorganisationen 53 sein. Man kann darin eine kollektive Wahrnehmungsform von Eigen-Verantwortung sehen. Der institutionelle Rahmen, der das Verhalten der einzelnen Akteure im Prozeß des Normerarbeitungsverfahrens bestimmt, ist nach dem hier verfolgten Ansatz genauer zu betrachten und gegebenenfalls so zu verändern, daß die Wahrscheinlichkeit steigt, die gewünschten Verhaltenserfolge zu erzielen. 54

2. Abgrenzungen Der Begriff „Eigen-Verantwortung" steht zwischen der - strikten - juristischen Verantwortlichkeit und einem Bereich, in dem das Recht keine 51 So beläßt es der Staat auch nicht dabei, die Pflichtenstellung der Eltern in Art. 6 Abs. 2 GG zu konstatieren, sondern hat eine Reihe von Vorkehrungen getroffen, das staatliche Wächteramt prozedural und inhaltlich auszufüllen. Zu berücksichtigen sind zudem die vom Staat (mit-) beeinflußten Randbedingungen, unter denen die Eltern ihre Aufgabe wahrnehmen. Zu dem Verhältnis von unvollkommenen Pflichten und dem jeweiligen institutionellen Umfeld siehe bei Fn. 125 sowie in Kapitel F, Abschnitt III. 2. 52 Siehe etwa Di Fabio 1997 und Schmidt-Preuß 1997. 53 Dort nehmen „interessierte Kreise" Festlegungen vor, die über das Gemeinschaftsrecht sowie das nationale Recht zumindest eine faktische Verbindlichkeit begründen, siehe dazu Denninger 1990. Zu den praktischen Erfahrungen siehe die Beiträge von Kanning, Lehmann, Golding und Voelzkow in Führ 2000c. 54 Siehe dazu die Vorschläge bei Führ/Brendle/Gebers/Roller 1995.

II. Verantwortungskategorien

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Verhaltensanforderungen aufstellt bzw. auf eine Folgenanlastung vollständig verzichtet. Im letztgenannten Bereich ergeben sich Anforderungen an das menschliche Verhalten allenfalls aus Ethik und Tugendlehre. In beide Richtungen sind Abgrenzungen erforderlich. a) Verhältnis

zur „Verantwortlichkeit"

Personen, denen „Eigen-Verantwortung" zugewiesen ist, haben ihr Verhalten an inhaltlich nicht abschließend bestimmten Pflichten auszurichten. Sie haben einen, wenn auch durch rechtliche Pflichtigkeiten und damit verknüpfte Formen der Folgenanlastung überlagerten Frei-Raum für eigene Gestaltung. „Verantwortlichkeit" hingegen meint eine Orientierung an klar gefaßten und unmittelbar sanktionierten Pflichten. Diese Pflichten markieren eine Grenze. Sie sind einerseits strikt einzuhalten, andererseits besteht jenseits der Pflicht-Grenze eine rechtlich nicht weiter belastete (Willkür-) Freiheit. Der wesentliche Unterschied zur „Eigen-Verantwortung" besteht demnach in der klaren Abgrenzbarkeit der Pflichten. „Verantwortlichkeit" besteht gegenüber strikten Pflichten, Eigen-Verantwortung hat sich an unvollkommenen „Pflichtigkeiten" zu orientieren. Ein Verstoß gegen die strikten Pflichten zieht unmittelbar eine Sanktion nach sich. Ein Verhalten, welches von den Anforderungen der „Pflichtigkeit" abweicht, löst nicht ohne weiteres eine über den Rechtsstab herbeizuführende Sanktion aus; die Mechanismen der Folgenanlastung sind zwar von der Rechtsordnung mit gestaltet, sie wirken jedoch eher auf mittelbare Weise. Strikte Pflichten sind in der Regel negativ formuliert. Sie schreiben vor, ein klar bezeichnetes Verhalten zu unterlassen. Klassisches Beispiel sind die Normen des Strafrechts. 55 Rechtsfolge eines Verstoßes sind strafrechtliche Sanktionen. Bewegt man sich hingegen innerhalb des strafrechtlich abgesteckten Rahmens, entfaltet das Strafrecht keine weitere Wirkungen. Strikte Pflichten können aber auch positiv gefaßt sein. Dann müssen sie das geforderte Verhalten „punktgenau" beschreiben; etwa in der Weise, daß der Käufer verpflichtet ist, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen (§ 433 BGB) oder daß im Straßenverkehr, sofern zwei Fahrbahnen vorhanden sind, auf der rechten Seite zu fahren ist (§ 2 Abs. 1 StVO).

55 Daß die Strafrechtstatbestände nicht durchgängig regeiförmigen Charakter haben, sondern bei seiner Anwendung ebenfalls Prinzipiennormen und eine damit verknüpfte Zweck-Mittel-Relation zur Anwendung gelangen (siehe etwa die Auseinandersetzung um die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Nötigung nach § 240 StGB; dazu BVerfGE 92, 14 ff. und 20 ff. - Sitzdemonstration), beeinflußt die grundsätzliche Aussage nicht. Siehe zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit auch Abschnitt II. 1.

Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

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Strikte Pflichten sind ex ante eindeutig gefaßt. Den Adressaten ist von vornherein klar, welches Verhalten das Recht von ihnen verlangt. Wie weit der Tatbestand reicht, ist typischerweise eindeutig abgrenzbar; beweisbare Verstöße ziehen, wenn nicht besondere Umstände vorliegen, eine Sanktion nach sich. Deren Ausmaß mag noch unbestimmt sein; daß eine Sanktion folgen wird, steht jedoch von vornherein fest. Auch steht die Sanktion in unmittelbarem Zusammenhang mit dem äußeren Verhalten und dem Grad der Abweichung von den strikten Pflichten. Die Unsicherheit in der Anwendung strikter Normen beschränkt sich auf den gegebenenfalls vorhandenen Spielraum bei der Bestimmung der Rechtsfolgen. Dies ist bei Konstellationen der Eigen-Verantwortung anders. In der Regel zeichnen sie sich aus durch eine positive Aufgabenzuschreibung, dessen spezifischer Inhalt ex ante nicht abschließend zu bestimmen ist. Bei unvollkommenen Pflichten des einfachen Rechts (wie etwa „Treu und Glauben" oder Grundpflichten des öffentlichen Rechts, wie sie sich beispielsweise im Umweltrecht finden 56) läßt sich nicht genau angeben, welches Verhalten konkret gefordert ist. Zwar können sich aus Präjudizien konkretisierende Anhaltspunkte ergeben; angesichts der Vielfalt der Handlungssituationen, in denen diese Pflichten wirksam sind, ergibt sich daraus jedoch lediglich eine partielle Konkretisierung. Wechselt man jedoch die zeitliche Perspektive, dann kann Eigen-Verantwortung durchaus „Verantwortlichkeit" im hier beschriebenen Sinne nach sich ziehen. Die Gerichte nehmen für sich in Anspruch, im Nachhinein konkret zu bestimmen, welches Verhalten von der Rechtsordnung gefordert war. Das gerichtliche Verfahren dient dann dazu, unvollkommene Pflichten im Hinblick auf den konkreten Fall so weit zu konkretisieren, daß eine regeiförmige Anwendung möglich ist. Mit dem Urteil wird - für den konkreten Fall - aus dem Prinzip eine regeiförmige Anweisung. Aus der ex-post-Betrachtung und nach Durchlaufen des gerichtlichen Verfahrens wird aus Eigen-Verantwortung dann eine bestimmbare „Verantwortlichkeit". Insoweit läßt sich Verantwortlichkeit „als Aktualisierung von Verantwortung" umschreiben (Ryffel 1967, 275). Die Begriffe Eigen-Verantwortung und Verantwortlichkeit 57 sind nicht trennscharf voneinander abzugrenzen. Sie stimmen darin überein, daß sie einen Verantwortungsmaßstab definieren und mit den Mitteln des Rechts 56

Siehe dazu Kapitel C, Abschnitt I. 6. b) bb) sowie Führ 1998 a, 12. Aus soziologischer Sicht definiert Kaufmann (1989, 214 und 1992, 77) Verantwortlichkeit als „die Fähigkeit einer Person, angesichts konflikthafter Erwartungen gegebene Handlungsspielräume so zu nutzen, daß unter Abwägung aller , relevanten' Gesichtspunkte eine ,zweckmäßige' Entscheidung getroffen wird, d.h. eine Entscheidung, deren vielfältige Folgen sich im Nachhinein insgesamt rechtfertigen lassen." Übertragen in die juristische Perspektive beschreibt Kaufmann damit die Anwendung konkurrierender Prinzipiennormen auf eine konkrete Handlungssituation. 57

II. Verantwortungskategorien

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eine Folgenanlastung vornehmen. Sie unterscheiden sich darin, wie konkret der Verantwortungsmaßstab definiert ist, und darin, in welcher Weise die Folgenanlastung mit dem rechtlich geforderten Verhalten verknüpft ist. Der Begriff „Eigen-Verantwortung" in dem hier zugrunde gelegten Sinne meint ein Verhalten unter Prinzipiennormen des Rechts. Der konkrete Pflichtgehalt steht dabei nicht von vornherein fest, sondern ist erst im Hinblick auf die jeweilige Handlungssituation zu konkretisieren. Konfligierende Prinzipien verlangen hier nach einer wechselbezüglichen Optimierung; erst daraus ergibt sich das rechtlich erwartete Verhalten in der jeweiligen Situation. Verantwortlichkeit hingegen ergibt sich aus Rechtsregeln, die entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können. Es gibt, darauf ist hinzuweisen, auch andere Vorschläge, was unter „Verantwortung" bzw. „Verantwortlichkeit" zu verstehen sei. Picht (1969, 341) differenziert zwischen „Verantwortung", die man trage für jene Aufgaben, für die man zuständig ist, „aber die Verantwortlichkeit des Menschen reicht weiter als seine konkrete Verantwortung. Jeder denkende Mensch ist mitverantwortlich dafür, daß jene zukünftigen Aufgaben erkannt werden, für die es noch keine Träger gibt." Weischedel (1972, 41) stellt der Verantwortungslosigkeit, die sich der Grundverantwortung „versagt" als positives Gegenstück die „Verantwortlichkeit" gegenüber, die sich gegenüber der Grundverantwortung „öffnet", diese „anerkennt" und sich „zusagt". In ähnlicher Weise versteht Murswiek (1985, 34) unter „Verantwortlichkeit" die der Verantwortung zugehörende (innere) Haltung. Er meint damit offenbar jenes subjektive Verantwortungsgefühl, welches Jonas (1979, 171) der „objektiven Verantwortlichkeit" gegenüberstellt. Für die im Rahmen dieser Untersuchung benötigte analytische Funktion im Hinblick auf die jeweilige Pflichtenstruktur erscheinen diese Begrifflichbestimmungen jedoch weniger geeignet. Nach der hier gewählten Definition ergeben sich die Unterschiede zwischen „Eigen-Verantwortung" und „Verantwortlichkeit" aus der Struktur der jeweils korrespondierenden Pflichten. Verantwortlichkeit stützt sich auf vollkommene Pflichten mit Regelcharakter; Eigen-Verantwortung wird konstituiert durch unvollkommene Pflichten, in denen konkurrierende Prinzipiennormen aufeinandertreffen. Die beiden Pflichtenarten weisen jedoch Bezüge auf. Unvollkommene Pflichten lassen sich im gerichtlichen Verfahren zu vollkommenen präzisieren; Prinzipiennormen entfalten dann regeiförmige Wirkungen. Umgekehrt enthalten Rechtsregeln oftmals ausfüllungsbedürftige Tatbestandsmerkmale. Insoweit die Ausfüllung offen ist, nehmen auch Normen, die auf den ersten Blick als Rechtsregel erscheinen, Elemente von Prinzipiennormen auf. 5 8 Die Trennung zwischen den beiden Verantwortungskategorien ist damit auch wenn sie hier aus analytischen Gründen gegenübergestellt werden -

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

keine strikte, sondern eine graduelle. Dies gilt sowohl für den Konkretisierungsgrad des Verantwortungsmaßstabs als auch für die Art und Weise der Folgenanlastung. Die Differenzierung soll deutlich machen, daß das Recht seine Aufgabe, menschliches Verhalten zu beeinflussen, keineswegs nur mit imperativ-regeiförmiger, unmittelbar sanktionsbewehrter Verhaltensanweisung erfüllt, sondern sich dazu Intrumente geschaffen hat, die eine erhebliche Bandbreite aufweisen. Gemeinsam ist beiden Begriffen, daß nicht lediglich eine innere Verantwortung gemeint ist, sondern das Recht einer externen Verantwortungsinstanz die Befugnis übertragen hat, Handlungsfolgen mit zwingendem Charakter festzusetzen. b) Verhältnis

zur „Selbst-Verantwortung"

Der Begriff „Selbst-Verantwortung" beschreibt eine Konstellation, die grundsätzlich mit der übereinstimmt, die der „Eigen-Verantwortung" zugrunde liegt. Der Gebrauch der Freiheit ist auch hier mit einer unvollkommenen Pflicht belastet. Der Unterschied liegt allein darin, daß diese Pflicht nicht dem Bereich des Rechts zuzuordnen ist, sondern als Tugendpflicht bzw. als ethische Pflicht zu bezeichnen ist. Zur Abgrenzung zwischen den beiden Begriffen kommt es dementsprechend darauf an, welche Pflichten unter den Begriff des Rechts zu fassen sind und welche nicht. 5 9 Im Bereich der „Selbst-Verantwortung" hat der Verantwortungsträger sein Verhalten in erster Linie vor seinem „Gewissen" bzw. vor sich selbst zu rechtfertigen. Gemeint ist ein innerlicher Vorgang, dessen Ergebnisse zwar (in Form von Verzweiflung, Trauer oder auch Zufriedenheit) nach außen sichtbar werden; dies ändert aber nichts daran, daß die Folgenanlastung einen inneren Vorgang im Verantwortungsträger selbst darstellt. Diese inneren Sanktionsmechanismen können dabei durchaus das Ergebnis äußerer Institutionen sein. Sie gehen dann etwa auf eine Habitualisierung zurück. 60 So kann der Einzelne allgemein anerkannte, etwa in religiöser Tradition verwurzelte Verantwortungsmaßstäbe verinnerlichen. Er hat jedoch die Möglichkeit, sich davon zumindest teilweise innerlich zu lösen.

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Für die Anwendung auf der verfassungsrechtlichen Ebene siehe Alexy 1985, 156 f. und passim. Für die Ebene des einfachen Rechts siehe Koch/Rüßmann 1982, 79 ff. 59 Siehe dazu Abschnitt III. 60 Eine Vorstellung, die mit der Annahme grundsätzlich eigennutzorientierten Verhaltens durchaus vereinbar ist; siehe dazu - in Auseinandersetzung mit dem Menschenbild bei Hobbes - Schüßler 1997, 194 sowie Kapitel D, bei Fn. 185.

II. Verantwortungskategorien

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Zur Kategorie der Selbst-Verantwortung gehören aber durchaus auch extern vermittelte Sanktionen. Dazu zählt etwa eine Situation, in der ein bestimmtes Verhalten von anderen mit Mißachtung oder dem Entzug von Anerkennung quittiert wird. Derartige informelle Sanktionen sozialer Art fallen unter den Begriff der Institution, sind also institutionell vermittelt; sie bewegen sich jedoch außerhalb des Rechts mit den dort gegebenen Instrumenten einer verbindlichen und „zwingenden" Folgenanlastung. Den außerrechtlichen Sanktionen kann sich der Einzelne daher - jedenfalls vom Grundsatz her - entziehen. Es handelt sich also um selbst-gesetzte61 bzw. selbst-gewählte Verantwortung. Von den auf diese Weise aufgestellen Maßstäben hängt das Ergebnis der Verantwortungsprüfung ab. Diese Form der Verantwortung mag in vielen Fällen, mit der rechtlich zugewiesenen Verantwortung inhaltlich übereinstimmen, sie ist aber dennoch abzugrenzen von Verantwortungskonstellationen, in denen eine rechtlich vermittelte Folgenanlastung erfolgt. Berührungspunkte bestehen gleichwohl, weil beide Konstellationen externe Formen der Folgenanlastung einschließen. Der Unterschied besteht darin, daß es sich hier um „informelle", oftmals über verinnerlichte Institutionen wirksame Sanktionen handelt, während die des Rechts „formeller" Natur sind und sich auf den durch das Recht gestalteten, auf das äußere Verhalten abzielenden institutionellen Rahmen stützen können. Der Begriff „Selbst-Verantwortung" spielt in der aktuellen, unter dem Stichwort „Schlanker Staat" geführten Debatte eine prägende Rolle. In der Regel soll der Verweis auf Selbst-Verantwortung den Abbau hoheitlicher Regulierung begründen. 62 Die Berufung auf die bloße Selbst-Verantwortung wird aber problematisch, „wenn sie mit einer Überschätzung der eigenen Kompetenz verbunden ist oder wenn es an der Fähigkeit oder Bereitschaft fehlt, Verantwortung zu tragen" (Teutsch 1985, 125). Zu fragen ist demnach nach den Voraussetzungen, unter denen von dieser Form der Verantwortung ein ausreichender Beitrag zur Erreichung der gesellschaftlichen Steuerungsziele erwartet werden kann.

61 So setzt sich etwa im Rahmen des Umweltmanagementsystems der EG (EMAS, das sog. „Öko-Audit"), das Unternehmen selbst die „Umweltziele", an denen sich das Managementsystem auszurichten hat (Art. 2 d EMAS-VO EWG/1836/ 93). Welche Rolle gesetzliche Anforderungen bei der Zielformulierung spielen, ist umstritten (siehe Lübbe-Wolff 1994, 369 f. und 1996). 62 So Ronellenfitsch 1995, wo bereits im Titel „Selbstverantwortung und Deregulierung im Ordnungs- und Umweltrecht" dieser Zusammenhang hergestellt und in Richtung auf eine Rücknahme staatlicher Kontrolle gemeint ist; siehe dazu auch die kritische Rezension von Rill, AöR 122, 496-498.

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

3. Begriffsbestimmung Die Kategorie der Eigen-Verantwortung läßt sich durch folgende Elemente kennzeichnen: - Sie verzichtet auf strikte Verhaltensvorgaben und beläßt den Regelungsadressaten Freiraum für die eigene Entfaltung. - Sie beinhaltet aber unvollkommene Pflichten und ermöglicht - jedenfalls partiell und im nachhinein - auch eine verbindliche Konfliktlösung mit zwingendem Charakter. - Ergänzende institutionelle Randbedingungen sorgen dafür, daß die Motivationslage der jeweiligen Akteure eine Ausrichtung ihres Verhaltens an den unvollkommenen Pflichten erwarten läßt. Eigen-Verantwortung meint mehr als die Einhaltung klar umrissener, strikter Rechtspflichten (Logstrup 1962, 1255). Eigen-Verantwortung verlangt „proaktives" 63 Verhalten, welches nicht „reaktiv" lediglich auf hoheitliche Zwangsbefehle antwortet, sondern sich über die Vorgaben „vollkommener" Pflichten hinaus auch an unvollkommenen Pflichten orientiert. Je mehr erwartet werden kann, daß proaktives Verhalten zur Verwirklichung der Steuerungsziele beiträgt, desto größer kann der rechtliche Freiraum sein, der für die Wahrnehmung von Eigen-Verantwortung Voraussetzung ist. In dem damit beschriebenen Spannungsfeld haben sich Regulierungsmuster aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung zu bewähren. Die terminologischen Überlegungen lassen sich damit in der Weise zusammenfassen, daß in den folgenden Erörterungen von drei Kategorien materieller Verantwortung auszugehen ist (siehe dazu auch die Übersicht auf Seite 80): - die (strikte, regeiförmige) Verantwortlichkeit; - die (inhaltlich teilweise offene, an unvollkommenen Pflichten orientierte und zum Teil nur indirekt sanktionierte) Eigen-Verantwortung; beides Verantwortungskategorien mit rechtlich begründeter Folgenanlastung sowie - die ethisch begründete Selbst-Verantwortung. Der Begriff der „Verantwortung" fungiert dabei als Oberbegriff für die drei genannten Kategorien, die sich zwar nicht trennscharf voneinander abzugrenzen lassen, die jedoch jeweils spezifische Merkmale aufweisen. Auf diese Weise läßt sich die pauschale Redeweise vom „Prinzip" oder „Staats63 Zu dem Begriff und den in diesem Kontext diskutierten umweltrechtlichen Steuerungsansätzen siehe Führ 1994, 446. Zum Verhältnis zu rechtlichen Strategien der „Prävention" siehe Grimm 1986, 45.

III. Unvollkommene Pflichten im Kontext von Recht und Tugend

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prinzip" der „Verantwortung" zugunsten eines präziseren Bedeutungsgehaltes fortentwickeln. 64

I I I . Unvollkommene Pflichten im Kontext von Recht und Tugend Der Begriff „Eigen-Verantwortung" soll eine Kategorie des Rechts beschreiben, die u.a. dadurch gekennzeichnet ist, daß inhaltlich offene Verhaltensanforderungen zum Tragen kommen. Wenn der Rechtsbegriff „unvollkommene" Pflichten nicht einschließt, ließe sich die vorstehend entwickelte Kategorienbildung nicht aufrechterhalten. Wenn unvollkommene Pflichten allein der Tugend zuzuordnen wären, dann würde die Kategorie der Eigen-Verantwortung Recht und „Moral" in bedenklicher Weise vermischen. Zu klären ist folglich, ob unvollkommene Pflichten unter den Begriff des Rechts zu fassen sind. Dazu ist den Unterscheidungskriterien nachzugehen und zu klären, wie sich eine Abgrenzung vornehmen läßt. Im folgenden geht es dementsprechend nicht um den in der jüngeren deutschen Geschichte nach 1945 und 1989 intensiv diskutierten Kollisionsfall von Recht und Moral, 6 5 also das „Unrechtsargument" mit der Frage, ob kraß unmoralisches positives Recht noch „Recht" zu nennen, ob ihm Gehorsam zu leisten ist und welchen Schutz vor moralischem oder (straf-) rechtlichem Urteil es zu vermitteln vermag. Bei der Frage danach, wie offene, unvollkommene Rechtspflichten einzuordnen sind, wird im Regelfall keine frontale Konfrontation zu beobachten sein. Vielmehr ist dem Prinzipienargument 6 6 nachzugehen und die Frage zu stellen, ob sich aus der Anerkennung von Prinzipiennormen und der Bejahung der Fähigkeit des Rechts, Prinzipienkonflikte rational zu bewältigen, Konsequenzen für die Zuordnung von Regelungen aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung zum Rechtsbegriff ergeben.

1. Trennung von Recht und Moral Aus heutiger Perspektive als prägend für die Trennung von Recht und Moral erscheinen insbesondere die Schriften von Immanuel Kant. Die Entwicklung reicht jedoch weiter zurück. Das Interesse an der deutlichen Unterscheidung zwischen Recht und Moral hat seine Wurzeln im Völkerrecht. Grotius, der die deutsche Entwicklung maßgeblich beeinflußt hat, entwik64

Um diese Präzisierungserfolges willen sind die Pleonasmen der Eigen- und Selbst-Verantwortung (siehe dazu bereits in Kapitel A, Fn. 1) in Kauf zu nehmen. 65 Siehe die Nachweise bei Lübbe-Wolff 1985, 43 f. sowie dies. 1998, 3 f. 66 Für die Frage, wie dieses Argument mit dem Rechtsbegriff bei Kant zu vereinbaren ist, siehe Dreier 1986, 28 ff. 5 Führ

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

kelte die Unterscheidung zwischen erzwingbaren, vollkommenen und nicht erzwingbaren, unvollkommenen Pflichten, um auf dieser Grundlage die gerechten von den „ungerechten" Gründen zum Krieg abzusondern. Gerecht ist für ihn nur der Krieg, der zur Durchsetzung vollkommenen Rechts geführt wird. 6 7 Die Unterscheidung hatte bei Grotius die Funktion, den Kreis legitimer Kriegsgründe einzuschränken und sollte auf diese Weise der Sicherung des Friedens dienen. Es fragt sich allerdings, ob im binnenstaatlichen Bereich, wo durchaus Mechanismen friedlicher Konfliktlösung und deren zwangsweiser Durchsetzung bereit stehen, die Unterscheidung in dieser Form beibehalten werden kann. Dem ist im folgenden auf der Grundlage der Überlegungen von Kant nachzugehen. a) System der Pflichten

bei Kant

Versucht man, unvollkommene Rechtspflichten und damit die Kategorie der Eigen-Verantwortung in das Gedankengebäude Kants einzuordnen, ist zunächst dessen Systematik und die dazugehörige Begrifflichkeit kurz zu beschreiben. Kant's „Metaphysik der Sitten" ist unterteilt in die „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre" und die „Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre". 68 Die Trennlinie verläuft zwischen dem äußerlich sichtbaren Teil der Handlung und den inneren Motiven. Lediglich die äußere Handlung ist dem Rechtsgesetz und der Rechtspflicht unterworfen, während die innere Seite der Tugendpflicht als ethische Pflicht unterliegt. Daraus ist allerdings nicht zu folgern, daß es keinerlei Überschneidungen von zwischen beiden geben kann. 6 9 Beide bilden vielmehr gemeinsam die „Moral", verstanden als ein übergreifendes „System der Pflichten". 70 Rechtskonformität ist dabei Voraussetzung moralischen Handelns; ein mora67 Grotius [1625] 1950, 388 (im 22. Kapitel mit dem Titel: „Von den ungerechten Kriegsgründen"; dazu Lübbe-Wolff 1982, 235 sowie dies. 1985, 45 ff.). Dazu aktuell am Beispiel des Kosovo-Einsatzes der Nato Denninger 2000. Zu den bei Grotius zu findenden Modifizierungen siehe Fn. 89. 68 Kant 1907 [Akademieausgabe], VI 203 ff. und 373 ff. 69 Kant 1907, VI 220: „So ist es eine äußerliche Pflicht, sein vertragsmäßiges Versprechen zu halten; aber das Gebot dieses blos darum zu thun, weil es Pflicht ist, ohne auf eine andere Triebfeder Rücksicht zu nehmen, ist blos zur inneren Gesetzgebung gehörig." 70 Kant 1907, VI 242. Zu den Wurzeln des Naturrechts in einem übergreifenden christlich fundierten „Liebesrecht" siehe Lübbe-Wolff 1982, 233 f. m.w.N. Zu der unterschiedlichen Rezeption von Kant durch seine Zeitgenossen (dort stand die Abkehr von eudämistischen Trieb- und Erfüllungsstreben der englischen Philosophie und die Betonung des Pflichtgedankens im Vordergund) sowie durch die spätere deutsche Staatslehre (diese sah mehr den Gegensatz der durch Staat und Gesetze vermittelten äußeren Bindung zur „eigentlichen" inneren Freiheit) siehe Scheuner 1978, 86.

III. Unvollkommene Pflichten im Kontext von Recht und Tugend

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lischer Wert ist der Handlung aber erst dann beizumessen, wenn neben der bloß äußerlichen Konformität mit dem Rechtsgesetz noch die Orientierung an einer ethischen Maxime hinzukommt. 71 Die Tugendpflichten gehen über das rechtlich Geforderte hinaus und verlangen, soweit sie sich auf Dritte beziehen, ein Außerachtlassen des Rechtsstandpunktes;72 allerdings nicht im Sinne der Verletzung der Rechte Dritter, sondern im Sinne des Verzichts auf eigene Rechte. 73 Indem Kant „gegenüber der Legalität eine Zusatzbedingung aufstellt, bedeutet die Moralität eine „Legalität plus ...", eine Übereinstimmung mit der [ethischen, M.F.] Pflicht, die um eben dieser Pflicht willen erfolgt" (Höffe 1990, 76). Oberbegriff bei Kant ist der der „Moral", dem sind die „Tugendpflichten" (officia virtutis s. ethica) und die „Rechtspflichten" (officia iuris) untergeordnet ( V I 239). Es gibt also moralische Pflichten, die Rechtspflichten sind, und solche, die Tugendpflichten (bzw. ethische Pflichten) sind. Festzuhalten ist damit, daß bei Kant Rechtspflichten selbstverständlich Bestandteil der Moral sind. Das Recht gehört untrennbar zur „Moral, als eines Systems der Pflichten überhaupt". 74 Die Trennlinie verläuft vielmehr - den beiden Teilen der Metaphysik der Sitten folgend - zwischen Recht und Tugend (bzw. Ethik). 7 5 Aus der Vermischung der Begriffe „moralisch" und „ethisch" bzw. „tugendhaft" entstehen in der Debatte eine ganze Reihe von Ungenauigkeiten, die wiederum Mißverständnisse nach sich ziehen. 76 Daran ist aber auch Kant nicht unschuldig, weil er die von ihm in der „Einleitung in die Rechtslehre" entwickelte Begrifflichkeit nicht konsequent verwendet. 77 So ist es 71

Ludwig 1997, 98 f.; der - Interpretationen von Höffe (1990, 82) kritisierend fortfährt (101): „Handlungen sind als äußere betrachtet - in der Terminologie der Rechtslehre - allenfalls ,recht4, allein der ihnen zugehörige Wille (oder die Maxime) kann ,gut' sein, ihnen ,Wert' verschaffen". 72 Die bloße Rechtlichkeit ist unmoralisch (Lübbe-Wolff 1982, 243). 73 In diesem Sinne geht auch Grotius ([1625] 1950, 420) davon aus, nicht alles, „was das strenge Recht gestattet", sei darum „in jeder Beziehung erlaubt, denn oft gestattet die Nächstenliebe nicht, daß man von seinem Recht vollen Gebrauch macht". 74 Siehe die Übersicht bei Kant 1907, VI 242. 75 Siehe zum Ganzen ausführlich Kersting 1997, 102 ff. m.w.N. sowie Waechter 1999. 76 Wie sich sich etwa auch bei Höffe (1990) nachweisen lassen; siehe dazu Ludwig 1997. 77 So findet sich in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten" die folgende Unterscheidung (VI, 219): „Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben die Legalität (Gesetzmäßigkeit), diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben." Dieser Satz mag auf den ersten Blick auf eine Trennung 5*

68

Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

nicht verwunderlich, wenn in der Umgangssprache, aber auch in der Fachliteratur die Begriffe mit abweichenden Bedeutungsgehalten Anwendung finden. Im folgenden bezeichnet „Moral" den Oberbegriff, der „Recht" und „Tugend" bzw. „Ethik" umschließt. 78 Gegenstand des Rechts ist die äußere Handlung mit den darauf gerichteten (Zwangs-) Pflichten, während die Tugend bzw. Ethik die innere Orientierung an Maximen meint. Der kategorische Imperativ („Handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann"; V I 225) umfaßt sowohl das äußere Element der Handlung als auch das innere der Maxime. Seine Funktion ist es, „überhaupt nur auszusagen, was Verbindlichkeit sei"; wobei das „allgemeine Gesetz" ein - auf die reine Vernunft gegründeter - Begriff der Moral ist, welcher sowohl ein Gesetz im Rechtssinne als auch ein solches der Tugend sein kann. Der kategorische Imperativ ist somit der beide Pflichtbereiche überspannende, gemeinsame, im kantischen Sinn „moralische" Grundsatz. 79 Der kategorische Imperativ der Rechtslehre beschränkt sich auf die äußere Handlung, 80 während jener der Tugendlehre allein die innere Orientierung an den Maximen Tugend zum Gegenstand hat (VI, 388 f.).

von Recht und Moral hindeuten. Diese Interpretation ist aber nicht zwingend. Er läßt sich auch im Sinne der bereits angesprochenen „Legalität plus" deuten, wonach Legalität und Tugendhaftigkeit erst zusammen die Moralität einer Handlung ausmachen. Dafür spricht die Formulierung Kants, wonach dann moralisches Handeln anzunehmen ist, wenn „zugleich" - also zusätzlich zur Legalität - die Idee der Pflicht aus dem Gesetze Triebfeder der Handlung sei. Kant geht es - wie auch die folgenden Sätze zeigen - darum, den Unterschied zwischen „Innen" und „Außen" hervorzuheben und nicht darum, das Recht aus dem System der Moral auszugrenzen. 78 Soweit einzelne Autoren eine abweichende Begrifflichkeit verwenden, ist diese allerdings zu respektieren und auch in der Auseinandersetzung mit ihren Aussagen zugrunde zu legen. 79 Der kategorische Imperativ ist daher auch in der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten", dort im Abschnitt „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten - Philosophia practica universalis" zu finden; logisch also gewissermaßen „vor die Klammer" der beiden Pflichtlehren gezogen. Diese Einleitung ist zwar „drucktechnisch" Bestandteil der „Rechtslehre"; sachlich ist sie jedoch so etwas wie ein „Allgemeiner Teil" der Metaphysik der Sitten; was sich nicht zuletzt daran zeigt, daß anschließend noch eine eigenständige „Einleitung in die Rechtslehre" folgt. Dieser korrespondiert in der Tugendlehre eine „Einleitung in die Tugendlehre" (VI 379). 80 Kant findet dafür die die Formulierung (VI 231): „Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne". Zu den Abweichungen von der übergreifenden „moralischen" Formulierung siehe Ludwig 1997, 104.

III. Unvollkommene Pflichten im Kontext von Recht und Tugend b) Pflichtcharakter

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als Trennungslinie

Die Kategorie der „Eigen-Verantwortung" ist geprägt von Pflichten, die in gewissem Umfang inhaltlich offen und daher erst situationsspezifisch konkretisierbar sind. Infolge der meist auf proaktive Mitwirkung angewiesenen Handlungskonstellation kommt hinzu, daß die rechtlich verankerten Sanktionen das erwünschte Verhalten nicht im eigentlichen Sinne erzwingen können, sondern nur eine unvollständige, punktuelle und daher in der Regel indirekt wirksame Folgenanlastung beinhalten. Die „Unvollkommenheit" der rechtlichen Anforderungen bezieht sich damit sowohl auf den Verhaltensmaßstab als auch auf den Mechanismus der Folgenanlastung. Ob man bei derartigen Pflichten davon sprechen kann, hier bestünde eine „Befugnis zu zwingen", mag man daher in Frage stellen. Die Zweifel werden zusätzlich dadurch verstärkt, daß sich meist im vorhinein nicht mit Bestimmtheit sagen läßt, welches Verhalten das Recht in der jeweiligen Situation fordert. Die Schwierigkeiten, Regulierungsmuster aus dieser Kategorie im Rechtssystem zu verorten, resultieren nicht zuletzt aus der Vorstellung, wonach Rechtspflichten sich dadurch auszeichnen, daß sie durchweg ex ante bestimmbare und damit eindeutige Verhaltensanweisungen bereit stellen. Diese Vorstellung findet sich auch bei Kant. Für ihn sind Rechtspflichten stets vollkommene, strikte Pflichten von apriorischer Eindeutigkeit; unvollkommene Pflichten ordnet er dagegen der Tugend zu. Weiteres Differenzierungskriterium zwischen Recht und Tugend ist damit - neben der Unterscheidung zwischen äußerem Verhalten und inneren Maximen - der Charakter der jeweils einschlägigen Pflichten. Die Ausgrenzung unvollkommener Pflichten aus dem Begriff des Rechts zeigt sich besonders deutlich im „Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre" ( V I 233 ff.). In Abgrenzung zum Recht in enger Bedeutung (lus strictum) behandelt Kant dort das zweideutige Recht (lus aeqivocum). Dazu zählt er - neben dem Nothrecht (lus necessitatis)81 - die Billigkeit (Aequitas). Er versteht darunter Konstellationen, in denen die anspruchstellende Seite zwar plausible Gesichtspunkte für ihren Anspruch geltend machen kann, gleichwohl aber „nach dem eigentlichen (stricten) Recht" abzuweisen ist, weil ein Richter über „keine bestimmte Angaben (data)" verfügt, die aussagen, was ihr zusteht. 82 Kant ist der Auffassung, daß ein „Gerichtshof 81

Gemeint ist die Situation des Notstandes, wie sie in §§34 f. Eingang in das StGB gefunden hat. 82 Dieses Argument taucht auch in der aktuellen grundrechtsdogmatischen Debatte und wird dort - u.a. von Böckenförde (1989, 52 ff.) und Isensee (Isensee 1992 a, Rn. 176) - gegen Abwägungsmodelle vorgebracht; siehe Kapitel C, Abschnitt IV. 3. auf Seite 182.

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

der Billigkeit, einen Widerspruch in sich selbst" darstellen würde. Der Richter dürfe daher Billigkeitsargumenten nur insoweit Gehör schenken als die „Krone", als deren Vertreter Kant den Richter sieht, den Schaden zu tragen bereit sei. Im übrigen habe die Billigkeit im Recht keinen Platz. Er verweist zwar auf den Sinnspruch der Billigkeit, wonach das strengste Recht das größte Unrecht sei (summum ius summa iniuria 8 3 ), meint aber: „diesem Übel ist auf dem Wege des Rechts nicht abzuhelfen" (235). In der Einleitung zur Tugendlehre stellt Kant zudem den Satz auf: „Die ethischen Pflichten sind von weiter, dagegen die Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit" ( V I 390; Herv.i.O.). Zur Begründung führt er an, dieser Satz sei eine Folge aus dem vorigen: „Die Ethik giebt nicht Gesetze für die Handlungen (denn das thut das lus), sondern nur für die Maximen der Handlungen" ( V I 388; Herv.i.O.). Damit ist aber, wie sich auch aus der beigefügten Erläuterung ergibt, lediglich ausgesagt, daß Gegenstand der Ethik allein die innere Seite des Menschen, die „deines eigenen Willens" ist (389). Dem entspricht es, ethischen Pflichten grundsätzlich eine weite Verbindlichkeit zuzusprechen. Daraus folgt aber noch nicht zwingend, daß es nicht auch Rechtspflichten von weniger enger Verbindlichkeit geben kann. 8 4 Dies kommt auch in der Begründung zum Ausdruck, die Kant anführt, um die logische Ableitung aus dem vorhergehenden Satz zu untermauern: „Denn wenn das Gesetz 85 nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten kann, so ists ein Zeichen, daß es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d.i. nicht bestimmt angeben könne, wie und wie viel durch die Handlung 83

Zu den historischen Wurzeln des Satzes „summum ius summa iniuria" und den Möglichkeiten seiner Interpretation siehe Stroux 1926 (zur Billigkeit bei Aristotoles dortselbst, 11 f. sowie bei Höffe 1996, 230 ff.; jeweils m.w.N.). 84 So heißt es in der Einleitung in die Rechtslehre unter der Überschrift „Eintheilung der Metaphysik der Sitten überhaupt" zwar zunächst (VI 239): „Alle Pflichten sind entweder Rechtspflichten (officia iuris), d.i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, oder Tugendpflichten (officia virtutis s. ethica), für welche eine solche nicht möglich ist; - die letztern können aber darum nur keiner äußeren Gesetzgebung unterworfen werden, weil sie auf einen Zweck gehen, der (oder welchen zu haben) zugleich Pflicht ist". Zur Begründung fährt Kant fort: „sich aber einen Zweck vorzusetzen, das kann durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirkt werden (weil es ein innerer Act des Gemüths ist)". Damit scheinen Zwecke aus dem Begriff des Rechts ausgeschlossen zu sein. Kant schließt seinen Gedankengang jedoch mit einer Einschränkung ab: „obgleich äußere Handlungen geboten werden mögen, die dahin führen, ohne doch daß das Subjekt sie sich selbst zum Zweck macht". Damit wird deutlich, daß es Kant vornehmlich auf die Unterscheidung „äußere Gesetzgebung" - „innere Tugendpflichten" ankommt. Eine zweckgerichtete, d.h. an Prinzipien orientierte Gesetzgebung schließt er nicht aus. Er will lediglich verhindern, daß das Recht auf die innere Seite des Menschen übergreift. 85 Gemeint ist ein „Gesetz der Tugend".

III. Unvollkommene Pflichten im Kontext von Recht und Tugend

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zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden soll". Im Anschluß daran kommt Kant auf einen Prinzipienkonflikt zu sprechen: „Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere (z.B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe) verstanden, wodurch in der That das Feld für die Tugendpraxis erweitert wird". Daß eine Prinzipien-Kollision auch für das Recht von Bedeutung sein kann, thematisiert Kant nicht. Er hält vielmehr an dem Begriff des strikten Rechts fest: „Je weiter die Pflicht, je unvollkommener also die Verbindlichkeit des Menschen zur Handlung ist, je näher er gleichwohl die Maxime der Observanz derselben (in seiner Gesinnung) der engen Pflicht (des Rechts) bringt, desto vollkommener ist seine Tugendhandlung (390, Herv. i.O.). Dieser Satz ist - als Bestandteil einer Einleitung zur Tugendlehre und zur Charakterisierung des Grades der Tugendhaftigkeit - sicherlich zutreffend. Nicht schlüssig erscheint es aber, wenn daraus im unmittelbaren Anschluß gefolgert wird: „Die unvollkommenen Pflichten sind also allein Tugendpflichten" (390; Herv.i.O.). Eine explizite Begründung dafür findet sich nicht. Jedoch läßt sich vermuten, daß Kant, der Tradition Montesq u i e u folgend, die Gesetzesanwendung als bloßen Gesetzesvollzug verstanden hat (R. Dreier 1986, 36). Dann aber können allein Rechts-Regeln vom Begriff des Rechts erfaßt sein. Denn nur sie erfüllen, den „reinen, a priori gegebenen" (Dreier 1986, 19) Begriff des Rechts bei Kant. Dieser Befund steht in gewissem Widerspruch zu der Tatsache, daß Kant selbstverständlich die Möglichkeit von Prinzipiennormen und Prinzipienkonflikten gesehen hat. Allerdings hat er davon abgesehen, die damit zusammenhängenden Fragen für die Rechtslehre zu entfalten. Er hätte sich dann gezwungen gesehen, auch den empirischen Begriff des Rechts zum Gegenstand seiner Überlegungen zu machen. Dann hätte sich auch gezeigt, daß Prinzipiennormen und im Fall der Prinzipienkonkurrenz deren relationale Bewältigung möglich ist. Daß den Gerichten eine eigenständige Funktion bei der Auslegung und Fortbildung des Rechts zukommen kann, schließt Kant mit seiner Begriffsbestimmung jedoch aus. 86 Bezieht man jedoch diese Funktion mit ein, ist der Ausschluß unvollkommener Pflichten aus dem Begriff des Rechts jedenfalls in dieser strikten Form nicht mehr erforderlich. Denn für den konkreten Einzelfall ist es den Gerichten dann durchaus möglich, unvollkommene Pflichten so weit zu konkretisieren, daß 86

Dies möglicherweise auch deshalb, weil es ihm vorrangig darum ging, die eigenständige friedensbewahrende Kraft des Rechts gegen die Einwirkungsmöglichkeiten der „Krone" und anderer „höherer Mächte" zu etablieren [siehe dazu auch Abschnitt III. 1. c)].

Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

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ihr zwingender Gehalt hervortritt. Eine genauere Auseinandersetzung mit dem Prinzipienargument führt zu der Erkenntnis, daß dem Recht rationale Konfliktbewältigungsmuster zur Verfügung stehen, mit deren Hilfe es möglich ist, offene Rechtsnormen in geschlossene Normen mit regeiförmiger Rechtsfolge zu überführen: Offene Normen sind damit nicht mehr unvollständig; das Verfahren der Rechtsanwendung ist in der Lage, unvollkommene Pflichten zur Vollkommenheit zu transformieren. Die dazu entwickelten Begründungsmuster sind aber nicht nur auf der verfassungsrechtlichen Ebene (Alexy 1985), sondern - wie zu zeigen sein wird (siehe Kapitel C) strukturell identisch auch bei der einfachgesetzlichen Bewältigung von Prinzipienkonflikten aufzufinden. Vor diesem Hintergrund spricht nichts mehr dagegen, unvollkommene Normen unter den Begriff des Rechts zu fassen. Es ist dann nicht mehr notwendig, zur Abgrenzung von ethischen Pflichten auf das Kriterium eng/weit bzw. vollkommen/unvollkommen abzustellen. Das bereits eingeführte - und auch bei Kant durchgängig aufzufindende Kriterium der äußeren und der inneren Pflicht erscheint für die Unterscheidung hinreichend. 87 Versteht man die Unterscheidung eng/weit dagegen nicht als „harte", absolute Abgrenzungslinie, sondern als eine Charakterisierung von Extrempositionen, stellt sich die Situation anders dar. Eine derartige relative Betrachtung, wonach sich enge Pflichten eher im Recht und in der Tugendlehre vorwiegend die weiten Pflichten finden lassen, verdient Zustimmung. Sie entspricht im übrigen auch dem Schema, welches Kant zur Charakterisierung der Pflichten in der Einleitung der Rechtslehre aufstellt, 88 und wo sich Rechts- und Tugendpflichten, ohne besonders abgegrenzt zu sein, in einem Kontinuum befinden zwischen der „vollkommenen Pflicht" (dem steht die Rechtspflicht näher) und der „unvollkommenen Pflicht" (auf dieser Seite findet sich die Tugendpflicht). Nach dieser Vorstellung kann es also durchaus auch Rechtspflichten geben, die in gewissem Umfang „unvollkommen" sind. Das Recht kann dann ebenfalls im vornhinein „nicht bestimmt angeben, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden soll", wodurch „es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo)" eröffnet. In diesem Spielraum waltet dann allerdings nicht die „freie Willkür"; diese ist vielmehr durch unvollkommene Rechtspflichten „belastet", aus denen sich im Falle eines Rechtsstreits sich auch zwingende Anforderungen des Rechts formulieren lassen. Damit nähern sich die Prinzipien-Normen in der konkreten Anwendung insoweit dem Rechtsbegriff Kants an, als für den konkreten Fall zwar nicht von 87

So offenbar auch Petersen (1996 a, 208 ff.), der ebenfalls für die Bestimmung von Kants Begriff des Rechts auf das Kriterium des „Äußerlichen" abstellt. 88 Das Schema trägt die Überschrift: „Eintheilung nach dem objektiven Verhältnis des Gesetzes zur Pflicht", VI 240.

III. Unvollkommene Pflichten im Kontext von Recht und Tugend

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vornherein, aber jedenfalls im nachhinein bestimmbar ist, welche „Handlungen selbst" vom Recht geboten sind. 89 Es ließe sich daher fragen, welche besondere Qualität unvollkommenen Rechtspflichten noch zukommen soll und welche Bedeutung infolgedessen die Kategorie der Eigen-Verantwortung noch entfalten kann. Die Antwort auf diese Frage erschließt sich erst, wenn man das zweite kategorienkonstituierende Merkmal hinzunimmt: Hier geht es um die Frage, wie sich der institutionelle Kontext auf die Motivationslage der Pflichtenadressaten auswirkt. Und in dieser Perspektive macht es durchaus einen Unterschied, ob wie beim regeiförmigen, strikten Recht Verhaltensmaßstab und Rechtsfolge von vornherein weitgehend feststehen, oder ob sich der Pflichtgehalt erst auf der Grundlage entfaltender und wertender Schritte ermitteln läßt. Und während es für den Rechtsbegriff ausreicht, daß überhaupt ein äußerlich zwingender Gehalt auszumachen ist, macht es aus der Wirkungsperspektive durchaus einen Unterschied, ob und in welchem Ausmaß die durch die Norm und ihre institutionelle Einbettung erzielbaren Wirkungen dazu beitragen können, das Verhalten der Rechtsunterworfenen in Richtung des Steuerungsziels zu beeinflussen. c) Perspektive

der Nichtinterferenz

Zusammenfassend ergibt sich damit folgendes Bild. Betrachtet man allein Kant's Metaphysik der Sitten, liegt die Vermutung nahe, Kant habe allein strikte, d.h. regeiförmige Pflichten dem Bereich des Rechts zuordnen wollen. 9 0 Dafür spricht die Ausgrenzung des Notrechts und der Billigkeit. 89

Ein solches Ergebnis steht im übrigen im Einklang mit den Überlegungen von Grotius ([1625] 1950, 388), der - nachdem er moralische Pflichten vom gerichtlich durchsetzbaren, „besonderen Recht" unterschieden hat (siehe bei Fn. 67) - hinzufügt: „Mitunter aber geben die göttlichen oder menschlichen Gesetze ein solches Recht auch für die Tugendpflichten [als Beispiele nennt er die „Pflicht der Freigebigkeit, Dankbarkeit, Barmherzigkeit, Liebe"]; dann tritt aber ein neuer Grund für die Schuld hinzu, welcher zum Recht gehört". Grotius erkennt also durchaus die Möglichkeit an, daß unvollkommene Pflichten in das Recht aufgenommen werden und auf diese Weise äußere Verbindlichkeit erlangen. 90 In historischer Perspektive verwirklicht die Trennung bei Kant damit zugleich die Funktion, das Eigentum und seinen Gebrauch gegen bloße „liebesrechtliche" Forderungen aus dem biblischen Gebot der Nächstenliebe und dem Ideal der Gütergemeinschaft abzuschirmen (Lübbe-Wolff 1982, 233 ff. m.w.N.). Diese die Freiheitsentfaltung freisetzende Funktion erfüllt das Trennungsdenken. Zugleich aber schränkt es die Möglichkeiten, den gemeinsamen Freiheitsgebrauch auch mit den Mitteln des Rechts prozeßhaft und flexibel zu organisieren, stark ein, weil jede Konfliktentscheidung sich auf eine Rechtsregel zurückführen lassen muß. Fehlt es daran, kann die davon begünstigte Seite ihre Position rechtlich durchsetzen, während die andere Seite schutzlos bleibt. Als Abhilfe bleibt allein der Appell an die

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

Denn hier läßt sich nicht regeiförmig entscheiden, sondern es sind widerstreitende Prinzipien abzuwägen. Kant erkennt für das Recht das Phänomen der Kollision von Prinzipien nicht an, sondern beschränkt sich auf eine Perspektive der Nichtinterferenz. Nur negative Pflichten gelten ihm als vollkommen und damit als rechtsfähig. 9 1 Die Überlagerung von Freiheitsrechten und damit das Zusammentreffen von Prinzipiennormen im Recht schließt er aus. Abwägungsentscheidungen sind durch die Formulierung einer regeiförmigen Verhaltensanweisung zu treffen. Billigkeit und Notrecht haben, weil sie vom Richter, aber auch vom Rechtsadressaten eine weitere Konkretisierung der Abwägungsentscheidung verlangen, im Recht keinen Platz. In dieser Begriffsbestimmung zeigt sich, daß es Kant um eine apriorische Beschreibung eines Systems der Pflichten ging. Die Funktion des Richters wird auf die eines Notars des positiven Rechts reduziert. Wer vor dem „größten Unrecht" nicht kapitulieren will, ist nach Kant gehalten, möglichst viele Eventualitäten in das einfache Gesetz (bzw. den Vertrag) aufzunehmen, womit sich ein höherer Grad an Klarheit und Bestimmtheit erreicht werden soll. Ihm geht es, in der Tradition von Hobbes offenbar darum, zunächst einmal den Geltungsanspruch der formalen Gesetze zu untermauern, um die friedenssichernde Kraft des Rechts zu stärken. Da wäre eine Auseinandersetzung mit dem Prinzipienargument eher hinderlich gewesen. Dieses Vorgehen ist vor dem Hintergrund der zu jener Zeit bestehenden Durchsetzungsschwächen des geschriebenen Rechts nicht unverständlich. Diese Strategie stößt aber rasch an ihre Grenzen. Gerade wenn es für das Recht darum geht, die Möglichkeit einer Kooperation der Rechtsträger durch „wechselseitigen Zwang" zu gestalten, ließe sich dies kaum erreichen, wenn alle denkbaren Streitfälle in konkreten Klauseln vorab erfaßt würden: Von der Freiheit bliebe dann nicht mehr viel übrig, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit, die zukünftigen Konstellationen befriedigend zu erfassen und im strikten Sinne zu regeln. Die „Transaktionskosten" einer derartigen Positivierung 92 würden ins Unermeßliche steigen, weshalb es geraten erscheint, „unvollkommene Verträge" 93 zu schlieTugend. Lediglich für zukünftige Fälle kommt eine Anpassung der Rechtsregeln in Betracht. 91 Frankenberg/Rödel 1981, 12; Kersting 1997, 103. 92 Diese ergeben sich u.a. aus der Ermittlung der notwendigen Informationen, deren Bewertung, Umsetzung in Regelungsentwürfe, deren weiteren Aushandlung sowie der Anpassung an veränderte Sachlagen und Einschätzungen etc. 93 So das Ergebnis der „Theorie unvollständiger Verträge" (dazu Richter/Furubotn 1996, 4 f.), die davon ausgeht, es sei in einer Situation „eingeschränkter Rationalität" [zum Rationalitätsbegriff in Ökonomie und Recht siehe Kapitel D, Abschnitt III. 4. a)] und von null verschiedener Transaktionskosten unmöglich, sich mit der komplexen Wirklichkeit in allen entscheidungsrelevanten Punkten vorab ausein-

III. Unvollkommene Pflichten im Kontext von Recht und Tugend

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ßen bzw. Gesetze mit unvollkommenen Pflichten zu erlassen. Dementsprechend finden sich im geltenden Recht eine ganze Reihe von Bestimmungen, die in weniger strikter Weise versuchen, die Bedingungen wechselseitigen Zwanges zu umschreiben. 94 Kants Anliegen, die Friedensfunktion des Rechts zu stärken und die Berechenbarkeit des Rechts zu bewahren, stößt sich mit dem Bedarf, rechtlich kanalisierten Zwang auch dort zur Entfaltung zu bringen, wo es an der Vorhersehbarkeit störender Entwicklungen fehlt oder wo detaillierte Regelungen nicht nur wegen des damit verbundenen Aufwandes, sondern auch in Anbetracht der daraus resultierenden Freiheitsbeschränkungen als kontraproduktiv eingeschätzt werden und eine „flexible Antwort" des Rechts vorteilhafter zu sein verspricht. Aus den prinzipienförmigen Rechtsnormen ergeben sich, dies ist einschränkend festzuhalten, keine abstrakt gefaßten und von vornherein klaren Verhaltensanweisungen, was im Hinblick auf die Rechtsklarheit und Rechtssicherheit durchaus nicht unproblematisch ist; um dies zu kompensieren, ist an das Recht die Forderung zu richten, zumindest Entscheidungsregeln bereitzustellen, an denen die Individuen ihr Verhalten ausrichten können und mit deren Hilfe im konkreten Fall zu sagen ist, welche Anforderungen sich aus dem Recht ergeben. 95 Andererseits finden sich auch in Kant's Metaphysik der Sitten Ansatzpunkte, die eine Integration von Prinzipiennormen andeuten. Indem Kant bald auf begriffliche Zusammenhänge, bald auf Unterschiede von Recht und Moral aufmerksam macht, hebt er - so zumindest die Einschätzung von Höffe (1990, 88) - die „Vorstellung einer planen Trennung oder aber Einheit auf 4 und entgeht damit „sowohl einer Moralisierung des Rechts als auch seiner Entmoralisierung". 96 Dem entspricht, daß Kant in der „Kritik der reinen Vernunft" durchaus mit „praktischen Ideen" arbeitet, denen „praktische Prinzipien" entsprechen, die sich als Maximierungs- oder Optianderzusetzen. Die daraus entstehende „Regelungslücke" verlangt nach einer Auffüllung durch institutionalisierte Fairneßregeln, die das Vertrauen herstellen, welches notwendig ist, um sich mit Abschluß eines Vertrages auf das Gegenüber einzulassen. 94 In diesem Sinne lassen sich auch die Abwägungsregeln zum Notstand in §§ 34 und 35 StGB deuten. Während Kant nicht einmal die „Anempfehlung zur Mäßigung" dem Recht zuordnen wollte (VI 235), liegt dieser Grundgedanke der Abstufung zwischen dem rechtfertigenden und dem bloß entschuldigendem Notstand zugrunde. Nach § 34 StGB muß das geschützte Interesse das beeinträchtigte „wesentlich überwiegen" und zudem ein angemessenes Mittel sein, die Gefahr abzuwenden. Dementsprechend ist unter mehreren geeigneten Mitteln, das relativ mildeste zu wählen (Wessels/Beulke 1998, 308; Samson 1992, Rn. 29 u. 32 ff.). Siehe dazu auch die Bestandsaufnahme in Kapitel C. 95 Dem ist in Kapitel C in einzelnen nachzugehen.

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

mierungsgebote formulieren lassen. 97 Läßt man diese Gebote auch für die äußere Gesetzgebung zu, dann fallen Regelungsmuster aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung in dem insoweit modifizierten Pflichtensystem von Kant unter den Begriff des Rechts (siehe die Übersicht auf Seite 80).

2. Recht, Moral und Sittlichkeit bei Hegel Während Kant auf dem eigenständigen normativen Anspruch der Tugend neben dem Recht beharrt, ist Hegel bestrebt, den für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft hinderlichen Gegensatz von Recht und „Moral" aufzuheben (Lübbe-Wolff 1982, 249 ff.). Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Einordnung unvollkommener Pflichten. Hegel verlangt in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts", wo sich keine gesonderte „Tugendlehre" mehr findet, vom Einzelnen nicht mehr eine „Legalität plus", sondern gestattet ihm, im Rahmen der „Rechtschaffenheit", also bei bloßer Einhaltung der äußeren Gesetze, seine eigenen Zwecke zu verfolgen. Im Sinne von Adam Smith hält er ihn geradezu dazu an, eigennützig zu handeln: Indem der Zweck des Einzelnen die „Befriedigung der subjektiven Besonderheit ist, aber in der Beziehung auf die Bedürfnisse und die freie Willkür anderer" mache unversehens „die Allgemeinheit sich geltend". 98 In der „Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse schlägt die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen um", eine „Notwendigkeit, die in der allseitigen Verschlingung der Abhängigkeit aller liegt" (§ 199). Das Modell bloßer Rechtschaffenheit ist aber nur tragfähig, wenn das Recht die für den Erhalt der Gesellschaft erforderlichen Funktionen übernimmt, die bislang der Tugend zugeschrieben wurden. Dementsprechend sieht Hegel im Staat die dialektische Einheit von Recht und Moral verwirklicht. Die dadurch erreichte „höhere Einheit" bezeichnet Hegel als „Sittlichkeit". Im Staat mit dem von ihm gesetzten Recht sieht Hegel die „Wirklichkeit der sittlichen Idee". 9 9 Aufgabe des Staates ist es danach, In-

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Man finde, ergänzt Höffe (1990, 88), „bei Kant ein Begriffsnetz, das in seiner Differenzierung erstaunlich phänomenengerecht ist; der Kontrapunkt zu einer bloß empirisch-pragmatischen Rechtskultur wird wohltuend nüchtern definiert". 97 R. Dreier 1986, 16 ff. m.w.N. Dreier (1986, 36) ist dementsprechend auch der Auffassung, für den Einbezug von Prinzipiennormen finde sich in den Arbeiten von Kant ein „theoretisches Fundament", welches sich vor allem aus dessen Vernunftbezug ergebe. 98 Hegel [1821] 1996, § 189. In der Anmerkung verweist Hegel auf die Staatsökonomie und explizit auf Smith, Say und Ricardo.

III. Unvollkommene Pflichten im Kontext von Recht und Tugend

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stitutionen zu schaffen, die so beschaffen sind, daß das Individuum das sittlich Richtige, d.h. das der Institution gemäße, aus eigenem Interesse t u t . 1 0 0 Weil das Recht Funktionen der Tugend mit übernehmen soll, ist es naheliegend, daß es auf die Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten nicht mehr ankommt. Wenn Hegel vom „abstrakten" Recht spricht, kennzeichnet er damit den allgemeinen, überindividuellen Charakter. Für Hegel ist nicht die Form des Rechts von Bedeutung, sondern dessen Qualität als „gute Gesetze", in dem Sinne, daß sie das Wohl des Ganzen und zugleich die Besonderheit des Individuums befördern. 101 Daß dazu nicht allein striktes, regeiförmiges Recht geeignet ist, setzt Hegel voraus, wenn er davon spricht, daß „es bei der Anwendung der Gesetze Kollisionen gibt, wo der Verstand des Richters seinen Platz hat": dies sei „durchaus notwendig, weil sonst eben die Ausführung etwas durchaus Maschinenmäßiges würde" (§ 211, Zusatz). Derartige Kollisionen wollte Kant, wie vorstehend gezeigt, in der Rechtslehre noch ausdrücklich ausschließen und in den außerrechtlichen Bereich der „Billigkeit" verbannen. Gegen den Präzisionsanspruch, der sich bei Kant u.a. darin zeigt, daß lediglich „vollkommene Pflichten" dem Recht zugeordnet werden, wendet sich Hegel (mit zeitbedingten kritischen Bezügen zu Savigny) wiederholt und vehement. 102 Jedes Recht sei eine Annäherung, ein Versuch. Die Tat99 Der Staat stelle „das an und für sich Vernünftige" dar, wobei Hegel davon ausgeht, es sei „absoluter Zweck der Vernunft, daß die Freiheit wirklich sei" (§ 257 f.). 100 Hegel [1821] 1996, § 242: „Der öffentliche Zustand ist im Gegenteil für um so vollkommener zu achten, je weniger dem Individuum für sich nach seiner besonderen Meinung, in Vergleich mit dem, was auf allgemeine Weise veranstaltet wird, zu tun übrig bleibt." Dazu Scheuner 1978, 87 ff. sowie Lübbe-Wolff 1982, 239 f. und 251 f. 101 Hegel [1821] 1996, § 229. Im Zusatz heißt es dort: „Das Allgemeine also, das zunächst nur das Recht ist, hat sich über das ganze Feld der Besonderheit auszudehnen. Die Gerechtigkeit ist ein Großes in der bürgerlichen Gesellschaft: gute Gesetze werden den Staat blühen lassen und freies Eigentum ist eine Grundbedingung des Glanzes desselben; aber indem ich ganz in die Besonderheit verflochten bin, habe ich ein Recht zu fordern, daß in diesem Zusammenhang auch mein besonderes Wohl gefördert werde. Es soll auf mein Wohl, auf meine Besonderheit Rücksicht genommen werden, und dies geschieht durch die Polizei und Korporationen." 102 „An ein Gesetzbuch die Vollendung zu fordern, daß ein absolut fertiges, keiner weiteren Fortbestimmung fähiges sein soll - eine Forderung, welche vornehmlich eine deutsche Krankheit ist - , und aus dem Grunde, weil es nicht so vollendet werden könne, es nicht zu etwas sogenannten Unvollkommenen, d.h. nicht zur Wirklichkeit kommen zu lassen, beruht beides auf der Mißkennung der Natur endlicher Gegenstände, wie das Privtrecht ist, als in denen die sogenannte Vollkommenheit das Perennieren der Annäherung ist, und auf der Mißkennung des Unterschiedes des Vernunft-Allgemeinen und des Verstandes-Allgemeinen und dessen Anwenden auf den ins Unendliche gehenden Stoff der Endlichkeit und Einzelheit" (§216 Anm.). Im Zusatz heißt es dort weiter: „Aber ein großer Alter Baum ver-

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

sache, daß weitere Entwicklungen möglich sind, spreche keineswegs dagegen, es bereits jetzt zur Anwendung zu bringen und etwaige Defizite dem „Verstand des Richters" 1 0 3 zu überlassen. Inhaltlich offene Begriffe und unvollständige Sanktionen schließt Hegel, soweit sie nur zur Erhöhung der Sittlichkeit beitragen, keineswegs aus. Für das Polizeirecht etwa stellt er ausdrücklich fest, hier seien „keine festen Bestimmungen zu geben und keine absoluten Grenzen zu ziehen." 1 0 4 Indem Hegel die Trennung von Recht und „Moral" in der Sittlichkeit des Staates aufgehen läßt, setzt er voraus, daß dort beides zugleich „dialektisch aufgehoben" ist. Der Staat schafft dementsprechend mittels des Rechts „Verhältnisse", die „überhaupt als vernünftig und für sich notwendig" anzusehen sind (§219 Anm.). Wenn Hegel von „Verhältnissen" spricht, kann man darin durchaus in unserem Sinne „Institutionen" sehen, weil es ihm darauf ankommt, die verhaltensbestimmenden Parameter so auszuformen, daß der einzelne aus eigenem Antrieb zum allgemeinen Wohl beiträgt. Die Aufgabe, sozial angemessene Institutionen auszubilden, liegt für Hegel allein beim Staat. Mit dem von ihm geschaffenen Institutionen hat der Staat hinreichende Mechanismen der Folgenanlastung zu schaffen, die den Einzelnen veranlassen, an der Verwirklichung der „Sittlichkeit" mitzuwirken. Der Bürger kann sich auf die Einhaltung der - allerdings deutlich erweiterten - Anforderungen der Rechtschaffenheit beschränken, ohne von darüber hinausgehenden Tugendforderungen behelligt zu werden. Soweit Forderungen, die Kant noch dem Bereich der Tugend zuordnet, für die Sittlichkeit der durch das Recht geordneten Verhältnisse Voraussetzung sind, werden sie Bestandteil der Einheit von Recht und Moralität. 1 0 5 Hegel integriert die bei Kant noch streng geschiedenen Pflichtenbereiche. Er entlastet die Individuen, die sich auf die bloße Rechtschaffenheit beschränken können und belastet zugleich den Staat mit erhöhten Forderungen. Der Staat kann diezweigt sich mehr und mehr, ohne deshalb ein neuer Baum zu werden; töricht wäre es jedoch, keinen Baum der neuen Zweige wegen, die kommen könnten, pflanzen zu wollen." 103 Dabei soll allerdings nicht die freie Beliebigkeit, wie sie Hegel im angelsächsischen Präjudizienrecht meint beobachten zu können (§211 Anm., wo er eine „ungeheure Verwirrung" sowohl des angelsächsischen wie des römischen Rechts feststellt; was er auch darauf zurückführt, daß die Richter auf Präjudizien im Grunde nicht angewiesen seien, „da sie selbst das ungeschriebene Gesetz in sich haben und daraus das Recht haben, über die vorhergegangenen Entscheidungen zu urteilen"), sondern die Orientierung an positivem Recht zum Tragen kommen (siehe §§ 212, 214). 104 § 234 Zusatz, wo es weiter heißt: „Alles ist hier persönlich; das subjektive Meinen tritt ein, und der Geist der Verfassung, die Gefahr der Zeit haben die näheren Umstände mitzuteilen." 105

In dieser Einheit ist auch das „Wohl" der Gesellschaft aufgehoben (LübbeWolff 1982, 247).

III. Unvollkommene Pflichten im Kontext von Recht und Tugend

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sen gestiegenen Erwartungen jedoch nur gerecht werden, wenn er neben dem strengen Recht, auch offene, im kantischen Sinne unvollkommene Pflichten als Rechtspflichten formuliert. Die Entlastungswirkung der Hegelschen Staatsidee ist damit weniger weitreichend als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Zwar ist der Einzelne durch staatlich geschaffene Institutionen vom unbegrenzten Gebot christlicher Nächstenliebe und dem korrespondierenden Armutsideal befreit; er darf - und soll - Reichtum akkumulieren, weil er mit dessen Einsatz zugleich wieder andere in Lohn und Brot setzt. 1 0 6 Soweit für das Wohl der Gesellschaft Vorkehrungen erforderlich sind, ist es Aufgabe des Staates, diese bereitzustellen. Auf die Unterscheidung von Recht und Tugend kommt es dabei nicht mehr an, das Staatshandeln hat sich vielmehr an der Sittlichkeit auszurichten. Soweit es für die Verwirklichung der Idee des Staates erforderlich ist, sind für Hegel selbstverständlich auch unvollkommene Pflichten in das Recht aufzunehmen. Nach der von Hegel entwickelten Idee des Staates (Petersen 1992), sieht sich dieser - will er ihr der Wirklichkeit entsprechen - einem enormen Steuerungsanspruch ausgesetzt. Jedenfalls in der heutigen Zeit dürfte dieser Anspruch überwältigende Ausmaße annehmen. Soll er nur annäherungsweise verwirklicht werden, bliebe von der Eigenständigkeit der Individuen kaum noch etwas möglich. Da der Staat aber nur die äußeren Verhältnisse bereitstellen kann, muß er auf die Ausfüllung durch die Individuen vertrauen: Die Art und Weise, in der die Individuen ihre Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen unvollkommener Pflichten wahrnehmen, ist zentral für die Frage, inwieweit es dem Staat gelingt, sich der hegel'sehen Idee anzunähern. Er ist daher auch in diesem Bereich auf Voraussetzungen angewiesen, die er nicht garantieren kann; jedoch stehen ihm durchaus Möglichkeiten zur Seite, an deren Ausprägung mitzuwirken. Angesprochen ist damit die Möglichkeit der Internalisierung von Institutionen mit der daraus resultierenden Beeinflussung von Präferenzen, Wahrnehmungs- und Verhaltens107 mustern.

3. Ergebnis Unvollkommene Pflichten lassen sich unter Berücksichtigung des Prinzipienarguments dem Recht zurechnen. Dies ist möglich, ohne im übrigen die Unterscheidung zwischen Recht und Tugend aufzugeben. 108 Abzustellen ist 106

Siehe dazu die Nachweise bei Lübbe-Wolff 1982, 249 ff. Siehe dazu die Diskussion des Verhaltensmodells in Kapitel D. 108 Die gedankliche Trennung von Recht und „Moral" ist demnach beizubehalten. Daraus ergibt sich jedoch nicht der Verlust jeder gemeinsamen Beziehung. Bei der Ausgestaltung des Rechts und der dadurch geschaffenen Institutionen kann sich der Staat nicht von der „Moral der Privatleute" abkoppeln (Denninger 1967, 64). Das 107

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

dazu allein auf die Differenzierung zwischen äußerem Verhalten als Gegenstand des Rechts und der inneren Orientierung an Maximen als Bereich der Tugend. Unerheblich ist dagegen der Charakter der jeweiligen Pflichten, im Sinne von „Offenheit" bzw. „Vollkommenheit" der Verhaltensanforderungen sowie der „Vollständigkeit" der Folgenanlastung. Die drei eingangs entwickelten Verantwortungskategorien lassen sich damit schematisch den Begriffen des Rechts und der Tugend wie folgt zuordnen (wobei die gepunktete Linie die Trennung zwischen der Ebene der ethischen und jener der rechtlichen Pflichten verdeutlichen soll):

„Freies Belieben" (keine Verhaltensanforderungen und keine Folgenanlastung durch das Recht)

Eigen-Verantwortung

Verantwortlichkeit

(Verhaltensanforderungen und Folgenanlastung durch Recht)

Selbst-Verantwortung (als Gegenstand ethischer Pflichten)

Abbildung 1 : Übersicht über die Verantwortungskategorien

Aus einer Perspektive der Moral, verstanden als übergreifendes System der Sittenlehre, kommen für eine konkrete Handlungsweise sowohl ethische als auch rechtliche Pflichten zur Anwendung. Diese Perspektive findet sich in der Abbildung in der Vertikalen. Die Trennlinie zwischen Recht und Ethik verläuft dagegen auf der Horizontalen. Hier ist eine Trennung angebracht und gedanklich möglich. Allerdings nicht in der Weise, daß für eine Handlung, die aus ethischer Perspektive geboten ist, es sich deshalb verbietet, zugleich eine rechtliche Pflicht anzunehmen. Ganz im Gegenteil wird es sogar durchweg so sein, daß einer Rechtspflicht eine Pflicht aus der Tugendlehre korrespondiert. Die besondere Qualität der Rechtspflicht liegt vielmehr allein darin, daß sie auf das äußere Verhalten gerichtet ist und daß mit ihr eine durch das Recht vermittelte Folgenanlastung verbunden ist, die sich auf das äußere Verhalten bezieht. Die Kategorie der Eigen-Verantwortung beschreibt dabei einen Pflichtenkreis, der ebenso wie die strikte Verantwortlichkeit auf das äußere VerhalRecht bedarf für seine reale Wirksamkeit und Durchsetzungskraft eines ethischen „Resonanzbodens". In der Demokratie hängt zudem das Zustandekommen gesetzlicher Regelungen - vor allem solcher, mit denen individuelle oder kollektive Lasten verbunden sind - von der Akzeptanz der Betroffenen und mithin von deren ethischer Einstellung ab (Lübbe-Wolff 1999, 44).

III. Unvollkommene Pflichten im Kontext von Recht und Tugend

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ten gerichtet ist. Die Abweichungen sind gradueller Natur. Sie beziehen sich sowohl auf den Grad an Bestimmtheit der Verhaltensanforderungen als auch auf den Grad und die Art und Weise der Erzwingbarkeit. 109 In den Fällen, in denen es - wie im Zivilrecht - ein unmittelbares „Gegenüber" gibt, ist diesem meist die Befugnis eingeräumt, sich auf diese Pflicht zu berufen. Allerdings steht es dem „Gegenüber" nicht zu, das pflichtgemäße Verhalten als solches zu erzwingen (etwa die Vornahme einer Handlung oder die Abgabe einer Willenserklärung). Vielmehr sind an das pflichteninkonforme Verhalten andere Sanktionen geknüpft, etwa der Verlust ansonsten bestehender Vorteile wie bei der Figur der Obliegenheit. 110 Neben den Kategorien der Verantwortlichkeit und der Eigen-Verantwortung findet sich weiterhin ein Bereich freier, d.h. rechtlich nicht gebundener „Willkür". Diese ist dort zu finden, wo das Recht weder vollkommene noch unvollkommene Pflichten an das Verhalten des einzelnen richtet. Hier kann sich die „Selbst-Verantwortung" entfalten, ohne daß eine Anlastung von Handlungsfolgen auf rechtlichem Wege erfolgt. Festzuhalten bleibt damit, daß die rechtlichen Anforderungen, die in die Kategorie der Eigen-Verantwortung fallen, nach der primären Unterscheidung von Kant den Rechtspflichten (als äußeren Pflichten) zuzuordnen sind. Insofern ist auch nach den kantischen Kategorien die Trennung von Recht und Ethik gewahrt. Lediglich dann, wenn man das zweite von Kant eingeführte Unterscheidungskriterium hinzunimmt, wonach unvollkommene Pflichten allein Tugendpflichten sein können, handelt es sich hier um eine Vermengung von Recht und Ethik. Dann aber ist diese Vermengung in der heutigen Rechtsordnung bereits sehr weit fortgeschritten, denn offene Rechtsnormen durchziehen die gesamte Rechtsordnung. Dies läßt daran zweifeln, ob das Recht seiner Aufgabe, die friedliche Kooperation der Freiheitsträger bei gleichzeitiger größtmöglicher Wahrung der Freiheitsgrade, gerecht werden kann, wenn man die unvollkommenen Pflichten a priori aus dem Recht verbannt. Entgegen der Annahme von Kant, unvollkommene Pflichten seien allein im Bereich der Tugend anzusiedeln, ist vielmehr zu beobachten, daß das Recht in erheblichem Umfang Normen mit Prinzipiencharakter in sich aufnimmt - und dies auf allen Ebenen der Normformulierung: vom Verfassungsrecht über das einfache Gesetz bis hin zu vertraglichen Vereinbarungen. Das Recht erweist sich damit für ethische Argumentation als offen; es überführt unvollkommene Pflichten in den Bereich des Rechts und macht sie zwangsweise durchsetzbar. 111 Darin 109

Siehe Abschnitt II. 2. a) auf Seite 62. Auch hieraus ergibt sich durchaus auch eine „Befugnis zu zwingen" (Kant, VI 231 f. - Einleitung in die Rechtslehre, § D). Sie ist jedoch auf schwächere, indirekt wirksame Sanktionen gerichtet [siehe dazu Kapitel C, Abschnitt I. 1. b)], woraus sich durchaus aber auch eine verhaltensbeeinflussende Wirkung ergibt. 110

6 Führ

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

liegt, wie die Auseinandersetzung mit Hegel gezeigt hat, eine neue Qualität des Rechts: Das Recht übernimmt auf diese Weise für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft wichtige Steuerungs- und Entlastungsfunktionen. Die Integration der Prinzipien als solche und die Möglichkeit ihrer rationalen Bewältigung im rechtlich geordneten Verfahren dürften sogar die Leistungsfähigkeit des Rechts in der modernen Gesellschaft ganz wesentlich mitbegründen. Tugendpflichten finden dabei selbstverständlich nicht in ihrer Gesamtheit eine Entsprechung im Recht; dies gilt nur für diejenigen, die sich aus dem einschlägigen positiven Recht reformulieren lassen. Entscheidend bleibt der Anknüpfungspunkt im positiven Recht. Zu beachten ist zudem, daß das Recht nur Forderungen an die äußere Handlung stellt. Es verlangt also keine innere Kongruenz mit dem jeweiligen Regelungsziel (bzw. den dabei zum Tragen kommenden Prinzipien). Auch ein Rechtsbegriff, der unvollkommene Pflichten mit aufnimmt, kommt ohne tugendhafte Gesinnung aus. Er entgeht damit der Gefahr, zu einem Gesinnungsrecht zu werden, welches über die Legalität hinaus eine innere Anerkennung der Rechtsverbindlichkeiten verlangt, womit es sich dagegen einer formalen Moralisierung schuldig machen würde (Höffe 1990, 88). Der Begriff „Eigen-Verantwortung" umschließt die inhaltliche Offenheit für eigene Gestaltungsmöglichkeiten; er macht aber auch deutlich, daß diese Gestaltung unter den Anforderungen des Rechts stattfindet und daß das Recht über Möglichkeiten verfügt, diese Anforderungen im Hinblick auf die jeweilige Verantwortungskonstellation zu konkretisieren. Eigen-Verantwortung verwirklicht sich im Rahmen rechtlich ausgeformter Institutionen. Die Art und Weise, wie diese Institutionen ausgestaltet sind, bestimmt die Steuerungswirkung des Rechts, aber auch die verbleibenden Freiheitsgrade.

I V . Freiheits- und Staatsverständnis Wie die Steuerungsaufgabe des Staates bestimmt und welche Rolle unvollkommene Pflichten und damit die Kategorie der Eigen-Verantwortung dabei spielen können, hängt - wie auch die Auseinandersetzung um den Rechtsbegriff im vorhergehenden Abschnitt gezeigt hat - eng mit dem zugrundeliegenden Freiheitsverständnis und dem korrelierenden Staatsbild zusammen. Hier stehen sich zwei Sichtweisen gegenüber, die jeweils einen unterschiedlichen Ausgangspunkt wählen: Auf der einen Seite ist das klassisch-liberale 112 Verständnis einer „Freiheit vom Staat" zu verorten. Auf der 111

Dworkin 1977/1984; Alexy 1985, R. Dreier 1986; siehe dazu auch Kapitel C, Abschnitt IV.

IV. Freiheits- und Staatsverständnis

83

anderen Seite finden sich Positionen, die sich bemühen, die realen Bedingungen der Freiheits Verwirklichung mit zu berücksichtigen. 113 Die folgenden Überlegungen versuchen, aus beiden Herangehensweisen eine vermittelnde These zu entwickeln, die im folgenden dann in einer Bestandsaufnahme unterschiedlicher rechtlicher Anwendungsfelder auf ihre Bezüge zur Rechtswirklichkeit und auf ihre Tauglichkeit zur Problembewältigung zu befragen ist. Zur Vermeidung von Mißverständnissen ist zunächst zu betonen, daß zwischen beiden Sichtweisen Einigkeit darüber besteht, daß Freiheit im Rechtsstaat letztlich nur eine rechtlich begrenzte sein kann. 1 1 4 Die Auseinandersetzung betrifft einen anderen, allerdings zentralen Punkt: Es geht um die grundlegende Einordnung gesetzgeberischer Regulierung als entweder im Ansatz der Freiheit abträglich (mit der Konsequenz, die negatorische Seite der Grundrechte ganz in den Mittelpunkt zu stellen) oder als notwendige Voraussetzung für die Entfaltung und den gemeinsamen Gebrauch der Freiheit (was gesetzgeberische Eingriffe in einem anderen Licht erscheinen läßt). Diese Einordnung beeinflußt das Grundrechts Verständnis und die Rolle, die dem Staat zugeschrieben wird. Aus ihr ergeben sich aber auch Konsequenzen für die Wahl der rechtlichen Steuerungsmittel. Die negatorische Sichtweise strebt eine möglichst klare Trennung von Freiheit und begrenzendem Eingriff an. Sie dürfte Schwierigkeiten haben, die Kategorie

112

Der Begriff klassisch- bzw. alt-liberal wird hier in Anlehnung an Denninger (1979, 182) zur Kennzeichnung desjenigen Freiheitsverständnisses und der korrelierenden Grundrechtstheorie gebraucht, die Böckenförde (1974, 1530) als „liberal" bwz. „bürgerlich-rechtsstaatlich" bezeichnet. Beide Begriffsbildungen erscheinen jedoch als problematisch. Das darin zum Ausdruck kommende „vorstaatliche" Freiheitsverständnis dürfte zwar für eine bestimmte Epoche des bürgerlichen Liberalismus vorherrschend gewesen sein (dazu, daß die später als vorstaatlich gedachten bürgerlichen Freiheiten zunächst einmal den Fürsten abzuringen und durch gesetzgeberisches Handeln „freizulegen" waren, Lübbe-Wolff 1988, 35 f.); dies bedeutet jedoch nicht, daß sie für alle Zeiten erschöpfend die Inhalte ausfüllen, die als „liberal" zu bezeichnen wären. Die Kennzeichnung als „bürgerlich-rechtsstaatlich" birgt die Gefahr, damit ein bestimmtes Verständnis als „rechtsstaatlich" festzuschreiben. Darin schwingt dann die Wertung mit, andere Grundrechtsverständnisse seien von vorneherein weniger dem Rechtsstaatsgedanken verpflichtet. Die Bezeichnung klassisch-liberal (bzw. alt-liberal) bringt demgegenüber das spezifisch historisch geprägte Verständnis dieser Sichtweise zum Ausdruck und verweist zugleich darauf, daß sich mittlerweile auch veränderte Interpretationen des liberalen Ansatzes herausgebildet haben (siehe etwa Eichenberger 1980; dazu Abschnitt IV. 3). 113 Vgl. zum ganzen Stern 1988, 890 ff.; siehe auch Suhr 1984; Denninger 1989, vor Art. 1 Rn. 1 ff.; Haverkate 1992; Morlok 1993, 375 ff. sowie Dreier 1993 und 1996, Vorb. Rn. 43 ff. 114 Dies wird auch von den Vertretern des vorstaatlichen Freiheitsbegriffs anerkannt (Jellinek 1905, 103; Böckenförde 1970, 54); siehe dazu Denninger 1989, vor Art. 1 Rn. 5. 6*

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

der „Eigen-Verantwortung" mit ihrem Freiheitsverständnis zu vereinbaren. Ein erweiterter, die realen Grundlagen gemeinsamen Freiheitsgebrauchs von Anfang an mit berücksichtigender Freiheitsbegriff müßte dagegen eher in der Lage sein, die Kategorie der Eigen-Verantwortung zu integrieren.

1. Freiheit vom Staat Eine im deutschen Sprachraum über lange Zeit vorherrschende Sichtweise betrachtet „die Freiheit des einzelnen als dem Staat grundsätzlich vorausliegend" (Böckenförde 1989, Sp. 230). Der Verfassungsstaat trete lediglich zu der bereits vorfindlichen Freiheit hinzu. Er legitimiere sich „aus der vorstaatlichen Idee der Freiheit" (Isensee 1987, Rn. 128). Die Funktion der Grundrechte ist dementsprechend darauf gerichtet, dem Bürger einen „staatsfreien Raum" zu gewährleisten (Jarass 1985, 379). Der Staat nimmt im wesentlichen Stabilisierungs- und Sicherungsfunktionen wahr. Er errichtet „Demarkationslinien der Freiheitssphären" (Isensee 1992b, Rn. 147) hinter die sich das Individuum zurückziehen kann. Vom Grundansatz her ist der Freiheit am besten gedient, wenn sich der Staat möglichst zurückhält. Der Grad an Freiheit steigt mit dem Schweigen des Gesetzes („As for other Lyberties, they depend on the Silence of the Law", Hobbes 1964, 154 [Kap. XXI]). Dieses Freiheitsverständnis findet sich auch in der Status-Lehre von Georg Jellinek. Sein Ausgangspunkt ist die „Unterwerfung unter den Staat". Der einzelne unterliege einer individuellen Pflichtsphäre, dem passiven Status (status subiectionis). Hier sei die jede „Selbstbestimmung und daher die Persönlichkeit ausgeschlossen" (Jellinek 1905, 86). Die Herrschaft des Staates sei allerdings sachlich im Hinblick auf das Gemeininteresse begrenzt. Jenseits dieser Grenze komme dem „Staatsmitglied" ein Status zu, „in dem er Herr ist, eine staatsfreie, das Imperium verneinende Sphäre". Dort befinde sich die individuelle Freiheitssphäre, der negative Status (status libertatis). Daneben sieht Jellinek zwar noch einen positiven und einen aktiven Status; diese zählen jedoch nicht zur Sphäre individueller Freiheit (Jellinek 1905, 87). Freiheit besteht für Jellinek demnach in der Abwesenheit von Maßnahmen der öffentlichen Gewalt nach einem Substraktionsmodell: „Was nach Abzug der rechtlichen Einschränkung für den einzelnen an Möglichkeit individueller Betätigung übrig bleibt, bildet seine Freiheitssphäre" (Jellinek 1914, 419). 1 1 5 115

Daß Jellinek im übrigen davon ausgeht, die Grundrechte seien nicht in der Lage, gegenüber dem Gesetzgeber normative Bindungskraft zu entfalten (Grabitz 1976, 11), Freiheit sei daher lediglich ein solche von „gesetzwidrigem Zwange" (1905, 103), ist im vorliegenden Zusammenhang unerheblich, weil sich das Grund-

IV. Freiheits- und Staatsverständnis

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Diese Sichtweise läßt sich verdeutlichen am dem Bild des Eigentümers, welches seit dem 19. Jahrhundert das Verständnis grundrechtlicher Freiheit prägt (Rupp 1987, Rn. 42). Dieser verfügt über einen klar abgegrenzten Eigentumsgegenstand („Sache"), mit der er „nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen" kann (§ 903 BGB). Vermittelt wird das Bild einer absoluten 116 und uneingeschränkten „Herrschaft" des Rechtsinhabers über „seine Sachen". Alle anderen sind von davon ausgeschlossen. Anschaulich wird dies am Bild des Grundeigentümers, der an den Grundstücksgrenzen einen Zaun errichtet und sich dahinter in seinem Recht „verschanzt". So entwickelt Jellinek (1905, 105) seinen negativen Status („status libertatis") aus dieser Parallele: „Gleichwie dem dinglichen Rechte die negative Pflicht der eventuell mit dem Berechtigten in Berührung kommenden Personen entspricht, diesen nicht zu stören, so entspricht dem negativen Status die analoge Pflicht sämtlicher mit dem Individuum in Verkehr tretenden Behörden. Es ist ein absoluter, von jeder Behörde zu respektierender Status". Auf die Status-Lehre von Jellinek und das darin ausgeformte Hobbes'sche Freiheitsverständnis stützen sich diejenigen, die von einer vorstaatlichen Idee der Freiheit ausgehen und staatliche Regulierung als Einschränkung der Freiheit verstehen. 117 Böckenförde (1989, Sp. 233) geht davon aus, „das im Ausgangspunkt freie Aktionsfeld der einzelnen und ihres Zusammenwirkens" werde mit einem stets dichter geknüpften Netzwerk materieller Verrechtlichung sowie mit vorgreifenden Kontroll- und Eingriffsbefugnissen überzogen. Damit werde der „Initiativ- und Entfaltungsraum individueller Freiheit zunehmend durchlöchert und beschnitten." Hier zeigt sich jenes Bild der Freiheit, welches von dem sich selbst genügenden Individuum ausgeht, dessen Freiheit als gegeben vorausgesetzt wird, womit jede Regelung als Beeinträchtigung erscheint, die grundsätzlich abzuwehren sei. 1 1 8 Die vorfindliche, als grundsätzlich bewahrungswürdig angesehene Verteilung der Freiheitsressourcen ist lediglich gegen Störungen abzuschirmen. 119 Staatliche Einzeleingriffe haben - in deutlich begrenzter Funktion - das Ziel, die Ordnung zu wahren oder wiederherzustellen (Grimm 1990a, 295). Unter diesen Voraussetzungen trifft es dann auch zu, daß der gesetz für eine materielle Grundrechtsbindung mit entsprechenden Kontrollorganen entschieden hat. Hier soll es allein um das Freiheitsverständnis als solches gehen. 116 Savigny 1984, 333 f.; Wieacker 1967, 621; siehe dazu unten in Kapitel C, Abschnitt IV. 1. e). 117 Dies gilt unabhängig davon, ob explizit auf Jellinek verwiesen oder nur dem Sinne nach dessen Grundmuster zur Anwendung gelangt (siehe die Nachweise bei Grabitz 1976, 3 ff.). 118 Siehe auch die kritische Analyse bei Grimm 1990a, 295 ff. 119 Eine derartige Funktionsbestimmung findet sich etwa bei Kirchhof 1992, Rn. 17 f.; kritisch dazu Schulze-Fielitz 1999, 255.

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

Freiheit am meisten gedient ist, wenn sich der Staat mit Eingriffen zurückhält. So erklärt sich auch der negative Unterton, der bei der Vokabel „Eingriff' mitschwingt. 1 2 0 Andererseits - dies muß auch Isensee eingestehen (1992b, Rn. 1) - erweist sich diese Vorstellung als anachronistisch, sie „reibt sich an der Realität der heutigen Gesellschaft. Insofern erweist sich die grundrechtliche Freiheit - auch - als Werk des Staates. Sie ist angewiesen auf Rahmenbedingungen des Rechts, auf Institutionen, auf finanzielle Förderung, die der Staat bereitstellt." Diese Erkenntnis hindert Isensee aber nicht daran, am klassischen liberalen Freiheitsbild festzuhalten. Obwohl er einräumt, die Freiheit sei auf staatliche Tätigkeiten angewiesen, versteht er weiterhin „Freiheit als Abwesenheit vom staatlichen Eingriff 4 (Isensee 1992b, Rn. 2 ) . 1 2 1 Die damit umschriebene „bürgerlich-rechtsstaatliche" Grundrechtstheorie 122 formulierte zugespitzt Carl Schmitt in seiner Verfassungslehre. Die klassische Fassung des „rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips" (Schmitt 1928/1965, 166) lautet: „Alle echten Grundrechte sind absolute Grundrechte, d.h. sie werden nicht „nach Maßgabe der Gesetze" gewährleistet, ihr Inhalt ergibt sich nicht aus dem Gesetz, sondern der gesetzliche Eingriff erscheint als Ausnahme und zwar als prinzipiell begrenzte und meßbare, generell geregelte Ausnahme. Es gehört zu dem grundlegenden Verteilungsprinzip des bürgerlichen Rechtsstaates, daß die Freiheit des Einzelnen vorausgesetzt wird und die staatliche Beschränkung als Ausnahme erscheint." Dieses vom Ausgangspunkt her präkonstitutionelle Staats- und Grundrechtsverständnis 123 gelangt zu in sich gespaltenen Folgerungen: Einerseits betont es den vorstaatlichen Charakter der Freiheit im Sinne des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips und fordert vom Staat möglichst weitgehende Zurückhaltung, womit jede gesetzliche Regelung als Störung der Freiheit erscheint. Und um diesen Störfaktor möglichst klar zu begrenzen, wird der Eingriff - der Sache nach in der Tradition von K a n t 1 2 4 - gedacht als striktes, regeiförmiges Recht. Andererseits stellt sie - der Sache nach in der Tradition von Hegel - hohe Anforderungen an Gemeinwohlverantwortung und Steuerungsleistung des Staates bis hin zu einem „Grundrecht auf Sicherheit". Die Spannung zwischen diesen beiden Polen führt zu der Gefahr der Überforderung und begründet den Kern der neueren Staatsaufgabendis120

Häberle 1983, 163; Lübbe-Wolff 1988, 64 f. Siehe dazu in Abschnitt IV. 2. b). Den von ihm selbst beobachteten Bruch versucht Isensee aufzufangen, indem er weit ausholend Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen entwikkelt (siehe Kapitel C, Abschnitt IV. 2. b) ee) bei Fn. 204). 122 Zu den verschiedenen Ansätzen der Grundrechtstheorie siehe Böckenförde 1974 sowie Denninger 1979, 181 ff. 123 Zusammengefaßt und kritisch gewürdigt bei Schulze-Fielitz 1999, 250 ff. u. 262 ff. 124 Siehe Scheuner 1978, 86 sowie Abschnitt III. 1. 121

IV. Freiheits- und Staatsverständnis

87

kussion (Grimm 1990a, 297). Die klassisch-liberale Antwort auf die Frage, wie beide Perspektiven zusammenzufügen sind, liegt im hierarchischen Steuerungsbild des Gesetzesbefehls. Der Befehl bildet die Brücke zwischen den als deutlich getrennt (und nicht lediglich unterschiedenen) Sphären des Staates und der gesellschaftlichen Freiheit. In klar umgrenztem Umfang erteilt der Staat in Wahrnehmung seiner Gemeinwohlverantwortung und gestützt auf seine höhere Gemeinwohleinsicht Verhaltensbefehle, die sich vor den Kriterien des Rechtsstaats zu bewähren haben. Aus dem vorstehend geschilderten Freiheitsverständnis ergibt sich eine starke Präferenz für klare Grenzziehungen in Gestalt von strikten Rechtsregeln. Die in der Rechtssprache zu beobachtende starke Betonung der Notwendigkeit, „Grenzen" oder „Schranken" zu bestimmen, hat seine Wurzeln in diesem Freiheitsverständnis. Dieser Ansatz kennt nur zwei, strikt voneinander zu trennende Bereiche: die vorstaatliche Willkürfreiheit auf der einen und die durch das Recht vermittelte strikt-regelförmige staatliche Zwangswirkung auf der anderen Seite. Eine vermittelnde Zwischenstufe, wie sie mit der Kategorie der Eigen-Verantwortung umschrieben ist, kann nur als Fremdkörper verstanden werden, der mit dem Rechtsverständnis unvereinbar erscheint. Die damit verbundenen Schwierigkeiten zeigen sich in besonders deutlicher Form in dem zweiten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch. Hier prallen die unterschiedlichen Freiheitsverständnisse direkt aufeinander: Auf der einen Seite weist die Urteilsbegründung darauf hin, es sei eine elementare staatliche Schutzaufgabe, das menschliche Leben vor seiner Tötung zu schützen; dementsprechend lasse „es das Untermaßverbot nicht zu, auf den Einsatz auch des Strafrechts und die davon ausgehende Schutzwirkung frei zu verzichten" (BVerfGE 88, 203/257). In diesem Satz tritt ein Rechtsverständnis hervor, welches vorrangig auf strikte, regeiförmige Abgrenzungen setzt. Auf der anderen Weise wird die „Letztverantwortung für den Schwangerschaftsabbruch" der Schwangeren zugewiesen (268) und ausgeführt, es stehe „mit der einer Frau und werdenden Mutter gebührenden Achtung in Einklang, wenn der Staat Frauen nicht durch generelle Drohung mit Strafe, sondern durch eine individuelle Beratung und einen Appell an ihre Verantwortung gegenüber dem ungeborenen Leben, durch wirtschaftliche und soziale Förderung und darauf bezogenene qualifizierte Information dafür zu gewinnen sucht, sich der Aufgabe als Mutter nicht zu entziehen" (267). 1 2 5 Die Verknüpfung dieser beiden Perspektiven gelingt dem Urteil nicht; dies zeigen die zahlrei125 In dieser Passage wird sehr deutlich der Zusammenhang von unvollkommenen Pflichten und einem pflichtenfördernden institutionellen Umfeld ausgesprochen; siehe dazu Kapitel F, Abschnitt III. 2.

Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

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chen - im Grunde die Letztverantwortung der Schwangeren wieder in Frage stellenden und dem strafrechtlichen Unwerturteil folgenden - sozialrechtlichen Konsequenzen zu Lasten einer Frau, die sich für den Schwangerschaftsabbruch entscheidet. 126

2. Präformiertes Freiheitsverständnis Als Gegenposition zum klassisch-liberalen, theoretisch zunächst einmal unbegrenzten präkonstitutionellen Freiheitsverständnis wurde sinngemäß formuliert, Freiheit bestehe nur, soweit ihre Nutzung nicht auf Belange der Allgemeinheit oder Rechte Dritter einwirkt. Die sog. Innentheorie 127 geht davon aus, daß die allgemeinen, vor allem die zivilrechtlichen 128 Gesetze „wesensmäßige Grundrechtsgrenzen" enthalten. 129 126

Auf diese Entscheidung und die darin zutage tretenden argumentativen Brüche wird noch an anderer Stelle einzugehen sein; siehe etwa in Kapitel C, bei Fn. 178 und Fn. 239 sowie in Kapitel E, bei Fn. 272. 127 Nach Siebert (1934, 152) ist die Lehre von der Unzulässigkeit der Rechtsausübung „in Wahrheit eine Lehre von den allgemeinen inhaltlichen Grenzen der Rechte. (...) Die Tatbestände unzulässiger Rechtsausübung beruhen auf einem allgemeinen rechtsethischen Pflichtgedanken. Diese Pflicht, die auf Beachtung der Belange des einzelnen Rechtsgegners und auf Beachtung des Gemeinwohls gerichtet ist, wird durch die §§ 826 und 242 BGB derart mit Rechtsinhalt verknüpft, daß ein Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treue und Glauben als solcher zwar nicht rechtswidrig ist, aber als Rechtsüberschreitung eben niemals mehr eine Rechtsinhaltsverwirklichung darstellt." Siebert diskutiert im folgenden (a.a.O., 153 ff.) ausführlich die Angriffspunkte, die gegen diese Sichtweise vorgebracht werden; so vor allem die „drohende Vermengung von Recht und Moral" und vertritt dabei - unter Verweis auf Hitlers Vortrag vor dem Juristentag 1933 in Leipzig unter dem Titel „Der totale Staat wird keinen Unterschied dulden zwischen Recht und Moral" (Hitler 1993) - die Auffassung, seine Interpretation sei für die „Vermeidung einer volksfremden Rechtsordnung" und für die „Schaffung einer einheitlichen weltanschaulichen Grundlage des Rechts sogar notwendig" (a.a.O., 155 f.). Diese Passagen scheinen die Annahme von „Pflichtigkeiten" vor dem Hintergrund des Mißbrauchs im Nationalsozialismus von vorneherein zu verbieten. In gleicher Weise diskreditiert wäre damit aber - man denke an die Nürnberger „Rassegesetze" - auch die strikte Gesetzesbindung von Verwaltung und Justiz und eine Reihe weiterer eherner juristische Grundsätze und Methoden. Offenbar ist es so, daß die Mittel des Rechts - als zentrales Instrument der Herrschaftsausübung im Staate - von einem totalitären Staat in jeder Hinsicht mißbraucht werden können. Dieser Befund führt aber nicht dazu, bestimmte rechtliche Konstruktionen generell als „rechtsstaatsuntauglich" auszuschließen. 128 Ähnliches wird für Strafvorschriften angenommen, Siehe dazu auch die „Sprayer von Zürich"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts; siehe Kapitel C, bei Fn. 174. 129 Vgl. Häberle (1983, 51 ff.), der sich dabei u.a. auf Vorstellungen von Siebert (1934) bezieht (a.a.O., 179 f.).

IV. Freiheits- und Staatsverständnis

89

Der Ansatz von Häberle (1983) wendet sich gegen die Vorstellung eines außerhalb der Verfassung anzusiedelnden Freiheitsverständnisses und betont, daß jede Freiheit, also auch grundrechtliche Freiheit, nur als „rechtlich umgrenzte Freiheit" (Häberle 1983, 152) zu verstehen sei. Die Aufgabe des Staates bestehe dann - der Sache nach in der Tradition von Hegel (LübbeWolff 1988, 65) - darin, die institutionellen Voraussetzungen für den gemeinsamen Freiheitsgebrauch der Individuen zu schaffen. In diese Richtung weist auch der Ausschluß des Grundrechtsmißbrauchs aus dem Schutzbereich. 130 Bei der Gegenthese 131 handelt es sich also um eine materiell „präformierte Freiheit" (Lübbe-Wolff 1988, 87 ff.). Man könnte auch die Kategorie der Eigen-Verantwortung in der Weise verstehen, daß daraus begründete Verhaltensanforderungen, die ja letztlich konfligierenden Verfassungsgütern Rechnung tragen, den Schutzbereich von vornherein einschränken. Eine derartige Schutzbereichdefinition löst aber wie sogleich anhand des Teilhabeansatzes zu verdeutlichen sein wird - die Wertungsprobleme nicht; zudem birgt sie die Gefahr, die unvermeidlichen Wertungen in Vorabfestlegungen zu verlagern und damit dem Begründungszwang der Abwägungsdogmatik zu entziehen. a) Teilhabe-Perspektive In jüngerer Zeit wurde die These von den wesensmäßigen Grundrechtsgrenzen unter dem Teilhabeaspekt wieder aufgegriffen. Diese Position versteht Grundrechtskonflikte als Teilhabe des einen Grundrechtsträgers an den Freiheitsrechten des anderen bzw. an Gütern der Allgemeinheit. So soll es etwa im Bereich umweltbelastender Tätigkeiten ein Freiheitsrecht auf Teilhabe an Gütern Dritter oder an Gütern der Allgemeinheit grundsätzlich nicht geben (Murswiek 1994, 81). 130

Unter Grundrechtsmißbrauch versteht Gallwas (1967, 35) die „Realisierung des freiheitlichen Gehalts einer Grundrechtsformulierung zu Lasten eines am Grundrechtsverhältnis Beteiligten (...), sofern das jeweils verletzte Interesse durch eine höherrangige Verfassungsnorm, durch eine vorverfassungsrechtliche Grundidee oder durch einen überpositiven Rechtsgedanken objektiv erkennbar geschützt ist". Wo freilich die Grenzen des Mißbrauchs liegen, ist damit noch nicht gesagt. 131 Bemerkenswert ist die Beobachtung, daß manche Vertreter des präkonstitutionellen klassisch-liberalen Freiheitsverständnisses gleichzeitig dafür eintreten, die grundrechtlichen Schutzbereiche im Sinne der Innentheorie a priori zu beschränken. Zu diesem - ihrem Grundansatz widersprechenden - Vorgehen sehen sie sich dadurch gezwungen, daß nach ihrem Verständnis „Eingriffe" in Freiheitsrechte einerseits als „grundrechtsabträglich" qualifiziert werden, andererseits aber gewisse hoheitliche Interventionen mit diesem Verdikt kaum zu belegen sind. Problematisch an diesem Ansatz ist, daß damit Wertungen vorgenommen werden, die sich nicht dem Begründungslasten der Grundrechtsdogmatik stellen müssen [siehe dazu Kapitel C, Abschnitt IV. 3 auf Seite 182 und Kapitel E, Abschnitt II. 2. a) bb)].

Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

90

Der Teilhabe-Ansatz versteht sich als Wiederherstellung bürgerlicher Rechtsordnung in dem Sinn, daß die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen kompatibel gemacht und so in einen Rechtszustand überführt wird. Nur wenn diese „Voraussetzungen der Freiheit" erfüllt sind, komme die „liberale" Freiheit zur Beliebigkeit zum tragen. Freiheitsbegrenzung sei denknotwendige Voraussetzung dafür, daß es rechtlich garantierte Freiheiten zwischen Privatleuten überhaupt gebe. Ein die Teilhabe begrenzende Freiheitsbeschränkung „trägt ihre Rechtfertigung in sich und ist keiner Relativierung durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zugänglich". 1 3 2 Wo Rechtsgüter gegen Eingriffe Dritter geschützt werden, könne „der Wesensgehalt der Freiheit überhaupt nicht berührt sein". 1 3 3 Eine ganz andere Frage ist aber, ob nicht doch der Schutzbereich der Freiheit berührt sein kann, mit der Folge, daß eben doch die freiheitssichernde Funktion des Gesetzesvorbehalts, aber auch des Verhältnismäßigkeitsprinzips zur Anwendung k o m m t . 1 3 4 Auch wenn man diese (zu bejahende) Frage zunächst einmal offen läßt, erweist sich die Teilhabe-Perspektive bereits deshalb als problematisch, weil Grundrechtsausübung - sieht man einmal von rein „innerlicher" Religionsausübung oder der Gedankenwelt des Forschers im Elfenbeinturm ab - ohne Auswirkung auf Dritte und Allgemeingüter kaum vorstellbar ist. Der Teilhabe-Ansatz sieht sich daher gezwungen, bestimmte Formen der Teilhabe als selbstverständliche und daher ungeschriebene Bestandteile der Freiheitsrechte anzunehmen und als originäre Teilhaberechte zu qualifizieren. Dazu sollen die Nutzung der Luft als Atemluft, die Verursachung unvermeidbarer Emissionen bei der Heizung von Wohnungen oder die Erzeugung unvermeidbarer entsorgungsbedürftiger Abfälle zählen. Dies sei „ein Minimum dessen, was der Mensch in einer freiheitlichen Gesellschaft an Umweltnutzungen unbedingt benötigt" (Murswiek 1994, 82). Nun läßt sich trefflich darüber streiten, wo die Grenze bei den damit umschriebenen Teilhaberechten zu ziehen sei 1 3 5 und ab welcher Schwelle von einem Eingriff zu sprechen sei. 1 3 6 Zu fragen ist im übrigen auch, wer jeweils in wessen 132

Murswiek 1994, 80 sowie ders. 1988, 986 f. und ders. 1992, Rn. 67. Vgl. dazu auch Huber/Tödt 1997. 133 Murswiek 1994, 80. Auch nach Gallwas (1967, 99 f.) läßt die Unterbindung von Mißbrauch durch staatliche Organe „die grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre im eigentlichen unberührt." 134 Eine dogmatische Konsequenz, die Murswiek (1994, 80) - anders als etwa die Mißbrauchslehre - ausdrücklich konzediert. Allerdings ist er der Auffassung, hier komme lediglich die - nicht gering zu achtende - formelle, nicht aber die materielle Sicherungsfunktion des Gesetzesvorbehalts zum tragen. Soweit nicht ausnahmsweise ein verfassungsrechtliches Teilhaberecht eingeräumt sei, fehle es an einer grundrechtlichen Schutzposition; jede Beschränkung von Tätigkeiten mit Teilhabecharakter sei von vorneherein zulässig, einer weiteren Rechtfertigung bedürfe es nicht, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit komme nicht zum tragen. Diese Ansicht ist jedoch aus sogleich zu erläuternden Gründen abzulehnen.

IV. Freiheits- und Staatsverständnis

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Rechtssphäre eingreift (Coase I 9 6 0 ) . 1 3 7 Das bereits angesprochene Wertungsproblem wird also nicht etwa gelöst, sondern taucht - wenn auch unter anderer Begrifflichkeit - erneut auf. Darüber hinaus ist aber auch zu klären, ob nicht über die damit umschriebenen unmittelbaren Folgen physischer Existenz des Menschen hinaus also auch jenseits des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG - bei anderen Freiheitsrechten ähnliche Annahmen zu treffen sind. Damit verbunden ist die Frage, wer jeweils diese Grenzziehung vorzunehmen hat. Weiter bleibt zu fragen, welcher Gewinn mit einer derartigen grundrechtstheoretischen Sichtweise verbunden ist, wenn eingeräumt wird, das Ergebnis weiche gar nicht so weit von der herrschenden Meinung ab, wie es auf den ersten Blick scheine. 138 Schließlich bleibt ein weiteres Problem ungelöst: Bei der Bewältigung der gesellschaftlichen Aufgaben geht es in weiten Bereichen nicht mehr darum, der individuellen Freiheit Grenzen zu setzen, sie in ihre Schranken zu verweisen; vielmehr ist das Gemeinweisen auf die aktive Mitwirkung der Grundrechtsträger angewiesen, wenn die vielfältigen sozialen und ökologischen Herausforderungen sowie die daraus resultierenden ökonomischen Implikationen gemeistert werden sollen. Dabei ist es zwar eine zutreffende und in vielen Zusammenhängen oftmals verdrängte Erkenntnis, daß Freiheit ohne Teilhabe an den Rechtssphären Dritter und der Allgemeinheit nicht zu denken sei; es bleibt daher zweifellos das Verdienst der Teilhabe-Perspektive auf die Tatsache wechselseitiger Durchdringung der Freiheitssphären aufmerksam gemacht zu haben. 139 Ob sich aber eine trennscharfe Abrenzung von - zudem ungeschriebenen - verfassungsrechtlichen Teilhabeansprüchen entwickeln läßt, erscheint mehr als fraglich. In der praktischen Anwendung dürften daher die dogmatischen Komplikationen insgesamt den Nutzen dieses Ansatzes überwiegen. 135

Die Bestimmung des jeweils „Unvermeidlichen" dürfte starken subjektiven Schwankungen unterliegen. Ahnlich schwer dürfte die Definition „mißbräuchlichen" Freiheitsgebrauches fallen. 136 Vgl. dazu und zur weiteren Kritik dieses Ansatzes Winter 1997, 81-86. 137 Eine Frage, die durch den neminem laedere-Satz nur scheinbar beantwortet ist, siehe dazu W. Lübbe 1999, 25 f. und bei Fn. 160 sowie in Kapitel F, Abschnitt II bei Fn. 21. 138 Murswiek 1994, 84; der zutreffend ergänzt, die Defizite in der einfachgesetzlichen Ausgestaltung lägen weniger im Verfassungsrecht, sondern vor allem in wirtschaftspolitischen Motiven begründet. 139 Vgl. auch Suhr 1984; zuvor bereits: ders., Entfaltung des Menschen durch die Menschen, 1976; Die Freiheit vom staatlichen Eingriff als Freiheit zum privaten Eingriff JZ 1980, 166 (168) und ders., VVDStRL 41 (1983), 135. Suhr hat eindringlich auf die wechselseitige „Instrumentalisierung" des Menschen durch den Menschen hingewiesen.

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts b) Kritik

des „Eingriffsdenkens"

Ein weiterer Strang der Kritik am klassisch-liberalen Freiheitsverständnis richtet sich gegen das darauf gestützte „Eingriffs- und Schrankendenken" (Häberle 1983, 163). Grundrechtsbegrenzende und -ausgestaltende Gesetzgebung sei kein - mit dem Odium des grundrechtsabträglichen behafteter „Eingriff 4 , sondern notwendige Bedingung für den Gebrauch grundrechtlicher Freiheit. Diese vorwiegend auf der terminologischen Ebene angesiedelten Überlegungen beeinflussen allerdings die Struktur der Eingriffsdogmatik nicht, da sich die dogmatische Figur der zunächst einmal rein formalen Eingriffsprüfung auch mit Häberles Freiheitsverständnis vereinbaren läßt (Lübbe-Wolff 1988, 65). Der zutreffende Kern dieser Kritik liegt vielmehr auf einer anderen Ebene. Nicht die Eingriffsdogmatik als solche ist zu kritisieren, 140 sondern zwei damit (grund-) rechtstheoretisch eng verknüpfte Vorstellungen: Ein Freiheitsbild, welches von der urwüchsigen, selbstherrlichen Autonomie des Individuums ausgeht und damit zugleich jede Regelung als grundrechtsabträglich ansieht, die aus einer einseitigen Perspektive heraus möglichst in ihre regeiförmigen Schranken zu verweisen ist. Beide Vorstellungen sind im juristischen Denken tief verwurzelt, was nicht zuletzt in den Schwerpunkten der Juristenausbildung deutlich w i r d . 1 4 1 Sie verfehlen indes die Wirklichkeit des Menschen als geselligem Wesen (Suhr 1984) und dementsprechend auch die Steuerungsaufgabe des Rechts. 142 Sie ignorieren, daß der Mensch seine Freiheit überwiegend mit und durch andere Grundrechtsträger verwirklicht. Bereits im 19. Jahrhundert, spätestens aber im 20. Jahrhundert ließ sich nicht mehr übersehen, daß die „freie Person des liberalen Verständnisses nicht das isolierte Wesen in individualistischer Abgeschiedenheit und unstörbarer Ruhe sein kann, das nur geringste Sozial- und Staatsbezüge braucht und sonst auf sich und in sich selber steht 140

Schlink (1984, 467) weist zutreffend darauf hin, das Eingriffs- und Schrankendenken sei als rechtstechnisch-konstruktives Denken auf derartige Verkürzungen nicht fixiert. Dies ändert aber nichts daran, daß es über lange Zeit in der genannten Funktion wirksam war und es daher darauf ankommt, diese ideologischen Aufladungen zu identifizieren. Zugleich ist die Eingriffsdogmatik so anzulegen, daß sie in der Lage ist, die erweiterten Grundrechtsintentionen und -funktionen zu bewältigen (dazu Schlink 1976 und Lübbe-Wolff 1988; abw. Jarass 1985, 397). Siehe dazu auch Kapitel E. 141 Dies zeigt sich etwa in dem bekannten „Eingriffs"-Schema der Grundrechtsprüfung, welches den Studenten, oft als einziges, intensiv bekanntgemacht und eingeübt wird (Lübbe-Wolff 1988, 14). Daraus kann sich ein bestimmter Argumentations- und Denkstil ergeben, der die Arbeitsweise der Juristen auch dort prägt, wo dieses Grundmuster nicht mehr angemessen ist (siehe dazu bei Fn. 174). 142 Preuß 1979, 31 und passim. Nach Morlok (1993, 382) ist die darin zum Ausdruck kommende Konzeption „psychologisch uninformiert, soziologisch naiv und stellt sich ökonomisch dumm". Zu dem damit umschriebenen reduktionistischen Freiheitsverständnis siehe Kapitel E, Abschnitt II. 2. a).

IV. Freiheits- und Staatsverständnis

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und darin Vollendung finden könnte"; vielmehr wird im Zuge „der zunehmenden Verwirklichungschancen der Freiheit offenbar, daß die Gesellschafts- und Gemeinschaftsbezogenheit der Person mitgeht, und zwar nicht als lästige Notwendigkeit, sondern als mit-erfüllende Komponente" (Eichenberger 1980, 167 f.). Die Vorstellung klar abgegrenzter, voneinander unabhängiger Grundrechtssphären 143 als gedanklicher Ausgangspunkt des Grundrechtsverständnisses wird dieser Wirklichkeit nicht gerecht. 144 Vielmehr spricht einiges dafür, von einer Ingerenz der grundrechtlichen Schutzbereiche auszugehen. 145 Der „ E i n g r i f f verliert dann seinen der Freiheit grundsätzlich abträglichen Charakter und es wird deutlich, daß er in der Regel zugleich andere Freiheitsrechte zur Geltung bringt. 1 4 6 W i l l man die damit umschriebene Konfliktlage dogmatisch bewältigen, bedarf es eines anspruchsvolleren methodischen Konzeptes, welches über die einseitige Anwendung des Übermaßverbotes hinausgeht. c) Ergebnis Soll das Ziel grundrechtlicher Freiheit darin bestehen, die realen Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums zu sichern, dann ist der jeweilige Handlungskontext mit den dort bestehenden Interaktionsstrukturen und den sich daraus ergebenden Motivationsimpulsen zu berücksichtigen. Ein in diesem Sinne veränderter Ausgangspunkt öffnet den Blick dafür, daß die Hauptaufgabe des Gesetzes nicht darin besteht, den status negativus möglichst trennscharf von der hoheitlichen Intervention abzugrenzen, sondern darin, den gemeinsamen Gebrauch der Freiheit abzustimmen. Der Versuch, diese Aufgabe allein mit strikten Rechtsregeln zu bewältigen, ist angesichts der Vielfalt der möglichen Betätigungsformen der Freiheit zum Scheitern verurteilt. Das „Hobbes'sche Programm", also die Vorstellung, daß das not143

Lerche ist begrifflich noch dieser Vorstellung verhaftet (1961, 152 und passim); er spricht von „Rechtsbezirken", also klar abgrenzten Rechtssphären, die zu „beschneiden" seien. Trotz dieses begrifflichen Ausgangspunktes entwickelt Lerche ein Abwägungsmodell welches sich als wechselbezügliche Verhältnismäßigkeitsprüfung reformulieren läßt [siehe Kapitel C, Abschnitt IV. 1. c)]. 144 Damit ist nicht gesagt, daß es dieses Phänomen überhaupt nicht gibt. Aber die weit überwiegende Zahl der Rechtsfragen stellen sich in Konstellationen, in denen nicht a priori von einer individualistischen Trennung auszugehen ist. So betont auch Schlink (1984, 467): „Natürlich lebt Freiheit nur in gesellschaftlichen Zusammenhängen und dank staatlicher Vorkehrungen." 145 Siehe dazu Abschnitt IV. 4 sowie Kapitel C, Abschnitt IV. 3. 146 Lerche ist daher zuzustimmen, wenn er betont, schon deshalb sei „die einlinige, wiewohl populäre Betrachtung mancher Grundrechtsvorbehalte als Hypotheken, die den rechtsstaatlichen Gedanken mindern, verkehrt" (1992a, Rn. 47). Lerche fügt hinzu (a.a.O., Rn. 137), auffällig sei „zudem die zwiespältige Gewichtung verschiedener Vorbehalte, in der sich Vorurteile verfroren oder unverfroren äußern."

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

wendige Mindestmaß kollektiver Rationalität allein durch Rechtsregeln und Sanktionen sichergestellt werden könne, stellt sich als „sicherlich abweg i g " 1 4 7 dar. Auch trifft die Annahme, es gehe darum, den Leviathan mittels klarer Rechtsregeln in seine Schranken zu verweisen und auf diese Weise die Freiheit zu befördern, für diese Konstellationen nicht zu. Die Schwächen regeiförmiger Steuerung wirken hier nicht allein zu Lasten des Staates; die Begrenzung der staatlichen Handlungsformen läßt sich infolgedessen nicht mit dem Satz „in dubio pro liberiate" 1 4 8 begründen. Die unter Zugrundelegung des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips plausible Aussage, strikte Grenzziehungen seien aus Gründen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit vorzugswürdig, verliert dann an Überzeugungskraft. Entfällt die Annahme, die Freiheit der Person verwirkliche sich in individualistischer Abgeschiedenheit, erscheinen die Vorteile strikter Rechtsregeln auch aus der Perspektive der Freiheit weniger leuchtend. Dagegen gewinnen „offene" Rechtsvorschriften, die der situationsspezifischen Ausfüllung bedürfen, an Gewicht. Die regeiförmige Steuerung ist damit keineswegs überflüssig und bleibt auch aus Gründen der Rechtssicherheit grundsätzlich wünschenswert. Sie reicht jedoch für den erforderlichen Steuerungserfolg nicht aus und bedarf daher der Ergänzung durch unvollkommene Pflichten.

3. Erweitertes Freiheitsverständnis Die Freiheit im Schweigen des Gesetzgebers zur Geltung zu bringen, ist das Grundanliegen der klassisch-liberalen, bürgerlich-rechtsstaatlichen Grundrechtstheorie. Man kann das „liberale" Programm aber auch von der Freiheit selbst her betrachten. Sein Ziel wäre es dann, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Freiheit real Wirksamkeit entfalten kann. Die Stoßrichtung wäre dann nicht mehr a priori negatorisch gegen den Staat gerichtet; vielmehr wäre positives Ziel dieses Ansatzes die Stärkung der Freiheit. Wer sich in letztgenannten Sinne als „Liberaler" versteht, muß sich darauf einlassen, nach den realen Verwirklichungsbedingungen der Freiheit zu fragen. Aus dieser Perspektive verbietet es sich, die „Abwehrfunktion" der Grundrechte ohne weiteres mit der „Freiheitsfunktion" gleichzusetzen. 149 Vielmehr sind aus einer „positiven" Freiheitsperspektive 147

So auch das Ergebnis der steuerungstheoretischen Analyse von Nida-Rümelin 1993 a, 22. 148 Dezidiert ablehnend: Stern 1984, 133; Starck 1985, Art. 1 Rn. 174; Sachs 1994, 620. Differenzierend Denninger 1962, 328; siehe dazu unten Kapitel E, bei Fn. 33. 149 So aber Jarass 1995, 347 und in der Zusammenfassung auf S. 381; zutreffend dagegen die an anderer Stelle vorgenommene Begriffsbildung, wo statt der Grundrechtsart der „Freiheits(grund)rechte", der Begriff der „Abwehrgrundrechte" eingeführt wird (a.a.O., 354 u. 356 in Fn. 52).

IV. Freiheits- und Staatsverständnis

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noch andere, über die bloße Abwehr hinausgehende Grundrechtsfunktionen - sprachlich vielleicht korrekter: Grundrechts Intentionen - mit zu bedenken.150 Die Auffassung, die Freiheit bestehe nach dem Substraktionsmodell darin, vom „gesetzwidrigen Zwang" verschont zu werden, stößt bereits dann an ihre Grenzen, wenn anerkannt wird, daß sich aus den Grundrechten nicht nur formelle, sondern auch materielle Anforderungen an den Gesetzgeber richten.151 Sobald man sich darauf einläßt, die Frage nach der materiellen Rechtfertigung einfachgesetzlicher Ausgestaltung auch nur zuzulassen, 1 5 2 bedeutet dies unweigerlich, daß man sich nicht mehr auf eine formale Betrachtung (Bestehen und Nicht-Bestehen einer gesetzlichen Grundlage) beschränken kann; vielmehr ist man gezwungen, präziser zu definieren, welche Formen des Freiheitsgebrauches grundrechtlichen Schutz genießen sollen, und zu fragen, wie dieser gegenüber konkurrierenden Verfassungsgütern zu gewichten und mit ihnen in Einklang zu bringen ist. Damit ist dann zugleich die relative Klarheit und Formalität des klassisch-liberalen Freiheitsverständnis unwiederbringlich verloren. 153 „Absolute" Grundrechte im Sinne von Jellinek 1 5 4 kann es dann nicht mehr geben. Vielmehr ist anzuerkennen, daß es die Rechtsordnung ist, die Umfang der Freiheitsgewährleistung definiert und die die Gewichte in der je konkreten Situation zuweist. Dementsprechend ist in der gesamten Rechtsordnung keine rechtlich geschützte Position anzuerkennen, die nicht aufgrund einer Rechtsgüterabwägung Beschränkungen unterworfen werden könnte. 1 5 5 Fehlt es an absolut geschützten, als vorstaatlich gedachten Freiheitsräumen, verschiebt sich auch die Perspektive der Grundrechtsgewährleistung in Richtung auf

150 wie sie Jarass auf der Grundlage der sog. Wertentscheidungen bzw. objektivrechtlichen Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch entwickelt (1995, 348 ff.). 151 In der Zeit, in der Jellinek seine Vorstellungen entwickelte, bestand eine derartige materielle Bindung und ein entsprechendes Kontrollorgan nicht. Beides war aus der Sicht der bürgerlichen Gesellschaft auch nicht erforderlich, weil sie ihre Interessen über die von ihr beherrschten Organe der Gesetzgebung zur Geltung bringen konnte (Lübbe-Wolff 1988, 36 f.). 152 Art. 1 Abs. 3 GG und die Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 93 schließen es aus, dieser Frage auszuweichen. Die Entwicklung hat allerdings bereits unter dem Reichsgericht begonnen. Nach der Demokratisierung der Gesetzgebung durch die Weimarer Reichsverfassung, sprach sich das Reichsgericht eine Prüfungskompetenz gegenüber Reichsgesetzen zu, s. RG vom 4.11.1925, RGZ 111, 320/323 (dazu Lübbe-Wolff 1988, 36 m.w.N. in Fn. 81, auch zu der bemerkenswerten Zurückhaltung des Gerichts in der Zeit nach 1933). 153 Lübbe-Wolff 1988, 292 ff.; Alexy 1985, 480 ff. 154 Jellinek 1905, 105 (siehe das Zitat auf Seite 85). 155 BVerfGE 28, 243/261 - Dienstvergehen; E 30, 173/193 - Mephisto; E 49, 24/56 - Kontaktsperre; siehe dazu auch Denninger 1985, 283 f.

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

die realen Entfaltungsmöglichkeiten grundrechtlicher Freiheit. Dementsprechend ist nach Wegen zu suchen, diese Veränderungen dogmatisch zu bewältigen und in das Freiheits- und Staatsverständnis zu integrieren. Sich dieser Erkenntnis zu öffnen, scheint allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden zu sein. Dies mag damit zusammenhängen, daß dann deutlich wird, daß das rechtlich entscheidende an den Grundrechten „paradoxerweise nicht die Garantie der Freiheit, sondern die Regelung von Einschränkungsmöglichkeiten" ist (Hofmann 1987, 204). Diese Vorstellung kollidiert aber mit der Vorstellung „absoluter" Grundrechte. Dieses im Bild des (Grund-) Eigentümers 156 anschaulich übermittelte „my home is my castle"-Denken 157 besitzt jedoch offenbar eine starke sozial-psychologische Prägekraft. Der darin zum Ausdruck kommende Schutz- und Abwehrgedanke hat sachlich auch durchaus seine Berechtigung; er verstellt jedoch einen unbefangenen Blick auf die dogmatischen Argumentationsmuster, die zur Bewältigung komplexerer Konfliktlagen notwendig sind. Dies läßt sich auch an der „Grundnorm" des Eigentums in § 903 BGB zeigen. Diese spricht nämlich von Anfang an die Begrenzungen der Eigentümerbefugnisse klar aus; diese bestehen nämlich nur insoweit als nicht „das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen". 158 Diese Formulierung ist nach dem Text der Vorschrift integraler Bestandteil der Definition der Eigentümerbefugnisse und nicht eine nachträglich hinzutretende Begrenzung „eigentlich" zustehender Rechte (Wieland 1996, Art. 14 Rn. 37). Sie wird aber offenbar als lapidare Selbstverständlichkeit überlesen und entfaltet nicht die gleiche prägende Wirkung wie die positive Beschreibung der Eigentümerbefugnisse. Dazu dürfte der Umstand beitragen, daß sich daraus der Umfang des eingeräumten Rechts nicht bestimmen läßt: 1 5 9 Die Frage, wie weit die Rechte Dritter (etwa benachbarter Grundstücksbesitzer) reichen, läßt sich abstrakt nicht beantworten, da deren Rechte ihrerseits in gleicher Weise be156 Wieland (1996, Art. 14 Rn. 31) geht davon aus, das „Grundeigentum im Sinne des bürgerlichen Rechts" habe eine Leitbildfunktion für die Interpretation des Art. 14 GG. 157 Es wird nicht verkannt, daß diese Sichtweise in historischer Perspektive oftmals nur allzu berechtigt war und auch in der Gegenwart keineswegs obsolet geworden ist; bestritten werden soll lediglich, daß darin zugleich der Schlüssel für das Freiheitsverständnis zu sehen ist. 158 Die Vorschrift des § 903 BGB ist in ihrem Satz 1 seit der Verabschiedung des BGB unverändert. Das „Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im bürgerlichen Recht" fügte die Tierschutzklausel in Satz 2 hinzu (BGBl. I 1996, 1762). 159 Dementsprechend läßt sich aus der Analogie zum dinglichen Recht eine hinreichende Erklärung dessen, was unter Freiheit zu verstehen sei, nicht gewinnen. Es handelt sich vielmehr um eine bloße Metapher (Grabitz 1976, 10); eine Metapher freilich, die trotz ihrer zweifelhaften Grundlage eine kaum zu überschätzende Wirkung ausübte (siehe dazu Grabitz 1976 10 ff. sowie Rupp 1987, jeweils m. w.N.).

IV. Freiheits- und Staatsverständnis

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grenzt sind. Das Recht steht vor einem Wertungsproblem, welches mit dem Blick auf nur eine Seite nicht zu lösen ist; ein Befund, der in gleicher Weise für die praktische Anwendung des neminem laedere-Grundsatzes gilt. Die Aussage, niemand solle den anderen schädigen, erscheint auf den ersten Blick plausibel. Dem gegenüber ist aber auch zu verweisen auf den Satz „neminem laedit, qui suo iure utitur". 1 6 0 Die Frage, ab wann und auf welcher Seite des Konfliktes jeweils von einem „Schaden" zu sprechen ist (bzw., wie weit das „Recht" im konkreten Fall reicht), läßt sich ohne Wertung nicht beantworten. Dabei ist nicht nur die eine, sondern auch die andere Seite zu betrachten. Es bedarf also einer relativierenden Betrachtung, die in der Lage ist, beiden Seiten gerecht zu werden. Ein derartiges Verständnis personaler Freiheit überschreitet die Vereinfachungen eines Individualismus, der abgesondert oder höchstens eine streng begrenzte Sozialschicht beachtet. „Es kommt zur differenzierten, nuancenreichen und - wenn man das Wort hier wagen will - dialektischen Ausformung der Idee des liberalen Gutes" (Eichenberger 1980, 168). Damit wird zugleich ein umfassenderer Ansatz liberaler Emanzipation 161 erreicht, der notwendigerweise zu einem erweiterten Grundrechtsverständnis führt: Das Wesen der Freiheit (und dementsprechend die Aufgabe des Rechts) ist nur zu verstehen, wenn man die engen Zusammenhänge der Wechselwirkungen und gegenseitigen Bedingtheiten berücksichtigt. 162

160

„Wer von seinem Recht Gebrauch macht, verletzt niemand" (Liebs 1982, 128 sowie Heilfron 1908, 334; dort auch in der Form: „qui suo iure utitur, nemini facit iniuriam). Heilfron führt als Beispiel an, man könne auf seinem Grundstück einen Brunnen auch dann anlegen, wenn dadurch dem Brunnen eines Nachbars das Wasser entzogen und der Betrieb seiner Brauerei gestört werde. Einer „allzu egoistischen Ausübung des eigenen Rechts" sei allerdings durch das objektive Recht auch Schranken gezogen, etwa zugunsten des Gemeinwesens, der Nachbarn oder bei Servituten. Zum neminem laedere-Satz siehe auch Kapitel F, Abschnitt II bei Fn. 21. 161 Eichenberger (1980, 169) weist zutreffend darauf hin, die Meinung, jede beliebige Los-Lösung wirke am Teppich der Freiheit und bedeute sicheren Gewinn, sei zumindest voreilig. Dies gelte um so mehr als das Ziel der Emanzipationen in der Praxis nur partiell in Mündigkeit und Freiheit an sich zu sehen sei, häufig jedoch eudämistische oder hedonistische Stationärzustände von unterschiedlichen Lebensvorstellungen zugrunde liegen. 162 Joseph Raz entwickelt in „Morality of Freedom" eine „pluralistisch" fundierte liberale Theorie, die er den „individualistischen", aus einer Einseitigkeitsperspektive heraus entwickelten Ansätzen entgegenstellt, wie er sie u.a. bei Dworkin (1984) meint beobachten zu können (Gil 1998, 118). Freiheit ist für Raz (1986, 19) „a destinct value, but one which is intemately intertwined with others, and cannot exist by itself. 7 Führ

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts a) Erweiterung

der Grundrechtsfunktionen

Grundrechte sind in ihrer Abwehrfunktion einerseits verfassungsrechtlich gewollte Steuerungsdefizite, zugleich ergeben sich aus ihnen aber auch materielle Steuerungsziele. Diese positive Seite taucht in der verfassungsrechtlichen Debatte unter verschiedenen Bezeichnungen auf. Zunächst war von der „objektiven Wertordnung", später auch von „wertentscheidenden Grundsatznormen" die Rede. 1 6 3 Die in der Sache wenig überzeugende 164 und zu Mißverständnissen einladende Begriffswahl läßt sich historisch erklären als bewußt gesetztes Zeichen gegen Schwächen des lediglich formalen Verfassungsverständnisses 165 in der Weimarer Republik (H. Dreier 1993, 22). In der jüngeren Rechtsprechung verzichtet das Gericht auf den Begriff der Wertordnung 166 und bedient sich weniger „aufgeladener" Bezeichnungen. 167 An der Aufgabe, Erweiterungen der Grundrechtsfunktion zu stützen, hat sich allerdings nichts geändert. Die Mehrfachfunktion der Grundrechte ist mittlerweile im Grundsatz allgemein anerkannt. Umstritten ist allerdings, wie die unterschiedlichen Funktionen dogmatisch zu bewältigen sind und welche Konsequenzen sich daraus für die Rechtsanwendung ergeben. 168 Unabhängig von der Kontroverse um die dogmatische Umsetzung bleibt an dieser Stelle festzuhalten, daß sich aus den in der Sache nicht strittigen Erweiterungen der Grundrechtsfunktionen zugleich Schnittmengen zwischen Grundrechtsdogmatik und Staatsaufgabenlehre ergeben (Hufen 1990, 276): Wesentliches Steuerungsziel des Staates ist es, Bedingungen zu schaffen, unter denen Grundrechte real - und nicht lediglich formal - Wirksamkeit entfalten können. Die als Prinzipien-Normen zu verstehenden Grundrechte enthalten zugleich Sollenszustände, an denen sich die Regulierungsinstanzen zu orientieren haben. Daraus ergibt sich ein erweiterter grundrechtstheoretischer Rahmen, der das herkömmliche normative Gehäuse (Schuppert 1989, 92) überschrei163 Siehe etwa BVerfGE 7, 198/204 f. und BVerfGE 35, 79/112. Zum ganzen vgl. Jarass 1985; Denninger 1989, vor Art. 1 Rn. 29 ff. sowie Dreier 1993, jeweils m. w.N. 164 Kritisch dazu u.a. Denninger 1975 und Goerlich 1973. 165 Dieses läßt sich als „gesetzespositivistischer Rechtsformalismus" (Denninger 1989, vor Art. 1 Rn. 6) bezeichnen. 166 Die Mitbestimmungsentscheidung, für die Konrad Hesse Berichterstatter war, lehnt ein „Gefüge objektiver Normen" sogar ausdrücklich ab und stützt sich stattdessen auf die jeweils betroffenen „Einzelgrundrechte" (BVerfGE 50, 290/336338). 167 BVerfGE 20, 162/175 - Spiegel („objektiv-rechtliche Seite"); 74, 297/323 Landesmediengesetz Baden-Württemberg („objektivrechtliche Elemente"); weitere Nachweise bei Stern 1988, 901. 168 Dreier 1996, Vorb. Rn. 57 ff.; Böckenförde 1989, 41 ff.; Stern 1988, 921 ff.

IV. Freiheits- und Staatsverständnis

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tet. Diese Öffnung ist Voraussetzung einer sinnvollen Verbindung von Steuerungsthema und Grundrechtstheorie. Aus dieser Verbindung ergibt sich, dies ist einzuräumen, die Gefahr einer „kurzschlüssigen „Synthese" von Rechtsstaat und Demokratie" durch eine richterlich verwaltete WertOrdnung (Denninger 1989, vor Art. 1 Rn. 30). Der Gewinn, der in der Integration der realen Voraussetzungen des Freiheitsgebrauchs und damit der „gesellschaftlichen Prämissen und Folgen der Rechtsnormen" (Denninger/ Ridder/Simon/Stein 1989, V) liegt, wiegt diese Gefahr jedenfalls dann auf, wenn es gelingt, den Gestaltungsspielraum des demokratischen Gesetzgebers in der verfassungsgerichtlichen Praxis zu wahren, ihn aber zugleich gemäß der Intention des klassisch-liberalen Ansatzes rational zu begrenzen. Die Erweiterung der Grundrechtsfunktionen erweist sich bei näherer Betrachtung zudem als weniger neuartig als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Sie kann sich auf historische Traditionslinien berufen. Es ist keineswegs so, daß den Grundrechten seit jeher lediglich eine negatorische Funktion zukam. Zu Beginn erfüllten die Grundrechte durchaus eine positive, gestaltende Funktion; ging es doch aus bürgerlicher Perspektive darum, feudale Vorrechte abzubauen. Grundrechte waren daher eher anti-feudal als anti-staatlich ausgerichtet. Erst als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese Umgestaltung aus bürgerlicher Perspektive weitgehend vollzogen war, trat die Abwehrperspektive in den Vordergrund. 169 Die historische Betrachtung zeigt, daß Grundrechtsverbürgungen nicht Ausdruck abstrakt-rationaler Systembildungen sind, sondern in der jeweiligen konkreten historischen Situation „normative Antworten auf jeweils als unerträglich empfundene Freiheitsgefährdungen und -beschneidungen". 170 Für das Recht ergibt sich daraus die Konsequenz, umfassend die institutionellen Bedingungen, unter denen sich Freiheit verwirklicht, in den Blick zu nehmen und nach dem jeweils spezifischen Beitrag des Rechts an der Ausformung und Entwicklung des institutionellen Rahmens zu fragen. b) Optimierung personaler Freiheit Darüber hinaus läßt sich die Frage stellen, ob dem „negativen" Freiheitsverständnis ein „positives" gegenüberzustellen ist. Letzteres sieht sich aber - selbst wenn man anerkennt, daß damit ein umfassenderes Freiheitsverständis bereit steht, welches in der Lage ist, die „Funktionsergänzungen" der Grundrechte aufzunehmen - vor eine Reihe von Schwierigkeiten im 169

Scheuner 1965, Grimm 1987, 195 ff./202 ff., Lübbe-Wolff 1988, 35 ff. Denninger 1989, vor Art. 1 Rn. 1 unter Verweis auf Scheuner 1965, 42 ff. und 94 ff. Diese Beobachtung weist den Grundrechtsverbürgungen eine „responsive" Funktion (zu diesem Verständnis des Rechts siehe Kapitel A, Abschnitt II. 3). 170

7*

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

Hinblick auf die dogmatisch-praktische Handhabbarkeit gestellt. Vor allem ist die Frage zu entscheiden, welche der vielfältigen „positiven" Voraussetzungen der Freiheitsverwirklichung auch Gegenstand grundrechtlicher Gewährleistungsfunktionen sein sollen. Denn es liegt auf der Hand, daß nicht sämtliche tatsächlichen Ausübungshindernisse Gegenstand einer grundrechtlichen Abhilfeintention sein können. Das positive Grundrechtsverständnis muß daher entweder seinen umfassenden Anspruch wieder zurücknehmen und hierfür Kriterien entwickeln oder es muß eben doch punktuelle und abgrenzbare Erweiterungen des negatorischen Verständnisses vornehmen. Für letzteres spricht, daß die negatorische Funktion auch bei einem positiven Freiheitsverständnis weiterhin zentrale Aufgabe der Grundrechte bleiben wird. Zudem läßt sich hier an bestehende dogmatische Figuren anknüpfen, was die Brüche verringert, die unweigerlich mit einem dogmatischen Paradigmenwechsel verbunden sind. Dies alles spricht für eine schrittweise, inkrementale 171 Fortentwicklung in konkreten Anwendungsbereichen. Im folgenden ist demnach nicht ein „positiver" Freiheitsbegriff zugrundezulegen, sondern ein ergänzter und erweiterter negativer Begriff, mit dem Ziel, im Rahmen der Ergänzungen zu einer „Optimierung personaler Freiheit" beizu172 tragen. c) Reduktionistische

Dogmatik und Denkstil

W i l l man diese Herausforderung annehmen, muß man sich der methodischen Engführungen im klaren sein, die auch dem modifizierten negatorischen Freiheitsgegriff noch eigen sind: Das klassisch-liberale Freiheitsverständnis deckt nur einen Teil der gesellschaftlich und rechtlich relevanten Freiheit ab. Man kann ihn daher als „reduktionistischen" Ansatz bezeichnen. Dies spricht allerdings noch nicht gegen seine Brauchbarkeit für eine rechtliche Systembildung. Reduktionismus kann hilfreich sein, um die Probleme mit einfachen dogmatischen Figuren zu bewältigen. 173 Zwei Voraussetzungen sind allerdings zu beachten. Zum einen müssen sich die Anwender der methodischen Grenzen ihrer dogmatischen Figuren bewußt sein. Und zum anderen sind in einer Art „Kosten/Nutzen-Betrachtung" die Vorteile der Vereinfachung den daraus resultierenden Nachteilen gegenüberzustellen. 171

Im Sinne von Kuhn [1962] 1967, 44 ff. Darin liegt durchaus ein Wechsel in der Betrachtungsperspektive, der die Grundrechte, dies hat Forsthoff zutreffend gesehen, „in eine andere logische Dimension" (Forsthoff [1959] 1976, 131) setzt. Diese Dimension ist aber notwendig, wenn die Verfassung ihre Funktion erfüllen soll, die Herausforderungen staatlicher Steuerungsaufgaben angemessen zu beschreiben und einer rationalen Entscheidung zugänglich zu machen (Denninger 1985, 295). 173 Morlok 1993, 379. Zum Umgang mit reduktionistischen Theorieansätzen siehe auch Kapitel D, Abschnitt III. 3. a). 172

IV. Freiheits- und Staatsverständnis

101

So ist im vorliegenden Zusammenhang etwa zu fragen, wie sich der vereinfachende Ausgangspunkt des negatorischen Ansatzes mit den „dogmatischen Anbauten" im Rahmen der erweiterten Grundrechtsfunktionen in Einklang bringen läßt. Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob Argumentationsfiguren, die im Rahmen des negatorischen Ansatzes angemessen waren, sich für die „Anbauten" als tragfähig erweisen. Wer es etwa von Beginn seiner beruflichen Ausbildung an gewöhnt ist, in eindimensionalen Eingriffsschemata zu denken und dort nach strikten Rechtsregeln zu suchen, hat damit möglicherweise einen „Denkstil" 1 7 4 verinnerlicht, der sein Herangehen auch in Bereichen prägt, die von anderen Grundstrukturen gekennzeichnet sind. Wer dies nicht berücksichtigt, läuft Gefahr, die Schwächen des reduktionistischen Ansatzes (unbewußt) auch in den Erweiterungen fortzuführen. Dementsprechend ist die Einseitigkeitsperspektive des Eingriffsschemas durch ein Herangehen zu ergänzen, welches ausdrücklich Gegenseitigkeitsstrukturen aufnimmt.

4. Überlagerung der Freiheitssphären Ein im soeben entwickelten Sinne verändertes Freiheitsverständnis bleibt für die Anwendung der Grundrechtsdogmatik nicht ohne Folgen. Bei einem Freiheitsgebrauch, der im Bereich der Überlagerung mit den Grundrechtssphären anderer erfolgt, treffen zwei grundsätzlich gleichwertige Positionen aufeinander. Die Vorrangregel des „rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips" kann hier keine Gültigkeit beanspruchen. Damit läßt sich aber auch der Ansatz, wonach die Art und Weise der Ausübung der Freiheit a priori nicht rechtfertigungsbedürftig sei 1 7 5 nicht mehr halten. Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, über eine vermittelnde Lösung nachzudenken, die versucht, die theoretischen Ansätze der Teilhabe-Perspektive und des positiven Freiheitsverständnisses aufzugreifen und in schonenderer Form in das überkommene dogmatische Gebäude zu integrieren. Statt eine strikte Trennung von negativer und positiver Freiheit, von grundrechtlich garantierter zu „ungedeckter", intervenierender Teilhabe anzunehmen, ließe sich die beschriebene Konstellation auch in der Weise auffangen, daß mit zunehmender Intensität der „Teilhabe" die Freiheit in der 174

Der Begriff „Denkstil" bezieht sich auf Ludwig Fleck (1983, 130). Siehe dazu Kapitel D, Abschnitt II. 4. 175 So aber Isensee 1992a, Rn. 47. Diese Aussage träfe vielmehr nur dann zu, wenn man einen präformierten, also die Schranken und Pflichtigkeiten bereits vorwegnehmenden Schutzbereich annehmen würde; eine Position, die zu einer erheblichen Einschränkung der formellen Schutzwirkung des Gesetzesvorbehaltes führen würde und aus diesem Grunde abzulehnen ist [siehe Alexy 1985, 278 ff., LübbeWolff 1988, 97 ff. sowie Kapitel C, Abschnitt IV. 3. b)].

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Β. Eigen-Verantwortung als Kategorie des Rechts

Weise „belastet" wird, daß insoweit auch die Belange der anderen „Teilnehmer" in die Freiheitsausübung zu integrieren sind. Nach dieser vermittelnden These bleibt grundrechtliche Freiheit vom Ansatz her unbegrenzt: Das Freiheitsrecht (d.h. der Schutzbereich der Grundrechte) umfaßt grundsätzlich auch die Einwirkung auf die Rechtssphären Dritter. 1 7 6 An die Stelle einer grundrechtstheoretischen Abgrenzung und Gegenüberstellung tritt eine Herangehensweise, die von der gegenseitigen Überschneidung und Überlagerung der Freiheitssphären ausgeht. Statt einer Präformation des Schutzbereichs wird eine Ingerenz der Freiheit mehrerer angenommen. Damit ist einerseits ein Gewinn an Freiheitsraum und Potential der Freiheitsverwirklichung, andererseits die Forderung verbunden, im Bereich der Ingerenz, also in der „sozialen Freiheitssphäre" auch die Belange der anderen zu „berücksichtigen" 177 . Während das klassisch-liberale Denken nur zwei Alternativen kennt: ungebundene (Willkür-) Freiheit oder (regeiförmige) gesetzliche Schranke, käme nach diesem Ansatz eine vermittelnde Ebene rechtlicher Regulierung hinzu. Im Überlagerungsbereich der Freiheitssphären wirken neben Rechtsregeln auch andere Formen der Verhaltenslenkung. 178 Ein derartiges Freiheitsverständnis wäre in der Lage, die Kategorie der Eigen-Verantwortung aufzunehmen. Soll sich ein derartiger Ansatz als tragfähig erweisen, wäre zu zeigen, daß sich das Phänomen der Prinzipienkollision nicht allein auf der Ebene der Verfassungstheorie bewältigen läßt, sondern auch bei der Anwendung des einfachen Rechts. Die einzusetzende Methodik müßte in der Lage sein, unvollkommene Pflichten auch auf der Ebene des einfachen Rechts auszufüllen (siehe Kapitel C). Daneben tritt eine realwissenschaftliche Dimension: Die Kategorie der Eigen-Verantwortung zeichnet sich nicht allein dadurch aus, daß sie unvollkommene Pflichten als solche des Rechts zuläßt, sondern sie ist auch darauf angelegt, das Verhalten der Akteure dort zu beeinflussen, wo es an strikten Rechtspflichten und unmittelbaren Sanktionen mangelt. Spätestens 176

Diesen steht - neben ihren zivilrechtlichen Abwehransprüchen - gegebenenfalls ein Anspruch auf Schutz gegen den Staat zu; siehe dazu Kapitel C, Abschnitte I. 5. a) und V. 2. 177 So weist Lerche (1984, 101) zutreffend darauf hin, es sei seit jeher „sinnvoll gewesen, wesentliche Bereiche der Grundrechtsordnung aus der Perspektive des Ausgleichsgedankens anzusehen, um darzulegen, daß die Inanspruchnahme der jeweiligen grundrechtlichen Position nicht ohne Rücksicht auf kollidierende grundrechtliche Positionen anderer erfolgen kann; heute hat aber der Ausgleichsgedanke in den grundrechtlichen Bezirken so wesentlich neue Dimensionen erhalten, daß sich zusätzliche Fragen stellen" [Herv. d.V.]. 178 Der Bereich völliger individueller Beliebigkeit beginnt dann erst jenseits dieser zweiten Eingriffsebene.

IV. Freiheits- und Staatsverständnis

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an diesem Punkt versagt aber das Steuerungsleitbild, welches davon ausgeht, menschliches Verhalten lasse sich imperativ programmieren. Diese Annahme ist schon im Bereich regeiförmigen Rechts jedenfalls dort nicht aufrecht zu erhalten, wo mehr als nur unerhebliche Vollzugsdefizite zu konstatieren sind; und die Aussage dürfte nicht abwegig sein, daß dies eher in einem größeren als in einem kleineren Teil der Regelungsgebiete der Fall ist. Stützt sich das Recht ergänzend auf unvollkommene Pflichten und indirekte Sanktionen, dann muß es in der Lage sein, auf andere Weise Anreizeffekte zu erzielen. Für das Recht folgt daraus zweierlei. Zum einen muß es eine Vorstellung davon gewinnen, welchen Steuerungsbeitrag die Anreizmechanismen leisten können, die nicht unmittelbar das erwünschte bzw. das unerwünschte Verhalten sanktionieren. Dazu benötigt es ein Modell menschlichen Verhaltens, um die Wirkungsweise der verhaltensbeeinflussenden Faktoren einschätzen zu können (siehe dazu Kapitel D). Eine derartiger wirkungsanalytischer Zugang zu den durch Recht mitgestalteten institutionellen Arrangements läßt sich aber auch für die Frage fruchtbar machen, welche Handlungen der öffentlichen Gewalt die grundrechtlich gewährleistete Freiheit in negativer Weise berühren. Die wirkungsanalytische Betrachtung der Anreizmechanismen menschlichen Verhaltens kann daher auch einen Beitrag zur Fortentwicklung der Grundrechtsdogmatik leisten (Kapitel E).

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot Das Zusammentreffen unterschiedlicher Rechtssphären ist ein Phänomen, dem sich die Rechtsanwendung täglich gegenübersieht. Aus der Grundrechts-Perspektive betrachtet, ist meist von Kollisions- oder Konfliktlagen die Rede. Aber auch das einfache Recht ist gezwungen, mit diesem Phänomen umzugehen. Im folgenden ist der Frage nachzugehen, in welcher Weise das Recht diese Herausforderung bewältigt. Ausgehend von der These, daß dabei unvollkommene Pflichten eine besondere Rolle spielen, sind die Ergebnisse praktischer Rechtsanwendung daraufhin zu befragen, ob sich diese dort auffinden lassen und welche Entscheidungsmuster das Recht bei ihrer Ausfüllung heranzieht. Dabei wird sich zeigen, daß alle Rechtsgebiete auf unvollkommene Pflichten zurückgreifen und daß die Rechtsordnung sich in derartigen Konstellationen auf die materiellen Rationalkriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung stützt. Dies bedeutet im Ergebnis für die Beteiligten, daß das Recht von ihnen verlangt, auf die Belange des jeweiligen Gegenübers Rücksicht zu nehmen. Da sich diese Forderung an beide Seiten richtet, entsteht auf diese Weise ein „wechselbezügliches Rücksichtnahmegebot". Im folgenden ist im Rahmen einer Bestandsaufnahme zu fragen, welche Abwägungsmuster in den unterschiedlichen Rechtsgebieten zur Konfliktabschichtung herangezogen werden. In einer vergleichenden Betrachtung sind gemeinsame Strukturelemente zu identifizieren und es ist der Versuch zu unternehmen, Voraussetzungen und Rechtsfolgen der jeweils aufgestellten Pflichten zu systematisieren [siehe Abschnitte I. bis III.]. Die Ergebnisse dieser Analyse sind sodann rechtstheoretisch einzuordnen [Abschnitt IV.]. Die dogmatischen Konsequenzen der hier vertretenen Sichtweise aufzuzeigen, ist Gegenstand von Abschnitt V. Abschließend ist nach den daraus resultierenden Anreizstrukturen für die Akteure zu fragen [Abschnitt VI.].

I. Unvollkommene Pflichten in der Rechtsanwendung Im folgenden ist nachzuzeichnen, in welcher Weise die Rechtsanwendung in den verschiedenen Konfliktkonstellationen unvollkommene Rechtspflichten ausfüllt. Das Zivilrecht steht dabei vor der Aufgabe, den gemeinsamen Gebrauch der Freiheit zu harmonisieren. Dazu hat die Rechtsprechung einen breiten Kranz an Verhaltensanforderungen entwickelt, die sie

I. Unvollkommene Pflichten in der Rechtsanwendung

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in unvollkommenen Pflichten verankert sieht. Im Gefolge dieser Rechtsprechung sind - für manche vielleicht sogar überraschend weitgehende - Anforderungen an Sorgfalt und Rücksichtnahme im Zivilrecht seit langem etabliert. Eine ähnliche Entwicklung ist für das öffentliche Recht zu verzeichnen, wo Rücksichtnahmegebote nicht nur im Baurecht eine - dort allerdings in einigen Aspekten besonders umstrittene - Rolle spielen. Unter anderen rechtlichen Vorzeichen spielen Rücksichtnahmegebote auch bei der Fragen der Kooperation innerhalb der öffentlichen Gewalt eine wichtige Rolle. So ist etwa das Verhältnis zwischen Staat und Kommunen ebenso von Rücksichtnahmepflichten geprägt wie jenes zwischen Bund und Ländern [siehe Abschnitt II.].

1. Sorgfalt und Rücksichtnahme im Zivilrecht Das Zivilrecht verleiht der Privatautonomie rechtliche Gestalt. Im Privatrecht wird dementsprechend der eigentliche „Hort bürgerlicher Freiheit" gesehen (Hesse 1988, 10). In dem durch die Gesetze vorgegebenen Rahmen können die natürlichen und juristischen Personen, vor allem im Wege der Vertragsfreiheit, ihre Gestaltungsvorstellungen verwirklichen. Insoweit besteht Handlungsfreiheit, zu tun und zu lassen, was man will. Während damit ein eher theoretisches „Urbild" gleicher zivilrechtlicher Freiheit wiedergegeben ist, zeigt sich die Praxis bürgerlich-rechtlicher Freiheit in einem etwas anderen Licht: 1 Die Bürger sind nicht nur deutlich weniger gleich als modellhaft unterstellt; sie sind in ihren Rechtsbeziehungen auch selten wirklich autonom, sondern meist in vielfältiger Weise miteinander „verwoben". Beispiele dafür finden sich an vielen Stellen. Dies reicht vom Familienrecht 2 über das Grundstückseigentum bis hin zu den vielfältigen alltäglichen Rechtsgeschäften. Daraus ergeben sich ein Reihe von Verhaltenspflichten.

1 Zwar geht das BGB „von einem Modell formal gleicher Teilnehmer am Privatrechtsverkehr aus, aber schon das Reichsgericht hat diese Betrachtungsweise aufgegeben und ,in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt 4", BVerfGE 89, 214/233 - Bürgschaft der Angehörigen (= NJW 1994, 36) unter Verweis auf: Wieacker 1974, 24. Siehe dazu Abschnitt I. 5. a). 2 Eine besonders deutliche Ausprägung des gegenseitigen Rücksichtnahmegebotes findet sich im Verhältnis zwischen Kindern und Eltern (z.B. §§ 1618a, 1631a BGB) sowie zwischen den Ehegatten (z.B. § 1356 Abs. 2 BGB); siehe dazu Kapitel B, bei Fn. 49.

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C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot a) Sorgfaltspflichten

Überall dort, wo eine rechtliche Sonderverbindung zwischen zwei Rechtssubjekten besteht, kennt das Zivilrecht darauf bezogene spezifische Sorgfaltspflichten. Bei einem vertraglich oder durch Gesetz begründeten Verhältnis stehen diese neben den primären oder auch sekundären Leistungspflichten. Eine Sonderverbindung können Private aber bereits dadurch eingehen, daß sie sich in tatsächlicher Hinsicht auf engere Beziehungen einlassen. Derartige „soziale Kontakte qualifizierter Art" begründen bereits Rechtspflichten. Beispiele sind das sog. gesetzliche Schuldverhältnis der Vertragsverhandlungen, die Haftung kraft Rechtsscheins und das Nachbarrechtsverhältnis. 3 Besonders instruktiv ist die Entwicklung der Lehre von der „culpa in contrahendo" durch Jhering. Zur Begründung und Rechtfertigung der von ihm postulierten Haftung berief er sich auf folgenden Gedanken: „Wer kontrahiert, tritt damit aus dem rein negativen Pflichtenkreis des außerkontraktlichen Verkehrs in den positiven der Kontraktsphäre" (Jhering 1861, 41 f.). Jhering beschreibt damit die Durchdringung der Rechtssphären im Prozeß der Vertragsanbahnung und leitet daraus eine „positive diligentia" ab (a.a.O.). Die gemeinsame Wurzel der daraus entwickelten Anforderungen kann in dem Gebrauch der Privatautonomie („vorangegangenes Tun") gesehen werden. Tragend für das Entstehen der Rechtspflicht dürfte sein, daß der autonom Handelnde bei Dritten Veitrauenserwartungen weckt, für die er dann auch einzustehen hat. Bereits diese Erwartungen hält das Recht für schutzwürdig und belastet dementsprechend die Privatautonomie mit Sorgfaltspflichten, obwohl noch keine vertragliche Vereinbarung zustande kam und es auch an einer gesetzlichen Anspruchsgrundlage mangelt. Die Sorgfaltspflichten können unterschiedliche Formen annehmen. Je nach Art und Intensität der „Sonderverbindung" ergeben sich in verschiedenem Maß und Umfang „Pflichten zu wechselseitiger Rücksichtnahme zur Beachtung der berechtigten Belange des anderen"; in diesem Rahmen sei „jeder verpflichtet, im persönlichen Verkehr mit anderen billige Rücksichten zu nehmen, da andernfalls ein gedeihliches Zusammenleben oder Zusammenwirken nicht möglich" sei (Larenz 1987, 9 ff.). Als rechtlicher Anknüpfungspunkt dafür wird allgemein die Verpflichtung des Schuldners genannt, die vertraglich vereinbarte (Haupt-) Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben es mit Rücksicht auf die Verkehrssitte erfordern (§ 242 BGB). Zum Teil wird auch auf den § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB angesprochenen Sorgfaltsmaßstab verwiesen. In beiden Vorschriften - wie auch in den z.T. ebenfalls, vielfach floskelhaft herangezogenen §§ 138, 157 BGB 3

Roth 1994, § 242 Rn. 45 u. 52 ff. m.w.N.

I. Unvollkommene Pflichten in der Rechtsanwendung

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- soll ein „allgemeiner Rechtsgrundsatz" zum Ausdruck kommen, der über das deliktische Gebot des neminem laedere sich konkretisiere zur Obligationspflicht des „partem non laedere". 4 aa) Weitere Verhaltenspflichten Die vorstehend umschriebene Pflichtenstellung reicht über die vertraglichen Primärpflichten hinaus und begründet einen weiteren Pflichtenkreis. Die Besonderheit der darin zusammengefaßten Pflichten wird darin gesehen, daß sie im allgemeinen nicht im Sinne von Leistungspflichten erfüllbar seien, da ihnen kein gezieltes, im vornherein festlegbares Versprechen zugrundeliege; vielmehr sollen sie als Ausprägung der generellen Sorgfaltspflicht in einer spezifischen Situation aktuell zum Tragen kommen (EsserSchmidt 1995, 109). Gefordert werde nicht nur ein äußeres Verhalten, sondern auch ein entsprechende Maß von Aufmerksamkeit, Überlegung, Willensanspannung. Das Recht verlangt, sich gedanklich auf die Situation des Gegenübers „einzulassen", und daraus gegebenenfalls entsprechende Konsequenzen für das eigene Verhalten zu ziehen. Die Rechtsprechung hat für eine weite Ausdifferenzierung in Rücksichts-, Treu-, Warn-, Fürsorge-, Obhuts- und sonstige Schutzpflichten gesorgt. Diese Pflichten erweisen sich als schwer einzuordnen, was sich auch in der Vielfalt der verwendeten Begriffe zeigt. Larenz spricht von „weiteren Verhaltenspflichten", andere von „Schutzpflichten" oder „sonstigen Nebenpflichten" 5 . Alle diese Pflichten sind in der Regel weder gesetzlich noch vertraglich genauer spezifiziert, was Anlaß für grundsätzliche Bedenken in der Literatur gab (begründet vor allem im Verstoß gegen Grundsätze der Gewaltenteilung und der Rechtssicherheit); während es - von Differenzen in Einzelfällen abgesehen - doch unstreitig ist, daß es einen Bedarf für die Ausformung derartiger ergänzender Verhaltenspflichten gibt und die Gefahr richterlicher Beliebigkeit angesichts der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung jedenfalls nicht größer ist als bei der Auslegung anderer vertraglicher oder gesetzlicher Bestimmungen (vgl. Roth 1994, § 242 Rn. 17 ff. m.w.N).

4 Esser/Schmidt 1995, 109. Zur Bedeutung des neminem laedere-Grundsatzes für den hier entwickelten Ansatz siehe Kapitel F, Abschnitt II bei Fn. 21. 5 Larenz (1987, 10 f. m.w.N.) begründet seine Begriffswahl damit, daß auf diese Weise die Gefahr der Verwechslung mit den Neben/e/stogspflichten vermieden werde. Im folgenden soll die Begrifflichkeit von Larenz übernommen werden; wie dies auch Heinrichs (in: Palandt, vor § 241 Anm. le) tut.

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C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot bb) Gemeinsamkeiten der ergänzenden Sorgfaltspflichten

Systematisierend läßt sich damit festhalten, daß es einen allgemeinen gesellschaftlichen Bedarf gab und gibt, im Rahmen von Schuldverhältnissen ein ganzes Bündel ergänzender Vorkehrungen und Aktivitäten rechtlich einzuordnen, um den zweckentsprechenden Ablauf der Schuldbeziehung zu gewährleisten. 6 Der Inhalt der dazu erforderlichen ergänzenden Verhaltenspflichten ist dabei so vielfältig wie die sozialen Beziehungen. Generalisierend lassen sie sich mit dem Begriffen „Sorgfalt" und „Rücksichtnahme" 7 umschreiben. Sie betreffen aber nicht sämtliche rechtlich geschützten Interessen der „Partner", sondern nur diejenigen, die Gegenstand des „Sonderverhältnisses" geworden sind. 8 Rechtsgrundlage für die genannten Pflichten ist - von einzelnen einfachgesetzlichen Konkretisierungen abgesehen - die unvollkommene Rechtspflicht, sich gemäß „Treu und Glauben" zu verhalten, wie sie in § 242 BGB, aber auch in einer Reihe anderer Vorschriften verankert ist. Entgegen der systematischen Stellung im Recht der Schuldverhältnisse beanspruchen die zum Schuldrecht anhand von § 242 BGB entwickelten Grundsätze „ganz allgemein, auf jedem Rechtsgebiet" nicht nur des Zivilrechts, sondern auch des öffentlichen Rechts Geltung. 9 Die in Betracht kommenden Rechtsfolgen sind weit gefächert. Anders als bei den primären Leistungspflichten läßt sich nur in Ausnahmefällen die Erfüllung der weiteren Verhaltenspflichten gerichtlich erzwingen. Vielmehr wird in manchen Fällen eine Schadensersatzpflicht begründet. In anderen Fällen besteht die Rechtsfolge darin, „an sich" bestehende Rechte inhaltlich zu beschränken oder auszuschließen.10 Konsequenz eines Pflichten Verstoßes ist damit ein wirtschaftlicher Nachteil in Form der Schadensersatzpflicht bzw. der Verlust eines ansonsten bestehenden Vorteils.

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Während in der Juristenausbildung - aus grundsätzlich berechtigten Gründen der Vereinfachung - meist eine verkürzte Momentaufnahme den Gegenstand der Erörterung bildet, tritt in der Praxis die Einbettung der klageweise geltend gemachten Ansprüche in ein oftmals auf Dauer angelegtes Schuldverhältnis deutlicher zutage. Angesichts der Vielgestalt der auftretenden Komplikationen läßt sich dieses „Sonderverhältnis" ohne ein förderliches Zusammenwirken der Beteiligten kaum zu einem sinnvollen Ergebnis führen. 7 Larenz (1991, 292) spricht im Zusammenhang mit dem Grundsatz von Treu und Glauben von „gegenseitiger Rücksichtnahme im Verhältnis der Partner". 8 Die Schwierigkeit verlagert sich mithin auf die Frage, wie jenes Sonderrechtsverhältnis zu umschreiben und abzugrenzen sei. 9 Roth 1994, § 242, Rn. 56 und 72 ff. m.w.N. Vgl. auch Maurer 1997, § 3 Rn. 28 ff; § 11 Rn. 65 und 67 sowie Pernice 1991, 513 ff. 10 Nach der sog. Innentheorie werde dabei eine dem Recht immanente Inhaltsbeschränkung zu Tage gefördert; vgl. Roth 1994, § 242 Rn. 41 ff. m.w.N. sowie in Kapitel B, bei Fn. 127 f.

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b) Obliegenheiten Damit ergeben sich Berührungspunkte zu den Obliegenheiten. Diese finden sich mehrfach im BGB und im H G B ; 1 1 daneben vor allem im Versicherungsvertragsrecht. 12 Man versteht darunter Verhaltensanforderungen, die keine „echten Rechtspflichten" darstellen sollen, sondern qualifiziert werden als „Pflichten geringerer Intensität" (R. Schmidt 1953, 104 u. 314) oder als „Belastungen, die einem Rechtsubjekt auch im Interesse eines anderen auferlegt sind, ohne daß dieser aber ein dementsprechendes Verhalten von dem Belasteten fordern kann" (Enneccerus/Nipperdey 1959, § 74 IV). Charakteristisch für die Obliegenheit soll sein, 13 daß die Rechtsordnung hier von jedem Erfüllungszwang und auch von einer Schadensersatzpflicht im Falle der Nichterfüllung absieht und sich statt dessen mit schwächeren Sanktionen begnügt: In der Regel droht der Verlust einer günstigen Rechtsposition oder ein sonstiger Rechtsnachteil. Die Obliegenheit wird daher auch als „Mitwirkungspflicht ohne eigentlichen Schuldcharakter" bezeichnet (Heinrichs 1998, vor § 241 Anm. 4b). c) Gemeinsame Funktionen Die gemeinsame Aufgabe von „weiteren Verhaltenspflichten" und „Obliegenheiten" liegt darin, Verhaltensanreize zu geben, die auf einen für alle Beteiligten „gedeihlichen" Verlauf im Prozeß der rechtlichen Sonderbeziehung gerichtet sind. Inhaltlich geschieht dies durch die Abgrenzung von Verantwortungs- sowie damit korrelierender Risikosphären. Beide sind meist nicht von vorneherein scharf umrissen. 14 Vielmehr konturieren im weiteren Verlauf „Situationsbezogenheit und Sachnotwendigkeit" ihren Inhalt (Esser/Schmidt 1995, 113). Es handelt sich damit durchweg um unvollkommene Pflichten, wie sie für die Kategorie der Eigen-Verantwortung charakteristisch sind. Der Grad der „Unvollkommenheit" ist allerdings in 11 Zu den Obliegenheiten gezählt werden Regelungen z.B. in den §§ 254, 351, 539, 644 Abs. 1 Satz 2, 776 und 777 BGB sowie in §§ 377 f. HGB. Umfangreiche Rechtsprechung liegt etwa vor zum Mitverschulden nach § 254 BGB. So beispielsweise für die Anforderungen zum „Selbstschutz" im Straßenverkehr durch Gebrauch von Sicherheitsgurten oder Schutzhelmen; siehe dazu - und zur weiteren Kasuistik - Grunsky 1994, Rn. 24 ff. 12 Siehe dazu Weyers 1986, Rn. 298 ff. Schmidt (1953) übertrug die Rechtsfigur der Obliegenheit in das allgemeine bürgerliche Recht; zusammenfassend Henß 1988. 13 Zur Problematik, den Ordnungsbegriff Obliegenheit durch Strukturkriterien zu definieren, siehe J. Schmidt 1995, Einl. zu §§ 241 ff. Rn. 265 ff. 14 Eine Ausnahme bilden die versicherungsvertraglich verankerten Obliegenheiten sowie die in Fn. 11 genannten Vorschriften.

1 1 0 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

vielfältiger Weise gestuft. Dies zeigt sich auch in den Unterschieden bei der Folgenanlastung. Eine Verletzung der schuldrechtlichen Sorgfaltspflichten führt neben Rechtsnachteilen auch zu Schadensersatzansprüchen, in Ausnahmefällen sogar zu Erfüllungsansprüchen. Dagegen erleidet der Belastete bei Mißachtung einer Obliegenheit einen Rechtsnachteil, der weder in einem Erfüllungs- noch in einem Schadensersatzanspruch besteht, sondern die Rechtsmacht des Belasteten einschränkt. Wenn in der Literatur zur Kennzeichnung der Obliegenheit in diesem Zusammenhang hervorgehoben wird, ihre Besonderheit liege darin, daß es sich um „Gebote im eigenen Interesse" handele, 15 so ist dies zumindest mißverständlich, denn die Obliegenheiten dienen ganz wesentlich dem Zweck, die Interessen der „Gegenseite" zu wahren. 16 Wenn mit dem Eigeninteresse ein ökonomisches Kalkül angesprochen ist, welches es gebiete, zur Vermeidung von Rechtsnachteilen der Obliegenheit zu entsprechen, gilt dies in gleicher Weise für andere Rechtspflichten des Bürgerlichen Rechts: So empfiehlt es sich auch, ein Verhalten zu vermeiden, welches Dritten Schadensersatzansprüche einräumt. 17 Festhalten läßt sich damit eine Übereinstimmung im Entstehungsgrund und in der oftmals prozeßhaften inhaltlichen Ausfüllung bei gewissen Abweichungen in den Rechtsfolgen. Beide Formen der „Pflichtigkeit" unterscheiden sich somit nicht grundsätzlich, sondern nur graduell von den primären Verhaltenspflichten. Dies kommt auch in der Umschreibung von Reimer Schmidt als „Pflichten geringerer Intensität" zum Ausdruck. Im Kern geht es darum, die beiderseitigen Verantwortungskreise miteinander in Einklang zu bringen, um so für beide Seiten den höchsten Nutzen aus der rechtlichen Sonderverbindung zu ziehen. d) Ergebnis Im Zivilrecht läßt sich eine weitgehende und sehr ausdifferenzierte „Inpflichtnahme" der Rechtssubjekte überall dort ausmachen, wo eine engere 15 Vgl. Larenz 1989, § 12 II d; Esser/Schmidt 1995, 113; Heinrichs 1998, vor § 241 Anm. 4b.; Kramer 1994, Einl. vor 241 ff. Rn. 44 (der hinzufügt, dem Belasteten könne, wenn er sich gegen die Erfüllung der Obliegenheit entscheide, nicht der Vorwurf der Rechtswidrigkeit gemacht werden; was jedoch nichts daran ändert, daß er die für ihn ungünstigen - und damit die „Gegenseite" begünstigenden Rechtsfolgen zu tragen hat). 16 Ennecerus/Nipperdey 1959, § 74 IV; Fikentscher 1992, Rn. 56. 17 Zwar mag es unter dem Gesichtspunkt der prozessualen Durchsetzung einen Unterschied machen, ob die Rechtsordnung der Gegenseite einen Schadensersatzanspruch einräumt oder ob die eigenen Rechte in gleichem Umfang begrenzt werden, letztlich tritt jedoch in beiden Fällen jeweils eine Minderung wirtschaftlicher Positionen ein.

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Beziehung besteht, wobei für ein derartiges Sonderrechtsverhältnis bereits eine faktische Interessenverknüpfung ausreicht. Die Rechtsgrundlage für die „weiteren Verhaltenspflichten" findet sich - entgegen der allgemeinen Erwartung - meist nicht in ausdrücklichen vertraglichen Vereinbarungen, also nicht in einem aufgrund freier Willensentscheidung vorgenommenen Freiheitsverzicht des Bürgers. Ebenso fehlt es in der Regel an klaren gesetzlichen Verhaltensanweisungen. Diese sind vielmehr in erheblichem Umfang Ergebnis einer über die Jahre gefestigten und fortentwickelten Rechtsprechung, die sich im wesentlichen auf das allgemeine Gebot von „Treu und Glauben", also auf eine unvollkommene Rechtspflicht stützt. 18 Festhalten läßt sich damit, daß die beschriebenen zivilrechtlichen Konfliktbewältigungsmuster die Kriterien der Kategorie der Eigen-Verantwortung erfüllen. Inhaltlich offene Pflichten werden im gerichtlichen Verfahren situationsbezogen überführt in konkrete Verhaltensanforderungen und mit rechtlich begründeten Mechanismen der Folgenanlastung verknüpft.

2. Rücksichtnahmegebote im Verwaltungsrecht Im öffentlichen Recht finden sich - neben der sogleich darzustellenden Situation im Baurecht - in einer ganzen Reihe von Teilgebieten unvollkommene Rechtspflichten, die unter Rückgriff auf den Gedanken der Rücksichtnahme ausgefüllt werden. Besonders prägnant bringt dies die Straßenverkehrsordnung zum Ausdruck. Sie konstatiert in § 1 Abs. 1 als allgemeines Grundprinzip: „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht", um in Abs. 2 fortzufahren mit der Grundpflicht: „Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, daß kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird." 1 9 Entsprechende Regelungsmuster sind außerdem in der länderübergreifende Raumordnung (Lücke 1979, 293) sowie im Raumplanungsrecht (Pfaff 1980, 110 ff.) und im Bergrecht 20 zu finden. Der Grundsatz der Rücksicht18 Damit wird zwar (vordergründig) der Grundsatz der Gesetzesbindung aufrechterhalten, der Sache nach jedoch eine Konfliktabschichtung angestrebt, die sich an den Interessen beider Seiten orientiert und auf den gemeinsamen Vorteil ausgerichtet ist (man könnte auch sprechen von einer „Interessensoptimierung"). Dies läßt sich offenbar am ehesten in gegenseitiger Rücksichtnahme erreichen. 19 Ein Verstoß gegen die Grundpflicht aus Abs. 2 ist bereits als Ordnungswidrigkeit zu ahnden (§49 Abs. 1 Nr. 1 StVO); dies gilt selbst dann, wenn kein anderer Verkehrsteilnehmer zu Schaden gekommen ist (Hentschel 1997, § 1 Rn. 47). 20 Siehe § 124 Abs. 1 Satz 1 BBergG, der eine „gegenseitige Rücksichtnahme" von bergrechtlichen Gewinnungsanlagen und öffentlichen Verkehrsanlagen fordert; dazu BVerwG vom 22.2.1995 - 11 VR 1/95 - NVwZ 1995, 903 - Rücksichtnahmegebot im Planfeststellungsverfahren.

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C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

nähme spielt aber auch in der Bildungsplanung und der schulischen Erziehung, 21 aber etwa auch im beamtenrechtlichen Verhältnis zwischen Dienstherr und Dienstverpflichteten eine wichtige Rolle. 2 2 Neben diesen beispielhaft genannten Bereichen ließen sich eine ganze Reihe weiterer anführen. Eine Fülle von Entscheidungen zeigt - oftmals unter Verweis auf Art. 1 GG und das korrespondierende „Menschenbild" allgemeine Pflichtigkeiten auf mit dem Ziel, über die Ausfüllung von Ausnahme·, Härte- und Billigkeitsklauseln Menschenwürde-Verletzungen zu unterbinden. 23 Zutreffend dürfte daher sein, daß Gebote gegenseitiger Rücksichtnahme auch das öffentliche Recht durchziehen.

3. Rücksichtnahmegebot im Baurecht Grundsätzliche Bedeutung erlangte das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme im Bauplanungsrecht. Dieses steht vor der Aufgabe, die verschiedenen Nutzungsinteressen an der knappen Ressource „Raum" miteinander in Einklang zu bringen. Zur Lösung der daraus entstehenden Nutzungskonflikte bediente sich das Bundesverwaltungsgericht - zunächst gestützt unmittelbar auf Art. 14 GG - in mehreren Zusammenhängen dieser Rechtsfigur. Diese Vorgehensweise sah sich erheblicher Kritik ausgesetzt. Es erscheint daher angebracht, das „baurechtliche Rücksichtnahmegebot" etwas genauer zu betrachten. a) Anwendung in „unbeplanten" Bereichen Ein erster Anwendungsbereich ergab sich bei der Zulassung von Einzelvorhaben im „unbeplanten" Innenbereich. 24 Mangels qualifizierter Bebauungspläne fehlt es hier an planerischen Vorgaben, die sich als Entscheidungsgrundlage heranziehen lassen. Wollen die Gerichte nicht durchwegs dem Inhaber einer Baugenehmigung den „rechtlichen Durchmarsch" gestatten, sind sie gezwungen, selbständig ein Entscheidungsraster zu entwickeln, um die Konfliktlage im Einzelfall abzuarbeiten. 25 Das Vorgehen der Verwaltungsgerichte folgt also einem rechtsstaatlichen Entscheidungsbedarf. 21

BVerfGE 47, 46/75 u. 77 - Sexualkundeunterricht; dazu Pfaff 1980, 114 f. BVerfGE 3, 58/157 - Beamtenversorgung. Siehe dazu auch die Verantwortungszuweisung in § 38 BRRG, die vom Beamten - in partieller Durchbrechung des Prinzips der Weisungsgebundenheit - eine eigenständige Prüfung seiner dienstlichen Handlungen im Hinblick auf deren Rechtmäßigkeit verlangt. 23 Häberle 1987, Rn. 27 m.w.N.; siehe dazu auch Abschnitt IV. 2. b) dd), Seite 177 (mit den Nachweisen in Fn. 201 ff.) sowie Kapitel D, Abschnitt II. 2. 24 BVerwG E 52, 122 - Rücksichtnahme im Außenbereich. Das Gericht bezieht sich dabei auf eine ständige Rechtsprechung seit BVerwGE 28, 148/152 f. - Einvernehmen der Gemeinde. 22

I. Unvollkommene Pflichten in der Rechtsanwendung

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Inhaltlich hat das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme die Funktion, die verschiedenen Nutzungsinteressen und die dahinter stehenden Rechtspositionen miteinander in Einklang zu bringen. Dies kann nicht in einer isolierten, nur die Perspektive eines Rechtsträgers einnehmenden Weise geschehen, sondern muß die wechselseitige Verschränktheit abbilden und entscheidungsleitend strukturieren. In unbeplanten Bereichen bietet sich meist ein heterogenes B i l d . 2 6 Würde man allein auf einen „Durchschnitts-Maßstab" abstellen, blieben besonders schützwürdige Nutzungen außer Betracht, was rechtlich und tatsächlich wenig befried(ig)end wäre. Das Gebot der Rücksichtnahme verlangt daher eine Abwägung der Interessen des Bauherrn mit denen der Nachbarschaft. Es geht um die Identifikation und Gewichtung der beiderseitigen Interessenlage. 27 Dabei wird auch gefragt, ob dem Bauherrn Alternativlösungen zur Wahrung seiner Interessen zur Verfügung stehen, die diejenigen der Nachbarschaft in weitergehendem Maße schonen. 28 Das Vorgehen des Bundesverwaltungsgerichts nähert sich damit stark dem der Zivilgerichtsbarkeit. 29 25

Neben der objektiv-rechtlichen Beurteilung der Zulässigkeit eines Bauvorhabens hat das Bundesverwaltungsgericht den Begriff des „Rücksichtnahmegebotes" auch zur Umschreibung nachbarlicher Abwehransprüche in subjektiv-rechtlicher Hinsicht herangezogen (siehe die Nachweise in Fn. 24 und 28). Die damit zusammenhängenden prozessualen Fragen, die die grundsätzliche Bedeutung des Prinzips nicht berühren, sollen an dieser Stelle ausgeklammert bleiben. 26 In einer Entscheidung (BVerwG vom 4.7.1980 - 4 C 101/77 - NJW 1981, 139 - Schweinemastbetrieb im Innenbereich) ging es beispielsweise um die Erweiterung eines Schweinemastbetriebes. Der Betrieb lag in der Ortsmitte einer überwiegend durch landwirtschaftliche Hofstellen geprägten Umgebung, zu der aber auch die Grund- und Teilhauptschule des Ortes gehörte. Die Vorinstanz hatte allein darauf abgestellt, daß es sich bei dem Bauvorhaben um ein landwirtschaftliches Gebäude handele, was sich dementsprechend in die Umgebung i.S.v. § 34 BBauG einfüge. Dem hält das Bundesverwaltungsgericht entgegen, die Vorschrift fordere „nicht die Zuordnung zu Rechtsbegriffen, sondern das Erreichen eines tatsächlich hinreichend angemessenen Verhältnisses zwischen einem Vorhaben und der ihm vorgegebenen Umgebung." Die Vorinstanz habe versäumt, seine Betrachtung „auf das Faktische" hin auszurichten, dies könne nicht „durch Überlegungen zum Begriff der Landwirtschaft ersetzt werden". Der Sache nach fordert das Gericht also, statt einer „Begriffs-Jurisprudenz" eine Real-Analyse der entscheidungsrelevanten Konfliktlage. Diese solle „in wertfrei-feststellender Würdigung der gegebenen Situation" erfolgen. 27 BVerwG vom 10.12.1982 - 4 C 28/81 - UPR 1983, 168/169 - Rücksichtnahme im Innenbereich (= NJW 83, 2460); unter Verweis auf BVerwG E 52, 122/ 126 - Rücksichtnahme im Außenbereich: „Entscheidend ist insoweit, wie empfindlich und schutzwürdig die Stellung des Rücksichtnahmebegünstigten und wie unabweisbar das entgegengerichtete Interesse desjenigen ist, der sein Vorhaben verwirklichen will." 28 Siehe z.B. BVerwG E 52, 122 sowie BVerwG vom 10.12.1982 - 4 C 28/81 UPR 1983, 168/170 (mit der kennzeichnenden Abschlußsentenz, wonach „sowohl in objektivrechtlicher als auch in subjektivrechtlicher Hinsicht, die Entscheidung des Rechtsstreits maßgeblich von der Frage abhängen" werde, ob und gegebenen8 Führ

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C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

Dogmatisch wurde die Grundlage für die Anwendung des Rücksichtnahmegebotes zunächst vorrangig in Art. 14 GG gesehen.30 Das Bundesverwaltungsgericht stellt jedoch in seiner neueren Rechtsprechung die einfachrechtliche Anbindung zunehmend in den Vordergrund. So wendet es sich gegen eine Anwendung des Rücksichtnahmegebotes durch das Instanzgericht, dem es vorwirft, „losgelöst vom einfachen Gesetz aus der Summe nachteiliger Auswirkungen eines Vorhabens auf das Nachbargrundstück" einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme angenommen und damit die Rechtswidrigkeit der erteilten Baugenehmigung begründet zu haben. Ein nachbarschützendes Rücksichtnahmegebot bestehe vielmehr nur, „soweit es der Gesetzgeber normiert hat", was er nur „an einigen Stellen, nicht aber als allgemeines baurechtliches Gebot durchgehend geschaffen" habe. 31 Das baurechtliche Rücksichtnahmegebot könne vielmehr nur dann verletzt sein, wenn zusätzlich objektiv gegen die §§ 31, 34, 35 BBauG/BauGB oder gegen § 15 Abs. 1 BauNVO verstoßen werde. 32 Da jedoch - auch in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - Rücksichtnahmeanforderungen die unbestimmten Rechtsbegriffe der genannten Vorschriften auffüllen, durchziehen diese auch nach der neueren Rechtsprechung im Ergebnis weite Teile des Baurechts. 33

falls wie das Gründstück des Bauherrn „in einer konfliktmindernden Weise bebaut werden kann". Siehe auch: BVerwG vom 25.4.1985 - 4 Β 48/85 - UPR 1985, 340 - Außenbereichsnutzung gegen Innenbereichs vorhaben; BVerwG vom 25.11.1985 4 Β 202/85 - NVwZ 1986, 469 - Abwehranspruch eines Industriebetriebes. 29 Auch im zivilrechtlichen Nachbarrechtsverhältnis kommt das Gebot der Rücksichtnahme zur Anwendung: In Orientierung an der objektiven Interessenlage können dort „an sich" bestehende Rechte eingeschränkt und neue Rechte gewährt werden, wenn besondere Umstände gegeben sind und die schutzwürdigen Interessen der einen Seite dies erfordern, gleichzeitig schutzwürdige Belange der anderen Seite nicht entgegenstehen; vgl. Roth 1994, § 242 Rn. 454 ff. m.w.N. aus der Rechtsprechung. 30 Weyreuther (1975, 1 ff.) leitet das „eigentumsrechtliche und baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme" aus Art. 14 GG her; er verweist allerdings wiederholt auf die einfachgesetzliche Ausformung (a.a.O., 7 u. 11). 31 BVerwG vom 26.9.1991 - 4 C 5/87 - NVwZ 1992, 997 - Nachbarschutz gegen Tiefgarage/979 (Unter Verweis auf BVerwG vom 20.9.1984 - 4 Β 181/84 NVwZ 1985, 37 - Nachbarschutz im Baurecht). 32 Zur Entwicklung nach den Änderungen im BauGB und der dazu ergangenen Rechtsprechung - insbesondere dem „Garagen-Urteil" des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG vom 16.9.1993 - 4 C 28/91 - NJW 1994, 1546 - Nachbarschutz durch Baugebietsfestsetzungen) welches auch im unbeplanten Innenbereich Rücksichtnahmegebot jetzt nicht mehr über § 34 Abs. 1 BauGB, sondern wie im beplanten Bereich über § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO zum Tragen bringt - siehe Sarnighausen 1995, 502 f. 33 Kühling (1988, Rn. 437) spricht vom Gebot der Rücksichtnahme „in der jeweils durch die entsprechenden Regelungen des BauGB geprägten Form".

I. Unvollkommene Pflichten in der Rechtsanwendung

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Rechtsfolge ist die Forderung an den Vorhabensträger, auf alle diejenigen Nutzungen Rücksicht zu nehmen, die von einem Bauvorhaben beeinträchtigt werden können. Je stärker und weiträumiger die Auswirkungen des Bauvorhabens zu spüren sind, desto weiter ist auch der Kreis der betroffenen Nutzungen zu ziehen. Darüber hinaus muß sich ein Vorhaben im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB aber auch in solche Nutzungen „einfügen", die sich ihrerseits nicht oder nur am Rande des vorgegebenen Rahmens bewegen, aber gleichwohl die tatsächliche Umgebungsituation mit prägen. Sind diese Nutzungen besonders schutzbedürftig - beispielsweise eine Nutzung für Schulzwecke - fügt sich im Sinne von § 34 Abs. 1 BBauG ein Bauvorhaben nur ein, wenn es auch darauf hinreichend Rücksicht nimmt. 3 4 b) Ein Irrweg des Richterrechts? Die Argumentation des Gerichts sah sich deutlicher Kritik ausgesetzt. Die meisten Einwände beziehen sich noch auf den frühen, zunächst unmittelbar auf Art. 14 GG gestützten Ansatz des Gerichts, dort in erster Linie auf die subjektiv-rechtliche Seite; 35 mittelbar können sie jedoch auch die objektiv-rechtliche Dimension berühren. Die Kritik gipfelt in der Feststellung, das Rücksichtnahmegebot sei „ein dogmatischer Irrweg" und solle auch in der Rechtsprechung nicht mehr verwandt werden (Steinberg 1994, 386). Der Kritik ist jedenfalls insoweit zutreffend als es in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers ist, durch Regeln des einfachen Rechts die verschiedenen Rechtssphären der Bürger untereinander und mit den Belangen des Gemeinwohls in Einklang zu bringen. Allerdings stellt sich hier das Problem, daß die Legislative der Mannigfaltigkeit des wirklichen Lebens oftmals nicht mit klaren, alle Eventualitäten berücksichtigenden Rechtsregeln 34

Dies soll im Extremfall sogar dazu führen, daß der Bauherr ein nach den baurechtlichen Vorschriften im übrigen zulässiges Vorhaben zu unterlassen hat, wenn dadurch eine schwere Beeinträchtigung der Umgebung eintritt (Dürr/Schmidt-Wellbruck 1988, Rn. 352). 35 So spricht Breuer (1982, 1072) von einem „Irrgarten des Rechts", welcher zu der Schutznormtheorie in einem „unauflösbaren Widerspruch" stehe. Im Ergebnis konzediert er jedoch (a.a.O., 1073), daß sich „nahezu das gesamte Bauplanungsrecht (...) als Konkretisierung des Topos der gebotenen Rücksichtnahme verstehen" läßt. Auch würden sich die „Ergebnisse der obergerichtlichen Rechtsprechung weithin als haltbar erweisen". Er fordert eine „Rückbesinnung auf die einschlägigen gesetzlichen Tatbestände"; dieser Forderung hat die Rechtsprechung mittlerweile Folge geleistet. Hinsichtlich der vielkritisierten nachbarschützenden Wirkung des Gebotes ist zudem festzuhalten, daß sich das gleiche Ergebnis auch dadurch erreichen läßt, daß den entsprechenden einfachgesetzlichen Vorschriften drittschützende Wirkung zuerkannt wird (Steinberg 1994, 386). An dieser Stelle ist der Rückgriff auf das Rücksichtnahmegebot entbehrlich. 8*

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C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

begegnen kann. Nicht selten sieht sie sich lediglich in der Lage, allgemeine Vorgaben zu erlassen und bedient sich dabei unbestimmter Rechtsbegriffe. Darin liegt kein Spezifikum des Baurechts, das Phänomen tritt dort aber besonders deutlich zutage. Wenn § 34 Abs. 1 BBauG/BauGB das Tatbestandsmerkmal des „Sich-Einfügens" aufstellt, 36 dann wird die entscheidungsrelevante Frage zwar vielleicht etwas präziser gestellt, schwerlich jedoch ergibt daraus unmittelbar, wie die Antwort auszusehen hat. Der Rechtsanwender und auch die Rechtssprechung stehen damit vor der Aufgabe, weitere ausfüllende Kriterien zu entwickeln, um der Vielfalt der tatsächlichen Sachverhalte gerecht zu werden. Der Kritik an der Rechtsprechung ist damit insoweit zuzustimmen als sie auf den Vorrang des Gesetzes verweist. Aber jedenfalls die jüngere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 37 bewegt sich im Rahmen der dort getroffenen Festlegungen und der danach verbleibenden Auslegungsund Ausfüllungsspielräume. 38 Entsprechend der Kernaufgabe des Baurechts, verschiedene Nutzungsinteressen miteinander verträglich zu machen, ist es auch nicht verwunderlich, wenn immer wieder ein auf Harmonisierung angelegtes Prinzip wie das der gegenseitigen Rücksichtnahme zu Tage tritt. 3 9 Denn nur dieses dürfte in der Lage sein, das vom Grundgesetz vorgegebene Postulat grundsätzlich gleicher Freiheit und einer daraus folgenden wechselseitigen Begrenzung der Freiheit Rechnung zu tragen. Treffend wird davon gesprochen, die benachbarten Nutzungsberechtigten seien zu einer „rechtlichen Schicksalgemeinschaft zusammengeschlossen".40

36

Oder § 15 Abs. 1 BauNVO davon spricht, ein Vorhaben sei unzulässig, wenn es „der Eigenart eines Baugebiets widerspreche" oder von ihm „Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebietes im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind". 37 BVerwG vom 25.4.1985 - 4 Β 48/85 - UPR 1985, 340 - Außenbereichsnutzung gegen Innenbereichs vorhaben: Das Rücksichtnahmegebot ist „kein eigenständiges - ungeschriebenes rechtliches Gebot, das über die gesetzlichen Voraussetzungen hinaus weitere Anforderungen an die Zulässigkeit von Vorhaben stellt". Vielmehr werde „sein Inhalt und seine Reichweite durch die (einfachen) Gesetze bestimmt". 38 Zustimmend zur Rücksichtnahme-Rechtsprechung unter dem Gesichtspunkt restriktiver Zuerkennung von Drittschutz äußert sich Sachs 1994, 641. 39 BVerwG vom 10.12.1982 - 4 C 28/81 - UPR 1983, 168/169: „Das Gebot der Rücksichtnahme [ist] als öffentlicher Belang allgemein auf Verhinderung oder Minderung von Konflikten angelegt". Es werde „sowohl durch das Verursachen von Immissionen betroffen" als auch dadurch, „daß ein Vorhaben den Immissionen aus einer vorhandenen Anlage ausgesetzt wird." Bezugspunkt für das Gebot sei insoweit § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BBauG. 40 BVerwGE 44, 244 - Nachbarklage gegen Baugenehmigung (= Buchholz 406.11 § 12 BBauG Nr. 3, S. 1/S. 10).

I. Unvollkommene Pflichten in der Rechtsanwendung

117

4. Zwischenergebnis In der einfachgesetzlichen Rechtsanwendung kommen bei der Ausfüllung unvollkommener Plichten immer wieder Aspekte der Rücksichtnahme zum Tragen. Dies gilt - was zunächst überraschen mag, weil gemeinhin angenommen wird, in diesem Rechtsgebiet sei unter dem liberalen Leitbild der Privatautonomie die Freiheit des Individuums am ehesten verwirklicht auch für das Zivilrecht. In vielen Bereichen des öffentlichen Rechts sind Rücksichtnahmeforderungen ebenfalls relevant. Zu konstatieren ist für alle betrachteten Anwendungsbereiche ein Bedarf, bei der Rechtsanwendung auf die Forderung nach Rücksichtnahme zurückzugreifen. Der Bedarf tritt immer dann auf, wenn Freiheits- bzw. Kompetenzbereiche verschiedener Rechtsträger zusammentreffen und Rechtsregeln für die Konfliktlösung nicht ausreichen. Die Funktion der Rücksichtnahmeforderungen ist darauf gerichtet, nach Wegen zu suchen, beide Rechtspositionen miteinander in Einklang zu bringen. Über die konkrete Harmonisierungsaufgabe hinaus tragen die Rücksichtnahmeforderungen aber auch dazu bei, die Leistungsfähigkeit des jeweils betroffenen institutionellen Umfeldes zu erhöhen; ein Ergebnis, welches der Gesellschaft insgesamt, nicht zuletzt jedoch auch den beteiligten Rechtsträgern zugute kommt. Die Harmonisierungsfunktion verwirklicht sich dabei nur bis zu einem gewissen Grade in der Errichtung strikter „Schranken" oder klarer „Grenzen"; ergänzend versucht das Recht, mit abgestuften „Pflichtigkeiten" den beiderseitigen Positionen gerecht zu werden. Die Erfüllung der Pflichtigkeiten ist vom jeweiligen „Gegenüber" meist nicht isoliert einzufordern; sie greifen regelmäßig erst dann ein, wenn eine Seite von den ihr zustehenden Rechten aktiv Gebrauch macht. Der Gebrauch von Rechtsmacht ist verknüpft mit Anforderungen an Sorgfalt und Rücksichtnahme. Der Charakter dieser Anforderungen erreicht dabei oftmals nicht die Intensität, die der Begriff „Rechtspflicht" assoziiert. Zutreffender dürfte daher von „Obliegenheiten" bzw. „Pflichtigkeiten" zu sprechen sein. Diese Beobachtungen bestätigen die Annahme, daß unvollkommene Pflichten in Verbindung mit einem rechtlich ausgestalteten institutionellen Umfeld - mithin Regelungsmuster aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung - an vielen Stellen der Rechtsordnung eine wichtige Steuerungsfunktion übernehmen.

5. Rücksichtnahme in der Verfassungsgerichtsrechtsprechung Die bisherige Bestandsaufnahme hat gezeigt, daß sowohl bei Entscheidungen zum Privatrechtsverhältnis, aber auch für das Verhältnis Bürger -

118

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

Staat sowie für binnenstaatliche Konflikte das Gebot der Rücksichtnahme eine besondere Rolle spielt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang mehrfach auf den Rücksichtnahmegedanken zurückgegriffen. Die zur Konfliktabschichtung herangezogenen Begründungsmuster treten im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Argumentation besonders deutlich hervor. Aus ihnen sind daher weitere Hinweise für die Beantwortung der Ausgangsfrage nach der geeigneten Abschichtungsmethodik zu erwarten. a) Wechselbezügliche

Verhältnismäßigkeit

unter Privaten

In seinen Entscheidungen zum Privatrecht stand das Bundesverfassungsgericht vor der Frage, in welchem Ausmaß die Grundrechte die vertragliche Gestaltungsfreiheit beeinflussen. 41 Ausgangspunkt der Rechtsprechung zu Konflikten auf der Gleichordnungsebene ist die Feststellung, Privatautonomie bestehe nur im Rahmen der geltenden Gesetze, und diese seien ihrerseits an die Grundrechte gebunden. 42 Die Rechtsprechung stützt sich des weiteren auf die Aussage, es seien von dem Bild liberaler Freiheitsverwirklichung, welches von grundsätzlich gleich starken Bürgern ausgeht, die in freier Vereinbarung ihre Autonomie verwirklichen, der Rechtswirklichkeit oftmals erhebliche Abstriche zu machen. Damit bestehe die Gefahr der „Fremdbestimmung" des Grundrechtsträgers durch Private, die von der Rechtsordnung nicht hingenommen werden könne. Das Zivilrecht habe die Aufgabe, hier einen angemessenen Ausgleich ungleicher Privater zu schaffen. Heute bestehe weitgehende Einigkeit darüber, daß die Vertragsfreiheit nur im Falle eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Partner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs tauge und daß der Ausgleich gestörter Vertragsparität zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts gehöre. 43 Im Sinne dieser Aufgabe seien große Teile des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu deuten. 44 In diesem Zusammenhang komme den Ge41

So ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der „Eigentümer vermieteten Wohnraums in verstärktem Maße verpflichtet, auf die Belange derjenigen Mitbürger Rücksicht zu nehmen, die aus eigener finanzieller Kraft keinen Wohnraum für sich schaffen können und deshalb auf die Nutzung fremden Eigentums angewiesen sind", BVerfGE 82, 6/16 - Nichtehelicher Lebenspartner. 42 Siehe dazu BVerfGE 81, 242/254 - Handelsvertreter (unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung seit dem Lüth-Urteil, BVerfGE 7, 198/205 f.): „Das Grundgesetz will keine wertneutrale Ordnung sein, sondern hat in seinem Grundrechtsabschnitt objektive Grundentscheidungen getroffen, die für alle Bereiche des Rechts, also auch für das Zivilrecht, gelten. Keine bürgerlichrechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu den Prinzipien stehen, die in den Grundrechten zum Ausdruck kommen. Das gilt vor allem für diejenigen Vorschriften des Privatrechts, die zwingendes Recht enthalten und damit der Privatautonomie Schranken setzen."

I. Unvollkommene Pflichten in der Rechtsanwendung

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neralklauseln des Bürgerlichen Gesetzbuchs zentrale Bedeutung zu. Die Zivilrechtswissenschaft sei sich im Ergebnis darüber einig, daß der Grundsatz von Treu und Glauben eine immanente Grenze vertraglicher Gestaltungsmacht bezeichne und die Befugnis zu einer richterlichen Inhaltskontrolle des Vertrages begründe. 45 Über die Voraussetzungen und die Intensität dieser Inhaltskontrolle bestehe zwar im juristischen Schrifttum Streit; für die verfassungsrechtliche Würdigung genüge jedoch die Feststellung, daß das geltende Recht jedenfalls Instrumente bereit hält, die es möglich machen, auf strukturelle Störungen der Vertragsparität angemessen zu reagieren. Vor diesem Hintergrund verneint das Bundesverfassungsgericht die Frage, ob es für die Verurteilung des Vertragspartners ausreicht, den Vertragsinhalt festzustellen. In der Handelsvertreter-Entscheidung kommt es zu dem Ergebnis, die vertraglich vereinbarte und nach § 90a Abs. 2 Satz 2 HGB zulässige Sanktion einer umfassenden räumlichen und sachlichen Erstreckung des zweijährigen entschädigungslosen Wettbewerbs Verbots für den Vertreter sei „nicht erforderlich, um wettbewerbsrechtlichen Nachteilen des kündigenden Unternehmers zu begegnen; dem Handelsvertreter ist sie wegen ihrer einschneidenden Folgen vielfach unzumutbar; sie wirkt also in dieser Allgemeinheit unverhältnismäßig." 46 Die gesetzliche Regelung, die eine derartige vertragliche Gestaltung zuläßt, sei daher verfassungswidrig. In der Bürgschaftsentscheidung stellt das Gericht fest, mit der Pflicht zur Ausgestaltung der Privatrechtsordnung habe der Gesetzgeber „ein Problem praktischer Konkordanz" zu lösen: „ A m Zivilrechtsverkehr nehmen gleichrangige Grundrechtsträger teil, die unterschiedliche Interessen und vielfach gegenläufige Ziele verfolgen. Da alle Beteiligten des Zivilrechtsverkehrs den Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG genießen und sich gleichermaßen auf die grundrechtliche Gewährleistung ihrer Privatautonomie berufen können, darf nicht nur das Recht des Stärkeren gelten. Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden". 47 Inhaltlich verlangt das Bundesverfassungsgericht eine „angemessene Lösung", die beiden Seiten gerecht wird. Bei der Ausgestaltung des rechtlichen Rahmens für die Ausübung der grundrechtlich geschützten Privatautonomie stehe dem Gesetzgeber ein besonders weiter Gestaltungsspielraum 43

BVerfGE 89, 214/233 - Bürgschaft der Angehörigen unter Verweis auf Limbach 1985, S. 10 ff. mit zahlr. Nachw. und Preis 1993, 216 ff. Einschränkend äußert sich in seiner Urteilsanmerkung Rittner 1994, 3330. 44 Das Gericht verweist hierzu auf Hönn 1982. 45 Unter Verweis auf Fastrich 1992, 70 ff. und Preis 1993, 249 f. 46 BVerfGE 81, 242/263 - Handelsvertreter. 47 BVerfGE 89, 214/232 - Bürgschaft der Angehörigen. Siehe dazu die Anmerkungen von Wiedemann 1994, Adomeit 1994 und Rittner 1994.

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C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

zu. Dieser sei verfassungsrechtlich allerdings „nach beiden Seiten begrenzt", weil es sowohl auf seiten des „Überlegenen" als auch für die „Schwächeren" um grundrechtlich geschützte Positionen gehe. „Weder Freiheitsbeschränkung noch Freiheitsschutz dürfen in einer solchen Wechselbeziehung unverhältnismäßig sein." 48 Das Gericht legt damit in beiden Entscheidungen eine „wechselbezügliche Verhältnismäßigkeitsprüfung" zugrunde und entwickelt auf diese Weise ein Entscheidungsraster. Betrachtet man den dieses aus der Perspektive der Privatrechtssubjekte, erweist sich die nach beiden Seiten gebotene Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Ergebnis als nichts anderes als das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme: 49 Wer vom anderen etwas fordert, was zur Wahrung seiner Interessen nicht „erforderlich" ist, schränkt den anderen „mehr als notwendig" ein und verstößt damit gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Geschieht dies in gravierender Weise, ohne daß der andere von sich aus in der Lage ist, sich dagegen zu wehren, 50 stellt sich die - vom Bundesverfassungsgericht unter Verweis auf die Geltung grundrechtlicher Schutzpflichten auch im Privatrechtsverhältnis beantwortete - Frage nach der verfassungsrechtlichen Ausformung des Prinzips der Rücksichtnahme und den Möglichkeiten des schwächeren Partners, dies gegebenenfalls gerichtlich einzufordern. 51 Explizit von einer Rücksichtnahmepflicht spricht das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe von Entscheidungen, die sich mit der Beschränkung von Vermieterbefugnissen befassen. 52 Unter Berücksichtigung des personalen Bezug des Eigentumsschutzes einerseits und der Sozialbezogenheit andererseits versucht das Gericht, einen Ausgleich herbeizuführen. Soweit der Nichteigentümer „der Nutzung des Eigentumsobjekts zu seiner Freiheitssicherung und verantwortlichen Lebensgestaltung bedarf 4 , umfaße „das grundgesetzliche Gebot einer am Gemeinwohl orientierten Nutzung die Pflicht zur Rücksichtnahme auf den Nichteigentümer 44. Diese Pflicht inhalt-

48

BVerfGE 81, 242/261 - Handelsvertreter. Siehe dazu die Anmerkungen von Wiedemann 1990 und Hillgruber 1991. 49 Zur inhaltlichen Ausfüllung und Systematisierung der sich daraus ergebenden Anforderungen siehe Abschnitt III. 3. b). 50 Wobei die Frage, wann eine derart nachhaltige Störung der Vertragsparität anzunehmen ist, nur auf der Grundlage tatsächlicher Feststellungen zu treffen sein dürfte; eine Anforderung, der das Bundesverfassungsgericht in der HandelsvertreterEntscheidung nicht entsprochen hat (Hermes 1990, 1767). 51 Zu der dogmatischen Einordnung, den Voraussetzungen und Rechtsfolgen der damit aufgeworfenen Fragen siehe Hager 1994 und Singer 1995 (jeweils mit zahlreichen Nachweisen) sowie Abschnitt V. 2. b). 52 Eine Recherche unter den 888 „Top Cases" zum Verfassungsrecht (Berkemann 1996) fördert nicht weniger als 64 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Tage, in denen das Gebot der Rücksichtnahme ausdrücklich herangezogen wird.

I. Unvollkommene Pflichten in der Rechtsanwendung

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lieh auszugestalten, sei Aufgabe des Gesetzgebers. 53 In dem von ihm geschaffenen Rahmen sind aber ergänzend auch die Gerichte verpflichtet, entsprechend ihrer rechtsstaatlichen Funktion die Schutzpflicht umzusetzen. „Gläubiger" ist der unzureichend geschützte Private. b) Rücksichtnahme im Verhältnis

Bürger-Staat

Rücksichtnahmeforderungen lassen sich im Verhältnis Bürger-Staat aus zwei Perspektiven betrachten: aus der des Staates und aus der Sicht des Bürgers. Im Verhältnis zwischen Hoheitsgewalt und Bürger regiert die Gesetzesbindung mit ihren formalen und materiellen Gehalten. Greift der Staat in die Grundrechtssphäre Privater ein, benötigt er eine gesetzliche Grundlage, in der die verschiedenen Verfassungsrechtsgüter in ein angemessenes Verhältnis gebracht sind. Der Staat darf nur mit geeigneten Instrumenten auf möglichst schonende Weise und auch nicht übermäßig in die Grundrechtsfreiheit eingreifen. Bei der Verwirklichung ihrer Regelungsziele müssen die öffentlichen Gewalten also mit anderen Worten auf die Grundrechte der Bürger „Rücksicht" nehmen. Verstößt der Staat gegen diese Anforderungen, steht dem Bürger ein Abwehrrecht zu, welches er gerichtlich durchsetzen kann (Art. 19 Abs. 4 GG). Der Schutzanspruch des Bürgers, wie er in den Elementen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Ausdruck kommt, hat seine Wurzeln in den einzelnen Grundrechtstatbeständen. Zugleich stellt er jedoch ein die verschiedenen Grundrechte überwölbendes Entscheidungsraster bereit [siehe Abschnitt V. 2.]. Das Bundesverfassungsgericht richtet Rücksichtnahmeforderungen aber nicht nur an die Staatsgewalt, sondern auch an die Grundrechtsträger. So prägt der Grundsatz der Rücksichtnahme das beamtenrechtliche Verhältnis zwischen Dienstherr und Dienstverpflichteten: 54 „Es handelt sich insoweit um Beziehungen, deren sachgemäße Abwicklung nur möglich ist, wenn beide Teile, der Beamte und der Vorgesetzte, in entsprechender Weise, wie dies § 242 BGB für das bürgerliche Recht verlangt, ihr Verhalten dem Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme zu unterstellen". Dieser Ansatz ist aber nicht auf das Beamtenverhältnis beschränkt. In der Entscheidung zum Religionsuntericht spricht das Bundesverfassungsgericht 53

BVerfGE 68, 361/368 - Eigenbedarfskündigung, wo zur Begründung u.a. ausgeführt wird: „Maßgebend ist der in Art. 14 Abs. 2 GG Ausdruck findende Gesichtspunkt, daß Nutzung und Verfügung in jedem Fall nicht lediglich innerhalb der Sphäre des Eigentümers bleiben, sondern Belange anderer Rechtsgenossen berühren, die auf die Nutzung des Eigentumsobjekts angewiesen sind". Ähnlich bereits BVerfGE 37, 132/140 - Wohnraumkündigung. 54 BVerfGE 03, 58/157 - Beamtenversorgung, unter Verweis auf RG vom 19.9.1938 - 3 45/38 - Ζ 158, 235/239.

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C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

von einer „Pflicht zur Kooperation und gegenseitigen Rücksichtnahme" zwischen Staat und Kirche. 5 5 Zur Begründung verweist das Gericht darauf, daß der Religionsunterricht zu den „gemeinsamen Angelegenheiten" beider Seiten gehöre. Dementsprechend seien die „die Verantwortungsbereiche beider Institutionen eng miteinander verknüpft". Ungeachtet der sich daraus ergebenden Kooperations- und Rücksichtnahmeanforderungen seien aber die jeweiligen Zuständigkeiten streng voneinander zu trennen. 56 Besonders prägnant ist eine Passage der Brokdorf-Entscheidung. 57 Dort geht das Gericht davon aus, der Grundrechtsträger habe bei der Grundrechtsausübung „die Beeinträchtigung von Drittinteressen zu minimalisieren. Eine solche Pflicht folgt schon unmittelbar aus der Grundrechtsgewährleistung und deren Abstimmung auf die Grundrechte anderer." Weitergehende „Obliegenheiten ließen sich möglicherweise mit der Gemeinschaftsbezogenheit der Grundrechtsausübung und mit der Verursacherverantwortung" rechtfertigen. „Auch ohne eine gesetzgeberische Präzisierung" tue der Grundrechtsträger „gut daran", die Minimimalisierungsanforderung „möglichst von sich aus zu berücksichtigen." Je mehr er dies tue, „desto höher rücke die Schwelle" für ein hoheitliches Eingreifen. 58 Hier tritt ein appellativer Charakter des Rücksichtnahmegedankens hinzu. Rechtliche Konsequenzen sind damit lediglich mittelbar verbunden. Der Anreiz, der zur Erfüllung der Obliegenheit anhält, besteht darin, daß die Versammlungsfreiheit ohne hoheitliche Intervention auszuüben ist und die selbstbestimmte Entfaltung dieses Grundrechtes in höherem Maße gewährleistet erscheint als bei einengenden versammlungspolizeilichen Auflagen. Diese Konstallation läßt sich mit dem Begriff „Kooperationsobliegenheit" umschreiben. 59 In dieser Konfliktlage zeigt sich das Grundmuster der Grundrechtsverwirklichung in der Sozialsphäre: Ein Verhalten unter Beachtung der Rücksichtnahmeobliegenheit erübrigt ein Eingreifen der öffentlichen Gewalt zum Schutz der Verfassungsgüter, denen die Obliegenheit gilt. Sachlich sehr nahe bei der Anwendung von Rücksichtnahmegeboten im Zivilrecht liegen die Fälle, in denen das Rechtsverhältnis zwischen zwei Grundrechtsträgern öffentlich-rechtlich reguliert ist. Dementsprechend 55

BVerfGE 74, 244/251 - Religionsunterricht. Im konkreten Fall führte dies dazu, daß die Beschränkungen der Religionsgemeinschaften im Hinblick auf die Teilnahme von Schülern fremder Konfessionen vom Staat zu akzeptieren war, weil sich die Regelung innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen des Art. 7 Abs. 3 GG bewege. 57 BVerfGE 69, 315/356 f. - Brokdorf. 58 Ähnlich argumentiert Bryde 1992, Art. 14 Rn. 69. 59 Siehe - auch zu den Möglichkeiten, die Rücksichtnahmeobliegenheit durch prozedurale Vorkehrungen zu operationalisieren - Hoffmann-Riem 1987, 382 ff. sowie Buschmann 1990, 75 ff. 56

I. Unvollkommene Pflichten in der Rechtsanwendung

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bringt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht zur Eigentumsnutzung auch für den Bereich des Öffentlichen Rechts Rücksichtnahmegebote zum Tragen. 60 Zugleich betont das Gericht die Aufgabe des Gesetzgebers, die Pflicht zur Rücksichtnahme inhaltlich auszugestalten. Wo der Gesetzgeber dies getan hat, hält das Bundesverfassungsgericht auch ökonomisch stark einschneidende Beschränkungen der Eigentümerbefugnisse als entschädigungslose Inhaltsbestimmung 61 für verfassungsrechtlich zulässig, wenn entsprechend gewichtige Verfassungsgüter die Einschränkungen rechtfertigen. 62 c) Ergebnis Das Gebot der Rücksichtnahme taucht in der Verfassungsgerichtsrechtsprechung in unterschiedlichen Konstellationen auf. Im hoheitlichen Verhältnis läßt sich das Übermaßverbot als Forderung an den Staat verstehen, bei Eingriffen in die Grundrechte rücksichtsvoll vorzugehen. Insoweit kann der Gedanke der Rücksichtnahme auf eine lange Tradition zurückblicken. Weniger zu erwarten war dagegen, daß das Bundesverfassungsgericht auch umgekehrt vom Grundrechtsträger bei der öffentlich-rechtlich regulierten Ausübung seiner Freiheitsrechte explizit Rücksichtnahme fordert. Eine derartige Betrachtungsweise führt zu einer Relativierung grundrechtlicher Freiheit und ist daher alles andere als unproblematisch. Die für den Bereich des öffentlichen Rechts beobachtete Funktion unbestimmter Rechtsbegriffe, einen dynamischen Grundrechtsschutz zu ermöglichen, 63 macht das Gericht auch für das Privatrecht fruchtbar. Der dynamische Schutz des einen führt in der Regel zu einer Belastung des anderen. Der Unterschied zu den Konstellationen des öffentlichen Rechts, wo diese Funktion entwickelt wurde, ist weniger groß als es zunächst den Anschein haben mag, weil auch dort der Schutz des einen - vermittelt über entsprechendes Handeln der Behörde - zu Belastungen des anderen Beteiligten führt. 6 4 Daß Rücksichtnahme im Verhältnis der Bürger untereinander eine zentrale Rolle spielt, entspricht dem bereits festgestellten Befund zum Privat60

BVerfGE 70, 191/201 - Fischereirechte: „Rücksichtnahme auf den Nichteigentümer"; BVerfGE 52, 1/32 - Kleingarten. 61 Zu dieser dogmatischen Figur siehe Kapitel E, Abschnitt II. 4. 62 BVerfGE 58, 300 - Naßauskiesung; anders noch der Vorlagebeschluß: BGH vom 13.7.1978 - III ZR 28/76 - NJW 1978, 2290. Vgl. dazu Rittstieg 1982, 721. 63 BVerfGE 49, 89 - Kalkar; siehe dazu etwa Denninger 1990, 40. 64 In welchen der beiden Konstellationen man von einer mittelbaren bzw. unmittelbaren Grundrechtswirkung spricht, ist eine Frage der dogmatischen Perspektive. Funktional dürften die Unterschiede nicht wesentlich sein; siehe Abschnitt V. 1. c), Seite 197 f.

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C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

rechtsverhältnis. Die grundrechtliche Argumentation des Gerichts führt im Ergebnis zu einer wechselseitigigen Verhältnismäßigkeitsanforderung. Hervorzuheben ist, daß sich der Einzelne vor Gericht auch dann auf den Rücksichtnahmegedanken berufen kann, wenn er zuvor unter Einhaltung der zivilrechtlichen Vorgaben vertraglich etwas anderes vereinbart hatte. Diese Konsequenz reicht über die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe hinaus und eröffnet der Einwirkung der Grundrechte auf das Privatrechtsverhältnis eine neue Dimension: Während infolge der „mittelbaren Grundrechtswirkung" die Auslegungsspielräume des nicht zwingenden Rechts ohnehin grundrechtskonform zu füllen sind, ergibt sich jetzt auch eine verfassungsprozessuale Korrekturmöglichkeit der „zwingenden Vorschriften" des Privatrechts. Den Maßstab dafür liefert die wechselbezügliche Verhältnismäßigkeitsprüfung.

6. Konfliktkonstellationen Auf der Grundlage der Bestandsaufnahme sind im folgenden die Strukturen genauer zu umschreiben, die jene Konfliktkonstellationen ausmachen, in denen unvollkommene Pflichten zum Tragen kommen. Dabei geht es um Pflichten, die sich an nicht-staatliche Akteure richten. Diese unterscheiden sich in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht von Verantwortungskonflikten im Binnenbereich der öffentlichen Gewalt; darauf ist im folgenden Abschnitt II. gesondert einzugehen. Die Konfliktkonstellationen lassen sich differenzieren im Hinblick auf diejenigen, die durch die aufgestellten Pflichten begünstigt werden. Dies kann ein direktes personales Gegenüber sein. Nutznießer der Pflichten können aber auch Belange des Gemeinwohls sein. Je nach dem, wer von der Pflichten profitiert, gibt es unterschiedliche prozedurale Möglichkeiten, den Verhaltensmaßstab zu konkretisieren und die jeweils vorgesehene Folgenanlastung herbeizuführen. Es geht also um den Charakter der unvollkommenen Pflichten und die Möglichkeiten ihrer situationsspezifischen Konkretisierung, aber auch die jeweilige institutionelle Einbettung. a) Offene

Verhaltenspflichten

im Gegenseitigkeitsverhältnis

Ist der Begünstigte einer offenen Verhaltenspflicht individualisiert, steht ihm in der Regel auch die Rechtsmacht zu, Pflichtenverstöße geltend zu machen. Dies gilt etwa für das Zivilrecht mit seinen „sonstigen Verhaltenspflichten" und „Obliegenheiten", aber auch für das öffentliche Nachbarrecht. Die Befugnis, Sanktionen des Rechtsstabes in Anspruch zu nehmen, ist dem jeweiligen Gegenüber eingeräumt. Damit steht grundsätzlich ein Mechanismus der Folgenanlastung zur Verfügung. Problematisch kann dann

I. Unvollkommene Pflichten in der Rechtsanendung

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allein sein, wie der Inhalt der offenen Verhaltenspflichten für den jeweiligen Konfliktfall zu konkretisieren ist. Etwas anderes gilt nur dann, wenn dem „Gegenüber" nur partiell die Rechtsmacht eingeräumt ist, die gesetzlich formulierten Verhaltensanforderungen geltend zu machen. Jedenfalls für den - beispielsweise im Rahmen des verwaltungsrechtlichen „Drittschutzes" 65 - nicht erfaßten Teil bedarf es dann ergänzender institutioneller Vorkehrungen mit den daraus resultierenden zusätzlichen motivationeilen Parametern. 66 b) Offene

Verhaltenspflichten

gegenüber dem Allgemeinwohl

Begünstigen die unvollkommenen Pflichten nicht konkret indivualisierbare Personen, sondern sind darauf gerichtet, Belange des allgemeinen Wohls zu verwirklichen, dann fehlt es in der Regel 67 an nicht-hoheitlichen Akteuren, denen die Befugnis eingeräumt ist, den Prozeß der Pflichtenkonkretisierung und Folgenanlastung in Gang zu setzen. Hier ist ein Institutionengefüge zu errichten, welches aus sich heraus auf die Motivationslage der jeweils maßgeblichen Akteure einwirkt. Wie die institutionelle Einbettung auszugestalten ist, ergibt sich aus der unterschiedlichen Problem- und Handlungsstruktur. aa) Global konkretisierte Steuerungsziele bei fehlender Individualisierung In manchen Fällen stellt sich die Problemsituation so dar, daß sich das Verhaltensziel auf einer übergreifenden Ebene relativ präzise konkretisieren läßt (etwa eine C0 2 -Minderungsquote für einen bestimmten Zeitraum, eine Beschäftigungsquote für Schwerbehinderte Arbeitnehmer oder ein Anteil an Mehrweggebinden für bestimmte Getränke), es aber noch unklar ist, in welchem Umfang es - betrachtet aus der Perspektive der Steuerungsinstanz erwünscht ist, daß die einzelnen Akteure zu der Erfüllung des Verhaltensziels beitragen. In dieser Situation ist es schwer, auf der Grundlage des 65

Zu den Grenzen des Drittschutzes im öffentlichen Nachbarrecht siehe Steinberg 1993, 77 ff. 66 Siehe dazu (mit vergleichender Betrachtung der US-amerikanischen Situation) Steinberg 1998, 287 ff. und (mit entsprechenden Neugestaltungsvorschlägen) Lübbe-Wolff 2000a, 28 ff. sowie Kapitel F, Abschnitt III. 2. 67 Ausnahmen sind die verschiedenen Möglichkeiten im Wege der „Verbandsklage" tätig zu werden. In manchen Fällen können auch Individuen zugleich - in „Stellvertreterfunktion" - Gemeinwohlbelange geltend machen. Die bundesdeutsche Rechtsprechung ist diesbezüglich jedoch sehr zurückhaltend (siehe für den Bereich des Umweltrechtes Bizer/Ormond/Riedel 1990 sowie die Beiträge in Führ/Roller 1991).

1 2 6 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

klassischen verwaltungsrechtlichen Instrumentariums regeiförmige Verhaltenspflichten zu formulieren und mit entsprechenden Rechtsfolgen für konkrete Adressaten zu versehen. Die Regulierungsinstanzen ziehen sich daher nicht selten darauf zurück, lediglich Selbstveφflichtungserklärungen der Akteure entgegenzunehmen. In welcher Weise dann reagiert wird, wenn die Zusagen nicht eingehalten werden, bleibt dabei meist offen. Ähnlich ist die Situation, wenn - wie bei den Mehrwegquoten - zwar quantifizierte Handlungsziele auf dem Verordnungswege formuliert werden, die für den Fall des Verfehlens vorgesehenen ordnungsrechtlichen Sanktionen aber entweder nicht vorhanden oder aber offenbar inadäquat sind. 68 In einer derartigen Situation bietet es sich daher an, auf uniform wirkende ökonomische Anreizinstrumente zurückzugreifen, wie dies etwa bei der Schwerbehinderten-Abgabe geschehen ist. 6 9 Generell läßt sich sagen, daß es bei einer derartigen Problemstruktur einer institutionellen Anreizsituation bedarf, die gewährleistet, daß insgesamt eine hinreichende Motivation vorhanden ist, Zielmindererfüllung durch einzelne Akteure durch Übererfüllung anderer kompensiert wird. bb) Individualisierte Pflichten bei fehlender Konkretisierung Andere Anforderungen stellt dagegen eine Konstellation, in der zwar klar ist, welche individuellen Akteure als Adressaten der Verhaltenspflichten anzusprechen sind, sich jedoch der Inhalt der Pflichten lediglich qualitativ umschreiben läßt. Dies gilt etwa für die sogenannten „Grundpflichten", wie sie im Lebensmittelrecht (§ 8 LMBG), Arzneimittelrecht (§ 5 AMG), Gentechnikrecht (§ 6 GenTG), Pflanzenschutzrecht (§ 6 PflSchG), Immissionsschutzrecht (§ 5 BImSchG), im Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht (§ 22 Krw-/AbfG) sowie in abgewandelter Form auch im Atomrecht verankert sind. Alle diese Pflichten richten sich direkt an die jeweiligen, meist privaten Akteure. Nach allgemeiner Auffassung sind sie unmittelbar geltendes Recht, 70 dabei jedoch für eine inhaltliche Weiterentwicklung offen. Ihnen 68

Dies dürfte etwa für das angeordnete „Zwangspfand" auf Einweg-Getränkeverpackungen gelten (siehe Umwelt 2000, 414), was - ähnlich wie beim „Dualen System" nach der Verpackungs-Verordnung - immense Investitionen in Sammel- und Rücknahmesystem erfordert, die - einmal getätigt - die Abkehr von der eigentlich unerwünschten Verpackungsform noch unwahrscheinlicher machen. Hingegen würde eine Abgabe auf Einweg-Getränkeverpackungen einen uniformen Anreiz darstellen, diese zu vermeiden, ohne daß ökonomisch und ökologisch unsinnige Investitionen in ein eigenständiges Redistributionssystem zu tätigen wären. Durch eine kontinuierliche Anpassung der Abgabenhöhe könnte man zudem die ökonomischen Rahmenbedingungen für den erforderlichen Umstellungsprozeß in berechenbarer Weise bereitstellen. 69 Siehe dazu Riehl 1999.

I. Unvollkommene Pflichten in der Rechtsanwendung

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wird infolgedessen ein dynamischer Charakter zugesprochen (BVerfGE, 49, 89/140 f. - Kalkar). Probleme stellen sich damit nicht allein bei der Folgenanlastung, sondern bereits bei der Bestimmung des Pflichteninhaltes. Dies ist - wie das Beispiel der unvollkommenen Pflichten des Zivilrechts zeigt - für sich allein noch nichts Ungewöhnliches. Der Unterschied besteht jedoch darin, daß es hier nicht ein individuelles „Gegenüber" gibt, welches seine Interessen formulieren und auf der Gleichordnungsebene geltend machen sowie gegebenenfalls auch streitig durchsetzen kann. Die öffentliche Gewalt kann sich also nicht auf die - vergleichsweise einfach zu bewältigende - Rolle des Schiedsrichters zurückziehen, der die ihm vorgetragenen Belange würdigt und abwägt. Findet der Staat keine andere institutionelle Lösung, ist er gezwungen, über die Statuierung unvollkommener Pflichten hinaus für jede Konfliktsituation die einzustellenden Belange selbst zu formulieren und den Pflichteninhalt zu konkretisieren. Im klassischen verwaltungsrechtlichen Vorgehen führt dann kein Weg daran vorbei, die Rechtsfolge konkret und individuell zu benennen, unabhängig davon, ob dies in Gestalt eines Verwaltungsaktes oder einer Rechtsverordnung geschieht. Um den Schwierigkeiten bei der Konkretisierung des Pflichteninhalts zu begegnen, verlagern die Regulierungsinstanzen diese Aufgabe oftmals auf nicht-hoheitliche Organe, wobei die betroffenen Pflichtenadressaten - schon aus Gründen der Sachnähe - nicht selten an dem Prozeß der Maßstabsbildung nicht unmaßgeblich beteiligt sind. 71 Die Folgenanlastung erfolgt bei diesen Konstellationen zum Teil über die öffentliche Gewalt, die dazu die externe Maßstabsbildung zu autorisieren und in Rechtsaktqualität zu tranformieren hat. In manchen Fällen ist aber nicht nur die Maßstabsbildung, sondern auch der Mechanismus der Folgenanlastung „privatisiert", wie sich etwa in der „freiwilligen Selbstkontrolle" der Werbewirtschaft 72 oder der Filmindustrie veranschaulichen läßt. 70 Sie sollen „auch ohne konkretisierenden Akt" der Behörden für den Adressaten verbindlich sein (Roßnagel 1994, § 5 Rn. 25). Zugleich aber wird darauf hingewiesen: „Worin ihr praktisches Gewicht als unmittelbar geltende Pflichten liegt, ist noch kaum geklärt" (Jarass 1995, § 5 Rn. 102). 71 Man kann darin ein Art „funktioneller Gewaltenteilung" sehen. Beispiele dafür finden sich nicht nur im Bereich der „technischen" Normung, sondern in vielen anderen Bereichen. In welchem Umfang eine solche „Abbürdung" (Di Fabio 1997) hoheitlicher Funktionen einerseits sachgerecht und andererseits zulässig erscheint, ist sowohl im grundsätzlichen als auch in der konkreten Ausfüllung umstritten (siehe dazu etwa die Beiträge von Denninger 1990, Lübbe-Wolff 1991, Di Fabio 1997, Schmidt-Preuß 1997, Leisner 1998). Unzweifelhaft ist jedoch eine Entwicklung vom „einseitig hoheitlich auftretenden, kontrollierenden Staat zum kooperativen Verfassungsstaat" auszumachen (v. Bogdandy 1993 a, 104). 72 Siehe dazu K. Bizer 1999b.

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C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot c) Indirekt steuernde institutionelle

Bedingungen

In den zuletzt betrachteten Konfliktkonstellationen stellt sich für die öffentliche Gewalt meist das Problem, daß sie nicht über hinreichende Ressourcen verfügt, um die für Problembeschreibung notwendigen Informationen zusammenzustellen und zu verarbeiten. Hinzu kommt in der Regel, daß sie jedenfalls alleine nicht in der Lage ist, die für die Problemlösung notwendigen sozialen, technischen und organisatorischen Veränderungen herbeizuführen. Damit stellt sich die Frage, wie sich in diesen Fällen die Verhaltensanforderungen konkretisieren lassen und welche institutionellen Bedingungen geeignet sind, die notwendigen motivationeilen Impulse zu vermitteln. Im Bereich von direkten Gegenseitigkeitsverhältnissen hat die Rechtsprechung nach und nach eine ganze Reihe von Verhaltensanforderungen entwickelt, die dazu beitragen, Konfliktsituationen von vornherein zu entschärfen und dennoch auftretende Streitfälle zu bewältigen. Diese Rechtsprechung kann als ein Beispiel evolutionärer Institutionenbildung 73 angesehen werden. Grundlage dafür war die - institutionell garantierte - Möglichkeit, die individuell verfolgten Zwecke und die dazu eingesetzten Mittel in einem gerichtsförmigen Rationalitätstest denen des Vertragspartners gegenüberzustellen. Da die Grundstruktur des Konfliktes - Individualinteresse contra Individualinteresse - in allen Konfliktfällen übereinstimmt, ist es ohne weiteres möglich, die für eine spezifische Situation entwickelten Kriterien auch in anderen Konstellationen fruchtbar zu machen. Wo sich unvollkommene Pflichten nicht auf die Wahrung individualisierter Belange richten, sind die Möglichkeiten gerichtsförmiger Institutionenevolution stark eingeschränkt. Selbst für den Fall, daß überhaupt die Möglichkeit besteht, eine gerichtliche Streitklärung herbeizuführen, sind die einzubringenden Belange in der Regel auf den Individualschutz beschränkt, während der eigentliche Gestaltungsauftrag deutlich weiter reicht. Eine evolutionäre Institutionenbildung durch die Gerichtsbarkeit muß daher notwendig defizitär bleiben. Die Institutionenbildung hat daher auf andere Weise zu erfolgen. Hoheitliche Interventionen sind unabdingbar, womit sich Frage stellt, welche institutionelle Rahmenbedingungen geeignet sind, die Steuerungsprobleme zu bewältigen. Zu suchen ist nach „funktionalen Äquivalenten" zu den im Bereich des Zivilrechts herausgebildeten Instrumenten.

73

Zu diesem Verständnis der Prozesse von Rechtsanwendung und Rechtsgestaltung siehe Kapitel F, Abschnitt VI.

II. Verantwortungsteilung innerhalb der öffentlichen Gewalt d) Übergreifende

129

Fragestellungen

Bei den verschiedenen Konstellationen, in denen Regelungsmuster aus der Kategorie „Eigen-Verantwortung" zum Tragen kommen, treten bestimmte gemeinsame Probleme 74 auf, denen im folgenden weiter nachzugehen ist. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei Fragestellungen. Einerseits ist zu klären, wie sich aus unvollkommenen Pflichten für die jeweils zu bewältigenden Konflikte konkrete Verhaltensanforderungen formulieren lassen oder - mit anderen Worten - wie sich situationsspezifisch der Verantwortungsmaßstab bestimmen läßt. Bei dieser Frage bestehen keine Unterschiede in der Problemstruktur in den verschiedenen Konfliktkonstellationen. Zu suchen ist nach einem Abwägungsmuster, welches in der Lage ist, die notwendige Konkretisierungsleistung als rechtlich begründbares Ergebnis zu erbringen [siehe Abschnitt III.]. Anderseits ist der Frage nachzugehen, welche institutionellen Bedingungen mit welchen motivationsbeeinflussenden Wirkungen einhergehen und welches Verhalten daher jeweils zu erwarten ist. Daraus ergeben sich unterschiedliche Gestaltungsoptionen für die rechtlich herbeigeführte Folgenanlastung. Um die motivationellen Wirkungen analysieren zu können, benötigt man ein Modell, welches die verhaltensbestimmenden Faktoren zusammenführt [siehe Kapitel D.].

I I . Verantwortungsteilung innerhalb der öffentlichen Gewalt Das Phänomen geteilter Verantwortung ist besonders ausgeprägt in der Binnendifferenzierung der öffentlichen Gewalt. Anders als bei Individualpositionen des privaten oder des Verwaltungsrechts steht hier die Funktionsfähigkeit des staatlichen Systems als Ganzem im Vordergrund. Dementsprechend geht es nicht in erster Linie um die Harmonisierung von Rechtspositionen, sondern es stellt sich das Problem der Funktionsabgrenzung. Gefordert ist eine Definition der jeweiligen Verantwortungsbereiche mit ihren Gestaltungs-, Entscheidungs- und Ausführungsaufgaben, die jeweils positiv zu umschreiben und negativ voneinander abzugrenzen sind. Dies allein reicht jedoch nicht aus. Für die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems sind die verschiedenen Aktivitäten der hoheitlichen Organe materiell und prozedural aufeinander abzustimmen, denn die unterschiedlichen Aufgaben las74 Daneben treten selbstverständlich in jedem Regelungsbereich die spezifischen Probleme hervor. Diese sind jedoch nur vor dem Hintergrund des jeweiligen Problemkontextes sinnvoll zu diskutieren und sollen daher an dieser Stelle außer Betracht bleiben. Lediglich soweit es zur Veranschaulichung von Regelungsmustern notwendig erscheint, sind auch exemplarische Einzelanwendungen heranzuziehen. 9 Führ

130

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

sen sich meist nicht eigenständig, sondern nur im Zusammenwirken mit den anderen Trägern öffentlicher Gewalt erfüllen. Statt von Gewaltenteilung sollte daher vielleicht zutreffender von „Gewaltenkooperation" gesprochen werden (v. Bogdandy 2000, 148); statt Verantwortungsteilung ist von einer (partiellen) Überlagerung der Verantwortungsbereiche auszugehen. In der Binnendifferenzierung der öffentlichen Gewalt ist neben der klassischen (horizontalen) Untergliederung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative auch die (vertikale) Aufteilung hoheitlicher Funktionen relevant. Sie reicht von den Kommunen über die Bundesländer und die bundesstaatliche Ebene bis hin zu supranationalen Institutionen, denen Hoheitsrechte übertragen wurden. Die einzelnen Partialgewalten können sich für ihr Tätigwerden jeweils auf - unterschiedlich ausgeformte - demokratische Legitimationsquellen und staatsorganisatorische Funktionszuweisungen stützen. In Abhängigkeit von diesen Grundlagen verfügen sie über einen eigenständigen Handlungsraum, der von den übrigen Akteuren einerseits zu respektieren, andererseits aber auch zu kontrollieren ist. Die Aufgabe des Rechts besteht darin, Umfang und Intensität von „Respekt" und „Kontrolle" festzulegen sowie institutionelle Ausprägungen zu finden, die geeignet sind, die Balance zwischen den beiden Polen herbeizuführen. Soll die Kooperation der Partialgewalten gelingen, liegt es nahe, daß auch innerhalb des jeweils zugewiesenen Handlungsraumes, dessen Grenzen sich meist nicht trennscharf bestimmen lassen, auf die Belange der anderen Organe Rücksicht zu nehmen ist. Der Gedanke der Rücksichtnahme würde damit auch für diese Konstellation zum Tragen kommen. Zum Teil finden dazu ausdrückliche Bestimmungen; 75 vielfach werden die entsprechenden Anforderungen aber aus allgemeinen Überlegungen zu den Funktionsbedingungen eines föderal verfaßten Gemeinwesens begründet und wie etwa die Pflicht zu „loyaler Zusammenarbeit" oder zu „bundesstaatlicher Rücksichtnahme" 76 - von der Rechtsprechung entwickelt und situationsspezifisch ausgeformt. Dies ist im folgenden zu veranschaulichen am Beispiel der den Gemeinden eingeräumten Befugnis, ihre Angelegenheiten in „eigener Verantwortung" zu regeln [Art. 28 Abs. 2 GG, Abschnitt II. 1.], der exekutivischen Eigen-Verantwortung, wie sie etwa in Art. 65 GG zum Ausdruck kommt [Abschnitt II. 2.], und der Konstellation auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften [Abschnitt II. 3.]. In der exemplarischen Darstellung lassen sich typische Problemkonstellationen und die jeweils praktizierten Strategien zu ihrer Bewältigung aufzeigen. 75

Siehe etwa Art. 10 EGV; dazu Abschnitt II. 3. a). Zur Verantwortungsabgrenzung zwischen Bund und Ländern siehe BVerfGE 92, 203/235 ff. - EG-Fernsehrichtlinie. Dazu auch Isensee 1999, Rn. 113 ff.; Rudolf 1999 sowie Abschnitt II. 4. 76

II. Verantwortungsteilung innerhalb der öffentlichen Gewalt

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1. Eigene Verantwortung der Kommunen Den Gemeinden ist in Art. 28 Abs. 2 GG das Recht auf Selbstverwaltung garantiert. Dieses Recht dürfte mit der Befugnis der „Selbstregierung" (local government) zutreffender umschrieben sein, 77 denn die Befugnis der Gemeinden besteht darin, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft „in eigener Verantwortung zu regeln". Der damit umschriebene Handlungsraum besteht allerdings nur „ i m Rahmen der Gesetze". Einer weitgefaßten kommunalen Eigenständigkeit stehen damit ebenso offen formulierte Einschränkungsmöglichkeiten gegenüber, was der Garantie einen „zwiespältigen" Charakter verleiht (Püttner 1999, Rn. 16). Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine gesetzliche Neubestimmung des kommunalen Handlungsraumes zulässig ist, hat dementsprechend die Gerichte immer wieder beschäftigt. 78 Hervorzuheben sind dabei Aussagen zu Bedeutung und Charakter der Selbstverwaltung sowie die gewählten Ansätze zur methodischen Bewältigung des Verantwortungskonfliktes. Die Selbstverwaltung der Kommunen bedeutet eine Verlagerung von Handlungsmacht auf einen in gewissem Umfang eigenständigen gesellschaftlichen Wirkungskreis. Sie steht damit im Dienst der vertikalen Gewaltenteilung und verwirklicht das demokratische Prinzip. 79 Selbstverwaltung bedeutet „ihrem Wesen und ihrer Intention nach Aktivierung der Beteiligten für ihre eigenen Angelegenheiten", (BVerfGE 11, 266/275 - Wählervereinigung). Allerdings geht es hier in erster Linie um „kollektive" Belange der jeweiligen Gebietskörperschaft und nur mittelbar um individuelle Angelegenheiten der Bürger. Deutlich wird aber die Anknüpfung an die Eigen-Motivation der Betroffenen und der Versuch, diese für übergreifende Anliegen fruchtbar zu machen. M i t der Einräumung von Handlungsmacht unmittelbar verbunden ist die Konsequenz, die staatlichen Einwirkungsmöglichkeiten in gewissem Umfang auf „Distanz" zu halten. Die Einräumung von EigenVerantwortung bedeutet Weisungsfreiheit gegenüber staatlichen Organen, organisatorische Wahlmöglichkeiten und freie Alternativenwahl im Rahmen der Rechtsordnung. 80 77 Meyer 1994, 155. Zu den historischen und geistesgeschichtlichen Wurzeln dieses Ansatzes siehe Stem 1984, 398 ff. und Hendler 1999, 2 ff. Da der Begriff der Selbstverwaltung jedoch allgemein gebräuchlich ist, soll im folgenden an ihm festgehalten werden. 78 Siehe die Nachweise bei Stern 1984, 408 ff.; Dreier 1998a, Art. 28, Rn. 79 ff.; Püttner 1999. Rn. 17 ff. und Ehlers 2000. 79 Art. 11 Abs. 4 BayVerf stellt fest: „Die Selbstverwaltung dient dem Aufbau der Demokratie von unten nach oben". 80 Dreier 1998 a, Art. 28 Rn. 106 (unter Verweis auf die Wendung von Becker, Selbstverwaltung sei Aufgabenerfüllung „ohne Weisung und Vormundschaft des Staates"). Das Bundesverfassungsgericht spricht von der Befugnis zu „eigenverant9*

1 3 2 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

Das die Selbstverwaltung konstituierende Merkmal der Staatsdistanz begründet eine „Affinität zwischen Grundrechten und Selbstverwaltung" (Hendler 1999, 53). Die Parallelität in der inhaltlichen Intention muß sich auch in der methodischen Bewältigung der im Rahmen des Verfassungsrechts auszutragenden Konflikte niederschlagen. Zwar wird allgemein betont, die kommunale Selbstverwaltungsgarantie aus Art. 28 Abs. 2 GG sei kein Grundrecht, welches der einzelnen Gemeinde zustehe, 81 sondern eine institutionelle Garantie, die aus mehreren Elementen bestehe. 82 Ob sich daraus allerdings gravierende Unterschiede in der methodisch-dogmatischen Bewältigung der Konfliktlagen ergeben, ist fraglich. Die Gemeinden können Beeinträchtigungen ihres Selbstverwaltungsrechts vor den Verwaltungs- und Verfassungsgerichten abwehren. 83 Ihnen steht insoweit ein Rundumschutz zu. Für die Reichweite des Schutzes soll allerdings zwischen Beeinträchtigungen des Aufgabenbereiches und Organisationsvorgaben unterschieden werden. a) Aufgabenverteilungsprinzip In der Rastede-Entscheidung entwickelt das Bundesverfassungsgericht ein Verständnis der Selbstverwaltungsgarantie, wonach sich aus dem Grundsatz der Allzuständigkeit der Gemeinde für die örtlichen Angelegenheiten eine „normative Intention" entnehmen lasse, den Gemeinden einen entsprechenden Aufgabenbereich zu sichern. Das Gericht entwickelt damit ein „Aufgabenverteilungsprinzip" zugunsten der Gemeinde. Dieses Recht sei umfassend („grundsätzlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft") und vorbehaltslos gewährt, denn „auf die Verwaltungskraft der Gemeinde kommt es hierfür nicht an". 8 4 Der geschützte kommunale Aufgabenbereich (der „Gewährleistungsbereich") sei aus der Norm heraus zu entwickeln: Angelegenheiten der Kommune sind danach „diejenigen Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben". wortlicher Führung der Geschäfte" (BVerfGE 91, 228/236 - Gleichstellungsbeauftragte). 81 Dies zeigt sich etwa an der Befugnis der Gesetzgebers, einzelnen Gemeinden - etwa im Rahmen einer kommunalen Gebietsreform - ihre Eigenschaft als selbständige Gebietskörperschaft zu nehmen (siehe dazu BVerfGE 86, 90 - Papenburg und Dreier 1998 a, Art. 28 Rn. 94). 82 Siehe statt vieler Dreier 1998 a, Art. 28 Rn. 81/92 ff. 83 Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG. Art. 28 Abs. 2 GG vermittelt zudem ein subjektives Recht im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO (Dreier 1998 a, Art. 28 Rn. 96). 84 BVerfGE 79, 127/147 ff. und 152 - Rastede. Das Gericht grenzt sich damit von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab (siehe Püttner 1999, Rn. 18 ff.).

II. Verantwortungsteilung innerhalb der öffentlichen Gewalt

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W i l l der Gesetzgeber eine Regelung treffen, die den Gewährleistungsbereich beeinträchtigt, so darf er dies nur, wenn die „tragenden Gründe gegenüber dem verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilungsprinzip des Art. 28. Abs. 2 Satz 1 GG überwiegen; sein Entscheidungsspielraum ist insoweit normativ gebunden" (BVerfGE 79, 127/154). Es bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung für eine Aufgabenbeeinträchtigung, die sich auf Gründe des Gemeininteresses stützen kann (153). Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb für diese Rechtfertigungsprüfung nicht die allgemeinen Rationalkriterien des Rechts, also die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung zum Einsatz kommen sollen. 85 Im Ergebnis bedeutet dies für den Gesetzgeber eine Rechtfertigungslast, die der bei einer Grundrechtsbeeinträchtigung äquivalent ist. 8 6 Sie greift nicht wie bei der früheren Rechtsprechung nur bei Eingriffen in den Kernbereich, sondern generell bei aufgabenrelevanten Regelungen im Bereich des Art. 28 Abs. 2 GG ein. 8 7 Aus der Gewährleistung der primären gemeindlichen Eigenverantwortung für die örtlichen Angelegenheiten folgt ein - im Wege der Prinzipienoptimierung zu bestimmender - Handlungsmaßstab für intervenierende Akte anderer Hoheitsträger. Dieser Maßstab läßt sich auch als Maxime „gemeindefreundlichen Verhaltens" umschreiben, die aus Art. 28 Abs. 2 GG bzw. den entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen abzuleiten ist und von den staatlichen Organen „ein Mindestmaß an Konzilianz und Entgegenkommen im Sinne wohlverstandenen gemeindlichen Eigeninteresses" verlangt (Stern 1984, 418 f.). b) Organisationshoheit Diese Grundsätze müßten, so sollte man meinen, nicht nur für das „Ob" der Aufgabenwahrnehmung, sondern - erst recht - auch für das „Wie" und „Wann" (Dreier 1998 a, Art. 28, Rn. 106) gelten. Angesprochen sind damit unter anderem Fragen der Binnenorganisation des Verantwortungsträgers,

85

Püttner 1999, Rn. 21 (unter Verweis auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes Nordrhein-Westfalen). Selbstverständlich steht dem Gesetzgeber - wie sonst auch bei der Anwendung dieser Rationalkriterien (siehe Kapitel E, Abschnitt III. 3.) - dabei eine Einschätzungsprärogative und ein Typisierungsspielraum zu (BVerfGE 79, 127/153 f. - Rastede). Das Gericht sieht seine Aufgabe lediglich darin, „die gesetzgeberischen Entscheidungen auf ihre Vertretbarkeit hin" (154) zu überprüfen und dürfte damit seine Kontrollfunktion im Hinblick auf die funktionale Aufgabenteilung zwischen den Verfassungsorganen zutreffend umschrieben haben. 86 Art. 28 Abs. 2 GG hat daher - ebenso wie Grundrechtsnormen - den Charakter einer verfassungsrechtlichen Prinzipiennorm, die beim Zusammentreffen mit anderen Prinzipiennormen einen Optimierungsbedarf auslöst; siehe dazu Abschnitt IV sowie Kapitel E, Abschnitt III. 87 BVerfGE 79, 127/150 - Rastede. Püttner 1999, Rn. 23 f.

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Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

die auch in anderem Zusammenhang - etwa der Etablierung einer arbeitsoder umweltschutzsichernden Betriebsorganisation 88 - eine wichtige Rolle spielen. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu eine besondere Position entwikkelt. Es ist der Auffassung, 89 die prinzipielle Allzuständigkeit beziehe sich allein auf die „sachlichen Aufgaben, nicht aber auf die Organisation der Gemeinde"; und es fügt hinzu: „Deren Maß und Bezugspunkt liegt in der Eigenverantwortlichkeit der Gemeinden." Im weiteren setzt sich das Gericht aber nicht mit diesem „Bezugspunkt" weiter auseinander, sondern fragt nach der historischen Entwicklung und der „derzeitigen Ausformung des Kommunalrechts". Diese setze „mit seinen zahlreichen Regelungen ersichtlich eine weitgehende Befugnis des staatlichen Gesetzgebers voraus, der Regelung von Organisationsstrukturen seine Vorstellungen zugrundezulegen". Aus diesem positiven Befund zieht das Gericht eine normative Schlußfolgerung: „Die Organisationshoheit ist mithin von vornherein nur relativ gewährleistet". Ob darin allerdings eine Besonderheit der Organisationshoheit zu sehen ist, erscheint fraglich. Denn alle verfassungsrechtlichen Positionen mit Prinzipiencharakter, auch die Grundrechte, sind lediglich „relativ gewährleistet". Das Gericht erläutert seine Sichtweise im folgenden dahingehend, die Organisationshoheit könne nicht nur aus Gründen, die außerhalb ihrer selbst liegen, zurückgenommen werden, sie werde vielmehr „auch als Prinzip selbst durch staatliche Regelungen inhaltlich ausgeformt und mit Grenzen versehen". 90 Organisationsvorgaben könnten etwa auch mit dem Ziel der Verwaltungsvereinfachung sowie der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Verwaltung oder dem Wunsch nach Übersichtlichkeit begründet werden. Damit bestätigt das Gericht aber implizit, daß sich doch jeweils besondere Zwecke angeben lassen, wenn der Staat mit Organisationsvorgaben die Art und Weise der eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung beeinflußt. Gibt es solche Zwecke, dann lassen sie sich auch gewichten und im Hinblick auf ihre Rechtfertigungsleistung in der Zweck-Mittel-Relation prüfen. Dieser Befund steht aber in Widerspruch zu dem eigentlichen Kern der richterlichen Argumentation. Dieser besteht in dem Satz, für die kommunale Organisation gelte „nicht ein Prinzip der Eigenorganisation der Gemeinde, demgegenüber jede staatliche Vorgabe einer spezifischen Rechtfertigung bedürfte" (240). Dem entspricht die abschließende Aussage, es finde „eine 88

Zur Bedeutung der Binnenkoordination in Organisationen für die Aufgabenerfüllung siehe Kapitel F, Abschnitt III. 2. c). 89 BVerfGE 91, 228/240 - Gleichstellungsbeauftragte. 90 Der Sache nach handelt es sich damit um einen einfachgesetzlich präformierten Gewährleistungsbereich, bei dem der verfassungsrechtliche Schutz leerläuft [siehe dazu Kapitel E, Abschnitt II. 2. a) bb)].

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Kontrolle dahin, ob die von ihm [dem Gesetzgeber] getroffenen Organisationsentscheidungen auf hinreichend gewichtigen Zielsetzungen beruhen, nicht statt", wenn nur im übrigen für die Gemeinden bei der Ausgestaltung ihrer Organisation ein hinreichend großer „Raum zu selbstverantwortlichen Maßnahmen" verbleibe (241 f.). Hier sei den Kommunen eine „Mitverantwortung" für die organistorische Bewältigung ihrer Aufgaben einzuräumen. Die staatlichen Vorgaben dürften die Gemeinden aus der ihnen von der Verfassung zugewiesenen Verantwortung nicht verdrängen (241). Die Argumentation erscheint wenig stringent. Dies gilt nicht allein für die schon begrifflich wenig überzeugende Bewältigung der sich überlagernden Verantwortungsbereiche, die darauf hinausläuft, den Kommunen lediglich eine „Mitverantwortung" einzuräumen bei Wahrnehmung von Aufgaben, die nach der Verfassung in „eigener Verantwortung" erfolgen soll. Auch in sachlicher Hinsicht spricht vieles für einen grundsätzliche Gleichstellung von Aufgaben- und Organisationsverantwortung. Wenn für erstere ein Verfassungsprinzip zugunsten der Gemeinden angenommen wird, sollte dies auch für letztere gelten. Verzichtet man hingegen auf diesen Gleichklang, sind Unstimmigkeiten in der methodischen Konsistenz unvermeidlich: Einerseits wird die gemeindliche Organisationshoheit als „Prinzip" bezeichnet („auch als Prinzip selbst ..."); andererseits wird der Prinzipiencharakter geleugnet, was Relativierungen ohne „spezifische Rechtfertigung" ermöglichen soll. Problematisch an dieser Sichtweise ist weiterhin, daß - wie das Gericht auch einräumt - organisationsrechtliche Entscheidungen „fast immer mit materiellen Auswirkungen verbunden" sind. Dies sei aber „unausweichlich" und deshalb verfassungsrechtlich „auch gewollt" (240 f.); womit das Gericht erneut vom Sein auf das Sollen schließt. Wenn der Senat hinzufügt (241), durch die Möglichkeit organisatorischer Rahmensetzungen solle der Gesetzgeber auf eine effektive Aufgabenerledigung durch die Gemeinden hinwirken können, zeigt er erneut, daß es durchaus eine materielle Rechtfertigung für organisatorische Maßnahmen geben kann. Die Annahme einer durch Art. 28 Abs. 2 GG geschützten Organisationshoheit und eine daraus resultierende Rechtfertigungspflicht für beeinträchtigende Regelungen würde dem Gesetzgeber daher nichts Unmögliches abverlangen. 91 Das wenig befriedigende Ergebnis, wonach Regelungen, für die es keine „spezifische Rechtfertigung" gibt, die aber für die materielle Wahrnehmung kommunaler Aufgaben relevant sind, vor der Verfassung Bestand haben sollen, 91 Auch für die streitgegenständliche Pflicht größerer Gemeinden, eine Gleichstellungsbeauftragte weiblichen Geschlechts zu benennen, ließe sich durchaus eine Rechtfertigung aus Art. 3 Abs. 2 GG herleiten und eine vertretbare Argumentation entwickeln, diesem Verfassungsgebot durch organisatorische Vorgaben ein stärkeres Gewicht in der kommunalen Personalentwicklung zu verschaffen.

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C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

obwohl damit unausweichlich materielle Auswirkungen für Aufgabenwahrnehmung durch die Kommunen verbunden sind, ließe sich vermeiden. Sieht man - wofür einiges spricht - in der Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG eine umfassend und vorbehaltlos gewährte verfassungsrechtliche Prinzipiennorm, dann dürfen Einschränkungen ebenso wie bei den Grundrechten nur auf der Grundlage entgegenstehender Prinzipiennormen erfolgen. Auf der methodischen Ebene bestätigt sich damit die „partielle Ähnlichkeit mit einer Grundrechtsgarantie" (Isensee 1999, Rn. 166). c) Ergebnis A m Beispiel der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie lassen sich eine Reihe von Facetten aus dem Problemfeld der Verantwortungsteilungen innerhalb der öffentlichen Gewalt verdeutlichen. Dies gilt für die normtheoretische Struktur der rechtlichen Gewährleistung ebenso wie für das Verhältnis von materieller Gewährleistung und Vorgaben im Binnenbereich von Organisationen. Bei genauerer Betrachtung der die Konfliktlage bestimmenden normtheoretischen Struktur zeigt sich bei Art. 28 Abs. 2 GG eine Prinzipiennorm, die mit entgegenstehenden Prinzipiennormen in Einklang zu bringen ist. Voraussetzung für eine überzeugende dogmatische Bewältigung ist zunächst einmal die Wahrnehmung der Prinzipieningerenz. Sodann ist der Gewährleistungsinhalt der involvierten Prinzipiennormen aufzuhellen. Daraus ergibt sich unmittelbar das Grundsatz-Ausnahme-Verhältnis mit den daran anknüpfenden Rechtfertigungslasten. Ob die Rechtfertigung gelingt, läßt sich dann anhand der Rationalkriterien des Rechts prüfen. Wenn die Auffassung vertreten wird, aus Art. 28 Abs. 2 GG ergebe sich eine Maxime „gemeindefreundlichen Verhaltens", die auf eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung durch Einschränkung der staatlichen Gestaltungs- und Einwirkungsmöglichkeiten gerichtet ist (Stern 1984, 418 f.), dann ist dies nichts anderes als eine andere Darstellungsform der zugunsten der Gemeinden wirkenden Prinzipiennorm. Da aber auf beiden Seiten Prinzipiennormen zu verwirklichen sind, besteht die Aufgabe letztlich in einer möglichst optimalen Funktionsabgrenzung, die allerdings niemals trennscharf vorzunehmen sein wird, weshalb Anforderungen wechselbezüglicher Rücksichtnahme zu formulieren sind, die sowohl inhaltliche Aspekte umfassen als auch solche der verfahrensmäßigen Kooperation. Die Kommunen können sich insoweit auf Art. 28 Abs. 2 GG als „Generalnorm der Rücksichtnahmepflichten" 92 berufen. 92 Stern 1984, 419; der zudem darauf verweist, dies gelte auch „für Fragen des Stils und procedere".

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Zutreffend wird in diesem Zusammenhang auf das Phänomen der vielfältigen staatlichen „Ingerenzen" in das kommunale Wirken hingewiesen (Püttner 1999, Rn. 49), wie sie etwa in der Landes- und Regionalplanung oder den an Bedingungen geknüpften staatlichen Zuschußprogrammen („goldener Zügel") sichtbar werden. Daraus resultiert die Gefahr der Auflösung von Eigenverantwortlichkeit in kondominialer Wahrnehmung von Gemeinschaftsaufgaben (Stern 1984, 425). Deutlich wurde auch auch, daß einiges dafür spricht, die materielle und die organisatorische Aufgabenverantwortung einander möglichst anzunähern. Je stärker die öffentliche Gewalt versucht, über organisatorische Vorgaben das institutionelle Umfeld so beeinflussen, daß die Durchsetzungschancen für die dahinter stehenden materiellen Ziele steigen, desto deutlicher wird, daß beide Gestaltungsräume sich nicht voneinander trennen lassen.

2. Gubernative Eigen-Verantwortung In der parlamentarischen Demokratie ist die Regierung gegenüber dem Parlament für ihre Amtsführung verantwortlich. Das Grundgesetz weist in Art. 65 diese Verantwortung dem Bundeskanzler und den Ministern individuell zu. Der Kompetenz des Bundeskanzlers, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, korrespondiert die Aussage, er trage „dafür die Verantwortung". Und die Befugnis der Minister, im Rahmen dieser Richtlinien ihren Geschäftsbereich selbständig zu führen, 93 bedingt zugleich, daß sie dies „unter eigener Verantwortung" tun. In dieser Begrifflichkeit klingt die konstitutionelle Vorgeschichte an. 9 4 Die Regierung verfügte stets über eine eigenständige Handlungsmacht, wobei sie sich - wenn auch in unterschiedlichem Umfang - für deren Ausübung gegenüber dem Parlament zu rechtfertigen hatte. Das heutige parlamentarische Regierungssystem sichert - als Ausdruck der Volkssouveränität - einerseits den Vorrang der Volksvertretung; andererseits begrenzt es deren Befugnisse aber, indem es die Exekutive gegenüber dem Parlament verselbständigt. 95 Aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung ergibt sich, daß auch der Regierung als Teil der Exekutive ein besonderer Funktionsbereich vor93

Verfassungsrechtlich kann der Minister nur durch Richtlinien des Kanzlers oder durch Kabinettsbeschlüsse gebunden werden. Diese Selbständigkeit betont Art. 65 Satz 2 GG ausdrücklich. Vom Minister ist allerdings bei der Ausübung seiner Ressortkompetenz auch in einem rechtlichen Sinne Rücksicht auf Kabinettszuständigkeiten gefordert (BVerfGE 45, 1/46 ff. - Haushaltsüberschreitung; dazu Hermes 1998, 31). Die in Konstellationen der Eigen-Verantwortung angelegte Spannung zwischen Autonomie und Rücksichtnahme kehrt auch an dieser Stelle wieder. 94 Siehe dazu Herzog 1994, Rn. 68 ff.; Badura 1995, Rn. 15.

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behalten bleibt, der von dem Parlament zwar kontrolliert, aber nicht usurpiert werden kann. Die parlamentarische Verantwortung der Regierungsmitglieder gegenüber dem Parlament ist nichts anderes als das „Gegenstück zur selbstständigen Handlungsvollmacht der Regierung" (Badura 1980, 574). Oder, mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: 96 Der Grundsatz der parlamentarischen Verantwortung der Regierung setzt notwendigerweise einen „Kernbereich exekutivischer Eigenverantwortung" voraus. Für eine genauere Bestimmung der Verantwortungskonstellation ist nach den Konturen des verfassungsrechtlich zugewiesenen Funktionsbereiches, nach dem Verantwortungsmaßstab und nach den Mechanismen der Folgenanlastung zu fragen. Das Handeln der Regierung ist selbstverständlich an Verfassung und Gesetz gebunden, was sich vor allem bei Rechtsakten mit Außenwirkung zeigt. 97 Mit der parlamentarischen Verantwortung sind aber nicht in erster Linie solche Akte gemeint, 98 im Mittelpunkt stehen vielmehr politische Grundsatzentscheidungen, programmatische Ausrichtungen oder ganz allgemein „staatsleitende" Tätigkeiten. Statt von „exekutivischer Eigenverantwortung" sollte man daher - jedenfalls auf der Ebene des Bundes, wo die unmittelbaren Vollzugskompentenzen nur schwach ausgeprägt sind besser von „gubernativer Eigenverantwortung" sprechen. 99 Die diesbezüglichen Kompetenzen der Regierung - etwa im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik, 100 aber auch in der Mitwirkung an der Gesetzgebung ergeben sich aus der Verfassung. Schwieriger ist die Bestimmung des Handlungsmaßstabes. 95

Die klassische Begründung für diese Verantwortungsteilung gibt John Stuart Mill (1865, Kap. V.), der betont, es sei nicht Aufgabe einer Repräsentativversammlung, „das Geschäft der Regierung selbst zu verrichten, wozu sie ganz ungeeignet ist, sondern darin, die Regierung zu überwachen und zu kontrollieren, ihre Tätigkeit mit dem vollen Licht der Öffentlichkeit zu beleuchten, sie zu nötigen, ihre Handlungen, soweit sie bedenklich erscheinen können, zu erklären und zu rechtfertigen, zu rügen, was sich als verwerflich herausstellt, und wenn die Männer, welche die Regierung bilden, ihr Amt mißbrauchen, oder in einer Weise üben, die der unzweifelhaften, überlegten Meinung der Nation widerstrebt, sie aus diesem Amt zu entfernen und entweder ausdrücklich oder doch tatsächlich ihre Nachfolger zu ernennen" (zitiert nach Badura 1995, Rn. 11). 96 BVerfGE 67, 100/139 - Flick-Untersuchungsausschuß; E 68, 1/87 - Atomwaffenstationierung. 97 Hier stehen die einschlägigen Rechtsmittel zur Sanktionierung etwaiger Verstöße bereit. 98 Obwohl auch diese der parlamentarischen Kontrolle unterliegen, etwa mittels eines Untersuchungsausschusses nach Art. 44 GG. 99 Zu diesem Verständnis des Regierungshandelns grundlegend v. Bogdandy 2000, 107 ff. 100 Aus Art. 24 Abs. 1 GG und Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG; siehe BVerfGE 68, 1 - Atomwaffenstationierung.

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a) Handlungsmaßstab Regierungsmitglieder sind durch das von ihnen übernommene Amt auf das Gemeinwohl 1 0 1 verpflichtet. Der Rechtsordnung lassen sich hier justifiable Maßstäbe jedoch allenfalls in Gestalt des Verbotes offensichtlicher Willkür entnehmen. In einem möglichen Organstreitverfahren ist es jenseits dieser äußersten Grenze nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts „nachzuprüfen, ob die Einschätzungen oder Wertungen der Bundesregierung zutreffend oder unzutreffend sind" (BVerfGE 68, 1 - Atomwaffenstationierung). Der Verantwortungsmaßstab ist daher politisch zu bestimmen. 102 Dem entspricht es, daß auch die möglichen Sanktionen auf politischer Ebene herbeizuführen sind; eine unmittelbare Sanktionierung - etwa die Nichtigkeitserklärung der umstrittenen Handlung - scheidet daher in der Regel aus. Dies bedeutet aber nicht, daß die Verfassung nicht doch eine Orientierung bei der Bestimmung des Verantwortungsmaßstabes vermitteln kann 1 0 3 und daß sie es unterlassen hätte, Sanktionsmechanismen bereitzustellen. Allerdings sind die dem Parlament zur Verfügung stehenden Sanktionensmöglichkeiten allenfalls punktuell zum Einsatz zu bringen und vornehmlich auf indirekte Wirkungen gerichtet. b) Fehlende Kontrollinstrumente? In der Literatur wird angesichts dieser Situation ein Unbehagen darüber spürbar, daß zwar einerseits davon auszugehen ist, daß die parlamentarische Verantwortung der Bundesregierung zweifelsohne verfassungsrechtlich besteht und in verschiedenen Bestimmungen auch konkretisiert ist; andererseits aber das Grundgesetz dem Parlament ungewöhnlich geringe Sanktionen zur Verfügung stellt, um sie durchzusetzen und um vor allem Folgerungen aus den Ergebnissen seiner Kontrolltätigkeit zu ziehen (Herzog 1994, 101 Siehe dazu den - in seinem materiellen Gehalt deklaratorischen (dazu Pernice 1998, Art. 56 Rn. 7) - Amtseid nach Art. 56, 64 Abs. 2 GG, wonach die Regierungsmitglieder geloben, ihre „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes" zu widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden (worin die Gemeinwohlorientierung des Staatshandeln symbolisch zum Ausdruck kommt). Zugleich geloben die Amtsträger aber auch, das Grundgesetz mit den darin verbürgten Grundrechten zu „wahren" und zu „verteidigen" sowie „Gerechtigkeit gegen jederman" zu üben. Zum Ausdruck kommt damit einerseits die Gemeinwohlorientierung, zum anderen aber auch die individuelle Freiheitsgewährleistung; insgesamt also Verpflichtung auf das Leitbild der Gerechtigkeit (siehe Kapitel D, Abschnitt III. 2. b). 102 Denn hier geht es darum, in welcher Weise eine „zweckmäßige und wirksame Wahrnehmung des Gesamtwohls" erfolgen kann (BVerfGE 68, 1/84 ff. - Atomwaffenstationierung) . 103 Zur Funktion der Verfassung, über justifiable Kontrollnormen hinaus auch Handlungsnormen bereitzustellen, siehe Kapitel E, Abschnitt III. 3. a).

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Art. 62 Rn. 89). Zu den Wurzeln dieses Unbehagens scheinen mehrere Anmerkungen angebracht. Zunächst kommt darin ein spezifisches Verständnis des Begriffs der „Kontrolle" zum Ausdruck: Der Kontrollierende hält die Fäden in der Hand und kann das Verhalten des Kontrollobjektes nicht nur überschauen, sondern auch determinieren. Der Mangel an Sanktionen tritt dann besonders deutlich hervor, wenn man darunter im Sinne dieses engen Kontrollverständnisses vor allem solche Zwangsmittel versteht, die auf einen unmittelbaren Verhaltenserfolg des Kontrollobjektes gerichtetet sind. Als unmittelbar rechtswirksame Folgenanlastung steht aber im wesentlichen nur die mit nicht geringen Hürden versehene Möglichkeit zur Verfügung, den Bundeskanzler durch ein konstruktives Mißtrauensvotum zu Fall zu bringen. Dies bedeutet aber nicht, daß die übrigen Sanktionsmechanismen von vornherein außerhalb des Rechts anzusiedeln oder gar als in ihrer Wirkung bedeutungslos anzusehen wären. Zu verweisen ist h i e r 1 0 4 auf das im Abgeordnetenstatus wurzelnde Fragerecht der Parlamentarier, auf das Zitierund Interpellationsrecht des Art. 43 Abs. 1 GG und das Untersuchungsrecht nach Art. 44 G G . 1 0 5 In der Zusammenschau der „Kontroll-Instrumente" zeigt sich, daß die Rechenschaftspflicht der Regierung stark, die Einstandspflicht hingegen (aus Gründen der Regierungsstabilität) schwach ausgeprägt ist (Schröder 1998, Rn. 56). Gleichwohl kann man von einer „Verantwortungsgeometrie" (Oldiges 1996, Art. 62 Rn. 47) sprechen, wobei dies letztlich nur eine andere Bezeichnung für den aus verschiedenen Teilelementen zusammengesetzten institutionellen Rahmen der Verfassung ist. Dieser Rahmen wirkt allerdings erst im Zusammenspiel mit der sog. „Vierten Gewalt", der Vermittlung der Ergebnisse der Rechenschaftslegung und deren parlamentarischer Verarbeitung durch die Medien. Die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf den Grad der Zustimmung in der Bevölkerung dürften für die Motivationslage der Regierenden letztlich ausschlaggebend sein. Dahinter tritt ein Akt parlamentarischer Mißbilligung zurück. Insgesamt läßt sich daher bilanzierend feststellen, daß die Mechanismen der Folgenanlastung für die Art und Weise, wie die Regierung ihrer Verantwortung gerecht wird, durchaus in gewissem Maße geeignet sind, das Verhalten der Regierung zu beeinflussen. 106 Der Begriff der parlamentarischen Kontrolle läßt 104 Siehe dazu die Darstellung bei Stem 1980, 51 ff.; Schröder 1982, Art. 43 Rn. 43 ff. und 1998, 49 ff.; Herzog 1994, Art. 62 Rn. 90 ff.; Badura 1995, Rn. 12 ff.; Klein 1998a, Rn. 33 ff. und 1998b, Rn. 32; Morlok 1998a, Art. 43 Rn. 41 ff. und Art. 43 Rn. 8 ff. 105 Ergänzend kommen besondere Einrichtungen mit denen sich die parlamentarische Kontrolle wirkungsvoller gestalten läßt, wie etwa der Wehrbeauftragte nach Art. 45 b GG oder der Petitionsausschuß Art. 45 c GG mit seinen besonderen Befugnissen bei Beschwerden. In Angelegenheiten der Europäischen Union, vor allem im Bereich der Rechtssetzung im Rahmen der Gemeinschaften stehen dem Bundestag besondere Mitwirkungsrechte zu (Art. 23 Abs. 2 und Abs. 3 GG), die er auf den Europaausschuß übertragen kann (Art. 45 GG).

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sich dementsprechend mit einer Deutung in Einklang bringen, die sich an den angelsächsischen Sprachgebrauch anlehnt, und unter parlamentarischer Kontrolle ganz allgemein Einflußnahme und Steuerung versteht. 107 c) Ergebnis Die parlamentarische Verantwortung der Regierung und ihre verfassungsrechtliche Ausgestaltung ist Ausdruck der besonderen politischen Konstellation der beiden Gewalten. Gemeinsam mit dem „Vertrauen" des Parlaments (Art. 68 GG), welches die Regierung „trägt", bezeichnet es die gegenseitigen Rechte und Pflichten in dem spezifischen verfassungsrechtlichen Verhältnis der beiden Staatsorgane (Badura 1995, Rn. 12). Es zeigt sich erneut, daß von Verantwortung nur gesprochen werden kann, wenn der Verantwortungsträger über eine eigenständige Entscheidungsmacht verfügt, die rechtlich nicht ungebunden, aber auch nicht vollständig von Dritten determinierbar ist. In der hier verwendeten Terminologie handelt es sich dabei nicht um eine „Verantwortlichkeit". 108 Diese Redeweise steht mit dem Wortlaut des Grundgesetzes im Einklang: Art. 65 GG spricht von der „Verantwortung" des Bundeskanzlers und der Bundesminister. Darin kommt zugleich der individuelle Grundcharakter der Pflichtenstellung zum Ausdruck; nur die Verantwortung der einzelnen Kabinettsmitglieder - nicht die des Kollegionalorgans „Bundeskabinett" - hat in Art. 65 GG eine ausdrückliche Regelung gefunden. 106

Womit zu der verfassungspolitischen Frage, ob in diesem Zusammenhang institutionelle Reformen angezeigt sind, keine Aussage getroffen wird. Die Erfahrungen mit dem parteienstaatlich geprägten System (dazu Oldiges 1996, Art. 62 Rn. 47) und Kompetenzverlagerungen auf die Gemeinschaftsebene und in den „intermediären" Bereich geben dazu durchaus Anlaß. So wird etwa - um nur einen kleinen Ausschnitt herauszugreifen - im Bereich der Kooperation zwischen Exekutive und privaten Normungsorganisationen im Bereich der „technischen" Normung ein Defizit parlamentarischer Kontrollmöglichkeiten gesehen; siehe dazu Denninger 1990 und (die Ergebnisse eines vom Deutschen Bundestag durchgeführten Technikfolgenabschätzungsprojektes zusammenfassend) Jörissen 1996 sowie die Vorschläge zur Reform der Normungsverfahren auf EG-Ebene im Rahmen der „Neuen Konzeption" bei Führ et al. 1999. 107 Morlok 1998a, Art. 43 Rn. 8. Siehe dazu auch das Zitat von J. S. Mill in Fn. 95. 108 So aber z.T. die Begrifflichkeit in der Literatur, wo parlamentarische „Verantwortlichkeit" und parlamentarische „Verantwortung" nicht selten synonym gebraucht werden (siehe etwa Herzog 1994, Art. 62 Rn. 89; Oldiges 1996, Art. 62 Rn. 46; Schröder 1998, Rn. 49). Lediglich im Hinblick im Hinblick auf das „letzte Mittel" des Parlaments, das konstruktive Mißtrauensvotum nach Art. 67 GG (bzw. die Verneinung der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG) ist nach hier eingeführten Terminologie tatsächlich auch die Redeweise von der parlamentarischen „Verantwortlichkeit" angebracht.

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Eine Besonderheit dieser Verantwortungskonstellation liegt darin, daß der Handlungsmaßstab - mehr noch als in vertikalen Kompetenzabgrenzungen - politisch zu bestimmen und nur sehr eingeschränkt gerichtsförmig zu konkretisieren ist. Aus den entgegenstehenden Prinzipien der parlamentarischen Kontrolle und der exekutivischen Eigenständigkeit, die gemeinsam das funktional angemessene Zusammenwirken der beiden Organe gewährleisten sollen, lassen sich über das Willkürverbot hinaus in der Regel keine weitergehenden rationalen Begründungsmuster herleiten. Nicht untypisch sind dagegen die Instrumente der Folgenanlastung, die in erster Linie informatorischer Natur sind und auf die verhaltensbeeinflussende Kraft (potentieller) Transparenz setzen. Trotz des politischen Charakters der Grundkonstellation zeigen sich (verfassungs-) rechtlich vermittelte institutionelle Bedingungen, die darauf gerichtet sind, die Wahrnehmung exekutiver Verantwortung im Sinne des Leitbildes der Gemeinwohlorientierung zu beeeinflussen.

3. „Shared Responsibility44 auf Gemeinschaftsebene Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts lassen sich die verschiedenen Erscheinungsformen von Verantwortungsteilungen und -Überlagerungen besonders prägnant aufzeigen. Dies gilt sowohl für das vom Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit geprägte Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten als auch für die Handlungsformen der Gemeinschaft. Das die gemeinschaftspolitische Debatte der 90-er Jahre prägende Schlagwort der „shared responsibility" 109 bezeichnet nicht nur die Aufgabenteilung zwischen den Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten, sondern auch die Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure bei der Durchführung der Gemeinschaftspolitiken.

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Dieser Grundsatz findet sich an prominenter Stelle des V. Umweltaktionsprogramms der Gemeinschaft. Er zeigt sich bereits darin, das Programm verabschiedet wurde als „Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten" (EG-ABI. 1993 Nr. C 138, S. 1-98). Inhaltlich kommt eine vom Grundansatz her verändertes Politikverständnis zum Ausdruck. Sie zeigt sich in der Abkehr vom bisher überwiegend verfolgten hoheitlichen Ansatz - noch 1990 in der Erklärung von Dublin noch als „Grundstein" der gemeinschaftlichen Umweltpolitik bezeichnet - der durch den Grundsatz der „Gemeinsamen Verantwortung" („shared responsibility") aller gesellschaftlichen Akteure zu ersetzen sei (siehe dazu Führ 1995, 340 f.).

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a) Loyale Zusammenarbeit in den Gemeinschaften Ungeachtet der rechtlichen Autonomie der Gemeinschaft und des von ihr geschaffenen Rechts überlagern sich die Kompetenzen und materiellen Rechtsvorschriften der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten in vielen Feldern, womit Konflikte vorprogrammiert sind. Zur deren Lösung bedient sich der Gerichtshof in erster Linie der Treuepflicht aus Art. 10 EGV. Sie verlangt von den Mitgliedstaaten u.a., „alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art" zu treffen, die zur Erfüllung der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen erforderlich sind. Die Treuepflicht der Mitgliedstaaten soll damit die Funktionsfähigkeit der EG als Rechtsgemeinschaft gewährleisten. Sie untersagt alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der vertraglich eingegangenen Ziele gefährden könnten, begründet aber auch eine Förderpflicht der Mitgliedstaaten. Von den Gemeinschaftsorganen fordert der EU-Vertrag in umgekehrter Richtung in Art. 6, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu „achten". In der Zusammenschau ergibt sich daraus eine allgemeine Grundpflicht der loyalen Zusammenarbeit in den Gemeinschaften. 110 Die enorme praktische Bedeutung dieser Vorschriften ergibt sich aus dem Erfordernis einer „funktionsgerechten Konkretisierung" des Kooperationsverhältnisses zwischen Gemeinschaftsorganen und Mitgliedstaaten (v. Bogdandy 1995, Art. 5 EGV a.F., Rn. 1 und 6 ff.). Aus der Treuepflicht heraus entwickelte der Gerichtshof eine Reihe gemeinschaftsrechtlicher Institute. 1 1 1 Damit verbunden ist die Gefahr, die Treuepflicht auf Kosten der Mitgliedstaaten zu sehr zu erweitern. Negative Voraussetzung der Anwendung einer auf Art. 10 EGV gestützten Pflicht soll daher sein, daß durch sie das institutionelle Gleichgewicht und die Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und den Gemeinschaften nicht verschoben werden darf; was einer Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof allerdings nicht im Wege stehen soll. 1 1 2 Bei der Ausfüllung der Loyalitätspflichten aus Art. 10 EGV geht es mithin um die Anwendung einer auf die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft bzw. des Gemeinschaftsrechts gerichteten Prinzipiennorm unter Abwägung 110 EuGH vom 13.7.1990 - Rs C-2/88 (Zwartveld u.a.) - Slg. 1990, 1-3365/3372 (= NJW 1991, 2409/2410, Urteilsgrund 17). Streinz 1996, Rn. 139. 111 Dies gilt etwa für den Vorrang des Gemeinschaftsrechts, die unmittelbare Wirksamkeit von Richtlinien, die Staatshaftung bei fehlerhafter Umsetzung von Gemeinschaftsrecht sowie für das Erfordernis gemeinschaftsfreundlicher und richtlinienkonformer Auslegung (v. Bogdandy 1995, Art. 5 EGV a.F., Rn. 4 m.w.N.). 112 Siehe v. Bogdandy 1995, Art. 5 EGV a.F., Rn. 22 f. Bei jeder Rechtsfortbildung ist aber - dies zeigt etwa das Beispiel der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien - das institutionelle Gleichgewicht berührt, weil mit vertraglich nicht vorgesehenen Rechtsfolgen das institutionelle Gefüge zweifellos neu justiert wird.

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mit kollidierenden Prinzipiennormen, etwa solchen der nationalen Gestaltungsautonomie oder auch der durch richterliche Neuschöpfungen negativ betroffenen Grundrechte. 113 Ergebnis dieser Abwägung sind Verhaltenspflichten der Mitgliedstaaten bzw. der innerstaatlichen Stellen. Unmittelbare Instrumente der Folgenanlastung enthält die Vorschrift nicht. Jedoch hat der Gerichtshof nach und nach eine Reihe von Sanktionsmechanismen entwickelt. Diese sind nicht primär auf die Erzwingung der Verhaltenspflicht gerichtet, sondern vermitteln indirekt wirkende Verhaltensanreize (beispielsweise die Schadensersatzpflicht bei mangelhafter Richtlinienumsetzung). Die durch die Treuepflicht geprägte Konstellation von unvollkommener, auch auf aktive Mitwirkung gerichteter Verhaltenspflicht, ergänzt durch überwiegend indirekt wirkende - Mechanismen der Folgenanlastung fällt damit in die Kategorie der „Eigen-Verantwortung". Im institutionellen Gefüge des Gemeinschaftsrechts dient das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit als Grundlage einer evolutionären Institutionenbildung. Der dadurch dem Gerichtshof eröffnete Gestaltungsraum für institutionelle Fortentwicklungen und Neuschöpfungen ermöglicht es, die Funktionsfähigkeit der Rechtsgemeinschaft angesichts der fortschreitenden Integration zu wahren. Der dynamische Charakter des - vom Gerichtshof nicht unmaßgeblich mit vorangetriebenen - Integrationsprozesses läßt die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts sogar als aktuelles „Experimentierfeld" für derartige Formen rechtlicher Institutioneninnovation erscheinen. b) Handlungsformen

der Gemeinschaften

Zu den Handlungsformen der Gemeinschaftsorgane zählen neben der allgemeingültigen Verordnung und der auf den Einzelfall bezogenen Entscheidung auch die Richtlinie sowie Empfehlungen und Stellungnahmen. 114 Das Gemeinschaftsrecht benennt damit seit jeher Handlungsformen, die von dem klassisch-imperativen Steuerungsmodell abweichen.

113 Dies zeigt sich etwa an der lange umstrittenen Frage, ob die unmittelbare Wirkung von Richtlinien auch mit Belastungen Dritter („Doppelwirkung") einhergehen kann. Bejahend jetzt EuGH Slg. 1995, 1-2189 - Großkrotzenburg; siehe dazu bereits J. Bizer 1989 sowie Albin 1997 (zur früheren - als inkonsequent zu bezeichnenden - Rechtsprechung siehe Grabitz 1995, Art. 189 EGV a.F.). 114 Art. 249 EGV und Art. 161 EAGV. Art. 14 EKGSV nennt andere Bezeichnungen mit leicht abweichenden Definitionen (zu den Einzelheiten siehe Grabitz 1995, Art. 189 Rn. 44, 53, 67 und 77).

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aa) Empfehlung und Stellungnahme Empfehlungen und Stellungnahmen sind nach dem Wortlaut der Verträge „nicht verbindlich", begründen mithin keine rechtlichen Bindungswirkungen gegenüber dem Adressaten. Dies schließt jedoch nicht aus, daß sie auf indirektem Wege rechtliche Wirkungen erzielen. Sie werden daher den Rechtshandlungen der Gemeinschaft zugerechnet. Eine rechtliche Relevanz kann sich in Verbindung mit der allgemeinen Treuepflicht des Art. 10 EGV sowie aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes ergeben. 115 Neben diesen indirekten rechtlichen Wirkungen können Empfehlungen und Stellungnahmen der Gemeinschaftsorgane „psychologische und politische" Wirkungen auf die Adressaten entfalten: Aus der überlegenen Sachkenntnis und der größeren Übersicht der Gemeinschaftsorgane soll sich eine „besondere Autorität" ergeben, die derartigen Äußerungen trotz ihrer Unverbindlichkeit ein relativ großes Gewicht verleihen. 116 Dies gilt sowohl im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten, als auch gegenüber privaten Akteuren auf der europäischen Ebene, wie sich an einigen Beispielen verdeutlichen läßt. In der Energiepolitik bediente sich die Gemeinschaft 117 in den 70-er Jahren mehrfach des Instrumentes der Empfehlung. In Umsetzung der gemeinschaftlichen Aktionsprogramme zur rationellen Nutzung von Energie wandte sich der Rat mit Empfehlungen an die Mitgliedstaaten. 118 So will er beispielsweise eine „rationelle Nutzung der von Straßenfahrzeugen verbrauchten Energie durch Verbesserung des Fahrverhaltens" erreichen. 119 Die dazu vorgesehenen Maßnahmen sind so konzipiert, daß sie „für den Fahrzeugnutzer attraktiv gestaltet und finanziell annehmbar" sind. 1 2 0 Die Mitgliedstaaten sollen - so die Empfehlung des Rates - die Automobilher115

Grabitz 1995, Art. 189 EGV a.F. Rn. 80 ff. Grabitz 1995, Art. 189 EGV a.F. Rn. 84. 117 Auf nationaler Ebene fand das Instrument der „Empfehlung" im Zusammenhang mit der Umstrukturierung des Steinkohlenbergbaus im Ruhrgebiet Anwendung; folgte ein Unternehmen der „Empfehlung" des Steinkohlenbeauftragten im Hinblick auf die „optimale Unternehmensgröße" nicht, drohte ein Verlust sonst erreichbarer Vergünstigungen (siehe dazu Lübbe-Wolff 1988, 269). 118 Neben der im folgenden vorgestellten ergingen im Gefolge der sog. „Ölkrise" weitere Empfehlungen. Diese betrafen die verbesserte Wärmedämmung in Gebäuden (76/492/EWG, EG-Abi. L 140, 11), die rationelle Energienutzung bei Heizanlagen in bestehenden Gebäuden (76/493/EWG, EG-Abi. L 140, 12), den Personennahverkehr (76/495/EWG, EG-Abl. L 140, 16), den Betrieb elektrischer Haushaltsgeräte (76/496/EWG) sowie die rationelle Energienutzung in Industriebetrieben (77/713/EWG, EWG-Abi. L 295, 3). 119 Empfehlung vom 4. Mai 1976 (76/494/EWG), EG-ABI. L 140, 14. 120 So der 4. Erwägungsgrund der Empfehlung 76/494/EWG. 116

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steller auffordern, „in die Betriebsanleitungen für den Fahrer praktische Informationen über treibstoffsparendes Fahren aufzunehmen, die so aufgemacht sind, daß sie die Aufmerksamkeit des Eigentümers des Wagens erregen und sein Interesse wecken". Weiter sollen die Mitgliedstaaten Fördermaßnahmen ergreifen, um die Ausstattung von Privatwagen mit Vorrichtungen zu unterstützen, die den Fahrer über das wirtschaftlichste Fahrverhalten informieren. Die Mitgliedstaaten sollen außerdem die Halter auffordern, auf eine einwandfreie Einstellung von Zündung und Vergaser zu achten, was durch entsprechende Hinweise in den Betriebsanleitungen zu unterstützen sei. Schließlich sei auf Gemeinschaftsebene ein Verfahren zur Prüfung des Treibstoffverbrauchs zu entwickeln, dessen Ergebnisse auch „etwaigen Käufern" zur Kenntnis zu bringen sei. 1 2 1 Bei diesen Empfehlungen liegt das Schwergewicht der Maßnahmen noch auf der Ebene der Mitgliedstaaten. In der Folgezeit verlagerte sich die (Ver-) Handlungsebene mehr und mehr hin zur Gemeinschaft. Dies zeigt sich etwa am Beispiel der Empfehlung über die Kennzeichnung von Wasch- und Reinigungsmitteln aus dem Jahre 1989. 1 2 2 Urheber der Empfehlung waren nicht mehr die im Rat versammelten Mitgliedstaaten, sondern die Kommission, die in Abstimmung mit europaweit organisierten Interessenverbänden tätig wurde. Die Wirtschaftsverbände sind in der Empfehlung als Verhandlungspartner benannt. Sie haben - gemeinsam mit den Mitgliedstaaten und in Zusammenarbeit mit der Kommission - für die Umsetzung der Empfehlung zu „sorgen" (Art. 3 Abs. 1). Inhaltlich bezweckt die Empfehlung einen stärkeren Schutz der Gewässer, der durch eine verbesserte Information der Verbraucher erreicht werden soll. Dazu sind auf den Verpackungen recht pauschal gehaltene Angaben über die Inhaltstoffe 123 sowie eine Dosieranleitung vorgesehen. Der Sache nach handelt es sich dabei wohl um die Umsetzung einer Selbstverpflichtungserklärung der betreffenden europäischen Industrieverbände in Gestalt einer Empfehlung der Kommission. Mittlerweile scheint die Kommission die Möglichkeiten, substantielle Steuerungserfolge mit dem Instrument der Selbstverpflichtungserklärung zu erzielen, vorsichtiger einzuschätzen. 124 Jedenfalls besteht sie darauf, die wesentlichen Anforderungen, die nicht selten deutlich über die Vorstellungen 121

Die in den energiepolitischen Empfehlungen aus der Mitte der 70-er Jahre enthaltenen Maßnahmen fanden zu einem späteren Zeitpunkt teilweise Eingang in verbindliche Rechtsakte der Gemeinschaft, etwa die „S^VE"-Richtlinie 93/76/EWG zur Begrenzung der Kohlendioxidemissionen durch eine effizientere Energienutzung, EG-Abi. L 237, 28. 122 Empfehlung vom 13. September 1989 (89/542/EWG), EG-Abl. L 291/55. 123 Anzugeben ist, ob von bestimmten Bestandteilen (bei einer Bagatellschwelle von 0,2%) weniger als 5%, zwischen 5% und 15%, zwischen 15% und 30% oder mehr als 30% im Produkt enthalten sind (Art. 2 der Empfehlung).

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der jeweiligen Industriekreise hinausreichen, in verbindlichen Rechtsakten festzulegen. 125 Diese Entwicklung läßt auch die Aussagen im 5. Umweltaktionsprogramm zu dem Ansatz, die Handlungsziele im Wege der „geteilten Verantwortung" zu erreichen, in einem anderen Licht erscheinen: Zu der Verantwortung der Gemeinschaft würde es damit zählen, die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, für alle am Wirtschaftsprozeß Beteiligten einen verbindlichen Rechtsrahmen zu setzen, auch tatsächlich zu nutzen und sich nicht auf die Abgabe von Empfehlungen und die Entgegennahme von Selbstverpflichtungserklärungen zu beschränken. bb) Richtlinie In den Politikbereichen, die nicht vollständig vergemeinschaftet sind, ist die bevorzugte Form der gemeinschaftlichen Rechtshandlung die der Richtlinie. Nach der herkömmlichen Unterscheidung ist Aufgabe der Richtlinie anders als bei der zur Rechts Vereinheitlichung eingesetzten Verordnung die Rechtsangleichung. Nach dem Wortlaut der Verträge 126 ist die Richtlinie „hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überläßt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel". Auf diese Weise sollen unterschiedliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften in den einzelnen Mitgliedstaaten koordiniert und harmonisiert, um Divergenzen in den gemeinschaftlichen Politikbereich abzubauen, mit dem Ziel, möglichst materiell gleiche Regelungen in den Mitgliedstaaten zu schaffen (Grabitz 1995, Art. 189 EGV a.F. Rn. 51), zugleich aber die unterschiedlichen Regelungs- und Verwaltungstraditionen der Mitgliedstaaten zu wahren. Die durch das Instrument der Richtlinie belassene Freiheit der Wahl, verpflichtet aber gleichwohl die Mitgliedstaaten, „innerhalb der ihnen nach Art. 189 belassenen Entscheidungsfreiheit, die Formen und Mittel zu wählen, die sich zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit (effet utile) der Richtlinie unter Berücksichtigung des von ihnen verfolgten Zweckes am besten eignen" (EuGH Slg. 1976, 497/517 - Royer). Auch die im Rahmen einer Richtlinie verbliebene Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten ist damit gemeinschaftsrechtlich gebunden.

124 Siehe das Positionspapier der Kommission (Europäische Kommission 1996); siehe dazu Wägenbaur 1997 sowie (unter Berücksichtigung praktischer Erfahrungen und der ökonomischen Anreizwirkungen) K. Bizer 1998b und Gebers et al. 1998. 125 Dies zeigt sich etwa am Beispiel der Altauto-Richtlinie (dazu Giesberts/Hilf 1998) oder der geplanten Elektronikschrott-Richtlinie. 126 Art. 249 Abs. 3 EGV und Art. 161 Abs. 3 EAGV. Die Termininologie des EGKS weicht hier wiederum etwas ab; siehe dazu Grabitz 1995, Art 189 EGV a.F. Rn. 53. 10*

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Angesichts der in allen Mitgliedstaaten zu beobachtenden Praxis, Richtlinien nur verspätet und oftmals unvollständig umzusetzen, ist der Gerichtshof nach und nach dazu übergangen, über den Wortlaut der Verträge hinausgehend eine unmittelbare Wirkung von Richtlinienbestimmungen anzunehmen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: 1 2 7 Allein die Tatsache, daß Art. 189 EGV a.F. lediglich der Verordnung eine unmittelbare Verbindlichkeit zuweise, schließe nicht aus, daß anderen Rechtshandlungen der Gemeinschaftsorgane nicht ebenfalls diese Wirkung zukommen könne. In den Fällen, in den die Rechtsakte der Gemeinschaft den Mitgliedstaaten bestimmte Pflichten auferlegten, „wäre die nützliche Wirkung („effet utile") einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die Angehörigen dieses Staates sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten". Aus ganz ähnlichen Erwägungen heraus - und darüber hinaus gestützt auf allgemeine Rechtsgrundsätze - hat der Gerichtshof außerdem die Möglichkeit anerkannt, daß Betroffenen, die infolge einer dem jeweiligen Mitgliedstaaten zuzurechnenden Nichtumsetzung einer Richtlinie einen Schaden erlitten haben, das Recht zusteht, hierfür eine Entschädigung zu erhal. „ 128 ten. Der Gerichtshof hat damit auf die Schwächen, die dem Konzept der gestuften Verbindlichkeit gemeinschaftlicher Rechtsakte eigen sind, reagiert. Er hat sowohl inhaltliche Anforderungen im Rahmen des verbleibenden Gestaltungsspielraumes formuliert als auch verschiedene Instrumente der Folgenanlastung bei defizitärer Umsetzung rechtsschöpferisch entwickelt. 1 2 9 c) Ergebnis Im Instrument der Richtlinie und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EuGH zeigt sich besonders prägnant die supranational-föderalistische Verfaßtheit (v. Bogdandy 1999) der Gemeinschaften. Wechselseitige Beeinflussung und Abhängigkeit von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht führen zu einer „Verzahnung" der beiden Rechtsordnungen, die ohne eine an beide Seiten gerichtete - und auch rechtlich gestützte - Anforderung zu vertrauensvoller Zusammenarbeit ihre Funktionen nicht erfüllen kann. Ge127

EuGH Slg. 1970, 825/837 ff. - Leberpfennig. Diese Rechtsprechung hat der EuGH seitdem vielfach bestätigt und inhaltlich ausgeweitet (siehe Grabitz 1995, Art. 189 EGV a.F. Rn. 61 ff.; Streinz 1996 Rn. 394 ff. sowie in Fn. 113). 128 EuGH Slg. 1991, 1-5357 - Francovich. Dazu Streinz 1996, Rn. 410 ff. m.w.N. 129 Für eine weitergehende, die Perspektive der Neuen Politischen Ökonomie einbeziehende Analyse der daraus resultierenden Anreizsituation für die politischen Akteure siehe Abschnitt VI. 2.

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stützt auf unvollkommene Rechtspflichten der Verträge hat der Gerichtshof die Bedingungen dieser Kooperation inhaltlich ausgestaltet. In den Instrumenten der Empfehlung und der Stellungnahme nahm das Gemeinschaftsrecht eine Entwicklung hin zu nicht-imperativen Handlungsformen vorweg, die in der Bundesrepublik erst deutlich später thematisiert wurde. 1 3 0 Das Zusammenspiel der verschiedenen Handlungsoptionen eröffnet die Möglichkeit eines gestuften Vorgehens (step-by-step), bei dem zunächst die Möglichkeiten von Handlungsformen mit geringerem Verbindlichkeitsgrad ausgelotet werden, um später gegebenenfalls auf eine verbindlichere Ebene zu wechseln. Dieses Vorgehen ermöglicht es zudem, die Vorstellungen europäischer Akteure in den einzelnen Stufen der Politikformulierung einzubeziehen. Diese verschiedenen Optionen dürften insgesamt den spezifischen Handlungsbedingungen auf Gemeinschaftsebene entgegenkommen. Sie ermöglichen einen Lernprozeß aller Beteiligten im Hinblick auf die Gestaltungsmöglichkeiten. Ergebnis dieses Prozesses, so zumindest die aktuelle Beobachtung, scheint eine gewisse Zurückhaltung zu sein gegenüber Verhandlungslösungen, die sich kooperativ mit den jeweils involvierten gesellschaftlichen Gruppen erzielen lassen und die anschließend in Selbstverpflichtungserklärungen münden. Dies geht einher mit einer Rückbesinnung auf die gemeinschaftlichen Instrumente mit einem höheren Verbindlichkeitsgrad.

4. Rücksichtnahmeforderungen im Bund-Länder-Verhältnis Um das Bild abzurunden, sei verwiesen auf eine weitere Erscheinungsform von Rücksichtnahmepflichten im Binnenbereich der öffentlichen Gewalt. Für das Verhältnis zwischen Bund und Ländern hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung den Grundsatz „bundesstaatlicher Rücksichtnahme" 131 entwickelt und ist mit dieser richterrechtlichen Schöpfung überwiegend auf Zustimmung gestoßen. 132 Danach verhält sich ein Landesgesetzgeber verfassungswidrig, wenn er unter Verletzung der „Pflicht 130

Siehe dazu am Beispiel hoheitliche Empfehlungen und Warnungen Kapitel E. Ein weiterer Aspekt binnenstaatlicher Rücksichtnahme ist angesiedelt in der horizontalen Kooperation zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Er zeigt sich in der Forderung nach Zurückhaltung der Judikative („judicial self restraint"): Das Bundesverfassungsgericht hat hier formuliert, das „verfassungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme auf die allein dem Gesetzgeber zustehende Rechtsetzungsbefugnis und dessen damit verbundene Entschließungsfreiheit" hindere es daran, rechtsgestaltend tätig zu werden (BVerfGE 21, 329 - Hinterbliebenenversorgung). Siehe dazu auch Böckenförde 1989 a u. 1990 sowie Kapitel E, Abschnitt III. 3. b). 131

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zur Rücksichtnahme eine Freiheit offenbar mißbraucht". 133 Darin wurde zu Recht die Ausformung eines allgemeinen Mißbrauchsverbots gesehen. 134 In jüngerer Zeit hat das Gericht dies zu einer Forderung nach Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung fortentwickelt 135 und damit die Schwelle zur Kompetenzwidrigkeit erheblich abgesenkt. Daraus resultiert ein starker Druck in Richtung auf bundesstaatliche Uniformität. 1 3 6 Das Grundgesetz nimmt aber im Rahmen der Länderzuständigkeit unterschiedliche Regelungen bewußt in Kauf; es kennt - über Art. 31 GG hinaus - keinen Zwang zur Unitarität. 1 3 7 Gefordert ist lediglich ein „Mindestmaß an Homogenit ä t " . 1 3 8 Hier zeigt sich, wie ein bestimmtes Verständnis der funktionalen Zusammenhänge kooperativer Aufgabenwahrnehmung dazu führt, die Gewichte in der Formulierung von Rücksichtnahmeforderungen zu verschieben.

5. Ergebnis Bei der Frage der funktionalen Aufgabenteilung zwischen den Staatsgewalten spielt der Gedanke der Rücksichtnahme sowohl auf der vertikalen Ebene im Verhältnis der verschiedenen Gebietskörperschaften als auch auf der horizontalen Ebene eine wichtige Rolle. Alle Organe der öffentlichen Gewalt verfügen über eine spezifische, letztlich politische Legitimation. Die Konflikte sind daher vorwiegend politischer Natur, was auch eine Lösung auf der politischen Ebene nahelegt und eine besondere Zurückhaltung bei der rechtlichen Bewältigung verlangt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß man der Frage ausweichen könnte, in welcher Weise das Recht antwortet, wenn an seine Entscheidungsorgane entsprechende Konflikte herangetragen werden. Die drei Beispielsfelder zeigen, daß die Rechtsprechung jeweils Wege gefunden hat, eine Antwort des Rechts zu formulieren.

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Stern 1984 699 ff. m.w.N.; Denninger 1985, 293; zurückhaltend Isensee 1999, Rn. 151 ff.; kritisch Hesse 1962, 6 ff. und 1995, Rn. 268 ff. 133 BVerfGE 06, 309 - Konkordat (unter Verweis auf BVerfGE 04, 115/140 Besoldungsneuregelung). Siehe auch BVerfGE 43, 291/348 - numerus clausus und E 81, 310/337 - Kalkar II. Den Bezug zum Rücksichtnahmegedanken betont auch Pernice 1991, 509 ff. m.w.N. 134 BVerfGE 61, 149/205 - Staatshaftungsgesetz; Herzog 1981, Art. 19 IV Rn. 63; Isensee 1990, Rn. 158. 135 BVerfGE 98, 83 - Landesrechtliche Abfallabgabe und E 98, 106 - Kommunale Verpackungssteuer. 136 Führ 1998c. Kritisch auch Sendler 1998a und 1998b. 137 Degenhart 1994, Art. 70 Rn. 55. 138 BVerfGE 36, 342/361 - Landesgrundrechte. Vgl. dazu auch Denninger 1997, 349 ff.

II. Verantwortungsteilung innerhalb der öffentlichen Gewalt

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Die Bewältigungsstrategien stimmen darin überein, daß die Funktionsfähigkeit des politischen Steuerungssystem als Leitlinie für die Bewältigung der auftretenden Prinzipienkonflikte fungiert. Dagegen treten die eigenständigen Rechtspositionen der beteiligten Körperschaften in den Hintergrund. Die Lösung fragt vorrangig nach der Optimierung des von den verschiedenen Organen gemeinsam verfolgten Zweckes. 1 3 9 Im einzelnen sind die Akzente bei den verschiedenen Formen geteilter Aufgabenwahrnehmung jedoch durchaus unterschiedlich gesetzt, was sich zum einen aus den unterschiedlichen institutionellen Randbedingungen der Konfliktfelder, aber auch daraus erklären läßt, daß keineswegs Konsens darüber besteht, auf welche Weise die Funktionsfähigkeit jeweils am besten zu gewährleisten ist. In allen betrachteten Konfliktfeldern zeigen sich Konstellationen, in der die Kategorie der Eigen-Verantwortung zum Tragen kommt. Die „Garantie" eigenverantwortlicher kommunaler Aufgabenwahrnehmung erweist sich als verfassungsrechtliche Prinzipiennorm, die mit kollidierenden Prinzipiennormen in Einklang zu bringen ist. Der durch den Bundes- und Landesgesetzgeber errichtete institutionelle Rahmen für die kommunale Aufgabenwahrnehmung hat sich vor dieser Prinzipiennorm zu rechtfertigen. Dies gilt entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts - auch für bloße Organisationsbestimmungen. Die gubernative Eigen-Verantwortung verdeutlicht das Verhältnis von eingeräumter Entscheidungsmacht zu den umgebenden (parlamentarischen) „Kontroll"-Instrumenten. Aus dem auf diese Weise errichteten institutionellen Gefüge resultieren spezifische Anreizmechanismen, von denen das im eigentliche Sinne „zwingende" Element, das konstruktive Mißtrauensvotum, nur einen geringen Anteil ausmacht. Als eine Art „Laboratorium" für die Entwicklung und Erprobung neuartiger institutioneller Ausprägungen der Kooperation zwischen mehreren Trägern öffentlicher Gewalt erweist sich das Gemeinschaftsrecht. Dem Gerichtshof ist es gelungen, aus den Zutaten, die die Verträge bereitstellen, veränderte Formen institutioneller Gestaltung zu schöpfen. Aus diesen resultieren über den Wortlaut der Verträge hinausgehende Anreize für die Mitgliedstaaten, die eingegangenen Umsetzungspflichten auch tatsächlich wahrzunehmen. 140

139 Zu der Frage, wie sich Unterschiede in der Funktionsbestimmung auf das Abwägungsergebnis auswirken, siehe Abschnitt III. 3. 140 Zu der infolge der EuGH-Rechtsprechung veränderten Anreizsituation bei der Umsetzung von Richtlinien siehe Abschnitt VI. 2.

152

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

I I I . Entstehungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen von Rücksichtnahmegeboten Vor dem Hintergrund der bisherigen Analyse soll im folgenden versucht werden, Entstehungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen von Rücksichtnahmegeboten zu systematisieren. Dabei sind die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Anwendungsgebiete herauszuarbeiten, um auf dieser Grundlage den weiteren Klärungsbedarf abzustecken. Die Konstellationen, in denen die Rechtsordnung von Rechtssubjekten Rücksichtnahme fordert, betreffen sowohl das Verhältnis von Personen des öffentlichen Rechts untereinander, das Verhältnis zwischen Bürger und Staat sowie das der Bürger untereinander, unabhängig davon, ob es eher zivilrechtlich oder öffentlich-rechtlich geprägt ist. Rücksichtnahmegebote finden sich damit in allen Konstellationen, in denen das Recht regulierend tätig wird.

1. Voraussetzungen Die Konstellationen, in denen Rücksichtnahmegebote zu beobachten waren, sind dadurch gekennzeichnet, daß die Beteiligten auf die eine oder andere Art näher zueinander stehen als gegenüber anderen. Aus diesem „Näheverhältnis" resultieren besondere Verhaltenspflichten („Sonderrechtsverhältnis"). Es zeigen sich folgende Erscheinungsformen: - In Betracht kommt zunächst eine Verbindung durch Vertrag in seinen unterschiedlichsten Spielarten vom Kauf- und Mietvertrag bis hin zur Eheschließung. Aber auch bereits eine vorvertragliche Verbindung reicht aus. Wenn sich zwei Personen auf diese Weise aufeinander einlassen, verlangt das Recht - auch über die verbindlich eingegangenen Pflichten hinaus eine besondere Rücksichtnahme gegenüber dem (potentiellen) Partner. - Ein Sonderrechtsverhältnis kann aber auch durch räumliche Nähe entstehen. Zu nennen ist hier das zivilrechtliche Nachbarschaftsverhältnis, welches sich nicht in den Vorschriften der §§ 906 ff. BGB beschränkt, sondern darüber hinaus u.a. weitere wechselseitige Ansprüche und Duldungspflichten umfaßt. 1 4 1 Einschlägig ist zudem das öffentliche Nachbarrecht. 142 In beiden Rechtsgebieten kann „Nachbar" ein Privater, aber auch eine öffentliche Einrichtung, wie etwa ein Wasserwerk, 143 sein. 141

Bassenge 1998, § 906 Anm. 6; Säcker 1997, § 906 Rn. 119 ff. Zu dessen baurechtlicher Ausprägung siehe Abschnitt III. 1. c). 143 Zur daraus erwachsenden Beschränkung der Eigentumsnutzung BVerfGE 58, 300 (Naßauskiesung). 142

siehe

III. Entstehungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen

153

- Eine besondere sachliche Nähe kann ebenfalls ein Sonderrechtsverhältnis begründen. Hier geht es um Fälle, in denen eine Seite verantwortlich ist für den Entstehungsgrund von Auswirkungen, die sich in der Rechtssphäre anderer bemerkbar machen. Man könnte auch von einem Näheverhältnis kraft Wirkungsmächtigkeit sprechen. Beispiele dafür finden sich in Bereichen, in denen eine Seite besondere Wirkungsmechanismen in den Händen hält; z.B. Verkehrsmittel, Industrieanlagen oder Produkte. Den dadurch gesteigerten Einwirkungsmöglichkeiten auf andere Rechtssphären korrespondieren besondere Sorgfaltspflichten, die sich zum in Teil verhaltenslenkenden (Grund-) Pflichten der Verantwortlichen, darüber hinaus aber auch in haftungsbegründenden Vorschriften 144 niederschlagen. - Funktionale Nähe kann gegeben sein bei der Wahrnehmung bei einer Aufgabe, die in einem gemeinsamen Verwirklichungszusammenhang steht (z.B. zwischen Bund und Ländern, Ländern und Kommunen oder verschiedenen Organen einer Körperschaft bei der Wahrnehmung hoheitlicher Funktionen). - Schließlich kann - ohne daß die Aufzählung Anspruch auf Vollzähligkeit erheben würde 1 4 5 - eine persönliche Nähe zur Entstehung eines Sonderrechtsverhältnisses führen. Zu verweisen ist hier auf die familiäre Lebensgemeinschaft. 146 Aber auch außerfamiliäre Erscheinungsformen besonderer persönlicher Nähe können ein Sonderrechtsverhältnis begründen. Das gemeinsame Moment der besonderen Nähe läßt sich sich in der Weise deuten, daß sich hier - wegen des Fehlens strikter Zuordnungsentscheidungen - verschiedene Rechtssphären überlagern und nach der Wertung der Rechtsordnung besondere Verhaltenspflichten geboten sind. Das Rücksichtnahmegebot wird immer dann virulent, wenn sich aus einer solchen Überlagerungssituation ein Entscheidungsbedarf ergibt.

2. Rechtsfolgen In welcher Weise Rücksichtnahme geboten erscheint, ist das Ergebnis einer nach rechtlichen Maßstäben vorgenomenen Wertung. Sie orientiert sich an den Eigenarten der jeweiligen Situation. Im Kern geht es darum, beide

144 Neben §§ 823 ff. BGB und deren durch die Rechtsprechung für diese Fälle nach und nach veränderten Interpretationen sind etwa Spezialregelungen im Eisenbahn-, Straßenverkehrs-, Industrieanlagen-, Lebensmittel-, Arzneimittel- oder Gentechnikrecht zu nennen. 145 In der praktischen Anwendung finden sich zudem oftmals Mischformen der genannten Entstehungsgründe. 146 Aus diesem erwachsen u.a. wechselseitige Fürsorge-, Dienst- und Sorgfaltspflichten; s. Beitzke 1988, 252 ff. sowie die Nachweise in Fn. 2.

1 5 4 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

Positionen sowie die gemeinsam wahrzunehmende Funktion jeweils in möglichst optimaler Weise wirksam werden zu lassen. Die Rechtsordnung hat - vor allem im Zivilrecht, aber auch im öffentlichen Recht - situationsspezifische Kriterien herausgebildet, die Elemente von wechselseitiger Sorgfalt, Rücksichtnahme und Fürsorge enthalten. Ein Versuch, diese Anforderungen zu systematisieren, führt zunächst zu der Erkenntnis, daß sich aus den verschiedenen Erscheinungsformen des Rücksichtnahmegebotes keine Absage an eigennützige Verwirklichung von Interessen und „egoistischer" Inanspruchnahme rechtlich geschützter Positionen ergibt. 1 4 7 Vielmehr sind die Individuen - innerhalb des durch die Rechtsordnung gesteckten Rahmens - grundsätzlich frei, ihre Ziele nach Belieben zu formulieren. Bei der Verwirklichung dieser Ziele greift dann allerdings das Gebot der Rücksichtnahme, wenn und soweit die Zielverwirklichung andere Rechtssphären berührt. 148 Den Rücksichtnahmegedanken inhaltlich auszufüllen, ist zunächst Aufgabe der einfachgesetzlichen Ausgestaltung. In dem Umfang wie der Gesetzgeber dabei auf unvollkommene Pflichten zurückgreift, tritt das Abwägungsmuster der wechselbezüglichen Rücksichtnahme wieder hervor und ist in der Lage, Konfliktlösungen herbeizuführen. Die Konsequenzen aus dem Grundgedanken gegenseitiger Rücksichtnahme lassen sich in drei Kategorien einteilen: Der Ordnungsrahmen der Rechtsordnung enthält (erstens) an vielen Stellen Begrenzungen der „erlaubten" Ziele. Darin kommt der klassische Dekalog mit dem ihm innewohnenden neminem laedere-Grundsatz 149 zum Ausdruck. Diese Grenzen finden sich vor allem Strafrecht, aber auch im Zivilrecht und im öffentlichen Recht. Die Zielbegrenzungen bezwecken ebenfalls eine Schonung der jeweils geschützten Rechtspositionen und bringen daher ebenfalls den Grundgedanken der Rücksichtnahme zum Ausdruck. Im Hinblick auf die die Kategorie der Eigen-Verantwortung sind aber vor allem die darüber hinausreichenden Ausformungen des Rücksichtnahmegebotes von Interesse. Hier 147

Für den Bereich der Binnendifferenzierung der öffentlichen Gewalt bestehen an dieser Stelle Besonderheiten, weil hier nicht die Verwirklichung eigener rechtlich geschützter Interessen im Vordergrund steht, sondern es darum geht, den jeweils spezifischen Beitrag zu der gemeinsamen Wahrnehmung hoheitlicher Funktionen zu leisten. Diese Funktionen sind zwar auch rechtlich abgesichert. Sie speisen sich jedoch aus der gemeinsamen Quelle demokratischer Legitimation. Die grundsätzlichen Konsequenzen aus dem Rücksichtnahmegebot - Begrenzung der eigenen aktiven Handlungsmöglichkeiten und aktive Förderpflichten zugunsten der Kooperationspartner - unterscheiden sich allerdings nicht. 148 Ökonomisch entspricht dies der aus dem Pareto-Kriterium abzuleitenden Forderung, „daß jedes Individuum bei der Ausübung eines Rechts, in bestimmter Weise zu handeln, mit der Pflicht belastet werden muß, die Kosten und Nutzen socher externen Effekte in sein eigenes Nutzenkalkül mit einzubeziehen" (Behrens 1988, 221). 149 Vgl. Schiemann 1989 und Ellscheid 1981, 44. Zur relativen, zirkeiförmigen Struktur dieses Grundsatzes siehe Kapitel F, Abschnitt II bei Fn. 21.

III. Entstehungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen

155

geht es (zweitens) um begrenzende Anforderungen an die Mittel zur Durchsetzung der eigenen Ziele sowie (drittens) Sorgfaltspflichten zugunsten der anderen Seite gegenüber. a) Befugnisbegrenzende

Anforderungen

Bei der Frage, wie die Grenzen der aktiven Verfolgung eigener Ziele zu bestimmen sind, hat die Rechtsordnung ein nach beiden Seiten hin gestuftes Abschichtungssystem entwickelt. Die Analyse hat gezeigt, daß dabei wechselbezüglich die Prüfungsschritte des Übermaßverbotes zum Tragen kommen: - Wer seine Ziele mit Mitteln zu erreichen sucht, die dazu ungeeignet sind; zugleich aber die Rechtssphäre Anderer nachhaltig beeinträchtigt, kommt mit dem Gebot der Rücksichtnahme in Konflikt. 1 5 0 - Wer seine Ziele mit Mitteln zu erreichen sucht, die der anderen Seite mehr an Belastung zumuten als zur Zielerreichung erforderlich ist, verstößt ebenfalls gegen das Rücksichtnahmegebot. 151 - Schließlich kann es Fälle geben, in denen die eine Seite sich von der anderen einen unangemessenen Vorteil einräumen läßt. 1 5 2 Die Prüfung orientiert sich auf den ersten beiden Stufen an dem vom Grundrechtsträger verfolgten Ziel und schichtet die Mittel ab, die nicht zieladäquat sind. Erst auf der dritten Stufe kommt eine direkte Gegenüberstellung der beteiligten Positionen zum Tragen. b) Sorgfaltspflichten

zugunsten des Gegenübers

Das Rücksichtnahmegebot fordert aber nicht nur, die zur Zielverfolgung eingesetzten Mittel kritisch zu hinterfragen, es enthält auch eine verpflich150

Beispiel dafür sind etwa die „Bürgschaftsfälle", in denen sich der Kreditgeber Sicherheiten von Personen einräumen läßt, deren Einkommens- und Vermögenssituation in keinem Verhältnis zum Sicherungsumfang stehen. Der Sicherungszweck wird also im Ergebnis fast vollständig verfehlt, während auf der anderen Seite die wirtschaftliche Grundlage selbstbestimmter Lebensgestaltung schwer beeinträchtigt wird. Wer sich aus der überlegenen Position des Kreditgebers eine derartige Rechtsstellung einräumen läßt, verstößt gegen das Rücksichtnahmegebot. 151 So wird der Bauherr etwa auf eine - im Hinblick auf die Zielerreichung gleichwertige - für den Nachbarn aber schonendere Altemativ-Lösung verwiesen [siehe Abschnitt III. 1. c)]. In der Handelsvertreter-Entscheidung erwies sich die vertraglich vereinbarte Sanktion als nicht erforderlich, um die berechtigten Interessen des Unternehmers zu wahren [siehe Abschnitt III. 2. a)]. 152 Zu verweisen ist auf die beispielhaft genannten Fälle sittenwidriger Rechtsgeschäfte in § 138 Abs. 2 BGB.

156

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

tende, aktivitätsfordernde Seite. Im Rahmen des Sonderrechtsverhältnisses sind die Beteiligten gehalten, auch die Interessen des Gegenübers zu berücksichtigen und in gewissem Umfang aktiv zu fördern. Dies verlangt zunächst einmal eine gedankliche Übernahme der Perspektive des Gegenübers. Darauf aufbauend ist abzuwägen, welche Maßnahmen angebracht erscheinen. Je nach situationsbedingter Ausprägung des Sonderrechtsverhältnisses kann es sich dabei um Treu-, Warn-, Fürsorge-, Obhuts- und sonstige Schutz-Pflichten handeln. Sie lassen sich unter dem Oberbegriff der Sorgfaltspflichten zusammenfassen. Klärungsbedürftig ist allerdings, anhand welcher Kriterien sich Art und Ausmaß der Sorgfaltspflichten im Einzelfall bestimmen lassen. Ausgangspunkt der normativen Betrachtung ist eine Analyse der Rücksichtnahme-„Bedarfes" und des zur Verfügung stehenden „Angebotes" an fördernden Verhaltensmöglichkeiten. Grund für aktive Sorgfaltspflichten sind Handlungsmöglichkeiten der einen Seite, die der anderen Seite zugute kommen, letzterer aber - jedenfalls in dieser Form - nicht zu Gebote stehen. Notwendig ist demnach eine Betrachtung der Handlungsmöglichkeiten des Rücksichtnahmeverpflichteten im Vergleich zu denen des Rücksichtnahmebegünstigten. Besteht hier eine Differenz, etwa im Hinblick auf die verfügbaren Informationen oder die tatsächlichen Einwirkungsmöglichkeiten, greifen die Sorgfaltsanforderungen ein. Nicht jede Differenz in den Handlungsmöglichkeiten führt jedoch zu einer entsprechenden Sorgfaltspflicht. Dazu bedarf es vielmehr einer gesonderten rechtlichen Wertung. Diese hat auf der einen Seite die Belastungen auf Seiten Rücksichtnahmeverpflichteten zu ermitteln, der dann die Vorteile auf der Seite des Rücksichtnahmebegünstigten gegenüberzustellen sind. Zu klären ist, welches Abschichtungsinstrumentarium die zu treffende Abwägungsentscheidung unterstützen kann. Die Prüfungsfolge des Übermaßverbots scheidet aus, da diese auf die Zurückdrängung übermäßiger Aktivität am Maßstab der selbstgesetzten Ziele gerichtet ist. Hier hingegen geht es um die Bestimmung eines rechtlichen gebotenen Mindestmaßes an „aktivierender" Sorgfalt. Orientiert man sich am Vorbild des Übermaßverbotes benötigt man funktionale Äquivalente für die Elemente „Zielbestimmung", „Geeignetheit", „Erforderlichkeit" und „Angemessenheit". Eine Möglichkeit der Zielbestimmung läge darin, die Perspektive des Begünstigten zugrundezulegen. Darin liegt allerdings die Gefahr, den Verpflichteten zum Werkzeug des Begünstigten zu machen, was erst auf der letzten Prüfungstufe der Angemessenheit zu korrigieren wäre. Auch wäre zu fragen, in welcher Weise der Verpflichtete von der Interessenlage des Begünstigten Kenntnis zu nehmen hat (bzw. Kenntnis nehmen konnte). Das Zivilrecht löst dieses Problem, indem es auf den gemeinsam verfolgten Zweck und die dadurch berührten - und in der Regel auch bekannten -

III. Entstehungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen

157

Interessen abstellt. Sorgfaltsanforderungen haben sich an dem gemeinsam verfolgten Vertragszweck auszurichten. 153 Dieser ist bei der Zielbestimmung zugrundezulegen. Soweit sich ein gemeinsam verfolgter Zweck definieren läßt, kann dieser als funktionales Äquivalent für die Zieldefinition herangezogen werden. Damit steht ein Bezugsmaßstab zur Verfügung, an dem die aktiven Verhaltensanforderungen des Sorgfaltspflichtigen zu messen sind. Daneben kann sich anläßlich der Vertragsanbahnung und -abwicklung eine besondere Nähe ergeben, aus der ebenfalls Sorgfaltsanforderungen resultieren. Da es in diesen Konstellationen an einem privatautonom konsentierten Zweck fehlt, ist diese Lücke normativ zu füllen. Als Sorgfaltsmaßstab wäre das nach der Verkehrsanschauung gerechtfertigte Vertrauen heranzuziehen, welches der Rücksichtnahmebegünstigte in eine Situation einbringt. Im weiteren zu prüfen ist, welche der dem Sorgfaltpflichtigen zu Gebote stehenden Maßnahmen geeignet sind, zur Verwirklichung des Sorgfaltszweckes beizutragen; ob weniger belastende, aber im Hinblick auf den Bezugsmaßstab gleichwertige Alternativmaßnahmen zur Verfügung stehen und ob die damit für den Sorgfaltspflichtigen verbundenen Belastungen im Verhältnis zu den Vorteilen für die Gegenseite als angemessen zu beurteilen ist. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß sich die Prüfungsfolge des Übermaßverbotes beibehalten läßt, lediglich die Bezugsgröße ist zu variieren: Soweit sich ein gemeinsamer vertraglicher Zweck identifizieren läßt, ist dieser heranzuziehen. Im übrigen ist - normativ - ein Vertrauensschutzniveau oder ein anderer überindividueller Maßstab zu bestimmen. Bezogen auf die Bezugsgröße ist dann - unter umgekehrten Vorzeichen - die Prüfung anhand der Kriterien „geeignet", „erforderlich" und „angemessen" vorzunehmen. Die Methodik zur Bestimmung des konkret zu beachtenden Sorgfaltsniveaus läßt sich - in Gegenüberstellung zum Übermaßverbot - als „Mindestmaßgebot" bezeichnen. Dieser Begriff bringt die besonderen, in der Bestimmung der Zielgröße liegenden Schwierigkeiten dieses Ansatzes besser zum Ausdruck als die gebräuchliche Redeweise vom Untermaßverbot. Denn anders als beim Übermaßverbot, wo sich die Zielgröße überwiegend durch bloße Betrachtung der jeweils verfolgten Handlungszwecke der Lebenswelt entnehmen läßt, ist beim Mindestmaßgebot die Zielgröße zu einem deutlich höherem Anteil normativ zu entwickeln. Die Rationalkriterien 153

Im Rahmen der Vermögensbetreuung hat sich die beratende Seite etwa nach den spezifischen Anlagezielen zu erkundigen und vor dieser vom Gegenüber gesetzten Zweckbestimmung auf die spezifischen Risiken einzelner Anlageformen hinzuweisen.

1 5 8 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

der Zweck-Mittel-Relation beinhalten damit schon von ihrem Ausgangspunkt her einen höheren normativen Gehalt. Wenn man bereits beim Übermaßverbot kritisch eingewenden kann, bei diesem bestehe - im Übermaß angewandt - die Gefahr einer „Knochenerweichung" 1 5 4 der Rechtsordnung (Ossenbühl 1993, 151), dann gilt dies für das Mindestmaßgebot erst recht. Derartige Warnungen sind gewiß angebracht. Weil aber der Entscheidungs- und damit der Abwägungsbedarf fortbesteht, der sich nur zu einem gewissen Grade durch regeiförmige Positivierung bewältigen läßt, bleibt dem Recht diese Aufgabe erhalten und es muß nach Wegen suchen, mit ihr möglichst rational umzugehen. c) Wechselbezügliche

Verhältnismäßigkeitsprüfung

Die Überlegungen aus diesem Abschnitt lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das Gebot der Rücksichtnahme beinhaltet sowohl eine befugnisbegrenzende als auch eine aktivitätsfordernde Komponente, denen sich die Beteiligten gegenübersehen. Die befugnisbegrenzende Komponente geht davon aus, jede Seite verfolge jeweils ihre eigenen Interessen. Die dazu dazu eingesetzten Mitteln haben sich - soweit sie auf Rechte des Gegenübers einwirken - vor den Rationalkriterien des Übermaßverbotes zu rechtfertigen. Das Übermaßverbot erfüllt dabei eine Filterfunktion, die auf ein Zurückdrängen eigennütziger Aktivitäten zugunsten der Belange des Gegenübers gerichtet ist. Die aktivitätsfordernde Komponente bringt Förderpflichten im Hinblick auf den gemeinsam verfolgten Zweck hervor. Sie verlangt von den Beteiligten, ihre spezifischen Handlungsmöglichkeiten zu nutzen, um das Gegenüber bei der Erreichung dieses Zweckes zu unterstützen. Dabei kommen die Prüfungskriterien des Übermaßverbotes in einer Form zur Anwendung, die im Ergebnis zu einem „Mindestmaßgebot" führt. Die Pflichten aus beiden Komponenten treffen jeweils alle Beteiligten. Man kann daher von einem „wechselbezüglichen Übermaßverbot" und einem „wechselbezüglichen Mindestmaßgebot" sprechen. Fügt man die beiden Komponenten zusammen, ergibt sich eine Konstellation „wechselbezüglicher Verhältnismäßigkeitsprüfung", die jene Elemente umfaßt, die der Begriff „Rücksichtnahmegebot" bezeichnet. Die folgende Abbildung veranschaulicht die daraus entstehende Prüfungskonstellation.

154

Derartige Warnungen wurden in vielerlei Schattierungen formuliert; siehe die Nachweise bei Ossenbühl 1995, 908 f. sowie in Abschnitt IV. 1. e). Für eine Auseinandersetzung mit diesen Einwänden siehe Abschnitt IV. 3. b).

III. Entstehungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen

159

C Gemeinsam verfolgter Zweck

Förderfunktion des wechselbezüglichen Mindestmaßgebotes

Filterfunktion des wechselbezüglichen Übermaßverbotes

Rechtlich geschützte Interessen der Beteiligten Die Akteure handeln in Verfolgung der jeweils eigenen Interessen

Abbildung 2: Das Rücksichtnahmegebot als wechselbezügliche Verhältnismäßigkeitsprüfung

Die Bezugsmaßstäbe der wechselbezüglichen Verhältnismäßigkeitsprüfung orientieren sich einerseits an den jeweiligen Individualinteressen (so beim Übermaßverbot) sowie andererseits an dem gemeinsam verfolgten Zweck (so beim Mindestmaßgebot). Die daraus resultierenden Anforderungen sind folglich darauf gericht, das Gesamtgefüge mit allen darin eingebettenen Interessen zu optimieren. 155 155

Die im Gebot der Rücksichtnahme miteinander verflochtenen Begründungsmuster dürften daher in der Lage sein, eine funktionale Optimierung des institutionellen Rahmens anzuleiten; siehe dazu Kapitel F, Abschnitt II.

160

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

3. Besonderheiten bei der Gewaltenkooperation Besonders pointiert ist die Betonung der funktionalen Optimierung des gemeinsam verfolgten Zweckes bei der Kooperation der unterschiedlichen Träger öffentlicher Gewalt. Je nachdem wo der jeweilige Interpret den Schwerpunkt in der Funktionsdefinition setzt, unterscheiden sich dann auch die Abwägungsergebnisse, wie sich etwa am gemeinschaftsrechtlichen Spannungsfeld zwischen Rechtsharmonisierung im Binnenmarkt und dem Subsidiaritätsprinzip deutlich machen läßt. Gleiches gilt aber auch für andere Fälle der vertikalen Kompetenzabgrenzung, wie der zwischen Bund und Ländern oder der Gewährleistung des kommunalen Aufgabenbereiches. Selbst die Abgrenzung auf der horizontalen Ebene zwischen Legislative und Verfassungsgerichtsbarkeit wird hier davon bestimmt, welche Aspekte in der gemeinsam wahrzunehmenden Funktion man in den Vordergrund stellt. 1 5 6

4. Ergebnis Die These, wonach das Recht zur Auflösung des Zusammentreffens rechtlich geschützter Interessen nicht nur auf regeiförmige Grenzziehungen, sondern auch unvollkommene Rechtspflichten zurückgreift, und daß bei der Bewältigung der dabei auftretenden Prinzipienkollisionen wechselseitige Rücksichtnahmeanforderungen zum Tragen kommen, konnte bestätigt werden. Darüber hinaus ist es gelungen, das Grundmuster herauszuarbeiten, welches bei der Lösung der Kollisionsfragen zum Tragen kommt und offene Fragen zu benennen. Bevor den dogmatischen Implikationen weiter nachgegangen w i r d , 1 5 7 ist zunächst der Befund der Bestandsaufnahme rechtstheoretisch einzuordnen.

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie Die Bestandsaufnahme in den vorhergehenden Abschnitten hat gezeigt, daß sich zwar die Konfliktkonstellationen in manchen Punkten unterscheiden, gleichwohl aber ein übereinstimmendes methodisches Grundmuster zu Abschichtung der Abwägungsfragen herangezogen wird. Diese Beobachtung legt die Annahme nahe, daß es sich dabei um ein für die Rechtsordnung elementares Konfliktbewältigungsmuster handelt. 156

Siehe dazu pointiert Hesse 1994, 559 (das Zitat findet sich in Kapitel E, auf Seite 381). 157 Siehe Abschnitt V ; dort findet sich in Abschnitt V. 4. auch eine zusammenfassende Definition von Inhalt und Funktion des Rücksichtnahmegebotes.

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

161

1. Auflösung von Prinzipienkonflikten Die betrachteten Auseinandersetzungen sind in rechtstheoretischer Hinsicht dadurch gekennzeichnet, daß Prinzipiennormen miteinander in Konflikt treten. Prinzipien zeichnen sich dadurch aus, daß sie nicht a priori klar definierte Handlungsanweisungen vorgeben. Sie sind vielmehr auf eine Optimierung angelegt. Dieses Phänomen ist für die Bewältigung von „Grundrechtskollisionen" 158 bekannt (Alexy 1985, 75 ff.): Auf der Ebene der Verfassung kann keine Prinzipiennorm einen absoluten Vorrang beanspruchen; alle sind in den Prozeß der Optimierung einzubeziehen. Zu klären ist daher, wie diese Optimierungsaufgabe zu bewältigen ist. a) „Wechselwirkungs-Theorie" Das Bundesverfassungsgericht verweist in seiner Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit auf die „Wechselwirkung" der verschiedenen Verfassungsgüter: Die Beziehung zwischen Grundrecht und „allgemeinem Gesetz" sei nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die „allgemeinen Gesetze" aufzufassen; es finde vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die „allgemeinen Gesetze" zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen (BVerfGE 7, 198/208 f. Lüth). Auf diese Passage berufen sich zahlreiche andere Entscheidungen, 159 ohne allerdings genauere Kriterien anzugeben, wie die „Wechselwirkung" methodisch zu bewältigen i s t . 1 6 0 Das Gericht beläßt es bei dem Hinweis, der Wechselwirkung sei „durch entsprechende Güterabwägung Rechnung zu tragen". 1 6 1

158

Der Begriff der „Kollision" (siehe - statt vieler - Alexy 1995, 78 ff. und Stern 1994, 603 ff.) ist unpräzise, weil die Anwendung der verfassungsrechtlichen Abwägungsmechanismen stets dazu führt, daß die gegenläufige Bewegung vor dem „Frontalzusammenstoß" endet (Lübbe-Wolff 1988, 167). Die Situation ist besser mit den Begriffen der „Überschneidung" bzw. der „Ingerenz" gekennzeichnet (siehe Abschnitt IV. 3). Allgemein läßt sich auch von einem „Konflikt" sprechen. 159 Siehe etwa BVerfGE 12, 113 - Schmid-Spiegel; E 20, 162 - Spiegel; E 35, 79 - Hochschulurteil; E 47, 198/232 - Wahl Werbespot; E 81, 278 - Bundesflagge. 160 Dies kritisiert auch Hesse (1995, Rn. 72). Die Bestandsaufnahme hat gezeigt, daß die Rechtsprechung das Rücksichtnahmegebot mit seiner wechselbezüglichen Verhältnismäßgikeitsprüfung heranzieht. 161 BVerfGE 53, 366 - Konfessionelles Krankenhaus. 11 Führ

162

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot b) Verhältnismäßige Zuordnung konfligierender Prinzipiennormen

Die bei der „Kollision" von Prinzipiennormen zur Konfliktbewältigung anzuwendende Methode findet das Recht im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dessen Zusammenhang mit den Prinzipiennormen „ist so eng wie nur möglich: Der Prinzipiencharakter impliziert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, und dieser impliziert jenen", wie Alexy (1985, 100 ff.) in grundrechtstheoretischer Perspektive anhand der logischen Strukturen des Entscheidungsproblems darlegt. Was aber gilt, wenn einfachrechtliche Prinzipiennormen miteinander in Konflikt treten? Hier ist ein Abwägungsproblem zu lösen, dessen Grundstruktur mit jener auf der Ebene des Verfassungsrechts übereinstimmt. Die von Alexy entwickelte Strukturtheorie ist damit in grundsätzlich gleicher Weise auch im Rahmen des einfachen Rechts anzuwenden (Koch/Rüßmann 1982, 79 ff.). Der aufgezeigte untrennbare Zusammenhang zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beansprucht Gültigkeit bei Prinzipienkonflikten aller Art; unabhängig davon, auf welcher Ebene Normenhierarchie der Konflikt in Erscheinung tritt. Damit ist aber noch nicht gesagt, in welcher „Prüfungsrichtung" der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Anwendung kommt. Die darin zum Ausdruck kommende Ziel-Mittel-Relation und Argumentationslastregel (Schlink 1976, 198) ist zunächst einmal auf die eindimensionale Filterwirkung zugeschnitten: In der grundrechtlichen Abwehrperspektive geht es darum, staatliche Regelungen möglichst zurückzudrängen. Die Rechtfertigungslast richtet sich gegen den intervenierenden Staat. 162 Diese Prüfrichtung kann dann nicht mehr gelten, wenn sich zwei Private gegenüberstehen und der Staat - sei es in Gestalt des bürgerlichen Rechts, sei es im Verwaltungsrecht - Abwägungsfragen zu entscheiden hat. Sobald es keinen apriorischen Vorrang der einer Rechtsposition gegenüber einer anderen gibt, kann die Prüfrichtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht eindimensional ausgerichtet sein. Es bedarf daher einer Problemverarbeitungsstruktur, die beide Seiten einem Rationalitätstest unterzieht. Zu einer solchen Struktur gelangt man, wenn man annimmt, daß sich die verschiedenen Rechtssphären überlagern und sich im Überlagerungsbereich der Freiheitssphären ein Jeglicher vor dem Gegenüber zu rechtfertigen hat. Die Rechtfertigungslast der Prüfungsstufen des Übermaßverbotes trifft dann alle Beteiligten. Sie haben sich die Fragen nach der Legitimität des Zwecks und nach der Geeignetheit und Notwendigkeit der zur Zweckverfolgung eingesetzten Mittel gefallen zu lassen. Diese Fragen „arbeiten die unter162 Das Übermaßverbot in dieser einseitigen Ausprägung ist schon von seiner Struktur her nicht geeignet, Konflikte aufzulösen, die nicht diesem Verteilungsprinzip folgen; insoweit zutreffend Böckenförde 1989, 53.

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

163

schiedlichen Konfliktprobleme klein und machen sie dogmatisch handhabbar." 163 c) „Schonender Ausgleich" und „praktische Konkordanz" Die Methode der wechselbezüglichen Prüfung findet sich bereits in dem Ansatz von Lerche (1961, 152 f.), der von „dem Gedanken des nach beiden Seiten hin schonendsten Ausgleich" ausgeht und zu dem Ergebnis gelangt, die Erforderlichkeitsprüfung habe sich nicht nur an die eine Seite zu richten, sondern an beide: „Die Normen, die diese Konkurrenz auflösen sollen, greifen daher in beide Rechtsbezirke ein und sind durch die Grundsätze des Übermaßverbotes nicht einseitig nur von dem einen Pol aus gesteuert; sie werden von beiden Eckpunkten her gespannt." Lerche beschreibt hier präzise die Methode der Auflösung von Prinzipien-Konflikten durch die wechselbezügliche Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. 164 In diesem Sinne dürfte auch der Vorschlag von Hesse zu verstehen sein, der die im Rahmen der „praktischen Konkordanz" 1 6 5 auftauchende Problemstellung wie folgt umschreibt: Das Prinzip der Einheit der Verfassung stelle das Recht vor „die Aufgabe einer Optimierung: beiden Gütern müssen Grenzen gezogen werden damit beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen. Die Grenzziehungen müssen daher im jeweiligen konkreten Falle verhältnismäßig sein, sie dürfen nicht weiter gehen als es notwendig ist, um die Konkordanz beider Rechtsgüter herzustellen. »Verhältnismäßigkeit' bezeichnet in diesem Zusammenhang eine Relation zweier variabler Größen und zwar diejenige, die der Optimierungsaufgabe am besten gerecht wird, nicht eine Relation zwischen einem konstanten , Zweck 4 und einem oder mehreren variablen ,Mitteln'

Bei der Herstellung „praktischer Konkordanz" sind dementsprechend ebenfalls die Kriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anzuwenden; und zwar in einer Weise, daß sich beide Seiten die Prüfung anhand der darin verankerten Kriterien gefallen lassen müssen.

163

Schlink (1984, 464), der darauf verweist, auch das Bundesverfassungsgericht mache sich - trotz der „werteschweren Formeln" - auch „ i m Lüth-Urteil die genannten Kategorien und Fragen immer wieder fruchtbar." 164 Siehe auch Lerche 1992, Rn. 5 in Fn. 16. 165 Hesse 1995, Rn. 72 und 318. Hingewiesen sei auf einen sprachlichen Aspekt: In dem Begriff der Konkordanz schwingt der Bedeutungsgehalt „innere Übereinstimmung" (Konkordanz als „Gleichklang der Herzen" oder „Eintracht des Geistes"?) mit. Es ist aber fraglich, ob sich einer derartige Übereinstimmung tatsächlich herstellen läßt. Die in der Begrifflichkeit mitschwingende „romantische Jurisprudenz" birgt die Gefahr, die realen Gegensätze zu überdecken und vorschnell einer „harmonisierenden Auflösung" zuzuführen. 11:

164

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

Für beide Ansätze gilt daher, daß sie sich widerspruchsfrei in das Rücksichtnahmegebot mit der darin enthaltenen wechselbezüglichen Verhältnismäßigkeitsprüfung integrieren lassen. d) Zwischenergebnis Festzuhalten ist damit, daß die wechselbezügliche Verhältnismäßigkeit als strukturierende Regel 1 6 6 in Betracht kommt, die es ermöglicht, kollidierende Prinzipien zum Ausgleich zu bringen. Mit diesem methodischen Ansatz müßte sich das Vorgehen der Zivil-, Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit, so wie es sich nach der Bestandsaufnahme in den vorigen Abschnitten darstellt, rekonstruktieren und rechtstheoretisch abstützen lassen. Die darin verankerte Rationalstruktur würde damit allgemeine Geltung bei Prinzipienkonflikten beanspruchen, unabhängig davon, in welcher rechtlichen Einkleidung sie sich darstellen. Voraussetzung ist aber, da man gedanklich von sich überlagernden Rechtssphären ausgeht. e) Konflikt

mit dem „ Trennungsdenken "

Die Vorstellung sich überlagernder Rechtssphären reibt sich an hergebrachten juristischen Denkweisen. Konflikte bestehen mit der Vorstellung klar voneinander geschiedener Grundrechtssphären - dem „Trennungsdenken" - und einer damit verbundenen Vorstellung „absoluter" Schutzbereiche. Das Phänomen der Kollision mehrerer Grundrechtssphären wird überwiegend unter dem Blickwinkel der „Begrenzung" und „Abgrenzung" betrachtet. 1 6 7 Auch wenn damit zunächst einmal nur die Problemlage beschrieben wird, klingt doch zugleich eine Vorstellung darüber an, wie sie zu lösen sei; nämlich durch die Bestimmung von Grenzverläufen und Trennlinien. Die Aufgabe des Rechtsstaats wird dementsprechend darin gesehen, „Demarkationslinien der Freiheitssphären" festzulegen (Isensee 1992b, Rn. 147). Bei einem derartigen gedanklichen Ausgangspunkt ergibt sich aus Abwägungsmodellen notwendig die Gefahr einer „Verflüssigung der Freiheitsgewähr" (Böckenförde 1983b, 51). Es ist aber fraglich, inwieweit ein demarkatorisches 168 Lösungsmuster und das damit verbundene „Trennungsdenken" für 166 Haverkate (1983, 11) sieht im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einen „subsumtionsfähigen Rechtssatz". Siehe dazu auch Grabitz 1973, 586. 167 Siehe - statt vieler - Stern 1992, Rn. 77 ff.; Lerche 1992, Rn. 3 ff. und Hesse 1995, Rn. 72. (jeweils mit Beispielen aus der Rechtsprechung). Methodisch - und damit auch: sprachlich - abweichend Pieroth/Schlink 1999, Rn. 314 ff. 168 \ y e r (jj e Grenze seines Freiheitsterritoriums erreicht, steht vor einem „juristischen Schlagbaum", der Grundrechts-Schranke.

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

165

die Bewältigung der real zu beobachtenden Interdependenzen des Freiheitsgebrauches sich noch als geeignet erweist. Es überrascht daher nicht, wenn konzediert wird, das „eher grobmaschige System" der Grenzziehung genüge „nicht mehr den von der Sache her gebotenen differenzierten Abwägungsvorgängen" (Stern 1992, Rn. 81). Diese Schwierigkeiten dürften jedenfalls teilweise in dem grundrechtstheoretischen Zugriff auf das Problem begründet sein. Wer Freiheit - im Sinne der klassisch-liberalen Grundrechtstheorie - versteht als vorverfassungsmäßig „gegebene" Reservate, in denen die Individuen isoliert nebeneinanderstehen, für den erscheint „Sozialität gleichsam als ein notwendiges Übel, das keine eigenständigen Ordnungsprinzipien hat, sondern als ein Chaos kollidierender Individualfreiheiten anzusehen ist" (Preuß 1979, 156 f.). Vor einem derartigen gedanklichen Hintergrund ist schwierig, sich den rechtstheoretischen Fragen zu stellen, die aus dem sozialen Miteinander entstehen. Die Antwort des klassisch-liberalen Grundrechts- und Freiheitsverständnisses auf die Frage, wie soziale Konflikte verfassungstheoretisch zu bewältigen sind, liegt in der Konzeption der Objektivierung der subjektiven Abwehrrechte als wertentscheidende Grundsatznormen. In der gedanklich errichteten „objektiven Wertordnung" findet sich das Muster, mit dessen Hilfe der soziale Charakter grundrechtlicher Freiheiten handhabbar erscheint. Problematisch an diesem Vorgehen ist, daß es sich auf dem „Umweg" über die Objektivierung von der jeweils entscheidungserheblichen realen Konfliktsituation entfernt und seine Argumente daher nur schwer auf den konkret in Rede stehenden Freiheitsgebrauch beziehen kann. Außerdem fließen in unterschiedlicher Gestalt präformierte Wertungen in die Entscheidungsfindung ein, die nicht offengelegt und damit der rationalen Auseinandersetzung entzogen werden. Dieser Ansatz verliert daher außerhalb der jeweiligen „Werte-Gemeinschaft" 169 stark an Überzeugungskraft und gerät damit auch mit der paradigmatischen Grundlage des Rechtsstaates, der rational nachvollziehbaren Begründung und Begrenzung jeglicher Herrschaft in Konflikt. Eng mit dem „Trennungsdenken" verknüpft ist die Vorstellung „absolut" geschützter Rechtssphären, 170 die ebenfalls mit der relationalen Ausgleichs169

In der juristischen „Schule", deren Gemeinsamkeit auf dem von werthaften Ordnungsvorstellungen geprägten „Denkstil" beruht, könnte man im Sinne von Ludwig Fleck (siehe Kapitel D in Fn. 48) ein „Denkkollektiv" sehen. 170 Die Wurzeln dafür finden sich in der spezifischen Entwicklung in Deutschland, wo sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Kampf für die Grundrechte auf die wirtschaftlichen Grundfreiheiten konzentrierte. Rupp (1987, Rn. 4) verweist auf den daraus entstandenen „Freiheitsbegriff, der nur noch die bürgerlichprivate Reservatfreiheit unter Aussparung der politischen Freiheit der Teilhabe am Staat umfaßte", beruhend auf jener „für Deutschland typischen Umbiegung der Freiheitslehre, unter Verzicht auf politische Selbstbestimmung und Mündigkeit sich mit

166

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

sichtweise in Konflikt gerät. Eingewandt wird, dem Betrachter zerrinne die „Absolutheit, und es verbleibt ihm lediglich die Notwendigkeit ausgleichsbezogener Abwägung in der Hand, von unantastbaren inneren Schutzzonen abgesehen" (Lerche 1984, 101 f.). Die Vorstellung absolut geschützter Bereiche läßt sich mit der „engen Tatbestandstheorie" besser aufrechterhalten. Dieses Grundrechtsverständnis versucht, die Schwierigkeiten des Abwägens dadurch zu vermeiden, daß sie „bestimmte Formen des Rechtsübergriffs von vornherein aus dem Schutzbereich ausgrenzt: die evidente Verletzung von Grundrechtsgütern des anderen, insbesondere durch private Gewalt." Die Anwendung oder Androhung körperlicher Gewalt sei „nicht abwägungsfähig, sondern ausgrenzungsbedürftig". Die Ausübung grundrechtlicher Freiheit stehe von vornherein unter dem Vorbehalt der Friedlichkeit. Die Grenzen des Grundrechtstatbestandes seien „durch Auslegung zu ermitteln, nicht durch Abwägung hervorzubringen" (Isensee 1992a, Rn. 176). Indem der körperliche „Übergriff in den Rechtskreis des anderen" a priori vom Grundrechtsschutz ausgeschlossen wird, läßt die enge Tatbestandstheorie mittelbar das gesamte einfache Recht, soweit es „gewaltsamer" Verletzung zugängliche subjektive Rechte begründet, als den Grundrechten übergeordnet erscheinen. Nicht das einfache Recht muß sich hier vor den Grundrechten bewähren, sondern die allgemeinen Gesetze bestimmen ohne weitere Prüfung aus sich heraus die der Freiheit „ohnehin innewohnenden", immanenten Grenzen. 171 Es fragt sich jedoch, welcher dogmatische oder rechtspraktische Gewinn mit dem (partiellen) Verzicht auf Abwägung zugunsten der (vorgelagerten) Auslegung verbunden ist. Die Fälle evidenter Verstöße gegen das neminem leadere-Prinzip - also vor allem dort, wo es um physische Gewalt gegen andere Personen geht, die auch strafrechtlich relevant ist - lassen sich auch im Wege der wechselbezüglichen Abwägung eindeutig lösen. Für weite Bereiche grundrechtlicher „Kollisions"-lagen (Ehrenschutz; „gewaltlose" Rechtsgüterverletzung, etwa im Bereich des Zivilrechts sowie im Umweltrecht) muß auch die enge Tatbestandstheorie das Phänomen der Ingerenz den bürgerlichen Freiheiten, insbesondere mit der Eigentumsfreiheit, zu begnügen und sich in der Beteuerung dessen Heiligkeit als eines absoluten Rechts zu erschöpfen" [Herv. im Orig.]. Für den Bereich des öffentlichen Rechts läßt sich dieser Kompromiß in paralleler Weise beobachten (Masing 1997): Während die Freiheit im Privaten garantiert wird, bleibt die Sorge um das Gemeinwesen „des Kaisers". In welcher Weise der Kaiser dieser Aufgabe gerecht wird bleibt einer an rechtlichen Maßstäben orientierten Kontrolle durch den einzelnen Bürger und durch die von ihm angerufenen Gerichte entzogen; eine Vorstellung, die in der Schutznormtheorie noch immer wirksam ist (Wegener 1998, 184 ff.). 171 Kriele 1984, 637; ähnlich Isensee 1992a, Rn. 177; vgl. auch Häberle 1983, 31 ff. Zu dem Ansatz der „immanenten" Grundrechtsgrenzen und dessen historischen Wurzeln siehe Kapitel B, Abschnitt IV. 2 bei Fn. 127.

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

167

der Grundrechtssphären und die Notwendigkeit grundrechtsbezogener Abwägungsvorgänge anerkennen. 172 Das Verdikt, hier gebe es „keine gesicherte Skala für Rang und Gewicht der abzuwägenden Güter" gilt damit auch für die eigene Theorie. Und das Argument, es werde immerhin eine Verringerung der - rechtstaatlich als unbefriedigend eingestuften - Abwägungsvorgänge erreicht, erweist sich als wenig zugkräftig, wenn überwiegend die ohnehin unproblematischen Fälle, deren Zahl gering sein dürfte, ausgeschieden werden, für die weit überwiegende Mehrzahl der Fälle jedoch eine Abwägung erforderlich bleibt. Der Verweis auf die „willkürgefährdete, zufallsbeeinflußte, subjektive Wertung der Abwägungsbeteiligten, letztlich also des Richters" (Isensee 1992 a, Rn. 175) ist ebenfalls wenig überzeugend, wenn an seine Stelle die Wertung des Grundrechtsinterpreten im Hinblick auf die Grenzen des Grundrechtstatbestandes tritt. Zwar ist es sicherlich zutreffend, daß hier dem Rechtswissenschaftler ein größerer Einfluß auf das Entscheidungsergebnis zukommt, 1 7 3 es fragt sich aber, ob darin ein Vorzug gegenüber einer richterlichen Abwägungsentscheidung liegt. Der Richter kann sich immerhin auf eine demokratische Legitimation berufen, wenn er „ i m Namen des Volkes" Recht auslegt und anwendet. Er tut dies zudem in einem offenen Verfahren mit Begründungspflicht und der Möglichkeit obergerichtlicher Korrektur; und er hat sich mit seinen Ergebnissen der öffentlichen und fachöffentlichen Kritik zu stellen. Die Fragwürdigkeit der engen Tatbestandstheorie zeigt sich - selbst wenn man den jeweiligen Ergebnissen zustimmen mag - in den Fällen weniger „manifester Übergriffe" auf fremde Rechtssphären, etwa im Rahmen der Kunstfreiheit (Sprayer von Zürich) 1 7 4 oder dem Demonstrationsrecht (Straßen-Blockade). 175 Die Vertreter der engen Tatbestandstheorie kommen zu dem Ergebnis, es handele sich um „ethisch mißbilligtes, nicht schutzwürdiges Verhalten" (Isensee 1992a, Rn. 178). Eine „ethische Mißbilligung" muß sich aber letztlich ebenfalls auf kollidierende „Werte" stützen. Dahinter stehen dann sowohl individuelle (z.B. Integrität der Person) als 172

Isensee 1992a, Rn. 180. Scholz (1977, Rn. 65) geht davon aus, Grundrechtsgebrauch in der „sozialen Freiheitssphäre" könne tatbestandlich die Freiheiten oder Rechtsgüter Dritter sowie der Allgemeinheit gefährden; erforderlich sei daher eine entsprechende „inhaltliche Abstufung, vermittelt durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz." 173 Sieht man - in Anwendung des ökonomischen Verhaltensmodells (siehe Kapitel D) - im Rechtswissenschaftler jedenfalls auch einen „Einflussmaximierer" (K. Bizer 2000a), dann liegt eine derartige Interpretation in seinem Individualinteresse. 174 BVerfG vom 19.3.1984 - 2 BvR 1/84 - NJW 1984, 1293/1294 („Sprayer von Zürich"). 175 Würkner 1987, 1795, in Fn. 22; Denninger 1989, Rn. 40; Sachs 1994, 539.

168

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

auch gesellschaftliche Positionen (z.B. Erhalt des Rechtsfriedens). Auch der engen Tatbestandstheorie liegt also eine weitende Abwägung zugrunde. Diese wird aber nicht offen dargestellt und begründet, sondern auf einer vorrechtlichen, moralischen Ebene vorgenommen und unter dem Deckmantel vermeintlich „juristisch stringenter" Ermittlung des Grundrechtstatbestandes tendenziell verdeckt: Während alle Formen des „Eingriffs" rechtsstaatlicher Rechtfertigung bedürfen, soll dies für Definition der Tatbestandsgrenze nicht gelten. Stattdessen wird pauschal auf die „Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft" verwiesen; was danach „allgemein als gemeinschaftsschädlich" anzusehen sei, befinde sich „von vornherein außerhalb der Freiheitsverbürgung". 176 Die Grenzen des Grundrechtstatbestandes befinden sich demnach auf der Ebene der Moral und werden letztlich vom Grundrechtsinterpreten und dessen Moralvorstellungen deterministisch vorgegeben; ein rechtsstaatlich wenig befriedigendes Ergebnis. 177 Die enge Tatbestandstheorie führt zudem nur in einem schmalen Grenzbereich zu abweichenden praktischen Ergebnissen. Diese lassen sich in erheblichem Umfang auf die moralischen Grundhaltungen der jeweiligen Vertreter zurückführen. Andere Moralvorstellungen könnten auch andere Ergebnisse begründen. Damit stellt sich die Frage, worin der Vorzug der engen Tatbestandstheorie liegt. Er reduziert sich auf die Ausgrenzung bestimmter Verhaltensweisen aus dem Grundrechtstatbestand. Damit wird der „Unwert" eines Verhaltens plakativ deutlich. Es handelt sich mit anderen Worten um den Fall einer „symbolischen Grundrechtstheorie". Dahinter steckt offenbar die Vorstellung, die Charakterisierung eines Verhaltens als „nicht vom Grundrecht gedeckt" habe eine verhaltensbeeinflussende, letztlich wohl die individellen Präferenzen der Rechtsunterworfenen beeinflussende Wirkung. 1 7 8 Diese dürfte jedoch, wenn sie überhaupt nachzuweisen wäre, allenfalls sehr gering sein. Auch dürfte es kaum die Funktion einer Grundrechtstheorie sein, Unwerturteile gesellschaftlich wirksam werden zu 176

BVerwGE 22, 286/289 - Beruf des Astrologen. M i t dieser Begründung grenzt das Gericht etwa auch die Ausübung der „Gewerbsunzucht" aus dem Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG aus; wobei die Frage, ob und welche „gemeinschaftsschädlichen" Effekte beim Wegfall der Prostitution eintreten könnten, naheliegenderweise nicht erörtert wird. 177 Für eine eingehende Untermauerung dieser Argumente siehe Alexy 1985, 278 ff./292 f. Kritisch - am Beispiel der Menschenwürderechtsprechung - auch Kloepfer 1976, 410. Zur Bedeutung einer wirkungsanalytischen Betrachtung im Rahmen der Schutzbereichsbestimmung siehe Kapitel E, Abschnitt II. 178 In ähnlicher Weise geht das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 88, 203/273 ff.) offenbar davon aus, bereits das Verdikt „rechtwidrig" (wenn auch straffrei) beeinflusse das Rechtsgefühl und damit das Verhalten der Schwangeren und ihres persönlichen Umfeldes wie der Rechtsgemeinschaft insgesamt; vgl. dazu Denninger 1993, 129 sowie Schmidt 1995, 438 ff. m.w.N.

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

169

lassen. Dies ist Aufgabe des einfachen (Strafrechts-) Gesetzgebers. Die Grundrechtstheorie sollte sich von davon fernhalten. Ihre Funktion liegt darin, einen gedanklichen Hintergrund für die Entwicklung dogmatischer Figuren zu erarbeiten. Eine moralische Anerkennung oder Rechtfertigung der vom Grundrechtstatbestand erfaßten Verhaltensweisen ist damit nicht verbunden. 179 Dies spricht dafür, auf der Ebene der Grundrechtstheorie davon auszugehen, daß die Freiheitssphären weder von vornherein noch durch Auslegung klar voneinander zu scheiden sind, sondern sich teilweise überlagern. Dem entspricht, daß auch die enge Tatbestandstheorie die Notwendigkeit nicht ausschließen kann, im Kollisionsfalle abzuwägen. Im Gegenteil: Abwägung ist auch nach dieser Sichtweise eher die Regel als die Ausnahme. Dann aber bedarf es eines Grundrechtsverständnisses, welches in der Lage ist, diese Abwägungsvorgänge zu integrieren und zu strukturieren. f) Ergebnis Der hier vertretene Ansatz will das Phänomen sozialer Interaktion und Interferenz grundrechtstheoretisch bewältigen. Er bedient sich dazu der Annahme, daß die geschützten Rechtssphären sich nicht trennscharf voneinander abgrenzen lassen. Die Aufgabe besteht dann darin, für die daraus entstehenden Überlagerungsbereiche rationale Entscheidungsmuster zu identifizieren. Wer diesen Schritt nicht mitgehen und weiterhin das klassisch-liberale Trennungsdenken verteidigen, zugleich aber die Ergebnisse der Rechtsprechung der letzten Jahrzehnte theoretisch integrieren will, hat es schwer, innere Widersprüche und Wertungsprobleme zu vermeiden. Wenn etwa Isensee (1992b, Rn. 9) die „vielfältigen Öffnungen, Anknüpfungen und Interdependenzen zur Sprache" bringt, die in der Struktur der Verfassung und ihrer praktischen Verwirklichung auszumachen sind, sieht er die Gefahr, „daß die positivrechtliche Fassung des Grundgesetzes zerfließt" und bemüht sich, die „rechtlichen Distinktionen" nicht preiszugeben. 180 Die darin liegende Spannung widerlege nicht die juristische Unterscheidung; sondern zeige „nur deren Relativität". Denn die Jurisprudenz sei „darauf angewiesen, zu unterscheiden, was in der Lebensrealität zusammengehört". Zweifellos liegt in der Zergliederung von Sachverhalten in einzelne Rechtspositionen eine zen179

Lübbe-Wolff 1988, 100 ff. m.w.N. Dementsprechend verlagert Isensee die damit angesprochenen Fragen auf die „vorgelagerte" Ebene der „Grundrechtsvoraussetzungen", die Bausteine der grundrechtlichen Dogmatik seien davon deutlich abzugrenzen und bleiben „außen vor" (Isensee 1992b, Rn. 10). 180

170

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

trale Funktion juristischer Methodik; will das Recht aber seiner Funktion gerecht werden, in der Lebensrealität auftretende Konflikte möglichst rational zu bewältigen, muß es auch in der Lage sein, die Bedingungen zu formulieren, unter denen die einzelnen Positionen sich miteinander in verträglicher Weise als zusammengehörig verwirklichen können. Das Recht kann sich nicht darauf beschränken, die Distinktionen des Sollens fein ziseliert zu beschreiben und im übrigen pauschal auf die Relativität allen Seins zu verweisen. Vielmehr gilt es, die Bedingungen rechtsverträglicher Relationen und Interaktionen mit in den Blick zu nehmen.

2. Relativität und Solidarität Gefragt sind gedankliche Modelle für die Bewältigung von Konstellationen, bei denen „Freiheitsrechte aufeinandertreffen, deren jeweilige Grenzen fließen und nur schwer auszumachen sind". 1 8 1 Zu integrieren ist zudem die Wechselbezüglichkeit der Freiheit. Dazu bedarf es einer rechtstheoretischen Aussagenstruktur, die diese Wechselbezüglichkeit widerspiegelt. Musterbeispiel dafür ist Art. 2 Abs. 1 GG, welcher das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit durch die Rechte anderer, durch die verfassungsmäßige Ordnung und durch das Sittengesetz beschränkt. Zu den Rechten anderer und zur verfassungsmäßigen Ordnung zählt jedoch ebenfalls das Persönlichkeitsrecht. Die konkrete Reichweite des Persönlichkeitsrechts des einen ist also auch unter Berücksichtigung des Persönlichkeitsrechts des anderen zu bestimmen - und umgekehrt. 182 Ausgeschlossen sind damit streng hierarchische Denkgebäude, die - etwa von einem „Höchstwert" ausgehend - alle anderen einseitig daran ausrichten. Damit ist allen Versuchen, eine Seite durch eine vorgelagerte Weitung „absolut" zu stellen, sie damit von allen Relativierungen freizuhalten und lediglich die konkurrierenden Belange auf sie hin zu relativieren, 183 eine Absage zu erteilen. Vielmehr sind beide Seite miteinander in Beziehung zu setzen. Denninger (1967, 242) spricht hier von einem „Relativismus zweiten Grades". Man könnte das Phänomen, dessen Wurzel in der „konnexen Gegenläufigkeit" der beteiligten Grundrechtssphären liegt (Lübbe-Wolff 1988, 167) auch als wechselbezügliche bzw. „reziproke Relativierung" oder als zirkeiförmige Struktur bezeichnen.

181 182 183

mus".

BVerfGE 83, 130/142 - Mutzenbacher. Vgl. statt vieler Starck 1985, Art. 3 Rn. 16 sowie Sachs 1994, 417 m.w.N. Denninger (1967, 242) bezeichnet derartige Ansätze als „primären Relativis-

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie a) Wechselbezügliche

171

Relativierung

Mit dem Gedanken der wechselbezüglichen Relativierung ist zunächst einmal lediglich ein formales Muster bezeichnet. Zu fragen ist weiter, unter welchen Voraussetzungen dieses in der Lage ist, normative Aussagen zu begründen. Die Analyse in den vorangegangenen Abschnitten hat gezeigt, daß in der Rechtsanwendung eine Abschichtung unter Rückgriff auf wechselbezügliche Verhältnismäßigkeitsanforderungen erfolgt. Damit gelingt es, den Zirkelschluß - wenigstens bis zu einem gewissen Grade - entscheidungsleitend aufzulösen. Auf den ersten beiden Prüfungsstufen des Übermaßverbotes ist es nicht erforderlich, die gegenüberstehenden Positionen gegeneinander abzuwägen. Vielmehr wird getrennt nach der „Innen-Rationalität" der jeweiligen Ziel-Mittel-Relation gefragt und der „überschießende", jedoch für die Gegenseite belastende Anteil „abgeschöpft". 184 Auch mit dieser eher formalen Betrachtung im Rahmen des Übermaßverbotes gelingt damit bereits eine erste - oftmals bereits ausreichende - Konfliktentschärfung. b) Übermaßverbot

im Gleichordnungsverhältnis

Allerdings versteht sich die Anwendung der Übermaßkriterien im Verhältnis von Bürger zu Bürger nicht von selbst. Denn üblicherweise wird der Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes primär im hoheitlichen Verhältnis Staat-Bürger verortet. Dort gilt er als „verfassungsrechtlicher Maßstab für das gesamte staatliche Handeln", der vor allem der „Machtbegrenzung und Freiheitssicherung" dient (Stern 1994, 762). Da der Staat aber über seinen gesetzgeberischen Gestaltungsauftrag letztlich auch die Rahmenbedingungen für das Verhältnis der Bürger untereinander setzt, kommt der Grundsatz im Ergebnis auch hier zum Tragen. Der Geltungsgrund des Übermaßverbotes auch auf der Ebene zwischen Privaten kann allerdings nicht unmittelbar in der Begrenzung staatlicher Macht gesehen werden. Soweit der Staat die Bezüge der Bürger untereinander auf gesetzlichem Wege ausgestaltet, bedarf dies aber ebenfalls der Rechtfertigung. Die Analyse im Rahmen der Bestandsaufnahme hat zudem gezeigt, daß die praktische Bedeutung wechselseitiger Verhältnismäßigkeitsprüfung deutlich über das hinausreicht, was sich als gerichtliche Anwendung gesetzgeberischer Festlegungen bezeichnen ließe. Der relationale Prüfungsansatz wird 184 Siehe Abschnitt III. 2. sowie Schlink 1976, 214 ff. Einschränkend ist allerdings festzuhalten, daß die Prüfung der „Innen-Rationalität" nicht völlig frei von Wertungen ist, wenn es etwa darum geht, die „relevanten" Ziele der jeweiligen Seite zu bestimmen und auf dieser Grundlage zu fragen, ob nicht andere, rücksichtsvollere Mittel diese Ziele ebenfalls verwirklichen können.

1 7 2 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

in der Rechtsprechung in erheblichem Umfang dort wirksam, wo der Gesetzgeber nichts - jedenfalls nichts konkretes - geregelt hat, sondern sich auf Generalklauseln sowie unbestimmte Rechtsbegriffe beschränkt hat (bzw. beschränken mußte). Wer den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz etwa bei der Vertragsauslegung nach „Treu und Glauben" wechselbezüglich fruchtbar macht, kann sich - auch wenn diese durch ein Gericht und damit durch ein staatliches Organ erfolgt - kaum auf die Funktion der Begrenzung der Staatsmacht berufen. Der Geltungsgrund des Übermaßverbotes in dieser Konstellation muß ein anderer sein. aa) Eingriff als Voraussetzung der Verhältnismäßigkeitsprüfung Daß bei Prinzipienkonflikten auf der Gleichordnungsebene die Prüfungskriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anzulegen sind, führt Schlink (1984, 464) auf die Qualität des jeweiligen Verhaltens als „ E i n g r i f f zurück: Das Verhalten des einen Bürgers könne als „Freiheitsbeschränkung und das Gegenverhalten kann als Eingriffsabwehr gesehen und geprüft werden". Aus juristischer Perspektive mag es nahe liegen, hier von einem „Eingriff 4 auszugehen und damit die entsprechende dogmatischen Figuren „aufzurufen". Dann greift jede der Parteien im Ingerenzbereich auf die Grundrechtssphäre der jeweils anderen zu und ist insoweit rechtfertigungsbedürftig. Das Festhalten und behutsame Fortentwickeln dogmatisch gefestigter Argumentationsmuster sichert auf diese Weise den rationalen Kerngehalt des Rechts. Darin liegt ein Vorzug gegenüber allen anderen Versuchen der Bewältigung, 185 die zu einem geringeren Grad an methodischer Stringenz der Argumentation und damit zu einem Verlust an Rationalität führen. bb) Juristisches Knappheitsproblem Ob auf der Gleichordnungsebene die Kategorie des Eingriffs mit ihren an den Staat gerichteten formalen und materiellen Folgen tatsächlich angemessen ist, erscheint allerdings fraglich. Es spricht einiges dafür, daß hier „lediglich" allgemeine Rationalprinzipien zur Anwendung gelangen. Denn letztlich geht es bei Prinzipienkonflikten - unabhängig davon, ob sie auf der grundrechtlichen oder der einfachrechtlichen Ebene zu lösen sind - immer um ein Problem der Knappheit, der Knappheit an Möglichkeiten des gleichzeitigen Freiheitsgebrauchs.

185

Siehe dazu die Zusammenschau bei Schlink 1984, 462 ff. m.w.N.

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

173

Die im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz enthaltene Maxime der Nichtverschwendung von Ressourcen läßt sich auch als „Prinzip der Ökonomie" (Krüger 1966, 835) bzw. überhaupt als „Rationalitätsprinzip" (Behrens 1986, 30) bezeichnen. 186 Man wird darin eine basale Forderung der Vernunft zu sehen haben, die immer dann zur Anwendung kommt, wenn eine Konfliktlösung anhand strikter Rechtsregeln ausscheidet und stattdessen Prinzipien-Normen aufeinandertreffen. Die Aufgabe des Rechts, rational nachvollziehbare Konfliktbewältigungsmuster zu generieren, erzwingt in diesen Fällen den Rückgriff auf die Zweck-Mittel-Rationalität des Übermaßverbots. Es verwundert daher nicht, wenn zur Bewältigung des juristischen Knappheitsproblems auf das ökonomische Prinzip 1 8 7 und damit auf das basale Rationalitätsprinzip der Zweck-Mittel-Relation zurückgegriffen wird. cc) Vernunftgemäße Organisation gemeinsamen Freiheitsgebrauches Mit dem hier entwickelten Verständnis, das Recht löse sein Knappheitsproblem unter Anwendung einer wechselbezüglichen Verhältnismäßigkeitsprüfung, sind einer Reihe - zum Teil impliziter - Wertungen verknüpft. Diese ergeben sich schon aus dem Umstand, daß es entscheidende Unterschiede zum klassischen Anwendungsbereich der Verhältnismäßigkeit gibt. Bezugspunkt der Prüfung ist dort der angestrebte Zweck einer (Eingriffs-) Regelung; hier geht es jedoch darum, eine angemessene Zuordnung miteinander konkurrierender Positionen vorzunehmen und damit deren Inhalt und Reichweite zu bestimmen. Diese Aufgabe ist - worauf Böckenförde (1989 a, 54) zutreffend hinweist - in erster Linie der Rechtsgestaltung zugewiesen. Bedeutet dies aber, daß sie der Anwendung der Rechtsordnung entzogen ist? Böckenförde scheint dieser Auffassung sein, wenn er kritisch anmerkt, hier zeige sich, „welcher Spielraum einer Rechtsprechung eröffnet ist, die den Maßstab dieser Verhältnismäßigkeit, der ohne weitere Ausformung letztlich mit Gerechtigkeit synonym ist, als vorgeblich justiziablen, weil für richterliche Rechtsanwendung hinreichend inhaltsgewissen Maßstab handhabt." Auch wenn sich diese Beobachtung in erster Linie auf die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle bezieht, trifft sie im Kern auch auf die Situation des „einfachen" Richters zu.

186 Zu den Verbindungslinien zwischen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem ökonomischen Prinzip siehe Kapitel E, Abschnitt III. 2. a) sowie K. Bizer 1999 a. 187 Siehe dazu Kapitel D, Abschnitt III. 2. bei Fn. 70 und passim.

1 7 4 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

Bevor man das Vorgehen der Gerichtsbarkeit kritisiert, sollte man sich allerdings der Frage stellen, welche Alternativen zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bestehen. Hier zeigen sich Unterschiede in der prozessualen Situation. Das Bundesverfassungsgericht hat die Funktionsabgrenzung zwischen Legislative und Judikative zu beachten. Es hat im Rahmen der Normenkontrolle in der Regel die Möglichkeit, den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers durch eine zurückhaltende Interpretation der materiellen Rationalkritierien 188 zu wahren und die angegriffene Vorschrift unangetastet zu lassen (bzw. bei Annahme eines Verstoßes sich darauf zu beschränken, einen entsprechenden Regelungsauftrag zu formulieren). Dagegen steht der „einfache" Richter vor dem Problem, daß die gesetzliche Regelung oftmals keinen aus sich heraus hinreichend justitiablen Maßstab enthält und für viele Konstellationen auch nicht enthalten kann. Die Handlungsalternative für die „einfache" Rechtsprechung bestünde dann darin, den Rückgriff auf die Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterlassen und das Rechtsschutzbegehren mangels justitiabler Grundlage des geltend gemachten Anspruchs abzuwehren. Diese Alternative würde denjenigen begünstigen, der - aufgrund welcher Umstände auch immer - in der Lage ist, vollendete Tatsachen zu schaffen; mit anderen Worten: seinen Machtbereich auf Kosten anderer zu erweitern. Den kollidierenden Interessen wäre die Möglichkeit gerichtlicher Durchsetzung verwehrt. Solange der Gesetzgeber an dieser Konstellation nichts ändert (was nur bei einer hinreichend großen Zahl gleichgelagerter Fälle in Betracht kommt und selbst dann oftmals die Möglichkeiten gesetzgeberischer Problemverarbeitungskompetenz und Entscheidungsdeterminierung überstiege), bliebe eine Seite rechtlich schutzlos. Wer auf dieser Seite steht, dem verblieben zwei Möglichkeiten: Er kann resignieren und sich mit der Situation abfinden oder einen Weg zur Interessendurchsetzung außerhalb der Rechtsordnung suchen. Die erste Möglichkeit wäre bei rein formaler Betrachtung zu akzeptieren, die zweite würde den Rechtsstaat und sein Gewaltmonopol in Frage stellen. Überschreitet man die bloß formale Sichtweise und bezieht Elemente der Gerechtigkeitsidee mit ein, wird auch die erste Alternative problematisch. Wenn Gerechtigkeit darin besteht, beiden Seiten zu ihrem Recht zu verhelfen (suum cuique tribuere) und unangemessene Vorteile des einen auf Kosten des anderen zu vermeiden (neminem laedere, verstanden nicht als absolutes, sondern als „relatives", ebenfalls wechselbezügliches Verbot 1 8 9 ), muß das darin zum Ausdruck kommende „Prinzip des Maßvollen", symbolisiert in der letztlich auf die Erzielung eines Gleichgewichts ausgerichteten

188 Zum Verhältnis von materieller und prozeduraler Rationalität in der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle siehe Kapitel E, Abschnitt III. 3. b). 189 Siehe Kapitel F, Abschnitt I I bei Fn. 21.

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der R e c h t s t h e o r i e 1 7 5 Waage der Justitia, nicht nur auf der Ebene der Gesetzgebung, sondern auch im Einzelfall zum Tragen kommen. Ansonsten besteht die Gefahr, das Gerechtigkeitsempfinden „ i m Alltag der Rechtsanwendung" permanent zu verletzen und damit die Akzeptanz der Rechtsordnung insgesamt zu beeinträchtigen. Dies aber würde die elementare Funktion der Rechtsordnung, die Sicherung des Rechtsfriedens, also des gedeihlichen Miteinanders der Rechtspersonen, in Frage stellen. Die Grundfunktion des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist demnach auch im Verhältnis unter Privaten darauf gerichtet, die Ausübung von Macht zu begrenzen und die individuelle Freiheit zu sichern. Die Begründung für diesen Weg der rechtsstaatlichen Lösung des Knappheitsproblems kann letztlich nur gefunden werden in der Rechtsidee der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit beim Ausgleich widerstreitender Interessen verlangt auch zwischen Privaten nach einer Betrachtung der jeweiligen MittelZweck-Relation, um auf dieser Grundlage das „Prinzip des Maßvollen" zum Tragen zu bringen. 1 9 0 Der rationale Gehalt der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist folglich nicht allein darauf gerichtet, die Staatsgewalt zurückzudrängen. Er dient vielmehr primär der Sicherung der Freiheit. Die Bedingungen ihrer Realisierung vernunftgemäß zu organisieren, ist seine Kernfunktion. Sie kommt selbstverständlich - und in erheblichem Umfang - im Bürger-Staat-Verhältnis zum Tragen. Der Rationalitätsanspruch des Rechts ist aber darauf nicht beschränkt, sondern erfaßt auch Freiheitskonflikte im Gleichordnungsverhältnis. Auch unter der Voraussetzung, daß die Anwendung der ersten beiden Stufen der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit einem geringen Anteil von wertenden Elementen möglich ist, liegt doch bereits in der Tatsache, daß die Rechtsordnung im Gleichordnungsverhältnis auf diese Prüfungsschritte zurückgreift, eine Weitung; nämlich dahingehend, daß die Entwicklung, die eintreten würde, wenn man auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit verzichtet, als nicht akzeptabel erscheint. Diese Wertung ist derart eng mit der der Gerechtigkeitsidee verknüpft, daß die Gefahr besteht, sie als solche nicht mehr wahrzunehmen: Wenn das Recht die grundsätzliche Rechtsgleichheit in allgemeingültiger Form verwirklichen will und dabei die in vielfältiger Hinsicht knappen gesellschaftlichen Ressourcen zu berücksichtigen hat, dann benötigt es einen Zuordnungsmechanismus, der im Kollisionsfall eine Abschichtung der Mittel erlaubt, die für die Erreichung der individuell angestrebten Ziele nicht „erforderlich" sind und dementsprechend die rechtliche Verfügungsmacht insoweit zurückführt als damit Belastungen des Gegenübers verbunden sind, die sich im Hinblick auf das jeweilige Ziel als „überschießend" bzw. übermäßig darstellen. 190

Stern 1994, 762 ff.; Larenz 1991, 424.

176

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot dd) Wohlfahrtsoptimierung und Solidarität

Damit dürfte sich die bislang beschriebene, vorwiegend formal geprägte Ausformung hinreichend begründen lassen. Jedenfalls für die dritte Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung, wahrscheinlich aber bereits für die wertenden Einflüsse auf den ersten beiden Stufen reicht dies nicht aus. Hier bedarf es eines ergänzenden Ansatzes. Man kann diesen aus verschiedenen Perspektiven beschreiben: Aus der Sicht des Individuums oder aus einer überindividuellen Gemeinschaftsperspektive 191. Auf der individuellen Ebene läßt sich eine Fundierung finden in dem u. a. von Radbruch und Wieacker in historischer Betrachtung der Rechtsentwicklung beobachteten Vordringen des Solidaritätsprinzips. Wieacker 1 9 2 kommt auf der Grundlage einer Analyse der Rechtsentwicklung - insbesondere der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - zu dem Ergebnis: „Eine sozial richtige Gestaltung erscheint nunmehr auch die Aufgabe der ordentlichen Rechtsprechung, und es schreitet die allgemeine Neigung vor, das Urteil nicht mehr als Normanwendung zum Zwecke der Verwirklichung eines geschützten Einzelinteresses zu verstehen, sondern als Mittel zur Ordnung sozialer Interessen", wobei er zugleich festellt, diese Tendenz sei „nicht als kollektivistisch" zu verstehen (1960, 9; Herv. i. O.). Die Ursache dafür sieht Wieacker „ i m Fortgang der Industriellen Revolution, die [...] an die Stelle der besitzbürgerlichen Unternehmergesellschaft eine (mehr oder minder offene) Funktionsgesellschaft setzte"; in der Folge sei „das politische Pathos und das wirtschaftliche Ethos der altbürgerlichen Gesellschaft mehr und mehr abgeklungen" und reiche „zur Legitimation der Privatrechtsordnung vor dem allgemeinen öffentlichen Bewußtsein nicht mehr aus" (1967, 621). Wieacker konstatiert - in Übereinstimmung mit den Beobachtungen von Radbruch (1957) - das Vordringen „neuer materialer Rechtsprinzipien" (Wieacker 1960, 4) bzw. eine „neue Erfüllung des Rechts mit ethischem Pflichtgehalt" (Radbruch 1957, 17); ein Phänomen, welches beide mit dem Begriff der „Solidarität" belegen. 193 Der Begriff kennzeichnet den Übergang von der eindimensionalen Sichtweise im Verhältnis Bürger-Staat zu einer Betrachtung, die die Interaktion der Individuen und die Bedingungen gesellschaftlicher Kooperation mit einschließt und daher von Gegenseitigkeitsstrukturen (Suhr 1984, Haverkate 1992) geprägt ist.

191

Überindividuell geht es allgemein gesagt darum, das Gemeinwohl möglichst weitgehend zu fördern. Zum Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Wohlfahrtsoptimierung und der Gerechtigkeitsidee siehe Kapitel D, Abschnitt III. 2. b). 192 Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich in seiner Bürgschafts-Entscheidung (E 89, 214/233) explizit auf die Analyse von Wieacker; siehe Abschnitt I. 5. a). 193 Wieacker 1967, 621; Radbruch 1957, 17. Siehe dazu die eingehende Darstellung bei Volkmann 1998, 93 ff.

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

177

Sich an diesem Grundsatz zu orientieren, dient letztlich - dies ist besonders zu betonen - auch dem Nutzen des Einzelnen. Seine A n w e n d u n g ist „ n i c h t Ausdruck purer, selbstloser Nächstenliebe, sondern sie entspringt der Einsicht, daß die Ermöglichung der größten Wertfülle der eigenen und der anderen

Rechtsperson eine gemeinsame

wachsenden Wohlfahrtseffekte

Aufgabe i s t " . 1 9 4 D i e daraus er-

k o m m e n mittelbar

auch der

Gesellschaft

insgesamt zu Gute. Beide Perspektiven ergänzen sich also. Solidarität ist danach ein materialer, ethischer Grundsatz, der sich als „Idee der solidarischen Kooperation und Mitverantwortung v o n Rechtspersonen" umschreiben l ä ß t . 1 9 5 Diesem Begründungsansatz korrespondiert ein - normativ zu verstehendes - „ M e n s c h e n b i l d " , welches das Bundesverfassungsgericht w i e folgt umschreibt:196 „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft i m Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten." 197 Die Menschenbildformel 198

macht allerdings keine Aussage über das

M a ß der „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit

der

Person"; es erteilt lediglich einem einseitig-isoliertem Freiheitsverständnis und der damit verbundenen „ F i k t i o n eines selbstherrlichen

Individuums"

194 Denninger 1967, 244 (Herv. i. O.). Für eine Rekonstruktion institutioneller Bindungen des Individuums aus einer langfristigen Nutzenpersperpektive siehe Kapitel D, Abschnitt III. 3. d). Für eine ökonomische Betrachtung dieser Konstellation im Lichte des Coase-Theorems siehe Adams 1989, 788. 195 Denninger 1967, 243. Volkmann geht davon aus, die Idee der Solidarität sei mit dem „Rang eines Verfassungsprinzips" ausgestattet (386). Wenn damit eine Prinzipiennorm im Sinne von Dworkin (1984) oder Alexy (1985) gemeint sein sollte (Volkmann verwendet aber offenbar einen unspezifischen Prinzipienbegriff, wie sich aus der Anknüpfung zum Sozialstaatsprinzip ergibt), ist diese Position nach den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung nicht haltbar. Solidarität ist danach vielmehr eine dem Gerechtigkeitsgedanken eng verwandte regulative Idee, die - nicht zuletzt über die Anwendung der Verhältnismäßigkeitskriterien - bei der Abwägung zwischen konkurrierenden Prinzipiennormen zur Anwendung kommt. Man kann darin einen Rechtsgrundsatz, nicht aber selbst eine Prinzipiennorm sehen. 196

BVerfGE 04, 7 ff. u. 15 f. - Investitionshilfe. Diese Aussage steht im Kontext einer Erörterung der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG (zu deren „zirkeiförmigen" Struktur siehe Kapitel F, Abschnitt I I bei Fn. 21) und stützt sich auf eine „Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG". Danach müße der Einzelne sich „diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt." 198 Siehe dazu auch Kapitel D, Abschnitt II. 2. 197

12 Führ

1 7 8 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

(Schlink 1984, 463) eine Absage. Es bedarf daher weiterer Begründungen, bevor sich - wie dies in der Rechtsprechung teilweise geschieht - aus dem Menschenbild „allgemeine Pflichtigkeiten" ableiten lassen; 199 gleiches für den Versuch, berufliches oder persönliches Verhalten am Maßstab der „Würdigkeit" zu messen. 200 Trotz seiner inhaltlichen Offenheit soll das „Menschenbild" einfließen in die Menschenwürdegarantie und den Grundrechten den zentralen Bezugspunkt vermitteln: „Von ihm aus sind sie konstruiert, von ihm aus werden sie entfaltet, von ihm aus sind sie zu interpretieren" (Stern 1988, 33). Es soll Auslegung und Anwendung sowohl des einfachen als auch des Verfassungsrechts prägen. 201 Darin liegt die Gefahr, die Grundrechtstatbestände einschränkend zu interpretieren. 202 Dies ist jedoch - wie noch zu zeigen sein w i r d 2 0 3 - keine zwingende Konsequenz. An dieser Stelle ging es lediglich darum, den Bezug zwischen der Anwendung von wechselseitigen Rücksichtnahmeforderungen und dem grundgesetzlichen „Menschenbild" deutlich zu machen. Dieser ist darin zu sehen, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das „Menschenbild des Grundgesetzes" nicht das eines in stiller Abgeschiedenheit verharrenden, sondern das eines geselligen (Suhr 1984), in gewissem Umfang auch solidarischen Individuums ist.

199 Die Annahme verfassungsrechtlicher Grundpflichtigkeiten, die im Rücksichtnahmegebot ihren Ausdruck finden und damit die im Sozialstaatsgebot verankerte Forderung nach gesellschaftlicher „Solidarität" konturieren, könnte dazu beitragen, der Pufendorf sehen Vorstellung, aus der imbecillitas erwachse ein anthropologischer Drang zur socialitas, in der Rechtsordnung Ausdruck zu verleihen; siehe dazu Sprenger 1996, 255 sowie Abschnitt V. 3. a). Zu fordern ist allerdings jeweils eine konkrete Herleitung der „Pflichtigkeit" aus dem Verfassungstext; der Verweis auf die „Menschenbild-Formel" reicht hier nicht aus (Führ 1998 a); siehe dazu auch die Kritik von Dreier in Fn. 200. 200 Häberle 1987, Rn. 27 m.w.N; siehe auch Häberle 2001, wo er das „Menschenbild im Verfassungsstaat" als Kulturbegriff zu entfalten sucht und dabei aber rechtliche Implikationen befürwortet. Kritisch dazu Dreier (1996a, Art. 1 I, Rn. 99), denn der „irrlichternde Charakter der Menschenbild-Formel" entbehre „konkret fassbarer rechtsdogmatischer Konturen", was „nahezu beliebige Bezugnahmen" erlaube. 201 Siehe etwa BVerwGE 20, 188/192 (Kindergeld und Sozialhilfe) und BVerwGE 22, 286 /288 (Beruf des Astrologen) sowie die zusammenfassende Darstellung bei Häberle 1987, Rn. 5 ff. u. 19 ff. 202 So Isensee 1992b, Rn. 109, 113 f.; kritisch - im Hinblick auf ungeschriebene immanente Begrenzungen des Grundrechtstatbestandes - Sachs 1994, 538. Siehe auch die Argumentation in BVerwGE 22, 286/288 (Beruf des Astrologen). 203 Siehe dazu Kapitel E, Abschnitt II. 2.

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

179

ee) Konsequenzen aus dem Solidaritätsgedanken Klärungsbedürftig bleibt allerdings, welche Konsequenzen sich für das Recht aus dem Solidaritätsgedanken ergeben. Nach Ansicht von Isensee (1992b, Rn. 107) geben die Grundrechte der Solidargemeinschaft der Bürger „innere Struktur". Diese Struktur reicht bei Isensee allerdings nicht so weit, daß sich daraus als Bestandteil des Grundrechtsverständnisses Ansatzpunkte für die Bewältigung von Ingerenz-Konflikten ergeben würde. Dementsprechend betont er: „Die Grundrechte schaffen nicht die Solidargemeinschaft, und sie tasten sie auch nicht an" (Isensee (1992b, Rn. 107). Um diese Lücke zu füllen, entwickelt er ausgreifende Ansätze zu Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, die er allerdings explizit außerhalb der Grundrechtsnorm ansiedelt und die nicht zu ihren Schranken gehören sollen (Isensee 1992b, Rn. 7); ein methodisch fragwürdiger Weg, weil damit eine Dogmatik außerhalb der Dogmatik etabliert werden soll. In welcher Weise die verschiedenen Aspekte methodisch konsistent zusammenzuführen sind, wird nicht deutlich. 2 0 4 Grundrechtstheoretisch bleibt es daher, obwohl dessen Schwächen eigentlich behoben werden sollten, beim klassisch-liberalen Freiheitsverständnis. Die Position erscheint daher insgesamt als wenig überzeugend. Denninger ist der Auffassung (1967, 243), die Konsequenz des Solidaritätsprinzips liege darin, „daß bei Begründung und Ausübung subjektiver (öffentlicher und privater) Rechte darauf Bedacht genommen wird, daß die rechtlichen Entfaltungsmöglichkeiten der anderen Rechtsgenossen nicht durch den eigenen Rechtsgebrauch über ein zumutbares Maß hinaus beeinträchtigt werden" [Herv. im Orig.]. Damit ist letztlich der Kern des Gebotes gegenseitiger Rücksichtnahme formuliert. Die Aufgabe von Theorie und Rechtsanwendung liegt dann darin, Kriterien für die Ausfüllung des Zumutbarkeitsmaßstabes zu entwickeln. Wenn Denninger hinzufügt, der Solidaritätsgedanke als Rechtsprinzip fordere „vor allem den Verzicht auf das Maximum des jeweils möglichen Zuwaches an subjektiver Rechtsmacht 4 und korrigere insofern das „Prinzip schrankenlosen Wettbewerbs zugunsten mitverantwortlicher Berücksichtigung der Interessen schwächerer Partner", was sowohl vom Gesetzgeber zu beachten sei „wie vom Richter bei der Auslegung von Verträgen oder Normen und nicht zuletzt von den Trägern öffentlicher Verwaltung im Verhältnis zum einzelnen Bürger" (1967, 243 f.; Herv. i. Orig.), beschreibt er damit präzise die Funktionen des Rücksichtnahmegebotes, wie sie sich als Ergebnis der Bestandsaufnahme darstellen. Lege man hingegen ein weiter gefaßtes, überindividuelle Aspekte stärker berücksichtigendes Verständnis von Solidarität zugrunde, nehme dessen In204

1

Siehe dazu auch die Anmerkungen von Schulze-Fielitz 1999, 260 f.

1 8 0 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

tegrierbarkeit in das Rechtssystem ab: Vor allem die Goldene Regel in ihrer positiven Variante („Wie Du willst, daß Dir getan wird, so tue anderen") 205 übersteige die Grenzen des rechtlich Normierbaren. 206 Vor dem Hintergrund des christlichen Bedeutungsgehaltes erscheint der Solidaritätsgedanke dann als „unbegrenzte, permanente, unerfüllbare und vor allem fremdbestimmte, den eigenen Freiheitsgebrauch nicht berücksichtigende Pflicht zu positivem Tun", die zum Freiheitsgedanken „scharfem Widerspruch" steht (Denninger 1995, 21). Nach den Ergebnissen der bisherigen Überlegungen treffen diese adjektivischen Zuschreibungen die Kategorie der Eigen-Verantwortung allerdings im Ergebnis nicht. Für den gemeinsamen Freiheitsgebrauch kommt es dabei entscheidend darauf an, daß die Solidaritätsforderungen des Rechts nicht aus der Perspektive des Gegenübers, aber auch nicht aus derjenigen eines christlichen Gottes formuliert werden, der unbedingte Hingabe verlangt. Vielmehr begründet das Recht positive Förderpflichten aus der Perspektive der von den Rechtssubjekten gemeinsam gewählten Zweckbestimmung im Rahmen des Näheverhältnisses. 207 Zudem finden die konkretindividuellen Verhaltensmöglichkeiten und die damit verbundenen Freiheitseinschränkungen im Rahmen der wechselbezüglichen Verhältnismäßigkeitsprüfung durchaus Berücksichtigung. Beide Einschränkungen ermöglichen es in Verbindung mit den durch das Recht eröffneten Entscheidungsverfahren, die zunächst bestehende „Rechtsferne" (Denninger 1995, 20) „positiver" Solidariätsforderungen zu überwinden.

205

Diese hat etwa in Art. 2 der Verfassung des Directoire von 1795 eingang gefunden (zitiert bei Hofmann 1983, 61 in Fn. 75), ist aber auch Bestandteil der christlichen Ethik; siehe dazu Kapitel F, bei Fn. 23. 206 Forderungen nach solidarischem Verhalten ist aus dieser Perspektive nicht nur eine gewisse „Rechtsferne" zu attestieren, sondern es liegt auch nahe davon auszugehen, solidarisches Verhalten entspringe „am wenigsten dem Bewußtsein, einer Rechtspflicht zu genügen" (Denninger 1995, 19 f.). Damit ist die Verbindung hergestellt zu der innerhalb der Ökonomie diskutierten Beobachtung sogenannter „crowding out"-Effekte, wonach eine intrinsische Motivation dann verloren gehen kann, wenn sie von extrinisischen Anreizen überlagert wird (Frey/Oberhofer-Gee 1997). Siehe dazu - und zu der Einschätzung, daß dieses Phänomen jedenfalls für die meisten Bereiche umweltpolitischer Steuerung nicht von Bedeutung ist, ein Widerspruch zwischen tugendhafter Solidaritätsforderung und deren institutioneller Unterfütterung durch das Recht daher nicht besteht - Lübbe-Wolff 1999, 33 ff. und Gawel 2000b. 207 Siehe Abschnitt III. 2. Wo eine solche Zweckbestimmung nicht vorliegt (etwa beim Nachbarschaftsverhältnis), greift in erster Linie die begrenzende, negative Variante der Goldenen Regel ein, der Operationalisierung das Übermaßverbot leistet.

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

181

c) Ergebnis Die „innere Struktur" des Solidaritätsgedankens im Verhältnis der Grundrechtsträger zueinander findet sich in der wechselseitigen Zuordnung von Rücksichtnahmepflichtigkeiten: Soweit im Rahmen unvollkommener Pflichten Prinzipienkonflikte zu lösen sind, kommen wechselbezüglich die Rationalkriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Anwendung. Die formale Struktur der wechselbezüglichen Verhältnismäßigkeit erlaubt bis zu einem gewissen Grade eine Abschichtung anhand materiell-rationaler Kriterien. Dies gelingt im Rahmen der herkömmlichen Dogmatik: Das Recht stellt ein Verfahren bereit, welches es ermöglicht, aus ex ante unvollkommenen Pflichten solche zu erzeugen, die nach Durchlauf durch das Verfahren jedenfalls für den konkreten Fall in vollkommene Pflichten transformiert sind. Die Balance zwischen negativ-ausgrenzender Befugniszuweisung und positiv-fordernder solidarischer Pflichtigkeit herzustellen, gelingt dem Recht damit in der Kombination materiell-rationaler Kriterien des Übermaßverbotes und des Mindestmaßgebotes 208 in Verbindung mit geordneten Entscheidungsverfahren, die in der Lage sind, äußerliche Zwangswirkungen herbeizuführen. Allein die Tatsache, daß diese Elemente verfügbar sind, beeinflußt bereits die Anreizstruktur der Individuen. Die Präjudizien und die Art und Weise ihrer öffentlichen Vermittlung tun ein übriges, für beide Seiten Leitplanken des rechtlichen Möglichkeitsraumes aufzuspannen. Mit der Funktion der Rechtsprechung, unvollkommene Pflichten in vollkommene zu verwandeln, unauflöslich verbunden ist die Verknüpfungsleistung in das „Reich der Tugend": Erweisen sich unvollkommene Rechtspflichten als Einfallstor für ethische Normen, so sind Richter unabhängig von ihrer Stellung in der Gerichtsbarkeit verpflichtet, dieses Tor zu durchschreiten. Die Einführung und Verarbeitung ethischer Weitentscheidungen ist damit nicht monopolisiert in der Hand der Verfassungsrichter (auch wenn sie dort eine besondere Rolle spielen), sondern allen Richtern aufgeben. Jedem der daraus resultierenden Judikate kommt über die konkrete Entscheidungssituation hinaus eine Symbolwirkung zu, die zu der Selbstfindung und Selbstvergewisserung des Gemeinwesens und der darin lebendenden Individuen beiträgt. Auf diese Weise ist das Recht in der Lage, nicht nur die Restriktionen des Rationalkalküls zu verschieben, sondern bereits auf die Präferenzen der Individuen einzuwirken. 209

208 Zu diesem Begriff und seiner dogmatischen Einordnung siehe Abschnitt III. 2. b), Seite 157. 209 Zu der Integration dieser Einwirkungsmöglichkeiten in ein Verhaltensmodell siehe Kapitel D, Abschnitt III. 4; zu den damit verbundenen Möglichkeiten der Verhaltensbeeinflussung siehe Kapitel F, Abschnitt IV. 1.

182

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

3. Wechselbeziehung ingerenter Freiheitssphären Die bisherigen Überlegungen haben zu einem Verständnis geführt, wonach beim Zusammentreffen mehrerer Freiheitsräume von einer Wechselbezüglichkeit der Verhaltensanforderungen auszugehen ist. Damit wird die Vorstellung klar abgrenzbarer rechtlicher Befugnisräume in Frage gestellt. Den beschriebenen Phänomenen könnte eine Sichtweise besser gerecht werden, die eine Überlagerung der Freiheitssphären als soziales Phänomen anerkennt und für die Theoriebildung berücksichtigt. Nach dieser Vorstellung wäre auch in der „Überschneidungszone" (Breuer 1995, 170) 2 1 0 die Ausübung der Freiheit grundrechtlich geschützt. Auszugehen wäre demnach von einer Ingerenz der verschiedenen, mit gegenläufiger Tendenz in Anspruch genommenen grundrechtlichen Schutzbereiche. Auch das Bundesverfassungsgericht greift auf diese Vorstellung zurück. Der Lösungsansatz des Gerichts besteht in diesen Fällen darin, im Überlagerungsbereich der Freiheitssphären 211 nach einer Balance zu suchen, die den Interessen aller Beteiligten möglichst optimal gerecht wird. In dem Maße wie der Gebrauch der Freiheit sich auf andere auswirkt, gewinnen danach die mit der Freiheit untrennbar verbundenen Pflichtigkeiten an Gewicht. Gleiches gilt in den Fällen, wo von Verfassungs wegen eine Pflichtigkeit vom Bürger zugunsten der Allgemeinheit eingefordert wird (Breuer 1995, 170). Dies gälte auf der grundrechtstheoretischen 212 Ebene zunächst einmal unabhängig davon, ob für den konkreten Fall bereits eine gesetzliche Regelung mit einer konkret definierten Verhaltensanforderung existiert, weil sich die Pflichtigkeit aus der Verfassung selbst ergibt. 2 1 3

210

In den Begriffen der Mengenlehre handelt es sich um die „gemeinsame Teilmenge". 211 Von dieser Vorstellung geht etwa die Entscheidung zur Eigenbedarfskündigung (BVerfGE 68, 361/368 - Eigenbedarfskündigung) aus, die explizit davon spricht, „daß Nutzung und Verfügung in jedem Fall nicht lediglich innerhalb der Sphäre des Eigentümers bleiben, sondern Belange anderer Rechtsgenossen berühren, die auf die Nutzung des Eigentumsobjekts angewiesen sind". 212 Für die dogmatische Umsetzung ist dieser Unterschied aber, nicht zuletzt aufgrund der formellen Schutzwirkung des Gesetzesvorbehaltes, sehr wohl von Bedeutung; siehe Abschnitt V. 2. 213 Breuer (1995, 170) nennt als Beispiele die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, wo „ i n nuce bereits durch die Verfassung selbst ein Gegengewicht gegen die Privatnützigkeit gesetzt ist", sowie auf die „Sozialpflichtigkeit zumindest des sozial mächtigen Berufstreibenden, insbesondere des Unternehmers".

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

183

a) Begründungsansätze W i l l man eine solche Vorstellung ingerenter Freiheitssphären begründen, ist anzuknüpfen an das bereits angesprochene Freiheitsverständnis des Grundgesetzes, welches das - von Spannung und Ergänzung bestimmte Verhältnis von individueller Freiheit und solidarischer Kooperation unter dem Gleichheitspostulat und der Gerechtigkeitsidee integriert. Auf der Ebene des Verhältnisses der Individuen zueinander lassen sich grundrechtstheoretische Rücksichtnahmepflichtigkeiten neben Art. 2 Abs. 1 GG in der zwischenmenschlichen Schutzrichtung des Art. 1 Abs. 1 GG verorten: Eine Verfassung, welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihres Weitsystems stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des anderen respektieren. 214 Historisch betrachtet ist der Menschenwürdeanspruch „bereits im Ich-Du-Verhältnis als individualethischer Achtungsanspruch und im Verhältnis zum Dritten und zur Gesellschaft als sozialethischer Achtungsanspruch vorhanden gewesen ehe er durch Art. 1 Abs. 1 GG auch gegenüber staatlichem Handeln als eigenständig verrechtlicht wurde" (Dürig 1958, Rn. 2). Die Menschenwürdegarantie strahlt - über das damit verbundene „Leitbild" - in alle rechtlichen geregelten Bereiche menschlichen Verhaltens aus. Dementsprechend dürfen unter dem Grundgesetz, wie Denninger (1962, 328) zutreffend formuliert, „der subjektive Wille zur Macht und die ihm entsprechende Freiheit a limine nicht als prinzipiell unbegrenzte gedacht werden". Auch dürfe die „Schrankenziehung nicht von außen erwartet werden", sie müsse „vielmehr vom Subjekt der Freiheit selbst her erfolgen". Daher trage „die Freiheit ihr Maß als Grenze in sich". Denninger spricht in diesem Zusammenhang von einem „Gebot des Maßes", welches sich primär auf den status activus richte und das Freiheitsverständnis des Rechts im Sinne einer „Freiheitsvermutung zugunsten der »GemeinwohlVerträglichkeit 4 der Handlungen eines Bürgers" im Wege eines „Rechtsvoraussetzungsbegriffes" von innen her ausforme: „Erst das Maß, und subjektiv bezogen, die Fähigkeit und Bereitschaft zum Maßhalten, eröffnen in ihrer Einwirkung auf die beiden Prinzipien Freiheit und Gleichheit den Raum, in welchem sich der soziale Rechtsstaat verwirklichen kann". 2 1 5

214

Häberle 1987, 8 unter Verweis auf BVerfGE 24, 119/144 - Adoption. Denninger 1962, 325, Herv. i. O. Denninger verwahrt sich im folgenden gegen den Vorwurf, damit werde auf einen „recht banal anmutenden Appell an die Moralität der Staatsbürger" das Wort geredet. Vielmehr entwickelt er seine Sichtweise aus einem Freiheitsbegriff, den er dezidiert vom klassisch liberalen Begriff der Freiheit abgrenzt. 215

184

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot b) Einwände

Die vorstehend entwickelte Sichtweise tritt, wie bereits ausgeführt (Abschnitt IV. 1. e), mit der engen Tatbestandstheorie und dem dahinterstehenden präformierten Grundrechtsverständnis in Konflikt, dessen erklärtes Ziel darin besteht, Abwägungsvorgänge zu vermeiden. Dies gelingt aber - wie deren Vertreter durchaus einräumen - allenfalls bis zu einem gewissen Grade. Wenn dennoch von manchen Stimmen der Literatur und Teilen der Rechtsprechung 216 mit großer Beharrlichkeit an der Vorstellung präformierter Grundrechtstatbestände festgehalten wird, dürften dafür - neben den bereits angesprochenen moralisch-ideologischen Aspekten - weitere Motive maßgeblich sein. Wissenschaftssoziologisch betrachtet geht der Rechtswissenschaft mit den (vermeintlich) unangreifbaren grundrechtlichen Bastionen und den (scheinbar) klaren Grenzziehungen zugleich die Vorstellung von „Exaktheit" und „Klarheit" verloren. So wird etwa für die enge Tatbestandstheorie angeführt, sie vermeide die „Schwierigkeit des Abwägens" (Isensee 1992 a, Rn. 176), während die weite Tatbestandstheorie auf eine „unbegrenzte Güterabwägung" hinauslaufe; es fehle aber eine „gesicherte Skala für Rang und Gewicht der abzuwägenden Güter" (a.a.O., Rn. 175). 2 1 7 Für Juristen, die ihre Disziplin an dem naturwissenschaftlichen Wissenschaftsideal des 19. Jahrhunderts messen, 218 muß dies dazu führen, den Anspruch der Wissenschaftlichkeit endgültig verloren zu sehen. Soziale Konflikte lassen sich aber in der Regel nicht mit einem sozialen „Ur-Meter" vermessen. 219 Die Rechtswissenschaft sollte sich daher nicht auf einen Vergleich mit naturwissenschaftlicher Exaktheit 2 2 0 einlassen. Der Notwendigkeit, situativ Abwägungsentscheidungen auch bei fehlender oder unscharfer gesetzlicher Grenzziehung normativ begründen zu müssen, kann sich das Recht nicht entziehen. Auch manche Abwägungskritiker relativieren ihre früheren, nicht selten in „Bilder und Gleichnisse" (etwa „Knochenerweichung der Rechtsordnung" oder „Vielzweckwaffe") gehüllten Warnungen, indem sie einräumen: „Letztlich helfen sie nicht weiter"; da Abwägung unvermeidlich sei, komme es darauf an, ihren Anwendungsbereich präzise zu

216 Lübbe-Wolff (1988, 98) weist nach, daß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht nicht die Annahme eines präformierten Schutzbereichs der Grundrechte zugrunde liegt. Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts stützen sich dagegen auf ein präformiertes Grundrechtsverständnis (siehe bei Fn. 202). 217 Eine im Ansatz gleichlautende Kritik findet sich bei Böckenförde 1989, 52 ff. 218 Vgl. Simon 1988 und Kiesow 1997. 219 Zu den Versuchen in der Ökonomie, mit Hilfe des Maßstabes „Geld" eine gemeinsame Vergleichsgröße zu definieren, siehe Kapitel D, bei Fn. 129. 220 In diesem Exaktheitsideal liegt oftmals die Gefahr reduktionistischer Verengung (Trepl 1994, 13 ff.). Diese Gefahr droht dann auch den Sozialwissenschaften, die sich an diesem Wissenschaftsverständnis orientieren (Hodgson 1993, 234 ff.).

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

185

bestimmen und „den Vorgang der Abwägung zunehmend zu rationalisieren" (Ossenbühl 1995, 909). Genau dies ist das Anliegen des vorliegend vertretenen Ansatzes, der davon ausgeht, daß Abwägung und Subsumtion keine Alternativen, sondern einander ergänzende Elemente der Rechtsfindung und Rechtsanwendung sind. Wie die Bestandsaufnahme gezeigt hat, stehen dem Recht durchaus rational nachvollziehbare Konfliktbewältigungsmuster zur Lösung des Abwägungs- bzw. Knappheitsproblems zur Verfügung. 221 Die Einwände der für präformierte Grundrechtstatbestände plädierenden engen Tatbestandstheorie können vor diesem Entscheidungs- und Begründungsbedarf nicht bestehen. Umgekehrt könnte man aber auch in der Annahme wechselbezüglicher Pflichtigkeiten eine „Begrenzung" oder „Einschränkung" des grundrechtlichen Schutzbereiches im Sinne eines „präformierten" Grundrechtsverständnisses sehen, weil damit der grundrechtliche Schutzbereich „belastet" wird. Dies trifft allerdings nicht zu. Der Umfang des Grundrechtstatbestandes und die damit verbundene formale und materielle Schutzfunktion bleiben erhalten. Gesetzgeberische Konkretisierungen der Pflichtigkeiten sind weiterhin rechtfertigungsbedürftig. Zentral ist dabei die Erkenntnis, daß nicht Grenzen abzustecken, sondern Verhaltensanforderungen im Bereich von sich gegenseitig überlagernden, wechselseitig verflochtenen 222 Rechtssphären zu harmonisieren und in der Tendenz so zu optimieren sind, daß nach Möglichkeit für beide Seite ein „Mehr" an Freiheitsverwirklichung erwächst. 223 c) Konflikt-Auflösung Die Betonung der veränderten - durch den Gedanken der Gegenseitigkeit geprägten - Sichtweise soll nicht implizieren, alle Konfliktlagen ließen sich gewissermaßen harmononisch „auflösen". Dies wird kaum möglich sein, weil oftmals tatsächlich diametral entgegengesetze Kollisionslagen bestehen. In weit größerem Umfang als dies die Betonung der Notwendigkeit, Grenzen zu ziehen und Schranken zu errichten, nahelegt, bestehen aber doch Ansatzpunkte einer - jedenfalls partiellen - Harmonisierung der involvierten Interesse; im Sinne einer Steigerung des Nutzens für die konkret Beteiligten wie des gesellschaftlichen Nutzens. 221

Es spricht daher einiges dafür, die Maßstäbe rechts wissenschaftlicher „Exaktheit" eher dem Kontext der Sozialwissenschaften zu entnehmen. 222 Zutreffend geht der 7. Senat des BVerwG davon aus, im Baurecht habe „das Gebot der Rücksichtnahme seine Grundlage in der gegenseitigen Verflechtung der baulichen Situation benachbarter Grundstücke"; BVerwGE 66, 307 - Dünnsäure (= N V w Z 1983, 151). 223 Isensee (1992b, Rn. 13) weist darauf hin, dem Übermaßverbot komme neben der abwehrrechtlichen Funktion, grundrechtliche Freiheit zu schonen, auch die Aufgabe zu, „Freiheit zu effektivieren".

1 8 6 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

Im Verhältnis zwischen Vermieter und Mieter - für welches das Bundesverfassungsgericht mehrfach das Gebot der Rücksichtnahme heranzog 224 etwa läßt sich aufzeigen, daß beide wechselseitig aufeinander angewiesen sind: Die Kalkulation des Wohnungseigentümers - etwa zur Rückzahlung der aufgenommenen Kredite - wird ohne die Bereitschaft anderer Rechtssubjekte, die Rolle des Mieters einzunehmen, kaum aufgehen. Umgekehrt ist der Mieter auf die Bereitschaft des Wohnungseigentümers angewiesen, ihm die Nutzung des Mietobjekts zu gewähren. Ohne ein beiderseitiges Vertrauen und die Rücksichtnahme auf die Belange des anderen leiden die Entfaltungsmöglichkeiten auf beiden Seiten; ein florierender Wohnungsmarkt kann nicht entstehen. d) Ergebnis Zusammenfassend läßt sich damit als Ergebnis formulieren: Freiheitsgebrauch in der Sozialsphäre bleibt auch dann vom Schutzbereich des Grundrechts gedeckt, wenn damit Einwirkungen auf die Freiheit anderer verbunden ist; zugleich gehen damit jedoch Pflichtigkeiten zugunsten des Gegenübers einher. Die von Alexy zutreffend als „so eng wie nur möglich" bezeichnete Verknüpfung von Prinzipien-Normen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit führt in diesen Konstellationen zur wechselbezüglichen Anwendung der Prüfungsfolge. Aus der Perspektive des Gesetzgebers betrachtet, berührt eine Regelung im Bereich der Ingerenz mehrerer Freiheitssphären gleichzeitig die Grundrechte aller Beteiligten. Daher greifen „die Kategorien des Eingriffs, der Abwehr und der Schranke, die Fragen nach der Legitimität des Zwecks und nach der Geeignetheit und Notwendigkeit der zur Zweckverfolgung eingesetzten Mittel hier wie dort" (Schlink 1984, 464). Die grundrechtstheoretisch ungleiche Verteilung von Rechtfertigungslasten hebt sich auf und damit entfällt die „eigentliche Pointe" (Schlink 1984, 467) des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips. Dies gilt allerdings nur auf der Grundlage eines über das rein negatorische hinaus erweiterten Freiheits- und Rechtsstaatsverständnisses, weil gedanklich erst dann nicht mehr von säuberlich voneinander getrennten Grundrechtssphären auszugehen ist, sondern für den Bereich ingerenter Freiheitssphären das Abwägungsproblem in seiner Struktur wahrgenommen und bewältigt werden kann. 2 2 5 Das Modell ingerenter Freiheitssphären dürfte auch in der Lage sein, die von Coase 2 2 6 beschriebene Problemlage bei Nutzungskonflikten nach dem Muster „Wer schädigt hier wen?" zu bewältigen, weil nicht nur in jeweils 224

BVerfGE 82, 6/16 - Nichtehelicher Lebenspartner; BVerfGE 68, 361 - Eigenbedarf skündigung; BVerfGE 71, 230 HAI - Vergleichsmiete. 225 Denninger 1985, 295; Dreier 1993, 57 und passim.

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

187

einseitiger Perspektive nach dem individuellen Nachteil gefragt wird, sondern eine wechselbezügliche Verschränkung abzubilden ist und die Wertungsfragen damit deutlicher zutage treten. In Verbindung mit dem vorgestellten Abschichtungsinstrumentarium dürfte zudem ein Gewinn an Sachgerechtigkeit, aber auch Transparenz und Nachvollziehbarkeit verbunden sein, der letztlich dazu geeignet ist, Funktionsfähigkeit und Akzeptanz des Rechts insgesamt zu erhöhen.

4. Verfassungsrechtlicher „Schlüsselbegriff" Mit der Fähigkeit, verschiedene Aspekte zu integrieren, könnte das Gebot der Rücksichtnahme zu der Kategorie der verfassungsrechtlichen „Schlüsselbegriffe" 227 zu zählen sein. Die Funktion der Schlüsselbegriffe soll darin liegen, die relationale Wechselbeziehung der involvierten Rechtskreise deutlich zu machen, den Blick für das damit verbundene Strukturproblem zu öffnen und auf diese Weise das starre Gegenüber von Rechtspositionen aufzulösen, die Fronten zu „verflüssigen", um auf diesem Wege zunächst einmal den „notwendigen Spielraum für die Einführung neuer wertender und streitentscheidender Gesichtspunkte zu schaffen" (Denninger 1985, 289). Schlüsselbegriffe hätten die „Funktion der Verweisung auf eine von der Verfassung geschützte Struktur". Darin zeige sich eine „Erschließungsfunktion", mit deren Hilfe es gelinge, eine übergeordnete Betrachtungsebene - im doppelten Wortsinne - zu „erschließen". So erinnere der Grundsatz der Bundestreue an elementare Funktionsbedingungen eines bundesstaatlichen gegliederten Gemeinwesens und die Theorie der „Wechselwirkung", das Verhältnismäßigkeitsprinzip, der Grundsatz dynamischen Grundrechtsschutzes und ähnliche Rechtsfiguren seien „geschaffen und geeignet, die grundlegende Bedeutung der individuellen Freiheitsrechte zur Geltung zu bringen" (290). Ihr gemeinsames Merkmal liege in der Fähigkeit, „typische Kollisionen zwischen den jeweils betroffenen Rechtskreisen fallbezogen elastisch abzudämpfen," was vor allem zu Veränderungen in den „Randzonen der kollidierenden Rechtskreise" führe (289). Die Grundlage für eine derartige Sichtweise sieht Denninger in „einer veränderten Grundvorstellung von der Beziehung des Bürgers zum Staat": Diese sei „eine Beziehung möglicher wechselseitiger Rechte und Pflichten, 226 Coase 1960. Siehe dazu auch Adams 1989, 787 ff.; Lübbe 2000 und Rowe 2001a unter D. II. 227 Denninger (1985) entwickelt diese Kategorie aus der Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Zu den Schlüsselbegriffen zählt Denninger (1985, 283) u.a. das Prinzip der Verhältnismäßigkeit (bzw. das Übermaß verbot); den Vorbehalt des Möglichen und den Wesentlichkeitsgrundsatz. Gemeinsamer Leitgedanke sei die Vorstellung der Einheit der Verfassung mit den daraus resultierenden Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Verfassungsgütern.

188

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

möglicher Kooperation und beiderseitiger Chancen- und Risikenzuordnung" (296). Mit der Anwendung der Schlüsselbegriffe gelinge es, problemspezifisch auszuformulieren, was das Bundesverfassungsgericht mit seiner häufig nur noch als stereotype Schablone verwendeten Menschenbild-Formel schon früh programmatisch auf den Begriff gebracht habe (297). Eigenart und Wirkungsweise der Schlüsselbegriffe seien gekennzeichnet durch ihren zugleich relationalen und formalen Charakter: „Indem sie auf eine von der Verfassung geschützte spezifische Struktur oder auf einen Komplex von Strukturen verweisen, bauen sie zugleich eine wertende Beziehung zwischen den betroffenen Strukturen a u f (291). Sie geben allerdings, was besonders zu betonen sei, keine Weitung vor, sondern stellen eine „Beziehung zwischen Rechtskreisen unterschiedlicher Ebenen und Größenordnungen sowie zwischen den ihnen zugeordneten Rechtssubjekten (sofern solche existieren) her, auf welcher dann eine Wertabwägung, nach welchen zusätzlichen Kriterien auch immer, vorgenommen werden kann" (292). Insoweit handele es sich um formale Begriffe, 2 2 8 mit deren Hilfe jedoch Präferenzund Zuordnungsentscheidung zu fällen seien (293 f.). Dieses Verständnis der Schlüsselbegriffe deckt sich mit der Einschätzung von Preuß (1988, 364), der eine der wichtigsten „Entdeckungen" der Rechtswissenschaft seit etwa den 60er Jahren darin sieht, „daß das Recht nicht auschließlich der Schrankenziehung und Abgrenzung quasi-natürlich vorgegebener Freiheits- und Machtsphären dient, sondern die Funktion hat, Ordnungszusammenhänge zu stiften, in denen unterschiedliche und gegensätzliche Interessen und normative Werthaltungen institutionell vermittelt sind." 2 2 9 Kritisch weist Denninger darauf hin, ein derartiges Grundrechts- und Verfassungsverständnis verschaffe dem Bundesverfassungsgericht ein großes Maß an zusätzlichem Entscheidungsspielraum, das ihm bei der Konfliktlösung eine „hohe Beweglichkeit bis zur Grenze der Beliebigkeit" erlaube. Trotz der damit verbundenen Gefahren, die er durch „einen Prozeß zunehmender, wissenschaftlich begleiteter Selbstreflektion des Bundesverfassungsgerichts" begrenzen will, hält Denninger dieses Vorgehen für besser geeignet als die Kategorien der „klassischen" liberalen Rechtsstaatstheorie, „die gegenwärtigen Probleme einer arbeitsteiligen, Kooperation erfordernden staatlichen Aufgabenbewältigung angemessen zu beschreiben und sie einer Entscheidung zugänglich zu machen" (295). 228 Einschränkend ist aber hinzuzufügen, daß bereits mit der Herstellung der relationalen Verknüpfung eine Weitung verbunden sein kann; siehe Abschnitt IV. 2. b) cc) auf Seite 173. 229 Preuß beschreibt damit die auch in dieser Arbeit zugrunde gelegte Funktion des Rechts, zu einer Institutionenbildung beizutragen; siehe dazu Kapitel D.

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

189

Vergleicht man die Struktur des Rücksichtnahmegebots, wie es sich nach dem Ergebnis der Bestandsaufnahme und der theoretischen Betrachtung darstellt, mit der Kategorie der Schlüsselbegriffe, so treten weitgehende Überstimmungen hervor. Verwiesen sei nur auf den bipolaren, relationalen Charakter und die formale Struktur, die den Rahmen für eine wertende Zuordnungsentscheidung ermöglicht. Das Rücksichtnahmegebot nimmt in vielen Konstellationen gleichzeitig mehrere Schlüsselbegriffe auf und fügt sie entscheidungsleitend zusammen. Dementsprechend ließe sich von einem „General-Schlüssel" bzw. einem übergreifenden Schlüsselbegriff sprechen, der immer dann zur Anwendung gelangt, wenn Kollisionslagen sich überschneidender Rechtskreise aufzulösen sind. Das Rücksichtnahmegebot eröffnet eine übergeordnete, die Positionen relational verknüpfende Betrachtungsebene und ermöglicht die Zuordnung und Abschichtung der kollidierenden Belange.

5. Optimierung im System des Rechts Die bisherigen Überlegungen machen deutlich, daß ein Rechtsverständnis, welches davon ausgeht, allein strikte regeiförmige Normen zählten zum Bereich des Rechts und im übrigen herrsche rechtlich betrachtet das freie, allenfalls ethisch gebundene Belieben im Sinne der Kant'sehen Willkür, weder dem vorfindlichen Normenbestand noch der Steuerungsaufgabe gerecht wird, die das Recht zu bewältigen hat. Vielmehr tritt dazwischen ein Bereich inhaltlich offener Rechtsnormen, deren Regelungsgehalt unter Rückgriff auf Rechtsprinzipien im konkreten Fall zu bestimmen ist. Hinter den Rechtsprinzipien stehen dabei ethische Prinzipien. Ein Befund, der in gleicher Weise auch für die regeiförmig ausgestalteten Rechtsnormen gilt. Jedoch tritt die Parallelität von Recht und Tugend für den Bereich der Eigen· Verantwortung mehr in den Vordergrund, weil hier sowohl im Recht als auch in der Tugend übereinstimmend unvollkommene Pflichten mit der dahinterliegenden Prinzipienstruktur zum Tragen kommen. Dieser Befund wird ergänzt durch die Tendenz einer zunehmenden Verrechtlichung (Kübler 1985). Das Recht eignet sich Bereiche an, die zuvor lediglich Gegenstand ethischer Betrachtung waren. 2 3 0 Dabei ist auf der einen Seite eine starke Differenzierung und Spezialisierung festzustellen. Auf der anderer Seite ist in den verschiedenen Rechtsgebieten zu beobachten, daß die Rigidität des regeiförmigen „Formalrechts", welches Lebens- und Interessensphären gegeneinander abgrenzt, hinter „eine offene, flexible und 230

Darin liegt aber nicht nur eine Ausdehnung des Rechts, zugleich dürfte dies eine Entlastung von ethischen Anforderungen bedeuten, da an die Stelle der im Grundsatz unbegrenzten Tugendforderung jetzt die - jedenfalls prozedural kanalisierte - Forderung des Rechts tritt.

1 9 0 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

an unterschiedliche Kontexte anschlußfähige Begrifflichkeit" zurücktritt (Preuß 1988, 366). Umschrieben ist damit der verstärkte Rückgriff auf Normen mit Prinzipiencharakter. Prinzipiennormen finden sich dementsprechend nicht allein im Verfassungsrecht. Es handelt sich damit nicht um ein Phänomen, welches sich aus der höheren Abstraktionsebene dieses Normenbereiches ergibt. Prinzipienkonflikte finden sich vielmehr auch im einfachen Recht. In dem Maße wie es nicht allein darauf ankommt, die Kriterien der formellen Rechtsstaatlichkeit zu erfüllen, sondern auch materielle Gerechtigkeitsforderungen zu erfüllen, sind im gesamten juristischen Entscheidungsprogramm kollidierende Prinzipiennormen zu bewältigen. Der damit einhergehende Verlust an Rechtsklarheit ist nicht unproblematisch; dies nicht zuletzt deshalb, weil damit eine Verschiebung von der rechtsetzenden Seite 2 3 1 hin zu den prinzipienkonkretisierenden Organen in Verwaltung und Rechtsprechung verbunden ist. Es ist daher nach Möglichkeiten zu suchen, die Vorhersehbarkeit rechtlicher Konfliktlösungen zu steigern und damit die Orientierungskraft des Rechts für das menschliche Verhalten zu erhöhen. Benötigt werden Formen einer rationalen Begründung und Vermittlung der neuen rechtlichen Prozesse und der darin vorgenommenen Wertungen, die letztlich auf die Frage der Gerechtigkeit verweisen. 232 Eine der zentralen Argumentationsfiguren ist dabei das Begründungsmuster der Zweck-Mittel-Rationalität. Die Juristen können zur Begründung ihrer Entscheidungen nicht mehr auf begriffliche und systematische Strukturen verweisen, deren innerer Zusammenhang für Außenstehende schwer nachvollziehbar ist. Für die Rechtsanwendung reicht es noch weniger als bislang aus, „orakelhafte" Begründungsmuster bereitzustellen. Die Überzeugungs- und damit die Steuerungskraft des Rechts ist vielmehr in verstärktem Maße auf intersubjektiv nachvollziehbare rationale Herleitungen angewiesen. Die von den Prinzipiennormen geforderte Optimierung ist keine außerhalb des Rechts anzusiedelnde Aufgabe der Tugend, sondern sie vollzieht sich im Rahmen des Rechts. Dies bedeutet, daß der Richter bei der Ausle231

Dies ist zum einen der Gesetzgeber; zum anderen aber auch die vertragsschließenden Parteien des Privatrechts, weil - über den Weg zivilrechtlicher Generalklauseln - die konsentierten Festlegungen des Vertrages ergänzt oder modifiziert werden können. 232 Preuß (1988, 367) weist darauf hin, daß die rechtliche Rationalisierung der vorstehend beschriebenen Entwicklung noch an ihrem Anfang stehe; die eingeschlagene Strategie der gesellschaftlichen Kompatibilisierung durch Prozeduralisierung und eine neue Abwägungsdogmatik hinge zudem solange „ i n der Luft", wie Kriterien für eine rationale Theorie der Gerechtigkeit nicht etwickelt worden seien. Damit ist ein sehr hoher Anspruch formuliert. Mittlerweile sind jedoch immerhin generelle Begründungsmuster identifiziert, die in der Lage sind, die Rationalität der Abwägungsvorgänge zu steigern (Koch 2000, 257; siehe dazu Kapitel D, Abschnitt I. 4.).

IV. Gegenseitigkeit und Rücksichtnahme in der Rechtstheorie

191

gung, Ergänzung und Fortbildung im Vagheits- und Kollisionsbereich „nicht nur nicht auf außerrechtliche Maßstäbe zurückgreifen braucht, sondern dies auch nicht darf, weil ihm alle entscheidungsrelevanten Maßstäbe durch rechtlich geltende Prinzipien vorgegeben sind" (R. Dreier 1986, 31). Die Prinzipien geben allerdings - darauf ist zur Vermeidung von Mißverständnissen hinzuweisen - die Entscheidung nicht in jedem Fall zwingend vor. Sie bedürfen ihrerseits der Interpretation, der Gewichtung und der relationalen Zuordnung. Aber die damit verbundenen Probleme sind Rechtsfragen und keine bloße Angelegenheiten der Ethik. Darin liegt ein - gegenüber dem positivistischen Verständnis 233 - erweiterter Begriff des Rechts. 234 Mit den Prinzipien fließen Zweckorientierungen in das Recht ein, die sich auch als ethische Anforderungen darstellen lassen. Sie überschreiten jedoch den Bereich der bloßen Tugend und erhalten rechtliche Qualität.

6. Ergebnis Prinzipien-Konflikte löst das Recht unter Rückgriff auf die Kriterien des Verhältnismäßigkeitsmäßigkeitsgrundsatzes. Dieser kommt allerdings nicht in Form eindimensionaler Zweck-Mittel-Abschichtung, sondern in Gestalt einer wechselbezüglichen Prüfung zur Anwendung. Dazu sind im Ingerenzbereich der Rechtssphären die einzelnen Prüfkriterien aus den verschiedenen Perspektiven Schritt für Schritt abzuarbeiten, um jeweils den „überschießenden", das Gegenüber aber belastenden Mitteleinsatz auszuscheiden. In der Verschränkung der beiden Perspektiven ergibt sich ein Konfliktabschichtungsmuster, welches sich als „Rücksichtnahmegebot" bezeichnen läßt. 2 3 5 Man kann darin einen „Schlüsselbegriff 4 , aber auch einen allgemeinen Rechtsgrundsatz 236 sehen. Die elementare Bedeutung des Rücksichtnahmegebotes ergibt sich aus der darin verankerten Begründungsstruktur. Sie ist relevant nicht nur für Prinzipienkonflikte auf der Ebene des Verfassungsrechts, sondern entfaltet ihre rationalitätssteigernde Kraft auch auf der Ebene des einfachen Rechts. Dort sind allerdings die Grenzen regeiförmigen positiven Rechts besonders zu beachten, zu deren „Verflüssigung" das Gebot der Rücksichtnahme nicht herangezogen werden darf. Sein Anwendungsbereich ist hier auf die Ausfüllung unvollkommener Pflichten beschränkt. 233

Siehe dazu die Auseinandersetzung mit Kelsen (1960) und Hart (1961) bei R. Dreier 1986, 28-33. 234 Siehe dazu Kapitel B, Abschnitt III. 235 Für eine experimentell gestützte (wirtschaftswissenschaftliche) Theorie fairen, reziproken und kompetiven Verhaltens siehe Ockenfels 1999, 131 ff. sowie Falk

2001. 236

Siehe Kapitel F, Abschnitt II.

192

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

Auf der einfachgesetzlichen Ebene sind konkretisierende Festlegungen und damit die Statuierung von vollkommenen Pflichten möglich und wünschenswert; oftmals ist der Rückgriff auf unvollkommene Pflichten aber auch hier unvermeidlich - sei es in Form von Generalklauseln oder von unbestimmten Rechtsbegriffen. In diesen Fällen ist jeweils zu bestimmen, in welchem Umfang auf dieses Begründungsmuster zurückzugreifen ist. Dabei kann auf Seiten der Rechtsanwender das Bewußtsein für die zugrundeliegende Methodik und die Begründungsmuster dazu beitragen, die dogmatischen Anforderungen klarer zu fassen. Auf diese Weise sollte es möglich sein, die Probleme, die mit der Ausfüllung unvollkommener Rechtspflichten verbunden sind, genauer in den Blick zu nehmen und die Überzeugungskraft von Einzelfallentscheidungen zu steigern.

V. Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme Die grundrechtstheoretischen Befunde bedürfen der Umsetzung in dogmatische Figuren. Die dogmatischen Anknüpfungspunkte sind abhängig von der Ebene, auf der das Rücksichtnahmegebot rechtliche Bedeutung erlangt [Abschnitt 1.]. Aus der Sicht des Grundrechtsträgers stellt sich die Frage, auf welche Weise er von anderen Rücksichtnahme auf seine Rechte verlangen kann [Abschnitt 2.]. Andererseits ist zu untersuchen, wie die Rechtsordnung an den Einzelnen Rücksichtnahmeforderungen richtet [Abschnitt 3.]. Beide Elemente formen gemeinsam zum Bild einer Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme. Eine zusammenfassende Definition von Inhalt und Funktion des Rücksichtnahmegrundsatzes findet sich in Abschnitt 4.

1. Anwendungsebenen des Rücksichtnahmegebotes Das Rücksichtnahmegebot kann auf verschiedenen Ebenen Bedeutung erlangen. Dabei unterscheidet sich die Funktion und der rechtliche Stellenwert erheblich, je nachdem, ob die Appellfunktion [Abschnitt a)], die gesetzgeberische Ausformung [Abschnitt b)] oder die Auslegung und Anwendung durch die Verwaltung oder die Gerichte [Abschnitt c)] angesprochen ist. a) Appell zu nicht-hoheitlicher Lösung als Verfassungserwartung Das Rücksichtnahmegebot beinhaltet (auch) einen Appell zu nicht-hoheitlicher Lösung: Soweit ein Freiheitsgebrauch auf die Freiheitssphäre Dritter

V. Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme

193

einwirkt und es an konkreten rechtlichen Vorgaben fehlt, fordert es vom Einzelnen, angemessene Rücksicht walten zu lassen („Appellfunktion"). Aufgerufen sind hier in erster Linie die privaten Grundrechtsträger selbst, eine sich entwickelnde Kollisionslage aufzulösen. Schon aus - durchaus auch wirtschaftlich begründetem - Eigeninteresse werden die Privaten geneigt sein, hier gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil auf diesem Wege der Gestaltungsspielraum vergleichsweise am größten ist. Dabei mag es hilfreich sein, sich des Rücksichtnahmegebotes und der Vorteile der wechselbezüglichen Harmonisierung der Rechtssphären zu erinnern. 237 Soweit dies gelingt, ist die hoheitliche Kollisionsauflösung entbehrlich. Dies gilt sowohl für das Privatrecht als auch für Konstellationen im öffentlichen Recht. Darin kommt ein allgemeiner Subsidiaritätgrundsatz zum Ausdruck, wonach „staatliche Regulierung nicht angebracht ist, soweit Selbstregulierung ausreicht". 238 Der appellative Anteil des Rücksichtnahmegebotes ist dementsprechend darauf gerichtet, Kollisionslagen ohne Inanspruchnahme der hoheitlichen Organe zu bewältigen. Die Appellfunktion des Rücksichtnahmegebotes könnte sich der Kategorie der Verfassungserwartung zuordnen lassen. Darunter versteht man ein von der Verfassung angestrebtes, aber nicht durch Rechtsgebot sanktioniertes Leitbild des Gebrauchs der Grundrechte. Verfassungserwartung sei allerdings nicht jede Maxime „guten" Grundrechtsgebrauchs, sondern nur eine solche, „welche die Verfassung ausdrücklich artikuliert oder - der Regelfall - einschlußweise zu erkennen gibt als die allgemein oder in einer konkreten Situation sachnotwendige Bedingung des gemeinwohlverträglichen gesellschaftlichen Handelns"; dabei handele es sich nicht um ein Rechtsgebot, „sondern um einen indirekten Appell an praktische Vernunft und an sittliche Verantwortung" der Bürger (Isensee 1992b, Rn. 165, 169 u. 175). Gegenstück zu der an die Bürger gerichteten Verfassungserwartung sei die Kategorie der Staatszielbestimmung. In beiden Kategorien sieht Denninger (1994b, 30 f.) etwas gegenüber dem kantianischen Freiheits-GleichheitsModell Doppeltes und Fremdes: Es werde eine nicht ganz abstrakte Ge237

Dies betont auch Pernice (1991, 507 in Fn. 776): „Der Vorteil des Rücksichtnahmegebotes liegt demgegenüber darin, daß in ihm bereits für den Einzelnen die Grenze der Grundrechtsausübung als Sozialpflicht zum Ausdruck kommt und es nicht allein das Verhältnis Bürger-Staat im Auge hat". 238 Isensee 1992b, 175. Schmidt-Preuß (1997, 213) meint, „mit aller gebotenen Vorsicht" aus dem breitgefächerten, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip geprägten Normenmaterial ein Postulat vorrangiger selbstregulativer Eigenvornahme im Sinne einer referenzgebietsüberschreitenden, ungeschriebenen „facultas alternativa" (Jellinek 1913, 210) entnehmen zu können, welches rechtliche Wirkung entfalte „als Leitlinie bei der Erfüllung von Ermessenspielräumen im antragsunabhängigen Vollzug, aber auch i m Rahmen von Zulassungsverfahren bei der Ausgestaltung von Nebenbestimmungen . ' ' 13 Führ

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C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

meinwohlaussage getroffen mit dem Ziel, Staat und Bürger in gemeinsamer Verantwortung zu koordinieren. Der Bürger werde „daran erinnert, daß die Verwirklichung dessen, was jeweils als „Gemeinwohl" (politisch) bestimmt wird, auf die Dauer nicht ohne ihn und auch nicht gegen seinen Freiheitsgebrauch erfolgen kann und soll". Denninger erkennt darin „neue rechtsnormative Kategorien, mit deren Hilfe die sozialethische Finalität einer Verfassung begrifflich sichtbar gemacht werden kann". Das Gebot der Rücksichtnahme, wie es hier beschrieben wurde, entspricht in seinem appellativen Gehalt den Funktionen, die die Verfassungserwartung ausmachen. Allerdings richtet sich die Verfassungserwartung auf einen gemeinwohladäquaten Grundrechtsgebrauch, während beim Rücksichtnahmegebot dies zwar mit eingeschlossen ist, jedoch mindestens gleichgewichtig auch Pflichtigkeiten gegenüber anderen Grundrechtsträgern angesprochen sind. Die Abweichung dürfte aber nicht so schwer wiegen, wie es zunächst den Anschein hat. Denn mit der Gemeinwohlorientierung werden jedenfalls indirekt auch die Grundrechte Dritter von der Verfassungserwartung abgedeckt. Die Beispiele, welche die Kategorie der Verfassungserwartung illustrieren sollen, verweisen dementsprechend auch auf Rechtsbeziehungen zwischen den Grundrechtsträgern; etwa bei der Sozialbindung des Eigentums (die auch für das Verhältnis zwischen Vermieter und Mieter relevant ist) oder bei der Beziehung zwischen Eltern und Kindern (Isensee 1992b, Rn. 170 ff. u. 177). Die Anknüpfungspunkte für die Verfassungserwartung der Rücksichtnahme im Gleichordnungsverhältnis sind in den Bestimmungen der Art. 2 Abs. 1 GG („Rechte anderer") sowie in der Menschenwürdegarantie und ihrer Ausstrahlung auf das Privatrechtsverhältnis zu sehen (siehe Abschnitte IV. 2 und IV. 3). Dem grundlegenden Charakter des Rücksichtnahmegebotes entspricht die allgemeine und grundsätzliche verfassungsrechtliche Verortung. Einzelne Verfassungsbestimmungen (etwa Art. 14 Abs. 2 Sätze 1 und 2 GG) können weitere Ausprägungen enthalten. Es liegt daher nahe, den appelativen Gehalt des Rücksichtnahmegebotes in die Kategorie der Verfassungserwartung einzuordnen. Zu beachten sind allerdings auch die verfassungsrechtlichen Grenzen der Appellfunktion. Entscheidet sich der Gesetzgeber für eine am Subsidiaritätsgrundsatz orientierte Regulierungsstrategie, darf er nicht blind auf die Wirkung des Appells zur Rücksichtnahme vertrauen. Dem Staat obliegt es, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu gewährleisten sowie zu intervenieren, wo die spontane Leistung den Erfordernissen des Gemeinwohls nicht genügt (Isensee 1992b, Rn. 175). Er ist daher gehalten, die für die von Eigen-Motivation der Akteure maßgeblichen Parameter zu ermitteln. Daraus ergeben sich die Anknüpfungspunkte für eine Veränderung der Rahmenbedingungen. Die Appellfunktion bedarf damit eines entsprechenden institu-

V. Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme

195

tionellen Umfeldes. 239 Schließlich hat der Staat die tatsächlichen Auswirkungen des Verhaltens zu beobachten, um gegebenenfalls nachsteuern zu können. b) Vorrang des Gesetzgebers Während sich die Appelfunktion an die einzelnen Grundrechtsträger richtet mit dem Ziel, hoheitliche Interventionen entbehrlich zu machen, ist es Aufgabe des Gesetzgebers, Rücksichtnahmeforderungen allgemeinverbindlich zu formulieren und entsprechende Rechtsfolgen auszugestalten. Hier handelt es sich um eine grundrechtsrelevante Balancierungsaufgabe, die in den Händen des Gesetzgebers liegt. Aufgabe des Gesetzgebers ist es daher, Verhaltensanforderungen typisierend zuzuordnen und damit den Rahmen auszuformen, der für die Motivationslage der Grundrechtsträger maßgebend ist. Dabei darf der Gesetzgeber offensichtlichen Fehlentwicklungen nicht tatenlos zusehen; er muß eine Regelung schaffen, die den konkurrierenden Grundrechtspositionen ausgewogen Rechnung trägt. Umfang und Grenzen der verfassungsrechtlich gebotenen Regelung hängen davon ab, welche öffentlichen oder privaten Interessen jeweils zu berücksichtigen sind. Bei dieser Konfliktlösung hat der Gesetzgeber eine Einschätzungs- und Gestaltungsprärogative. Bei der Kollision bzw. Überlagerung grundrechtlicher Schutzbereiche wirken die im Rahmen des Rücksichtnahmegebotes zu beachtenden Prüfkriterien der wechselbezüglichen Verhältnismäßigkeit in beide Richtungen begrenzend. Im Rahmen des damit eröffneten „Gestaltungsraumes" 240 kann der Gesetzgeber seine Gestaltungsvorstellungen realisieren. 239 Siehe dazu BVerfGE 88, 203 - Schwangerschaftsabbruch II; wo ausgeführt wird, wie das Regelungsziel „Schutz des ungeborenen Lebens" durch Kooperation mit der Schwangeren erreicht werden soll: Einerseits durch einen „Appell an ihre Verantwortung" (267), ergänzt andererseits durch „Rahmenbedingungen, die positive Voraussetzungen für ein Handeln der Frau zugunsten des ungeborenen Lebens schaffen" (270), wozu inbesondere die gesetzlich vorgeschriebene Beratung beitragen soll. Darüber hinaus meint die Senatsmehrheit aber auch, unmittelbar aus der Verfassung heraus weitere Anforderungen an die institutionellen Rahmenbedingungen entwickeln zu können. Auch wenn man letzteres kritisieren kann, wird damit der eingangs zitierte Ansatz nicht in Frage gestellt (so auch die abweichende Meinung der Richter Mahrenholz und Sommer, die sich dem auf Eigen-Verantwortung basierenden Konzept explizit anschließen [340 f./343 f.]; sie stützen dieses allerdings explizit auf die Grundrechte der Schwangeren und plädieren i m übrigen für verfassungsgerichtliche Zurückhaltung bei der Würdigung der institutionellen Rahmenbedingungen [351 ff.]). 240 Zu beachten ist allerdings, daß auch unterhalb der Schwelle verfassungsprozessual geltend zu machender Verstöße gegen die Prüfungskriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes der Gesetzgeber sich an den Prüfungskriterien zu orientieren

1*

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C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

Das Rücksichtnahmegebot ordnet sich damit im Hinblick auf den Vorrang und den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in die herkömmliche Dogmatik ein. c) Judikative und administrative Auslegungsund Gestaltungsspielräume Erst in dritter Linie richtet sich das Gebot der Rücksichtnahme an die Rechtsanwendung in Rechtsprechung und Verwaltung. Beide können es lediglich im Rahmen der ihnen eröffneten Auslegungs- und Gestaltungsspielräume verwirklichen. Soweit ihnen diese Möglichkeit zusteht, sind sie dazu aber - im Rahmen der gebotenen verfassungskonformen Auslegung - auch verpfichtet. Entsprechende Spielräume im einfachen Recht finden sich vor allem bei unbestimmten Rechtsbegriffen, Generalklauseln oder Ermessensbestimmungen. 241 Wohl nicht zufällig greift der Gesetzgeber im Bereich kollidierender bzw. sich überschneidender Rechtssphären besonders häufig auf diese Regelungstechniken zurück. Die Erkenntnis, daß es illusionär wäre, in allen derartigen Fällen eine detaillierte gesetzliche Regelung anzustreben und der Vorteil größerer Flexibilität sowie die Möglichkeit „situationsbedingter" Konkretisierung dürften dafür ausschlaggebend sein. Bei der Rechtsanwendung sollen daher an dieser Stelle die Grundrechte eine auslegungsleitende Rolle erlangen (H. Dreier 1993, 57). Dogmatisch erscheint es daher naheliegend, auf die Grundrechte zurückzugreifen. aa) Argumentationsstruktur bei Abwägungsproblemen Begründungstheoretisch steht allerdings ein konkretes Abwägungsproblem im Vordergrund, welches sich nur unter Rückgriff auf das Entscheidungsmuster der wechselbezüglichen Verhältnismäßigkeitsprüfung vernunftgemäß lösen läßt. Dieses Entscheidungsmuster tritt bei der Auflösung von Grundrechtskonflikten besonders deutlich hervor. Die darin eingebetteten Argumentationsfiguren entfalten jedoch bei Prinzipienkonflikten aller Art ihre „rationalisierende" Kraft. Es ist daher durchaus möglich, auch im Rahmen des einfachen Rechts sich dieses Abwägungsmusters zu bedienen, ohne auf die Grundrechte Bezug zu nehmen. Diese Unterscheidung ist im übrigen nicht lediglich formaler Natur, wie man unter Hinweis darauf einwenden könnte, daß „hinter" der einfachgehat, wenn man die Auffassung teilt, daß diese als materielle „Maßstabsnorm" wirksam bleiben [siehe Kapitel E, Abschnitt III. 3. a)]. 241 Aber nicht nur hier, denn vergleichbare Abwägungsfragen können auch bei der Auslegung und Anwendung anders strukturierter Normen auftreten, siehe Stern 1988, 1557 f., 1584 f. sowie Rüfner 1992, Rn. 73.

V. Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme

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setzlichen Konfliktlage Grundrechtspositionen stehen. Denn sie verweist darauf, daß zunächst der Versuch zu unternehmen ist, die Konfliktlage allein anhand einfachgesetzlicher Strukturierungen und Wertungen zu entscheiden. Auch hierbei kommt das Argumentationsmuster wechselbezüglicher Verhältnismäßigkeit zum Tragen. Begründungen anhand der ZweckMittel-Rationalität sind kein Privileg der Grundrechtsdogmatik, sondern haben auch bei der Anwendung des einfachen Rechts ihren Platz. 2 4 2 Hier sind die einfachgesetzlichen Festlegungen zu ermitteln und der verbleibende Abwägungsbedarf im Hinblick auf diese Festlegungen abzuarbeiten. Erst wenn unter Berücksichtigung dieses „positiven" Kontextes eine Konfliktabschichtung nicht möglich ist, kommt der Rückgriff auf die Grundrechte in Betracht [siehe cc)]. bb) Drittwirkungsproblematik Die damit angesprochene Frage nach der Wirkung der Grundrechte im Gleichordnungsverhältnis wird unter den Stichworten der „mittelbaren" und „unmittelbaren" Drittwirkung 2 4 3 diskutiert. 244 Ob diese Bezeichnungen glücklich gewählt sind, erscheint zweifelhaft (Rüfner 1992, Rn. 58): Unmittelbar gebunden ist der Gesetzgeber. Eine Grundrechtsbindung Privater kann der Staat nur auf gesetzlichem Wege herbeiführen. Über die daraus resultierenden Anforderungen haben im Streitfalle die Gerichte entscheiden. Insofern ist die hoheitlich herbeigeführte Bindung Privater eine „mittelbare". 2 4 5 Sie beeinflußt gleichwohl die rechtlichen Beziehungen im Gleichordnungsverhältnis. Zutreffender dürfte daher die auf Saladin (1975, 310) zurückgehende Vokabel der „Horizontalwirkung" das Problem kennzeichnen (Denninger 1979, 151 f.). Gegen eine unmittelbare Horizontalwirkung wird vorgebracht, sie würde dazu führen, daß sämtliche bürgerlich-rechtlichen Beziehungen letztlich als 242

Koch 2000, 249/257. Für die begründungstheoretische Herleitung siehe Abschnitt IV. 1. b). 243 Zur unmittelbaren Drittwirkung im Privatrechtsverhältnis, etwa bei der Ausübung einer überlegenden Marktposition siehe Hesse 1995, Rn. 357 sowie Abschnitt I. 5. a). 244 Zur den verschiedenen Konstruktions- und Kollisionsproblemen siehe Alexy 1985, 480 ff. sowie Lübbe-Wolff 1988, 283 ff. 245 Im Zivilrecht belastet die Wirkung des Urteilsspruchs unmittelbar den Vertragspartner - im öffentlichen Recht ist dagegen oftmals noch eine Handlung der Behörde erforderlich, bevor die grundrechtsrelevante Wirkung einer richtlichen Entscheidung den Privaten erreicht. Andererseits ist die Behörde unmittelbar an die Grundrechte gebunden - der Private erst über die gerichtliche Auslegung. Je nach Perspektive kann in dem einen wie in dem anderen Fall von einer mittelbaren oder unmittelbaren Wirkung gesprochen werden.

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Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

Grundrechtskollisionen darzustellen und aufzulösen wären. Ständige richterliche Korrekturen an gesetzgeberischen Detailentscheidungen müßten zu einer unerträglichen Rechtsunsicherheit führen (Denninger 1979, 152). Ob die damit angesprochenen Probleme im Kern die Frage der mittelbaren und oder unmittelbaren Drittwirkung berühren, erscheint jedoch zweifelfhaft. Denn letztlich geht es darum, inwieweit der Vorrang gesetzlicher oder privater Regelungen anerkannt wird und ab welcher Intensität einer „zivilrechtlichen Schieflage" und unter welchen Kriterien ihres Zustandekommens von Rechts wegen eine Korrektur erforderlich erscheint und auf welchem Wege sie herbeizuführen ist. Auch die als mittelbar bezeichnete Drittwirkung adressiert letztlich die Anreizsituation des Einzelnen, da er sich vor Gericht auf Positionen, die er sich unter Verstoß gegen diese Vorgaben vertraglich hat einräumen lassen, nicht berufen kann [siehe Abschnitt VI.]. Umgekehrt wäre zu fragen, in welcher Weise sich eine unmittelbare Horizontalwirkung bemerkbar machen würde. Sie hätte zunächst einmal ebenfalls eine appellative Funktion. Durchsetzbar wäre sie im Streitfalle ebenfalls vor den Gerichten. Dort stellt sich dann wiederum die Frage nach der Rangfolge zwischen Gesetz, Vertrag und Grundrechtsbindung. W i l l man den Charakter der damit verbundenen Rechtswirkungen genauer umschreiben, erscheint ein Blick auf die parallel gelagerte Sitution im Verwaltungsrecht hilfreich. Auch dort hat der Richter - obwohl die Grundrechte unstreitig unmittelbare Wirkung entfalten - zunächst einmal auf der Grundlage des einfachen Rechts zu entscheiden. Auslegungsspielräume sind grundrechtskonform auszufüllen. Erscheint dies als in grundrechtlicher Hinsicht nicht ausreichend, ist der Weg der Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG zu beschreiten. Vergleicht man die funktionalen Effekte der Grundrechtswirkung im Zivil- und Verwaltungsrechts, treten zwei Aspekte hervor: Die erkenntnisleitende Rolle bei Auslegungsfragen sowie die Möglichkeit, ein Normenkontrollverfahren anzustrengen. Darüber, daß bei Auslegungsfragen im Zivilrecht auch auf die Grundrechte zurückzugreifen ist, herrscht weitgehende Übereinstimmung (Rüfner 1992, Rn. 58 m.w.n.). Damit ist aber noch nicht entschieden, in welchem Umfang die Gerichte eine horizontale Grundrechtswirkung zur Geltung bringen dürften. Wir erreichen damit wieder die eingangs aufgeworfene Vorrangfrage. Auch bei der Annahme einer unmittelbaren Wirkung bedeutet dies nicht, daß gesetzliche Regelungen als generelle Entscheidungen des demokratischen Gesetzgebers oder private Verfügungen als situationsspezifischer Autonomiegebrauch der Grundrechtsträger durchweg hinter der grundrechtsgestützten Argumentation zurückzutreten hätten. Vielmehr ist an dem grundsätzlichen Vorrang einfachgesetzlicher bzw. vertraglicher Regelung festzuhalten.

V. Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme

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Übereinstimmung besteht schließlich auch bei dem zweiten funktionalen Aspekt. Es liegt nicht in der Hand des (einfachen) Richters, gesetzliche Regelungen unter Hinweis auf die Grundrechte beiseite zu schieben. Vielmehr hat er bei einer von ihm angenommenen Unvereinbarkeit der gesetzlichen Regelung mit den Grundrechten ein Normenkontrollverfahren einzuleiten. Betrachtet man die funktionalen Effekte, unterscheidet sich die von der herrschenden Meinung als mittelbare Grundrechtsbindung bezeichnete Anwendung im Zivilrecht nicht grundsätzlich von der unmittelbaren Bindung im öffentlichen Recht. 2 4 6 Wenn gleichwohl gegen die Anwendung im Zivilrecht wegen des damit verbundenen Verlustes an Rechtssicherheit zu Felde gezogen wird, so trifft dies weniger die Anwendung grundrechtlich fundierter Rücksichtnahmegebote als die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe durch Gesetzgeber und Vertragspartner. Die Rechtsprechung ist gezwungen, zu einer Entscheidung zu gelangen. Akzeptiert sie die jeweils geschaffenen Fakten nicht als gegeben, sondern sieht ihre Aufgabe auch darin, der jeweils anderen Seite zu „ihrem Recht" zu verhelfen, benötigt sie einen darauf abzielenden Gerechtigkeitsmaßstab. Soweit bei der Auslegung des einfachen Rechts Prinzipienkonflikte zu bewältigen sind, führt an der wechselbezüglichen Anwendung der Verhältnismäßigkeitskriterien kein Weg vorbei. cc) Einfachgesetzliche Abwägung Dies bedeutet aber noch nicht, daß damit bereits ein Rückgriff auf die Grundrechte erfolgt. Dazu bedarf es vielmehr eines weiteren Schrittes mit eigenständiger Begründungsleistung. Hier ist zu fragen, ob die „einfachgesetzliche" Abwägung und das dabei erzielte Optimierungsergebnis vor den Grundrechten und den grundrechtsgestützten Optimierungen Bestand hat. In den Fällen, in denen es nicht darum geht, zwingende vertragliche oder gesetzliche Vorgaben unter Rückgriff auf die Grundrechte zu verschieben, sondern die Aufgabe lediglich darin besteht, im einfachgesetzlichen Kontext unvollkommene Pflichten zu konkretisieren, findet dieser Abwägungsvorgang zunächst im Rahmen des einfachen Rechts statt. Bewegt sich das Ergebnis im verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Bahnen, dann hat es damit sein Bewenden. Allein die Tatsache, daß Verhältnismäßigkeitserwägungen zur Begründung einer Entscheidung herangezogen werden, bedeutet daher nicht, daß bereits unter Rückgriff auf die Grundrechte argumentiert wird.

246 Alexy (1985, 477 ff./490 ff.) geht in Anlehnung an Leisner (1960, 378) ebenfalls davon aus, daß die Ergebnisse unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung funktional äquivalent sind.

200

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot d) Ergebnis

Wenn es darum geht, unvollkommene Pflichten zu konkretisieren, ist das vorstehend beschriebene Rationalprogramm kaskadenförmig abzuarbeiten. Aufgerufen, den durch unvollkommene Pflichten eröffneten Spielraum auszufüllen, sind zunächst einmal die Regelungsadressaten selbst; den generellen Ordnungsrahmen auszubilden, ist Aufgabe des Gesetzgebers und der danach verbleibende Abwägungsbedarf ist unter Rückgriff auf die Argumentationsmuster des Rücksichtnahmegebotexs auszufüllen. Festhalten läßt sich damit, daß sich das Rücksichtnahmegebot auch mit den vorgenannten Funktionen in die herkömmliche Dogmatik einfügt: Die Aufgabe, Pflichtenstellungen für den Einzelnen verbindlich zu formulieren, liegt primär in den Händen der Gesetzgebung. Sie hat die Rahmenbedingungen zu formulieren und im Einzelnen auszustalten, die in der Rechtswirklichkeit die „Konnexität von Freiheit und Verantwortung" 247 herstellen. Wenn aber - wie dies in den letzten Jahren zunehmend geschieht - der „Rückzug des Staates" und der Abbau gesetzlicher Vorgaben in Angriff genommen wird, bedeutet der damit verbundene Zugewinn an weniger durchreglementierten Freiheitsräumen zugleich ein ein Anwachsen der „Pflichtigkeiten", wenn die Balance Freiheit und Verantwortung weiterhin gewahrt bleiben soll. Der Rechtsstaat muß nach ihm gemäßen Wegen suchen, dies in die Rechtsposition der Akteure zu übersetzen. Da es darum geht, mit den Mitteln des Rechts menschliches Verhalten zu beeinflußen, ist Ausgangsund Zielpunkt der Überlegungen die vom rechtlichen Ordnungsrahmen (mit-)bestimmte Motivationslage der Regelungsadressaten. 248

2. (Grund-) Recht auf Rücksichtnahme? Im Hinblick auf die motivationsbeeinflussende Wirkung unvollkommener Pflichten sind die bisherigen Erkenntnisse aus der Perspektive des Rücksichtnahmegläubigers bzw. des Rücksichtnahmeschuldners zu reformulieren. Zunächst geht es darum, inwieweit der Einzelne mit den Mitteln des Rechts Rücksichtnahme einfordern kann. Mit anderen Worten: Gibt es ein gegebenenfalls grundrechtlich fundiertes - Recht auf Rücksichtnahme? Mögliche Adressaten eines Individualanspruchs auf Rücksichtnahme sind die staatlichen Gewalten, aber auch andere private Akteure.

247 248

BVerfGE 50, 290/342 f. u. 348 - Mitbestimmung. Siehe dazu die folgenden Ausführungen sowie Abschnitt VI. und Kapitel D.

V. Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme

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a) Rücksichtnahme im Hoheitsverhältnis Im Hoheitsverhältnis kann der Einzelne keinen absoluten Schutz seiner Grundrechte durchsetzen; jedoch hat er einen Anspruch darauf, durch hoheitliche Maßnahmen nicht im Übermaß belastet zu werden. Aus der Perspektive der öffentlichen Gewalt betrachtet, bedeutet die Bindung an die Grundrechte mit ihrem Prinzipien-Charakter nichts anderes als die Bindung an eine unvollkommene Pflicht. Oder, aus der Perspektive des Rücksichtnahmegedankens formuliert: Die staatlichen Instanzen sind verpflichtet, im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf die Freiheitsrechte der Bürger Rücksicht zu nehmen. Verstöße führen zur Rechtswidrigkeit des jeweiligen hoheitlichen Eingriffs. Diese Konstellation läßt sich auch als „Grundrecht auf Rücksichtnahme" bezeichnen. Mag auch die Bezeichnung auf den ersten Blick ungewöhnlich sein, so bewegt sich das damit gekennzeichnete Phänomen im Rahmen der klassischen Grundrechtsdogmatik. Denn der Rücksichtnahmeanspruch des Grundrechtsträgers findet seine Ausformung im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Man kann darin - zieht man die in Abschnitt IV. 4 beschriebene Kategorie der Schlüsselbegriffe und die dort dem Prinzip der Rücksichtnahme zugewiesene Funktion des „General-Schlüssels" (siehe Seite 187) heran - ein verbindendes Element sehen, welches alle Grundrechte eines Individuums umfaßt. Dieses „General-Grundrecht" auf möglichst schonende (also: rücksichtsvolle) Behandlung der Freiheitsrechte im Rahmen der Verhältnismäßigkeit erfährt für die einzelnen Betätigungsformen der Freiheit seine der spezifischen rechtlichen und tatsächlichen Situation angepaßte Kontur. 2 4 9 b) Rücksichtnahme im Gleichordnungsverhältnis Im Verhältnis der Bürger untereinander regiert die Privatautonomie: Die Privaten sind frei, auf vertraglichem Wege auf einen Teil ihrer Freiheit zu verzichten. Im Rahmen der so geschaffenen privatrechtlichen Konstellation 249

Hier ergibt sich ein Bezugspunkt zu Jellinek (1905, 103 f.), der darauf verweist, es sei „nur die Freiheit im Singular" vorhanden: „Alle Freiheit ist einfach Freiheit vom gesetzwidrigen Zwange. Die Subjektion, der passive Status des Individuums ist ein gesetzlich begrenzter." Die darin zum Ausdruck kommende positivistische Sichtweise läßt aber unbeachtet, daß die entscheidende Frage, was als „gesetzwidrig" anzusehen ist, damit noch nicht entschieden ist. Die dabei auftretenden Auslegungsfragen sind nach der hier vertretenen Sichtweise anhand des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und ihrer wechselbezüglichen Verschränkung i m Rücksichtnahmeprinzip zu entscheiden. Damit steht dann aber doch - anders als dies Jellinek annahm (a.a.O., 103) - ein „allgemeines Prinzip" zur Verfügung, anhand derer die Gesetze zu messen und auszulegen sind.

2 0 2 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

gehen die (Vertrags-) Partner eine Sonderrechtsbeziehung ein, die sie kraft vorangegangenen Tuns - zur gegenseitigen Fürsorge und Rücksichtnahme verpflichtet. Wer wechselseitig auf ein Stück Freiheit verzichtet, darf von seinem Partner eine besondere Rücksichtnahme erwarten. Diese zivilrechtliche Pflichtigkeit reicht so weit wie die jeweilige Sonderrechtsbeziehung und das zu ihrer Zweckerreichung Notwendige und Zumutbare. Das Zivilrecht enthält mehrfach abgestufte rechtliche Instrumente, um seine Rücksichtnahmegebote umzusetzen [siehe Abschnitt I. 1.]. Die Regentschaft der Privatautonomie gilt allerdings nicht unbegrenzt. In erheblichem Umfang wird sie von dem hoheitlich geschaffenen Ordnungsrahmen überlagert. Die entsprechenden Vorschriften unterliegen in doppelter Hinsicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da sie zugleich in beide beteiligte Grundrechtssphären eingreifen. Im öffentlich-rechtlich regulierten Verhältnis unter den Privaten wirkt sich die „doppelt verhältnismäßige" Balancierung im Ergebnis, wie das Beispiel des Baurechts belegt, als Gebot der Rücksichtnahme auf die entgegenstehenden Interessen aus. Aber auch in vorwiegend zivilrechtlich bestimmten Rechtsbeziehungen ist die Privatautonomie in grundsätzlich gleicher Weise durch gesetzliche Rücksichtnahmegebote belastet. Dahinter stehen zum einen bestimmte überindividuelle Interessen der Gesellschaft, aber auch der Schutz wirtschaftlich und sozial Schwächerer sowie insgesamt das Ziel, eine gedeihliche Abwicklung der Privatrechtsverhältnisse zu gewährleisten. Diese einfachgesetzlichen Vorschriften dienen in gewissem Umfang dem Schutz der involvierten Grundrechte, wie sich aus der das Gleichordnungsverhältnis betreffenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht ergibt [siehe Abschnitt I. 5. a)]. Im Hinblick auf die dogmatische Einordnung meinte das Gericht zunächst, „gesetzliche Vorschriften, die sozialem und wirtschaftlichem Ungleichgewicht entgegenwirken", würden „die objektiven Grundentscheidungen des Grundrechtsabschnitts und damit zugleich das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG)" verwirklichen. 2 5 0 Der Sache nach handelt es sich jedoch um die Anerkennung grundrechtlicher Schutzpflichten. 251 Das Bundesverfassungsgericht bestätigt diese Sichtweise, indem es in der Aussperrungs-Entscheidung ausdrücklich auf die in der Handelsvertreterentscheidung entwickelte „Schutzpflicht" v e r w e i s t 2 5 2 250

BVerfGE 81, 242/255 - Handelsvertreter. Hermes 1990, 1767. Angesichts der klaren gesetzlichen Regelung in § 90a Abs. 2 Satz 2 HGB kam eine Auslegung des einfachen Rechts unter Beachtung grundrechtlicher Ausstrahlungswirkung nicht in Betracht, sondern es war eine positive Pflicht des Gesetzgebers festzustellen, zum Schutz des Schwächeren vor Fremdbestimmung ausgleichend einzugreifen. 252 BVerfGE 84, 212/227 - Aussperrung. 251

V. Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme

203

Betrachtet man die Rechtsprechung unter der Fragestellung, unter welchen Voraussetzungen die grundrechtliche Schutzpflicht eingreift, stellt man fest, daß die Bürgschafts-Entscheidung eine Handlungspflicht des Gesetzgebers annimmt, 2 5 3 wenn „eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils" erkennbar ist und „die Folgen des Vertrags für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend" sind. Einschränkend fügt das Gericht allerdings hinzu, die Rechtsordnung könne nicht für alle Situationen Vorsorge treffen, in denen das Verhandlungsgleichgewicht mehr oder weniger beeinträchtigt ist. Schon aus Gründen der Rechtssicherheit dürfe ein Vertrag nicht bei jeder Störung des Verhandlungsgleichgewichts nachträglich in Frage gestellt oder korrigiert werden. Anders sei dies jedoch in den Fällen, in denen es sich „um eine typisierbare Fallgestaltung" handele. Die Anwendung der Schutzpflicht setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts demnach dreierlei voraus: eine strukturelle Unterlegenheit, ungewöhnlich belastende Vertragsfolgen für die Gegenseite sowie eine typisierbare Fallgestaltung. Fraglich ist allerdings, in welcher Weise und anhand welcher Kriterien zu prüfen ist, ob diese Voraussetzungen vorliegen. Hinzuweisen ist zunächst darauf, daß sich aus den Schutzpflichten kein Gebot zur Herstellung zivilrechtlicher Äquitas ergibt. 2 5 4 Vielmehr „lebt" das Zivilrecht über weite Bereiche davon, daß sich „Ungleiche" zusammentun, um miteinander gemeinsame Interessen zu verwirklichen. Die grundrechtliche Schutzpflicht greift vielmehr erst ein, wenn aus der Ungleichheit ein solches Übergewicht entsteht, daß nicht mehr von doch zumindest im Kern privat-autonomer Entscheidung, sondern von einer „Fremdbestimmung" auszugehen ist. Entscheidend ist dann, wie sich eine solche Fremdbestimmung feststellen läßt. So ist etwa die Frage zu beantworten, ob für die Bejahung einer strukturellen Unterlegenheit tatsächliche Feststellungen erforderlich sind. Zu prüfen wäre hier etwa, ob und unter welchen Randbedingungen eine Aushandlung von vertraglichen Bestimmungen - und damit die Verwirklichung gemeinsamen Autononomiegebrauchs 255 - stattgefunden hat. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts meint offenbar, darauf verzichten zu können. 2 5 6 Dies führt aber dazu, daß letztlich allein die zweite Voraussetzung ausschlaggebend ist: Einseitig stark belastende Vertragsfolgen sind dann zu253

BVerfGE 89, 214/232 f. - Bürgschaft der Angehörigen. Insoweit zutreffend Isensee 1992 a, Rn. 135. 255 Eike Schmidt (1991, 88) ist der Auffassung: „Elementare Voraussetzung für eine zulässige Berufung auf die Vertragsautonomie ist die Aushandlung", weil sich nur auf diesem Wege die gemeinsame Entfaltung der Autonomie i m Sinne der „ i n Art. 2 Abs. 1 GG postulierten Entfaltungsperspektive" verwirklichen lassen (E. Schmidt 1995, 430). Zur grundrechtsdogmatischen Einordnung der Vertragsautonomie siehe Höfling 1991, 6 ff. 256 So etwa in der Handelsvertreter-Entscheidung, vgl. Hermes 1990, 1767. 254

2 0 4 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

gleich ein Indiz für Fremdbestimmung und materielle Grundlage für einen gesetzgeberischen Schutzauftrag. Für das Eingreifen der Schutzpflicht des Gesetzgebers bedarf es dann lediglich noch einer Typisierungsmöglichkeit; ein Kriterium, welches kaum eine sinnvolle Abgrenzung ermöglicht. Wann ein solcher Fall vorliegt (oder eben nicht), läßt sich kaum stringent aus der Verfassung heraus beantworten, sondern gehört in originären Gestaltungsraum des Gesetzgebers. Im Ergebnis reduzieren sich die Voraussetzungen im Kern auf die Frage der einseitig belastenden Vertragsfolgen ungewöhnlicher Intensität, ohne daß es dafür eine vernünftige, angemessene Rechtfertigung gibt. Dieses Ergebnis ist im Hinblick auf den Vorrang des demokratisch legitimierten Gesetzgebers nicht unproblematisch. Andererseits ist darauf hinzuweisen, daß diese Rechtsprechung nicht allein einen Schutz der Grundrechtsfreiheit auch vor privater Machtausübung verwirklicht, sondern zugleich den Rationalitäts- und Gerechtigkeitsanspruch, welcher den Geltungsgrund der Rechtsordnung ausmacht. Es kommt daher darauf an, diesen Anspruch so zu verwirklichen, daß die Gewichte zwischen Judikative und Legislative so verteilt sind, daß die funktionelle Aufgabenteilung der Verfassungsorgane gewahrt bleibt; im Zweifel gewinnt hier das Vertrauen in die prozedurale Legitimation die Oberhand vor der - infolge der unvermeidlichen Weitungen und angesichts der Prognoseunsicherheiten - nur begrenzt tragfähigen materiellen Rationalitätskontrolle durch die Gerichte. 257 Der Rücksichtnahme-Gläubiger kann sich im Gleichordnungsverhältnis vor Gericht zur Ausfüllung unvollkommener Pflichten des einfachen Rechts auf das Rücksichtnahmegebot berufen. Soweit ein entsprechender Spielraum besteht, ist dieser unter Rückgriff auf die wechselbezügliche Verhältnismäßigkeitsprüfung auszufüllen. Maßstäbe und Gewichte dieser Prüfung sind dem einfachen Recht zu entnehmen. Die bloße Anwendung der Rationalkriterien des Rücksichtnahmegebotes bedeutet dabei noch nicht, daß bereits grundrechtsgestützt argumentiert wird. Vielmehr ist erst in einem zweiten Schritt zu fragen, ob aus einer grundrechtlichen Perspektive ein Korrekturbedarf der einfachgesetzlichen Maßstäbe und Gewichte besteht. Erweisen sich die einfachgesetzlichen Vorgaben auch nach dem Versuch einer grundrechtskonformen Auslegung als unzureichend, kann der Rücksichtnahme-Gläubiger - unter den vom Bundesverfassungsgericht entwikkelten Voraussetzungen - die Wahrnehmung der Schutzpflicht einfordern. Ihm steht insoweit ein grundrechtlicher fundierter Anspruch auf Schutz durch die staatliche Gewalt vor der „Fremdbestimmung" durch den „Partner" z u . 2 5 8 Auf dieser Ebene kommt erneut das Rücksichtnahmegebot im Rahmen der Schutzpflichtendogmatik zum Tragen. 257

Hesse 1994, 559; siehe dazu auch Kapitel E, Abschnitt III. 3. b). Jedenfalls insoweit beeinflußen die Schutzpflichten auch die Binnenbeziehungen zwischen Privaten; so zutreffend Hesse 1995, Rn. 357 und Hermes 1990, 1768. 258

V. Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme

205

Auch im Gleichordnungsverhältnis bleibt „Schuldner" der grundrechtlich fundierten Rücksichtnahme-Forderung die staatliche Gewalt: Primär in Gestalt der Legislative, ergänzend - im Wege der schutzpflichtenkonformen Auslegung, bzw., wenn dies nicht möglich ist, im Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht - die Judikative; 259 im Ergebnis wird jedoch auch die Rechtsstellung zwischen Privaten rechtlich ausgeformt. 260 Dies beeinflußt die Anreizstruktur, unter denen die Grundrechtsträger agieren [siehe Abschnitt VI.]: Für den Überlegenen stellt sich dies im Ergebnis als ein Gebot dar, nur solche Rechtspositionen vertraglich zu vereinbaren und gerichtlich durchzusetzen, die der einfachgesetzlich geforderten Rücksichtnahme entsprechen. Für besonders gelagerte Konstellationen ist zudem darauf zu achten, daß kein Widerspruch zu der grundrechtlich gebotenen „Mindest-Rücksichtnahme" entsteht. c) Ergebnis Aus der Perspektive des „Rücksichtnahme-Gläubigers" ergibt sich damit folgende Rechtslage: - Gegenüber hoheitlichem Verhalten kann er Rechtsschutz erlangen, wenn die Staatsorgane es entgegen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz an Rücksichtnahme auf seine Grundrechtssphäre fehlen lassen - sei es durch aktiven Eingriff, sei es durch das Unterlassen grundrechtlich gebotenen Schutzes. - Gegenüber anderen Grundrechtsträgern kann sich der Einzelne im Rahmen unvollkommener Pflichten auf einfachgesetzliche Rücksichtnahmeforderungen berufen. Er kann seine Forderung vor Gericht geltend machen, wenn die „Rechtsgenossen" das Rücksichtnahmegebot verletzen, indem sie den Anforderungen wechselseitiger Verhältnismäßigkeit nicht entsprechen. Widersprüchlich erscheint die Position von Isensee (1992a, Rn. 135), wenn er einerseits davon ausgeht, die Schutzpflichtenlehre richte sich allein auf den Staat und die Binnenbeziehungen zwischen den Privaten würden „ausgespart"; andererseits aber konstatiert: „Die Schutzpflicht leistet ein weiteres und sorgt dafür, daß auch privater Zwang die Privatautonomie nicht antastet". 259 Kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, das einfache Recht sei im Hinblick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten defizitär, kann es in der Regel nur feststellen, daß die Gesetzeslage mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben unvereinbar ist. Wie der Gesetzgeber den gebotenen Schutz durchsetzt, unterliegt seiner Gestaltungsfreiheit (Hermes 1990, 1768). Hier greift der legislative Gestaltungsvorrang ein [siehe Abschnitt V. 1. b)]. 260 Besteht über dieses Ergebnis Einigkeit, ist der Streit darum, ob dies nun eine mittel- oder unmittelbare Wirkung sei [vgl. Hesse 1995, Rn. 357 m.w.N. sowie Abschnitt V. 1. c)], letztlich müßig, weil im Streitfall der Schutzpflichten-Gläubiger vor Gericht seine Position geltend machen kann.

2 0 6 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

- Ein grundrechtlich gestützter Rücksichtnahmeanspruch gegen den Rechtsgenossen auf der Gleichordnungsebene läßt sich nach den Kriterien der grundrechtlichen Schutzpflicht einfordern. Die daraus resultierenden Anforderungen gehen allerdings über einen Minimalstandard nicht hinaus; sie entsprechen nicht einem Gebot „optimaler" Rechtsgestaltung. Festhalten läßt sich damit, daß man durchaus von einem „Recht auf Rücksichtnahme" sprechen kann, welches geltend zu machen ist sowohl gegenüber dem Staat als auch im Verhältnis unter Privaten. Im letztgenannten Fall ist zu unterscheiden zwischen dem Maß an Rücksichtnahme, welches nach der grundrechtlichen Schutzpflicht zu gewährleisten ist (hier ist der Staat gefordert, entsprechende Rahmenbedingungen zu setzen und wenn er dies bislang versäumt hat, den Ordnungsrahmen nachzubessern) und der jenseits dieser Schwelle anzusiedelnden Rücksichtnahme-Anforderungen, die vom Einzelnen im Rahmen einfachrechtlicher bzw. vertraglicher Vorgaben und den dort bestehenden Auslegungsmöglichkeiten einzufordern sind. Je nach dem, in welcher Weise der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum genutzt hat, können die einfachgesetzlichen Rücksichtnahmeanforderungen über das hinausgehen, was sich im Rahmen der grundrechtlichen Schutzpflicht prozessual einzufordern läßt. Bleiben sie dahinter zurück, ist zunächst der Weg schutzpflichtenkonformer Interpretation zu beschreiten; ist dies nicht möglich, bleibt der Weg zum Bundesverfassungsgericht.

3. (Grund-) Pflichtigkeit zur Rücksichtnahme? Gibt es - als Gegenstück zum (Grund-) Recht auf Rücksichtnahme - für denjenigen, der in seinem Grundrechtsgebrauch auf die Rechtssphären Dritter oder der Allgemeinheit einwirkt, eine (Grund-) Pflichtigkeit zur Rücksichtnahme? Diese Frage ist nach den bisherigen Ergebnissen grundsätzlich zu bejahen. Wer in Ingerenz zu anderen von seiner Freiheit Gebrauch macht, an den richtet sich das Gebot der Rücksichtnahme mit seinen appellativen und rechtsförmigen Gehalten. Er sieht sich - beachtet er die damit verbundenen „weiteren Verhaltensgebote" nicht von sich aus - in größerem Umfang gesetzlicher Inanspruchnahme ausgesetzt. 261 Klärungsbedürftig bleibt das dogmatische Verhältnis zur Kategorie der „Grundpflichten" sowie zum Gewährleistungsbereich der Grundrechte.

261 So der Ansatz in der Brokdorf-Entscheidung des Bundesverfassungsgericht; zur dort gegebenen Begründung siehe bei Fn. 57.

207

V. Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme a) Verhältnis

zu den „ Grundpflichten

"

Die Frage, ob den Grundrechten als verfassungsrechtliche Dimension auch „Grundpflichten" zugehörig sind, wurde Anfang der 80-er Jahre intensiv diskutiert. 262 Sie gewann neue Bedeutung als die Verfassungen in den neuen Bundesländern in einer Reihe von Fällen explizit eine Inpflichtnahme ihrer Bürger vornahmen. So statuieren alle Verfassungen der neuen (sowie manche der alten) Bundesländer eine ökologische „Pflichtigkeit" der Bürger. Darin kann ein Gebot der Rücksichtnahme gegenüber einem nicht individualisierten Gemeinwohlbelang gesehen werden. 263 Den verfassungsrechtlichen „Grund der Grundpflichten" verortet Hofmann letztlich in den Grundrechten selbst: 264 Verfassungsstaatliche Freiheit heißt für ihn „Freiheit im Miteinander, Zueinander und Gegeneinander mit anderen, welche in gleicher Weise frei sind. Die Annahme gewisser elementarer Unterlassungs-, Duldungs- und Leistungspflichten ist die notwendige Konsequenz der Aufgabe, die gleichen Freiheitsrechte aller miteinander verträglich zu machen und gegeneinander zu sichern, sowie die Erfüllung aller anderen Gemeinschaftsaufgaben zu organisieren." Den gemeinsamen verfassungsrechtlichen Grund aller gesetzlich entfalteten Sozialpflichtigkeiten sieht er - neben der objektiven Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat subjektivrechtlich in Art. 2 Abs. 1 GG mit dem darin ausgesprochenen Gegenseitigkeitsprinzip und dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG: „Die verfassungsrechtliche Dimension der Grundpflichten ist demnach keine andere als diejenige der in ihrer Konkurrenz, Koexistenz, Sicherungsund Organisationsbedürftigkeit begriffenen Grundrechte." Im Verhältnis der Grundrechtsträger zueinander könne man, so schließt er seinen Gedankengang ab, sogar meinen, „sie enthielten gar keine Pflichten, sondern seien in Wahrheit Grundrechte auf gleiche Lastenverteilung". Was also zeichnet die verfassungsrechtlichen Grundpflichten aus? Im Unterschied zu den Grundrechtsschranken, die in je besonderer Weise dafür Sorge tragen, daß der jeweils spezifische Freiheitsgebrauch mit den legitimen Interessen der anderen und des Gemeinwesens verträglich bleibt, gehen die Grundpflichten in übergreifender Weise von bestimmten Zwecken 262

Siehe dazu die Berichte von Götz und Hofmann auf der Konstanzer Staatsrechtslehrertagung (1983) sowie die zusammenfassenden Darstellungen bei Luchterhandt 1988 und Schmidt 1999. 263 Denninger 1994b, 30 ff.; Führ 1998a, 6 ff. Auch Steinberg (1998, 138) sieht die „Rücksichtnahmepflicht erweitert um das Allgemeininteresse Umwelt". 264 Hofmann 1983, 74 f. sowie ders. 1992, Rn. 36 f.; dem folgend Stem 1994, 1023. Ähnlich Gusy 1982, 661 „Verantwortung ist die jedem Grundrecht immanente Grundpflicht"; andererseits aber auch ebenda: „Verantwortung ist kein spezifisches Korrelat der Freiheit".

208

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

des Gemeinwesens aus und umfassen als selbstständige Pflichtnormen jeweils den Bereich mehrerer grundrechtlicher Freiheiten. 265 Hinter den Grundpflichten steht damit das staatserhaltende und gemeinwohldienende Pendant zur natürlichen Handlungsfreiheit des Individuums. 2 6 6 Sie sind nicht allein auf ein „Unterlassen" sozialunverträglichen Grundrechtsgebrauchs gerichtet, sondern können darüber hinaus ein positives Tun des Bürgers einfordern: „Grundpflichten verpflichten zu etwas" (Stern 1994, 1024 und 1057 f.). Betrachtet man Grundlage und Funktion der Kategorie der Grundpflichten, tritt eine weitgehende Übereinstimmung mit den entsprechenden Elemente des Rücksichtnahmegebots zu Tage: Die Verortung im Gegenseitigkeitsprinzip und im Freiheitsgrundsatz und die Funktion den Freiheitsgebrauch mehrerer miteinander verträglich zu machen, woraus nicht allein Eingrenzungen grundrechtlich geschützter Positionen, sondern auch aktive Verhaltensanforderungen resultieren. b) Verhältnis

zu den Grundrechten

Klärungsbedürftig bleibt das Verhältnis zwischen Grundrechten und Grundpflichten bzw. „Grundpflichtigkeiten". Übereinstimmung dürfte darin bestehen, daß den Grundrechten verfassungstheoretisch eindeutig den Vorrang vor den Grundpflichten zukommt. Die Grundrechte binden unmittelbar alle staatliche Gewalt; sie sind für ein freiheitliches Rechtsstaatsverständnis elementar und lassen sich von jedermann vor Gericht geltend machen. Demgegenüber sind Grundpflichten ein verfassungstheoretisch asymmetrischer, den Vorrang der Grundrechte wahrender „Annex der Freiheit" (Hailbronner 1983). Um dies deutlich zu machen, sollte besser von „Grundpflichtigkeiten" 2 6 7 gesprochen werden. Der Begriff bringt zum Ausdruck, daß sie zwar mit der Ausübung der Grundrechtsfreiheit untrennbar verbunden sind, als bloße „Pflichtigkeit" jedoch als solche nicht eigenständig einzufordern sind. Die Grundpflichtigkeit ist zwar grundrechtstheoretisch in

265

Hofmann 1992, Rn. 48. In dieser Beschreibung klingt die Funktion der „Schlüsselbegriffe" an; siehe Abschnitt IV. 4. 266 Der Einwand von Carl Schmitt, die Anerkennung Grundpflichten nehme „dem Staatswesen den Charakter eines rein liberalen Rechtsstaates" (1928, 174 f.) erweist sich damit durchaus als zutreffend. Dies gilt auch für den Hinweis auf die „interpretatorische, einen konsequenten Liberalismus mildernde Wirkung" (Schmitt 1932, 597) der Grundpflichten (zitiert nach Stern 1994, 994). 267 Zu diesem Begriff siehe bereits die Analyse der zivilrechtlichen Situation in Abschnitt I. 4., die grundrechtstheoretischen Überlegungen zu wechselseitigen Pflichtigkeiten in Abschnitt IV. 3. sowie Führ (1998 a) im Hinblick auf ökologische „Pflichtigkeiten".

V. Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme

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den Grundrechten mit angelegt, sie bedarf jedoch für ihre Durchsetzung einer gesetzlichen Regelung. Das Bild der Asymmetrie von Grundrechten und Grundpflichtigkeiten, betrifft allerdings nicht „die ganz andere Frage nach Recht und Pflicht des Grundrechts gebrauchst (Hofmann 1992, Rn. 39). Hier sind - verfassungsrechtlich betrachtet - „Rechte und Pflichten gleichrangige und gleichwertige Verankerungen von Existenzbedingungen einer freiheitlichen Ordnung" (Hofmann 1983, 69). Dem ist zuzustimmen: Mit dem Gebrauch der Freiheitsrechte im sozialen Raum untrennbar verbunden ist die „Obliegenheit" zur Rücksichtnahme. Dies ändert nichts daran, daß Leitmotiv privaten Handelns weiterhin die Verfolgung eigennütziger Ziele bleibt; damit einher geht jedoch eine Bindung in Gestalt der Obliegenheit. 268 Diese Obliegenheit richtet sich direkt an den einzelnen Freiheitsträger. Sie beinhaltet zunächst einmal einen Appell zu einer nicht hoheitlichen Lösung der Konfliktlage [siehe Abschnitt V. 1. a)]. Rechtliche Verbindlichkeit erhält die Pflichtigkeit durch die Gesetzgebung sowie im Rahmen der Anwendung und Interpretation des einfachen Rechts. Während die Grundrechte als „negative Kompetenznormen" wirken, lassen sich verfassungsrechtliche „Pflichtigkeiten", wie sie im Rücksichtnahmegebot verankert sind, als Verstärkung von Kompetenzvorschriften verstehen. Diese Pflichtigkeiten erweitern das „Legitimationsreservoir", welches das Ergebnis gesetzgeberischer Zuordnung gegenüber den Grundrechtsgewährleistungen zu begründen vermag. 2 6 9 Gesetzgeberische Vorgaben in diesem Bereich sind damit ein stückweit „grundrechtsfester" (Hofmann 1983, 78), jedoch wird die Prüfung und Gewichtung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung keinesfalls entbehrlich. c) Ergebnis Die mit dem Gebrauch der Grundrechte verbundene „Last der Rücksichtnahme" läßt sich im Hinblick auf Entstehungsgrund und Funktion der Kategorie der „Grundpflichtigkeit" zuordnen. Sie nimmt damit Teil an dem spezifischen Verhältnis zwischen Grundrecht und Grundpflichtigkeit. Letztere läßt sich nicht isoliert einfordern, sondern geht einher mit der spezifischen Art und Weise des jeweiligen Grundrechtsgebrauchs. Rücksichtnahmepflichtigkeiten haben daher den Charakter von Obliegenheiten.

268

Diesen Begriff verwendet auch Schmidt-Preuß (1997, 166 f.); allerdings ohne weitere Erläuterung, welche Rechtsfolgen sich daraus ergeben sollen. 269 Siehe dazu Stem 1994, 625 ff./628. 14 Führ

210

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

4. Inhalt und Funktion des Rücksichtnahmegebotes Zusammenfassend läßt sich zu Gehalt und Funktionen des Rücksichtnahmegebotes folgendes festhalten. Wer unvollkommene Pflichten, wie sie für die Kategorie der Eigen-Verantwortung kennzeichnend sind, im Hinblick auf eine konkrete Konfliktsituation auszufüllen hat, stößt auf die dahinter liegenden Prinzipien-Normen. Um diesen Prinzipienkonflikt zu bewältigen, benötigt das Recht eine angemessene Argumentationsstruktur. Es findet sie in der „wechselbezüglichen Verhältnismäßigkeitsprüfung". Die Verbindung von unvollkommenen Pflichten mit dieser Argumentationsstruktur bezeichnet der Begriff „Rücksichtnahmegebot". Diese Verbindung ist dabei nicht eine aus einer Mehrzahl von Möglichkeiten, sondern diejenige, die dem Recht aus seiner Rationalitätsorientierung aufgeben ist: Mit ihrer Hilfe gelingt es dem Recht, die von den beteiligten Akteuren verfolgten Zwecke in Beziehung zu setzen zu den jeweils eingesetzten Mitteln; zugleich erlauben die einzelnen Prüfungskriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine rationale Abschichtung der Konfliktlage. Daraus ergeben sich materielle Wirkungen, die darauf gerichtet sind, die Belange des Gegenübers und die gemeinsam verfolgten Zwecke zu berücksichtigen: - Zur Erreichung der eigenen Ziele darf jede Seite - soweit damit Einwirkungen auf die Rechtssphäre des Gegenübers verbunden sind - nur solche Mittel einzusetzen, die den Kriterien des „Übermaßverbotes" nicht widersprechen. Daraus resultiert ein die Reichweite der eigenen Rechtswahrnehmung begrenzender Effekt. - Daneben treten aktivitätsfordernde Sorgfaltspflichten. Wie weit diese reichen, ergibt sich aus der Anwendung des „Mindestmaßgebotes", das seinen Bezugpunkt in den gemeinsam verfolgten Zwecken findet [siehe Abschnitt III. 2. c)]. Damit entgeht man der Gefahr, das Gegenüber für die Erreichung der eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Die aus der Anwendung des Mindestmaßgebotes resultierenden „Pflichtigkeiten" orientieren sich vielmehr an dem autonom (etwa im Rahmen vertraglicher Bindungen) oder normativ aufgegebenen (etwa im Rahmen der Funktionszuordnungen innerhalb der öffentlichen Gewalt) Zweckbestimmungen. Diese Pflichtigkeiten lassen sich dabei in der Regel nicht isoliert erzwingen, sondern erscheinen in Form von „Obliegenheiten". Dieser Befund läßt sich auch so zusammenfassen: Aus der wechselbezüglichen Verschränkung von Übermaßverbot und Mindestmaßgebot bei der Ausfüllung unvollkommener Pflichten resultiert das an beide Seiten gerichtete Rücksichtnahmegebot.

V. Freiheit in gegenseitiger Rücksichtnahme

211

Anwendung findet das darin enthaltene Argumentationsmuster bei der Ausfüllung unvollkommener Pflichten auf der Ebene des einfachen Rechts. Es liefert hier ein rationales Prüfungsraster, welches eine Konkretisierung des Pflichtengehaltes im Hinblick auf die jeweilige Handlungssituation erlaubt. Auf diese Weise trägt es dazu bei, das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot zu erfüllen. Weil die Akteure infolge kultureller Überlieferung vertraut sind mit der Anwendung der Rationalitätskriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, sind sie auch in der Lage, ihr Verhalten daran auszurichten. Gelingt dies nicht, dann kommt den Gerichten die Funktion zu, die Rationalkriterien im Hinblick auf die jeweilige Handlungssituation zu konkretisieren. Auch das Bundesverfassungsgericht bedient sich - wie die Bestandsaufnahme gezeigt hat - dieses Prüfungsrasters, wenn es verfassungsrechtliche Kollisionsfragen zu lösen hat. Das Gebot der Rücksichtnahme ist damit auch in der Lage, die Ansätze zu integrieren, die hier einen „angemessenen, schonenden Ausgleich" suchen bzw. „praktische Konkordanz" herstellen wollen. Es fragt aus der Perspektive „beider Rechtsgüter" nach den Bedingungen gemeinsamen Verwirklichung. Das Prüfungsraster ist darauf gerichtet, Gestaltungsoptionen auszuscheiden, die nicht so ausgebildet sind, daß sie den jeweiligen Zweck in einer Weise erreichen, daß die dazu eingesetzen Mittel das Gegenüber möglichst wenig belasten. Die Wechselbezüglichkeit der Perspektive stellt dabei sicher, daß nicht die eine Seite absolut gestellt wird, sondern beide Seite voreinander rechtfertigungspflichtig bleiben. Festzuhalten ist damit eine vollständige Übereinstimmung des Rücksichtnahmegebotes mit den Anforderungen, die Hesse für die Herstellung „praktischer Konkordanz" formuliert. 2 7 0 Die von ihm beschriebene Optimierungsaufgabe stellt sich jedoch nicht nur auf der Ebene des Verfassungsrechts, sondern in strukturell identischer Weise auch unter dem einfachen Recht. Das Recht verfügt damit über ein „Prüfungs- und Argumentationsraster" zur Ausfüllung unvollkommener Pflichten. Darin liegt jedoch - was noch einmal besonders hervorzuheben ist - kein Freibrief zur Lösung von Rechtsstreitigkeiten allein auf der Grundlage wechselbezüglicher Verhältnismäßigkeit. Einschränkungen richterlicher Kontrolle bestehen vielmehr in zweierlei Hinsicht: - Ein Rückgriff auf diese Prüfungsfigur verbietet sich immer dann, wenn regeiförmige Normen eine klare Verhaltensanweisung bereitstellen. Die rechtstheoretische Aufarbeitung des Abwägungsvorgangs erweitert dessen

270

501). 14*

Zu dieser Einschätzung gelangt - auf genereller Ebene - auch Pernice (1991,

212

C. Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

Anwendungsbereich in keiner Weise. Der Einwand, hier werde einer allgegenwärtigen Abwägung das Wort geredet, greift daher nicht. 2 7 1 - In vielen Konstellationen lassen sich mögliche Konflikte aber nicht vorab regeiförmig kanalisieren. Die ökonomische „Theorie unvollständiger Verträge" 2 7 2 hat vielmehr gezeigt, daß es unter dem Aspekt gemeinsamen Freiheitsgebrauches vorteilhaft ist, nicht alles im Detail zu regeln. Dies gilt sowohl für die Ebene der Verfassung (in diesem Sinne ein „unvollständiger Gesellschaftsvertrag") als auch für privatrechtliche Verträge des alltäglichen (Geschäfts-) Lebens. Für diese Bereiche „notwendiger Unbestimmtheit" benötigt das Recht allgemein konsentierte Konfliktbewältigungsmechanismen, die das Vertrauen der Beteiligten in dessen Streitentscheidungsfähigkeit begründen und aufrechterhalten. Die Beschreibung der dabei anzuwendenden Argumentationsmuster erweitert nicht den „Spielraum der Rechtsprechung", sondern engt ihn vielmehr ein, indem sie die einzelnen Prüfungsschritte und die dabei „zulässigen" Argumente verdeutlicht. Neben dieser auf der Normanwendungsebene angesiedelten Funktion kommt der Rücksichtnahmegedanke auch auf der Ebene der Normsetzung zum Tragen. Hier vermag es infolge der Rationalitätsorientierung des Rechts den Gesetzgebungsorganen als Leitbild zu dienen; zugleich liefert es die Kriterien für die verfassungsgerichtliche Kontrolle. 2 7 3

VI. Anreizstruktur für die Akteure Das Recht hat die Aufgabe, das Verhalten der Menschen zu beeinflussen. Die bisher erzielten Ergebnisse sind daraufhin zu befragen, wie sich danach die Anreizstruktur der Rechtsträger darstellt. Dazu ist die einfachgesetzliche und verfassungsrechtliche Situation zu bilanzieren, um auf dieser Grundlage die Motivationslage der Beteiligten zu bestimmen. Das Maß der rechtlich gebotenen Rücksichtnahme ergibt sich primär aus der jeweiligen einfachgesetzlichen Ausgestaltung. Soweit dabei weiterer 271 Dies gilt auch im Hinblick auf den Umstand, daß einfachgesetzliche Regelungen mit verfassungsrechtlichen Vorgaben in Konflikt geraten können. Dieses spezielle Abwägungsproblem läßt sich rechtsförmig kaum „einfangen" ohne die materielle Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts in Frage zu stellen; hier kommen vielmehr die Korrekturmöglichkeiten im „System des Rechts" selbst in Betracht; siehe Abschnitt IV. 3. b). Im übrigen ist darauf zu verweisen, daß auch der Verzicht auf Abwägung zu einem Verlust an Freiheitsverwirklichung führt; der Rückgriff auf die Abwägung dient also der „Übelminimierung". 272 Siehe Kapitel B, Abschnitt II. 1. a) sowie in Fn. 93. 273 Zum Verhältnis von Kontrollnorm und Handlungsnorm siehe Kapitel E, Abschnitt III. 3. a). Zu der Leitbildfunktion des Rücksichtnahmegedankens siehe Kapitel F, Abschnitt II.

VI. Anreizstruktur für die Akteure

213

Konkretisierungsbedarf besteht (etwa bei unbestimmten Rechtsbegriffen oder Generalklauseln), läßt sich dieser - im Rahmen des Auslegungsspielraumes der Gerichte - anhand der „wechselseitigen Verhältnismäßigkeitsprüfung" befriedigen. Hier besteht eine seit langem gefestigte Rücksichtnahme-Rechtsprechung der Zivil- und Verwaltungsgerichte. Bei Schutzlücken des einfachen Rechts ist der Weg der Vorlage beim Bundesverfassungsgericht zu beschreiten.

1. Anreizsituation privater Akteure Für den Einzelnen ergibt sich damit folgende Situation: Es kann vorkommen, daß sich ein Bürger vertraglich eine Rechtsposition hat einräumen lassen, die sich zwar noch im Rahmen des strikten Rechts bewegt, die jedoch einen Verstoß gegen unvollkommene Pflichten und das diese ausfüllende Rücksichtnahmegebot darstellt. 274 In Anwendung der vorstehend beschriebenen dogmatischen Figuren wird dies dazu führen, daß er die Rechtsposition vor Gericht nicht durchsetzen kann; im Streitfalle steht sie ihm daher auch nicht zu. Es ist daher ein Gebot ökonomischer Klugheit, auf die prozessuale Durchsetzung zu verzichten; redlich wäre es zudem, sich solche Positionen auch nicht einräumen zu lassen. Im Ergebnis entfaltet das Rücksichtnahmegebot daher auch im Privatrechtsverhältnis Bindungswirkung insoweit, als es darauf hinwirkt, daß jede Seite nur solche Rechtspositionen für sich in Anspruch nimmt, die sich im Rahmen des Rücksichtnahmegebotes bewegen. 275 Alle Beteiligten sind also gehalten, auf die Belange des Gegenübers „von sich aus" Rücksicht zu nehmen. Diese Funktion zeigt sich besonders deutlich bei den „weiteren Verhaltenspflichten" und „Obliegenheiten", die die Zivilrechtsprechung für die Interessenbalancierung innerhalb autonom eingegangener Sonderrechtsbeziehungen entwickelt hat [siehe Abschnitte I. l . a ) und I. 1. b)]: Ausgerichtet am Ziel der Sonderrechtsbeziehung unter Beachtung der Informationslage und der Handlungsmöglichkeiten der Partner, erfolgt hier eine „wechselseitige Verhältnismäßigkeitsprüfung". Diese Konstellation bezeichnet das Zivilrecht zutreffenderweise ebenfalls als Rücksichtnahme. Dem Rücksichtnahme-Gläubiger stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, auf

274

Siehe dazu die Rücksichtnahmekonstellationen im Zivilrecht in Abschnitt I. 1. Verfassungsgerichtlich entschiedene Beispiele finden sich etwa in den Bürgschaftsfällen oder in der Handelsvertreter-Entscheidung [siehe Abschnitt I. 5. a)]. 275 Ökonomisch entspricht diese der aus dem Pareto-Kriterium abzuleitenden Forderung, „daß jedes Individuum bei der Ausübung eines Rechts, in bestimmter Weise zu handeln, mit der Pflicht belastet werden muß, die Kosten und Nutzen solcher externen Effekte in sein eigenes Nutzenkalkül mit einzubeziehen" (Behrens 1988,

221).

2 1 4 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

mangelnde Rücksicht der Gegenseite zu reagieren; teils wird er von eigenen Pflichten frei, teils wachsen ihm neue Ansprüche zu. Im Ergebnis erweitert diese Rechtsprechung seine Handlungsposition, während die des Rücksichtnahme-Schuldners belastet wird und beeinflußt auf diese Weise die rechtlich bestimmten Verhaltensanreize unter Privaten. Im Verhältnis zu anderen Privaten treffen den Einzelnen damit Rücksichtnahmeforderungen unabhängig davon, ob dieses Verhältnis vorwiegend zivilrechtlich oder öffentlich-rechtlich reguliert ist. Aber auch bei hoheitlichen Maßnahmen spielen Rücksichtnahmeforderungen eine Rolle. Je mehr der Bürger dem Rücksichtnahmegebot Rechnung trägt, desto höher rückt die Schwelle einer mit rechtlichen Zwangsmitteln verbundenen Intervention. Daraus ergibt sich ein Anreiz, sein Verhalten an den Elementen des Rücksichtnahmegebotes auszurichten. Fügt man diese Elemente zu einem Gesamtbild zusammen, läßt sich festhalten, daß die Rechtsordnung einen Mindeststandard fairen und solidarischen Verhaltens vorgibt, an dem sich die Bürger zu orientieren haben. Wo dieser Mindeststandard verläuft, ist nicht vollständig einfachgesetzlich festgelegt. Die „offenen Rechtsbegriffe" ermöglichen es dem Recht, mit den tatsächlichen Entwicklungen und der Gestaltungsphantasie der Akteure Schritt zu halten. Der einzuhaltende Rücksichtnahmestandard ist hier anhand der formalen Struktur der relational verhältnismäßigen Zuordnung zu bestimmen. Damit ist zugleich das Grundmuster für den appellativen Gehalt des Rücksichtnahmeprinzips vorgegeben. In Konstellationen, die nur eingeschränkt justiziabel sind (wie etwa die Pflege von Beziehungen auf persönlicher, aber auch auf beruflicher Ebene) oder für die - noch - keine spezifischen rechtsförmigen Vorgaben bestehen, können sich die Individuen an diesem Grundmuster orientieren. Sie vermeiden damit zum einen rechtliche Auseinandersetzungen und erschließen sich zum anderen die aus der Verbindung mit anderen Rechtsträgern erwachsenden Vorteile [siehe Abschnitt V. 1. a)]. Die Grenze zwischen appellativem Gehalt und Rechtssatzcharakter läßt sich nur im Einzelfall bestimmen. Das Recht erschließt auf diese Weise Potentiale an Dynamisierung und Flexibilität. Es verstärkt damit den Geltungsanspruch des Gerechtigkeitsmaßstabes der Rücksichtnahme auch in seinen appellativen Anteilen, indem es sich die Möglichkeit offen hält, im Einzelfall zu intervenieren. Angelegt ist mit dieser Struktur ein Konflikt mit dem Bestimmtheitsgrundsatz und dem Ziel der Rechtssicherheit. Die Intensität des Konfliktes wird allerdings dadurch gemildert, daß mit der Anwendung des Rücksichtnahmegebotes kulturell seit langem verwurzelte Elemente der Gerechtigkeitsidee zur Anwendung kommen [siehe Kapitel F., Abschnitt II.], in der flexiblen Antwort des Rechts also zugleich Kontinuität spürbar wird. Dementsprechend stößt die Rücksichtnahme-Rechtsprechung -

VI. Anreizstruktur für die Akteure

215

von Auseinandersetzungen in Einzelfällen abgesehen - im Grundsatz auf weit überwiegende, zum Teil nahezu einhellige Zustimmung. Dessen ungeachtet sind die Vorteile der Flexibilisierung gegen die damit verbundenen Einbußen an Rechtssicherheit abzuwägen. Der Gesetzgeber ist gehalten, diese Prüfung vorzunehmen und - gestützt auf seinen Gestaltungsspielraum regeiförmige Verhaltensanweisungen zu verankern.

2. Anreizsituation im Binnenbereich der öffentlichen Gewalt Betrachtet man die Konflikte im Binnenbereich der öffentlichen Gewalt aus der Perspektive der Neuen Politischen Ökonomie, 2 7 6 dann läßt sich auch das Handeln der politischen Akteure als - im Hinblick auf die jeweiligen Präferenzen - eigenutzorientiert erklären, wobei die institutionellen Randbedingungen sowohl die Präferenzen als auch die Verwirklichungschancen bestimmter Vorgehensweisen beeinflussen. Das Beispiel der an die Mitgliedstaaten gerichteten gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsverpflichtung für Richtlinien zeigt deutlich, daß auch in einem Bereich ergänzende Mechanismen der Folgenanlastung erforderlich sind, in dem eine grundsätzliche Bindung der Akteure an gesetzliche Vorgaben anzunehmen ist und man daher davon ausgehen könnte, die Befolgung rechtlicher Anforderungen verstehe sich - jedenfalls weit überwiegend - von selbst. Die Reaktion des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, der aus Gründen der „praktischen Wirksamkeit" gemeinschaftsrechtlich eingegangener Verpflichtungen nach und nach ergänzende institutionelle Vorkehrungen entwickelte, folgt diesem Modell: Indem der Gerichthof bei fehlender Richtlinienumsetzung die gemeinschaftsrechtlich begründeten Rechtsfolgen in Abweichung vom Wortlaut der Verträge unmittelbar eintreten läßt, entsteht ein Anreiz für die nationalstaatlichen Organe, ihren Gestaltungsraum dadurch zu wahren, daß sie rechtzeitig tätig werden. Die protektionistischen Effekte zugunsten der einheimischen Wirtschaft, die sich zuvor durch Untätigkeit erreichen ließen, werden zumindest stark abgeschwächt. Hinzu kommt dann noch die Anreizwirkung, die resultiert aus der vom Gerichtshof entwickelten Schadensersatzpflicht der Mitgliedstaaten in Fällen mangelhafter Umsetzung des Gemeinschaftsrechts. Seit der Vertragsrevision von Maastricht muß ein Mitgliedstaat schließlich auch damit rechnen, daß der Gerichtshof ein Zwangsgeld verhängt (Art. 228 Abs. 2 Satz 2 und 3 EGV).

276 Grundlegend: Schumpeter 1950; Arrow 1951; ein Überblick findet sich etwa bei Kirsch 1993. Zur Übertragung auf rechts wissenschaftliche Fragen in Konflikten innerhalb der öffentlichen Gewalt siehe Oeter 1998.

2 1 6 C .

Unvollkommene Rechtspflichten als Rücksichtnahmegebot

Der Inhalt der Handlungspflicht der Mitgliedstaaten war in diesen Fällen mit der Richtlinie bestimmt (und damit zugleich der verbleibende, in eigener Verantwortung der Mitgliedstaaten auszufüllende Gestaltungsraum); es fehlte jedoch an geeigneten Vorkehrungen, die ein Überschreiten des Gestaltungsraumes sanktionierten. Die vom Gerichtshof entwickelten Mechanismen der Folgenanlastung folgten der Funktionslogik des Rechtssystems und des für das Recht konstituierenden Rationalmodells. Sie stießen daher - trotz der damit für die nationalen Systeme der Rechtsetzung und Rechtskontrolle ergebenden Einschränkungen - letztlich auf die Zustimmung der nationalen Gerichte. 277 In anderen Fällen - etwa der Abgrenzung der Rechtsetzungsbefugnisse im Verhältnis zwischen Bund, Ländern und Gemeinden - ist die Rechtsfolge in der Regel vorgegeben: Meist hat sich die untere Ebene an den Vorgaben der höheren auszurichten. Zu klären ist dann, wie weit die Rechtssetzungsbefugnisse jeweils reichen. Dies ist - anders als bei einer EG-Richtlinie, wo die grundsätzliche Umsetzungsverpfichtung außer Frage steht und lediglich Einzelfragen bei der Auslegung der Richtlinie strittig sein können - oftmals nicht mit Bestimmtheit zu sagen. In diesen Fällen stehen sich dann konkurrierende Prinzipiennormen gegenüber, für die - ebenso wie bei Grundrechtskonflikten - das Recht ein rational nachvollziehbares Abwägungsmuster bereitzustellen hat. Die Verhaltensanforderungen an die verschiedenen Gebietskörperschaften sind damit als unvollkommene Rechtspflichten zu charakterisieren. Die Konkretisierung dieser Pflichten durch die Gerichte erfolgt nach Maßgabe der Rationalkriterien der Verhältnismäßigkeit. Daraus entsteht ein Anreiz, die eigenen Kompetenzen nur unter Beachtung des Rücksichtnahmegebotes zu nutzen.

3. Ergebnis Prinzipiennormen erweisen sich als „Optimierungsgebote auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten" (Alexy 1985, 100; Herv. im Orig.). Die Kriterien der Geeignetheit und der Erforderlichkeit folgen aus dem Charakter der Prinzipien als Optimierungsgebote relativ auf die tatsächlichen Möglichkeiten. Sollen sie diese Funktion erfüllen, muß das Recht sich für seine Abwägungsentscheidung die realen Möglichkeitsräume erschließen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine methodischen „Brückenschlag" zu den Realwissenschaften zu suchen. Wenn das Recht mensch277

BVerfGE 73, 339 - „Solange I I " ; E 75, 223 - Kloppenburg; diese Zustimmung trat allerdings (nicht nur in der Bundesrepublik) zum Teil erst nach einem längeren Prozeß und nach der Überwindung beträchtlicher Widerstände ein (siehe etwa BFHE 143, 383 unter Bezug auf die Abwehrversuche des französischen Conseil d'Etat; dazu Grabitz 1995, Art. 189 EGV a.F. Rn. 28 f. und 62 f.).

VI. Anreizstruktur für die Akteure

217

liches Verhalten beeinflussen will, muß es sich über die individuelle Wirkung des von ihm errichteten institutionellen Rahmens ebenso informieren wie sich der Frage stellen, welche Motivationsimpulse nötig sind, um die gemeinsam zu verwirklichenden Aufgaben optimal zu erfüllen. Ausgehend von der These der grundsätzlichen Eigennutzorientierung individuellen Verhaltens und unabhängig davon, ob Entscheidungen im politischen oder im privaten Raum zu treffen sind, ergibt sich eine strukturelle Übereinstimmung der Konfliktkonstellationen. Klärungsbedürftig sind das verfolgte Interesse sowie die jenes freisetzenden und begrenzenden institutionellen Bedingungen. Dies gilt grundsätzlich in gleicher Weise für Konstellationen aus dem Bereich des öffentlichen Rechts wie für solche aus dem Privatrecht. 278 Voraussetzung für eine sachgerechte Institutionenbildung ist ein genaueres Bild der Parameter, die das Verhalten der Akteure bestimmen, aber auch der Einflüsse, die von den aktuellen institutionellen Rahmenbedingungen sowie alternativen Gestaltungsoptionen ausgehen. Für alle Konfliktfelder dürfte zudem die im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung gemachte Aussage zutreffen, wonach Regelungsmuster der Eigen-Verantwortung auch die Funktion erfüllen, die Beteiligten für ihre eigenen Angelegenheiten zu aktivieren, also das endogene Motivationspotential für die Erreichung allgemeiner Ziele zu erschließen. Das Eigeninteresse der Akteure trägt auf diese Weise - durchaus im Sinne von Adam Smith - dazu bei, mehr als nur das individuelle Wohl zu befördern; vorausgesetzt, die institutionellen Randbedingungen sind entsprechend ausgebildet.

278

Dabei ist nicht zu verkennen, daß die „Präferenzen" als die Determinanten des „Interesses" durchaus unterschiedlich ausgeprägt sind; dies steht jedoch einer Übereinstimmung in der formalen Struktur des analytischen Zugangs nicht i m Wege (siehe dazu Kapitel D). Dem Phänomen funktional unterschiedenen Zusammenwirkens bei fortbestehender Interessendivergenz hat sich das Privatrechts seit jeher zu stellen. Es war dementsprechend gezwungen, Wege zur Bewältigung der daraus resultierenden Konflikte zu suchen und erscheint daher als Untersuchungsobjekt besonders geeignet. Die strukturelle Übereinstimmung in der Problemkonstellation sollte es ermöglichen, die Ergebnisse dann auch für die Betrachtung institutioneller Gestaltungsoptionen im öffentlichen Recht fruchtbar zu machen.

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse Das vorangegangene Kapitel hat gezeigt, wie das Recht unvollkommene Pflichten konkretisiert und damit die Kategorie der Eigen-Verantwortung einer Anwendung im Einzelfall zuführt: Das Recht verfügt über Argumentationsfiguren, die es ihm erlauben, den Handlungsmaßstab situationsspezifisch zu definieren und mit Mechanismen der Folgenanlastung zu verknüpfen. Das Recht schafft damit einen institutionellen Rahmen, der die Motivationslage der Adressaten beeinflußt. Damit trägt es bei zu den institutionellen Bedingungen, ohne die sich eigenverantwortliches Verhalten nicht entfalten kann. In welchem Umfang allerdings der Gesetzgeber davon ausgehen kann, die ihm übertragene legislative Funktion zu erfüllen, ist abhängig davon, welchen Instrumenten man zutraut, das Verhalten von Individuen und Organisationen im gewünschten Sinne zu beeinflussen und auf diese Weise die beabsichtigten Steuerungsleistungen zu erbringen. W i l l man Art und Intensität der Beeinflussung menschlichen Verhaltens abschätzen, bedarf es - so die im folgenden zu verfolgende These - eines Verhaltensmodells, auf dessen Grundlage sich entsprechende Prognosen bilden lassen. Das zu entwickelnde Verhaltensmodell würde seine Aufgabe verfehlen, wenn es lediglich den rechtlich ausgeformten Handlungsrahmen abbilden würde. Denn die Individuen erhalten Verhaltensimpulse nicht nur durch das Recht; motivationelle Wirkungen gehen vielmehr - und dies gilt im Rahmen der Kategorie der Eigen-Verantwortung in besonderer Weise - auch von außerrechtlichen Normen und Anreizmechanismen aus. Beide Aspekte umfaßt der Begriff der Institution, 1 der hier im sozial wissenschaftlichen Sinne verstanden werden soll: 2 Er schließt rechtliche und außerrechtliche Regeln sowie die jeweiligen Sanktionsmechanismen mit ein. Er bildet den übergreifenden Orientierungsrahmen für die Entwicklung eines Verhaltens-

1 Siehe zu diesem Begriff bereits in Kapitel A, Abschnitt III. 3. sowie die Nachweise unten im Text bei Fn. 186 und in Abschnitt III. 4. 2 Dieser Institutionenbegriff weist über das rechtswissenschaftliche Verständnis hinaus, weil er auch nicht-rechtliche Institutionen (wie etwa gesellschaftliche Konventionen oder habituelle Verhaltensweisen) mit umfaßt (Bizer 1998, Engel 1999, 4 ff.). Andererseits ist nicht zu übersehen, daß auch diese Institutionen nicht i m luftleeren Raum existieren, sondern ihrerseits durch Rechtsnormen beeinflußt sind. Ein veränderter Rechtsrahmen hat daher - wenn auch ggf. nur indirekt und mit zeitlicher Verzögerung - Einfluß auf außerrechtliche Institutionen.

I. Rationales Recht - rationales Verhaltensmodell

219

modells, welches in der Lage ist, rechtliche und außerrechtliche Verhaltensimpulse zu integrieren. Aus der normativ geprägten Perspektive des Rechts mag es zunächst befremdlich erscheinen, sich mit einem realwissenschaftlich ausgerichteten Verhaltensmodell zu befassen. Zu zeigen, daß sich die Verknüpfung der beiden Perspektiven zwingend aus dem Rationalitätsverständnis des Rechts ergibt, ist Aufgabe des folgenden Abschnitts I. 3 Auf dieser Grundlage läßt sich dann der Frage nachgehen, welche Anforderungen das Recht an realwissenschaftliche Verhaltensmodelle richtet [Abschnitt II.]. In einem weiteren Schritt ist zu klären, inwieweit das Verhaltensmodell der Ökonomie aus rechtswissenschaftlicher Sicht zur Erfüllung der genannten Aufgaben in Betracht kommt und welche Modifikationen gegebenenfalls angebracht sind [Abschnitt III.]. Auf die Frage, welche Leistungen dieses Verhaltensmodell aus der Perspektive des Rechts erbringen kann, ist in Abschnitt IV. einzugehen.

I. Rationales Recht - rationales Verhaltensmodell Die Frage, ob und inwieweit das Recht auf ein Modell menschlichen Verhaltens angewiesen ist, führt zurück auf das grundlegende Postulat der Rationalität des Rechts. Daß Gesetzgebung „rational" bzw. „vernünftig" sein sollte, gehört zu den allgemein anerkannten Anforderungen an die legislative Gewalt: Rationale Gesetzgebung ist jedenfalls seit der Aufklärung ein Pleonasmus. Die Forderung nach der Rationalität des Rechts ist ein „unhintergehbarer Maßstab" für alle heutigen Formen der Rechtsetzung: „Ein Verzicht auf diesen Maßstab implizierte einen Verzicht auf den gesetzlichen Regelungsanspruch überhaupt" (Schulze-Fielitz 1988, 458). Damit ist allerdings noch nichts darüber gesagt, welcher Rationalitätsbegriff zugrunde zu legen ist, anhand welcher Kriterien sich ein „Rationalitäts-Test" durchführen läßt und wer berufen ist, diesen durchzuführen.

1. Rationalität und Legitimation des Rechts Die Rationalitätsforderung könnte man zunächst einmal allein auf die Innenwelt der Rechtsordnung beziehen. Das normative System als solches müßte dann in sich stimmig und widerspruchsfrei sein. Ob eine solche Binnenrationalität, die sich an das Gedankengebäude der Begriffsjurisprudenz 3

Die Ausführungen in diesem Kapitel stützen sich auf Vorarbeiten in der „Sonderforschungsgruppe ökonomische und juristische Institutionenanalyse - sofia", Darmstadt, und nehmen daher auf frühere Veröffentlichungen Bezug (Führ 2000e, Führ 2002).

220

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

anlehnen könnte, für die Erfüllung der Rationalitätsforderung ausreichend ist, läßt sich nur unter Rückgriff auf die Legitimationsquellen des Rechts beantworten. Dazu kann man einerseits „überpositive" Begründungen heranziehen (normative Perspektive), andererseits die Leistungen des Rechts aber auch daran messen, ob es in der Lage ist, reale Konfliktsituationen zu bewältigen (wirklichkeitswissenschaftliche oder „positive" Perspektive). Es liegt nahe, daß in den verschiedenen Epochen des Rechts die erstgenannte Perspektive eine dominierende Rolle spielt. Die Frage nach der Legitimation des Rechts bildet, jedenfalls in der Einschätzung von Wieacker, seit ihren Anfängen das eigentliche Thema der europäischen Rechtswissenschaften: Das Mittelalter habe die Antwort in der metajuristischen Rechtsordnung gefunden, das Vernunftrecht sich auf den Glauben an die Kraft der reinen, praktischen Vernunft gestützt, die historische Schule habe sich die kulturelle Autorität der Quellen geliehen und der Gesetzespositivismus berufe sich auf den Gemeinwillen der souveränen Nation (Wieacker 1952, 332; 1967, 562 f.). Gemeinsames Merkmal dieser Legitimationsquellen ist ihr normativer Charakter. Dies ist für das auf dem Fundament der Religion ruhende mittelalterliche Recht ebenso offenkundig wie für die sich auf römische Quellen berufende Pandektenwissenschaft. Aber auch das Vernunftrecht zieht seine legitimatorische Kraft aus einem streng formalen, von den empirischen Bedingungen mit ihren Kontingenzen unabhängigen normativen Gedankengebäude, stützt sich also letztlich auf eine transzendentale Begründung. 4 Der Gesetzespositivismus schließlich fragte nicht danach, ob das Recht anderen als den formalen Kriterien ordnungsgemäßen Zustandekommens entspricht. Wenn einem derart gewachsenen Selbstverständnis normativer Prägung eine wirklichkeitswissenschaftlich ausgerichtete Betrachtungsweise mit einem darauf ausgerichteten methodischen Arsenal gegenübertritt, dann liegt es nicht fern, darin den „Verlust der letzten Legitimation des positiven Rechts" 5 zu sehen. Es fragt sich allerdings, ob eine derartige, von der Angst vor dem Verlust normativer Gewissheit geprägte Betrachtungsweise der eigentlichen Funktion der Rechtsordnung gerecht wird. Angesprochen ist damit die Frage nach Legitimationsgrundlagen des modernen Staates. Dieser ist gekennzeichnet durch eine umfassende Staatsgewalt. Seine Gestaltungsmacht reicht deutlich über die Regalien der früheren Landesherren hinaus. Anders als diese kann der moderne Staat den Geltungsanspruch des von ihm geschaffenen Rechts nicht mehr metajuristisch ableiten, sondern ist statt dessen auf Begründungen angewiesen, die sich 4

Siehe dazu Dreier 1996, Art. 1 Rn. 11 m.w.N. sowie Kapitel B, Abschnitt III. 1. So Lange 1969, 558 f. unter Verweis auf die zuvor referierte Sichtweise von Wieacker (1952 und 1967). 5

I. Rationales Recht - rationales Verhaltensmodell

221

vor der Instanz der Vernunft zu bewähren haben. Als Rechtsstaat darf der moderne Staat nur im Rahmen der Rechtsordnung tätig werden. Dies allein bändigt den Leviathan aber nur auf den ersten Blick. Denn der moderne Staat verfügt grundsätzlich über die Möglichkeit, sich mit allen Mitteln zu versehen, die er zur Bewältigung der ihm anvertrauten Aufgaben benötigt: Seine Handlungsmacht wird mit dem Begriff der „Blanko- und Generalvollmacht" umschrieben (Krüger 1966, 818 ff./834). Eine derart weitreichende Gestaltungskompetenz des Staates verlangt nach korrigierenden Gegengewichten. Wenn gleichzeitig die Grundrechtsfreiheit gewahrt bleiben soll und man nicht allein auf die Vernunft der Herrschenden vertrauen will, muß die umfassende Vollmacht ebenfalls umfassend relativiert sein. In der Rationalitätsforderung an das Recht kommen somit zwei miteinander verflochtene Stränge zusammen. Der moderne Staat übt seine Herrschaft (nur) durch das Recht aus; zugleich ist er selbst der Herrschaft des Rechts unterworfen. Dabei geht es um mehr, als nur um die Suche nach dem „richtigen Recht"; die Vernunftorientierung des Gesetzgebungsprozesses erfüllt vielmehr zugleich die Funktion eines gesellschaftlichen Bindemittels, sie bildet den „cement of society" (Elster 1989). Damit sich dessen stabilisierende Kraft auch entfaltet, müssen sich sowohl die Begründung als auch die Grenzen der Staatsgewalt intersubjektiv nachvollziehbar und damit „rational" vermitteln lassen. Erst die Verschränkung dieser beiden Stränge erlaubt es, den Richtigkeitsanspruch des Rechts zu untermauern, auf den der moderne Staat mit der von ihm beanspruchten umfassenden Staatsgewalt gegründet ist. Ein dritter, aus der Funktion des Rechts erwachsender Strang kommt hinzu: Gegenstand des Rechts sind soziale Beziehungen. Das Recht hat die Aufgabe, menschliches Verhalten zu beeinflussen. Es zielt darauf ab, „soziale Probleme in rationaler Weise" (Albert 1993, 27) zu lösen. Wenn der Staat seine - durch das Recht vermittelte - Herrschaftsausübung vernunftgemäß zu begründen hat, setzt dies zugleich voraus, daß sich das Verhalten der Individuen vernunftgemäß erklären (und prognostizieren) läßt. 6 Das dem Recht zugrundeliegende Rationalitätskonzept - so die im folgenden weiter zu entfaltende Annahme - ist erst tragfähig, wenn es sich auf ein Rationalmodell menschlichen Verhaltens stützen kann.

2. Steuerungsfunktion des Rechts Mit der Aufgabe, menschliches Verhalten zu beeinflussen, ist die Steuerungsfunktion des Rechts angesprochen. Hat man sich von der frühbürgerlichen Vorstellung verabschiedet, staatlich gesetztes Recht habe lediglich die Aufgabe, eine als gerecht gedachte gesellschaftliche Ordnung gegen 6

Siehe dazu auch Albert 1993, 24 ff.

222

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

Störungen abzuschirmen, wird auch die gesellschaftliche Ordnung selber mit den durch sie geschaffenen institutionellen Voraussetzungen und Bedingungen individuellen Verhaltens zum Gegenstand staatlicher Veränderung und Gestaltung (Grimm 1990a, 297). Dem Recht wächst infolgedessen die Funktion zu, auf eine als gerecht gedachte Sozialordnung hinzuwirken. Dies hat zur Folge, daß auch ein lediglich formaler Rechtsstaat, wenn er seine zentrale Funktion der Gewährleistung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit erfüllen will, auf die Überzeugungskraft der Gerechtigkeitsidee angewiesen ist. 7 Für das Recht resultiert aus dieser Aufgabenstellung ein doppeltes Problem: Unter den Bedingungen einer demokratisch verfaßten, pluralistischen Gesellschaft kann es kein einheitliches Verständnis darüber geben, welche Lösung einer gesellschaftlichen Steuerungsaufgabe als gerecht anzusehen ist. Unter den Bedingungen einer arbeitsteilig organisierten Industriegesellschaft sinken zudem die Möglichkeiten des Rechts, Gerechtigkeitsfragen unmittelbar mit der Kraft des Gesetzesbefehls zu entscheiden. Das Recht steht damit in zweifacher Hinsicht vor einem Balanceakt: Es muß trotz divergierender Gerechtigkeitsvorstellungen und trotz seiner begrenzten Steuerungsmöglichkeiten bei allen seinen Entscheidungen die Orientierung an der Idee materieller Gerechtigkeit aufrechterhalten.

3. Erweiterung der Steuerungsformen Der Befund, das Problem einer gerechten Sozialordnung sei immer seltener unmittelbar durch Rechtsetzung zu lösen,8 stellt das Recht vor neue Herausforderungen: Wenn sich einerseits der Glaube an die „faktische Kraft des Normativen" (v. Wangenheim 2002) immer weniger als gerechtfertigt erweist, gleichwohl aber weiterhin eine Beeinflussung des menschlichen Verhaltens erreicht werden soll, ist das Recht gezwungen, jenseits des imperativen Zwanges von anderen Steuerungsformen - insbesondere solchen aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung - Gebrauch zu machen. Dies hat das Recht bereits seit einiger Zeit getan, wenn auch oftmals in wenig reflektierter Weise.9 Sollen jedoch die Versuche des Rechts, das menschliche Verhalten im Sinne der Steuerungsziele zu beeinflussen, über ein bloßes „Probieren" nach dem Muster von Versuch und Irrtum hinausgehen, ist eine genauere Vorstellung darüber erforderlich, welche Faktoren das mensch7

Daraus ergibt sich ein Drang hin zu materialen Gerechtigkeitsgarantien, die sowohl den Prozeß der Gesetzgebung als auch den der Gesetzesanwendung beeinflussen (siehe Abschnitt I. 4.). 8 Grimm 1973 a, 7. Siehe dazu bereits Kapitel A, Abschnitt III. 1. 9 Siehe dazu die Bestandsaufnahme in Kapitel C, Abschnitt I und die Analysen von Preuß 1988, 366 (siehe bei Fn. 232) sowie Trute 1996, Schmidt-Preuß 1997 und D i Fabio 1997.

I. Rationales Recht - rationales Verhaltensmodell

223

liehe Verhalten beeinflussen. Ein solches Verhaltensmodell mag aus der klassischen Perspektive imperativer Steuerung weniger bedeutsam erscheinen, weil mangelnde Zielerfüllung durch bessere Kontrolle und verschärfte Sanktionen korrigierbar erscheint; mit der Erweiterung der Steuerungsformen müssen aber auch differenziertere Vorstellungen einhergehen über die Faktoren, die das menschliche Verhalten bestimmen. Damit stellt sich die Frage nach einer theoretischen Fundierung dieser Steuerungsformen, die ohne Kooperation mit den benachbarten Verhaltenswissenschaften nicht zu beantworten ist und auf die das Recht bislang noch keine befriedigende Antwort gefunden hat. 1 0 In dem Maße wie es dem Recht nicht mehr möglich ist, das Gerechtigkeitsproblem unmittelbar durch imperative Verhaltensvorgaben zu bewältigen, ist es gezwungen, sich anderen Steuerungsformen zuzuwenden. Wenn es für Art und Ausmaß des Einsatzes dieser Instrumente Zustimmung gewinnen will, ist das Recht zugleich gezwungen, seine Auswahl auf der Grundlage von Annahmen über die Determinanten des menschlichen Verhaltens zu begründen. Je mehr das Recht auf unvollkommene Pflichten zurückgreift, desto wichtiger wird ein genaueres Verständnis der Grundlagen menschlichen Verhaltens. Um diese zu erlangen, bedarf es eines methodischen Brückenschlages, der die normative Orientierung des Rechts mit den realwissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen verbindet. 11

4. Materielle Rationalitätskriterien des Rechts Zur Begründung seiner generellen Normen und Einzelentscheidungen stützt sich das Recht auf rationale Maßstäbe des neuzeitlichen 12 Denkens in Kausalitäten. Kennzeichnend ist die Unterscheidung zwischen Zweck und Mitteln sowie die Möglichkeit, diese nachvollziehbar in Beziehung zu setzen (Schulze-Fielitz 1996, 233). Diese Unterscheidung findet sich auch bei den materiellen Rationalitätskriterien des Rechts, die sich im wesentlichen auf zwei Grundsätze stützen. Es sind dies der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Gleichheitssatz, 13 deren gemeinsame Wurzeln im Gerechtigkeitsgedanken zu finden sind. 14 Beide stellen zunächst einmal lediglich 10 Trute (1996, 964) konstatiert „deutliche Defizite einer Theoriebildung im intermediären Bereich von staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Selbstregulierung". Siehe dazu auch Oeter 2002, der sich explizit für die Entwicklung einer „disziplinenübergeifenden HandlungsWissenschaft" ausspricht sowie Grimm (1973, 7), der das Recht vor der Aufgabe sieht, „die Komplexität der zu steuernden Sachbereiche in sich aufzunehmen". 11 Zu dieser Verknüpfungsleistung und den damit verbundenen wissenschaftstheoretischen Kontroversen siehe Albert 1993 m.w.N. sowie unten Abschnitt II. 12 Selbstverständlich kann sich das Vernunftdenken der Aufklärung auf klassische Vorbilder beziehen (siehe etwa Zippelius 1994, 28 ff./42 ff.).

224

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

ein formales Prüfungsraster bereit. Genau daraus ergibt sich aber ihre elementare Funktion bei der rationalen Abschichtung von Konfliktlagen. Beide Grundsätze erlangten in historischer Perspektive ihre besondere Ausprägung und Wirkungskraft im hoheitlichen Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Sie sollen den Einzelnen vor übermäßiger oder willkürlicher Anwendung der Staatsgewalt bewahren. Ihre Wurzeln im Gerechtigkeitsgedanken und ihr Charakter als elementare Begründungsmuster haben jedoch dazu geführt, daß sie in allen Rechtsverhältnissen, wenn auch zum Teil lediglich in eingeschränkter Form, Anwendung finden [siehe dazu Kapitel C.].

5. Grenzen materiell-rationaler Konfliktbewältigung Diese Ausrichtung auf materielle Rationalitätskriterien mag zu der Annahme verleiten, gesellschaftliche Auseinandersetzungen ließen sich allein unter Anlegung der genannten materiellen Anforderungen bewältigen. Unterstellt man in einer theoretischen Betrachtung die Abwesenheit von Erkenntnisproblemen und Wertungsdifferenzen, erscheint es möglich, gesellschaftliche Konflikte unmittelbar aus der Anwendung materiellen Rationalkalküls aufzulösen. Dies könnte dazu führen, daß letztlich nur noch eine Lösung in Betracht kommt; nämlich diejenige, die nicht gegen das Gleichbehandlungsgebot verstößt und die Prüfungsfolge des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in allen drei Stufen erfolgreich durchlaufen hätte. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind die unterstellten Voraussetzungen allerdings nicht gegeben. Defizite in der Sachverhaltsermittlung und Unsicherheiten in der Verhaltensprognose lassen sich nur zu einem gewissen Grade, keinesfalls aber vollständig beheben. Wertungsdifferenzen werden in einer pluralistischen Gesellschaft immer bestehen. Die genannten Voraussetzungen können daher nur in einer reinen Modellwelt als gegeben unterstellt werden. Eine darauf aufbauende Vorstellung kann - auch wenn sie in der Theorie „durchzuspielen" sein mag - einer rechtlichen Strukturbildung nicht zugrundegelegt werden. Diese muß vielmehr so beschaffen sein, daß sie in der Lage ist, die real vorhandenen Konflikte unter den gegebenen Restriktionen zu bewältigen. Ein Rationalitätskonzept, welches sich allein auf materielle Kriterien stützt, scheidet infolgedessen aus und damit alle Ansätze, die unter Zugrundelegung wirklichkeitsfremder Annahmen dazu tendieren, die genannten Voraussetzungen als gegeben zu betrach13

Zu deren Funktion im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung und den Möglichkeiten des Einsatzes der Ergebnisse ökonomischer Analyse siehe Kapitel E, Abschnitt III. 14 BVerfGE 3, 58/135 - Beamtenversorgung. Siehe auch Stem 1988, 1495 f. m. w.N.

I. Rationales Recht - rationales Verhaltensmodell

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ten. Die in der realen Anwendung notwendig defizitären materiellen Rationalitätskriterien bedürfen daher der Ergänzung durch Elemente prozeduraler Rationalität [siehe Kapitel E, Abschnitt III. 3. b)].

6. Ergebnis Der Staat muß sich aufgrund der veränderten Steuerungserwartungen und der Eigenarten der Steuerungsgegenstände von der Vorstellung verabschieden, Gerechtigkeitsfragen vorrangig durch imperative Grenzziehungen auf hierarchischem Wege zu lösen. Bei abnehmender „Gesetzesunmittelbarkeit" muß er vermehrt auf andere, mittelbar wirksame Formen der Verhaltensbeeinflussung zurückgreifen. Auch in der Anwendung dieser Handlungsformen aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung beruht das staatliche Handeln weiterhin „auf der generellen Erwartung vernünftigen, normativ lenkbaren Individualverhaltens und auf der Stimulierbarkeit der Privatinitiative" (Denninger 1979, 187). Der Grad an Anerkennung, den das Recht genießt, ergibt sich unter diesen Bedingungen nicht vorrangig aus der theoretischen Überzeugungskraft, die aus einer methodisch gelungenen rechtsimmanenten Systembildung resultieren mag; vielmehr kommt es vor allem darauf an, ob das Recht die ihm entgegengebrachten Steuerungserwartungen auch einlöst. Entscheidend ist dabei, daß die Ergebnisse rechtlich vermittelter Entscheidungsprozesse mit den daraus erwachsenden Wirkungen auf das tatsächliche Verhalten der jeweiligen Adressaten vor dem Leitbild rational vermittelbarer Gerechtigkeit zustimmungsfähig sind. Dem Postulat der Rationalität des Rechts ist nicht bereits dann genüge getan, wenn das normative System in sich als kohärent zu bezeichnen ist; es ist vielmehr darauf gerichtet, soziale Kooperation dauerhaft zu ermöglichen und für auftretende Konflikte Entscheidungsregeln und -verfahren bereitzustellen. Das Recht zielt demgemäß darauf ab, das menschliche Verhalten so zu beeinflussen, daß sich soziale Interaktionen in gesellschaftlich erwünschten Bahnen bewegen. Das normative System des Rechts ist kein Selbstzweck, sondern darauf angelegt, „positive" Wirkungen im realen Verhalten der Regelungsadressaten zu erzielen. Beide Rationalitätsebenen - die „Makro-Ebene" rechtlich vermittelter gesellschaftlicher Regelformulierung und Einzelfallentscheidung ebenso wie die „Mikro-Ebene" des Individualverhaltens - sind unmittelbar aufeinander bezogen: Rechtliche Rationalität hat sich vor der Vernunft der Individuen zu bewähren. 15 Dies wird überzeugender gelingen, wenn sich die Auswahl 15 Diese „Bewährungsprobe" erfolgt zum einen im Rahmen des demokratischen Willensbildungsprozesses, also im Diskurs mit und in der Gesellschaft; zum anderen aber auch im Wechselspiel zwischen den Organen des Staates etwa im Rahmen

15 Führ

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D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

unter verschiedenen rechtlichen Gestaltungsoptionen auf ein Modell rationalen Individualverhaltens stützen kann, da sich auf dieser Grundlage intersubjektiv nachvollziehbare Analysen und Prognosen erstellen lassen.

I I . Auf dem Weg zu einer Verhaltenstheorie für das Recht Zur Stützung der These, das Recht benötige für seine Gestaltungsentscheidungen ein Modell menschlichen Verhaltens, läßt sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht heranziehen, die vom Gesetzgeber verlangt, sich mit den „tatsächlichen Verhältnissen" auseinanderzusetzen [Abschnitt II. 1.]. Wenn rechtliche Gestaltungsentscheidungen auf Ergebnisse der Verhaltenswissenschaften zu stützen sind, erfordert dies eine interdisziplinäre Verständigung, die auf Seiten der Juristen verlangt, den normativen Rahmen zu überschreiten und das juristische Denken für Ansätze realwissenschaftlicher Verhaltensanalyse zu öffnen [Abschnitt II. 4.]. Sodann ist zu fragen, welche Anforderungen an ein Verhaltensmodell zu richten sind. Hier ist dem normativen Menschenbild des Rechts ebenso nachzugehen [Abschnitt II. 2.] wie den Ansätzen im Rahmen der Rechtswissenschaft, Verhaltensmodelle zu entwickeln [Abschnitt II. 3.]. Die Verhaltenstheorie ist angesiedelt an der Schnittstelle zwischen normativem Anspruch und realer Steuerungsleistung. Das zu entwickelnde Modell hat die Funktion, eine realwissenschaftliche Analyse verhaltensbestimmender Parameter zu ermöglichen und der darauf aufbauenden Wirkungsprognose methodische Konsistenz zu verleihen. Es stellt damit das Fundament für die Anwendung der Rationalitätskriterien des Rechts bereit. Die Modellansätze sind dementsprechend daraufhin zu befragen, inwieweit sie in der Lage sind, die „Vermittlungsleistung" zwischen realwissenschaftlichen und normativen Aspekten zu erbringen.

1. Juristische Forderungen nach Realanalyse Daß der Gesetzgeber vor seinen Entscheidungen eine „sozialwissenschaftlich abgesicherte Realanalyse der zu ordnenden Lebensverhältnisse" (Denninger 1975, 546) durchzuführen hat, ist dem Text des Grundgesetzes nicht explizit zu entnehmen. Diese Forderung ist jedoch so grundlegend, daß sie auch ohne textliche Erwähnung Gültigkeit beanspruchen kann. Sie verfassungsgerichtlicher Auseinandersetzungen. Die Geltungskraft und Reichweite der dabei heranzuziehenden Rationalitätskriterien ist dabei jedoch im Hinblick auf die jeweiligen hoheitlichen Funktionen unterschiedlich ausgeprägt [siehe Kapitel E, Abschnitt III. 3. c)].

II. Auf dem Weg zu einer Verhaltenstheorie für das Recht

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ergibt sich unmittelbar aus dem Rationalitätsanspruch des Rechts: Das Bundesverfassungsgericht entwickelt sie aus den beiden elementaren materiellen Rationalitäts-Kriterien, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und im Gleichheitssatz. Zwischen beiden besteht auch in dieser Hinsicht ein enger innerer Zusammenhang: „Der Gleichheitssatz und das Übermaßverbot haben gemeinsam, daß sie ein rechtliches Maß suchen und ein Gleichgewicht herstellen können, deshalb die Meßbarkeit staatlichen Handelns voraussetzen und jede staatliche Maßnahme als rationalen Akt des Maß-Nehmens verstehen". 16 Dieser „ A k t " bedarf einer entsprechenden Grundlage, was verlangt, daß die „gestaltende und regelnde Staatsgewalt die im Regelungsgegenstand vorgefundenen rechtlichen und tatsächlichen Ordnungsstrukturen aufnimmt und als Rechtfertigungsgrund für Gleichstellung oder Unterscheidung wertet" (Kirchhof 1992, Rn. 205). Beide materiellen Grundsätze verlangen also eine Realanalyse, die von den Staatsgewalten prozedural abzuarbeiten ist. Die Anforderungen, die eine derartige Realanalyse zu erfüllen hat, lassen sich exemplarisch verdeutlichen an den Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht für den Prozeß der Gesetzgebung entwickelt hat. Der Gesetzgeber hat danach die Entwicklung der tatsächlichen Problemlage zu beobachten (Beobachtungspflicht), wobei er sich auf empirische Erhebungen zu stützen hat (Ermittlungspflicht). 17 In den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht nachzuprüfen, ob der Gesetzgeber den für seine Regelung erheblichen Sachverhalt ermittelt und dem Gesetz zugrunde gelegt hat" (BVerfGE 86, 90/108 f. - Rück-Neugliederungsgesetz). „Der Gesetzgeber ist dabei gehalten, sich über die tatsächlichen Grundlagen seiner Abwägung aufgrund verläßlicher Quellen ein eigenes Bild von den tatsächlichen Verhältnissen (...) zu verschaffen (...); er darf sich nicht mit Berichten von interessierter Seite begnügen" (BVerfGE 86, 90/112 - Papenburg; Hervorhebung im Original).

Dabei reicht es nicht, lediglich die gesetzlichen Vorschriften zu analysieren. Vielmehr sind die realen Bedingungen der Anwendung der Vorschriften in den Blick zu nehmen. Dementsprechend hat der Gesetzgeber dafür zu sorgen, daß „die für die Beurteilung der Wirkungen des Gesetzes not16

Kirchhof (1992, Rn. 161); der im weiteren die Ansicht vertritt, die beiden Grundsätze seien materiell gegenläufig: Während das Übermaßverbot den Gebrauch der Freiheit schützen solle, weise der Gleichheitssatz auf die Grenzen der Freiheit, die sich aus der gleichen Freiheit anderer ergäben (a.a.O., Rn. 162). Hinzufügen ist die Erkenntnis, daß bei der rechtstechnischen Bewältigung von Ingerenzproblemen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch auf der Gleichordnungsebene eine entscheidende Rolle spielt [siehe Kapitel E, Abschnitt III. 2. b)] sowie Führ 1998b, 23 ff.). 17 BVerfGE 49, 89/132 - Kalkar. BVerfGE 86, 90 - Rück-Neugliederungsgesetz; dazu Huber/Kohnen 1994, 83 f. 15*

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D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

wendigen Daten planmäßig erhoben, gesammelt und ausgeweitet werden". 1 8 Auf der Grundlage der Sachverhaltsermittlung hat die Legislative Prognosen über die zukünftige Entwicklung zu erstellen (Prognosepflicht), die die Grundlage für eine Bewertung der Konstellation bildet (Bewertungspflicht). Daraus kann sich die Pflicht ergeben, gesetzgeberisch tätig zu werden (Handlungspflicht), und zwar in einer Weise, die - unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter - sicherstellt, daß eine tatsächlich wirksame Erreichung der Handlungsziele gewährleistet wird. 1 9 Wird der Gesetzgeber tätig, ist er gehalten, seine Regelungsziele 20 und die seiner Abwägung zugrundeliegenden Annahmen und Wertungen offenzulegen (Begründungspflicht). Die Begründung schafft die Grundlage für eine Prüfung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Ossenbühl 1976, 501 und 504 ff.), wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Kapazitätsverordnung ausgeführt hat: 2 1 „Eine solche Inhaltskontrolle setzt voraus, daß die Annahmen und Wertungen des Normgebers, die seine Abwägung bestimmt haben" im gerichtlichen Verfahren „offengelegt" werden. 22 Die Beobachtungspflicht läßt sich auch als verfassungsrechtlich begründete Pflicht zur „Gesetzesevaluation" bezeichnen (Höland 1994, 374 f.). Der Gesetzgeber hat den vorhandenen Stand an Gesetzen regelmäßig empirisch daraufhin zu überprüfen, ob er den verfassungsrechtlichen Anforderungen noch entspricht (Huber 1992, 376). Die damit verankerte Rückkopplung der Rechtswirklichkeit schafft die Grundlagen für einen prozedurali18 BVerfGE 88, 203/310 - Schwangerschaftsabbruch II; siehe auch BVerfGE 39, 210/226. Dazu auch Papier 1994, Rn. 312 ff. 19 Zusammenfassend BVerfG vom 29.11.1995 - 1 BvR 2203/95 - NJW 1996, 651 (Ozon). Kritisch zur restriktiven Anwendung im konkreten Fall Steinberg 1998, 329 ff. 20 Diese weisen allerdings oftmals nicht klar in eine Richtung, sondern sind in sich widersprüchlich - offen ist bislang, wie dieses Problem methodisch zu bewältigen ist (siehe dazu bei Fn. 232). 21 BVerfGE 85, 36/57 - KapazitätsVerordnung; siehe dazu auch Huber/Kohnen, 1994, 80 ff. Die Entscheidung betrifft zwar den Erlaß einer Verordnung, die Grundüberlegungen dürften aber in gleicher Weise auf den Erlaß von Gesetzen zutreffen; siehe etwa die Rück-Neugliederungsentscheidung, wo das Gericht vom Gesetzgeber fordert, dem Adressaten, „die Gründe nachvollziehbar" mitzuteilen, die ihn zu seiner Regelung veranlassen; BVerfGE 86, 90/110. 22 Den Normgeber trifft insoweit eine „Darlegungslast". War die Norm „nicht von vornherein mit einer Begründung versehen, die die maßgebenden Gesichtspunkte deutlich macht, muß die Entstehungsgeschichte nachträglich rekonstruierbar sein" (BVerfGE 85, 36/57 - Kapazitätsverordnung) Begründungslücken oder Fehler des Ableitungszusammenhangs können den Schluß nahelegen, daß materielle Defizite bestehen, die im Ergebnis die Verfassungswidrigkeit der Norm begründen können.

II. Auf dem Weg zu einer Verhaltenstheorie für das Recht

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sierten „Lernprozeß" des Gesetzgebers (Hill 1995, 85): Er hat jeweils erneut zu fragen, ob die Annahmen im Hinblick auf die tatsächliche Entwicklung, die der ursprünglichen Abwägung zugrundelagen, noch zutreffend sind 2 3 und ob sich aus den Abweichungen Anlaß für eine Anpassung des Regelungskonzeptes ergibt. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, daß sich die in den Legitimationsgrundlagen des Rechts wurzelnde Forderung nach rationaler Begründung gesetzgeberischer Entscheidungen in einem durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht weiter konkretisierten Anforderungsprofil niedergeschlagen hat. Vom Gesetzgeber wird eine permanente, empirisch fundierte Realanalyse gefordert; offen bleibt aber, auf welcher methodischen Grundlage diese zu erfolgen hat. Da es darum geht, die tatsächlichen Wirkungen des bestehenden Rechts auf das Verhalten der Regelungsadressaten zu erfassen und auf dieser Grundlage Prognosen möglicher alternativer Regelungsoptionen zu erstellen, muß der theoretische Ansatz jedoch in der Lage sein, die jeweiligen Auswirkungen auf das Verhalten der Individuen abzubilden.

2. Das Menschenbild im Recht Für den Fall, daß im Recht ein spezifisches Menschenbild verankert ist, sollte ein rechtswissenschaftlichen Kriterien angemessenes Verhaltensmodell mit diesem Bild in seinen wesentlichen Zügen übereinstimmen. Wenn im juristischen Kontext vom „Menschenbild" die Rede ist, dann sind damit in aller Regel normative Aussagen verbunden. Dies gilt auch für die bekannte Formel des Bundesverfassungsgerichts. 24 Bereits die Bezeichnung „Menschenbild-Formel" dürfte allerdings für die zitierte Formulierung etwas hoch gegriffen sein, denn hier wird weniger ein umfassendes Menschenbild entwickelt als vielmehr eine Aussage zur sozialen Einbindung der Person gemacht. Diese bleibt zudem inhaltlich unspezifisch, denn über das Maß der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit finden sich dort keine Angaben. 25 Statt von „Menschenbild" sollte man zutreffender von dem verfassungsrechtlich intendierten Verhältnis des einzelnen zur Gemeinschaft im Sinne eines normativen Leitbildes sprechen, um Verwechslungen mit einem empirischen oder anthropologischen Menschenbild zu vermeiden. Aber auch das normative Leitbild bleibt in seinen Konturen 23

BVerfGE 82, 126/153 - Arbeiter-Kündigungsschutz. BVerfGE 04, 7 ff. u. 15 f. - Investitionshilfe. Siehe dazu bereits Kapitel C, Abschnitt IV. 2. b) dd) mit den dort wiedergegebenen Zitaten. 25 Es handelt sich damit um „hochabstrakte Leer-Begriffe" (Denninger 1973, 22). Zur Funktion dieser Begriffe in der weiteren Rechtsprechung siehe Baer 1999, 13 ff. 24

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unscharf, da es über Art, Ausmaß und Instrumentierung der Sozialbezüge nichts aussagt. Diese begrifflichen und inhaltlichen Einschränkungen ändern aber nichts daran, daß die Formel - vor allem im Kontrast zu (alt-) liberalen Freiheitsvorstellungen 26 - eine Signalwirkung entfaltete, zumal sie sich als programmatische Aussage des Gerichts verstehen ließ. In dieser Funktion 27 beeinflußte sie die Entwicklung in der Gesetzgebung und deren Rezeption in Rechtsprechung, Verwaltungspraxis und Wissenschaft (Häberle 1987, Rn. 27). Versucht man, diese Entwicklung bilanzierend zusammenzufassen, dann zeigt sich als Leitbild der Typus des Menschen als „Person": eines Wesens von unverfügbarem Eigenwert, das zur freien Entfaltung bestimmt, zugleich gemeinschaftsbezogen und gemeinschaftsgebunden und darum auch berufen ist, menschliches Zusammenleben verantwortlich mitzugestalten. 2 8 Auch für dieses Bild der Person gilt jedoch, daß es nur wenige klare Konturen aufweist und fallweise in der einen oder anderen Richtung konkretisierungsbedürftig ist. Damit ist bereits die normative Orientierungswirkung des Leitbildes relativ schwach ausgeprägt. Als Muster für eine „positive" Modellbildung ist es zu wenig konturenscharf. Festzuhalten bleibt lediglich, daß ein rein „selbstherrliches Individuum" nicht zur Grundlage einer Modellbildung zu machen ist.

3. Verhaltensmodelle in der Rechtswissenschaft Aus der normativen Perspektive des Rechts ist es verständlich, daß die Auseinandersetzung mit realwissenschaftlichen Fragen nicht im Mittelpunkt des disziplinären Erkenntnisprogramms steht. Dennoch hat sich die Rechtswissenschaft in den verschiedenen Epochen immer wieder mit Methoden und Erkenntnissen der benachbarten (Verhaltens-) Wissenschaften auseinandergesetzt. 29 Die Ergebnisse dieser Rezeption und gelegentlicher Koopera26

Siehe dazu Denninger 1979, 182 ff. sowie Kapitel B, bei Fn. 112. Das Bild des Menschen, von der die Rechtsordnung ausgeht, hat in den verschiedenen Epochen der Rechtsentwicklung gewechselt (Stern 1988, 6 ff. und 71 ff.). Nach Auffassung von Radbruch (1957, 9) ist es sogar der Wechsel des jeweils prägenden Bildes vom Menschen, der in der Geschichte des Rechts „Epoche macht": „Nichts ist so entscheidend für den Stil eines Rechtszeitalters wie die Auffassung vom Menschen, an der es sich orientiert." Welche Auffassung vom Menschen und der ihm zukommenden Stellung in einer Rechtsordnung bestimmend ist, werde deutlich, „wenn man sein Augenmerk darauf richtet, was sie zum subjektiven Recht, was sie zur Rechtspflicht gestaltet hat" (Radbruch 1957, 10). In diesem Sinne läßt sich auch die in dieser Arbeit unternommene Analyse von Regelungsmustern aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung interpretieren: Die Beobachtung, wonach das Recht verstärkt auf diese Regelungsform zurückgreift, kennzeichnet die Entwicklung hin zu einem „responsiven Recht"; siehe dazu Kapitel A, Abschnitt II. 3. 28 Hesse 1988, 43. Siehe dazu auch Denninger 1967, 94. 27

II. Auf dem Weg zu einer Verhaltenstheorie für das Recht

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tion blieben allerdings innerhalb der Rechtswissenschaften eher „randständ i g " . 3 0 Weder der Rechtsanthropologie noch der Rechtssoziologie oder der „Rechtsökonomie" gelang es, bis in den Kernbestand der disziplinären Identität vorzudringen. Auch wenn in diesen Randbereichen der Jurisprudenz vereinzelt Ansätze einer Verhaltensmodellierung zu erkennen sind, blieben sie für das disziplinäre Selbstverständnis und die professionelle Praxis weitgehend folgenlos. Dieser Befund ist insofern überraschend, als es wohl kaum eine neue Erkenntis darstellt, „daß ein Wissen vom rechtlichen Sollen des Menschen ohne Kenntnis des menschlichen Seins, d.h. ohne eine juristische Anthropologie nicht möglich ist" (Wieacker 1952, 338). In den letzten Jahrzehnten waren daher immer wieder Versuche zu beobachten, ausgehend von der Empirie benachbarter Wissenschaften ein umfassendes Bild des Menschen in seinen Bezügen zum Recht zu entwickeln. 31 Diese Ansätze widmen sich allerdings nur zum geringeren Teil der Suche nach einem Modell, welches für die Analyse und Prognose der Auswirkungen rechtlicher Gestaltungsoptionen Hilfestellung bereit hält. So bemüht sich etwa die Rechtsanthropologie darum, bedeutsame Wesenszüge des Rechts vor dem Hintergrund eines integrierten Menschenbildes zu ergründen. Dabei geht es - losgelöst von konkreten empirischen Fragestellungen 32 - um die Frage nach dem Wesen des Rechts und dem Sinn der Gerechtigkeit (Würtenberger 1972, 21). Die möglichen Antworten sind zwangsläufig von einem hohen Grad an Allgemeinheit gekennzeichnet. Die Entwicklung eines prognosetauglichen Modells für konkrete Auswahlentscheidungen gehört jedenfalls nicht zum Erkenntnisprogramm der Rechtsanthropologie. 33 29

Dies gilt für das angelsächsische, von case-law Traditionen geprägte Recht in verstärktem Maße; siehe Czada 2002, 34. 30 Dieser Befund ist insoweit überraschend als in Rechtsprechung (siehe Abschnitt II. 1.) und Literatur (siehe - neben den im folgenden geannten Nachweisen etwa Hesse 1959, 10 ff. und 19; dazu in Fn. 50) immer wieder auf die Angewiesenheit von Rechtsgestaltung, -anwendung und -Wissenschaft von den Realwissenschaften hingewiesen wird. 31 Siehe zu derartigen Ansätzen etwa - aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven - Denninger 1967, Schelsky 1970, 57 ff. und Würtenberger 1972, 16 ff. sowie - mit dem Versuch, die verschiedenen Ansätze der Verhaltenswissenschaften zu einer „Rechtsethologie" zusammenzuführen - Hof 1996, 14 ff. 32 Positiv läßt sich dies mit der Wendung umschreiben: „Seine Vollendung erfährt das rechtsanthropologische Erkenntnisstreben jedoch erst in der Philosophie" (Würtenberger 1972, 16). Würtenberger bringt auch die zahlreichen, sachlich meist überzeugenden Einwände Erik Wolfs (1966) gegen einen derartigen Ansatz zur Sprache (ibd.). 33 Es ist daher naheliegend, Rechtsanthropologie nicht in erster Linie analytisch zu verstehen, sondern aus ihr übergreifende Grundmuster abzuleiten, die zu einem besseren Verständnis des Rchts und seiner verhaltensbeeinflussenden Wirkung beitragen sollen (Hof 1996). Der Ansatz mündet damit im Ergebnis in normative Aussagen. So versucht Lampe in seiner Rechtsanthropologie eine aus der Bedürfnis-

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D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

Eine als „Rechtsethologie" bezeichnete, den anthropologischen Ansatz erweiternde Forschungsrichtung (Hof 1996) widmet sich den Wechselbeziehungen zwischen menschlichem Verhalten und rechtlicher sowie außerrechtlicher Verhaltensregelung. Ausgehend von „Elementarbausteinen des Verhaltens", wie sie sich nach den Ergebnissen der verschiedenen Verhaltenswissenschaften darstellen, fragt dieser Ansatz nach allgemeinen „Schlüsselwertungen", aus denen sich ein „elastisches System der Verhaltensregelung" ableiten lasse. 34 Ein eigenständiges Verhaltensmodell hat sich aus diesem Ansatz bislang nicht entwickelt. 35 Innerhalb der Soziologie sind eine Vielzahl unterschiedlicher Versuche zu beobachten, sich dem Recht und seiner gesellschaftlichen Funktion und Wirkung zu nähern. Zu nennen sind zunächst Ansätze, die darauf gerichtet sind, die „Funktion des Rechts" - sei es aus systemtheoretischer, sei aus einer stärker vom einzelnen Individuum ausgehenden Perspektive - zu bestimmen. Die Arbeiten zielen darauf ab, generelle gesellschaftliche Phänomene zu analysieren bzw. in Fortentwicklung rechtsanthropologischer Ansätze übergreifende „Leitideen" des Rechts zu formulieren. 36 Die dabei zu erzielenden Ergebnisse bleiben, wie Naucke (1970, 496) kritisch einwendet, auf einer „esoterischen begrifflichen Ebene", die zwar möglicherweise elegante Theorienbildung erlaube, 37 allerdings sowohl für den Wissenschaftsund Lehrbetrieb als auch für Rechtsgestaltung und Rechtsanwendung folgenlos bleibe. Mittlerweile gibt es jedoch auch innerhalb der Soziologie weiter entwikkelte Ansätze, die darauf gerichtet sind, die Wirkungen von Rechtsnormen zu erklären. Die Rechtssoziologie unterscheidet die zwangsweise, unter Einschaltung des justizförmigen „Rechtsstabes" erfolgte „Normdurchsetzung" von der „Normbefolgung", die zwar im Lichte der drohenden Zwangsmittel, aber doch ohne deren aktuellen Einsatz und damit „freiwillig" erstruktur des Menschen hergeleitete Reformulierung des Grundrechtskataloges (Lampe 1970, 354 ff.). 34 Hof 1996, 25 ff. und 361 ff. Das durch Hof beschriebene „elastische System" weist dabei eine ganze Reihe von Bezügen zu den hier entwickelten Überlegungen zu der Kategorie der Eigen-Verantwortung auf; es ist allerdings auf einer abstrakteren analytischen Ebene angesiedelt. 35 Soweit darin auf ein „Menschenbild" Bezug genommen wird, erfüllt dieses eine normative Funktion; es hat die Aufgabe, die verschiedenen Schlüsselwertungen in einer konkreten Situation zusammenzuführen (Hof 1996, 365). 36 Siehe dazu die Beiträge in Lautmann/Maihofer/Schelsky 1970, insbesondere diejenigen von Luhmann und Schelsky. 37 Kritisch zu diesen Ansätzen - und deren Heranziehung zur Begründung einer vermeintlichen Regelungskrise - auch Rottleuthner 1987, 55 f., der dafür plädiert, die „hochabstrakte Theoriediskussion auf die Ebene empirischer Überprüfbarkeit zu ziehen".

II. Auf dem Weg zu einer Verhaltenstheorie für das Recht

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folge. 38 Zur Erklärung normbefolgenden Verhaltens werden drei „Motivkomplexe" herangezogen. 39 Zunächst komme in Betracht, daß sich der Normadressat an einer Nutzen-Kosten-Analyse orientiere. Er werde sich dann normgemäß verhalten, wenn die Wahrscheinlichkeit einer negativen Sanktionierung durch den Rechtsstab und deren Kosten für ihn höher sind als der Nutzen, der aus einem Normbruch zu erwarten sei. Die Rechtssoziologie bedient sich also der Modellannahmen des homo oeconomicus. 40 Sie weist aber zugleich darauf hin, daß dieser Erklärungsansatz nur dann in Betracht kommt, wenn der Adressat die Rechtsnorm kennt und er sich bewußt - wenn auch möglicherweise unter falschen Voraussetzungen - für oder gegen den Normbruch entscheide, was erfahrungsgemäß nur in wenigen Rechtsbereichen festzustellen sei. 41 Der zweite Motivationskomplex beruhe auf der Orientierung am Verhalten von Bezugsgruppen oder von individuellen Vorbildern. Die Normbefolgung soll sich hier auf „Identifikation" stützen. Im gleichen Zusammenhang ist aber auch davon die Rede, die Normwirksamkeit beruhe auf „sozialer Interdependenz"; 42 womit allerdings der Bereich bloßer Imitation oder Identifikation überschritten ist und andere Formen sozialer Reaktion auf norminadäquates Verhalten (also auch solche, die nicht der Rechtsstab vermittelt) mit eingeschlossen sind. Diese Reaktionen und ihr Stellenwert im jeweiligen Beziehungsgefüge des Einzelnen müßten dann aus Gründen der Modellkonsistenz - ebenso wie jene im ersten Motivationskomplex - Gegenstand einer Nutzen-Kosten-Analyse sein. Der dritte Motivationskomplex sei gekennzeichnet durch eine „wahrhaft freiwillige" Befolgung des Rechts, die deshalb stattfinde, weil die „Richtigkeit" des Regelungsgehaltes innerlich bejaht und zum Bestandteil der moralischen Orientierung gemacht werde. 43 Ein Verstoß hiergegen rufe Angstgefühle hervor und führe zu Schuldreaktionen wie Selbstkritik und Selbstbestrafung (M. Rehbinder 1993, 173 f.). Welcher der drei Motivationskomplexe im Einzelfall die Normbefolgung bewirke, sei abhängig von der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur des Adres38 M. Rehbinder 1993, 171. Raiser (1995, 260) wendet diese Unterscheidung ebenfalls an, spricht aber von „Sanktionsgeltung" und „Verhaltensgeltung". 39 M. Rehbinder 1993, 171 ff. (unter Verweis auf Galbraith 1967, 130 ff.). 40 Siehe dazu Abschnitt III. 3. 41 Röhl 1987, 252 ff.; M . Rehbinder (1993, 172 unter Verweis auf Diekmann 1980) nennt als Beispiele für Rechtsbereiche, in denen die Normeinhaltung wesentlich auf der Sanktionierung beruhe, das Steuerrecht und das Straßenverkehrsrecht. 42 M. Rehbinder 1993, 172 f. (unter Verweis auf Geiger 1987, 8 ff. u. 40 ff.). 43 Dieser Vorgang dürfte entwicklungspsychologisch ganz wesentlich auch auf dem Wege der Imitation und Identifikation - also über Motivationsfaktoren, die dem zweiten Komplex zugeordnet wurden - erfolgen.

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säten sowie von der „subjektiven Widerspiegelung des Rechts in seiner Psyche", also von Rechtskenntnis, Rechtsbewußtsein und Rechtethos. 44 Im Hinblick auf die Frage nach den zugrundeliegenden Verhaltensmodellen läßt sich feststellen, daß es sich hier um Erklärungsansätze auf der Basis des methodologischen Individualismus handelt. Während der erste Motivationskomplex (Nutzen-Kosten-Analyse anhand der erwarteten unmittelbaren positiven und negativen Sanktionen) ebenso wie der dritte (Normbefolgung kraft moralischer Orientierung) klar umschrieben ist, gilt dies für den zweiten Komplex nur eingeschränkt: Zu groß erscheint die motivationeile Spannbreite zwischen einer Orientierung an Identifikationspersonen bzw. „peer groups" und der Vielfalt „sozialer Interdependenz". Wie bereits angesprochen, müßte man für diese sozialen Reaktionen ebenfalls eine Nutzen-Kosten-Analyse annehmen. Dann aber wachsen die beiden ersten Motivationskomplexe sachlich und methodisch zusammen und in die NutzenKosten-Analyse sind lediglich unterschiedliche Parameter einzustellen. 45 Neben dem auf dieser Weise zusammengefaßten, durch positive oder negative Anreize außengeleiteten Motivationskomplex bleibt dann der Komplex „innengeleiteter", allein auf der Anerkennung der Verhaltensregeln beruhenden Motivation. Zusammenfassend läßt sich damit festhalten, daß die methodischen Grundlagen einer konsistenten Modellierung menschlichen Verhaltens im Rahmen der Rechtswissenschaft bislang kaum thematisiert wurden. Soweit sich die Rechtssoziologie mit diesen Fragen befaßt, hat sich daraus bislang kein abgeschlossenes und allgemein anerkanntes rechtssoziologisches Modell ergeben, welches die Faktoren zusammenführt, die für die Wirksamkeit von Rechtsnormen von Bedeutung sind. 46 Auch wenn es an einem Gesamt44 Damit wird eine zweite begriffliche Ebene eröffnet, die sich mit den „Motivationskomplexen" partiell überlagert. 45 In diesem Sinne entwickelt Rottleuthner (1987, 63 ff.; in Anlehnung an Opp 1973 und Diekmann 1980) ein rechtsoziologisches Handlungsmodell, welches er selbst als „utilitaristisch" kennzeichnet und in dem allgemein von Kosten und Nutzen die Rede ist statt von positiven und negativen Sanktionen. Allerdings geht sein Modell, wie Rottleuthner einschränkend feststellt (1987, 71), von einer „dyadischen Beziehung" zwischen Gesetzgeber und Normadressat aus und läßt die sozialen Beziehungen (also Anreize aus dem zweiten Motivationskomplex) unberücksichtigt. Diese Einschränkung ist aber keineswegs zwingend; vielmehr läßt sich die NutzenKosten-Analyse auch auf diesen Bereich erweitern. Für die vorliegende Fragestellung nur bedingt geeignet ist das von Ryffel (1974, 252) entwickelte „Modell wirksamen Rechts", da es einen normativen Ausgangspunkt wählt. 46 Raiser 1995, 275 mit Nachweisen zu den verschiedenen zusammenfassenden Darstellungen. Eidenmüller (1999, 55) gelangt zu dem Ergebnis, der Ertrag der Rechtssoziologie sei „bis heute gering geblieben", da sie nicht über eine „adäquate Theorie der Wirkung von Rechtsnormen in der Realität" verfüge.

II. Auf dem Weg zu einer Verhaltenstheorie für das Recht

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modell fehlt, liegen doch immerhin eine Reihe von Teilbeiträgen vor, deren Gemeinsamkeiten im methodischen Individualismus sowie in der Annahme folgenkalkulierenden Verhaltens gemäß dem rational choice-Paradigma zu sehen sind.

4. Rechtswissenschaft und Verhaltenswissenschaften Wenn das Recht in der Lage sein will, die Anforderungen zu bewältigen, die sich aus seinem Rationalitätsanspruch ergeben, ist es nach den Ergebnissen der bisherigen Überlegungen unvermeidlich, die normative Perspektive zu überschreiten. Diese Perspektive war jedoch für Juristen über lange Zeit hinweg prägend. Die Forderung, sie zu verändern, wird daher leicht als „Störung" empfunden. Dies mag mit dem Phänomen disziplinärer Identitatsbildung 47 zusammenhängen: Die Wahrnehmung von Juristen konzentrierte sich über Generationen von hinweg stark auf das normative System, was zu einem entsprechenden „Denkstil" 4 8 geführt haben dürfte. Die Sozialisation in einen Denkstil geschehe, so die Analyse von Fleck, durch „Tradition, Erziehung und Gewöhnung", die „eine Bereitschaft für stilgemäßes, d.h. gerichtetes und begrenztes Empfinden und Handeln" hervorrufe (Fleck 1980, I I I ) . 4 9 Der normative, oftmals auf Binnenrationalität im juristischen System verengte Denkstil der Rechtswissenschaften harmoniert nicht ohne weiteres - um es zurückhaltend auszudrücken - mit den Denkstilen in den Verhaltenswissenschaften, was die interdisziplinären Verständigungsschwierigkeiten jedenfalls zum Teil erklären dürfte.

47 Zu der Frage, inwieweit disziplinäre Identität als Voraussetzung bzw. als Hemmnis der Kooperation zwischen den Disziplinen zu betrachten ist, siehe Czada

2002. 48

Der Begriff nimmt Bezug auf die wissenschaftstheoretischen Arbeiten von Ludwig Fleck, wie er sie vor allem am Beispiel der Medizin und deren Verhältnis zu den Naturwissenschaften entwickelt hat. In seiner Abhandlung „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache" entfaltet Fleck eine „Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv" (Fleck [1935] 1980). Für Fleck besteht der Denkstil, „wie jeder Stil, aus einer bestimmten Stimmung und der sie realisierenden Ausführung. Eine Stimmung hat zwei eng zusammenhängende Seiten: sie ist Bereitschaft für selektives Empfinden und für entsprechend gerichtetes Handeln. Wir können also Denkstil als gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen, definieren" (Fleck 1980, 130). Auf die Arbeiten von Reck stützen sich später die wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Thomas Kuhn (siehe dazu am Ende dieses Abschnitts im Text), der ausdrücklich darauf verweist, Reck habe viele seiner Gedanken vorweggenommen (Kuhn 1976, 8). 49 Die Arbeiten von Reck lassen sich auch verstehen als Vorläufer einer institutionellen Verhaltenstheorie, die sich den habituellen und kognitiven Einflußfaktoren auf das Verhalten von Gruppen widmet (siehe dazu Abschnitt III. 4.).

236

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

Die an das Recht gerichteten Rationalitätsanforderungen schließen es aus, Rechtswissenschaft aussschließlich aus sich selbst heraus zu verstehen. Die mit der „reinen" Rechtslehre verbundene Vorstellung, die Autarkie der Rechtswissenschaft sei Bedingung für die Objektivität ihrer Resultate und es gelte, die juristische Erkenntnis von allen fremden Einflüßen zu reinigen, erweist sich als eine Fiktion, die zwar innerhalb des „Denkkollektivs" der Juristen eine fortdauernde Anziehungskraft ausüben mag, die gesellschaftliche Geltungskraft des Rechts jedoch in erheblichem Umfang unterminieren kann. Dem Recht muß daher daran gelegen sein, sich für den Denkstil der Nachbarwissenschaften zu öffnen, da es auf die Ergebnisse der Verhaltenswissenschaften angewiesen ist. 5 0 Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß sich die dem Recht anvertrauten Steuerungsaufgaben immer weniger „gesetzesunmittelbar" lösen lassen, ist es gezwungen, seinen theoretischen Orientierungsrahmen zu erweitern, um die gesteigerte Komplexität der Steuerungsaufgaben bewältigen zu können. 51 Dies dürfte ohne eine Veränderung im Denkstil kaum gelingen. Die vom Recht zu bewältigende Aufgabe besteht mithin darin, sich explizit auf die Verhaltenswissenschaften einzulassen.52 Als „verborgene Dimension" (Polanyi 1966) juristischer Argumentation dürften diese Bezüge seit langem wirkmächtig sein; es macht aber einen Unterschied, ob man auf „intuitives, in Institutionen und Traditionen versenktes Wissen" (Oeter 2002, 201) zurückgreift oder ob sich um ein methodisch reflektiertes und empirisch abgesichertes Herangehen 53 handelt. Für eine der Perspektive des Rechts angemessene Realanalyse muß das Recht in der Lage sein, die „Übergabepunkte" für die Realanalyse zu definieren 54 sowie methodische Minimalia zu benennen. Es bedarf mit anderen Worten einer interdisziplinären Übersetzungsleistung zwischen dem Recht und den Verhaltenswissenschaften. Aus der Sicht des Rechts verlangt dies, die an die Realwissenschaften gerichtete Fragestellung so zu formulieren, 50

Den engen Bezug und die Angewiesenheit der (Staats-) Rechtswissenschaft von den „ihr benachbarten Wirklichkeitswissenschaften, Geschichtswissensschaft, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft" betont Hesse (1959, 19), mit dem Ziel, die „normative Kraft der Verfassung" zu „optimaler Verwirklichung" zu bringen. 51 Grimm 1973, 7; siehe dazu Abschnitt I. 3. 52 Siehe dazu die verschiedenen Ansätze, „Bausteine zu einer Verhaltenstheorie" zu entwickeln, in Haft/Hof/Wesche 2001. 53 Für einen Versuch, ohne diese Grundlagen (punktuell) realwissenschaftlich zu argumentieren und daraus (grundrechtlich gebotene) Anforderungen an die gesetzgeberische Gestaltung des Ordnungsrahmens abzuleiten, siehe BVerfGE 88, 203/ 259 ff. u. 297 ff. - Schwangerschaftsabbruch II. 54 Zu den konkreten Beiträgen der ökonomischen Analyse in den einzelnen Prüfungsschritten des Übermaßverbotes und des Gleichheitssatzes siehe eingehend Führ 2000b, 24-42.

II. Auf dem Weg zu einer Verhaltenstheorie für das Recht

237

daß sie dort aufgenommen und bearbeitet werden kann. Dies kann nur gelingen, wenn man sich auf Erkenntnisinteresse, Methodik und Begrifflichkeit der Verhaltenswissenschaften einläßt. Für eine erfolgreiche „Rückübersetzung" der realwissenschaftlichen Ergebnisse in das Rechtssystem gilt es darüber hinaus aber auch zu vermitteln, in welchem juristischen Kontext die Antworten von Bedeutung sind. Dies verlangt umgekehrt von den Verhaltenswissenschaften, 55 sich einzulassen auf das jeweilige Entscheidungsproblem des Rechts, die dabei zu berücksichtigenden Regeln, Grundsätze und Prinzipien sowie auf die „Methodik", diese im Hinblick auf konkrete Fragestellungen anzuwenden. Die interdisziplinäre Verständigungsaufgabe schließt einen Abgleich der Begrifflichkeit ein; sie weist jedoch deutlich darüber hinaus, weil es darauf ankommt, die jeweils transportierten Wahrnehmungs- und Deutungsraster zu übersetzen. Die disziplinenübergreifende Kooperation dürfte um so ertragreicher sein, je weniger versteckte und daher unverstandene Differenzen in den Denkstilen den Austausch behindern. Dies verlangt keineswegs, den Denkstil der eigenen Disziplin vollständig zu verlassen oder in allen Disziplinen nach einem übereinstimmenden Denkstil zu suchen. Die Erkenntnisleistung der verschiedenen Wissenschaften beruht vielmehr auf dem je eigenen, freilich einem permanenten Entwicklungsprozeß ausgesetzten Denkstil. Die Auseinandersetzung mit den Nachbarwissenschaften kann - dann als „produktive Störung" - zu dieser Fortentwicklung beitragen. In der Öffnung der Rechtswissenschaft für die Verhaltenswissenschaften wird - im Anschluß an die Überlegungen von Kuhn 1976 zur „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" - von manchen 56 ein „Paradigmenwechsel" gesehen. Dieser Begriff trifft den Gegenstand jedoch nur bedingt, weil das Recht mit der ihm gestellten Aufgabe, gesellschaftliche Konflikte rational zu bewältigen, schon immer auf die Beeinflussung menschlichen Verhaltens ausgerichtet war und sich den damit zusammenhängenden realwissenschaftlichen Fragen daher - wenn auch oftmals nur implizit und ohne hinreichende theoretische Basis - gewidmet hat. Zudem soll das Recht kei55

Siehe dazu aus der Perspektive der Ökonomie Bizer 1999 a. Eidenmüller (1999, 53) sieht das Pardigma der Rechtswissenschaft in der Anleitung rechtsanwendender Organe, insbesondere der Gerichte. Der von ihm geforderten Hinwendung zum „Paradigma der Rechtsetzung" (Eidenmüller 1999, 60) mag man sachlich durchaus zustimmen (wenngleich die Fragen der gerichtlichen und außergerichtlichen Rechtsanwendung damit keineswegs bedeutungslos werden); allerdings stellt sich die Frage, ob darin bereits eine „grundlegende wissenschaftliche Umwälzung" zu sehen ist, da auch die zur Rechtsetzung berufenen Organe ihre Tätigkeit nicht außerhalb, sondern im Rahmen des Rechts - wenngleich mit erheblichen Gestaltungsspielräumen - vollziehen. Die verstärkte Beschäftigung mit Fragen der Rechtsetzung dürfte daher kaum die Qualität eines Paradigmenwechsels erreichen. 56

238

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

neswegs, wie es der Begriff des Paradigmenwechsels nahelegt, seine normative und systematische Orientierung aufgeben; vielmehr geht es darum, realwissenschaftlich fundierte Folgenanalysen mit den Fragen der Rechtswissenschaft zu verknüpfen und auf diese Weise das an das Recht gerichtete Rationalitätspostulat besser zu erfüllen. Anders als in manchen Zweigen der Naturwissenschaften hatten im Recht die Grundfragen und die Art und Weise, ihnen vernunftgemäß nachzugehen, über die Jahrtausende hinweg weitgehend Bestand. Eine wissenschaftliche Revolution, die sich in einem Paradigmenwechsel zeigen würde, kann es daher jedenfalls seit der Aufklärung nicht mehr geben. Vielmehr wird ein seit jeher verfolgter Strang des Erkenntnisinteresses nunmehr stärker hervorgehoben. Der Forschungsschwerpunkt verlagert sich ein Stückweit hin zu „positiven", realwissenschaftlich zu bewältigenden Fragestellungen. Auch eine solche Verlagerung ist für die normativ geprägte Rechtswissenschaft offenbar noch immer ein einschneidender und daher oftmals schmerzlicher Prozeß. 57

5. Ergebnis Die vom Bundesverfassungsgericht aus den materiell-rechtlichen Rationalkriterien entwickelten prozeduralen Anforderungen verlangen vom Gesetzgeber eine Auseinandersetzung mit den realen Wirkungen des von ihm geschaffenen institutionellen Rahmens. Er ist gehalten, seinen Entscheidungen empirisch fundierte Realanalysen zugrunde zu legen und auf dieser Grundlage die voraussichtlichen Wirkungen unterschiedlicher Gestaltungsoptionen abzuschätzen. Diese Prognose verlangt, da sie rational nachvollziehbar sein muß, ein Modell menschlichen Verhaltens. Welche Annahmen in das Modell eingehen (sollten), ist damit noch nicht gesagt. Weder das „Menschenbild des Grundgesetzes" noch die in den Randbereichen der Rechtswissenschaft unternommenen Versuche, Verhaltensmodelle zu entwikkeln, führen zu abschließenden Antworten. Die Notwendigkeit, sich mit den methodischen Fragen wirklichkeitswissenschaftlicher Verhaltensmodelle auseinanderzusetzen, wird umso dringlicher je weniger sich das auf den Erfolg strikt-imperativer Verhaltensbeeinflussung verlassen kann und je mehr es dementsprechend auf Regelungsmuster aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung zurückgreift. Diese Entwicklung verlangt von den Rechtswissenschaften, sich für den Denkstil der Nachbardisziplinen zu öffnen. Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist es umgekehrt aber auch erforderlich, daß diese sich auf den normativen

57

Dies zeigen die vielfach geäußerten Vorbehalte der Juristen (siehe dazu die Nachweise in Fn. 132 ff. sowie die eingehende Darstellung der juristischen Einwände bei Gawel 2001a).

III. Elemente eines Verhaltensmodells

239

Kontext einlassen, aus dem die Fragen des Rechts stammen und in den die verhaltenswissenschaftlichen Antworten zurückzuführen sind. 58

I I I . Elemente eines Verhaltensmodells Die vom Recht an die Verhaltenswissenschaften gerichteten Fragen verlangen nach einem geeigneten Verhaltensmodell. Als Grundmodell bietet sich dabei das wirtschaftswissenschaftliche Verhaltensmodell (homo oeconomicus) an. Angesichts der auf Seiten der Juristen zu beobachtenden Vorbehalte gegen das ökonomische Denken ist zunächst der Frage nachzugehen, in welchem Umfang Gemeinsamkeiten in den methodischen Grundlagen der beteiligten Disziplinen festzustellen sind [Abschnitte III. 1. und III. 2.]. Im Hinblick auf den angestrebten Erklärungswert sollte das Modell in der Lage sein, Konstellation abzubilden, in denen die Verhaltensanreize auch auf Regelungsmuster aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung zurückzuführen sind. Hier wird sich zeigen, daß dies von dem klassischen ökonomischen Verhaltensmodell nur in sehr eingeschränkter Weise zu erwarten ist; deshalb ist im folgenden nachzuzeichnen, welche Erweiterungen und Modifikationen in den Wirtschaftswissenschaften diskutiert werden [Abschnitt III. 3.]. Anschließend ist zu fragen, wie sich daraus ein Verhaltensmodell entwickeln läßt, welches eine geeignete Grundlage für die vom Recht geforderten Realanalyse bildet [Abschnitt III. 4.].

1. Methodische Grundannahmen Betrachtet man die Verhaltensannahmen der handlungs- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, zeigt sich, daß nicht nur die Ökonomie, sondern auch die anderen Verhaltenswissenschaften von dem Konzept zweckrationalen oder instrumentell rationalen Verhaltens in starkem Maße geprägt sind („rational choice-Paradigma" 59 ). So kann man in dem Idealtyp des rational handelnden Menschen, wie es im Modell des homo oeconomicus verwirklicht zu sein scheint, 60 zugleich die „Grundfigur der Soziologie" (Dreitzel 1965, 6) sehen; eine Grundfigur allerdings, bei der man immer zu berücksichtigen hat, „daß es sich dabei um eine gedankliche Konstruktion handelt, um einen Homunculus, dessen heuristischer Wert aber gerade darin beruht, 58

Aus diesem Grund sind die aus der Perspektive des Rechts relevanten „Schnittstellen" in einer Weise zu erläutern, daß es Vertretern der Verhaltenswissenschaften möglich ist, sich auf das Rationalprogramm des Rechts einzulassen. Diesem Anliegen dient die Darstellung in Kapitel E, Abschnitt III. 2. und Abschnitt III. 3. 59 Siehe dazu A m i 1993, Nida-Rümelin 1993 a. 60 Zu der Frage, welcher Rationalitätsbegriff in der Modellbildung zugrunde gelegt wird, siehe Abschnitt III. 4. a).

240

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

daß sich die realen Verhaltensweisen als Modifikationen des Modelltyps bestimmen lassen" (Dreitzel 1965, 5). Das Grundmodell ist gekennzeichnet von der Annahme, das jeweils handelnde Individuum treffe seine Entscheidungen anhand einer Zweck-Mittel-Kalkulation. Die Unterscheidung in Zweck und Mittel spielt auch bei den juristischen „Rationalitäts-Kriterien" eine tragende Rolle. Unter dem Aspekt der Einheit der Vernunft wäre es inkonsistent, nicht auch für das Verhalten der Regelungsadressaten diese Form der instrumenteilen Vernunft zum Ausgangspunkt der Modellbildung zu machen. Damit ist - dies sei zur Klarstellung nochmals betont - nicht gesagt, daß diese Form der Rationalität in allen Konstellationen allein ausschlaggebend ist. Es ist jedoch aus juristischer Perspektive kein Grund ersichtlich, nicht zunächst von diesem Rationalitätsmuster auszugehen, wenn Aussagen über das zu erwartende Verhalten der Regelungsadressaten zu treffen sind. Für den Rückgriff auf den methodologischen Individualismus läßt sich anführen, daß die rechtliche Systembildung ihren Ausgangspunkt ebenfalls vom Individuum her nimmt. Die Anerkennung von Menschenwürde und individuellen Freiheitsrechten bildet das Fundament des Rechtsstaats. Dort haben auch die rationalen Prüfkriterien der Verhältnismäßigkeit und des Gleichheitssatzes ihre materiellen Wurzeln. Der Individualbezug der juristischen Systembildung geht auch nicht dadurch verloren, daß der Gesetzgeber typisierende Regelungen treffen und damit die einzelnen Grundrechtsträger nach bestimmten Merkmalen zu Gruppen zusammenfassen darf. Denn dies ändert nichts daran, daß die getroffenen Regelungen sich vor den Grundrechten zu bewähren haben und dabei jeweils aus der Perspektive des Individuums zu fragen ist, ob der Gesetzgeber seinen Typisierungsspielraum gewahrt oder überschritten hat. Auch die Tatsache, daß sich im Grundgesetz kollektiv auszuübende Grundrechte finden (man denke etwa an die Versammlungs- und die Koalitions-, aber auch die Religionsausübungsfreiheit), läßt den dominierenden Individualbezug der rechtlichen Systembildung unangetastet. Dies legt es nahe, nicht Kollektive (seien es Gruppen oder „Klassen"), sondern das Individuum der Modellbildung zugrundezulegen; 61 zumal die vordergründige Politisierung des Gegensatzes 61

Aus der Perspektive der ökonomischen Theorie der Verfassung gelangt Petersen (1996b, 416) zu der Einschätzung, der methodologische Individualimus sei mit den Grundelementen des modernen Verfassungsstaates vollständig kompatibel: Der Ansatz sei demokratisch, da stets die Individuen selbst als Urheber allen staatlichen oder kollektiven Handelns angesehen werden, womit auch das Prinzip der Volkssouveränität verwirklicht werde. Weil die Theorie einen subjektivistischen Nutzenbegriff zugrundelege und damit allein das Individuum wisse und entscheide, worin sein Nutzen oder das Gute für ihn selbst bestehe, sei die Theorie auch liberal. Da sie schließlich unterstelle, daß sich rationale und nutzenmaximierende Individuen auf eine gewaltenteilende Verfassung einigen werden, sei sie auch konstitutionell.

III. Elemente eines Verhaltensmodells

241

zwischen „kritischen" makro-soziologischen Theorien und „rechten" rational choice-Konzeptionen bereits seit längerem obsolet erscheint. 62 Es spricht damit einiges dafür, das rational choice-Paradigma sowie den methodologischen Individualismus der Modellbildung zugrunde zu legen. Beide Annahmen 63 finden sich auch im Verhaltensmodell der Ökonomie. Da dieses als das gegenwärtig am weitesten entwickelte Modell angesehen wird, 6 4 sind aus der ökonomischen Theorie die größten Beiträge für die Frage nach methodisch fundierten Verhaltensprognosen zu erwarten. Das Modell wurde zudem in den letzten Jahren um soziologische und sozialpsychologische Komponenten angereichert. Vor einer näheren Auseinandersetzung mit diesem Modell und seiner Entwicklung [siehe Abschnitt III. 3.] hat man sich den - oftmals sehr grundsätzlichen - Einwänden gegen die Rezeption ökonomischen Effizienzdenkens in die Sphäre des Rechts zu stellen.

2. Ökonomische Effizienz und juristische Rationalität Wenn im folgenden danach gefragt wird, welche Bedeutung die Effizienzorientierung des ökonomischen Prinzips für die Bewältigung von Abwägungsfragen im Recht haben kann, geschieht dies vor dem Hintergrund, daß unter Juristen erhebliche Vorbehalte gegen ökonomische Denkansätze zu beobachten sind. 65 Demgegenüber wird aber auch die These vertreten, man könne „politische Ökonomie als rationale Jurisprudenz" verstehen. 66 In 62

Nida-Rümelin 1993 a, 4; der darauf verweist, insbesondere Jon Elster (1979 und 1983) habe mit seinen Schriften dazu beigetragen, daß wissenschaftsideologische Auseinandersetzungen in den Hintergrund getreten seien. 63 Beide Annahmen sind theoriegeschichtlich eng miteinander verbunden (NidaRümelin 1993 a, 4); logisch und systematisch sind sie jedoch voneinander unabhängig, wie sich bereits aus dem vorstehend entwickelten Überlegungen ergibt, wonach sich auch gesellschaftliche Entscheidungen über die Wahl der gesetzlichen Steuerungselemente am rational choice-Paradigma zu orientieren haben. 64 Von der Ökonomie wird gesagt, sie sei gegenwärtig die „theoretisch stärkste Sozialwissenschaft" (Homann 1994, 393), da sie ein hohes Maß disziplinarer Geschlossenheit und Konsistenz aufweise (Manstetten 2000, 34). In ihrer institutionenökonomischen Richtung (siehe Abschnitt III. 4.) hat sie sich zudem eingehend mit der Bedeutung rechtlicher und außerrechtlicher Institutionen für das menschliche Verhalten befaßt. 65 Vor diesem Hintergrund erscheint dann sogar die Frage angebracht, „ob der Gesetzgeber (...) Effizienz überhaupt zur Maßgabe der Umweltrechtsetzung machen (...) darf 4 (Britz 1997, 185). Siehe Gawel 2001a sowie die Nachweise in Fn. 132 ff. 66 So der Untertitel der Arbeit von Behrens 1986. Dieser liegt die These zugrunde, Recht und Ökonomie beschäftigen sich letztlich mit einem gemeinsamen Gegenstand; rechtliche Gestaltungen seien eine Antwort auf gesellschaftliche Probleme, die sich auch in ökonomischen Kategorien formulieren ließen. Zur Abwehr16 Führ

242

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

welche Richtung man es auch wendet: Juristen reagieren offenbar - dieser Eindruck verdichtet sich in letzter Zeit - auf die Forderung nach ökonomischer Rationalität besonders sensibel. Dies zeigt sich sowohl in einer kaum verdeckten Empfindlichkeit, 67 aber auch in einer zunehmenden Empfänglichkeit für ökonomische Denkmodelle und Analysemuster. 68 Die Ökonomie nimmt für viele, vor allem jüngere Juristen offenbar die Rolle der Referenzwissenschaft ein. 6 9 a) Ökonomisches Prinzip und Effizienz Das ökonomische Prinzip hat die Relation von Ziel und Mitteln zum Gegenstand und ist darauf gerichtet, ein möglichst günstiges Verhältnis dieser beiden Größen zu erreichen. Seine Aufgabe besteht darin, einen sachlich nicht gerechtfertigten Einsatz gesellschaftlicher Ressourcen auszuschließen („Vermeidung von Verschwendung"). Das ökonomische Prinzip kommt herkömmlicherweise in zwei formalen Ausprägungen zur Anwendung, die sich wie folgt charakterisieren lassen (Stobbe 1991, 6): - In der ersten Variante geht es darum, bei gegebenem Mitteleinsatz ein möglichst hohes Maß an Zielerreichung zu gewährleisten (Maximal-Variante). - In der zweiten Variante soll ein vorgebenes Ziel mit möglichst geringem Einsatz an Mitteln verwirklicht werden (Minimal-Variante). Die Verhaltensempfehlung des ökonomischen Prinzips legt nahe, diejenige Entscheidungsalternative mit dem besten Verhältnis aus eingesetzten Mitteln zu erzieltem Erfolg zu wählen. 70 Je günstiger dieser Quotient ausreaktion der Juristen gegen den vermeintlichen „Wissenschaftsimperialismus" der Ökonomie stellt er fest: „Juristen neigen allzu leicht dazu, interdisziplinäre Theorieansätze zurückzuweisen ohne die Zwischenstufe des Verstehens durchlaufen zu haben." (Behrens 1986, VI). 67 Wie sie etwa in manchen Stellungnahmen aus dem Schrifttum, aber auch in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur landesrechtlichen Abfallabgabe und zur kommunalen Verpackungssteuer spürbar wird (BVerfGE 98, 83 und 106; siehe dazu Führ 1998c, 517). 68 Siehe dazu etwa die Beiträge in Schäfer/Ott 1997 oder Engel/Morlok 1998. 69 Lepsius 1999. Siehe dazu etwa die Würdigung der Arbeiten von Korioth (1997) und Oeter (1998; insbesondere 553 ff.) durch Ruppert (1999, 58) sowie die grundlegende Untersuchung von Behrens (1988). In diesem Kontext wäre aber beispielsweise auch der bereits erwähnte Beitrag von Britz (1997) oder der von Köck (1996) zu nennen. Auch in der Philosophie ist eine vergleichbare Entwicklung zu beobachten; siehe etwa die Arbeiten von Petersen 1996 a und Manstetten 2000. 70 In der einer dritten, von Gawel (2001a, 13 f.) vorgeschlagenen Variante sind beide Größen variabel, anzustreben ist jedoch ein insgesamt günstiges Verhältnis der beiden. Diese Ausprägung, die die beiden ersten Varianten miteinander kombiniert,

III. Elemente eines Verhaltensmodells

243

fällt, desto „effizienter" ist die gewählte Alternative. Die Betrachtung der Effizienz ermöglicht damit einen Vergleich verschiedener Optionen. Eine „absolut" effiziente Lösung kann es nicht geben. Vielmehr ist jeweils unter den gegebenen Randbedingungen nach günstigeren Lösungen zu suchen. Die Zuschreibung von Effizienz ist daher immer eine relative Aussage im Vergleich mehrerer Gestaltungsalternativen. Es wird deutlich, daß es sich bei dem ökonomischen Prinzip um eine rein formale Entscheidungsregel handelt, die nichts darüber aussagt, aus welchen Bestandteilen sich die beiden Größen zusammensetzen (von Arnim 1988, 36). Insbesondere bedeutet es nicht, daß lediglich im engeren Sinne „wirtschaftliche" Belange einzustellen sind. 71 Die Entscheidungsregel ist vielmehr offen für alle Belange. Dies gilt auch für den auf dem ökonomischen Prinzip basierenden homo oeconomicus (Behrens 1986, 50). Welche Belange jeweils zu berücksichtigen sind, liegt in der Hand desjenigen, der das Prinzip bzw. eine seiner Varianten zu Anwendung bringt. Dabei können auch eine Mehrzahl an Zielen sowie eine ganze Bandbreite von eingesetzten Mitteln Berücksichtigung finden. Für die weiteren Überlegungen ist es daher wichtig, zu unterscheiden zwischen dem - zunächst einmal rein formalen - ökonomischen Prinzip als solchem und den vorherrschenden Ausprägungen eines homo oeconomicus mit den darauf gestützten „normativen" Gestaltungsempfehlungen, wie sie etwa die neoklassische Wohlfahrtsökonomie 72 meint geben zu können. Diese normative Variante der Ökonomie, die ihre Anziehungkraft dem „vor Scheinexaktheit schillernden Begriff der Allokationseffizienz" (Kirchner 1996, 73) verdanken dürfte, 73 ist allerdings nicht zwingend mit der Anwendung des ökonomischen Prinzips verbunden. 74 Es kann vielmehr auch in ließe sich als „Produktivitäts-Variante" bezeichnen. Ihr Vorteil liegt darin, daß sie der realen juristischen Entscheidungssituation näher kommt, wo es nämlich meist an einer eindeutigen Zieldefinition mangelt [siehe unten Abschnitt III. 2. a) cc)]. Angesichts der Vielzahl der zu betrachtenden Möglichkeiten steht diese Variante allerdings vor der Gefahr, den Charakter der Entscheidungsregel zu verlieren. Damit ginge der für die Ökonomie kennzeichnende „Charme der Simplizität" (Kirsch 1998) verloren. U m dem entgegenzuwirken, bietet es sich an, in der ProduktivitätsVariante die Bandbreite der zu betrachtenden Optionen soweit einzugrenzen, daß einerseits die Nähe zur realen Entscheidungssituation gewahrt bleibt, andererseits aber die Transaktionskosten, die bei der Abarbeitung der verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten entstehen, die daraus erwachsenen Vorteile nicht überkompensieren. 71 Es ist daher auch eine Verkennung des ökonomischen Prinzips in der von diesem Ansatz geprägten Wissenschaft lediglich die „Begleitdisziplin des Wirtschaftslebens" zu sehen (so - zumindest in der Formulierung - Morlok 1998b, 25). 72 Zu deren Verbindungslinien zum Recht siehe Abschnitt III. 2. b) aa). 73 Einer Anziehungskraft, der sich auch Juristen ausgesetzt sehen können, weil damit das - jedenfalls in Anwendung „materieller" Kriterien [zum Verhältnis materieller und prozeduraler Rationalität siehe Kapitel E, Abschnitt III. 3. b)] - schwer 16*

244

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

einer verhaltenswissenschaftlichen Variante zum Tragen kommen, die abzielt auf eine - möglichst empirisch fundierte - ökonomische Analyse und einer darauf gestützten Verhaltensprognose. 75 In der Diktion der Ökonomen wird hierfür der Begriff „positive Ökonomik" 7 6 verwandt. 77 Eine Reihe von Irritationen in der interdisziplinären Debatte dürften darauf beruhen, daß nicht immer deutlich genug unterschieden wird, ob die normative oder die positive Variante zur Grundlage von Argumentation und Kritik gemacht wird. 7 8 Selbst in der normativ-neoklassischen Variante ergibt sich nicht zwingend, daß der homo oeconomicus im eigentlichen Sinne „egoistisch" handelt. Vielmehr ist die Frage, in welcher Weise die „Nutzenfunktion" bestimmt wird, nicht vorentschieden. Das Modell stellt lediglich einen formalen Entscheidungsrahmen bereit. Denkbar ist durchaus, altruistische oder ästhetische, wie überhaupt „wertgebundene" Präferenzen in die Nutzenfunktion einzustellen und damit im Modell die Ziele des Individuums zu umschreiben, auf die hin die Auswahl der Mittel erfolgt. 79 In der praktischen Anwendung des Modells allerdings ist es üblich, aus Gründen der Vereinfachung nur die im engeren Sinne „wirtschaftlichen" Aspekte zu berücksichtigen (Stobbe 1991, 27 ff. und 32 ff.). Ein auf diese Weise vereinfachtes Abbild der Realität sei - auch wenn sich im Einzelfall Abweichungen beobachten lassen - insgesamt ausreichend, um überindividuelle Verhaltensphänomen hinreichend erklären zu können. 80 Der traditionelle homo oeconomicus der neoklassischen Modell weit 8 1 ist damit in der Regel doch der

greifbare „Gemeinwohl" endlich exakt bestimmbar zu sein scheint [siehe dazu Abschnitt III. 2. b)]. 74 Homann 1994, 405 ff. m.w.N. Zu den Wirkungen des Denkstils situativer Nutzenkalkulation auf den Prozeß der gesellschaftlichen Institutionenbildung siehe Abschnitt III. 2. c). 75 Zu den verschiedenen Anwendungsformen der (mikro-) ökonomischen Analyse i m Hinblick auf Entscheidungssituationen des Rechts siehe Behrens 1986, 81 ff. und 1988, 217 ff. 76 Eine Diktion, die für die Juristen überraschend ist, da sie mit dem Begriff „positiv" das gesetzte Recht als solches und nicht seine Wirkung auf die Individuen kennzeichnen. 77 Zu den unterschiedlichen Bedeutungsgehalten der Begriffe innerhalb der Ökonomie siehe Stobbe 1991, 13 ff. 78 Siehe dazu (aus der Perspektive der „positiven" Neuen Institutionenökonomik) Kirchner 1996, 72 f. m.w.N. Aus der Sicht der Rechtswissenschaft siehe Raisch/ Schmidt 1973, 153 ff. 79 Homans 1961, 79 f.; Stobbe 1991, 8; Homann 1994, 397; Kirchgässner 1999, 32; zusammenfassend: Weck-Hannemann 1999, 73 ff. 80 Kirchgässner/Pommerehne 1988, 239 m.w.N. Ähnlich - allerdings vorrangig bezogen auf zivilrechtlich ausgeformte Konstellationen - Eidenmüller 1999, 55 f. 81 Für eine Diskussion dieses Verhaltensmodelles siehe Abschnitt III. 3. a).

III. Elemente eines Verhaltensmodells

245

k ü h l 8 2 kalkulierende 83 nutzenmaximierende Egoist, dessen Lebensinhalt sich im Ansammeln von wirtschaftlich verwertbaren „Schätzen" 84 erschöpft. Diese vereinfachenden Annahmen können die Konsistenz des Modells erhöhen und erlauben in dessen Rahmen eine Analyse und Prognose individuellen Verhaltens; die jeweiligen Grundannahmen sind jedoch zu berücksichtigen, wenn die Aussagekraft der dabei erzielten Ergebnisse einzuordnen sind. Hervorzuheben ist außerdem, daß der neoklassische homo oeconomicus keine anthropologische Kategorie im Sinne eines „Menschenbildes" 8 5 darstellt, sondern lediglich eine heuristische Annahme, die in „pragmatischer Reduktion" das Forschungsinteresse der Disziplin auf die Nebenbedingungen der Handlungssituationen und damit auf die Anreizstrukturen und Verhaltensinterdependenzen richtet (Homann 1994, 395 ff.). Die Modellannahmen sind allerdings auch innerhalb der Ökonomie nicht einheitlich, was weitere Verständigungsschwierigkeiten programmiert: Einerseits wird auf die Weite und den lediglich formalen Charakter des ökonomischen Prinzips verwiesen - „Economics is the science of rational choice"; 8 6 andererseits kommt in der praktischen Anwendung ökonomischer Modelle überwiegend das Bild rein „pekuniär" ausgerichteten Eigennutzes zum Tragen. Hinzu kommen weitere vereinfachende Annahmen, die den homo oeconomicus der mathematisch ausgerichteten neoklassischen Ökonomie immer weiter vom real zu beobachtenden Phänomenen entfernen. Dem kann man entgegenwirken, indem man institutionell vermittelte 87 Verhaltensorientierungen sowie evolutionäre Elemente 88 in das Modell integriert. 89 82

Lewin 1996 verweist auf den Umstand, daß die Ökonomen ihre Ökonomie unabhängig von psychologischen Annahmen betreiben: „Economists are, for example, very attached to the notion of rational choice, and, as Sen (1993) argues, rationality is a non-sensical concept i f it is not motive-related, but only behavioral. Rationality is, by its very nature, a psychological interpretation which we place on behavior we observe." 83 Der homo oeconomicus erscheint damit als bloße Rechenmaschine („rational fool", Sen 1977), die darauf abgerichtet ist, die jeweilige „Nutzenfunktion" zu maximieren (Sen 1987, 14 f.). 84 Vgl. Matthäus 6, 19-34: „Vom Schätzesammeln und Sorgen". 85 Siehe dazu Gröschner 1998 mit der Replik von Kirchgässner 1998 sowie die Untersuchungen von Petersen 1996a und Manstetten 2000. 86 Stobbe 1991, 9. Siehe dazu auch Fn. 142. 87 Für die Ausgangsfrage dieser Untersuchung ist dabei die Feststellung von Bedeutung, daß auch unser Verständnis von „Rationalität" auf einer habituellen Grundlage beruht (Bizer 1998, 8): „Denn auch die Reproduktion bestimmter Denkschemata ist Teil menschlicher Sozialisation und erhält ihre Bedeutung erst durch die Habitualisierung: Erst dadurch, daß alle Individuen bestimmte Begriffe und Symbole gleich oder ähnlich deuten, entsteht Kommunikation. Und erst durch Kommunikation kann Rationalität als Operationsprinzip über Generationen hinweg transferiert werden."

246

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

D i e Verengung auf eine rein „pekuniäre" Orientierung der ökonomischen Analyse mag i m Rahmen v o n Modellbetrachtungen gerechtfertigt sein, sie w i r d aber jedenfalls dann problematisch, wenn sie i m Wege der „normativen Ö k o n o m i k " aufgeladen und zur - möglichst alleinigen -

Richtschnur

politischer Gestaltung gemacht w i r d . 9 0 Genau hier dürfte ein neuralgischer Punkt der interdisziplinären Verständigung liegen. A u f die verengte normative Ö k o n o m i k reagieren die Juristen m i t einer starken A b w e h r r e a k t i o n ; 9 1 sie neigen allerdings dazu, diese Abwehrhaltung

zu generalisieren

und

grundsätzlich gegen das ökonomische Denken zu wenden. Darin liegt - w i e zu zeigen sein w i r d - eine Ü b e r r e a k t i o n , 9 2 die die gemeinsamen W u r z e l n verdeckt und damit Chancen, Rationalitätsgewinne zu erzielen,

vergibt.

Denn die Entscheidungsregel, die m i t dem B e g r i f f „ökonomisches Prinzip" verknüpft ist, fordert i m Grunde nicht mehr als eine vernunftgemäße Ausw a h l unter verschiedenen Handlungsoptionen. Es ist diejenige O p t i o n zu

88

Zum Ansatz der „evolutorischen Ökonomik" und deren Bemühen, individuelle und institutionelle Evolutionsprozesse zu beschreiben, siehe Witt 1987, 8 ff. 89 Siehe dazu Abschnitt III. 4; zu der Einbettung eines solchen Verhaltensmodells in die juristische Verhältnismäßigkeitsprüfung siehe Bizer 1999, für eine problembezogene Anwendung Bizer/Führ 2000. 90 In den breit veröffentlichen Analysen und Handlungsempfehlungen wird auf die entsprechenden Einschränkungen des Modells in der Regel nicht deutlich hingewiesen, so daß der Eindruck erweckt wird, die Ergebnisse der Modellrechnungen seien nicht lediglich ein Szenario innerhalb eines Modells, sondern Prognosen der tatsächlichen Entwicklung, deren Aussagekraft mit den Wahlprognosen der Meinungsforschungsinstitute vergleichbar sei (siehe dazu die stark unterschiedlichen Ergebnisse der Modellrechnungen der Auswirkungen erhöhter Energie-Abgaben, der sog. „Öko-Steuer", wie sie etwa deutlich wurden in den Beiträgen der Tagung „Ökosteuern auf dem Prüfstand der Nachhaltigkeit - Ein wirtschaftswissenschaftliches Symposium", die unter der Leitung von Andreas Daily vom 6. bis 8. November 1998 in der Evangelischen Akademie Loccum stattfand; weitere Angaben www.loccum.de). 91 Für Nachweise und eine differenzierte Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Einwänden siehe Kübler 1990 (der zutreffend auf die Möglichkeiten verweist, die das positiv-ökonomische „Instrumentarium der Folgenanalyse" eröffnet Kübler 1990, 703 und passim) sowie Morlok 1998b (mit einer Kritik des neoklassischen Ansatzes) und aus ökonomischer Perspektive Gawel 2000a. 92 Max Weber (Soziologische Kategorienlehre; abgedruckt in: Wirtschaft und Gesellschaft 1980, 32 f.) spricht in diesem Zusammenhang von einem „ungeheuren Mißverständnis", die Anwendung einer individualistischen Methode bedeute zugleich eine individualistische Wertung. Nicht zu verkennen ist allerdings, daß es für diejenigen, die sich auf die Modellwelt des homo oeconomicus eingelassen haben, nahe liegt, daraus auch normative „Anweisungen für die Gestaltung von Rechtsnormen" abzuleiten (Behrens 1986, 40; allerdings auf der Grundlage einer weiter gefaßten institutionellen Ökonomik). Diese Anweisungen sind aber jedenfalls dann problematisch, wenn nicht zugleich die eingrenzenden Modellannahmen (etwa einschränkende Festlegungen der Nutzenfunktion, Ausschluß habituellen oder normgebundenen Verhaltens; siehe dazu Bizer 1998) offengelegt werden.

III. Elemente eines Verhaltensmodells

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wählen, die zu einem möglichst geringen Grad an Vernichtung gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten führt. Diese Entscheidungsregel deckt sich mit der Festellung von Fechner, vernünftig sei eine Regelung, wenn es ihr gelinge, „nützliche Ziele auf kürzestem Wege zu erreichen, Mittel und Zweck in rationellster Weise zu verbinden". 93 Sie ist derart fundamental, daß die Ökonomie sie zwar zu Recht für sich in Anspruch nimmt, darin aber zugleich eine Ausprägung allgemeiner Vernunftprinzipien zu sehen ist. Es wäre daher mehr als überraschend, wenn sie nicht auch im Recht wirksam werden würde. b) Gerechtigkeit

und Effizienz

In der Idee der Gerechtigkeit findet das Recht seine tiefste Rechtfertigung. Sie begründet seine Überzeugungskraft und damit seine Geltung und Durchsetzung. Wenn sich zeigen läßt, daß sich an dieser Stelle Verbindungslinien zum Effizienzpostulat des ökonomischen Prinzips bestehen, dann wären Einwände gegen dessen rechtliche Relevanz zumindest stark zu relativieren. Ein Indiz für das Bestehen dieser Verbindungslinien sind die soeben aufgezeigten methodischen Gemeinsamkeiten mit den Rationalkriterien des Rechts, denn diese haben ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln in der Gerechtigkeit und erfüllen die Funktion, die Idee der Gerechtigkeit für die Rechtspraxis zu operationalisieren. Allerdings werden gegen die Verbindung von ökonomischer Effizienz und rechtlich aufzusuchender Gerechtigkeit erhebliche Vorbehalte vorgebracht. 94 Gerechtigkeit ist sowohl eine individuelle Tugend als auch ein gesellschaftliches Leitbild. Auf der individuellen Ebene läßt sie sich als eine Haltung des Menschen beschreiben. Objektiv ist Gerechtigkeit zu verstehen als Idee oder Prinzip. Sie bildet dann den Beurteilungsmaßstab für Handlungsnormen, also für politische Verfassungen, einfache Gesetze und soziale Regeln. In der letztgenannten Funktion zielt die Idee der Gerechtigkeit auf die „Einheit von gegenständlicher Gemeinwohlrichtigkeit und persönlich-individueller Freiheitsgewährleistung". 95 Anhand welcher Kriterien und in welchem Verfahren diese Synthese zu erfolgen hat, ist seit jeher Gegenstand der Staatstheorie. 96 Fraglich ist schon, ob sich die antagonistische Gegen93 Fechner (1956, 98); er stützt dies auf die Beobachtung: „Der rationale Kerngehalt des Rechts wirkt aus der Sache heraus" und verweist darauf, auch im stillen Wachstum des Gewohnheitsrechts setze sich die „vernunftgemäße, zweckentsprechende, Zeit und Kraft sparende Regelung durch". 94 Siehe die Nachweise in Fn. 65 sowie die Aufarbeitung der Einwände bei Gawel 2001a, 21 ff. 95 So Denninger (1988, 4), der mit dieser Umschreibung den Rousseau'sehen Gesetzesbegriff und die damit verknüpften Hoffnungen charakterisiert.

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D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

Überstellung von Gemeinwohl und individueller Freiheit durchgängig aufrechterhalten läßt. aa) Wohlfahrtsökonomischer Effizienzbegriff In der ökonomischen Theorie, die ja von der Nutzenperspektive des Individuums ausgeht, ist das Wohlfahrtsoptimum erreicht, wenn sich die Nutzenfunktion keines Individuums mehr steigern läßt. 97 Der wohlfahrtsökonomische Effizienzbegriff geht damit über jenen der Wirtschaftlichkeit, wie er sich aus dem ökonomischen Prinzip ergibt, hinaus. Der Wohlfahrtsökonomik geht es nicht nur um die Optimierung einer Zweck/Mittel-Relation für beliebige Ziele; ihr Anliegen ist, Effizienz selbst zum ausschlaggebenden Kriterium zu erheben, an dem verschiedene Gestaltungsoptionen nicht nur bei der Verfolgung ein Zieles zu messen sind, sondern auch Abwägungen zwischen konkurierenden Zielen erlaubt (Eidenmüller 1998, 41 ff./56). Anliegen der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik ist es, den summierten Nutzen 9 8 für die einzelnen Individuen zu einem Optimum zu führen. 99 Um dieses Optimum bestimmen zu können, müßten allerdings die Präferenzen der Individuen bekannt sein. Daß diese niemals umfassend in Erfahrung zu bringen sind, wäre unschädlich, wenn man davon ausgehen könnte, daß sich das Wohlfahrtsoptimum im Rahmen des Marktes quasi automa96

Siehe dazu die Nachweise bei Isensee 1996, Rn. 13 ff. Diese Aspekte sind an dieser Stelle nicht zu vertiefen. 97 Dieser Zustand kann in der „Pareto-Optimalität" gesehen werden, die sich einstellt, wenn kein Individuum in seiner Präferenzerfüllung besser gestellt werden kann, ohne einen anderen schlechter zu stellen (Kirchgässner/Pommerehne 1988, 230; siehe dazu auch Eidenmüller 1998, 48 ff.). In einer abgewandelten Version („Kaldor/Hicks-Kriterium"), wird dann noch gefragt, ob das Ausmaß der Besserstellung insgesamt das Maß übersteigt, welches erforderlich wäre, um die Einbußen bei den Schlechtergestellten zu kompensieren. Hierbei handelt es sich aber nicht mehr um eine Analyse des Marktgeschehens (weil für die Bessergestellten in der Regel kein Anreiz für eine Kompensation besteht), sondern bereits um eine Ergänzung, die als Politikempfehlung zu verstehen ist, entsprechende Kompensationsregeln institutionell auszugestalten. 98 Für eine zusammenfassende Darstellung zum „Nutzenbegriff' in der Ökonomie und dessen wissenschaftsgeschichtlicher Entwicklung siehe Petersen 1996a, 50 ff. und Eidenmüller 1998, 42 ff. 99 Diese Aussagen gelten in erster Linie für die ökonomische Analyse des Zivilrechts. Zu der Entwicklung im Bereich der Umweltökonomie, die sich von der Forderung nach der Erreichung des Wohlfahrtsoptimums zu dem Ansatz fortentwickelt hat, der Staat solle als Ergebnis gesellschaftlicher Konsensbildung einen Umweltqualitäts-Standard vorgeben, während die geeigneten Instrumente dann eine effiziente Erreichung dieses Standards gewährleisten (sog. „Standard-Preis-Ansatz", der wohl besser als „Standard-Effizienz-Empfehlung" zu bezeichnen wäre); siehe dazu Köck 1996, 147 ff. und Gawel 2001a, 19 ff.

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tisch einstellt. Dies kann aber allenfalls für den Teil der Nutzenfunktion angenommen werden, der sich auf private Güter bezieht. Zur Wohlfahrt der Gesellschaft tragen daneben aber auch öffentliche Güter bei; also solche, die keiner exklusiven Nutzung zugewiesen sind und für die sich dementsprechend kein Marktmechanismus bilden kann. 1 0 0 Hier kann man nicht davon ausgehen, der Markt werde das soziale Optimum hervorbringen. Dazu bedarf es vielmehr anderer Mechanismen, die aus ökonomischer Sicht dann vorzugswürdig sind, wenn sie möglichst direkt die Präferenzen der Individuen zum Ausdruck bringen. In Betracht kommen - neben dem Versuch, einen fiktiven Marktpreis zu bestimmen 101 - etwa Wahlen und Abstimmungen. Je mehr diese auf einzelne öffentliche Güter bezogen sind, je „direkter" also die demokratischen Mechanismen ausgeprägt sind, desto eher erfüllen sie die erwünschte Funktion, die individuellen Präferenzen abzubilden. 1 0 2 Diese Gestaltungsempfehlung zielt damit auf eine Prozeduralisierung der Gemeinwohlbestimmung. 103 Das private Wohl läßt sich damit aus ökonomischer Perspektive nicht verfolgen, ohne daß die dazu erforderlichen öffentlichen Güter bereitstehen. Auch das Marktgeschehen ist auf öffentliche Güter angewiesen, die damit darüber entscheiden, welches Individuum in welchem Ausmaß in der Lage ist, unter Inanspruchnahme der Marktmechanismen seine Nutzenfunktion zu erfüllen. Das Individualwohl läßt sich daher ohne von der Gesellschaft bereitgestellte öffentliche Güter nicht verfolgen. Auch in der ökonomischen Theorie zeigen sich damit Verschränkungen zwischen individueller und überindividueller Perspektive, von materiellen und prozeduralen Rationalitätskriterien. Auch hier finden sich Stimmen, für die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt mehr ist als die Addition individueller Nutzenerfüllungsgrößen. Die Frage, welche Faktoren als wohlfahrtsrelevant angesehen werden, beeinhaltet eine Wertung, die von denjenigen, die mit dem Wohlfahrtsbe100

Das klassische Beispiel ist der Leuchtturm, dessen Signale von allen Seefahrern zu nutzen sind. Zu den öffentlichen Gütern zu zählen sind aber etwa auch Verkehrswege, die Gerichtsbarkeit oder die Umweltqualität, wobei hier bereits graduelle Übergänge zu den privaten Gütern zu beobachten sind, weil eben doch eine Nutzenkonkurrenz aufkommt. Man könnte aber wohl auch institutionelle Ausprägungen zu den öffentlichen Gütern zählen, wie etwa die gesellschaftliche Anerkennung und intrapersonelle Verankerung der Fairneßprinzips, welches das wechselbezügliche Vertrauen konstituiert, auf dem das Marktgeschehen aufbaut (dazu grundlegend Coleman 1990, 300 ff.). 101 Zu diesen Ansätzen einer „Monetarisierung" siehe bei Fn. 129. 102 p r e y i994 ? 143 f f i n d i e s e Richtung auch Kirchgässner/Feld/Savioz 1999. Diese Sichtweise steht im offenen Widerspruch zu dem Ergebnis von Böckenförde (1983, 14), wonach „Demokratie als Staatsform nicht im Sinne einer unmittelbaren Demokratie konzipiert werden kann". 103 Sie weist damit in die Richtung der „constitutional economics" und der „public choice"-Theorie (dazu Petersen 1996a, 74 ff.).

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griff operieren, zumindest offengelegt werden sollte. Zu kritisieren wäre daher nicht die Verwendung des Wohlfahrtsbegriffes als solchem (Eidenmüller 1999, 56 f.), sondern zu hinterfragen ist jeweils, was alles zur Bestimmung des Wohlfahrtsoptimums heran gezogen wurde. bb) Zugang der Rechtswissenschaft Die Rechtswissenschaft nähert sich der Gemeinwohlfrage aus der Perspektive des Staates. Die Idee des gemeinen Wohls gilt hier in aristotelischthomasischer Tradition als Rechtfertigung für dessen Existenz. Das Gemeinwohl erscheint damit für manche als ein dem Staat „vorgegebener" 104 Plan, 1 0 5 was aber nicht bedeuten kann, daß damit auch die Lösung der Gemeinwohlfrage bereits vorgegeben i s t . 1 0 6 Vorgegeben ist allein, daß der Staat sich dieser Frage zu stellen hat, 1 0 7 weder die materiellen Maßstäbe noch die prozeduralen Wege zur Beantwortung der Frage lassen sich der Idee als solcher entnehmen. Hier handelt es sich um ein verfassungsrechtlich-praktisches Problem, das auf der Grundlage des Verfassungstextes zu lösen ist. Die Gemeinwohlverpflichtung allen staatlichen Handelns ist im Grundgesetz - anders als in einigen Landesverfassungen 108 - nur punktuell verankert. Sie findet ihre Grundlage im Demokratieprinzip, wie es in Art. 20 Abs. 1 GG niedergelegt und in Art. 20 Abs. 2 und 3 sowie in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG konkretisiert i s t . 1 0 9 Was unter Gemeinwohl konkret zu verstehen ist, muß auf der Verfassungsebene „prinzipiell offen" bleiben; es 104 Siehe etwa die Ansicht von Krüger (1966, 835), die von ihm als „Generalund Blankovollmacht" bezeichnete Handlungsmacht des Staates sei mit der „Unterstellung unter das Gemeinwohl existenziell determiniert". 105 Zur These der „präpositiven" Geltung der Idee, die ein Resultat der praktischen Vernunft sei und die ein „regulatives Prinzip" darstelle, aus dem sich ein „Richtmaß" für staatlichen Handeln ergebe, siehe Isensee 1996, Rn. 7 ff./32 ff.; zur Kritik dieses Staats- und Verfassungsverständnisses Schulze-Fielitz 1999. 106 W e r d e r Vorstellung anhängt, es gebe eine „vorgegebene" Lösung, wird eher geneigt sein, Hilfestellung anzunehmen, die ein Auffinden der „materiell richtigen" Gemeinwohllösung verspricht. Darin liegt aber immer die Gefahr, die jeweiligen individuellen Wertvorstellungen zum alleinigen Maßstab zu erheben und auf dieser Grundlage die Ergebnisse prozeduraler Gemeinwohlkonkretisierung beiseite zu schieben (siehe dazu in Kapitel E, bei Fn. 278 f.). 107 So im Ergebnis auch Isensee 1996, Rn. 34. 108 Siehe dazu etwa Art. 3 BayVerf: „Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat. Er dient dem Gemeinwohl. Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturrelle Überlieferung." Zur Verfassung für Rheinland-Pfalz siehe bei Fn. 119. 109 Kunig 1986, 333. Siehe dazu BVerfGE 05, 85/233 f. - KPD und die Beiträge von Häberle 1970 und 1983.

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handelt sich nicht um eine fixe und vorgegebene Größe, sondern um ein Produkt des pluralen, nicht interessenfreien 110 Prozesses politischer Willensbildung. 111 Fest steht nur, daß das „Wohl des ganzen Volkes", wie es im Amtseid nach Art. 56 GG seinen Ausdruck gefunden hat, 1 1 2 im Mittelpunkt der Gemeinwohlorientierung steht und nicht lediglich Partikularinteressen. Die Rechte einzelner oder bestimmter Gruppen können dem Gemeinwohl daher durchaus entgegengerichtet sein und dem Gemeinwohl in Gestalt der Grundrechte gegenübertreten. Gemeinwohlaspekte sind dabei in der Lage, Grundrechte einzuschränken, genauso wie umgekehrt bei der Verfolgung des Gemeinwohls die jeweils involvierten Grundrechte zu berücksichtigen sind. Insoweit kann es also durchaus zu Konflikten zwischen konkurrierenden Prinzipiennormen kommen. Das heißt aber nicht, daß hier ein grundsätzlicher Gegensatz bestünde. Vielmehr wird es in der Regel so sein, daß in der Verfolgung von Gemeinwohlbelangen zugleich die Möglichkeiten der Grundrechtsverwirklichung gefördert werden. Auch umgekehrt wird es oftmals so sein, daß die Wahrnehmung von Grundrechtspositionen einen Beitrag zum Gemeinwohl leistet. 113 Jedoch ist dies weder in der einen noch in der anderen Richtung durchweg der Fall. An der Notwendigkeit einer wertenden Gegenüberstellung führt daher kein Weg vorbei. Dies gilt auch für die nicht seltenen Fälle, in denen Konfliktlagen nicht allein zwischen Gemeinwohlbelangen und Individualpositionen, sondern auch zwischen divergierenden Gemeinwohlaufgaben und verschiedenen Grundrechtsträgern zu bewältigen sind. So mag etwa die Abnahme der Zahl der in Unfälle verwickelten Verkehrsteilnehmer zu einem Rückgang von Umsatzzahlen und Beschäftigung im Kfz-Gewerbe, in Kliniken und Rehabilitationszentren sowie in Anwalt110 Diese Beobachtung führt zu Vorschlägen wie dem von Streb (1994, 18 ff.), die Defizite des System der Mehrheitsentscheidung (Durchsetzung von Partikularinteressen, Ausbeutung von Minderheiten) dadurch zu kompensieren, daß eine Gruppe von Fachleuten (hier „bieten sich insbesondere Ökonomen an", a.a.O., 18) die entsprechenden Verteilungsnormen einstimmig billigt. Diese Vorstellung übersieht nicht nur, daß für diese Aufgabe sich die Philosophen seit alters her für besonders prädestiniert halten, sondern auch, daß das Grundgesetz materielle und prozedurale Vorkehrungen enthält, die darauf gerichtet sind, die o.g. Defizite wenigstens zu begrenzen. Die Vorstellung des „Konsenses der Fachleute" ist im übrigen zum einen als solche illusionär und zum anderen mit demokratischen Grundsätzen nicht zu vereinbaren. 111

Häberle 1983, 262; Dreier 1998a, Art. 20 (Republik) Rn. 19. Siehe zu dem damit aufgestellten Verantwortungsmaßstab Kapitel C, in Fn. 101. 113 Dazu tragen nicht zuletzt die - durch staatliche Vorgaben mitbeeinflußten institutionellen Bedingungen individuellen Grundrechtsgebrauchs ganz erheblich bei. 112

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schaft, Gerichten und Versicherungswirtschaft führen, der höher liegt als der Nutzenausfall auf Seiten der Unfallbetroffenen. Bei einer rein monetären Betrachtung könnte man - unter Berücksichtigung der involvierten Präferenzen 114 - die Frage nach einer „optimalen" Zahl und Schwere der Verkehrsunfälle stellen und zu dem Ergebnis gelangen, ein zu starker Rückgang sei unter Wohlfahrtsaspekten suboptimal. Eine solche Betrachtung dürfte allerdings das aufgegebene Gemeinwohlziel verfehlen. 115 Dieses Ergebnis ist allerdings nicht in der ökonomischen Analyse als solche angelegt, sondern ist abhängig davon, welche Aspekte man jeweils in die ökonomische Abwägung einstellt und wie man sie gewichtet. 1 1 6 Betrachtet man die Situation aus der Perspektive der Grundrechte, zeigt sich ebenfalls kein durchgängiger Konflikt zu Zielen des Gemeinwohls. Zwar steht es dem Einzelnen grundsätzlich frei, von dem ihm eingeräumten Recht in einer Weise Gebrauch zu machen, die seiner persönlichen Interessenlage entspricht. Dies heißt aber nicht, daß eigennützige Rechtswahrnehmung damit bereits dem Gemeinwohl abträglich wäre. Aufgabe der in den Kontext der anderen Verfassungsnormen eingebetteten Grundrechtsgewährleistungen ist es vielmehr, ein gedeihliches, ausgewogenes Miteinander zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund ist daher auch eine Formulierung nicht mehr überraschend, die betont: „Die Grundrechtsordnung hat die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit zum Z i e l " . 1 1 7 Weil aber auch die Gemeinwohlorientierung auf die Herstellung materieller Gerechtigkeit gerichtet i s t , 1 1 8 fallen hier die unterschiedlichen Perspektiven wieder zusammen. Die Intentionen, die mit den Begriffen Grundrechtsgewährleistung, Gemeinwohlorientierung und Gerechtigkeit zum Ausdruck gebracht werden sollen, sind rechtstheoretisch wie verfassungspraktisch aufs engste miteinander verwoben, 119 so daß sich von einem begrifflichen „Dreiklang" sprechen 114

Diese werden - jedenfalls bei einer statischen Betrachtung - nicht unwesentlich durch die vorgehaltenen Kapazitäten in Bereich der „schadensbewältigenden Einrichtungen" bestimmt. 115 Der Aussage, das „allgemeine Beste [bildet] keine bloße Aggregation individueller Präferenzordnungen", ist daher zuzustimmen (Isensee 1996, Rn. 39). 116 Von daher erweist sich auch der Zusatz von Isensee (1996, Rn. 39 in Fn. 54) als zutreffend, wenn er hervorhebt, die nationalökonomische Literatur - zu den Themen wie soziale Präferenzordnung, social choice, Wohlfahrtstheorie, öffentliche Güter - ermögliche „Aufschlüsse über die Konsensbildung unter den Bedingungen des marktwirtschaftlichen Individualismus; hier liegen für die Staatslehre ungehobene Schätze." 117 Kunig 1986, 335 (unter Verweis auf Scheuner). 118 Häberle (1983, 274) sieht in „Gerechtigkeit" einen Relationsbegriff zum Gemeinwohl, der mit diesem kollidieren könne, aber auch eine Teilidentität im Sinne einer Gemeinwohlgerechtigkeit sei möglich. 119 Unter Verweis auf die Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der sich zeige, wie sehr das Gemeinwohl in Affinität zur grundrechtlichen Freiheit

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läßt, bei dem die Aufgabe von Rechtssetzung und Rechtsprechung darin besteht, die Akzente so zu setzen, daß Spannung und Harmonie zusammenfinden. An dieser Stelle spielen die auf der Ebene des Verfassungsrechts und des einfachen Rechts zu bewältigenden Prinzipienkonflikte eine entscheidende Rolle. Die Aufgabe des Rechts besteht hier darin, eine wechselbezügliche Optimierung der beteiligten Rechtspositionen herbeizuführen [siehe Kapitel C]. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß das ökonomische Prinzip in Gestalt der Effizienzforderung bei einer Vielzahl von verfassungsrechtlichen Konflikten zum Tragen kommt, wie Hoffmann-Riem (1998, 19 ff.) nachgewiesen hat. Er sieht darin „einen Grundsatz bei sozialstaatlicher Ressourcenverteilung und dem gesamtgesellschaftlichen Interessenausgleich" (20). Allerdings zieht er daraus den Schluß, darin sei eine Prinzipienn o r m 1 2 0 im Sinne von Alexy zu sehen (23). Dem ist nicht zuzustimmen. Denn in den von Hoffmann-Riem analysierten Fällen wird nicht der Effizienzgedanke als solcher in die optimierende Abwägung eingestellt; vielmehr stehen sich dort jeweils verfassungsrechtliche Prinzipiennormen gegenüber, die untereinander zu optimieren sind. Dies ist der Grund dafür, daß in all diesen Konflikten Überlegungen auftauchen, die sich dem Grundmuster des ökonomischen Prinzips und damit dem Effizienzpostulat zuordnen lassen. Im Sinne von Alexy handelt es sich dabei jedoch nicht um ein eigenständiges „Rechts-Prinzip", sondern um eine rationale Methode, den Ausgleich kollidierender Prinzipiennormen zu ermöglichen. Der Effizienzgedanke (bzw. der korrelierende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) ist nicht selber Gegenstand von Optimierungsvorgängen, sondern leistet methodische Vermittlungsarbeit bei der Optimierung der jeweils betroffenen Prinzipien. Die Ursache für die unterschiedliche Perspektive mag darin liegen, daß Hoffmann-Riem die Forderung nach „Effizienz" und damit den normativen Gehalt des ökonomischen Prinzips in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt. 1 2 1 Dies erschwert den Blick auf die grundlegenden methodischen Übereinstimmungen. Zutreffend ist allerdings, daß dem ökonomischen Prinstehe, gelangt Häberle (1983, 259) zu der Auffassung, aus dem bloßen Gegenspielerverhältnis von Freiheit und Gemeinwohl werde ein Zusammenspiel. Dies kommt auch in Art. 1 Abs. 2 RPVerf zum Ausdruck, wo es heißt: „Der Staat hat die Aufgabe, die persönliche Freiheit und Selbständigkeit des Menschen zu schützen sowie das Wohlergehen des einzelnen und der innerstaatlichen Gemeinschaften durch die Verwirklichung des Gemeinwohls zu fördern." 120 Zu den verschiedenen Ansätzen, Effizienz als „Prinzip" in das Recht zu integrieren, siehe auch Kirchner 1997 (mit dem anschließenden Diskussionsbericht von Eidenmüller) sowie Eidenmüller 1998. 121 Er nimmt damit den Grundansatz einer Richtung der „ökonomischen Analyse des Rechts" auf, nämlich die normative Ökonomik; siehe dazu - und zu den Abgrenzung von dieser Richtung entwickelten Ansätzen - Kirchner 1996, 64 ff.

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zip - und gleichermaßen - dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein normativer Gehalt innewohnt. Dieser ist darauf gerichtet, die jeweils in Anspruch genommenen Ressourcen (womit auch grundrechtlich geschützte Freiheitssphären gemeint sein können) möglichst weitgehend zu schonen. Kommen die Prüfungsschritte im Sinne einer von Einseitigkeit geprägten Beziehung zum Tragen, dann richtet sich der normative Gehalt gegen denjenigen, der bestimmte Ziele verfolgen will (klassischerweise der Staat gegenüber dem Grundrechtsträger). Verläßt man allerdings die Einseitigkeitsperspektive und öffnet sich für die Erkenntnis, daß das Recht es nahezu durchgängig mit wechselbezüglichen Verhältnissen zu tun hat (Suhr 1984, Haverkate 1992), neutralisiert sich die normative Vorrangregel und schrumpft auf den Grundsatz größtmöglicher wechselseitiger Schonung; mit anderen Worten auf das Gebot der Rücksichtnahme. cc) Effizienz als Garant von Gerechtigkeit Gerechtigkeitsfragen zeichnen sich dadurch aus, daß die Realisierung des einen Belanges die Realisierungschancen des anderen beeinträchtigt. Zugleich sind die verschiedenen Belange aber meist wechselbezüglich aufeinander angewiesen. 122 Zu bewältigen sind demnach Konstellationen, die durch Konkurrenz und Interferenz gekennzeichnet sind. Daraus ergeben sich Wechselbezüge, die sich in unterschiedlichen Opportunitätskosten 123 alternativer Lösungsoptionen niederschlagen: Wird zugunsten des einen Verfassungsgutes ein Mittel eingesetzt, welches das Kriterium der Erforderlichkeit überschreitet, geht damit regelmäßig eine Minderung kollidierender Positionen einher, die nicht nur verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist, sondern - indem sie die Verwirklichungsmöglichkeiten der kollidierenden Positionen einengt - sich zudem in der Regel einer Minderung des Grades der Gemeinwohlverwirklichung niederschlägt. Eine Lösung, die dem Optimierungsauftrag der Gerechtigkeitsidee nicht entspricht, verfehlt damit regelmäßig zugleich die Gemeinwohlorientierung. Im Hinblick auf die Ausgangsfrage bedeutet dies, daß eine mit den Mitteln des Rechts hervorgebrachte Lösung des juristischen Knappheitsproblems, 1 2 4 die Verwirklichungschancen verfassungsrechtlicher Prinzipiennormen vergibt, dem in den Prinzipiennormen angelegten Optimierungsauftrag 122

Wenn es beispielsweise daraum geht, soziale Ziele zu verwirklichen, bedarf es dazu in der Regel einer wirtschaftlichen Grundlage; die wirtschaftliche Entwicklung gedeiht wiederum besser in einem geordneten sozialen Umfeld. 123 Zu diesem Begriff und dem damit verbundenen Kostenkonzept der Ökonomie siehe Homann 1998, 54 ff. und 1980, 166 ff. sowie Petersen 1996 a, 69 f. 124 Dieses Problem trat uns bereits in Kapitel C, Abschnitt IV. 2. b) bb) entgegen.

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widerspricht. Dies bedeutet zugleich, daß im Rahmen verfassungsrechtlicher Abwägungsentscheidungen den einzelnen Elementen der optimierenden Ziel-Mittel-Zuordnung eine tragende, wenn nicht gar „überragende Bedeutung" 1 2 5 zukommt. Wenn es verfassungsrechtlichen Grundsätzen widerspricht, Verwirklichungschancen kollidierender Verfassungsgüter in sachlich nicht gerechtfertigter Weise zu beschränken, dann liegt hier eine vollständige Übereinstimmung mit dem ebenfalls auf die Vermeidung der Verschwendung von Möglichkeitsräumen gerichteten ökonomischen Prinzip. Anders gewendet, entspricht eine Lösung, die gegen den Effizienzgedanken des ökonomischen Prinzips verstößt, auch nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Bewältigung von Prinzipienkonflikten. Auf dieser formalen Ebene ist daher eine Übereinstimmung zwischen dem Optimierungsauftrag der Rechtsordnung und dem Verschwendungsverbot des ökonomischen Prinzips festzustellen. Dies bedeutet zugleich, daß Effizienzanforderungen nicht nur verfassungsrechtlich zulässig sind, sondern die Verfassung vielmehr ein Gebot der effizienten Zuordnung der verschiedenen Verfassungsgüter enthält. Es ist deshalb zutreffend, von „Effizienz als Garant von Gerechtigkeit" (Kunig 1986, 438) zu sprechen. Die „rechtsstaatliche Effizienz" erschöpft sich dabei nicht in der effizienten Abwicklung administrativer und gerichtlicher Verfahren, 126 sondern kommt vielleicht sogar vorrangig - in der „verschwendungsfreien Zuordnung" kollierender Rechtspositionen zum Ausdruck. Zu betonen ist damit, daß die Idee der Gerechtigkeit nicht gegen die Forderung nach rationaler Abwägung und Begründung ausgespielt werden kann, sondern vielmehr darauf angewiesen ist, daß dieser Forderung Rechnung getragen wird. Im demokratischen Rechtsstaat verwirklicht sich Gerechtigkeit in rationalen und damit zustimmungsfähigen 127 Abwägungsvorgängen, für die der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie der Gleichbehandlungsgrundsatz die „Grundbausteine" darstellen. 128 Soweit sich Bezüge 125 Dreier 1996a, vor Art. 1, Rn. 91 in Bezug auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 126 Siehe dazu Kunig 1986, 4 3 8 ^ 5 6 . Begrifflich ist dabei zwischen Effektivität und Effizienz zu unterscheiden (was bei Kunig nicht durchweg der Fall ist); verfassungsrechtlich gefordert ist nicht nur eine effektive Erreichung der verfassungsrechtlichen Zielvorgaben, sondern auch eine möglichst weitgehende Schonung kollidierender Belange, mithin Effizienz. 127 Diese Interdependenz von Rationalität und Gerechtigkeitsidee ist auch angesprochen, wenn Kirchner das gemeinsame Fundament der beiden Disziplinen im „Legitimationsparadigma" i m Sinne der neuen Sozialvertragstheorien verortet (siehe dazu auch Hofmann 1998, 267 ff. und Homann 1998) und zwischen beiden ein Verhältnis der Komplementarität ausmacht (Kirchner 1998, 324 f.). 128 Wieacker (1979) sieht in der Verhältnismäßigkeit ein „Rechtsgebot", welches „ i m Kem der Gerechtigkeitsidee angesiedelt" sei und gerade auf „allgemeine Regelgerechtigkeit, nicht auf eine opportunistische Fallgerechtigkeit" ziele (873;

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zwischen der Ziel-Mittel-Relation in der Verhältnismäßigkeitsprüfung und jener im ökonomischen Prinzip herstellen lassen, trägt das ökonomische Prinzip dazu bei, die Gerechtigkeitsidee zu verwirklichen. Das im ökonomischen Prinzip verankerte Postulat der Effizienz ist daher nicht nur dem der Idee der Gerechtigkeit vereinbar, sondern beides gehört notwendigerweise zusammen (Streb 1994, 14): Ein zielinadäquater Einsatz gesellschaftlicher Ressourcen muß das Gerechtigkeitsziel verfehlen, weil damit Möglichkeiten „verschwendet" werden. Die Grenzen materiell-rationaler Effizienzbetrachtung sind jedoch erreicht, wenn zu entscheiden ist, welchen Gruppeninteressen der Vorzug zu geben und welche zurückzusetzen sind. Bei dieser Entscheidung geht es um Verteilungsfragen, die nicht mehr anhand des Effizienzpostulats zu beantworten sind, sondern nur auf der Grundlage von Wertungen. Es besteht daher kein Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gruppeninteressen; vielmehr endet die Geltungskraft des Effizienzpostulats dort, wo Wertungsfragen zu entscheiden sind. Die Versuche, dieses Problem mit Hilfe einer Monetarisierung der jeweils betroffenen Güter zu lösen und damit einen gemeinsamen Nenner für eine vergleichende, am Ziel des Wohlfahrtsoptimums orientierte Betrachtung zu finden, haben mit der Schwierigkeit zu kämpfen, Weitungsaspekte auszuschließen (Endres/Holm-Müller 1998, 18 ff. u. 26 ff.). Diese - praktisch kaum zu überwindende - Hürde und die übrigen methodischen Unsicherheiten führen dazu, daß sich die erzielbaren quantitativen Ergebnisse in einer relativ großen Spannbreite bewegen; eine Spannbreite, die eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungsoptionen offen läßt und damit in ihrem rationalitätssteigernden Effekt einer qualitativ-verbalargumentativen Abwägung kaum überlegen sein dürfte. 1 2 9 Derartige Ansätze bergen zudem die Gefahr, eine Genauigkeit in der Gegenüberstellung und Abwägung vorzuspiegeln, die durch die methodischen Grundlagen der Monetarisierung nicht gedeckt sind. 1 3 0 Dies spricht nicht dagegen, mit Hilfe der ökonomischen Analyse die tatsächliche Datengrundlage aufzuarbeiten und möglicherweise auch den Versuch einer monetären Quantifizierung zu unternehmen; allerdings gilt es dann, die Unsicherheiten in der Datengrundlage und Prognose, aber auch die impliziten Weitungen offen darzulegen. 131 Herv.i.O.). Aus der allgemeinen Geltung dieses Gebots ergibt sich für Wieacker, daß darin „unmittelbarer Ausdruck des Gleichheitsgrundsatzes" zu sehen ist (877); im Ergebnis ergänzen sich die beiden „Grundbausteine" rationalen Rechts damit gegenseitig. 129 Siehe dazu auch Petersen 1996b, 414 ff. sowie Enquête-Kommission 1994, 515 f. unter Verweis auf Pfaffenberger/Ströbele 1994. 130 Die daraus resultierende Scheinrationalität wird besonders problematisch dann, wenn auf dieser Grundlage nicht lediglich real wissenschaftliche Prognosen unterbreitet, sondern normative Aussagen abgeleitet werden [siehe dazu Abschnitt III. 2. a)].

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c) Ökonomische Analyse und juristische Abwägung Faßt man die bisherigen Ergebnisse zusammen und fragt zugleich nach den weiteren Perspektiven einer Verbindung von ökonomischer Analyse und juristischer Abwägung, ist zunächst auf die Gemeinsamkeiten in den methodischen Grundlagen hinzuweisen. Ökonomie und Recht stützen sich auf gemeinsame Wurzeln im „liberalen" Denken der Aufklärung. Unterschiedliche Fragestellungen haben jedoch zu verschiedenen Entwicklungspfaden geführt. Ein gemeinsamer Kern bleibt gleichwohl wirksam. Er findet sich in dem fundamentalen Rationalitätsanspruch, der beide Disziplinen verbindet: Die Unterscheidung von Zweck und Mitteln und die zwischen beiden Größen vermittelnde instrumentelle Vernunft. Das Recht hat dazu eigenständige „Rationalitäts-Tests" entwickelt, die sich dem ökonomischen Denken zu verweigern scheinen. Der Konflikt verschiedener Grundrechtssphären untereinander sowie zwischen Grundrechten und Belangen des Gemeinwohls läßt sich aber - wie bereits angesprochen auch als „juristisches Knappheitsproblem" verstehen. Bei dessen Bewältigung kommt in Gestalt des Übermaßverbotes die im ökonomischen Prinzip verankerte rationale Zweck-Mittel-Relation zum Tragen. Wegen des Vorrangs der Legislative bei der Wahl und Festlegung der Ziele (bzw. des Grades der angestrebten Zielerreichung) kommt in der verfassungsgerichtlichen Prüfung allerdings nur die Minimal-Variante des ökonomischen Prinzips zum Einsatz. Im Rechtsstaat, dessen Tragwerk auf den Fundamenten des Rationalitätspostulats und der Gerechtigkeitsidee ruht, ist Effizienz notwendige Bedingung für Lösungen, die den materiellen Anforderungen des Verfassungsrechts entsprechen. Die Aussage, die Verfassung sei „effizienzneutral" (Leisner 1971, 25), läßt sich daher nicht aufrechterhalten. Zwischen Effizienzdenken und der Forderung, nach materiell gerechten Lösungen zu suchen, besteht keineswegs ein Gegensatz; 132 Effizienz ist vielmehr integraler 131

Endres/Holm-Müller 1997, 25 f.; ähnlich Hampicke 1992, 134 f. und Bizer 1999. Diese Forderung gilt selbstverständlich für jede Form der wissenschaftlichen Politikberatung. Wird sie konsequent beachtet, zeigen sich rasch die Grenzen materiell-rationaler Problembewältigung. 132 So zutreffend Gawel 2000a (mit zahlreichen Nachweisen zur juristischen Rezeption des ökonomischen Prinzips). Die von Gawel kritisierte juristische Aussage, Effizienz sei kein Wert „an sich" (Häberle 1973, 631; ähnlich Britz 1997, 193), ist rein begrifflich betrachtet sogar zutreffend; sie übersieht jedoch, daß Effizienzbetrachtungen mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz immer dann zum Tragen kommen, wenn es um die Abschichtung konfligierender, rechtlich geschützter Werte geht. Derartige Konflikte unter möglichst geringer „Wertvernichtung" zu bewältigen, ist aber dem Rechtssystem normativ aufgegeben; insoweit leistet die Effizienzbetrachtung einen wesentlichen Beitrag bei der Bewältigung der normativen Aufga1 Führ

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Bestandteil normativer Forderungen des Rechts, die immer dann sichtbar werden, wenn Zweck-Mittel-Relationen zu betrachten sind. Kritische Einwände gegen das ökonomische Prinzip sowie das darauf gestützte Effizienzdenken treffen damit unmittelbar auch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Recht. Dessen Grenzen bestimmen damit zugleich die Offenheit des Rechts für Effizienzbetrachtungen. Abwägungsfragen sind aber bei praktisch allen von der Rechtsordnung zu entscheidenden Konflikten zu beantworten, was die - oftmals, allerdings unter Aspekten der Gewaltenteilung und der Rechtssicherheit kritisierte 1 3 3 Allgegenwärtigkeit von Verhältnismäßigkeitserwägungen begründet. Der Rückgriff auf materiell-rationale Effizienzbetrachtungen ist hier notwendig, nicht aber hinreichend für die Lösung. Denn die Forderung an das Recht, die getroffenen Entscheidungen auch materiell-rational zu begründen, stößt auf Grenzen. Diese Grenzen werden deutlich, wenn man die Gemeinsamkeiten mit dem ökonomischen Prinzip genauer beleuchtet; sie sind allerdings nicht „der" Ökonomie anzulasten, sondern ergeben sich vielmehr aus allgemeinen gesellschaftlichen Restriktionen. Defizite in der Erkenntnisund Prognosefähigkeit sowie Wertungsprobleme sind auch dem Rechtssystem immanent. Insoweit ist auch der Rationalitätstest, wie er von den Gerichten vorgenommen wird, in gleicher Weise begrenzt. Fragen der Gerechtigkeit lassen sich eben nicht bis ganz zum Schluß rational „durchdeklinieren". Die unvermeidlichen Wertungselemente verlangen vielmehr nach ergänzender prozeduraler Rationalität. 134 Auch wenn die Ökonomie grundsätzlich in der Lage ist, die prozedurale Rationalität in die Betrachtung einzubeziehen, 135 ändert dies nichts daran, daß sich hier zwei Rationalitätsperspektiven überlagern und eine „eineindeutige" Auflösung weder nach dem einen noch nach dem anderen Blickwinkel hin möglich ist; ein Ergebnis, welches sich auch in der ökonomischen Analyse wiederspiegeln muß. Tritt dies zu Tage, liegt darin keine Schwäche der Ökonomik, sondern die Ursache liegt im dem Zwei-Ebenenben des Rechts. Die gegen Häberle gerichtete Feststellung von Wahl (1983, 162), der Abwesenheit von Effizienz, also dem Walten von Ineffizienz, komme kein Eigenwert zu, greift daher zu kurz; vielmehr w i l l das Recht bei der Lösung des Knappheitsproblems Ineffizienz explizit vermeiden. 133 Siehe Kapitel C, Abschnitt V. 1. c). 134 Siehe Kapitel E, Abschnitt III. 3. b). 135 Prozedurale Aspekte erscheinen damit auch in der Ökonomie als „eine eigenständige Kategorie jenseits einer streng konsequentialistischen Ergebnisrationalität" (Gawel 1999b, 257 f.) Gawel weist jedoch zugleich darauf hin, die prozedurale Kategorie komme „in wirtschaftswissenschaftlichen Beiträgen allenfalls am Rande vor", hingegen erscheine das „ökonomische Vertrauen in materielle Ergebnisrationalität" ungebrochen (a.a.O., Fn. 30). Zu Ansätzen, prozedurale Rationalität in der Modellbildung zu berücksichtigen, siehe Abschnitt III. 4.

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Konzept materieller und prozeduraler Rationalität begründet. Problematisch - in juristischer wie in ökonomischer Hinsicht - ist es aber, wenn aus dem Blickwinkel einer der beiden Ebenen versucht wird, die alleinige Definitionsgewalt zu erlangen. Auch von Vertretern der Ökonomie wird selbstkritisch angemerkt, ein zu stark ausgeweiteter Geltungsanspruch normativ aufgeladener Ökonomik berge die „Gefahr der fundamentalen Kategorienverzerrung" (Wagner 1997, 24). Wagner fährt fort (a.a.O.): „Ohne Rückbesinnung auf die erforderlichen Grenzen und damit ohne Selbstbeschränkung des beanspruchten Kompetenzfeldes dürfte sich die Disziplin Wirtschaftswissenschaft mithin auf diesem Wege in eine Dominanzpositionen hinein lancieren, aus welcher heraus rein ökonomische Zielgrößen zu übergeordneten, d.h. gesellschaftlichen Wertgrößen stilisiert würden." Die von Wagner zu Recht geforderte Rückbesinnung auf die methodischen Grenzen kann aber auf der begrifflichen Ebene schon dann verletzt sein, wenn man meint, im ökonomischen Prinzip einen „Theorie- bzw. Rechenalgorithmus" und damit einen „Entscheidungs- und Abwägungsalgorithmus" gefunden zu haben. 1 3 6 Denn diese Begrifflichkeit legt es nahe, die Tragweite der darin verankerten materiellen Rationalkriterien zu überspannen und den Eindruck zu erwecken, die notwendigen Entscheidungen ließen sich allein auf dieser Grundlage gewissermaßen „mechanisch" herleiten. Die bereits angesprochenen Schwierigkeiten, unterschiedliche Nutzenfunktionen auf einen gemeinsamen überindividuellen Nenner zu bringen, führen hier zu erheblichen Einschränkungen. Damit ist aber in hohem Maße fraglich, inwieweit es angemessen ist, von einem Algorithmus, also von einem „methodischen Rechenverfahren" zu sprechen. Denn damit besteht die Gefahr, einer mathematisierten Scheingenauigkeit das Wort zu reden und die Ermittlungs- und Prognoseunsicherheiten zu überspielen, anstatt sie offenzulegen. Eine derartige Begrifflichkeit ist damit geeignet, die notwendigen, die Perspektive materieller Rationalität übersteigenden und nur prozedural zu bewältigenden Abwägungsschritte zu verdecken. Zutreffender dürfte es daher sein, im Effrzienzpostulat lediglich „eine elaborierte formale Methode der Abwägung und des Interessenausgleichs" zu sehen, so zutreffend Gawel (2001a, 21); der hinzufügt: „wie dies jeweils inhaltlich gefüllt wird, ist zugleich aber eine empfindliche rechts- und wirtschaftspolitische Entscheidung." Wenn diese „empfindliche" Entscheidung aber noch offen ist, sollte man nicht von einem Algorithmus sprechen. 137 136 So die Beschreibung des neoklassischen Ansatzes (siehe dazu auch Abschnitt III. 3. a) bei Gawel 2000a, passim. 137 So stellt Gawel selbst in seinen „Wegweisungen für eine zielführende juristische Effizien-Rezeption" fest (Gawel 2001a, 56), Effizienz sei „vorrangig eine Denkmethode zur vernunftgestützten Bewältigung sozialer Knappheitslagen, kein

1*

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Die Versuche, multidimensionale Wertungsfragen durch den gemeinsamen Nenner „Preis" zu lösen, stoßen auf eine Reihe methodischer Schwierigkeiten. Verzichtet man auf eine Monetarisierung und stellt die verschiedenen Größen lediglich qualitativ gegenüber, dann unterscheidet sich dieses Vorgehen der Ökonomie vom Grundansatz her nur wenig von demjenigen der Juristen: Es geht darum, die Vorzüge und Nachteile, die mit einer konkreten Entscheidung verbunden sind, auf die jeweilige Waagschale legen. 1 3 8 Eine besondere Qualität könnte allenfalls darin gesehen werden, daß es Ökonomen sind, die statt der Justitia die Waage in den Händen halten. Denn die Methodik unterscheidet sich nicht: Übereinstimmend geht es um eine verbal-argumentative Bewältigung und nachvollziehbare Vermittlung von Abwägungsvorgängen. Daß die Juristen hier noch einiges dazulernen können, steht ebenso außer Zweifel, wie die Tatsache, daß in den Wirtschaftswissenschaften entsprechende Methoden seit langem etabliert und erprobt sind. Die Ökonomen nehmen für sich in Anspruch, ihre Denkrichtung sei von vornherein darauf gerichtet, beide Seiten einer Angelegenheit zu berücksichtigen: Schon in den Grundlagen der MikroÖkonomie werde der Ökonom darauf trainiert, „die Aktiva mit den Passiva und den Aufwand mit dem Ertrag zu vergleichen; jeweils zwischen zwei Vorteilen oder zwei Übeln abzuwägen; angesichts einer Maßnahme oder eines Plans nach den Kosten zu fragen; generell davon überzeugt zu sein, daß man nichts umsonst erhalten kann; und auch zu fragen, wem eine Handlung, eine Entwicklung, eine Wertung nützt und wem sie schadet. Kurz: Auch der Wirtschaftswissenschaftler löst Abwägungsprobleme" (Stobbe 1991, 9). d) Ergebnis Die Entscheidungsfragen von Recht und Ökonomie weisen eine grundlegende Übereinstimmung auf: Rechtliche Normierungen sind stets nur zu haben um den Preis von Opportunitätskosten, d.h. verlorenen Realisierungschancen der jeweils für rechtlich unzulässig erklärten Optionen. Immer dort, wo es im Recht in diesem Sinne um Gestaltungsentscheidungen - und nicht lediglich um Vollzug vorgegebener Regeln geht - stellen sich Abwägungsfragen, die in ihrer Grundstruktur so angelegt sind, daß die Vernunftanforderungen des Rechts in gleicher Weise zum Tragen kommen wie die der Ökonomie. 1 3 9

eineindeutiges Rechenverfahren zur Ermittlung einer optimalen Punktlösung". Dem ist zuzustimmen. 138 Das Bild der Waage zieht Gawel (2001a, 21) heran, um den „Algorithmus" des ökonomischen Prinzips zu verdeutlichen; er nähert sich damit bereits auf der allegorischen Ebene der klassischen Funktion des Rechts.

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Die ökonomische Analyse kann dementsprechend dazu beitragen, die materiellen Rationalitätskriterien des Rechts in ihren sachlichen Grundlagen genauer auszuleuchten und die verbleibenden Wertungsfragen präziser zu formulieren. Dabei sind die methodischen Hindernisse, wie sie sich etwa bei dem Versuch einer umfassenden Monetarisierung der involvierten Güter stellen, zu berücksichtigen. Mit diesen Einschränkungen sollen aber die mit der Anwendung des ökonomischen Prinzips zu erzielenden Rationalitätsgewinne nicht geleugnet, sondern lediglich angemessen eingeordnet werden. Es besteht kein Gegensatz zwischen ökonomischem Prinzip und rechtlicher Rationalität. Dies gilt selbstverständlich auch für das Verfassungsrecht: Die Verfassung ist nicht effizienzneutral, sie fordert vielmehr für die in ihrem Anwendungsbereich zu lösenden Abwägungsfragen eine verschwendungsfreie und damit effiziente Zuordnung der verschiedenen Verfassungsgüter. Einer Nutzung ökonomischen Effizienzdenkens für die Lösung juristischer Abwägungsfragen stehen daher keine in methodischen Differenzen begründeten Hindernisse entgegen. Im Gegenteil: Die ökonomische Analyse eröffnet die Chance, die Rationalität rechtlicher Entscheidungen deutlich zu erhöhen; eine Chance, deren Nutzung dem Recht kraft seiner Rationalitätsorientierung aufgegeben ist. Problematisch wird die Übernahme der Ergebnisse ökonomischer Analyse erst dann, wenn diese nicht in der „positiv e n " 1 4 0 Variante, sondern in normativ aufgeladener F o r m 1 4 1 in Erscheinung tritt. Die Einschränkungen berühren die Gemeinsamkeiten im methodischen Fundament nicht. Das ökonomische Prinzip mit seinem Gebot der verschwendungsfreien Zweck-Mittel-Optimierung gilt für beide Disziplinen. Das Recht ist dementsprechend in keiner Weise gehindert, von den Erfahrungen der Ökonomie mit der methodischen Ausfüllung und Operationalisierung dieses Prinzips profitieren.

139 Die interdisziplinäre Kooperation verspricht daher bei Gestaltungsfragen besonders ertragreich zu sein (so auch Morlok 1998b, 26 f.). Siehe dazu auch den Ansatz der juristisch-ökonomischen Institutionenanalyse bei Bizer/Führ 1999. 140 Gemeint ist die realwissenschaftlich-empirische Variante der Ökonomik; siehe dazu bei Fn. 76. 141 Auch hier bestehen allerdings Verbindungslinien von normativer Ökonomik zu bestimmten Richtungen innerhalb der Rechtswissenschaft. Alle diejenigen, die von einem „vorverfassungsmäßigen", materiell-rational dominierten Bild von Freiheit und Gemeinwohl ausgehen, sind auch offener für normative Impulse aus der Ökonomie.

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3. Ökonomisches Modell menschlichen Verhaltens Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens nimmt für sich in Anspruch, nicht nur für das Wirtschaftsleben, sondern für eine Vielzahl sozialer Sachverhalte Aussagen bereitstellen zu können. 1 4 2 Er stützt sich auf ein zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch in seinen grundlegenden Merkmalen weitgehend akzeptiertes Modell, den „homo oeconomicus". 143 Dieser Modellansatz zeichnet sich aus durch eine Reihe charakteristischer Merkmale: 1 4 4 (1) Ausgangspunkt ist der Anspruch, soziale Tatsachen empirisch zu erklären (explanative Zielsetzung). (2) Der dazu verwendete Erklärungsansatz greift zurück auf den methodologischen Individualismus. Dies heißt jedoch nicht (jedenfalls nicht in erster Linie), daß damit das tatsächliche Verhalten einzelner Personen erklärt werden soll. Vielmehr steht im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses das Verhalten größerer Gruppen von Individuen. Das Verhalten dieser sog. Aggregate (etwa Konsumenten oder Unternehmer) soll sich aus den Regelmäßigkeiten im Verhalten der Mehrheit dieser Gruppe erklären lassen (Kirchgässner 1999, 32). (3) Unterstellt wird weiter, daß sich das Individuum an den erwarteten Handlungsfolgen orientiert. Für die in Betracht kommenden Verhaltensalternativen ermittelt es anhand der äußeren Randbedingungen (Restriktionen) die jeweils zu erwartenden Folgen, stellt diese vergleichend gegenüber und trifft auf der so geschaffenen Grundlage seine AuswahlEntscheidung im Sinne des rational choice-Paradigmas. (4) Die Auswahlentscheidung trifft das Individuum für jede Einzelentscheidung erneut (situatives bzw. punktuelles Rationalmodell des Verhaltens).

142 Robbins (1932, 15) definiert die Ökonomik als die Wissenschaft der Wahl zwischen verschiedenen Verhaltensalternativen: „Economics is the science which studies human behaviour as a relationship between ends and scarce means which have alternative uses"; zu den wissenschaftsgeschichtlichen Wirkungen von Robbins Essay siehe Petersen 1996a, 50 ff./66 ff. und Eidenmüller 1998, 43 ff. Zu dem damit eröffneten Forschungsprogramm siehe Becker 1976 sowie die Beiträge in Ramb/Tietzel 1993. 143 Siehe dazu Kirchgässner 1991 sowie die zusammenfassende Darstellung bei Weck-Hannemann 1999. Für eine akteurtheoretische Perspektive der Soziologie und die dort formulierten Verhaltensannahmen - etwa den „homo sociologicus" - sowie für eine Auseinandersetzung mit dem „homo oeconomicus" siehe Schimank 2002. 144 Siehe dazu etwa Ramb/Tietzel 1993 a, Ramb 1993 sowie Baurmann 1966, 129 ff. mit zahlreichen Nachweisen.

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(5) Die Bewertung der Handlungsfolgen erfolgt nach dem Prinzip subjektiver Nutzenmaximierung. Was als „Nutzen" gilt, ist nach dem Modell grundsätzlich offen. Das Individuum ist frei, seine Präferenzen selbst zu bestimmen. Die Präferenzen - und dementsprechend der vom Individuum zugeordnete Stellenwert der Handlungsfolgen - können sich auf alles Mögliche beziehen. In der konkreten Entscheidungssituation bewertet der homo oeconomicus damit die zu erwartenden, von dem Kranz der Restriktionen bestimmten Handlungsfolgen im Hinblick auf seine Präferenzen. Für die praktische Anwendung des Modells bedeutet dies, daß die Individuen auf eine Veränderung der Restriktionen in systematischer Weise reagieren: Steigt unter veränderten Randbedingungen der erwartete Nutzen einer Entscheidungsalternative, so nimmt die Wahrscheinlichkeit, daß der homo oeconomicus diese Alternative wählt, ebenfalls zu. Gleiches gilt in umgekehrter Richtung für eine Absenkung des Nutzenniveaus durch veränderte Restriktionen (systematische Reaktion). Das ökonomische Verhaltensmodell beruht auf der Differenzierung von Zielen (Präferenzen) und Mitteln sowie der Annahme, der homo oeconomicus sei in der Lage, unter den in Betracht kommenden Verhaltensalternativen eine vernunftgemäße Auswahl zu treffen: Er entscheidet sich für die Alternative, von der er erwartet, daß sie zur bestmöglichen Verwirklichung der von ihm angestrebten Ziele führen w i r d . 1 4 5 In Anbetracht der sowohl im privaten wie im öffentlichen Bereich anzutreffenden Knappheit an Gütern stellt sich der homo oeconomicus dem daraus resultierenden Allokationsproblem und löst dieses kalkulatorisch unter Rückgriff auf das ökonomische Prinzip [siehe Abschnitt III. 2. a)]. a) Das klassische Modell des „homo oeconomicus " In der neoklassischen Grundvariante entscheiden Individuen in einer transaktionskostenfreien Welt vollständiger Information und störungsfreien Wettbewerbs. Informationsdefizite sind definitionsgemäß ebenso ausgeschlossen wie Aufwendungen für Beschaffung und Verarbeitung von Informationen oder für Durchführung von wirtschaftlichen Vorgängen. Auch ist die Bildung von Interessengruppen nicht vorgesehen; stattdessen wird vollständiger Wettbewerb und eine freie Entscheidung der Wirtschaftssubjekte unterstellt (Richter/Furubotn 1996, 3 ff. m.w.N.). Auch wenn diese „reine Welt" der Neoklassik in dieser Form kaum noch vertreten wird, bildet sie doch die Grundlage der ökonomischen Modellbildung und lebt - nur punk145

Siehe statt vieler Kirchgässner 1991, 14 und Streb 1994, 2. Zu den unterschiedlichen Ausprägungen des rational choice-Paradigmas siehe Abschnitt III. 4. a).

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tuell abgeschwächt - als „mikroökonomische Lehrbuchversion" (Weck-Hannemann 1999, 84) fort. 1 4 6 Eine weitere Grundannahme des Verhaltensmodells betrifft die kulturelle Prägung der Individuen. Der homo oeconomicus klassischer Prägung ist eine „Figur ohne Bindungen und Eigenschaften" (Leipold 2000). Kulturelle Aspekte kommen allenfalls über entsprechend geprägte Präferenzen zum Tragen. Da diese modellierungsbedingt meist stark vereinfacht gedacht werden, bleibt der homo oeconomicus kulturell indifferent.

In Anlehnung an Kirchgässner 1991; K. Bizer 1998 a.

Abbildung 3: Das klassische Verhaltensmodell des homo oeconomicus

Der klassische homo oeconomicus stellt in jeder konkreten Entscheidungssituation Kosten und Nutzen gegenüber und entscheidet sich für die Alternative, bei der er den höchsten Nutzen erwartet. Er trifft diese Auswahl in jeder Entscheidungssituation jeweils erneut, was ihn als „situativen Nutzenmaximierer" qualifiziert. Nach den Modellannahmen ist es ihm nicht gestattet, nach einer anderen Entscheidungsregel zu handeln. 147 Ebenfalls aus Gründen der Modellkonsistenz wird zudem angenommen, daß die Präferenzen unverändert bleiben. Veränderungen in den externen Randbedin-

146

Zu der Frage, inwieweit der homo oeconomicus über den sozialwissenschaftlichen Erkenntniswert hinaus als Leitbild lebensweltlicher Praxis wirksam wird, siehe Manstetten 2000, 120 ff. sowie Kapitel F, Abschnitt V. 147 Baurmann 1996, 325; siehe dazu bei Fn. 171.

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gungen, den Restriktionen (etwa veränderte Preise), führen dann unmittelbar zu entsprechenden Verhaltensanpassungen. Der naheliegende Einwand, diese Annahmen seien in der sozialen Wirklichkeit 1 4 8 nicht durchweg erfüllt, ist für sich allein noch kein Argument gegen das Verhaltensmodell. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage, in welchem Ausmaß es mit Hilfe des Modells gelingt, das tatsächliche Verhalten zu analysieren und zu prognostizieren. Entscheidend ist also, inwieweit das Modell in der Lage ist, das „regelmäßige Verhalten" zu erklären. Die vereinfachenden Annahmen erleichtern zweifellos den universellen Einsatz des homo oeconomicus in den Modellwelten. Gegen reduktionistische Modellbetrachtungen sind daher keine grundsätzlichen Einwände zu erheben, jedoch ist zu fordern, jeweils die damit verbundenen „Kosten" offenzulegen und deren Relevanz für die gewonnenen Ergebnisse zu diskutieren. 149 Aus einer Perspektive, die nach den Verwirklichungsmöglichkeiten für Regelungsmuster aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung fragt, bleibt an diesem Modell unbefriedigend, daß die Handlungsfolgen, die aus der Verletzung unvollkommener Pflichten resultieren, sich nur schwer kalkulieren lassen, wenn man kulturelle Bindungen - etwa an informelle FairneßRegeln im Sinne des Gegenseitigkeitsprinzips - außer Betracht läßt. Das Modell erscheint daher in erster Linie geeignet, die Reaktionen auf strikte Regeln des Rechts abzubilden. Die auf die einzelne Entscheidungssituation konzentrierte Perspektive erschwert es zudem, ein Verhalten abzubilden, welches sich anhand einer langerfristigeren Betrachtung an den aus einer Entscheidung resultierenden Folgen orientiert. 150 Ergeben sich aus der Empirie Befunde, wonach Individuen sich in der genannten Weise verhalten, ist dies auf der Grundlage des klassischen homo oeconomicus nur als modellwidrige „Anomalie" 1 5 1 zu klassifizieren, weil sie nicht dem Kriterium der situativen Nutzenmaximierung entsprechen.

148 Die unbegrenzenten Möglichkeiten des Modellmenschen im Hinblick auf seine Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Entscheidungskapazitäten stehen dabei in auffälligem Kontrast zu den modellbedingt einfach strukturierten Problemen, so daß der homo oeconomicus erscheint als „a superman in the kindergarten" (Tietz 1992, 299). 149 Siehe dazu Morlok 1993, 378 f. (unter Verweis auf Stachowiak 1973, 128 ff.) und Homann 1994, 401 ff. 150 Etwa die Folgen eines - infolge strikt eigennutzorientierten Verhaltens - nach und nach zunehmenden Vertrauensverlustes bei den Kooperationspartnern mit der daraus bei diesen resultierenden Neigung, von juristischen Schritten Gebrauch zu machen und sich dabei auf die Einhaltung unvollkommener Pflichten (z.B. „Treu und Glauben") zu berufen. 151 Siehe dazu Weck-Hannemann 1999, 85 f. sowie sogleich im Text unter c).

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D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse b) Modellerweiterungen

In einem weiteren Schritt ist daher zu fragen, durch welche ergänzenden Annahmen sich die Aussagekraft erhöhen läßt; wobei jeweils zu prüfen ist, ob die zusätzlichen Annahmen den Erhebungs- und Verarbeitungsaufwand in einem Maße steigern, der durch den zusätzlichen Erkenntnisgewinn gerechtfertigt ist. In der Ökonomie selbst, aber auch in den Nachbardisziplin e n 1 5 2 hat man die Grenzen des ökonomischen Verhaltensmodells relativ früh wahrgenommen und eine ganze Reihe von Erweiterungen der Modellannahmen diskutiert. 153 Eine wichtige Modellerweiterung liegt in der Anerkennung von Transaktionskosten. Sowohl die Informationsbeschaffung und deren Verarbeitung, aber auch die Abwicklung des Marktgeschehens beanspruchen die Ressourcen der Akteure. In welchem Umfang der homo oeconomicus diese einsetzt (etwa zur Verbesserung der Informationslage), ist wiederum Gegenstand einer Nutzen-Kosten-Analyse. Weil bei dieser Analyse aber erneut Transaktionskosten anfallen, deren Ausmaß nicht vollständig bekannt ist, bedarf es einer weiteren Kalkulation (der „kleine homo oeconomicus im Ohr des homo oeconomicus"; Tietzel 1981, 130), die jeweils auf der nächsten Ebene zu wiederholen ist. Damit entsteht ein infiniter Regress, der nur unter Rückgriff auf andere Entscheidungsregeln - und damit auf Kosten der Modellkonsistenz - zu stoppen ist (Conlisk 1996, 687). Der homo oeconomicus behandelt Information jetzt als ein weiteres Gut, dessen Nutzung es zu optimieren gilt: Er wägt den Nutzen zusätzlich gewonnener Informationseinheiten gegen die dabei entstehenden Kosten ab, entscheidet dabei aber von einer Schwelle an, bei der sich Unsicherheiten und Nutzenerwartung nicht mehr kalkulatorisch beherschen lassen, auf der Basis seiner „Intuition". Bereits die ersten Modellerweiterungen stellen damit - denkt man sie konsequent zu Ende - die Vorstellung vollständiger Kalkulation in Frage. Damit einher geht eine Relativierung der Zielfunktion. Die Anerkennung kognitiver Schranken und Transaktionskosten legt es nahe, daß sich die Individuen mit einem geringeren Optimierungsgrad zufrieden geben. Für sie ist es ausreichend, wenn ein bestimmtes, von ihnen selbst vorgegebenes Anspruchsniveau erreicht wird. Ein solcher Modellmensch ist kein Maximierer, sondern lediglich ein „satisficer". 154 152 Zu verweisen ist etwa auf die (Sozial-) Psychologie; siehe beispielsweise die Arbeiten von Simon 1955, 1957 und 1982 (sowie die Beiträge in Frey/Irle 1993), auf die im folgenden einzugehen sein wird. 153 Siehe zum folgenden Bizer 1998 sowie Weck-Hannemann 1999 m.w.N. 154 Siehe Weck-Hannemann 1999, 83. Eine solche Strategie läßt sich durchaus als Optimierungsstrategie deuten, die an der subjektiven Befindlichkeit in einem bestimmten sozialen Kontext ausgerichtet ist. Zufriedenheit tritt dann ein, wenn sich das Individuum in den Merkmalen seines Kontextes („Milieu") angemessen einge-

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Die Grenzen der Annahme nutzenmaximierender Kalkulation zeigen sich damit auch innerhalb der Ökonomie - wobei es durchaus rational sein kann, in dieser intuitiven, d.h. nur begrenzt kalkulierenden Weise mit den Erkenntnisgrenzen umzugehen; in diesem doppelten Sinne ließe sich von „bounded rationality" sprechen (Simon 1982) 1 5 5 . Zwar wird damit, wie man durchaus auch einräumt, die strikte Annahme der Nutzenmaximierung in Frage gestellt; diese sei jedoch nicht notwendig, um theoretisch und empirisch gehaltvolle Aussagen ableiten zu können. 1 5 6 Die Annahme rationalen Verhaltens im Sinne einer systematischen Reaktion auf sich ändernde Rahmenbedingungen bleibe gewahrt. c) Empirie der „Anomalien " und normative Bindungen Die bislang diskutierten ergänzenden Annahmen halten am grundsätzlichen Vorrang situativer Nutzenorientierung fest. Daneben treten in den letzten Jahren vermehrt Forderungen nach einer weitergehenden Abwandlung des Modells. Haupttriebkraft dieser Weiterentwicklungen ist die Beobachtung, daß sich soziale Phänomene mit dem Modell situativer Nutzenoptimierung nicht hinreichend erklären lassen. Danach müßten etwa die Sozialsysteme eigentlich längst vollständig zusammengebrochen sein: Der darin angelegte Anreizmechanismus - der dem Einzelnen Zugang zu Leistungen eröffnet, ohne daß dem auf der individuellen Ebene in gleichem Umfang Kosten gegenüberstehen - läßt es für den Nutzenmaximierer vorteilhaft erscheinen, „kräftig zuzulangen" (Trittbrettfahrer-Effekt). Dieser Moral-Hazard führe zu einem Teufelskreis und sei die institutionalisierte „Verführung zur Verantwortungslosigkeit" (Bonus 1989). Ähnliches müßte für den Bereich des Steuerrechts gelten. Die Empirie belegt dies allerdings nur zum Teil (Schmidtchen 1994). Die Effekte sind bei weitem nicht so stark wie sie bei uneingeschränkter Geltung der Modellannahmen sein müßten. Sie lassen sich auch durch die Kontroll- und Sanktionsmechanismen nicht ausreichend erklären. Es liegt daher nahe, daß neben situativ-eigennützigen auch normative Beweggründe das menschliche Verhalten bestimmen (Nut-

ordnet sieht. Eine weitere Steigerung in der Merkmalserfüllung mag dann zwar möglich sein, die dafür einzusetzenden Mittel (Suchkosten etc.) erscheinen jedoch angesichts des bereits erreichten Grades an Zufriedenheit unangemessen hoch. Zudem besteht u.U. die Gefahr, durch zu starke Betonung einzelner Merkmale den Konsens des sozialen Kontextes zu verlassen. Die - meist informalen - Regeln, die den sozialen Kontext bestimmen, lassen sich als „institutionelle Rahmenbedingungen" verstehen und analysieren; siehe dazu Abschnitt III. 4. b). 155 Dazu Lübbe 1999, 19 und Weck-Hannemann 1999, 84. Zum Rationalitätsbegriff siehe Abschnitt III. 4. a). 156 So zumindest die Einschätzung von Arrow 1986; Frey 1990, 11; Kirchgässner 1991, 31 f. und Weck-Hannemann 1999, 84.

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D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

zinger 1993, 383). Z u klären ist daher, w i e sich diese normative Verhaltensorientierung genauer beschreiben läßt und i n welcher Weise sie i n das Verhaltensmodell zu integrieren ist. B e i der Frage, welcher Verhaltensalternative der Vorzug zu geben ist, sieht sich das I n d i v i d u u m nicht nur den bereits thematisierten k o g n i t i v e n Grenzen gegenüber, es ist auch eingebettet i n einen spezifischen kulturellen Kontext, der sich als Momentaufnahme i n der historischen

Entwicklung

verstehen läßt. D e n damit zusammenhängenden Fragen w i d m e n sich i n der Ö k o n o m i e die Vertreter der ä l t e r e n 1 5 7 und jüngeren historischen S c h u l e . 1 5 8 I n jüngerer Z e i t tritt die kulturelle Einbettung der Wirtschaftsordnungen und ihre Konsequenzen für das ökonomische Verhaltensmodell zunehmend i n das B l i c k f e l d der Ö k o n o m i e . 1 5 9 Danach scheint es geboten, i n Analyse und Prognose kulturell bedingte Einschränkungen des Eigennutzkalküls zu berücksichtigen, die sich letztlich als m o r a l i s c h e 1 6 0 Bindungen verstehen lassen.161 Z u r Veranschaulichung „moralischer" Bindungen sei verwiesen auf die Ergebnisse experimenteller Wirtschaftsforschung.

Sie konnte anhand v o n

Experimenten nachweisen, daß Individuen eine innere B i n d u n g an elementare Fairneß-Regeln - etwa das i n der „Goldenen R e g e l " 1 6 2 verankerte Ge-

157 Die innerökonomische Kritik setzte bereits in den Jugendjahren des homo oeconomicus ein (siehe z.B. Brentano 1888). Sie arbeitete im folgenden auch heraus, daß der homo oeconomicus traditions- und kulturlos zu sein scheint, daß aber gerade Kultur und tradierte Verhaltensmuster Entscheidungen wirksam beeinflussen. 158 p ü r weitere Nachweise siehe Söllner 1999 und Leipold 2000. 159 Siehe dazu etwa - am Beispiel von Selbstverpflichtungserklärungen - Bizer 1999b und Bizer/Jülich 1999 sowie für einen Versuch umfassender modelltheoretischer Aufarbeitung Leipold 2000. 160 Der Begriff der Moral fungiert dabei als Oberbegriff für verschiedene institutionell vermittelte Bindungsformen, wobei zu differenzieren sei (Leipold 2000) zwischen rationalen (Einsicht in die „Nützlichkeit der Uneigennützigkeit"), emotionalen (natürliches „Mitgefühl" innerhalb und außerhalb verwandschaftlicher Beziehungen), religiös-ideologischen (Glauben und Ideen anstatt beweisbaren Wissens) und rechtlichen, also mit staatlicher Durchsetzung gesicherten Bindungen. Dieser umfassende Moralbegriff stimmt überein mit dem oben entwickelten (siehe Kapitel B, Abschnitt III. 1) weiten Verständnis der Moral, welches „Tugendpflichten" ebenso mit einschließt wie „Rechtspflichten"; siehe dazu Kersting 1997, 102 ff. sowie Ludwig 1997, 98 f. 161

So auch Platteau 1994, 765 ff. und Baurmann 1996. M i t diesen Modifikationen der Modellannahmen öffnet sich die Ökonomie (bzw. eine bestimmte Denkrichtung innerhalb der Ökonomie) für Fragen der moralischen Fundierung menschlichen Verhaltens. Daraus ergeben sich Überschneidungen des wissenschaftlichen Gegenstandsbereiches zu juristischen Untersuchungen, die sich dem Verhältnis von Recht und „Moral" widmen; siehe dazu Lübbe-Wolff 1999. 162 Siehe dazu Kapitel F, bei Fn. 23. Aus den verschiedenen Experimenten leitet Falk (2001) eine Bindung sowohl an die negative wie an die positive Form der

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genseitigkeitsprinzip - aufweisen: Verstöße der Mitspieler gegen die unausgesprochenen Fairneßnormen bestrafen sie selbst dann, wenn es sie etwas kostet und es ihnen nicht unmittelbar nützt. 1 6 3 Die Teilnehmer an den Experimenten waren also bereit, ohne jede Aussicht auf Belohnung viel Mühe in die „Bestrafung" von unkooperativen Individuen zu investieren; damit tragen sie zugleich dazu bei, die jeweilige „moralische Norm" institutionell zu festigen. Würde allein die Annahme situativer Nutzenoptimierung gelten, so müßten sie hingegen auf die Strafe verzichten und versuchen, ihren Gewinn zu maximieren. Offenbar ist aber die institutionelle Verankerung der Fairneß-Regeln so stark, daß die Individuen sich daran auch dann orientieren, wenn dies zu suboptimalen Ergebnissen auf der Nutzenseite führt. Die intrapersonelle Verankerung stützt sich dabei auf informale Normen und ist offenbar nicht von positivierten Regeln abhängig. Dieser Befund kann erklären, weshalb die im Rahmen der Bestandsaufnahme in Kapitel C zusammengestellten Ergebnisse der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe auf der Grundlage des Gegenseitigkeitsprinzip und dessen Operationalisierung durch die wechselbezügliche Verhältnismäßigkeitsprüfung überwiegend auf eine breite Akzeptanz stoßen. Als Konsequenz aus diesen Befunden wird das Verhaltensmodell um eine Komponente erweitert: Der modifizierte homo oeconomicus kalkuliert nicht immer und ständig die Nutzen-Kosten-Relation, sondern orientiert sich auch an Verhaltensmustern, ohne sich jeweils im konkreten Einzelfall die Frage zu stellen, ob damit eine Optimierung des Verhältnisses von Kosten und Nutzen einhergeht. Das Individuum nimmt die Verhaltensmuster durch Imitation, Konditionierung und andere soziale Interaktionsvorgänge auf. Es wird kulturell so sozialisiert, daß es Verhaltensmuster verinnerlicht, bevor es sie einem Rationalitätskalkül unterziehen kann (Hodgson 1998). Das menschliche Verhalten beruht damit zu einem erheblichen Teil auf verinnerlichten Normen und Verhaltensmustern, die das Individuum nicht reflektiert (also auch keiner situativen Nutzenkalkulation unterzieht), sondern nur reproduziert. 164 Die Modellerweiterungen sind in der Lage, empirische Phänomene zu integrieren, die in der ökonomischen Literatur unter dem Oberbegriff der „Anomalie" diskutiert werden. Darunter versteht man Beobachtungen, die mit der Annahme situativer Erwartungsnutzenkalkulation nicht im Einklang stehen. Aus der Perspektive des neoklassischen Verhaltensmodells sind diese Reaktionen als „anormal" bzw. als „nicht-rational" oder „paradox" zu „Goldenen Regel" ab und w i l l auf dieser Grundlage dem homo oeconomicus den „homo reciprocans" zur Seite stellen (siehe dazu auch Bizer/Führ 2001). 163 Siehe etwa Falk/Fehr/Fischbacher 2000 und Falk 2001. 164 Nicht alles, was Individuen wissen, ist einer bewußten Reflexion zugänglich. Polanyi (1966) nennt dies die „tacit dimension" des Wissens.

270

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

bezeichnen, da sie sich außerhalb des Erklärungsgehaltes des M o d e l l s bewegen. So zeigen empirische Untersuchen beispielsweise, dass die I n d i v i duen dazu neigen, Verlusten v o n bereits erlangtem E i n k o m m e n einen höheren Wert beizumessen als entgangenem G e w i n n gleicher Höhe und bei gleicher Eintrittswahrscheinlichkeit

( B e s i t z e f f e k t ) . 1 6 5 D i e Erklärung dafür

dürfte i n internalisierten N o r m e n (etwa: „ W e r den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht w e r t " ) zu sehen sein, wobei die Internalisierung sich als Ergebnis eines institutionell vermittelten Prozesses d a r s t e l l t . 1 6 6 Unter Institutionen versteht man hier sowohl formale als auch informale N o r m e n m i t entsprechenden Durchsetzungsmechanismen. 1 6 7 Neben dem selbstverständl i c h ebenfalls noch fortwirkenden instinktgebundenen Reaktionen stehen dam i t zwei verhaltensbestimmende Faktoren: z u m einen das situativ-nutzenorientierte K a l k ü l und z u m anderen die Orientierung an Normen, R e g e l n 1 6 8 und anderem Verhaltensmustern (siehe die A b b i l d u n g auf Seite 284). D i e Aufnahme der institutionellen Komponente stellt sich dar als A n t w o r t auf empirische Phänomene und erhöht damit die empirische F u n d i e r u n g 1 6 9 des Gesamtmodells.

165 Weitere Anomalien (siehe dazu Weck-Hannemann 1999 sowie Frey 1990, Kap. 11; jeweils m.w.N.) beziehen sich auf die Art der Informationsverarbeitung (z.B. ,base rate fallacy', ,insensitivity to sample size', ,anchoring'), auf die Bewertung kleiner Wahrscheinlichkeiten und absoluter Sicherheit (z.B. ,certainty effect'), auf die Verwendung von Referenzpunkten (z.B. ,endowment effect', ,status quo bias') und auf den Einfluß der Problempräsentation (z.B. ,framing effect', ,sunk cost effect', ,opportunity cost effect'). 166 Nach Frey (1990, 179) spricht viel dafür, daß „Verhaltensparadoxa auf individueller und gesellschaftlicher Ebene existieren; diese Anomalien für das menschliche Verhalten bedeutsam sind; sie schwerlich durch die Erweiterung und Umformulierung der Erwartungsnutzenmaximierungshypothese adäquat zu erfassen sind; (und) eine explizite Berücksichtigung der pschologischen Elemente der Verhaltensparadoxa im Rahmen von Institutionen notwendig ist." 167 Zum sozialwissenschaftlichen Begriff der „Institution" siehe Kapitel A, Abschnitt III. 3. 168 Wenn in diesem Zusammenhang von „Regeln" gesprochen wird, dann sind damit alle nicht nutzenorientierten Verhaltensgrundlagen gemeint. Bezeichnet wird die Bindung an andere Entscheidungsnormen, unabhängig davon, auf welcher Grundlage sie beruhen. Diese in der Modelltheorie gebräuchliche Redeweise ist nicht identisch mit der begründungstheoretischen Gegenüberstellung von „Regeln" und „Prinzipien" [siehe dazu Kapitel C, Abschnitt IV. 1.]; vielmehr dürften die Entscheidungsnormen überwiegend Prinzipiencharakter aufweisen. 169 Für Beispiele empirischer institutionenökonomischer Analyse sei auf das Steuerungsproblem im Bereich der Emissionsminderung bei flüchtigen organischen Verbindungen verwiesen [siehe dazu Kapitel E, bei Fn. 236] sowie auf die Maßnahmen zur Integration Schwerbehinderter in die Arbeitswelt [siehe dazu Kapitel E, Abschnitt II. 1. b) und III. 2. a) bb)]. Weitere Beispiele finden sich unter www.sofiadarmstadt.de.

III. Elemente eines Verhaltensmodells d) Nutzenfundierung

271

normativer Bindungen

Klärungsbedürftig bleibt die Frage, in welchem Verhältnis die verschiedenen Faktoren des durch die institutionelle Perspektive ergänzten Verhaltensmodells zueinander stehen. Aus der Perspektive der Institutionenökonomie ergibt sich eine Verbindung bereits daraus, daß sich auch das erwartungsnutzenorientierte Kalkül mit den dazu erforderlichen Wahrnehmungs- und Abwägungsschemata als Ergebnis eines sozial vermittelten kognitiven Prozesses 170 darstellt. Die institutionelle Prägung individueller Entscheidungsmuster ist damit eine die verschiedenen verhaltensbestimmenden Faktoren überspannende Gemeinsamkeit. In modelltheoretischer Hinsicht erscheint es aber gleichwohl wenig befriedigend, wenn sich verhaltensbestimmende Faktoren gegenüberstehen, die auf unterschiedlichen Begründungsmustern beruhen und divergierende Entscheidungsregeln bereitstellen. Auch wenn derartige Widersprüche angesichts des Erkenntnisgegenstandes „menschliches Verhalten" möglicherweise bis zu einem gewissen Grade unvermeidbar sind (etwa infolge der Reste instinktgebundenen Verhaltens), wäre es aus Gründen der Modellkonsistenz dennoch zu begrüßen, wenn sich das Spannungsverhältnis jedenfalls abmildern ließe. Der modelltheoretischen Integration regelgebundenen Verhaltens in das Modell der Nutzenoptimierung widmet sich eingehend die Arbeit von Baurmann (1996). 1 7 1 Sein Ausgangspunkt ist der „situative Nutzenmaximierer", wie er im klassischen ökonomischen Verhaltensmodell in Erscheinung tritt. Dieser entscheidet sich in jeder Handlungssituation für die Alternative mit dem größten Erwartungsnutzen. Der homo oeconomicus ist - so hebt Baurmann hervor - gar nicht in der Lage, nach einer anderen Entscheidungsregel zu handeln: „Seine Fähigkeit, in jeder Situation seinen subjektiven Nutzen zu maximieren, ist auch sein Schicksal. Er hat nicht die Wahl, wenn es darum geht, nach welchen Regeln er seine Wahl trifft" (Baurmann 1996, 325). Er zeigt auf der Grundlage „spieltheoretischer" 172 Experimente und Überlegungen (etwa zum Kidnapper-Problem oder zum Gefangenendi170 Bizer 1998, 8 (unter Verweis auf Hodgson 1998, 180): „Tatsächlich beruht Rationalität auf einer habituellen Grundlage. Denn auch die Reproduktion bestimmter Denkschemata ist Teil menschlicher Sozialisation und erhält ihre Bedeutung erst durch die Habitualisierung: Erst dadurch, daß alle Individuen bestimmte Begriffe und Symbole gleich oder ähnlich deuten, entsteht Kommunikation. Und erst durch Kommunikation kann Rationalität als Operationsprinzip über Generationen hinweg transferiert werden." 171 Der Titel der als „soziologische Untersuchung" bezeichneten Arbeit lautet: „Der Markt der Tugend: Recht und Moral in der liberalen Gesellschaft". Für einen vergleichbaren Ansatz innerhalb der Ökonomie siehe etwa Heiner 1993 oder Schmidtchen 1994.

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D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

lemma und den dabei auftretenden „Anomalien" 1 7 3 ), daß der homo oeconomicus als Modell situativer bzw. punktueller Nutzenoptimierung einem Ansatz unterlegen ist, der verschiedene Formen der Regelbindung zuläßt. Da der homo oeconomicus nicht in der Lage ist, eine erfolgreiche Strategie sozialer Koordination zu entwickeln, hätte er zivilisatorische Leistungen wie die Marktwirtschaft und den Rechtsstaat nicht hervorbringen können. Baurmann nimmt daher eine Veränderung des Modells vor, die der Gedankenwelt der Juristen stark entgegenkommt. Er nimmt in das Modell zusätzlich normgebundenes Verhalten auf. Dieser modifizierte homo oeconomicus besitzt die Freiheit, sich unabhängig von der situativen Nutzenmaximierung für bestimmte „Bindungen" zu entscheiden. Damit ist in den Modellannahmen die Bindungslosigkeit des homo oeconomicus überwunden. 174 Die Wahl für normgebundenes Verhalten konstruiert Baurmann seinerseits als rationale Entscheidung (326): Wenn es in bestimmten Konstellationen „vorteilhafter ist, sein Handeln an eine Norm zu binden, als in jedem Einzelfall die Folgen seines Handelns erneut abzuwägen, dann entspricht eine normgebundene Handlungsweise selber einer rationalen Abwägung der Nutzenerwartungen, die mit einem Handeln aufgrund einer Normbindung einerseits und einer Folgenorientierung andererseits verbunden sind." Das ursprüngliche ökonomische Modell rationaler Nutzenmaximierung bleibe auf diese Weise auch weiterhin das fundamentalere Modell, weil es auf der „höheren" Stufe anwendbar sei, auf der es um die Alternative zwischen den jeweiligen Entscheidungsregeln selber geht. Als Folge dieser Modifikation erhält der homo oeconomicus eine „Rationalitätslektion" (Kersting 1998, 113), die diesen verwandelt und für normative Bindungen öffnet. Auch die Orientierung an Regeln ist damit als „rational" 1 7 5 zu verstehen und nicht mehr als Anomalie außerhalb des Ver172

Die Bezeichnung, die auf die mathematische Analyse von Gesellschaftsspielen zurückgeht, trifft den Erkenntnisgegenstand dieser Forschungsrichtung nur bedingt, da es ihr insgesamt um die Analyse von Interaktionssituationen geht. Zutreffender wäre die Bezeichnung „Interaktionstheorie" (Nida-Rümelin 1993 a, 9). Sie bezieht sich damit schon von ihrem Ansatz her auf Gegenseitigkeitsstrukturen und müßte daher in besonderer Weise in der Lage sein, Erkenntnisse über entsprechend strukturierte juristische Regelungsfelder beizusteuern. 173 Baurmann stützt sich dabei u.a. auf die Arbeiten von Hegselmann 1988 und Kliemt 1993 (siehe dazu auch die Beiträge in Hegselmann/Kliemt 1997). Zu verweisen ist aber etwa auch auf die Analyse von Nida-Rümelin 1993 a (sowie die weiteren Beiträge in Nida-Rümelin 1993). 174 Für den modifizierten Modellmenschen resultieren daraus zwei zusätzliche Fähigkeiten (Baurmann 1996, 325): Sie können die Disposition erwerben, eine normativ ausgezeichnete Alternative unabhängig davon zu wählen, welche Konsequenzen die Normbefolgung in einem konkreten Einzelfall hat. Zweitens können sie ihr Entscheidungsverhalten sukzessive an ihre Interessenlage anpassen, indem sie zwischen beiden Entscheidungsgrundlagen wählen.

III. Elemente eines Verhaltensmodells

273

haltensmodells angesiedelt. Der homo oeconomicus, der zuvor „einzig an Geld und materiellen Gütern interessiert und jederzeit bereit [war], um ihretwillen sogar seine alte Mutter zu opfern", 1 7 6 ist damit einer Orientierung an Tugendforderungen zugänglich. Der modifizierte homo oeconomicus, den Baurmann als „homo sapiens" 177 bezeichnet, hat erkannt, daß es bei sozialen Interaktionen (nicht nur im privaten Umfeld, sondern etwa auch in Unternehmen sowie überhaupt in einer kooperativen Gesellschaft) weitaus vorteilhafter ist, wenn man einen Charakter zeigt, Tugenden ausbildet, Prinzipientreue an den Tag legt, an seiner persönlichen Integrität interessiert ist und sich eine moralische Identität zulegt: Da der Markt Tugenden verlangt, entsteht ein Tugendmarkt (Kersting 1998, 113). Trotz dieser deutlichen Erweiterung verbleibt das modifizierte Modell innerhalb des Rahmens des ökonomischen Prinzips und geht nicht über die Voraussetzung strikt selbstinteresseorientierten Handelns hinaus. Die Öffnung des homo oeconomicus für Tugendforderungen ließe sich allerdings auch auf einem anderen Wege erreichen. Die grundsätzliche Offenheit des klassischen Modells auf der Ebene der Präferenzen 178 erlaubt es, hier eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren aufzunehmen. So ist eine Präferenz für normentsprechendes Verhalten denkbar. Defizite im Erklärungsgehalt, aber auch grundsätzliche Einwände gegen das homo oeconomicus-Modell 1 7 9 ließen sich auf diese Weise entkräften. Eine Entscheidung zwischen den beiden Wegen ist an dieser Stelle nicht zwingend erforderlich. Festzuhalten ist zunächst einmal lediglich, daß das ökonomische Verhaltensmodell in der Lage ist, normorientiertes Verhalten zu integrieren. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß modelltheoretisch die Trennung von situativ nutzenbezogenem und normgebundenem Verhalten vorzugswürdig erscheint. Integriert man beide Orientierungen in die Nutzenfunktion, bleibt das Modell zwar in seinem formalen Aufbau „sparsamer", worin ein Vorzug im Hinblick auf seine Handhabbarkeit und Über175 Zu den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „rational" siehe Abschnitt III. 4. a). 176 Homans 1961, 79 f. (zitiert nach Dreitzel, 1965, 6). 177 Baurmann 1996, 301 ff. Zu dieser Begriffswahl merkt Kersting (1998, 13) an, diese sei „dreist, aber nicht ohne Witz: dreist, weil der reflektierte Opportunismus sich hier das Ehrenprädikat klassischer ethischer Selbstverständigung anmaßt; nicht ohne Witz, weil die Bemühungen des nicht mehr nur ökonomischen, sondern zusätzlich sapienten Menschen wie beim Weisen der philosophischen Tradition dem Charakter und der Lebensführung gelten." 178 Siehe dazu bei Fn. 79 mit den dort genannten Nachweisen. 179 Die entsprechenden Einwände werden meist gegen das Effizienzprinzip als solches vorgebracht (siehe Gawel 2001a, 43 ff.); sie richten sich damit aber zugleich auch gegen die präferenzorientierte Effizienzkalkulation des ökonomischen Verhaltensmodells.

1 Führ

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D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

zeugungskraft gesehen werden könnte. Die Sparsamkeit verdeckt allerdings methodische Differenzen, auf die es bei seiner Anwendung durchaus ankommt: So ist auch der situative Nutzenmaximierer durchaus in der Lage, sein Selbstinteresse in einer langfristigen Perspektive zu betrachten. Dies reicht aber nicht aus, für jeden Einzelfall eine Regelbindung zu begründen. Erforderlich ist daher eine eigenständige Präferenz für die Regelbefolgung, was Konflikte zwischen den Präferenzen nach sich zieht. Zu klären ist daher in jeder Entscheidungssituation, ob die eine oder die andere Präferenz Vorrang hat. Im Ergebnis lassen sich alle Auswahlentscheidungen durch die situative Vor- und Zurücksetzung der konfligierenden Präferenzen erklären. Über die mit den Modellannahmen vorgegebene Nutzenfunktion lassen sich auf diese Weise alle Ergebnisse modelltheoretisch herleiten. Damit sinkt aber der Erklärungsgehalt des Modells in die Nähe zur Beliebigkeit. Die Frage, unter welchen Randbedingungen die eine oder andere Entscheidungsregel den Vorzug erhält, ist nicht mehr Gegenstand des Erklärungsansatzes, weil dies mit den extern „gesetzten" Präferenzen bereits vorentschieden ist. Es spricht daher einiges dafür, die alternative Entscheidungsregel explizit in das Modell aufzunehmen und dieses damit in ausweisbarer Weise zu modifizieren. Auf diese Weise läßt sich etwa auch der Frage nachgehen, welche ergänzenden institutionellen Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die Disposition zum regelgeleiteten und nicht mehr einzelfalloptimierenden Entscheidungsverhalten auch tatsächlich wirksam wird. Hier stößt man auf eine ganze Reihe „innerer Sanktionen", die sich verstehen lassen als subjektinternes Gegenstück zu den äußeren Fesseln, die sich Odysseus anlegen läßt, um den Lockungen der Sirenen zu widerstehen und sich damit die Freiheit zu nehmen, ihren Reizen zu erliegen, wie es bei situativer Entscheidungsfindung zu befürchten war. Zu diesen inneren Sanktionen zählen etwa Reue, Scham, Integrationsbedürfnis oder Verantwortungsgefühl. Damit stellt sich auch das Problem, wie sich diese Sanktionen im Individuum verankern lassen. Auflösen läßt sich dies, wenn man einen längerwährenden, institutionell vermittelten Prozeß der Verinnerlichung mit in den Betrachtungshorizont aufnimmt, also den homo oeconomicus als geschichtliches Wesen begreift, welches institutionell geprägt i s t . 1 8 0 180

Damit relativiert sich auch Kerstings Einwand, die „Selbsterschaffung eines moralischen Wesens aus reflektiertem Selbstinteresse" sei unmöglich (Kersting 1998, 114): „Entweder sprechen wir die Sprache der Moral, entweder empfinden wir moralisch oder wir sprechen die Sprache des Interesses und achten auf unseren Vorteil. Entweder anerkennen wir normative Verbindlichkeit und moralische und rechtliche Wahrheitsansprüche oder wir betrachten Funktionen, Wirkungen und Eignungen. Es ist unsinnig zu sagen, ich habe ein Interesse an Scham und Reue, weil sie als zu vermeidende Sanktionen meine ebenfalls interesseorientierte Regelkonformität stärken, ich habe Interesse an einem Charakter, an Integrität, einem authentischen Leben, einer moralischen Identität, weil dies alles mir in kooperativen Bezie-

III. Elemente eines Verhaltensmodells

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Als Ergebnis dieser modelltheoretischen Überlegungen ist festzuhalten, daß sich auch auf der Grundlage eines Verhaltensmodells, welches von der Annahme individueller Nutzenoptimierung ausgeht, in historischer Perspektive eine Orientierung des Individuums an „moralischen Normen" begründen läßt. Daraus resultieren Ergänzungen und Einschränkungen des „bindungslosen" Nutzenmaximierers. Dieser erhält eine zusätzliche Verhaltensoption, die ihm das klassische Modell nicht gewährt: Das modifizierte Modell berücksichtigt, daß in der realen Entscheidungssituation eine Reihe Faktoren das Nutzenkalkül erschweren (etwa unvollständige Information, kognitive Grenzen, Willensschwäche und Transaktionskosten). 181 Angesichts dieser Beschränkungen eröffnet ihm das modifizierte Modell die Freiheit, sich von der situativen Nutzenmaximierung zu lösen und sich für bestimmte „Bindungen" zu entscheiden. Damit ist die Bindungslosigkeit des homo oeconomicus modelltheoretisch überwunden; und zwar durch eine Annahme, die den empirischen Erklärungswert des Modells erhöht, ohne die Grundlage der Eigennutzorientierung zu verlassen. Als wesentliches Moment in der Metamorphose des homo oeconomicus erweist sich dessen Schwäche in der sozialen Interaktion. Hier zeigen sich die unausweichlichen Grenzen eines Modells, welches Handlungen allein auf eine vollständig kalkulierbare situative Nutzenorientierung stützen will, aber auch außerhalb der vereinfachenden Modellannahmen den Anspruch erhebt, soziale Tatsachen empirisch zu erklären. Aus den aufgezeigten Grenzen ergeben sich - unabhängig davon, in welcher Weise man die notwendigen Modifikationen modelltheoretisch integriert - weitere Konsequenzen. Während die klassische Moraltheorie davon ausging, Tugend versage als gesellschaftliches Steuerungselement nur, weil die Menschen unter Willensschwäche und anderen „Rationalitätsmängeln" leiden, scheint es nun eher so zu sein, daß Grenzen antizipierender Nutzenkalkulation und Willensschwäche die Tugend zum wirksamen Steuerungsinstrument werden lassen (Kliemt 1993, 302): Weil der Opportunist nicht in der Lage ist, „strikt rational" zu handeln, sind ihm die Tugendhaften überlegen. 182 Eine Bin-

hungen zum Vorteil gereichen wird." Diese „Entweder-Oder-Einwände" richten sich gegen eine konkrete lebensweltliche Situation; sie verkennen jedoch, daß es hier um eine modelltheoretische Diskussion geht. Bei einer längerwährenden institutionellen Perspektive läßt sich sowohl die Verinnerlichung der Sanktionsmechanismen plausibel machen als auch zeigen, daß sich die Bindung an Normen auch unter dem Nutzenaspekt reformulieren läßt (siehe dazu auch die Ausführungen zur Rolle der Habitualisierung im Verhaltensmodell von Thomas Hobbes bei Fn. 185). 181 Statt als „superman in the kindergarten" erscheint der Modellmensch jetzt als „boy Tarzan in the Wall Street jungle" (Tietz 1992, 299). 182 Damit bestätigt sich die Vermutung, daß sich auch die ausdifferenzierte moderne Gesellschaft mit all ihren Subsystemen auf moralische Voraussetzungen stützen müsse (Kersting 1998, 113). 1*

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D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

dung an „moralische Normen" erweist sich damit in längerfristiger Perspektive auch für den Einzelnen als vorteilhaft. 183 Eine Gesellschaft, der daran gelegen ist, diese Erkenntnis zu befördern und dazu beizutragen, daß sich das Verhalten der Einzelnen daran ausrichtet, wird entsprechende Institutionen herausbilden. Daß sich dies auch in rechtlich ausgeformten Institutionen niederschlagen wird und daß dabei die Kategorie der Eigen-Verantwortung eine herausgehobene Rolle spielen wird, ist nun nicht mehr überraschend. e) Bedeutung von Institutionen Die institutionelle Verankerung normgebundenen Verhaltens in einem auf längerfristige Kooperation angelegten sozialen Kontext verweist zudem auf eine in den letzten Jahren veränderte Rezeption von Autoren, die geistesgeschichtlich für die Ökonomie, aber auch für die Staatslehre in besonderer Weise prägend waren. Das Modell situativ nutzenmaxierenden Kalküls stützt sich auf ein eigennutzorientiertes Menschenbild, wie es etwa Adam Smith, David Hume oder Thomas Hobbes zugeschrieben wurde. Für Adam Smith 1 8 4 und David Hume wird inzwischen anerkannt, daß sie kein radikal egoistisches Menschenbild vertraten, sondern komplexe und differenzierte Verhaltensmodelle, die auch eine Orientierung an nicht situativ nutzenorientierten Größen zulassen (Schüßler 1997, 204). Gleiches dürfte auch für Thomas Hobbes gelten. Seine bekannten Sätze (wie etwa „homo homini lupus" [De ci ve, Widmung]) haben offenbar übersehen lassen, daß Hobbes den Menschen als erzieh- und konditionierbares Wesen ansah. Für den „erzogenen Mensch" erhält auch zuvor negativ Erlebtes „durch Einübung einen angenehmen Eigenwert". 1 8 5 Die zentrale Bedeutung der Habitualisierung bei Hobbes für die Entwicklung von Tugenden und Sittlichkeit hebt Schelsky vor dem Hintergrund seiner langjährigen Beschäftigung mit der soziologischen Theorie der Institution 1 8 6 - besonders hervor; diese sei im Ergebnis trotz ihrer Wurzeln im Egoismus „ . . . dann aber, da sie im Habitus, in der Gesinnung liegt, verhältnismäßig unabhängig von der jeweiligen Zweckmäßigkeit, und wirkt selbständig". 187 Auch unter der Annahme, die angeborenen Neigungen seien sämtlich egoistischer Natur, läßt sich auf diese Weise 183 Damit lassen sich die unter Abschnitt III. 3. c) referierten Beobachtungen modelltheoretisch untermauern. 184 Siehe dazu etwa Manstetten 2000, 232 ff. m.w.N. 185 Schüßler 1997, 194 f. 186 Siehe Schelsky 1970, 57 ff. mit den dort genannten Nachweisen (u.a. auf seine ungedruckte Habilitationsschrift „Zur soziologischen Theorie der Institution"). 187 Schelsky 1981, 276. Schelsky beschreibt damit - wenngleich in anderen Worten - die von Baurmann modelltheoretisch (aber ohne Bezug auf Schelsky) entwikkelten Annahmen.

III. Elemente eines Verhaltensmodells

277

eine Charakterbildung allein auf die egoistischen Tendenzen des Befriedigungsstrebens und der Unlustvermeidung i m H i n b l i c k auf das eigene Leben aufbauen, wenn man die entwicklungsgeschichtliche D i m e n s i o n institutionell vermittelter Habitualisierung m i t einbezieht (Schüßler 1997, 196). Z u konstatieren

ist

damit

eine

„Wiedereinführung

des

Erziehungsthemas"

(Kersting 1998, 1 1 6 ) ; 1 8 8 ein Thema, das auf eine lange philosophische Tradition zurückblicken kann, w i e sich etwa bei A r i s t o t e l e s 1 8 9 und K a n t 1 9 0 zeigen läßt. Daß tugendhaftes Verhalten des Flankenschutzes durch Sanktionsdrohungen bedarf, damit es nicht erodiert (Schüßler 1997, 205), steht der Fundierung i m individuellen Eigennutzkalkül nur scheinbar entgegen. Denn A u f gabe der Institutionen ist es gerade, innere und äußere Sanktionen bereit zu 188

Es dürfte aus dieser Perspektive auch kein Zufall sein, daß in den letzten Jahren Fragen der intrapersonalen Verankerung ethischer Orientierungen (etwa in Richtung auf eine dauerhafte Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen) eine zunehmende Rolle gespielt haben. Zur Rolle der Umweltbildung als Grundlage der Verhaltensorientierung von Privaten und Unternehmen siehe etwa Rat der Sachverständigen für Umweltfragen 1994, 156 ff. 189 Das Ziel institutionell verankerter Regelbindung liegt für Aristotoles darin, „die Bürger durch Gewöhnung tugendhaft [zu machen]; das ist wenigstens die Absicht jedes Gesetzgebers; wer es aber nicht recht anstellt, der verfehlt seinen Zweck, und darauf läuft der ganze Unterschied von guter und schlechter Staatsverfassung hinaus" (Aristoteles 1985, 1103b). Aus der Perspektive des ökonomischen Verhaltensmodells beschreibt Aristotoles damit den Versuch, über eine „gute" Institutionenbildung die Präferenzen der Individuen zu beeinflussen bzw. die Orientierung an Tugendregeln intrapersonell zu verankern. 190 Im Ansatz von Baurmann sieht Kersting eine - zustimmend kommentierte Parallele zu Kant (siehe auch dessen Schrift „Über die Erziehung", Kant 1997) und der von ihm propagierten „trotzigen, der zwecklosen Welt trotzenden Autoteleogisierung" (Kersting 1998, 115): „Wie in der Kantischen Moralphilosophie sich der Mensch angesichts des Verschwindens der verbindlichen, handlungsleitenden Zwecke aus der natürlichen Welt selbst als Zweck ausruft, erklärt im belehrten Liberalismus das eben diesen Zerfall aller teleologischen Objektivität ordnungspolitisch reflektierende liberale Gemeinwesen sich selbst zum verbindlichen, handlungsleitenden Zweck. Und wie die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen eine moralische Überformung der empirisch-kontingenten Zwecklandschaft der Menschen verlangt, fordert das sich selbst als allgemeines Gut verstehende liberale Gemeinwesen Bürgersinn und politisch rücksichtsvolles Handeln." Allein durch Erziehung ließen „sich die liberalen Tugenden herausbilden, die Fertigkeiten, Einstellungen und Handlungsmuster, die für die Sicherung und Kontinuierung einer liberalen Lebensform unterläßlich sind" (Kersting 1998, 116; für ein im Rahmen der neuen politischen Ökonomie anwendbares Modell, welches die normative Orientierung an den Staatszielen zuläßt, siehe Faber/Manstetten/Petersen 1999, 9). Kerstings Ansatz entspricht damit - allerdings auf einer überindividuellen Ebene - demjenigen von Baurmann. Seine Schwäche liegt darin, daß er sich nicht auf das Eigennutzkalkül des Einzelnen beziehen kann. Die von ihm vorgebrachten Einwände erweisen sich aber - wie bereits gezeigt (Fn. 180) - in einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive als nicht stichhaltig.

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stellen, die dem Akteur - trotz seiner kognitiven und voluntativen Defizite - in der jeweiligen Handlungssituation ein Verhalten erlauben, das sich an dessen (langfristigem) Eigeninteresse orientiert. Damit ist normorientiertes Verhalten modelltheoretisch aus dem Eigennutzkalkül herzuleiten. Der „appetitus socialis" von Grotius oder der für Pufendorf aus der „imbecillitas" erwachsende anthropologische Urtrieb der Geselligkeit („socialitas") läßt sich damit verstehen als Umschreibung eines letztlich im Eigennutz wurzelnden Dranges zur Normbindung, die eine auf Dauer angelegte Kooperation der Individuen erlaubt. Die Aussage, alles, was das menschliche Leben an Annehmlichkeiten kenne, sei „aus der gegenseitigen Hilfe der Menschen entsprungen" (Sprenger 1996, 253), beschreibt das überragende Eigeninteresse an einer Institutionenbildung, die ein derartiges Verhalten stützt. Festhalten läßt sich damit folgendes Ergebnis: Auf der Grundlage der vorstehenden Überlegungen ist es möglich, die institutionell vermittelte Normbindung des Modellmenschen aus einer - langfristigen - Nutzenorientierung heraus zu begründen. Damit lassen sich für die Normbindung auch aus der Perspektive des nutzenorientierten Individuums „gute Gründe" angeben, die allerdings mit der situativen Nutzenmaximierung in Konflikt treten. Nicht nur aus diesem Grund ist es notwendig, tatsächlich zu beobachtende, aber auch neu zu schaffende Institutionen kritisch zu hinterfragen: Denn die bloße Möglichkeit, Prozesse gesellschaftlicher Institutionenbildung anhand des Kriteriums optimaler Nützlichkeit modelltheoretisch zu rekonstruieren, besagt dabei noch keineswegs, daß jede Institution diesem Kriterum bereits per se entspricht. Eine Institutionenanalyse unter Einschluß alternativer institioneller Gestaltungsoptionen hat dies zu berücksichtigen.

4. Institutionenökonomisches Verhaltensmodell Die bisherigen Überlegungen lassen sich zusammenfügen zu einem Verhaltensmodell, welches institutionenökonomische Erkenntnisse integriert und damit das Modell des homo oeconomicus an einigen Punkten modifiziert. Es kann dabei im folgenden nur darum gehen, die groben Konturen zu umschreiben. Nicht beabsichtigt ist, „das" Verhaltensmodell zu definieren; intendiert ist lediglich, einige Grundannahmen zu entwickeln, die für die Modellbildung besonders relevant erscheinen. Wenn konkrete Verhaltensanalysen durchzuführen sind, wird es sich daher als notwendig erweisen, danach zu fragen, welche Aspekte im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand eine besondere Rolle spielen und daher weiter zu verfeinern sind bzw. an welcher Stelle aus Gründen der Praktikabilität vereinfachende Annahmen zu treffen sind. Es geht also nicht darum, ein uniformes Modell

III. Elemente eines Verhaltensmodells

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zu entwickeln, das universell anwendbar ist. Vielmehr ist jeweils ein angepaßtes Modell zugrunde zu legen. 1 9 1 Bei dem hier vertretenen Ansatz bleiben die methodischen Grundlagen des ökonomischen Theorieansatzes erhalten, insbesondere die explanative Zielsetzung unter Rückgriff auf den methodologischen Individualismus und das Rationalmodell menschlichen Verhaltens. 192 Die Annahme strikter Nutzenmaximierung wird allerdings nicht durchweg zugrunde gelegt; die Nutzenorientierung bleibt jedoch erhalten, wenn auch in einer „schwächeren" Ausprägung. Das Individuum gibt sich mit einer Nutzenerfüllung unterhalb des Maximums zufrieden. Es ist zudem in der Lage, sich für eine Orientierung an Regeln und damit gegen die situative Nutzenkalkulation zu entscheiden. Diese Annahmen stellen das Modell auf ein breiteres Rationalitätsverständnis. Von daher könnte man auch von einem „homo rationalis" sprechen; um die Nähe zum klassischen ökonomischen Verhaltensmodell deutlich zu machen, sei er jedoch als homo oeconomicus institutionalis bezeichnet (siehe die Abbildung auf Seite 264). a) Rationalitätsbegriff In diesem Zusammenhang ist auf einen Punkt hinzuweisen, der nicht allein in terminologischer Hinsicht von Bedeutung ist: Wenn das Modell eine „schwächere Nutzenorientierung" zugrundelegt, stellt sich die Frage, ob damit zugleich - wie dies aus ökonomischer Perspektive formuliert wird (Kirchgässner 1999, 33) - ein „schwaches Rationalitätsprinzip" Einzug hält. Die Kennzeichnung „schwächer rational" läßt sich beziehen auf die Standard· Variante des rational choice-Paradigmas mit seiner Annahme situativ konsequentialistisch optimierender Einzelindividuen (Nida-Rümelin 1993 a, 4 ff./21). Wie bereits gezeigt, zwingt dieser Standard-Ansatz die Individuen, sich in jeder Situation konsequentalistisch zu verhalten, was in Konflikt gerät mit den real zu beobachtenden Grenzen der Nutzenkalkulation. Das modifizierte Modell erlaubt es den Individuen, sich von der situativ konsequentialistischen Nutzenorientierung zu lösen. Es ist daher bezogen auf die Einzelentscheidung „schwächer nutzenorientiert". Ihm liegt jedoch zugleich - ausgehend von einer „Kohärenztheorie praktischer Rationalität" 191 Kirchgässner 1998; ähnlich Eidenmüller 1999, 56. So spricht einiges dafür, bei der Untersuchung der Beschaffungskriminalität im Suchtmilieu andere Parameter in den Vordergrund zu stellen als etwa bei der Betrachtung des Anlageverhaltens von Pensionsfonds oder verschiedenen Formen der Steuerhinterziehung (dazu Bayer/Reichl 1997). 192 Siehe Abschnitt III. 3. Das rational choice-Paradigma kommt aber nicht in seiner Standard-Variante, sondern in einer modifizierten Form zu Anwendung, wie im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird.

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D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

(Nida-Rümelin 1993 a, 5) - ein weiter gefaßter Begriff der Rationalität zugrunde: „Rational ist eine Handlung dann, wenn es einen guten Grund gibt, diese Handlung zu wählen" (Nida-Rümelin 1993 a, 23). Dieses Rationalitätsverständnis berücksichtigt die begrenzten Möglichkeiten der real handelnden Individuen mit den daraus erwachsenden Koordinationsproblemen und erlaubt es, diesen Problemen durch normorientiertes Verhalten zu begegnen. Die in diesem Zusammenhang gebräuchliche Redeweise von der „begrenzten Rationalität" („bounded rationality", Simon 1955 und 1982) birgt die Gefahr von Mißverständnissen. 193 Präziser ist die Aussage, die Akteure seien „not boundedly rational but boundedly skilful"} 9* Die Aufnahme normorientierten Verhaltens in das Modell ist eine vernünftige Antwort auf die begrenzten Möglichkeiten des Individuums. Sie erhöht daher, wie die Ausführungen im vorigen Abschnitt gezeigt haben, den für das Individuum langfristig zu erwartenden Nutzen. Sie stärkt damit zugleich die Rationalität des Gesamtmodells. Es ist daher auch nicht zutreffend, situative Nutzenorientierung mit Rationalität gleichzusetzen und diesem habituelles bzw. normorientiertes Verhalten als aliud gegenüberzustellen, 195 mit der Folge, daß darauf gestützte Verhaltensweisen als „Anomalie" und damit als „irrational" zu bezeichnen wären. 1 9 6 Bezieht man die Formulierung „schwächer rational" auf das Gesamtmodell, dann ist sie unzutreffend, denn das Modell berücksichtigt die begrenzten Möglichkeiten der real handelnden Individuen und stellt Mechanismen bereit, mit den Defiziten umzugehen. Im Hinblick auf diese Kriterien erweist sich das Modell vielmehr als „stärker rational", weil es auf die begrenzten Ressourcen der Individuen eingeht und ein den Limitationen angepaßtes Entscheidungsprogramm zugrunde legt.

193 Ähnlich mißverständlich ist die Formulierung, die hier von einem „suboptimalen Konzept der Rationalität" spricht (Morlok 1993, 378), weil es immer darauf ankommt, im Hinblick auf welche Kriterien die „Optimalität" bestimmt wird. Geht man von der Aufgabenstellung der Jurisprudenz aus, die auf lebenspraktisches Handeln und auf Entscheidungen angesichts der Knappheit von Zeit und Erkenntnismöglichkeiten ausgerichtet ist (so im Ergebnis auch Morlok 1993, 378), dann entspricht ein „theoretisch suboptimales" Rationalitätskonzept den lebensweltlichen Kriterien in höherem Maße: Es ist vergleichsweise weniger suboptimal und erscheint damit letztlich doch als das den realen Entscheidungssituationen angemessene und folglich optimale Rationalitätskonzept. 194 Langlois 1990, 691 (zitiert nach Homann 1994, 389 mit den dort zu findenden Hervorhebungen). 195 So etwa Tietz 1992, 298 oder Bizer 1998, 9 (in Abbildung 2). 196 So etwa - in Übernahme der weit verbreiteten ökonomischen Begrifflichkeit Eidenmüller 1999, 56. Siehe dazu bereits in Abschnitt III. 3. c).

III. Elemente eines Verhaltensmodells

281

Versteht man unter „rational" die Realisierung des größtmöglichen individuellen Nutzens, dann erweist sich das institutionenökonomische Modell auch in dieser Hinsicht nicht als „schwächer": Die Modellannahme kollektiver, institutionell vermittelter Selbstbindung erschließt vielmehr die Möglichkeit kooperativer Verhaltensweisen, die sich im Ergebnis für alle Beteiligten auch unter dem Nutzenaspekt als vorteilhaft darstellen. Indem Institutionen den Aufbau von wechselseitigem Vertrauen erlauben und absichern, steigern sie die individuelle, aber auch die kollektive Wohlfahrt. b) Besonderheiten des institutionenökonomischen

Modells

Das modifizierte Verhaltensmodell stützt sich auf die Ergebnisse der sog. „neuen 1 9 7 Institutionenökonomie" und erweitert den Kreis der verhaltensbestimmenden Parameter. 198 Aufbauend auf dem neoklassischen Modell bedient es sich der ökonomischen Verhaltenstheorie und deren Annahme, daß Menschen eigennützig handeln: Deren Frage nach Allokationseffizienz und Pareto-Optimalität sei insofern nützlich als sie dem Theoretiker erlaube, die Grundgedanken ökonomischer Effizienz unter idealtypischen Bedingungen vollkommener Information und Voraussicht zu entwickeln. Das modifizierte Modell berücksichtigt jedoch auch, daß diese Bedingungen in der Wirklichkeit nicht erfüllt sind. Dies führt zu der Annahme, daß die Grundlagen menschlichen Verhaltens auch institutionell vermittelt sind. Indem man Grundlagen und Wirkungsweise der Institutionen genauer beleuchtet, strebt man an, das Verhalten der Individuen besser zu erklären und so Geltungsbereich und Prognosefähigkeit des Modells zu erweitern. 199 Die Eigennutzhypothese bildet weiterhin die Grundlage der Verhaltensprognose. Das Modell ist offen für unterschiedliche Präferenzen und schließt eine langfristige Orientierung in der Nutzenkalkulation mit ein (Streb 1994, 6 ff.). Zugleich sind aber auch die Grenzen situativen Nutzenkalküls zu berücksichtigen. Aufgrund kognitiver Grenzen kann das Individuum viele Alternativen nicht wahrnehmen (Boudon 1994, Bizer 1998). Auf welche Aspekte ein Individuum seine Wahrnehmung richtet und welche Aspekte es aufnehmen kann, ist aber nicht ein für alle mal vorgegeben, sondern in gewissem Umfang institutionell vermittelt und insoweit auch veränderbar. Gleiches gilt für die Kosten der Informationsbeschaffung und -Verarbeitung. Zudem ist es keineswegs selbstverständlich, daß aus dem Er197 Dies in Abgrenzung von den sog. „alten" Institutionalisten wie John R. Commons, die sich bereits um soziale Phänomen - wie „habits" - bemühten; siehe dazu etwa Rutherford 1996. 198 Siehe ausführlich dazu North 1992, 21 ff.; Frey 1996, 36; Sen 1982, 84 ff.; Kirchgässner 1991, 13 ff. 199 Richter/Furubotn 1996, 1 ff. Siehe dazu auch Bizer 1998 a.

282

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

gebnis einer Nutzenkalkulation umstandslos ein Handlungsentschluß resultiert, der dann unmittelbar die Handlungsausführung nach sich zieht. Vielmehr ist davon auszugehen, daß auch „Kosten der Selbst-Motivation" zu veranschlagen sind. Das modifizierte Modell berücksichtigt, daß es in vielen Fällen möglich sein dürfte, die genannten Einschränkungen durch geeignete Institutionenbildung zu beeinflussen. 200 Neben der situativen Nutzenorientierung erlaubt das Modell auch eine Regelbindung als verhaltensbestimmenden Parameter. Hier orientiert sich das Individuum an normativen Vorgaben, die auf den unterschiedlichsten institutionellen Grundlagen beruhen können. Dazu zählen gesetzliche Vorschriften ebenso wie allgemein-moralische, religiöse oder berufsständische Normen. Auch die bloße Wiedergabe von Verhaltensmustern (etwa bestimmter Routinen) ist unter diese Kategorie zu fassen. Dieses im weitesten Sinne mustergebundene Verhalten stützt sich auf habituell verankerte Motivationsquellen, an denen sich das Individuum orientiert. Die genannten „Regeln" vermitteln eine eigenständige Motivationsquelle, die nicht abhängig ist von der situativen Nutzenkalkulation. Indem das Individuum sich an institutionell vermittelten, durch verschiedene Formen der Habitualisierung verinnerlichten Strukturelementen orientiert, erreicht es subjektintern eine „Dissonanz-Reduktion". 201 Diese Strukturelemente sind kulturell eingebettet. Sie finden sich daher nicht nur in der einzelnen Person, sondern auch in - kleineren oder größeren - Gruppen. Indem sich der Einzelne an den kulturell gestützten Regeln orientiert, gelingt es ihm, Koordinationsprobleme sowohl auf der intra-personellen wie auch auf der inter-personellen Ebene abzubauen; eine Verhaltensweise, die sich als „strukturell rational" 2 0 2 bezeichnen läßt. Hervorzuheben ist außerdem, und statisch zu verstehen sind, flußen lassen. 203 Andererseits Verhalten die Institutionen zu 200

daß die Präferenzen nicht als modellexogen sondern sich durch die Institutionen beeinsind die Individuen in der Lage, durch ihr prägen. Das Modell erlaubt damit sowohl

Einen Überblick über die unterschiedlichen Ansatzpunkte institutioneller Gestaltung gibt Kapitel F, Abschnitt III. 2. 201 Festinger 1957; Frey/Gaska 1993; Fischer/Wiswede 1997. Zu den modelltheoretischen Konsequenzen siehe Tietz 1992, 303 f. m.w.N. 202 Nida-Rümelin 1993 a, 22 ff. Die Vermittlung dieser Form der Rationalität kann sich auf manifeste oder verborgene Sanktionen stützen (bei externen Sanktionen ließe sich von einem „Modell des Leviathan", bei Sanktionen im foro intemo vom Modell Freud sprechen). Das Modell dispositioneller Prägung (homo sociologicus) erklärt koordinatives Verhalten durch erworbene Dispositionen, die die Handlungsfreiheit der Personen beschränken (Rollenmuster). Strukturell rationales Handeln ist kompatibel mit der Kohärenz-Variante des rational choice-Paradigmas, nicht aber mit der konsequentialistischen Standardinterpretation des rational choiceParadigmas (Nida-Rümelin 1993 a, 24; siehe dazu auch Fn. 192).

III. Elemente eines Verhaltensmodells

283

einen „Bewußtseinswandel" auf der individuellen Ebene als auch institutionelle Lernprozesse. 204 Das Modell nimmt auf diese Weise Aspekte auf, die für die Erklärung von Innovationsprozessen auf der individuellen wie auf der gesellschaftlichen Ebene von großer Bedeutung sind. Diese erfolgen in einer Umgebung, die von permanenten, im einzelnen nicht absehbaren technischen, sozialen und institutionellen Neuerungen geprägt ist. Während der neoklassische Ansatz im wesentlicher statischer Natur ist (stabile Präferenzen, vollständig bekannte Handlungsalternativen, Beschränkung auf die eine Entscheidungsmaxime der Nutzenkalkulation) 205 ; erlaubt das modifizierte Modell Veränderungen in allen drei Modellelementen und fragt explizit nach den Bedingungen, unter denen Veränderungen stattfinden. Der Ansatz ist dementsprechend auch darauf gerichtet, individuelle und institutionelle Evolutionsprozesse zu beschreiben, was eine Ausweitung der Modellannahmen, insbesondere eine stärkere Einbeziehung der anderen Verhaltenswissenschaften erfordert (Witt 1987). c) Der Schritt zum „homo oeconomicus institutionalise Das soeben beschriebene institutionenökonomische Modell ruht auf einem erweiterten, die unvermeidlichen Grenzen antizipierender Folgenkalkulation berücksichtigenden Rationalitätsverständnis. In diesem Sinne ist weiterhin davon auszugehen, daß rational entschieden wird. Der auf die situative Nutzenkalkulation festgelegte homo oeconomicus erhält jedoch die institutionell vermittelte Fähigkeit, mit seinen Grenzen vernunftgemäß umzugehen (Simon 1993): Er erweitert seinen Entscheidungshorizont und erreicht auf diese Weise die Stufe zum „homo oeconomicus institutionalis". Diese Modifikationen berücksichtigen, daß auch der homo oeconomicus nicht alleine ist auf der Welt. Die sein Verhalten determinierenden Modellannahmen sind daher so beschaffen, daß sie ihn in die Lage versetzen, soziale Koordinationsprobleme erfolgreich bewältigen. In der sozialen Inter203 Die Möglichkeit, über Institutionen die Präferenzstruktur der Individuen zu beeinflussen, kennt auch die Institutionenphilosophie (siehe Hubig 1995, 107 sowie die Aussagen von Aristotoles in Fn. 189). 204 Zu dem damit angesprochenen „Gegenstromprinzip evolutionärer Institutionenbildung" siehe Abschnitt VI. 3. 205 Das unter diesen Bedingungen zu erzielende „Gleichgewicht" spiegelt den Ansatz der klassischen Mechanik wieder (diese beschreibt einen Gleichgewichtszustand, in dem alle Änderungen antreibenden Kräfte verschwunden sind); ein Ansatz, der dem in der Entstehungszeit des homo oeconomicus vorherrschenden Wissenschaftsideal entspricht (siehe Witt 1987, 3 f.). Für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse kann dieser Ansatz allerdings nur Aussagen von stark eingeschränktem Erklärungsgehalt liefern.

284

D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

aktion erweist sich ein partiell an Regeln gebundener homo oeconomicus institutionalis unter dem Aspekt der langfristigen Nutzenoptimierung auch aus der individuellen Perspektive als überlegen. Das modifizierte Modell nimmt die Grundelemente des klassischen homo oeconomicus auf, ergänzt sie jedoch um die institutionelle Dimension, die sowohl im Individuum als auch auf der überindividuellen Ebene zu finden ist. Das Modell beschränkt sich nicht auf eine rein-individualistische Betrachtung, es bildet vielmehr auch die Wechselwirkung von Institutionen und Individuen mit ab, einschließlich der daraus resultierenden Evolutionsprozesse (Bizer 1998, 8; siehe dazu auch die Darstellung in der folgenden Abbildung).

I N S T I T U T I O N E N

I Ν

Präferenzen

S

Τ I τ υ τ I

ο Ν Ε Ν

situativ nutzenorientiertes

muster-/normgebundenes

instinktives/ emotionales —



I Ν S Τ I τ υ τ I 0 Ν Ε Ν

Verhalten In Anlehnung an K. Bizer 1998 a, 9.

Abbildung 4: Das Verhaltensmodell des homo oeconomicus institutionalis

Das Modell integriert die verschiedenen Motivkomplexe, die im Rahmen der Rechtssoziologie herausgearbeitet wurden [siehe Abschnitt II. 3., Seite 230]: Es berücksichtigt die Sanktionen des Rechtsstabes. Es integriert aber auch die Motivationsanreize, die aus dem sozialen Kontext resultieren; es sieht darin institutionelle Ausformungen, die lediglich in anderer Form vermittelt sind. Aber auch die „wahrhaft freiwillige" Befolgung von Rechtsnormen ist als intrapersonell verankerte Regelbindung erklärbar.

IV. Erklärungsgehalt des institutionenökonomischen Modells

285

d) Juristische Rezeption Stellt man die Verhaltensmodelle der Ökonomie dem - impliziten - Verhaltensmodell des Rechts paradigmatisch gegenüber, dann dominiert in der Ökonomie eigennutzorientiertes Verhalten, während das Recht davon ausgeht, die Individuen seien in der Lage, sich an Normen zu binden. Die Betrachtung hat jedoch gezeigt, daß eine vermittelnde Lösung zu finden ist, ohne die Modellkonsistenz zu sprengen. Diese Lösung kann sich auf gemeinsame methodische Grundannahmen beider Disziplinen stützen: Das rational choice-Paradigma fordert eine Optimierung der Ziel-Mittel-Relation. Dies kommt - in grundsätzlich gleicher Weise - im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wie im Ökonomischen Prinzip zum Ausdruck. Zu konstatieren ist also ein Gleichklang und nicht etwa ein Gegensatz zwischen dem verfassungsrechtlichen Optimierungsgebot der Verhältnismäßigkeit einerseits und dem im Ökonomischen Prinzip verankerten Effizienzpostulat andererseits. Es spricht daher vieles dafür, diesen mit den rationalen Grundannahmen des Rechts übereinstimmenden Modellansatz des „homo oeconomicus institutionalis", der zudem aus der Sicht der Soziologie und der Ökonomie zustimmungsfähig ist, der vom Recht geforderten Realanalyse zugrundezulegen. Die veränderten Modellannahmen erleichtern die Übertragung der erzielten Ergebnisse in die juristische Perspektive: Erschien nach dem neo-klassischen Modell des homo oeconomicus ein Verhalten, das sich (bloß) an rechtlichen Vorgaben ausrichtet, noch als modellwidrige Anomalie, so gestatten es die institutionenökonomisch veränderten Annahmen dem Modellmenschen, sein Verhalten (auch) an Normen zu auszurichten. Die Normbindung wird zum Bestandteil des Rationalmodells menschlichen Verhaltens. Ein solches Modell hat damit nicht nur den Vorteil, das empirisch zu beobachtende Entscheidungsverhalten besser abzubilden, sondern ist über die Integration der Normorientierung in besonderer Weise geeignet, die Verknüpfung zu den rechtswissenschaftlichen Fragestellungen herzustellen.

IV. Erklärungsgehalt des institutionenökonomischen Modells Die vorstehend beschriebenen Modellannahmen haben zur Folge, daß Individuen wie beim klassischen Modell weiterhin sowohl auf die Veränderung ihres Informationsstandes als auch auf eine Veränderung ihres Handlungsspielraums in systematischer - und damit vorhersagbarer - Weise reagieren: Verändern sich die äußeren Umstände und macht dies - ceteris paribus - eine bestimmte Handlungsalternative erkennbar weniger vorteilhaft, so wird die Wahrscheinlichkeit sinken, daß sie sich für diese Alternative entscheiden (Kirchgässner 1999, 33). Daneben sind aber auch institu-

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D. Grundlagen juristischer Institutionenanalyse

tionell vermittelte normative Bindungen zu berücksichtigen: Je mehr Anzeichen dafür vorliegen, daß diese intrapersonell verankert sind, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sich die Individuen für ein normorientiertes Verhalten entscheiden. 206 Das Modell ist damit in der Lage, die gesamte institutionelle Einbettung des Individuums abzubilden; und zwar von den strikten, regeiförmigen Vorgaben des Rechts über Verhaltensanreize, die der juristischen Kategorie der Eigen-Verantwortung entstammen, bis hin zu den verhaltensbeeinflussenden Wirkungen außerrechtlicher Institutionen. Das Modell erlaubt eine Analyse des institutionellen Kontextes, in dem Rechtsnormen ihre verhaltensbeeinflussende Wirkung entfalten. Eine Analyse, die aufgrund der der verfassungsrechtlichen Anforderungen sowohl für neue bzw. veränderte Rechtsnormen als auch im Rahmen der Beobachtungspflicht hinsichtlich der Wirkung bereits existierender Normen geboten ist; darüber hinaus aber auch die Analyse von Handlungskonstellationen und die darauf aufbauende Abwägung im Rahmen von Administrativakten von Bedeutung ist. Die Aufnahme der normativen Bindungen erleichtert nicht nur die Rezeption in der Welt des Rechts, sondern stärkt auch die Gesamtrationalität des Modells. 2 0 7 Im Vergleich zum neoklassischen Standardmodell (siehe die Abbildung auf Seite 264) weist das institutionenökonomische Modell eine größere Komplexitität a u f 2 0 8 Der Vorzug einfach gehaltener Modellannahmen geht damit verloren. Dem steht auf der anderen Seite eine größere Wirklichkeitsnähe gegenüber: Empirische Phänomene, die aus der Perspektive des homo oeconomicus als „Anomalien" erscheinen, lassen sich aus dem institutionenökonomischen Modell erklären. Dies gilt etwa für die Herausbildung 206

Für Ansätze, dies im ökonomischen Verhaltensmodell auch in mathematisierter Form abzubilden, siehe Heiner 1983 sowie - am Beispiel der Steuerhinterziehung - Schmidtchen 1994. 207 Für die praktische Anwendung des Modells ist dabei jeweils zu entscheiden, welche Elemente als variabel unterstellt und welche unter der ceteris paribus-Annahme ausgeklammert werden. Hier ist jeweils eine bewußte Auswahlentscheidung zu treffen, die der Begründung bedarf, was die Grundlage schafft, diese Annahmen methodenkritisch zu hinterfragen. 208 Zu dem sich aus dem Spannungsfeld von Vereinfachung und Komplexitität sich ergebenden „Dilemma der Wirtschaftstheorie" siehe Tietz 1994; der - in grundsätzlicher Übereinstimmung mit dem hier vertretenen Ansatz - für die Aufnahme „semi-normativer Eigenschaften" in das Modell plädiert (Tietz 1992). Sein Ansatz geht (in Fortentwicklung der Überlegungen von Sauermann/Selten 1962 zur Anspruchsanpassung in Unternehmen) davon aus, die Akteure würden sich in Verhandlungssituationen an „Anspruchsgittern" orientieren, deren Linien zurückgehen auf eine subjektive Reflektion dessen, was mit eigenen Mitteln realisierbar erscheint, wobei auch die Interessen anderer berücksichtigt werden (Tietz 1994, 280 ff.). Die Modellannahmen beziehen damit auf der subjektiven Ebene den Grundsatz der Rücksichtnahme mit ein.

IV. Erklärungsgehalt des institutionenökonomischen Modells

287

von Fairneß-Regeln auf der Grundlage des Gegenseitigkeitsgrundsatzes, die damit zugleich dazu beitragen, Elemtente des Rücksichtnahmegebotes gesellschaftlich zu etablieren und intrapersonell zu verankern. Der empirische Erklärungsgehalt des institutionenökonomischen Modell erweist sich als dem des homo oeconomicus überlegen. Mit Hilfe des Modells ist es möglich, Ansatzpunkte für eine Veränderung der Institutionen zu identifizieren, deren Bandbreite deutlich weiter gefaßt ist als beim klassischen Modell des homo oeconomicus. Das Modell ist damit in der Lage, die unterschiedlichen Formen rechtlich vermittelter Verhaltensbeeinflussung - einschließlich derjenigen aus der Kategorie der EigenVerantwortung - abzudecken [siehe Kapitel F, Abschnitt III. 2.]. Das Modell erlaubt es zudem, die Interaktion zwischen Regulierungsinstanzen und gesellschaftlichen Akteuren als Prozeß evolutorischer Institutionenbildung zu beschreiben und einer empirischen Prüfung zugänglich zu machen [siehe Kapitel F, Abschnitt VI.].

E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive Für die Kategorie der Eigen-Verantwortung ist das Vorhandensein von unvollkomenen Pflichten charakteristisch. Sind solche Pflichten Bestandteil des Rechts, so nehmen sie doch zugleich außerrechtliche Impulse auf. Unvollkommene Pflichten des Rechts sind damit eingebettet in außerrechtliche Institutionen [siehe Kapitel A, Abschnitt III. 3.]. Zugleich ist aber davon auszugehen, daß das Handeln staatlicher Stellen in vielfältiger Weise zur Herausbildung gesellschaftlicher Institutionen beiträgt und damit das Verhalten der Grundrechtsträger beeinflußt. Aus der institutionenananalytischen Perspektive wird deutlich, daß der Staat teils in direkter, teils in vermittelter Form auf grundrechtliche Schutzbereiche einwirkt, indem er die motivationsbestimmenden Faktoren beeinflußt und auf diese Weise die Modalitäten des Grundrechtsgebrauchs verändert. Der Staat erzielt mit anderen Worten auch im Bereich der unvollkommenen Pflichten und der „sanften Steuerungsinstrumente" verhaltensbeeinflussende Effekte, die aus grundrechtlicher Perspektive keineswegs von vornherein als unbedeutend zu charakterisieren sind. Aufgeworfen ist damit die Frage, wie die staatlicherseits (mit-) beeinflußte Institutionenbildung verfassungsrechtlich einzuordnen ist. Den folgenden Ausführungen liegt die These zugrunde, daß sich die „neuartigen" Handlungsmöglichkeiten (zugleich aber auch die „klassischen" Handlungsformen) aus der Wirkungsperspektive überzeugend analysieren und dogmatisch bewältigen lassen.

I. Einführung Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist damit wiederum die Beobachtung, daß der Gesetzgeber seit einiger Zeit vermehrt auf Handlungsformen aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung zurückgreift, die sich außerhalb des „klassisch-imperativen" Grundmusters bewegen. Der Staat bedient sich damit auch solcher Mittel, die nicht auf den ersten Blick die Qualität eines „Eingriffs" erreichen. Die Versuche, diese Handlungsformen dogmatisch zu bewältigen, kreisen um den Begriff der faktischen Grundrechtsbeeinträchtigung; 1 zum Teil ist auch von „mittelbaren Eingriffen" die Rede.2 1

Siehe etwa Gall was 1970 und Ramsauer 1980.

I. Einführung

289

Die Bezeichnungen bringen zum Ausdruck, daß die Merkmale des klassisch-hoheitlichen Eingriffs sich nicht mehr als hinreichend erweisen. Das hergebrachte Eingriffsverständnis speist sich aus einer Vorstellungswelt, die in der Handlungsform des Verwaltungsaktes in anschaulicher Weise greifbar wird. Einer besonderen Definition des „Eingriffstatbestandes" bedarf es dann nicht, weil alle relevanten Komponenten bereits im Begriff des Verwaltungsaktes enthalten sind. Ähnliches gilt für Eingriffe durch unmittelbar wirksame gesetzliche Vorschriften. Weil die darin enthaltene Regelung gleichzeitig „spiegelbildlich" den Handlungsraum des Adressaten verkürzt, ist ihm die Eingriffswirkung gewissermaßen „auf die Stirn geschrieben". 3 Weitere Erörterungen erscheinen damit als entbehrlich, was insbesondere für eine genauere Betrachtung des grundrechtlichen Schutzbereiches gilt, aber auch für die Frage, welche Wirkungen noch dem hoheitlichen Handeln zuzurechnen sind. Dies ändert sich jedoch spätestens in dem Moment, in dem man andere Handlungsformen der öffentlichen Gewalt daraufhin befragt, ob sie einem Eingriff gleichzusetzen sind. Wenn die Merkmale, die den Verwaltungsakt qualifizieren, nicht mehr erfüllt sind, müssen andere Kriterien an deren Stelle treten. Diese können entweder auf Seiten der öffentlichen Gewalt angesiedelt sein oder sich aus der Perspektive des Grundrechtsberechtigten ergeben. In jedem Fall steht man vor der Schwierigkeit, wie sich die relative Eindeutigkeit der klassischen Eingriffskonstellation durch ergänzende Kriterien kompensieren läßt. Da die Aufgabe darin besteht, neue Formen staatlichen Verhaltens dogmatisch zu bewältigen, liegt es nahe, an der Stelle, an der das hoheitliche Handeln das bisherige dogmatische Gebäude verläßt, Anbauten vorzunehmen. Der dogmatische Ergänzungsbau hätte dementsprechend am Eingriffsbegriff anzusetzen. Diesbezüglich finden sich in Rechtsprechung und Literatur eine ganze Reihe von Lösungsversuchen, 4 die darin übereinstimmen, eingriffsäquivalente Verhaltensweisen zu integrieren und im folgenden nach dem bewährten Schema dogmatisch zu verarbeiten.

2 Siehe etwa die zusammenfassenden Darstellungen von Albers 1996, Bethge und Weber-Dürler 1998 sowie Gusy 2000. 3 Der Regelungscharakter des Verwaltungsaktes mit der daraus resultierenden Zwangswirkung begründet auf der individuellen Ebene die Eingriffsqualität; auf der generellen Ebene des gesetzesförmigen Eingriffs (Pieroth/Schlink 1999, Rn. 207) findet sich der Regelungscharakter ebenfalls. 4 Siehe dazu Lübbe-Wolff 1988, 69 ff. sowie die zusammenfassenden Darstellungen bei Sachs 1994, 128-219, Ossenbühl 1996, Rn. 22 ff.

19 Führ

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

1. Funktion des Eingriffs-Begriffes Bevor man die einzelnen Ansätze bewerten kann, ist nach der Funktion des zu bestimmenden Begriffs zu fragen. Im Kern geht es um die Frage, ob Einwirkung auf die Handlungsmöglichkeiten eines Grundrechtsberechtigten dem Verhalten der öffentlichen Gewalt in einer Weise zuzurechnen sind, die es angebracht erscheinen läßt, den Vorbehalt des Gesetzes mit seinen formellen und materiellen Rechtfertigungslasten zu aktivieren. Hier treffen zwei Perspektiven zusammen, die jeweils für sich zu verfolgen, aber für eine schlüssige dogmatische Bewältigung auch miteinander zu verbinden sind. Einerseits ist die freiheitsstützende Intention der Eingriffs-Dogmatik mit ihren rationalitätssichernden Elementen zu wahren; andererseits darf die Handlungsfähigkeit des Staates nicht dadurch überfordert werden, daß er für Wirkungen Rechtfertigungslasten zu tragen hat, an denen er zwar nicht unbeteiligt ist, die jedoch letztlich über das Verhalten gesellschaftlicher Akteure eintreten. Zutreffend weist Di Fabio (1994, 427) darauf hin, der Verzicht auf die traditionellen Kriterien des Eingriffs öffne „die Schleusen, durch die gesellschaftliche Komplexität in das Rechtssystem eindringt". Weil aber der Entscheidungsbedarf fortbesteht, dem sich das Recht nicht unter Verweis auf eine überbordende Komplexität entziehen kann, ist nach Wegen zu suchen, die Komplexität so zu strukturieren, daß sich Entscheidungsituationen auf die zugrundeliegenden Kernfragen zuspitzen lassen und deren Beantwortung in nachvollziehbarer Weise zu begründen ist. Die Kernfrage, um die es hier geht, ist die nach der Verknüpfung zwischen Staatshandeln und nachteiliger Einwirkung auf den grundrechtlichen Schutzgegenstand. Bejaht man für eine konkrete Konstellation den Verknüpfungszusammenhang, greift der Vorbehalt des Gesetzes ein und der Staat hat sich nach den Rationalkriterien des Rechts für sein Verhalten zu rechtfertigen. Nimmt man einen „Eingriff 4 bzw. ein „eingriffsäquivalentes Verhalten" der öffentlichen Gewalt an, liegt darin aus einer rechtstechnischen Perspektive kein Unwerturteil; auch ist die Rechtswidrigkeit der Intervention jedenfalls auf der Ebene des Gesetzgebers keineswegs indiziert; 5 vielmehr wird lediglich das materielle sowie das - keineswegs gering zu achtende - prozedurale Rationalprogramm des Rechtsstaats aufgerufen, auf dessen Einhaltung der Einzelne aus seinen Grundrechten heraus pochen kann. W i l l man die Erweiterung des Eingriffsbegriffs angemessen diskutieren, ist danach zu fragen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit die Verknüpfung zwischen staatlichem Handeln und nachteiliger Einwirkung auf die Möglichkeiten der Grundrechtsverwirklichung eine solche 5 Dieses Grundverständnis ergibt sich jedoch, wenn man von dem „klassisch-liberalen" FreiheitsVerständnis [dazu Kapitel A, bei Fn. 111 ; Kapitel C, Abschnitt IV. 1. e) sowie unten Abschnitt II. 2. a) bb)] ausgeht.

I. Einführung

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Qualität erreicht, daß die formellen und materiellen Rechtfertigungsanforderungen einzugreifen haben.

2. Informatorische Maßnahmen als Eingriff? Die Frage nach der Fortentwicklung der Eingriffsprüfung wurde in den letzten Jahren vor allem am Beispiel hoheitlicher Hinweise, Empfehlungen und Warnungen diskutiert. 6 Es liegt nahe, an diese Auseinandersetzung anzuknüpfen, da informatorische Maßnahmen auch im Hinblick auf hoheitliche Steuerungsformen aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung und den dort gegebenen Möglichkeiten nicht-imperativer Verhaltensbeeinflussung ebenfalls einen wichtigen Stellenwert 7 einnehmen.8 Zum anderen lassen sich hier in der Gegenüberstellung zu den bislang diskutierten Lösungsvorschlägen die Besonderheiten der wirkungsanalytischen Betrachtung veranschaulichen. In einer Reihe von Gerichtsentscheidungen 9 waren die grundrechtsdogmatischen Kriterien zu klären, die einen Informationsakt zu einem „Eingriff 4 machen. Naheliegenderweise griff man zunächst auf die charakteristischen Elemente zurück, die den klassisch-hoheitlichen Eingriff im Wege des belastenden Verwaltungsaktes ausmachen und gelangte zu einem gegenüber § 9 VwVfG leicht abgewandelten Kriterien-Kanon. 10 Der klassische Eingriff ist gekennzeichnet durch die Rechtsaktqualität der staatlichen Maßnahme (1), die an eine bestimmte - und damit betroffene - Person gerichtet ist (2), Anordnungsqualität in Gestalt von Ge- oder Verboten erreicht (3) und mit hoheitliche Sanktionen verknüpft ist (4). Fünftens schließlich ergibt sich die Beeinträchtigung der Grundrechtsposition unmittelbar aus dem Rechtsakt, sie ist das direkte „Spiegelbild" aus der Anordnung im Tenor der staatlichen Maßnahme. Wie sich bereits aus der Parallele zum Verwaltungsakt ergibt, sind diese Elemente aufeinander bezogen und ergeben zusammen mit dem korrellierenden Freiheitsverständnis - gemeinsam ein Sinngefüge, welches ohne Bedeutungsverlust nicht ohne weiteres veränder6

Siehe die zusammenfassende Darstellung bei Gusy 2000. Damit ist nicht gesagt, daß nicht auch andere Formen indirekt steuernder Verhaltensbeeinflussung mindestens die gleiche Bedeutung erlangen können; siehe etwa zu den Rücknahmepflichten i m Rahmen der kreislaufwirtschaftsrechtlichen „Produktverantwortung" und den daraus resultierenden Grundrechtsbeeinträchtigungen Abschnitt II. 1. a). 8 Siehe dazu Kapitel D, Abschnitt III. 3. b) sowie Kapitel F, Abschnitt III. 2. 9 Siehe dazu den Überblick bei Murswiek 1997, 1023 ff. sowie die Nachweise in Abschnitt II. 2. 10 Siehe dazu etwa Grabitz 1976, 24 ff.; Lübbe-Wolff 1988, 42 ff.; Eckhoff 1992, 175 ff. sowie die zusammenfassenden Darstellungen bei Isensee 1992a, Rn. 61; Albers 1996, 234; Pieroth/Schlink 1999, Rn. 238 ff.; Murswiek 1997; Bethge 1998. 7

19*

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

bar ist. 1 1 W i l l man gleichwohl die Enge der herkömmlichen Kontur des Eingriffs verlassen (Isensee 1992 a, Rn. 62), läßt sich die Ausweitung des Eingriffstatbestandes begrifflich leichter vermitteln, wenn man zuvor die Elemente, die den klassischen Eingriff ausmachen sollen, auf die Kriterien der Zielgerichtetheit (Finalität) und der Unmittelbarkeit reduziert, die zudem nicht kumulativ erfüllt sein sollen. 12 Dann aber steht man vor dem Problem, den auf diese Weise erreichten Verlust an Konturen an anderer Stelle zu kompensieren. Hierzu werden verschiedene Lösungen angeboten. 1 3 Inwieweit diese geeignet sind, die dogmatischen Probleme zu bewältigen, die sich aus der Erweiterung der hoheitlichen Handlungsformen ergeben, ist im folgenden näher zu betrachten.

3. Begriffliche Vorklärungen Die Diskussion um die Fortentwicklung der Eingriffs-Dogmatik leidet oftmals darunter, daß die zu bewältigenden Phänomene mit unterschiedlichen Begriffen belegt werden. Es erscheint daher sinnvoll, zunächst einige begriffliche Vorklärungen vorzunehmen. Ausgangspunkt der abwehrrechtlichen Prüfung sind nach dem hier gewählten Ansatz die „Verhaltensmöglichkeiten" 14 des Grundrechtsberechtigten. Institutionelle Rahmenbedingungen und das sich in diesem Rahmen entfaltende Verhalten Dritter wirken auf die jeweilige Anreizsituation des Einzelnen, was dessen Verhaltensmöglichkeiten beeinflußt. Diese Beeinflussung bezeichet der Begriff „Einwirkung" Nicht jede Einwirkung ist jedoch aus der Abwehrperspektive relevant, sondern nur jene, die den Gewährleistungsinhalt des konkret in Frage stehenden Grundrechts berührt und die geschützten Verhaltensmöglichkeiten verkürzt. 15 Üblicherweise ist in diesem Zusammenhang vom „Schutzbereich des Grundrechts" die Rede. Diese Bezeichnung birgt die Gefahr, damit ein räumliches bzw. flächenhaftes Denken im Sinne einer abgeschlossenen „Grundrechtssphäre" zu verbinden, 11

Albers 1996, 234. Siehe dazu Abschnitt II. 2. Siehe etwa BVerwGE 87, 37/43 f. oder BVerfGE 61, 291/308; zusammenfassend Gusy 2000, 982 f. m.w.N. 13 Siehe dazu - und den Unzulänglichkeiten der verschiedenen Ansätze - etwa Isensee 1992, 65 ff. oder Albers 1996, 235 f. sowie Murswiek 1997 (jeweils m.w.N.). 14 Die Bezeichnung „Verhaltensmöglichkeiten" ist offen für vielfältige, nach außen hin aktive und inaktive Verhaltensformen und umfaßt daher besser als der Begriff der „Handlungsmöglichkeiten" die positive und negative Seite der einzelnen Freiheitsrechte. 15 Ähnlich Grimm (1986, 50) und Pieroth/Schlink (1999, Rn. 240), die übereinstimmend darauf abstellen, ob dem einzelnen ein Verhalten, das vom Schutzbereich des Grundrechts erfaßt wird, ganz oder teilweise unmöglich gemacht wird. 12

I. Einführung

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die ausschließliche Verfügungsbefugnisse zuweist. 16 Je mehr der Grundrechtsgebrauch jedoch mit Sozialbezügen einhergeht und damit im Rahmen der jeweiligen institutionellen Bedingungen (etwa jenen des Marktes) wahrgenommen wird, desto genauer ist zu fragen, worin der Gewährleistungsgehalt jeweils konkret besteht. Sprachlich präziser ist daher eine Redeweise, die nicht vom „Schutzbereich", sondern von der „Grundrechtsverbürgung" 1 7 , von „Grundrechtsgewährleistung" 18 oder von dem grundrechtlichen „Schutzgut" 19 spricht. Da jedoch die Bezeichnung „Schutzbereich" zum einen noch immer weithin üblich ist und zum anderen den Gegenstand grundsätzlich zutreffend kennzeichnet, soll sie im folgenden weiterhin neben den anderen Bezeichnungen Verwendung finden. Aus der Klasse der „schutzbereichsrelevanten Einwirkungen" sind dann diejenigen zu bestimmen, die „Eingriffsqualität" besitzen, weil sie der öffentlichen Gewalt zuzurechnen sind. Diese Teilmenge der „Einwirkungen" soll als „Beeinträchtigung" bezeichnet werden. Der Begriff umfaßt neben den weitgehend unproblematischen Fällen des „klassischen" Eingriffs 20 auch „sonstige" eingriffsäquivalente Einwirkungen auf die vom Schutzbereich umfaßten Verhaltensmöglichkeiten; und zwar solche Einwirkungen, die auf faktischem oder mittelbarem Wege, also auf „andere Weise" 21 erfol-

16

So etwa Böckenförde 1991a, 60 ff./61 (kritisch dazu Albers 1996, 237; siehe auch Pieroth/Schlink 1999, Rn. 231 ff.). Zu dem entsprechenden grundrechtstheoretischen Ansatz und den dogmatischen Implikationen siehe Abschnitt II. 2. a). 17 So etwa Albers (1986, 236), die im übrigen aber von Grundrechtsgewährleistung spricht. 18 So etwa Dreier (1996, X X V I ) , der den sachlichen Schutzbereich auch als „Gewährleistungsinhalt" bezeichnet. Diese Formulierung dürfte den Gegenstand am besten bezeichnen. 19 Die Bezeichnung Schutzgut findet sich etwa bei Alexy (1985, 274) und soll die Handlungen, Eigenschaften oder Zustände umschreiben, die nicht gehindert, beeinträchtigt oder beseitigt werden dürfen. Die Bezeichnung „Schutzgut" wäre demnach bedeutungsgleich mit „Schutzbereich"; sie kann jedoch auch in einem weiteren Sinne verstanden werden, der allgemein den Lebensbereich bezeichnet, dem das Grundrecht gilt („Regelungsbereich") und aus dem heraus der jeweilige Schutzbereich erst zu bestimmen ist (vgl. Pieroth/Schlink 1999, Rn. 197). 20 Der Terminus „ E i n g r i f f bleibt damit auf seinen klassischen Anwendungsbereich beschränkt. Auf diese Weise sollen die Probleme vermindert werden, die sich aus der Übertragung der Eingriffsmerkmale auf anders geartete Konstellationen ergeben. 21 Darin kann man eine strukturelle Parallele zu § 1 BImSchG sehen, der einerseits Einwirkungen auf die Schutzgüter des Gesetzes erfaßt, die auf dem Wege der „schädlichem Umwelteinwirkung" (mithin über den Belastungspfad der „Immission" i.S.v. § 3 Abs. 1 BImSchG) erfolgen, der daneben aber für die Verursachergruppe der genehmigungsbedürftigen Anlagen auch die Wirkungen zum Gegenstand des Gesetzes macht, die „auf andere Weise" hervorgerufen werden (siehe dazu Führ 1994, § 1 Rn. 51).

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

gen, gleichwohl aber dem Staat zuzurechnen sind. 22 Erst die Zurechnung zu einem Verhalten der öffentlichen Gewalt macht aus einer schutzbereichsrelevanten Einwirkung eine „Beeinträchtigung" im Sinne der Abwehrdogmatik. Die Bezeichnung „Beeinträchtigung" ist inzwischen allgemein gebräuchlich geworden. Sie findet sich in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts23 und des Bundesverwaltungsgerichts, 24 wird aber auch systematisierenden 25 und kommentierenden 26 Darstellungen zugrunde gelegt. Zum Teil wird der Begriff neben den des Eingriffs gestellt; 27 zum Teil wird am Eingriff als Oberbegriff 28 festgehalten. Da der Begriff der Beeinträchtigung den umfassenderen Bedeutungsgehalt aufweist, sollte man ihn als Oberbegriff gebrauchen. In der Beeinträchtigung schwingt zudem der wirkungsbezogene Ansatz stärker mit, während der „ E i n g r i f f die Assoziation zum „direkten Z u g r i f f des Staates auf das Schutzgut weckt; eine Assoziation, die für die hier besonders interessierenden nicht-imperative Steuerungsformen zu eng ist. Das Phänomen, um dessen Bezeichnung es hier geht, ist zunächst einmal rein rechtstechnischer Natur. Es geht darum, für die Klasse der schutzbereichsrelevanten Einwirkungen auf die Verhaltensmöglichkeiten der Grundrechtsträger Kriterien zu definieren, die eine Zurechnung zu Handlungen der öffentlichen Gewalt und damit das Eingreifen des Gesetzesvorbehaltes einschließlich der materiellen Rechtfertigungslasten begründen. Der Begriff „Beeinträchtigung" meint Konstellationen, in denen der Zurechnungszusammenhang bejaht wird. Er vermeidet die Konotation als „schutzbereichsabträglich", die der Bezeichnung „ E i n g r i f f anhängt und schließt zugleich Einwirkungspfade außerhalb der klassischen Eingriffsakte mit ein. 22

Obwohl eindeutig der öffentlichen Gewalt zuzurechnen, sollen Handlungen des Gesetzgebers, die sich als Inhaltsbestimmung einordnen lassen, keine „Beeinträchtigung" darstellen. Dieser Frage ist in Abschnitt II. 4 nachzugehen 23 Siehe etwa BVerfGE 93, 266/293 - „Soldaten sind Mörder"; E 92, 277 DDR-Spionage und E 90, 263 - Ehelichkeitsanfechtung. 24 Siehe etwa BVerwGE 87, 37/44 - Glykol (dort - wie hier - als Oberbegriff, der „klassische" Eingriffe und sonstige Beeinträchtigungen umfaßt). 25 Siehe Gallwas 1970; Ramsauer 1980; Sachs 1994; Albers 1996; Pieroth/ Schlink 1999, Rn. 238 ff./379; Bethge 1998 und Weber-Dürler 1998, 66 ff. 26 So die Bearbeitungmuster in den neukonzeptionierten Grundgesetzkommentaren (etwa bei Jarass/Pieroth und Dreier). Sachlich ähnlich auch Sachs 1996, vor Art. 1 Rn. 55 (im Aufbau der Kommentierungen wird diese Systematik aber nicht von allen Autoren durchgehalten). 27 Pieroth/Schlink (1999, Rn. 379) sprechen davon, „daß jegliche Beeinträchtigung einen Eingriff darstellt". 28 Alexy (1985, 274) verwendet „ E i n g r i f f als Oberbegriff. Dagegen spricht jedoch die überkommene engere Bedeutung dessen, was unter „ E i n g r i f f verstanden wird. Beeinträchtigung erscheint demgegenüber offener.

I. Einführung

295

4. Zuordnung der Wertungsfragen Bei den indirekt wirkenden Steuerungsinstrumenten, mit denen die öffentliche Gewalt versucht, unvollkommene Pflichten motivationell zu arrondieren, ist es - verglichen mit strikt-imperativem Handeln des Staates - oftmals schwieriger festzustellen, ob der Schutzbereich eines Freiheitsrechts berührt ist und ob die Einwirkung der öffentlichen Hand zuzurechnen ist. Weil es zudem nicht selten umstritten ist, ob der Staat sich - etwa bei hoheitlichen Produktwarnungen - auf eine gesetzliche Ermächtigungsnorm stützen kann, ist die Beantwortung dieser Fragen durchaus ergebnisrelevant. In der Anwendung der abwehrrechtlichen Grundrechtsdogmatik sind an verschiedenen Stellen Abgrenzungen und Abwägungen vorzunehmen. Wie am Beispiel „präformierter" Schutzbereichsverständnisse deutlich wird, 2 9 besteht dabei die Gefahr, Weitungsfragen in Vorabfestlegungen zu verschleiern. Um dem entgegenzuwirken, ist zu klären, welche normativen Erwägungen an welchem Prüfungspunkt dogmatisch zu verorten sind. Stationen der Grundrechtsprüfung sind die Bestimmung des Schutzbereiches (1), die Festellung, daß der Schutzbereich „berührt" ist (2) und die Klärung des Zurechnungszusammenhangs (3). Sind diese drei Stationen mit positivem Ergebnis durchlaufen, dann ist der abwehrrechtliche GrundrechtsTatbestand erfüllt (siehe die Übersicht auf Seite 353) und es stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung der Beeinträchtigung (4). Welche Argumente jeweils „zulässig" sind, ergibt sich aus der „Grundfrage" der jeweiligen Prüfungsstufe. Im Rahmen der Schutzbereichsbestimmung geht es um die Reichweite der rechtlichen Freiheitsgewährleistung. Die Grundfrage lautet dabei, ob die Freiheit „von vornherein" limitiert ist. Maßstab dafür ist allein der normative Gewährleistungsinhalt als solcher. Die Grundfrage lautet: Welche Verhaltensweisen sollen nach der Verfassung von der Norm erfaßt werden und welche nicht? Auf dieser Stufe geht es noch nicht darum, die Freiheit des einen im Hinblick auf die Freiheit des anderen einzuschränken. Argumente, die sich auf das Konfliktmuster „Abwägung" mit kollidierenden Verfassungsgütern beziehen, haben bei der Schutzbereichsbestimmung 30 keinen Platz. Als Musterfall unzulässiger Argumentation heranziehen läßt sich das Vorgehen des Bundesverwaltungsgerichts in der Entscheidung zu den behördlichen Warnungen vor glykolhaltigen Weinen. 31 Das Gericht macht die Schutzbe-

29

Siehe Kapitel C bei Fn. 174 sowie unten Abschnitt II. 2. a) bb). Sie sind erst im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung heranzuziehen. 31 BVerwGE 87, 37; zum Gegenstand der Entscheidung siehe auch die Darstellung auf Seite 329 f. Siehe dazu die Auseinandersetzung mit den Vertretern der engen, „präformierten" Tatbestandstheorie in Abschnitt II. 2. a) bb). 30

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

reichsbestimmung von einer umfangreichen Güterabwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abhängig und verneint auf dieser Grundlage die Eingriffsqualität der behördlichen Informationsakte. Dabei war man sich der methodischen Schwäche der eigenen Argumentation offenbar durchaus bewußt. Denn das Gericht verweist in einem obiter dictum darauf, das gefundene Ergebnis würde auch bei Bejahung der Schutzbereichsrelevanz nicht anders ausfallen. 32 Dies ändert aber nichts daran, daß man Argumentationsfiguren aus der Rechtfertigungsprüfung in die Schutzbereichsbestimmung übertragen hat. Auf dieser Prüfungsstufe ist der Rückgriff auf Abwägungsargumente argumentationslogisch unzulässig und auch sachlich nicht erforderlich. Dies läßt sich etwa verdeutlichen an der Auseinandersetzung darüber, ob der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG „die menschliche Handlungsfreiheit im weitesten Sinne" umfasst (st. Rspr. seit BVerfGE 06, 32/36 - Elfes) oder ob lediglich solche Handlungsformen, die eine „gesteigerte, dem Schutzgut der übrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung besitzen", dem Schutzbereich unterfallen (so die abweichende Meinung von Dieter Grimm, BVerfGE 80, 137/164 ff. - Reiten im Walde). Die einschränkende Position begründet Grimm in erster Linie durch Auslegung der Vorschrift und unter Berücksichtigung der Funktionen der Grundrechte. Ergänzend weist er auf die verfassungsprozessualen Folgen hin. Hingegen finden sich Aussagen mit Abwägungscharakter in seiner Argumentation nicht. Unabhängig von der Frage, ob man sich der Position von Grimm anschließt, wird deutlich, daß eine eingrenzende normative Bestimmung der Grundrechtsgewährleistung ohne Verweis auf konfligierende Grundrechte, also „abwägungsfrei" möglich ist. Als Leitlinie kann daher gelten, daß im Rahmen der Schutzbereichsbestimmung Abwägungsargumente im Hinblick auf kollidierende Verfassungsgüter nicht zulässig sind. Auch Argumente, die sich auf die Zurechnung bestimmter Einwirkungen zur öffentlichen Gewalt beziehen, sind auszuklammern, da sie erst im Rahmen der Bestimmung der Eingriffsäquivalenz ihren Ort haben. Festzuhalten ist daher folgendes: Sobald sich die Aussage, der Schutzbereich sei nicht berührt, nicht mehr ohne Argumente herleiten läßt, die Aspekte der Abwägung oder der Zurechnung mit einbeziehen, läßt sich 32 BVerwGE 87, 37/51 (= NJW 1991, 1769 f.). Die materiellrechtliche Argumentation des Gericht läßt sich in der Weise reformulieren, daß man die Frage der Schutzbereichsrelevanz offen lassen kann, weil ein eventueller Eingriff in jedem Fall materiell gerechtfertigt wäre. Zulässig ist ein derartiges Vorgehen aber nur unter der - zusätzlich getroffenen - Annahme, daß sich die Bundesregierung für ihre Produktwamung auf eine Ermächtigungsnorm stützen kann und sie dafür nach der grund- und einfachgesetzlichen Kompetenz Verteilung auch zuständig wäre.

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

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eine apriorische Eingrenzung des Schutzbereiches nicht aufrechterhalten und es ist davon auszugehen, der jeweilige Schutzbereich sei berührt. Auf dieser argumentationstheoretischen Ebene hat daher der Satz „in dubio pro liberiate" durchaus seine Berechtigung. 33 In argumentationslogischen Zweifelsfällen ist daher auf die Vorweg-Eingrenzung des Schutzbereichs zu verzichten und der Weg über die auf rationale Bewältigung der Konfliktsituation angelegten dogmatischen Folgeschritte zu gehen. 34 Der gleiche Grundsatz kommt dann auch bei der letzten Prüfungsstation des abwehrrechtlichen Grundrechtstatbestandes, der Frage nach dem Zurechnungszusammenhang, zum Tragen. Läßt sich der Zurechnungszusammenhang erst mit Argumenten verneinen, die Abwägungscharakter haben, dann ist im Zweifel der Zurechnungszusammenhang zu bejahen und eine „Beeinträchtigung" anzunehmen mit allen formalen und materiellen Anforderungen, die dann an das entsprechende staatliche Handeln zu stellen sind. Diese Voraussetzungen zu prüfen, ist Gegenstand der Rechtfertigungsprüfung, in der die mehrfach angesprochenen Abwägungsfragen dann ihren Ort finden.

5. Weitere Untersuchungsschritte Im folgenden sind zunächst die Merkmale zu betrachten, die erfüllt sein müssen, damit eine „Beeinträchtigung" anzunehmen ist [Abschnitt II.]. Anschließend sind die formalen und materiellen Anforderungen nachzuzeichnen, mit den sich in der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Beeinträchtigung rechtfertigen läßt [Abschnitt III.]. Dabei ist - vorrangig im Hinblick auf Steuerungsformen aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung - jeweils zu fragen, in welcher Weise eine institutionenanalytische Betrachtung des Handlungskontextes und der daraus resultierenden Wirkungen auf die Verhaltensmöglichkeiten der Grundrechtsträger bei der Klärung hilfreich sein könnte.

I I . Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten Die Beeinträchtigungsprüfung hat die Aufgabe, eine Relation zwischen Handlungen der öffentlichen Gewalt und grundrechtlich geschützten Ver33 Damit ist - wie auch das im Text erwähnte Beispiel der Persönlichkeitsentfaltung nach Art. 2 Abs. 1 GG deutlich macht - nicht gemeint, daß die Schutzbereiche als solche generell weit zu ziehen seien [dagegen zutreffend Pieroth/Schlink 1999, Rn. 230; siehe dazu auch die Ausführungen in Abschnitt II. 2. c) bb)], vielmehr geht es darum, Zurechnungs- und Kollisionsfragen an der Stelle zu verorten, wo sie dogmatisch angemessen zu verarbeiten sind. 34 Alexy 1985, 290; Morlok 1993, 401.

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

haltensmöglichkeiten herzustellen. Die Frage, die aus der abwehrrechtlichen Perspektive an die neuen (aber auch die „klassischen") Formen hoheitlichen Handelns zu richten ist, erhält in der oben entwickelten Terminologie folgende Fassung: Zu prüfen ist, ob Verhaltensmöglichkeiten, die in den Gewährleistungsbereich eines Grundrechts fallen, verkürzt werden infolge von Einwirkungen, die der öffentlichen Gewalt zuzurechnen sind.

1. Freiheitsverkürzende Einwirkung In der abwehrrechtlichen Grundrechtsdogmatik bilden die Begriffe des Schutzbereiches und des Eingriffs bzw. der Grundrechtsgewährleistung und der Grundrechtsbeeinträchtigung ein zusammenhängendes dogmatisches Konzept, in dem die verschiedenen Komponenten aufeinander bezogen sind. 35 Gemeinsam bestimmen sie den Grundrechtstatbestand (Alexy 1985, 276). Je weiter man die Schutzbereiche der Grundrechte faßt, desto mehr staatliche Handlungen kommen als „Eingriff 4 in Betracht; je spezifischer man die grundrechtliche Gewährleistung definiert, desto weniger besteht die „Gefahr" hoheitlicher Grundrechtsintervention (Pieroth/Schlink 1999, Rn. 226). Verengt man andererseits die zu betrachtenden Einwirkungspfade auf bestimmte Handlungsformen, dann erweist sich die genauere Abgrenzung des Schutzbereiches als entbehrlich, weil die notwendige Ausgrenzungsleistung über die formalen Kriterien des diagnostischen Eingriffsbegriffs erbracht werden kann. Öffnet man hingegen den Kreis der dogmatisch zu bewältigenden Einwirkungsformen, dann tritt die Notwendigkeit genauerer Schutzbereichsbestimmung als Problem hervor, 36 und es stellt sich die Frage, ob die Grundrechte schon bei jeder nachteiligen Betroffenheit eines einzelnen berührt sind. 37 Das Abgrenzungsproblem erscheint auf einer anderen Ebene. Zu entscheiden ist daher, auf welcher Ebene das Problem und seine Lösung zu verorten ist. Solange man sich auf die Bewältigung klassischimperativer Handlungsweisen beschränkte, dürfte der „diagnostische Eingriffsbegriff 4 mit seinen formalen Kriterien eine sinnvolle Eingrenzung der dogmatisch zu bewältigenden Konstellationen geleistet haben. Mittlerweile hat sich gezeigt, daß auch Handlungen der öffentlichen Gewalt, die nicht in 35 Sachs 1994, 174; Albers 1996, 236. D i Fabio (1994, 428) konstatiert: „Eingriff und Reichweite des grundrechtlichen Schutzbereichs stehen in unauflöslicher Beziehung". Ähnlich Morlok (1993, 417), der hinweist auf die „rechtstechnischen Vernetzungen, in denen der Eingriffsbegriff steht". 36 BVerwGE 71, 183/191 f. - Transparenzlisten (= NJW 1985, 2774/2776); Lübbe-Wolff 1988, 72; Albers 1996. 37 Verneint in BVerwGE 71, 183/192 - Transparenzlisten (= NJW 1985, 2774/ 2776).

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

299

Gestalt des klassischen „Eingriffs" erfolgen, die grundrechtliche Freiheit beeinträchtigen können. Die dogmatische Einordnungsfrage führt zurück auf die Kernfunktion der Grundrechte, dem Individuum Schutz vor freiheitsverkürzenden Effekten zu gewähren. 38 Das Bild personaler Autonomie, von dem das Grundgesetz ausgeht, hat zur Folge, daß die Frage nach den Freiheitshindernissen allein aus der Perspektive des Grundrechtsträgers zu beantworten ist (Morlok 1993, 416). Sollen die Grundrechte demnach die Möglichkeiten der Wahrnehmung personaler Freiheit gewährleisten, ist es wenig plausibel auf die hoheitlich verfolgte Absicht („Finalität") oder die Art und Weise der Einwirkung („Unmittelbarkeit") abzustellen; 39 naheliegender ist vielmehr, allein die freiheitsverkürzende Wirkung zu betrachten, die den Grundrechtsträger erreicht (Grimm 1986, 49 f.). Bloße Modifikationen des an bestimmte formale Kriterien des hoheitlichen Handelns anknüpfenden Eingriffsbegriffs dürften daher kaum in der Lage sein, das Abschichtungsproblem angemessen zu bewältigen, weil sich die Frage, welche freiheitsverkürzenden Effekte dogmatisch als „eingriffsäquivalent" zu behandeln sein sollen, ohne eine Analyse der Wirkungszusammenhänge nicht überzeugend beantworten läßt. a) Perspektive

des Grundrechtsträgers

Beim klassischen Eingriff besteht grundsätzlich eine Identität von Regelung und Belastung; die Einwirkung auf die Rechtsposition ist das Spiegelbild der Anordnung im Tenor der staatlichen Maßnahme. 40 Während hier also die Belastungswirkung vergleichsweise einfach 41 zu bestimmen ist, erweist sich dies bei Handlungsformen aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung als schwieriger, weil es an einer unmittelbaren, hoheitlich bewirkten Zwangswirkung fehlt und die grundrechtsrelevanten Effekte erst über Zwischenschritte eintreten. Um die damit zusammenhängenden Fragen angemessen beantworten zu können, sind zunächst die Belastungswirkungen zu eruieren (Ossenbühl 2000, 28), weil sich erst auf dieser Grundlage eine Aussage darüber treffen läßt, welche Schutzbereiche konkret berührt sind.

38

So etwa - um nur einige Stimmen aus der Literatur zu nennen - auch Gallwas 1970, 57 ff.; P. Kirchhof 1977, 84 und Lübbe-Wolff 1988, 69 ff. sowie D i Fabio 1995, 5; Grimm 1986, 49 f. und Ossenbühl 2000, 28. 39 Zu diesen Kriterien siehe Abschnitt I. 2 sowie die zusammenfassende Darstellung bei Gusy 2000. 40 Gallwas 1970, 12; Albers 1996, 234 m.w.N. 41 Zu Fragen der Wirkungsanalyse bei „indirekt" steuernden Instrumenten des Ordnungsrechts siehe sogleich die im Text eräuterten Beispiele.

300

E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

Bildet die Perspektive des Grundrechtsträgers den Ausgangspunkt einer derartigen Analyse, dann muß neben der konkret in Rede stehenden Handlung der öffentlichen Gewalt auch die institutionelle Einbettung der jeweiligen individuellen Handlungsmöglichkeiten Berücksichtigung finden. Zu fragen ist dann etwa nach den weiteren rechtlich mitgestalteten Rahmenbedingungen, nach marktlichen Mechanismen etc.; insgesamt gelangen also die verhaltensbestimmenden Parameter, mithin die Präferenzen der relevanten Akteure und die ihnen gegenüberstehenden Restriktionen in den analytischen Blick, weil sich erst aus deren Zusammenspiel die freiheitsbeeinträchtigenden Wirkungen für das betroffene Individuum ergeben. Die Aussage, erforderlich sei ein „mehrdimensionales Eingriffsdenken" (Di Fabio 1995, 5), fordert in der Sache nichts anderes als eine umfassendere und präzisere Analyse der Wirkungszusammenhänge. Diese erweiterte Perspektive gilt - darauf ist besonders hinzuweisen auch in den Fällen, in denen die öffentliche Gewalt sich zwar klassischer ordnungsrechtlicher Mittel bedient, die mit der jeweiligen Regelung verbundenen Verhaltenspflichten jedoch ebenfalls nur einen Zwischenschritt auf dem Weg zu dem eigentlich intendierten Verhaltensziel ausmachen. Eine derartige Konstellation ist etwa zu beobachten bei den abfallwirtschaftlich motivierten Rücknahmepflichten für die Hersteller verschiedener Produktgruppen bzw. Produktbestandteile. Die Rücknahmepflicht als solche ist dabei nur der „Aufhänger" für eine Reihe weiterer - teils ordnungsrechtlich, teils marktförmig vermittelter - Impulse, die in ihrer Gesamtheit die Produzenten letztlich zu einer Änderung ihres Verhaltens im Rahmen der Entwicklung und Gestaltung der Erzeugnisse veranlassen sollen. Hinzu kommen unvollkommene Pflichten, wie sie sich in § 1 VerpackV sowie neuerdings in Form der übergreifenden „Produktverantwortung" in § 22 Krw-/ AbfG mit entsprechend ausformulierten Verhaltenszielen finden. Diesen Pflichten stehen keine direkten ordnungsrechtlichen Sanktionen gegenüber. Dies bedeutet aber nicht, daß sie ohne Wirkungen bleiben müssen. Sie sind zum einen darauf gerichtet, die Präferenzen der verschiedenen Akteure 4 2 zu beeinflussen. Zum anderen formulieren sie das Leitbild, an dem sich der Gesetzgeber orientiert hat und bilden damit zugleich den Schlüssel für das Verständnis der intendierten indirekten Wirkungen, die sich der Gesetzgeber aus dem von ihm geschaffenen institutionellen Kontext erhofft 43 und die er gegebenenfalls durch „Nachfassen" verstärkt zur Geltung zu bringen ge42 Im Fall der Verpackungsverordnung sind dies zum einen die Verbraucher zum anderen aber alle diejenigen, die an der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette beteiligt sind. Dies reicht von den Herstellern der Produkte und der eingesetzten Verpackungsmaterialien über den Handel bis hin zu der Entsorgungswirtschaft und denjenigen, die etwa an der Erstellung verpackungsrelevanter Produktnormen beteiligt sind (siehe dazu die Fallstudie von Golding 2000). 43 So zutreffend D i Fabio 1995, 5 m.w.N.

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

301

neigt sein wird, falls diese Wirkungen nicht eintreten. Die freiheitsverkürzende Wirkung der ordnungsrechtlich gefassten Rücknahmepflicht ist nur unter Einbezug dieses auf mehreren Ebenen angesiedelten institutionellen Kontextes zu verstehen und angemessen einzuordnen. Gleiches gilt für eine ganze Reihe weiterer Regelungskomplexe, wie sich etwa an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Krankenhaus-Finanzierungsgesetz, wo sich die Wirkungen der Nichtaufnahme in den Krankenhausplan erst aus dem dort vorwiegend „kassenrechtlich" gestalteten Kontext ergeben (E 82, 209/223 f.) oder an dem Arzneimittel betreffenden Transparenzlisten-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (E 71, 183/193) zeigen läßt. In beiden Fällen erschließt sich die Wirkung der streitgegenständlichen, für sich genommen nicht besonders weitreichenden Maßnahme erst aus dem durch eine hohe Regelungsdichte gekennzeichneten Kontext. 4 4 In beiden Fällen hatte der Staat über die - im Vergleich zu anderen Dienstleistungssektoren - weitgehende rechtliche Ausgestaltung des Gesundheitssystems die letztlich zu erwartenden Wirkungen in hohem Maße selbst mitbestimmt, was für die Frage der Zurechnung der beeinträchtigenden Wirkung von Bedeutung ist. Zu diesem Ergebnis gelangt auch D i Fabio (1994, 432), der betont, es sei der „gesamte normative Raum" zu berücksichtigen. Dies ist für die Frage der Zurechnung sicherlich zutreffend; für die vorgelagerte Frage nach den Wirkungszusammenhängen reicht dies jedoch nicht aus. Hier sind auch nicht direkt normativ vermittelte Effekte zu berücksichtigen, weil auch diese die Verhaltensmöglichkeiten der Grundrechtsträger mitbestimmen. b) Wirkungsanalyse

als Ausgangspunkt normativer Zuordnung

W i l l man die Einwirkungen auf die Verhaltensmöglichkeiten in ihrer Reichweite und Intensität beschreiben, bedarf es damit einer Analyse der Wirkungszusammenhänge unter Berücksichtigung der jeweiligen, meist auf verschiedenen Ebenen angesiedelten institutionellen Einbettung. Diese Analyse läßt sich zwar auch mit dem Handwerkszeug des Juristen angehen,45 daß sie sich sachgerechter unter Beteiligung anderer Disziplinen leisten läßt, dürfte außer Frage stehen. 46 44 Die Kontextabhängigkeit der rechtlichen Bewertung zeigt sich besonders deutlich auch im Bereich der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Sacksofsky 2000, 214 m.w.N.). 45 So etwa im Hinblick auf die Wirkungen des Entwurfs einer ElektroaltgeräteVerordnung Ossenbühl 2000, 28 f. Ansätze einer Wirkungsanalyse finden sich etwa auch in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch, siehe BVerfGE 88, 203/264 ff. 46 So auch Albert 1993, 26 ff. Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel D.

302

E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

A m Beispiel bestimmter Schutzvorschriften läßt sich etwa zeigen, daß sich aus ihnen freiheitsverkürzende Wirkungen für diejenigen ergeben können, die in der gesetzgeberischen Intention eigentlich Nutznießer der Regelung sein sollten. Besondere Kündigungsschutzvorschriften für Schwangere oder Schwerbehinderte können dazu führen, daß die Einstellungschancen der jeweils betroffenen Personengruppen sinken. 47 Für die freiheitsverkürzende Wirkung, denen sich etwa der Schwerbehinderte Arbeitssuchende ausgesetzt sieht, ist dabei nicht allein die objektive Rechtslage, sondern letztlich das subjektive Vorstellungsbild 48 der Personalverantwortlichen in den Unternehmen 49 ausschlaggebend. Gehen diese zu einem relevanten Anteil subjektiv davon aus, der gesetzliche Kündigungsschutz sei stärker ausgeprägt als dies nach der Rechtslage und der Praxis der zuständigen Hauptfürsorgestellen der Fall ist, dann reicht es für die Wirkungsanalyse nicht aus, allein den Wortlaut der gesetzlichen Vorschriften und die Praxis von Behörden und Gerichten heranzuziehen, vielmehr bedarf es sozialwissenschaftlicher Untersuchungen, die die Perspektive der relevanten Akteure mit einbringen. Die freiheitsverkürzende Wirkung beruht in einer derartigen Konstellation nur zum Teil auf den direkten Wirkungen des Schutzgesetzes. In diesen Fällen stellt sich dann die Frage, in welchem Umfang die darüber hinaus gehenden Wirkungen der öffentlichen Gewalt zuzurechnen sind. Dafür könnte etwa sprechen, daß sie - um ihre Schutzbemühungen in der Öffentlichkeit besser erscheinen zu lassen - in ihrer Außendarstellung die Fehlvorstellungen initiiert oder unterstützt hat. 5 0 Soweit die aus einem arbeitsrechtlichen Schutzgesetz resultierende Freiheitsverkürzung der öffentlichen Gewalt zuzurechnen ist, muß sich damit auch ein „gut gemeintes"

47 Selbstverständlich haben auch die allgemeingültigen Schutzvorschriften eine vergleichbare Wirkung. An dieser Stelle geht es jedoch um die relative Wirkung, da der Gesetzgeber ein Integrationsziel für eine bestimmte Gruppe durch Schutzvorschriften verfolgt; bei der Integration Schwerbehinderter kombiniert mit einer Abgabenregelung und spezifischen Fördermöglichkeiten (siehe dazu Riehl 1999, 13 ff.). 48 Grundlage der Analyse sind Annahmen über das Verhalten der betreffenden Individuen in den sozialen Gebilden, die von der Regelung betroffen sind. Für deren Entscheidungen ist aber deren subjektive „Definition der Situation" (Albert 1993, 16) maßgebend, also ihre Situationswahrnehmung, die auch die jeweils relevanten Rechtsnormen beinhaltet. Diese muß jedoch keineswegs mit der objektivherrschenden Interpretation übereinstimmen. Das hier vorgeschlagene institutionenökonomische Verhaltensmodell (siehe Kapitel D) integriert dies, indem es auch „kognitive Grenzen" sowie „Verhaltensmuster" und „Routinen" als verhaltensbeeinflussende Faktoren berücksichtigt. 49 Siehe dazu Bizer 2000b m.w.N. 50 Im übrigen wäre die Wirkungsanalyse der Ausgangspunkt für ein gegebenenfalls erforderliches „Nachfassen" der öffentlichen Gewalt. Je nachdem, auf welche Weise die freiheitsverkürzenden Einwirkungen vermittelt werden, muß dies nicht zwingend in Form einer Gesetzesnovelle geschehen.

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

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Schutzgesetz vor dem Grundrecht der vordergründig Begünstigten aus Art. 12 Abs. 1 GG rechtfertigen. Ausgehend von der zentralen Funktion der Grundrechte, freiheitsmindernde Einwirkungen abzuwehren, spricht vieles dafür, eine Wirkungsanalyse zum Ausgangspunkt der abwehrrechtlichen Grundrechtsprüfung zu machen. Dieses Vorgehen trägt der Erkenntnis Rechnung, daß es aus der Perspektive des Betroffenen keinen Unterschied macht, ob der Schutzgegenstand seines Grundrechts mit Hilfe traditioneller Eingriffsformen beeinträchtigt wird oder auf einem anderen Wege (Sachs 1994, 209). Entscheidend ist allein die freiheitsmindernde Wirkung. 5 1 Der Einstieg in die Grundrechtsprüfung verlangt damit eine wirkungsanalytische Betrachtung der Motivationsfaktoren, die das Handeln der Akteure bestimmen. Erscheinen als Folge einer Handlung der öffentlichen Gewalt die Verhaltensmöglichkeiten von Grundrechtsberechtigten als verkürzt, liegt eine „Einwirkung" vor. Dies ist ein äußerst weit gefaßtes, mit dem hier gewählten Ansatz unmittelbar verknüpftes Verständnis der Einwirkung. Methodisch betrachtet liegt darin ein Zwischenschritt, der die Voraussetzung schafft für die gesondert zu klärende Frage, ob die Einwirkung im Schutzbereich eines Grundrechts erfolgt. Dazu bedarf es einer genaueren Definition der Verhaltensmöglichkeiten, die der jeweilige Schutzbereich abdecken soll. c) Zwangsgleiche Wirkung Rein tatsächliche Auswirkungen von Maßnahmen der hoheitlichen Gewalt können in vielerlei Erscheinungsformen auftreten. Um zu verhindern, daß die Zahl abwehrrechtsrelevanter nicht-imperativer Beeinträchtigungen ins Unermessliche anwächst, wird allgemein gefordert, der hoheitlichen Maßnahme müsse eine „zwangsgleiche Wirkung" zukommen. 52 Die damit formulierte Anforderung ist funktional ein den Grundrechtsverpflichteten schützendes Korrektiv (Di Fabio 1994, 429). Sie bildet das funktionale Äquivalent zur „Regelung" im Rahmen des klassischen Eingriffs; aus der „Regelung" resultiert spiegelbildlich die - notfalls mit imperativen Mitteln durchsetzbare - verhaltensbeeinflussende Wirkung gegenüber dem Einzel51

In diese Richtung argumentiert auch Schlink (1984), der fordert, die Eingriffsdogmatik mit der „ausgreifenden Frage nach den Bedingungen realer Freiheit" (468) zu verknüpfen und jeweils aus der Mikroperspektive des Grundrechtsträgers nach der „beschränkenden Wirkung" hoheitlicher Rahmensetzungen zu fragen, wie dies das Bundesverfassungsgericht im den Entscheidungen zum Mitbestimmungsund zum Volkszählungsgesetz (siehe dazu Seite 320) auch getan habe (467). 52 Siehe dazu Sachs 1994, 130 ff. und 208 f. mit den dort angeführten Nachweisen.

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

nen. Dieses Äquivalenz-Kriterium ist erfüllt, wenn die verhaltensbeeinflussende Wirkung der hoheitlichen Maßnahme faktisch einem imperativen Eingriff gleichkommt. Um dies feststellen, stehen „Maßstäbe von mathematischer Genauigkeit naturgemäß nicht zur Verfügung" (Lübbe-Wolff 1988, 267). Ob die zwangsgleiche Wirkung erst dann vorliegen soll, wenn eine besondere „Schwere" in Sinne einer quantitativen Wirkungsbetrachtung gegeben ist, läßt sich den Stellungnahmen nicht eindeutig entnehmen. Es spricht aber einiges dafür, daß es sich eher um ein qualitatives Kriterium handelt. Zu warnen ist jedenfalls vor dem Versuch, das Äquivalenz-Kriterium in ein Schwerekriterium 53 umzudeuten und doch wieder die Wertigkeit des grundrechtsgeschützten Verhaltens ins Spiel zu bringen. Um das vom Grundrecht geschützte Verhalten geht es jedoch an dieser Stelle nicht. Zu betrachten ist allein die Intensität der Einwirkung auf die Motivationslage. Die Aufgabe besteht folglich darin, diese Intensität festzustellen und zu bewerten. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf in der Regel „handfeste" materielle Formen staatlicher Motivierung, insbesondere finanzielle Nachteile oder der drohende Verlust von Vorteilen, für den Fall, daß dem hoheitlich erwünschten Verhalten nicht entsprochen wird. Trotz rechtlich „an sich" fortbestehender Wahlmöglichkeit, erscheint sie für den Betroffenen „faktisch extrem reduziert" (Grimm 1986, 46). Angesprochen ist damit die Unterscheidung von (partiellem) Unmöglichmachen und bloßem Erschweren des Grundrechtsgebrauchs. 54 Die Unterscheidung soll nicht dahingehend zu verstehen sein, daß ein grundrechtlich geschütztes Verhalten erst dann unmöglich gemacht wird, „wenn es rechtlich verboten, sondern schon, wenn es faktisch erheblich erschwert wird" (Grimm 1986, 50). Abzustellen ist auf die beim Bürger anfallende Belastung, die „bei ihm und von ihm wahrzunehmende Behinderung seiner Freiheit" (Morlok 1993, 415 f.). Entscheidend ist, ob ein faktisches Freiheitshindernis von erheblicher faktischer (besser motivationeller) Wirkung vorliegt. 55 Die Frage nach 53 Ausdrücklich vom „Merkmal der Schwere" spricht etwa D i Fabio (1994, 431); für ihn ist dieses Kriterium sogar das „grundsätzlichere und bedeutendere" (429). Die von ihm gewählte Definition, es müsse „jedenfalls eine deutlich erkennbare und subjektiv vom Grundrechtsträger fühlbare Positionsveränderung in bezug auf seine Grundrechtsaussübung gegeben sein" (Di Fabio 1994, 431), zeigt aber, daß hier eine aus der Perspektive des Grundrechtsträgers vorzunehmende qualitative Wirkungsanalyse gefordert sein dürfte. 54 Pieroth/Schlink 1999, Rn. 245. 55 Dies läßt sich an der Konstellation verdeutlichen, die dem „Fahrerlaubnis-Beschluß" des Bundesverfassungsgerichts (vom 24.6.1993 - 1 BvR 689/92, NJW 1993, 2365) zugrundelag. Nach einer Verkehrskontrolle, bei der der Konsum von Haschisch festgestellt wurde, ordnete die Straßenverkehrsbehörde nach § 15 Abs. 2 StVZO an, der kontrollierte Führerscheininhaber habe ein medizinisch-psychologisches Gutachten über seine Kraftfahreignung vorzulegen. Rein rechtlich betrachtet

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

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der zwangsgleichen Wirkung ist damit zugleich die Frage nach den Freiheitshindernissen. Ein Freiheitshindernis und damit eine „Einwirkung" soll jedenfalls stets dann vorliegen, wenn grundrechtlich geschütztes Verhalten zum „Anknüpfungspunkt für eine staatliche Sanktion genommen wird". Diese Sanktion muß nicht per se negativer Natur sein; auch ein im Gewände der Förderung einherkommendes Subventionsprogramm, welches die Zuwendung an bestimmte Bedingungen knüpft und damit verhaltenslenkende Wirkung entfaltet, kann sich für den „Begünstigten" unter bestimmten Bedingungen als Grundrechtsbeeinträchtigung darstellen. 56 Insoweit bedarf es daher auch für Subventionsmaßnahmen einer spezifischen gesetzlichen Grundlage. Bei der Frage nach einer zwangsäquivalenten Wirkung geht es mithin nicht um die Abgrenzung der vom Schutzbereich erfaßten Verhaltensweisen, sondern um die Qualität der durch hoheitliches Handeln erzielten motivationeilen Wirkungen. 57 Wann die Grenze zur zwangsgleichen Wirkung überschritten ist, „ist unter Umständen schwer feststellbar" (Grimm 1986, 50). In jedem Fall aber setzt ihre Bestimmung, dies ist im Hinblick auf die Ausgangsfrage nach der Relevanz der wirkungsanalytischen Perspektive festzuhalten, eine genauere Analyse der motivationeilen Zusammenhänge voraus. d) Ergebnis Die verhaltenswissenschaftlich abgestützte Analyse der Wirkungszusammenhänge bildet dementsprechend die Grundlage für zwei darauf aufbauende normative Zuordnungsentscheidungen, die gemeinsam den abwehrrechtlichen Grundrechtstatbestand 58 ausmachen (siehe die Übersicht auf Seite 353). Genauer zu beschreiben sind zunächst die Folgen der zu betrachtenden Handlung der öffentlichen Gewalt auf die motivationeilen Fakstand es dem Führerscheininhaber frei, ob er der Anordnung folgen wollte. Für den Fall seiner Weigerung hatte die Behörde jedoch die Entziehung der Fahrerlaubnis angekündigt. Bereits die Ankündigung dieser Rechtsfolge war geeignet, die Motivationslage des Betroffenen erheblich zu beeinträchtigen, womit der „Eingriffscharakter" zu bejahen sei (2366). 56 Siehe dazu Lübbe-Wolff 1988, 278 ff.; auch zu der Frage (281 ff.), inwieweit die mit der Subvention einhergehende Intervention in das Marktgeschehen grundrechtlich relevant ist. 57 Diese Frage ist daher im Rahmen der Prüfung zu klären, ob im institutionellen Kontext des grundrechtsgeschützten Verhaltens eine freiheitsbeeinträchtigende Wirkung vorliegt; in der Übersicht auf Seite 353 ist dies im Prüfungsschritt (1) zu verorten. 58 Siehe Alexy (1985, 275 f.), der von einem „Schutzgut/Eingriff-Tatbestand" spricht. 20 Führ

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

toren, die die Verhaltensmöglichenkeiten der Betroffenen bestimmen (1). Hier geht es um eine Zusammenschau der unterschiedlichen Formen der Einwirkung auf die Verhaltensmöglichkeiten von natürlichen und juristischen Personen. Die Wirkungszusammenhänge sind dabei im jeweiligen institutionellen Kontext zu betrachten. Auf dieser Grundlage läßt sich dann nach der einen Seite hin die Frage beantworten, ob es sich um eine freiheitsverkürzende Einwirkung handelt und ob diese den Gewährleistungsinhalt eines Grundrechts berührt (2). Nach der anderen Seite ist zu fragen, ob diese Einwirkung der öffentlichen Gewalt zuzurechnen ist (3). Liegen diese Voraussetzungen vor, dann handelt es sich um eine „Beeinträchtigung"

2. Bestimmung des Gewährleistungsinhaltes Die Frage, wie die Gewährleistungsinhalte des jeweiligen Grundrechts zu bestimmen sind, ist eine normative Frage, bei der eine positive Analyse der verhaltensbestimmenden Parameter zwar ein differenziertes Bild des „Realbereichs der Norm" liefern kann, die zu treffende Entscheidung jedoch ihre tragende Kraft dem normativen System des Rechts entnehmen muß. 5 9 Der verhaltenswissenschaftlichen Analyse kommt bei dieser Prüfungsstufe damit lediglich eine unterstützende Funktion zu. Wie weit diese reicht und an welchen Punkten die Unterstützungsleistung einsetzen kann, ist abhängig von dem zugrunde gelegten grundrechtstheoretischen Ansatz und der korrelierenden dogmatischen Konstruktion. Der Schutzbereich läßt sich zum einen aus der Subjekten Perspektive des jeweiligen Individuums heraus entwickeln. Zum anderen kann man aus einer überindividuellen Perspektive nach den grundrechtlichen Wert- und Ordnungsvorstellungen fragen. Schließlich kommt eine aus dem jeweiligen sozialen Kontext heraus entwickelte Schutzbereichsbestimmung in Betracht. a) Subjektive Perspektive Orientiert man sich zur Bestimmung des Schutzbereiches an der subjektiven Perspektive, kommt es allein auf den Willen des Grundrechtsträgers an. Jedes einseitige Handeln, das eine „Ingerenz gegen den Willen des 59 Dabei ist davon auszugehen (siehe Abschnitt I. 4), daß die normative Bestimmung des „Schutzbereiches" anderen Argumentationsmustern zu folgen hat als die Beeinträchtigungsrechtfertigung, denn sonst werden Fragestellungen, deren Beantwortung unter den prozeduralen Rahmenbindungen parlamentarischer Gesetzgebung und den materiell-rationalen Abwägungskriterien verfassungsrechtlicher Rechtfertigung zu erfolgen hat, auf dem Wege eines dogmatischen Kunstgriffes in die Schutzbereichsdefinition ausgelagert.

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Grundrechtsträgers" darstelle, ist danach ein Eingriff (Isensee 1992a, 59). Dem entspricht ein sehr weites Schutzbereichsverständnis, dessen grundrechtstheoretisches Fundament im Bild negativer Ausgrenzungsfreiheit des klassisch-liberalen 60 Freiheitsverständnisses zu sehen ist: „Der Inhalt der Freiheit und die Art des Freiheitsgebrauchs" liegt von vornherein außerhalb staatlicher Regelungskompetenz (Böckenförde 1974, 1530). Eine aus der Verfassung heraus begründete Abgrenzung des Schutzbereiches einzelner Grundrechtsfreiheiten erscheint bereits als „Eingriff 4 in die als vor-staatlich gedachten und allein vom Individuum her auszufüllenden Grundrechtsinhalte. Zwar leugnet auch die klassisch-liberale Grundrechtstheorie nicht die Notwendigkeit, grundrechtliche Schutzbereiche zu definieren, 61 in der praktischen Anwendung tritt dies allerdings in den Hintergrund, weil der Schutzbereich allein aus der Perspektive des Grundrechtsberechtigten bestimmt wird: Die von ihm gewünschten Verhaltensweisen füllen zugleich den Schutzbereich aus. Für eine wirkungsanalytische Betrachtung bleibt bei diesem Ansatz kein Raum, da es vorrangig auf die subjektive Wertung ankommt, ob ein hoheitliches Handeln als gegen den eigenen Willen gerichtet erlebt wird. Es ist aber fraglich, ob dieses Schutzbereichsverständnis den dogmatisch zu bearbeitenden Problemen angemessen ist. Solange man die relevanten Einwirkungspfade auf dyadisch-hoheitliche Beziehungen nach dem Muster des klassischen Eingriffs beschränkt, solange kann man in diesem Ansatz lediglich eine methodische Vereinfachung 62 sehen, die den Einstieg in eine - allerdings grundsätzlich ergebnisoffene 63 - Rechtfertigungsprüfung der hoheitlichen Intervention eröffnet. 64 So verstanden, ist es auch unschädlich, wenn von diesem Freiheitsbild zu sagen ist, es sei als notwendige Konsequenz seiner theoretischen und dogmatischen Grundlagen 65 „psychologisch uninformiert, soziologisch naiv und stellt sich ökonomisch dumm" (Morlok 1993, 382). Das Freiheitsbild ist dann zwar als reduktionistisch zu qualifizieren, man ist sich aber dessen bewußt und nimmt die negativen Effekte der Vereinfachung im Hinblick auf die dadurch erzielten dogmatischen Vor60

Zu diesem Begriff siehe Kapitel Β bei Fn. 112. Siehe etwa Isensee 1992a, Rn. 60 oder D i Fabio 1994, 428. 62 Dazu, daß dieses Freiheitsbild darüber hinaus auch den Denkstil der - bereits in der Ausbildung entsprechend geprägten - Juristen prägt, siehe Kapitel Β in Fn. 141. 63 Für die Vertreter dieses Freiheitsverständnisses liegt allerdings im „Eingriff 4 zugleich ein Indiz für dessen Rechtswidrigkeit [siehe dazu Abschnitt II. 2. a) bb)]. 64 Auf diese methodische Seite verweisen etwa Schlink 1984; Lübbe-Wolff 1988, 26 ff./lOO ff. und Morlok 1993, 400 ff. 65 Siehe dazu Albers 1996, 236 f. sowie Preuß 1979, 37 ff. 61

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teile in Kauf. Da man im wesentlichen eine imperative Verhaltensbeeinflussung betrachtet, kommt es auf die übrigen verhaltensbestimmenden Faktoren zunächst einmal nicht an. In dem Maße aber, in dem man nicht-imperative Formen der Einwirkungen zu bewältigen hat, schlagen die Reduktionen des Freiheitsbildes unmittelbar durch. Sobald die zu prüfenden Einwirkungen auch auf nicht-imperative Weise erfolgen, kommt es entscheidend auf psychologische, soziologische und ökonomische Faktoren an. Wer sich diesbezüglich uninformiert, naiv oder dumm gibt, wird kaum in der Lage sein, das Entscheidungsproblem angemessen zu erfassen und seine Ergebnisse überzeugend zu begründen. Da das Recht aber auf die Überzeugungskraft seiner Entscheidungen angewiesen ist, verkürzt es seinen Geltungsanspruch, wenn es in seiner Begriffsbildung relevante Aspekte ausblendet. Diese Ausblendungsfunktion wird zudem oftmals nur oberflächlicher Natur sein, weil die relevanten Sachfragen gemeinhin dazu neigen, sich selbst ihre Bahn in den argumentativen Diskurs zu suchen. 66 Dann aber sind sie dogmatisch nicht verortet und mindern die rationalitätssichernde Kraft der dogmatischen Formenstrenge. Es spricht daher einiges dafür, der rechtlichen Systembildung ein Freiheitsverständnis zugrunde zu legen, welches die soziale Angewiesenheit und Bedingtheit der menschlichen Existenz nicht erst auf der Ebene der Beschränkungen, sondern bereits bei der positiven Freiheitsdefinition berücksichtigt. Dies führt dann aber unweigerlich dazu, von der Vorstellung einer umfassenden, vorstaatlich-individualistisch gedachten Freiheit Abstand zu nehmen. aa) Das Beispiel der Wettbewerbsfreiheit Die Betonung der subjektiven Perspektive läßt sich verdeutlichen an den vielfältigen „Teilfreiheiten", wie sie der Berufsfreiheit zugeordnet werden. Diese reichen von der Organisationsfreiheit, der Dispositionsfreiheit, und der Produktionsfreiheit über die Preis- und die Wettbewerbsfreiheit bis hin zu Vertragsfreiheit. 67 Alles dies sind zweifelsohne spezifische Ausprägungen der Berufsfreiheit von Unternehmern und Selbständigen. Die Frage, was den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG für die einzelne Teilfreiheit jeweils konkret ausmacht, ist damit allerdings keineswegs geklärt, sondern lediglich in seinen unterschiedlichen Ausprägungen deutlicher formuliert. 68 So zählt zum Schutzbereich der Wettbewerbsfreiheit nach 66 Für Beispiele für die „subversive", dogmatische Eingrenzungen sprengende Kraft der sachlich relevanten Gesichtspunkte („Logik der Sache") siehe Morlok 1993, 398 ff. 67 Scholz 1981, Art. 12 Rn. 124; Breuer 1989a, Rn. 60 ff. 68 Wieland 1996, Art. 12 Rn. 61. Diese Verdeutlichung schlägt sich, wie sogleich zu zeigen sein wird, vor allem in klareren Konturen der einzelnen Freiheitsgehalte

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der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die „berufliche Außendarstellung einschließlich der Werbung für ihre Produkte (...). Staatliche Maßnahmen, die den Berufstätigen dabei beschränken, sind Eingriffe in die Freiheit der Berufsausübung". 69 Angesprochen sind damit die Möglichkeiten der Image- und Produktwerbung, also der Selbstdarstellung im Rahmen des Marktgeschehens. Wie weit aber der Schutzbereich dieser spezifischen kommunikativen Ausprägung der Berufsfreiheit reicht, bedarf noch weiterer Präzisierung. Hier könnte man annehmen, alle Äußerungen Dritter, die dem vom jeweiligen Grundrechtsträger entworfenen Selbstbild und dessen kommunikativer Vermittlung abträglich sind, seien als schutzbereichsrelevante Einwirkung zu betrachten. 70 Stellt man vorrangig auf den „Willen des Grundrechtsträgers" ab, ist dieses Ergebnis sogar unmittelbar zwingend, weil es ja gerade um Äußerungen Dritter geht, die aus dessen subjektiver Perspektive unerwünscht sind. Dementsprechend wird etwa darauf verwiesen, ein Eingriff in die Berufsfreiheit liege „nicht erst dann vor, wenn die grundrechtlich geschützte Tätigkeit ganz oder teilweise unterbunden wird. Es genügt, daß sie aufgrund der staatlichen Maßnahme nicht mehr in der gewünschten Weise ausgeübt werden kann". 7 1 Daraus wird zudem der Schluß gezogen, für die Annahme eines Eingriffs sei weder das Finalitätskriterium noch das der Unmittelbarkeit ausschlaggebend; vielmehr komme es allein auf die „berufsregelnde Tendenz" an. 7 2 Auf diese Weise berührt dann jede Einwirkung auf das subjektiv determinierte Selbstbild beruflicher Entfaltung den damit umschriebenen Schutzbereich. Fragt man dann lediglich, ob dies „nicht mehr in der gewünschten Weise" vollzogen werden kann, dann liegt es nahe, staatlichen Informationsakten grundsätzlich Eingriffsäquivalenz zuzusprechen. Dem Staat zuzurechnende Informationsakte, die darauf gerichtet sind, das Marktgeschehen zu beeinflussen, kommen dann „ohne diffizile Erörterung" als Eingriff in „einschlägige Grundrechte (Wettbewerbs- oder Berufsfreiheit, nieder. Diese Konturen führen nicht durchweg - wie dies in der Literatur z.T. mitschwingt, wo eine beeindruckende begriffliche Aneinanderreihung verschiedener Freiheitsdimensionen zu finden ist (siehe etwa Scholz 1981, Rn. 124 oder Breuer 1989 a, Rn. 60 ff.) - zu einer Erweiterung des Schutzbereiches oder Intensivierung des Gewährleistungsgehaltes. Vielmehr ist jeweils nach den spezifischen Konturen der jeweiligen Schutzdimension zu fragen. 69 BVerfGE 95, 173/181 - Tabakwarnhinweise. Siehe dazu bereits E 60, 215/229 - Verbot der Sozietät; E 71, 162/173 - Autobiographie eines Chefarztes sowie E 85, 248 - Ärztliches Werbeverbot. 70 Soweit diese der öffentlichen Gewalt zuzurechnen sind, würde der Gesetzesvorbehalt eingreifen. 71 BVerfGE 82, 209/223 - Krankenhausbedarfsplan. 72 D i Fabio 1994, 432; der auch darauf verweist, der Terminus „berufsregelnde Tendenz" werde durch das Bundesverfassungsgericht nicht weiter konkretisiert.

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

Eigentumsrecht) immer in Betracht" (Di Fabio 1994, 437). 7 3 Eine Beantwortung der Frage, wie der Schutzbereich der Berufsfreiheit oder des Eigentumsrechts bei produktbezogenen Kommunikationsakten zu bestimmen sei, erscheint damit entbehrlich und jede vom gewünschten Selbstbild abweichende Darstellung - selbst wenn sie sachlich zutreffend auf bestimmte Produkteigenschaften hinweist - erscheint dann als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff (Ossenbühl 1986). Im Ergebnis führt dies dazu, daß aus der Zuordnung berufsbezogener Kommunikationsakte zu Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem klassisch-liberalen Grundrechtsverständnis ein Schutzbereich entsteht, der dem Grundrechtsberechtigten die alleinige Verfügungsbefugnis über die Darstellung des Produktes zuweist. Die pauschale Feststellung, die wirtschaftliche Wettbewerbsfreiheit werde verfassungsrechtlich gewährleistet 74 , leitet bei diesem Ansatz unmittelbar über zu der Frage, ob in den hoheitlichen Informationsmaßnahmen ein Eingriff zu sehen sei. 75 Der Zwischenschritt, nämlich die genauere Bestimmung des Schutzbereiches wird übersprungen. 76 Legt man undifferenziert die „freie unternehmerische Betätigung" und „das Verhalten des Unternehmers im Wettbewerb" 77 als Schutzinhalt zugrunde, scheint jede Veränderung des wirtschaftlichen Umfeldes schutzbereichsrelevant zu sein. So sieht das Bundesverwaltungsgericht in allen staatlichen Maßnahmen, „die auf den wirtschaftlichen Prozeß" einwirken, bereits einen Eingriff. 7 8

73 Schon in der Aufzählung der „einschlägigen Grundrechte" wird deutlich, daß eine genauere Auseinandersetzung mit der Schutzbereichsfrage nicht beabsichtigt ist. 74 Gestützt auf ein Zusammenspiel von Berufs- und Eigentumsfreiheit, da sowohl das bereits Erworbene - etwa der Kundenstamm - mit auf dem Spiel stehe als auch die berufliche Betätigung selbst betroffen sei; siehe Ossenbühl 1986, 48; Scholz 1987, Art. 12 Rn. 140 f.; Papier 1994, Art. 14 Rn. 226 (Papier grenzt allerdings den Kundenstamm explizit aus dem Schutzbereich des Eigentumsrechts aus, a.a.O., Rn. 103). 75 Besonders prägnant zu finden bei Schulte 1988, 516. 76 Die Feststellung, das Verhalten der öffentlichen Gewalt beeinflusse die „Absatzmöglichkeiten des jeweiligen Produzenten und den Kundenstamm seines eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes", was für den den Staat auch vorhersehbar gewesen sei, führt dann in Ansehung des Finalitätskriteriums zur Annahme einer eingriffsäquivalenten Grundrechtsbeeinträchtigung (Schulte 1988, 518). 77 So etwa BVerwGE 71, 183/189 - Transparenzlisten und E 87, 37/39 - Glykol (jeweils m.w.N.). 78 BVerwGE 71, 183/190 - Transparenzlisten (= NJW 1985, 2774/2775) . Das Gericht bezieht sich dabei auf eine Definition von des Begriffs „Wirtschaftslenkung" von Badura, die dieser allerdings in bloß beschreibender Form und ohne Bezug auf den Eingriffscharakter vornimmt. Die Unsicherheit des Gerichts mit den neuen Formen hoheitlicher Einwirkungen zeigt sich im weiteren daran, daß es nachdem es den Eingriffscharakter der Informationsmaßnahme bereits bejaht hat -

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

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Bei einem derartigen Grundrechtsverständnis erscheint - jedenfalls auf dieser Prüfungsstufe - eine genauere Betrachtung der Wirkungszusammenhänge entbehrlich, weil sich die Eingriffsqualität bereits daraus ergibt, daß subjektiv gewünschte Verhaltensoptionen des Produktanbieters durch Handlungen des Staates erschwert werden. 79 Ob zwischen den hoheitlichen Maßnahmen und den beeinträchtigenden Wirkungen weitere kausalitätsbegründende Elemente - etwa autonome Kaufentscheidungen der Konsumenten treten, bleibt außer Betracht. Stattdessen wird das diesem Grundrechtsverständnis korrelierende hierarchische Steuerungsmodell mehr oder minder umstandslos auf nicht-imperative hoheitliche Handlungsformen übertragen: Informatorische Maßnahmen des Staates sind dann umstandslos als „präzeptoral" zu qualifizieren, 80 was eine regelungsähnliche, zwangsgleiche Wirkung nahe legt. So erscheinen dann etwa Verbraucher, die einer hoheitlich geäußerten Produktempfehlung folgen, als bloße Objekte psychologischer Zwangswirkung. 81 Ein Zwang soll sogar dann vorliegen, wenn der Verbraucher - nunmehr genauer informiert - aus „Gründen seiner inneren Überzeugung" sein Konsumverhalten ändert. 82 Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß mit dem subjektiven Ansatz in der Schutzbereichsbestimmung eine dogmatische Vereinfachung verbunden ist, die im Rahmen der klassischen Eingriffsprüfung noch hinnehmbar erscheinen mag; sie wird jedoch jedenfalls den „sonstigen Beeinträchtigungen" nicht gerecht, weil es auf dieser Grundlage nicht möglich ist, die vermittelten Einwirkungszusammenhänge zu erfassen und die grundrechtlichen Gewährleistungsinhalte situationsangemessen zu bestimmen. Das klassischliberale Freiheitsverständnis steht damit vor erheblichen Schwierigkeiten,

anschließend noch einmal die Frage aufwirft, wie der Schutzbereich einzugrenzen sei (a.a.O., 193 ff. bzw. 2776). 79 Andererseits steht man vor dem Problem, daß etwa Produktinformationen die Möglichkeit, sich im unternehmerischen Wettbewerb zu betätigen, als solches noch gar nicht berühren, sondern erst über Verhaltensänderungen auf Seiten der Verbraucher mittelbar die Wettbewerbsposition verändert wird. Diese Zusammenhänge abzubilden, ist auf der Grundlage des als voraussetzungslos gedachten Freiheitsverständnisses aber nur unter erheblichen Schwierigkeiten möglich. 80 D i Fabio 1993 sowie 1994, 426/437 und öfter. 81 So etwa der Ansatz von Ossenbühl (1986, 29 f.), der in der tatsächlichen Befolgung einer behördlichen Empfehlung durch den Bürger bereits deren Unwiderstehlichkeit und damit eine psychologische Zwangs Wirkung sehen will; es sei „unerheblich [...], daß [die Wirkungen] durch autonomes Käuferverhalten vermittelt werden" (kritisch dazu Lübbe-Wolff 1987, 2711 f.). 82 Ossenbühl (1986, 29) stellt ein Handeln aus eigener Überzeugung - mit der Wendung „was letztlich dasselbe bedeutet" - explizit einer Zwangswirkung gleich. Bei diesem FreiheitsVerständnis wäre es angezeigt, den Konsumenten von jeglichen Informationen freizuhalten, weil er sonst in Gefahr gerät, der Zwangswirkung der eigenen inneren Überzeugung zu erliegen.

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

wenn es darum geht, eingriffsäquivalente faktische Einwirkungen dogmatisch zu bewältigen. bb) Präformierter Schutzbereich Der subjektive Ansatz in der Bestimmung des Gewährleistungsinhaltes führt zunächst zu tendenziell sehr weit gezogenen Schutzbereichen. Schlicht-hoheitliches Handeln wäre damit praktisch immer eine Grundrechtsbeeinträchtigung. Die Vertreter des klassisch-liberalen Freiheitsverständnisse waren gezwungen, nach einem anderen Weg zu suchen, die Grenzen der abwehrrechtlichen Grundrechtsgewährleistung enger zu stekken. 8 3 Die Notwendigkeit dazu ergibt sich bereits aus dem zugrundeliegenden grundrechtstheoretischen Ansatz. Wer von einem präkonstituellen Freiheitsverständnis ausgeht, für den ist jede Intervention in den Schutzbereich grundsätzlich ein Freiheitshindernis. Diese Einordnung hat dabei nicht lediglich rechtstechnisch-konstruktiven Charakter, 84 sondern beinhaltet nach dem theoretischen Grundansatz zugleich die Wertung, der Eingriff sei per se grundrechtsabträglich. 85 Die darin liegende (Dis-) Qualifizierung gesetzgeberischer Eingriffe in grundrechtliche Schutzbereiche hat eine ganz handfeste Konsequenz. Die Erfüllung des Grundrechtstatbestandes indiziert nach dieser Sichtweise zugleich die Rechtswidrigkeit des hoheitlichen Handelns: 86 Wer aus diesem Blickwinkel „ E i n g r i f f sagt, meint damit zugleich 83 Zu der weiten Tatbestandstheorie auf der grundrechtstheoretischen Konstruktionsebene gesellt sich damit eine enge Tatbestandstheorie in dogmatischen Anwendung (vgl. Alexy 1985, 279 ff.); ein Widerspruch, der zwar die funktionale Lösungskompetenz für sich beanspruchen kann, der jedoch gleichwohl erklärungsbzw. begründungsbedürftig wäre. Genau daran fehlt es aber; die funktionale Leistung dieses „Theorien-Mixes" beruht vielmehr auf einer Schein-Rationalität, die durch interpretatorische Vorabfestlegungen erreicht wird [siehe dazu Kapitel C, Abschnitt IV. 1. e)]. Diese Vorabfestlegungen geraten in Gefahr brüchig zu werden, wenn man sich auf konkrete Abwägungsargumente einläßt. Es ist daher nur konsequent wenn die Vertreter dieses Ansatzes starke Vorbehalte gegen das Konzept der Abwägung vorbringen (siehe Kapitel C, Seite 184). 84 Zu diesem Verständnis siehe etwa Schlink 1984, 467 und Lübbe-Wolff 1988, 65 ff. 85 Gegen diese Konnotation des Eingriffs- und Schrankendenkens richten sich die Einwände von Häberle 1983; dazu Lübbe-Wolff 1988, 63 ff. 86 Eine derartige Sichtweise folgt der strafrechtlichen Figur, wonach die Erfüllung des Straftatbestandes die Rechtswidrigkeit indiziert (so explizit Jarass 1995, 371, der aus dieser Parallele heraus vorschlägt, den Begriff des „Grundrechtstatbestandes" einzuführen). Ein vergleichbares Unwerturteil kann für eine grundrechtsrelevante Beeinträchtigung, die sich auf eine gesetzliche Grundlage stützt, durchweg nur dann angenommen werden, wenn man im Sinne der klassisch-liberalen Grundrechtstheorie von vorstaatlich begründeten Freiheiten ausgeht. Aber auch aus dieser Perspektive dürfte das verfassungsrechtliche Unwerturteil jedenfalls für die Konstel-

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

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„ R e c h t s v e r l e t z u n g " 8 7 . Daß dies jedenfalls für gesetzgeberische Interventionen i n den Schutzbereich keineswegs durchwegs der F a l l ist, läßt sich k a u m leugnen. Zutreffend erscheint daher die Aussage: „ W e r E i n g r i f f sagt, meint auch Gesetzesvorbehalt", so Gusy 2000, 9 8 2 . 8 8 U m die These v o n der grundsätzlichen Rechtswidrigkeit des Eingriffs aufrechtzuerhalten, sehen sich die Vertreter dieses Ansatzes gezwungen, bestimmte Verhaltensweisen aus dem Schutzbereich auszugrenzen; etwa solche, die strafrechtlich sanktioniert s i n d 8 9 oder solche, die aus seuchenrechtlichen oder Gründen der Ordnung des öffentlichen Verkehrs zu untersagen s i n d . 9 0 D a m i t gelangen sie zu einem „präformierten" Schutzbereich, 9 1 bei dem

bestimmte

Verhaltensweisen

a priori

definitorisch

ausgeschlossen

lationen brüchig werden, in denen es darum geht, den gemeinsamen Freiheitsgebrauch zu ermöglichen (siehe Kapitel C, Abschnitt IV. 3.). Hier ist zweifellos die Ordnungsfunktion des Gesetzgebers gefordert, die den gemeinsamen Gebrauch der Freiheit erst ermöglicht, was für die weitaus überwiegende Zahl der Gesetzgebungsvorhaben zutreffen dürfte. Vor diesem Hintergrund überzeugt es nicht, die mit der Gesetzgebung zwangsläufig verbundenen Beeinträchtigungen von vornherein mit dem Odium der Grundrechtsabträglichkeit zu versehen und in der Bejahung der Beeinträchtigung bereits ein „Indiz für die Verfassungswidrigkeit" zu sehen (so aber Jarass 1995, 371). Angemessener ist es demgegenüber, als Rechtsfolge einer Beeinträchtigung wertungsneutral den Gesetzesvorbehalt anzunehmen mit den darin eingeschlossenen prozeduralen und materiellen Rationalitätsanforderungen, die gegenüber sämtlichen involvierten Verfassungsgütem zu bestehen haben, ohne daß von vorneherein eine Seite mit einem Vorrang versehen ist. Die strafrechtliche Indizwirkung der Tatsbestandserfüllung ist im Vergleich zur grundrechtsrelevanten Beeinträchtigung durch den Gesetzgeber auf einer anderen Ebene angesiedelt. Denn das Strafgesetz hat bereits Handlungsräume zugewiesen und bestimmte Verhaltensweisen dem Bereich des Erlaubten entzogen und mit Sanktionen versehen. Zwar ist auch hier eine Rechtfertigung möglich; diese greift jedoch nur in den seltenen Ausnahmefällen einer Rechtsgüterkonfliktes auf der individuellen Ebene ein. Gestaltungsbefugnis und ein eventueller Gestaltungauftrag des Gesetzgebers beruhen jedoch gerade umgekehrt auf dem Umstand, daß auf allgemeiner Ebene - gewissermaßen als Regel- bzw. Ausgangsfall - ein Konflikt zwischen Verfassungsgütem besteht, dessen Bewältigung dem Gesetzgeber vorbehalten ist. Auch aus der Perspektive eines klassisch-liberalen Freiheitsverständnisses läßt sich dann nicht ignorieren, daß die Aufgabe des Gesetzgebers darin besteht, die konfligierenden Freiheitssphären einander zuzuordnen. Bejaht man diese Aufgabe im Grundsatz, dann verbietet es sich, sie zugleich als grundsätzlich verfassungswidrig zu qualifizieren. 87 Darin sieht etwa D i Fabio (1994, 426) die eigentliche Funktion des Eingriffsbegriffs. Ähnlich P. Kirchhof (1977, 84), der in den Grundrechten „Beeinträchtigungs(-erfolgs)-Verbote" sieht oder Jarass 1995, 371 (siehe dazu Fn. 86). 88 Gusy bezieht sich an dieser Stelle auf Isensee (1996, Rn. 142); allerdings findet sich eine Aussage dieses Inhalts dort nicht. 89 Siehe etwa Scholz 1981, Art. 12. Rn. 27: „Der Begriff des Berufs findet seine Grenzen an strafbaren Betätigungen". 90 Siehe dazu ausführlich Alexy 280 ff. m.w.N. sowie Morlok 1993, 406 ff.

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

sind. 9 2 Die zunächst aufgrund der subjektiven Perspektive weit gefaßten Schutzbereiche werden auf diesem Wege wieder in erheblichem Umfang verkürzt. Gesetzgeberische Maßnahmen in diesem Bereich bewegen sich außerhalb des Grundrechtstatbestandes und fallen daher auch nicht der indiziellen Wirkung anheim. Um dieses Ergebnis zu begründen, bedarf es jedoch zwangsläufig einer Weitung, die sich auf verfassungsrechtlich tragfähige Gegengründe stützt. 93 Allerdings wird diese Weitung in eine Vorstufe verschoben und muß sich daher nicht an dem methodischen Vorgaben der Abwägungsdogmatik ausrichten, womit ein Verlust an prozeduraler und materieller Rationalität verbunden ist. 9 4 Negativ zu Buche schlägt zudem, daß es sich beim Entfallen der schutzbereichseinengenden Gegengründe nicht mehr begründen läßt, weshalb das entsprechende Verhalten nicht von der jeweiligen Grundrechtsnorm gedeckt ist. 9 5 Wenn aber ohne den Gegengrund der Schutz zu bejahen ist, dann muß das Verhalten offenbar doch dem Schutzbereich des Grundrechts zuzuordnen sein. Argumente, die Abwägungscharakter haben, sollten daher aus Gründen der dogmatischen Konsistenz bei der Schutzbereichsdefinition keine Rolle spielen; ihren Platz finden sie im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung. 96 Die Annahme „präformierter" Schutzbereiche ist daher grundrechtstheoretisch nicht haltbar. 97 91 Zu diesem Begriff in der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte LübbeWolff 1988, 87 ff.; dort (18 ff.) auch Ausführungen zu dem notwendig präformierten Anwendungsbereich anderer Grundrechtsfunktionen. 92 So etwa bei Isensee 1992a, Rn. 176. m.w.N. 93 So etwa explizit das Bundesverwaltungsgericht (E 87, 37/45 - Glykol = NJW 1991, 1766/1768), wo die Eingriffsqualität verneint wird unter Verweis auf den Gedanken der Einheit der Verfassung, der es gebiete, eine verfassungsrechtliche Kollisionslage nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aufzulösen. 94 Zu dieser Schwachstelle der engen Tatbestandstheorie siehe Kapitel C, Abschnitt IV. 3. 95 Alexy (1985, 288 ff.) verweist auf die von Vertretern der engen Tatbestandstheorie angeführten Beispiele einer Prozession bei Seuchengefahr oder der Pflastermalerei auf verkehrsgewidmeten Flächen. Weshalb das identische Verhalten (nach dem Abklingen der Seuchengefahr bzw. an anderer, weniger verkehrsrelevanten Stelle) dann dem Schutzbereich unterfallen soll, ist schwer plausibel zu machen. 96 Alexy 1985, 290. Siehe dazu auch Abschnitt I. 4. 97 Alexy 1985, 278 ff.; Lübbe-Wolff 1988, 87 ff.; Denninger 1989, Rn. 39 f. Dies zeigt sich auch an der Bestimmung des Berufsbegriffes durch Scholz (1981, Art. 12 Rn. 27), der im Anschluß an seinen durch die Strafgesetze präformierten Berufsbegriff (Fn. 89), dann aber doch eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung (etwa am Maßstabs des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) auch der Strafbestimmungen gegenüber den Grundrechten, „namentlich" an Art. 12 Abs. 1 GG, fordert. Beide Aussagen sind aber grundrechtstheoretisch unvereinbar, weil die Einwirkung auf ein nicht grundrechtlich geschütztes Verhaltens keine grundrechtsgestützten Rechtfertigungspflichten auslösen kann. Die Beschränkung des Berufsbegriffs auf erlaubte Tätigkeiten ist daher systematisch verfehlt (Breuer 1989 a, Rn. 44; Wieland 1996, Art. 12 Rn. 51).

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

315

cc) Ergebnis Eine Bestimmung des Schutzbereiches aus der subjektiven Perspektive des klassisch-liberalen Freiheitsverständnisses mag für klassisch-imperatives Handeln eine zwar reduktionistische, aber doch für dogmatische Zwecke taugliche Theorie sein; dies vor allem dann, wenn man sie von den wertenden Elementen entkleidet und in ihr lediglich eine methodische Handreichung sieht. Bereits bei imperativen Verhaltensvorgaben, die auf indirekte Wirkungen gerichtet sind, zeigen sich die Schwächen eines Freiheitsbildes, welches in seinem Grundansatz die soziale Einbettung der Grundrechtsträger ausblendet. Diese Schwächen treten noch deutlicher hervor, wenn nichtimperative Handlungsformen des Staates einzuordnen sind. Dann greift das funktionale Gegengewicht, welches die eingrenzenden Kriterien des traditionellen Eingriffsbegriffs bereit stellen, nicht mehr ein. Der Ausgangspunkt vorstaatlicher subjektiver Freiheit schlägt voll durch und jedes hoheitliche Handeln, welches mit dem Willen des Grundrechtsträgers nicht übereinstimmt, erscheint als Intervention in den Schutzbereich. Wer dieses Ergebnis vermeiden will und auf der Grundlage des klassisch-liberalen Ansatzes versucht, bestimmte subjektive Erwartungen aus dem Schutzbereich auszuschließen, gerät in Begründungsnotstand. Festzuhalten bleibt damit, daß es diesem Ansatz nicht gelingt, für die ganze Bandbreite hoheitlicher Handlungsformen in überzeugender Weise das Problem der Schutzbereichsbestimmung zu lösen. Es spricht einiges dafür, daß der Preis der Unangemessenheit, der mit dem reduktionistischen Freiheitsverständnis einhergeht, im Hinblick auf die zu bewältigenden Konstellationen mittlerweile so weit angewachsen ist, daß eine Neufassung des dogmatischen Modells angezeigt ist. 9 8 Dies gilt nicht allein für die „sonstigen Beeinträchtigungen" nicht-imperativen Staatshandelns, sondern auch für die Fälle, in denen zwar eine hoheitliche Regelung vorliegt, diese jedoch darauf abzielt, über indirekte Wirkungen das Verhalten zu beeinflussen. Aus Gründen der dogmatischen Stringenz wäre es wünschenswert, einen Ansatz zu entwickeln, der für alle Konstellationen einheitliche Annahmen zugrunde legt. b) Grundrechtliche

Ordnungsintentionen

Ein Versuch, den Schwächen der subjektiven Mikroperspektive entgegenzuwirken, bildet der Ansatz, den Schutzbereich ausgehend von überindividuellen grundrechtlichen Wert- bzw. Ordnungsvorstellungen, also aus einer Makroperspektive zu bestimmen. So sollen sich etwa Inhalt und Reichweite 98

Vgl. dazu Morlok 1993, 379.

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

des subjektiv-grundrechtlichen Schutzes der berufsbezogenen Wettbewerbsfreiheit ergeben aus dem Inhalt eines Wettbewerbsmodells, welches den Grundrechten als Ordnungsziel zugeschrieben sei (Lübbe-Wolff 1987, 2711)". Den Schutzbereich berühren kann danach nur diejenige faktische Einwirkung, die dem grundrechtlichen Ordnungsziel zuwiderläuft. Gefragt wird also nach bestimmten Grundelementen, die das vom jeweiligen Grundrecht berührte institutionelle Gefüge ausmachen. Bestimmt man die verfassungsrechtlich intendierte Wettbewerbsordnung in der Weise, daß sie auf einen funktionsfähigen Wettbewerb im Sinne der ökonomischen Effizienz 1 0 0 gerichtet ist, dann verlangt dies, daß die für das individuelle Marktverhalten erforderlichen Preis-, Qualitäts- und sonstigen Produktinformationen verfügbar sind. Geht man weiter davon aus, es gebe keine Veranlassung anzunehmen, „daß ausgerechnet dem Grundgesetz das Modell eines Wettbewerbs vorschwebt, der seine Steuerungsfunktionen nicht erfüllen kann, weil dem Verbraucher entscheidungsrelevante Informationen fehlen und die Hersteller daher von der Notwendigkeit entlastet bleiben, ihre Produktion den Verbraucherwünschen anzupassen", dann ist den Grundrechten „das Ordnungsziel eines funktionsfähigen, transparenten Wettbewerbs zu unterstellen"; alles andere sei eine Grundrechtsinterpration, die sich „selbst ad absurdum" führe (Lübbe-Wolff 1987, 2711). Die Schutzbereichsdefinition soll also - jedenfalls für den Teilbereich der Wettbewerbsfreiheit - auf der Grundlage der institutionellen Voraussetzungen eines möglichst funktionsfähigen Marktgeschehens erfolgen. Der Schutzbereich der wettbewerblichen Berufsfreiheit erfährt insoweit eine Prägung aus der Institution des Marktes, auf die er bezogen ist. Der Sache nach handelt es sich also um ein Schutzbereichsverständnis, welches der funktionalistisch-institutionellen Grundrechtsauffassung 101 jedenfalls nahe k o m m t . 1 0 2

99 Lübbe-Wolff bezieht sich dabei - unter Verweis auf Jarass 1985, 394 f. - auf die Funktion grundrechtlicher Wert- oder Ordnungsvorstellungen als rechtfertigende Gründe für eine Ausdehnung der Schutzwirkung der Grundrechte über den Bereich klassischer, imperativer Eingriffe hinaus. Diese Ausdehnung kann dabei nicht weiter gehen, als das jeweilige Ordnungsziel der Makroperspektive. Die Erweiterung trägt damit ihre Grenzen in sich selbst und ist dann auch aus den sie tragenden Gründen heraus zu bestimmen. 100 Zum Begriff der „Effizienz" und den in der Ökonomie diskutierten Grenzen, die sich u. a. aus den Transaktionskosten der Informationsbeschaffung und -Verarbeitung ergeben, siehe Kapitel D, Abschnitte III. 2. a) und III. 3. b). 101 Luhmann 1965/1974. Davon zu unterscheiden ist der - ebenfalls als institutionelles Grundrechtsverständnis - bezeichnete Ansatz von Häberle 1962/1983 (Lübbe-Wolff 1988, 63 ff./129 f.). Siehe dazu auch Böckenförde 1974, 1532 ff. 102 Ob ein solches Verständnis tatsächlich gemeint ist (siehe auch Fn. 105), muß hier offen bleiben.

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

317

Es erscheint aber problematisch, wenn ein bestimmtes „Ordnungsziel" oder „Ordnungsmodell" herangezogen wird, um von dieser Grundlage aus den grundrechtlichen Schutzbereich einschränkend zu definieren. Denn die Verankerung derartiger Wert- und Ordnungsvorstellungen im Verfassungstext ist denkbar schwach. Wenn das Grundgesetz keine Festlegung einer bestimmten Wirtschaftsordnung enthält und keine konkreten verfassungsrechtlichen Grundsätze der Gestaltung des Wirtschaftslebens normiert hat, 1 0 3 dann ist es auch problematisch, aus dem Verfassungstext ein überindividuelles Ordnungsmodell zu begründen. Die den Grundrechten zugeschriebenen Intentionen können jedenfalls nicht weiter reichen, als die Kraft der sie tragenden materiellen Kriterien. Diese Kraft ist jedoch aus Gründen der unvermeidlichen Defizite in der Informationsbeschaffung und -Verarbeitung sowie aufgrund der verbleibenden, rational nicht zu bewältigenden Wertungsfragen von vornherein begrenzt [siehe Abschnitt III. 3.]. Eine den Grundrechten notwendig verbundenes Ordnungsziel dürfte sich daher nur in einer erheblichen Spannbreite begründen lassen. Damit sinkt aber zugleich die Abschichtungsleistung einer materiell-rational hergeleiteten grundrechtlichen Ordnungsintention. Ob sich Einschränkungen 104 grundrechtlicher Gewährleistungsinhalte allein aus einer institutionell-ordnungsrechtlichen Makroperspektive begründen lassen, die den Grundrechten bestimmte Ordnungsintentionen zuschreibt, erscheint zweifelhaft. Noch schwieriger dürfte es sein, eine solches Ordnungsziel abwägungsfrei zu begründen, wie es für die apriorische Einschränkung des Schutzbereiches aber erforderlich wäre. Versucht man, aus einer Makroperspektive Wert- bzw. Ordnungsvorstellungen zu entwickeln, dann beinhalten diese unweigerlich Antworten auf Abwägungsfragen. Denn das - verfassungsrechtlich zulässige, aber nur in engen Grenzen zwingende - Ordnungsziel im 103

BVerfGE 4, 7/17 f. - Investitionshilfe; E 50, 290/336 ff. - Mitbestimmung. Der Ansatz einer „institutionell-ordnungsrechtlichen" Betrachtung soll vor allem im Bereich der aus der Abwehrperspektive rekonstruierten Leistungsrechte „eigenständige, sinnkonstitutive und interpretationswesentliche Grundrechtsgehalte" benennen (Lübbe-Wolff 1988, 262 f./281 ff.), die allerdings im Wesentlichen auf die Erweiterung subjektiver Gewährleistungsinhalte ausgerichtet sind (286) und damit den Zugang zu den formellen und materiellen Abwägungsnotwendigkeiten erst erschließen. Im Zusammenhang mit der Wettbewerbsfreiheit heißt es aber auch, diese setze „das Vorhandensein gewisser stützender rechtlicher Randbedingungen, einschließlich nicht unerheblicher Einschränkungen natürlicher grundrechtlicher Freiheiten" voraus (297). Der Ansatz ermöglicht daher - wie auch bei Lübbe-Wolff 1987 durchgefühlt - eine einschränkende Interpretation des Schutzbereiches nach Maßgabe der jeweils zugeschriebenen Ordnungsintention; dem steht dann auf der anderen Seite eine Subjektivierung der Ordnungselemente gegenüber (298 ff./ 303 ff.). Aus diesem Ansatz resultieren damit in beiden Richtungen neue Wertungsprobleme, die sich ohne Rückgriff auf Abwägungsargumente nicht auflösen lassen (siehe dazu sogleich im Text). 104

318

E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

Bereich marktlichen Wettbewerbs dürfte sich in erster Linie aus einer Abwägung der involvierten Individualpositionen und Gemeinwohlbelange ergeben. Die Behandlung dieser Fragen sollte aber durch die Bejahung des Grundrechtstatbestandes eigentlich erst eröffnet werden. Die Grundrechtstatbestände erweisen sich damit auch bei diesem Ansatz letztlich als in einer Weise präformiert, die Abwägungsergebnisse transportiert, ohne das zugrundeliegende Rationalkalkül offen zu legen. Die herangezogenen Argumente sind deshalb jedoch keineswegs irrelevant. Sie können - für den Fall, daß eine Beeinträchtigung vorliegt - selbstverständlich zu deren Rechtfertigung herangezogen werden. 105 Zutreffend an diesem Ansatz bleibt jedenfalls, daß die sozialen Strukturen, in die die Wahrnehmung der Freiheit eingebettet ist, bei der Bestimmung des Schutzbereiches nicht außer Betracht bleiben können. c) Kontextbezogene Schutzbereichsbestimmung Eine vermittelnde Lösung könnte so aussehen, daß zwar weiterhin die subjektive Perspektive den Ausgangspunkt für die Bestimmung grundrechtlicher Gewährleistungsinhalte bildet, bei der genaueren Konkretisierung jedoch der Kontext der Grundrechtswahrnehmung Berücksichtigung findet. Der Ansatz hält an der Maßgeblichkeit der Mikroperspektive fest, ergänzt diese jedoch um eine Betrachtung der umgebenden institutionellen Bedingungen. Verläßt man die dyadische Struktur Hoheitsträger - Individuum und bezieht Einwirkungen auf die Grundrechtssphäre mit ein, die über das Verhalten Dritter bewirkt werden, geht es um die Reichweite grundrechtlicher Schutzbereiche in der Sozialsphäre. In diesen Konstellationen läßt sich trotz des autonomiesichernden Kerns der Freiheitsrechte - der Schutzbereich nicht allein aus der subjektiven Perspektive des Grundrechtsträgers bestimmen. Vielmehr tritt eine objektive, normative Ebene hinzu, die jeweils spezifisch fragt, worin der konkrete Gehalt der Freiheit in dem jeweiligen Kontext bestehen soll. 1 0 6 Zu bewältigen ist damit eine Abgrenzungsaufgabe, die einerseits die subjektive Perspektive personaler Autonomie als 105 Die Überlegungen zu den institutionellen Bedingungen eines funktionierenden Wettbewerbs lassen sich - obwohl sie explizit im Zusammenhang mit der Eingriffsqualität von Informationsakten angestellt werden - durchaus auf die Frage der Rechtfertigung einer Beeinträchtigung übertragen (siehe dazu Abschnitt III). In diese Richtung weist auch die Formulierung, wonach nicht wettbewerbswidrige Produktinformationen zugleich auch „grundrechtlich nicht zu beanstanden" (LübbeWolff 1987, 2711) seien, denn dieses Ergebnis tritt auch dann ein, wenn zwar eine Beeinträchtigung vorliegt, diese sich aber vor den Grundrechten rechtfertigen läßt. 106 Für die Berücksichtigung des Kontextes auch D i Fabio 1994, 432.

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

319

auslegungsleitende Maxime aufrecht erhält, andererseits aber tatsächlichen und institutionellen Bedingungen des Freiheitsgebrauchs in den Blick nimmt, um aus dieser Zusammenschau eine normative Zuordnung grundrechtlicher Gewährleistungsinhalte vorzunehmen. Dagegen könnte man einwenden, die Funktion der Grundrechte bestehe gerade darin, personale Selbstbestimmung rechtlich zu gewährleisten; diese Funktion werde unterminiert, wenn man die Umgebungsbedingungen schon bei der Definition des Schutzbereiches heranziehe. Da sich die Freiheit zu selbstbestimmter Willensbildung jedoch in einem bestimmten sachlichen und rechtlichen Kontext vollzieht, und es darauf ankommt, die reale Wirkungsmächtigkeit des Autonomiekonzeptes aufrecht zu erhalten, wäre es verfehlt, die Bedingungen, unter denen sich der Gebrauch der Freiheit entfalten kann, außer Betracht zu lassen. Auch Morlok, der bei der Auslegung der Grundrechte mit dem Kriterium „Selbstverständnis" die Mikroperspektive in den Vordergrund stellt und dementsprechend die subjektive Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs der Freiheitsrechte betont (1993, 393 ff.), erkennt die Notwendigkeit der staatlich-rechtlichen Definitionsmacht über die Grundrechtsbegriffe an (414). Die Interpretationsmacht des Grundrechtsträgers sei jedoch „mindestens als Ausgangspunkt" zu wählen (399). Damit ist ausgesprochen, daß es sich lediglich um ein methodisches Prinzip handelt, welches eine grundsätzliche Offenheit für Ausnahmen schon mit einschließt (397). Die Notwendigkeit, den Schutzbereich situationsadäquat, also sachangemessen und rechtssystemangemessen zu bestimmen, bleibt damit auch für Morlok bestehen (401). Für den Einzelnen ist nach diesem Verständnis ausschlaggebend, ob ihm das Recht gewährleistet ist, in die jeweiligen Kontextbedingungen seine subjektive Perspektive „eigenverantwortlich" einbringen zu können. 1 0 7 Damit stellt sich die Frage, wie sich die Bedingungen des Freiheitsgebrauches so beschreiben lassen, daß auf dieser Grundlage eine abwägungsfreie normative Zuordnung des Gewährleistungsinhaltes erfolgen kann. aa) Normative und „positive" Perspektive Sieht man die Aufgabe der Verfassung (und des Rechts insgesamt) darin, mit den in ihr enthaltenen Normen das menschliche Verhalten zu beeinflussen, dann kommt es entscheidend darauf an, in welchem Maße es der Rechtsordnung gelingt, auf die motivationeilen Faktoren menschlichen Verhaltens einzuwirken. W i l l man in diesem Sinne die Geltungskraft der Verfassung stärken, liegt es nahe, bei der Interpretation der Verfassung von An-

107 Morlok 1993, 387 am Beispiel der Berufsfreiheit unter Bezug auf Pitschas 1983, 119.

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

fang an die realen Verwirklichungsbedingungen mit zu berücksichtigen. Darin liegt keine Preisgabe der normativen Funktion der Verfassung oder eine Auslieferung an die vielbeschworene „Normative Kraft des Faktischen", sondern umgekehrt eine Stärkung der Normativkraft im Hinblick auf die faktischen Wirkungszusammenhänge. 108 Unter diesen Prämissen kann als angemessene Methode der Verfassungsinterpretation die Zusammenschau von normativer und „positiver" bzw. realwissenschaftlicher Perspektive gelten. 1 0 9 Aus dem Text der auszulegenden Norm ist - unter Anwendung der herkömmlichen Auslegungsmethoden - das „Normprogramm" zu ermitteln und der problembezogenen Analyse des „Normbereichs" bzw. des „Realbereiches der N o r m " 1 1 0 gegenüber zu stellen. Hier geht es noch nicht um die Realanalyse, wie sie im Rahmen der Prüfung der materiell-rechtlichen Rechtfertigungskriterien „Verhältnismäßigkeit" und „Gleichbehandlung" geboten ist [siehe Abschnitt III. 2.], sondern um die vorgelagerte Stufe der Norminterpretation: Die Konkretisierung des Schutzbereiches einer Norm hat im Hinblick auf die reale Gefährdungs- bzw. Verwirklichungssituation des betroffenen Grundrechts zu erfolgen. Das Vorgehen läßt sich am Beispiel des Volkszählungsurteils verdeutlichen. Das Bundesverfassungsgericht entwickelte das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus dem in Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Ausgehend von der Feststellung, daß die bisherigen Konkretisierungen den Inhalt dieses Rechts nicht abschließend umschreiben (und das Normprogramm damit für eine Fortentwicklung offen ist), folgt eine Analyse des Realbereichs „unter den heutigen und künftigen Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung". Auf dieser Grundlage entwickelt das Gericht die Konturen des Schutzbereiches fort und formuliert neue Gewährleistungsinhalte. Diese stützen sich auf normative Überlegungen, die einerseits der „individuellen Selbstbestimmung" und den „Entfaltungschancen des Einzelnen" gelten, daneben aber auch überindividuelle Aspekte des Gemeinwohls berücksichtigen, „weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheit108 Siehe zu einem derartigen Verfassungsverständnis Hesse (1959), der in seiner Freiburger Antrittsvorlesung unter dem Titel „Die normative Kraft der Verfassung" Wilhelm von Humboldt (1791) zitiert: Die Rechtsnormen „erhalten ... von dem Gegenstande selbst noch, auf den sie angelegt sind, Form und Modifikation. So können sie auf Dauer gewinnen, so Nutzen stiften". 109 Müller 1993, 147 ff. und 277 ff.; Hesse 1995, Rn. 41 ff. sowie Kapitel D. 110 Die letztgenannte Formulierung trifft den gemeinten Gegenstand besser. Sie sollte der unspezifischen und daher verwechslungsanfälligen Bezeichnung „Normbereich" vorgezogen werden (Hoffmann-Riem 1981a, 28 ff.; dem folgend Engels 1997, 223).

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

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liehen Gemeinwesens ist" (BVerfGE 65, 1/42 f.). Die zweifache normative Untermauerung spiegelt sich in der Analyse der technischen Entwicklung und der institutionellen Zusammenhänge mit der darauf gestützten Abschätzung der zu erwartenden motivationeilen Impulse für den Einzelnen: Wer nicht überschauen könne, welche ihn betreffenden Informationen in seiner sozialen Umwelt bekannt sind, könne in seinen Entfaltungsmöglichkeiten „wesentlich gehemmt" sein. Wer im unklaren darüber ist, ob und welche Informationen über ihn gesammelt werden und damit rechnen muß, „daß etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte verzichten". Hieraus folgt für das Bundesverfassungsgericht, daß dem Einzelnen die grundrechtlich gestützte Befugnis zustehen, müsse, „grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen" (43). Bei der genaueren Bestimmung der „Tragweite" 1 1 1 des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung kommt das Gericht dann noch einmal von der normativen Ebene auf die Analyse des Realbereiches zurück, wenn es erläutert, es komme nicht allein auf die „Art der Angaben" an, entscheidend sei vielmehr „ihre Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit". Das Gericht stellt die technischen und organisatorischen Randbedingungen der Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten in Rechnung und resümiert: „Dadurch kann ein für sich gesehen belangloses Datum einen neuen Stellenwert bekommen; insoweit gibt es unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung kein ,belangloses' Datum mehr" (45). Der Schutzbereich erstreckt sich infolgedessen auf sämtliche personenbezogenen Informationen. Eine Bagatellgrenze verbietet sich, wenn man einerseits das Normprogramm sowie andererseits den Realbereich, also die Entwicklung der modernen Informationstechnik in Rechnung stellt. Das Beispiel verdeutlicht, wie sich im Hinblick auf die konkrete Entscheidungssituation der Schutzbereich unter Berücksichtigung des entscheidungsrelevanten Kontextes bestimmen läßt. Der Blick des Norminterpreten wandert zwischen der normativen und der „positiven" Seite hin und her. Schritt für Schritt wird zunächst die Anwendbarkeit der Grundrechtsnorm und dann der Umfang des Schutzbereiches bestimmt. Daß die im Volkszäh111 Dieser Begriff ist bezogen auf „Eingriffe, durch welche der Staat die Angabe personenbezogener Daten vom Bürger verlangt" (BVerfGE 65, 1/45); in ihm schwingt sowohl die Bedeutung als „Schutzbereichsbestimmung" als auch die Möglichkeiten und Grenzen verfassungsrechtlich gerechtfertigter Beeinträchtigungen (siehe Abschnitt III) mit. Beide Fragen prüft das Gericht im folgenden jeweils getrennt; den Schutzbereich zunächst unter Nr. 2., die Bedingungen der Rechtfertigung dann unter Buchstaben a) ff.

2 Führ

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

lungsgesetz begründeten Mitteilungspflichten und ihre administrative Umsetzung dann einen - klassisch imperativen - Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellen, ergibt sich erst, wenn man neben dem konkreten Eingriffstatbestand die weiteren Verwendungsmöglichkeiten und die daraus resultierenden Impulse auf die subjektive Vorstellungswelt der Betroffenen berücksichtigt. Sehr deutlich kommt zum Ausdruck, wie das Gericht die freiheitsverkürzenden Einwirkungen auf die Verhaltensmöglichkeiten des Einzelnen im Kontext der informationstechnischen Möglichkeiten eruiert und diese Wirkungen zum Normprogramm in Beziehung setzt. Dieses Vorgehen läßt sich aber auch auf die Schutzbereichsbestimmung bei „faktischen" Beeinträchtigungen übertragen. Das Zusammenspiel von normativer und positiver Perspektive ist hier erst recht gefordert. Denn die faktischen Einwirkungen erfolgen ja oftmals nicht direkt gegen den Grundrechtsträger, sondern über institutionell vermittelte Wirkungszusammenhänge. Diese aufzudecken und die Gefährdungs- bzw. Verwirklichungssituation des betroffenen Grundrechts im konkreten Kontext zu beleuchten, ist nur möglich, wenn man die Wirkungszusammenhänge in die - letztlich normativ zu leistende - Schutzbereichsbestimmung mit einbezieht. bb) Noch einmal: Beispiel Wettbewerbsfreiheit Zur Verdeutlichung des vorstehend beschriebenen Vorgehens sei noch einmal auf das bereits angesprochene 112 Beispiel der berufsbezogenen Selbstdarstellung als Teil der Wettbewerbsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG zurückgekommen. Im Hinblick auf die vieldiskutierte informatorische Verwaltungstätigkeit geht es allerdings nicht darum, ob ein Recht auf „berufliche Außendarstellung" anzuerkennen ist. Diese Frage ist ohne weiteres zu bejahen. Das Recht auf berufsbezogene Selbstdarstellung umfaßt zweifellos die Befugnis des Produktanbieters, seine Perspektive in den marktvermittelten Entscheidungsprozess der Kunden einzubringen. Verkürzende Einwirkungen der öffentlichen Hand auf die eigene Beteiligung des Anbieters am Wettbewerb 113 um die Wahrnehmung der Nachfrageseite beeinträchtigen die grundrechtlich geschützten Verhaltensmöglichkeiten. Dementsprechend 112 Siehe Abschnitt II. 2. a) aa). Da alle wirtschaftslenkenden Maßnahmen aus der Kategorie der Eigen-Verantwortung die Berufsfreiheit berühren können, seien an diesem Beispiel die Implikationen des hier gewählten Ansatzes eingehender erläutert. 113 Ähnlich BVerwGE 65, 167/174 - Ausnahmebewilligung für Konkurrenten, wo darauf hingewiesen wird, die Wettbewerbsfreiheit sei erst dann berührt, wenn die „Fähigkeit der Klägerinnen zur Teilnahme am Wettbewerb so eingeschränkt worden wäre, daß ihre Möglichkeit, sich als verantwortliche Unternehmer wirtschaftlich zu betätigen, beeinträchtigt gewesen wäre."

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

323

fällt die Freiheit, die äußere Aufmachung der angebotenen Produkte selbst zu bestimmen, in den Schutzbereich der Berufsfreiheit. 114 Schwieriger aber sind Konstellationen einzuordnen, in denen es nicht um den eigenen Anteil des Anbieters geht, sondern um informatorische Beiträge von anderer Seite, die an sich an die Nachfragenden richten. Es geht also um Einwirkungen auf den Kontext, in dem sich die Grundrechtsfreiheit des Produktanbieters entfaltet. Hier ist die Frage zu klären, ob der Schutzbereich der berufsbezogenen Außendarstellung so weit reicht, daß es allein dem Grundrechtsberechtigten zusteht, Aussagen über die Eigenschaften der Produkte 115 zu treffen und auf diese Weise auf die Nachfrageseite einzuwirken. Mit anderen Worten geht es darum, ob dem Einzelnen ein Ausschließungsrecht gegenüber hoheitlichen Akten Dritter 1 1 6 im Hinblick auf kommunikative Äußerungen über das von ihm vertriebene Produkt zukommen soll. 1 1 7 (1) Exklusives Recht auf Außendarstellung? Im Bereich der Privatsphäre natürlicher Personen wird als spezielle Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG, ein Recht der Selbstdarstellung angenommen, welches auch die Befugnis vermitteln soll, sich unerbetener öffentlicher Darstellungen der eigenen Person zu erwehren. 118 Ob dies in gleicher Weise für am Markt agierende Unternehmen und deren Produkte gelten soll, erscheint allerdings fraglich. Denn der marktliche Wettbewerb ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß dort Produkte und Aussagen über Produkte miteinander im Wettstreit stehen. Der produktanbietende Grundrechtsträger tritt hier in Konkurrenz zu anderen Anbietern mit dem Ziel, die Entscheidung der Nachfragenden zugun114

So auch BVerfGE 95, 173/183 - Tabakwarnhinweise. Der Begriff „Produkt" soll im folgenden in einem umfassenden betriebswirtschaftlichen Sinne gebraucht werden, der alle auf dem Markt befindlichen Angebote eines Unternehmens, also auch die Dienstleistungen, mit einschließt. 116 Neben der Informationstätigkeit der Verwaltung kommen hier auch Äußerungen privater Dritter - etwa von der öffentlichen Hand geförderter Organisationen (siehe BVerwGE 90, 112/120 - Bhagwan) - in Betracht. Soweit deren Aussagen dem Staat zuzurechnen sind, kann eine Grundrechtsbeeinträchtigung vorliegen. 117 Eine parallele Konstellation zeigt sich bei der Bestimmung des Schutzbereiches aus Art. 4 Abs. 1 GG, wo sich auch die Frage stellt, ob die Einwirkung auf (potentielle) Angehörige einer Religionsgemeinschaft in der Form einer kritischen Äußerung bereits eine Beeinträchtigung der Religionsausübung darstellt (siehe etwa BVerwGE 82, 76 - Transzendentale Meditation oder BVerwGE 90, 112 - Bhagwan sowie unten in (Fn. 127). 118 Pieroth/Schlink 1999, Rn. 373/377. Es verhindert auch, daß dem Betroffenen Aussagen „untergeschoben" werden, die dieser nicht getroffen hat (BVerfGE 54, 148/155 f. - Eppler). 115

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

sten des eigenen Produktes zu beeinflussen. Die Außendarstellung der Anbieter ist notwendigerweise darauf gerichtet, die diesbezüglichen Vorstellungen „in den Köpfen Dritter" zu beeinflussen. Wer sich in seiner beruflichen Betätigung in den sozialen Kontext des Wettbewerbs begibt, der stellt sich damit einer Situation, in der die Nachfrager sich ein Bild der angebotenen Produkte und des dahinter stehenden Unternehmens machen, um auf dieser Grundlage ihre Auswahlentscheidung zu treffen. Zu unterscheiden ist daher zwischen den eigenen berufsbezogenen Kommunikationsakten des Grundrechtsträgers und dem Vorstellungsbild, welches sich die Adressaten auf der Grundlage ihres Wahrnehmungshorizontes vom jeweiligen Gegenstand machen. Daß es den Adressaten dabei frei steht, ihren persönlichen Wahrnehmungshorizont selbst zu bestimmen und dabei neben den Aussagen des Anbieters auch Informationen von dritter Seite mit einzubeziehen, ist eine normative Aussage, die wegen der autonomiesichernden Grundfunktion der Grundrechte auf der Hand liegt und die sich ohne ein Vor- und Zurücksetzen der betroffenen Positionen, also ohne Abwägung treffen läßt. Bezogen auf den Produktanbieter bedeutet diese Feststellung, daß der Gewährleistungsinhalt des berufsbezogenen Selbstdarstellungsrechts nicht über die Einräumung der Möglichkeit hinausreicht, einzutreten in den allgemeinen „Wettbewerb" darum, die Wahrnehmungsschwelle der Adressaten zu überschreiten. Daraus resultiert weder ein Recht darauf, daß die Adressaten ihre Aufmerksamkeit tatsächlich diesem Angebot zuwenden noch ein Ausschließungsrecht gegenüber Dritten, sich ebenfalls an dem Wahrnehmungswettbewerb zu beteiligen. 119 Aus der allein subjektiven Perspektive mag dies als Beschränkung der eigenen Entfaltungsmöglichkeiten erlebt werden. Nach dem Ansatz der subjektiven Schutzbereichsbestimmung wäre darin dann eine Freiheitsverkürzung zu sehen, weil die berufsbezogene Entfaltung „nicht mehr in der gewünschten Weise" vollzogen werden kann [siehe Abschnitt II. 2. a) aa)]. Nimmt man allerdings ergänzend eine normativ-institutionelle Betrachtung des sozialen Kontextes vor, dann wird deutlich, daß es nicht um die eigenen Verhaltensmöglichkeiten, sondern darum geht, die Einwirkung auf potentielle Nachfrager zu untersagen. Soll der Schutzbereich eines Grundrechts ein Ausschließungsrecht gegenüber Einwirkungen auf Dritte umfassen, bedarf es dafür einer besonderen Begründung. Das allgemeine Marktgeschehen ist aber - wie vorstehend geschildert - gerade durch den Wettbewerb um die kommunikative Einwirkung auf die potentiellen Nachfrager gekennzeichnet. Wird der Wettbewerb damit gerade durch kommunikative Akte konstituiert und ist die Berufsfreiheit aus Art. 12

119

So auch der Kammerbeschluß des BVerfG zur „Transzendentalen Meditation" vom 15.8.1989 - 1 BvR 881/89 - NJW 1989, 3269.

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

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Abs. 1 GG gerade auf die Teilnahme an diesem Wettbewerb gerichtet, dann ist damit notwendigerweise nicht nur Konkurrenz verschiedener Angebote, 1 2 0 sondern auch die Herstellung von Transparenz unter diesen Angeboten verbunden, ohne daß damit bereits die Berufsfreiheit berührt wäre. Die in die gegenteilige Richtung weisenden Passagen in der Transparenzlisten-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (E 71, 183/193 f.) sind daher - versteht man sie als generelle Aussagen zur Reichweite der Berufsfreiheit - als Überdehnung des grundrechtlichen Schutzbereiches zurückzuweisen. Die Aussagen des Gerichts lassen sich aber auch als Reaktion auf den weitgehend hoheitlich regulierten Gesundheits-„Markt" verstehen: Berücksichtigt man diesen institutionellen Kontext, dann ging es in dem zu entscheidenden Fall nicht um die Herstellung „bloßer" Transparenz; vielmehr waren damit weitere verhaltenssteuernde Wirkungen verbunden, die dann die Möglichkeiten, verschreibungspflichtige Arzneimittel zu vermarkten, signifikant verändert hätten. Diese Wirkungen ergaben sich nicht aus einem allgemeinen Marktgeschehen und autonomen Auswahlentscheidungen der Nachfrageseite, sondern resultierten aus den spezifischen institutionellen Bedingungen des Gesundheitswesens.121 Festzuhalten ist damit, daß mit der allgemeinen berufsrechtlichen „Freiheit zum Wettbewerb" nicht nur die „Vorstellung einer Freiheit von Konkurrenz unverträglich" ist (Pieroth/Schlink 1999, Rn. 814), sondern auch diejenige einer „Freiheit von Transparenz". Dem Grundrechtsberechtigten steht infolgedessen kein Exklusivrecht zu für Äußerungen über sein Unternehmen oder die von ihm angebotenen Produkte. Dieses Ergebnis läßt sich aus den spezifischen Verwirklichungsbedingungen dieser Grundrechtsfreiheit heraus begründen, ohne daß es einer Abwägung mit den Rechten Dritter bedarf. (2) Schutz der berufsbezogenen Ehre Reicht der Schutz aus Art. 12 Abs. 1 GG demnach nicht so weit, daß hoheitliche Äußerungen schon als solche den Schutzbereich des Anbieters berühren, dann bleibt zu klären, ob nicht jedenfalls bestimmte Äußerungen doch schutzbereichsrelevant sein können. Zu denken ist hier an unzutreffende oder grob entstellende Aussagen. Hierdurch kann das Ansehen des Anbieters in der Öffentlichkeit beeinträchtigt werden; etwa wenn durch 120

Die konkurrenzwirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand wird als systemimmanente Verschärfung des marktwirtschaftlichen Konkurrenzdruckes ebenfalls nicht vom Schutzbereich der Berufsfreiheit erfaßt (BVerwGE 39, 329/336 f.; BVerwG, NJW 1995, 2938/2939 - Konkurrenzwirtschaftliche Maklertätigkeit). 121 Diese sind aber weitgehend durch den vom Staat geschaffenen Ordnungsrahmen bedingt; sie sind daher dem Staat auch zuzurechnen (siehe Abschnitt II. 3.).

326

E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

Pressemitteilungen einer Behörde der Eindruck erweckt wird, Teigwaren eines Herstellers seien mit ekelerregendem „Flüssiger" hergestellt. In grundrechtlicher Perspektive ist damit der berufsbezogene Ehrenschutz 122 berührt. Fraglich mag hier im Einzelfall sein, wie weit der personelle Schutzbereich reicht. 1 2 3 Grundsätzlich kommt der Ehrenschutz aber auch Personenvereinigungen zu, soweit ihr sozialer Geltungsanspruch in ihrem Aufgabenbereich betroffen i s t . 1 2 4 Es kommt demnach darauf an, ob die Äußerung den Schutzbereich der berufsbezogenen Ehre berührt. Damit ist klar, daß nicht schon jede auf die berufliche Tätigkeit als solche bezogene Äußerung schutzbereichsrelevant sein kann, weil es auch hier kein Recht des Betroffenen geben kann, das verselbständigte soziale Abbild in der Vorstellungswelt Dritter ausschließlich aus der eigenen Perspektive zu bestimmen. 125 Vielmehr müssen besondere Umstände hinzutreten, die im Hinblick auf den Schutz der beruflichen Ehre relevant sind. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen der grundrechtliche Ehrenschutz verletzt wird, läßt sich nur auf der Grundlage einer Wertung treffen. Die normative Komponente mag beim Ehrenschutz besonders deutlich hervortreten, weil es sich bei der „Ehre" um ein fragiles soziales Konstrukt handelt, bei dem die Bestimmung des grundrechtlichen Gewährleistungsinhaltes besonders delikat erscheint. Ungewöhnlich ist dies jedoch nicht, da jede Schutzbereichsbestimmung wertende Aussagen erfordert. Wo der Schutzbereich beruflicher Ehre zu verorten ist, muß dementsprechend für jede konkrete Situation neu bestimmt werden. Dabei ist davon auszugehen, daß der verfassungsrechtlich geschützte soziale Achtungs- und Geltungsanspruch aufgrund seiner sozialen, notwendigerweise „dialogischen" Struktur nicht allein aus der subjektiven Perspektive desjenigen zu 122 Siehe dazu - allerdings ohne weitergehende Herleitung - BVerfGE 50, 16/27 - Anfechtbarkeit von Mißbilligungen sowie BVerwGE 87, 37 - Glykol (=NJW 1991, 1766/1768). 123 Soweit juristische Personen und den Personengesellschaften des Handelsrechts betroffen sind, stellt sich die Frage, ob eine Übertragung des persönlichen, aus Art. 2 Abs. 1 i . V . m . Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten Ehrenschutzes überhaupt angemessen ist. Wenn man diese Frage bejaht - und das muß man wohl (Dreier 1996, Art. 19 Abs. 3 Rn. 19 ff.) - bedeutet dies angesichts des Menschenwürdebezugs des Herleitungszusammenhanges aber noch nicht, daß sämtliche Elemente und Facetten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts pauschal zu übertragen sind. 124 BVerfG (Kammerbeschluß), NJW 1989, 3269 - Transzendentale Meditation; zuvor bereits BVerwGE 82, 76 - Transzendentale Meditation (= NJW 1989, 2272/ 2273) sowie BGHZ 78, 274 - Scientology (=NJW 1981, 675). 125 BVerfG (Kammerbeschluß), NJW 1989, 3269 - Transzendentale Meditation; unter Verweis auf BVerfGE 65, 1/44 - Volkszählung, wo es allerdings um die Herausgabe von Informationen durch den Betoffenen selbst ging; die einschlägige Passage ist dort dementsprechend Bestandteil der Rechtfertigungsargumentation.

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

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bestimmen ist, der von einer Äußerung betroffen ist. Der grundrechtliche Ehrenschutz ist vielmehr in hohem Maß durch objektive Elemente geprägt, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zu hoheitlichen Warnungen vor den Praktiken der „Transzendentalen Meditation" festgestellt hat: „Eine Ehrverletzung kann deshalb umso weniger festgestellt werden, je mehr die beanstandenden Äußerungen ein Bild des Betroffenen zeichnen, das sein tatsächliches Auftreten zutreffend wiedergibt. Entsprechendes gilt dann, wenn es sich nicht um Tatsachenbehauptungen, sondern um Werturteile handelt und diese bei verständiger Würdigung auf einem im wesentlichen zutreffenden oder zumindest sachgerecht und vertretbar gewürdigten Tatsachenkern beruhen". 126 Das Bundesverfassungsgericht hat daher den Schutzbereich des grundrechtlichen Ehrenschutzes aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 G G 1 2 7 von dem „selbstdefinierten Geltungsanspruch" abgehoben und ist zu dem Ergebnis gelangt, die kritischen Äußerungen der Bundesregierung berührten diesen Schutzbereich nicht. 1 2 8 Allgemein läßt sich daher sagen, daß es einen grundrechtlichen Ehrenschutz gegenüber zutreffenden, wenngleich bislang unter Umständen nicht allgemein bekannten Aussagen in der Regel nicht geben kann. Der verfassungsrechtlich geschützte soziale Geltungsanspruch des Berufsrechts reicht 126 BVerfG, NJW 1989, 3269. Zu den Sorgfaltspflichten bei der Sachverhaltsaufklärung im Vorfeld hoheitlicher Informationsakte siehe auch D i Fabio 1994, 438 ff. 127 Die davon zu trennende Frage, ob der Schutzbereich der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG berührt ist, hat das Bundesverfassungsgericht nicht explizit behandelt und gelangte unabhängig davon zu dem Ergebnis, dieses Grundrecht sei jedenfalls nicht verletzt (NJW 1989, 3270 f.). Auch hier stellt sich aber die Frage, ob die Religionsfreiheit so weit reichen soll, daß kritische Äußerungen zu bestimmten Praktiken, die als solche in den Schutzbereich der Religionsfreiheit fallen mögen, bereits den Gewährleistungsinhalt des Freiheitsrechtes berühren. Diese Frage ist aufgrund der Spezifika diese Grundrechtes, welches ja explizit die Ansprache der „Innenwelt" der Religionsangehörigen bzw. -interessierten gerichtet ist und eine grundsätzliche Staatsfreiheit mit einschließt (siehe Morlok 1996, Art. 4 Rn. 32 ff.), nicht von vornherein in gleicher Weise wie bei der Wettbewerbsfreiheit im Bereich der Waren und Dienstleistungen zu beantworten. Aber auch hier ergibt sich aus der Anerkennung der Religionsfreiheit als solcher noch kein exklusives Äußerungsrecht über die Fragen der eigenen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft. Die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes, die eine Schwächung „ihrer Rolle in der religiös-weltanschaulichen Auseinandersetzung" infolge kritischer Äußerungen konstatieren und damit bereits die Schutzbereichsrelevanz bejahen (BVerwGE 82, 76/79 - Transzendentale Meditation oder BVerwGE 90, 112/119 - Bhagwan), ignorieren den dialogischen Charakter eben dieser Auseinandersetzung. Auch hier wäre konkreter zu fragen, ob in der Beteiligung Dritter an der „religiös-weltanschaulichen Auseinandersetzung" bereits eine Beeinträchtigung des Freiheitsrechtes als solchem liegt. 128 Anders noch BVerwGE 82, 76/79 (= NJW 1989, 2272/2273) welches die Schutzbereichsrelevanz bejahte, im Ergebnis den Eingriff in den Ehrenschutz jedoch für gerechtfertigt erachtete.

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

- auch dies läßt sich abwägungsfrei feststellen - jedenfalls nicht so weit, daß er von sachlich zutreffenden Aussagen berührt w i r d ; mögen diese auch für den Anbieter subjektiv unerwünscht sein. Z u m allgemeinen k o m m u n i k a tiven Wettbewerb gehören vielmehr notwendigerweise auch kritische Aussagen. Erst wenn der R a u m sachlich fundierter Auseinandersetzung verlassen 1 ΛΛ

wird,

1 qri

kann der Ehrenschutz berührt sein.

Daraus resultiert dann für

den Äußernden die Anforderung, sich des sachlichen Gehaltes der beabsichtigten Aussagen zu vergewissern. 1 3 1 Erteilt eine Behörde etwa i n Wahrnehm u n g ihrer amtlichen Aufgaben Auskünfte oder spricht sie Empfehlungen oder Warnungen aus, so unterliegt sie dabei allgemeinen, auch i m Rechtsstaatsprinzip wurzelnden ( W i e l a n d 1998, Art. 34 Rn. 32) Pflichten nach einer den Umständen angemessenen sorgfältigen Aufklärung der Sachverhaltes und einer an den j e w e i l i g e n Empfängerhorizont angepaßten Darstellung der v o n ihr mitgeteilten Tatsachen und W e r t u n g e n . 1 3 2 Eine Behörde, die bereits v e r f ü g b a r e 1 3 3 Informationen über Produkte zusammenstellt (oder selbst Informationen gewinnt) und auf dieser Grundlage

129

So im Ergebnis auch Wieland 1996, Art. 12 Rn. 81. Ein generelles Prüfungsschema für die Behandlung der Konfliktfälle zwischen Ehrenschutz und Meinungsfreiheit findet sich bei Grimm 1995, 1705. 131 Dabei dürfte es ausreichen, wenn sich der Äußernde auf wissenschaftlich vertretbare Gründe stützen kann. 132 Zivilrechtlich (§ 839 BGB) und staatshaftungsrechtlich (Art. 34 GG) ergeben sich aus einer Verletzung der diesbezüglichen Amtspflichten Schadensersatzansprüche, wenn die dazu entwickelten Voraussetzungen vorliegen. Das einfache Recht kann dabei durchaus Schadensersatzansprüche vorsehen, die weiter gehen als die grundrechtlich zugeordneten Gewährleistungsinhalte. Es handelt sich daher um einen Fehlschluß, wenn aus der zivilrechtlichen Möglichkeit, Schadensersatz zu erhalten, umstandslos der Schluß gezogen wird, damit sei zugleich die Reichweite der Grundrechtsgewährleistung definiert; so aber läßt sich die Entscheidung des L G Stuttgart (NJW 1989, 2257/2258 - Eierteigwaren) verstehen. Das OLG Stuttgart (vom 21.3.1990 - 1 U 132/89 - NJW 1990, 2690 - Eierteigwaren) geht dann auf die Frage, ob ein „Eingriff 4 vorgelegen habe, nicht mehr ein, sondern befaßt sich allein mit den zivilrechtlichen Sorgfaltspflichten. 133 In der Transparenzlisten-Entscheidung (BVerwGE 71, 183/196 f.) kam als zusätzlicher Einwirkungspfad die Aufforderung an den Hersteller hinzu, der Transparenzkommission Daten zur Wirksamkeit des Arzneimittels zu überlassen. Diese Aufforderung hatte zwar nicht den Charakter eines Verwaltungsaktes, aufgrund des zu erwartenden Einflusses der Liste auf das Verordnungsverhalten der Ärzteschaft bestand jedoch ein „faktischer Zwang", der Aufforderung Folge zu leisten. Soweit wie beim klagenden Unternehmer - die erbetenen Daten aufgrund von Übergangsbestimmungen im Arzneimittelgesetz den Behörden bislang nicht vorzulegen waren, resultierte daraus zudem u.a. die Notwendigkeit, die erbetenen toxikologischen Daten zu ermitteln. Die Einwirkungen, die aus dem Gesamtsystem der Transparenzlistenerstellung resultierten, gingen damit deutlich über bloße öffentliche Äußerungen hinaus und besaßen infolgedessen eindeutig Grundrechtsrelevanz. Da sie dem Staat auch zuzurechnen sind, war dafür eine gesetzliche Grundlage erforderlich. 130

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

329

eine vergleichende Bewertung vornimmt, berührt mit einer darauf gestützen öffentlichen Äußerung regelmäßig weder den Schutzbereich der Wettbewerbsfreiheit noch den des berufsbezogenen Ehrenschutzes. (3) Hinweis auf gesetzeswidriges

Verhalten

Ob sich daran etwas ändert, wenn mit der Information die Aussage verbunden ist, das Produkt entspreche nicht den gesetzlichen Vorschriften und das Unternehmen bzw. die verantwortlichen Mitarbeiter hätten damit gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen, erscheint fraglich. Nicht tragfähig wäre jedenfalls ein Ergebnis, wonach wertende Aussagen über gesetzeskonforme Produkte den Ehrenschutz nicht berühren, der Hinweis auf gesetzeswidriges Verhalten jedoch den Gewährleistungsinhalt des berufsbezogenen Ehrenschutzes tangieren würde. Bei der Lösung dieser Problematik könnte der Hinweis weiterhelfen, daß der zu entscheidende Konflikt - verglichen mit der eigentlichen beruflichen Tätigkeit, dem Anbieten von Produkten gewissermaßen auf einer „zweiten Ebene" angesiedelt ist (Alber 1996, 241). Es geht nicht unmittelbar um die Befugnis, Produkte auf dem Markt anzubieten, sondern um kommunikative Akte über vermarktete Produkte. Sind etwa bestimmte Verhaltensweisen auf der ersten Ebene bereits grundrechtskonform beschränkt (etwa das Inverkehrbringen glykolhaltiger Weine), dann stellt sich die Frage, ob die zutreffende amtliche Mitteilung, die im einzelnen spzifizierten Weine bestimmter Hersteller enthielten Glykol, den Schutzbereich der beruflichen Ehre noch berühren kann. Die Frage wäre zu verneinen, wenn sich der Ehrenschutz nur auf Verhaltensweisen beziehen würde, die nach der (Vor-) Entscheidung auf der ersten Ebene dem Schutzbereich der zweiten Ebene noch zuzurechnen sind. Gegen eine derartige Betrachtungsweise mag auf den ersten Blick sprechen, daß damit der grundrechtliche Schutzbereich nach Maßgabe des einfachen Rechts bestimmt und so letztlich doch ein präformierter Schutzbereich zugrunde gelegt wird. Bei genauerer Betrachtung dürfte sich dieser grundsätzlich berechtigte 134 - Einwand für Konstellationen der hier betrachteten Art allerdings als nicht einschlägig erweisen. Denn auf der ersten Ebene bleibt es bei der vollen Grundrechtsprüfung ohne Einschränkung im Schutzbereich. Erst wenn die Entscheidung über die primären Verhaltensmöglichkeiten grundrechtskonform getroffen ist, ist auf der zweiten Ebene zu entscheiden, ob die Information über eine das Verbot verletzende Betätigung dem Schutzbereich des beruflichen Ehrenschutzes unterfällt. 135 134

Denninger 1989, Rn. 40. Siehe dazu auch Kapitel C bei Fn. 174. Alber (1996, 241) verweist darauf, eine Maßstabsbildung auf zweiter Ebene lasse sich in der leistungsrechtlichem Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nachweisen, wobei sie sich auf BVerfGE 80, 124/133 f. - Postzeitungsdienst; 135

330

E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

Dabei ist allerdings vor einer Interpretation zu warnen, die etwa annimmt, wer gegen die Gesetze verstoße, habe insoweit den Schutz seiner persönlichen Ehre generell verwirkt. 1 3 6 Dagegen spricht schon der Gedanke der sozialen Reintegration. In der Lebach-Entscheidung (BVerfGE 35, 202) hat das Bundesverfassungsgericht bei der aktuellen Berichterstattung über schwere Straftaten „Rücksicht auf den unantastbaren innersten Lebensbereich" verlangt und es für unzulässig erachtet, daß jenseits des aktuellen Informationsbedürfnisses sich die Medien „zeitlich unbeschränkt mit der Person des Straftäters und seiner Privatsphäre" befassen. Daß bei produktbezogenen Aussagen diese Intensität der Persönlichkeitsrelevanz erreicht wird, ist allerdings praktisch nicht vorstellbar; dies schon deshalb nicht, weil meist der konkrete Bezug zu einer natürlichen Person nicht gegeben ist. Negative Aussagen über einzelne Produkte, die auf Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften hinweisen, berühren daher den Schutzbereich der berufsbezogenen Ehre aus Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 12 Abs. 1 GG in aller Regel nicht. 1 3 7 (4) Fazit Das Beispiel zeigt, daß nicht jedes Verhalten des Staates, welches sich nach dem subjektiven Selbstverständnis des Grundrechtsträgers als Freiheitshindernis darstellt, bereits den Schutzbereich berührt. Vor allem Grundrechte, deren Wahrnehmung auf einen sozialen Kontext angewiesen sind, verschließen sich einer Schutzbereichsbestimmung nach dem Bild negatorischer Exklusivität. Erforderlich ist vielmehr eine wertende Entfaltung des jeweiligen Schutzbereiches, die den institutionellen Kontext berücksichtigt, in den die Freiheitsentfaltung eingebettet ist.

E 82, 209/223 f. - Krankenhausbedarfsplan sowie E 87, 181/197 f. - Rundfunkfinanzierung. Jedenfalls die Entscheidung zum Krankenhausfinanzierungsgesetz stützt sich jedoch nicht auf eine Maßstabsbildung auf zweiter Ebene, sondern zieht vielmehr den vom Gesetzgeber mitgeschaffenen institutionellen Kontext im Kostenerstattungssystem des Gesundheitswesens für die Abschätzung der Einwirkungsfolgen der streitgegenständlichen Maßnahme mit ein [siehe Abschnitt II. 1. a)]. 136 In diese Richtung scheint aber die Argumentation bei Alber (1996, 241) zu weisen. 137 Bei schwerwiegenden Verstößen gegen gesetzliche Bestimmungen, bei denen zudem ein Individualbezug besteht, verliert das Schutzbereichsproblem (dessen Relevanz sich meist aus dem Fehlen gesetzlicher Regelungen ergibt) an Bedeutung. Denn hier existieren regelmäßig entsprechende Befugnisnormen, die ein Tätigwerden der jeweils zuständigen Behörden gestatten. Es verbleibt allenfalls ein Zuständigkeitsproblem.

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

331

cc) Ergebnis Nach dem hier vertretenen Ansatz bilden die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen weiterhin den Ausgangspunkt bei der Bestimmung der grundrechtlichen Gewährleistungsgehalte. Zu fragen ist jeweils nach den Motivationsfaktoren, die für die Verhaltensmöglichkeiten in dem jeweiligen Regelungsbereich maßgeblich sind. Damit kommt unweigerlich die Tatsache in das Blickfeld des Norminterpreten, daß die Entfaltung der Grundrechtsfreiheit in mehr oder minder großem Umfang von dem umgebenden sozialen Gefüge mitbestimmt wird. Die Grundrechtsprüfung hat daher den jeweiligen institutionellen Kontext zu berücksichtigen. Wendet man diesen Ansatz beispielhaft auf Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen der Berufsfreiheit an, dann zeigt sich, daß die Gewährleistungsinhalte einerseits weiter, 1 3 8 andererseits aber auch enger gefaßt sein können. Informationsakte der öffentlichen Gewalt berühren - anders als bei rein subjektiver Schutzbereichsbestimmung - den Gewährleistungsgehalt in der Regel nicht. Die Berufsfreiheit reicht nicht so weit, daß sie ein Ausschließungsrecht gegenüber produktbezogenen Aussagen der öffentlichen Hand vermittelt. Dies gilt jedenfalls solange, wie der sachliche Gehalt der Aussagen zutreffend und die Wertungen als vertretbar einzustufen sind. 1 3 9 Erst bei Aussagen, die sich davon so weit entfernen, daß der berufsbezogenene Ehrenschutz betroffen ist, erscheint der Schutzbereich aus Art. 12 Abs. 1 GG berührt. Dieses Ergebnis spiegelt wieder, daß Kommunikationsakte über am Markt agierende Unternehmen und deren Produkte schlichtweg konstituierend sind für das Funktionieren des marktvermittelten Wettbewerbs. Daß der Staat der Nachfrageseite produktbezogene Informationen zur Verfügung stellt, berührt die Berufsfreiheit der Anbieter nicht. Dies gilt unabhängig davon, welche Ausprägung die marktliche Ordnung im übrigen annimmt. Auf eine spezifische Ordnungsintention kommt es daher nicht an. d) Normänderungsrisiko und grundrechtlicher Normbestandsschutz Der hier vertretene Ansatz läßt sich auch für die Frage fruchtbar machen, ob sich aus einem Normänderungsrisiko, welches dem Grundrechtsträger bereits vor Aufnahme des grundrechtsgeschützten Verhaltens bekannt war,

138

Siehe dazu den folgenden Abschnitt. Ein sachlich zutreffendes „Produktranking", also die Zuordnung zu bestimmten aus Verbraucher- oder Umweltsicht relevanten Kriterien, wäre aus grundrechtlicher Sicht unproblematisch. 139

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E. Grundrechtsprüfung aus der Wirkungsperspektive

Konsequenzen im Hinblick auf den grundrechtlichen Gewährleistungsgegenstand ergeben. Dies sei erneut am Schutzbereich der Berufsfreiheit verdeutlicht. Davon nicht erfaßt sind nach überwiegender Ansicht die Sicherung von Erwerbsmöglichkeiten und der Schutz vor einer Beeinträchtigung des Geschäftsumfanges. 140 Dies soll auch für „situationsbedingte Erwerbschancen und -vorteile" gelten. Bei einer rein-subjektiven Schutzbereichsbestimmung ist dies allerdings kaum zu begründen, weil die subjektiven Erwartungen naturgemäß auf genau jene Chancen und Vorteile gerichtet sind. 1 4 1 Aber auch bei einer objektiven Betrachtung ist nicht auf den ersten Blick plausibel, weshalb äußere Erwerbschancen, auf die hin der einzelne seine beruflichen oder eigentumsrechtlichen Dispositionen ausgerichtet hat, grundsätzlich dem Schutzbereich entzogen sein sollen. Der Schutzausschluß der herrschenden Meinung geht so weit, daß sogar Einschränkungen der beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten, mit denen die öffentliche Gewalt durch die Einführung eines Anschluß- und Benutzungszwanges ganze Betätigungsfelder der privaten beruflichen Initiative und damit dem Wettbewerb entzieht, 142 vom Schutzbereich nicht erfaßt sein sollen. Aus der subjektiven Perspektive liegt darin eindeutig eine Verkürzung der individuellen Verhaltensmöglichkeiten. Der Verweis darauf, der Kundenstamm sei schon „mit dem Risiko behaftet erworben worden, daß ein späterer Anschluß- und Benutzungszwang zugunsten einer gemeindlichen Einrichtung möglich bleibt", mag für die Frage des Vertrauensschutzes durchaus von Belang sein; weshalb aus diesem Grunde ein faktisches Betätigungsverbot (jedenfalls für eine bestimmte Gemeinde) aus dem Schutzbereich der Berufsfreiheit heraus definiert wird, erschließt sich weniger. Das Risiko einer späteren gesetzgeberischen oder administrativen Aktivität besteht bei fast allen grundrechtlich geschützten Verhaltensmöglichkeiten. 140 BVerfGE 34, 252/256: „Dagegen, daß den Beschwerdeführern durch die Neuregelung in ihrem Beruf neue Konkurrenz erwächst, gewährt Art. 12 Abs. 1 GG, der auf eine möglichst unreglementierte berufliche Betätigung abzielt, keinen Schutz, ebensowenig wie es nach der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes ein subjektives verfassungskräftiges Recht auf die Erhaltung des Geschäftsumf anges und die Sicherung weiterer Erwerbsmöglichkeiten gibt" (die Entscheidung verweist hierzu auf BVerfGE 7, 377/408; E 11, 168/189; 24, 236/251; 31, 8/31). Siehe dazu Wieland 1996, Art. 12 Rn. 82. 141 Diese Argumentationslücke macht deutlich, daß ergänzend andere Kriterien hinzutreten müssen und untermauert damit die Notwendigkeit einer ergänzenden normativ-objektiven Betrachtung. 142 Siehe dazu Papier 1994, Art. 14 Rn. 103 unter Verweis auf BVerwGE 82, 63 - Abfallbeseitigung (= NJW 1982, 63 f.) (siehe auch die dort genannten kritischen Stimmen aus der Literatur). Der Versuch, die Einwirkung über die Qualifizierung als Inhaltsbestimmung dem Schutzbereich zu entziehen, ist aus der Wirkungsperspektive wenig überzeugend (siehe dazu Abschnitt II. 4.).

II. Beeinträchtigung der Verhaltensmöglichkeiten

333

Auch hier muß der Einzelne jederzeit damit rechnen, daß der Staat die gesetzlich gezogenen Grenzen verändert. Wenn man die Existenz dieses Risikos als hinreichend erachten würde, einen Schutzbereichsausschluß zu begründen, dann liefe der Grundrechtsschutz in weiten Bereichen leer. Das allein kann daher nicht ausschlaggebend sein. Wenn in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen wird, grundrechtlich geschützt seien nicht die Gegebenheiten und Chancen, innerhalb derer ein Unternehmen tätig werde, sondern lediglich ein darauf gerichtetes „Recht", 1 4 3 dann mag dieses Argument für den vorrangig normgeprägten Eigentumsschutz auf den ersten Blick einige Plausibilität aufweisen. Ob das Berufsrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG in gleicher Weise normgeprägt ist, mag trotz der zunehmenden Verrechtlichung der Berufsausübung schon zweifelhaft sein. Vor allem aber stellt sich die Frage, ob das Argument nicht letztlich tautologischer Natur ist. Denn um die Frage, was alles zum Gewährleistungsinhalt des jeweils in Rede stehenden Grund-Rechts gehört, geht es ja gerade. Betrachtet man die Konflikte aus der Wirkungsperspektive, zeigt sich ein anderes Bild: Der Gesetzgeber hat dann durch den von ihm definierten Ordnungsrahmen und die von ihm mitgeschaffenen Institutionen den Entfaltungsraum für berufliche Tätigkeiten gestaltet und zugleich die Verhaltensmöglichkeiten des Einzelnen abgesteckt. Verändert der Gesetzgeber den damit umgrenzten Handlungsraum, 144 dann wirkt er auf die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen ein. Gehören diese Verhaltensmöglichkeiten zum Schutzbereich eines Grundrechts und werden sie durch den Akt der öffentlichen Gewalt verkürzt, dann handelt es sich um eine schutzbereichsrelevante Einwirkung. Diese Sichtweise führt im Ergebnis zu einem grundrechtlich gestützten Normbestandsschutz. 145 Fraglich könnte dabei allerdings sein, ob dieser für jede den Schutzbereich berührende Norm gilt oder ob besondere qualifizierende Merkmale hinzu kommen müssen. So schränkt etwa Lübbe-Wolff den von ihr auf der Grundlage eines erweiterten Eingriffsbegriffs entwickelten Ansatz eines Normbestandsschutzes dahingehend ein, daß lediglich Interventionen in Bestand und Geltung solcher Normen erfaßt werden, die grundrechtliche Ordnungsintentionen realisieren. Abwehrrechte bestehen daher nur gegen Veränderungen von in diesem Sinne „