Dr. Adolf Sydow: Ein Lebensbild [Reprint 2014 ed.] 9783111597713, 9783111222769

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Dr. Adolf Sydow: Ein Lebensbild [Reprint 2014 ed.]
 9783111597713, 9783111222769

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Dr.

A d o lf Sydow. Ein Lebensbild

den

Freunden

gewidmet

von

Marie Sydom.

M i t E. S y d v w s B i l d n i ß .

Berlin. Druck und Verlag von G e o r g R e i m e r .

1885. UUUUUUUUUWUUUUS

tfy< d s< T ^ > .

Dr.

Adolf

Z y - 0 V.

Si« Lebensbild den F r e u n d e n g e w i d m e t

von

Marie Sqdoro.

M i t A. S y d o w s Bi l d n iß .

Be rl in . Druck und Verlag von G e o r g R e im e r. 1885.

Dieses » Lebensbild", ursprünglich nur für den Familien- und engeren Freundeskreis bestimmt, und als Manuskript gedruckt, ist, um vielfach ausgesprochenen Wünschen zu genügen, nachträglich der Oeffentlichkeit übergeben. Ende 1884. M. S.

l*

Erstes Capitel. K i n d h e i t und E l t e r n h a u s .

Carl Leopold Adolf Sydow wurde am 23. November 1800 in Berlin geboren, und am 9. Dezember in der NicolaiKirche ebendaselbst getauft. Sein Vater, Otto Ferdinand Sydow, war Burgemeister in Charlottenburg, dem eine Stunde von Berlin entfernten Städtchen, der zeitweiligen Sommerrefidenz des Hofes. Die Mutter, Sophie Henriette, geborene Müncheberg, stammte aus der Familie eines unbemittelten Kaufmanns, der in Berlin in der Stralauerstraße ein kleines Geschäft besaß. D a nach damaligem Gesetz Berlin cantonfrei war, d. h. die in Berlin geborenen Knaben vom M ilitä r­ dienst befreit blieben, so suchte die Mutter es so einzurichten, daß die Kinder in Berlin geboren wurden, und erst nach er­ folgter Taufe aus dem großelterlichen in das elterliche Haus, das Rathhaus von Charlottenburg kamen. Dasselbe stand bis vor wenigen Jahren äußerlich unverändert, in der breiten Schloßstraße, und war ein einstöckiges, niedriges, fast bäuer­ lich aussehendes Haus, das zur linken Hand der Hausthür eine für die zahlreiche Familie sehr beschränkte Wohnung, rechter Hand die Amtsstube und daran grenzend das provi­ sorische Untersuchungsgefängniß enthielt. Zwei Giebelstuben mit geräumigem Boden und der an das Haus stoßende Garten

boten den Kindern allein die Möglichkeit etwas freierer Be­ wegung. D er Vater schon hatte seine Jugend unter E nt­ behrungen zugebracht. Wie er den Kindern wiederholt er­ zählte, hatte sein V ater den Adel abgelegt, um es, nach den Vorurtheilen der damaligen Zeit, seinen zahlreichen Kindern, besonders seinen Töchtern zu erleichtern, sich ihren Lebens­ unterhalt selbst zu verdienen, und während seiner Studienzeit in Halle hatte der Sohn neben kargen Stipendien sich haupt­ sächlich durch den Unterricht im Flötenspiel erhalten, das da­ m als zur Zeit des großen Königs vielfach gepflegt wurde. Z u seinen Studiengenofsen dort gehörte der später so bekannt gewordene Kanzler Beyme, und seinem Wunsche ist es wohl zuzuschreiben, daß nachher sowohl sein Gütercomplex, als der der Fam ilie von W inning dem Burgemeister Sydow in Char­ lottenburg als Patrimonialrichter unterstellt wurde. Aber trotz dieser Nebenstellung blieb das Einkommen der Char­ lottenburger Stelle ein so dürftiges, daß, als sich das Haus nach und nach mit sieben Kindern füllte, und die Kriegsnöthe, Truppendurchzüge und große Einquartierungslasten dazu kamen, die Eltern oft nicht wußten, wie sie die Kinder erhalten, ge­ schweige ihnen eine ihren Anlagen entsprechende Bildung ge­ ben sollten. D er V ater, welcher bei seinen M itbürgern als Ehren­ mann noch lange in gesegnetem Andenken geblieben, war zu seinen Kindern besonders zärtlich und liebevoll. D er Verkehr mit seiner Frau, für die er hochachtende Liebe empfand, hatte stets etwas ritterliches, und er war sich genau bewußt, daß er ohne ihr tüchtiges, resolutes W alten das Hauswesen nicht durch die kümmerlichen Jahre hätte durchlaviren können. Die M utter, der die eigentliche Erziehung der Kinder oblag,

schaltete mit Zucht und großer Strenge, ohne sie aber zu sehr in ihrer Freiheit zu beschränken.

Das tägliche Leben war

mehr als einfach. Fleisch kam nur ganz ausnahmsweise in's Haus.

Zu dem Kaffee,

der

getrunken wurde, mußten die

Kinder

erstdie Eicheln

aus

dem benachbarten Grunewald

holen, anderer Genüsse garnicht zu gedenken; Butter auf dem Brod haben sie z. B. erst sehr spät kennen gelernt.

Aber

zwei Festtage im Jahre waren, die im burgemeisterlichen Hause auch in den schwersten Zeiten aufrecht erhalten und gefeiert wurden, und zu denen der Vater während des ganzen Jahres in eine eigene Kasse zurücklegte; das war der 2. Januar, der Geburtstag der Mutter, und ein Tag vor Weihnachten, an dem die Eltern mit allen Kindern in einem gemietheten Wagen

nach Berlin aus denWeihnachtsmarkt fuhren.

2. Januar ging es hoch her.

Am

D a kam alles, was auch nur

entfernt verwandt war, aus Berlin und sogar aus Stettin herbei; da wurde weder an Kalbsbraten noch an Wein ge­ spart, und es verging kein Jahr, wo der Vater die Mutter nicht durch ein besonders überraschendes, kleines Angebinde erfreute und die Kinder anhielt, je nach ihren Kräften ebenso zu thun. Die Fahrten auf den Weihnachtsmarkt, der damals noch nichts von seinem Zauber eingebüßt hatte, bildeten nach der alten Hausordnung den Schluß der Arbeitszeit vor dem Fest, wenn die häuslichen Geschäfte, das alljährliche Schlachten eines Schweines, das Bereiten der Wurst, das Anfertigen der Talglichte für den ganzen Hausstand, was alles die Mutter selbst verrichtete, vor dem Fest erledigt waren.

Konnten die

Eltern auch keine Geschenke kaufen, so hielten sie doch darauf, daß der Weihnachtsbaum, als die Hauptsache des Festes nie fehlte, und das Aussuchen der Sachen, die zum Schmuck des-

selben dienten, war die wichtige Aufgabe, an der sich Groß und Klein bctheiligte. Ab und zu war es wohl einem der Kinder gelungen, sich durch kleinen Nebenerwerb, Ausstopfen von Vögeln, worin sie geschickt waren, u. bergt, in den Be­ sitz einiger Groschen zu setzen, und dann wurde alle List auf­ geboten, auch gleich heimlich auf dem Markt für die Eltern etwas Erschwingbares zu kaufen, denn Berlin, obgleich nur eine Meile von Charlottenburg entfernt, war doch von demselben durch den, damals noch völlig unwegsamen, jeder Chaussee entbehrenden Thiergarten getrennt, also schwer erreichbar. War dann das 'Weihnachtsfest und der 2. Jan u ar vorüber, so trat die alte, strenge Hausordnung wieder in ihr Recht, und Jeder kehrte zu seinen Pflichten zurück. D as war der Heimathboden, auf den Sydow bald nach empfangener Taufe verpflanzt wurde. Er war das vierte unter den sieben Kindern. Die beiden Schwestern (Dorchen und Sophie), von denen letztere 5, die andere 8 Ja h r älter waren, und ein 3 jähriger Bruder (Ferdinand) empfingen ihn und die Mutter aus der Schwelle des Elternhauses. Er war ein sehr zartes, ungewöhnlich kleines und schwäch­ liches Kind, und um der vielen Sorge willen, die er zuerst gemacht, der Mutter auch besonders an's Herz gewachsen. Dazu kam sein stilles und finniges Wesen, das ihn nicht über­ mäßig viel Freude an wilden und lärmenden Spielen finden ließ, so daß der ältere Bruder mit seinen Genossen ihn oft davon ausschloß. Drei Brüder wurden noch nach ihm geboren, Julius, Albert und Louis. Von diesen dreien war Julius, der ihm im Alter am nächsten stand, auch derjenige, mit dem er sein ganzes Leben lang äußerlich wie innerlich am nächsten verbunden blieb.

Die ersten Jugendjahre brachten dem Knaben schon Ein­ drücke, die für sein ganzes Leben unvergeßlich und bestimmend blieben. Friedrich Wilhelm III. und die Königin Luise lebten mit ihren Kindern wiederholt im Charlottenburger Schloß, und das patriarchalische Verhältniß damaliger Zeit und dieser Hofhaltung brachten bei der unmittelbaren Nachbarschaft der Burgemeisterei zum Schloß die verschiedensten Berührungen. Die Verehrung für die Königin, die den Kindern schon tra­ ditionell in Fleisch und Blut übergegangen sein würde, wurde durch die Nähe und die persönlichen Berührungen zu eigenem Empfinden. Und wie Sydow noch als Greis mit leuchten­ dem Auge von jener Zeit, von der unwiderstehlichen Erschei­ nung der Königin, von der Schlichtheit und Bravheit des Königs, von dem Leben Beider mit ihren Kindern sprach, so hatte er auch aus eignem Miterleben das volle Verständniß für den „glühenden Franzosenhaß", der in seinem elterlichen Hause, besonders seitens der Mutter gepflegt wurde, die in Napoleon I. auch den Zerstörer des äußeren Emporkommens ihres Hauses erblickte. Des Jahres 1806 dachte er schon mit eigner, selbständiger Erinnerung. Als am 21. September, dem Tage, an dem Friedrich Wilhelm III. zum Heer abreiste, bei windstillem Wetter vom Berliner Zeughause die Bellona herabstürzte und den Arm brach, pflanzte sich die Nachricht dieses bösen Omens pfeil­ schnell bis Charlottenburg fort, und „der Vater trat mit so bestürzter Miene in's Zimmer, als sei bereits eine Schlacht verloren". Lange ließ das Unglück auch nicht auf sich warten. Am 17. Oktober wurde die schon am 14. erfolgte Niederlage bei Jena und Auerstädt bekannt. Bereits nach 7 Tagen kam

der V ortrab der Franzosen dnrch Charlottenburg, und am 27. Oktober hielt Napoleon an der Spitze einer glänzenden S u ite, umgeben von seinen Leibmamelucken, seinen Einzug durch Charlottenburg nach Berlin. Die Ortsbehörden, an ihrer Spitze der Burgemeister, mußten ihn empfangen; Contributionen wurden in größtem Maßstabe auferlegt, Einquar­ tierung zurückgelaffen, kurz man befand sich in vollstem Kriegs­ zustände. Diese Lage der Dinge dauerte bis zum Dezember des folgenden Jah re s, wo die Feinde Berlin und seine Um­ gegend wieder räumten, um den preußischen Truppen, darunter Schill, der bald darauf zu einer Recognoscirung nach Char­ lottenburg kam, Platz zu machen. Dieser, Bernadotte, die schwedischen gelben Reiter, der „Leibmameluck" fast mehr wie die Person des großen Kaisers selbst, waren Eindrücke, die dem Knaben unauslöschlich blieben. Aber dieses Ja h r der Sorgen, des Kummers und der Entbehrungen schuf, wie er öfter erzählte, „den ersten Keim zum späteren langen Siech­ thum seines Vaters, und machten denselben zum alten M ann". Inzwischen war er mitten im Kriegsgetümmel in die Elementarschule des O rts gethan worden, und legte dort die ersten, freilich mehr als dürftigen Anfangsgründe seiner B il­ dung. Aber die beiden älteren Schwestern, die durch die Güte des General l'Estocq (des Siegers bei Preuß. Eylau), wel­ cher fie gemeinsam mit seiner Tochter unterrichten ließ, einen geordneten Bildungsgang genommen hatten, unterstützten den jüngeren, wissensdurstigen Bruder in seinen Lernbestrebungen, und so kam es, daß er sich unter diesen besonderen Verhält­ nissen des Französischen schon ziemlich bemächtigt hatte, ehe seine Altersgenoffen damit begannen. Dagegen mußte die Musik, die bisher mit Vorliebe gepflegt worden w ar, ver-

stummen. D as Elternhaus, in dem es gesungen und geklun­ gen hatte, war still geworden. D er V ater, der die Freude daran verloren hatte, hing seine Flöte an den Nagel. Geld zum Unterricht war nicht vorhanden, und das Klavier, das für die Töchter mit Opfern angeschafft war, mußte wieder in der Noth verkauft werden. B ei dem einen B ruder, Albert, machte sich in späteren Jahren seine besonders schöne B aß ­ stimme ohne weitere Anleitung selbständig geltend. Unser Sydow hat es in seiner Jugend als große Entbehrung empfun­ den, nicht Musik treiben, nicht Unterricht auf irgend einem Instrum ent erhalten zu können. S ein O rgan, so klangvoll beim Reden, war für das Singen nicht ausgiebig und be­ durfte oft der Schonung. S o mußte er mit seiner Freude und seinem großen, sinnigen Verständniß für Musik das Ge­ nießen hinausschieben, bis er in seinem eigenem Hause seinen Kindern gewähren konnte, was ihm selbst versagt geblie­ ben war. Am 1. Ja n u a r 1809 begann eine andere Phase des Ler­ nens. Ein Kreis wohlhabenderer Fam ilien nahm zusammen einen Privatlehrer, und forderte zu ihren eigenen Kindern die beiden ältesten Söhne aus der Burgemeisterei auf. Dieser, wenn auch noch in beschränkteren Grenzen sich bewegende Un­ terricht bot doch so viel Anregung, daß Sydow bei feiner regen und lebhaft entwickelten Wißbegierde schon dam als unter dem Druck der häuslichen Noth den festen Entschluß faßte dereinst zu studiren. Die Zeugnisse seines Lehrers Münnich aus jenen Jahren, der ihn bis Q uarta vorbereitete, find durchweg die besten. Nur eins aus dem Jahre 1810, in dem auch „seiner Lernlust, feinem Fleiß, seinem ruhigen, bescheidenen Betragen in der Schule, das nur selten einen

Tadel nöthig macht, seinen acht Arbeiten, die alle zu ganz vorzüglicher Zufriedenheit ausfielen", das gebührende Lob ge­ spendet ist, schließt sodann: „Bei alledem mußte ich mich wun­ dern, ihn einmal mitten unter einem Haufen Jungens zu finden, welche in einer ernsthaften Schlägerei begriffen waren." D ie kriegerischen Zeiten fingen an, auch auf ihn ihren Ein­ fluß zu üben, und als später die Zeit der Erhebung kam, wäre er, wie er oft als Mann sagte, „seinen Eltern davon­ gelaufen", wenn er nicht körperlich so Nein und schwächlich gewesen wäre. Neben der Schule lebte er mit regem Jntereffe in der Natur, pflegte die Kräuter und Pflanzen des Gar­ tens, legte fich Sammlungen von Mineralien und Schmetter­ lingen an und trieb dies alles so stetig und ernst, daß die Eltern, denen der Gedanke ihn studiren lassen zu können, un­ ausführbar schien, ihn auf die Apothekerlaufbahn hinzuleiten suchten. Er mußte fich in der Ortsapotheke nützlich machen und fand auch vorläufig Geschmack daran, doch konnte diese Beschäftigung seine Sehnsucht nach einem Studium, und schon damals ausgesprochen nach dem der Theologie, nicht dämpfen. Später nahm ihn in seinen Freistunden und Vakanzen der Vater seiner guten Handschrift wegen häufig auch als Proto­ kollführer mit, wenn ihn sein Richteramt auf die benachbarten adligen Güter führte, und hier lernte er zuerst den Verkehr in anderen Kreisen kennen, als ihm bisher in den beschränk­ ten, kleinen Verhältnissen zu Theil geworden war. Es fehlte von da ab auch nicht mehr an Einladungen für ihn selbst. Auch wurde er durch die dem Vater befreundeten Förster in die Künste des Schießens, Fechtens und Angelns eingeweiht, und sein Gesichts- und Jnteressenkreis erweiterte sich mehr und mehr.

Inzwischen waren im Jahre 1812, in Folge des Ver­ trages vom 14. Februar, die Franzosen noch ein M al, wenn auch als scheinbare Freunde und Verbündete, nach Berlin gekommen. Aber die Stimmung gegen sie war nicht mehr dieselbe unterwürfige wie 1806. Friedrich Wilhelm III., der für seine Person Verrath fürchten mußte, verließ auf das Anerbieten eines Schutz- und Trutzbündniffes des Kaisers Alexander in der Nacht von 19. zum 20. Jan u ar Potsdam, ging nach Breslau und berief Scharnhorst dorthin. Nun regte es sich von allen Seiten. I n Berlin rüsteten sich Frei­ willige und stießen zu dem von Osten mit seinen Kosaken heranrückenden General Tettenborn. Die Franzosen sahen sich deshalb genöthigt, in der Umgegend Berlin's beständig zu recognosciren. D a wurde an einem stürmischen, dem letzten Februar Abend 1813, an die Fensterladen des Charlottenburger Rath­ hauses geklopft, und der Adjutant der Bürgergarde, ein Gast­ wirth Kniese, ries den Burgemeister Sydow in die Amtsstube hinüber. Beim Ueberschreiten des Hausflurs fand er das Haus mit Franzosen besetzt. Die M utter in ihrer Angst folgte, den sehr kleinen 12 jährigen Adolf an der Hand, ihm nach. Drüben fanden sie den französischen General Poinyon, der den Vater in barschester Weise über den Stand der russi­ schen Truppen von Westen her ausfragte. Derselbe sagte, daß Kosaken unter General Tschernitscheff am selben Tage Baumgartenbrück besetzt hätten und daß den Franzosen der Rückzug über Potsdam abgeschnitten sei. D a begann der General so zu zittern, daß er nicht die Feder halten konnte, sondern sein Adjutant, ein junger, würtembergischer Offizier der Rheinbundtruppen ihm den Namen Baumgartenbrück

aufschreiben mußte. E r ließ vor dem Rathaus einen fran­ zösischen Doppelposten zurück, der Befehl hatte den Burgemeister bei irgend verdächtigem oder renitentem Verhalten sofort niederzuschießen, und befahl, ihm täglich genauen Rapport über die Stellung der Rüsten in der Umgegend nach Berlin, Unter den Linden Nr. 4 (dem jetzigen Kultus­ ministerium), wo sein Hauptquartier war, zu schicken. E r zog den Knaben, der halb versteckt hinter der Mutter stand, her­ vor und sagte, daß der Rapport diesem unter die Fußsohle in den Stiefel zu legen sei; Kosaken hätten Kinder gern, und so sei für sein Leben nicht zu fürchten, auch wenn die Vorhut derselben bereits im Thiergarten herumplänkeln sollte. E s folgten nun 24 Stunden größter Todesangst, beson­ ders für die Mutter und Kinder. Am nächsten Abend aber waren die beiden französischen Posten verschwunden, und in der Nacht vom 3. zum 4. März hatten die Feinde Berlin geräumt. Waren nun auch die nächsten Schrecken vorläufig abge­ wendet, so war doch noch nicht an Ruhe und Frieden zu denken. S tatt der Franzosen zogen Russen in's Quartier, und die Sorge um die tägliche Nahrung nahm zu. Am 17. April, dem Osterheiligabend, begann das Bombardement der Festung Spandau durch die Russen und Preußen, und dauerte drei Tage lang bis zum 20. April, dem dritten Oster­ tage. Die Granaten flogen bis nach Ruhleben, das zwischen Spandau und Charlottenburg liegt, und Sydow sah, als er mit anderen Genosten dem Schauspiel beiwohnte, sich plötzlich durch einen preußischen Feuerwerker gepackt, hinter einen Baum gezogen und niedergeworfen, in dem Augenblick, als eine

Granate auf den Fleck, wo sie gestanden hatten, niederfiel und krepirte.

Auch als der Juliusthurm in Spandau, durch

russische Granaten entzündet, in die Lust gesprengt ward, flogen die Stücke in lebensgefährlicher Weise bis in das Städtchen. Am 27. April räumten endlich die Franzosen nach langen Verhandlungen die Festung, um sich weiter zurückzu­ ziehen.

Aber endgültig wurde die Gefahr neuer französischer

Invasion erst abgewendet, als General von Bülow die Fran­ zosen etwa 3 Meilen südlich von Berlin bei Großbeeren schlug, und damit die Hauptstadt vor Plünderung bewahrte.

Auch

der Kanonendonner dieser Schlacht fällt in die unauslösch­ lichen Jugenderinnerungen Sydow's, und die Pflege Verwun­ deter, die die Genesenen der Spandauer Belagerung ablösten, brachten immer neue Sorgen in das elterliche Haus. —

Zweites Capitel. Gymnasium und Universität.

Unter allen äußeren Lasten hatten die Eltern aber die Entwickelung der Kinder nicht aus den Augen verloren. Nicht' länger glaubten sie sich dem Streben und der hervorragenden Beanlagung des Knaben entgegenstellen zu dürfen, und unter Noth und Kriegsgetümmel erwirkte der Vater ihm und dem 3 Jahre ältern Bruder Aufnahme in das Gymnasium zum grauen Kloster, oder, wie es damals hieß, in das „BerlinischKöllnische Gymnasium" in der Klosterstraße zu Berlin. War ihnen auch der Unterricht freigegeben, so mußten die Eltern

doch ihren Schulbedarf und ihren Unterhalt bestreiten, da die Freistellen des Alumnats oder, wie es dort heißt, der „Communität" nur für Schüler der beiden oberen Klaffen bestimmt waren.

Der Eintritt war offiziell am 1. J u li 1812 erfolgt,

jedoch waren die ersten 3/ t Jahr, häufig durch die Kriegsereigniffe unterbrochen, noch nicht zu ruhiger Sammlung ge­ eignet, so daß Sydow, der mit feinem Bruder zusammen nach Quarta gekommen, erst Ostern 1813 nach „Klein-Tertia" ver­ setzt wurde.

Es wurde in dieser ersten Zeit beiden Knaben

die große Vergünstigung zu Theil, gegen geringe Pension in der Familie des Professor Flöhrcke aufgenommen zu werden, der in der Französischen Straße Nr. 29, dem Hause, das der „Gesellschaft naturforfchender Freunde" bis heut gehört, die später vom Professor Ehrenberg bezogenen Räume bewohnte. Aber schon Michaelis 1813 hatte dies Verhältniß ein Ende. D er ältere Bruder, der nicht Neigung hatte, das Gymnasium weiter zu besuchen, verließ dasselbe, ging zur Landwirthschaft über, trat als Oekonomielehrling ein und zog im nächsten Jahr mit zu Felde.

D a brachte ein in Raten zu zahlendes

Lehrgeld und die Equipirung wieder unvorhergesehene, kaum zu erschwingende Ausgaben für das Elternhaus, neben denen vollends die Pension beim Professor Flöhrcke für den zweiten Sohn nicht beibehalten werden konnte, und unser Sydow mußte nun fortan früh Morgens

bei Tagesanbruch, im

Winter schon vor demselben, aus Charlottenburg aufbrechen, und Abends nach vollendeter Schule dorthin zurückkehren, mußte also 2 Meilen täglich zurücklegen. Es bedurfte für den schwächlichen und dabei zaghaften Knaben großer Selbstüber­ windung, diese beschwerlichen Wanderungen, Morgens und Abends in der Dunkelheit, bei Wind und Wetter, durch den

damals völlig wilden und unwegsamen Thiergarten zu unter­ nehmen. Seine jüngeren Brüder waren erst viel später für das Gymnasium reif, und Jahre lang mußte er diese Wege täglich ganz allein machen. „Wie oft habe ich“, so erzählte er, „den ganzen Weg laut gesungen, um mir die Furcht zu vertreiben.“ Durchschnittlich konnte ihm der Vater für sein Mittagbrod in der S tadt nur 15 Pfennige mitgeben. Während der ersten Zeit hatte man mit einer alten Verwandten des Hauses, einem Fräulein Henriette von Sydow das Abkommen getroffen, dem Knaben M ittags dafür einen Teller Suppe zu geben. Dieselbe hieß im Burgemeisterhause schlechthin nur „die alte Cousine“ , war bereits nahe an achtzig Jah r und lebte in der Wallstraße in einem Dachstübchen. Aber auch dies Verhältniß war nur von kurzer Dauer. D a sie körper­ lich schnell abnahm, suchte und fand sie selbst bald Zuflucht im Charlottenburger Hause, wo sie nach einigen Jahren ihr Leben beschloß. Fortan mußte nun der Knabe selbst für sich sorgen. „Ost“, so erzählte er, „habe ich mir nur für 5 Pfen­ nige Brod gekauft, oder wenn das mitgenommene Brod von Haus noch allenfalls reichte, mir für 5 Pfennige Coffent (das ist ganz verdünntes Braunbier) in einem Keller geben lassen, um Abends das neueste Extrablatt für meinen Vater kaufen zu können. Dann mußte man nach der Schule manch­ mal lange noch vor der Haube und Spener'schen Zeitungs­ expedition stehen, und wie oft geschah es dann, daß wir Kleinen fortgedrängt wurden und ich trübselig mit leeren Händen heimwanderte. Hatte ich aber glücklich eins erwischt, so eilte ich in halber Zeit nach Haus, damit mir nur kein Mensch zu­ vorkäme.“ I n dem Winter von 1814— 15 gestaltete fich's aber nach dieser Richtung hin günstiger. Ein Bekannter des S y d e w , Lebensbild. 2

elterlichen Hauses, der Kürschnermeister Breitschuh, gab dem Knaben wöchentlich zwei Mal, und ein reicher jüdischer Monn, namens Lewy, dem er durch sein offenes Wesen gefallen hatte, ein M al wöchentlich Freitisch. Bei den alten Breitschuh's aßen nach alt patriarchalischer Sitte Gesellen, Lehrlinge und Dienstboten mit der Familie am Tisch. Und da einer der Freitischtage auf den Donnerstag fiel, so aß man dann jedes M al dicke Erbsen, und zwar wie alles, aus einer gemeinsamen, zinnernen Schüssel, und an der Stelle wo Jeder saß, fand sich in einer Vertiefung der Erbsen die braune Butter mit Zwiebel und ein Stück Speck oder Pökelfleisch. — I n dem Lewy'schen Hause, wo ein wohlhabenderer Zuschnitt herrschte, machte man es sich zur Freude, nicht nur den Hunger zu stillen, sondern auf kindlichen Geschmack und Appetit Rücksicht zu nehmen, und Sydow empfand die Unterstützung, die ihm diese Frei­ tische gewährten, dankbar als etwas so Großes, daß er später als M ann in Amt und Würden, Jahrzehnte hindurch, an zwei TagLn der Woche immer mehrere bedürftige junge Leute bei sich am Tisch sah. Als besonderes Ereigniß dieses Winters betrachtete er auch, daß er sein erstes Weihnachtsgeschenk er­ hielt, und zwar ein paar warme Fausthandschuhe, die ihm der alte Kürschnermeister selbst gemacht hatte, das erste, das er überhaupt besessen. Nun konnte ihm nach seiner Meinung nicht Wind und Wetter mehr etwas anhaben. Unter diesen äußerlich so ärmlichen Verhältnissen, aber mit nicht zu brechendem, kindlich und freudig hoffendem Muth und ernstem Streben, durchlief er seine Schulzeit. D as graue Kloster hatte seinen Namen von dem dort früher angesessenen Franziskaner-Orden, dessen letzter Insasse im Jahre 1571 gestorben war. Kurfürst Johann Georg,

dessen Regierungsantritt zufällig mit dem Tode dieses letzten Klosterbruders zusammenfiel, und der sein Interesse vorzugs­ weise der Kirche und Schule zugewendet hatte, schenkte nach der Abwickelung der Geschäfte, die das Einziehen des Klosters mit fich brachte, einen Theil des Gebäudes mit der daran­ stoßenden Klosterkirche dem Magistrat von Berlin zur Er­ richtung eines Gymnafiums. Waren auch die Klaffenräume im Laufe der verflossenen zwei Jahrhunderte renovirt worden, so hatte doch das Ganze den Charakter des Klösterlichen be­ halten, um so mehr, als die Kirche mit ihrem Klosterhos und Säulengang intakt geblieben war. Aus dem freien Leben in der Natur war der Uebergang in die beengten Verhältniffc, sowie der Unterschied der bisherigen Lehrmethode zu der der öffentlichen Schule für den Knaben anfänglich ein fauer zu überwindendes Hinderniß. Die Anstalt stand seit dem Jahre 1804 unter der Leitung des Profeffor Joh. Joachim Bellermann. I n den unteren Klaffen war es der Rechenlehrer, der Subrektor Schabe, der dem bisher an die milde und freilassende Praxis des Privat­ lehrers gewöhnten Schüler zuerst den Ernst einer Schuldisciplin zum Bewußtsein brachte. Während derselbe mehrere Abtheilungen der Klaffe zu gleicher Zeit im Kopfrechnen be­ schäftigte, schritt er, ein Röhrchen in der Hand, das fich be­ ständig zitternd hin- und herbewegte, zwischen den Reihen aus und ab, und ließ es oft auf den einen oder anderen Rücken mit den Worten niederfallen: „es soll helfen, es m uß helfen, es wird helfen." Die Schüler hatten ihm bald da­ für den Namen „der Zauberer" beigelegt. I n Tertia er­ setzten ihn der Konrektor Schmidt und der Prorektor Seidel als Hauptlehrer. Alle drei blieben aber ohne nennenswerthen

Einfluß. Profeffor Heinfius unterrichtete im Deutschen unid in der Literatur. E r hatte den „Bardenhain" herausgegebem, der zu Deklamirübungen benutzt wurde, und sich selbst durah folgende selbstverfaßte Strophe unter die Barden aufge­ nommen: Wie kommt's, daß mit Gevatter Till, Dem Seiler, es nicht vorwärts will? Weil er das Gehen nicht versteht, Und immer vor- statt rückwärts geht!

D a derselbe das „ü" beständig wie „i" aussprach, sso nannten ihn die Schüler den „kihnen Barden". Aber die Begeisterung, die Sydow der deutschen Literatuir entgegenbrachte, und die durch Heinsius trotz seiner Sonder­ barkeiten doch kräftig genährt wurde, ließen ihn mit Damk auf diesen Lehrer zurüMicken. Und was er nicht in d«er Stunde las, das trieb er außerhalb derselben, und hattte schnell einen Kreis von Mitschülern um sich gesammelt, imit denen er sich in regelmäßigen Deklamirübungen versuchte, sfodaß er bald seinen Schiller in- und auswendig kannte. Ostern 1814 trat er in den Religionsunterricht dses Prediger Pappelbaum von der Nicolai-Kirche, den er erin Jah r lang besuchte, um dann in derselben Kirche, in der cer getauft w ar, auch sein Gelübde abzulegen. B is an's Endde sprach er von diesem Lehrer mit dankbarster Erinnerung aan feine persönliche Liebe und sein Wohlwollen, erkannte auuch während seines Unterrichts schon, daß die Richtung, die cer den Gedanken der Kinder gab und geben wollte, eine statt­ liche war, konnte aber damals noch nicht definiren, was ihhm erst bei reiferem Alter und eigenem Studium klar wurdde, worin es lag, daß sein innerstes religiöses Bedürfniß, woas er deutlich empfand, unbefriedigt blieb. Auch der Religionns-

unterricht auf der Schule erfüllte ihn nicht, sondern brachte ihn immer von neuem in Zweifel, die zu lösen erst einer spätern Zeit vorbehalten blieb. Dagegen begann von Secunda ab ein frischerer Geist in ihm sich zu regen als die Professoren Fischer, Köpke, Wählers und Woltmann (welche beiden letzten als Mitglieder des Seminars für gelehrte Schulen damals a Kloster unter­ richteten), seine Lehrer wurden, auf die er stets als die eigent­ lichen, Richtung gebenden Faktoren seiner allgemeinen Ent­ wickelung zurückblickte. Das systematische Studium der Mathe­ matik, die Naturwissenschaften, für die er von kleinaus so besonderes Interesse gehabt, sowie das Studium des Alterthums und der alten Sprachen fesselten ihn ganz. Homer, Livius und Lenophon, vor allem aber Tacitus waren es, die ihn in Begeisterung versetzten und nur durch den Sophokles noch überboten wurden, während ihm Horaz wenig sympathisch blieb. In jener Zeit beschäftigte er sich lebhaft mit metrischen Uebersetzungen dieser Schriftsteller, wie besonders auch des Plautus. Volle 64 Jahre später, im Jahre 1879, schrieb er seinem ältesten Enkel: „Von den beiden Büchern*), von denen Du vielleicht gerade jetzt (am Weihnachtstage) das erste, und morgen (am Geburtstage) das andere erhältst, bin ich gewiß, daß sie D ir gefallen und nützen werden. Indem ich sie prüfend durch­ gesehen, habe ich ein lebhaftes Gefühl davon gehabt, wie un­ geheuer der Fortschritt ist, den seit meiner Gymnasial- und Studienzeit die Hülfsmittel der Bildung gemacht haben. *) Lübker, Reallexicon des classischen Alterthums; Guhl, Leben der Griechen und Römer.

Dieser Vergleich von vor 50 und 60 Jahren fehlt D ir ja, aber die Früchte des Fleißes und die pädagogische Sorge treuer Forscher, Lehrer und Schriftsteller, werden zu mühe­ losem und anregungsvollem Grnuß der Jugend dargeboten, damit deren Kindern und Enkeln wieder die Bildung zu Theil werde, die uns, immer fortschreitend, eben dadurch zu­ geführt wird, daß wir M e immer dankbar aus den Schultern treuer Väter und Vorväter stehend, treu weiter arbeiten sollen! Wir haben, lieber Franz (das fasse einmal in Dein ern­ stes Nachdenken), zwei Hauptquellen der menschlichen Geistes­ bildung, die immer strömen und deren Untrennbarkeit sich recht in der Reformation bezeugte: „D as Alterthum und das Christenthum!" Von Unter-Secunda ab schon mußte Sydow durch Ertheilung von Nachhilfestunden den Eltern die Sorge um seinen eigenen Unterhalt ganz abnehmen. Doch trugen ihm diese Stunden neben dem Erwerb den sie brachten, auch Freuden ganz neuer Art ein. Im Sommer 1816 wurde er, als der älteste mehrerer Knaben, von deren Eltern mit der Führung auf einer Fußreise in das Riesengebirge betraut. Die Mittel, über die sie verfügten, waren so gering, daß fue auch bis an O rt und Stelle auf den Zufall besonderer F ah r­ gelegenheit gestellt waren, wollten sie nicht ganz zu Futz gehen. Sie kehrten an ihrem ersten Wandertage, müde unld. hungrig im Krug eines großen Dorfes im Spreewald eint, in dem der Polterabend einer Bauernhochzeit gefeiert wurde:. Ih re Streu hatte man ihnen unten in der Fuhrmannsstubee bereitet, da aber wegen des Lärmens an Schlaf nicht zm denken war, so zogen sie es vor, sich auch hinauf zu be--

geben, um wenigstens als Zuschauer die Nacht zuzubringen. D a wurden sie durch den anwesenden Prediger und den Schulzen des O rts in ein Gespräch gezogen, und sie wurden nicht nur bald der Mittelpunkt der allgemeinen Neugierde, sondern man veranlaßte sie, sich auch selbst an dem Fest zu betheiligen. So deklamirte Sydow, den man seiner Kleinheit wegen aus einen Tisch stellte, eine Reihe Schiller'sch?r Balladen, die einen derartigen Eindruck machten, daß man ihnen ihre Tornister mit Eßwaaren aller Art füllte, und einen Fuhrmann bestimmte, sie erst selbst andern Tages eine Strecke Wegs mitzunehmen und für ihre weitere sichere B e­ förderung bis an ihr Reiseziel zu sorgen. I m nächsten Jahr, wo Sydow eine Art Hauslehrerstelle im Hause des Apotheker Bergemann bekleidete, betraute man ihn wieder mit der Füh­ rung der Söhne desselben. Dies M al besuchten sie die säch­ sische Schweiz und Dresden, und der letztere O rt übte einen solchen Zauber auf ihn aus, daß derselbe später alljährlich, bis an sein Lebensende, das Ziel eines, wenn auch noch so kurzen, Ausflugs wurde. I n dieses Jahrzehnt fällt auch das Austreten Jahn's und die Begründung des Turnwesens. Sydow trat mit Be­ geisterung in diese Bewegung ein, die durch Jahn's Einfluß ja nicht wenig zur Erhebung des deutschen Volkes beigetragen hat. Er wurde selbst bald Vorturner, und gehörte zu dem engeren Kreise, den Jahn um sich sammelte. Aber Jah n 's persönliches Wesen wirkte abstoßend auf ihn; er hatte es bei verschiedenen Veranlassungen mit ansehen müssen, wie sich derselbe zu Rohheiten hinreißen ließ, konnte auch der ganzen Sitte nach, in der er ausgewachsen war, sich mit dem selbst­ bewußten Betragen, das durch Jahn's Art und Weise in

den Knaben großgezogen wurde, nicht befreunden, so dag. obgleich er auch noch während seines ersten Studienjahrrs den Turnern angehörte, und die ideale Seite, die in diesem Aufschwung lag, begeistert festhielt, er das Band zu Jahn persönlich doch bald gelockert fühlte. Inzwischen war er. nach Prima gekommen, geistig stetig gefördert, körperlich Nein, zurückgeblieben, oft Krankheitsansällen ausgesetzt. D a lautete der Rath der Lehrer, nachdem er das letzte Halbjahr seines zweiten Jahres in der Klasse bereits Selectaner und primus omnium gewesen, ihn seines zarten Körpers wegen noch ein halbes Jah r vom Studium zurückzuhalten. E r sang damals (17 7, Jahre alt) noch Diskant. Schwer wurde es ihm, in diesen Beschluß, den wirtlich nur die Fürsorge diNirt hatte, zu willigen. Im Laus des Sommers 1818 hatte sich bei seinem Vater die tödtliche Krankheit, die die Sorgen der Kriegsjahre entwickelt hatten, so ausgebildet, daß ein baldiges Ende zu fürchten war, und wenn dies eintrat, war er die einzige Stütze und der E r­ nährer seiner Mutter, seiner zwei Schwestern und drei kleine­ rer Brüder, von denen der jüngste erst im neunten J a h r stand. Auf den drei Jahre älteren Bruder, der selbst Kosten machte, konnte nicht gerechnet werden. Aber sein eigner Vater rieth ihm, sich dem bessern Einsehn der Lehrer zu fügen, nicht ahnend, daß sein Ende so bald bevorstand. S o begann Anfang Oktober das neue Semester, und schon am 31. Oktober 1818 schloß der Vater die Augen. Der Mutter, die mit einer Pension von 200 Thalern zurückblieb, wurde gestattet, bis Ostern 1819 noch im Amtshaus in Charlottenburg wohnen zu bleiben, wo sie dann nach

Berlin überfiedelte, um mit den sechs jüngeren Kindern ver­ einigt zu bleiben. So absolvirte denn Sydow im März 1819 sein Abitu­ rientenexamen mit dem Zeugniß No. E in s. Seiner Auffüh­ rung, seinem Fleiß, seinen Kenntnissen, wurde darin unbe­ dingtes Lob gezollt. I n den drei alten Sprachen, dem He­ bräischen, Griechischen, Lateinischen drückte er fich schriftlich, in letzterem auch mündlich mit Gewandtheit aus, ebenso im Französischen und Italienischen. Besonders hervorgehoben wurden seine Leistungen im Deutschen, wo er fich im Nach­ bilden der alten Silbenmaße und durch gute Aufsätze ausge­ zeichnet hatte, ferner in der Geschichte, vor allem aber in der Mathematik. „Die Lehrer," so schließt das Zeugniß, „ent­ lassen ihn in der festen Hoffnung, daß er aus der.Universität die Wissenschaften mit gleichem Eifer wie auf dem Gymna­ sium betreiben und nichts verabsäumen wird, fich zu einem tüchtigen Gelehrten und wackern Staatsbürger auszubilden, und wünschen ihm zur glücklichen Fortsetzung seiner Studien wohlwollende Gönner, deren er fich durch untadelhaste Sitten, durch Fleiß und Bescheidenheit stets würdig gezeigt hat." — Und diese Gönner fanden fich auch, oder vielmehr sie hatten sich schon gefunden! D as Abgangszeugniß wurde am 16. März 1819 ausgefertigt, und fast gleichzeitig damit erhielt Sydow eine Zuschickung vom 11. Februar 1819 ausgestellt: I n der Sitzung vom 10. bereits hatte das Kuratorium der Schindlerscheu Legaten-Kafse, deren zeitiger Rendant der Archidiakonus Dr. theol. Pappelbaum, der ihn confirmirt hatte, war, einstimmig beschlossen, ihm ein jährliches Stipendium von 80 Thalern auf 2 Jahre, von Ostern 1819 bis Ostern 1821 zu verleihen. — Am 3. April 1819 wurde er durch die An-

zeige überrascht, daß die große Freimaurer-Loge zu den 3 Weltkugeln, der sein Vater angehört hatte, in deren Auftrag Bellermann, sein langjähriger Direktor, gezeichnet hatte, ihm das Zöllner'sche Freimaurer-Stipendium von 50 Thalern für das Jah r 1819—20 zuerkannt habe. Und am 9. April folgte „das Collations-Patent" einer Rate des großen Kurmärkischen Stipendiums, von jährlich 100 Thalern auf 3 Ja h r, vom 1. April 1819 bis dahin 1822, mit der Unterschrift des M nisters Altenstein. 230 Thaler waren ihm somit für das erste J a h r, 180 Thaler für das zweite, und 100 Thaler für das dritte sicher. So war ihm also die Möglichkeit gegeben, in das theolo­ gische Studium eintreten zu können, auf das er während des letzten trüben Winters oft geglaubt hatte verzichten zu müssen, da der Vater ihm vor dem Sterben die Sorge für die Mutter und Geschwister an's Herz gelegt hatte. — Er bezog nun mit der M utter, die seit dem Tode des Vaters beständig, kränkelte, und den fünf Geschwistern eine kleine beschränkte: Hofwohnung in der Neuen Friedrichsstraße Nr. 4, brachte: die jüngsten beiden Brüder zuerst auf Privatschulen, während, der ihm zunächst stehende Bruder Ju liu s das Gymnasium! besuchte, dann in das Friedrich-W ilhelms-Institut aufge­ nommen wurde, von wo er nach beendetem medizinischen! Studium die militairärztliche Laufbahn einschlug. Alles diess erforderte selbstverständlich, neben eigenem Studium, dauern-den Unterricht als Nebenerwerb zu suchen, der ihm an derr Gehse'schen und später Gropius'schen Töchterschule, sowie im verschiedenen Privatcirkeln übertragen wurde. Am 1. April 1819 wurde er immatrikulirt. Marheinekee war zeitiger Dekan der theologischen Fakultät. Dieserx,

De Wette, Boeckh, Tholuck, Schleiermacher und August Neander, besten besonderer Lieblingsschüler er wurde und besten Seminar er auch besuchte, waren seine hervorragendsten Lehrer. D as erste Ja h r seines Studium s ging ihm, wie er lebhaft empfand, „in Bezug aus religiösen und theologischen Gewinn zum großen Theil verloren". Als Jahn'scher Turner und Mitglied der Burschenschaft wurde er wider Willen viel­ fach von seinem Streben abgezogen. Die Burschenschaft, die die sich erst nach dem bekannten Wartburgfest 1817 in Berlin gegründet, hatte schon lange die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich gezogen, und hatte sich nun so viel Zündstoff ge­ sammelt, daß dieselbe glaubte, nachdrücklich vorgehen zu müssen. — Kotzebue's Ermordung durch Sand hatte statt­ gefunden, und De Wette, der eine theologische Proseffur in Berlin bekleidete, hatte der Mutter Sand's einen Trostbries geschrieben, und so mußten denn dieser, Jahn und eine An­ zahl von Mitgliedern des befreundeten Kreises zuerst ein in­ quisitorisches Untersuchungsverfahren vor der Königlichen Jmmediat-Untersuchungs-Commisfion unter dem Regierungs­ Rath Tschoppe bestehen, nachdem ihre förmliche Verhaftung voraufgegangen war. Die mildere Form, der sich auch Sydow unterwerfen mußte, war eine Vorladung vor das Unlverfitätsgericht. Nach dem Verhör, in dem er mit größtem Freimuth und voller Offenheit sowohl seine Betheiligung zu­ gegeben, als auch seine Ansichten über die ganze Bewegung dargelegt, wurde er einfach, ohne jede Verwarnung entlasten, während man Jah n erst nach Spandau, dann nach Küstrin brachte, De Wette seiner Proseffur verlustig ging und aus Preußen ausgewiesen wurde, und einige nähere Freunde, Eyffenhardt (später Prediger an S t. Nicolai) und 'Andere

ebenfalls mehrere Jahre Festungshaft erhielten. Sydow hat es öfter beflagt, daß durch das radikale Eingreifen der Reak­ tion neben den Auswüchsen, die beschnitten werden sollten, viele Blüthen jugendlich idealer und patriotischer Begeisterung geknickt wurden, aus deren Keim man für die Zukunft noch viel edle Früchte hätte ziehen können. — I n seinem zweiten Semester, Winter 1819—20 hörte er Schleiermacher, der zum ersten M al „das Leben Jesu" las und dasselbe als eigene Disciplin in die Theologie einführte. Die Segnungen der Stenographie waren noch nicht er­ funden. Sydow hatte sich aber eine eigene Chiffreschrift zu­ recht gemacht, deren er fich auch für seine Privataufzeichnun­ gen bis an sein Lebensende bedient hat, wenngleich sie zulcht sehr lückenhaft geworden war. Dieses Kolleg Schleiermacher's, das er kein M al versäumt, konnte er sonach wörtlich mit­ schreiben. Schon in die erste Stunde desselben fällt eine Be­ gegnung, die auch für seine spätere Entwickelung bedeutsam wurde. Einer seiner Commilitonen trat aus ihn zu, ange­ zogen, wie er sagte, nur durch „den Freimuth und die Kind­ lichkeit seiner Erscheinung", und an diese erste Berührung knüpfte fich eine Freundschaft, die nur der Tod endete. Es war F ra n z C l a u d i u s , der älteste Sohn von M atthias Claudius, dem „Wandsbecker Boten". Gemeinsames Studium und gemeinschaftlicher Freundeskreis hielt fie zusammen. Sie arbeiteten regelmäßig die Kollegien miteinander aus, disputirten, und Sydow fand in dem mehrere Jahre älteren Freunde einen immer hilfreichen Rathgeber und die Bewah­ rung vor äußerlich abziehenden Dingen. Claudius selbst kam auch aus einem ehrbaren, frommen Bürgerhause, in dem der in jener Zeit herrschende, gutartige Pietismus vollsten

Ausdruck fand. Bei dem Sohne, der nebenbei unter dem Druck schwerer körperlicher Leiden lebte, hatte diese Richtung aber eine andere und schärfere Form angnommen, und es konnte bei der Unentwickeltheit und dem noch mangelnden Verständniß, sowie bei Sydow's großer Zugend nicht aus­ bleiben, daß der Freund nach dieser Richtung hin, bald einen sehr bestimmenden Einfluß auf ihn ausübte. M it seinem, in Schule und Confirmandenunterricht unbefriedigt gebliebe­ nen religiösen Bedürfniß griff er nach der rettenden Hand, und gerieth selbst bald in eine Enge und Pietistische Richtung hinein. Zm Sommer 18*20 begleitete er Claudius nach Wandsbeck in dessen Elternhaus. Der Vater M atthias war bereits 1815 gestorben, aber die Mutter Rebecca lebte als würdiges Oberhaupt des kinderreichen Hauses. Die An­ regung, die er durch diese Reise, das Leben in Wandsbeck, den Anblick Hamburg's, sowie durch das Leben dort, im Hause von Friedrich Perthes, dem bekannten, verdienten deut­ schen Buchhändler, der die älteste Tochter des Claudius'schen Hauses heimgeführt hatte, empfing, wirkte schon geistig und körperlich erfrischend und erhebend auf ihn. — Der weitere Weg führte sie nach Bremen, wo sie die Bekanntschaft des tieffinnigen Schrifttheologen Menken machten. Dieser nun ließ es fich nach kurzer Berührung angelegen sein, fich ans das Eingehendste über den theologischen Bildungsgang, den beide junge Leute bisher genommen hatten, zu unter­ richten. Und die mehrtägige Berührung mit ihm, der fie gastfrei in sein Haus nahm, wurde für Sydow „der erste Schritt zur Befreiung aus einer Richtung, die ebensowenig wie der nüchterne Rationalismus, der ihm inseiüem Reli-

gionsunterricht nahe getreten, geeignet gewesen war, seinen Kopf und sein Herz zu befriedigen." Wurde er auch, wie er später selbst sagte, nicht „Menkenianer", so hat er ihm doch bis zuletzt gedankt, daß er durch ihn wieder zu ernstem, selbstständigem, freiem und vorurtheilslosem Studium kam, und das Studium der Werke Menken's ging während seiner Univerfitätsjahre neben den Studien für seine Kollegien her. Aber, wie zur Befestigung dieser neuen Phase für sein inneres Leben fügte es sich, daß er, der den Freund, seiner Gesundheit wegen, von Bremen nach Ems be­ gleitete, dort zufällig Wohnung in einem Hause fand, in dem auch Professor August Neander kurz zuvor abgestiegen war. Dieser trat mit beiden jungen Leuten bald in den anregend­ sten Verkehr, und bewahrte für Sydow von da ab, neben be­ ständigem Interesse, eine lebhaft fürsorgende Theilnahme. Er leitete ihn vor allen Dingen zuerst auf das gründliche S tu ­ dium der Kirchengeschichte hin, regelte fortan seinen ganzen Studiengang, und stand ihm mit Rath und That bei. So begann er das Wintersemester 1821 — 22. Seine Freundschaft mit Claudius, der tiefer in die beengenden Schranken dogmatischer Rechtgläubigkeit verstrickt war, hatte nicht das Mindeste von ihrer Herzlichkeit eingebüßt. Im Gegentheil bot das Auseinandergehen ihrer Ansichten ihnen nur Gelegenheit zu ernsterem gemeinsamem Studium, und n ie hat auch im späteren Leben die oft verschiedene Anschau­ ungsweise die leiseste Trübung hervorgebracht, sondern haben beide stets von einander zu lernen gewußt. I n dieser Zeit hatte Sydow Gelegenheit, Claudius in Schleiermacher's Haus empfehlend einzuführen, in dem derselbe einige Zeit als Hauslehrer von dessen Stiefsohn, Ehrenfried von Willich, blieb.

Die Berliner Universität war gerade in jenen Jahren der wichtigste Mittelpunkt geistigen Lebens in Deutschland. Zwei Persönlichkeiten drückten ihr aber besonders den Stempel einer geistigen Werkstätte für eine neue Epoche auf: Hegel und Schleiermacher. Hegel und seine Philosophie hat keinen dauernden Ein­ fluß auf Sydow geübt. Noch in seiner letzten literarischen Veröffentlichung') urtheilt er folgendermaßen über sie: „Die philosophische Denkart hat „ „seit dem großen Krach der Hegel'schen Philosophie"" — wie man es wohl aus­ drücken hört — durch die Erstaunen erregenden Fortschritte der Naturwissenschaften einen überraschenden Umschwung erfahren. Vor Jahren blühte bei uns in einem idealistischen System die Philosophie des absoluten Geistes. Einflußreiche Männer in Staat und Kirche, Schule und Wissenschaft lauschten dem Wort derselben, und gaben ihr namentlich im Blick aus po­ litische Anwendung Kredit für die Vernünftigkeit ihrer selbst und alles dessen, was ist. Heute steht das realistische System des Materialismus, der sich durch die Hereinnahme der Darwinschen Entwickelungslehre.zu dem sogenannt „moder­ nen" vollendet hat, mit verblendender Zuversichtlichkeit aus dem Plan, als die Philosophie der absoluten Natur". Sydow wendet sich dann entschieden gegen den falschen An­ spruch beider Systeme „das tiefste Räthsel des Dualismus vom Geist und Natur gelöst zu haben". Schleiermacher's Einfluß dagegen aus ihn war ein tief­ greifender. War sein persönliches Verhältniß zu diesem Lehrer während seiner Studienjahre auch nie ein näheres, *) Religion in ihrer Stellung zum modernen Materialismus. Rede von Dr. Martineau, überseht von Ad. Sydow. Berlin. 1878 (stehe Vorrede).

so lernte er doch schon damals in ihm, wie er bis zuletzt oft aussprach, „den unbestrittenen Regenerator der deutschen Theologie" verehren. Er sah in ihm das Vorbild eines Kanzelredners, und hat unter Allen, die zu seinen Füßen gesessen haben, mit am tiefsten und kräftigsten aus dem reichen Born dieses Meisters geschöpft, und ja auch später im Ver­ ein mit andern Freunden seine nachgelassenen Werke der Welt zugänglich gemacht. Er verdankte ihm für seinen theo­ logischen und religiösen Standpunkt die kräftigste Anregung und die b leib en d e Richtung, ganz b e so n d e rs in B e z u g au f die W ü rd ig u n g der P e rs o n des E rlö se rs. Im Jahre 1837 sagt er in der Vorrede der durch ihn herausgegebenen Predigten Schleiermacher's über das J o ­ hannes-Evangelium*): „Wie der Jünger, dessen Schrift er uns auslegt, ruht Schleiermacher hier an der Brust des Er­ lösers; was er da erfahren und geschaut, das deutet er uns und verkündet in immer neuen Wendungen die Herrlichkeit des Fleisch gewordenen und ewig Fleisch werdenden Wortes. Wie in der gläubigen Anschauung dieser Herrlichkeit Schleier­ macher's ganzes Wesen wurzelte, wie fie allein seinem eben­ so tiefen als scharfsinnigen Geiste versöhnend die letzten Räthsel unseres Daseins gelöst, wie fie unter den vielseitigsten Entfaltungen der Thätigkeit ihm eine stille Einfalt, einen ewigen Frieden des Gemüthes als unzerstörbares Eigenthum sicherte, wie sie, über jede Verkümmerung hinaushebend, ihm die Welt zu einem heiteren Schauplatz göttlicher Weisheit und Liebe verklärte, und wie ihm hieraus gleichermaßen jene leidenschaftslose Milde und Gelassenheit, wie jener ftohfinnige, *) Vgl. Schleiermacher's Werke. Predigten. Band VIII, Seite IX

freie und kräftige Gebrauch des Lebens entsprang, — das wird dem empfänglichen Sinn aus diesen Vorträgen verständlich". Und weiter hebt er klar darin hervor, wie Schleier­ macher „durch den Umschwung, den er mit überwältigender Begeisterung der Theologie gegeben, ihm und V ielen , die sich einer gründlichen Verständigung über ihr religiöses Leben nicht entschlagen wollten, zum Retter geworden, aus der L eerheit oder aus der Knechtschaft". Wenn Sydow auch in seiner späteren selbstständigen inne­ ren Entwickelung in einzelnen Punkten über Schleiermacher hinausging, wie z. B . in der Austastung der kirchlichen Dreieinigkcitslehre, n ie m a ls betraf die Abweichung seiner späte­ ren Ansichten die Bedeutung der Person des Erlösers, so­ wohl für das geschichtliche Verständniß des Evangeliums, als auch für die persönliche Stellung des Herzens zu Jesus. Und sein ganzes späteres Leben, seine kirchliche Wirksamkeit, seine Stellung zu den kirchlichen Partheien, alles nur führt immer wieder zurück auf die tiefe und enge Verbindung seines eigenen persönlichen religiösen Lebens mit diesen maßgeben­ den Einwirkungen seiner Studienjahre. Zu den einflußreichen Männern jener Zeit gehörte auch Tholuck, den Sydow aus Neander's Rath wiederholt hörte, und dem er nach seiner eigenen Beurtheilung zuerst sog ar für die Befreiung aus Pietistischen Banden sich dankbar verpflichet hielt. Später freilich, als derselbe nach Halle über­ gesiedelt war, vermochte er nicht mehr thut in der von ihm eingeschlagenen Richtung mit Sympathie zu folgen. Auch M arheineke hatte keinen ausgesprochenen Einfluß auf ihn, und ebenso konnten ihn, wie er sagte, D a u b 's „Theologumena", die er damals studirte, nicht dauernd fesseln. S y d o w , Lebensbild.

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Nach kurzer Begeisterung wandte er fich, wie er selbst erzählt, „vom innersten Bedürfniß der menschlichen Natur geleitet, und durch die Schriften Friedrich Heinrich Jacobi's darin be­ stärkt, dem Glauben an den „persönlichen, freien , heiligrn G ott" zu, — welchen er dann nie wieder »erlassen. Zn einem bei seinem späteren theologischen Examen dem Confistorium übergebenen „Lebenslauf" bekennt er selbst, wie er die verschiedenen Stadien seiner theologischen Entwickelung während der Studienzeit, durchlaufen. Wie zuerst der Ent­ schluß, Theologe zu werden, nicht aus der Kirche und Schule, sondern aus dem Vaterhause, aus dem sichtbaren Walten Gottes in der Weltgeschichte, in ihm geweckt worden, und das eigene innere Bedürfniß in ihm erwachsen sei. Er gedenkt der „halb unbew ußten F röm m igkeit seiner K naben­ jahre a ls einer ihn suchenden G nade G o tte s" , und spricht dies auch in seiner ersten Predigt auf das deutlichste und überzeugendste aus, wie „nur die innere Stimme ihn zum Theologen und Geistlichen gemacht"'). Neben aü diesen tiefernsten Bestrebungen der Studien­ jahre, um sich für seinen eigentlichen Beruf zu festigen und zu läutern, stand er aber auch zur selben Zeit gesellig in einem ausgesuchten Kreise gleichstrebender frischer Jünglinge, die ihre Mußestunden in idealster Weise ausnutzten. D ie beiden Brüder Wilhelm und Philipp W ackernagel, die ihm damals besonders nahe standen, der später so bedeutend gewordene Schweizer Theologe H agenbach, zwei andere lie­ benswürdige Landsleute von ihm, Sarazin und Fröhlich, Kläden (nachmals Prediger am Schindler'schen Waisen*) Sammlung geistlicher Vorträge.

Haus), sowie Eichendorff und Cham ifso, die sich zu ihnen gesellten, bildeten den Kreis, beut noch Dieser und Jener bei­ trat. M an dichtete, man sang, man begeisterte sich an dem Aufschwung, den die deutsche Literatur genommen hatte, und manche laue Sommernacht ist damals von ihnen in Kemper Hof (der jetzigen Victoria-Straße), wo sie fich zusammen­ fanden, durchwacht worden. Nun aber erfolgte für Sydow's körperliche Entwickelung eine nicht unbedenkliche Episode. Zurückgeblieben und klein vom Gymnasium entlasten, war er plötzlich in einem ein­ zigen Ja h r, seinem ersten Studienjahr, bis beinahe zu der imposanten Erscheinung emporgewachsen, in der man ihn später, bis zum 82. Jah r fast ungebeugt, einherschreiten sah, die aber damals bei der schwachen, engbrüstigen und gebeug­ ten Haltung zu den ernstesten Besorgnissen Veranlassung gab. 5 Fuß und 11 Zoll giebt das Untersuchungs-Attest, an, das ihm bei seiner Meldung zum M ilitärdienst ausgestellt wurde (ein M aß, das fich später auf 6 Fuß 3 Zoll noch änderte), und laut dessen er „wegen Brust- und allgemeiner Körper­ schwäche fü r im m er als unbrauchbar für den Königlichen Militairdienft im Felde, wohl aber noch als tauglich zum Garnisondienst gehalten wurde". Die Entbehrungen der Kindheit, das fortgesetzt angestrengte Arbeiten zugleich für das eigene Studium und für die Erhaltung der ©einigen, hatte schließlich auch über die größte, ihnen entgegengestellte Willenskraft den Sieg davon getragen.

Drittes Capitel. C ad et t en go uv er n e u r und Prediger.

D a s dritte Studienjahr neigte sich zu Ende, und Sydcw meldete sich zwischen Weihnachten und Ostern 1822 zur ersten theologischen Prüfung, nachdem er einen ersten Anfall vin Lungeneytzündung eben glücklich überwunden hatte. D a über­ raschte ihn im Februar die Aufforderung des Generals von B ra u s e , damaligen Commandeurs des Berliner Cadettcncorps, sich bei ihm einzufinden. Derselbe eröffnete ihm, daß seine früheren Lehrer vom grauen Kloster, Wohlers und Woltmann, welche daneben auch Unterricht an der Cadettenanstalt er­ theilten, ihn zu einer eben vacant gewordenen Civilgouverneuroder, wie es damals hieß, Repetentenstelle am Corps warm empfohlen hätten. Freilich verhehlte der Chef ihm nicht, daß er durch seine große Jugend und die knabenhaft aufge­ schossene Erscheinung überrascht sei, und befürchte, daß es ihm nicht gelingen werde, sich in den nöthigen Respekt zu setzen, da unter den Prim anern und Selektanern Jünglinge von fast gleichem Alter seien. E r wollte also den Ausweg treffen, einen älteren Lehrer aus Kulm, einem der Vorcorps, nach B erlin zu berufen und Sydow dorthin als Ersatz zu schicken, wo die jüngeren Cadetten vorbereitet wurden, bis sie für Tertia reif waren und die Hauptcadettenanstalt B erlin be­ zogen. Sydow lehnte dies entschieden ab, weil er als ein­ ziger Ernährer seiner Familie an Berlin gebunden, und ver­ ließ den General in dem Glauben, daß die Sache gescheitert sei. D a erhielt er am nächsten Tage in einem sehr wohl­ wollenden Schreiben desselben die Aufforderung, sich an dem

darin bestimmten Datum zu der für die Besetzung der Ber­ liner Stelle nöthigen Prüfung einzufinden. Der General von H üser, der die mündliche Prüfung überwachte, äußerte ihm noch seine besondere Anerkennung über die schriftliche Prü­ fungs-Arbeit, die das Thema behandelte: „welchen Einfluß hat die Mathematik als pädagogisches Hülfsmittel?", und nachdem das Gesammturtheil des Examens auf „vorzüglich" ausgesprochen war, zögerte man nicht, ihn sofort anzustellen. S o trat er am 1. März 1822, also noch vor Beendigung des Trienniums mit 21'/, Jahren in den Staatsdienst. Auf Rath seiner neuen Vorgesetzten kam er beit» Konsistorium trotz schon vorhergegangener Meldung nun um vorläufigen Aufschub der theologischen Prüfung ein, bis er fich erst in seiner ihm noch fremden Thätigkeit zurechtgefunden haben würde. D ie Repetentenstellen wurden vorzugsweise mit jungen Theologen besetzt, von denen jeder Compagnie der Anstalt Einer zuerthcilt war. Es lag ihnen ob, „die Aneignung des überreichen Lehrstoffs an den Geist der jungen Leute durch wissenschaftliche Repetitorien zu vermitteln und die Kontrolle über die häuslichen Arbeiten zu führen. Zweimal in der Woche hatten fie das Morgengebet zu verrichten und an den Sonntagen, an denen die Gesammtanstalt die Kirche nicht besuchte, lag ihnen auch das Abhalten von Gottesdiensten im engeren Kreise der Compagnie.ob". Aeußerlich waren diese Repetentenstellen nicht so dotirt, daß fie zur Erhaltung eines ganzen Hauswesens dienen konnten; so blieb also Sydow auch ferner daran gewiesen, die Stunden, die ihm der Dienst frei ließ, auf das Aus­ giebigste weiter für Privatunterricht zu verwenden. Sein

eigenes theologisches Studium mußte er nun auf die Nackt­ stunden verlegen. Und vom Jahre 1821 ab begann er bitse Art der Lebensführung, sich nur von 2 , 3 oder 4 Uhr ib Schlaf zu gönnen, die er bis zum Jahre 1876, wo er a»s dem Amte schied, durch die Verhältnisse gezwungen, beibehielt. Sein reiches, arbeitsvolles Leben war mit ganz kurzer Unter­ brechung bis zuletzt derart, daß er nur nach vollbrachten Tagewerk, mit Zuhülfenahme der Nacht die Zeit gewinnen konnte, die er dem ihm zum Bedürfniß gewordenen täg ­ lichen Studium der Schrift widmete, und die er brauchte, um in seiner Mffenschast immer auf der Höhe zu bleiben. So wurde es ihm einzig und allein möglich, bis in sein Greisenalter Notiz zu nehmen von fast jeder bedeutenden neuen literarischen Erscheinung auf theologischem und philo­ sophischem Gebiet, das ihm Wichtige eingehenderem Studium zu unterziehen, und dann noch immer ein Stündchen Zeit zu erübrigen, in dem er sich an seinen Klassikern erquicken konnte. D as waren die Quellen, aus denen er immer wieder Geist, Frische und Leben schöpfte, und die ihn vor jeder me­ chanischen Handhabung seines Amtes zeitlebens bewahrt haben. Er hat es als älterer Mann seinen theologischen Freunden öfter ausgesprochen, wie er es von jeher als seinen größten Gewinn angesehen habe, nicht blos einzelne Theile der Bibel, sondern auch im Zusammenhange die Bücher des alten, namentlich aber des neuen Testamentes wieder und wieder durchzulesen, und zwar bald in der Ursprache, bald in der Uebersetzung, bald mit, bald ohne Commentar. Aus diesen engen und ununterbrochenen Zusammenhang mit der Quelle und Urkunde unseres Glaubens war die religiöse Vertiefung und Befestigung desselben in ihm, sowie die Selbstständigkeit

des religiösen Denkens und die Freiheit seines theologischen Urtheils gegründet. Der Kreis, in den Sydow als Repetent bei der Anstalt eintrat, war besonders glücklich zusammengesetzt. Sowohl die Civillehrer als die jungen Offiziere, die die einzelnen Com­ pagnien führten, standen während der ganzen Zeit in unge­ trübtestem freundschaftlichem Verkehr miteinander, besonders aber war es der Commandeur von Brause, der neben seiner Tüchtigkeit und soldatischen Strenge mit dem Wohlwollen eines Vaters über dem Ganzen wachte, und viel zu der an­ regenden Verbindung beitrug, die das Lehrercollegium zu­ sammenhielt. Zu den Zeitgenoffen Sydow's, die im engsten Umgang mit ihm standen, gehörten die späteren Generäle von Scheliha und Herrmann, sowie der nachmalige Kriegs­ minister von R o d n , alle drei zu jener Zeit noch Lieutenants, und ebensö zwei als Hülfslehrer fungirende junge Männer, Ziegler und Ritthausen, mit denen beiden er nachmals ver­ schwägert wurde. Aber auch die Stellung, die er fich den Zöglingen gegen­ über zu geben wußte, entsprach nicht den gehegten Befürch­ tungen, als ob seine große Jugend dem nöthigen Respekt Abbruch thun könnte. Es gestaltete fich das Leben mit den­ selben zu einem für ihn äußerst erfreulichen und genuß­ reichen, und vielleicht lag, trotz des Ernstes bei der Auffassung aller Aufgaben, doch gerade für die jugendlichen Seelen in seiner eigenen Jugendlichkeit der Reiz, der fie an ihn fesselte. Er widmete ihnen sehr bald auch einen.Theil seiner außer­ dienstlichen Zeit, und in den Stunden — besonders im Winter — die ihrer eigenen Anwendung überlassen blieben, fanden sich die Kadetten seiner, der zweiten Compagnie, und

bald auch die von andern, in seinem Zimmer, und wenn es an Raum gebrach, in dem größeren Zimmer Roon's zusammen, und Sydow las m it. ihnen Schiller, Goethe, Shakespeare und die Romane von Walter Scott, die damals gerade in den Gemüthern gezündet hatten. Viele Beziehungen aus diesem Schülerkreis setzen sich später fort oder knüpften sich von neuem an, und immer blieb ihnen Allen die Erinnerung an diese Stunden besonders werth. — Es war im Jahre 1825, da wurde er durch seinen Collegen Z ie g le r in dessen elterliches Haus eingeführt. Der Vater war Polizeirath und als solcher von Posen zum Direktor des Fremdenbureau's nach Berlin berufen. I n diesem Hause hatte sich der ganze Freundeskreis des ersten Studienjahres, die Schweizer Sarazin und Fröhlich, Wackernagel, Kläden re. rc. wieder zusammengefunden, erweitert durch* den später so be­ deutend gewordenen Maler Franz Krüger, der seine Schulund erste Zeit des Malerstudiums hindurch in ziemlich be­ schränkter Lage in Berlin lebte und im Verhältniß eines Pflegesohnes zu dem Ziegler'schen Hause stand. Bald war dasselbe auch für Sydow der O rt, wo er täglich ans- und einging und seine glücklichsten Stunden zubringen durfte. Drei Töchter waren im Hause, von denen die zweite, Rosalie, im siebzehnten Jah r stand, eine sehr zarte, eben aufgeblühte Mädchenerscheinung. Sie war es, mit der er sein ganzes späteres Lebensglück erbauen sollte! Noch war er ja weit entfernt, einen eigenen Heerb grün­ den zu können, und an ein Binden ihrerseits dachte er ehren­ hasterweise nicht. Aber es spornte ihn nun der Eifer, das ihm neu aufgegangene Ziel zu erreichen, doppelt an, sich neben seiner Thätigkeit rastlosem eigenen Studium hinzugeben.

E s wurde im Winter 1825—26 bei dem ihm nahe befreun­ deten Prediger Hoßbach ein in die spätesten Abendstunden fallendes Repetitorium eingerichtet, bei dem der ältere Freund ihm und zwei jüngeren Genoffen berathend und examinirend beistand. D a überfiel ihn auf dem sehr weiten Wege dort­ hin an einem eisigen Januarabend des Jahres 1826 ein Unwetter m it Schnee und Regen, so daß er völlig durch­ näßt, und, da er sich ohnedies verspätet hatte, athemlos an­ kam. An einen Wechsel der Kleider dachte er nicht, da er sich niemals irgend einer Vorsicht oder Verweichlichung hin­ gegeben hatte, und so kehrte er erst nach einigen Stunden in seine Behausung zurück. Aber schon in der zweiten Nacht brach in Folge der Erkältung eine sich vehement entwickelnde Lungen- und Brustfellentzündung aus. Noch hielt der Arzt einen Transport für möglich, und so brachte man den Kranken auf seine Bitten zu seiner M utter, die in der Neuen Friedrichsstraße, gegenüber der . Cadettenanstalt wohnte. Die Krankheit nahm einen sehr ernsten Verlaus. W ar die erste Lungenentzündung nicht ohne nachbleibende Schäden verlaufen, oder war es nur die durch das früher so unnatürlich plötzliche und schnelle Wachsthum hervorgebrachte Engbrüstigkeit, die die Ausheilung erschwerte — kurz, die Aerzte der Anstalt, sowie der mütterliche Hausarzt und Vormund, MedizinalRath Dr. Bremer mußten nach einem Vierteljahr beständi­ gen Schwankens zwischen Hoffen und Fürchten ihre Mittel für erschöpft erklären und gaben -den Kranken, „an be­ ginnender galoppirender Schwindsucht leidend, als hoffnungs­ los auf". „Was find Hoffnungen, was find Entwürfe, die der Mensch, der flüchtige Sohn der Stunde, aufbaut auf dem

bezüglichen Grunde." Mit diesem Citat begann der Kranke selbst, der das Urtheil der Aerzte über seinen Zustand kannte, einen Brief an seinen Freund Claudius (damals Lehrer in Hamburg), der diesem seine Krankheit und das Scheitern aller seiner Lebenshoffnungen melden sollte. (Ein Brief, den er 40 Jahre später aus Claudius' Nachlaß zurückerhielt.) Aber es war im Rath der Vorsehung anders beschlossen! Nur kurze Zeit nach dem fast mit Gewißheit ausgesprochenen Todesurtheil empfing er ein Schreiben seines Chefs, des General von Brause, der ihm in zartester Weise die Mit­ theilung machte, daß er ihn zum begleitenden Mentor eines jungen Cadetten von Frankenberg ausersehen und vorgeschlagen habe, der seiner angegriffenen Brust wegen nach Salzbrunn müffe. D as Ministerium habe anstandslos die Mittel dazu bewilligt, und hätten fich beide Patienten bereits Mitte Mai zur Kur dorthin zu begeben. S o war Hülfe gekommen, als die Noth am größten war! Der Aufenthalt in Salzbrunn hatte schon nach den ersten Wochen bei Sydow eine fast zauberhafte Wirkung. Es ging ohne kleinsten Rückschritt mit Sicherheit täglich bergauf. Und als nach drittehalb Monaten der Arzt dort ihn für völlig ausgeheilt und genesen erklärte, war nur eins, was sein Glück und seine freudige Lebenshoffnung trübte, daß, wie es mit ihm bergauf, so mit seinem jungen Begleiter ebenso rasch bergab gegangen war. Noch brachte er ihn lebend nach Berlin zurück, doch konnte derselbe das Lazareth nicht mehr verlassen, und nach ganz kurzer Zeit langte seine Mutter an, nur gerade noch rechtzeitig, um ihrem einzigen Kinde die Augen zuzudrücken. M it voller und frischer Kraft trat Sydow wieder in seinen

Wirkungskreis und an das, wie durch ein V erhängniß immer wieder hinausgeschobene Examen. Noch ein M a l nach der langen Pause arbeitete er einige M onate streng und concentrirt daraus hin, gab im Dezember 1826 seine schriftlichen Arbeiten ab und erhielt zum 9. M ärz 1827 den Termin zur m ünd­ lichen P rüfung pro candidatnra, sowie die Anweisung, sich zu der abzuhaltenden Prüfungspredigt über E bräer 4 , V . 14 b is 16 vorzubereiten. S ein ihm nach dem Examen ausgestelltes Prüsungsattest wies in den einzelnen Fächern folgende Prädikate auf: „Deutsche Sprache: vorzüglich gut; — „Lateinische Sprache: vorzüglich gut; — „Exegese des M e n Testam ents: sehr gut; — „Exegese des Neuen Testaments: vorzüglich gut; — „Dogmatik und Symbolik: vorzüglich gut; — „Kirchen- und Dogmengeschichte: vorzüglich gut; — „Philosophie: sehr gut — Homiletik: sehr g u t; — „Beschaffenheit der Prüfungspredigt und Katechisation: D ie wohlgeordnete Und gehaltreiche Prüfungspredigt wurde frei, m it ziemlich vernehmlicher Stim me, doch b is zum zweiten Theil ohne jede Gestikulation und zu wenig lebendig vorgetragen. D ie Katechisation w ar in der Form noch etwas unbeholfen, jedoch dem In h alte nach gut." „Besondere Bemerkungen: D a auch seine schriftlichen Prüfungsarbeiten m it löblichem Fleiße verfertigt find, und sich au s ihnen ergiebt, daß der Verfaffer die falschen Rich­ tungen des Zeitgeistes kennt und sich von aller Schulknechtschaft und allem eitlen Formwesen frei erhalten hat, so läßt sich von seiner zukünftigen Wirksamkeit das Beste er­ warten." D a s „allgemeine Urtheil" zum Schluß lautete

„vorzüglich gut bestanden", und dispensirte ihn von der zw eiten theologischen Prüfung überhaupt. „Nachdem das Königliche Ministerium der geistlicher und Unterrichtsangelegenheiten Sie von der Prüfung pro ministerio dispenfirt hat — (hieß es in dem Rescript von 14. Ju n i 1827) — so haben wir rü(fsichtlich des vorzüglicher Ausfalls der von Ihnen bestandenen Prüfung pro candidatun, keinen Anstand genommen, Sie sofort für wahlfähig zurr Predigtamte zu erklären." Im Lauf dieses Sommers nun hatte der bis dahin cm Kadettencorps fungirende Prediger Deibel einen Ruf an die Jerusalems« und Neue Kirche in Berlin erhalten und ange­ nommen. D as Konsistorium, dem das Bestätigungsrecht der Cadettencorps-Stelle zukam, hatte bereits seinen Nachfolger in der Person des damaligen Gesandtschastspredigers in Lissabon, Bellermann, ausersehen, ohne aber sich vorher dar­ über mit dem Chef der Anstalt in Verbindung gesetzt zu haben. General von B r a u s e ging nun ganz direkt mit einer Eingabe an den König Friedrich Wilhelm III., einerseits Beschwerde führend, daß das Konsistorium nicht Rücksicht auf etwaige Wünsche des Corps genommen hätte, und anderer­ seits mit der Bitte des Gesammtlehrercollegiums, deren Be­ fürwortung er übernommen, „das Konsistorium zu veranlassen, Sydow, der seit 5 Jahren an der Anstalt mit Segen wirke, und sich ungetheilter Achtung und Liebe erfreue, die Predi­ gerstelle am Kadettencorps zu übertragen." — Noch während diese Verhandlungen schwebten, versuchte Professor Augus t Ne a n d e r dringend denselben zu überreden, einen Lehrstuhl in Freiburg in Baden einzunehmen, wo ihm eine ordentliche Professur sicher sei. Sydow aber mußte es,

obgleich das Katheder ja das Endziel seiner. Wünsche war, entschieden ablehnen, da ihn seine Familie noch zu nöthig brauchte und seine alte kränkelnde Mutter ihn, als ihre ein­ zige Stütze, durchaus nicht von sich lassen wollte. Ebenso entschieden mußte er sich den erneuten Unterhandlungen mit dem Confistorium gegenüber verhalten, das ihm vor­ schlug, (da es seinen erst in's Auge gefaßten Candidaten nicht sofort fallen lassen wollte) statt der Berliner Cadettenpredigerstelle die des Gesandtschastspredigers in Neapel anzu­ nehmen. Seine Weigerung aber, von Berlin fortzugehen, sowie höhere Weisungen veranlaßten endlich die Behörde, nun mit seiner Bestätigung für die Cadettenpredigerstelle nicht länger zurückzuhalten. „N am ens S ein er Königlichen M ajestät von Preußen haben wir an die Stelle des bisherigen CadettenPredigers Deibel den Candidaten der Theologie Carl Leopold Adolf Sydow berufen, und bestallen demgemäß letzteren zum Prediger bei der Königlichen Cadetten-Anstalt" rc. rc. S o begann die Bestallungsurkunde, welche am 1. Januar 1828 ausgestellt wurde. D as Confistorium berief nun als Ausgleich den Prediger Bellermann auf die sehr viel bessere Stelle nach Neapel, und ersetzte ihn in Lissabon durch Bachmann, nach« herigen Confistorialrath an St. Jacobi in Berlin. Nicht ganz 4 Wochen später, am 27. Januar 1828, fand die Or­ dination Sydow's zum Geistlichen, unter Asfistenz von Schleierm acher und Pischon, durch den Propst D. N i­ colai in der Nicolaikirche statt. Und Tags darauf, am 28. Januar, durste er seinen Freunden seine Verlobung mit Rosalie Ziegler anzeigen. Das Verhältniß bestand schon als ein ausgesprochenes seit

V4 J a h re n , seit glücklich überwundenem Examen, doch hatten Beide ihres Brautstandes noch nicht recht froh werden können, da die M utter Ziegler mit Strenge und Herbheit das Be­ stehen des geschloffenen Bundes bis zu dem Zeitpunkt der Hochzeit fast ignoriren zu wollen schien, und ihnen aus diesem Sinne heraus Beschränkungen wunderlichster Art auferlegte, während der Vater mit weichem Gemüth und warmem Herzen dem neugewonnenen Sohne von Anfang an die Stelle in Haus und Herz gegeben hatte, die er bis zu seinem Tode bei ihm behielt. Am 23. M ai desselben Jahres schon fand die Hoch­ zeit statt, und war der Beginn einer zwar nur zwölfjährigen, beide Theile aber „ganz und voll beglückenden Ehe, ob es freilich in ihr an Kreuz und Leid und Prüfungen herbster Art nicht gefehlt hat". Neun Jahre, bis zum September 1837, dauerte Sydow's Wirksamkeit als Geistlicher der Cadettenanstalt, die ihn sehr befriedigte. Den fortdauernden Verkehr mit den ihm lieb ge­ wordenen Zöglingen, den Einfluß, den er neben dem Unter­ richt nun auch durch die Kanzel aus sie gewann, empfand er oft dankbar, besonders seit er sich der zunehmenden Gewandt­ heit und steigenden Sicherheit in seinen Predigten bewußt wurde. Er erzählt, „wie er n u r d a s erste M a l seine Predigt schriftlich ausgearbeitet und wörtlich habe memoriren wollen, als ihm die U nm öglichkeit davon klar geworden, und er dann eine wesentlich andere Predigt gehalten habe als die ausgearbeitete". S o hat er denn von da ab, nach freilich gründlicher Meditation, im m er frei gesprochen. Waren seine Reden in der Stille des Studirzimmers oder während eines Ganges in der freien Natur in seinem In nern nach In h a lt und.Gedanken geordnet, so gab er ihnen doch erst die

Form in dem Augenblick, wo er zu seinen Zuhörern sprach. Und der seinen Vorträgen dadurch eigene Reiz der Unmittel­ barkeit erlitt auch an der F orm vollendung keine Einbuße, weil er wie Wenige der Sprache Herr war. Es erwuchs ihm hierdurch freilich manche Unbequemlichkeit, wenn die Noth­ wendigkeit an ihn herantrat, gehaltene Reden nachträglich druckfertig zu machen. Aber sein bis in's hohe Alter emi­ nentes und präcises Gedächtniß, das sich auch besonders durch den Reichthum und die Schlagfertigkeit seiner Citate bekun­ dete, fand sofort den Faden mit Sicherheit wieder, und am schnellsten, wenn er im Studirzimmer auf- und abgehend, einem der ©einigen diktiren konnte. Neben seiner militärischen Gemeinde sing sehr bald zu seiner großen Freude sich eine Personalgemeinde um ihn zu sammeln an, die sich, wie später in Potsdam und zuletzt in Berlin an der Neuen Kirche, steigend, aus allen Theilen der Stadt, aus den gebildetsten Kreisen der Gesellschaft zusammen­ setzte. Dieser seiner ersten Personalgemeinde widmete er auch bei seinem Weggang von der Anstalt den ersten Band seiner Predigten*). Im März 1829 wurde der erste Knabe geboren, und am Hochzeitstage der Eltern, dem 23. M ai, durch Schleier­ macher „Ferdinand Friedrich F ran z" getauft. „Das Taufzimmer hatte der Vater ganz mit Narzissen, einer Lieblings­ blume der jungen Mutter, geschmückt, die den beiden Groß­ müttern ihr erstes Enkelkind entgegentrug", so berichtet ein altes,'vergilbtes Familientagebuch aus jener Zeit über diesen Tag und weiter über die fich daran reihenden Ereignisse der *) Sammlung geistlicher Vorträge, Berlin 1838, bei Ferdinand Dümmler.

nächsten Jahre. Schon das folgende brachte den jungen Eltern die ersten Verluste: Ein im nächsten Mai geborener zweiter Sohn starb bereits nach kurzer Zeit wieder.

Und wenige

Wochen darauf endete die älteste Schwester Sydow's, die als Pflegerin der alten Mutter seit der Verheirathung der zweiten Tochter allein mit dieser lebte, in schmerzlich plötzlicher Weise in Folge eines unglücklichen Falles. Hausgeist der Familie genommen. bedrängter Jugendzeit

M it ihr war der gute Wie sie als Netteste in

den Geschwistern fast selbst

eine

Mutter gewesen, so war fie in dem jungen Hausstand nun die unentbehrlichste berathende Stütze und Hülfe in jeder Noth, der Mutter aber, die dem Erblinden nahe war, Alles. Sofort wurde nun die Uebersiedelung der Großmutter in das Cadettencorps bewerkstelligt, und hier lebte dieselbe noch vier Jahre, gepflegt und behütet von Sohn und Schwiegertochter, bis fie im April 1834 in ihren Armen starb.

Noch zwei

Enkel hatte fie in diesen Jahren aus ihren Knieen gewiegt, von denen aber der jüngere ihnen auch wieder entrissen wurde und neben dem ältesten, sich verheißungsvoll entwickelnden Kinde, nur noch der im Jahre 1832 geborene Sohn Bern­ hard heranwuchs.

Kaum ein Jahr, nachdem Sydow seine

eigene Mutter zu sich genommen, starb der Großvater Ziegler und hinterließ seine Wittwe und zwei Töchter in sehr be­ bedrängten Verhältnissen. zustehen, und

Hier galt es nun auch, helfend ein­

die Sorgen

um den eigenen wachsenden

Hausstand, sowie für die andern Angehörigen wuchsen zu­ sehends. Ein neuer schmerzlicher Verlust traf ihn unmittelbar daraus: Sein geliebter Bruder Albert, der sich zu einem wackeren Mann herangearbeitet hatte, eine an Leib und Seele

begnadigte Natur, hatte sich, als er einem Freunde am offenen Grabe das Scheidelied sang, selbst den Keim einer tödtlichen Krankheit zugezogen, und starb vier Wochen vor seinem Hochzeitstage in der Blüthe der Kraft. Auch ihm hielt Sydow die Gedächtnißrede am Grabe, ebenso wie er sie seiner alten Mutter gehalten hatte, die es n ie m a ls aus über­ großer Sorge hatte über sich gewinnen tonnen, den Sohn öffentlich reden zu hören, und ihn n ie hatte auf der Kanzel stehen sehen:

Viertes Capitel. P o t s d a m und'England.

I m Jahre 1836 erging im Herbst an Sydow der Ruf, als Hos- und Gardedivifionsprediger nach Potsdam überzu­ siedeln. Friedrich Wilhelm III., der häufig sein Zuhörer in der Berliner Garnisonkirche gewesen, hatte ihn persönlich da­ zu ausersehen, und so hielt er am 6. November 1836 seine Gastpredigt daselbst (Joh. 3, 30: Christus muß wachsen, wir aber müssen abnehmen), über welche der jetzige Kaiser Wilhelm als derzeitiger Commandeur der 1. Gardedivifion unter dem 7. November an das Königliche Konsistorium berichtet: „D er Ausfall dieser Predigt hat ganz den Erwartungen entsprochen, die Ich in dieser Hinficht von dem Prediger Sydow gehabt habe. Der R uf, den er sich als Geistlicher und Redner auch in seiner früheren Stellung erworben hat, bewährte sich auch in dieser Probepredigt vollkommen, und Ich kann daher dem Königlichen Konsistorium nur die UeberS y d o in , Lebensbild. 4

zeugung aussprechen, daß Ich die Anstellung des Prediger Sydow als Militairgeistlicher bei der Hof- und Garnismkirche in Potsdam für einen wahren Gewinn für die MilitairGemeinde Halle, wie Ich nach eingezogenen Erkundigungen pflichtmäßig versichern kann." Rücksichten, die unter anderen Verhältniffen in Anbetracht der vergrößerten Familie vielleicht geboten gewesen wären, da die Potsdamer Stelle 400 Thaler weniger als die Cadettenpredigerstelle trug, glaubte Sydow nicht nehmen zu dürfen, da der Ruf in dieser Form an ihn ergangen war, und so wurde die Ueberfiedelung der Familie, die sich im Sommer 1836 noch um eine Tochter vermehrt hatte, Ostern 1837 be­ werkstelligt, und am Sonntage Cantate fand die Einführung in das neue Amt statt. Schwer war ihm der Abschied von der Stätte, an der er fünfzehn Jahre mit Liebe und Segen gewirkt hatte, aus einer stetig wachsenden Personalgemeinde, aus einem Kreise gleich­ altriger, mit ihm dieselben Ziele verfolgender Gesinnungs­ genossen , wie er sie in Jonas, Schweder, Pischon, Hoßbach, Eyfsenhardt und Andern zurücklassen mußte. Aber die Liebe, die ihm folgte, die Nähe Berlins, die es doch ermöglichte den Verkehr aufrecht zu erhalten, die Aussicht eines größeren und verantwortungsvolleren Wirkungskreises, und — wonach er seit seiner Jugend eine unbezwingliche Sehnsucht gehabt, der Besitz von einem Stückchen Erde, aus dem er seiner Lieb­ lingsneigung, der Natur zn leben, folgen konnte, verscheuchten die letzten Bedenken. Der erste Beginn dieses neuen Lebensabschnittes war mit Hindernissen und Unbequemlichkeiten aller Art verbunden. D as Amtshaus in der Priesterstraße mußte erst einer gründ-

lichen Instandsetzung unterzogen werden. Die beiden großen, sich bis an die Havel hinziehenden Gärten, die unter der langen Amtsführung des Feldprobst Osfelsmeyer, der ein wunderliches Einsiedlerleben geführt hatte, und vielleicht schon vorher kein menschlicher Fuß betreten .hatte, mußten an ein­ zelnen Stellen buchstäblich erst mit der Axt gelichtet werden; dazu hatte Sydow anfangs bei allen Arbeitern, ja später so­ gar wiederholt bei Dienstboten mit den sonderbarsten, aber­ gläubischen Vorurtheilen zu kämpfen, da das Haus wegen allerhand vorgekommener Dinge im Volksglauben als „Spuk­ haus" galt, namentlich weil die Gärten früher Kirchhof ge­ wesen, und man beim Räumen auf viel menschliche Ueberreste gestoßen war. Die Arbeiten dauerten bis in den Herbst hin­ ein, und die Familie mußte eine provisorische Wohnung dicht bei Sanssouci beziehen. Eine recht empfindliche Schädigung erwuchs aber besonders durch die Unzuverläffigkeit des Mannes, der den Transport der Möbel per Achse übernommen, und fie unterwegs zwei M al Nachts unbedeckt im Regen hatte stehen lassen, sodaß Alles auf das Schlimmste ruinirt war. — Aber es war bald vergessen in dem Leben und Anblick der erwachenden Natur, und Sydow dachte bis in spätes Alter immer mit Entzücken seiner ersten Pfingstpredigt dort,. die er „unter den blühenden Kirschbäumen des Gärtchens, das fich bei der Wohnung befand, meditirt und an seiner neuen Heim­ stätte gehalten hatte". Im Herbst, wo wieder ein Knabe geboren wurde, fand der Einzug in das neue Haus mit nun 4 Kindern statt, und Sydow überraschte seine Frau zu ihrem Geburtstage mit dem Angebinde, daß er die Hälfte des Parterregeschoffes ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern eingerichtet hatte, die ex 4*

nun der Sorgen, denen sie mit der nur 100 Thalir betragenden Pension ausgesetzt waren, entheben utfc sie ebenso wie früher seine eigene M utter zu sich nehntm konnte. D ie Thätigkeit, in die er in Potsdam eintrat, war vm sehr andrer und mannigfaltigerer Art als seine bisherig*. Seine Stellung ließ ihn nicht zu dem Gefühl der Exclufivitit einzelner Kreise kommen, wie man das gerade dort so oft be­ klagen hört. E r war durch persönliche Freundschaft des vm ihm hochverehrten damaligen Oberpräfidenten v. Baffewitz, seines väterlichen Gönners, durch nähere Beziehungen zu der Fam ilie des Cabinetsrath Müller, sowie dessen späteren Nach­ folgers Jllaire, der zur Zeit noch bei der Oberrechnungs­ kammer war, und des in juristischen und literarischen Kreisen so hoch geschätzten Präsidenten von Meusebach, des nahen Freundes der Brüder Grimm, und Andrer, ebenso mit den ausgezeichnetsten Repräsentanten der civilen Kreise verbunden, als ihn seine eigentliche Stellung mit den höchsten militairischen verband. Daneben aber erwuchs ihm in der Seel­ sorge grade der unteren Schichten eine bis dahin nicht ge­ übte und ihn ganz besonders anmuthende und seiner ganzen N atur entsprechende Seite der Thätigkeit, und lange nach­ dem er Potsdam oertaffen, haben sich immer alte Beziehungen wieder aufgethan zu Leuten, die er in der Garnisonschule untcrichtet, oder die sonst in den untersten militairischen Graden mit ihm Berührungen gehabt, und darauf fußend sich später noch vertrauensvoll an ihn wandten. D a der Unterricht an den Schulen überall besetzt, er aber gezwungen w ar, an eine Vermehrung seiner Einnahme zu denken, bereitete er während der ersten Jahre junge

Fähnriche zum Officierexamen vor, bis sein wachsender Confirmandenunterricht es ihm unmöglich machte. Es war aber eine friedliche Zeit, die ersten Jahre der Potsdamer Thätigkeit, auf die er oft als aus eine „grüne, glückliche Oase" zurückblickte. Die Gegensätze in politischer und kirchlicher Sphäre waren noch ungeschärft, die Polemik auf der Kanzel war selbstverständlich ausgeschlossen, und er selbst befand sich noch nicht im Gegensatz zu herandrängenden Bestrebungen, gegen die mannhaft aufzutreten er trotz seiner so hervorragend friedfertigen und immer auf Versöhnung gerichteten Natur fich allzeit im innersten Gewissen verbunden gehalten hat. Aus dieser Zeit sei noch erwähnt, daß er aus dem Wunsch heraus, seine Gemeinde über die Lehre der Kirche, über die wichtigsten Fragen der theologischen Forschungen in derselben zu belehren, sie mit der kirchlichen Bewegung und Entwicklung in Fühlung zu erhalten, während der Winter­ monate 1840-1841 allein 41 öffentliche zusammenhängende Vorträge gehalten hat, „über den christlichen Glauben und seine wichtigsten Beziehungen zur menschlichen Erkenntniß". Es war diese Form der außeramtlichen Vorträge etwas da­ mals völlig Neues und Unbekanntes, und er durste mit großer Genugthuung aus die Befriedigung eines inneren Bedürfnisses, die er vielen Herzen damit gegeben hatte, zurückblicken. Auch Vorträge anderer Art fallen in jene Zeit. Die „literarische Gesellschaft", der er gleich nach erfolgter Ueberfiedelung bei­ getreten war, die aus der geistigen Elite der Stadt bestand, wurde auch ein Feld, auf dem er gleichermaßen Genuß und Anregung empfing und gab, und der er bis zu seinem Tode als Ehrenmitglied angehörte, ebenso wie ihn die „Berliner

Gesellschaft für deutsche Sprache" bei seinem Scheiden zun Ehrenmitglied ernannt hatte. I m Jahre 1841, wo Lu dwi g Tieck nach Potsdam kam, der am Hofe Friedrich Wilhelm IV. damals ein viel u n d gern gesehener Gast war, wurde demselben von der Sitterarm ein großes Fest gegeben. Von da ab datiren auch die später sehr nahen Beziehungen, in die er zu Sydow trat, den er zwölf Jahr nachher auch zu seinem Grabredner erwählte, „weil er nicht von einem Zeloten begraben sein wollte". Diese ersten Jahre des Potsdamer Aufenthaltes sind auch die einzigen Jahre in Sydow's Leben geblieben, in denen er M uße und Gelegenheit fand, in der Natur, nach der seine Sehnsucht immer stand, zu leben. D ie Gärten wurden von seiner eignen Hand angelegt, jede Blum e, jeder Baum selbst gepflegt. Den Kindern wurde darin der weiteste Spielraum gelassen: Turnplatz, Schaukel, Lauben und eigne Beete, alles richtete der Vater selbst ein, und selten sind Kinder wohl nach dieser Richtung hin durch günstigere und seligere Jugendtage gegangen, als diese waren. S ie wuchsen in der S tille auf, ohne Ansprüche nach außen hin, aber die Gastlichkeit, die Sydow in ausgedehntem Maße immer geübt, zog neben dem Kreise der Erwachsenen auch immer eine Schaar Kinder in's Haus, die sich in den Gärten und den lustigen großen Räumen des Hauses nach Herzens­ lust tummeln konnten. E s wurden allerlei Thiere, Tauben, Kaninchen, eine Ziege re. angeschafft, deren Pflege und Sorge den Kindern anvertraut war. M it hervorragender Liebe aber wurde von Sydow selbst die Bienenzucht getrieben, die er mit den bescheidensten Anfängen begann. Nach Erbauung zweier Häuschen dafür gewann aber die Sache einen so

großen Maßstab, daß sie ordentlich mit in die Rechnung des Hausstandes aufgenommen werden konnte. Seine Schwieger­ mutter, eine ungewöhnlich tüchtige und praktische Frau, unterstützte ihn sehr in seiner Arbeit daran, und während er die Schwärme selbst wieder einfing und den Honig selbst schnitt, auch die Kultur des zweiten Gartens in Rücksicht aus die Nahrung der Bienen trieb, bereitete fie Meth, schmolz das Wachs, das nach Berlin ging und in Form von Lichtern und Wachsstöcken wieder zurückkam, zu besonderem Entzücken der Kinder, denen in den bunten Lichtern des Weihnachtsbaumes der Erfolg ihrer Hülse dabei klar gemacht wurde, die sich freilich darauf beschränkte, Wache halten zu müssen, wenn die Stöcke im Begriff standen auszuschwärmen, um den Vater zu benachrichtigen, wo fich dieselben gesetzt hatten. Als nach zehnjährigem Aufenthalt in Potsdam, dasselbe von neuem mit der Hauptstadt vertauscht wurde und die Bienenzucht aufgegeben werden mußte, konnte circa 1'/, Centner Honig mitgenommen werden. Sydow selbst aber wurde zum Ehren« Mitglieds der „märkisch-ökonomischen Gesellschaft" ernannt. Im J u li des Jahres 1839 wurde wiederum ein Sohn geboren, der auf besonderen Wunsch der Mutter den Namen Siegfried erhielt, aber im November desselben Jahres mußten die Eltern den ihnen zuletzt geschenkten Sohn Conrad wieder hergeben. M it diesen sich schnell folgenden Ereignissen be­ gannen kummer- und trauervolle Jahre, die ihre Schatten bis weit hinab werfen sollten. Es hatte fich bei der Mutter ein seit Jahren leise heranschleichendes krebsartiges Uebel vorbe­ reitet, das Sydow schon Hülfe bei den ersten ärztlichen Auto­ ritäten hatte suchen lassen. Dieffenbach, der wiederholt die Kranke gesehen, hatte aber jeden operativen Eingriff ver-

weigert, und so gingen beide Eltern mit offenen Augen ihrer baldigen irdischen Trennung entgegen, da die Krankheit durch den Kummer über den Verlust der drei Knaben fich schneller entwickelte, als es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre. Zehn Monate langen, schmerzvollen Krankenlagers mußten aber noch durchkämpft werden, und wurden mit einem Heldenmuth und Gottvertrauen von Beiden durchkämpft, die zur Erbauung Aller, die ihnen damals nahe standen, gedient hat. „Eure Mutter hat durch ihr Kranken- und Sterbelager besser und eindringlicher gepredigt, als ihr Mann es jemals aus der Kanzel gekonnt hat" — sagte Sydow später oft zu seinen Kindern, wenn er ihnen aus den letzten Lebenstagen derselben erzählte. — Am 8. M ai 1840 hatten sich ihre Augen für immer geschloffen. Ein Brief von ihm aus dem Ju li desselben Jahres an die Frau seines Bruders Ju liu s spricht am deutlichsten für den Sin n , in dem er diese schwerste Prüfung hingenommen: „Beifolgenden R ing mit dem Haar meiner Rosalie bitte ich Dich, als von der Verewigten selber zum Andenken nehmen und tragen zu wollen. Aus den Gesprächen, die ich mit ihr in so manchen schweren Stunden, in denen der Schlaf ihr Lager floh, auch über Dich und die Deinigen hatte, darf. ich D ir versichern, daß die theure Verklärte selbst in dies Zeichen der Erinnerung die herzlichste Schwesterliebe hineinlegte. D u hast das hohe Gut meines Lebens, was mir mit der Seligen gegeben und nun genommen weiden sollte, freilich in näherer Anschauung nicht kennen können; der innerliche Segen und Reichthum einer in Freude und vielem Kreuz, in charakter­ voller Liebe und aufrichtiger Frömmigkeit geführten Ehe, wie dies von ihr ausging, stellt sich bei flüchtiger, kurzer Berüh-

ntng nicht gleich bar; aber wenn D u, meiner Bitte folgend, diesen Ring willst tragen, so halte dafür, er sei das Erinne­ rungszeichen an einen Schmerz, den — wie auch ferner mein Leben sich gestalten wird, — mein Gemüth tragen wird bis zur Stunde auch seiner Vollendung. Diese Verbindung der Theilnahme zwischen D ir und mir laß an dies Zeichen geknüpft sein. I n herzlicher Bruderliebe Dein Adolf." Mitten in den ersten, frischen persönlichen Schmerz fällt das am 7. Juni 1840 erfolgte Hinscheiden Friedrich Wilhelm Hl. — M it großen Hoffnungen sah man seinen Nachfolger, dessen geistvolle Persönlichkeit die weitesten Garantiern zu bieten schien, den Thron besteigen. Sydow hatte in der ersten Predigt, die er nach der Beisetzung des Königs in der Garnison­ kirche zu halten hatte, seiner großen persönlichen Liebe und Verehrung für den Dahingeschiedenen in warmen Worten Ausdruck gegeben. Nach der Predigt befahl ihn Friedrich Wilhelm IV. nach Sanssouci, um ihm sein Beileid über seinen Verlust auszudrücken, und sagte ihm: „Ih r Schmerz ist mir heilig". Und an die Predigt anknüpfend, fuhr der König fort: „die Gemeinsamkeit des Schmerzes habe die ihn tief bewegenden Worte auf Sydow's Lippen gelegt". — Ein sich daran schließendes längeres theologisches Gespräch be­ endete diese erste Audienz. Kaum einen Monat danach, am 12. J u li, hatte Sydow von der Kanzel der Garnisonkirche eine Predigt über die Pericope jenes Sonntags, über Lucas VI., Vers 36—42 im Beisein des Königs gehalten, und schon wenige Tage darauf ließ derselbe ihm durch den Bischof Eylert sein Mißfallen darüber ausdrücken. Dies Mißfallen bezog

sich auf zwei Punkte: der König hatte in einem Urtheil1 Sydow's über die Reformatoren eine „Jm pietät", und in de von ihm behaupteten Entwickelungsfähigkeit und Entwickelung» bedürsttgkeit der kirchlichen Lehre „eine Hinneigung zu skeptischer Auslösung alles Glaubensgrundes" sehen zu müsset gemeint. Dagegen verwahrt sich nun Sydow ebenso ehrer­ bietig, als freimüthig und fest, weil seines gut evangelischer Standpunktes gewiß. E r schreibt seinem Könige, in welchen er zugleich seinen „unmittelbaren kirchlichen Patron" sreudiz verehrt: „Ew. Majestät Mißbilligung ist mir natürlich eit kräftiger Antrieb, gewesen vor dem Herzenskündiger gewissen­ haft zu Rathe zu gehen, ob nicht in meiner theologischer Geifiesrichtung überhaupt, oder in der Tendenz meiner neulichen Predigt insbesondere, vielleicht doch irgendwie eine mir etwa bisher verborgene Seite jenen Tadel und Anstoß Ew. Majestät wohl verschulde: aber wollen mir Ew. Majestät nicht zürnen, wenn ich als wahrheitsliebender M ann Ihnen offen und ehrfurchtsvoll ausspreche, ich habe nichts derart entdecken können." Hieraus erbittet er sich die Erlaubniß, dem Könige seine Gedanken über die beiden Punkte des Anstoßes schriftlich vortragen zu dürfen, in der Hoffnung, durch seine Darlegun­ gen jede Besorgniß zu zerstreuen, „als würde durch seine Wirksamkeit der einige Grund unseres Heils, außer welchem kein anderer gelegt werden kann, erschüttert oder auch nur verdunkelt". Und nun fährt er fort wie folgt: „E s ist zuerst wahr, ich habe an den Reformatoren ge­ mißbilligt, daß sie mit den alten katholischen Glaubensbe­ kenntnissen, namentlich dem Athanasianischen, auch die mit vielen dogmatischen Lehrbestimmungen in denselben verbun­ denen Anathemen aufgenommen, ja daß sie selbst noch in

das katholische Anathematisiren eingehend, von Anfang an den freien Gang wahrheitsliebender theologischer Forschung in manchen Punkten gehemmt und dadurch von Anfang an das Gebiet evangelischer Glaubensgemeinschaft theils verengt, theils gespalten haben. — Daß dem so sei, lehrt die Ge­ schichte. Niemand kann weiter entfernt sein, als ich, zu ver­ kennen, wie begreiflich dies ist, und wie sehr wohl verträglich mit der Erhabenheit der Einsicht und des Charakters, welche jene großen Männer auch mir zu Gegenständen der höchsten Bewunderung und Verehrung macht; ich kenne nächst den Aposteln keine reineren und mächtigeren Werkzeuge der Ehre, Gnade und Wahrheit des Herrn, als sie; ich beuge mich vor ihrer theologischen Gelehrsamkeit, vor ihrer sittlichen Hoheit, vor ihrem Glaubensmuth, vor ihrer tiefen, herzlichen Demuth; ich ehre sie als unsre geistlichen Väter, als die begeisterten Zeugen vom Licht — aber das Licht selbst sind sie mir.nicht, und unser Meister ist und bleibt nur Einer, nämlich Christus. Dieser richtet auch sie in seinem Licht und ÜBort, und wie alle wahre Zeugen, find sie auch am weitesten davon entfernt, sich diesem Gericht entziehen zu wollen. Luther giebt sich überwunden, wo er durch klare Worte heiliger Schrift über­ wunden werde. Sind die Worte des Herrn, die den Text meiner Predigt bildeten, nicht klar? — ich habe nur das Wort des Herrn an die Reformatoren gehalten. Und dies scheint mir heutzutage um der Ehre Christi willen dringend nöthig zu sein, auch in der Gemeine, unter anderem schon darum, weil es sonst mit der Union nie etwas werden kann. Als ich bei der Wahlfähigkeitserklärung zu einem geistlichen Amte in der evangelischen Landeskirche einen schriftlichen Revers auszustellen hatte, daß ich der Union

beitreten werde, that ich dies in der noch heute von mir ge­ hegten Ueberzeugung, daß das von Ew. Majestät Hochseligem Herrn V ater veranlaßte Werk der Union auf einem evan­ gelisch-christlich, königlichen Gedanken beruhe, und daß für die Union auf dem Wege der Belehrung und Ueberzeugung zu wirken, eine nie aus dem Auge zu verlierende Ausgabe meiner künftigen Amtsthätigkeit bleiben müsse. W as steht aber der wahren Union am meisten entgegen? Zuerst und am ver­ breitetsten freilich der Jndifferentism us, der sie sich gefallen läßt, ja oft als ihr beredter Freund aufgetreten ist. Gegen diesen wird ein Geistlicher allerdings immer am meisten zu predigen haben. Aber soll er sich nicht auch für verpflichtet halten, dann und wann ein freies W ort gegen jene andere Krankheit zu sprechen, welche selbst bei gläubigen und tüch­ tigen Gliedern der Gemeine in unsern Tagen nur mit um so bedenklicheren Symptomen aufgetreten ist, gegen einen sepa­ ratistischen S in n , der gerade durch unevangelische Anhäng­ lichkeit an die Person dieses oder jenes der Reformatoren, einen bis zur fanatischen Beschränktheit gesteigerten Eifer gegen die Union entwickelt? D as Gemüth sagt es m ir, daß Ew. Majestät erleuch­ teter S in n wohl sieht, daß hier weder durch polizeiliche Gewaltmaßregcln noch durch unbedingte Concessionen zu helfen ist. Aber ich frage Ew. Majestät ehrerbietigst, was kann denn helfen? Offenbar nur die Heranbildung der Gemeine zu einer solchen erkenntnißvollen Abhängigkeit von Christo dem Herrn, daß sie dadurch sowohl vom Jndifferentismus als von jener starren und unchristlichcn Anhänglichkeit an die Reformatoren, sofern diese doch nur Diener sind in der Kirche und nicht Meister, erlöst werde. Beginnen mußte die Union

mit der That der Vereinigung; aber soll das schöne Werk nicht zerfallen, soll nicht ein beschränkter Eifer um Buchstaben Recht behalten gegen das gebildete theologische Bewußtsein unsrer Kirche und ihren tiefsten Geist, so muß jeder Geist­ liche, der dazu einen gewissen Grad von Einficht bei fich und bei wenigstens einem Theile seiner Gemeine glaubt voraus­ setzen zu dürfen, dahin wirken, die thatsächlich vollzogene Union auch vor der Einficht und dem denkenden Bewußtsein als eine christlich berechtigte nachzuweisen, und dies wird nie möglich sein, als von einem Standpunkt, der höher steht, als der Buchstabe des reformatorischen Wirkens. Um es concreter zu fassen: W ir, der Union mit Ueber­ zeugung ungehörige evangelische Christen wissen, daß wir im heiligen Abendmahle, unangesehen den theologisch verschiedenen konfessionellen Ausdruck, bei gleich lebendigem Glauben an den Heiland unserer Sünden in innerer Erfahrung seiner Gegenwart ganz dasselbige haben, nämlich, um mit Luther's eigenen Worten zu reden, Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit; — wir wissen, daß, was die evangelischen Kirchen sonst getrennt hat in der Lehre von der Prädestination, menschliche Meinung ist über einen, göttlichen Rathschluß, über welchen beide Theile erst in einem höheren Lichte ge­ wissen Ausschluß werden zu gewärtigen haben; fühlen uns aber inzwischen Eins in dem großen Grundbewußtsein des geoffenbarten Rathschluffes für unsre Heilsordnung, daß es Gottes Gnade allein ist, durch die wir selig werden, und der wir uns in Demuth anzuvertrauen haben. Wir haben also als unirte evangelische Christen einen Standpunkt der B e­ trachtung gewonnen, auf welchem wir das innere Glaubens­ leben relativ unabhängig wissen von der Fassung desselben im

dogmatischen Begriff, der doch nie das Zeugniß und die Fülle des Geistes erschöpfen oder ersetzen kann, und können uns daher bei der Verschiedenheit des Bekenntnisses Eins fühlen im evangelischen Geist. Dieser Geist, das Wesen und die Lebenskraft unsrer Kirche, ist freilich nicht greiflich zu weisen, aber er ist, und unsre Kirche ist vor allen ihren sym­ bolischen Schriften durch ihn geworden, und besteht nur durch ihn, und auch die symbolischen Schriften find nur durch ihn geworden, und haben für einen Protestanten nur Leben und K raft, soweit fich dieser Geist darin ausdrückt und wieder­ erkennt, und dieser Geist war derselbe in Luther und Calvin. Diese Einficht war den Vätern unsres Glaubens noch ver­ hüllt: warum sollten wir das, bei aller Verehrung gegen fie, nicht selbst vor den Ohren der römischen Kirche aussprechen? W arum nicht offen eingestehen, daß, weil den Reformatoren diese Einficht noch verhüllt war, sie einander verdammt haben und gerichtet, wo sie sich hätten sollen erkennen und vereinigen? W ir sind nun vereinigt; sollen wir nicht wahrheitsliebend aus­ sprechen, ihr Verdammen sei ein unberechtigtes gewesen? Kann die evangelische Kirche, wenn sie dem Geist ihrer Gründer selbst getreu ist, ein Interesse daran haben, Menschen auf den Stuhl Christi zu setzen? Darum, Königliche Majestät, ist es gewiß nur im Sinne der Reformatoren, wenn wir die gute Sache der evangelischen Kirche in denjenigen Punkten immer mehr von der Person ihrer Gründer trennen, wo die Augen dieser Gründer, wie es auch den herrlichsten nicht er­ spart ist, noch gehalten waren, daß sie den Herrn nicht er­ kennen konnten, wie einst die Emmauntischen Jünger, weil er ihnen in dem anderen Bruder in anderer Gestalt ent­ gegentrat.

Und diese Trennung der evangelischen Sache von einer verzeihlichen Schwachheit ihrer ersten großen Vertreter schwebte mir vor bei den bezüglichen Worten meiner Predigt, und wollen Ew. Majestät mir nicht ungnädig sein, wenn ich solches auszusprechen einem treumeinenden evangelischen Geistlichen nicht nur für zuständig, sondern für geboten hielt und halte in einer Zeit, wo eine an das Unbedingte grenzende Verehrang der Reformatoren beides in unsrer Kirche zu zerstören droht, die Wahrheit und die Liebe und in beiden den Lebens­ geist unsrer Kirche. Majestät!-ich glaube treu gesprochen zu haben als evangelischer Christ; treu dem Geiste Luther's, der nicht sich, sondern Christum wollte gepredigt wissen; treu der Schrift: ich habe den Paulus vor Augen, der den angesehen­ sten unter den Aposteln öffentlich vor der Gemeine strafte, als er aus menschlicher Schwachheit in sprechenden Hand­ lungen den Einen Grund evangelischer Wahrheit und Freiheit verdunkelte, den Paulus, der die Korinther straft wegen ihrer separatistischen Anhänglichkeit an die menschlichen Personen der Apostel und Lehrer! Ich kann Ew. Majestät vor Gott betheuern, daß meine Absicht und Anficht nie etwas gemein haben kann mit jenem neuernden, rationalistischen Bestreben, welches, selber glaubenslos, das Glaubensleben schwächt, die Bande der kirchlichen Gemeinschaft auflockert, und mit seinen nivellirenden Allgemeinheiten alles eigenthümliche Gepräge der geschichtlich gewordenen kirchlichen Gestaltungen des Christenthums abglätten möchte. Sei jeder, was er ist, Luthe­ raner oder Reformirter, mit lebendiger Wahrheit seines I n ­ nern, alles Lebendige wird und muß ein Bestimmtes sein; aber entziehe er sich nicht der Forderung der evangelischen Kirche, welche sie im Namen des Einen Herrn und Meisters

und zu seiner Ehre an ihn ergehen läßt, der Forderung, die wir auf anderen Lebensgebieten ja an jeden gebildeten Men­ schen machen, daß er mit freiem Geiste — auch hierin zur Aehnlichkeit mit Gott auf menschliche Weise berufen — zu­ gleich in und ü b er seiner individuellen Welt stehe. Und ich halte dafür, daß eben hierin sich die evangelische Kirche am bestimmtesten und für immer von der römischen unterscheidet, welche die zeitliche Erscheinung mit der absoluten Idee der Kirche verwechselnd, nur in sich befangen ist und darum eben Verdammung, Verketzerung und Gewaltthätigkeit geübt hat, wie sie in der Gemeine Christi nie hätten vorkommen sollen. Nur die Nachwirkungen ihrer Prinzipien in den Reforma­ toren waren es, welche von Anfang die evangelische Gemein­ schaft zerrissen und einen Servet und andere wegen Abwei­ chungen von der Athanafianischen Trinitätslehre selbst dem Scheiterhaufen oder grausamer Einkerkerung überlieferten. D arum , Königliche Majestät, scheinen mir diejenigen, wenn auch vielleicht in treuer Meinun , sich an dem Geist der evangelischen Kirche schwer zu versündigen und die kirch­ lichen Wirren unter uns selbst nur zu vermehren, welche das Heil derselben suchen möchten in der, nach dem Willen des Herrn durch die Entwicklungsgeschichte der drei letzten J a h r­ hunderte als unmöglich ausgesprochenen, unbedingten Rück­ kehr zum Buchstaben unsrer kirchlichen Bekenntnißschriften, den die Reformatoren selber heute zum adäquaten Ausdruck des evangelischen Glaubens, Lebens und Lehrens ungenügend finden würden. Darum aber lebe ich auch des Glaubens, daß wenn aus Grund heiliger Schrift und mit geziemendem Worte die Reformatoren öffentlich in der Gemeinde beurtheilt werden, selbst mit Tadel dessen, worin sie noch nicht im vollen

Lichte und Geiste des Erlösers gehandelt, dies nach ihrem eigenen Sinne geschieht und im Interesse des Werkes, das der Herr durch sie einst begonnen. Geruhen Ew. Majestät mir Allergnädigst zu gestatten, mich nun auch über den zweiten Punkt Ihres Mißfallen in wenigen Worten ehrerbietigst äußern zu dürfen. Es ist nach meiner Predigt so erschienen, als ob durch die Behauptung einer fortgehenden Entwicklungsfähigkeit und Entwicklungsbedürstigkeit der Lehre, der feste Glaubensgrund einer objektiv gegebenen göttlichen Offenbarung, wo nicht geleugnet, doch ignorirt, und die subjektive Gewißheit und Freudigkeit des Glaubens beeinträchtigt werde. Daß nun das Christenthum als Dogma betrachtet, sich immer weiter ent­ wickelt habe und entwickeln werde, und alle in ihm liegenden Keime der Lehre aus der inneren göttlichen Fülle, wie fie in der Schrift noch concentrirt sind. nach dem Entwicklungsgang des menschlichen Bewußtseins, nach psychologischen und histo­ rischen Gesehen und Veranlassungen in das Licht der Be­ stimmtheit hervortreiben, welchem Kenner der Kirchengeschichte könnte dies als Thatsache zweifelhaft sein? Was find denn alle Lehrstreitigkeiten in der Kirche anders, als — im großen angesehen — Arbeiten des Geistes, der nach der Weissagung des Herrn die Gemeine immer mehr in alle Wahrheit leiten will? Was sind alle Symbole und Konfessionen anders, als individuelle Gestaltungen des einen und selbigen Lehrstoffs, der an sich thatsächlich in Christo objektiv gegeben, aber auf lebendige Weise dem denkenden Bewußtsein nur individuell angeeignet werden kann? Die göttliche Offenbarung in dem Erlöser ist die absolute, vollkommene, aber unser Verständniß derselben ist nie vollkommen und soll immer im Wachsen sejn. Sydow, Lkbcnöbild. 5

Wie auf dem praktischen Gebiet beides wohl miteinander be­ stehen kann, das Bewußtsein, wir seien in Christo gerecht­ fertigt und Heilige, und dennoch die Heiligung der Gemeine und des Einzelnen ein nie vollendetes und stets wachsendes Werk fein soll, so auch auf dem theoretischen die Gewißheit, daß wir in Christo die Wahrheit haben und doch immer in ihrer Erkenntniß zunehmen muffen. Wenn ich aussprach, der Erlöser habe uns keine fertige Dogmatik hinterlassen, so ist damit die göttliche Offenbarung in ihm nicht zweifelhaft ge­ macht, sondern in ihre wahre Würde eingesetzt. Nämlich die irrige Vorstellung der dogmatischen Christen, die Offenbarung bestehe in einem System übernatürlich mitgetheilter Erkennt­ nisse oder Wahrheiten, ist von jeher die ergiebige Fundgrube aller Zänkereien gewesen, durch welche in der Kirche je und je der friedliche, selige Genuß des religiösen Lebens mit seinem lauteren Einfluß auf das Handeln, wie auf die For­ schung verkümmert worden ist. Offenbarung ist M ittheilung göttlichen Lebens an die menschliche Natur, sie ist vollkommen in dem gewesen, in welchem die Fülle der Gottheit wohnte, und durch den uns Allen das heilige und selige Leben nach Gottes Rathschluß dargeboten ist. I n ihm trat es in abso­ luter Vollkommenheit und Reinheit in W ort und That her­ vor; das Dogma ist erst das Sekundäre, Werdende, mannig­ fach Bedingte und Vermittelte. Wollen Ew. Majestät Sich ein Beispiel von einem andern Gebiete her gefallen lassen. Wie die Religion das Leben Gottes, des Heiligen, im Ge­ müth ist, so ist das Schöne auch zunächst etwas Lebendiges im Gemüth. Wo es nun kräftig ist, und nicht blos Sinn und Empfänglichkeit bleibt, da tritt es hervor und offenbart sich in Rede und B ild; und die Aesthetik ist nichts andres,

als gleichsam die Dogmatik für das Schöne. Könnte nun je das Schwören auf ein bestimmtes ästhetisches System das Leben des Schönen im Gemüth erzeugen oder ersetzen? Oder ist es auch nur nöthig, daß der lebendige Genius sich immer getrieben finde, ein bestimmtes wissenschaftliches System über sein Wesen und Wirken zu bilden oder anzunehmen? .Er bildet sich auf lebendige Weise an den Schöpfungen höherer, stärkerer Geister. Dies ist ein entferntes, immer noch unend­ lich zurückbleibendes Bild von dem Verhältniß der Seele zu dem, in welchem durch Jnwohnung der Gottheit die Erlösung und Neuschöpfung der menschlichen Natur begründet und offenbar geworden ist. Fern also muß es meiner Seele sein, die Offenbarung in Christo, dem Sohne Gottes und Heiland der Welt zu leugnen oder auch nur zu ignoriren: sie ist ja die alleinige Quelle alles wahren Lebens. Aber ebensofern muß uns evangelischen Christen eine träge Genügsamkeit liegen an dem, was, wenn auch von den größesten Geistern aus der Fülle des Erlösers gewonnen, immer nur, gegen diese Fülle gehalten, eine vervollkommnungsfähige Errungen­ schaft bleibt. So gut wir evangelische Christen eine allein­ seligmachende äußere Kirche verwerfen, so gut auch eine allein­ seligmachende Dogmatik, wir hätten sonst bei unserer Trennung von der römischen Kirche für die unevangelische Knechtschaft nur den Namen getauscht. Königliche Majestät, ich habe in meiner Predigt von den Bekenntnißschristen unsrer Kirche nicht ausdrücklich geredet, welchen heutzutage Viele — nament­ lich eifrige Lutheraner — als reinen Ausflüssen der Schriftlehre ein zwingendes und gebietendes Ansehen vindiciren möchten. Aber ich gestehe willig ein, daß der Geist meiner Predigt indirekt über sie geurtheilt hat. Diese herrlichen

Zeugniffe des reformatorischen Wirkens find anspruchsloser, als ihre heutigen Verehrer es meistens find. Nie ist es ihr Zweck gewesen, fich der Unterordnung unter Gottes Offenbarung, wie sie in der Schrift uns bezeugt wird, zu entziehen, nie ihre Abficht, für alle Zeiten der evangelischen Kirche auch nur eine bindende Norm für das Verständniß dieser Offen­ barung aufzustellen. Verlangen wir also nach dem Geist der evangelischen Kirche ein freies Bewußtsein der Gemeine über fie, wird dadurch unsere Kirche zu Grunde gehen? Oder ver­ lieren wir uns in das Unbestimmte und Farblose, solange uns Christus bleibt und sein Wort? Welche Stellung diese öffentlichen Glaubensschriften nach dem äußeren juristischen Standpunkt zur Kirche haben können, liegt weder der Ge­ meine, als solcher, noch deut Geistlichen ob, zu bestimmen, sondern denen, welche in der Kirche das Regiment zu üben haben. Aber es darf gewiß aus einer evangelischen Kanzel aus der christlichen Idee heraus auch über fie in weiser und geziemender Art gesprochen werden, schon darum, weil nach evangelischen Grundsätzen die Regimentführenden in der Kirche ja zugleich Brüder in derselben und Glieder der Gemeine sind. Wollen Ew. Majestät mir daher die Gnade erweisen, wie ich vielleicht in meinen Ueberzeugungen auch irren mag, wenig­ stens nicht zu verkennen, daß es in guter, evangelischer Meinung geschieht. Es darf einmal consequenterweise in der evangelischen Kirche kein höheres Ansehen gelten, als das Zeugniß des Geistes Christi, welches fich auf freie Weise an dem Worte Gottes normirt. Und hierin wollen Ew. Majestät Allergnädigst die Gewähr finden, daß nach meinen ausge­ sprochenen Ansichten die Gewißheit und der freudige Besitz­ stand des Glaubens so wenig gefährdet wird, daß er nach

meinem unvorgreiflichen Dafürhalten vielmehr nur so. auf innerliche, lautere und lebendige Weise bestehen kann. Stellen sich meinem bestem Wissen und Gewissen nach die oben erörterten Gedanken und geistigen Verhältnisse nur in dieser Weise als echt evangelisch meiner Seele dar. so dürste mir aber doch vielleicht mit Grund gesagt werden können: Habe diese Ueberzeugungen, aber predige vor der Gemeine nicht über Dinge, die ihr fern liegen, und durch deren Anregung nur Mißverständniffe und Aergernisse ent« stehen können! I m wesentlichen folgt schon aus dem obett erörterten, was hierauf zu entgegnen sein würde. B ei einem evange­ lischen Geistlichen soll zwischen Privatüberzeugung und aus­ gesprochener kein Gegensatz sein. sonst verlasse er lieber die Kanzel; er soll dem Apostel ähnlich reden, w e il und w ie er glaubt. Ferner, sowenig es in der evangelischen Kirche einen Gegensatz von clericalischer Vollmacht und absoluter Laien­ abhängigkeit geben kann, ebensowenig einen Gegensatz der Wissenden und Glaubenden oder der esoterisch und esoterisch Wissenden. Darum muß auch, nur in geziemender Weise und mit seelenleitender Weisheit, vor der Gemeine können ge­ predigt werden, was für das Glaubens- und Gemeinheleben dermalen von Wichtigkeit ist und Noth thut. Von dieser Art aber kündigen sich doch in unsrer Zeit die Gegenstände an, welche ich in meiner Predigt direct oder indirect berührte."— Auch dieser Brief gab Veranlassung zu einer ausgiebigen mündlichen theologischen Auseinandersetzung, die zwar zu keinem Vergleich führen konnte, aber Sydow's persönliche Stellung in den Augen des Königs nicht schädigte, sondern nur befestigte.

An Stelle der dis dahin fast stillen Atmosphäre des Hofes und des öffentlichen Lebens war durch den Regierungs­ wechsel mit einem Male eine ganz neue und bewegte Strömung getreten. Der König zog mehr und mehr die Koryphäen der Wisienschast und Kunst in feine Nähe, und nur kurze Zeit war seit der Thronbesteigung verstrichen, als er auch ein Projekt, an dem er (wie Bunsen an Perthes schrieb) schon seit „seiner- Jugend gehangen hatte", mit dem Eifer und der Dringlichkeit, die ihm in solchen Fällen eigen war, in Angriff nahm. Es betraf die Gründung „eines evangelischen B is­ thums in Jerusalem". Der König empfand die Stellung der Christen im gelobten Lande als eine schimpfliche, und hatte als freilich unausführbares Ideal den Gedanken ge­ habt, daß durch die Intervention sämmtlicher christlichen Mächte den Christen die heiligen Stätten dort sollten einfach überantwortet werden. Nach der Erkenntniß der Unausführ­ barkeit des Planes in dieser Ausdehnung wandte er seine Blicke nach England, wo man auch bereits angefangen hatte, der Sache Aufmerksamkeit zu schenken. Er berief im April 1841 B u n sen , der damals in Bern Gesandter w ar, nach Berlin, um ihn mit der Mission des Unterhändlers in dieser Angelegenheit nach London zu schicken, und dieser entledigte sich seiner Mission auch ganz im Sinne seines königlichen Auftraggebers. S ir R o b e rt P eel, der eben das Ministerium übernommen hatte, kam den Plänen Friedrich Wilhelm's IV. mit großer Bereitwilligkeit entgegen, und war bereit, jedes Vorhaben zu unterstützen, das England mit der ersten pro­ testantischen Macht des Kontinents in näheres Verhältniß bringen könnte. Es gelang durch Parlamentsakte ein „eng­ lisches Bisthum in Jerusalem" zu gründen, dessen Ausstattung

der König von Preußen zur Hälfte gewöhne, während die andre Hälfte durch Sammlungen in England aufgebracht wurde. D er preußischen Regierung gab man als Aequivalent, daß deutsche Gemeinden und Missionare an dem Schutze Antheil haben sollten, welcher diesem kirchlichen Institut auf diplomatischem Wege bereitet war. Die Consecration des ersten Bischofs, der englischerseits dorthin. geschickt wurde, ging bereits Ansang November des Jah res 1841 vor sich, während noch die Differenzen nicht beseitigt waren, ob — was preußischerseits von einer P artei sehr warm gewünscht wurde — die deutschen Pfarrer, die im gelobten Lande ihr Amt verrichteten, sich nicht etwa einer anglikanischen O rdination zu unterziehen hätten. B u n s e n , nachdem die Sache soweit gefördert und er sein Gutachten abgegeben hatte, wünschte sich davon zurückzuziehen. D er König aber, der in ihm den M ann gefunden hatte, den er seinen Plänen und Ideen am verständnißvollsten zugänglich wußte, beauftragte ihn, indem er die Entlassung nicht an­ nahm, „ statt der vorläufig komponirten kleinen Liturgie für die syrische Kirche aus allen Provinzial-Agenden eine solche zum sonntäglichen Gebrauch zu komponiren, für die Festtage aber die der evangelischen Gemeinde in Rom zu wählen," — und ernannte ihn Anfangs November zum Gesandten in London. Hand in Hand mit diesem Unternehmen ging aber das Interesse, das der König an den englischen Kirchenverhält­ nissen überhaupt nahm, und so beschied er in jenen ersten No­ vembertagen Sydow zu sich, um ihm zu eröffnen, daß er ihn als Mitglied einer Commission, die außer ihm noch aus dem Ober-Confistorialrath Otto von Gertach, dem Stadtvoigtei-

Prediger Uhden und dem Oberbaurath Stüler bestand, nach England zu schicken beabsichtige. Ihre Aufgabe sollte darin bestehen, „über die M ittel und Wege zu berichten, durch die dort den kirchlichen Mängeln abgeholfen wird," da in Berlin, ähnlich wie in London, seit einem Jahrhundert die kirchlichen Versorgnngsmittel gegen den rapiden Anwachs der^Bevölkemng und die neu erwachten Bedürfnisse lebendigerer Religiosität zurückgeblieben waren. Die Wahl des Architekten in diese Commission bezog sich auf diejenigen Paragraphen ihrer I n ­ struktion, welche Auskunft über die neuerbauten Kirchen und Schulen in Bezug auf ihre Zweckmäßigkeit sowohl als äußere Schönheit der Ausstattung forderte. Sydow speziell erhielt den Auftrag, daneben über das nun von England und Preußen gemeinsam gegründete „B is­ thum von Jerusalem" ein Gutachten abzugeben, und sich mit Uhden an den liturgischen Arbeiten Bunsen's zu betheiligen. Ihre Abreise sollte auf Wunsch des Königs sofort stattfinden. Vergeblich bat Sydow den Auftrag einer geeigneteren Persönlichkeit zuzuwenden, da ihm die englische Sprache völlig fremd war. „D as lernt sich am schnellsten an O rt und Stelle" war aber die Antwort des Königs, und so gelang es ihm nur mit Mühe, einen Aufschub von 14 Tagen zu er­ reichen , um sein Haus bestellen und für genügende Vertre­ tung im Amt, besonders im Confirmandenunterricht Sorge tragen zu können, da die Dauer des Aufenthalts unbestimmt war. Für den Confirmandenunterricht trat sein lieber Freund, Prediger Eltester von der Heiligen-Geist-Kirche ein, der den­ selben in Treue während der Jahre, zu denen sich die Ab­ wesenheit ausdehnte, ertheilt hat. D as Wenige, was Sydow in diesen zwei Wochen in

schnell hinter einander genommenen Stunden von der eng­ lischen Sprache in sich aufnahm, war derart, daß er es mög­ lichst schnell wieder zu vergessen suchen mußte, um drüben ganz von vorn anzufangen. Seine Kinder ließ er unter der Obhut der Großmutter und der einen Tante, die seit einem Jahr Mutterstelle an ihnen vertraten, zurück, und reiste in der Nacht nach dem 23. November „sehr schweren Herzens" ab, nachdem der Tod vier Wochen vorher von neuem im Hause eingekehrt war und die jüngste Schwester seiner Frau von allerdings lang­ wierigen Leiden erlöst, der Großmutter aber damit den Lieb­ ling ihres Herzens genommen hatte. D ie Reise — ohne Eisenbahn — war damals ein sehr viel schwierigeres Unternehmen als heute. „Abgearbeitet und nervös herunter, voll Sorge über seine zurückgelassenen Kinder und voll Bangen vor der ihm gewordenen Aufgabe," be­ schreibt er seinen Gemüthszustand selbst als einen „trost­ losen", und schildert dann die erste Erhebung aus demselben, die aber kräftiger als Alles wirkte, nämlich den Anblick des Meeres, das er von Hamburg nach London bei sehr stürmi­ scher Ueberfahrt zum ersten M ale sah und, von der See­ krankheit verschont, in seiner ganzen Großartigkeit genoß. D as erste Unternehmen nach erfolgter Landung galt der Aufgabe, eine Unterkunft zu finden, in der die möglichst schnelle Erlernung der Sprache erreicht werden könnte. Zwei verfehlte Versuche verzögerten dieselbe. Ein erster Brief pri­ vater Natur vom 25. Februar 1842, also 3 Monate nach der Abreise, an den Minister Eichhorn berichtet diesem dar­ über, wie über die bisherigen Eindrücke und Erfolge:

Ew. Excellenz Hatten die Gewogenheit, mir aufzutragen, unabhängig von der endlichen Berichterstattung über diejenigen Gegen­ stände, deren Ermittelung den ausdrücklichen Zweck unsrer Sendung nach England bildet, Ihnen zuweilen Nachrichten über uns zu geben. Ich verbinde die Erfüllung dieses Auf­ trages mit dem wohlthuenden Gefühl, auf diese Weise zu­ gleich mich Ew. Excellenz vertrauensvoll zu nahen und Ihnen von Neuem die ehrfurchtsvolle Ergebenheit meines Herzens auszusprechen. D er Eindruck, den die unermeßliche S ta d t, die Neuheit und unendliche Fülle der uns bestürmenden Erscheinungen auf uns machte, war überwältigend und chaotisch, namentlich viel­ leicht für mich, der ich, wie ich mich bald überzeugen mußte, in einer viel größeren Unkenntniß der Sprache, als ich zu Hause gedacht hatte, wie vor einer fast gänzlich »erschlossenen W elt dastand. — Ich habe 10 Tage in rastloser Sorge ver­ lebt, bis mir klar wurde, daß ich mich eigentlich so gut wie nicht anwesend in London betrachten müsse, bis sich O hr und Verstand der Rede nicht wenigstens so weit gebildet habe, daß ich die Menschen hier v e rn e h m e n könne. S o entschloß ich mich kurz, mich in das H aus eines gewesenen Curate zu O ld Ford bei Bow, 4 Englische Meilen von London, in Pension zu geben, um hier, nur von Englisch Redenden um­ geben, erst bis zu einem gewissen Grade einer Sprache mich zu bemächtigen, die weniger als irgend eine andre nur aus Grammatik und Lektüre gelernt werden kann. Vor 14 Tagen bin ich zurückgekehrt und habe seitdem die Freude, bei den

von uns besuchten Gottesdiensten 'der Predigt so vollständig gefolgt zu sein, daß ich über In h a lt und Form eines eignen Urtheils fähig bin. Ich habe seitdem hier bei einem jungen Gelehrten Konversationsstunden genommen und kann sagen, daß in demselben Grade, wie das Verständniß in der Unterredung und die Fähigkeit eigner Darstellung, so auch der M uth zu meiner m ir aufgegebenen Sache wächst. W ir sind inzwischen für diese nicht unthätig gewesen. Nicht nur die Lektüre nothwendiger Bücher, als das Studium des Common prayer-book (besonders der Liturgie und der Artikel), ohne welches weder Wesen noch Geschichte der Eng­ lischen Kirche verstanden werden kann, der Homilies, mehrere Charges der Bischöfe von Winchester,. Chester, Calcutta rc., die ein lebendiges Bild der gegenwärtigen kirchlichen Zu­ stände und Nachrichten über die neugegründeten Kirchen und Schulen in verschiedenen bischöflichen Diöcesen geben, die reichlich erscheinenden Pamphlets über das Bisthum von Jerusalem, an dessen Beurtheilung sich höchst instruktiv die verschiedenen parties der Englischen Kirche herausstellen, einige Sachen von Coleridge, aus denen die Idee der politischen Seite der Kirche am tiefsten klar wird, und manches An­ dere, mit dessen Aufzählung ich Ew. Excellenz nicht ermüden will — nicht nur diese Lektüre hat uns beschäftigt und ur­ teilsfähiger gemacht, sondern wir haben, so viel möglich, auch die eigene Anschauung gesucht. W ir haben in und um London mehrere parishes und einige Schulen besehen und die Bekanntschaft ausgezeichneter Geistlichen der Anglikanischen Kirche gesucht und gefunden. Die Schwierigkeit für die Erforschung unsrer Objecte ist

größer, als man glauben sollte. Ich schweige von den äuße­ ren Hindernissen, den ungeheueren Entfernungen, die jeden Besuch zu einer Art von Reise machen, der Kürze und schäd­ lichen Unannehmlichkeit der Wintertage; die größere Schwierig­ keit, bei der geistigen Beschaffenheit unsrer Objecte, liegt in den hiesigen Verhältnissen selbst. M an kann hier in keine Registratur gehen, die etwa durch amtliche Empfehlung ge­ öffnet würde, um übersichtlich und vereinigt die nöthigen Data auszufinden; denn es macht sich Alles hier mehr auf leben­ dige und persönliche Weise und mehr brevi manu. Bei der Einweihung der neuen S t. Andrew Chapel in Dethnal Green waren wir neulich. Der Bischof von London unterzeichnete vor dem Altare die Fundations- und Weihungsurkunde des Kirchleins; vielleicht außer den Bauplänen und Kostenan­ schlägen ist dies das Einzige, was sich Geschriebenes über die Abzweigung des parisb und das endowmcnt desselben vor­ finden möchte. Alles entwickelt sich hier historisch und kann in seinem Werden nur aus dem Gesammtorganismus des Englischen Lebens begriffen werden. Wenn auch ein höherer christlicher S inn die Männer, die wir aufsuchen, bewegen mag, die natürliche Verschlossen­ heit und Schweigsamkeit ihres Nationalcharakters gegen einen Fremden abzulegen, so begegnet uns, daß das, was sie sagen können, nicht das ist, worauf es uns in der Regel am meisten ankommen muß; sondern dieses Letztere liegt gleichsam im Rücken ihres eignen Bewußtseins und ist in ihnen selbst mehr unmittelbar, als verstandest da. Dazu kommt die Eigen­ thümlichkeit, daß, soweit irgeni) etwas von Bedeutung oder mit solchem Zusammenhängendes Einem klar und bewußt wird, ist es sofort entschiedenste Parteisache. So lehrreich

dies nun einerseits für den Beobachter ist, da fich jede Idee und Richtung, auf das Entschiedenste und Einseitigste aus­ prägt und also leichter erkennbar wird, so hemmt es andrerseits außerordentlich den Abschluß des Urtheils, indem es demselben immer Ingredienzien mitgiebt, die, nachher ausgemerzt, die Sache so anders stellen, daß oft zum Anfang der Untersuchung zurückzukehren ist. Nicht daß die Berichterstatter absichtlich täuschen wollten, nein, sondern es ist ihnen in dem Eifer ihrer, nicht mit deutscher Objektivität und Prüfungsbedächtigkeit gewonnenen, sondern im Willen für eine Partei ergriffenen Ueberzeugung kaum bewußt, daß sie Fakta ignoriren oder in eine solche Beleuchtung stellen, daß der Fremde dadurch oft in die sonderbarsten Widersprüche hineingeräth. Der Moment unserer Anwesenheit hier kann nicht be­ lehrender und interessanter sein. D as neue Leben, welches in der anglikanischen Kirche erwacht ist, äußert fich imponirend. Wir würden aber gewiß sehr Unrecht haben, wenn wir mit unserer deutschen Redlichkeit und Billigkeit unbesehens A lle s und Alles durchaus für eine freie Wirkung des heiligen Geistes halten wollten. Die bischöfliche Kirche, als etablirte Staatskirche, befindet fich vielmehr in den Anstrengungen einer wahrlich nicht ganz leichten Nothwehr. Furchtbarer, als im Auslande erkannt werden mag, wächst ihr der Puseyismus heran. Wie Ew. Excellenz wissen, ist sein Ausgang und Sitz zu Oxford eine höchst bedeutende geistige Macht, die nach der bekannten Einrichtung der beiden englischen alten Universitäten, durch die Inhaber ihrer degrees und Pfründen, mit ihrem Einfluß durch ganz England reicht. Uebermorgen nun, den 27. d. Mts., ist bei einer Profefforwahl, die über einen puseyitischen und nichtpuseyitischen Bewerber entscheidet,

eine geistige Schlacht, in der zwar die bischöfliche Partei siegt, aber die Kräfte sich doch nach sicheren Nachrichten schon nur wie 2 : 3 verhalten, indem der Puseyit 600 und einige, und der Bischöfliche 900 und einige Stimmen hat. Auf der an­ deren Seite hat der DissentismnS, der ihr täglich mehr lebensund unterrichtsbegierige Glieder raubte, die verweltlichte und erstarrte Staatskirche aus dem trägen Schlummer geweckt und sie bewogen, zu ihrer Vertheidigung wieder mehr für religiöse Belebung und die Schulbildung des Volkes zu thun. Zu diesem Allem kommt dann noch der heimlich, aber sehr er­ folgreich um sich wuchernde Katholicismus, gegen den die englische T h e o lo g ie wenigstens nur mit äußerst verrosteten Waffen zu kämpfen im Stande ist. Ob es ihr, der S ta a ts­ kirche, die in sich keineswegs so konsistent ist, wie man ge­ wöhnlich glaubt, indem drei Elemente, das evangelische, das politische und das hierarchische in ihr gähren, gelingen wird, den S turm zu beschwören, steht dahin. Es scheint eine Lehre der Geschichte zu sein, daß England die kirchlichen Erschei­ nungen Deutschlands, auf seine Art, einige Jahrzehnte später richtig wieder durchzumachen bekommt. Zu diesem Allem kommt dann noch der jetzige sociale S tand des Landes, denn die englischen Bischöfe sind kirchliche Staatsm änner. S ie deuten es in ihren Charges offen an, daß kirchliche M ittel allein einem furchtbar hereindrohenden Unheil vorbeugen könnten, und so treten diese M ittel den politischen Plänen, etwa einer großen Colonisationsauswanderung oder dergl. hülsreich an die Seite. I n diesem Sinne spricht das Hochtorystische und hochkirchliche Parlam entsm it­ glied für Oxford, S ir Rob. Jn g lis, die colossale Forderung aus, es müßten so viele Kirchen erbaut werden, daß jedes

mündige Glied der Staatskirche einen eignen Sitz im Hause des Herrn habe; und London soll in 600 Kirchspiele getheilt werden, damit jede Gemeine etwa nur 3000 Seelen zähle, um besser kirchlich zusammengehalten zu werden. Großartige Gedanken, aber offenbar gefaßt nicht ohne Ahnungen einer möglicherweise sehr bedrohlichen Zukunft. W ir haben uns bisher nur mit der Landeskirche beschäftigt, und denken uns dann in einiger Zeit an den vielverzweigten Diffentismus zu machen. Ob derselbe, oder der schottische Presbyterianism us oder keiner von beiden unserm deutschen protestantischen Wesen näher stehe als die Hochkirche, will ich nicht im V oraus sagen. Gewiß ist, daß die schottische Kirche für unsere heimischen Verhältnisse äußerst lehrreich ist. W ir sangen mehr und mehr an, die Dinge hier zu ver-' stehen. Hier wird alles Einzelne nur aus dem Ganzen klar, und das Ganze nur allmählich aus den vielseitigsten Combi­ nationen des Einzelnen. I n meinem und meines Freundes Uhden Namen, der die Bezeigungen seiner Ehrfurcht gegen Ew. Excellenz durch meine Feder vermittelt, trage ich Ew. Excellenz die Bitte vor, den ersten Theil unseres Auftrags nicht strenge nach den Kategorien unserer Instruktion bearbeiten zu dürfen, wie denn auch Ew. Excellenz Absicht vielleicht nur dahin ging, ;un§ gewisse directive Gesichtspunkte hinzustellen, deren Verfolgung sich nach dem Befund der Sache zu modisiciren habe. Allerdings sind die Verhältnisse hier in vieler Beziehung so ganz anders als bei uns, daß sie zu ihrer richtigen Würdigung bei uns erst gleichsam einer Übersetzung bedürfen. D as Leben und die Thätigkeit meines Freundes und Reisegefährten Uhden ist der meinigen immer parallel ge-

gangen. Eine kurze Krankheitszeit abgerechnet, haben wir Alles gemeinschaftlich gesehen und getrieben, was auch unsern Zwecken gewiß nicht unförderlich gewesen. Während meiner Abwesenheit aus London hat Uhden sich theils wissenschaftlich beschäftigt, theils lehrreiche Besuche gemacht. Auch arbeitet er auf dem brittischen Museum für Dr. Neander über Wiclif'sche Handschriften. Ich habe auf den Wunsch des Dr. Steinkopsf mehrere M al, Uhden einmal in der deutschen Savoy-Kirche gepredigt. Genehmigen Ew. Excellenz den Ausdruck der ehrfurchts­ vollen Ergebenheit, in der ich verharre rc. London, den 25. Februar 1842. Gleich nach der Ankunft hatte der Prinz Albert in S t. Jam es Sydow in einer Audienz empfangen, ohne ihn der Königin Victoria, die grabe abwesend war, vorstellen zu können. Als aber am 3. Januar 1842 die Eröffnung des Parlaments stattfand, erhielt derselbe im Austrage der Königin eine Ein­ laßkarte zugeschickt, und schilderte in seinen Berichten nach Haus den großartigen Pomp, der dabei in Scene gesetzt wurde, „die prächtigen Horse-Guards, die Yeomen der Leibgarde, die Pairs in ihrer Amtstracht, und zuletzt der Zug der Königin". Als er bald darauf Vormittags nach Windsor fuhr, um durch den Baron Stockmar, den väterlichen Berather des Prinzen sowohl wie der Königin, feinen Dank aussprechen zu lassen, führte ihn derselbe auf Wunsch des Ersteren, der ihn hatte kommen sehen, in das Cabinet desselben. Als nach wenigen Minuten die Königin an der offenen Zimmerthür vorüberging, rief dieselbe den Prinzen heraus, der, als er wieder eintrat, Sydow von dem Wunsche der Königin unter-

richtete, daß derselbe an dem gleich stattfindenden lunchcon theilnehmen möchte. Sydow's Entschuldigung, nicht in full dress zu sein, fand kein Gehör, und so genoß er in ungezwun­ genster Weise zum ersten M al das Glück des Verkehrs mit der Königin und dem Prinzen, denen später, während seines drittehalbjährigen Aufenthaltes, näher zu treten, zu den wer­ thesten und liebsten Erinnerungen seines Lebens gehörte, weil es ihm vergönnt wurde, in ganz verschiedenen Situationen immer „die schönste Vereinigung fürstlicher Hoheit und ächter Menschlichkeit" unmittelbar anschauen zu können. N ur der Herzog von Wellington, S ir Robert Peel, der zum V ortrag nach Windsor gekommen, und der Baron Stockmar bildeten den kleinen K reis, welcher an jenem Morgen um den F rüh­ stückstisch der Königin vereinigt w ar, an dem die Unterhal­ tung ganz ungezwungen und lebhaft geführt wurde. D ie Königin, „eine schöne junge Frau, ganz anspruchslos in ihrem Wesen, voll Güte und Herzlichkeit, führte das Gespräch mit Lebhaftigkeit und Geschick, von Wichtigerem zu Unbedeuten­ derem, immer mit gleichem Interesse". Als man auf Eisen­ bahnen zu sprechen kam und Sydow erzählte, daß ganz kürz­ lich die B ahn zwischen Berlin und Potsdam eröffnet sei, und es für die Königin ein leichtes sein würde, auf ihrer Jacht über Hamburg sich Berlin zu nähern, und er äußerte, er glaube versichern zu können, daß nicht nur „sein König", sondern das ganze preußische Volk solchen Besuch mit hoher Freude begrüßen würde, rief die Königin, die bis dahin die Unterhaltung in fließendem Deutsch geführt hatte, plötzlich aus: „It is too good, to be true,“ und setzte sofort hinzu, „sie dürfe ja England nicht verlaffen, ohne vorher das P a r­ lament befragt zu haben". S y d o w , Lebensbild.

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I n dem Onkel der Königin, dem Herzog von Sufsex, der bald darauf die Bekanntschaft Sydow's zu machen wünschte, und dieselbe ebenfalls durch den Baron Stockmar einleitete, fand derselbe einen Mann, der eine bewundernswürdige Kennt­ niß der deutschen Theologie besaß, und von einem begeister­ ten Interesse für dieselbe, sowie für deutsche Wissenschaft und Poesie erfüllt war. Er hatte im Unterschiede von seinen Brüdern, die für See- und Militairwesen erzogen waren, eine überwiegend gelehrte Bildung genoffen, hatte in seiner Jugend den Kontinent wiederholt bereist, sogar in Göttingen studirt, und von dort manche, den Engländern, besonders damals noch, ftemde Sitten mit hinübergebracht. Im Besitz einer der größten Privatbibliotheken, die er in liberalster Weise Sydow zur Verfügung stellte, war er neben der persönlich herzlichen Freundschaft, die er ihm bald entgegentrug, auch ein kun­ diger Rathgeber in manchen wichtigen und schwierigen Verhältnissen, und sein Name öffnete ihm Thor und Thür zu den interessantesten und bildendsten Kreisen. D er Her­ zog war ein leidenschaftlicher Raucher, und ließ es sich nicht nehmen, so lange er lebte, Sydow, bei dem er auch-darin Verständniß fand, mit Tabak und Cigarren zu versorgen. Es gehörte aber das Rauchen damals in England noch zu den ganz verpönten Angewohnheiten, und so saßen sie bei ihren theologischen und wissenschaftlichen Disputationen manche halbe Nacht unmittelbar vor dem großen Kamin des Arbeitszimmers, um dem Rauch möglichst schnellen Abzug zu verschaffen, da die Gemahlin des Herzogs, die Herzogin von Jnverneß, für den ganzen Kenfington Palace das Rauchen streng untersagt hatte. — Nur fünfviertel Ja h r leider dauerte diese für Beide werthvolle Beziehung, da starb der Herzog im

April 1843, grade als sich Sydow auf einer Reise durch Schottland und Irla n d befand. Bei seiner Rückkehr nach London fand er aber auf seinem Tisch das große P o rtrait desselben, das er im Gefühl des herannahenden Todes noch für ihn bestimmt, und „given by bis siucere wellwisher and friend1 mit seiner Unterschrift versehen, ihm hinterlassen hatte. Eine Fülle von Beziehungen knüpften sich während dieses englischen Aufenthalts Sydow's an, die ihn bis an sein Ende in Verbindung mit drüben und in immer regem Interesse für die englische Nation und Entwickelung hielten. Nachdem er erst Herr der Sprache geworden, wuchs die Ausdehnung der Kreise, in die ihn theils seine Mission, die ihn hinübergeführt, theils das offene Auge, das er für Alles ihn interesfirende hatte, von selbst leitete, ganz überraschend. Die Berührungen mit den ersten theologischen und kirchlichen Größen wurden Ver­ anlassung, daß sein Haus später ein Sammelplatz der jungen englischen Theologen wurde, die zu ihrer weiteren Bildung nach Deutschland geschickt wurden, ebenso wie eine ganze An­ zahl junger Amerikaner später bei ihm Rath und Gastfreund­ schaft fanden, die durch seine Uebersetzung der Werke des Amerikaners Channing, die er nach seiner Rückkehr aus Eng­ land begann, an ihn gewiesen wurden. Nach viermonatlichem Aufenthalt in London konnte er seinen ersten banal service in englischer Sprache abhalten, und noch im Laufe des ersten Jahres predigte er auch englisch. D as Theater, das damals in Keau und Macready die besten Shakespeare-Darsteller besaß, gehörte nicht zum wenig­ sten mit zu den Hülfsmitteln, an denen er die Sprache stndirte und lernte.

E s vereinigte sich Alles, um ihm den Aufenthalt dort zu einem so lehrreichen und vielseitigen zu machen, wie es wohl Wenigen vergönnt ist. Die königliche Gunst, die ihn hin­ übergeführt hatte und die ihm auch dort seitens des Hofes erwiesen worden war, die ihn mit den ersten politischen Größen jener Zeit zusammen- und in nähere Berührung führte, ließ ihn in nächster Nähe persönlich an jeder interessanten Tages­ erscheinung Theil nehmen. Lord J o h n R ü sse l führte ihn z. B. selbst in das Schulwesen, als untrennbar von den kirch­ lichen Verhältnissen ein, inspicirte mit ihm und ließ in ver­ schiedenen Theilen Londons in Volksschulen unter seinen Augen Prüfungen anstellen. Hatte er so eine fast unüberwindliche Fülle von E in­ drücken aufzunehmen, und sie sich zum Nutzen der ihm ge­ stellten Ausgabe dienstbar zu machen, so fand aber auch sein Herz drüben bald befreundete Herzen, die ihm die lange Trennung von Heimath und Kindern zu erleichtern suchten. D er Correspondenz mit Potsdam, obgleich sie regelmäßig war, mußten doch gewisse Grenzen gesetzt werden, da jeder einfache Brief, wenn man ihn nicht grade durch Gelegenheit eines Couriers befördern konnte, in jener Zeit noch 18—20 S gr. kostete. D as H aus des damaligen preußischen General-Consuls H e b le r war der Mittelpunkt aller deutschen Elemente, und er selbst für dieselben der Vermittler der verschiedensten Bezie­ hungen. Unter dem gastlichen Dach des persönlichen S ta ll­ meisters des Prinzen, M eyer, des Lehrers der königlichen K inder, den derselbe mit aus Coburg hinübergebracht, hatte sich aber ein engerer Kreis der Landsleute zusammengefunden. Fand Sydow , wenn ihn seine Dienstreisen von London fort-

führten, auch an anderen Orten in Manchester und Edinburgh, im Schwabe'schen, im Hause Richard Cobden's, Welpdale's, Taylor's u. A. Beziehungen, die für das Leben geknüpft blieben, so wurden im Meyer'schen Hause, an „fröhlicher Tafelrunde in Pimlico" die Feste mit einander gefeiert, bei denen die Sehnsucht am lautesten nach der Heimath ver­ langte. — Weihnachten 1842 und 1843 hatte er aber die Freude, durch die Königin und den Prinzen zur Bescheerung und Weihnachtsfeier in Windsor gezogen zu werden. D er Prinz hatte die Sitte des Weihnachtsbaumes nach Eng­ land mit hinübergebracht und feierte das Fest in deutscher Weise als echtes Familienfest. Der B aron Stockm ar, dieser bedeutende und für die Geschichte des englischen und coburgischen Herrscherhauses so unschätzbare M ann, kam in jenen Jahren grade häufig und zu längerem Aufenthalt von Co­ burg nach England. Auch für Sydow , der ihn hochver­ ehrte, wurde derselbe bis zu seinem Tode ein ihm wohlwollend und freundschaftlich ergebener Gönner. Die preußische Gesandtschaft und speciell Bunsen's Hans Carlton Place war aber der O rt, in dem für Sydow, besonders während des ersten Jah res, die Fäden seiner Thätigkeit alle zusammen liefen. Dem Aufträge des Königs, fich an den liturgischen Arbeiten Bunsen's zu betheiligen, war er nachge­ kommen. „Kuhlo arbeitet eifrig an der Liturgie, Kappel an den Psalmen, S tip am Gesangbuch, Sydow am Gebetbuch. — Alle helfen willig und einsichtsvoll, aber es ist eine ungeheure Arbeit. — S tip und Sydow haben vortreffliche Verbesserungen vorgenommen, die ich mit Freuden angenommen habe," so schreibt Bunsen über ihre gemeinsame Thätigkeit. Aber Sydow's Urtheil über das ganze Unternehmen, das er schon

in Potsdam dem Könige gegenüber nicht verhehlt, und das sich in dem engen Zusammenleben und dem mündlichen Aus­ tausch, den er mit Bunsen während des ersten Jahres dar­ über pflog, nur bestätigte und befestigte, läßt schon nach den ersten Monaten, in einer Aufzeichnung vom 1. Januar 1842 „Ueber das Bisthum von Jerusalem.

Meine unvorgreiflichen

Ansichten rhapsodisch hingeworfen rc. ic." erkennen, von wie ernsten evangelischen Bedenken er dagegen erfüllt war. Aus­ führlich begründet aber findet sich sein Urtheil als ein abschlie­ ßendes, mit einem Protest gegen Bunsen gerichtet, in einem dreiviertel Jahr

später,

nach genauem und eingehendem

Studium dem Minister Eichhorn übersandten Bericht.

Er

bezeichnet darin mit freimüthiger Entschiedenheit die Liturgie, namentlich in Bezug auf das Abendmahl, als wegen ihres katholifirenden Charakters den Grundanschauungen und Leh­ ren unsrer deutschen protestantischen Kirche, „fremd und ge­ fährlich" und nennt darin „das Bisthum von Jerusalem ein todtgeborenes Kind".

Wußte er sich darin auch mit den An­

sichten und Absichten seines Königs nicht in Einklang, so konnte das an seiner Ueberzeugung und an der Pflicht, die­ selbe in dem von ihm geforderten Gutachten wahrheitsgemäß auszusprechen, nichts ändern.

Eine ganz neue Seite seines

Wesens aber war, wie er sich später genau bewußt blieb, während seines englischen Aufenthalts in ihm ausgegangen. Das reich entwickelte praktisch-kirchliche Leben hatte mächtig auf ihn gewirkt, und ihm den Gegensatz zu den heimischen Zuständen in grellem Lichte gezeigt.

Zum ersten Male be­

gegnet man in seinen Berichten dem tiefen und schmerzlichen Bedauern, „daß die deutsche evangelische Kirche keine G e­ meindekirche und darum ein nnlebendiges, kraftlos den

Hauptfragen des Lebens gegenüberstehendes Institut sei". „Bei uns kann von einer Kirche im vollständigen Sinne des Wortes keine Rede fein. Es ist schmerzlich, dies zu sagen, aber es wird nothwendig, daß wir uns nicht länger darüber täuschen. Bei dem Verhältniß zwischen dem S taate und dem, was wir unsre Evangelische Landeskirche nennen, und bei der Verfaffungs- und Regierungsform der letzteren, namentlich in den alten Provinzen unseres Vaterlandes, kann von einer K irch e, sofern solche ein w a h r n e h m b a r e s u nd u n te r ­ sc h e id b a re s S u b je k t sein so ll, m it e ig n en O rg a n e n fü r S e lb s tb e w u ß ts e in u n d S e lb s tb e w e g u n g , m it e ig e n th ü m lic h e n R echten u n d G e m e in s c h a ftsfo rm e n , w ie sie im W esen d er vom E r lö s e r a u s g e g a n g e n e n S ti f tu n g g e g rü n d e t s in d , kaum die R ede fein." „D as. C h ris te n th u m a ls K irche ist uns fast aus Be­ wußtsein und Erfahrung abhanden gekommen." E r beklagt es bei aller patriotischen Würdigung der wissenschaftlichen Tiefe und des Reichthums der deutschen Theologie, „daß wir Deutsche die höchsten Angelegenheiten des Menschen n u r bedenken, beforschen, beschreiben und bereden, und nichts weiter, und daß wir dadurch unleugbar vor lauter Theorie und Spekulation, im Ganzen förmlich in eine krankhafte Unfähigkeit zur B e­ th ä tig u n g und ethischen A u s g e s ta ltu n g hineingerathen find; daß die Wissenden unter uns voller gelehrter und ein­ gelehrter Erkenntniß, aber darum noch lange keine M ä n n e r und C h a r a k te re find". Wichtiger aber noch, als diese gewonnene Erkenntniß ist der schon damals von Sydow dem Minister freimüthig aus­ gesprochene Entschluß, im eignen Vaterlande nunmehr selbst das Seine zu thun, damit das „unter der staatlichen Bevor-

mundung cingeschlafene und erstorbene se lb ststä n d ig e G e­ m e in d e le b e n wieder erwache". I n Schottland stand damals die Kirche auf dem Höhe­ punkt des Kampfes für die Selbstbefreiung der presbytcrianischen Kirche aus den Banden des staatlichen Patronats. I n Edinburgh tagte zur Austragung dieses Conflictes die „general assembly“, der beizuwohnen Sydow beauftragt war. Nach stürmischen Debatten kam es zu einem vollständigen Bruch, der mit der Lossagung von über 200 Geistlichen von der establishcd church endigte, welche in feierlichem Zuge, unter Protest, die Kirche in der man tagte, verließen, um eine freie Gemeindekirche zu begründen. „Während mich innerlich unausgesetzt die zukunstreichen Verhältnisse der Heimath beschäftigen" — so schrieb Sydow dem M inister Eichhorn „nimmt mich zugleich die hier versammelte general assembly der Schottischen Kirche aus das Lebhafteste in Anspruch. I n der vorgestrigen Nacht ging nach neunstündiger stürmischer Debatte dieses kirchlichen Parlam ents mit 216 gegen 145 die „Ab s ch af f u n g a l l e s P a t r o n a t s " durch. Dieser Gewaltschritt einer eisernen, zu furchtbarem purita­ nischen Trotze fähigen Nation, der endlich den letzten Schein von Abhängigkeit der Kirche vom Staate vertilgt und der Kirche eine Jndependenz giebt, gegen die die römische selbst weit zurückbleibt, wird eine Epoche in der Geschichte ihrer Kirche beginnen, schwerlich zunächst eine segensreiche. Jam m er für die schöne Kirche! Auf beiden Seiten, S ta a t und Kirche, Sünde um Sünde! ich bin außer Stande, Ew. Excellenz jetzt etwas Näheres zu schreiben. O ft muß ich unwillkürlich unter der Debatte den Athem anhalten vor den Entscheidungen der ungeheuren Probleme, mit denen die Lippe der Redner, jetzt

im leidenschaftlichsten Affect, jetzt in erhabener Furchtlosigkeit umgeht. Ueberall hier aus der Insel regt sich Leben, ausgegofsen vom Herrn, aber nicht durch die hier oder in Eng­ land herrschenden kirchlichen Formen, sondern nur u n te r denselben, in vieler Hinsicht kann man sagen — u n g each tet derselben und gegen dieselben. J e länger ich hier bin, je lieber muß ich u n sre Reformation, u n sre Kirche, trotz aller ihrer M ängel, u n sre N ationalität gewinnen. Ich sehne mich herzlich heim, und doch freue ich mich täglich der Güte Ew. Excellenz, die mir diesen weiteren Kreis der Beobachtung verstattete. Ich glaube sagen zu dürfen, daß ich etwas hier gelernt habe; möchte es werth und tüchtig sein, durch Gottes Segen zum gemeinen Nutzen gereichen zu können." — Von Edinburgh nach London zurückgekehrt, unter dem Eindruck dieser wichtigen kirchlichen Entscheidungsschlacht, rüstete sich Sydow im Ju n i 1843 nach erledigter Mission und nach mehr als 1 '/, jähriger Abwesenheit, in die Heimath zurückzukehren, und stand im Begriff seine Abreise dem M i­ nister m itzutheilen, als ein unvorhergesehener Zwischenfall seinen Aufenthalt nöch um weiteres verlängerte: „Ich kam" — so schreibt Sydow hierüber dem M inister Eichhorn unterm 21. Ju n i von London — „vor 5 Tagen hierher, um an dem heutigen Tage nach Hamburg abzugehen. Unerwarteterweise wurde ich vorgestern zu S r. Kgl. Hoheit, dem Prinzen Albert, gerufen. Derselbe eröffnete m ir den Wunsch, von mir über die Schottische Kirchensache berichtet zu werden, welche hier in England nach meiner Ueberzeugung theils gar nicht, theils mißverstanden, und daher von dem Gouvernement aus eine, in vielem Betracht sehr beklagens-

werthe Weise falsch behandelt worden ist. M an hat keine Anschauung davon, scheint es, daß dieselbe seit Ja h r und Tag schon aus den engen Grenzen einer administrativen Rechts­ frage hinausgetreten war, und, eine constitutionale Prinzipien­ frage geworden, fich um die allerletzten und tiefsten Grund­ lagen eines Establishment’« überhaupt bewegte. D ies macht die m it bewunderungswürdiger Treue, Weisheit, Klarheit und O rdnung bewirkte Auflösung des Bundes mit dem S taate nach meiner M einung zu einem Ereigniß, das für alle pro­ testantischen Landeskirchen von unberechenbaren Folgen werden wird und muß; hoffentlich nicht als direktes Vorbild zur Nachahmung, aber zur allerheilsamsten Belehrung. Weder unter Constantin, noch irgendwo oder wann nachher, ist die Kirche Christi in die Gestalt einer Landeskirche eingetreten so, daß nur auf klar bewußte, geschweige denn aus eine beide Theile befriedigende Weise das neue Verhältniß zwischen S ta a t und Kirche regulirt wäre. D as Verhältniß wie es der Katholicismus faßt, verwerfen wir mit Recht; das Ver­ hältniß wie es bis jetzt der Protestantismus die Kraft ge­ habt hat zu gestalten, ist, meine ich überall ebenso schlecht, wo nicht schlechter. M ußte überhaupt ein Papst sein, so ist's angemessener, daß es ein Bischof ist und kein Fürst. Schott­ land unterscheidet sich von allen protestantischen Ländern da­ durch, daß Kirche und S ta a t den Bund geschlossen haben auf G rund bewußter statuarischer Fundamente. Ich verkenne nicht, daß dies auf ein Contractverhältniß zurückweist, welches dem deutschen Gemüth und Geist als etwas Flaches und Unedles erscheint, auf diesem Gebiete sowohl, wie auf dem des S taates in dem Verhältniß zwischen Fürst und Volk, und der Ehe in der Gemeinschaft von M ann und Weib. Vielleicht ist es

grade diese Unangemessenheit der Form, um derentwillen die treibende Kraft der- Idee das Schottische Establishment zer­ brochen hat; aber zugleich ist es die höchste und eine wohl­ verdiente Ehre, die die christliche Idee dem Schottischen Establishment angethan hat; es wird bester wiederhergestellt werden, und allen protestantischen Ländern dann in klarbe­ wußter Ablösung alle die Punkte gezeigt haben, wo die Ver­ bindung zu knüpfen ist. Ich erschrecke fast, daß ich über diesen Gegenstand in diesem B rie s e etwas schreibe, da es nothwendig etwas sehr Allgemeines nur und fast Absprechen­ des erscheinen muß; ich hoffe künftig Ew. Excellenz darüber zu genügen. Der Prinz Albert schien durch meine M itthei­ lungen über die Vorgänge in Schottland sehr beschäftigt. Gestern hat mich Ih re Majestät die Königin Victoria auf­ fordern lassen, wenn ich glaubte meinen Aufenthalt noch dazu verlängern zu dürfen, meine Ansichten über jenen Gegenstand mit Beziehung auf praktische Maßregeln für Allerhöchstdieselbe niederzuschreiben, oder wenigstens bevor ich abreiste, eine Unterredung mit S ir Rob. Peel zu haben. Während Letzteres mir unzweckmäßig schien, wußte ich keinen Weg mich dem ersteren, zwar sehr ehrenvollen, aber zugleich' mich beschämt und besorgtmachenden Austrage zu entziehen, und nur der Gedanke kräftigt mich, daß der Herr ja vielleicht auch ein schwaches Werkzeug gebrauchen kann, um der edlen Nation und Kirche der Schotten einen, wenn auch nur kleinen, guten Dienst zu thun. S o habe ich denn gewagt zu glauben, Ew. Excel­ lenz würden nicht zürnen, wenn ich vielleicht länger ausbleibe, um dem Begehren ihrer Brittischen Majestät zu gehorchen." D ie Antwort daraus war die Bewilligung eines weiteren Urlaubs zur Vollendung eines kirchenrechtlichen und kirchen-

geschichtlichen Gutachtens, das ihn noch 10 M onate in England festhielt, und in dem er sich für die „Freie Schottische Kirche" erklärte, ein Gutachten, das in englischer Sprache ursprünglich, von ihm später in seinem Buche „Die Schottische Kirchenfrage" zu Nutz und Frommen unsrer vaterländischen Kirchenverhältniffe deutsch ausgeführt wurde. Anfang M ärz 1844 war auch diese Arbeit beendet, und Sydow konnte nun endlich daran denken, in die Heimath zu­ rückzukehren, und verabschiedete sich bei der Königin und dem Prinzen. Letzterer stand im Begriff eine Reise nach dem Continent zu machen, um dem belgischen und coburgischen Hose einen Besuch abzustatten. Auf seinen Wunsch gab Sydow seine bereits festgesetzte Rückreise über Hamburg auf, und vertagte die Abreise abermals auf kurze Zeit, um in Begleitung des Prinzen, seines Adjutanten und seines Leib­ arztes auf der Privatyacht desselben zurückzukehren. Auch den Aufenthalt in Brüssel beim König Leopold theilte er für einige Tage, begleitete den Prinzen Albert noch bis Cöln, um nun direct nach Potsdam zu fahren, wo er in der Nacht des 1. April 1844 nach drittehalbjähriger Abwesenheit wieder eintraf.

Fünftes Capitel. N a c h d e r R ü c k k e h r v o n E n g l a n d , R u f na ch . Be r l i n , p o l i t i s c h e Thätigkeit.

W ar die Voraussetzung seitens Friedrich Wilhelms IV., in der er Sydow nach England hinübergeschickt hatte, die­ jenige gewesen, daß er die anglikanischen Kirchenverhältnisse nach eingehendem Studium für werth halten würde, um sie in ihrer Verfassung auf unsre Landeskirche zu übertragen, so

hatte derselbe von Anfang an keinen Zweifel darüber auf­ kommen lassen, daß er dies für eine durchaus verderbliche Maßregel halten würde. Es hatte fich eigentlich dämm ge­ handelt, ob eine presbyteriale, oder ob eine bischöfliche Ver­ fassung bei uns zur Geltung kommen sollte, und zwar hatte die Letztere viele Sympathieen sowohl des Königs, als auch der damals Einfluß übenden Persönlichkeiten für fich. D a s persönliche Wohlwollen und die Gunst, die der König Sydow trotz feiner, diesen Wünschen ganz entgegengesetzten Berichte während der Jahre, wo er drüben arbeitete, bewahrt hatte, und die fich auch äußerlich dadurch bekundete, daß er ihn erst decorirte und — wie aus den verschiedensten Briefen und Mittheilungen von Zeitgenossen ersichtlich ist — ihm die Aus­ sicht auf eine glänzende Laufbahn, ja „aus bischöfliche Ehren" nach seiner Rückkehr sicher gewesen wären — dies Alles hatte Sydow nicht bestimmen können, sich in seinem Urtheil und seiner Ueberzeugung zu beugen. Und er hat niemals in seinem Leben es beklagt, daß die Wendung, die er dadurch seinem äußern Lebensgang gab, eine total andre wurde, hätte er es anders doch nur auf Kosten seines guten Gewiffens erkaufen können. Gleich in das erste Jahr nach der Rückkehr, 1844, fiel die Berufung einer Provinzial-Synode, in welche, ebenso wie in die im Jahre 1846 abgehaltene G eneral-Synode, Sydow als M itglied und in erstere auch als zweiter Vorsitzender ein­ trat. Hatte der König sich angesichts der hilflosen und verbesse­ rungsbedürftigen Zustände innerhalb der Landeskirche Preu­ ßens entschlossen, dadurch den ersten Schritt zu einer selbstän­ digen Verfassung derselben zu thun, so war doch das Ergebniß dieser Versammlungen ein resultatloses. Sydow vertrat in der wichtigsten Commission, welche „die Bekenntniß- und Ver-

pflichtungsfrage" zu behandeln hatte, als zweiter Referent, nebenNihsch, d ie B e k e n n tn iß fr e ih e it und fordert dieselbe, „weil die evangelische Kirche — so meinte er — ohne ihrem eignen Entstehungstrieb in's Auge zu schlagen, prinzipiell die Möglichkeit nicht ableugnen dürfe, daß auch sie irren könne; sie müsse anerkennen, daß auch in der Reformation nicht der ganze, für alle Zeiten fertige Ausdruck für die unendliche Fülle, die in Christo ist, gefunden worden, sondern daß die lebendige Herausgestaltung Christi in Leben und Erkenntniß im beständigen Werden sei, und daß das Ziel der Vollkommen­ heit nur durch freie Gesammtthätigkeit immer mehr erreicht werde, an der keinem Einzelnen von vornherein seine M itbethätigung verkümmert werden solle." Wie entfernt er aber davon w ar, dem Eindringen un­ christlicher Elemente in die Kirche durch diesen Standpunkt Vorschub zu leisten, bewies seine Antwort auf die Frage, wie die Reinheit der Lehre erhalten werden solle: „Dadurch, daß man den christlichen Geist frei walten läßt, den einigen und heiligen Gottesgeist des frei machenden Evangeliums von Jesu Christo, dem Heiland und dem Leben der Welt. I n ihm lebt und webt seine Kirche." D er von ihm und seinen Freunden vertretene Standpunkt blieb dem von Nitzsch sormulirten Antrage gegenüber in der M inorität, der freilich „auch keine Verpflichtung auf die älteren traditionellen Symbole stattfinden lassen wollte," in seiner ganzen Formulirung aber derart w ar, daß er an der, durch den Bekenntnißzwang geschaffenen Unfreiheit praktisch nichts änderte. — Auch in seinem eignen Hause hatten sich für Sydow während der Zeit seiner Abwesenheit, in Bezug auf seine

Person wie auf seine Stellung, schwierige Verhältnisse aufgethan, die so in Frieden und Liebe zu überwinden und zu lösen, wohl Wenigen gegeben gewesen wäre. Seine Schwieger­ mutter war eine Polin und zugleich römisch-katholisch. Hatte ihr bis zuletzt lebhaftes, fast leidenschaftliches Nationalgefühl und die Verbindung, die sie mit ihren Landsleuten pflegte, schon zu manchen, große Nachsicht fordernden Situationen Veranlassung gegeben, so war bis dahin die religiöse und kirchliche Seite doch unberührt geblieben. Die Ehe, in der sie mit ihrem Manne, der evangelisch und preußischer Beamter in Posen war als sie ihn kennen lernte, gelebt hatte, war eine ungetrübt glückliche gewesen, und die Kinder aus seinen Wunsch und ohne irgend welche Weigerung ihrerseits, alle im evangelischen Glauben erzogen. Da war in dem Anfang der vierziger Jahre, in Folge der sogenannten „Kölner Wirren" der Conflict der Konfessionen in Betreff der gemischten Ehen ausgebrochen, und der Pfarrer der katholischen Ge­ meinde in Potsdam hatte von der Kanzel „die gemischten Ehen verflucht". Eine dem Hause Sydow's nahe befreundete Familie, von der die Frau ebenfalls katholisch war, schied so­ fort aus ihrer Kirche aus und trat unmittelbar nach seiner Heimkehr bei ihm zur evangelischen Kirche über. Seine Schwiegermutter aber, die aus Rücksicht für noch lebende und streng an ihrer Konfession festhaltende Verwandte, diesen Schritt für einen zu gewaltsamen hielt, hatte sich dem damals so plötzlich zu einem „neuen Luther" aufgeschwungenen Apostel der „Deutschkatholiken", Johannes Rouge, zugewandt war der in Potsdam durch ihn selbst gegründeten Gemeinde als eifriges Mitglied beigetreten, und so fand Sydow denselben in seinem Hause in seelsorgerischer Thätigkeit vor.

Konnte bei der bedeutenden Persönlichkeit seiner Schwieger­ mutter von einer dauernden Befriedigung derselben durch den Christkatholicismus nicht die Rede sei», so bedurfte es doch erst der ebnenden Zeit, um ihr diesen Schritt als übereilt klar zu machen, und aus eignem Bedürfniß ihres Herzens trat sie neun Jahre später, kurz vor ihrem Tode noch zur evangelischen Kirche über. W aren die Freundesbeziehungen in Potsdam unverändert die gleichen geblieben, bot das Zurückkehren in seine persön­ liche Gemeinde Sydow das freudige Gefühl, daß er an eine unausgefüllt gebliebene Stelle zurückkehrte, und hätte so das Leben in H aus und Amt ihm nichts zu wünschen übrig ge­ lassen, so griff in ihm doch mehr und mehr die Ueberzeugung Platz, daß er an dieser Stelle für das, was er zu seines Lebens Aufgabe sich gemacht hatte, nicht im Stande sei, ein­ flußreich genug zu wirken, und so betrachtete er es wie eine Fügung, als im Jahre 1846 der Berliner M agistrat sich an ihn wandte, um ihm die durch Prediger Hoßbach's Tod er­ ledigte Stelle an der Neuen Kirche anzutragen. Seine ältesten Söhne, wenn sie die Schule mit der Universität vertauschen würden, nicht gleich von sich lassen zu müssen, nachdem er eben mehrere Jahre von den Seinen getrennt gewesen, war mit einer der Gründe, die für ihn bei dem Wechsel in's Ge­ wicht fielen, und so zögerte er nicht dem R uf zu folgen, und siedelte im Oktober 1846 nach Berlin über, um dort eine neue Gemeinde um sich zu sammeln. W ar das äußere p o litisch e Leben und Interesse der Einzelnen in jenen Jahren bis dahin von geringer Bedeu­ tung gewesen, und wurden eigentlich nur die Kreise, die mit den Leitenden in Berührung standen, lebhafter dafür angeregt,

so begann im Jahre 1847 schon die Schwüle, die dem Heran­ nahen einer neuen und ernsten Zeit voranging, und die das Interesse für staatliche Entwickelung und Umgestaltung in alle Schichten der Bevölkerung hineintrug. In diese ersten Regungen des öffentlichen Lebens fällt auch die erste Thätig­ keit Sydow's an der neuen Stätte seiner Wirksamkeit. Das Jahr 1848 mit den Schreckensnachrichten der Revolutionen aus Paris und Wien hatte begonnen, und der politische Horizont verfinsterte sich in drohender Weise. Die Pariser Februarrevolution und die am 15. März nach Berlin gelangte Nachricht von dem Aufstande in Wien hatte die Physiognomie der Stadt mit einem Schlage geändert. An Stelle der bisherigen Gleichgültigkeit in politischen Dingen war fieberhafte Erregung getreten, und schon während meh­ rerer Tage hatten allabendlich Zusammenrottungen in den ver­ schiedensten Stadttheilen stattgefunden, die durch M ilitär ge­ sprengt, bereits mehrere Opfer gekostet hatten. Einige Regi­ menter, von außerhalb herbeigerufen, hatten die Militärmacht noch verstärkt und die Erbitterung vergrößert. Es wurde viel hin- und her verhandelt, Adressen mit bestimmt formulirten Forderungen, Deputationen bestürmten den König, den Wün­ schen des Dolkes Rechnung zu tragen. Das Zurückziehen des Militärs, die Organisation einer bewaffneten Bürgerwehr, Preßfreiheit und Einberufung des Vereinigten Landtags waren die Punkte um die es sich handelte, aber die Regierung schwankte und zauderte mit der Bewilligung bis zum 17., wo das neue Preßgesetz als erste Concession proklamirt wurde, und am Vormittag den 18. März der König einer Deputation aus den Rheinlanden die Versicherung ertheilte, „er werde sich an die Spitze der Bewegung in Deutschland stellen und S v d o w , Lebensbild.

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im In n ern die nöthigen Freiheiten gewähren". Diese Ver­ heißung sowie die, zum 2. April den Landtag einzuberufen, wurden der zu Tausenden auf dem Schloßplatz harrenden Menschenmenge sofort kundgegeben, die den auf dem Balkon erscheinenden König mit stürmischem Jubel empfing. Um 2 Uhr M ittags wurden diese Proklamationen im . Druck aus­ gegeben, und überall strömten Leute zusammen, die fich um die Vorleser derselben schänden. Der Schloßplatz füllte sich von allen Seiten, die Militärwachen, die im In n e rn des Schloßhofes postirt waren, konnten dem Drängen der Leute nicht mehr Widerstand leisten und mußten durch schnell her­ beigerufene Truppen verstärkt werden. Der Anblick der S o l­ daten ließ unter der Volksmenge von neuem das dringliche Verlangen nach Entfernung derselben laut werden. Umsonst, daß die Besonnenen fich bemühten, die immer mehr heran­ drängende Menge zu beruhigen und ihnen die Gewißheit zu geben, daß der König durch Berufung eines neuen Ministe­ rium s allen billigen Anforderungen gerecht werden würde. D er Jubel, der vor wenigen Stunden noch geherrscht hatte, war der vollkommen entgegengesetzten Stimmung gewichen, die Bewaffnung des Volks und die Entfernung des M ilitairs war die tumultuarische Forderung, die immer lauter zu Tage trat und die Truppen zwang den Platz zu säubern. D a fielen — in unaufgeklärt gebliebener Weise — aus ihren Reihen zwei Schüsse, und damit war die Katastrophe ein­ getreten und das Signal zum Aufstand gegeben. D as Volk stob auseinander, und binnen wenigen S tu n ­ den waren die Straßenübergänge mit Barrikaden besetzt, die Waffenläden geplündert und die vor den Thoren in den großen Maschienenbauanstalten beschäftigten Eisenarbeiter

zur Vertheidigung in die S tad t gezogen. Um 10 Uhr Abends erhielten die Truppen Befehl zum Vorrücken und Säubern der Stadt. Sydow bewohnte damals in der Kronenstraße No. 28 im Hause des Hofgoldschmiedes Hoßauer die obere Etage. Auch da waren rechts und links etwa 50 Schritt nach jeder Seite Barrikaden errichtet, und vor dem Hause, wo ein Feuer brannte, wurden die Kugeln gegossen. E r hatte noch selbst rechtzeitig seine Kinder, die an verschiedenen Orten der S tad t sich be­ fanden zusammengeholt, so daß man während des Straßenkampses wenigstens vereinigt blieb, was bei der Schnelligkeit mit der die Sache hereingebrochen, vielen Familien nicht einmal vergönnt gewesen ist. E s war eine klare mondhelle und sommer­ lich warme Nacht. Die Häuser mußten illuminirt werden, um den draußen Arbeitenden genügend Licht zu gewähren, und die Hausthüren blieben offen. Schauerlich tönte das S turm ­ läuten der Glocken in Absätzen durch die Nacht, und, bald näher bald ferner, hörte man schießen, abwechselnd das Peloton­ feuer der Gewehre und das Krachen der Kanonen. Gegen 2 Uhr w ar plötzlich eine Stille eingetreten und man gab sich der Hoffnung hin, daß der Straßenkampf sich nicht bis in diesen Stadttheil hinein erstrecken würde. Sydow lehnte sich für einen Augenblick mit dem Kopf gegen die M auer, um seitwärts durch die Fensterscheibe nach der einen Barrikade hinzusehen ob dieselbe noch besetzt sei, als er durch das Blitzen von Bajonetten überrascht wurde und sich schnell zurückzog. Kaum eine Sekunde später schlug eine Flintenkugel in das Fenster, prallte genau an der Stelle der Wand, die sein Kopf eben verlassen ab, flog zwischen den Kindern und der Groß­ mutter, die um den Tisch saßen hindurch, indem sie einen

Theil des Kaffeegeschirrs zertrümmerte, und fiel, nachdem sie sich an der entgegengesetzten Wand platt gedrückt, zu Boden. Es entspann sich nun um beide Barrikaden ein Kampf, der seitens des M ilitairs bald in erfolgreicher Weise beendet wurde. D a erhielten die Truppen gegen Morgen Befehl, das Feuern einzustellen, aber in ihren Stellungen zu verharren. Es war ein Sonntagmorgen; aber es gab an diesem Tage in Berlin keine Kirchgänger und keinen Kirchendienst. Sydow hatte die 8 Uhr-Predigt, und obgleich er sicher sein durste, daß sein Gang ein vergeblicher sein würde, ging er dennoch zur festgesetzten Zeit in seine, etwa 300 Schritt ent­ fernte Kirche hinüber.

Er mußte zwei Barrikaden paffiren,

und begegnete auch auf dem Wege dorthin der Leiche eines jungen Mannes, die man auf einer ausgehobenen Thür fort­ trug.

Die Thür zur Sakristei war erbrochen, da man von

dort nach dem Glockenthurm hatte hinaufkommen wollen, und ein junger Offizier von der draußen auf der Straße gelagerten Compagnie, Soldaten versuchte sich an dem geheizten Ofen der Sakristei gegen die Morgenkühle zu schützen. I m Schloß hatte es während der Nacht und der Morgen­ stunden unaufhörlich von Deputationen gewimmelt, die den König beschworen, die Truppen zurückzuziehen.

Selbst den

greisen Alexander von Humboldt, dem man einigen Einfluß auf ihn zutraute, hatte man Nachts aus dem Bett ins Schloß geholt. Der König sah sich, um die Gefahr nicht unabsehbar zu vergrößern, zur Nachgiebigkeit gezwungen.

Eine Prokla­

mation „an meine lieben Berliner" erschien am 19. März, und nach abgehaltenem Ministerrath durchritten um 10 Uhr Morgens drei aus dem Schlöffe entsendete Adjutanten die Stadt mit weißen Fahnen, den Abmarsch der Truppen verkündigend,

welche denn auch mit Ausnahme des Schlosses, des Zeughauses und einiger anderen öffentlichen Gebäude die S ta d t räumten und in ihre Garnisonen zurückkehrten. M ittags proklamirte der König die Bürgerbewaffnnng, und legte die Aufrechterhaltung der Ruhe in die Hand der Bevölkerung und um 6 Uhr Abends, am 20., bezog die erste Bürgerwache das Wachtlokal im könig­ lichen Schloß. Noch war die Zahl der Opfer nicht zu übersehen. Nach­ dem man sie in der ersten fanatischen Aufregung, unter Gräuelscenen in den Schloßhof getragen und den König und die Königin genöthigt hatte herauszutreten, bildete sich schnell, um der Wiederholung solcher Vorkommniffe vorzubeugen, von angesehenen Bürgern und der städtischen Behörde ein Comite, das die Sache einheitlich in die Hand nahm und würdig beendigen wollte, indem „aus Veranstaltung und aus M itteln der Stadt, den bürgerlichen Gefallenen ein feierliches Begräb­ nis) bereitet werden sollte, nachdem es nicht gelungen war, die civile und militärische Bestattung zu vereinigen". E s galt in erster Linie die Zahl der Todten festzustellen. M an be­ schloß, dieselben aus der ganzen S tad t an einen O rt zu brin­ gen und erwählte dazu die Neue Kirche auf dem Gensdarmenmarkt. D ort wurden sie auf Stroh niedergelegt, und Sydow hatte das schwere Amt, während dreier Tage, dort, wo er gewohnt war sich mit seiner Gemeinde zu erbauen, nun unter oft herzzerreißendem Jam m er, aufzurichten und zu trösten. Wer einen Angehörigen vermißte, kam und durchschritt die Reihen der Todten, und die Scenen, die sich dort abspielten, waren etwas, woran er bis an sein Lebensende mit Schmerz und Beben zurückdachte. Die S tad t hatte ihn auch zum Redner am Grabe der

Gefallenen ausersehcn, außerdem sollte von israelitischer Seite der Rabbiner Dr. Sachs, von katholischer Seite der Caplan Ruland

ein Scgenswort sprechen.

Der Zug

ging am 22.

von der Neuen Kirche aus nach dem Friedrichshain.

„ In der

Nacht vorher waren Hunderte von Arbeitern bei Fackelschein auf der großen Freitreppe, welche vom Thurm auf den Gensdarmenmarkt, den jetzigen Schillerplatz hinunterführt, beschäf­ tig t, die Säulenfa?ade mit schwarzen, lang herabwehenden Trauerfloren zu behängen.

Die auf einer, über der Treppe

erbauten Estrade aufgebahrten 183 Särge trugen reichen B lu ­ menschmuck und hoben sich von einem Hintergründe grünen Laubwerks ab.

Eine Kette von 3000 Studirenden, Handwer­

kern, Bürgern, bildete theils Spalier, theils machte sie freie Bahn bis zu der anderthalb Stunden weit entfernten Gruft." Sydow's Worte,

gesprochen im Friedrichshain bei der

Bestattung der am 18. und 19. M ärz Gefallenen lauten also: „Allmächtiger Gott, ewiger Vater! der D u die Menschen lässest geboren werden und sprichst:

kommet wieder zu mir,

ihr Menschenkinder — D u, dessen Augen uns sahen, ehe denn w ir bereitet wurden, und waren alle Tage unseres Lebens auf Dein Buch geschrieben, ehe denn wir wurden und noch keiner derselbigen da war

— Du,

der D u mit allem, was

D u uns thust und geschehen lässest, Gedanken des Friedens mit uns hast und nicht des Leides —

gnadenreicher himm­

lischer Vater: in anbetender Ehrfurcht, in tiefster Demuth der Seele treten wir in Deine Gegenwart.

Z u D ir rufen wir

aus dem Staube und beugen erschüttert unsern Geist unter Deine gewaltige Hand. mit

Erfülle diese ergreifenden Augenblicke

dem lebendigen Wehen Deines Odems und gieb uns

Allen, Allen im innersten Herzen ein Zengniß Deiner heiligen Nähe! — Im Namen Gottes des Herrn! Lasset uns hören das Wort aus dem Munde der Wahr­ heit. Jesus Christus spricht: Wahrlich wahrlich ich sage euch, es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, sonst bleibt es allein: wo es aber erstirbt, bringt es viele Früchte. I n dem Herrn geliebte Brüder! Der, welcher dem Tode die Macht genommen und Leben und unvergängliches Wesen an das Licht gebracht, welcher selber uns Allen zum Heil und zu immer fortgehender Befreiung der Menschheit in Glauben und Gewissen, in Wahrheit, Recht und Liebe sein Leben, ein heiliges Samenkorn, in den Tod gab, Jesus Christus gestern und heute und derselbe in Ewigkeit — er deutet uns in diesem Worte das Gesetz des Weltgangs: aus dem Tode das Leben! und der Gott unter dessen Himmel wir hier stehen, der große Dinge thut, die nicht zu erforschen find und Wunder, die nicht zu erzählen, hat es von Neuem be­ währt vor unsern Augen. Blicket hin auf diese Reihe von Särgen; eine reiche Erndte hat der Tod gehalten und über mancher Mutter Sohn ist das unerwartete Verhängniß herein­ gebrochen. Dieser Leben sterbliche Hüllen wollen wir jetzt in die Erde einsenken, auch unter Gottes Segen ein früchte­ reiches Samenkorn uns und den künftigen Zeilen. Als wir fie hergetragen in ernstem, feierlichem Zuge durch die Straßen unsrer Hauptstadt, haben in beredter Stille die Herzen und Blicke von Hunderttansenden ihnen die Bürgschaft mitgegeben in das Grab, daß sie gefallen sind für die Zukunst eines in

Gottesfurcht, Verstand und S itte zur Freiheit gereiften Volkes. D ies erhebe uns in dieser schmerzlichen Stunde zu einer Hoff­ nung, die nicht zu Schanden werden läßt, und verkläre all unser Leid zu frommer Zuverficht und Ergebung. An Euch zuerst wendet sich unser Zuspruch, die I h r in nächstem persönlichen Schmerz an diesen Särgen trauert. I h r Eltern, denen die Kinder, I h r Wittwen, denen der Gatte, I h r Kinder, denen der V ater und Versorger geraubt, I h r B räute, die I h r dem Geliebten nachweint, I h r Geschwister, die I h r den B ruder, I h r Verwandte und Freunde, die I h r den Freund verloren; an Euch, die I h r in diese G ruft hinab­ starrt und an die, welche ferne find, welche vielleicht in diesen Augenblicken es noch gar nicht wissen, wie auch auf ihre An­ gehörigen der rasche Tod gekommen, wendet sich unser Zuspruch. Von Euch ist es gefordert worden, die theuersten Opfer nie­ derzulegen aus den Aliären des Vaterlandes. Diese weite G ruft, ja, w as sage ich, dieser gleich mit dem Anfang schon geschlossene Kirchhof öffnet vor unsern erschrockenen Blicken seinen M und und klagt sprechender als Worte es vermögen, die Größe Eures Kummers. Kann Mitgefühl Eure Seele erleichtern — Euer Schmerz wird von Millionen tief und innig getheilt. Mischt sich in ihn auch die Sorge für die äußere Zukunft — unsere S tad t, unser Vaterland empfängt und übernimmt diese Sorge als ein heiliges Vennächtniß unsrer Todten. W einet, Euer Schmerz ist gerecht; weinet, wir weinen mit Euch! Aber bedenket, es ist Euch solches ja nicht von ohngefähr widerfahren; es kommt Euch ja von dem Gott, der noch nie etwas versehen hat in seinem ewigen Re­ giment und der nicht ein Gott der Todten ist, sondern der Lebendigen — ihm leben sie Alle!

Weinet, wir weinen mit Euch! aber lasset uns bedenken, daß sie mit ihrem Blute uns, den Ueber!eben den, die er­ habensten Güter versiegelt haben, für die das Leben des Menschen kein zu hoher Preis ist. Worte

des Lebens,

Einst, so heißt es im

schwebte der Geist Gottes

über

den

Waffern und gestaltete durch seine inwohnendcn Kräfte aus dem stürmischen Durcheinander der Elemente diese schöne W elt zur Ehre des Schöpfers.

Lasset den Geist Gottes schweben

über den Waffern unserer Thränen, daß er, ein Geist des Trostes, der K raft und des Maßes, aus diesen Tagen her­ ausgestalte die schöne Bildung einer besseren Zukunft unseres geliebten Vaterlandes. Jede Erbitterung, die die Reinheit unseres wehmüthigen aber hochgestimmten Herzens trüben müßte, werde hinausgethan für immer; jeder Groll, jede persönliche Rachsucht mache Raum dem Geist der Vergebung.

Friede, Friede, E in ­

tracht und Versöhnung gehe aus von dieser Stätte; volle An­ erkennung, Ehre auf beiden Seiten jedem, der im Gedanken der Pflicht, in der Ueberzeugung seines Gewiffens gestritten und gefallen.

Wo eine neue Ordnung der Dinge von einer alten

kämpfend sich losringen muß, da geht es zunächst nicht ab ohne Bruch und Widerstoß; aber den braven Gegner, der mit seiner Einsicht und seinem Gewissensurtheil noch in dem gegnerischen System gebunden ist, sollen w ir ehren und nicht hassen.

D a rin ehren wir das Christenthum und uns selbst.

Wohl find auch Thaten der Grausamkeit, der persönlich auf­ geregten Leidenschaft geschehn.

Versenken wir sie, wie es

Christen geziemt, in das Grab des Vergebens und Vergeffens. Brüder, Gott muß uns allen viel vergeben! und beten wir denn zu ihm nicht in den Worten unseres Meisters: vergieb

uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigem? darum vergebe der Bruder dem Bruder seine Fehler; der Siege göttlichster ist das Vergeben. Aber warum mußte es so kommen? B rüder, die Vor­ sehung geht ihren Gang, wir können sie nicht meistern; an uns ist es, ihre Winke nicht mißzuverstehen und die Bahn, die sie uns zeigt, nicht zu verfehlen. J a es ist wahr, es ist geschehen, daß sich zwischen den König und sein treues Volk eine schwüle unheilvolle Wolke hat lagern können, die seinen sonst so klaren, königlichen Blick in Täuschung gehalten, die sein treues Herz geirrt hat; aber nun ist sie ja vergangen, vergangen wie das einschläfernd einförmige Geräusch eines Lastwagens verstummt unter dem erfrischenden rollenden Donner Jehova's. D as W ort des Einverständnisses ist ge­ funden, wiedergekommen ist unseren Herzen der unaussprech­ liche Segen des Vertrauens. Fassen w ir die große welt­ geschichtliche Bedeutung dieses Augenblickes, dieses entscheiden­ den Wendepunktes in der Entwickelung unseres preußischen, unseres deutschen Vaterlandes, verlieren und verderben wir ihn nicht durch Trägheit, Mißverstand oder Schuld. E r ist zu groß, um kleinlichen Interessen und Empfindungen Raum zu verstatten. Schande, unauslöschliche Schande dem, der jetzt niedrigen, eigensüchtigen Zwecken, unwürdigen Partei-Leidenschasten fröhnen wollte, der nicht sich selbst hintenansetzend in der Liebe, in der Geduld, in der Hingebung eines vater­ ländischen Herzens, seinen ganzen Willen und seine ganze K raft der ruhigen, ordnungsmäßigen Gestaltung des Ganzen weihete, aus der doch allein nur die Wohlfahrt aller E in­ zelnen, der Stände wie der Personen, würdig, gerecht und gesichert hervorgehen kann. Kräftigster Widerstand dem

schleichenden und schürenden Geiste, der das Wohl aller Klassen der Gesellschaft durch Untergrabung des gegenseitigen Ver­ trauens und des besonnenen Ordnens aus das Spiel setzt, daß wir bewahrt bleiben vor den Zuständen eines Nachbar­ volkes, welches vielleicht in diesen Augenblicken schon sich in brudermörderischem Kampfe zerfleischt. S c h a a re n w ir u n s d a ru m in treu em v a te rlä n d isc h em G em ein sin n um u n se re n th e u re n K önig. W ie von N euem u n s ge­ schenkt ist er ja an un sere S p itz e g e tre te n , um u n s e in e r n euen herrlich en Z u k u n ft entg egen zu fü h ren . E in e n h o h en , kühnen G r iff h a t e r g e th a n in die G e ­ sta ltu n g der Geschicke u n se re s schönen deutschen V a te rla n d e s . D e r große A ugenblick fo rd e rt g ro ß e s V e r tr a u e n ; es wird ihm nicht versagt werden von Deutsch­ lands Völkern und Fürsten, auch unsere treue Hülfe darf und soll ihm nicht fehlen. J a , D u Gott aller Treue und alles Segens, groß und wunderbar von Macht und Thaten, erkräftige dazu unser aller Herzen in der Begeisterung und Besonnenheit, in dem Ernst und in der Selbstverläugnung ächter preußischer, deutscher Vaterlands- und Bruderliebe! Wofür unsere Väter in den großen Kriegen unserer Freiheit gestritten, was mehr oder weniger durch die Unbill der Herrscher und durch die Ungunst der Zeiten uns vorenthalten und ver­ kümmert worden, es ist jetzt errungen, daß wir es bewachen, daß wir es nicht von Neuem verlieren, daß wir es nun ord­ nungsmäßig ausgestalten. Ehre jedem Stande, und jeder ge­ rechten Forderung gerechte Rücksicht. D as sind die Früchte die dieses vielbeweinte Samenkorn bringen wird, welches wir hier in diese weitklaffende Furche unserer freien vaterländischen Erde einsenken. Gott wende in Gnaden sein Antlitz zu seiner

Entfaltung und rüste uns Alle aus, einen jeden an seiner Stelle, zn treuer Arbeit, zu Vertrauen und Geduld! I n dem Denkstein, der diese S tätte zieren wird, welche die Gebeine der M ärtyrer unserer Freiheiten und Rechte umschließt, wird eine Seele Heilger Erinnerung wohnen. Künftige Geschlechter sollen zu ihm pilgern, und er wird ihnen von den großen Zeichen berichten, die Gott der Herr in diesen schweren Zeiten gethan, und er wird Kindern und Kindeskindern zur W arnung und zur Lehre, zu Trost und stolzer Freude von den Leiden und Thaten ihrer Väter und M ütter erzählen. Amen!" D ie Berufung einer Nationalversammlung, welche, in der Geschichte Preußens zum ersten M al aus allgemeiner W ahl hervorgegangen, bestimmt war, die künftige Verfassung des S taates festzusetzen, war beschlossen, und dieselbe zum 22. M ai einberufen. Sydow hatte das M andat eines B er­ liner Wahlkreises, sein Freund Jo n a s eins für Potsdam an­ genommen. Die Sitzungen sollten in der Singakademie, die durch den König persönlich zu eröffnende erste Versammlung aber im weißen S a a l des Schlosses stattfinden. I n der, nur von einem Theil der Abgeordneten besuchten Vorversammlung, in welcher dieser Beschluß mitgetheilt wurde, kam es sofort zu einer Spaltung. D ie radicale Seite hatte „principielle" Bedenken dagegen und schickte eine Deputation an den M inister­ präsidenten. E s wurde hervorgehoben, „daß es dem parlamen­ tarischen Gebrauch anderer Länder, wo der König sich zur Eröffnung des Parlam ents in den Sitzungssaal desselben begebe, sowie der Würde der constitnirenden Versammlung wenig entspreche, wenn die Eröffnungssitzung in einem an­ dern Lokale als in dem für die gewöhnlichen Sitzungen be­ stimmten, abgehalten würde". M inister Camphausen erklärte

daß er nichts Bedenkliches in der getroffenen Anordnung finde, die übrigens aus einem Wunsche des Königs beruhe. Auf diesen Bescheid erklärte fich die M ajorität für einen „beim Ministerium einzulegenden Protest gegen diese unangemessene Maßregel". Sydow und Jo n as, als der Minorität ange­ hörend, sprachen entschieden gegen diesen Protest, „weil durch eine derartige Erklärung die nicht anwesenden Mitglieder .captivirt' würden, weil ferner die Annahme, von der die M ajorität ausgehe, daß die constituirende Versammlung im Namen des souveränen Volkes erscheine, noch problematisch sei, ständen ihr doch die Rechte anderer Parlamente noch gar­ nicht zu. Sie ermahnten zur Versöhnung: warum fich wegen einer Aeußerlichkeit entzweien, warum von vornherein den Zankapfel zwischen Volksvertretung und Regierung werfen?" — Nach mehrmaliger Debatte und Unterhandlung mit dem Ministerium blieb es bei dem königlichen Beschluß. Ein Theil der radikalen Parthei hielt fich von der Eröffnungs­ sitzung im weißen Saale aber fern. Sydow und Jonas hatten sich der „Rechten" angeschloffen. Die Verhandlungen nahmen von da ab in der S ing­ akademie ihren Verlaus, begleitet nicht nur von dem In ter­ esse des auf den Tribünen anwesenden Publikums, sondern täglich von einer sich auch draußen einfindendcn Menschen­ menge, die, je nach der Wichtigkeit des verhandelten Gegen­ standes drin, und nach den Reden der sie leitenden Voiksredner draußen, welche die Massen zu erhitzen und zu Organi­ st ren suchten, sich gemessener oder aufgeregter verhielt. Die Sicherheit der Versammlung war der Bürgerwehr und den Studenten anvertraut, die in Rotten getheilt, in der Aula der benachbarten Universität ihre Hauptwache hatten.

Unser Kaiser, damals als Prinz von Preußen, hatte eben­ falls ein Mandat als Abgeordneter für Wirsitz angenommen, weilte aber noch in England. Er traf erst am 7. Juni von dort wieder in Potsdam ein, begab sich aber sofort am 8. Juni nach Berlin auf feinen Posten in das Sitzungslokal. Grade zu dieser Sitzung stand ein Antrag des Abgeord­ neten Berends auf der Tagesordnung: „Die hohe Versamm­ lung wolle in Anerkennung der Revolution zu Protokoll erklären, daß die Kämpfer des 18. und 19. März sich wohl um's Vaterland verdient gemacht haben." Der Prinz, der bei Beginn der Sitzung zuerst zu der Versammlung gesprochen, verließ dieselbe, noch ehe man in die Verhandlung darüber eintrat. Die Debatte nahm einen stür­ mischen Verlauf und fand nicht ihren Abschluß, sondern wurde am folgenden Tage, dem 9. Juni, fortgesetzt. Die Massen, die sich an diesem Tage vor der Singakademie versammelt hatten, und die durch ein- und ausgehende Berichterstatter von jeder Rede drin sofort in Kenntniß gesetzt wurden, waren in hohem Grade erregt, und man hörte später durch Ohrenzeugen, daß schon vor der Sitzung öffentliche Demonstrationen besprochen und dem Volk die Persönlichkeiten bezeichnet waren, die als Opfer der Volksjustiz fallen sollten, wenn ihr Votum nicht in anerkennend revolutionärem Sinn ausfiele. Zu diesen Per­ sönlichkeiten gehörte Sydow. Zu dem Berends'schen Antrag waren Amendements aller Schatt irungen beantragt. Zwei derselben behaupteten der Ge­ schäftsordnung nach den Vorrang: Das des Abgeordneten, Justiz-Commissarius Windhorst, die Diskussion über den An­ trag bis nach Vollendung des Verfassungsentwurfs zu ver­ tagen , und das andere des Abgeordneten Zachariä, welches

den Uebergang zur Tagesordnung in folgender Form empfahl: „ In Erwägung, daß die Bedeutung der Revolution und das Verdienst der Kämpfer um dieselbe unbestritten ist, und, daß die Versammlung darin nicht ihre Ausgabe erkennt, Urtheile abzugeben, sondern die Verfassung mit der Krone zu vereinbaren, geht die Versammlung zur Tagesordnung über." Dieser letzte Antrag wurde zur Berathung gezogen. Sydow hatte das W ort verlangt und suchte auszuführen, daß dieser Prinzipienstreit durch den Abgeordneten Berends aus ein Terrain hingeworfen sei, wohin er nicht gehöre, und daß es die Versammlung ihrer Würde schuldig sei, ihn aus dem ihm angemessenen Punkte und mit den ihm angemessenen Waffen zu bekämpfen. Die Waffen, wie sie in dem Berends'schen Antrage liegen, halte er dem würdigen und hohen Kampfe nicht angemessen, da durch die Verbindung zweier verschiedener Elemente im Antrage die Frage etwas sehr Verfängliches und Bedenkliches erhalte. E s sei beantragt, die Versammlung solle eine der Geschichte anheimfallende That thun, indem fie im Namen der Nation jenen M ännern eine Ehre erwiese, „denen wir gewiß Alle unser ehrendes liebevolles und dank­ bares Andenken widmen"; gegen den In h a lt dieses Antrags habe er, der Redner, nichts. W as aber „die A n erk en n u n g der R e v o lu tio n " betreffe, so habe er von einer Revolution die Ansicht, daß, wo sie vorkomme, fie nur das Symptom der Schuld aus beiden Seiten, der Regierenden und der Regierten sei, und daß Zeiten kommen können, wo die politische Noth­ wehr eines Volkes den Einzelnen aus völlige sittliche Weise an der Revolution theilnehmen lasse; er habe also den M uth, das, was hier vorgekommen, als Revolution zu bezeichnen; eine Revolution als Thatsache erkenne er an, aber wenn be-

antragt werde, daß sie als Prinzip anerkannt werde, so meine er, daß sich die Versammlung in dem Augenblicke, wo dieser Antrag angenommen würde, selber auf den Boden der Re­ volution stelle. D ies dürfe jedoch aus der Treue gegen das konstitutionelle Königthum nicht geschehen. Wie könnte die Versammlung jetzt einen Akt, der nach allen constitutionellen Begriffen zu den Majestütsrcchtcn gehöre, den Akt der Ertheilung einer staatlichen oder nationalen Ehre einseitig für sich üben wollen? — D ie namentliche Abstimmung ergab eine Mehrzahl von 19 Stimmen für den Zachariä'schen gegen den Berends'schen Antrag. Auch Sydow hatte natürlich gegen den letzteren und für den Uebergang zur Tagesordnung votirt. A ls er das Sitzungslokal verließ, wurde er von einer heulenden und schimpfenden Menge empfangen, die ihn be­ schuldigte, durch seine Rede für den Zachariä'schen Antrag sich in Widerspruch mit seiner Rede am Begräbnißtage ge­ setzt zu haben. Er wurde umringt, und trotzdem sich einige Besonnenere und einzelne Abgeordnete dicht an ihn drängten, um ihn vor Thätlichkeiten zu schützen, konnten sie es nicht hin­ dern, daß er über ihre Köpfe fort mit Stöcken geschlagen, und zwischen sie hindurch mit Fußtritten maltraitirt wurde. M an drängte unter dem Ruf: „schmeißt ihn in's Wasser!" mit Gewalt nach dem schmutzigen Graben, der neben der S in g ­ akademie herläuft, und nur die größte Anstrengung vermochte es, den Haufen so seitlich zu drängen, daß man durch das Kastanienwäldchen vor das Portal der Universität gelangte. D ie wachthabende Studcntenrotte eilte hinaus, nahm ihn in die M itte und führte ihn in die Aula, bis sich das ärgste Toben draußen gelegt.hatte. Es war zufällig die radikalste, die Rotte Monecke, welche die Wache hatte. Sydow's ältester

Sohn, der einer andern angehörte, befand sich an dem Tage grade nicht in der Universität, sondern auf einem anderen Posten. Unter der Bedeckung von Studenten und der Begleitung einer pfeifenden und schreienden Menschenmenge legte er nach­ her den Weg nach seiner Wohnung zurück. D a sich die Menge aber nicht verlief, so beorderte der M ajor Rimpler die B ür­ gerwehr vor das H aus, das sie, nachdem die Straße erst etwas gesäubert war, besetzt hielt. Aber der Tumult dauerte bis in die Nacht. Es blieb diese Form des „Attentats" gottlob die Einzige, und für ihn sowohl, wie für den Minister von A rn im , der unmittelbar vorher eine ähnliche Unbill erfahren hatte, auch ohne ernstere Schädigung. Wohl aber waren die noch fol­ genden sechs Monate der Nationalversammlung für ihn eine ununterbrochene Kette oft roher und fanatischer Schmähungen, reichlich so viel von rechter als von linker Seite. Und wenn Einer, so war er es, der in seinem Leben den Wechsel von Fürstengunst und Volksgunst in reichstem Maße zu erfahren gehabt, ohne sich um eines Haares Breite von der Linie der Wahrheit abdrängen zu lassen, ohne auch nur einen Augen­ blick selbst in den aufgeregtesten Zeiten den Muth der Ueber­ zeugung zu verlieren, das, was er für Recht erkannt, maß­ voll und besonnen in der Form, wie ihm das immer eigen gewesen, aber furchtlos und beharrlich zu vertreten, ja ohne auch nur einen Moment der Bitterkeit in sich aufkommen zu lassen. I n diesem Sinne sprach er auch zur Versammlung nach fünf Tagen, als der Präsident M ild e die Mittheilung machte, daß er dem Staatsministerium über die Vorfälle Bericht erstattet und um Schuh der Volksvertretung und BeS y d o w , Lebensbild.

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strafung der Schuldigen gebeten habe. Der Abgeordnete Temme (damals Staatsanwalt) bemerkte dabei, daß leider nach dem damaligen Stande der Gesetzgebung eine Verfolgung nur gestattet sei, „wenn Sydow in Beziehung auf die ihm widerfahrenen Thätlichkeiten beantrage, daß ein Jnjurienproceß auf dem Wege fiskalischer Untersuchung eingeleitet werde." — Sydow erklärte aber sofort, „daß es ihm nie eingefallen sei, noch einfallen werde, eine Klage einzuleiten. Der Unwille, der sich gegen ihn ausgedrückt, habe wohl nicht unbedingt der politischen Abstimmung gegolten, sondern sei zum guten Theil gegen seine Person gerichtet gewesen, da man die Meinung zu haben scheine, er habe das Vertrauen getäuscht und Farbe gewechselt. Er betrachte jenen Vorfall als einen Rückschlag des Vertrauens gegen ihn, das ihm, wie er fest überzeugt sei, sowie nur erst der Wirbel, der die Geister ergriffen, vor­ über sein und man einer besonneneren Beurtheilung sich erst wieder zugewandt haben werde, vielleicht noch in höherem Grade wieder geschenkt werden würde." — Die Erregung der Geister war und blieb immer noch im Steigen, und wie Krisenlage in schweren Krankheiten mußten die einzelnen, sich besonders heraushebenden Ereignisse noch überwunden werden. Der Zeughaussturm, die Berathung des Bürgerwehrgesetzes, die Steuerverweigerung, die immer mehr überhand nehmende Schutzlosigkeit der Abgeordneten, alles drängte die Regierung auf die Nothwendigkeit hin, die Ord­ nung auf entschiedenem Wege zrückzuführen. Der König löste am 11. November die Bürgerwehr, die völlig unfähig war, den Sicherheitsdienst zu versehen, auf, berief die Truppen nach Berlin zurück, übertrug dem General von Wrangel als „Befehlshaber in den Marken" den Oberbefehl und verhängte

über die Stadt den Belagerungszustand.

Die Nationalver-

sammlnng wurde nach Brandenburg verlegt, und die Abge­ ordneten dorthin zum 28. November einberufen. Theil derselben folgte der Königlichen Weisung.

Nur ein Die andre

Hälfte, welche diese Weisung für „ungesetzlich" erklärte, ver­ suchte in Berlin an verschiedenen Orten weiterzutagen.

Ihre

Beschlüsse wurden aber seitens der Regierung als „jeder Gül­ tigkeit entbehrend" erklärt. Sydow ging selbstverständlich mit nach Brandenburg, unter Billigung der Erklärung, welche die 159 dort versammelten Abgeordneten erließen, „daß sich die Regierung hinsichtlich der angeordneten Maßregel, formell wie materiell, nach ihrer Ansicht im Recht befände, und daß diese Maßregel, weit entfernt, die constitutionelle Zukunft des Landes zu gefährden, vielmehr wesentlich dazu beitragen würde, die Hoffnung der Freiheit und der Ordnung zu verwirklichen." „Wir finden in uns und in den Gesinnungen des Landes die Bürgschaft dafür, daß wir auch bei unserer- künftigen Wirk­ samkeit mit gleicher Energie allen reactionären und anarchi­ schen Bestrebungen entgegentreten, und eine Verfassung voll­ enden helfen werden."

Nur wenige Tage darauf wurde die

Nationalversammlung aufgelöst und am 5. December die octroyirte Verfassung proclamirt. übernommen, erlosch.

Das Mandat, das Sydow

Er nahm später, obgleich wiederholt

dazu aufgefordert, für den Landtag keins wieder an.

Seine

milde versöhnliche Natur fand keinen Platz in der Kluft, die sich zwischen dem Radicalismus und der Reaction aufgethan hatte, und sein Amt und Berus, dem sein ganzes Herz gehörte, forderte grade von da ab steigend die Einsetzung seiner ganzen Kraft.

Sechstes Capitel. Ki rchl i che W i r k s a m k e i t . H a u s - u n d F r e u n d e s k r e i s .

W ar er während der ersten Periode seines öffentlichen Wirkens als Cadetten- und späterer Hofprediger, bis zum Herbst 1846, dem Ausscheiden aus dieser Stellung, noch immer von der Hoffnung beseelt gewesen, daß das allmälige An­ wachsen der kirchlichen Reaction, auf dem gesetzmäßigen Wege, durch die Kirchenregierung werde in Schranken gehal­ ten werden und einer gesunden Entwicklung Raum geben, so sank diese Hoffnung von da ab mehr und mehr für ihn und war durch die Vertagung der Generalsynode 1846 fast vernichtet. D ies und die Ueberzeugung, daß er sich damals mit den Bestrebungen seines Königlichen Herrn in Wider­ spruch fühlte, hatte ihm die innere Nöthigung auferlegt, sein Amt in Potsdam aufzugeben und dem Ruf nach Berlin zu folgen. Und so wurde die zweite Periode feines öffentlichen Wirkens vom J a h r 1846 an bis zu seiner Pensionirung 1876, für ihn eine Reihe von Kämpfen gegen die kirchliche Reaction. Sein friedliebender S in n , sein ganz auf das Bauende und Erbauende gerichteter religiöser Charakter fand sich sehr schwer in diese Aufgabe, die ihm durch die Verhältnisse ge­ worden, und in diesen Kampf, in den er durch sein 2Bahr= heitsgefühl g e d r ä n g t wurde. Deßhalb wurde der Kamps bei ihm niemals ein negativer, radicaler; er verlor nie das positive Ziel aus den Augen, und er wurde von ihm nur mit den M itteln des Rechts und aus der tiefsten Ueberzeugung geführt. Enger und enger schloß sich nach dem Jahre 1848 der

Kreis der Männer, mit denen er in diesem Kampfe vereinigt war und die seinem Herzen nahe standen, und unentwegt haben sie durch zwei Jahrzehnte hindurch noch gemeinsam aus vorgeschobenen Posten ausgeharrt, bis Einer nach dem Andern vom irdischen Schauplatz abberufen wurde, und Sydow aus jener Zeit allein noch hineinragte in das Heute, und der Ein­ zige von ihnen war, dem es vergönnt ward, die Erfüllung dessen wofür sie so schwer gekämpft, „die selbstständige Orga­ nisation der Gemeinden" zu erleben. Es war nur ein kleines Häuflein, welches den Kampf für die in Preußen zu Recht bestehende Union und später um die im Jahre 1850 zuge­ sicherte Selbstregierung der Kirche mit rücksichtslosem Freiinuth führte. Jonas, Sydow, Pischon, Eltester, Heinrich Krause, das war der Kern, um den sich die Andern schaarten. „Das war eine Freundschaft, wie sie nicht alle Tage vor­ kommt; und wen Gott gewürdigt hatte, diesem Kreise anzu­ gehören, der wird für das ganze Leben mit unaussprechlichem Dank erfüllt sein, als für das Beste, das ihm zu Theil ge­ worben. In diesem Kreise galt nichts als die gemeinsame Sache, und für die gemeinsame Sache entwickelten sich die Gedanken der Genossen. Was der gemeinsamen Sache nicht förderlich schien, mochte es noch so geistreich sein, es wurde verworfen, und wen es auch treffen mochte, daß sein Gedanke, sein Vorschlag, seine Arbeit verworfen wurde, Jeder fügte sich willig dem gemeinsamen Spruch. Kleinliche, persönliche Eitel­ keit auf geistreiche Einfälle oder originelle Erfindung hatten in diesem Kreise kein Recht. Es war aber nicht eine solche Unterwerfung unter einen gemeinsamen Zweck, welche die freie Bethätigung der Individualität hinderte. Sehr verschieden scharf ausgeprägte Eigenthümlichkeiten, welche in ihren dog-

malischen Anschauungen, bis in die Prinzipien hinein, weit auseinandergingen, waren hier beisammen, und die Anschau­ ungen geriethen nicht selten in den lebhaftesten Kampf, aber Niemand begehrte der Anschauung des Andern Gewalt anzu­ thun." S o schrieb H. Krause über diesen Kreis. Und wenn Sydow in seiner Gedächtnißrede von diesem Freunde sagt: „er sei ihr Schwert des Gedankens in Wort und Schrift ge­ wesen auf eine Weise, die wohl schwer zu ersetzen sein soll, wenn er auch mitunter mit „Der Keule der Rede" drein­ schlagen konnte, so ist wiederum Sydow gerade derjenige ge­ wesen, dessen Einfluß auf sich Krause dankbar fühlte, „dessen klassische Ruhe eine mildernde und mäßigende Wirkung aus ihn, den jugendlich brausenden Geist ausgeübt habe, und an dem er die Meisterschaft im Führen kirchlicher Kämpfe gelernt." „Die Monatsschrift für die unirte evangelische Kirche" die im J u li 1845 durch Eltester, Jonas, Pischon und Sydow gegründet war, wurde im J u li 1848 von ihnen in eine Wochen­ schrift, die „Zeitschrift für die unirte evangelische Kirche" um­ gewandelt. Heinrich Krause trat als Mitherausgeber hinzu und wurde, nachdem er schon damals seinen älteren, vielbeschäf­ tigten Freunden die eigentliche Redactionsarbeit abgenommen hatte, als das B latt sich im Jahre 1854 in die „Protestan­ tische Kirchenzeitung" umbildete, ihr verantwortlicher Redacteur. Der Kreis ihrer Mitarbeiter erweiterte sich nun über die preußischen Landesgrenzen hinaus durch fast alle liberalen namhaften Theologen, Hase, Rückert, Eduard und K arl Schwarz, Alex. Schweizer, Dittenberger, Weiße, die Historiker Gervinus, Häußer rc. — W as sie vertreten, war*) „die tief *) Geschichte der neuesten Theologie von Dr. Karl Schwarz.

Kirchliche Wirksamkeit, Haus- »nd Freundeskreis.

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empfundene Ueberzeugung von dem grundverderblichen, wissen­ schaftsfeindlichen Wesen der neuen Orthodoxie, welchem un­ protestantischen Treiben sie in ernstestem Pflichtgefühl mit voller Kraft und Offenheit entgegenwirken wollten.

Man

ging nicht nur von den Symbolen znr Schrift, sondern auch von dem Buchstaben der Schrift zu dem in ihr wohnenden Geist, von den Evangelien zum einfachen Evangelium, Christus selbst, wie ihn die Schrift bezeugt, zurück. I n diesem Christus­ glauben erkannte man das wahrhafte Prinzip des Protestan­ tismus, und diesen freien Protestantismus in allen seinen Folgemngen gegen jede Art von Autoritätswesen zur Durch­ führung zu bringen, zeigte man sich entschlossen.

Man war

von der Ueberzeugung durchdrungen, daß der rechte, lebendige Glaube die Wissenschaft nicht nur ertrage, sondern sie auch fordre und erzeuge. Man wollte den evangelischen und darum im Innersten frei machenden Glauben.

So stellte man dem

Bekenntniß des Unglaubens, wie dem des knechtischen Glaubens ein freudiges Bekenntniß innerlichen, lebendigen, frei­ machenden, mit allen sittlichen und wissenschaftlichen Mächten im tiefsten Grunde geeinten Glaubens entgegen." Sydow war (ebenso wie Jonas) durch sein Amt der­ artig in Anspruch genommen, daß die Zahl ihrer eignen schriftlichen Beiträge zu der Zeitung eine verhältnismäßig geringe blieb, und sie sich darauf beschränken mußten, in den Conserenzen mehr mit ihrem Rath und Urtheil als mit der Feder zu wirken. Die Personal-Gemeinde, die sich um Sydow geschaart, wuchs in diesen Jahrzehnten, wo er auf der Höhe der Kraft und Mannesreife stand, in ungeahnter Weise, und seine P r e ­ di gt , die oft ziemlich hohe Anforderungen an die Kraft des

Denkens der Hörer stellte, fesselte die Gebildeten der S tadt Berlin damals, welche bei ihm im Gemüth und Verstand be­ friedigt, die Versöhnung zwischen Glauben und Denken fanden. Ohne den geringsten Anflug eines Kanzeltones oder geist­ licher Schablone, blieb er in seiner schlichten, ungekünstelten Einfachheit des Auftretens und Redens sich selbst stets gleich. Seine Apostelerscheinung, die Ruhe seines ganzen Wesens, die Gewalt über die Sprache und die Feinheit der Rede, der Zauber seines O rgans, vor Allem das Herz und die W ahr­ haftigkeit, die aus jedem Wort sprach, gewann ihm mit un­ widerstehlicher Gewalt alle Herzen. S o war und blieb er auf der Kanzel und im Amt der immer schlichte M ensch, und dabei doch im Leben und im Hause der w ahre P rie ste r. E s konnte sonach nicht fehlen, daß bei einer solchen P er­ sönlichkeit die S e e ls o rg e einen nicht unbedeutenden Theil feiner Thätigkeit in Anspruch nahm. I n wie unzähligen Familien ist er der Vertraute, Rathgeber und tröstende Freund gewesen, und wie vieler Menschen Sorgen und Kümmernisse hat er aus seinem Herzen mitgetragen, weil er fein Herz ganz mit hineinlegte. Ein Händedruck oder ein W ort von ihm, so konnte man oft und oft sagen hören, gab Einem in schweren Augenblicken mehr und größer» Trost, als Mancher in längerer Rede zu geben vermocht hätte. D as rechte W ort aber, das trösten konnte, stand ihm wie Wenigen zu Gebote, denn „d ie W a h rh e ite n der R e lig io n w o llen e rle b t und e rfa h re n sein", so hatte er selbst in einer Pre­ digt über Römer 8, V. 28 (Wir wissen, aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen) sich ausgesprochen, aus der Erfahrung seines eignen, vielgeprüften Lebens. Und wie er das W ort „Kreuz ist ein Kraut, wenn man es pflegt,

Kirchliche Wirksamkeit, Haus- und Freundeskreis.

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das ohne Blüthe Früchte trägt," in sich und seinem Leben zu vollendetem Ausdruck und zur Erscheinung gebracht hatte, so war ihm damit zugleich das gegeben, was ihn zum Halt und zur Stütze so unzähliger Menschen machte.

Dazu kam,

daß ihm nie im Leben und im Beruf ein Unterschied zwischen Hoch und Niedrig, zwischen Arm und Reich galt, und wo oft jedes Andern Geduld erschöpft gewesen wäre, er war Tag und Nacht immer gleich bereit zu trösten, aufzurichten und zu helfen, wer auch seiner Hülfe bedurfte.

Sein oft über feine

Kräfte gehender Wohlthätigkeitssinn hatte ihn wirklich zum Vater unzähliger Bedürftigen gemacht.

Und hatte er auch

hierin die Erfahrungen des Gemißbrauchtwerdens in reichem Maße erleben müssen, immer wieder konnte man ihn sagen hören „ich will lieber hundert M al getäuscht werden, als daß ich ein M al ungerecht versage, wo ich noch helfen kann." Der C onfirm andenunterricht, diese ihm liebste Seite seines Amtes, brachte ihm die hohe Befriedigung, daß er bis in spätes Alter den Dank der Männer und Frauen noch erntete, die sich bewußt waren, durch ihn die für ihr Leben bestimmende und beglückende Richtung bekommen zu haben, und die durch ihr Leben seine Lehre bethätigten. schied nicht,

wie Viele thun,

Er unter­

in seinem Unterricht bei

den Kindern Bildung und Herkunft; er schied sie nicht nach höheren und niederen Schulen, sondern er unterrichtete ge­ meinsam und versicherte, daß grade die Kinder aus den Communalschulen ihm oft die größeste Freude gemacht hätten. Von ganz besonders hervorragender Bedeutung war aber das Herangezogenwerden zu Gelegenheitsreden, in denen er eine seltene Meisterschaft besaß, Taufen und Trauungen haben ihn durch persönliches Vertrauen in viele Familien

durch drei Generationen geführt. Besonders groß aber ist die Zahl der G rabreden, die ihm zufielen. Sein reiches und zartes Verständniß für alle Situationen des Lebens, das Ein­ gehen und scharfe Erfassen der geringsten wie der bedeutendsten Persönlichkeit, machte es ihm möglich in den einzelnen Fällen diese Persönlichkeiten noch ein Mal ganz lebendig vor seinen Zuhörern erstehen zu lassen. I n der erhabenen Weihe aber und in dem Trost seines eignen, unerschütterlich festen Unsterb­ lichkeitsglaubens lag die Kraft, mit dem er in solchen Augen­ blicken die Herzen zum Himmel führen konnte. Und wie oft hat er nicht nur Anderen, sondern fich selbst dabei mit den Trost in's Herz gepredigt, wenn er an denen, die seinem Herzen am nächsten standen, diesen letzten Dienst zu ver­ richten hatte. Seine Grabreden auf den Generalmajor von B rau se, den Erzieher Friedrich Wilhelm's IV., auf L udw ig Ticck, Ludw ig J o n a s , auf S a m u e l M arot, auf D oroth ea M a r g g r a f, auf H einrich K rause, find nur einige wenige durch den Druck verbreiteteZeugnisse der hohen G a b e, mit welcher er in unzähligen andern Fällen in den schwersten und schmerzlichsten Lagen die Herzen aus der Macht des Glaubens mit seinem Trost erfüllt hat. Hatte bei den Reden über seine Freunde das Herz ihm das rechte Wort aus die Lippen gelegt, so waren bei andern Gelegenheiten, wie zum Beispiel der Rede an Tieck's Sarge, andre Aufgaben zu lösen, um derentwillen man ihn grade vor­ zugsweise dazu erwählte. Und so ging er hier der heiklen Frage über Tieck's Christenthum auch nicht aus dem Wege, sondern beantwortete sie der Wahrheit gemäß und ohne Schönfärberei. Alexander von Humboldt, der seit der Zeit in Potsdam, von

Kirchliche Wirksamkeit, Haus- und Freundeskreis.

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wo ihn eine aufrichtige Freundschaft mit Sydow verband, bis zuletzt mit ihm in stetem Verkehr blieb, schrieb ihm unmittel­ bar darauf: „Wie soll ich Ihnen, lieber, hochverehrter Freund, warm, ganz danken für Ihre herrlichen Worte am Grabe unseres deutschen Meisters, der den Höfen und der sogenannten vor­ nehmen Gesellschaft nahe, immer der freien Unabhängigkeit des Charakters treu blieb. Was ich im Hören schon an Fein­ heit des Urtheils und der unvergleichlichen Gabe, der Sprache immer neue und unerwartete Wendungen abzugewinnen, be­ wunderte, hat das Lesen und Wiederlesen nur verstärkt. An Angriffen wird es freilich nicht fehlen, die den Sieg der Vernunft verherrlichen, wenn es fich darum handelt, „die Güter des geistigen Lebens" vor der Verkümmerung zu be­ wahren ! M it alter Verehrung und unverbrüchlicher Anhänglichkeit Ih r A. v. Humboldt." — Ein besonders großes Feld der Arbeit war für Sydow aber auch das V erein sw esen , dem er einen guten Theil seiner Zeit und Kraft widmete. Aus dem kleinen „märkischen Pastoralverein" war der am 14. Ju n i 184 8 gegründete U n io n s-V e re in oder „Verein für evangelische Kirchengemeinschast" hervorgegangen. Als Mitglied des Vorstandes in den Conferenzen thätig, hielt er daneben Ja h r aus Ja h r für denselben Vorträge und war, da er wie Wenige der f r ei en Rede mächtig, wenn wo irgend Noth, das wußten seine Freunde, immer derjenige, der gleich einzuspringen bereitwar. — Dem vom Jahre 1863 an sich bildenden P ro te s ta n te n Ve re i n , dessen erste Versammlung 1865 in Eisenach tagte, ge-

hörte er ebenfalls vom Beginn als Mitglied des „engern Ausschusses" an, und hielt im Jahre 1868 in Bremen auf dem „Deutschen Protestantentag" die Predigt. — Auch der „G u stavA d o lf-V erein " zählte ihn seit seiner Gründung zu seinen hin­ gehendsten Mitgliedern, und war derselbe grade, weil sich in ihm die Männer verschiedenster Richtung zu gemeinsamem Liebeswerk die Hand reichten, so recht nach seinem Herzen. Auf den Haupt- sowie den Provinzial-Versammlungen, zu denen er Jahrzehnte hindurch deputirt wurde, hat er geredet und ge­ predigt, ebenso wie er auch für d iesen Zweck viele Jahre hindurch Vorträge gehalten hat. AIs er im Jahre 1847 der Hauptversammlung in Darmstadt beiwohnte (es war im Jahr vorher durch die Ausschließung des Dr. Rupp die Gefahr einer Spaltung dem Verein nahe getreten), kam die Studenten­ schaft von Gießen herüber und brachte ihm für sein Auftreten in dieser Sache, dem schon ein „offnes Sendschreiben" von seiner Seite vorausgegangen war, einen Fackelzug. Zu seinen lieben und interessanten Erfahrungen gehörte auch, daß er im Jahre 1868 bei Gelegenheit eines Aufenthaltes in Reichenhall, von dem Salzburger evangelischen Geistlichen (welcher zu einer Synode einberufen war) aufgefordert wurde, in der dort durch den Gustav-Adolf-Verein erbauten Kirche zu predigen. Nach der Predigt trat eine trauernde Fam ilie, die derselben bei­ gewohnt hatte in die Sakristei zu ihm mit der B itte, am Nachmittage die Einsegnung der Leiche des Vaters zu über­ nehmen, der auf einer Reise mit den ©einigen in Salzburg erkrankt und gestorben war. E s war ein Beamter aus dem südlichen Rußland, ein griechischer Katholik, seine Frau eine deutsche Protestantin; die Leiche konnten sie nicht in die Heimath bringen. Der Erzbischof von Salzburg hatte ihnen

Kirchliche Wirksamkeit, Hau-Z- und Freundeskreis.

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zwar den Platz auf dem Kirchhof bewilligt, auch die Vorauf­ tragung des Kreuzes durch die Chorknaben erlaubt, die römischkatholische Einsegnung aber verweigert, dagegen gestattet, wenn sich ein evangelischer Geistlicher dazu verstände, die Handlung zu übernehmen, in diesem Ausnahmefalle die evangelische Be­ gleitung geschehen zu lassen. Sydow übernahm es, und so begrub er als evangelisch er Geistlicher einen griechischen Katholiken auf römisch-katholischem Kirchhofe. Eine ganz ungewöhnliche Zahl von Isra e lite n find durch seinen Unterricht und die Taufe dem Christenthum zu­ geführt worden. Das Konsistorium selbst hat festgestellt, „daß nach den amtlichen Anzeigen er mehr Proselytentaufen als irgend ein andrer Geistlicher vollzogen habe". Während dieser angestrengtesten und zu den arbeits­ vollsten Jahren gehörenden Zeit seines Lebens, machte er es aber dennoch möglich, von 1849—54, im Verein mit seinem Freunde, dem Stadtschulrath Schulze, die Werke des ameri­ kanischen Apostels der Unitarier, William Ellery Channing in das Deutsche zu übersetzen, die in 15 Bänden bei Hermann Schulze in Leipzig erschienen sind. Die Anregung dazu und die Bekanntschaft mit diesem, ihn seiner eminent sittlichen Richtung wegen so fesselnden Schriftsteller verdankte er seinem englischen Aufenthalt, und die Herausgabe war gegen seinen Wunsch nur durch die Arbeitslast, die bei der Rück­ kehr seiner harrte, um einige Jahre verzögert und hinaus­ geschoben. Inzwischen wuchsen seine Söhne heran und gingen ihrem selbsterwählten Berufe entgegen. Der Aelteste hatte das me­ dizinische Studium, der Zweite nach absolvirtem Abiturienten­ examen den Soldaten-Bcrnf (und auf seinen Wunsch die Ar-

tillerie), der Jüngste, wenn auch erst einige Jahre später, mit aus Gesundheitsrücksichten, den des Landmannes erwählt. Eine Kette schwerer Krankheiten im eignen Hause in jenen Jahren und die sein Lebelang immer von Neuem an ihn herantretenden Anforderungen von Solchen, die seit ihrer Jugendzeit schon sich gewöhnt hatten, ihn als Stütze und Versorger anzusehn, nöthigten Sydow zu rastloser und ange­ strengtester Arbeit, um nur den Sorgen um das tägliche Leben gerecht werden zu können, und brachten für ihn, be­ sonders während der beiden ersten Jahrzehnte seiner Stellung an der Neuen Kirche, eine fast über menschliche Kräfte gehende Arbeitslast zu bewältigen. Die in ihm so lebendig gebliebene dankbare Erinnerung an die Wohlthäter seiner Jugend, die nach den Entbehrungen der Kindheit ihm den Besuch der Schule und Universität überhaupt nur ermöglicht hatten, war von jeher in ihm mit dem festen Entschluß Hand in Hand gegangen, se in e Kinder, so lange ihm Gott nur Gesundheit ließe, aus e ig n e r Kraft und e ig n e n M itteln selbstständig zu machen, und auf eigne Füße zu stellen. So hat er j ed e Erleichterung durch Stipendien oder sonstige Hülsen immer verschmäht, weil er aus eigner Erfahrung wußte, was wirkliche Noth sei, und nur mit tiefer Mißbilligung hat er so oft im Leben angesehn, mit welcher Leichtigkeit .so Viele derartige Unterstützungen nicht nur annahmen, sondern sogar aufsuchten, die noch die Kraft und Fähigkeiten hatten, für die Ihrigen zu arbeiten, ohne daran zu denken, daß sie Solche, die ganz ohne H ilfs­ quellen waren, dadurch schädigten. W ar er einerseits bestrebt, alle und die besten Hülfs­ mittel der Bildung seinen Kindern zugänglich zu machen, so schasste er sich doch selbst die Möglichkeit dazu erst dadurch,

daß er neben seinem Amt, der Predigt, der Seelsorge, den Amtshandlungen, dem zu enormer Höhe wachsenden Confirmandenunterricht, den Vereinen, Sitzungen und Vorträgen, Jahr aus, Jahr ein die ersten Morgenstunden dem Unter­ richt

an der städtischen Töchterschule (der Luisen-Schule,

Oranienburger-, jetzt Ziegelstraße) und der Senz'schen höheren Töchterschule, und ebenso seine Sorge und Zeit den Penfionairen, die er in sein Haus aufnahm, widmete. Der Winter 1852— 53 brachte das sieben Monate dauernde, schwere Krankenlager der Großmutter, die an einem unheil­ baren Herzübel ihrem Ende entgegenging.

M it fast über­

natürlicher Willenskraft suchte sie sich noch die letzten Wochen zu erhalten,

um den Schluß des medizinischen Staats­

examens, in dem der älteste Enkel stand, noch mit zu erleben. Und wirklich, als er am Abend des 13. März nach wohlge­ lungener Prüfung in das väterliche Haus zurückkam, konnte sie sich dessen noch mit vollem Bewußtsein freuen, bat, nach­ dem sie viele Monate schon nicht anders als im Sitzen die Nächte hatte zubringen können, daß man sie doch legen möchte, sie glaube diese Nacht zu schlafen, und schlummerte auch in dieser Nacht ganz sanft und ahnungslos hinüber.

Am

17. M ärz, dem 25. Geburtstage dieses ältesten Enkels, an dem er mündig war, wurde sie in der Morgenstunde bestattet. Gleich darauf trat derselbe mit seinem Studienfreunde und Examengenoffen B illr o t h , (jetzt Professor in Wisn) eine fast 8 Monate währende Studienreise durch die Würzburger, Münchener und Wiener Hospitäler an, die ihm der Vater, bevor er eine ihm am Krankenhaus Bethanien zugesicherte Stellung übernahm, zu seiner Freude gewähren konnte, während der zweite Sohn inzwischen sein Offiziersexamen absolvirte.

Noch mancherlei Bitteres und Liebes brachte ihm dies Ja h r. Schon am 4. Februar, wo Sydow im Unionsverein einen Vortrag über „den Teufel" gehalten hatte, war seitens des Confistoriums, das aus dem Referat der poli­ tischen Zeitungen davon Kunde erhalten, Notiz genommen, und er deshalb zur Verantwortung gezogen worden. Die Unterhandlung, die nur schriftlich geführt wurde, zog sich bis in den Herbst hinein, und wurde durch eine „Rüge" seitens der Behörde beendet, die ihm am 12. September ertheilt wurde, wie diese selbst aussprach, „um der ganzen Sache ein Ende zu machen," ihm aber nicht erspart wer­ den könne, weil er „den treuen Bekennern des kirchlichen Lehrbegriffs" durch seine Leugnung des persönlichen Teufels „Anstoß und Aergerniß gegeben habe". Dagegen hatte er die hohe Freude, im Laufe dieses selben Jah res von der Jenaer theologischen Facnltät zum D o c to r d er T h eo lo g ie ernannt zu werden. Am 5. Februar 1853 verlieh ihm dieselbe unter K a r l H a se 's Decanat ihre höchste Würde: „Dem durch lautere Frömmigkeit und unermüdliche Seel­ sorge hochverdienten Prediger an der Neuen Kirche zu Berlin, dem geistvollen, feinsinnigen und beredten Verkündiger des göttlichen Wortes, dem treuesten Freunde des unsterblichen Schleiermacher, der durch sorgfältige Darstellung der schottischen Kirchenzustände die Bedürfnisse unserer deutschen Kirche klar­ gelegt und sich stets als unerschrockenen Vorkämpfer und stand­ haften Vertheidiger bewiesen hat sowohl einer nur gesetzlich zu behauptenden kirchlichen Freiheit als der evangelischen Union, die er auf Grund des unverletzlichen Königsedicts vom Jubeljahr der Reformation einträchtig gewahrt wissen wollte."

Im August desselben Jahres wandte sich der Magistrat Charlottenburgs an ihn mit der Aufforderung, dort die erste Predigerstelle anzunehmen.

Es kostete ihn einige Selbstüber­

windung, sie abzulehnen.

Hing er doch bis an sein Ende

mit unbeschreiblicher Anhänglichkeit an den Stätten seiner Jugend, und bot doch das Haus und der schöne Garten dort, bei der Nähe Berlins, eigentlich Alles, was er sich an An­ nehmlichkeit wünschen konnte. Pflichten zu erfüllen.

Aber er hatte noch zu viel

„Ich mußte es des Geldpunktes wegen

ablehnen" so schrieb er seinem Sohne Franz nach Wien — „wäre es einige Jahre später gekommen, hätte sich davon reden lasten, ich wäre gar zu gern da alt geworden und ge­ storben, wo ich jung gewesen bin.

Habeat sibi!"

I m Spätherbst kehrte der Sohn zurück, und trat am 1. Januar in die Stelle eines Assistenzarztes in Bethanien ein.

E r war an Leib und Seele ein Mensch „von Gottes

Gnaden".

War seine äußere Erscheinung von der Art, daß

Rauch selbst einst dem Vater gesagt hatte, „er sei der einzig lebende Mensch, der ihn an den Apoll

von

Belvedere erinnere,"

so hatte ihn die Natur in überreicher Fülle auch nach allen an­ deren Richtungen hin ausgestattet. Nach jeder, auch der künst­ lerischen Seite hin, hervorragend begabt, hatte er neben allem, was ihn fistelte, sich doch mit voller Hingabe seinem eigent­ lichen Beruf gewidmet.

Und war er noch als sprudelnder

und fröhlicher Jüngling ausgezogen, so kam er voll Ernst und gereist zurück, um seinen Lebensweg nun selbstständig zu be­ ginnen, der nach menschlicher Voraussicht alle Bedingungen für eine besonders glückliche und verheißungsvolle Zukunft in sich trug.

Es war eigentlich der erste scheinbar sichere uiid

freudige Ruhepuntt, der in Sydow's Leben gekommen war, Sydow, Lebensbild.

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und von dem aus er hoffnungsvoll vorwärts blicken konnte. — Kaum acht Wochen später, am 23. Februar, drückte er diesem Sohne die Augen zu. Eine Erkältung, die derselbe sich in seinem Berufe zu­ gezogen, hatte durch die Medikamente, die er selbst bereiten mußte, einen entzündlichen Charakter angenommen, und er starb nach vier Tagen als das erste Opfer der Diphtheritis, die damals noch eine hier neue, unbekannte Krankheit war. D ie Aerzte hatten gehofft, wenn er noch eine Nacht über­ stände, ihn zu retten, und der Vater selbst hatte die Wache bei ihm übernommen. M it völliger Klarheit aber hatte der Sohn die Krankheit und Gefahr erkannt, hatte in der letzten Stunde über Vergangenes und Zukünftiges mit ihm gesprochen, hatte von ihm Abschied genommen, und ging unter seinem Segen hinüber. Hatte der Vater, den dieser Schlag bis in's Mark getroffen, die Pflicht, dem Heimgegangenen an der Stätte, wo er freilich nur so kurze Zeit hatte wirken können, das letzte Wort zu sprechen, seinem Freunde Jonas überlassen, in dessen Hause der Sohn selbst wie ein Sohn gewesen war, so ließ er es sich nicht nehmen, an der offenen Gruft zu den Freunden zu reden, und allem Schmerz, der ihn bewegte, doch durch das überwiegende Gefühl des Dankes für das Glück und den Reichthum, den er in diesem Sohne so lange be­ sessen, Ausdruck zu geben. Wer ihn da hat stehen sehen, und wer da seine Worte vernommen, verstand es, daß man ihn mit „einem antiken Helden" vergleichen konnte! D a s Maß des häuslichen Kummers war aber noch nicht erschöpft. D ie Tante, die im Verein mit der Groß­ mutter vierzehn Jahre lang Mutterstelle vertreten, und nur

Kirchliche Wirksamkeit, Haus- und Freundeskreis.

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der Erziehung der Kinder gelebt hatte, überwand diese Schick­ salsschläge nicht mehr körperlich, sondern auch sie folgte wenige Monate später noch in demselben Jahre den beiden vorange­ gangenen Lieben nach. Das bis dahin so volle und lebendige Haus erhielt nun im Laufe der nächsten Jahre einen ganz andern Charakter. Den jetzt ältesten Sohn führte sein militairischer Berus nach auswärts; der jüngere absolvirte seine Lehrzeit aus dem Lande und ging später nach Amerika, um sich dort eine Zukunft zu gründen; Pensionaire zu halten, wurde aufgegeben, und die Söhne kamen nur noch als Gäste in's Vaterhaus zurück. Aber die Kraft und Seelenstärke, die Sydow aus allen Schicksalsschlägen seines Lebens immer wieder das Haupt und das Herz hatte emporheben lasten, ließ ihn auch dies M a l die so plötzlich abgerissenen Fäden wieder mit einweben in das Leben, das nun von neuem begonnen und eingerichtet werden mußte. Und wie ihm in seinem Innern das Dieffeits und das Jenseits überbrückt war, so webte er auch das Ver­ gangene in das Jetzt und das Heute hinein, und wenig Menschen werden gefunden werden, die in allen Fügungen ihres Lebens überall den Finger des lieben Gottes so zu suchen und zu finden wußten, wie er! Das Amt und die Hingabe an seinen Beruf im Dienste seiner Mitmenschen, das er auch nicht eine Stunde durch seine persönlichen Erfahrungen und Empfindungen je hat beein­ trächtigen lassen, blieb nach wie vor die Hauptaufgabe seines Lebens. Das Interesse am öffentlichen Leben und die Pflichten, die ihm dasselbe auferlegte, erfüllte er treu nach wie vor, und war er auch in jenen Jahren körperlich oft so angegriffen, daß er nur mit großer Selbstüberwindung allem gerecht wer-

den konnte, er ermüdete nicht. Sein H aus, in dem er von da ab, seit es einsam geworden, allein mit seiner Tochter, die eben herangewachsen w ar, lebte, blieb nach wie vor der Sammelplatz des Freundeskreises, und er liebte und pflegte die Geselligkeit und jede Beziehung früherer Zeit. Die Familienfeste, die man nach lieb gewordener Sitte mit dem Jonas'schen Hause vereint zu feiern gewohnt war, wurden auch ferner aufrecht erhalten. Die alljährliche Ge­ burtstagsfeier Schleiermacher's, die für den ganzen Freun­ deskreis einer der Glanzpunkte des Jah res war, blieb es auch unverändert für Sydow nach jener Zeit. Und waren Jo n a s und er zuletzt die Einzigen in dem engeren Kreise, die die direkten Schüler des großen Meisters gewesen waren, so blieb es Sydow beschieden, während des letzten Jahrzehnts, am 21. November, der Senior und Präses dieser Vereinigung zu sein, und aus seinen Wunsch geschah cs, daß mit dem hundert­ jährigen Geburtstage diese Art den Tag festlich zu begehen, feierlich abgeschlossen wurde. Im November des Jah res 1859 wurde der Grundstein eines Schillermonumentes in Berlin, zur Säcnlarfeier seines Geburtstages gelegt. Die Feier dieses Tages, die durch ganz Deutschland eine allgemeine w ar, hatte eine liefe Erregung des nationalen Gefühls in Millionen hervorgerufen, der gegen­ über die Partei das Haupt erhob, die in Schiller keinen Christen erkennen und die ganze Feier womöglich verworfen sehen wollte. Die städtischen Behörden Berlins, welche den Platz vor dem Schauspielhause auf dem Gensdarmenmarkt für das Denkmal hergegeben hatten, forderten Sydow zu der Rede bei der Grundsteinlegung auf. W ar ein wesentliches Ziel seines

ganzen kirchlichen Wirkens darauf gerichtet gewesen, die Kluft, die so tief und verderblich zwischen dem Weltbewußtsein und dem kirchlichen Leben sich aufgethan hatte, zu schließen, so war es daneben auch sein allzeit ungebeugter persönlicher Muth, der ihm, wie schon manche andere, so auch diese Aufgabe in dieser Zeit zuwies. Die Hofpartei besonders hatte alle Be­ denken und Mittel in's Feld geführt, um die Feier in dem von der Stadt und dem Comite geplanten Sinne zn verhindern. Zwei Tage vor derselben erschien der General-Super­ intendent H offmann bei Sydow, um ihm im Austrage unsres Kaisers, des damaligen Prinz-Regenten mitzutheilen, „der­ selbe erwarte, daß die Handlung der Grundsteinlegung nicht im Talar von ihm vollzogen werde, weil er sie für keine .kirchliche' halten könne". Sydow wies dies auf das Ent­ schiedenste zurück und ersuchte den Ueberbringer, dem Regenten zu sagen, „er sei jeden Augenblick bereit zurückzutreten, wenn es gewünscht würde. Spräche er aber, so würde das nur im Talar sein". In demselben Sinne schrieb er auch nachher noch an den General-Superintendenten: „Eugen Sie Sr. König­ lichen Hoheit, der Talar sei meine Uniform, und er würde doch keinem Offizier eine Handlung zu vollziehen gestatten, zu der er genöthigt sei, seines Königs Rock vorher auszuziehen." Auch ersuchte er ihn, den Prinzen darauf aufmerksam zu machen, daß, so oft er an seines hochseligen Vaters oder an der königlichen Tafel seines Bruders gespeist habe, er der ge­ setzlichen Etikette nach im Talar dazu habe erscheinen müssen, ohne daß bis jetzt Jemand darin eine kirchliche Handlung er­ blickt hätte. Ja, er ließ ihn an ein Vorkommniß aus dem Jahre 1844 erinnern, das in Potsdam damals viel von sich reden gemacht hatte. Sydow war nach Sanssouci zur Tafel

befohlen, an der auch Tieck thcilnahm. Unmittelbar nach Aushebung derselben wurden die Flügelthüren nach einem der Nebensäle geöffnet, in dem eine Bühne ausgeschlagen war, aus der der König als Huldigung für Tieck den „gestiefelten K ater" durch die von Berlin hinübergerufenen königlichen Schauspieler aufführen ließ. Auch Sydow befand sich also unter den Zuschauern. Andren Tags ließ der König ihm durch den Cabinetsrath Müller sein Mißfallen darüber aus­ drücken, daß er im T alar gewesen sei. Seiner einfachen E r­ widerung, daß er bei Tafel nicht habe ohne Talar erscheinen d ü r f e n , und daß weder Zeit noch O rt noch Gelegenheit ge­ wesen sei, den Anzug zu wechseln, ließ sich nichts entgegnen. Und wenige Tage darauf, bei der Begegnung auf einem Spaziergang, ergriff der König in seiner liebenswürdigen Weise die Gelegenheit, Sydow auszudrücken, daß es ihm leid thue, ihn durch den Auftrag, den er Müller gegeben, vielleicht unangenehm berührt zu haben. E r sehe ein, daß Sydow nichts andres habe thun können, aber, fügte er hinzu, „das seien eben so leidige Consequenzen, denen man so oft ausgesetzt sei". Erst am Abend vor der Grundsteinlegung des M onu­ mentes, bis wohin Sydow in Unsicherheit gewesen war, wie die Entscheidung des Prinz-Regenten ausfallen würde, ließ ihm derselbe durch den General-Superintendenten schreiben, „daß er seine Bedenken in Bezug auf den T alar habe fallen lassen”. D as Program m der Feier wurde aber noch dahin geändert, daß der Prinz nicht, wie erst bestimmt, derselben auf dem Festplatz, sondern von den gegenüberliegenden Fen­ stern der Seehandlung aus beiwohnte. Hatte es in Sydow festgestanden, dem leisesten Wunsch des Prinzen, falls derselbe nicht durch seine Gründe überzeugt

worden wäre, entgegenzukommen, und den Auftrag in andere Hände zu legen, so war derselbe durch diese Entscheidung in den Stand gesetzt, auch die Form, die er gewählt hatte, ohne Aenderung beizubehalten, und gab den Empfindungen des Tages, wie folgt, Ausdruck'): „So ist nun der Grundstein gelegt, welcher das Stand­ bild eines der größesten und einflußreichsten Geister des deutschen Volkes tragen soll. Wir, eins der frühesten Geschlechter seiner Nachgebornen, wollen damit- einen Theil des ihm schuldigen Tributs dank­ barer und liebender Verehrung abtragen, zu welchem sein großer Freund in den Worten aufrief: So feiert ihn, denn was dem Mann' das Leben Nur halb ertheilt, soll ganz die Nachwelt geben. Von einer begeisterungsvollen Bewegung fühlen wir uns mitergriffen und getragen, die an dem heutigen Tage M illio­ nen Herzen in allen Gauen unseres deutschen Vaterlandes durchzuckt und durchglüht, ja, die an dem geistigen Bande deutscher Zunge weit über den Ocean hinausgeht, und deren Schwingungen selbst von Solchen empfunden werden, zu denen der unsterbliche Geist unseres edelsten Denkers und Dichters nur durch das Wort der Uebertragung sprechen kann. Zwei Gnaden erweist der

weltregierende Gott einem

Volke, das er zu einem weltgeschichtlichen Culturvolk berufen will: daß er ihm Männer ausrüstet mit der Kraft des offen*) Die gedruckte Rede erschien nachträglich zum Besten der Schiller­ stiftung. Anm. (Die Rede ist im Ganzen wortgetreu; etwaige Abweichun­ gen vom ursprünglichen Wortlaut im Einzelnen berühren nichts Wesentliches in Inhalt und Sinn. Sydow.)

barenden Geistes, die seine Ouellengeistcr werden an senem Born des Lichtes und des Lebens, der dem Geschlecht der vernünftigen Wesen ewig springt, und daß er ihm den Sinn giebt, dem Ruse dieser Geister folgend, zu schöpfen. Nicht umsonst hat die Gottheit uns, den germanischen S tam m , hineingesetzt in das Herz unseres W elttheils, den germanischen Stam m mit dem tiefen, frommen Gemüth und dem hellen Auge der Forschung, mit dem Mannesschwert des Krieges uud des Gedankens. S ie hat uns M änner genug gegeben, uns zu führen, und hat, der heutige Tag bezeugt es, uns auch nicht un­ empfindlich gemacht, es zu erkennen; aber unter allen giebt es keinen, den das gestimmte Volk der Deutschen mit diesem einmüthigen allverbreiteten Gefühl der tiefstersahrenen Wirkung, mit dieser stolzen Freude den S e in e n nennte, mit S c h ille r. Und darum soll ihm an dieser Stelle, in dieser Haupt­ stadt des deutschen Nordens das Denkmal erstehen, zu welchem fich Fürst und S tad t und Bevölkerung in erhebender Zusam­ menstimmung vereinigen. Solche Denkmäler sind einer Nation wie heilige, schützende Palladien, sie sind aus ih rem Gebiete gleichsam sacramentliche Symbole; nicht bloße Zeichen der Erinnerung an einen Todten, sondern dem, der sich ihnen mit Verlangen und liebendem Verständniß naht, Pfänder und Spender des Geistes dessen, der da lebt. S o lange sie uns unsern großen Kurfürsten und unsern großen König nicht wegholen, wird auch Preußens S taa t in Macht und Ehren stehen ; und so lange deutsche Herzen zu Standbildern ihres S c h ille r pilgern und aufblicken, so lange wird auch das deutsche Volk fich seiner Brudereinheit bewußt

sein, und deutscher Geist und deutsches Wort wird die Welt Wahrheit, Licht und Recht, Gesittung, Schönheit und edle Menschlichkeit lehren. W ir haben hier ein ernstes Werk bereitet und nach dem Spruch des Meisters wollen wir es weihen mit einem ernsten Wort; wir haben ein frommes Werk bereitet, denn es ist ein Werk der dankbaren Pietät.

Sie gilt dem Sterblichen nur,

weil der Ewige es ist, der ihn zum Werkzeug seiner Güte und Gaben an Millionen erkoren, und der echten Begeisterung und Liebe kann nichts ferner sein, als jeder menschcnvergötternde Cultus, gelte er der äußern Macht oder der Ge­ waltigkeit im Reiche der Geister. Jeder Genius weist uns nach oben und der unsres S c h ille r, in seinen leisesten Lauten wie in seines Sanges brausendstem Strom, führt unsre Seelen empor zu dem guten Vater über den Sternen. Aber woher hatte er den Vater? Is t nicht von heiligen Lippen uns das Wort gekommen: Niemand kommt zum Vater, denn durch mich? und ist S c h iller unter denen, die an diesen Lippen gehangen, um von ihnen Worte des ewigen Lebens, um von ihnen das, was dem armen sündigen Menschen noth ist, um von ihnen die volle Genüge zu erlauschen? Wie viele christliche Gemüther ringen in rührendem in­ nern Kampf nach einer Antwort auf diese Frage, die sie nicht glauben bejahen zu dürfen, um der Wahrheit willen, und nicht glauben verneinen zu können, um der Liebe willen? W ir aber, als wahrhaftige und besonnene Männer, können nicht wollen, daß unsre Ehrerweisung in unausgeglichenem Widerspruch geschehe mit den heiligen Ueberzeugungen, die unser Christenleben tragen.

S c h ille r hat an dem kirchlichen Wesen seiner Zeit keinen lebendigen Antheil genommen; — dieser hätte nur darin bestehen können, aus dasselbe direct reformatorisch zu wirken, und das war nicht seine Mission. E r Hai diese Entfremdung vom kirchlichen In stitu t mit den meisten seiner großen Zeit­ genoffen gemein. N u n ist es e in a n die S ic h e rh e it des A x io m s re ic h e n d e r S c h lu ß , d a ß , w en n die reichsten u n d g e b ild e ts te n G e iste r e in e r N a tio n u n d e in e s Z e it­ a l t e r s sich der K irche e n tfre m d e n , d ie s n u r se in e n G r u n d h a b e n kann in einem a llg e m e in e n und tie f ­ lie g e n d e n , sc h u ld v o lle n M a n g e l. Läge derselbe etwa im Christenthum, das doch nie veralten kann und in sich selbst die Bestimmung und zulängliche Kraft trägt, alle Menschen­ geister unter das sanfte Joch seiner göttlichen Wahrheit und Liebe zu beugen? Oder läge er darin, daß die edelsten und größesten Menschen in Leben und Wissenschaft auch die Un­ empfänglichsten werden müßten, den menschheitlich erlösenden und befruchtenden Geist des Christenthums in sich aufzunehmen? Doch gewiß Beides nicht! S o bleibt denn nur als geschicht­ liches Urtheil — denn über den innern Lebensgang der Per­ sönlichkeit kann allein Gott urtheilen — daß das K irchen­ th u m der Zeit, wie es w ar, nicht fähig gewesen, seine Be­ stimmung und Pflicht im Dienste des Christenthums an der fortgeschrittenen und fortschreitenden Welt zu erfüllen. Denn die große Pflicht und Aufgabe der Kirche, den ewig gleichen Lebensgeist des Herrn in die lebendige Entwicklung der mensch­ lichen Generationen hineinzutragen, muß von menschlichen Per­ sonen gelöst werden, und diese sind unvollkommen, und da­ mit, wie alles Irdische, auch jedes jeweilige Kirchenthum. E s sollte uns Kindern der neueren Geschichte nicht schwer

Kirchliche Wirksamkeit, H aus - linö Freundeskreis.

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werden das anzuerkennen, denn dieselbe Erscheinung tritt in jenem Jahrhundert auf, in welchem der Strom der Entwick­ lung entsprungen ist, auf dem unser Aller Lebensschiff treibt. I s t der M ann, der im 16. Jahrhundert der philosophischen Wissenschaft der christlichen Welt die ihr gebührende Freiheit und Selbstständigkeit errang, ist Cartefius vom C h riste n ­ th u m gefallen, wenn er der denkenden Vernunft das Recht des Zweifels und die Pflicht der Prüfung an dem Gegebenen eroberte? Is t jener seinem kühnen Geist vertrauende See­ fahrer gegen das C h riste n th u m angesegelt, wenn er die wahre Gestalt unsres Weltkörpers aus den hergebrachten V or­ stellungen über diese Gestalt befreite und alle Combinationen der Völkerverhältniffe umgestaltete? Is t ein Copernikus, ein G alilei vom C h riste n th u m gefallen, wenn er in der That des freien Gedankens, von dem ruhenden Mittelpunkt unsres Weltsystems aus die sich bew egende E rd e erblickte, ein S tern unter Sternen, und damit in die religiöse Lehrbildung tiefer eingriff, als Viele es noch ahnen? S ind jene M änner vom C h ris te n th u m gefallen, die in der Wiederbelebung der Wissenschaften, die, wenn mau so sagen darf, durch die Ent­ deckung des classischen Alterthums, Bildung und Geschichte wieder in das versetzten, was sie in ihrem Wesen find, in den lebendigen Fluß? Sind jene reformatorischen M änner vom C h ris te n th u m gefallen, wenn sie den seligmachenden Glauben geltend machten in dem Element, in welchem er allein seinen Sitz h at, in dem Gewissen, in dem Ueberzeugungsleben der freien, sittlichen Persönlichkeit? Aber aus den Voraussetzungen, Satzungen und Lehren des damaligen K irc h e n th u m s find sie alle gefallen! Lasset uns ohne weitere Vermittelung den Schluß ziehen.

Verstehn wir unter K irche die abgeschlossene hierarchische I n ­ stitution, so war S c h ille r mit ihr zerfallen; verstehn wir unter ihr, was sie wahrhaft ist, die Gemeine der Gläubigen, so gehörte der Christ S c h ille r ihr an! Wo und soweit das neuere Kirchenthum in die fehlerhaften Grundsätze des älteren zurücksinkt, wird es unkräftig werden, die Entwicklung der Menschheit erleuchtend und segnend zu beherrschen, und kräf­ tige und wahrhaftige Seelen werden ihre eigenen Wege gehn und ihrem Glaubensleben eine Gestalt geben, die man un­ kirchlich nennen mag und die in einzelnen Fällen selbst un­ christlich werden kann. S c h ille r's Glaubensleben hat nicht das kirchliche Gepräge, doch wer es u n c h ristlich nennte, verriethe damit nur einen ganz fremdartigen Maßstab des Urtheils. W ir aber fühlen dem großen und reinen Herzen ab, daß in der tiefsten Tiefe seines Wesens Erlösung und Friede wohnten, und sein Leben, treu und stark in Liebe, Arbeit und Leiden ist dafür Beweis. Gerade in dieser Ge­ stalt seines innern Lebens, wie sie aus der Zeit zu erklären, hat der. Herr der Kirche ihn an tausend Herzen als Helfer und Freund brauchen wollen und allein brauchen können, die bei ihrem Zerfall mit dem Kirchenthum, in ihrer Schwäche nicht die Kraft gehabt hätten, die idealen Güter der Menschen­ seele in einem heilskräftigen Glauben zu retten. S c h ille r gleicht seinen eifernden kirchlichen Anklägern gegenüber jenem M anne im Evangelio, der im Namen des Herrn böse Dämonen aus den Menschen trieb und dem die Jünger wehren wollten, weil er nicht in ih re m K reise dem Herrn folge. Der aber sagte ihnen: „wehret ihm nicht, denn wer nicht wider mich ist, ist für mich." Wer will auftreten und sagen, S c h ille rs e i wider den Herrn gewesen? er, dessen

Kirchliche Wirksamkeit, Hans- inid Freundeskreis.

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sittlich-geistiges Wesen auf dem Stamm des Christenthums gewachsen und auf keinem andern wachsen konnte, er, dessen Wirken auf die deutsche Nation den geistigen Boden in der­ selben, wie kaum ein Anderer, zur Aufnahme aller idealen Güter der Menschheit bereitet?

Getrost und unbeirrt lasset

uns gewiß sein, daß er, dessen Blick die Jahrhunderte über­ schaut und über den engen Gesichtskreis beschränkender Aus­ schließlichkeit der Formen weit hinausgeht, Schiller's Dienst billigend mit eingewebt hat in die Geschichte seines Reiches! Der Meister hat gesprochen: „Der Segen kommt von oben", so wollen wir dem Segen des Höchsten unser Werk befehlen. Eine neue, schöne Zierde unsrer Stadt soll denn an dieser Stätte die Gestalt des edlen Geisteskämpfers erstehen in der siegreichen Erhabenheit über alle die Zufälligkeiten, Verken­ nungen und Verkümmerungen der Erscheinung, wie allein die plastische Kunst sie ihren stillen, dauernden Schöpfungen ein­ zuhauchen vermag.

W ir, die Gegenwärtigen, wollen unseren

Kindern und Kindeskindern sie aufrichten, ein Zeugniß lieben­ der Dankbarkeit und Verehrung, daß die kommenden Ge­ schlechter sich je und se wieder an ihm ausrichten zu allem Wahren, Guten und Schönen!

Ja, so sei es!"

Große Erfahrungen und große entscheidende Kämpfe waren Sydow noch vorbehalten, mitzuerleben.

Der fast mit

meteorartiger Geschwindigkeit vorüberziehende Krieg des Jahres 1866

und

die blutigen Entscheidungen des französischen

Krieges, sie führten ihn mit all' seinen Empfindungen noch ein Mal zurück in die lebhaften Erinnerungen aus dem Be­ ginn seines Lebens.

Wie jubelte er, als der nationale Auf-

schwung erfolgte und das deutsche Volk seine Einheit wieder­ gewann! Wie trauerte er, als im Innern der Interessenkampf von neuem entbrannte, aber doch, mit wie freudiger Zuverficht hoffte er immer von Neuem! War doch sein Blick durch das ununterbrochene und ungeschwächte Interesse, das er während seines langen Lebens und seiner reichen Erfah­ rungen fich für das vaterländische Wohl und seine Entwicke­ lung bewahrt hatte, zu einem weiteren geworden, als die Be­ urtheilung der täglich im kleinen Kreise fich vollziehenden E r­ eignisse forderte. Und so konnte er von der Höhe idealer Geschichtsbetrachtung herab selbst im Anblick der Rückschritte und der kleinlichen Kämpfe um Tagespolitik, nach dem Fort­ schritt, den er während dieses ganzen Fahrhunderts mit er­ lebt hatte, auch bis zuletzt auf ein wenn auch langsames doch stetiges Werden zurückblicken und weiter hoffen! Wie wünschte er manchmal die Freunde zurück, mit denen er diese Hoffnungsträume in der Jugendzeit gepflegt, und für die fie als Männer an ihrem Theil und an ihrer Stelle gestritten hatten! Sie waren aber, Einer nach dem Andern vor ihm dahingegangen. Aber er pries es bis zuletzt als ein Glück seines Lebens, daß, ob er schon aus jener Zeit fast allein geblieben, er doch nicht vereinsamt geworden war, sondern kräftig eingewurzelt blieb in die neue Zeit. M it dem jüngern Kreis der Theologen Thomas, W. Müller, Richter, Lisco, Hoßbach w., verband ihn ein treues rollegialisches Gefühl, und hielt ihn als mit seinen Mitarbeitern und Mitstreitern bis zuletzt zusammen. Jeder frisch auf den Plan tretenden jüngeren Kraft konnte er fich so recht von Herzen freuen, und trotz aller Selbstständigkeit des Urtheils wie des Handelns entzog er sich dem Rath und Urtheil der

näheren Freunde doch nie. Bei aller Entschiedenheit seiner Stellungnahme im kirchlichen Leben und Kampf aber hatte er sich eine ganz besonders weitherzige Würdigung aller guten Kräfte und Leistungen, mochten sie von welcher Seite es auch sei kommen, bewahrt, und über Männer der ver­ schiedensten Standpunkte wie Dörner, Nitzsch, Twesten, Butt­ mann, Niedner, Kögel, Müllensiefen, Fromme! u. A., auch wenn er sie aus bestimmten Punkten bekämpfte, konnte man ihn doch wieder mit freudigster Anerkennung urtheilen hören. Als aber sein ältester Sohn im Jahre 186*2 sein eigenes Haus gründete». und die vierte Tochter seines Freundes Jonas heimführte, da begannen in dem Leben mit seinen Enkeln noch ein M al seine Wurzeln von neuem frisch auszuschlagen, und in erneutem jugendlichen Interesse lebte er in der neuen Zeit.

Siebentes Capitel. Die

letzten

J ah re im Amte. Di scipl inaruntersuchung. J u b i l ä u m . Emer i t irung.

Der Berliner Unionsverein hatte in den Wintermonaten 1871— 72 wieder wie alljährlich eine Reihe von Vorirägen veranstaltet, die, im Bürgersaale des Rathhauses gehalten, von M al zu M al sich regeren und interesfirteren Zuspruchs des gebildeten Publikums erfreuten. Die Themata, welche besprochen werden sollten, wurden vorher in gemeinsamer Conferenz festgesetzt, und so hatte Sydow den fünften der­ selben, der auf den 12. Jan u ar 1872 fiel, und die Aufgabe

übernommen, über „die wunderbare Geburt Jesu "') zu sprechen. E r hatte in diesem Vortrage aus der Schrift nachzuweisen gesucht, daß die jüdische Vorstellung der Gottessohuschast ober Mesfiauität eine völlig andere gewesen sei, als die später aufgekommene christliche Lehre, und daß im Neuen Testament selbst an den entscheidenden Stellen Jesus als Joseph's Sohn bezeichnet sei. Von dem Vortrage w ar, wie dies von Seiten der Zei­ tungen jedes M al geschah (im ersten Beiblatt zu Nr. 22 der National-Zeitung) ein kurzes Referat gegeben. D as Königliche Konsistorium der Provinz Brandenburg forderte Sydow unter dem 29. Ja n u a r 1872 in Folge dessen aus, „bei dem großen Aufsehen, das dieser Vortrag gemacht und den Protesten, die er bereits hervorgerufen, dem Konsistorium — als seiner Aufsichts­ behörde, die eingehende Kenntniß davon zu nehmen habe, — das Manuscript einzureichen, oder, wenn er sich dazu nicht im Stande fühle, sich pflichtgemäß darüber zu erklären, ob und in wie weit jenes Referat der N ational-Zeitung der W ahr­ heit entspreche, und seine Ausführungen treu wiedergebe, und, wenn es hiervon abweiche, wie dieselben in der That gelautet haben". Unmittelbar vorher hatte die Behörde schon den Prediger Lisco ebenfalls wegen eines von ihm über „das apostolische Glaubensbekenntniß" gehaltenen Vortrages zur Rechenschaft gezogen. Sydow hatte, wie immer, frei gesprochen. D as Referat der Zeitung war so kurz und skizzenhaft, daß, statt einer Ver­ handlung über seine Stellung zu demselben nach In h a lt und *) Protestantische Vorträge. Verlag von F. W. Henschel.

B and III. Heft V.

Berlin. 1873.

Form, er sich gegen die Behörde am 7. Februar lieber erbot, den Vortrag selbst, nach bestem Wissen und Gewissen, sachlich und, soweit dies möglich sei, „wörtlich" herzustellen. Die Behörde genehmigte das, und unter dem 24. Februar sandte er den Vortrag mit nachfolgendem Begleitschreiben ein: „Dem Königlichen Hochwürdigen Konsistorium überreiche ich beifolgend dienstergebenst, ehe er in die Oeffentlichkeit t r i t t , den eingeforderten Vortrag über „die wunderbare Geburt Christi", welchen ich am 12. Januar d. Z. im Unions­ verein gehalten. Ich habe ihn aus dem Gedächtniß und Wochen nachher in der Weise herzustellen mich bemüht, die ich schon in meiner Eingabe vom 7. d. Mts. bezeichnete. Dem vielseitig geäußerten Wunsch, ihn zu besitzen und zu lesen, habe ich durch den Druck desselben entsprechen mögen und zugleich den vielen Protestirenden dadurch nachträglich das darbieten wollen, was offenbar alles sittlichen Protestirens Borbedingung ist, nämlich das, wogegen protestirt wird, authentisch und persönlich zu kennen". Inzwischen nahte der 1. März heran, an dem Sydow, der am 1. März 1822 seine Stellung als Cioilgouverneur an der Königlichen Cadettenanstalt angetreten, sein 50 jähriges Amtsjubiläum zu begehen hatte. Er, dem nichts so fern lag, als sich feiern oder zum Mittelpunkt machen zu lassen, hatte längst beschlossen, diesen Tag auswärts in der Stille und im Kreise seiner Familie zuzubringen, und hatte, als ihm kurz vorher mitgetheilt worden war, daß die städtischen und Ge­ meindebehörden, sowie der Kreis der Freunde den Wunsch hätten, ihn feierlich und gemeinsam zu begehen, auf das Ent­ schiedenste ausgesprochen, daß er sich dem zu entziehen und jeder Feier aus dem Wege zu gehen wünsche. Da brachte L y d o w , Lebensbild. 10

die National-Zeitung in Nr. 75 die Nachricht/ und es ging von da in andere Blätter über, daß der Begründung einer wohlthätigen Stiftung zu diesem Tage die consistoriale Geneh­ migung versagt sei. D as Consistorium erließ unmittelbar darauf, ebenfalls in den Zeitungen eine „berichtigende" E r­ klärung dieses Artikels, in der es sein Verfahren begründete und m it ganz bestimmter Angabe persönlicher D aten aus Sydow's Amtsleben, Examen, O rdination rc. nachzuweisen versuchte, daß derselbe kein Recht habe, diesen Tag als den Tag seiner erfüllten 50jührigen Amtsthätigkeit zu betrachten. Sydow sah sich deshalb gezwungen, zu seiner eigenen Recht­ fertigung an den Redacteur der National-Zeitung, Dr. Z a b e l, folgenden Brief zu senden: Verehrter Herr Redacteur! Ein Artikel in Nr. 75 Ih re r Zeitung theilt mit, daß der Vorstand der Jerusalemer und Neuen Kirche von meiner am 1. M ärz d. I . erfüllten 50jährigen Amtswirksamkeil durch die Begründung einer wohlthätigen Stiftung freundliche und ehrende Notiz habe nehmen wollen, aber bei dem Königlichen Consistorium damit auf gewisse Schwierigkeiten gestoßen sei. Z u Nr. 80 Ih rer Zeitung erscheint nun eine b e ric h ti­ g e n d e Erklärung der Hochwürdigen Behörde auf jenen Artikel. Die darin mich betreffenden Angaben sind s ä mmt l i c h ungenau. Nicht im Februar, sondern im J a n u a r 1828 bin ich ordinirt, ein z we i t e s theologisches Examen habe ich über­ haupt nicht gemacht, da mir die Behörde dasselbe, nach dem Ausfall des ersten, Angesucht erließ. W as aber wichtiger: die Bezeichnung meiner sechsjährigen Thätigkeit vor meinem Eintritt in's geistliche Amt als die „eines Hilfslehrers am

Kadettencorps" ist unzutreffend. Meine Stellung als Repetent (jetzt Civilgouverneur) war eine mir staatlich und staatskirchlich übertragene. Ich verwaltete ein in die Organisation der Anstalt bleibend und etatsmäßig eingefügtes Amt, und es behält daher mit dem 1. M ärz d. I . als meinem 50 jährigen Amtsjubiläumstage seine volle Richtigkeit. Ich benutze diese Gelegenheit zu erklären, daß ich von einer „amtlichen Feier" dieses für mein Leben immerhin wich­ tigen Tages nichts geahnt, und daß ich sie selbstverständlich weder direct noch indirect veranlaßt habe. Meine Freunde wissen, daß und warum ich seit M onaten entschlossen war, diesen Tag in stiller Zurückgezogenheit im Kreise meiner Kinder und Enkel zu verleben. Ich ersuche Sie, verehrter Herr Redacteur, um Aufnahme dieser Zeilen in I h r geschätztes Blatt. Berlin, 20. Februar 1872. Ergebenst Dr. Sydow. Die Redaction fügte dem Schreiben noch hinzu: „W ir entsprechen dem Wunsche des Herrn Pred. Sydow um so lieber, als uns die obigen Zeilen eine eingehende Besprechung der neulich von uns gebrachten „Berichtigung" des König!. Konsistoriums ersparen. D aß dem Herrn Oberhofprediger Dr. Snethlage bei der Feier des Dienstjubiläums seine M ilitärd ien stzeit angerechnet wurde, erklärt das Konsistorium für „ ganz begründet", wodurch es aber begründet war, darüber werden wir leider nicht belehrt." D as Konsistorium forderte nun Sydow in Folge dieses seines Briefes am 22. Februar auf:

1) „die Verfügung im Original oder abschriftlich einzu­ reichen, durch welche ihm das bezeichnete Amt mit Bewilligung einer etatsmäßigen Besoldung übertragen sei. 2) Die Verhandlung anzugeben, durch welche er beim Eintritt in das Amt als Staatsbeamter verpflichtet worden sei. 3) Die kirchliche Behörde zu bezeichnen, von welcher seine Anstellung als Repetent am Cadetten-Corps genehmigt worden, und endlich anzuzeigen 4) w ann er die erste theologische Prüfung abgelegt, und ob er nach Beendigung der Uuiversitätsstudien noch eine Prüfung für ein öffentliches Lehramt abgelegt habe." Sydow beantwortete dies Schreiben am 27. Februar in erster Linie mit Beifügung eines Attestes des zur Zeit (Fe­ bruar 1872) mit der Commandeur- Stelle des Königlichen Cadetten-Corps betrauten General-Majors von Wartenberg welches lautete: Herrn Prediger Dr. Sydow von der Neuen Kirche hierselbst wird hierdurch auf Verlangen attestirt, daß, nach Aus­ weis der Stammlisten des Cadetten-Corps, derselbe am 1. März 1822 als Repetent bei dem Berliner Cadettenhause angestellt worden ist, und in dieser Stelle bis zu seiner am 1. Februar 1828 erfolgten Ernennung zum Prediger des Berliner Cadettenhauses verblieben ist. — D as vorgedachte Amt als Repetent bestand in einer e ta tis irte n Stelle, und würde die Dienstzeit in derselben nach diesseitigen Grund­ sätzen mit zur Berechnung zu bringen sein. Berlin, 26. Februar 1872. von W a rte n b e rg . Die anderen Fragen beantwortet Sydow dahin, daß das Amt weder ein Privat-Engagement noch ein communales

Amt w ar, sondern eine von S r. Majestät dem König Fried­ rich Wilhelm III. dem Organism us der Anstalt bleibend ein­ gefügte Institution, ausdrücklich mit dem Auftrage bestimm­ ter kirchlicher Thätigkeiten, wie des Religionsunterrichtes, des Morgengebetes und des Gottesdienstes, wenn die Anstalt nicht tut Ganzen der Predigt in der Garnisonkirche bei­ wohnte. Bei Eintritt in das Amt der Repetenten wurde die Zuficherung ertheilt, daß dieselben nach 7 jähriger Thätig­ keit in dieser Stellung, Anwartschaft auf eine königliche Pfarre hätten. Ad 1, 2 ,3 der Verfügung bemerkt Sydow, daß die Be­ rufung vom Chef der Anstalt, General von Brause, erfolgt sei, der die Repetenten auch mit den dienstlichen Verpflich­ tungen bekannt gemacht habe. D er Art des Verpflichtungs­ aktes könne er fich nicht mehr erinnern, und denselben also auch nicht mehr mit- Bestimmtheit angeben. Ad 4 überreichte er unter ergebner Bitte um Rückgabe das Originalzeugniß der Prüfungscommission des Hochwür­ digen Königl. Konsistoriums, wodurch sich als der Tag seiner e in m a lig e n Prüfung der 9. März 1827 ergiebt. Aus die zweite Frage ad 4 berichtet er, daß er aller­ dings nach Beendigung der Universitätsstudien noch eine P rü ­ fung für ein öffen tlich es L e h ra m t bestanden habe vor einer eigenen Prüfungscommission, an deren Spitze der Ge­ nerallieutenant von Hüser, und deren Mitglieder Professor Wählers und der Historiker Professor Woltmann waren. D a s Konsistorium begleitete die Rückgabe der Zeugnisse mit einem Schreiben des In h alts, daß nicht „nachgewiesen sei, ob die Repetenten ein zu P e n s io n b erech tig tes A m t be­ k le id e t h ä tte n " (etwas, wonach aber nicht gefragt war!).

Die Behörde hätte aber gegenwärtig kein praktisches In te r­ esse, diese Frage im vorliegenden Fall in weitere Erörterung zu ziehen." D aß diese Behörde von dem Jubiläum stage keine Notiz nahm, war selbstverständlich. Dieselbe fühlte sich aber auch nicht veranlaßt, die von ihr in den öffentlichen Blättern angegebenen Daten zu berichtigen, nachdem Sydow durch Einreichung der Zeugniffe bewiesen, daß sein e Angaben gegenüber der der Behörde die richtigen gewesen, etwas, was sich für dieselbe v o rh e r, aus den bei jeder Behörde deponirten Personalakten der Beamten, hätte füglich von selbst ergeben müffen. Um so erhebender und beglückender gestaltete sich aber die Feier des 1. März, die fern von Berlin, in Lübeck, im engsten Kinder-, Enkel- und Freundeskreise begangen wurde. Zahllose Depeschen, Briefe, Adressen, Sendungen u. s. w. trafen dort von früh Morgens bis in die Nacht hinein ein. D er M agistrat und das Stadverordneten -Colle­ gium der Hauptstadt übermittelte ihm folgende Adreffe: „Berlin, den 1. März 1872. Hochgeehrter Herr Prediger! M it freudiger Zustimmung bringen wir Ihnen heute, an demjenigen Tage, an welchem S ie vor 50 Jahren Ih re öffentliche Wirksamkeit in unserer S ta d t begonnen haben, die Glückwünsche der von uns vertretenen Bürgerschaft dar, und da es uns nicht vergönnt ist, Ihnen dieselben, wie es von uns beschlossen w ar, persönlich in feierlicher Weise auszu­ sprechen, so bitten wir Sie, den schriftlichen Ausdruck unserer lebhaftesten Theilnahme freundlich aufzunehmen. W as Sie als Lehrer und Geistlicher unter uns gewirkt haben, das lebt in den Herzen Ih re r zahlreichen Schüler und in dem Gedächtniß Ih rer dankbaren Gemeinde fort; das

Vertrauen, mit welchem wir Sic vor langen Jahren aus der Nachbarstadt zu Ihrem jetzige» Amte beriefen, ist vollkommen gerechtfertigt. S ie haben ohne Ansehen der Person Arme und Reiche belehrt und ermahnt, Bekümmerte aufgerichtet, Kranke und Sterbende mit dem Trost des göttlichen Wortes erquickt; S ie haben ohne Menschenfurcht die reichen Schätze Ihrer Er­ kenntniß den Lernbegierigen dargeboten, zugleich durch Ihren Wandel für die Lauterkeit Ihrer Gesinnung und die Tiefe Ih rer Ueberzeugung ein vollgiltiges Zeugniß abgelegt und Sich als treuer Arbeiter im Weinberge des Herrn bewährt. Die dankbare Verehrung Ihrer Gemeinde, die ungetheilte Hochachtung Ih rer Mitbürger, die Größe des Vaterlandes, an dessen ruhmvoller Neugestaltung Sie in Ihrem Kreise nach Ihrer Kraft mitgewirkt haben, find einem Manne wie S ie, der schönste Lohn für eine segensreiche Thätigkeit. Mögen Sie in der Gewißheit, dieses Lohnes im reichsten Maße theilhaftig geworden zu sein, geliebt und geehrt von allen, die Sie kennen, von den Ihrigen umgeben, Sich noch lange eines schönen und ungetrübten Lebensabends erfreuen. Magistrat Stadtverordnete zu Berlin, hiesiger Königl. Haupt- und Residenzstadt. H edem ann. Kochhann. Ueberwältigend aber geradezu, und bis an sein Ende ihn tief bewegend, traf Sydow eine Kundgebung aus seiner Gemeinde, wie sie vielleicht einem Geistlichen vorher noch nie geworden war, und die in nachfolgendem an ihn zum 1. März nach Lübeck gesandten Schreiben ihren Ausdruck fand: „Der Tag, an dem das fünfzigste Jahr Ihrer amtlichen Wirksamkeit zu Ende läuft, für Sie wie für Ihre Gemeinde

ein Tag des Segens und des Dankes, soll nicht vorübergehen, ohne daß die Gemeinde, die zu Ihnen steht, ein sichtbares Zeichen ihrer Gesinnung in Ihre Hände niederlegt. Fünfzig Jahre hindurch haben Sie unter uns gestanden, in der mächtigen, immer gewaltiger sich entfaltenden Stadt ein treuer Hüter der klaren Frömmigkeit, der heiligen Häus­ lichkeit desjenigen Glaubens, welcher die Welt nicht ver­ dunkelt, sondern erleuchtet, nicht die Geister blendet, sondern die Herzen erwärmt.

Sie und wir blicken zurück auf fünfzig

Jahre schwerer Mühe und harter Arbeit, aus manchen ernsten Kampf der Jugend wie des Alters; aber auch aus fünfzig Jahre guten Gewissens und innern Friedens, auf reichen Segen und vielstimmigen Dank mehrerer Generationen.

Ein

schweres und ernstes, aber eben. darum ein reiches und köst­ liches Leben ist Ihnen beschieden gewesen. Das Gedächtniß eines Mannes, wie Sie, bleibt ohnehin und bleibt im Segen; aber Ihre Freunde und Verehrer wün­ schen Sie, so lange Sie in unserer Mitte weilen, soweit sie es vermögen, der Sorgen zu entlasten, und wünschen ferner, daß jener Segen, an Ihren Namen geknüpft, auch werkthätig werde. Das beifolgende Kapital ist dazu bestimmt, daß, so lange Sie oder Ihre Tochter leben, dessen Zinsen Ihnen oder ihr zufallen, sodann aber, nach dem Tode des Längstlebenden von Ihnen, eine S y d o w - S t i f t u n g damit begründet werde. Die Zweckbestimmung dieser Stiftung legen die Geber in freister Unbeschränktheit in Ihre Hand und knüpfen nur den einen Wunsch daran, daß dieselbe jenen Namen führe. Berlin, den 1. März 1872."

Als Sydow nach einigen Tagen heimkehrte, fand er seine Räume festlich geschmückt und eine Fülle werthvoller, lieber und finniger Gaben dort seiner wartend. Tags darauf wurde ihm aus seiner Gemeinde durch eine Deputation eine in alt­ deutschen Settern und sinnvoller Umrahmung ausgeführte Adresse überreicht (auf deren Sammetdeckel ein erhabenes gol­ denes Relief seiner Kirche sich befand) die in einfacher, un­ geschminkter Sprache ihm, „dem Nestor" unter „den Jüngern des großen unvergeßlichen Schleiermacher" die Liebe und An­ erkennung der Gemeinde ausdrückt. Es heißt dann in der­ selben: „Sie haben in den schweren Kämpfen für die Freiheit und Selbständigkeit der evangelischen Kirche fest die M itte in n e g e h a lte n zwischen allen extremen Bestrebungen, die richtige und fruchtbare Mitte, in der die Wahrheit liegt. S o find S ie uns ein leuchtendes Vorbild. Möge es Ihnen und uns vergönnt sein, in dem neu begründeten Deutschen Reiche und in dem Preußen, in dem nun ein neuer Geist anfängt sich geltend zu machen, den hohen Zielen des großen und guten Kampfes, unter dessen Vorkämpfern Sie voranstehen, und in dem wir fest und treu zu Ihnen halten, immer näher zu kommen." Gleich darauf übereignete Sydow das ihm geschenkte Kapital der „ S ta d tc o m m u n e B e rlin " behufs einer zu begründenden wohlthätigen Stiftung, welche nach dem Willen seiner Darbringer den Namen S y d o w -S tis tu n g führen solle, und setzte den Zweck derselben dahin fest: „von den Zinsen des Kapitals in erster Linie Wittwen und unverheira­ teten Töchtern von Geistlichen der Neuen Kirche eine Pension zu gewähren, unter der Bedingung, daß diese Geistlichen im

Amt an dieser Kirche oder als Emeriten verstorben sind. Sollten solche Personen bei der Neuen Kirche nicht vorhanden sein, so sollen dann unter den gleichen Bedingungen die Wittwen und Waisen von Geistlichen der Jerusalemer (ehe­ maligen Schwesterkirche der Neuen) in erster Linie Berück­ sichtigung finden." Für das Curatorium bestimmte er fünf Personen, die aus dem jeweiligen Vorsitzenden des Kirchen­ vorstandes der Neuen Kirche, den beiden ältesten Geistlichen vorbenannter Schwesterkirchen, sowie aus einem Mitgliede des Magistrats und einem Mitgliede der Stadtverordneten­ versammlung bestehen sollen. — D ie Stadt Berlin übernahm das Kapital und verwaltet es seitdem. Am 4. März war Sydow nach Berlin zurückgekehrt, und am 9. März eröffnete ihm das Consiorium, daß: „aus Anlaß seines Vortrags zuvörderst seine münd­ liche Vernehmung als wünschcnswerth und nothwendig von demselben erachtet worden sei" und veranlaßte ihn, am Donnerstag, den 14. März, 12 Uhr vor dem Plenum der Behörde zu erscheinen. E s fiel dieser Tag in eine besonders aufreibend arbeits­ volle Zeit und sein körperliches Befinden war gerade so her­ abgedrückt, daß er wenig frischen Geistes von Haus fortging. Aber „als ich eintrat und mich dem Collegium gegenüber sah, wurde mir mit einem M ale ganz hell und frei zu Muth", sagte er selbst nach seiner Zurückkunst. .Präsident H e g e l führte den Vorsitz. General-Superinten­ dent Brückner war mit dem Auftrag betraut, die theologische Unterhandlung zu führen. Nach Feststellung der Personalien, bat Sydow zunächst „um protokollarische Ausnahme der Verhandlung" und ge-

fällige sofortige Vorlegung des Protokolls zu seiner Aner­ kennung. Es scheine dies behufs Vermeidung subjektiver Färbung und wegen der Unsicherheit des menschlichen Gedächt­ nisses erforderlich. Auch bitte er um Vorlegung bestimmt präcifirter Fragen, die er suchen werde, in möglichst präciser Form zu beantworten". Der Präsident sagte, daß die Absicht bestehe, eine pro­ tokollarische Verhandlung aufzunehmen, daß es jedoch Schwie­ rigkeiten haben würde, dieselbe sofort fertig zu stellen, es würde S. durch anderweitige Vorladung Gelegenheit gegeben werden, dasselbe einzusehen und etwaige Ausstellungen zu machen. Sydow erklärte, sich dabei vollkommen zu beruhigen und fuhr dann fort, daß es ihm am Herzen läge, sich von vorn­ herein über den Cardinalpunkt auszusprechen, nach welchem er des Bruches seines Ordinationsgelübdes beschuldigt werde: Als er vor nun 50 Jahren ordinirt sei „durch Männer wie Nicolai und Ritschl, die man weder des Unglaubens noch der wissenschaftlichen Oberflächlichkeit zeihen könne," habe das damalige Kirchenregiment unter der Verpflichtung auf die Symbole nicht verstanden ein Schwören auf den Buchstaben oder die starre Tradition. Er selbst habe später als Hof­ prediger Friedrich Wilhelms IV., der ihn als Beisitzer in die General-Synode sandte, gerade über „die Verpflichtung auf die Bekenntnisse" eine Rede gehalten. Minister Eichhorn, ein Mann seinen Geistes und in persönlicher Freundschaft zu Schleiermacher herangewachsen, habe schon damals das Be­ dürfniß neuer Bestimmungen öffentlich anerkannt, und der König Friedrich Wilhelm IV., der seine (Sydow's) evangelischreligiösen und kirchlichen Ansichten und Ueberzeugungen kannte,

haben ihm so wenig wie des gegenwärtigen Königs Majestät als oberster Bischof der Kirche je ihr Wohlwollen entzogen. B ei aller Ehrerbietung gegen die kirchlichen Behörden lebe er allerdings der Ueberzeugung, daß die evangelische Kirche einen andern und höheren Beruf habe nach Wissenschaft und Evan­ gelium, als den einer römischen Priesterkirche oder den einer zelotischen Pastorenkirche, daß sie die Aufgabe habe, die Ge­ meinde Christi und in dieser das Reich Gottes zu bauen. „Glauben S ie m ir, daß ich für das Gewicht eines Gelübdes und eines geschworenen Eides ein Gewissen habe. A ls ich mich durch das Ordinationsgelübde verpflichtet habe bei meinem Amtsantritt, bestanden an d ere Austastungen. D aß jeweilig S i e einen anderen Standpunkt einnehmen als die mir theuren Männer von damals, ist durch die Zeit herbeigeführt, kann aber in der Sache nichts ändern. Ueberzeugung und Treue haben mir eine Aenderung m e in e s Standpunktes unmöglich gemacht. M an sollte Gott danken, daß es Leute wie uns giebt, die die allgemein eingeristene und von der Kirche nicht unverschuldete Entfremdung der Gemeinde, nament­ lich der Männer vom Kirchenthum hemmen und die Herzen mit dem lebendigen Christenthum in Verbindung halten. Dazu sind Erklärungen nöthig, welche die Geister beruhigen, daß Kirchenthnm und Christenthum zweierlei ist und daß, wenn in dem jeweiligen Zustande der Kirchenleituug de» Menschen das Kirchenthum verleidet wird, sie sich dadurch doch nicht das Christenthum entziehen zu lassen brauchen. Meinem der evangelischen Kirche, wie sie aus den Prinzipien der Reforma­ tionszeit hervorgegangen ist, und unter der Billigung des d a ­ m a lig e n Kirchenregiments so verstandenen Gelübde habe ich in aller Treue gedient, auf dem Grunde des rechtfertigenden

Glaubens an die Gnade Gottes in Jesu Christo und auf dem Fundamente der Schrift, als des Wortes Gottes an die Mensch­ heit, aber zugleich in der Gewißheit, daß die heilige Schrift unter denselben wissenschaftlichen Prinzipien der Auslegung stehe, wie jede andere Schrift des Alterthums, daß keine kirch­ liche Autorität, sei es Papstthum oder Symbol, die gewissen­ hafte wissenschaftliche Auslegung beschränken könne. D as ist der Geist meines Lebens und Wirkens gewesen, welches be­ gleitet gewesen ist von unverdientem Segen." Präsident H egel erkannte darauf an, daß es Sydow Be­ dürfniß gewesen sei, sich in dieser Allgemeinheit auszusprechen, constatirte aber, daß ihre Standpunkte weit auseinander gingen, und nur die Anerkennung der Ehrlichkeit und Wahr­ haftigkeit eine gegenseitige sei. General-Superintendent Dr. B rückner schritt darauf zu den 4 präcifirten Fragen') 1) Erkennen Sie eine Einwirkung des heiligen Geistes bloß auf die menschliche persönliche, insbesondere die sittliche Entwickelung Jesu, oder auch eine solche auf seine menschliche Entstehung an? 2) I n welchem Sinne bekennen Sie Christum als den Sohn des lebendigen Gottes? 3) I n wieweit gestehen Sie die normative Auktorität der heiligen Schrift des neuen Testamentes zu? 4) Wie verhalten Sie Sich, solchen von Ihnen bestrittenen Punkten des Glaubensbekenntnisses gegenüber, in Predigt und Confirmandenunterricht? *) s. Aktenstücke, betreffend das über mich verhängte DisciplinarVerfahren: „Vernehmungs-Protokoll" S. 18. Berlin, Verlag von F. Henschel.

M it Frcimuth und Wahrhaftigkeit gab Sydow Punkt für Punkt von feiner Auffassung und ihrer wiffenschastlichen Begründung Rechenschaft und widerlegte und wies zurück, was er bei der, wie er selbst ausfprach, durch Dr. Brückner „so wohlwollend und theologisch geführten Diskussion" nach seinem Gewiffen nicht glaubte acceptiren zu können. D er Präsident Hegel unterbrach wiederholt die theolo« gische Verhandlung an all den Stellen, wo ihm der GeneralSuperintendent Sydow's Ansichten zu weit entgegenzukommen schien, durch eigene Fragen, deren letzte sich sogar auf das fernere Bleiben Sydow's im geistlichen Amt bezog: „Zch will dem Collegium nicht in Betreff seiner Maßnahmen vorgreifen. E s ist aber zu unserer Kenntniß gekommen, daß S ie mit dem Gedanken umgingen, in Betracht ihres Alters in den Ruhe­ stand zu treten. E s könnte sich dadurch die Sachlage wesent­ lich ändern. Ich darf daher die Frage an S ie richten, ob S ie in Betreff Ih re r Emeritirung einen Entschluß gefaßt Haben, und daran noch denken?" Sydow antwortete darauf: „O nein, garnicht! Ich bin fern davon, wenn ich auch die Schwäche des Alters in man­ cher Hinsicht fühle. Ich habe das geistliche Amt gesucht, weil es mein innerster Beruf war, und es ist Kopf und Herz noch jung und frisch genug, um wirken zu können für eine, wie ich hoffe, sich auch für die Kirche erheiternde Zukunft. Beim Antritt meines Amtes ist es heller gewesen. Darnach ist es sehr dunkel und mir schwer geworden die Finsterniß zu tragen. E s scheint aber sich zu lichten, und ichmöchte an meinem geringen Theil dazu mitwirken." D ie Vorladung und Vernehmung sowie der In h a lt der 4 Fragen war selbstverständlich an demselben Tage allgemein

bekannt geworden und hie und da tauchten in politischen Blättern auch schon allerlei Versionen, wenn auch nur andeu­ tungsweise, darüber auf. Zn dem Kreise, dem Sydow ange­ hörte und in dem die Sache natürlich das lebhafteste und alles andere verdrängende Interesse in Anspruch nahm, mußte er, besonders einigen jüngeren Gesinnungsgenossen gegenüber, sich auf das Allerentschiedenste gegen unzeitiges Vorgehen verwahren und vor allem verhüten, was von einigen beabsichtigt wurde, den Gang der Verhandlung, wie er sich ihnen aus seiner mündlichen M ittheilung dargestellt hatte, in die Ö ffent­ lichkeit und wäre es auch vorläufig nur in die kirchlichen B lätter zu bringen. Er hielt es für durchaus unangemessen, daß von andrer Seite als von der der Behörde, das erste Wort darüber ausgehe. I n diesem Sinne und auf Grund dieser Erfahrungen schrieb er auch vier Tage nach der Ver­ nehmung, in Aussicht einer Notablen-Versammlung, die in's Rathhaus berufen war, an den Stadtverordnetenvorsteher Kochhann folgende Zeilen: Berlin, den 18. 3. 72. Hochgeehrter Herr und Freund! I n großer Freude über die übermorgende Versammlung, an deren Spitze S ie sich mit vielen anderen guten Namen gestellt haben, wollte ich Ihnen gestern Abend noch danken und eine Bitte vortragen, wurde aber bei Techow aufgehalten, daß ich cs nun schriftlich thun muß. Die Bitte ist diese, daß S ie an Ihrem Theile, bei einer etwaigen Diskussion über me i n e Sache, diese Diskussion in einer, der La g e dieser Sache entsprechenden Behandlung halten möchten. Ich habe über meine neuliche Vernehmung noch nicht das von mir ausbedungene Protokoll, die Sache schwebt mit mir also noch.

Besprechbar ist also: Mein erschienener Vortrag, die That­ sache der disciplinarischen Verfolgung, die vier mir vorgelegten inquisitorischen Fragen, aber noch N ichts über die Verhand­ lung selbst. Es könnte der Sache nur schaden, wenn darüber etwas bereits gesagt würde, was auch nur eine scheinbare Handhabe der Widerlegung und Verdunkelung böte. Ich darf Ihnen versichern, daß meine Stellung in der Sache eine höchst klare, unanfechtbare, und wenn ich, was immerhin nicht un­ möglich ist, wegen meiner Heterodoxie abgesetzt würde, dennoch eine siegreiche ist. Aber es muß nicht überstürzend und heißspornig öperirt werden. Stimmen Sie, hoch von mir geehrter M ann, damit überein, so haben Sie gewiß die Güte, Zabel und Klette diese Anficht mitzutheilen, damit sie nichts U n zeitig es in ihre Blätter zulassen. Die Angelegenheit, um die es sich handelt, ist unsere theure, seit einem Menschenalter mißregierte evangelische Kirche, also eine allgemeine heilig ernste, sie muß nicht in das Fahrwasser agitatorischer Aufstachelung kommen, sonst machten wir es ja nicht besser als unsere Gegner. Mein Dank für die hohe Freude und Ehre, die mir die verbundene Adresse des Magistrats und StadtverordnetenCollegiums bereitet, wird wie guter Wein durch die verzögernde Bereitung nicht schlechter werden. Anbei erlaube ich mir die Beifügung meines corpus delicti.

I n herzlicher Verehrung und Ergebenheit Ih r Sydow. Am 2. April wurde Sydow das von beiden Seiten an­ erkannte und beglaubigte, amtliche Protokoll eingehändigt, nachdem er betont hatte, daß er seine Aeußerungen im G a n z e n

im b W esen tlich en darin wiedergegeben fände; unter dem 27. M ai 1872 wurde ihm mitgetheilt, daß das Königliche Konsistorium am 23. cjcl. die D is c ip lin a r u n tc r s u c h u n g gegen ihn auf G rund der §§ 73 und 103, Theil If, Tit. 11, des Allgemeinen Landrechts beschloßen habe, und ihm eine Frist bis zum 4. J u li zur Einreichung einer Vertheidigungs­ schrift gegen die Anklage gewähre. Nach Ablauf dieser Frist würden jedenfalls die Untersuchungsacten geschlossen, und mit dem weiteren Verfahren zur Entscheidung in erster Instanz vorgegangen werden. Die erste der angezogenen Gesehesstellen, § 73, definirt die Pflicht des Geistlichen: „ I n ihren Amtsvorträgen und bei dem öffentlichen Unterricht müssen sie zum Anstoß der Gemeinde nichts einmischen, was den Grundbegriffen ihrer Religionspartei widerspricht." Die zweite Gesetzesstelle, § 103, handelt von der Amtsentsehung des Geistlichen: „Kriminalverbrechen und grobe Vergehen gegen die Kirchenordnungen und die dann vorge­ schriebenen geistlichen Amtspflichten, ingleichen ein ärgerlicher Lebenswandel, begründen die Entsetzung eines Geistlichen." Gegen diese Anklage reichte Sydow am 4. J u li seine Dertheidignngsschrift*) ein, wies darin nach, daß der im Unionsverein gehaltene w issenschaftliche Vortrag über Jesu Geburt ein a u ß e r a m t l i c h e r gewesen, daß diese gesetz­ liche Bestimmung der kirchlichen Aufsichtsbehörde weder das Recht noch die Pflicht zuweise, gegen ihn deßhalb einzuschreiten, daß hingegen Art. 20 der Verfafsungsurkunde auch für die *) s. A k tenstücke, betreffend das über mich verhängte Disciplinar­ verfahren. S . 46. Berlin bei Henschel. L y d o i v , Lebensbild. 11

Geistlichen gelte: „ D ie W issenschaft u n d ih re Lehre ist frei." Wegen des „gegebenen schweren Aergernisses" beantragt er „die Untersuchung in geordnetem Wege der Kirchenvifitation zu führen" und seine Gemeinde zu befragen. W as den § 103 betrifft, so sagt Sydow: „Die ausdrückliche Beziehung auf diesen Strafparagraphen führt mich zu der Annahme, daß die förmliche Disziplinar­ untersuchung behufs E ntsetzung vom A m te eingeleitet worden. Gemildert wird diese Annahme nur durch die E r­ wägung, daß die hohe Behörde selbst mir nicht zutraut, „Kriminalverbrechen oder grobe Vergehen" im Amte begangen zu haben, weil sie mich in diesem Faüe hätte suspendiern müssen (s. § 532 1. c.). Ich nehme von dieser Anerkennung Ast." Später fährt er fort in Bezug auf das Ordinationsge­ lübde: „Wie ich nur beiläufig bemerken will, bin ich durch meine Kirchenordnung und die Augustana auch nicht aus das Athanasiamim verpflichtet. Wenn dagegen auf die Agende und das in derselben enthaltene Ordinationsgelübde hinge­ wiesen wird, so habe ich auf die Thatsache aufmerksam zu machen, daß die Agende und das in derselben enthaltene Ordinationsgelübde für unsere Provinz erst im J a h re 1829 publicirt worden, ich aber nach einem an d eren F o rm u la r schon im J a n u a r 1828 ordinirt worden bin; ich muß des­ halb jede rückwirkende Anwendung des jetzigen G e lü b d es auf mich ablehnen." Zum Schluß sagt er: „Die Frage, ob die vaterlose Ent­ stehung Jesu zu den „G ru n dbegri fsen " unserer evangelischen Kirche gehöre, ist für mich schon durch die 1846 berufene

Generalsynode entschieden, welche die vaterlose Entstehung (die Bekennntnißcommisfion, zu der ich zu gehören die Ehre hatte, arbeitete unter dem seligen vr. Nitzsch) förmlich von den F u n d a m e n ta la rtik e ln u n seres G lau b en s a u s g e ­ schlossen hat. — Dies Alles nach meinem besten Wissen und Gewissen. Die Summa aber ist, gleichviel, ob Jesus einen irdischen Vater hat oder nicht, daß er uns gemacht ist von Gott zur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung, und das predige ich seit 50 Jahren und ge­ denke es mit Gott auch ferner zu bezeugen, sei es im Amt oder außer ihm!" — Es trat nun nach diesem ersten Sturm eine Windstille ein. Aber die Geister waren einmal entfesselt und nicht wieder zu bannen, und das Interesse an der Frage blieb ein waches und lebendiges. Es war eine wunderbare Fügung, daß an dem Tage, an dem Sydow seinen Vortrag gehalten hatte, der Minister M ü h le r seine Entlassung eingereicht und durch den Minister F a lk ersetzt worden war, und dieser an Stelle des erkrankten Präsidenten M a th is vom Ober­ kirchenrath den Präsidenten H e r r m a n n aus Heidelberg be­ rufen hatte. Dadurch war die Physiognomie der äußeren kirchlichen Zustände mit einem Male wesentlich verändert worden. Obenan unter dem, was Sydow's Herz und Gemüth während und nach der Zeit seiner Vernehmung vor dem Consistorium mit am meisten bewegt hatte, stand der Wunsch seine persönliche Stellung zu seinem Könige, dem er in un­ wandelbarer Liebe und Treue gedient, und der ihm während nun fast 36 Jahren, unter den verschiedensten Verhältnissen und Lebenslagen, immer gleiches persönliches Wohlwollen IV

bewahrt und bewiesen hatte, rein zu hatten. Diesem Gefühl hatte er am 15. April, also nach Abschluß und Empfang des Protokolls seitens der Behörde, wie folgt Ausdruck gegeben: „Allerdurchlauchtigster Großmächtigster Kaiser und König, „Allergnädigster Kaiser, König und Herr! „Allerhöchstdenselben naht sich ein M ann, der es zu „seinen schönsten Lebcnsgütern zählen darf, von Ew. Majestät „seit einer Reihe von Jahrzehnten gekannt zu sein, und dessen „theuerste Erinnerungen aus guten und schweren Tagen ihn „in das Glück persönlicher Berührungen mit Ew. Majestät „zurückführen. „Ich habe am 12. J a n u a r d. I . in dem hiesigen Unions„verein, vor einem Kreise unionsgetreuer, gebildeter Zuhörer, „einen wissenschaftlichen Vortrag über die „wunderbare Geburt „Jesu" gehalten, welchen Ew. Majestät vorzulegen ich mir „olleruntertänigst erlaube. „Wegen dieses Vortrages hat Ew. Majestät Konsistorium „der Provinz Brandenburg mich am 14. M ärz d. I . zu einer „amtlichen Vernehmung vorgefordert, mit dem Hintergründe „einer Disciplinaruntersuchung darüber, ob ich wegen mangeln« „der Orthodoxie noch ferner ein Predigtamt in der evange­ lischen Kirche bekleiden könne. D as über diese Vernehmung „vollzogene Protocoll erlaube ich mir gleichfalls Ew. M ajestät „allerunterthänigst vorzulegen. „Wenn ich mit dieser Angelegenheit vor Ew. Majestät „zu treten wage, so hat das einen zwiefachen Grnnd, einen „Herzensgrund und einen Gewisiensgrund. „Der Herzensgrund ist der innige Wunsch, in meines „Königs Augen und Urtheil nicht anders zu erscheinen, als „ich mich urkundlich gegeben habe und gebe. Ich weiß, daß

„in dieser Zeit voll kirchlicher Zelotik auch über unser Einen „gradezu verleumderische Mißnrtheile ergehen, die zu Ew. „Majestät O hr getragen werden können. „Der Gewifsensgrund ist Liebe und Pflichtgefühl zu „unserer theueren evangelischen Kirche, deren berufner und „verordneter Diener ich nun ein halbes Jahrhundert bin. „und in deren Interesse ich mein schwaches, aber aus innerster „Ueberzeugung kommendes Wort an Ew. M ajestät zu richten „wage. „Diese unsere theuere evangelische Kirche wird seit einem „Menschenalter von einer engherzigen kirchlichen Partei regiert, „die im Grunde auf demselben hierarchischen Kirchenbegriff „steht wie der Romanismus, nur daß sie ihre Tendenzen „grade m it H ü lfe der staatlichen M acht verfolgt, gegen „welche der Romanismus aus vorgeblicher Gottesvollmacht „jetzt wenigstens offen ankämpft. „Ew. Majestät kennen ja diese Partei aus der schlimmen „Hengstenberg-Stahl'schen Periode her. „ In Ew. Majestät Kirchenbehörde wirkt fie in ummter„brochener Kontinuität noch heute fort; was sie seit fast einem „Vierteljahrhundert scheinbar für die Herstellung verfaffungs„mäßiger Zustände der evangelischen Kirche gethan, ist mit „dem natürlichen Fluch der Unfruchtbarkeit behaftet; nur das „ist der Erfolg gewesen, daß inzwischen ein jüngeres Ge„schlecht.von Geistlichen methodisch herangebildet worden ist, „das, wie die neuesten Erfahrungen mit dem Schulaussichts„gesetz lehren, dem vorgeblich kirchenfeindlichen S taate gegen„über, eine vorgeblich von der Treue gegen die Kirche gebotene „renitente Stellung einnimmt. „Diese Gestalt der kirchlichen Behörden und Dinge ist

„ein immer gemeinschädlicher werdender Anachronismus. Ein „Anachronismus gegenüber der hohen Mission der evangelischen „Kirche; ein Anachronismus gegenüber der weltgeschichtlichen „That und Bedeutung der Union; ein Anachronismus gegen« „über der seit Viertehalbhundert Jahren doch wahrhaftig fort« „geschrittenen Wissenschaft; ein Anachronismus gegenüber der „Culturmisfion, die dem deutschen Reich und Bolk durch die „großen Thaten Gottes zugewiesen ist, als deren frommen, „heldenmütigen und weltgeschichtlichen Ausführer wir in Be­ w underung, Freude und Dankbarkeit Ew. Kaiserliche und „Königliche Majestät verehren. „Wenn Ew. Majestät geruhen wollen, das erste D rittel „des allerunterthänigst überreichten Protokolls zu lesen, so „werden Allerhöchstdieselben eine ausführlichere Begründung „dieses Urtheils finden, welche ich in geziemender Form, aber „in gewissenhafter Freimüthigkeit Ew. Majestät Behörde fei« „ber gegeben. „Meine Angelegenheit mit Ew. Majestät Konsistorium „der Provinz Brandenburg ist in den Augen der evangelischen „Zeitbildung gradezu eine ärgerliche. Ich gründe die Resul­ ta te meines Vortrages nicht etwa auf modernen Unglauben, „sondern auf die neutestamentlichen Quellen selbst, und jeden« „falls gehörte eine festgehaltene Verblendung dazu, den Glau« „ben an jenes Dogma von einer vaterlosen Entstehung des „Heilandes zu einer Bedingung der Seligkeit zu machen, weil „unter dieser Bedingung, wie ich jeder unbefangenen Be„ttachtung aus den Quellen glaube nachgewiesen zu haben, „unser Herr Christus selbst und die Apostel nicht könnten selig „geworden sein. „Aber was mein Gewissen treibt, mit Gott mein frei-

„müthiges und gewiß in vielen Kreisen hassenswürdig erschei­ nendes Urtheil vor Ew. Majestät zu bringen, ist außer dem „evangelischen auch ein v aterlän d isc h es Pflichtgefühl. „Die Weltverhültniffe liegen so, daß nach außen hin den „Feinden Preußens keine Veranlassung geboten werden sollte, „auf unser Vaterland Unehre und Vorwurf grade in Betreff „confesfioneller Unduldsamkeit werfen zu können, und auf diese „Weise Preußens moralische Eroberungen zu beschränken; vor „allem aber, daß im Innern die evangelische Kirche nicht in „die Auflösung hineinregiert werde, wie dazu seit einem „Menschenalter in der That ein schreckhafter und unleugbarer „Anfang gemacht ist. „Wollen Ew. Kaiserliche und Königliche Majestät das „Wort eines alten treuen Dieners zu Gnaden halten! „ In tiefster Ehrfurcht Ew. Kaiserlichen und Königlichen Majestät allerunterthänigster Sydow. Berlin, den 15. April 1872." — Es wußten nur ein paar Menschen von der Existenz und dem Inhalt dieses Briefs, und zwar solche, auf deren D iscretion Sydow hatte geglaubt rechnen zu können. „So lange unser Kaiser, und so lange ich lebe, darf kein Gebrauch davon gemacht werden", war sein bestimmt ausgesprochener Wille, dessen Erfüllung er von Jedem als Versprechen forderte. Dennoch mußten es die ©einigen zu ihrer tiefsten Kränkung erfahren, daß nur wenige Tage nach seinem Tode von unbe­ fugter Hand dieser Brief in den Zeitungen veröffentlicht wurde. D a derselbe nunmehr doch einmal der Oeffentlichkeit

angehört, durfte er auch in diesem gedruckten Lebensbilde nicht fehlen. Wer es aber weiß, wie feinfühlend das Herz des Verstorbenen, wie nur ganz voll taktvoller Rücksicht und Liebe es gewesen, der mußte herausfühlen, welche Verletzung der Pietät darin lag. Wenn es noch überhaupt Beweise dafür bedürfte, wie Sydow mit Hintenansetzung seiner selbst in jeder Lage seines Lebens gehandelt, so sei hier beispielsweise nur die Thatsache erwähnt, daß er im Sommer 1872, also wenige M onate nach Verhängung der Untersuchung und nach diesem B rief, einer sehr schmerzhaften Kniegelenkentzündung wegen nach Gastein gehen mußte. Sein Urlaub fiel so, daß nach kaum vierzehntägigem Aufenthalt die Ankunft des Kaisers dort erwartet wurde. Die Lokalverhältnisie find derartig, daß eine Begegnung zu vermeiden unmöglich ist. Sydow beschloß sofort, seine K ur abzubrechen, so entschieden der Arzt dies auch widerrieth. „Ich will unserm Kaiser auch nicht eine vorüber­ gehende M inute der Mißempfindung bereiten; E r würde mich sicher anreden, und das würde ihm sicher verdacht werden", sagte er zu seiner Tochter, und so fuhr man an dem Morgen desselben T a g e s, an dem der Kaiser oben ankam hinab, und kreuzte zwischen Lend und S t. Johann seinen Eisenbahnzug, mit dem er zugleich die Giselabahn eröffnete. Sydow erkrankte aber auf der Rückreise in Dresden im Hotel an seinem F u ß , und lag dort vierzehn Tage unter heftigen Schmerzen. — D as J a h r ging zu Ende, ohne daß der Spruch des Gon« fistoriums gefallen wäre. D a überbrachte am 2. Ja n u a r 1873 der Superintendenturverweser im Austrage des Konsistoriums ihm den am 2. Dezember von dieser Behörde gefaßten Be­ schluß, welcher so fo rtig e A m tsentsetzung und vom 1. des

kommenden Monats Herabsetzung des Geh al t s auf die H ä l f t e ausfprach. Wie ein Lauffeuer war die Nachricht verbreitet.

Ein

Sturm von Kundgebungen über diesen Eingriff in die per­ sönliche Gewissensfreiheit brach sowohl öffentlich los, als er sich auch in einer fast erdrückenden Fluth von Zustimmungsadrefsen und Briefen an Sydow äußerte.

Zu Hunderten

zählen sie, die von Vereinen und (Korporationen, von Geist­ lichen und Laien, aus den entlegensten Theilen nicht nur Deutschlands, sondern darüber hinaus an ihn gelangten.

Die

Jenenser theologische Facultät, die ihm die Doctorwürde ver­ liehen hatte, trat mit einer Erklärung heraus, 12 Berliner Geistliche fühlten fich in dem Erkenntniß mit verurtheilt; die Badenser Geistlichen, der Protestanten-, Gustav-Adolfs-, der Unionsverein, aus allen bedeutenden Orten schickten Adressen oder sandten — wie Breslau und Hannover — sofort Depu­ tationen, denen die seiner eigenen Gemeinde, seines Stadt­ bezirks

und anderer Körperschaften

schon vorhergegangen

waren. Sein Patron, der Magistrat von Berlin, aber wandte fich sofort mit einem Schreiben an die obere Instanz, den Ober­ kirchenrath, worin er die Aufhebung der Amtssuspenfion be­ antragt, „die über einen der ältesten, verdienstvollsten Geist­ lichen ausgesprochen sei, dem er erst am 1. März v. I . in Gemeinschaft mit seiner Gemeinde und der Stadtverordneten­ versammlung zu seinem Jubiläum die hochachtungsvollste Anerkennung für seine lange, erfolgreiche Wirksamkeit ausge­ sprochen habe, und bestreitet, daß das (Konsistorium zu einem so rücksichtslosen Eingreifen auch nur gesetzlich das Recht habe".

Die Abschrift dieser Eingabe sandte er an Sydow

mit der Versicherung, daß „es ihm zur größten Befriedigung

gereiche, bei dieser Gelegenheit der vorgesetzten Kirchenbehörde gegenüber ein Zeugniß des Vertrauens, der hohen Achtung haben ablegen zu können, von der er im Hinblick der lang­ jährigen segensreichen Thätigkeit erfüllt sei". Ebenso gingen unverzüglich 80 angesehene Familienväter der Stadt, deren Kinder Sydow's Confirmandenunterricht be­ suchten, mit einer Petition um Freigebung desselben an den Oberkirchenrath. „Wir haben ihm unsere Kinder anvertraut, — heißt es darin — weil wir wollen, daß sie Christen nach dem Geiste und nach der Wahrheit werden sollen, und weil wir wissen, das Sydow's Lehre und Vorbild auf jugendliche Herzen und Gemüther veredelnd und fittlichend einwirkt. Viele unter uns, denen bereits Kinder durch Sydow einge­ segnet find, haben erfahren, daß sein Unterricht den Kindern ein Schatz für das fernere Leben ist. Prediger Sydow widmet seinen Confirmanden aufopfernde Liebe und Sorgfalt. Unsere Kinder fühlen das, und hängen an ihm. Wir müssen daher eine Schädigung ihrer religiösen Ausbildung besorgen, wenn der Unterricht durch die Amtssuspenfion unterbrochen wird. Diese Gefahr find wir entschlossen mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln abzuwenden. Wie der Ausgang der Sache auch sein möge, so wissen wir, daß keine Kirchen­ behörde das Recht hat, uns evangelischen Christen Vorschriften über unsern Glauben und die religiöse Erziehung unserer Kinder zu machen." Sydow hatte bereits am 8. Jan u ar beim Konsistorium den Recurs an die Entscheidung des Oberkirchenrathes über die Verurtheilung angemeldet. Eine völlige Aufhebung der Suspension konnte also garnicht von dieser Behörde erfolgen, ehe sie nicht im Besitz der Recursschrift, sowie des ganzen Akten-

Materials war. Wohl aber verfügte dieselbe am 22. Jan u ar in Folge der Petitionen die theilw eise Aufhebung derselben, und gab sofort Confirmandenunterricht und Konfirmation frei. Er konnte zu Ostern die dafür schon genügend vorbereiteten, und nach verdoppelten Stunden um Pfingsten den Rest der 206 Kinder, die ihm zur Zeit anvertraut waren, einsegnen. Es war seine Absicht gewesen, die Recursschrist an die höhere Instanz auch von seiner Hand ausgehen zu lasten. D a ihm aber am Herzen lag, die Kinder selbst bis zur Con­ firmation zu bringen, und dies, sowie das unruhige Wogen, das seit dem Urtheilsspruch in sein Haus gekommen, seine Zeit absorbirte, gab er es auf, um so lieber, als seiner vor­ nehmen Natur der Ton in dem er, dem Erkenntniß des Kon­ sistoriums entsprechend, hätte antworten wüsten, durchaus widerstrebte. Die herabsehende Art in der Beurtheilung seines ganzen amtlichen Wirkens darin, das bis zur Ermüdung wiederholte und betonte Mißfallen an seiner liberalen Stellung in S taat und Kirche, das sogar soweit ging, sein Verhältniß zum Regentenhause antasten zu wollen, das Alles waren Ge­ biete, auf die er sich nicht hinüberziehen lasten wollte. Sein langes Leben, sein Verhalten in den aufgeregtesten Zeiten bewies thatsächlich, daß ihm F re ih e it, Gesetz und T r e u e gleich werth waren. D as Urtheil des Cofistoriums über den „wissenschaftlichen Charakter" seines Vortrags glaubte er einem andern Forum überlasten zu können. Was aber den Vorwurf des Bruchs des Ordinationsgelübdes betraf, so hatte er be­ reits in seiner ersten Vertheidigung nachgewiesen, daß er nicht nach der h e uti gen Formel ordinirt sei, die damals noch garnicht existirt habe. D as Konsistorium, das ihn doch zuerst besten angeklagt hatte, geht nun in seiner Verurtheilung

über diesen Punkt einfach mit den Worten fort „Nach welchem Form ular Dr. Sydow 1828 von dem längst verstorbenen Confistorialrath Dr. Nicolai ordinirt worden, l ä ß t sich nicht m e h r nachw eisen. E s b e d a rf a b e r auch d ie se s spe­ c ie lle n B ew eises nicht." — Ob einer Behörde zusteht, nach einem u n b e k a n n te n M aß zu messen, konnte juristischer Beleuchtung übergeben werden. Und so legte Sydow seine Sache in die bewährte Hand seines Rechtsfreundes, des Justiz­ raths U lfe rt, welcher am 18. Februar 1873 seine „Recursrechtfertigung" dem Oberkirchenrath übergab. Noch eine Kundgebung ans dieser Zeit sei hier erwähnt, die aus Hildesheim am 8. April an Sydow gelangte und um vertrauliche Auskunft über seine pekuniäre Lage bat, w enn das Urtheil nicht kafsirt und er seines Amtes definitiv ent­ setzt bliebe. Eine Reihe wohlhabender protestantischer M änner, die dort zusammengetreten, seien bereit, ihn vor Sorgen zu schützen. E r antwortete darauf: „Geehrter Herr! Ih re gefällige Zuschrift vom 8. d. M ts. hat mich ge­ rührt und gehoben. Wenn ich die in derselben mir eröffnete edle Offerte dennoch dankend ablehne, so bitte ich S ie und die mir unbekannten geschätzten M änner, in deren Namen S ie schreiben, sich meiner aufrichtigen Erkenntlichkeit für I h r an den Tag gelegtes Wohlwollen nichts desto weniger ver­ sichert zu halten. D as Consistorium der Mark Brandenburg hat mich aller­ dings, weil ich nicht die sogenannte reine Lehre des 16. J a h r­ hunderts nach den überlieferten, fixirten Formeln der Kirchen­ symbole bekannte, meines Amtes nach 51 jähriger Wirksamkeit

entsetzt, und mir seitdem die Hälfte meines Einkommens ge­ strichen. Es ist dieselbe Partei, von der Sie ja auch in Ihrer Provinz Erfahrungen genug haben. An meinem Einzelfall, in dem ich nur als ehrlicher Mann meine Schuldigkeit gethan habe, hat es dem lieben Gott gefallen, eine Bewegung der Geister durch ganz Deutschland und darüber hinaus zu wecken, die mir allerdings zeigt, daß ich nur dem das Wort gegeben, was Tausenden auf der Zunge geschwebt, die mich aber auch verpflichtet, das Schicksal meiner Person durchaus in die zweite Linie zu stellen. Nun wird hier theils absichtlich, theils unabsichtlich das Gerücht verbreitet, ich sei ein vermögender Mann und mein freimüthiges Zeugniß gründe sich aus die Unabhängigkeit, die mir meine äußere, gesicherte Lage gebe, und nicht auf das Gebot gewissenhafter Ueberzeugung und Einsicht. Dies ist nicht wahr. Vermögen habe ich vielmehr garnicht. Unab­ sichtlich wird dies Gerücht auf Grund eines Mißverständnisses wenn nicht verbreitet, wenigstens geglaubt. Nämlich im vorigen Jahre haben mir unbekannte Geber zu meinem 50 jährigen Amtsjubiläum ein Kapital von 14000 Thl. ge­ sammelt, mit der Bestimmung einer wohlthätigen Stiftung, aber mir während meiner Lebenszeit die Zinsen dieses Kapi­ tals zur Erleichterung meines Alters gewidmet. D as Kapital habe ich der Stadtcommune Berlin überwiesen. Diese Zinsen sind das Einkommen, welches mir bleibt, wenn meine Amts­ entsetzung in höherer Instanz bestätigt werden sollte. Die Sache schwebt nun noch. Was dann in Beziehung auf äußere Sorgen für mich resultiren würde, bedenke ich grundsätzlich jetzt noch nicht. D as nur steht fest, daß die gute evangelische Sache, soweit sie mit meiner geringen Person zusammenhängt,

rein und correct herauskommen soll, ohne Compromifse, durch die ich mich etwa saiviren wollte. D ies, geehrte Herren, der Grund, warum ich meinen Verurtheilern ihren Spruch nicht dadurch erleichtern will, daß sie einem alten Manne wenigstens am lieben Brod nicht schaden. Von Herzen der Ihrige Sydow." I n der Sitzung vom 25. Juni 1873 hatte der Ober­ kirchenrath als obere Instanz das Absetzungsurtheil des Kon­ sistoriums cassirt und Sydow damit seiner Gemeinde und seinem Amte wiedergegeben und ihn nur zum Schluß zu einem durch den General-Superintendenten Dr. Brückner zu erthei­ lenden „Verweise" verurtheilt. Die Nachricht dieser Wendung der Dinge erreichte ihn am 9. Ju li in Teplitz und rief ihn mitten aus der Kur zurück. Am 17. Ju li entledigte sich der General-Superintendent seines Auftrages. Die Kosten aber, die aus dem Prozesse erwachsen, sowie diejenigen für die Vertretung im Amte während der letzten Monate, die Sydow zugefallen waren, hatte sofort der Magistrat zu tragen erklärt. Sydow mußte nun auf Drängen des Arztes sich noch einen Nachurlaub von drei Wochen verschaffen. Hatte er auch äußerlich anscheinend die ganze Zeit der Erregung und An­ spannung 18 Monate lang wunderbar durchgemacht, so ver­ langten doch die 73 Jahre ihr Recht, und die in den beiden letzten Sommern für sein Leiden so nöthigen Kuren, beide Mal unterbrochen, waren ziemlich wirkungslos geblieben. S o betrat er erst am 10. August zum ersten M al seit

7 Monaten wieder die Kanzel. Wohl selten find Prediger und Gemeinde so von einem Sinne erfüllt, von einem Grunde aus bewegt worden. Man hatte die Kirche auf das festlichste geschmückt; Guirlanden umrankten die Säulen.bis oben hinauf, der Altar stand mitten in einem grünen Hain. Die Kirche war bis aus den letzten Platz gefüllt, und die andächtige, lautlose Stille vorher zeigte, daß es keine Demonstration, sondern nur eine persönliche, herzliche Ovation war. Bei Sydow's Eintritt erhob sich die ganze Gemeinde und hörte stehend den von einem Mannerchor gesungenen 23. Psalm (der Herr ist mein Hirt) an. M it oft von Bewegung und Rührung zitternder Stimme gab er zuerst seinen persönlichen Gefühlen Ausdruck. „Im greisen Herzen erneuerten sich ihm die feierlichen Eindrücke und Empfindungen seiner Jugend, in der er vor nun 51 Jahren zum ersten M al die Kanzel betreten habe, in der er vor 36 Jahren in seinem Amt als Hofprediger und vor 27 Jahren zum ersten M al zu dieser seiner Gemeinde gesprochen habe. I n dem ernsten feierlichen Empfange, der ihm zu Theil geworden, erhebe fich seine Seele, und es trete ihm ein Verhältniß zwischen Gemeinde und Pre­ diger vor die Augen, wie wir dasselbe in den Bildern des Neuen Testamentes geschildert finden. Sein Dank heute gelle in erster Linie Gott, der Alles so hinausgeführt habe. Aber dann auch der obersten Kirchenbehörde, die durch ihr Urtheil ihn seinem Amte wiedergegeben, sowie dem Magistrat Berlin's, seinem Patron, und seiner Gemeinde, welche so einmüthig und mannhaft mit ihm gestanden und für ihn eingetreten seien." D aran knüpfte er dann die Predigt über Matth. 10, Vers 32 und 33: „D am m , wer mich bekennet vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater,

wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen V ater." Als er nach Ertheilung des Segens die Sacristei betrat, erwartete ihn eine Deputation seiner Gemeinde, die ihm eine Adresse überreichte, deren künstlerisch vollendetes Titelblatt den G e ist, d a s Licht und den G la u b e n darstellte. S o begann er noch ein M a l, getragen in reichstem Maße von der Liebe seiner Gemeinde, in ganzem Umfange der Seelsorge, der Predigt, der Amtshandlungen und des Unterrichts seine Wirksamkeit und hatte in demselben Jahre noch die hohe Freude und G enugthuung, das von ihm seit 30 Jahren vertretene Gemeindeprinzip in der Kirchengemeindeund Synodalordnung vom 10. September 1873 zu einem entscheidenden Siege gelangen zu sehen, und selbst uoch in seiner Gemeinde zur selbstständigen Organisation derselben durch die Bildung des Gemein dekirchenrathes und der Ge­ meindevertretung die ersten Schritte thun zu dürfen. Aber das Leiden an seinem F u ß , das sich seit zwei Jahren gezeigt, schon einige M al plötzlich mit heftigsten Schmerzen aufgetreten war, meldete sich von nun ab häufiger, und fesselte ihn mehrere M al wochenlang an Zimmer und Bett. S o trat ihm der Gedanke im Laus der nächsten zwei Jahre doch näher und näher, sich zurückziehen zu müssen, und nur die unaussprechliche Freude und Liebe für sein Amt, ließ ihn in besseren Zeiten den Entschluß immer noch wieder hinausschieben. Am Sylvesterabend des Jah res 1875 gab er aber den ©einigen den mit schwerem Herzen gefaßten Vor­ satz kund, aus dem Amt zu scheiden, und schrieb am 18. Fe­ bruar 1876: „Dem M agistrat von Berlin, meinem hochgeehrten Patron,

mache ich ganz ergebenst die mir schmerzliche Anzeige, daß ich mich genöthigt sehe, mein Amt niederzulegen. Ich leide seit 2 Jahren an einer gichtischen Entzündung des rechten Kniegelenks. Die Aerzte erklären bei meinem vorgerückten Alter die Beseitigung des Uebels für ausfichtslos, und ich habe im letzten Q uartal des vergangenen Jahres durch akute Anfälle drei bis vier mal die Erfahrung machen müssen, daß ich nicht auf 24 Stunden hinaus über mein Gehn und Stehn disponiren kann. Diese Unsicherheit ist meinem Bewußtsein unverträglich mit einer Fortführung meines Berufes, wie sie Pflicht und Gewissen von mir fordern. S o schwer es mir wird, will ich lieber ganz ausscheiden, als in hinschleppender Halbheit, zum Schaden der Sache und Gemeinde, einer frischen und vollen Kraft den Raum vor­ enthalten. Ich bitte daher ergebenst um Emeritirung und Pensionirung. Melius est desinere quam deficere.

Dem geehrten Patron in Ehrfurcht ergeben Sydow." Der Magistrat ging nicht gleich auf dies Gesuch be­ willigend ein, sondern erbot sich, aus eignen Mitteln einen Substituten zu stellen, wodurch es Sydow ermöglicht werden sollte, im Amt zu bleiben, seine Dienstwohnung, die er nun seit 15 Jahren inne hatte, zu behalten, und nur so viel Arbeit und Last auf sich zu nehmen, wie es seiner Kraft und seiner Neigung entspräche. Gerührt zwar, aber entschieden, lehnte Sydow dies Anerbieten ab, fürchtend, daß seine Gemeinde S y d o w , Lebensbild. 12

dabei nicht voll zu ihrem Recht kommen könnte. Der Ge­ meindekirchenrath und die Vertretung der Neuen Kirche traten nun mit den städtischen Behörden in Verbindung, um es zu ermöglichen, einen „Ehrensold" zu gewähren, der dem vollen bisherigen Gehalt entspräche, und der Magistrat trat dieser Vorlage bei, da, „wenn irgend Jemand, der Pred. Dr. Sydow dieser Anerkennung werth sei". „Er ist, — wie der Magistrat in der Vorlage sagt — 30 Jahre lang im Dienste einer städtischen Gemeinde auf ausgezeichnete Weise thätig gewesen, hat sein Amt zum Segen der Gemeinde und ihrer Jugend verwaltet, die freie Entwickelung unserer kirchlichen Angelegen­ heiten einsichtig gefördert, seine Ueberzeugung unerschrocken und durch Verfolgungen ungebeugt vertreten; er ist in Wichttreue, Wahrhaftigkeit und Uebcrzeugungsmuth weiten Kreisen ein Muster und eine Stütze gewesen. Die beiden vereinigten Gemeinden der Neuen und Jerusalemskirche haben daher bei der Feier seines 50jährigen Dienstjubiläums am 1. März 1872 das Andenken ihres verehrten Lehrers durch eine blei­ bende Stiftung der Nachwelt überliefert; wir haben bei jener Gelegenheit in Gemeinschaft mit den Stadtverordneten der hohen Achtung und Anerkennung unserer Bürgerschaft Aus­ druck gegeben." Die Stadtverordnetenversammlung schloß sich dem M a­ gistratsbeschluß einstimmig an. Dieser Beschluß, ant 10. März 1876 gefaßt, wurde Sydow bald darauf übermittelt und ging das Wohlwollen gegen ihn sogar soweit, daß man ganz von der gebräuchlichen, hergebrachten Form abging, wonach er sein Amt bis zur Uebergabe an den Nachfolger weiter zu führen gehabt haben würde, sondern seine Emeritirung, ohne Rücksicht darauf, bereits 1. Ju li in Kraft treten ließ, „um

es ihm zu ermöglichen, den Sommer noch ausgiebig zur Her­ stellung seiner Gesundheit benutzen zu können". Die Stelle blieb dann V, Jah r unbesetzt, bis die Ver­ handlungen, die die Behörde nach verschiedenen Richtungen angeknüpft hatte, ihren Abschluß in der Berufung des Prediger K ö llre u tte r von der deutschen Gemeinde in Camberwell bei London fand, welcher dies Amt drei Jahre lang bekleidete, um dann einem Rufe in seine Heimath, nach Freiburg in Baden zu folgen. Unbeschreiblich viel drängte sich in diese letzten drei Monate an Arbeit zusammen. Die Confirmanden, die noch Alle von ihm eingesegnet werden wollten, das geschäftliche Loslösen, das dieser Schritt mtt sich brachte, die Fülle außer­ ordentlicher Amtsgeschäste, alles forderte die höchste Anspan­ nung seiner Kräfte, zeigte ihm aber von Neuem, in wie vielen Herzen die Liebe zu ihm tief wurzelte, und erschwerte ihm das Scheiden. Etwa 14 Tage vor seiner Abschiedspredigt trat noch die Aufforderung an ihn heran, die Einsegnung einer Ehe zwischen einem Israeliten und einer evangelischen Christin zu über­ nehmen, und zwar mit der Bitte, um nach keiner Richtung hin gegen die gesetzlichen Bestimmungen zu verstoßen, nicht im Talar, sondern im Frack zu sprechen. Der Mann war ein höherer Justizbeamter, die B raut die Wittwe eines nahen ver­ storbenen Freundes des Sydow'schen Hauses, welche aus den Segen ihrer Kirche nicht verzichten wollte. Sydow erklärte so leid es ihm that, die Handlung nicht vollziehen zu können. Er sagte, „daß, wenn er noch im Amt bliebe, er keinen Augenblick zögern würde, es zu übernehmen, er dann aber n u r im Talar sprechen würde. D a er aber unmittelbar vor 12 '

seinem Ausscheiden stehe, sich also seiner Behörde entziehe und nicht mehr in der Lage sei, diese oft besprochene Frage zum Austrag zu bringen, so halte er es für geboten, die Handlung abzulehnen." Der 2. J u li war der Tag, an dem er nun zum letzten M al die Kanzel betreten und zu seiner Gemeinde reden sollte. Trotz der sommerlichen Reisezeit war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt, und der Schmuck ein womöglich noch reicherer als vor drei Jahren, bei der Wiederaufnahme seiner Thätigkeit. Ein Männerchor intonirte „die Himmel rühmen des Ewigen Ehre" und unter Posaunenklängen sang die Ge­ meinde „Gott ist gegenwärtig". M it bewegter Stimme be­ gann Sydow, um Nachsicht für das letzte Wort bittend, das er in entscheidender Stunde beim Schluß einer mehr als fünfzigjährigen Wirksamkeit an die Gemeinde richte. E r gab in knapper Kürze der erdrückenden Fülle von Erinnerungen Ausdruck, von der Schwelle dieses Jahrhunderts an, aus dem Elternhause her, besten der Greis unter Thränen der Dank­ barkeit gedachte, dem er den angestammten vaterländischen S in n und herzliche innere Gottesfurcht verdanke, bis auf die letzten bewegten Jahre und Tage in seinem Amt. E r gab noch ein M al Rechenschaft von seinem Wollen und Können, über sein Wirken, Schaffen und Streben. Der Abschied von dem Berus, der „ d a s P a th o s seines L ebens" gewesen, laste ihn den Gruß des Apostels Paulus an die ephesinische Gemeinde sich aneignen': „Und nun, liebe Brüder, ich befehle Euch Gott und dem Wort seiner Gnade, der da mächtig ist, Euch zu erbauen, und zu geben das Erbe unter Allen, die geheiligt werden." (Apost.-Gesch. 20—32.) „Ich habe in meiner Wirksamkeit immer darnach getrachtet, das Wort der

Gnade, die Religion der Versöhnung des Menschen mit Gott, mit sich selbst, der Welt und seinem Schicksal zu predigen. I n diesem Geist ist uns Christus, unser Herr und Bruder, stets vorangegangen, wie der Apostel sagt, der Mensch J e s u s C h ristu s, der Erstgeborene unter uns. An seinem Ideal haben wir uns emporzuranken, indem wir ihn in Buße und Glauben aufnehmen und damit den Geist, in welchem er dem himmlischen Vater bei uns Wohnung machen will. Nicht a u s U n g lau b en bin ich in m einer P re d ig t von der kirchlich rechtgläubigen Lehre abgewichen, sondern aus dem überzeugungsvollen Streben, uns Jesus Christus wahr­ haft nahe zu bringen, daß wir ihn auch menschlich lieben können, der versucht ist, gleich wie wir, der aber die Treue gehalten hat und bestanden ist. Wenn das Christenthum verkündigt werden soll, so kann es nur geschehen in einer Form, welche es dem Verständniß der Zeit nahe bringt, nicht in der Aufrechterhaltung eines Buchstabens und menschlicher Satzungen. Die Ergebnisse der theologischen Forschungen der letzten 40 Jahre dürfen für uns nicht vergebliche sein. — D as Wort der Gnade habe ich verkündigt zu Eurer Buße und Eurem Glauben, und daraus hervorgehend das Heiligungs­ streben unseres Lebens. So befehle ich Euch nun in innigem Gebet Gott dem Herrn und dem Wort seiner Gnade!" Der Vorsitzende der Kirchen-Aeltesteu, Herr R o sen th a l, lieh den schmerzlichen Gefühlen der Gemeinde schwungvolle, liebende Worte: „Die Glieder der kirchlichen Gemeinschaft, der heiligsten menschlichen Vereinigung, umgeben Sie zum Ab­ schiede in dieser Stunde. Ich bin berufen, den tiefgefühlten Dank, die innige Liebe der Gemeinde auszusprechen. Wir find der sichern Hoffnung, daß Gott, ohne dessen J a und

Amen kein Werk gedeiht, Sie begnadigen wird, der Stamm zu sein, an dem sich immer auf's Neue die Liebe der Ge­ meinde emporrankt. I n echt christlich-protestantischem Geiste ist Christus stets I h r S tab, Ih r Trost und Ihre Hoffnung gewesen. Durch ihn das ewige Leben zu gewinnen, war Ihre Lehre; ihm zu folgen, I h r Leben. Nichts fürchtend, unter dem göttlichen Beistand, kämpften Sie, Ihrer innersten Ueber­ zeugung folgend, nahmen auch demüthig das Kreuz auf sich. E s ist Ihnen gelungen, eine treue Heerde um sich zu sam­ meln. Wir find voll Dank gegen Gott, daß er uns diesen theuren M ann so lange erhalten hat. Wofür S ie so lange gerungen, konnten Sie als Ergebniß der neuesten Zeit be­ grüßen. Auf die richtige Handhabung der Selbstständigkeit der Gemeinden lenkten Sie Ih re Arbeit. Der aufrichtige Dank der Gemeinde folgt Ihnen. Alle unsere Empfindungen aber werden in diesem Augenblick zum frommen und heiligen Gebet. D as ruhige Gewissen, welches Sie haben können, sei die friedliche Sonne Ihres milden Lebensabends. Unser Aller Liebe wird S ie fort und fort begleiten." Sydow ver­ sicherte unter „Handgebung an diesen M ann": „Diese Liebe nehme ich als Schatz hinweg und mein Herz wird in aller Zukunft immer sein bei diesem Schatz!" — S o 'schied er von seiner Gemeinde!

Achtes Capitel. Le b e n s a b e n d .

Nach diesen bewegten Stunden machte es ein körperlicher Rückschlag nöthig, daß Sydow längere Erholung suchte, und

so war es auch dies M al, nachdem er kurze Zeit in Lübeck ausgeruht hatte, das ihm seit vielen Jahren so lieb gewordene Reichenhall, wohin es ihn wieder zog. Im Herbst nach der Rückkehr bezog er. am Matthäikirchplatz eine Wohnung, die alles erfüllte, was er fich für die Zeit seines Alters gewünscht hatte: „Im Freien, im Stillen, im Grünen zu sein." Ein schöner Balkon, der dicht an sein Studirzimmer stieß, gab Äaum zu liebevollster Blumenpflege, und oft, wenn Freunde ihn besuchten, und ihn vom Zimmer aus, draußen inmitten seiner Pflanzen fitzen sahen, das schwarze Sammetkäppchen auf dem silberweißen Haar, das Buch in der Hand, blieben fie einen Moment stehen, um fich an dem freundlichen, wohl­ thuenden Bilde zu erfreuen. Besonders glücklich war er, daß er, der fast sein Lebelang unter Glockenläuten gewohnt hatte, auch hier fie in unmittelbarer Nähe hatte, ja sogar Sonntags deutlich das Orgelspiel hören, und dem Choral folgen konnte. Der besonders schöne Spätherbst im Jahre 1876 machte das Einwohnen in die neuen Räume leicht, da mau viel im Freien sein konnte, und so kam der Winter heran, und die ersten Monate der Unthätigkeit waren durch wohlthuende und erfrischende Eindrücke ausgefüllt. Nicht ohne Bangen hatten die Seinigen diesen wichtigen Schritt der Amtsniederlegung kommen seh'n in der Furcht, daß nach einem Leben so ange­ strengter Arbeit und Pflichterfüllung, wie man es ja oft in solchen Fällen hat, das plötzliche Ausspannen auch zugleich eine Knickung des ganzen Lebens bedeute. Aber diese Be­ fürchtung zeigte fich als völlig grundlos. Als der herein­ brechende Winter ihm nicht mehr erlaubte, draußen zu fitzen, griff er zur Feder und beschäftigte fich täglich längere Zeit mit der Uebersetzung englischer Schriften. ■Ein ihn sehr inter-

essirendes Buch Channing's, aus dem Nachlaß herausgegeben, „the perfect lise“ (eine Reihe von Vorträgen) ist leider un­ vollendet geblieben. Mitten in die Arbeit dieses Buches fiel die Lectüre einer englischen Brochüre des Dr. Martineau „Religion in ihrer Stellung zum modernen Materialismus", die Sydow's Interesse, weil er sie für in die Zeit einschla­ gend hielt, vorläufig von der Vollendung der ersten Arbeit abhielt. D as Martineau'sche Büchlein erschien in seiner Uebersetzung, mit einer Vorrede begleitet, 1878 im Verlage von G. Reimer. Aber auch zu Thätigkeiten andrer Art wurde er noch in befreundeten und verwandten Kreisen herangezogen. Beerdi­ gungen zu übernehmen war ihm ärztlicherseits untersagt wor­ den, aber mit wahrer Herzensfreude begrüßte er jede Auf­ forderung, die ihn zu Trauungen oder Taufen in liebgewor­ dene Kreise rief. Auch haben sich in diesen letzten Jahren noch eine ganze Reihe Israeliten an ihn gewandt, deren Unterricht zur Taufe ihm in der nun gewonnenen Muße doppelt werth war. Be­ durfte es bei den andern Handlungen lediglich der Erlaubniß der betreffenden Geistlichen, denen dieselbe eigentlich zugefallen wäre, so war bei den Proselytentaufen dieselbe Form der consistorialen Genehmigung nöthig, als wenn sie von einem noch amtirenden Geistlichen verrichtet würden, eine Genehmi­ gung, die aber jedesmal anstandslos gegeben wurde. Von größerer Geselligkeit außerhalb des Hauses, von der sich Sydow eigentlich schon seit sechs Jahren allmälig zurück­ gezogen hatte, hielt er sich von jetzt ab fast ganz fern. Einige Freunde bei sich sehen, am liebsten wenn sie von selbst kamen, das war ihm die größte Freude. D a war er am frischesten

und angeregtesten, und da konnte man es oft nachher sagen hören, daß sie von ihm Anregung empfangen hätten, wie in seiner besten Zeit. Etwas ganz Eigenthümliches und seine ganze Bescheidenheit Charakterifirendes war es aber, daß er von da ab säst nie Jemand, der ihn besucht hatte, trotz seiner offenbaren Freude, die er darüber, und die er von jeher an Geselligkeit gehabt hatte, bat wiederzukommen, so warm er auch dafür dankte. E r sagte öfter als Erklärung dafür: „Wenn man ein alter Trumm geworden und Andern nicht mehr das bieten kann, was sie einem mitbringen, so darf man das nur noch dankbar annehmen, was einem als freie Gabe entgegengebracht wird." Der Politik, die ihn auf das Lebhafteste interessirte und der er mit einer Lebendigkeit folgte, als stände er selbst auf dem Kampfplatz, sei es auf den wirklichen außereuropäischen, die er alle aus den neuesten Kriegskarten verfolgte, sei es auf den heimischen der Synoden, des Land- und Reichstages widmete er regelmäßig seine ersten Morgenstunden. Hatte er so „die Welt regiert", oder, wie er auch scherzend sagte, „in Ordnung gebracht" und erlaubte es das Wetter und sein gebrechlicher Fuß, der ihm das Treppensteigen oft erschwerte, so ging oder fuhr er wohl gern ein Stündchen spazieren, häufig nach Charlottenburg, wo er jede Verschönerung des Ortes beobachtete, oder er suchte fich mit Interesse neu errich­ tete Bauten und Kunstwerke in der S tadt auf. Auch ging keine literarische bemerkenswerthe Erscheinung an seinem Auge vorüber. Hatte ex fich das Studium theologischer und philo­ sophischer Werke, wenn der Tag ihn nicht auch schon einige Stunden dazu kommen ließ, wie in der Zeit seinerArbeit auf die stillen Abend- und Nachtstunden verlegt, daß, wenn

man sich um 10 oder 11 Uhr trennte, seine Lampe, wie sonst, erst um 2 Uhr fober oft noch später erlosch, so hörte er jetzt dazwischen gern vorlesen, was er sich sonst nur während der Krankheitsanfälle in denen ihn sein Fuß ans Bett fesselte, gewährte, und hat mit freudigem Genuß an Freytag's, Ebers' und Anderer Gaben theilgenommen. Hatte er aber irgend eins der neuen theologischen Bücher beendet, so sagte er oft: »Du glaubst nicht, w as ich daraus wieder gelernt habe." Einige Male in der Woche fuhr er auch noch in seine „Dienstags-Gesellschaft", die durch Absterben ihres alten Stammes und Concurrenz jüngerer Gesellschaften fich nur noch kurze Zeit halten konnte und. wirtlich wenige Monate vor seinem Tode aufgelöst wurde. Hier fand er aber in den Stunden von 6—8 doch immer noch einen kleinen Kreis alter Freunde, hörte von Diesem und Jenem und spielte bis zuletzt noch gern und gut seine Parthie Billard. Es waren Jahre friedlichen Lebens, die ihm Gott noch geschenkt hatte, deren größte Gnade aber die volle geistige Klarheit, Frische und Regsamkeit war, die ihm geblieben. D as stille in n e re Genügen, eine Eigenschaft die dem Alter so selten eigen, und die es doch vor allen andern liebenswerth macht, hatte er fich ganz bewahrt. Und so sank alles, was das Leben ihm an Schmerz und Kreuz, an Enttäuschungen und Kränkungen, an Noth und Entbehrungen gebracht, und was alles er muthig und gottergeben getragen hatte, immer mehr hinter ihm hinab, und sein Herz war jung geblieben! E r hatte es fich voll freudiger Liebe, ungebrochen gerettet, und lebte in dieser Liebe im engsten Kreise und engster Gemein­ schaft, voll lebhaften Dankgesühls, daß ihm dieser stille sorgen­ freie Abend beschieden war. Der Zauber, der ihn umgab,

und dem sich Keiner, der in seine Nähe kam, zu entziehen vermochte, verließ ihn nicht bis zu seiner letzten bewußten Stunde. Alles an ihm trug ein höheres Gepräge. Seine ganz auf das Ideale angelegte Natur hatte — so oft ihn auch die Menschen getäuscht — immer von neuem nur wieder an das Gute und Edle in der Menschennatur geglaubt, und sein Auge hatte nie verlernt, A lles, auch das Nichtschöne zu verklären. S o war das viele Häßliche und Gemeine, das ihm in seinem Leben entgegengetreten, auch an ihm abgeglit­ ten, ohne ihm mehr als vorübergehende Täuschungen zu. be­ reiten, weil sein reiner S inn kein Verständniß dafür hatte. D as Wort, welches Goethe über Schiller einst nach besten Tode gesprochen, und das Sydow's, von ihm so hochverehrter Freund, der Präsident Sim son, bei einer Familienfestlichkeit auf ihn anwandte, hat wohl selten eine treffendere Stelle ge­ sunden: „Es glühte seine Wange roth und röther Bon jener Jugend, die uns nie entfliegt, Bon jenem Muth, der früher oder später Den Widerstand der stumpfen Welt besiegt, Bon jenem Glauben, der sich stets erhöhter, Bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt, Damit das Gute wirke, wachse, fromme, Damit der Tag dem Edlen endlich komme."

Und man darf mit Fug und Recht auch das Schlußwort des andren Verses hinzufügen: „Denn hinter ihm, im wesenlosen Scheine, Lag was uns alle bändigt, das Gemeine."

Der größte Lichtpuykt in seinem Leben während der letz­ ten Jahre blieb aber die unbeschreibliche Freude, die er an seinen Enkeln hatte, und das eingehende Jntereste, mit dem er der Entwickelung jedes einzelnen folgte: '„Ich muß ja an

ihnen die schönen Jahre, die ich durch unsere Trennung da­ mals an meinen Kindern verloren habe, nachholen", sagte er wiederholt. Und wie er von Anfang an kein Kinderbuch in ihre Hände gehen ließ, das er nicht erst selbst gelesen, so machte er sich's beim Heranwachsen der Größeren zu noch ernsterem Geschäft, erst alles zu prüfen ob sie reif dafür seien, und so kam es zu Weihnachten wohl vor, daß er bei den sechs in verschiedenstem Alter stehenden Kindern sich zu „seinem eigenen Ergötzen" von Mommsen, Häußcr's und Treitschke's Geschichte bis zu Lederstrumpf, Thekla von Gumpert und Speckters Fabeln hin durchlas. D ie Leichtigkeit, die er fich bis fast zuletzt in Bezug auf das Reisen bewahrt, die absolute Anspruchslosigkeit, und die Fähigkeit auf jede persönliche Bequemlichkeit unterwegs zu verzichten, war eine wichtige Beihülfe für den ganzen Lebens­ zuschnitt der letzten Jahre und für die Freudigkeit, mit der er sich immer wieder ausmachte. Während der Ferien hatte er fast jedes M al mehrere Enkel bei fich, das Weihnachtsfest wurde, bald hier bald in Lübeck im Elternhause, immer gemeinsam gefeiert, aber der Glanzpunkt blieb der Sommer, in dem sich Sydow, seit er aus dem Amt und an keinen Urlaub gebunden war, während der Schulferien immer ein oder zwei Kinder mit auf die Reise nahm, um ihnen noch eine freundliche Erinnerung an sich dadurch zu hinterlassen, „daß sie mit ihm zuerst ein Stück­ chen von Gottes schöner Welt zu sehen bekämen". D as war die Erfüllung seines Lieblingswunsches, den er seit vielen Jahren getragen, und dessen Ausführung ihm reichlich so viel Entzücken und Genuß bereitete, als den Kindern selbst. Darauf hin plante er schon von Weihnachten ab. Ein Schatz

ist in den Briefen an die Kinder verblieben, ob sie an die fünf- und sechsjährigen, ob zu den Geburtstagen, ob zur Konfirmation den Heranwachsenden, ob bei ernsten oder fröh­ lichen Veranlassungen geschrieben find, immer paffen fie fich mit liebevollstem Verständniß jedem Einzelnen an. Hatte der Großvater im Sommer 1877 seinem ältesten Enkel den Rhein gezeigt, so mußte aus Gesundheitsrückfichten für das nächste Jah r ein Aufenthalt für zwei Knaben und die Mitnahme derselben nach Reichenhall in Aussicht ge­ nommen werden. D a traten die erschütternden Ereignisse der Attentate ein, und Sydow war so tief ergriffen und mitge­ nommen davon, daß es körperlich ihn ernstlich niederzudrücken begann, noch dazu, da ihn die große Hitze in jener Zeit und das dabei angestrengte Arbeiten, um die Martineau'sche Brochüre noch vor der Reise druckferttg zu machen, ohnedies schon sehr matt gemacht hatte. Dazu rief ihn plötzlich die Pflicht zu seiner hochbetagten älteren Schwester, dem letzten Band, das ihm aus der Jugendzeit geblieben. Sie lebte in Schlesien, im Hause ihres Sohnes, war schon sehr schwach und hatte in der Vorausficht baldigen Abscheidens Sehnsucht, den Bruder noch zu seh'n. I n Angegriffenheit und unter großer Erregung machte er diese Reise, um nach der Rückkehr fich sofort aus die größere zu begeben. All dies war aber zu viel gewesen. I n der ersten Nacht in Dresden trat eine scheinbar leichte Schlagberührung ein, die dritte innerhalb von 1*2 Jahren, die einen, wenn auch nur kurzen Aufenthalt dort nöthig machte. I n der ersten kühlen Nacht drang Sydow aber selbst auf die Weiterreise, theils um die Kinder in ihrer Kur nicht zu verkürzen, theils um auch selbst unter {befreundete ärztliche Obhut zu kommen,

Die Folgen waren doch langwieriger, als man erst glaubte. Die Sicherheit selbstständigen Gehens ohne Führung war für Wochen geschwunden, große Schwäche und einzelne Lähmungs­ erscheinungen zurückgeblieben, und besonders das Gedächtniß hatte gelitten.

So gab er dem Bitten nach, und aus dem

geplanten Aufenthalt von wenigen Wochen wurde, nachdem die Kinder zum Beginn der Schule zurückgeschickt waren, ein volles Vierteljahr. — Aber im Herbst heimgekehrt, stellte sich die Gedächtnißkrast, deren Schwinden ihn besonders bedrückte, schnell und fast ganz wieder her, die alte Frische kehrte noch einmal zurück, er konnte sein Leben bald wieder in das ge­ wohnte Geleise des Studirens hineinleiten, und lebte in gleicher Weise bis zu dem Osterfeste 1882.

Eine, freilich

überwundene, neue Erkrankung an dem Knieleiden hatte in Sydow den Entschluß gereist, nun nicht mehr zu reisen, son­ dern in seiner, ihm so sehr behaglichen Behausung den Sommer auf dem Balcon zu genießen.

Und wie er Allem,

was er that und erlebte, immer die beste und glücklichste Seite abzugewinnen verstand, so hatte er, nachdem er bis dahin in dem Reisen solche Erfrischung gefunden, jetzt schon „im voraus wahres Vergnügen" in dem Gedanken, still und ungestört unter seinen Blumen zu Haus bleiben zu können. Da kam zu Ostern sein ältester Enkel nach glücklich überstandenem Abiturienten-Examen zum Besuch, aber leider in einem Krankheitszustande, der zu den ernstesten Besorgnissen Veranlassung gab.

Der ärztliche Ausspruch stellte eine un­

verzüglich vorzunehmende Molkenkur im Süden als einzige Hoffnung hin, die Sache vielleicht noch im richtigen Moment aufzuhalten.

Sofort war der Großvater entschlossen, ihn zu

begleiten, da er wußte, daß sich andere Begleitung nur mit

einiger damit verbundener Unbequemlichkeit bewerkstelligen ließ; und erklärte fich mit größter Freudigkeit bereit, doch uoch wieder lie Reise nach Reichenhall zu unternehmen. S o ging man Mitte M ai noch ein M al gemeinsam dorthin, und obgleich erst das sehr kalte, schlechte Wetter jenes Sommers die Genesung verzögerte, machte sie doch nachher so stettge und sichtbare Fortschritte, daß man Mitte August zurückkehrte mit der kaum vorher erhofften Sicherheit, daß jede Besorgntß gehoben sei. M it wie dankbarem Herzen der Großvater von diesem Erfolge bis zuletzt sprach, war rührend zu hören. ES war seine letzte große Liebesthat, W ihm in diesem Leben zu thun beschicken war, und auch seine letzte große Freude, die er hatte. Die Strapazen der Reise vibrirten dies M al länger nach als sonst. E r war m att, verlor den Appetit, schlief, ganz gegen seine Gewohnheit, ab und zu über Tage, aber klagte doch über nichts, als über zunehmende Schwäche. Einige Ausfahrten wurden noch gemacht, aber meist ynd lieber hielt er fich ruhig im Zimmer. Ein Brief vom 22. September an seinen Reffen, den Prediger Z ieg ler in Liegnitz, ist die letzte schriftliche Aufzeich­ nung von seiner Hand: „Eben habe ich in dem empfangenen Liegnitzer Stadt­ blatt Deinen Artikel zu den kirchlichen Wahlen mit Freude und Anregung gelesen, und eben empfange ich dazu die neueste „Protestantische" von Reimer, mit Deiner Anzeige des Sommer'schen Werkes über Hartmann's ethische Greuel, die. ich natürlich sofort mit höchster Theilnahme auch gelesen, und ich setze mich nun auch sofort hin, D ir für Beides zu danken. Ich müßte fürchten, daß bei einigem Aufschub ich

nicht dazu käme, denn das Schreiben ist mir ein wahrer Horror und bereitet mir auch wirtlich die größten Schwierig­ keiten; aber da ich durch Gottes Gnade im Glauben an eine providentia specialissima lebe, so habe ich in dem Zusammen­ treffen obiger Zusendungen einen providentiellen Antrieb em­ pfunden, Dir, lieber Heinrich auszudrücken, daß ich nicht in­ wendig todt bin, wenn ich auch äußerlich schwiege. Mein Befinden ist im Ganzen deprimirt; hoffentlich nicht ans die Dauer, und eigentlich doch nicht bedenklicher, als es nach einem so tristen Sommer und bei dem demnächstigen Uebertritt in ein 83. Lebensjahr begreiflich ist. Aber ich leide darüber in mir selber doch mehr, als recht ist. Die andern Leute rühmen mich immer mir selber, wegen meines Ausseh'ns und meiner Frische, aber ich habe ein zu lebendiges Gefühl davon, daß Alles, was ich bin, nur noch eine spärliche Anleihe ist, bei dem, der ich war. — Zu diesen Zeilen habe ich mich emporgeschwungen, um das wenigstens zu bethätigen, daß mein Herz doch immer noch seine alten Flügel hat." — Acht Tage darauf, in der Nacht zum letzten Sep­ tember, überfiel ihn ein plötzlicher Schüttelfrost und heftige Stiche in der Seite, ohne daß ein Grund zur Erkältung auf­ zufinden gewesen wäre. Schon am Nachmittag konstatirte der Arzt eine ausgesprochene Lungen- und Brustfellentzündung, und ein bereits händegroßes Exsudat. Spanische Fliege und Umschläge brachten kaum nennenswerthe Erleichterung, und die Nacht verging unter großen Schmerzen und Athmungsbeschwerden bei sehr hohem Fieber. Schon am nächsten Mor­ gen war der Zustand derartig, daß man das Schlimmste fürchten mußte, und so rief eine Depesche Sohn und Schwieger­ tochter aus Lübeck herbei, die Abends zehn Uhr eintrafen.

Nachmittags war in Folge einer Keinen Blutentziehung eine Krisis eingetreten, die eine erhebliche Erleichterung in den Schmerzen hervorgebracht hatte.

Der Kranke erkannte seine

Kinder zwar, konnte aber nicht klar sprechen; das Bewußtsein trübte sich bald wieder, und über Nacht hatte er ihre Ankunst vergessen.

Als er früh um 6 Uhr erwachte, war er ganz

Kar, aber doch unbeschreiblich schwach, sodaß eine Keine Lage­ veränderung, die er wünschte, ihn so erschöpfte, daß seine Tochter glaubte, er würde ihr unter den Händen einschlafen. Als sie aber nachher auf wenige Minuten hinausgegangen war und wieder ins Zimmer trat, hatte er die Lampe hell gemacht und las „Lotze's philosophische Weltanschauung nach ihren Grundzügen.

Zur Erinnerung an den Verstorbenen

von Prof. Dr. Edmund Psleiderer." Auf ihr bestürztes Bitten, sich doch nicht gleich mit so schwerer Lektüre zu beschäftigen, sagte er: „Ach, laß mich doch, das ist ja der erste schöne Moment seit drei Tagen." Aber schon nach einer Viertelstunde nöthigte ihn die Schwäche, aufzuhören.

Als um 10 Uhr seine auswärtigen

Kinder kamen, verlangte er gleich, sie zu sehen, sprach, leise und schwer zwar, aber mit höchster Klarheit zu Allen: „Ich bin sehr krank, ich bin noch nie im Leben so krank gewesen, wie dies M al.

Ich weiß auch genau, was mir fehlt.

Aber

glaubt nur, ich habe eine so reaktionsfähige Natur, daß es immer sein kann, ich überwinde die Krankheit und kann noch ein paar Jahr bei Euch bleiben.

Aber es kann auch ein

Herzschlag eintreten, denkt auch Ih r immer daran — nun, mich soll es auch freudig bereit finden." Schon.an diesem Tage erklärte der Arzt, daß er den ersten Stoß der Krankheit für überwunden halte, und wenn S y d o w , Lebensbild. 13

kein Zwischenfall eintrete, es nur die Frage sei, ob die Kräfte zur Ueberwindung des weiteren'Verlaufs ausreichen würden. Nach zwei Tagen konnte sein Sohn soweit beruhigt abreisen, daß die quälenden, schmerzhaften Erscheinungen der ersten beiden Nächte wenigstens beseitigt und der Kranke nur sehr schwach war, so daß zu Stärkungsmitteln kräftigster Art ge­ schritten wurde. Von allen Seiten schickten liebe Menschen, was sie nur für irgend fördernd hielten, sodaß während der drei Wochen des Krankenlagers sein Tisch nicht leer wurde von ausgesuchten Gaben an Früchten, alten Weinen und schönen Blumen, und die Theilnahme, sowie es durch die Zeitungen bekannt wurde, aus ganz weit entfernten Kreisen war überwältigend und rührend. S o vergingen die Tage wechselnd, bald zu größter Hoffnung berechtigend, bald das Schlimmste fürchten lassend. D ie Krisenlage überstand er alle, obgleich jedes M al unter starkem Fieber und getrübtem Bewußtsein, war sich nachher aber jeder Veränderung seines Zustandes mit objektivster Klarheit bewußt. S o erwachte er am neunten Tage nach sehr schlimmer Nacht, ohne die ge­ ringste Ahnung zu haben, wie lange seine Krankheit schon dauere, indem er sich mit der Hand über die Stirne strich mit den Worten: „Gott sei Dank, nun hat man doch wieder einen freien Blick; ich glaube, daß ich in dieser Nacht über einen Wendepunkt fortgekommen bin." D ie nächsten Tage waren auch erheblich besser. Die Krankheit verlies normal, aber der Appetit verschwand nun mehr und mehr, und die Kräfte ließen demzufolge auch nach, Seine milde Natur und Gewöhnung, die er sich bis zum letzten Augenblick bewahrte, drückten sich aber auch in dem ganzen Charakter seiner Krankheit aus, und wurden ihm und

Allen zum Segen. Nicht eine Silbe der Klage ist über seine Lippen gegangen, in höchstem Fieber bewegten sich seine Phan­ tasiern immer nur in freundlichen Bildern. AIs er in der ersten Nacht unbewußt vor Schmerzen und Beklemmung beständig ächzte, gab er seiner Tochter, als sie ihn fragte, ob er viel leide, indem er sich ermunterte, gleich mit seinem alten, freundlichen Lächeln zur Antwort: „Ja, stehst Du wohl, 82 Jahre muß der Mensch alt werden, und lernt immer noch Neues dazu. Solche Schmerzen habe ich noch nie im Leben gehabt." — Und nach dieser Nacht dann, war seine stehende Antwort auf die Frage des Arztes, ob er Schmerzen oder Druck fühle, nur immer die gleiche: „ach, das läßt fich ertragen." Fühlte er fich frischer, so machte er wohl Pläne für den Winter, wo er seine beiden ältesten Enkel hier auf der Universität haben würde. War er matter, so sprach er mit freudiger Zuverficht von seinem Abscheiden, und von der Wiedervereinigung mit Denen, die ihm Alle vorausgegangen waren. Dazwischen weilten seine Gedanken fast ausschließlich in den früheren, fernab liegenden Zeiten. Selbst die Erinne­ rung an England wurde eines Abends besonders lebendig in ihm, und er erzählte längere Zeit davon. Da wurde er durch irgend welche Jdeenverbindung auf den schottischen Philosophen Hume gebracht, dessen Namen er fich durchaus nicht zurück­ rufen konnte. Seine Tochter mußte unter seiner Anleitung in der dreibändigen Geschichte der Philosophie Kuno Fischer's nachsuchen, bis fie den Namen gefunden. „So, nun kann ich einschlafen, aber Ordnung muß sein. Das hätte mich sonst die ganze Nacht gequält, wenn der Mann um seinen Namen gekommen, wäre." In dieser Nacht sprach er, wohl in Folge dieser Gespräche im Halbschlaf beständig englisch, citirte deut-

lich eine längere Stelle aus „Paradies und Peri" und als er gegen Morgen, ebenfalls englisch sprechend, zu trinken ver­ langte, „weil seine Zunge so trocken sei", und ihn seine Tochter fragte, ob er Wein oder lieber Milch wolle, schlug er die Augen auf und sagte lächelnd: „Hast D u Dein Englisch vergessen, daß D u mir deutsch antworten mußt?" D as lebendige Interesse der Liebe für Alle und Alles, was ihm nahe stand, blieb bis zuletzt dasselbe. Jedem, der fich erkundigen kam, sollte seine Tochter womöglich selbst Aus­ kunft geben und es aussprechen, wie „sehr dankbar" er für alle Liebe und Theilnahme sei und es ihm nur so leid thue, „daß er gar keinen Menschen sehen dürfe". Am siebzehnten Tage seiner Krankheit, als die Schwäche wieder recht groß war, brachte sein Sohn, der aus einen Tag gekommen, als Erleichterung bei der Pflege und zur Erheiterung des Vaters seine älteste, 17 jährige Tochter, und damit noch für den Rest der Tage Sonnenschein in's Haus. Der Großvater freute fich noch so recht von Herzen an ihr, und hatte noch bis zum letzten Tage immer ein Scherzwort für sie bereit, wenn sie an sein Bett trat, obgleich er erst garnicht hatte in ihr Kommen willigen wollen, „weil der Aufenthalt für das Kind dies M al zu traurig wäre". Der Arzt war schon da, wenn auch nicht verzagt, doch nicht mehr sehr hoffnungsvoll. Es war der 18. Oktober, und in der Nacht zum 20. hörte der eine Lungenflügel plötzlich auf zu arbeiten, so daß man wohl nur noch auf wenige Tage des Lebens hoffen durste. Es traten Unklarheiten ein, dazwischen war das Bewußtsein aber wieder vorhanden, und der ganze Zustand nicht quälend, sondern erträglich. I n den klaren Momenten besprach er mit seiner Tochter vieles noch bis in das Eingehendste, traf noch manche

Anordnung, oft bis auf die kleinsten Dinge sich erstreckend, ja. sagte sogar ein M al mitten in der Nacht, „hast Du auch die Blumen über mich nicht vergessen? ich friere, gewiß ist es kalt geworden; ,laste sie doch morgen früh gleich herein­ bringen". Von Neuem mußten nun vorbereitende Depeschen an seine auswärtigen Kinder abgeh'n; am Sonntag, den 22., eilte sein Sohn mit dem ältesten Enkel herbei. Kräfte und Temperatur sanken aber so zusehends, daß man fürchtete, das Leben möchte noch vor Abend erlöschen. Um 6 Uhr trafen sie ein. Der Kranke hatte schon den ganzen Tag im Halb­ schlummer gelegen, jede Nahrung verweigert und auch nicht mehr gesprochen. M s seine Tochter ihm nun etwas Wein einflößte und ihm sagte, daß sie eben angekommen seien, ob er sie wohl sehen möge, sagte er noch laut: „ach ja!" hatte eine deutliche, ihn verklärende Herzensfreude auf dem Gesicht, besonders, als er den Enkel erblickte, den er seit 2 Monaten, wo er ihn als genesen zurückgebracht, noch nicht wieder ge­ sehen hatte. Er herzte und streichelte ihn- immer wieder, und wollte offenbar noch Jedem Etwas sagen, aber die Sprache versagte, er fand die Worte nicht mehr und war nicht mehr verständlich. So saßen die Seinigen bis etwa halb zehn an seinem Bett. D a schlug er die Augen aus, sagte lächelnd „die ganze Reihe", zog dann Sohn und Tochter, dann die Enkel einzeln zu sich, ihre Hände drückend, sie küffend und sagte ihnen „Lebewohl". Dann rief er nach den Kleineren „Fritz, Hedchen, Bobby, wo seid I h r" , und als sein Sohn sagte, daß sie erkältet seien, die Mutter käme aber morgen nach, sie hätten heut noch nicht reisen dürfen, erwiderte er, mit dem Kopf leise nickend: „ach, das ist gut". Nachdem

er noch kurze Zeit mit geschlossenen Augen gelegen hatte, öffnete er sie wieder, und die ©einigen, Einen nach dem Andern noch ein M al zu sich heranziehend, sagte er leise, aber deutlich: „So Kinder, nun laßt uns zur Ruhe gehen." Er lag die Nacht über, bis zum Morgen, beinahe unmerklich, aber, wie es schien, ohne große Beschwerde athmend, fast regungslos. D as Absterben und Erkalten ging schon allmälig vor sich, da begann gegen 7 Uhr das Röcheln des Todes­ kampfes. Er wandte den Kopf nach der Wand hin, wo über seinem Bette das Bild seiner, ihm vor nun 42 Jahren vorange­ gangenen Frau hing, und den Blick aus dasselbe richtend, rief er leise, aber vernehmlich mehrere M al: „Rosalie, Rofalte", bis bald darauf das Auge brach; die Wimper zuckte nicht mehr, aber die Erlösung aus dem Kampfe, der, wie man sicher hoffen darf, ohne Bewußtsein ein rein mechanischer, und für das Gefühl der ©einigen schmerzensvollerer als für ihn war, trat doch erst um '/.1 2 Uhr M ittags ein. Was er früher schon mehrere Male ausgesprochen, und während der letzten Wochen seiner Tochter , von neuem gesagt: „Ich möchte wohl, wenn ich etwas wünschen dürste, daß mir Gott kein zu langes Krankenlager beschiede, ich möchte Euch um mich haben und möchte mit Bewußtsein von Euch geh’n" — es ist ihm alles erfüllt worden. Den ©einigen aber, die sein Sterbelager umstanden, ist sein Ende zur erhebendsten und kräftigsten Besiegelung der G e w iß h e it geworden, von der sein ganzes Leben durch­ drungen war, daß Sterben nichts bedeute als das selige Ein­ gehen in die höhere Heimath. Die Theilnahme, die sich nach Bekanntwerden der Todes­ nachricht nicht nur aus der ganzen S tadt und aus allen

Theilen Deutschlands, sondern weit drüber hinaus, aus allen Schichten, hohen und niederen, kund gab, war unbeschreiblich und hoch erhebend. Die Leichenfeier konnte nicht von der Wohnung des Verstorbenen aus stattfinden, da der Kreis, in dem er persönlich wie beruflich gestanden hatte, ein zu großer war. Die angezeigte Stätte dazu, seine Kirche, war im Umbau begriffen, und so vereinigte fich der Gemeinde­ kirchenrath dieser so wie der Jerusalemer, der Schwesterkirche, zu gemeinsamem Zusammenstehen. Die Jerusalemskirche, in der der Heimgegangene selbst oft fungirt hatte, übte das Gastrecht, und der Vorstand der Reuen Kirche hatte mit dem Magistrat von Berlin gemeinsam die reiche Ausschmückung derselben übernommen. Am Freitag den 27. Oktober um 10 Uhr fand der Trauergottesdienst statt. Die Kirche war bis aus den letzten Platz gefüllt, so daß Viele aus den Treppen der Emporen bleiben, Viele ganz umkehren mußten. Die Stadtverordneten und Magistratsmitglieder in ihrer Amtstracht, an ihrer Spitze der Oberbürgermeister Herr von Forckenbeck und der Stadt­ verordneten-Vorsteher Herr Dr. Straß mann, fast sämmtliche liberale Geistliche im O rnat, Deputationen der verschiedenen Vereine, denen der Verstorbene angehört, und Notabilitäten der Wissenschaft und Kunst füllten den weiten vorderen Raum der Kirche. Der schwarze Sarg stand auf dem erhöhten Altarraum in einem Hain hochstämmiger Cypreffen und Lor­ beerbäume, aber kaum fichtbar unter den zahllosen Kränzen und Palmen, die ihn bedeckten, und zu denen bis zum Be­ ginn der Feier unaufhörlich neue niedergelegt wurden. Sechs hohe Candelaber warfen ihre leuchtenden Strahlen auf den Sarg, zu dessen rechter Seite die Angehörigen, links der Ge-

meindekirchenrath und die Gemeindevertretung Platz genommen hatten. Dem Prediger Z ieg ler aus Liegnitz fiel der Bestimmung gemäß, die der Verstorbene selbst schon seit mehreren Jahren getroffen, die Liebespflicht des letzten Wortes zu. M it Zu­ grundelegung des Textes: «Selig find, die reines Herzens find, denn fie werden Gott schauen; selig find die Friedfer­ tigen, denn fie werden Gottes Kinder heißen; selig find, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Him­ melreich ist ihr." (Matth. 5, 8—10) — des Schönsten aus der ganzen Schrift, der wohl hätte dafür gefunden werden können, entrollte er in kurzen Zügen ein gedrängtes, treffendes Bild der Persönlichkeit, wie es in so knappem Rahmen nur möglich war, selbst oft von Wehmuth übermannt. Prediger D. L isco , der Amtsgenosse Sydow's, sprach darauf das Gebet. Der Königliche Domchor, der schon die Feier durch den Ge­ sang des „Selig find die Todten" eingeleitet, fiel, nachdem die Versammlung den Schlußvers des Liedes „Was Gott thut, das ist wohlgethan", beendet hatte, mit dem von dem Heim­ gegangenen so besonders geliebten Liede „Es ist bestimmt in Gottes Rath" ein. Unter dem Ausklingen des „auf Wieder­ sehn" wurde der Sarg langsam aus der Kirche getragen und auf den Wagen draußen gehoben, wo ihn die leuchtende Sonne eines zauberhaft schönen Herbsttages beschien. Zwölf P al­ menträger gingen zu beiden Seiten, die Deputationen, Geist­ liche, Vereine, Gemeindekirchenrath und Gemeindevertretung und zahlreiche Theilnehmende schlossen sich unmittelbar zu Fuß an, denen eine lange Wagenreihe folgte. So bewegte fich der Zug die Lindenstraße zum Halle'schen Thore hinaus, durch ein Spalier von Menschen nach dem alten Jerusalemer

und Neuen Kirchhofe, wo dem Verklärten in möglichster Nähe des Grabes seines ältesten Sohnes nun seine Gruft bereitet war, deren Inneres liebende Hände ganz mit Epheu und Immergrün geschmückt hatten. Prediger Hoßbach, der Sohn seines alten Freundes und Amtsvorgängers und sein Nach­ folger im Amt, sprach hier an offener Gruft das Gebet. „Wie sie so sanft ruhen, alle die Seligen" ertönte der Schlußgesang des Chors, und dann erfolgte der Segen. Ein Denkmal mit seinem von Künstlerhand gefertigten Bilde aus Erz haben Freundeshände ihm an seinem Grabe errichtet. Am Sonnabend den 28. Juni 1884 in der Morgenstunde hatte fich der Kreis der Freunde und Verehrer zur Einwei­ hung desselben auf dem Kirchhof versammelt, dem der Ge­ meindekirchenrath der Neuen Kirche und die Gemeindevertre­ tung fich vollzählig angeschloffen hatten. Hinter dem mit rei­ chen Blumenflor und zahlreichen Kränzen bedeckten Hügel erhebt fich ein hoher von einem broncenen Kreuz gekrönter Granitsockel, in dessen vordere Seite das vom Bildhauer Lesfing modellirte, von einem reichen Lorbeerkranz umgebene lebensvolle Medaillonbild Sydow's eingelaffen ist. Der städtische Schul-Jnspector v r. J o n a s übergab dasselbe im Aufträge des Denkmalcomites nach vorhergegangenem Gesänge der Familie mit folgenden Worten: „Hochgeehrte Freunde und Freundinnen unseres theuren entschlafenen Freundes A d o lf Sydow ! Nicht dem Theologen, nicht dem Prediger, nicht dem Lehrer gilt in erster Hinficht dieses Denkmal, zu dessen Weihe wir uns hier versammelt haben, sondern dem F reu n d e Sydow. Männer und Frauen, die bei seinem Tode einen persönlichen

Verlust empfanden, wollten gern noch einmal auch durch ein äußeres Zeichen ihre Liebe zu dem theuren Manne kund thun. Bedarf auch die Freundschaft nicht gerade der äußeren Zeichen, so thut sie doch nur ungern Verzicht darauf, und so lag uns allen der Wunsch nahe, die Grabstätte des Freundes schmücken zu helfen, und namentlich seine Kinder und Enkel, wenn fie diese Stätte besuchen, durch dieses äußere Zeichen unserer Liebe zu ihrem Vater an die Fülle der Liebe zu erinnern, die er in seinem langen und gesegneten Leben als ein rechter Säm ann ausgestreut hat. J a , Liebe und Treue haben dieses Denkmal gestiftet, und — das darf ich rühmen — mit sichtlicher Liebe wie mit kunstgeübter Hand hat es der Bildhauer, Herr Otto Lesfing, trefflich vollendet, ob er gleich unsern Sydow im Leben von Person zu Person nicht hatte kennen lernen. Aber Sydow's ehrwürdiges Gesicht nachzubilden, ist auch wohl, ich sage nicht eine leichte, aber eine lockende und dankbare Ausgabe. Denn wie der volle Klang seiner ruhigen Sprache, so hatte seine ganze äußere Erscheinung an sich schon etwas Erbauliches. D ie verschiedensten guten Charakterzüge, die sonst oft, wo einer aus Kosten des andern einseitig ausgebildet ist, in einen schein­ baren Gegensatz treten, hatten sich in Sydow 's Charakter zum glücklichsten Ebenmaße ausgeglichen und spiegelten sich alle in seinen lieben Gefichtszügen wieder. S o vor allem seiner Sitten Freundlichkeit, die so viele erfahren haben, und zugleich seine muthige Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit; — die harm­ lose Kindlichkeit seines frommen Gemüthes, in dem kein Falsch war, und daneben der reise, bedächtige, so finnig grübelnde Verstand; — endlich der feine, spielende Humor, und zugleich

auch wieder die unserm väterlichen Freunde unverlierbare Würde der ganzen Persönlichkeit. Ach, wir haben — so tönt es angesichts dieses Grab­ hügels in unser aller Seelen nach — wir haben einen guten Mann begraben, und Euch, D ir liebe Marie, und D ir lieber Bernhard mit Deiner Liesbeth und Euren Kindern, Euch war er mehr! I n voller Empfindung dessen übergebe ich Euch im Auf­ träge der Freunde Eures unvergeßlichen Vaters dieses Liebes­ denkmal mit dem Ausdruck der Hoffnung, daß es Euch dauernd zum Trost und zur ernsten Freude gereichen möge, und mit der Bitte, daß I h r es schützen und hegen wollet, auf daß es seiner Bestimmung gemäß mithelfe, das Andenken Eures Vaters in dieser S tadt und besonders in seiner Gemeinde lebendig zu erhalten." Nachdem sodann der Sohn Sydow's mit bewegten Worten seinem und der Familie Dank Ausdruck gegeben, trat Prediger Hoßbach an das Grab und sprach folgende Worte: „So sei und bleibe denn diese Stätte geweiht der Er­ innerung an den theuren Todten, dessen irdisches Theil hier ruht. Es möge dieses Denkmal, es mögen die edlen und geistvollen Züge dieses Angesichts allen, die diese Stätte des Friedens besuchen, in das Gedächtniß rasen das Bild seiner geistigen Persönlichkeit und zu ihnen reden von dem Manne, der unserer Gemeinde ein Menschenalter hindurch der geistersüllte Verkündiger des göttlichen Wortes gewesen ist, der in einer Zeit, wo Christenthum und Bildung auseinanderzugehen drohten, den gebildeten Kreisen unserer Stadt der Führer zu Christus und seinem Evangelium geworden ist, von dem Manne, der unter uns unerschütterlich eingetreten ist für die

theuererrungenen Güter der Reformation, der uns allezeit vorangeleuchtet hat als der protestantische M ann, als der christliche Charakter durch Ehre und durch Schande, durch gute Gerüchte und durch böse Gerüchte, durch Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, klar und wahr, muthig und fest, nüchtern und besonnen. Dankbare Liebe für den reichen Segen, der von ihm ausgegangen ist, hat dieses Denkmal gestiftet. Dankbare Liebe erfüllt uns, diewir als Vertreter seiner Gemeinde, als Freunde, als Schüler, als Angehörige hier versammelt find. Aber der Dank gegen Menschen, welche kommen und gehen, wird bei uns Christen zum Dank gegen Gott, der da bleibt in Ewigkeit. Und so lasset auch uns an dieser Stätte unsere Herzen zu Gott er­ heben und also beten: Barmherziger, gnädiger Gott! wir preisen Deinen herr­ lichen Namen, der D u das helle Licht Deines Evangeliums bei uns hast lassen aufgehen, und immer wieder durch die Jahrhunderte hindurch D ir Deine Zeugen ausrüstest, welche in Erweisung des Geistes und der Kraft Deine seligmachende Wahrheit den Menschenherzen verkünden. D u hast auch auf den theuren Todten, der hier ruht, die Fülle Deiner Gaben herniedergesenkt. Wir wissen es: wenn er vielen der Führer gewesen ist auf dem Wege zum wahren Leben, wenn er zu der unsichtbaren Gemeinde derer gehört h a t, von denen Dein Sohn sagt: „ Ih r seid das Salz der Erde" — D ir gebührt die Ehre. D ir danken wir darum an dieser S tätte für allen den reichen Segen, den wir und so viele Andere durch ihn empfangen haben. W ir haben ihm hier ein Denkmal von Erz und Stein errichtet, den lebenden und den kommenden Geschlechtern zur Erinnerung. Aber laß ihn vor allem ein

unvergängliches Denkmal haben in unsern Herzen und sein Andenken unter uns in Segen fortleben. Behüte Du allen Samen, den er ausgestreut, und laß ihn Frucht bringen zum ewigen Leben. Laß Deinen Geist, der in ihm mächtig war, den heiligen Geist der Wahrheit und der Freiheit, den Geist der Kraft, der Liebe und der Zucht, fortwirken und sich mächtig erweisest in unserer Kirche, daß es ihr niemals fehle an Männern wie unser S y d o w war, daß sie immer mehr werde eine S tätte, da D u angebetet wirst im Geist und in der Wahrheit. Dein Friede sei mit dieser S tätte, Dein Segen ruhe auf Kindern und Kindeskindern des Entschlafenen, Dein Segen bleibe bei uns allen immerdar!" D er Gesang des Liedes „Selig find die Todten" beschloß die ernste schöne Feier. — Was wir bergen in den Särgen Is t das Erdenkleid, Was wir lieben ist geblieben, Bleibt in Ewigkeit!