Von Stalin zu Putin: Auf der Suche nach Alternativen zur Gewalt- und Herrschaftspolitik - Russland auf dem Prüfstand 3902732334, 9783902732330

Professor Wjatscheslaw Daschitschew war Leiter der Abteilung „Internationale Politik“ an der Russischen Akademie der Wis

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Von Stalin zu Putin: Auf der Suche nach Alternativen zur Gewalt- und Herrschaftspolitik - Russland auf dem Prüfstand
 3902732334,  9783902732330

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Table of contents :
Von Stalin zu Putin
......Page 1
Inhalt
......Page 3
I. Vorwort
......Page 7
II. Jugendjahre: Das Begreifen des Stalinismus
......Page 11
III. Jahre harter Prüfungen
......Page 18
IV. In den Dornen der Geschichtswissenschaften
......Page 22
V. In der Akademie der Wissenschaften
......Page 38
VI. Die Priorität in meinen wissenschaftlichen Forschungen
......Page 45
VII. Die unerfüllbare Mission der sowjetischen Außenpolitik
......Page 88
VIII. Die Umgestaltung der Außenpolitik der Sowjetunion96
......Page 126
IX. Von der Spaltung zur Wiedervereinigung Deutschlands
......Page 186
X. Die Charta von Paris......Page 271
XI. Der Übergang der USA zu einer breit angelegten Politik der globalen Vorherrschaft
......Page 276
XII. Russland im Visier der US-Politik
......Page 334
XIII. Russland im Nebel
......Page 399
XIV. Epilog: Über zukünftige Wege Russlands462
......Page 437
Anhang
......Page 467
Kurzbiographien
......Page 469
Verzeichnis der Sachbegriffe
......Page 537
Abkürzungsverzeichnis*
......Page 576
Danksagung des Autors
......Page 579
Namenregister*
......Page 581

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Wjatscheslaw Daschitschew

Von Stalin zu Putin Auf der Suche nach Alternativen zur Gewalt- und Herrschaftspolitik Russland auf dem Prüfstand

Umschlaggestaltung: DSR - Digitalstudio Rypka GmbH, Thomas Hofer, Dobl, www.rypka.at Bildnachweis: Umschlagabb. Vorderseite: Fotolia.de/sirina85 (Blick auf den Kreml), Umschlagabb. Rückseite: Archiv des Autors, Abb. Innenteil: I oben, II oben Iks., II unten г., III Mitte r.: Wikimedia commons, gemein­ frei; III unten r.: Frits Wiarda, Wikimedia commons; V alle Abb., VII oben r., Mitte lks., VIII alle Abb.: Wikimedia commons, gemeinfrei. Alle anderen Abb.: Archiv des Autors Umschlagabb.Rückseite von lks. nach r.: Der Autor als Oberleutnant der Roten Armee (Juni 1945); mit Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorf (lks., Som­ mer 1983), mit Bundeskanzler Helmut Kohl (Mitte, 1989), im Januar 2014 Titel der russischen Originalausgabe: От Сталина до Путина. Воспоминания и размышления о прошлом, настоящем и будущем. / Дашичев, В.И. - Москва: Новый Хронограф, 2015 - 608 с. - ISBN 978-5-94881-267-0. Aus dem Russischen übersetzt von Christina Brock M. A., München Wir haben uns bemüht, bei den hier verwendeten Bildern die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Falls es dessen ungeachtet Bildrechte geben sollte, die wir nicht recher­ chieren konnten, bitten wir um Nachricht an den Verlag. Berechtigte Ansprüche wer­ den im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http:// dnb.d-nb.de abrufbar.

Hinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die zum Schutz vor Verschmutzung verwendete Einschweißfolie ist aus Polyethylen chlor- und schwefelfrei hergestellt. Diese umweltfreundliche Folie verhält sich grundwasserneut­ ral, ist voll recyclingfähig und verbrennt in Müllverbrennungsanlagen völlig ungiftig. Auf Wunsch senden wir Ihnen gerne kostenlos unsrer Verlagsverzeichnis zu: Ares Verlag GmbH Hofgasse 5/Postfach 438 A-8011 Graz Tel.: +43 (0)316/82 16 36 Fax: +43 (0)316/83 56 12 E-Mail: [email protected] www.ares-verlag.com ISBN 978-3-902732-33-0 Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind Vorbehalten. © Copyright der deutschen Erstausgabe by Ares Verlag, Graz 2015/ Layout: Ecotext-Verlag, Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, 1010 Wien Gesamtherstellung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan Printed in Austria

Inhalt

I. Vorwort ..................................................................................... 9 II. Jugendjahre: Das Begreifen des Stalinismus ............................. 13 III. Jahre harter Prüfungen ............................................................... 20 IV. In den Dornen der Geschichtswissenschaften ........................... 24 V.

In der Akademie der Wissenschaften................................. 40

VI. Die Priorität in meinen wissenschaftlichen Forschungen ......... 1. Die tragischen Auswirkungen der Hegemonialpolitik im 20. und 21. Jahrhundert 2. Wohin Konflikte unter Großmächten führen - Lehren aus der politischen Vorkriegskrise des Jahres 1939 3. Wie Europa das 20. Jahrhundert an die Vereinigten Staaten von Amerika verspielte ..........................................

47 47 62 77

VII. Die unerfüllbare Mission der sowjetischen Außenpolitik.......... 90 1. Die vierfache Sünde der sowjetischen Außenpolitik ein Memorandum für Leonid Breschnew 91 2. Wie kann man eine gefährliche Eskalation der angespannten Ost-West-Beziehungen vermeiden? Ein Memorandum für Andrej Gromyko . 99 3. Über die Gesetzmäßigkeiten der internationalen Beziehungen - ein Memorandum für Jurij Andropow 110 VIII. Die Umgestaltung der Außenpolitik der Sowjetunion............... 128 1. Revision der außenpolitischen Werte.................................. 128 2. Analyse außenpolitischer Fehler und vorbeugende Maßnahmen 131

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Inhalt

3. Aufstieg und Untergang des internationalen Projekts »Stern« . 4. Europa soll nicht zwischen Hammer und Amboss leben müssen - Sowjetisch-amerikanische Gespräche 1988 und 1989

138

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IX. Von der Spaltung zur Wiedervereinigung Deutschlands.......... 188 1. Der Zickzackkurs der sowjetischen Politik in der deutschen Frage 188 2. Rätsel um die Stalin-Note an die Westmächte vom 10. März 1952 192 3. Die deutsche Frage auf der Konferenz des konsultativen wissenschaftlichen Beirats im Außenministerium derUdSSR am 27. November 1987 199 4. Mein Memorandum zur deutschen Frage............................ 207 5. Am Vorabend der Wende .................................................... 212 6. Meine Gespräche mit dem sowjetischen Botschafter in der DDR, Wjatscheslaw Kotschemassow 218 7. Das deutsche Volk soll sein Schicksal selbst bestimmen 222 8. »Wir sind ein Volk!« .......................................................... 229 9. Der Malta-Gipfel von Gorbatschow und Bush ................... 239 10. Meinungsverschiedenheiten in Moskau hinsichtlich der Wiedervereinigung Deutschlands 240 11. Die Wiedervereinigung Deutschlands und das Ende des Kalten Krieges 248 12. Überlegungen post factum .................................................. 263 X. Die Charta von Paris - ein unverwirklichtes historisches Projekt für ein neues Europa des Friedens, der Demokratie und der gesamteuropäischen Zusammenarbeit 273 1. Neue Prinzipien für den Aufbau eines gemeinsamen europäischen Hauses 273 2. Warum das Projekt, ein neues Europa zu schaffen, gescheitert ist 275 XI. Der Übergang der USA zu einer breit angelegten Politik der globalen Vorherrschaft .. 278 1. Das Projekt eines »neuen amerikanischen Jahrhunderts« - eine Herausforderung der Weltgemeinschaft . 278 2. Bill Clinton gegen Immanuel Kant ..................................... 285 3. Freiheit gegen Sittlichkeit ................................................... 293 6

Inhalt

4. Beweggründe für die amerikanische Hegemonialpolitik .. 299 5. Die amerikanische Hegemonialpolitik im Urteil der Öffentlichkeit 318 XII. Russland im Visier der US-Politik ............................................ 328 1. Die Doktrin der »erneuten Eindämmung« Russlands.......... 328 2. Die amerikanische Politik im postsowjetischen Raum im historischen Vergleich und in der Gegenüber­ stellung 337 3. Von wo geht Gefahr für die nationale Sicherheit Russlands aus? 351 4. Eine neue Doktrin der US-Politik bezüglich Russlands? .. 360 5. Welchen »Neuanfang« in den amerikanisch-russischen Beziehungen braucht Russland? 366 6. Ist die westliche Russlandpolitik gescheitert? ............. ....... 371 7. Die ukrainische Tragödie und der neue Kalte Krieg der USA gegen Russland 380 XIII. Russland im Nebel..................................................................... 393 1. Die Sowjetunion war nicht zum Untergang verurteilt......... 393 2. Das Modell des Russland aufgezwungenen wilden Kapitalismus erwies sich als verhängnisvoll 400 3. Der Absturz Russlands: Gründe und Folgen........................ 407 4. Wird Russland weiteren Stabilitätsprüfungen standhalten? 425

XIV. Epilog: Über zukünftige Wege Russlands . ........ ....................... 431 Anhang . ............................................................................................... Kurzbiographien.................................... ....................... ............ Verzeichnis der Sachbegriffe ................................................. . Abkürzungsverzeichnis ............................................................. Danksagung des Autors ........................................................... Namenregister ..........................................................................

461 463 531 570 573 575

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I. Vorwort

»M

it dem Verstand ist Russland nicht zu fassen«1 - diese Worte aus dem Gedicht von Fjodor I. Tjutschew fallen einem unwill­ kürlich ein, wenn man über den Weg nachdenkt, den Russland im 20. und 21. Jahrhundert durchschritten hat. Es ist wirklich schwer, sich vorzustel­ len, wie es allein im Laufe des 20. J ahrhunderts solch schwindelerregende gesellschaftspolitische Sprünge zustande bringen konnte, wie es von der Monarchie zum Sozialismus und vom Sozialismus zum Kapitalismus - e i­ nem System, das allem Anschein nach keine Zukunft hat - wechseln konn­ te. Nach diesen beiden historischen Umwälzungen ist es dem Land noch immer nicht gelungen, eine stabile Gesellschaftsordnung zur allgemeinen Zufriedenheit und soziale Gerechtigkeit für seine Bürger zu erlangen. Die herrschende Elite unseres Landes, die zweimal im Laufe des Jahrhunderts ihr gesellschaftspolitisches Antlitz und ihre personelle Zusammensetzung verändert hat, erwies sich jedes Mal nicht als Herr der Lage. Es ist schwer zu verstehen, wie das Volk in einem Land mit dem größten Vorkommen an Naturschätzen der Welt dazu verurteilt sein kann, ein erbärmliches Dasein zu fristen. Die beiden sozialwirtschaftlichen Experimente - das sozialistische und das kapitalistische -, die an Russland in weniger als hundert Jahren durch­ geführt wurden, haben seinem Humankapital schweren Schaden zugefügt. Besonders darunter gelitten hat sein geistiger Genpool - ein Faktor, der die Lebensfähigkeit einer Nation bestimmt. Dies hat nicht unwesentlich zu dem niedrigen Niveau des Staatsdenkens der sowjetischen Machtelite beigetragen und zu ihrer Unfähigkeit, im Land eine Ordnung der sozia­ len Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten sowie den Aufbau eines zivilisierten Sozialismus zu vollenden. In unserer Zeit aber spiegelt sich dies in dem erbärmlichen geistig-sittlichen Zustand der bürgerlichen Machtelite wider, 1 Der Vierzeiler des russischen Dichters Fjódor Iwánowitsch Tjútschew (18031873) Umóm Rossíju nje ponjátj / Arschínom óbschtschim nje isméritj / U njej ossób­ jennaja statj - / W Rossíju mózhno tólko wjéritj, ist im Deutschen am besten wieder­ gegeben mit: »Verstand wird Russland nie verstehn, / Gemeines Maß will auch nicht taugen: / Es hat ein sonderbares Wesen - / An Russland kann man einzig glauben.« Der Urheber dieser deutschen Version konnte nicht ermittelt werden (Anm. d. Ü.).

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I. Vorwort

der das Verständnis für die nationalen Interessen des Volkes abgeht, der der Dienst am Volk fremd ist, der es an Kenntnis der Gesetzmäßigkei­ ten der sozialwirtschaftlichen Entwicklung einer Gesellschaft, an strategi­ schem und geopolitischem Weitblick und sogar an menschlichem Anstand mangelt. Im Namen des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft der Gerech­ tigkeit, die den Interessen des gesamten Volkes dient, wurden immense Opfer gebracht, aber auch spürbare Ergebnisse erreicht. Die Sowjetunion konnte sich aus der »Rückständigkeit« lösen, unter der das zaristische Russland jahrhundertelang gelitten hatte, und nahm die vordersten Ränge des wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der Welt ein. Diese grandiosen Erfolge des Sowjetvolkes erwiesen sich jedoch als vollkommen vergeblich: Jelzin und seine Umgebung, die widerrechtlich die Macht im Lande an sich gerissen hatten, spien darauf und wischten m it ihrer Politik die gesamte vergangene und zukünftige Entwicklung unseres Landes vom Tisch - und wozu? Um das Land in kapitalistisches Chaos zu stürzen und seinen Zusammenbruch herbeizuführen, um mit dem Volks­ vermögen die Taschen eines Häufleins von Gaunern zu stopfen, die einen Klan von Oligarchen bildeten. Für das Volk bedeutete dies nicht nur einen gewaltigen psychischen Schock und eine geistige Erschütterung, sondern es w urde dadurch in nie da gewese nes materiel les Elend gestürzt. Z udem zerstörte das Regime Jelzins und seiner Nachfolger, indem es Russland den Weg einer kapitalistischen Entwicklung aufzwang, sein wirtschaft­ liches und technologisches Potenzial, fügte dem Land auf den Gebieten der Bildung, Wissenschaft, Kultur sowie sittlichen Verfassung des Volkes schweren Schaden zu und untergrub seine geopolitische Bedeutung in der Welt. Dieser für Russland so verhängnisvollen Entwi cklung hat Putin im Übrigen keine neue Wendung gegeben. Jelzin hatte Putin vor seinem Rücktritt als Präsident mehrfach als seinen Nachfolger bezeichnet und ihn letzten Endes in das höchste Amt Russlands lanciert. Warum das ge­ schah, erläuterte der ehemalige Vorsitzende des Parlaments der Russischen Föderation, Ruslan Chasbulatow*2, in seinem Buch Ein verbrecherisches Regime: Die »liberale Tyrannei« Jelzins3. Er schreibt, Jelzin sei freiwillig zu einer Marionette der US-Regierung geworden und habe die Weisungen aus Washington erfüllt. Seine Hauptaufgabe bestand darin, in der Elimi­ 2 Die mit einem Sternchen gekennzeichneten Personen finden sich mit einer Kurz­ biographie im Anhang. 3 Chasbulatow, Ruslan Imranowitsch: Prestúpnyj rezhím: »Liberálnaja tiráni­ ja« Jelzina [»Ein verbrecherisches Regime: Die >liberale Tyrannei< Jelzins«]. Moskau (Jausa-press) 2011, S. 211, 215

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I. Vorwort

nierung des Sozialismus den point of no return zu erreichen und Russland gemäß den Forderungen des Washington Consensus*4 brutal in ein Land des ungezügelten Kapitalismus umzuwandeln. Damit brachte er Russland an den R and des Ze rfalls, was schließlich selbst die Amerika ner beunru­ higte (unter anderem, weil Russland Atommacht ist). Das Verdienst Putins sehe ich darin, dass er durch seine vorsichtige Politik das Land aus einer kritischen Lage herausgeführt hat. Aber von Anfang an blieb er, so wie Jelzin, ein Anhänger des kapitalistischen Weges für Russland, und zwar in dessen asozialer Form. Er führte damit den Weg Russlands in eine soziale, politische, wirtschaftliche und geistige Sackgas­ se fort. Nach Ablauf von mehr als zwanzig Jahren dieser »Entwicklung« Russlands muss deshalb die Frage gestellt werden: »Wird R ussland weite­ ren solchen Stabilitätsprüfungen standhalten können?« Der erste Anstoß zur kapitalistischen Umgestaltung Russlands, zu sei­ nem »Gang durch die Hölle der Bourgeoisie«5, kam, wie gesagt, von au­ ßen - durch die Machtelite der USA. Diese verstand nur zu gut, wie lebens­ wichtig es für sie war, den Weg zur Entwicklung und Vervollkommnung des sozialistischen Systems als erfolgreicher Antithese zum Kapitalismus zu versperren. Mithilfe von sowjetischen Renegaten und politisch entar­ teten Elementen, die in den Dienst von Uncle Sam übergelaufen waren, wurde dieses Ziel nach dem Staatsstreich Jelzins im Dezember 1991 er­ reicht. Der amerikanischen Machtelite war es gelungen, die Sowjetmacht rücklings zu Fall zu bringen, ohne e inen einzige n Schuss abgefeuert oder auch nur einen einzigen Tropfen Blut ihrer Soldaten vergossen zu haben. Danach wurde die »leise Eroberung« Russlands vollzogen. Eine wichtige Rolle spielten dabei geheime, subversive Methoden der Einflussnahme. So stellte es für die Politik der USA keine besondere Schwierigkeit dar, die »kapitalistische Umwandlung« Russlands durchzuführen und das Land als Haupthindernis für die Verwirklichung der globalen Pläne der USA aus dem Weg zu räumen. Über diese traurige und tragische Geschichte unseres Volkes und Lan­ des sind schon viele Forschungsarbeiten veröffentlicht worden. Aber noch vieles von diesen Ereignissen, welche das Volk Russlands durchlebte, bleibt 4 Die mit einem Sternchen gekennzeichneten Sachbegriffe werden im Sachver­ zeichnis, Abkürzungen im Abkürzungsverzeichnis näher erläutert. 5 Es handelt sich hier um eine Anspielung auf die altslawische apokryphe Schrift Chozhdjénie Bogoródizy po múham (»Gang der Gottesmutter durch die Qualen [der Sünder in der Hölle]«) aus dem 12. Jh., in der die Gottesmutter Jesus um Barmherzig­ keit anfleht und dieser die Sünder nur aus den Qualen der Hölle befreien will, wenn sie ihn erneut am Kreuze sterben sähe (Anm. d. Ü.).

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I. Vorwort

ein Geheimnis. Und es wird nicht wenig Zeit erfordern, um das Verbor­ gene ans Licht zu bringen. Im Grunde ist es in der Menschheitsgeschichte immer so gewesen. Wenn ich zurückschaue, kann ic h mich des Eindr ucks nicht erwehren, dass mein ganzes Leben und das meiner Altersgenossen wie auch das der vorangegangenen Generat ionen von Bürgern unseres Landes in einer Zeit ununterbrochener Wirren verlief, die schließlich in den tragischen Zusam­ menbruch der Sowjetunion mündeten und zu einem nie da gewesenen moralischen, politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technolo­ gischen und kulturellen Verfall Russlands ab den 1990er-Jahren bis ins beginnende 21. Jahrhundert mündeten. Wer aber trägt daran die Schuld - das Volk oder die Regierenden? Oder äußere Kräfte? Oder sind es alle Faktoren zusammengenommen? Auf diese Fragen müssen die richtigen Antworten gefunden und die entsprechenden Lehren aus der Vergangen­ heit gezogen werden, um Russland vor dem Schlimmsten zu bewahren.

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II. Jugendjahre: Das Begreifen des Stalinismus

ch wurde am 9. Februar 1925 in Moskau geboren. Mein Vater, Iwan Fjodorowitsch Daschitschew, gebürtig aus Brjansk, hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen und sich bis zum Unteroffizier hochgedient. Wäh­ rend der Revolution wechselte er aus ideologischen Gründen auf die Seite der Roten Armee und wurde zum »Helden des Bürgerkrieges«6, wobei er für seinen Wagemut und seine Verdienste im Kampf mit drei Rotbanner­ orden* (damals noch als einer von nur 30 Mann!) ausgezeichnet wurde. In den 1930er-Jahren konnte ich als Junge beobachten, wie einer nach dem anderen von seinen Kampfgefährten in den Mühl en der Stalin’schen Säuberungen verschwand. Mitte der 1930er-Jahre führte mein Vater den Stab des ersten Garde-Schützenkorps in Moskau an. Ich kann mich noch daran erinnern, wie erschüttert er war, als der Korpskommandeur Iwan S. Kutjakow* - im Bürgerkrieg Stabschef der Division Tschapajews* und nach dessen Verlust ihr Kommandeur - 1936 verhaftet und erschossen wurde. Doch bald schon folgten neue Erschütterungen: Nach der Erschie­ ßung von Korpskommandeur Kutjakow wurde mein Vater noch im selben Jahr in den Fernen Osten versetzt und übernahm das Komm ando der Sibi­ rischen Schützendivision in der Stadt Bikin bei Chabarowsk, Die Division war Bestandteil des Chabarowsker Schützenkorps, das von Michail W. Kalmykow* kommandiert wurde. Es verging auch kein Jahr, nachdem mein Vater seinen neuen Dienst angetreten hatte, als auch Kalmykow ver­ haftet wurde. Dieser beging während seiner Haft Selbstmord, indem er sich in die Treppenhausflucht eines mehrstöckigen Hauses mit dem Schrei stürzte: »Es lebe der Sozialismus!« Mein Vater war vollkommen verwirrt; es war ihm unmöglich, zu begreifen, warum man so mit Kalmykow abge­ rechnet hatte. Dann kam die Reihe an Marschall W. K. Blücher*, Kommandeur des Militärbezirks Fernost. Zu ihm hatte mein Vater freundschaftliche Bande geknüpft und er war oft in unserem Haus zu Gast. Mein Vater war scho­ ckiert, als er erfuhr, dass man ihn verhaftet und erschossen hatte. Er sagte

I

6 vgl. seine Erwähnung in der ersten Ausgabe der Großen Sowjetenzyklopädie (russ. Bolschája Sowjétskaja Enziklopédija - BSE), Bd. 20

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II. Jugendjahre: Das Begreifen des Stalinismus

mir damals, dass Blücher ein ehrlicher und dem Vaterla nd und der Partei ergebener Mensch gewesen sei. In der Sibirischen Schützendivision wur­ den 1937 dann der Stabschef, der Stellvertreter des Kommandierenden in politischen Angelegenheiten und zwei Regimentskommandeure verhaf­ tet. Ja selbst mein Vater wäre beinahe im Gefängnis gelandet. Ihn rettete schlicht die Tatsache, dass sein Stabschef sich im Gefängnis sogar unter Folter weigerte, eine Erklärung zu unterschreiben, dass Daschitschew ein Volksfeind sei. 1938 wurde mein Vater nach Moskau zurückgerufen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er im Fernost-Zug nach Moskau jedes Mal zusammenzuckte, wenn jemand an die Abteiltür klopfte. Für de n Fall sei­ ner Verhaftung hielt er stets einen kleinen Koffer mit dem Notwendigsten bereit. Acht M onate befand er sich in der Reserve der Personalhauptve r­ waltung der Roten Armee; es musste die Frage entschieden werden, ihn entweder »einsitzen zu lassen« oder ihm eine neue Stelle zuzuweisen. Man kann sich vorstellen, in welcher psychischen Verfassung damals mein Va­ ter wie auch meine Schwester und ich sowie unsere Mutter waren. Und in einer solchen Lage wie er befanden sich in der Armee Zehntausende. Schließlich wurde er 1939 zum Korpskommandeur in der Stadt Welikije Luki ernannt. Stabschef de s dort stationierten Korps war der Generalma­ jor T. W. Kudrjawzew, mit dessen Tochter Alexandra ich gemeinsam die sechste und siebte Klasse der Mittelschule besuchte. Wir verliebten uns ineinander und ich rettete diese Liebe über den Großen Vaterländischen Krieg* hinweg, den ich von Rostow am Don bis Prag durchlebte, und nach Kriegsende heirateten wir. Bald erwarteten meinen Vater neue Prüfungen: Sein Korps wurde in den schändlichen, verbrecherischen und vollkommen überflüssigen Finnland­ krieg* geworfen. Ihm wurde die Aufgabe gestellt, die Stadt Oulu anzugrei­ fen und so Finnland in zwei Hälften zu schneiden. Wegen der völligen Un­ wegsamkeit des Geländes auf seiner Marschroute, dem außerordentlich tiefen Schnee, dem Fehlen von entsprechenden Transportmitteln und Ski­ ern in den Truppen, wegen ihrer geringen Kampffähigkeit und der man­ gelnden Vorbereitung, unter ungewöhnlich harten Winterbedingungen kämpfen zu müssen, sah mein Vater jedoch von der Durchführung dieses Angriffs ab. Denn er drohte mit hohen Verlusten und mit einer Niederlage zu enden. Der zur Truppenaufstellung des Korps eingetroffene Lew Mech­ lis* - zu der Zeit Chef der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee (PU RKKA) und zugleich Mitglied des Kriegsrats der Leningrader Front, der »Höllenhund Stalins«, wie man ihn damals nannte - befahl meinem Vater, unverzüglich mit dem Angriff zu beginnen. Mein Vater weigerte 14

II. Jugendjahre: Das Begreifen des Stalinismus

sich, indem er erklärte, dass dies zum Verlust des Korps führen würde, doch Mechlis bestand unter Androhung einer Inhaftierung weiterhin auf seiner Anordnung. Da schlug me in Vater ihm vor, als Mitglied des Front­ kriegsrats persönlich den Befehl zum Angriff zu schreiben, was dieser auch tat. In der Folge des begonnenen Angriffs wurde eine Division7, die von General Winogradow befehligt wurde, von finnischen beweglichen Einhei­ ten in undurchdringlich zugeschneiten Wäldern ei ngekreist und erlitt eine Niederlage8. Lew Mechlis führte sich widerlich auf; in allem beschuldigte er meinen Vater. Es folgte die Degradierung meines Vaters zum Oberst; dasselbe erwartete auch General T. W. Kudrjawzew. Aber mein Vater ret­ tete ihn vor dem gleichen Schicksal, indem er die ganze Verantwortung für den Verlust der Division auf sich nahm. An den Kriegsrat der Leningrader Front erstattete er Bericht, dass er von dem vollkommen aussichtslosen und für die eigenen Truppen gefährlichen Angrif f auf die Stadt Oulu abse­ hen wollte und ihn nur aufgrund eines kategorischen schriftlichen Befehls von Lew Mechlis unternahm. So wurde ihm Recht gegeben und er wurde wieder in seinen früheren Militärrang eingesetzt. Nicht nüchternes Kalkül, nicht die Kriegskunst, fußend auf dem Bestreben, eine gestellte Aufgabe mit minimalem Verlust an Menschen und mit einer fürsorglichen Haltung zu den vorhandenen Kadern zu erfüllen, sondern ein »bolschewistischer Überfall« - dies war der Geist, der der Armee von militärischen Analpha­ beten von der Art eines Lew Mechlis eingepflanzt worden war. Aus den Erzählungen meines Vaters und den tragischen Ereignissen je­ ner Jahre gewann ich meine jugendlichen Eindrücke von dem Zustand unserer Streitkräfte am Vorabend des Großen Vaterländischen Krieges. In 7 die 44. Schützendivision 8 In der in die Kriegsgeschichte eingegangenen Doppelschlacht von Suomussalmi und an der Straße von Raate zerschlug der finnische Oberst Hjalmar Siilasvuo mit sei­ ner 9. Infanterie-Division den Stoßkeil der Roten Armee auf Oulu. Nach der beinahe vollständigen Vernichtung der sowjetischen 163. Schützendivision im Dezember 1939 bei Suomussalmi mit etwa 13.000 gefallenen und 2100 in Gefangenschaft geratenen Rotarmisten (vgl. Sander, Gordon E: The Hundred Day Winter War. Finland’s Gal­ lant Stand against the Soviet Army. Kansas [University Press] 2013, S. 192) dezimierte Siilasvuo im Januar 1940 die der 163. Division zu Hilfe geeilte ukrainische 44. Schüt­ zendivision unter dem Divisionskommandeur Aleksej Winogradow. Während die mo­ torisierte 44. Division im verschneiten Waldgelände an die Straße nach Raate gebun­ den war, wurde sie von ski-beweglichen finnischen Einheiten umgangen, eingekesselt, unablässig aus dem Schutz der Wälder heraus angegriffen und in zahlreiche isolierte Widerstandsnester aufgespalten, wobei sie 1001 Gefallene, 1430 Verwundete und 2243 Vermisste verlor (vgl. Irincheev, Bair: War of the White Death. Finland against the Soviet Union 1939-40. Barnsley/South Yorkshire [Pen and Sword Books] 2011, S. 115; Anm. d. Ü.).

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II. Jugendjahre: Das Begreifen des Stalinismus

der Folgezeit, während der Chruschtschow’schen Tauwetterperiode*, als ich in der Militärwissenschaftlichen Verwaltung des Generalstabs arbeite­ te, erfuhr ich aus Dokumenten, dass den Stalin’schen Säuberungen 42.000 Armeeangehörige der höheren und mittleren Führungsebene zum Opfer gefallen waren. Am Vorabend des Zusammenpralls mit dem deutschen Nationalsozialismus war die Rote Armee praktisch enthauptet. Dies erklärt insbesondere, warum Stalin eine panische Angst vor einem Krieg mit Deutschland hatte und sogar Maßnahmen zur Herstellung der Gefechtsbereitschaft unserer Streitkräfte noch bis kurz vor dem 22. Juni 1941 verbot, um - wie er meinte - nur ja keinen Angriff der Wehrmacht »zu provozieren«. Eine größere politische Schizophrenie, Kurzsichtigkeit und Dummheit kann man sich kaum vorstellen. Aber in einer Atmosphäre der durch die massenweisen Repressionen hervorgerufenen allgegenwär­ tigen Angst wagte niemand, Stalin zu widersprechen. Als dann aus Pres­ semeldungen und anderen Quellen bekannt wurde, dass die Wehrmacht kurz vor dem Einmarsch stand, belegte der Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (GRU)*, General Filipp I. Golikow*, diese Berichte krieche­ risch mit der Resolution: »Das ist eine Provokation.« Vor diesem Hin­ tergrund erscheinen die Versuche des geflüchteten sowjetischen Auslands­ spions Viktor Suworow (Wladimir Resun)*, nachzuweisen, dass Stalin 1941 angeblich einen Präventivkrieg gegen Hitler beabsichtigte, geradezu lächerlich. Nebenbei bemerkt waren mir während meiner Tätigkeit in der Militärwissenschaftlichen Verwaltung des Generalstabs viele Dokumente zugänglich, die mit der Planung der sowjetischen Kriegsstrategie zu tun hatten. Darunter fielen mir keine Dokumente in die Hand, die bezeugt hätten, dass das sowjetische Oberkommando einen Präventivkrieg gegen Deutschland vorbereitete. Erst im reiferen Alter wurden mir die Gründe für die Stalin’schen Mas­ senrepressionen klar, die nicht nur gegen die militärische^ sondern auch gegen die Eliten in Partei, Verwaltungsapparat, Wissenschaft, Erziehungs­ wesen, Ingenieurswesen, Landwirtschaft und Kirchen gerichtet waren. Es ging dabei in keiner Weise um sogenannte »Volksfeinde«. Von Beginn der Entstehung des sowjetischen Staates an entfesselte sich ein grausamer Kampf um die politische M acht. Dies erklärte sich dadurch, dass der so­ wjetische Staat über keinerlei Legitimität verfügte, die aus dem Wille n des Volkes hervorgegangen wäre, sondern er gründete auf der Vorherrschaft von sich zerfleischenden Widersprüchen, persönlichen Ambitionen und Intrigen der höheren Parteinomenklatura - de facto einer sektiererischen, verschwörerischen Organisation, die im Namen der messianischen Dog­ men des Marxismus und später des Leninismus und Stalinismus handelte. 16

II. Jugendjahre: Das Begreifen des Stalinismus

An die Spitze der Macht gelangten keinesfalls die Fähigen aufgrund ihres Wissens, ihrer Bildung, ihrer politischen wie überhaupt ihrer Kultur, ihres guten Gesundheitszustands, um sich mit der Lenkung des Staates zu be­ fassen. Dies trifft übri gens alles auch auf Stalin zu, der an einer Paranoia litt, mit allen sich daraus ergebenden Folgen für Volk und Land, für den Sozialismus und seine Zukunft. Der von Trotzki, Lenin und ihren Gesinnungsgenossen entfesselte Bür­ gerkrieg und die ersten »Säuberungen« bedeutete n für das russische Volk als namensgebender, staatstragender Nation gigantische, unwiederbring­ liche Verluste, vor allem unter der intellektuellen Elite. Zur Durchsetzung seiner Einmanndiktatur, die durch nichts und niemanden begrenzt war, schuf Stalin im Land eine Atmosphäre der allgegenwärtigen Angst und Unterwürfigkeit. Dafür griff er zum Mittel des Völkermords. Auf seinem Gewissen lastet der Tod von Millionen »Kulturträgern« der Nation, die Vernichtung der geistigen Erbmasse unseres Volkes. Das ist der eigentli­ che Grund, warum ungebildete Führer ans Ruder des Staates gelangten und Hunderttausende ebenso einfältige Parteibeamte minderen Ranges. Am auffälligsten verkörperte diesen Typus in der Folgezeit die Figur Boris Jelzin, der bisher die beschämendste Rolle in der Geschichte Russlands gespielt hat. Wie vielen Millionen sowjetischer Bürger gelang es auch meinem Vater nicht, einer Inhaftierung zu entgehen. Dies geschah aber schon während des Krieges. Zu Beginn der Krie gshandlungen befehligte er das 35. Schüt­ zenkorps, welches erfolgreich den Angriff des Feindes in der Moldau ab­ gewehrt hatte. Gegen Ende des Jahres 1941 übernahm er das Kommando über das 9. Schützenkorps und während der Kertsch-Feodossijaer Lan­ dungsoperation* dasjenige der 44. Armee, deren Befehlshaber gefallen war. Diese Armee befand sich mit ihrem Rückzugsgefecht in einer verzwei­ felten Lage. In der Kampfbeurteilung meines Vaters aus jener Zeit hieß es: »Er erwies sich als gut vorbereiteter, erfahrener Kommandeur, der die Führung der einzelnen Truppenteile im Kampf vollkommen routiniert beherrschte. Er ist diszipliniert, standfest und politisch weit entwickelt. Mit dem Gros der Befehls­ haber und Soldaten ist er verbunden und genießt Autorität.«9

Trotzdem wurde er zu Beginn des Jahres 1942 das Opfer einer neuen In­ haftierungswelle von Dutzenden von Generälen, die auf Anweisung von Stalin mit dem altbekannten Ziel der Einschüchterung, aber dieses Mal 9 Wjelíkaja Otjétscbestwjennaja. »Komandármy«. Wojénno-biografítscheskij Slowár [»Der Große Vaterländische. >Armeekommandantenkaltenheißen< Krieg reagieren und den Druck auf die Sowjetunion auf allen Gebieten stark erhöhen, sowohl in politischer, wirtschaftlicher und mili­ tärstrategischer als auch in psychologischer und propagandistischer Hinsicht. Zu einer allmählichen Rückkehr zur Entspannungspolitik könnte ein Zurückfahren unserer militärischen Aktivität in der Dritten Welt beitragen, wenn sich natürlich die Krisensituationen nicht noch auf andere Regionen, besonders auf Osteuropa, ausweiten. Das Einschwenken auf einen solchen Kurs setzt eine beträchtliche Er­ weiterung der wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und kulturellen Be­ ziehungen zu den Entwicklungsländern voraus, d. h. die Verlagerung des Schwer­ punkts auf die Anwendung friedlicher Mittel, um den Einfluss des Sozialismus in der Dritten Welt zu erhöhen, indem man diese jungen Entwicklungsländer unter­ stützt. In der jetzt gegebenen Situation ist ein Vorankommen des Entspannungspro­ zesses ohne eine Kompromisslösung in der Afghanistankrise wenig wahrscheinlich. Es ist davon auszugehen, dass Washington mit der zur Schau gestellten Propagan­ dakampagne gegen die >sowjetische Intervention< weiter fortfährt und gleichzeitig versucht, die Präsenz sowjetischer Truppen in Afghanistan maximal zu nutzen, um die Positionen der Sowjetunion weltweit zu untergraben. In diesem Fall rech­ nen die USA mit der seltenen Gelegenheit, der Sowjetunion einen langwierigen Abnutzungskrieg gegen die afghanischen Rebellen unter ausnahmslos für sie un­ günstigen Bedingungen aufzuzwingen, während sie selbst in der Position des Ja­ chenden Dritten491 verharren. Hierin gehen jedoch die Positionen Washingtons mit 91 Der Redensart des »lachenden Dritten« liegt das Sprichwort zugrunde: »Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte«, welches es in ähnlicher Form in vielen Spra­ chen gibt (Anm. d. Ü.).

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3. Über die Gesetzmässigkeiten der internationalen Beziehungen denjenigen der Regierungen Frankreichs, der BRD und anderer westeuropäischer Staaten auseinander, die der Meinung sind, dass ein solcher Kurs der Entspannung grundlegend zuwiderläuft und dass man deshalb zu einer einvernehmlichen Rege­ lung in der Afghanistanfrage gelangen müsse, solange die Voraussetzungen hierfür noch gegeben seien, indem man für die Sowjetunion Bedingungen schaffe und es ihr so ermögliche, ihre Truppen ohne Prestigeverlust aus Afghanistan abzuziehen. Im Falle unserer Unnachgiebigkeit in dieser Frage wird es den Vereinigten Staaten gelingen, Westeuropa ihren Kurs aufzuzwingen. Besondere Bedeutung erhält jetzt der Faktor Zeit. Bis zum Einsetzen des Früh­ jahrstauwetters in Afghanistan verfügen wir noch über die Freiheit für ein poli­ tisches Manöver. Mit Beginn des Sommers und erster aktiver Kriegshandlungen afghanischer Rebellen, wenn unsere Truppen in schwere Gefechte verwickelt wer­ den, wird diese Möglichkeit schwinden.«

Bald darauf gelangte mir zur Kenntnis, dass auch unser Generalstab an­ nähernd die gleiche Position vertreten und dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan widersprochen hatte. Es stellte sich zudem heraus, dass die Politik der USA zum sowjetischen Eindringen in dieses Land weit­ gehend beigetragen hatte. Der Berater der amerikanischen Regierung Zbi­ gniew Brzeziński* hatte einen äußerst hinterhältigen Plan zur Provokation der Sowjetunion ausgearbeitet. Über geheime Kanäle war der Sowjetre­ gierung eine Falschinformation zugespielt worden, dass angeblich geplant sei, amerikanische Truppen in Afghanistan abzusetzen. Dies war für das Politbüro des ZK der KPdSU der Anlass für den Beschluss, der amerikani­ schen Truppenlandung zuvorzukommen. Den USA brachte der Krieg der Sowjetunion in Afghanist an erheblic he Vorte ile, sowohl in geopolitis cher und wirtschaftlicher als auch in propagandistisch-psychologischer Hin­ sicht.92 92 Auf Anraten Brzezinskis hin unterschrieb Präsident Carter am 3. Juli 1979, also fast ein halbes Jahr vor dem sowjetischen Einmarsch, die erste Direktive für eine geheime Unterstützung der Mudschahidin. Brzeziński selbst soll diese Provoka­ tion der Sowjetunion zum Einmarsch wie folgt kommentiert haben: »Diese verdeckte Operation war eine hervorragende Idee. Sie bewirkte, dass die Russen in die afghani­ sche Falle tappten (...). Am Tag, an dem die Russen offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter: Jetzt haben wir die Möglichkeit, der UdSSR ihren Viet­ namkrieg zu liefern. Und tatsächlich sah sich Moskau während der folgenden 10 Jah­ re gezwungen, einen Krieg zu führen, den sich die Regierung nicht leisten konnte, was wiederum die Demoralisierung und schließlich den Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftsgebiets zur Folge hatte« (Interview mit Brzeziński 1998, zitiert nach dem kanadischen Globalisierungskritiker Prof. Michel Chossudovsky, http://www.globalresearch.ca/der-inszenierte-terrorrismus-die-cia-und-al-qaida/9839). »Zwischen 1982 und 1992 beteiligten sich etwa 35.000 muslimische Extremisten äus 40 islamischen Staaten am Krieg Afghanistans gegen die Sowjetunion, aktiv unterstützt durch Pakis­ tans Geheimdienst ISI und die CIA, deren gemeinsames Ziel es war, den afghanischen Dschihad zu einem weltweiten Krieg aller muslimischen Staaten gegen die Sowjet­

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VII. Die unerfüllbare Mission der sowjetischen Aussenpolitik

Sehr bald wurden diese Zusammenhänge auch für die sowjetische Füh­ rung offensichtlich. Wahrscheinlich wurde ich deshalb Ende des Jahres 1982 damit beauftragt, ein Memorandum für Jurij W. Andropow über grundsätzliche Fragen der Beziehungen der Sowjetunion zu den Ländern des sozialistischen Lagers, zum Westen und zur Dritten Welt vorzuberei­ ten. Zu Jener Zeit war ich gut mit der Problematik vertraut und machte mir eine Vorstellung davon, wie unangemes sen und schädlich der dama­ lige außenpolitische Kurs der Sowjetunion für die nationalen Interessen unseres Landes war. Ich war schon zehn Jahre lang Leiter der Abteilung für außenpolitische Probleme am IEMSS* und hatte die Gelegenheit, zu beobachten, was und wie i n unserer »staatlic hen außenpolitischen Küc he« zubereitet wurde. Das IEMSS versuchte vergeblich, Breschnew, Gromyko und anderen Führungspersonen mithilfe von etlichen Memoranden beizubringen, dass der außenpolit ische Kurs, der noch in der Stalinzeit ausge arbeitet worden war, nicht mehr den aktuellen Gegebenheiten entsprach. Die Aufbereitung dieser Materialen war eine Art »Kunst des Möglichen« für die Ratgeber der Sowjetführ ung auf allen Ebenen der politischen Planung. Nur wenige Kühne konnten sich dazu entschließen, die »Grenzen des Erlaubten« zu überschreiten und offen und ohne Umschweife der Führung ihre Meinung zu sagen. Für manche endete dies mit der Verjagung aus den leitenden Organen, wie dies z. B. dem Leiter der Beratergruppe in der Abteilung für sozialistische Länder im ZK der KPdSU, Aleksandr J. Bowin*, widerfuhr. Mir war bekannt, dass Andropow gegenüber neuen und ungewöhn­ lichen Ideen unvergleichlich toleranter und aufgeschlossener war als Breschnew und sogar dazu ermunterte, sie aufzubringen. Dies bewog mich dazu, in meinem Memorandum all es auszusprechen, was ich damals über die sowjetische Außenpolitik dachte. Das war keine leichte Aufgabe. Aber es war dringend notwendig, sie auszuführen, wenn man an die außenpoli­ tische und wirtschaftliche Sackgasse dachte, in die die Sowjetunion Ende der 1970er- / Anfang der 1980er-Jahre geraten war. Der Ernst der Lage spornte mich an, offen über die veralteten und falschen Konzeptionen der sowjetischen Außenpolitik zu schreiben. Am 10. Januar 1983 wurde mein Memorandum dem Sekretariat An­ dropows übermittelt. Auf der Grundlage der historischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts wurde dort eine allgemeine Gesetzmäßigkeit über die union auszuweiten« (zitiert nach Rashid, Ahmed: The Taliban: Exporting Extremism, in: Foreign Affairs, November/Dezember 1999). Auch nach der Auflösung der Sowjet­ union riet Brzeziński zu einer anhaltenden Destabilisierung der russischen Südgrenze als Teil der US-Strategie, »die einzige Weltmacht« zu werden.

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3. Über die Gesetzmässigkeiten der internationalen Beziehungen

Entstehung und Entwicklung von globalen Konfrontationen abgeleitet, die »negative Rückkopplung« oder »Abwehrreaktion«, die immer dann ausgelöst wird, wenn eine Großmacht versucht, ihre Werte und ihre Ord­ nung anderen Staaten aufzuzwingen, um ihre Vorherrschaft zu errichten. Diese Gesetzmäßigkeit hat in ihrer Bedeutung bis heute nichts eingebüßt. Das Hauptaugenmerk wurde in dieser Analyse auf die Probleme des Rückzugs der Sowjetunion aus dem sinnlosen Zustand einer unnötigen und gefährlichen Konfrontation mit dem Westen gerichtet, die die besten Kräfte unseres Landes verschlang und es unmöglich machte, wichtigere Aufgaben der inneren Entwicklung in Angriff zu nehmen. Im Grunde ging es um Wege zur Beendigung des Kalten Krieges. Eine solche historische Aufgabe konnte nur auf dem Wege einer radikalen Revision der ideologi­ schen Prinzipien der dama ligen Politik, vor allem durch den Verzicht a uf den »Klassenkampf« im internationalen Maßstab und auf die messiani­ sche Rolle der Sowjetunion als »treibende Kraft« einer »kommunistischen und nationalen Befreiungsbewegung« gelöst werden, die der Grund für die sowjetische Expansion und die Einmischung in die inneren Angele­ genheiten anderer Staaten waren. Dies musste zwangsläufig zu entschei­ denden Veränderungen führen: zum Verzicht auf die Breschnew-Doktrin der »beschränkten Souveränität« und auf die Konzeption der »strategi­ schen Parität« mit dem Westen, zur Herstellung gleichberechtigter, part­ nerschaftlicher Beziehungen zu den sozialistischen Ländern Osteuropas und anderer Regionen. Nur so konnte man die Intensität einer »nega­ tiven Rückkopplung« der Westmächte in der Abwehr der sowjetischen Expansion abschwächen und die Bedingungen für einen politischen Inte­ ressensausgleich mit dem Westen zur Ingangsetzung eines wirklichen Ab­ rüstungsprozesses, zur Beseitigung der Gefahr eines Atomkriegs und zur Überwindung des Kalten Krieges schaffen. Das Memorandum trug auf den ersten Blick den eher abstrakten Ti­ tel »Methodische Aspekte zur Bestimmung des Ausmaßes einer Kriegsge­ fahr«. In Wirklichkeit verbargen sich hinter diesem Titel die Erörterung der brisantesten Fragen der damaligen sowjetisc hen Politik und das Vor­ bringen einer ganzen Reihe von Vorschlägen zu ihrer grundlegenden Ver­ änderung. Im Grunde sah dies für die damalige Zeit nach einer ziemlich herausfordernden Aufsässigkeit aus, die in graue Theorie gekleidet war. Unter Breschnew, der sehr empfindlich auf alle innovativen Ideen re ­ agierte und darum bemüht war, nicht von der Stalin’schen Konzeption der Außenpolitik abzuweichen, war es unmöglich, an die Vorlage solcher Ideen zur Prüfung auch nur zu denken. Aber nachdem im November 1982 Andropow zum Generalsekretär des ZK der KPdSU gewählt wor­ 115

VII. Die unerfüllbare Mission der sowjetischen Aussenpolitik

den war, kam vieles in Bewegung. Er, der viele J ahre (1967-1982) Vorsit­ zender des KGB gewesen war, wusste besser als alle anderen, dass hinter der Breschnew’schen Fassade der scheinbaren Stabilität Prozesse in Gang gekommen waren, die verheerende Folgen für die damalige sowjetische Gesellschaft haben konnten. Ihm war klar, dass die wirtschaftliche und so­ ziale Effizienz des in der Sowjetunion her rschenden Systems ganz und gar nicht den üblichen Standards der damaligen gesellschaftlichen Entwick­ lung entsprach und sich zu einer politischen Bedrohung der Sowjetmacht als solcher auszuwachsen drohte. Auf vielen Gebieten war die Sowjetuni­ on nicht in der Lage, mit dem Westen Schritt zu halten. Es war offensichtlich, dass die übermäßig zentralisierte Durchplanung aller Lebensbereiche und der allmächtige bürokratische Apparat die ge­ sunde Entwicklung der Gesellschaft hemmten. In der Ära Breschnew sum­ mierten sich hierzu die Keime der Zersetzung der Moral, der Ethik, der Disziplin und Verantwortlichkeit, die weite Verbreitung von Zynismus und Fahrlässigkeit und die Abweichung von den sozialistischen Werten. Es verschwand die ehemals reine Lehre des Kommunismus. Als überzeugter Kommunist und schöpferischer Geist war Jurij W. An­ dropow gewillt, die Mängel zu beseitigen, die sich in der sowjetischen Gesellschaft und Politik angehäuft hatten. Die Experimente Andropows zur Dezentralisierung von Planung und Verwaltung der Wirtschaft, zur Erweiterung der Selbstständigkeit und des Handlungsspielraums für Un­ ternehmen und Kollektive sowie zur Stärkung der Moral stießen auf den Widerstand der konservativen, dogmatisch gesinnten, überalterten Funk­ tionäre im Politbüro, im ZK wie auch in der Regierung. Und dennoch vermochte er in seiner kurzen Amtsperiode als Generalsekretär in der Ge­ sellschaft Erwartungen und Hoffnungen auf Reformen des verknöcherten Sowjetsystems zu wecken. Mir schien, dass auch in der Außenpolitik po­ sitive Veränderungen möglich wurden. In der Hoffnung darauf war auch mein Memorandum verfasst, das ich hier zitieren möchte: »In den 1980er-Jahren ist die Gefahr eines neuen Weltkrieges bedrohlich ange­ wachsen. Ähnelt diese Gefahr früheren, schon da gewesenen Krisensituationen, die letztlich nicht zum Krieg geführt haben? Oder ist die Gefahr eines dritten Weltkriegs jetzt bedeutend realistischer? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, die Gründe und den Mechanismus der Entstehung eines Weltkriegs zu bestimmen. Wenn sie einen allgemeinen Charakter haben, kann man darauf hoffen, einen systemanalytischen Zugang zu solchen Fragen wie der Entstehung von Kriegen und möglicher Maßnahmen zu ihrer Vermeidung zu gewinnen. Dies wird auch dazu beitragen, den gegenwärtigen Stand der Kriegsgefahr festzustellen, die über der Menschheit schwebt.

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3. Über die Gesetzmässigkeiten der internationalen Beziehungen Doch bevor wir zur Lösung dieser Aufgabe übergehen, müssen wir zunächst die wesentlichen typischen Merkmale von Weltkriegen formulieren. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Die Entstehung von Weltkriegen als globales Phänomen ist mit der Bildung eines zusammenhängenden Systems internationaler Beziehungen verbunden, das in seine Umlaufbahn immer neue Teilnehmerstaaten der Weltgemeinschaft mit einbezogen und - je weiter, desto mehr - den Grad ihrer gegenseitigen Abhängigkeit, des komplexen Zusammenwirkens ihrer nationalstaatlichen In­ teressen und der Verflechtung ihrer gegenseitig gewährleisteten Sicherheit ver­ stärkt hat. >Die Menschenleben in einem Staat, jeder Staat aber lebt in einem System von Staaten, zwischen denen ein bestimmtes politisches Gleichgewicht besteht.Errungenschaften< des mensch­ lichen Geistes im Bereich der Atom-, Raketen-, elektronischen, Laser- und anderer Arten der Technik haben dem Weltkrieg schließlich apokalyptischen Charakter verliehen und die menschliche Zivilisation der Gefahr der Selbstver­ nichtung ausgeliefert. 4. Als Gründe für Weltkriege traten besondere, mit den üblichen politischen Me­ thoden nicht gelöste Gegensätze auf. Die letzten beiden Weltkriege waren die Folge einer Entwicklung von Widersprüchen innerhalb des kapitalistischen Systems. Nach 1945 verlief die Wasserscheide der Gegensätze zwischen den kapitalistischen und sozialistischen Ländern und nun steht die Menschheit an der Schwelle eines dritten Weltkrieges, gerade infolge der extremen Zuspitzung dieser Gegensätze im globalen Maßstab. 5. Nicht ein einziger Weltkrieg kam unerwartet. Sein Herannahen wurde gesehen und verstanden. Es wurden auch Versuche unternommen, ihn abzuwenden, je­ doch ist dies in keinem Fall bisher gelungen. All dies lässt darauf schließen, dass 93 93 * *

93 Lenin, Wladimir Iljitsch: Rede in der Aktivversammlung der Moskauer Orga­ nisation der KPR(B), Referat über die Konzessionen, 6. Dezember 1920, in: Lenin, Werke, Bd. 31, Berlin (Dietz Verlag) 31966, S. 434-454, hier: S. 438

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VII. Die unerfüllbare Mission der sowjetischen Aussenpolitik Weltkriege infolge eines bestimmten Prozesses entstehen, den bis ins Letzte zu verstehen, abzuwenden oder anzuhalten noch nicht gelungen ist. Machen wir uns also auf die Suche nach diesem Prozess, indem wir systematisch vorgehen.«

Im Folgenden machte ich mit Blick auf die Hegemonialpolitik von Groß­ mächten auf das Phänomen der »negativen Rückkopplung« aufmerksam, auf das ich be reits eingegangen bin. Diese Politik führt immer zur Bildung von Gegenbündnissen. Kommt es zum Krieg, setzt die Bündnisautoma­ tik schlagend ein und es kommt zur Niederlage einer die ser Großmächte. Nach diesem Krieg wird dann die Hegemonialpolitik in neuer Konstella­ tion fortgesetzt. Nach dem Ersten Weltkrieg allerdings, so argumentierte ich weiter, »entstand in Europa eine qualitativ neue internationale Lage, die die traditionelle Gruppierung und das Gleichgewicht der Kräfte auf dem Kontinent grundlegend veränderte. Diese war das Ergebnis des Sieges der Großen sozialistischen Okto­ berrevolution in Russland und der Bildung des sowjetischen Staates - des Vorbo­ ten einer neuen Gesellschaftsordnung - als Gegenspieler zum Kapitalismus. Vom Standpunkt der Betrachtung unseres Untersuchungsgegenstands aus ist es wichtig, zu betonen, dass dieses Ereignis weitreichende internationale Folgen nach sich zog, indem es zu den alten Widersprüchen innerhalb des Imperialismus einen neu­ en schier unlösbaren Knoten von Gegensätzen zwischen dem sowjetischen Staat und den kapitalistischen Ländern hinzufügte, denen gesellschaftspolitische und ideologische Faktoren zugrunde lagen. Dies hatte tief greifende Auswirkungen auf die Wirkungsweise der negativen Rückkopplung und die Bildung eines europäi­ schen Kräftegleichgewichts. Die Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns, die Revolution, der Bürgerkrieg und das Nachkriegselend in Russland führten dazu, dass die be­ herrschende Stellung in der europäischen Politik Frankreich und Großbritannien einnahmen. Sie diktierten den europäischen Völkern den unglückseligen Frieden von Versailles, der schon von Beginn an den Keim eines künftigen Weltkriegs in sich barg. Das Bestreben jeder dieser Mächte, in Europa eine Hegemonialstellung einzunehmen, lähmte die Wirkung der negativen Rückkopplung. Dies konnte ver­ hältnismäßig leicht vonstattengehen, weil sich erstens ihre Ansprüche gegenseitig ausglichen und zweitens ihre Kräfte für die beanspruchte Rolle nicht ausreich­ ten. Für die Sowjetunion stellten sich Großbritannien und Frankreich damals als Mächte dar, von denen die Hauptgefahr für die sozialistischen Errungenschaften ausging. Deshalb nahm auch die Herausbildung der Gegensätze zwischen ihnen die schärfsten Formen an. Diese Gegensätze wurden selbst dann noch überbe­ wertet, als die Hauptgefahr für die Errungenschaften des Sozialismus längst vom deutschen Faschismus ausging. Deutschland nutzte die Spaltung zwischen den Staaten des ehemaligen Gegenbündnisses geschickt, um seine militärische Schlag­ kraft wiederherzustellen und um mit noch weiter gesteckten Expansionsplänen aufzutreten als noch zur Kaiserzeit. Doch damit stellte es zwangsläufig das einstige Gegenbündnis gegen sich auf noch breiterer, globaler Grundlage wieder her, was zur vernichtenden Niederlage des faschistischen Deutschland führen musste. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Wirkung der negativen Rückkopp­ lung noch komplexer und intensiver. Die Gründe hierfür lagen in der Konfron­

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3. Über die Gesetzmässigkeiten der internationalen Beziehungen tation zwischen den Kräften des Kapitalismus und des Sozialismus unter den qualitativ veränderten Bedingungen des Atomzeitalters und der wissenschaftlichtechnischen Revolution. Dies wurde noch überlagert durch den Einfluss solcher Faktoren von globaler Bedeutung wie das Heraustreten des Sozialismus aus dem Rahmen eines einzigen Landes und die Entstehung von weiteren sozialistischen Ländern in Osteuropa, im Fernen Osten, in Südostasien und anderen Weltregio­ nen, den Zusammenbruch des westlichen Kolonialreichs und das nie da gewesene Ausmaß von nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen. Unmittelbares Ergebnis des Zweiten Weltkriegs war die massive Schwächung der einst führenden kapitalistischen Mächte - außer den USA -, die von dem Krieg profitiert hatten und erstarkt waren. Deutschland und Japan waren vernichtend geschlagen worden und schieden aus der Zahl der Großmächte aus. Großbritan­ nien und Frankreich wurden zweitrangige Mächte. Die restlichen Staaten Westund Osteuropas befanden sich in der unsicheren Lage des wirtschaftlichen Ruins und der sozialen Unruhen, beeinflusst durch die Diskreditierung des Kapitalismus und das enorme Anwachsen antifaschistisch-demokratischer Stimmungen. Auf der anderen Seite festigten sich die Positionen der Sowjetunion erstaunlich. Ihre militärische Schlagkraft und ihre moralische und politische Autorität erreichten ungeahnte Höhen. Unter diesen neuen Bedingungen erschien es als einzig richtig, die gewaltig angewachsene Macht der Sowjetunion, besonders ihre militärische Schlagkraft, zu nutzen, um den Sozialismus weiter voranzubringen und Positionen vom kapi­ talistischen Westen wieder zurückzuerobern. Dieser Weg wurde auch beschritten. Historisch gesehen war er auf den ersten Blick verständlich und gerechtfertigt. Doch dadurch wurde der Schwerpunkt des Klassenkampfes gleichsam auf die zwi­ schenstaatlichen Beziehungen der UdSSR zu den Westmächten mit den Vereinig­ ten Staaten an ihrer Spitze verlagert. Dies bestimmte die nachfolgende Entwick­ lung der wesentlichen internationalen Prozesse im Weltgeschehen und führte zu Konsequenzen, die in den ersten Nachkriegsjahren schwer vorauszusehen waren. Besonders betrifft dies das Anwachsen der Gefahr eines Atomkriegs. So wurde als Ergebnis des beispiellosen Erstarkens der Sowjetunion, ihres Übergangs zum aktiven Angriff auf die Positionen des Weltkapitalismus, die ne­ gative Rückkopplung in Gang gesetzt, die früher oder später die Mehrheit der Großmächte weltweit gegen sie vereinen sollte. Schon gegen Ende des Krieges waren die ersten Anzeichen des Zerfalls des einstigen Gegenbündnisses sichtbar geworden: Geleitet von der Befürchtung, dass das in Ost- und Mitteleuropa ent­ standene Machtvakuum von der Sowjetunion aufgefüllt werden könnte, gingen die Westmächte daran, eine neue, diesmal antisowjetische Allianz zu bilden, die auch einen Teil des besiegten Deutschland mit einschließen sollte. Es brauchte nur vier Jahre, bis dieses neue Bündnis - die NATO - Wirklichkeit wurde. Sie wurde mit den Strategien der >EindämmungZurückdrängensatomaren Abschreckungflexiblen Reaktion< u. a. ausgerüstet. In den ersten Nachkriegsjahren wurde die Realität eines gefährlichen Zusam­ menschlusses des Westens gegen die UdSSR nicht oder nur schwach erkannt - ge­ nauso, wie am Vorabend des Ersten und Zweiten Weltkriegs die Führungsspitze Deutschlands nicht erkannte, dass sie mit ihren Handlungen im Begriff war, ein Gegenbündnis gegen sich zusammenzuschweißen. Hier wirkte sich auch die Über­ schätzung der inneren Widersprüche des Imperialismus von unserer Seite schäd­ lich aus.

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VII. Die unerfüllbare Mission der sowjetischen Aussenpolitik Indem sie sich in Theorie und Praxis mit der Rolle des Anführers, der Füh­ rungsmacht, des ,Bollwerks des sozialistischen Lagers4, identifizierte, wie man das damals nannte, lud sich die Sowjetunion damit die ungeheuer schwere Last des wirtschaftlichen und politischen Kampfes gegen die Hauptmächte des Imperialis­ mus auf. Das Nachkriegsgefüge der internationalen Beziehungen nahm für zehn bis 15 Jahre einen bipolaren Charakter an. Ein einziger Schritt voran auf diesem Weg reichte aus, damit die Logik des Kampfes zu weiteren Schritten zwang, indem sie immer weiter vorwärtsdrängte, ins Ungewisse hinein. Diese Logik wirkt auch heute mit unerbittlicher Kraft bei einer neuen Generation und neuen Staatsfunk­ tionären weiter, nachdem das Schwungrad der Konfrontation lange Jahre fast bis zum Äußersten beschleunigt wurde, sodass es unglaublich schwer ist, es zu ver­ langsamen, geschweige denn, es anzuhalten. Der Lauf der Ereignisse hat auch die Berechnungen nicht gerechtfertigt, wo­ nach alle Länder, die auf dem Weg der Entwicklung zum Sozialismus gefestigt wurden, die führende Rolle der Sowjetunion anerkennen würden und die Bezie­ hungen zwischen der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern auf der gleichen Grundlage aufgebaut werden könnten, wie sie dem innerparteilichen Prinzip des >demokratischen SozialismusExpansion< ständig weiter vorantreibt und ihre hegemoniale Einflusssphäre ausdehnt. Zum Beweis werden im Westen folgende Argumente angeführt: 1. In den Jahren 1939 und 1940 hatte sich die Sowjetunion Estland, Lettland und Litauen, die Westukraine und Westweißrussland, Bessarabien und einen Teil Finnlands einverleibt. 2. Im Zeitabschnitt von 1945 bis 1950 errichtete sie ihre Vorherrschaft über die Länder Ost- und teilweise Mitteleuropas, annektierte die Karpato-Ukraine und einen Teil japanischer Inseln. 3. In den 1960er-Jahren unternahm sie erste Versuche, ihre Einflusssphäre auf den Nahen Osten, Südostasien und andere Weltregionen (Ägypten, Indonesien u. a.) auszudehnen. 4. In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre >schoss sie über das Ziel hinaus< und überschritt die Grenzen der bereits geschaffenen Einflusssphären, indem sie ak­ tiv in den Nahen Osten, nach Afrika, nach Südost- und Südwestasien und Mit­ telamerika eindrang (vgl. Jemen, Angola, Äthiopien, Mosambik, Afghanistan usw.). 5. Die Erweiterung der sowjetischen Einflusssphäre war von einem steten An­ wachsen der militärischen Schlagkraft der Sowjetunion begleitet. In der Folge war sie in der Lage, am Beginn der 1980er-Jahre die Forderung nach einem >militärstrategischen Gleichgewicht zwischen den Kräften des Imperialismus und des Sozialismusglobaler Expansion< der Sowjetunion in Verbindung gebracht. 6. Die sowjetische Regierung verhehlt nach Angaben westlicher Politiker ihre weltpolitischen Ziele nicht, wovon die eine Zeit lang gebrauchte Losung ,Wir werden euch begraben4 zeugt, und später das ständige Betonen in offiziellen so­ wjetischen Verlautbarungen und programmatischen Dokumenten des eigenen Bestrebens, das Kräfteverhältnis in der Welt zugunsten des Sozialismus (fak­ tisch jedoch der UdSSR) und zum Nachteil des Kapitalismus (der Westmäch­ te) verändern zu wollen, sowie die Behauptung, dass eine solche Veränderung schon ungebrochen sei, und die offene Zielsetzung der verstärkten Einfluss­ nahme des realexistierenden Sozialismus (also der UdSSR) auf den Gang der Weltereignisse usw. Im Zusammenhang mit dieser Einschätzung des Wesens der Absichten und Handlungen der sowjetischen Führung betrachten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten alle Ereignisse und Phänomene des Weltgeschehens und selbst progressive gesellschaftliche Prozesse innerhalb einzelner Länder ausschließlich durch das Prisma der Konfrontation mit der Sowjetunion. Dies erschwert unbe­ streitbar die Tätigkeit progressiver Kräfte, Bewegungen, Parteien und Organisa­ tionen in der kapitalistischen Welt und in den Entwicklungsländern, die dadurch Massenrepressionen und unnötigem Beschuss vonseiten des Westens ausgesetzt werden. Dabei erweist es sich, dass die objektive Kehrseite der engen ,Anbindung4 der antiimperialistischen Bewegungen an die Sowjetunion eine Einengung und Begrenzung der Entfaltungsmöglichkeiten von Prozessen sozialer und nationaler

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VII. Die unerfüllbare Mission der sowjetischen Aussenpolitik Befreiung darstellt, ganz zu schweigen yon der Tatsache, dass dies das sowjetische Wirtschaftspotenzial gefährdet. In Wirklichkeit leiden darunter die Interessen des Weltsozialismus. Dies ist die groteske Logik der Geschichte. Interessant ist auch die Betrachtung der Frage, wie sich die Wirkung der ne­ gativen Rückkopplung und die Entspannung in den Beziehungen zwischen der UdSSR und den USA, und im größeren Kontext zwischen Ost und West, zuein­ ander verhalten. Bedeutet das Aufkommen des Phänomens der Entspannung zu Beginn der 1970er-Jahre die Negierung der negativen Rückkopplung als einer bestimmten Gesetzmäßigkeit des internationalen Lebens? Unserer Ansicht nach wäre dies eine falsche Schlussfolgerung. Das Aufkommen der Entspannung wurde durch eine Reihe objektiver Gründe und Überlegungen westlicher Politiker über die Verlagerung der Konfrontation mit der Sowjetunion auf eine andere Ebene hervorgerufen. Einerseits hatten die führenden kapitalistischen Staaten zu Beginn der 1970er-Jahre ihre Schwierig­ keiten aus der Nachkriegszeit überwunden, sich in wirtschaftlicher und gesell­ schaftspolitischer Hinsicht stabilisiert und in der Folge waren zudem drei mäch­ tige Zentren kapitalistischer Kräfte entstanden: die USA, Westeuropa und Japan. Andererseits hörte die sozialistische Welt infolge der Spaltung zwischen China und der UdSSR, der erheblichen Aufgliederung der Positionen sozialistischer Län­ der und des Anwachsens der Gegensätze zwischen ihnen auf, ein monozentrischer Block zu sein. Nach Einschätzung des Westens war es der Sowjetunion in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht gelungen, in der Dritten Welt entscheidende Brü­ ckenköpfe und Stützpunkte für die Ausdehnung ihrer Einflusssphäre zu schaffen. All diese Prozesse liefen vor dem Hintergrund des Bestrebens der Sowjetuni­ on ab, wenn nicht ein Gleichgewicht mit den USA hinsichtlich der Bewaffnung mit Atomraketen, so aber doch mindestens ein ausreichendes Rüstungsniveau der Atomraketentruppen zu erreichen, das es für die USA unannehmbar machte, einen globalen atomaren Konflikt zu riskieren. Unter diesen Voraussetzungen nahmen die westlichen Politiker natürlich friedliche Mittel ins Visier, um ihre antisowje­ tischen politischen Ziele zu erreichen, und bedienten sich dabei besonders der Stimulierung der Zentrifugalkräfte in der sozialistischen Welt. Im Falle des Er­ folges versprach dies dem Westen eine weitere Schwächung der internationalen Positionen der UdSSR und das Schrumpfen der Basis ihrer Einflussnahme. Zur Durchführung einer solchen Politik waren die Abkehr vom Kalten Krieg, die He­ rausnahme der Schärfen in den gegenseitigen Beziehungen mit der UdSSR, die Entfaltung einer Zusammenarbeit mit ihr und das Erreichen von Kompromiss­ absprachen in einer breiten Palette von Problemen erforderlich. Dies entsprach auch den Interessen der sowjetischen Politik. So begann die Entspannungspolitik Anfang der 1970er-Jahre zuzunehmen und erreichte ihren Höhepunkt auf der gesamteuropäischen Konferenz von Helsinki [KSZE*]; danach ließ sie nach und wurde schließlich durch einen Zustand der äußersten Anspannung im Verhältnis zwischen der UdSSR und dem Westen zu Beginn der 1980er-Jahre abgelöst. Offensichtlich war der Entspannungsprozess für die USA und ihre Verbün­ deten nur dann weiterhin annehmbar, solange die Sowjetunion ihrerseits an der Beobachtung und Bewahrung des weltpolitischen und militärstrategischen Status quo festhielt, wie er sich zu Beginn der 1970er-Jahre herausgebildet hatte. Doch dies war nicht der Fall. Aus Sicht des Westens nutzte die Sowjetregierung den Entspannungsprozess aktiv für die Erhöhung ihrer militärischen Schlagkraft, um auf dem Gebiet der Atomraketen Parität mit den USA im Speziellen und mit den

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3. Über die Gesetzmässigkeiten der internationalen Beziehungen gegnerischen Mächten insgesamt zu erreichen. Zweitens nutzte sie die durch das >Vietnam-Syndrom< hervorgerufene >außenpolitische Lähmung< der USA, um ihre Interessen in Afrika, im Nahen Osten und in anderen Weltregionen weiter voran­ zubringen. Dadurch gelangte der Westen zu dem Schluss, dass die Sowjetführung ihre Expansionspläne nicht aufgegeben hatte. Dies ebnete den Weg für die reakti­ onärsten und zügellosesten Vertreter des Imperialismus in den USA und anderen NATO-Ländern zur Macht, die das Ruder der Politik scharf wieder in Richtung Konfrontation herumrissen. Für die Sowjetunion hatte der Entspannungsprozess die einzigartige Gelegen­ heit eröffnet, 1) ihr Bestreben unter Beweis zu stellen, die Konfrontation mit dem Westen auf ein Minimum zurückzufahren und dadurch den Prozess der Erstar­ kung des Gegenbündnisses abzuwenden, 2) all ihre Energie und Ressourcen nun­ mehr der Lösung innenpolitischer Aufgaben der sozioökonomischen Konsolidie­ rung des Landes und der intensiven Entwicklung der Wirtschaft zuzuwenden, was die Wirkung der negativen Rückkopplung sogar verringern und das Gegenbünd­ nis schwächen musste, 3) das Hinterland abzusichern und das ganze System der Beziehungen und der Zusammenarbeit im Rahmen von RGW und Warschauer Pakt auf der Basis sozialistischer Partnerschaft zu festigen, 4) neue Wege und For­ men zur Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegungen zu finden, die dem Entspannungsprozess nicht schadeten. Diese seltene Chance wurde leider vertan und die Sowjetunion sah sich von Neuem einem beispiellosen Druck vonseiten des Imperialismus ausgesetzt. Diese politische Kehrtwende kostete die Sowjetunion (im Vergleich allein zu den Mili­ tärausgaben der USA) im Jahrfünft 1981-1986 1,5 Billionen Dollar, wenn nicht sogar mehr, und rief ein gefährliches Anwachsen der militärischen Spannungen hervor. Die Erfahrung aus der Geschichte zeigt, dass in einer Konfrontation ein be­ stimmter Wendepunkt eintritt, wenn weitere Verschiebungen im politischen und militärstrategischen Kräfteverhältnis für das Gegenbündnis ganz und gar unan­ nehmbar werden - dann geht es zu entschiedenen Gegenmaßnahmen über und macht dabei auch vor extremen Mitteln nicht halt. Vor dem Zweiten Weltkrieg ist dieser kritische Moment eingetreten, als Deutschland die Tschechoslowakei annektierte. Es wurde klar, dass Hitler die Absicht hatte, das europäische Kräfte­ gleichgewicht zu zerstören, um anschließend gegen seine Hauptgegner im Westen und Osten Europas vorzugehen. Deshalb reagierten die Westmächte auf seinen weiteren Schritt des Angriffs auf Polen mit der Kriegserklärung. Hätte Hitler im September 1939 Polen angegriffen, wenn er vorher gewusst hätte, dass sich bald danach die ganze Welt gegen ihn verbünden würde? Er hätte dann wohl' kaum riskiert, einen Weltkrieg anzuzetteln. Rein formal hatte er den Krieg ja zudem auch nicht begonnen; er hatte ihn durch seine Handlungen provoziert, die aus sei­ ner allgemeinen Konzeption der Errichtung der Vorherrschaft in Europa geflossen waren. Daraus ersehen wir, dass kritische Veränderungen im Kräfteverhältnis die glo­ bale Spannung derart anheizen können, dass jede unvorsichtige Handlung (vgl. Sarajevo und Danzig) eine Überreaktion provozieren und damit zum Krieg führen kann. In der Nachkriegsperiode erreichte die Ausdehnung der sowjetischen Einfluss­ sphäre aus westlicher Sicht mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afgha­ nistan ihre kritische Grenze. In früheren Zeiten hätte dies allein für sich schon

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VII. Die unerfüllbare Mission der sowjetischen Aussenpolitik ausgereicht, um dem Gegenbündnis einen Anlass zur Entfesselung eines Krieges zu geben. Doch die Gefahr einer gegenseitigen atomaren Vernichtung hinderte den Westen daran, zu einem militärischen Frontalangriff gegen die Sowjetuni­ on überzugehen. Unter Verhältnissen, in denen ein Atomkrieg nicht als rational kalkulierbares Mittel zur Erreichung politischer Ziele angesehen werden kann, griff das Gegenbündnis zu wechselnden Hebeln der Druckausübung. Unter ihnen spielten die größte Rolle das massive Wettrüsten, die maximale Erhöhung des mi­ litärischen und wirtschaftlichen Drucks auf die sowjetische Wirtschaft, das Setzen auf die militärtechnische Überlegenheit und die Bündelung aller geistigen und ma­ teriellen Ressourcen der kapitalistischen Welt gegen die Sowjetunion. Es wurde allgemein zu einem >Kreuzzug< gegen die Sowjetunion aufgerufen. Die gegenwärtige Politik der USA und ihrer Verbündeten fällt unter die Defi­ nition einer >überschüssigen Rückkopplungüberschüssigen< Drucks des Gegen­ bündnisses auf die Sowjetunion stellt gegenwärtig offensichtlich eine der zentralen Aufgaben der sowjetischen Außenpolitik dar. Es ist vollkommen klar, dass dies nur mittels der schrittweisen Selbstbeschränkung und vorsichtigen Vorgehenswei­ se der Sowjetunion in der Außenpolitik erreicht werden kann. Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann die Sowjetunion kein globaler Garant und Verteidiger der weltweiten revolutionären und nationalen Befreiungs­ bewegungen sein. Eine solche Aufgabe übersteigt ihre Kräfte. Zudem besteht da­ rin auch gar keine Notwendigkeit. Heute herrschen andere Verhältnisse als noch in den Jahren 1945 bis 1950. Der Sozialismus hat sich in eine unbezwingbare Kraft verwandelt und die Prozesse des gesellschaftlichen Wandels sind irreversi­ . bel geworden. Vom Standpunkt der Bewahrung und Festigung des Friedens und der weiteren Entwicklung des Weltsozialismus aus betrachtet ist es zwingend not­ wendig, ja überlebenswichtig, dass der Schwerpunkt des Klassenkampfes aus der Sphäre der zwischenstaatlichen Beziehungen der Sowjetunion zum Westen wieder in die Sphäre der inneren gesellschaftspolitischen Entwicklung der kapitalistischen Länder und der Staaten der Dritten Welt verlegt wird. Ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung wurde von den Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts mit der politischen Deklaration vom 5. Januar 198394 gemacht, worin sie ihre Bereitschaft erklärten, in ihrer Politik ideologische Fragen von zwischenstaatlichen Problemen 94 94 Am 5. Januar 1983 verabschiedeten die Staaten des Warschauer Pakts in Prag eine Deklaration, worin sie ihre Absicht erklärten, mit »der NATO zu einem Vertrag über den gegenseitigen Verzicht auf die Anwendung militärischer Gewalt und über die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen zu gelangen sowie zu einer Reihe anderer kontrollierbarer [Maßnahmen] zur Abrüstung nach dem Prinzip der Gleichheit und der [paritätischen] Sicherheit44 (Antwortbrief von Erich Honecker an Petra Kelly vom

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3. Über die Gesetzmässigkeiten der internationalen Beziehungen strikt zu trennen. Jetzt ist die Zeit gekommen - und es ist gefährlich, sie ungenutzt verstreichen zu lassen um diesen Beschluss auch auf den anderen kritischen Bereich der Beziehungen der Sowjetunion zum Westen zu übertragen, in dem die außenpolitischen Gegensätze und Konflikte zwischen beiden Seiten gefährlich angewachsen sind, nämlich auf den Bereich ihrer Beteiligung an inneren gesell­ schaftlichen und politischen Prozessen in den Staaten der Dritten Welt wie auch in entwickelten kapitalistischen Ländern. Dies wird natürlich in Anbetracht der Tatsache, dass die Konfrontation der Sowjetunion mit den Westmächten schon zu weit fortgeschritten ist, nicht leicht zu erreichen sein. Dennoch ist eine Bewe­ gung in diese Richtung noch möglich. Hierfür ist es notwendig, dass unsere Politik die substanzielle Revision ihrer Leitlinien in der Außenpolitik (nach einer soliden theoretischen Begründung und Erläuterung für unsere Freunde im Ausland) in der Praxis überzeugend unter Beweis stellt, indem sie den kommunistischen und nationalen Befreiungsbewegungen weltweit deutlich macht, dass die nationalen Gruppierungen dieser Bewegungen unter den gegenwärtigen Bedingungen der Ge­ fahr eines Atomkriegs sich in strikter Übereinstimmung mit den Besonderheiten der gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Lage in jedem einzelnen Land mehr auf ihre eigenen Kräfte verlassen sollten denn auf die militärische Hilfe der Sowjetunion. Nur in diesem Fall werden die Voraussetzungen für die Abschwä­ chung der Wirkung der negativen Rückkopplung zum Schaden für die UdSSR und die internationale Stabilität wie auch für eine radikale Neugestaltung der Bezie­ hungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen geschaffen. Ausgehend von Erfahrungen aus der Vergangenheit scheint dies in der gegenwärtig verfahrenen Situation der einzige Weg zu sein, jene internationalen Prozesse zu unterbrechen und zu neutralisieren, welche unabwendbar zum Atomkrieg führen. Einen ande­ ren Ausweg gibt es wohl nicht. Eine solche Wende in unserer Politik bedeutet durchaus keinen >sozialistischen Isolationismus< im nationalen Rahmen. Im Gegenteil, sie wird das Feld der in­ ternationalen Interaktion, der gegenseitigen Beeinflussung und Bereicherung der sozialistischen Kräfte weltweit auf politischer, wirtschaftlicher, theoretischer, wis­ senschaftlicher und kultureller Ebene erheblich erweitern. Die sozialistische Soli­ darität wird reicher und erhält dadurch natürliche, organische Züge. Was die Westmächte anbetrifft, so werden sie dadurch unweigerlich gezwun­ gen sein, zum Abbau der Konfrontation mit der UdSSR überzugehen und auch ihre Politik in der Dritten Welt zu ändern, wenn sie sich nicht vollkommen un­ glaubwürdig machen wollen (wie zurzeit im Libanon, in Mittelamerika und ande­ ren Regionen). Dies schafft Raum für die Entfaltung innerimperialistischer Wider­ sprüche und wird über kurz oder lang zum Zerfall des Gegenbündnisses führen - zum großen Vorteil der sozialistischen Kräfte. Im Verlauf unseres Jahrhunderts sind Wesen und Inhalt des Klassenkampfes für den Sozialismus nicht unverändert geblieben. Sie haben sich in Abhängigkeit von den jeweiligen Bedingungen in den einzelnen Ländern wie auch im internationa­ len Maßstab, abhängig auch vom industriellen und wissenschaftlich-technischen Fortschritt der Menschheit, wesentlich verändert. Bis 1917 wurde dieser Kampf hauptsächlich auf nationaler Ebene geführt. In der Zwischenkriegszeit blieb der 13. Mai 1983, in: Neues Deutschland, Jg. 38, Nr. 113,14.05.1983, S. 1). Gleichzeitig wurde darin eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa unter Einschluss der DDR und der Bundesrepublik Deutschland vorgeschlagen (Anm. d. Übers.).

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VII. Die unerfüllbare Mission der sowjetischen Aussenpolitik Charakter des Klassenkampfes insgesamt erhalten, obwohl die Sowjetunion welt­ weit immer aktiver und breiter als unterstützender Faktor der sozialistischen und kommunistischen Bewegungen in Ländern mit einem anderen Gesellschaftssystem auftrat (vgl. die Unterstützung der chinesischen Revolution, der spanischen Repu­ blikaner u. a.); Nach 1945 war diese Aktivität der Sowjetunion ins Unermessliche gestiegen, sodass sie sich in der Folge in der schärfsten Konfrontation mit den Hauptmächten des Weltimperialismus wiederfand. Die Verlagerung des Schwer­ punkts des Klassenkampfes auf die internationale Ebene führte dazu, dass in ihm die militärische Konfrontation und Auseinandersetzung bestimmend wurden. Die Atomraketen haben dieser militärischen Rivalität einen ausschließlich gefährli­ chen, riskanten Charakter verliehen. Deshalb erhielt der Klassenkampf in der gegenwärtigen Lage für die sozialis­ tischen Kräfte neuen Sinn und Inhalt. Seine hauptsächliche Aufgabe ist nun die Rettung der Menschheit vor der atomaren Vernichtung geworden. Es geht dabei um die Existenz jedes Einzelnen von uns, unserer Kinder und Enkelkinder, um Leben oder Tod für die jetzige Generation von Menschen und um das Schicksal künftiger Generationen. Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, den Klassenkampf auf internationaler Ebene aus dem gefährlichen Bereich der atomaren Konfron­ tation herauszuführen. Gerade jetzt klingen die Worte Lenins besonders aktuell, ,denn vom Standpunkt der Grundideen des Marxismus stehen die Interessen der gesellschaftlichen Entwicklung höher als die Interessen des Proletariats495. Die völlig neuen Aufgaben des Klassenkampfes im atomaren Zeitalter erfor­ dern auch radikal neue Wege und Methoden zu ihrer Umsetzung. Hauptsächlich mit Gegenaktionen wird das Problem nicht zu lösen sein; sie treiben die Mensch­ heit immer näher an den Abgrund eines Atomkriegs. Zudem legt schon allein die elementare Logik nahe, dass der Umfang des wirtschaftlichen und wissenschaft­ lich-technischen Potenzials der Sowjetunion gegenüber dem der gegnerischen Mächte es nicht zulässt, der Anspannung eines zermürbenden Kampfes auf Dauer standzuhalten. Es liegt ebenso vollkommen auf der Hand, dass es allein mit Verhandlungen, ohne grundlegende Neuordnung des Verhältnisses der UdSSR zum Westen, un­ möglich ist, das Wettrüsten einzudämmen und die Kriegsgefahr zu verringern. Es geht letztendlich nicht mehr darum, über wie viel Waffen (und mit welchen Eigenschaften) die eine oder andere Seite verfügt, sondern darum, wie wir einen politischen Modus Vivendi zwischen der UdSSR und den Westmächten erreichen können. Genau hier, im politischen Bereich, liegt der Schlüssel zur Enträtselung des Geheimnisses, wie man zu Abrüstung und Reduzierung der Kriegsgefahr ge­ langen kann. Davon wird auch die weitere Wirkung der negativen Rückkopplung abhängen, die Geschlossenheit und Stärke oder die Schwächung und Uneinigkeit des gegen die UdSSR geschlossenen Gegenbündnisses. Eine der wichtigsten Maßnahmen zur Verringerung der politischen Gegensät­ ze zwischen der UdSSR und dem Westen könnte ein vertragliches Zugeständnis vonseiten der Sowjetunion, aber auch der USA und der anderen westlichen Länder sein, dass der soziale Fortschritt, die Wahl des gesellschaftspolitischen Systems und der Wege zur sozioökonomischen Entwicklung ausschließlich auf nationaler 95 Lenin, Wladimir Iljitsch: Entwurf eines Programms unserer Partei [1899; erstmals veröffentlicht 1924], in: Lenin, Werke, Bd. 4, Berlin (Dietz Verlag) 1955, S. 221-248, hier: S. 230

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3. Über die Gesetzmässigkeiten der internationalen Beziehungen Ebene, im Rahmen der einzelnen Staaten und ohne Einmischung von außen, um­ gesetzt werden sollen. Freilich spiegelt sich dieser Grundsatz schon in einer Reihe offizieller Dokumente wider, doch in der Praxis wird er nicht beachtet und die Fra­ ge besteht darin, wie man ihn zur wirksamen Verhaltensnorm auf internationaler Ebene erheben kann, damit er in der Außenpolitik eine praktische Umsetzung er­ fährt. Hier werden wir offensichtlich um große Zugeständnisse von unserer Seite und um die Veränderung der festgelegten Konzeption unserer Außenpolitik nicht herumkommen. Lenin lehrte, dass, wenn der Angriff schon zu weit fortgeschrit­ ten sei und eine gefährliche Lage geschaffen habe, man dann auch den Rückzug antreten können muss. Nun zwingen dazu höhere Überlegungen zur Rettung der menschlichen Zivilisation. Es ist auch eine Revision einer Reihe theoretischer Grundlagen erforderlich, besonders unter dem Blickwinkel der Neuinterpretation des Prinzips des Inter­ nationalismus, der Erarbeitung von Grundlagen der sozialistischen Partnerschaft als Eckpfeiler der gegenseitigen Beziehungen zwischen den sozialistischen Län­ dern unter den gegenwärtigen Bedingungen. Ebenso wichtig ist auch ein psycho­ logisches Umdenken, die Fähigkeit, sich von überkommenen Vorstellungen über Charakter und Aufgaben des Klassenkampfes und von Forderungen nach Einheit­ lichkeit zu befreien, welche für die zweite Hälfte des 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts richtig und gerechtfertigt waren, inzwischen jedoch ihre Bedeu­ tung verloren oder sich in unserer Zeit inhaltlich vollkommen verändert haben. Wenn es gelingt, den Schwerpunkt des Klassenkampfes wieder auf die natio­ nale Ebene zu verlegen, dann legt dies gewaltige innere Kräfte des sozialen Fort­ schritts frei, mit denen die imperialistischen Kreise im Westen nicht fertig werden. Dabei muss man bedenken, dass die Gesellschaft in den führenden kapitalisti­ schen Ländern längst für den Übergang zum Sozialismus herangereift ist, sogar in unvergleichlich höherem Maße, als dies in den Entwicklungsländern der Fall ist. Die Abschwächung der Konfrontation zwischen der UdSSR und dem Westen und das Verschwinden der >sowjetischen Bedrohung< aus der aktuellen Tagespolitik können den Übergang der gesellschaftlich relevanten Kräfte der westlichen Länder zum Sozialismus beschleunigen. Schließlich würde uns die Rückverlegung des Schwerpunkts des Klassenkamp­ fes auf die nationale Ebene ermöglichen, uns wieder auf die Umsetzung der grund­ legenden Idee Lenins zu konzentrieren, dass nämlich die Sowjetunion ihren Ein­ fluss auf die revolutionäre Bewegung und auf den weltweiten gesellschaftlichen Fortschritt hauptsächlich und in erster Linie durch ihre wirtschaftlichen Erfolge ausüben soll.«

Die Hauptidee des Memorandums, nämlich Wege zur Beseitigung des Kal­ ten Krieges zu finden und alle Kräfte auf die innere Entwicklung des Lan­ des zu konzentrieren, entging der Aufmerksamkeit Andropows nicht. Sie fand ihren Niederschlag in vielen seiner Reden, in denen er betonte, dass der Klassenkampf hinter der Aufgabe der Rettung der Menschheit vor der atomaren Apokalypse zurücktreten müsse.

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VIII. Die Umgestaltung der Außenpolitik der Sowjetunion96 1. Revision der außenpolitischen Werte Man hat sich daran gewöhnt, dass sich über Staatsmänner, die die Geschi­ cke der Völker lenkten, nach ihrem Ausscheiden aus der Politik Mythen bilden, die ihre wahre Persönlichkeit und ihre Rolle in den Ereignissen ihrer Zeit manchmal bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Die einen verdam­ men, andere vergöttern und wieder andere revidieren das Bild von ihnen zu ihren Lebzeiten. Der Grund hierfür waren immer subjektive Ansätze, bedingt durch die politische Auseinandersetzung mit den Grundfragen der nationalen und gesellschaftlichen Entwicklung von Völkern und Staaten. Es genügt hier, als Beispiele für die russische Geschi chte solche Gestalte n wie Iwan den Schrecklichen oder Peter den Großen, für die französische Napoleon oder für die sowjetische Stalin zu nennen. Sie alle wurden Ob­ jekte einer äußerst widersprüchlichen Mythenbildung. Auch Michail S. Gorbatschow konnte ihr nicht entgehen. Im Zusam­ menhang mit seinem 80. Geburtstag (2011) entbrannten in den Massen­ medien hitzige Diskussionen hinsichtlich der Bedeutung seiner Politik in den Jahren der Perestrojka. Die einen meinen, er hätte die Perestrojka überhaupt nicht beginnen dürfen, denn sie sei der Grund für den Zerfall der Sowjetunion gewesen. Andere beschuldigen ihn, das strategische Vor­ feld der Sowjetunion in Mittel-, Ost- und Südosteuropa aufgegeben zu haben, welches unter der Führung Stalins im Zuge des Zweiten Weltkriegs erobert worden war. Wieder andere meinen, dass er über nicht genügend Kompetenz und Willen verfügte, eine so wichtige und verantwortungs­ volle Aufgabe wie die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Re­ formierung der Sowjetunion zu erfüllen. In alldem scheint wohl eher ein Sichzurücksehnen nach der sozialistischen Vergangenheit auf, die bei all ihren Mängeln für das Volk doch um vieles besser war als die Ordnung, 96 vgl. Daschitschew, Wjatscheslaw I.: Wnjeschnjepolítitscheskaja doktrína Gor­ batschówa i mjeschdunaródnyje otnoschénija [»Die außenpolitische Doktrin Gorbat­ schows und die internationalen Beziehungen«], in: Mir peremjén [»Welt der Verände­ rungen«], Nr. 1/2011

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I. Revision der aussenpolitischen Werte die durch den Staatsstreich Boris Jelzins nach dem Dezember 1991 in Russland errichtet worden war. Natürlich kann man nicht leugnen, dass während der Perestrojka in der Innenpolitik auch schwerwiegende Fehler unterlaufen sind, die tragische Folgen für die Sowjetunion hatten. Einer der hauptsächlichsten Fehler war, dass nichts unternommen wurde, um zu verhindern, dass der Zerstörer der soz ialistischen Ordnung in unserem Land, Boris Jelzin, an die Macht gelangte. Andererseits kann man aber auch vielen einseitigen und unbegründe­ ten Einschätzungen der Politik Gorbatschows nicht zustimmen. Deshalb ist es sehr wichtig, die Ergebnisse seiner Politik in jener sehr stürmischen und entscheidungsschweren Periode unserer Geschichte, als das Land sich auf die Suche nach einem neuen Modell des demokratischen Sozia lismus begeben hatte, angemessen zu würdigen. Im Folgenden möchte ich von der Innenpolitik, die mit dem Niedergang und Zerfall der Sowjetunion geendet hat, einmal absehen und mich auf die wesentlichen Aspekte seiner Außenpolitik, auf ihre Bedeutung, ihre Ergebnisse und Folgen konzentrie­ ren. Gorbatschows Außenpolitik wurde wie auch seine Innenpolitik Ge­ genstand hitziger Diskussionen und sehr widersprüchlicher Meinungen. Zu Beginn der Perestrojka in der Sowjetunion, die eine sozialistische Reform werden sollte, aber de facto nicht wurde, stand unsere Außen­ politik vor ausschließlich schweren Aufgaben. Seit der Zeit Leo Trotzkis und in der Folge Josef Stalins war unsere Außenpolitik vom Geist des kommunistischen Messianismus und von einer darauf gründenden äuße­ ren Expansion mit dem Ziel durchdrungen, anderen Ländern die kom­ munistische Gesellschaftsordnung sowjetischen Musters und folglich die Vorherrschaft der Sowjetunion als Träger dieser Ordnung gewaltsam auf­ zuzwingen. Der erste Versuch, diese messianische Grundeinstellung in die Praxis umz usetzen, wurde von der sowjet ischen Führung im Kr ieg gegen Polen im Jahr 1920 unternommen. Der Angriff sowjetischer Truppen auf Warschau erwies sich als reines Abenteuer und endete mit einer kom­ pletten Niederlage. Die breit angelegte »Be glückung« anderer Völker mit dem vermeintlich besseren Gesellschaftssystem begann nach dem Zwei­ ten Weltkrieg. Die Sowjetregierung breitete ihre Vorherrschaft gewaltsam über die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas aus. Dadurch wurde das europäische und globale Kräftegleichgewicht zugunsten der Sowjetunion verschoben, was den Hauptgrund für den Kalten Krieg, den Rüstungs­ wettlauf und andere Phänomene bildete, die sich unheilvoll auf ihre so­ zioökonomische Lage auswirkten. Stalin hatte das Land in vollkommen überflüssige Notlagen gebracht. Wozu benötigte das größte und reichste autarke Land der Welt neue Territorialgewinne unter kommunistischer 129

VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion

Flagge? Vom gesunden Menschenverstand her betrachtet, wäre es die ein­ zig richtige Entscheidung gewesen, die sowjetischen Truppen nach Beendi­ gung des Krieges wieder auf das sowjetische Staatsgebiet in den Grenzen von 1939 zurückzuführen. Dann wäre die Sowjetunion im Bewusstsein der europäischen Völker als der wirkliche Befreier von der faschistischen Tyrannei verankert geblieben und sie hätte ihre gewaltigen Energien für die Weiterentwicklung und Festigung des sozialistischen Systems und die Anhebung des Volkswohlstands aufwenden können, was die »demons­ trative Wirkung« einer mustergültigen sozialistischen Gesellschaft erzielt hätte, zu der sich dann ohne jeglichen Zwang auch weitere Völker hinge­ zogen gefühlt hätten. Doch all dies entsprach nicht den Absichten Stalins. Für ihn hatte das Erreichen der »Klassenkampfziele« im internationalen Maßstab erste Priorität - gegen diese Mission wirkten jedoch leider die Gesetze der Geopolitik. Bis zu Michail Gorbatschow konnte man in der sowjetischen Füh­ rung überhaupt nicht verstehen, dass die Praxis der Dominanz oder, noch schlimmer, der Hegemonie - ganz gleich, von wem sie ausgeht, ob von einem sozialistischen oder einem kapitalistischen Land - unausweichlich eine negative Reaktion und Gegenwehr hervorruft. Im System der inter­ nationalen Beziehungen führt diese Praxis zu internationalen Spannun­ gen, Konflikten und Kriegen. Das sowjetische Sendungsbewusstsein war auf das Engste mit dem Anspruch der Sowjetunion auf die beherrschende Stellung in der weltweiten sozialistischen Bewegung und mit imperialen Ambitionen verbunden. Mit Beginn der Perestrojka trat für die Führung des Landes der Rück­ zug der Sowjetunion aus der Lage der unnötigen und gefährlichen Kon­ frontation mit dem Westen in den Vordergrund, welche die besten Kräfte des Landes verschlang und es unmöglich machte, wichtigere Aufgaben der inneren Entwicklung des Landes anzugehen, vor allem die Sicherstellung eines qualitativ hohen Lebensstandards für die Sowjetbürger. Genau diese Mission zu erfüllen, hatte sich 1985 die neue sowjetische Führung mit Michail S. Gorbatschow an der Spitze vorgenommen. In den Jahren der Perestrojka wurden die wichtigsten Grundlagen des neuen Denkens in der sowjetischen Außenpolitik erarbeitet. Ihre Grundzüge lassen s ich wie folgt zusammenfassen: • Verzicht auf die Politik der messianischen Vorherrschaft und ihre Verurteilung; • Beendigung des Ost-West-Konflikts und des Wettrüstens;

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2. Analyse aussenpolitischer Fehler und vorbeugende Massnahmen

• Beobachtung des Grundsatzes, wonach in den i nternationalen Bezie­ hungen nicht das Recht der Gewalt, sondern die Gewalt des Rechts herrschen soll; • Anerkennung der Freiheit eines jeden Volkes, seinen eigenen Ent­ wicklungsweg zu wählen; • tief greifende Demokratisierung und Humanisierung der internatio­ nalen Beziehungen; • Herstellung einer unlösbaren Verbindung von Politik und Moral; • Umwandlung des großen Europa (EG) in ein vereinigtes Europa und längerfristig Schaffung eines gesamteuropäischen politischen und wirtschaftlichen Rechts- und Kulturraums (Idee eines »gemeinsamen europäischen Hauses«); • Umwandlung der OSZE in eine handlungsfähige Dachorganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit der Staaten des neuen Europa; • allmählicher Abbau der Blockstrukturen in den zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa und Verbot der Schaffung von Einflusssphä­ ren und Ausübung von Hegemonie auf dem europäischen Kontinent. All diese Grundsätze charakterisierten das neue Wesen der sozialistischen Außenpolitik. Auf der Grundlage dieser Prinzipien vollzog sich die fried­ liche Wiedervereinigung Deutschlands, ohne die die Überwindung des Kalten Krieges unmöglich erschien. Die Länder Osteuropas erhielten ihre Selbstständigkeit zurück. Der Krieg in Afghanistan wurde beendet und die sowjetischen Truppen aus diesem Land abgezogen. Die Krönung der Außenpolitik unter Gorbatschow war jener denk­ würdige Tag des 21. November 1990, als die Vertreter aller europäischen Staaten wie auch der Vereinigten Staaten Amerikas und Kanadas nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Beendigung des Ost-West-Kon­ flikts den internationalen Grundlagenvertrag über die Errichtung einer neuen Friedensordnung in Europa unterzeichneten. Er ging als die Charta von Paris in die Geschichte ein.

2. Analyse außenpolitischer Fehler und vorbeugende Maßnahmen So nannte sich mein Memorandum, das vom IEMSS am 8. Januar 1987 an das Sekretariat des Außenministeriums übermittelt wurde. Seine Notwen­ digkeit lag vollkommen auf der Hand - aus Fehlern lernt man bekanntlich. In der sowjetischen Praxis war es jedoch nicht üblich, Entscheidungen, die im inneren Zirkel des ZK der KPdSU getroffen wurden und auf deren 131

VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion

Grundlage die Politik des Außenministeriums und anderer Ministerien gestaltet wurde, zu erörtern und erst recht nicht zu kritisieren. Natürlich führte dies zu schweren Fehleinschätzungen, die den Interessen des Landes in einer ganzen Reihe von Fällen erheblichen Schaden zufügten. Zu Beginn der Perestrojka wurde dieses schädliche Veto endl ich über­ wunden; mehr noch, die krit ische Analyse der sowjetischen Politik in für das Land lebenswichtigen Bereichen wurde sogar begrüßt. Ich zögerte nicht, diese Gunst der Stunde zu nutzen, und arbeitete das oben erwähnte Memorandum aus, dessen Text ich hier anführen möchte: »In den beiden vergangenen Jahren sind wir in unserer Innenpolitik genügend selbstkritisch geworden, indem wir eine ganze Reihe von schwerwiegenden Ver­ säumnissen und Verwerfungen in unserer sozioökonomischen Entwicklung offen­ gelegt haben. Dies ermöglichte, den richtigen Weg abzustecken, uni den Sozialis­ mus auf eine qualitativ neue Stufe seiner Entwicklung zu heben. Was unsere Außenpolitik anbelangt, so fehlen hier bislang das Eingeständ­ nis und die Analyse von Fehlern. Symptomatisch ist hier, dass in dem in unserer Presse abgedruckten Artikel zum 80. Geburtstag Leonid I. Breschnews nicht die Mängel auf diesem Gebiet benannt wurden. So schien die neue politische Führung gleichsam an den Fehlentscheidungen der ehemaligen Führung und einzelner ih­ rer Vertreter beteiligt. Jedoch ist es ohne ernsthafte Analyse der außenpolitischen Fehltritte in der Vergangenheit und ohne die Entwicklung von Mechanismen zu ihrer Verhinderung schwer, die Effektivität unserer Außenpolitik zu steigern. Für eine lange Zeit, vor allem während der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre, häuften sich falsche Weichenstellungen und schwerwiegende Fehler im Bereich der Außenpolitik. Erstens wurden unserer Politik Aufgaben gestellt und Ziele gesteckt, die nicht unseren innen- und außenpolitischen realen Möglichkeiten zu ihrer Umsetzung entsprachen. Dies zeigte sich im Besonderen darin, dass unsere Politik a) nachdem sie Mitte der 1970er-Jahre die - wenn auch formale - Anerkennung der in der Nachkriegszeit entstandenen territorialen und politischen Realitä­ ten in Europa erreicht hatte, den Weg der weiteren Ausdehnung der politi­ schen Einflusssphäre der Sowjetunion in anderen Regionen der Welt mithilfe militärischer Gewalt beschritt, ohne damit zu rechnen, dass dies unvermeidlich zum Zusammenschluss aller großen kapitalistischen Mächte und sogar zum Anschluss Chinas an dieses Bündnis auf antisowjetischer Basis führen würde, deren wirtschaftliches, technisches und militärisches Potenzial zusammenge­ nommen das der Sowjetunion um ein Vielfaches übersteigt; b) sich die völlig unrealistische und unnötige Aufgabe gestellt hatte, die militär­ strategische Parität mit allen Westmächten zu erreichen und aufrechtzuerhal­ ten, wodurch sie dem Land die seine Kräfte übersteigende Last des Rüstungs­ wettlaufs aufgebürdet hat - ein in der Weltgeschichte beispielloser Fall, dass eine Macht den Anspruch erhebt, es auf militärischem Gebiet mit allen anderen aufnehmen zu können; c) die überflüssige und gefährliche Rolle auf sich nahm, der militärische Garant vieler Länder der Dritten Welt zu sein. Indem sie Umfang und Bedeutung der

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2. Analyse aussenpolitischer Fehler und vorbeugende Massnahmen Schlagkraft der eigenen Atomraketen überschätzte, konfrontierte unsere Politik die Sowjetunion mit einem ihr überlegenen Bündnis kapitalistischer Mächte. Unsere Politik wandelte sich für uns aus der Kunst, sich Verbündete zu erwer­ ben, zum Instrument der Stärkung unserer Feinde. Die historische Erfahrung zeigt, dass die Missachtung des Prinzips der Übereinstimmung außenpoliti­ scher Ziele mit den Möglichkeiten zu ihrer Erreichung Staaten unentrinnbar in schwere Niederlagen geführt hat. Zweitens fehlte bei uns praktisch jegliche Abstimmung der Aufgaben von In­ nen- und Außenpolitik aufeinander. Seit Anfang der 1970er-Jahre hatte sich die dringende Notwendigkeit von Wirtschaftsreformen mit dem Ziel einer intensive­ ren Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft bemerkbar gemacht. Dies erforderte die Schaffung von über längere Zeit ruhigen äußeren Rahmenbedingungen, um diese so lebenswichtige historische Aufgabe angehen zu können. Stattdessen ha­ ben wir fast unmittelbar nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki mit unserer Militäraktion in Angola eine neue Runde der politischen und militär­ strategischen Konfrontation mit dem Westen eingeläutet, die nach dem Maße des Anwachsens unserer Positionen in Afrika, Südostasien und anderen Weltregionen Anfang der 1980er-Jahre zum Abbruch des Entspannungsprozesses und zu einem hohen Maß der militärischen und politischen Spannungen in den Ost-West-Bezie­ hungen geführt hat. In der Folge sind wir heute gezwungen, die aktuelle Neuge­ staltung von Wirtschaft und Gesellschaft in einer extrem schwierigen internatio­ nalen Lage durchzuführen. Drittens muss man im engen Zusammenhang mit dem oben Gesagten auch die groben Verfehlungen in der Auswahl der Prioritäten für die Außenpolitik be­ trachten. Sehr oft konnten wir nicht zwischen den Interessen des Königs und den Interessen des Bauern auf dem Schachbrett der Weltpolitik unterscheiden. Bei der Verfolgung der kleinen Gewinne und privaten Vorteile haben wir bei Weitem Be­ deutenderes und Wichtigeres geopfert, ganz zu schweigen davon, dass vom Stand­ punkt unserer nationalstaatlichen und internationalen Interessen an erster Stelle stets die innere wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Festigung der Sowje­ tunion als Hauptfestung des Weltsozialismus zu stehen hat. So haben wir zum Beispiel durch unsere Unterstützung der Aktionen Vietnams in Kambodscha und durch unsere Aktion in Afghanistan, die in keinen Rahmen der politischen und strategischen Zweckmäßigkeit passen, nicht nur unsere Beziehungen zum Westen gefährdet, sondern auch schwer überwindliche Hindernisse für die Normalisie­ rung unseres Verhältnisses zur Volksrepublik China angehäuft. Viertens scheint es, dass die strategische Ausrichtung unserer Außenpolitik in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre von einer falschen Einschätzung der damals aktuellen globalen Lage ausging. Für den in jener Zeit unternommenen breiten Angriff auf die Positionen des Imperialismus in der Dritten Welt fehlten die not­ wendigen Voraussetzungen. Ein solcher Angriff war vollkommen gerechtfertigt für das erste Nachkriegsjahrzehnt, welches von einer bedeutenden inneren Schwä­ chung des Imperialismus, seiner Diskreditierung, von einem enormen Anwach­ sen der moralischen und politischen Autorität der Sowjetunion und der Kräfte des Sozialismus, ihrem Zusammenhalt, einem nie da gewesenen Aufschwung der revolutionären und nationalen Befreiungsbewegungen und ihrer ungeteilten an­ tiimperialistischen und antikolonialistischen Ausrichtung gekennzeichnet war. In

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VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre war die Lage eine vollkommen andere. Die Westmächte hatten ihr wirtschaftliches Potenzial und ihre gesellschaftspolitische Stabilität längst wiederhergestellt und übertrafen die Sowjetunion nach ihren wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten um ein Vielfa­ ches. Unseren Aktionen in der Dritten Welt setzten nicht nur mehr die Westmäch­ te, sondern auch China sowie die prowestlich orientierten bourgeoisen Kreise in den Entwicklungsländern aktiven Widerstand entgegen. Nach dem Erreichen der politischen Emanzipation veränderten sich das Wesen und die Aufgaben der na­ tionalen Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt; die Intensität der revolutionären Prozesse in ihnen nahm rapide ab. Die Sowjetunion verfügte schon lange nicht mehr über die gleiche Autorität wie noch nach dem Krieg. Die Durchführung einer offensiven Strategie war unter diesen Voraussetzungen mit gewaltigen politischen, strategischen und wirtschaftlichen Kosten sowie dem Risi­ ko des Anwachsens der Kriegsgefahr für uns verbunden. Wir haben ganz offensichtlich die Tatsache unterschätzt, dass die heutige Zone der Entwicklungsländer im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts der neuralgische Punkt der Weltpolitik gewesen und dass das Aufeinanderprallen der Interessen von Großmächten hier einer der Hauptgründe für die Entstehung der beiden Weltkrie­ ge gewesen war. In den 1970er-Jahren wurde diese Zone erneut zum >kritischen Punkt< in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten. In­ dem wir den falschen Standpunkt der »Teilbarkeit der Entspannung« einnahmen, haben wir unsere Beziehungen zum Westen einer harten Prüfung ausgesetzt, und zu Beginn der 1980er-Jahre haben wir sie völlig demontiert. Aber unterdessen gab der Westen kurz nach der gesamteuropäischen Konferenz von Helsinki, als wir unsere Aktivitäten in Afrika starteten, der sowjetischen Führung deutlich zu verstehen, dass er bereit sei, Osteuropa als sowjetische Einflusssphäre anzuerken­ nen und diese unter der Bedingung in Ruhe zu lassen, dass die Sowjetunion nicht in andere Weltregionen vordringt (sog. Sonnenfeldt-Doktrin). Wir haben dieses Warnsignal missachtet und unsere Offensive in der Dritten Welt fortgesetzt. So wurde die historische Chance vertan, die Entspannung zu einem langfristigen Pro­ zess werden zu lassen. Unser Einmarsch in Afghanistan versetzte ihr schließlich den Todesstoß. Die Ost-West-Beziehungen traten von da an in eine lange Phase der heftigsten Konfrontation ein und nun müssen wir die Früchte unserer eigenen Fehler ernten. Neben der falschen Einschätzung der globalen Situation für die Durchführung einer offensiven Strategie haben wir auch die historische Bereitschaft der ehema­ ligen Kolonien und halb abhängigen Länder hinsichtlich des gesellschaftspoliti­ schen und wirtschaftlichen Niveaus ihrer Entwicklung überschätzt, zum Aufbau des Sozialismus überzugehen. Das Vorauseilen in dieser Hinsicht hat zur Diskre­ ditierung der Ideen des Sozialismus, zu internationalen Komplikationen und Kon­ flikten geführt. Mit militärischen Mitteln ist es zwar, wie die Erfahrung zeigt, ge­ lungen, einzelne Entwicklungsländer vom System des Imperialismus loszureißen, aber sobald in ihnen der friedliche Aufbau begann, fanden sie sich in der Regel in einer schwierigen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Lage wieder und die Ressourcen der Sowjetunion und anderer sozialistischer Länder reichten of­ fensichtlich nicht aus, um die Lage zu bereinigen. Der Nutzen unserer Offensive in der Dritten Welt - einige der ärmsten Länder, die eine sozialistische Orientierung angenommen hatten, jedoch nicht in der Lage waren, als >sozialistische Leuchttür­ me< in ihrer Region zu fungieren - steht in keinem Verhältnis zu unseren Aufwen­

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2. Analyse aussenpolitischer Fehler und vorbeugende Massnahmen dungen und Nachteilen - dem Abrücken des Westens vom Entspannungsprozess, seiner Rückkehr zu Methoden des Kalten Krieges, einer beispiellosen Eskalation des Wettrüstens, dem Anwachsen der Kriegsgefahr u. Ä. Statt zu versuchen, noch mehr Entwicklungsländer auf unsere Seite zu ziehen, wäre es vernünftiger gewe­ sen, sich an den seinerzeit von János Kádár* verkündeten klugen Grundsatz zu halten: >Wer nicht gegen uns ist, ist für uns!< Auf die Dritte Welt angewandt hätte dieser Grundsatz früher oder später doch gegen den Imperialismus seine Wirkung nicht verfehlt. Fünftens muss man ein paar Worte über die großen Mängel in der Abstim­ mung unserer politischen und militärischen Strategie aufeinander verlieren. So haben wir durch das Aufstellen unserer neuen Mittelstreckenraketen (im Westen SS-20 genannt) die atomare Bedrohung für die Länder Westeuropas bedeutend er­ höht, während als unser politischer und militärischer Hauptgegner die Vereinigten Staaten auftreten. Durch diesen Akt haben wir die Westeuropäer gezwungen, sich noch enger mit den USA gegen die Sowjetunion zu vereinigen, und haben ihnen den günstigen Anlass geliefert, die Stationierung analoger Raketen der USA in Westeuropa zu genehmigen. Dadurch erhielten die Vereinigten Staaten gegenüber der Sowjetunion einen enormen strategischen Vorteil. Außerdem ermöglichte dies den Amerikanern, die politische Abhängigkeit der Länder Westeuropas von Wa­ shington zu erhöhen und die NATO zu konsolidieren. Im Fall der SS-20-Raketen haben wir eines der wichtigsten Gebote der Außenpolitik grob verletzt: >Bevor man den ersten Schritt tut, sollte man an den letzten denken.< Ein anderes Beispiel unserer misslungenen Abstimmung von militärischer und politischer Strategie ist die Verwirklichung des in den 1970er-Jahren breit angeleg­ ten und kostspieligen Programms des Aufbaus der Seekriegsflotte, deren Ausmaße den Verteidigungsbedarf der Sowjetunion übersteigen. Im Westen wurde dies als Beweis des Bestrebens der Sowjetführung aufgefasst, die militärischen Vorausset­ zungen für eine aktive und offensive Weltpolitik und den Angriff auf Positionen des Westens in der Dritten Welt zu schaffen. Dies lief ebenfalls den Zielen der Entspannungspolitik zuwider. Sechstens war auch unser außenpolitischer Kurs in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre gegen die Ziele gerichtet, das Wettrüsten einzudämmen und die Ge­ fahr eines Atomkriegs zu verringern. Er provozierte im Gegenteil die imperialisti­ schen Kreise immer mehr, die Aufrüstung zu forcieren und sie auf diejenigen Berei­ che des wissenschaftlich-technischen Fortschritts - in erster Linie in den Weltraum - zu verlegen, wo die Sowjetunion dem Westen stark unterlegen ist. In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre erkannten die führenden westlichen Politiker, dass die mi­ litärstrategische Parität mit der Sowjetunion kein verlässlicher Aufhaltefaktor ist, denn unter ihrem Deckmantel hatte sich die Sowjetunion als in der Lage erwiesen, ungehindert ihre Offensive in der Dritten Welt zu starten und eine Stellung nach der anderen zu erobern. Dies veranlasste die USA und ihre Verbündeten bereits Ende der 1970er-Jahre, vom Weg der mit der Sowjetunion ausgehandelten mili­ tärischen Parität wieder abzugehen und die auf ihrer Grundlage abgeschlossenen Verträge (SALT I und SALT II) auf Eis zu legen. Indem Washington geschickt unser Bestreben ausnutzte, das militärische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, begannen die USA nun verstärkt sein Niveau durch eine beispiellose Erhöhung der Militär­ ausgaben anzuheben und grundlegend neue technische Kampf- und Massenver­ nichtungsmittel zu entwickeln und herzustellen. Das, was wir in einer feierlichen

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VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion Stimmung als wichtige Errungenschaft unserer Politik in den 1970er-Jahren prä­ sentiert hatten, hat sich in eine Geißel für unsere Wirtschaft und Sicherheit wie auch für die internationale Stabilität verwandelt. Unseren militärischen und wirt­ schaftlichen Möglichkeiten würde gegenüber den Westmächten plus China nicht das Prinzip der militärischen Parität, sondern das der vernünftigen Suffizienz ent­ sprechen, welche den USA einen nicht wieder gutzumachenden Ansehensverlust einbringen, sie von der Entfesselung eines Krieges abhalten und uns vor der poli­ tischen Erpressung bewahren würde. Allem Anschein nach haben wir bereits zu Beginn der 1970er-Jahre über das Atomraketenpotenzial verfügt, welches diesen Aufgaben entspricht. Es war ein Fehler und vollkommen überflüssig, hier weiter aufzurüsten, um das Niveau der militärischen Parität zu erreichen. Siebtens ist in unserer Politik die Tendenz klar zum Vorschein gekommen, die' Frage der Sicherheit und der Friedenssicherung allein auf den militärischen Bereich zu reduzieren. Dadurch haben wir den Zusammenhang zwischen der Abrüstung und dem Zusammenprall der politischen Interessen der UdSSR und des Westens in der Dritten Welt mit ihrer Einbindung in lokale Konflikte und Krisen und die damit verbundene Entwicklung und Veränderung des politischen und ökonomischen Kräfteverhältnisses zwischen ihnen nicht beachtet. Dies wider­ sprach der wissenschaftlichen Grundthese, dass sowohl der Rüstungswettlauf als auch der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. In unserer au­ ßenpolitischen Aktivität haben wir den Weg der Beseitigung nicht der politischen Erstursachen, sondern der militärischen Folgen der gefährlichen Entwicklung von Gegensätzen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten gewählt. Die kam auf das Gleiche hinaus, wie den Karren vor den Ochsen zu spannen. Ein solches Vorgehen lässt auf wenig Chancen hoffen, den militärischen und wirtschaftlichen Druck des Westens auf die Sowjetunion verringern zu können. Achtens hat unsere Politik die Möglichkeiten der Einflussnahme der Friedens­ bewegung in der westlichen Öffentlichkeit auf Regierungs- und Parlamentskreise im Sinne des Ziels der Abrüstung offensichtlich überschätzt. Für die Friedensar­ beit wurden enorme Mittel und Mühen aufgewendet, aber der Ertrag blieb unver­ hältnismäßig klein. Der US-Regierung und ihren Verbündeten ist es gelungen, ihre Pläne zur weiteren militärischen Aufrüstung (wie im Fall der Stationierung der Mittelstreckenraketen in Westeuropa) zu verwirklichen. Das Ergebnis all dessen war die äußerst schwierige internationale Lage, in der sich die Sowjetunion zu Beginn der 1980er-Jahre wiederfand. Dies war mit auch eine Folge der Stagnation in der Theorieentwicklung für die Außenpolitik und die internationalen Beziehungen, des Festhaltens an veralteten Dogmen, am >eingleisi­ gen Denken< und an der Vereinheitlichung der Ansichten und ihrer Anpassung an die herrschende Meinung bei der Ausarbeitung und Beschlussfassung außenpoli­ tischer Maßnahmen wie auch bei der Bewertung der Ergebnisse ihrer Umsetzung. Eine solche Lage wäre nicht entstanden, wenn wir über einen geeigneten, funk­ tionierenden Mechanismus zur Korrektur der Politik verfügt hätten und alterna­ tive Ideen und Empfehlungen der Führung zur Kenntnis hätten gebracht werden können. Um in Zukunft die Wiederholung solcher Phänomene zu vermeiden, muss man sich um die Schaffung geeigneter Bedingungen bemühen, die es ermöglichen, die Effektivität und Produktivität unserer außenpolitischen Aktivitäten zu stei­

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2. Analyse aussenpolitischer Fehler und vorbeugende Massnahmen gern und gleichzeitig Fehltritte und falsche Handlungen auf internationaler Ebene zu verhindern. Einen Weg hierzu zeigen die Beschlüsse des XXVII. Parteitags der KPdSU, die auf eine radikale Aufwertung der Rolle der Öffentlichkeit, des menschlichen Faktors in allen Bereichen der sowjetischen Gesellschaft sowie auf ein neues politisches Denken abzielen, das mehrere Varianten bei der Ausarbei­ tung außenpolitischer Entscheidungen voraussetzt. Hiervon ausgehend müsste man in erster Linie die Tätigkeit der Kommissi­ onen für auswärtige Angelegenheiten der Sowjetunion und des Rates der Nati­ onalitäten des Obersten Sowjets* der UdSSR mit realem Leben erfüllen, wie es die Verfassung der UdSSR vorsieht, indem man sie mit Kontroll-, Korrektiv- und Beratungsfunktionen im Bereich der Außenpolitik ausstattet. Indem sie über die außenpolitischen Interessen der Sowjetunion wachen, würden sie die Rolle einer >opponierenden gesellschaftlichen Organisation< gegenüber dem Außenministeri­ um einnehmen und diesem bei der Lösung von Aufgaben der Außenpolitik eine entscheidende Hilfe sein. Im Rahmen dieser unabhängigen Kommissionen könnte man im Bedarfsfall spezielle Ausschüsse zur Untersuchung dieser oder jener au­ ßenpolitischen Frage und Situation bilden, die hierzu Empfehlungen und Lösungen ausarbeiten, um sie dann dem ZK der KPdSU, dem Präsidium des Obersten Sow­ jets und dem Ministerrat der UdSSR zur Prüfung vorzulegen. Für die Arbeit dieser Kommissionen und Ausschüsse müssten unbedingt Spezialisten und Experten aus den wissenschaftlichen Forschungsinstituten der Akademien der Wissenschaften der UdSSR und der Sowjetrepubliken, der Hochschulen, staatlichen Behörden und gewählten Organe herangezogen werden. Es wäre zweckmäßig, in diesen Kom­ missionen und Ausschüssen regelmäßig Anhörungen der unparteiischen Experten und Gutachter über verschiedene außenpolitische Fragen oder Situationen und über kontroverse Themen durchzuführen und die Ergebnisse dieser Befragungen, wenn sie nicht vertraulich zu behandeln sind, zu veröffentlichen. Die Durchführung der genannten Maßnahmen würde für die oberste Füh­ rungsebene wirksame Verfahren zur Korrektur des politischen Kurses, zur Vermei­ dung von Fehltritten und zur Annahme ausgewogener Entscheidungen gewähr­ leisten; es ermöglichen, an der Erarbeitung außenpolitischer Konzepte breite Krei­ se der sowjetischen Öffentlichkeit teilhaben zu lassen, das vorhandene geistige Potenzial breiter zu nutzen, um die Produktivität der Außenpolitik zu erhöhen, und schließlich die moralische Autorität der sowjetischen Außenpolitik und das Vertrauen im Ausland in sie erheblich steigern.«

In den Jahren der Perestrojka blieben diese und andere kritische Bewer­ tungen der damaligen sowjetischen Außenpolitik nicht unbeachtet. So wurden viele Ideen dieses Memorandums positiv aufgenommen. Die »mi­ litärische Parität« mit dem gesamten Westen, welche die Kräfte der Sow­ jetunion überforderte, wurde durch das »Prinzip der vernünftigen Suffizi­ enz« - der Rüstung zur Verteidigung und Gewährleistung der Sicherheit des Landes - ersetzt; die sowjetischen Truppen wurden aus Afghanistan abgezogen; es begann die Abstimmung der Außenpolitik mit den Erfor­ dernissen der Innenpolitik; die Breschnew-Doktrin der »beschränkten Souveränität« der sozialistischen Länder, welche der Sowjetführung die 137

VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion

Möglichkeit offenließ, in diese Länder einzumarschieren, wenn sie es aus Gründen der Aufrechterhaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung für notwendig erachtete, wurde fallen gelassen. Zu alledem muss noch hinzugefügt werden, dass im März 1987, einen Monat nach der Über­ mittlung dieses Memorandums, dem Außenministerium der UdSSR ein konsultativer wissenschaftlicher Beirat angegliedert und mir angetragen wurde, zeitweise dessen Vorsitzender zu werden. Man gewöhnte sich daran, dass drängende Probleme unserer Außen­ politik i n den Massenmedien diskutiert wurden. Ich tat dies in dem Arti­ kel »Ost-West: Suche nach neuen Beziehungen. Über die Prioritäten der sowjetischen Außenpolitik«, veröffentlicht in der Literatürnaja gasjéta [»Literaturzeitung«] vom 18. Mai 1988. Dieser Artikel fand eine große Resonanz nicht nur in der sowjetischen Öffentlichkeit, sondern auch im Ausland. Es genügt, hier anzuführen, dass die englischsprachige Zeit­ schrift Atlantic Community (Sommer 1988) und die deutsche Zeitschrift Osteuropa (Nr. 11/1988) ihn in der Folge abdruckten. Auf den Artikel reagierten auch viele andere westliche Medien. Für diesen Artikel wurde ich als Preisträger der Literatúrnaja gasjéta des Jahres 1988 geehrt.97

3. Aufstieg und Untergang des internationalen Projekts »Stern« Mitte des Jahres 1974 fassten die Zentralkomitees der Regierungsparteien der Staaten des Warschauer Pakts auf Initiative Moskaus den Beschluss, eine ständige internationale Kommission, bestehend aus Spezialisten der Akademien der Wissenschaften und der Institute der Außenministerien dieser Länder, ins Leben zu rufen. Diese Kommission wurde damit beauf­ tragt, Probleme der Ost-West-Beziehungen in Europa in politischer, wirt­ schaftlicher und militärstrategischer Hinsicht zu untersuchen. Die Ergeb­ nisse der gemeinsamen Forschungen sollten mit entsprechenden konkreten Empfehlungen für die Außenpolitik der Länder des Warschauer Pakts den ZKs der jeweiligen Parteien übermittelt werden. In meiner Eigenschaft als Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen des Instituts für die Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems (IEMSS)* der Akademie der Wissenschaften (1991 umbenannt in Institut für internationale wirtschaft­ liche und politische Studien der Russischen Akademie der Wissenschaf­ ten) wurde ich zum Koordinator der Forschungsarbeiten dieses geheim gehaltenen Projekts (Codename »Stern«) bestellt. Unter anderen nahmen an diesem Projekt berühmte Politologen und Ökonomen teil, wie z. B. 97 vgl. Literatúrnaja gasjéta [»Literaturzeitung«], 31.12.1988

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3. Aufstieg und Untergang des internationalen Projekts »Stern«

Györgyi Gyovai, P. Izsik Hedri und László Kiss (Institut für Auße nbezie­ hungen Ungarns, Zentrum für Außenpolitische Forschungsstudien, Uni­ versität Budapest) aus Ungarn, Werner Hänisch, stellvertretender Direktor des P otsdamer Instituts für internationale Beziehungen, W olfgang Spröte, Spezialist für internationale Wirtschaftsbeziehungen, Claus Montag, Pro­ fessor am Potsdamer Institut für internationale Beziehungen, Historiker und USA-Spezialist, und Jürgen Nitz, Unterhändler zwischen Ost-Berlin und Bonn in der Wendezeit, aus der DDR, Adam Daniel Rotfeld*, Janusz Ignacy Symonides*, Michal Dobroczyński, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Warschau, sowie Bogumil Rychłowski (Polnisches Institút für Außenbeziehungen in Warschau) aus Polen, S. Sanjew, B. Dimowa und N. Sarewskij aus Bulgarien, Oljeg T. Bogomolow*, Igor I. Orlik*, Nikolaj P. Schmeljow*, Aleksandr N. Bykow*, ich und andere aus der Sowjetuni­ on. Das IEMSS beschäftigte sich m it Fragen der Wirtschaft, der Innen- und Außenpolitik und der gesellschaftspolitischen Lage der ehemaligen sozia­ listischen Länder. Bei den sowjetischen Botschaften und Handelsvertretun­ gen waren Vertreter unseres Instituts als Erste Sekretäre akkreditiert. Sei­ nem Direktor, Oljeg T. Bogomolow, war es gelungen, sich eine Mannschaft von talentierten Politologen und Ökonomen mit höchster Qualifikation zusammenzustellen, die unabhängige Ansichten zu Politik und Wirtschaft vertraten, klar die Mängel der damaligen sowjetischen Wirtschafts- und Außenpolitik sahen und darum bemüht waren, ihnen Abhilfe zu verschaf­ fen. Aus ihrem Kreis gingen später bedeutende Praktiker und Theoretiker der Reformen hervor: Jewgenij A. Ambarzumow*, Otto R. Lazis*, Lilja Schewzowa, Nikolaj P. Schmeljow, Aleksandr D. Njekipjelow*. Ich denke, dass ich mich nicht an der Wahrheit versündige, wenn ich sage, dass in jenem Wissenschaftlerteam im Institut von Bogomolow viele Ideen und Konzeptionen der Innen- und Außenpolitik ausgearbeitet worden waren, die nach 1985 bei der Reformierung des Landes umgesetzt wurden und einen wesentlichen Beitrag dazu leisteten, die sowjetische Staatsideolo­ gie und Politik von alten Dogmen und Verirrungen zu befreien. Mit der Machtübernahme von Jelzin wurden ihre innovativen Ideen leider zurück­ gewiesen. Unter den Mitarbeitern der Internationalen Abteilung und der Abtei­ lung der sozialistischen Länder des ZK müssen diejenigen der zahlreichen Berater im Apparat des ZK positiv erwähnt werden, die auf die neuen Ideen mit Verständnis und Toleranz reagierten. Hierunter sind vor allem zu nennen: Anatolij S. Tschernjajew* und Georgij Ch. Schachnasarow* (beide wurden Berater von Michail Gorbatschow), Wadim W. Sagladin*, 139

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Nikolaj Schischiin*, Nikolaj Kolikow u. a. Die Mitarbeiter unseres Ins­ tituts standen mit ihnen bei der Entscheidungsfindung von vielen Fragen der Außenpolitik in ständigem Austausch. Auf mich machten sie den Ein­ druck von allseitig gebildeten, außerordentlich begabten Menschen mit weitreichenden Kenntnissen. Im Vergleich mit der Mehrzahl der Diplo­ maten im Außenministerium, wo der Gei st Gromykos herrschte, e rschie­ nen sie mir als Freidenker. Doch über die reale Macht verfügten nicht sie, sondern die Mitglieder des Politbüros und des Sekretariats des ZK. Unter Gorbatschow jedoch spielten sie eine wichtige Rolle bei der Umgestaltung der sowjetischen Außenpolitik. Die Zusammenstellung des Expertenteams für die multila terale wissen­ schaftliche Zusammenarbeit der sozialistischen L änder im Projekt »Stern« ging in vielem auf die Initiative dieser Berater des ZK zurück. Mithilfe dieses Projektes verfolgten sie das Ziel, dieses relativ unabhängige und lei­ denschaftslose akademische Wissenschaftlermilieu zu nutzen, um mittels Memoranden von Experten mehr Informationen über die nationalen Inte­ ressen der Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts in ihren Beziehungen zu den westlichen Ländern zu erhalten und um somit diese Interessen in einer gemeinsamen Politik besser untereinander abstimmen zu können. Der we­ sentliche Impuls hierzu war die immer weiter anwachsende Divergenz der nationalen Positionen innerhalb des Warschauer Pakts und des Rates der gegenseitigen Wirtschaftshilfe (RGW). An dem Projekt »Stern« nahmen zunächst vor allem die Staaten des Warschauer Pakts mit Ausnahme Rumäniens teil, dessen Führung dazu tendierte, sich nach Möglichkeit aus gemeinsamen Aktionen im Rahmen des Warschauer Pakts herauszuhalten. In Moskau war man sogar nicht unglücklich über die Nichtteilnahme Rumäniens angesichts der zahlrei­ chen Fälle, in denen Vertreter Rumäniens dem Westen Informationen über interne Angelegenheiten des Warschauer Pakts weitergegeben hatten. Ende 1977 wurde der Kreis der Teilnehmerstaaten um die Mitglieder des RGW erweitert. Dementsprechend änderten sich auch die Aufgaben der wissen­ schaftlichen Tätigkeit der Kommission. Von diesem Moment an gerieten nicht nur Fragen der europäischen Politik ins Visier der Wissenschaftler, sondern auch globale politische und wirtschaftliche Themen. Ohne dies selbst beabsichtigt zu haben, hatte das Moskauer ZK der KPdSU mit der Begründung des internationalen Forschungsprojekts »Stern« einen wichtigen Kanal für Kritik an der damaligen Politik der kommunistischen Orthodoxie in der Sowjetunion und anderen Staaten des Wa rschauer Pakts und des RGW geschaffe n. Durch »Nonkonformis­ mus« zeichneten sich besonders die ungarischen und polnischen Vertreter 140

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des Projekts aus. Sie stritten für eine Erweiterung der Möglichkeiten einer gesunden nationalen Entwicklung der Staaten des Warschauer Pakts so­ wie für einen erweiterten Spielraum zur Umsetzung ihrer außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Interessen in den Beziehungen mit den westli­ chen Ländern. Die wissenschaftlic he Tätigkeit im Rahmen des Projekts »Stern« dau­ erte von 1974 bis 1984 an; in dieser Zeit wurden vier große Problemkreise erforscht. Die Ergebnisse wurden unter folgenden Titeln an die ZKs der jeweiligen Länder weitergeleitet: • Probleme der gegenseitigen Beziehungen von St aaten zweier politi­ scher Systeme in Europa in den 1970er-Jahren (1977); • Die Länder der soz ialistischen Bündnisgemeinschaft und die Trans ­ formation der internationalen Wirtschaftsbeziehungen (1979); • Die langfristige Strategie der Wirtschaftsbeziehungen der RGW-Mit­ gliedsstaaten zu den Staaten des anderen politischen Systems (1982); • Aktuelle politische Probleme der Länder der sozialistischen Bünd­ nisgemeinschaft im Verhältnis zu den entwickelten kapitalistischen Ländern in den 1980er-Jahren (1984). Im Verlauf der Arbeiten an diesen Themenkreisen wurden den ZKs der Parteien zahlreiche vertrauliche Berichte über aktuelle außenpolitische und außenwirtschaftliche Probleme übermittelt, die den nationalen Stand­ punkt der einzelnen Länder widerspiegelten. Die Zusammenkünfte fan­ den wechselweise in den Hauptstädten der einzelnen Mitgliedsstaate n des Warschauer Pakts und des RGW statt. Mir war es i m Lauf der Sitzungen gelungen, eine zwangl os informel­ le, vertrauliche und kameradschaftliche Atmosphäre bei der Erörterung äußerst heikler Fragen der Außenpolitik zu schaffen. Grundforderungen für das Erstellen eines Abschlussberichts waren Objektivität, eine sorgfäl­ tige Analyse der Lage und der Entwicklungsperspektiven, das Freisein von ideologischen Schablonen und die Furchtlosigkeit, in Widerspruch zur of­ fiziellen politischen Linie zu geraten. Nicht in allen Fällen konnte dies tatsächlich erreicht werden. Die neuen und manchmal außergewöhnlichen Ideen und Schlussfolgerungen »koexistierten friedlich« mit den alten Kli­ schees und spezifischen Redewendungen, um den Ohren der jeweiligen Vorgesetzten zu schmeicheln. Einen besonderen Platz in der Projektarbeit unter dem Codenamen »Stern« nahm der vierte Themenkomplex ein. Die Arbeit hieran wurde Mitte 1982 begonnen und Anfang 1984 wurden die Ergebnisse in einer kleinen Broschüre für den Dienstgebrauch in einer Auflage von 100 Ex­ 141

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emplaren gedruckt, die an die ZKs der Teilnehmerstaaten des Projekts nach Bulgarien, in die DDR, nach Kuba, in die Mongolei, nach Polen, in die Tschechoslowakei, nach Ungarn und in die Sowjetunion versandt wurden.98 In Zusammenhang mit dem Projekt »Stern 4« ist mir e ine Episode im Gedächtnis geblieben, die mich damals tief beeindruckt hatte. Das erste Treffen der multilateralen Forschungsgruppe fand im Herbst 1982 in Pots­ dam statt. Die deutschen Gastgeber versetzten die Teilnehmer der Arbeits­ gruppe damit in Erstaunen, dass sie für unsere Tagung und Unterbringung das Schlosshotel Cecilienhof zur Verfügung stellten, in dem das Potsdamer Abkommen unterzeichnet worden war. Einige Tage vor Sitzungsbeginn war ich als »Vorhut« in Potsdam eingetroffen, um mit meinen deutschen Kollegen die Tagesordnung und die Geschäftsordnung der Konferenz ab­ zusprechen. Mein Verhandlungspartner war der stellvertretende Direktor des Potsdamer Instituts für internationale Beziehungen, Dr. Werner Hä­ nisch. Er war von Anbeginn an ein engagierter Teilnehmer des Projekts »Stern« und genoss unter seinen Kollegen hohes Ansehen. Wir besprachen zusammen gründlich den Sitzungsplan und gelangten schnell zu einem Konsens bezüglich der Geschäftsordnung. Während eines unserer Gesprä­ che fragte er mich, ob ich mir nicht die Berliner Mauer ansehen wolle, die unweit von Schloss Cecilienhof verlief. Selbstredend ging ich interessiert auf diesen Vorschlag ein. Und so gingen wir nach getaner Arbeit durch den schönen Park in Richtung Mauer. Meinem Blick bot sich ein trostl oses Bild, eine schmerzhafte Narbe des Kalten Krieges, die die Stadt in zwei Tei­ le teilte. Mir kam es vor, als ob ein Messer den lebendigen Leib des deut­ schen Volkes erbarmungslos in zwei Teile zertrennt habe. Diese Trennlinie war das schreckliche Symbol des Ost-West-Konflikts und der Hegemo­ nialpolitik. Ich versuchte, mir vorzustellen, was die Russen empfunden hätten, wenn Deutschland und Japan den Krieg gewonnen hätten und die Grenze ihrer Einflusssphären mitten durch Moskau verlaufen ließen. Für die Russen wäre dies eine schreckliche Tragödie. Warum sollte also nun das deutsche Volk unter dieser Spaltung leiden - einer Spaltung, die zur Zerstückelung des Landes, seiner Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft ge­ 98 Die Broschüre trug den Titel: Aktuálnyje probljémy wnjéschnej polítiki stran ssozialistítscheskowo ssodrúzkestwa w otnoschénii ráswitych kapitalistítscheskich gossudárstw w 1980yje gódy [»Aktuelle Probleme der Außenpolitik der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft gegenüber den entwickelten kapitalistischen Staaten in den 1980er-Jahren«]. Mjeschdunaródnyj naútschnyj projékt »Swjesdä« konfidenziálno [»Internationales wissenschaftliches Projekt >Stern< - vertraulich«], Moskau 1984; im Folgenden wird aus dieser Broschüre zitiert.

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3. Aufstieg und Untergang des internationalen Projekts »Stern«

führt, aber vor allem Familien auseinandergerissen, Bekannte, Freunde, ja einfach die Menschen getrennt hat? Konnten ideologische oder politische Gründe, so fortschrittlich sie auch scheinen mochten, diese Grausamkeit rechtfertigen? Und welche Vorteile erwuchsen der Sowjetunion aus der Spaltung der deutschen Nation? Die schwere Last des Kalten Krieges, des Rüstungswettlaufs, der Militarisierung des Landes? Der niedrige Lebens­ standard der Sowjetbürger? Die nicht hinnehmbare Rückständigkeit des zivilen Sektors der Wirtschaft? Der Teufelskreis der imperialen Machtpo­ litik? Als ich aus meinen düsteren Gedanken wiede r zu mir kam und mich Werner Hänisch zuwandte, fiel mir auf, dass sein Gesicht beim Anblick der Mauer von tiefer Traurigkeit durchdrungen war und ihm die Tränen in den Augen sta nden. Dies erschütterte mich bis auf den Grund der Seele. Wir kehrten schweigend nach Schloss Cecilienhof zurück, jeder in seine Gedanken versunken. Ein weiteres Mal hatte ich mich davon überzeugen können, wie unmenschlich und unheilvoll die Teilung Deutschlands wie auch des gesamten europäischen Kontinents für die Deutschen, für die Russen wie überhaupt für alle Europäer war. Die Schlussfolgerungen der Teilnehmer am Projekt »Stern 4« waren sehr radikal. Mir war es gelungen, in unseren Thesenpapieren eine Rei­ he von »ungewöhnlichen« Ideen unterzubringen. Dafür gab es gewich­ tige Gründe: Die Breschnew-Regierung hatte mit ihrer Politik das eigene Land und ihre Partnerländer im Warschauer Pakt in eine schwierige Lage manövriert. Die Aufstellung der SS-20-Raketen und der Einmarsch so­ wjetischer Truppen in Afghanistan hatten zum faktischen Abbruch des Entspannungsprozesses in den internationalen Beziehungen, einem ge­ fährlichen Anziehen der Rüstungsspirale und zur Verschlechterung der wirtschaftlichen und außenpolitischen Lage der Warschauer-Pakt-Staaten geführt, deren Zustand auch ohne dies zu wünschen übrig ließ. Polen wur­ de von einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise geschüttelt. Die anderen Staaten des Warschauer Pakts standeil bereits an der Schwelle ähnlicher Ereignisse. Die außenpolitischen Gegensätze zwischen der So­ wjetunion und ihren Partnern im Warschauer Pakt hatten sich merklich verschärft, besonders, was Polen und Ungarn betraf. Die Bevölkerung der DDR war über die Stationierung der SS-20-Raketen und der amerikani­ schen Pershing-Raketen in Europa äußerst beunruhigt. Die Führung der DDR mit Erich Honecker an der Spitze konnte diese Tatsache nicht unbe­ rücksichtigt lassen. In der polnischen und ungarischen Presse mangelte es nicht an Erklärungen hochrangiger Politiker, in denen verhaltene Kritik an der Vorgehensweise der Sowjetunion in den Ländern der Dritten Welt und an den umstrittenen Maßnahmen der Sowjetführung auf militärischem 143

VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion

Gebiet untergebracht war. All dies veranlasste mich als Leiter des Projekts, die Untersuchung der drängendsten Fragen der sowjetischen Politik auf die Tagesordnung zu setzen und sie der Führung nach Möglichkeit offen und unverhohlen darzulegen. Konzept und Aufbau der Untersuchung waren auf der Tagung in Sofia am 6. und 7. Juli 1982 besprochen und beschlossen worden. Mein Bericht über die Ergebnisse dieser multilateralen Arbeit zur Vorbereitung des Pro­ jekts »Stern 4« wurde am 27. Juli 1982 an Jurij Andropow versandt. In ihm wurde unter anderem auf Folgendes hingewiesen: »Die Abstimmung der Aufgaben unserer Weltpolitik mit den real vorhandenen inneren Ressourcen und Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung, besonders in den Entwicklungsländern, hat im Vergleich zu den 1970er-Jahren noch wesent­ lich größere Priorität erhalten. (...) Wir haben uns zu Lösungen außenpolitischer Aufgaben hinreißen lassen, ihnen unvergleichlich viel Aufmerksamkeit gewidmet und darüber die innere Festigung der sozialistischen Gesellschaft vernachlässigt. In die Erlangung der militärischen Parität wurden zu große Hoffnungen gesetzt, während dem Kräfteverhältnis der Wirtschaft insgesamt, welches systemerhaltend ist, zu wenig Aufmerksamkeit zuteilwurde. So entstand in der Folge ein Missver­ hältnis zwischen dem militärischen und dem wirtschaftlichen Gleichgewicht in der Konfrontation zweier Systeme. Dies kann schwerwiegende Folgen zeitigen, darunter die Zerstörung des allgemeinen Kräftegleichgewichts zum Nachteil der sozialistischen Bündnisgemeinschaft. Symptome hierfür sind schon erkennbar (...). Die Entspannungspolitik wurde nicht genutzt, um die Wirtschaftsstrukturen zu verbessern und die Produktivität von Industrie und Landwirtschaft spürbar anzuheben. 80 Mrd. Dollar westlicher Kredite haben zu keinem technologischen Aufbruch und Fortschritt der sozialistischen Länder geführt und wurden stattdes­ sen für die Wirtschaft zu einer schweren Belastung. Die veraltete Funktionsweise unserer Wirtschaft ließ eine sinnvolle Verwendung dieser Kredite nicht zu. Wenn wir 200 Mrd. Dollar geliehen hätten, wäre das Ergebnis das Gleiche gewesen, wenn nicht noch schlechter.«99

Die Schlussfolgerung lautete: »Die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder bedürfen umfassender und tief greifender wirtschaftlicher Reformen, um, gestützt auf die neuen Techno­ logien, den Weg intensiver wirtschaftlicher Entwicklung beschreiten zu können. Nach unserer Einschätzung könnte der Transformationsprozess der Wirtschaft zehn bis 15 Jahre in Anspruch nehmen. Für diese Zeit sind günstige außenpoli­ tische Voraussetzungen notwendig, um diese Reformen durchführen zu können. Im andern Fall wären die wirtschaftlichen Grundlagen der Sowjetunion und ihrer Bündnispartner für die Außenpolitik äußerst gefährdet und könnten gesprengt werden.«100

99 ebenda, Projekt »Stern«, Moskau 1984 100 ebenda, Projekt »Stern«, Moskau 1984

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3. Aufstieg und Untergang des internationalen Projekts »Stern«

In diesem Ergebnisbericht wurde auch die in jenen Jahren verbreitete These als unrichtig und für die Planung der Außenpolitik als irreführend bezeichnet, dass der Anteil der Länder des RGW an der Weltproduktion angeblich 33 Prozent betrage. Wir wiesen darauf hin, dass dieser Anteil in Wahrheit bei einer Größenordnung zwischen 15 und 20 Prozent liege. Die wichtigste Aufgabe der Außenpolitik der Warschauer-Pakt-Staaten für die 1980er-Jahre sahen die Teilnehmer der Konferenz in Sofia in der Suche nach Wegen der Rückkehr zur Entspannungspolitik in den zwi­ schenstaatlichen Beziehungen, um den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Druck der USA und ihrer Verbündeten von den Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft zu nehmen. Hierfür war aus unserer Sicht eine neue, den Interessen beider Seiten entsprechende Formel der Entspannung notwendig, auf deren Ei nhaltung strikt geachtet werde n und die zugleich als stabile Grundlage für einen Modus Vivendi in den OstWest-Beziehungen dienen sollte. In dem Bericht hieß es: »Eine lebenswichtige Voraussetzung hierfür sind die Bereitschaft, die Möglichkeit und die Fähigkeit, politische Gegensätze zwischen Ost und West zuzulassen und nach Kompromissen zu suchen. Wenn dies gelingt, wird man auf die Erreichung von Vereinbarungen zum Abbau der militärischen Konfrontation, zur Abrüstung und zur Beseitigung der Kriegsgefahr wie auch auf ein Nachlassen des wirtschaft­ lichen Drucks auf die sozialistischen Länder hoffen können. Deshalb ist es wich­ tig, die wesentlichen Bereiche politischer Gegensätze zwischen der Sowjetunion und ihren Bündnispartnern im Warschauer Pakt und im RGW einerseits und zu den Westmächten und ihren Verbündeten andererseits zu benennen, den Charak­ ter und den Schweregrad dieser Gegensätze, die Rolle objektiver Faktoren und subjektiver Auffassungen, aber auch Fehltritte und Fehleinschätzungen bei ihrer Entwicklung aufzuzeigen. Dies würde helfen, den Grad ihrer Beständigkeit zu bestimmen und zu klären, wie sie abgeschwächt, ausgeglichen oder überhaupt beseitigt werden können. Ebenso ist es erforderlich, eine genaue Vorstellung über unsere eigenen nationalstaatlichen Interessen im Rahmen der sozialistischen Ent­ wicklung zu erhalten und zu erarbeiten, eine Antwort auf die Frage zu finden, wel­ che außenpolitischen Ziele wir in der Lage sind zu erreichen und welche davon für die Verwirklichung unserer nationalen Interessen zweckmäßig sind. Wir brauchen eine realistische Rangordnung der Prioritäten für unsere Außenpolitik unter Beob­ achtung folgender Voraussetzungen: 1) der Bedarfsdeckung der inneren Entwick­ lung der sozialistischen Staatengemeinschaft und 2) eines neuen politischen, wirt­ schaftlichen und militärischen Kräftegleichgewichts auf internationaler Ebene.«101

In diesem Bericht wurden besonders die negativen Folgen der sowjetischen Politik in den Ländern der Dritten Welt hervorgehoben: »Die Erfahrung der 1970er-Jahre hat gezeigt, dass die Entspannungspolitik und der ganze Komplex der gegenseitigen Beziehungen zwischen den Ländern des War­ 101 ebenda, Projekt »Stern«, Moskau 1984

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VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion schauer Pakts und der NATO in engem Zusammenhang mit ihren Aktivitäten in den Entwicklungsländern stehen. In den 1980er-Jahren wird sich dieser Zusam­ menhang noch deutlicher abzeichnen. Angesichts dieser Tatsache ist es wichtig, das Verhältnis der sozialistischen Staatengemeinschaft zu militärischen, territoria­ len und nationalen Konflikten sowohl zwischen den Entwicklungsländern als auch innerhalb eines jeden von ihnen zu überdenken. Unter diesem neuen Blickwinkel müssen auch die Waffenlieferungen an Entwicklungsländer betrachtet werden. All diese Probleme müssen unter dem Vorzeichen der Beobachtung des Schlüs­ selinteresses der Stärkung der sozialistischen Bündnisgemeinschaft gelöst werden. Auf längere Sicht wird es notwendig sein, die Rolle der üblichen Praxis der Dip­ lomatie und der partnerschaftlichen Beziehungen mit den Entwicklungsländern zu stärken. (...) In den 1980er-Jahren und in fernerer Zukunft werden indirekte Auswirkungen und der Vorzeigeeffekt von Erfolgen oder Misserfolgen der sozia­ listischen Bündnisgemeinschaft auf diese Länder in ihrer wirtschaftlichen, techno­ logischen und gesellschaftlichen Entwicklung eine wesentlich größere Bedeutung erlangen.«102

So wurde die schädliche politische und militärische Aktivität der Sowjet­ union in Angola, in Äthiopien, im Jemen, in Mosambik und Afghanistan, die zum Abbruch des Entspannungsprozesses und zur Zuspitzung des OstWest-Konflikts geführt hatte, der Kritik unterworfen. Die Ideen und Gedan­ ken, die bei dieser Zusammenkunft i n Sofia ausgesprochen worden waren, wurden zum Vektor der wissenschaftlichen Untersuchungen im Projekt »Stern 4«. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten wir vor allem folgen­ de Unter suchungsgegenstände der Ost-West -Beziehungen: di e Grundzüge der Weltentwicklung, die Dynamik der Veränderung des Gleichgewichts und Kräfteverhältnisses auf internationaler Ebene, Tendenzen der Politik des Westens gegenüber den Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts* und des RGW, die Rolle der Entwicklungsländer, aber ebenso solche Faktoren wie den technologischen Fortschritt, Probleme der Versorgung mit Energie, Rohstoffen und Lebensmitteln. Diskutiert wurden die vorrangige Ausrich­ tung der Außenpolitik der sozialistischen Länder, die Möglichkeiten und Bedingungen des Abbaus der politischen Spannungen in den B eziehungen zum Westen, Schritte zur Beseitigung der Kriegsgefahr, die Verringerung des Ausmaßes der militärischen Konfrontation, der Stand und die Pers­ pektiven zur Entwicklung von wirtschaftlichen, technologischen und wis­ senschaftlichen Beziehungen zum Westen u. a. Besondere Aufmerksamkeit wurde der dringenden Notwendigkeit der Verbesserung der inneren po­ litischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage der sozialistischen Länder zuteil, aber auch der Dringlichkeit einer Neuausrichtung der staat­ lichen Aktivitäten der sowjetischen Führung weg von der Konzentration 102 ebenda, Projekt »Stern«, Moskau 1984

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3. Aufstieg und Untergang des internationalen Projekts »Stern«

allein auf die Außenpolitik und der Konfrontation mit dem Westen, hin zum Bereich der inneren Entwicklung des Landes, um wenigstens die dort angehäuften politischen und wirtschaftlichen Probleme zu beseitigen. Im Ergebnisbericht dieser Untersuchung mangelte es nicht an Kritik an den außenpolitischen Dogmen und der Fehleinschätzung der außenpolitischen Lage, die für die Menschen und das Land eine vollkommen überflüssige ideelle und materielle Belastung ungeheuren Ausmaßes bedeuteten. Der entscheidende Faktor für den Stand und die Perspektiven der Ent­ wicklung des Ost-West-Konfli kts war die richtige Einschätzung des Kräf­ teverhältnisses zwischen den rivalisierenden Mächten. Die zu der Zeit in der sowjetischen Praxis verbreitete Einschätzung führte zu einer völlig fal­ schen Vorstellung darüber, inwieweit den von der sowjetischen Führung verfolgten Zielen in der globalen Konfrontation mit dem Westen auch die realen materiellen Möglichkeiten der Sowjetunion und ihrer Verbündeten entsprachen. Es war üblich, für eine solche Einschätzung folgende Ausdrü­ cke zu gebrauchen: »Kräfteverhältnis zwischen dem Sozialismus und dem Kapitalismus auf internationaler Ebene« oder »Verhältnis zwischen den Ländern zweier verschiedener gesellschaftspolitischer Systeme«. Diese Begrifflichkeiten waren Atavismen der Stalin’schen Theorie von den »Reserven der Weltrevolution«, welche nach seiner Meinung die nati­ onalen Befreiungsbewegungen in den Kolonien und die kommunistischen (Arbeiter-)Bewegungen in den Weltmetropolen darstellten. Hierzu wurden auch die Friedens- und Abrüstungsbewegungen gezählt, die teilweise von Moskau aus gesteuert wurden. Man konnte unschwer die ganze Unhalt­ barkeit dieses trügerischen und für Politik und Strategie gefährlichen An­ satzes aufdecken. Darüber gibt folgender Auszug aus der Ergebnisstudie Aufschluss: »Die gesellschaftspolitische Struktur der modernen Welt ist durch Komplexität, Vielgestaltigkeit und Ungleichmäßigkeit gekennzeichnet. Im Rahmen, beider Welt­ systeme sind mehrere Machtzentren mit sich um sie gruppierenden Staaten und auch Übergangszonen entstanden. Der Übergang von der bipolaren Struktur zur Multipolarität wurde eine der wichtigsten Entwicklungstendenzen der Welt in der Nachkriegszeit. Es liegt auf der Hand, dass sich dieser Trend auch in Zukunft wei­ ter fortsetzen wird. Dabei ist der Bedeutungsverlust seit einiger Zeit bestehender und die Bildung neuer Machtzentren nicht auszuschließen. Bei der Einschätzung des Kräfteverhältnisses muss man notwendigerweise davon ausgehen, dass die Kollision zweier Systeme auf internationaler Ebene vor allem ein Kampf zwischen Staaten und ihren Verbündeten ist, ein Kampf, dessen Ausgang vor allem durch den Gebrauch der staatlichen Ressourcen jeglicher Art entschieden wird. Zu den Faktoren, die bei der Einschätzung des Kräfteverhältnisses zu berück­ sichtigen sind, gehören vor allem das wirtschaftliche und militärische Potenzial beider Seiten, das durch menschliche und natürliche Ressourcen, das technologi­

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VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion sche Niveau der Produktion und den Grad der Bedarfsdeckung der Bevölkerung als Grundlage gesellschaftspolitischer Stabilität gestützt wird. Mittels Vergleich dieser wichtigsten Parameter und mithilfe der Einschätzung ihrer möglichen Ver­ änderung kann man auf längere Sicht eine zu erwartende Dynamik der Verän­ derungen des Kräfteverhältnisses zwischen den verschiedenen Machtzentren und Staaten der beiden politischen Systeme erstellen. Dabei ist es unerlässlich, zu berücksichtigen, dass es im Rahmen des Systems der sozialistischen Staaten Kräfte gibt, die den Warschauer-Pakt-Staaten gegen­ über freundlich gesinnt sind, welche, die man als neutral bezeichnen kann (Jugo­ slawien, Nordkorea), aber auch solche, die ihnen feindlich gegenüberstehen (Chi­ na, Albanien). Das künftige Verhalten Chinas scheint uns ziemlich unberechenbar zu sein. Es liegt jedoch vollkommen auf der Hand, dass China auch in Zukunft als eigenständige Macht auftreten wird, die außerhalb der sozialistischen Bündnisge­ meinschaft bleiben wird. (...) Die multipolare Struktur der modernen Welt stellt die Fragemach dem Kräfteverhältnis zwischen dem Kapitalismus und dem Sozi­ alismus vollkommen neu. Es ist völlig klar, dass es im Prinzip möglich wäre, auf der Basis militärischer, wirtschaftlicher und. anderer Kriterien die Gesamtheit der Länder des sozialistischen Lagers mit allen nichtsozialistischen Staaten zu verglei­ chen. Die Ergebnisse eines solchen Vergleichs der Systeme, die aus Machtzentren mit ganz unterschiedlichen, ja sogar gegensätzlichen Interessen bestehen, könnten jedoch kaum das reale Kräfteverhältnis widerspiegeln. Eine genauere Vorstellung vom realen Kräfteverhältnis könnte man erhalten, wenn man das ökonomische Potenzial aller Länder des RGW (oder seines europäischen Teils) mit dem der Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung* (OECD) oder der drei führenden westlichen Zentren (USA, EG und Japan) ver­ gliche. In militärischer Hinsicht müsste man die Warschauer-Pakt-Staaten mit den Ländern der NATO plus Japan und China vergleichen (...). Letztlich hat für die Bestimmung der Perspektiven des Konflikts zwischen den beiden Systemen die Gegenüberstellung der materiellen Ressourcen der Staaten des Warschauer Pakts und der Länder, die ihnen im Konflikt direkt oder indirekt gegenüberstehen, ent­ scheidende Bedeutung.«103

Wie sah dieser Vergleich zu jener Zeit aus? Erläutern wir dies auf der Basis der in der Studie enthaltenen Grunddaten: Den Vergleichsergebnissen zufolge überstieg das Bruttoinlandsprodukt der drei oben genannten westlichen Zentren dasjenige der europäischen Länder des RGW gegen Ende der 1970er-Jahre annähernd um da s Dreifa­ che, wobei allein die USA ungefähr ein 1,5-mal so großes und die Länder der EG ein 1,2-mal so großes Bruttoinlandsprodukt aufwiesen. Die materiellen Möglichkeiten der europäischen Länder des RGW waren vor allem durch ihren Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt gekennzeichnet. 1980 wies dieses folgende Aufteilung auf: Sowjetunion und die europäischen Länder des RGW 15,3 Prozent, die Länder der Or­ ganisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 103 ebenda, Projekt

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3. Aufstieg und Untergang des internationalen Projekts »Stern«

65 Prozent, davon entfielen auf den Anteil der USA 23 Prozent, auf die EG 17 Prozent und auf Japan 8 Prozent. Besonders wichtig für den Vergleich des politischen Potenzials der Mächte war das Niveau ihrer technologischen Entwicklung. Der Westen hatte in der Entwicklung des technologischen Potenzials einen immensen Vorsprung. In der Ergebnisstudie wurde dazu angemerkt: »Ungeachtet dessen, dass es den Staaten der sozialistischen Bündnisgemeinschaft gelungen war, beachtliche Erfolge zu erzielen und Weltstandard in einzelnen Berei­ chen der Wissenschaft und ihrer Anwendung (vor allem auf militärischem Gebiet und in der Luft- und Raumfahrt) zu erreichen, klafft in anderen Produktionsberei­ chen eine riesige Lücke zum Westen. Derzeit entsprechen weniger als ein Fünftel der in den Ländern des RGW produzierten Maschinen und Produktionsanlagen dem Weltstandard. Dementsprechend unterproportional klein ist der Anteil der von den Ländern des RGW gelieferten Maschinen und Produktionsanlagen auf den Weltmarkt. In den 1970er-Jahren gingen diese Lieferungen merklich zurück und betrugen zum Jahr 1980 ganze 2,3 Prozent. Standen unter den entwickelten Ländern die europäischen Länder des RGW zu Beginn der 1970er-Jahre in der Ausfuhr von Maschinen und Produktionsanlagen hinter dem Westen um etwa 15 Prozent zurück, so vergrößerte sich dieser Rückstand zum Jahr 1980 um mehr als das Vierfache. Als direkte Folge der technologischen Lücke und des rückständi­ gen Wirtschaftsmechanismus, die nicht dem Bedarf der weltwirtschaftlichen Ent­ wicklung angepasst waren, befanden sich die Länder des RGW hinter den westli­ chen Ländern im Bereich der Arbeitsproduktivität und der Effizienz der Produkti­ on erheblich im Rückstand. So überstiegen die USA die europäischen Länder des RGW in diesem Parameter um das 2,5-fache, die Länder der EG überstiegen sie um das 1,7-fache (...). In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre betrug der durch­ schnittliche Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung der Sowjetunion nur 36 Prozent von dem der USA, darunter nur 54 Prozent des Pro-Kopf-Verbrauchs der USA an Lebensmitteln, 41 Prozent an Textilien, 13 Prozent an langlebigen Gebrauchsgütern und 20 Prozent an Wohnraum.«104

In der genannten Studie wurde auch darauf hingewiesen, dass die wirt­ schaftliche und technologische Rückständigkeit der Sowjetunion gegen­ über den westlichen Ländern sich in Zukunft nur noch weiter verstärken wird, weil die Wachstumsraten der sowjetischen Produktion, besonders im zivilen Sektor der Wirtschaft, von Jahr zu Jahr gesunken sind. In de n 1950er-Jahren betrugen sie 9,5 Prozent, in de n 1960er-Jahren 6 bis 7 Pro­ zent, in den 1970er-Jahren 4,5 Prozent und Anfang der 1980er-Jahre nur noch 3 Prozent. Eine ähnliche Situation konnte man auch in den anderen RGW-Staaten beobachten. In diesem Zusammenhang stellten wirkest: »Der Rückgang des Wirtschaftswachstums der RGW-Länder und der Verlust der Dynamik ihrer wirtschaftlichen Entwicklung, die durch zahlreiche Faktoren 104 ebenda, Projekt »Stern«, Moskau 1984

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VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion bedingt sind, wirken sich negativ auf. das Kräfteverhältnis zwischen ihnen (den RGW-Ländern) und den westlichen Staaten aus. Besonders schwerwiegende Fol­ gen einer solchen Entwicklung wird man in Zukunft erwarten müssen.«105

Hiervon ausgehend konnten die Leser dieser Studie nicht umhin, zu be­ greifen, mit welchen untauglichen und zugleich unerschwinglichen Mit­ teln die sowjetische Führung ihre Weltpolitik betrieb. Diese führte zu einer gefährlichen Verletzung aller Regeln des politischen Sachverstands. Die messianische Hegemonialpolitik, welche die Sowjetunion betrieb und die zum Kalten Krieg und zum weltweiten Rüstungswettlauf ge­ führt hatte, kostete die Menschheit unglaubliche Mengen an unproduk­ tivem Verbrauch von Ressourcen und Geldmitteln. Von 1949 bis Ende der 1970er-Jahre waren die Militärausgaben von 125 bis zu 560 Mrd. Dollar angestiegen. Diese machten 6 Prozent des weltweiten Bruttoin­ landsprodukts aus. Zum Vergleich: In der Zwischenkriegszeit zwischen den beiden Weltkriegen stieg dieser Indikator niemals höher als auf drei Prozent an. Dabei muss man anmerken, dass zu jener Zeit die Bedeutung des weltweiten Bruttoinlandsprodukts bei Weitem niedriger war als im Jahr 1980. Von 1980 an stieg die Kurve der Militärausgaben weltweit steil nach oben. 1982 stieg die Höhe der Militärausgaben auf die Marke von 750 Mrd. Dollar an, was 7 Prozent Wachstum bedeutete im Vergleich zur durchschnittlichen Wachstumsrate von 2 Prozent in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre. Dies war direkt a uf die wachsende sowjetische Expansi­ on in jener Zeit zurückzuführen. Der Anteil an den weltweiten Militärausgaben betrug im Jahre 1979 für die Länder der NATO etwa 43 Prozent und für die L änder de s War­ schauer Pakts 26,4 Prozent. Die finanzielle Belastung für die Sowjetunion war dabei unvergleichlich viel höher als für die USA. Der Anteil der Ame­ rikaner an den Militärausgaben der NATO betrug 1982 54 Prozent, wäh­ rend der entsprechende Anteil der Sowjetunion im gesamten Warschauer Pakt sich der Marke von 90 Prozent näherte. Darüber, wie schwer die Last der Militärausgaben für die Wirtschaft der Sowjetunion 1982 war, geben die Daten über den Anteil der Militärausgaben am jeweiligen Bruttoin­ landsprodukt Aufschluss: Für die Sowjetunion machte dieser Posten um die 10 bis 15 Prozent aus, für die USA nur 5,2 Prozent, für Großbritannien 4,9 Prozent, für Frankreich 4 Prozent, für die Bundesrepublik Deutsch­ land 3,3 Prozent und für Japan weniger als 1 Prozent. Diese vergleichende Analyse ließ keinen Zweifel darüber, dass die so­ wjetische Führung gar keine Chance hatte, die Konfrontation mit dem 105 ebenda, Projekt »Stern«, Moskau 1984

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3. Aufstieg und Untergang des internationalen Projekts »Stern«

Westen auf längere Sicht durchzustehen, und dass eine dringende Not­ wendigkeit bestand, einen annehmbaren A usweg aus dieser verzweifelten Lage zu finden, in der sich das Land befand. Jahrzehntelang haben die sowjetischen Machthaber versucht, dieses Problem ausschließlich im mili­ tärischen Bereich zu lösen: mittels Abrüstungsverhandlungen und Verein­ barungen mit den USA und deren Bündnispartnern. Dies brachte einige Teilerfolge und Erleichterungen in Form von Rüstungsbeschränkungen. Der sinnlose Rüstungswettlauf hielt unterdessen dennoch weiter an. Die Studie »Stern 4« enthielt eine Reihe neuer, ungewöhnlicher Rat­ schläge und Konzepte bezüglich der Abrüstung. Neben allem anderen fo­ kussierte man auf Folgendes: »Eine radikale Begrenzung des Ausmaßes der militärischen Konfrontation und des Wettrüstens kann man mittels Angleichung grundlegender Interessen in den Bezie­ hungen zwischen den Ländern der NATO und des Warschauer Paktes erreichen. Dies bedeutet jedoch auf keinen Fall, dass Ost-West-Verhandlungen mit dem Ziel, zu Abrüstungsvereinbarungen zu gelangen, auszuschließen sind, selbst auch bei fehlendem politischem Interessensausgleich. (...) Angesichts der gegenwärtigen instabilen Lage stehen Maßnahmen der NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten zur Verhinderung eines Überraschungsangriffs einer der beiden Seiten, von Konfliktsi­ tuationen, die zum Krieg führen können, besonders aufgrund von Zufälligkeiten, Fehlkalkulationen, menschlichem Versagen oder infolge einer unkontrollierbaren Eskalation der Situation, im Vordergrund unserer möglichen Initiativen. Eine von solchen Maßnahmen könnte die Bildung einer ständigen Kontakt­ gruppe, bestehend aus Vertretern der Stäbe und Sekretariate von NATO und War­ schauer Pakt sein. Aufgaben einer solchen Kontaktgruppe könnten die operative Lösung aktueller Sicherheitsfragen beider Bündnisse sein, die Einberufung von Expertenanhörungen zu den entsprechenden Fragen, aber auch die Entwicklung gemeinsamer Ansichten und die Abstimmung gemeinsamer Vorgehensweisen zur Festigung der bilateralen Sicherheit sowie die Glättung der entstehenden Differen­ zen. Die bloße Tatsache der Bildung einer solchen Gruppe könnte einen wesentli­ chen Beitrag zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens und der Berechenbarkeit zwischen den Mitgliedsstaaten der NATO und des Warschauer Pakts leisten. Dies könnte den Boden für weitere und detailliertere Vereinbarungen zwischen den beiden Bündnissen bezüglich der gegenseitigen Sicherheit bereiten.«106

Neben weiteren möglichen Maßnahmen in der genannten Richtung wur­ den in der Studie folgende Schritte vorgeschlagen: • die weitere Verbesserung der Bedingungen und Anforderungen, um zu einem Abkommen zwischen der NATO und dem Warscha uer Pakt zu gelangen, sich gegenseitig nicht anzugreifen, gegeneinander und gegen Drittstaaten, d. h. gegen Staaten a ußerhalb des Rahmens dieses Abkommens, keine Gewalt anzuwenden; 106 ebenda, Projekt »Stern«, Moskau 1984

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VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion

• die Weiterentwicklung von bilateralen vertrauensbildenden Maß­ nahmen (Meldung von Manövern, Schulungen, Truppen- und Waf­ fenverlegungen, Austausch von Beobachtern bei der Durchführung militärischer Übungen, Austausch von Militärdelegationen, Verbes­ serung der Bedingungen für die Durchführung von Inspektionen vor Ort usw.); • Entwicklung und Durchführung gemeinsamer Maßnahmen, zur Ver­ meidung gefährlicher Störfälle, von Fehlalarm und falschen Signalen für die militärischen Kommandoebenen; • die Einrichtung eines direkten »heißen Drahtes« zwischen den Ober­ befehlshabern und Stabschefs der NATO und des Warschauer Pakts. Für die Jahre 1982 und 1883, als die Ost-West-Spannungen ihren Hö­ hepunkt erreicht hatten und die sowjetische Führung in der NATO die größte Gefahr für das sowjetische Russland und seine Verbündeten ver­ körpert sah, mussten diese Vorschläge in höchstem Maße »revolutionär« wirken. Erst zur Zeit des Umbruchs unte r Gorba tschow wurde ihre drin­ gende Notwendigkeit schließlich anerkannt und entsprechende Maßnah­ men verabschiedet. In der genannten Studie wurden anschaulich der Trugschluss und die Schädlichkeit der Doktrin von der »strategischen Parität« für die Sow­ jetunion nachgewiesen. Diese Lieblingsdoktrin Breschnews, der immer eine Schwäche für trügerische »Erfolge« und für den großen Effekt von Machtdemonstrationen hatte, stellte die sowjetische Propaganda in einem solchen Licht dar, als ob sie die größte außenpolitische Errungenschaft sei und die Weisheit der Parteiführung demonstriere, indem sie auch als Beweis für die unerschöpflichen Möglichkeiten der Sowjetunion diente, die offenbar keine Mühe hatte, im Rüstungswettlauf mit dem W esten auf Augenhöhe mitzuhalten. In Wirklichkeit aber stürzte sie das Land unter ungünstigen wirtschaftlichen Voraussetzungen und einem negativen Kräf­ teverhältnis in eine aussichtslose und zermürbende Konfrontation mit den USA und ihren Verbündeten. Mittels Anhebung des Rüstungsniveaus, be­ sonders auf dem Gebiet neuer Technologien bei den Angriffs- und Vertei­ digungswaffen, aber auch bei der Raketenabwehr zwangen die USA die Sowjetunion unter Anwendung der bewährten Zermürbungstaktik, ihre letzten Kräfte aufzubieten und sich faktisch »zu Tode zu rüsten«. In der genannten Studie waren Empfehlungen enthalten, die Doktrin von der »strategischen Parität« durch die »Konzeption der Suffizienz« zu ersetzen, was es ermöglichen konnte, die Schlagkraft und qualitative Komponente der Streitkräfte der Warschauer-Pakt-Staaten auf eine Ebene mit den An­ 152

3. Aufstieg und Untergang des internationalen Projekts »Stern«

forderungen der militärischen und politischen Sicherheit dieser Länder zu bringen, die unnötige Belastung ihrer Wirtschaft aufzuheben und die USA und die NATO somit der Möglichkeit zu berauben, der Sowjetunion ihren Willen aufzuzwingen. Das Übergehen der sowjetischen Führung zur »Kon­ zeption der Suffizienz« konnte die Chancen erhöhen, die Verhandlungen über Abrüstung und Sicherheit aus jener Sackgasse herauszuführen, in der sie schon mehr als ein Jahrzehnt festgefahren waren. Der Versuch einer ra­ dikalen Lösung der Abrüstungsfrage in Europa war nicht nur an politischideologischen Hindernissen gescheitert, sondern auch an dem mehrfachen Übergewicht der Warschauer-Pakt-Staaten bezüglich der Landstreitkräfte. Für die Experten war dies offensichtlich. Jedoch wollte die sowjetische Führung diese Tatsache um keinen Preis zugeben. Deshalb blieb die Mehr­ zahl der sowjetischen Initiativen zum Abbau der Kriegsgefahr und zur Festigung der Sicherheit in Europa, wie z. B. der Abzug der taktischen und Mittelstreckenraketen aus Europa, der Verzicht auf einen atomaren Präventivschlag, die Errichtung atomfreier Zonen u. a., größtenteils rei­ ne Propaganda. Der Westen stellte dem Übergewicht der Sowjetunion an konventionellen Waffen sein Kernwaffenpotenzial entgegen. Deshalb war es vollkommen aussichtslos, zu versuchen, einen radikalen Durchbruch in den Abrüstungsverhandlungen zu erreichen. Dies schadete nicht nur dem Interesse an F rieden und Sicherheit in Europa, sondern auch den lebens ­ wichtigen Interessen und Bedürfnissen der Sowjetunion. Wozu benötigte sie ein vielfaches Übergewicht an konventionellen Waffen? Konnte sie sich etwa nicht mit einem einfachen Gleichgewicht begnügen, das schon für sich allein eine extreme Belastung für ihre Wirtschaft darstellte? In diesem Zusammenhang hob die Studie hervor: »Bestimmte Voraussetzungen für die Herstellung einer solchen Parität wurden be­ reits bei den Verhandlungen in Wien erörtert. Deshalb besteht keine Notwendig­ keit, wieder ganz bei null anzufangen. Daneben ist es notwendig, die Tatsache zu berücksichtigen, dass in den letzten Jahren in der) NATO-Staaten die Tendenz gestiegen ist, die Ausrüstung des Bündnisses mit konventionellen Waffen auf ein solches Niveau anzuheben, dass man damit in der Lage wäre, nicht nür Verteidi­ gungsaufgaben zu erfüllen, sondern auch Angriffsaufgaben mit weitreichenden Zielen zu übernehmen. (...) Die europäische Gruppe der NATO, die Führung der Bundeswehr, aber auch das Verteidigungsministerium der Bundesrepublik Deutschland wie auch die Militärkreise der anderen NATO-Mitgliedsstaaten haben sich wiederholt für eine starke, mit konventionellen Waffen ausgerüstete Verteidigungsarmee ausgesprochen. Auch der Rogers-Plan* stellt eine Bewegung in diese Richtung dar, sodass diese Idee mit der Zeit auch für Washington sehr attraktiv werden könnte, denn ihre Umsetzung würde es ermöglichen, die Last der Militärausgaben weitgehend auf die Schultern der Europäer abzuladen und gleichzeitig die >Sicherheitsschwelle< für die USA selbst zu erhöhen. Die europäi­

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VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion schen Länder könnten dagegen durch ihre vermehrte Beteiligung an den Aktivi­ täten der NATO sowohl bezüglich der Finanzierung als auch der zahlenmäßigen Stärke des beteiligten Personals ihre Sicherheit vor der Gefahr eines Atomkriegs erhöhen. In diesem Falle wäre die Erhöhung der Militärausgaben durchaus mit den lebenswichtigen Interessen der westeuropäischen Staaten zu rechtfertigen. Angesichts dieser Lage hat die neue Initiative der Warschauer-Pakt-Staaten be­ züglich der Realisierung der >Null-Variante< im Bereich der atomaren Abrüstung in Europa, die untrennbar mit dem Gleichgewicht im Bereich der konventionellen Waffen hinsichtlich Zahlenstärke des Personals und der technischen Kampfmit­ tel verbunden ist, viel mehr Aussicht auf Erfolg. Sie kann mit Unterstützung in Kreisen der NATO rechnen wie auch auf eine positive Aufnahme in der westeu­ ropäischen Öffentlichkeit. (...) Im Falle einer positiven Annahme im Westen kann dieser Vorschlag es andererseits auch ermöglichen, die militärische Konfrontation zwischen den beiden Supermächten zu reduzieren und das gegenseitige Vertrau­ en in Europa zu stärken, vor allem aber könnte er einen fruchtbaren Boden für den Abzug amerikanischer Mittelstreckenraketen aus Europa bereiten. (...) Ein Vorankommen in dieser, wie es scheint, zentralen Richtung beim Abbau der mili­ tärischen Spannungen zwischen Ost und West würde die Suche der USA und der Sowjetunion nach gemeinsamen Lösungen für die Begrenzung und Reduzierung der strategischen Waffen erleichtern. Es bleibt auch zu hoffen, dass auf diese Weise in die Prozesse der atomaren Abrüstung auch andere Atommächte und -regionen mit eingebunden werden.«107

Die damalige sowjetische Führung blieb gegenüber solchen Vorschlägen taub. Erst unter Gorbatschow wurden realistische Daten über die über­ flüssige vielfache Überlegenheit der Sowjetunion bei den konventionellen Waffen, besonders aber bei den Panzern, bekannt. Diese Überlegenheit zog die sowjetische Industrie und Gesellschaft wie ein schwerer Stein zu Boden. Sie war f ür die Sowjetunion in den ersten Jahren nach dem Ende des Weltkriegs noch sinnvoll gewesen, als Stalin versuchte, der amerikani­ schen Atommacht gewaltige Landstreitkräfte entgegenzusetzen. Bis 1950 hielt er mehr als acht Millionen Soldaten unter Waffen. In den 1970erund 1980er-Jahren aber, als zwischen dem Westen und der Sowjetunion ein relatives Gleichgewicht in der Atomrüstung e rreicht war und der Krieg seine Bedeutung als rational kalkulierbares Mittel zur Erreichung politi­ scher Ziele verloren hatte, veränderte sich die Funktion der Landstreit­ kräfte grundlegend. Doch davor verschloss die damalige Kremlführung die Augen und unternahm nichts, um das Land von der Last der unrealis­ tisch aufgeblasenen Landstreitkräfte zu befreien. Im Projekt »Stern 4« wurden vor allem die politischen Grundlagen der damaligen sowjetischen Außenpolitik einer kr itischen Anal yse unter­ zogen:

107 ebenda, Projekt

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3. Aufstieg und Untergang des internationalen Projekts »Stern« »Der Bereich der politischen Beziehungen ist bestimmend für die Gestaltung des ge­ samten Komplexes der Beziehungen zwischen der sozialistischen Staatengemein­ schaft und den Ländern des kapitalistischen Westens. Davon, wie sich die Lage rund um die politischen Beziehungen zwischen Ost und West entwickelt, hängen auch die Fragen von Krieg und Frieden, die Möglichkeit der Abrüstung, die Vor­ aussetzung für wirtschaftliche Beziehungen und vieles mehr ab. Denn Krieg, Rüs­ tungswettlauf und alle Arten von Druckausübung - in militärischer, wirtschaft­ licher, technologischer, außenpolitischer und propagandistisch-psychologischer Hinsicht - sie alle sind die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln. Sie sind die Folge und das Ergebnis der Entwicklung von politischen Gegensätzen. Für die Lösung grundlegender Probleme in den Wechselbeziehungen von Staaten zweier verschiedener gesellschaftspolitischer Systeme - die Beseitigung der Gefahr eines Atomkriegs, die Rüstungsbegrenzung, die Sicherstellung stabiler Grundlagen für eine friedliche Koexistenz - muss man vor allem die politischen Ursachen dieser Phänomene beseitigen, d. h. Wege zur Überwindung der Gegensätze und Differen­ zen suchen und solide politische Kompromisse finden.«108

Was jedoch erforderte diese Annäherung der politischen Interessen? Wie konnte sie umgesetzt werden? Was konnte den W esten dazu veranlassen, den Modus der Konfrontation zu verlassen? Wo lagen die Grenzen des politischen Ausgleichs für die Sowjetführung und wo für die Regierungen der NATO-Länder? Dies waren grundlegende Fragen, die ihrer Lösung harrten. Um die Voraussetzungen für einen politischen Ausgleich zu schaf­ fen, war es vor allem notwendig, die Theorie des Klassenkampfes von der Aureole der Unfehlbarkeit zu befreien, die der Rechtfertigung der sowje­ tischen messianischen Expansion gedient hatte. Die Verfasser der Studie gingen davon aus, dass das Dogma vom Klassenkampf in der Außenpo­ litik im atomaren Zeitalter zu gefährlichen Verirrungen geführt habe, die die Existenz der gesamten Menschheit bedrohten. Um diese These zu un­ termauern und sie für die Parteiführung überzeugender zu machen, berie­ fen sich die Verfasser, wie das in solchen Fällen üblich war, auf Lenin, der einmal hervorgehoben hatte, dass »die Interessen der gesellschaftlichen Entwicklung höher [stehen] als die Interessen des Proletariats«109.

108 ebenda, Projekt »Stern«, Moskau 1984; vgl. auch: Daschitschew, Wjatsche­ slaw L: Episoden aus der sowjetischen Deutschlandpolitik der 80er Jahre (Erlebnisse und Erkenntnisse), in: Heiner Timmermann (Hg.): Die Kontinentwerdung Europas. Festschrift für Helmut Wagner zum 65. Geburtstag (= Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, Bd. 75). Berlin (Duncker & Humblot) 1995, S. 559 109 Lenin, Wladimir Iljitsch: Entwurf eines Programms unserer Partei [1899; erstmals veröffentlicht 1924], in: Lenin, Werke, Bd. 4, Berlin (Dietz Verlag) 1955, S. 221-248, hier: S. 230

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VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion

Diese pragmatische Kritik war der Beginn einer längst überfälligen Entideologisierung der sowjetischen Außenpolitik. Sie führte zur Anerken­ nung der Grundprinzipien des Völkerrechts und der Moral, wie sie in der internationalen Sta atengemeinschaft Gelt ung besaßen. In der Studie wur­ de auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass die Sowjetunion Charakter, Methoden, Umfang und Ausrichtung der außenpolitischen Konfrontation mit den grundlegenden Anforderungen unserer Zeit in Einklang bringen musste, nämlich mit der Notwendigkeit der Abwendung einer atomaren Katastrophe und der Sicherstellung stabiler Grundlagen für die friedli­ che Koexistenz und Zusammenarbeit zwischen den Ländern beider Ge­ sellschaftssysteme. In Wirklichkeit bedeutete dies die Neubewertung der Grundsätze, Inhalte und Ziele der sowjetischen Außenpolitik und ihre Ein­ bindung in den Rahmen weltweit anerkannter Normen des Völkerrechts. Wichtig war es auch, von der veralteten außenpolitischen Praxis der Zeiten Stalins und seiner Nachfolger endlich Abschied zu nehmen, die da lautete: »Widersprüche zwischen den Imperialisten zu schüren und sie ge­ geneinander auszuspielen«, und zu einer verantwortungsvollen, auf Zu­ sammenarbeit gründenden, friedlichen und Sicherheit gewährleistenden Politik überzugehen. In der Studie hieß es dazu wie folgt: »Die größten Chancen in der gegenwärtigen Situation verspricht nicht das Ausspie­ len der Gegensätze zwischen den USA und Westeuropa oder generell zwischen den westlichen Ländern, sondern eine reale Initiative und konkrete Schritte, die beim Westen ein lebhaftes Interesse an der Erneuerung der allseitigen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und anderen Staaten der sozialistischen Bündnisgemeinschaft zu wecken vermögen.«110

Die Angleichung des Spektrums der politischen Interessen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten hing von vielen objektiven und sub­ jektiven Faktoren ab, von denen in der Studie folgende aufgeführt wurden: • Ziele und Prioritäten der Außenpolitik und die Art ihrer Umsetzung; • der sehr enge Zusammenhang zwischen der Außenpolitik und de r in­ neren Entwicklung eines Landes (sein Gesellschaftssystem, die Rolle der herrschenden Eliten, Besonderheiten ihrer Führung, die Bedeu­ tung nationaler Traditionen und ihrer Entwicklung, die politische Kultur, der Zustand der Wirtschaft, das Vorhandensein von natürli­ chen Ressourcen, die Art der außenpolitischen Entscheidungen usw.); • Einfluss der Ideologie; • bestehende Bündnisse und ihre Verpflichtungen;

110 Projekt »Stern«, Moskau 1984

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3. Aufstieg und Untergang des internationalen Projekts »Stern«

• Auswirkungen von Maßnahmen in Entwicklungsländern auf die Ost-West-Beziehungen; • Einfluss globaler Probleme; • Bedeutung internationaler und nationaler Behörden. Wie konnte man diese auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Fak­ toren für die Staaten der NATO und des Warschauer Pakts auf einen ge­ meinsamen Nenner bringen? Vor allem musste man sich die wichtigsten Aspekte der gegenseitigen Beziehungen vor Augen halten. Aus Sicht der Verfasser der Studie wurden in den 1980er-Jahren langfristig folgende Vektoren der Entwicklung benannt: • Verzicht auf die Anwendung von Gewalt; • die gegenseitige Achtung der national-staatlichen Interessen; • die gegenseitige Nichteinmischung in die jeweiligen inneren Angele­ genheiten wie auch in die inneren Angelegenheiten von Drittstaaten; • Prinzip der Nichtanwendung von Gewalt auch in Bezug auf Dritt­ staaten, sei es im Rahmen von bilateralen Bündnisverpflichtungen innerhalb der NATO oder des Warschauer Pakts, sei es in Bezug auf blockfreie oder neutrale Staaten; • Verzicht auf einseitige Vorteilsnahme; • Einhaltung etwaiger gegenseitiger Interessen; • Gewährleistung gleicher Sicherheit; • Zurückhaltung in der Außenpolitik; • schnelle Lösung von internationalen Konfliktsituationen, wo immer sie entstehen mögen; • regelmäßige Durchführung von politischen Konsultationen. Die Anerkennung und Einhaltung dieser Prinzipien im internationalen Geschehen konnte zur Wiederaufnahme der Entspannungspolitik auf bei­ den Seiten wie zur allgemeinen Wiederherstellung des Vertrauens in den Ost-West-Beziehungen beitragen. Besondere Bedeutung hatte die Nicht­ einmischung in die inneren Angelegenheiten von Drittstaaten, aber auch die Nichtanwendung von Gewalt innerhalb der beiden Blöcke. Was die Außenpolitik der Sowjetunion anbelangte, so betraf dies direkt die Bresch­ new-Doktrin. In der St udie wurde dieser Problemkreis schließlich in fol­ gender Frage zusammengefasst: »In welchem Maße kann man damit rechnen, dass die Regierungskreise der USA und der westeuropäischen Länder auf die Anerkennung der genannten Prinzipien,

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VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion ihre Einhaltung und die grundlegende Abstimmung ihrer politischen Interessen mit denen der Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts eingehen?«111

Die Antwort lautete: »In der gegenwärtigen Lage ist es unmöglich, von den USA eine Entscheidung be­ züglich der grundlegenden Probleme in den Ost-West-Beziehungen auf der Grund­ lage des internationalen Status quo der 1970er-Jahre zu erwarten. Die Position der westeuropäischen Verbündeten der USA kann in dieser Frage nicht so kom­ promisslos sein, obwohl sie als Voraussetzung für die Wiederaufnahme normaler Beziehungen zur Sowjetunion und anderen Warschauer-Pakt-Staaten eine Reihe von Forderungen politischer und militärischer Natur gestellt haben. (...) Wenn es gelingt, neue Kompromisse zwischen den Mitgliedsstaaten der NATO und des Warschauer Pakts unter Einhaltung der oben angeführten, weltweit anerkann­ ten Verhaltensregeln zu finden, besonders bezüglich der Länder der Dritten Welt, dann kann man auf lange Sicht auf die Entwicklung stabiler Grundlagen für eine friedliche Koexistenz und auf die Rückkehr zu einer neuen Phase dauerhafter Ent­ spannungspolitik hoffen.«112

Auf diese Weise wurde unzweideutig darauf hingewiesen, dass eine Beendi­ gung des Ost-West-Konflikts, aber auch ein Entspannungsprozess so lange unmöglich war, wie die von Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltsam zementierte Friedensordnung in Europa herrschte. Diese Ordnung beruhte vor allem auf der Teilung des gesamten Kontinents und Deutschlands so­ wie der sowjetischen Vorherrschaft in Osteuropa. Wie konnte man diesen Zustand überwinden? Zu Beginn des Jahres 1980 schien dies selbst auf lange Sicht unmöglich. Damals hing letzten Endes alles davon ab, ob die Spannung aus de n feindlichen Beziehungen zwischen Ost und West her­ ausgenommen und ob ein Übergang zu einer ne uen Etappe de r E ntspan­ nung in den zwischenstaatlichen Beziehungen vollzogen werden konnte. Aus meiner Sicht war es notwendig, Lösungen zu finden, mit deren Hilfe man die grundlegenden politischen Interessen der europäischen Länder auf einen Nenner bringen konnte, um den Kalten Krieg zu beenden. Das Endergebnis der Studie passte ganz und gar nicht in das gewohnte Weltbild der Parteioligarchen. Es enthielt viele neue Ideen, die ich bereits 1982 in meinem Memorandum an Andropow dargelegt hatte. Unsere deutschen Kollegen äußerten Befürchtungen, dass die Führung der DDR mit Erich Honecker an der Spitze die Studie in der vorgelegten Formu­ lierung nicht annehmen und kaum einer es wagen würde, das Dokument an das Sekretariat des ZK der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) weiterzuleiten. Deshalb wurde folgende Vorgehensweise vorge­ 111 ebenda, Projekt »Stern«, Moskau 1984 112 ebenda, Projekt »Stern«, Moskau 1984

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4. Sowjetisch-amerikanische Gespräche 1988 und 1989

schlagen und beschlossen: Jede einzelne nationale Expertengruppe sollte auf der Grundlage der gemeinsamen Untersuchung ihren eigenen Bericht erstellen und der Führung ihres Landes vorlegen. Die Studie selbst konnte als Arbeitsmaterial für die Mitarbeiter des ZK dienen. Unter den Parteigängern der harten Linie im ZK der KPdSU rief das Projekt »Stern 4« Empörung hervor, besonders beim Sekretär des ZK und Leiter der Abteilung für die sozialistisc hen Länder, Konstantin W. Russa­ kow*, der zu den engsten Mitstreitern Breschnews gehörte. Dies führte letztendlich zur Entlassung des Expertenteams und zum Einfrieren des Projekts »Stern« in der dunklen Zeit der Regierung Tschernjenko, die die kurze Periode der Vorreformzeit des Umdenkens und der mutigen Erneu­ erungen unter Andropow ablöste. Ohne Zweifel hinterließ die erwähnte Studie eine tiefe Spur im Be­ wusstsein derer, die mit ihr vertraut wurden. Sogar aus dem sowjetischen Verteidigungsministerium erreichten mich positive Rückmeldungen derer, die in der Lage waren, den Kern des Geschehens richtig einzuschätzen und einzuordnen. Im Verlauf der Perestrojka wurden viele Ideen aus dem intellektuellen Erbe des Projekts »Stern« in die Tat umgesetzt.

4. Europa soll nicht zwischen Hammer und Amboss leben müs­ sen - Sowjetisch-amerikanische Gespräche 1988 und 1989 Die Diplomaten der USA und der Sowjetunion unternahmen während des Kalten Krieges nicht we nig, um die scharfen Kanten des O st-West-Kon­ flikts zu glätte n und einen offenen Zusammenstoß zwischen den USA und der UdSSR zu vermeiden. Mitte der 1980er-Jahre jedoch konnte diese re­ lative internationale Stabilität, die auf dem »Gleichgewicht der atomaren Abschreckung« beruhte, den nationalen Interessen der UdSSR nicht mehr entsprechen, die in das Stadium eines tief greifenden Systemwandels ein­ getreten war, welcher zu einer radikalen demokratischen Erneuerung des sozialistischen Gesellschaftssystems und zur Beendigung der gefährlichen Konfrontation auf internationaler Ebene führen sollte. Damals wurde das Problem der Beendigung des Kalten Krieges und des Rüstungswettlaufs, die die Wirtschaft des Landes und die Gesellschaft untragbar belasteten, zum Eckpfeiler der sowjetischen Politik gemacht. Gleichzeitig wurde die Suche nach Wegen des Übergangs zu einer neuen europäischen Ordnung, frei von der Konfrontation zwischen den beiden Teilen des Kontinents, wiederbelebt. Die Lösung dieses Problems hing un­ mittelbar vom Erreichen eines poli tischen Intere ssensausgleichs zwischen

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VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion

den USA und der UdSSR sowie zwis chen den Ländern West- und Osteu­ ropas ab. Freilich schien es zum Ende der 1980er-Jahre so, als ob die offizielle sowjetische Di plomatie ihre Möglic hkeiten zur Erreichung von spürbaren Ergebnissen auf diesem Wege erschöpft hatte. Es ging in der Tat darum, grundlegende Fragen zu lösen, nämlich gleichberechtigte, partnerschaft­ liche Beziehungen zwischen der UdSSR und den mittel- und osteuropäi­ schen Ländern ohne sowjetisches Diktat herzustellen und auch die Spal­ tung Deutschlands zu überwinden. Dies setzte eine radikale Abkehr vom Stalinismus in der sowjetischen Außenpolitik voraus. So stellten sich da­ mals die Hauptvoraussetzungen für die Beendigung des Kalten Krieges dar. Doch wer aus dem sowjetischen Außenministerium hätte es zu der Zeit gewagt, konkret z. B. über die Wiedervereinigung Deutschlands zu sprechen? Niemand hätte sich dazu durchgerungen, eine solche Verant­ wortung auf sich zu nehmen, obwohl ein tief greifender Umbruch in der sowjetischen Außenpolitik, unter anderem auch in der deutschen Frage, im Interesse einer erfolgreichen gesellschaftspolitischen und wirtschaftl i­ chen Umgestaltung und Weiterentwicklung der UdSSR absolut unerläss­ lich war, um die neue Friedensordnung in Europa voranzubringen und die globale Konfrontation zu überwinden. Für die Verwirklichung einer solchen Kehrtwende waren ideologische Scheuklappenfreiheit und Unvoreingenommenheit, nicht wenig Mut und ein richtiges Verständnis der nationalen Interessen, sowohl der eigenen als auch der der anderen europäischen Länder, erforderlich. Schon deshalb war die Wahl der Möglichkeit en, zu einem außenpolitische n Interessens­ ausgleich zwischen den USA und der Sowjetunion zu gelangen, nicht allein Sache der Diplomaten. Man beauftragte damit auch Wissenschaftler, die wesentlich freier und ungezwungener in ihren Beurteilungen und Empfeh­ lungen an die Führung waren als die offiziellen Mitarbeiter der Ministe­ rien. Mitte des Jahres 1988 wurde auf Initiative Moskaus der sowjetisch­ amerikanische Dialog zum Thema »Bedeutung und Rolle Osteuropas für die Beseitigung der Spannungen in den Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion« begonnen. Aufseiten der Sowjetunion nahm die führende Rolle in diesem Dialog wieder einmal das IEMSS unter Leitung des Akademikers Oljeg T. Bogomolow ein und seitens der USA das Ins­ titut zur Erforschung von Veränderungen im System der internationalen Beziehungen der Columbia University. Vonseiten der USA nahmen an dem Dialog bekannte Politiker und Politologen teil, wie Zbigniew Brzeziński*, 160

4. Sowjetisch-amerikanische Gespräche 1988 und 1989

Strobe Talbott*, Seweryn Bialer*, James E Brown*, William E. Griffith*, Charles Gati*, Angela Stent* und die Botschafter der USA in Prag und Bukarest, William H. Luers* und Mark Palmer*; von sowjetischer Seite außer mir Oljeg T Bogomolow*, Igor I. Orlik*, A. Njekipjelow*, P. Grin­ berg, J. Wolkowa, L. Schewzowa, A. Jaskowa und andere Mitarbeiter des IEMSS. Die Dialogkonferenzen fanden im Juli 1988 in Washington und im Juli 1989 in Moskau statt. Mir als Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen des IEMSS wurde aufgetragen, die Diskussionsgrundlage auszuarbeiten, ei­ nen Einleitungsvortrag mit dem Thema »Europa im Wandel - sowjeti­ scher und amerikanischer Ansatz«, an dessen Abfassung auch J. Wolkowa, L. Schewzowa sowie A. Jaskowa mitarbeiteten. Er trug vertraulichen Cha­ rakter und war nicht zur Veröffentlichung oder zum Zitieren bestimmt. Die amerikanische Seite ha tte keinen Eröffnungsvortrag vorbere itet, son­ dern beschränkte sich auf Diskussionsbeiträge während der Sitzungen. Ein Bericht über die erste Sitzung wurde in Washington in der Zeitschrift Problems of Communism (Ausgabe Mai-August 1988)113 veröffentlicht. Hierfür hatte unsere Seite ein spezielles Referat mit den grundlegenden Ideen zur Diskussion beigesteuert. Heute noch sind die sowjetisch-amerikanischen Dialoge jener Jahre über die künftige Ordnung Europas und der Welt Gegenstand großen wis­ senschaftlichen und politischen Interesses. Wie stellten wir uns die neue Weltordnung in unserem Diskussionspapier vor? Wir gingen davon aus, dass demokratische Refor men in der UdSSR, begleitet von einer tief grei­ fenden Umgestaltung des Staatssystems in den Ländern Mittel- und Ost­ europas, zum Entstehen einer qualitativ neuen Ordnung i n Europa führen würden und die Spaltung des Kontinents in zwei feindliche Lager über­ wunden werden könnte. Das von der Gorbatschow-Regierung verkündete Prinzip der freien Wahl eines eigenständigen Entwicklungswegs für die Länder Mittel- und Osteuropas eröffnete reelle Möglichkeiten, die Ursa­ chen für den Kalten Krieg und den Rüstungswettlauf zu beseitigen. Diese Länder sollten nicht länger dem Diktat und der Gewalteinwirkung von außen unterworfen sein, von wo diese auch immer ausgingen. Die Aufteilung Europas in Einflusssphären und Blöcke der USA und der UdSSR wurde als gefährlicher Anachronismus betrachtet. Beide Su­ permächte sollten sicherstellen, dass der Übergang Europas zu einer neuen 113 Brzeziński, Zbigniew Kazimierz: East-West Relations and Eastern Europe: Special Address, in: Problems of Communism, Bd. 37, Nr. 3 (May-August 1988), S. 67-70

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VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion

Ordnung friedlich verlief und ohne die internationale Stabilität zu gefähr­ den. Die Wahrnehmung Europas als eine Region der gegenseitigen Rivali­ tät sollte der Vergangenheit angehören. Versuche der einen oder anderen Seite, die Transformationsprozesse in den Ländern Mittel- und Osteuro­ pas für ihre politischen Interessen zu missbrauchen, konnten die Lage auf dem Kontinent gefährlich destabilisieren. Für eine friedliche Umgestaltung Europas waren der gute Wille, eine Abkehr vom konfrontativen Denken in Kategorien des Kalten Krieges, Zurückhaltung und die Unterlassung er­ forderlich, einander Schaden zufügen z u wollen. Als am bes ten für die Ei­ nigung Europas wurde eine allmähliche Annäherung de r beiden Teile auf der Grundlage der Theorie der Konvergenz angesehen. Als Vorbild für die Entwicklung eines neuen Europa (eines »gesamteuropäischen Hauses«) konnte die Europäische Gemeinschaft dienen. Der Westen sollte das Be­ streben Russlands, in die europäische Zivilisation zurückzukehren, nicht behindern. Die USA und Kanada wurden von uns als unverzichtbare Teil­ nehmer der zwischenstaatlichen Prozesse im geeinten Europa betrachtet. Um die Einheit Europas zu erreichen, war die allmähliche Überwindung der Teilung Deutschlands und letztlich die Schaffung eines wiedervereinig­ ten deutschen Staates notwendig. Während unserer Konferenz in Washington erklärte Zbigniew Brzeziński: »Ich habe das Thesenpapier, das als Grundlage für unsere Diskussionen ausgearbeitet wurde, aufmerksam durchgelesen und muss sagen, dass ich mit vielen darin enthaltenen Ideen einverstanden bin.«114 Den zentra len Punkt des Dokuments jedoch, dass eine militärische Inter­ vention der Sowjetunion in den Ländern Mittel- und Osteuropas sich nie mehr wiederholen soll, hielt er für eine nicht weiter beachtenswerte und nicht vertrauenswürdige Behauptung. Hier sollte er sich irren. Die amerikanischen Positionen bezüglich der Lage der Länder Mit­ tel- und Osteuropas stimmten mit unseren in vielerlei Hinsicht überein. Brzeziński skizzierte die wichtigsten Aspekte der Nachkriegsentwicklung in den Ländern Mittel- und Osteuropas und hob dabei sechs Punkte her­ vor: • Osteuropa spielt eine wichtige Rolle in den gegenseitigen Beziehun­ gen zwischen den USA und der UdSSR. Die Entwicklung von Gegen­ sätzen zwischen ihnen in Bezug auf diese Region hatte zum Kalten Krieg geführt. Entscheidende Bedeutung für seine Entstehung hatte die Ausweitung des kommunistischen Systems auf Osteuropa infol­ ge der Gewaltpolitik Stalins. Diesem System fehlt die Legitimität, da 114 Brzeziński, ebenda, S. 68

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4. Sowjetisch-amerikanische Gespräche 1988 und 1989

die Völker, denen es aufgedrängt wurde, nicht frei sind, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. • Das osteuropäische System ist ineffektiv sowohl in sozialer als auch in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, da es die Bedürfnisse des Menschen nicht befriedigen und den notwendigen Lebensstandard nicht gewährleisten kann. Dies hat zur Krise der kommunistischen Ideologie, zur Entstehung eines Revisionismus in den Parteieliten und zu sozialen Unruhen in der Region geführt. • Die Wirtschaftsreformen in Osteuropa können ohne die Mitwirkung des Westens und westliche Hilfe nicht erfolgreich sein. Selbst 70 Mrd. Dollar, die den Ländern Osteuropas in den 1970er-Jahren in Form eines Kredits zur Verfügung gestellt worden waren, haben nicht zur Modernisierung ihrer Wirtschaft und zur Erhöhung ihrer Konkur­ renzfähigkeit geführt. Sie wurden nutzlos vergeudet. Schuld daran ist nicht nur da s wir tschaftliche, sondern auch das pol itische Syste m dieser Länder. Ohne die Schaffung eines gut funktionierenden plura­ listischen Systems können die sozialen und wirtschaftlichen Proble­ me dieser Länder nicht überwunden werden. • Die gegenwärtigen Tendenzen der Entwicklung in Osteuropa sind potenziell gefährlich für die Stabilität des Ost-West-Verhältnisses. Osteuropa rutscht allmählich in die klassische Lage einer vorrevo­ lutionären Krise. Objektive und subjektive Voraussetzungen hierfür sind bereits vorhanden. • Niemand ist am Ausbruch von Revolutionen in Osteuropa interes­ siert. Ein solcher Ausbruch würde den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen schweren Schaden zufügen. Eine militärische Interven­ tion der Sowjetunion mit dem Ziel, solche revolutionären Aufstände zu unterdrücken, hätte zudem schwerwiegende Folgen nicht nur für die Ost-West-Beziehungen, sondern auch für die politischen Refor­ men in der UdSSR selbst. Das besorgniserregende Paradox besteht darin, dass das weitverbreitete Bewusstsein der militärischen Nicht­ einmischung der Sowjetunion die Wahrscheinlichkeit von revolutio­ nären Aufständen erhöhen kann. • Es wäre i m Interesse der Länder Os teuropas, der stabilen Os t-WestBeziehungen, speziell zwischen den USA und der UdSSR, dass die tief greifenden Umwandlungsprozesse in der Region friedlich verlaufen. Deshalb kommt der Aufrechterhaltung der beiden Militärbündnis­ se der NATO und des Warschauer Pakts große Bedeutung zu. Die politischen Transformationsprozesse in Osteuropa sollten mit ihrer Unterstützung ablaufen. Den Osteuropäern sollte das Recht zuge­ 163

VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion

standen werden, über das Schicksal des Sozialismus in ihren Län­ dern nach eigenem Ermesse n zu befinden und ihn durch ein anderes System zu ersetzen. »Ein frei gewählter Sozialismus in Osteuropa«, sagte Brzeziński, »kann in gewissem Sinne etwas vollkommen ande­ res darstellen, als dort jahrzehntelang vorgeherrscht hat und als sich in der Sowjetunion entwickeln wird.«115 Seiner Ansicht nach musste dies durchaus nicht unbedingt den nationalen Interessen der UdSSR widersprechen: »Ein legitimes, durchaus berechtigtes Interesse der Sowjetunion besteht darin, dass sich Osteuropa in geopolitischer Hinsicht nicht feindlich gegenüber der Sowjet­ union verhält. Aber Osteuropa wird ihr gegenüber nur dann nicht geopolitisch feindlich gesinnt sein, wenn es nicht mehr zur ideologischen Unterwürfigkeit und Nachahmung des (sowjetischen) Systems gezwungen wird, was unausweichlich zu sozialen und politischen Unruhen führt.«116

In den Diskussionen wurden auch Probleme der Sicherheit bei der Umge­ staltung Europas angesprochen. In diesem Bereich konnten wir eine ge­ wisse Annäherung unserer Positionen feststellen. Nach der Vorstellung de r amerikanischen Kollegen war es an der Zeit, die Verhandlungen über die Reduzierung der strategischen Waffen und der gewöhnlichen Streitkräfte energisch voranzubringen, um die Folgen der Spaltung Europas in zwei Blöcke abzumilder n. Dies entsprach auch durchaus unseren Überzeugun­ gen: Osteuropa sollte aufhören, Hauptquelle der Zwietracht zwischen den USA und der UdSSR zu sein. S o konnten die wichtigsten Voraussetzungen für die Beendigung des Kalten Krieges und die Entstehung einer neuen Friedensordnung in Europa geschaffen werden. Im Folgenden der Wortlaut unserer Diskussionsgrundlage: »EUROPA IM WANDEL: SOWJETISCHER UND AMERIKANISCHER ANSATZ 1. Während vieler Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren der Angel­ punkt der Weltpolitik die Beziehungen zwischen Staaten zweier Gesellschafts­ systeme, vor allem von deren führenden Nationen, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, zwischen denen sich eine globale Rivalität entwickelt hatte. Hauptschlachtfeld ihrer Auseinandersetzungen war Europa. Bis heute herrscht die Meinung vor, dass die USA und die UdSSR als >Supermächte< dazu verurteilt seien, globale Rivalen zu sein. Dieser Meinung wird man kaum zustimmen können. Das Phänomen der globalen Konfrontation und die Be­ rechtigung des Vorhandenseins allumfassender, globaler Interessen der UdSSR

115 Brzeziński, ebenda, S. 69 116 Brzeziński, ebenda, S. 70

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4. Sowjetisch-amerikanische Gespräche 1988 und 1989 und der USA kann man, wenn sie jemals durch irgendetwas zu rechtfertigen und erklärbar waren, heute als Anachronismus betrachten. Selbst so gewaltige Mächte wie die USA und die UdSSR sind auf Dauer kaum in der Lage, die Last der Überanspannung zu tragen, welche ihr Eingebundensein mit allen Komponenten ihres Potenzials in die Angelegenheiten aller Regionen der Welt mit sich bringt. Und braucht es das überhaupt? Schließlich definieren sich die Macht und die internationalen Positionen eines Staates letztlich nicht durch seine direkte oder indirekte Präsenz an allen Ecken und Enden der Welt, son­ dern durch die Effizienz seiner inneren wirtschaftlichen, politischen und gesell­ schaftlichen Struktur. Schon gar nicht mehr hinnehmbar ist die Vorstellung von Europa als Zone irgendeiner Rivalität, zwischen wem auch immer. Den USA und der UdSSR war es historisch vorherbestimmt, in die europäischen Angelegenheiten ein­ bezogen zu sein. Viele Jahrzehnte sind sie in der Rolle der Hauptexponenten zweier rivalisierender Blöcke aufgetreten. Nun ändert sich diese ihre Rolle nach Maßgabe der Veränderungen der europäischen Realitäten. 2. Europa ist lange schon den Kinderschuhen der kurzlebigen Nachkriegsperiode entwachsen und hat ein sehr hohes Maß an politischer Reife erlangt. Dies betrifft nicht nur den westlichen Teil des Kontinents (was offensichtlich ist), sondern auch seine östliche Region. Irgendwann war auch zwischen den USA und der UdSSR das gegenseitige Verständnis für die europäische Problematik so weit gefestigt, dass man die Notwendigkeit zur Erhaltung und Festigung der Stabilität auf dem Kontinent einsah. Niemand würde diesem Ansatz wi­ dersprochen haben, wenn ihm nicht die zwar offiziell bestrittene, doch faktisch von beiden Ländern anerkannte Aufteilung des Kontinents in >Einflusssphä­ ren< zugrunde gelegen hätte. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist dieser Ansatz eindeutig veraltet. Er ist eine Antwort auf die Herausforderungen von gestern. Denn seine Vorausset­ zungen gehen weit in die Zeiten des Eisernen Vorhangs, der Grenzbefestigun­ gen und Mauern zurück, die den Kontinent zerteilen, die aber nicht mehr der heutigen europäischen Wirklichkeit entsprechen, in der sich einiges schon in ein Relikt des Kalten Krieges verwandelt hat. In Europa haben Prozesse radikaler Veränderungen im regionalen Bezie­ hungsgeflecht begonnen, wobei von den Veränderungen sowohl einzelne kon­ krete Länder als auch überregionale Strukturen erfasst werden. Diese Verän­ derungen können unter günstigen Bedingungen in nicht allzu ferner Zukunft zu einer wesentlichen Verwandlung der gesamteuropäischen Lage führen - ei­ ner Verwandlung, die in den Konsequenzen den Helsinki-Prozess bei Weitem übertrifft. Dies wäre - wenn man historische Parallelen anführen will - ein >neues JaltaAnti-JaltaJalta l< bedeutete die Spaltung des Kontinents, >Jalta 2< (das >Anti-Jaltagemeinsamen Hauses für Eu­ ropa< ein schöngeistiger, sentimentaler Wunsch. 4. Die Perestrojka in der UdSSR geht mit radikalen Veränderungen in Osteuropa einher. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass sich das Beispiel der Sowjetunion objektiv auch auf die Lage in Osteuropa auswirken muss. Einen Automatis­ mus der Abhängigkeit gibt es hier nicht, andernfalls wäre hier eher von einer gegenseitigen Abhängigkeit zu sprechen, zumal die reformatorischen Tenden­ zen und entsprechende Aktivitäten in einer Reihe osteuropäischer Länder eher begonnen haben als in der UdSSR. Dies lässt sich vor allem dadurch erklären, dass diese Veränderungen in der inneren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Struktur dieser Länder nicht nur historisch herangereift wa­ ren, sondern zu einer Lebensnotwendigkeit wurden. Dies wurde von den poli­ tischen Kreisen erkannt. Wie jeder radikale Bruch mit einer seit Jahrzehnten bestehenden Lage tra­ gen die Perestrojka und die Reformen (verschiedener Gestalt, doch im Kern alle einheitlich im Ersetzen einer veralteten, künstlich vereinheitlichten Struk­ tur durch eine neue, grundlegend andere, den nationalen Besonderheiten ent­ sprechende Organisation der Gesellschaft und des Staates), die in Osteuropa sich entfaltenden gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Umgestaltun­ gen, zwangsläufig sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch ein großes destabilisierendes Potenzial in sich. Diese Prozesse sind aus der Krise hervor­ gegangen, in welche die gesamte Nachkriegsentwicklung diese Länder geführt hatte. Dieser Krisenzustand ist praktisch für alle Länder Osteuropas typisch. Zwar variiert die Lage in ihnen erheblich und trägt jeweils spezifische Schattie­ rungen und Züge, Form und Ausrichtung der Reformen sind in den einzelnen Ländern jedoch gleich, wie auch diese Länder sie mit der gleichen Berech­ tigung ausführen. Die Pluralisierung der sozialistischen Welt hat die letzten Jahrzehnte entscheidend geprägt, doch hat diese Tendenz zum gegenwärtigen Zeitpunkt bedeutend zugenommen. Die Krisenerscheinungen haben auch ihre gegenseitigen Beziehungen be­ rührt. Es war eine deutliche Diskrepanz zwischen den Ländern zu bemerken, die sich auf einer unterschiedlichen Stufe der Demokratisierung befanden.

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VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion Die einen (Ungarn und Polen) haben den Weg der radikalen Erneuerung und der Entwicklung von neuen gesellschaftlichen Mechanismen beschritten; die anderen führen moderate Reformen durch, ohne im Wesentlichen den Rahmen der bisherigen Vorstellungen vom Sozialismus zu verlassen. Es gibt Länder, deren Führung immer noch versucht, das administrative Kommando­ system beizubehalten. Die weiter andauernde Krise des bestehenden Sozialis­ musmodells, das Anwachsen der wirtschaftlichen und politischen Schwierig­ keiten in der Gesellschaft in den nächsten fünf bis zehn Jahren werden aber auch hier früher oder später dazu zwingen, nach neuen Formen der Entwick­ lung zu suchen. Im anderen Fall sind eine Vertiefung der Unzufriedenheit in der Bevölkerung und gesellschaftliche Erschütterungen nicht zu vermeiden. Ungarn und Polen haben den Weg der parlamentarischen Demokratie be­ schritten, die auch eine Opposition und Koalitionsregierungen mit einschließt. Hier ist es für die kommunistischen Parteien auch möglich, in die Opposi­ tion zu gehen. Es ist selbst nicht ausgeschlossen, dass dies ihre Autorität in der Gesellschaft wiederherstellt. Klar ist allerdings, dass es unter den Bedin­ gungen der Aufrechterhaltung der früheren Allmacht der kommunistischen Parteien schwer, ja unmöglich sein wird, Wirtschaftsreformen durchzuführen, einen Markt zu schaffen, die Demokratie und Selbstverwaltung zu entwickeln. Offenbar wird bei der Formierung eines neuen Gesellschaftssystems in den sozialistischen Ländern die Rolle des Staates, vor allem seiner wählbaren Or­ gane zunehmen, die die Machtbefugnisse aus den bisherigen Parteistrukturen übernehmen. In der Mehrzahl der Länder wird wahrscheinlich eine Entwick­ lung eintreten, in der die kommunistische Partei um ihren Einfluss auf die Regierungsgewalt kämpfen muss, indem sie Koalitionen eingeht oder mit an­ deren politischen Kräften konkurriert. Kaum jedoch wird dies den Übergang Osteuropas oder einzelner seiner Länder zu einem dem westlichen analogen System bedeuten. In Anbetracht des Charakters ihrer früheren Entwicklung, des Reifegrades ihrer Gesellschaften, ist es denkbar, dass diejenigen Elemente der allgemeinen zivilisatorischen Erfahrung, die heute in den osteuropäischen Ländern wiederhergestellt werden (zum Beispiel die Einrichtung der Gewal­ tenteilung), ihre spezifischen Formen und Bedeutungen erhalten werden. Osteuropa ist in die komplexe und lang andauernde Phase des Übergangs. von einem totalitären zu einem pluralistischen System eingetreten. Auf diesem Weg kann es auch zu Rückfällen und Abbremsungen kommen. Die Reformen werden unvermeidlich von Konflikten und gefährlich explosiven Situationen begleitet sein, die nicht nur regionale, sondern auch globale Auswirkungen haben können. Angesichts der Ungleichmäßigkeit der Reformprozesse sind auch eine wei­ tere Abgrenzung zwischen den Ländern und sogar die Entstehung neuer ri­ valisierender Gruppierungen nicht auszuschließen. Kurzum, die gegenseitigen Beziehungen zwischen den osteuropäischen Ländern können zu einem neuen Spannungsfeld in Europa werden. Vieles wird davon abhängen, ob die USA und die UdSSR wie auch die westeuropäischen Staaten in der Lage sein wer­ den, unter diesen Bedingungen eine konstruktive und flexible Haltung einzu­ nehmen. Versuche der einen oder anderen Seite, ihre Entwicklung in eine für sie günstige Richtung zu lenken, können in diesen Ländern nur zur Destabili­ sierung führen und zum Anlass für die Aktivierung neostalinistischer oder

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4. Sowjetisch-amerikanische Gespräche 1988 und 1989 anderer reaktionärer Kräfte werden. Dies kann insbesondere auch über das Ausüben von Druck, mit dem Ziel, die kommunistischen Parteien überhaupt von der Macht zu entfernen, gesagt werden. Die (auch im Interesse der europä­ ischen Stabilität) optimale Variante wäre die Unterstützung der Reformkräfte in den kommunistischen Parteien. Uns scheint, dass die westlichen Staaten, darunter die USA und ihre Ver­ bündeten, die Gefährlichkeit einer solchen Destabilisierung begreifen und ausgehend von ihrem Interesse an der Festigung der Stabilität in Europa eine einigermaßen zurückhaltende und ausgewogene Haltung einnehmen. Zumin­ dest kann dies, was die Schwierigkeiten bei der Entwicklung der Beziehungen in der sozialistischen Welt betrifft, über den Bereich der Beziehungen der Sow­ jetunion zu Osteuropa und die Situation im Warschauer Pakt gesagt werden. Für ihren Teil bringt die Sowjetunion Verständnis dafür auf, dass die Um­ wandlungsprozesse in Osteuropa die Möglichkeiten für Dialog und Zusam­ menarbeit zwischen Ländern beider Systeme erweitern. Der Erfolg der Re­ formen in den osteuropäischen Ländern und die Perestrojka in der UdSSR können auf lange Sicht viele Ost-West-Wasserscheiden unterspülen. Die Kri­ senerscheinungen sind dagegen eine Tatsache der Übergangsperiode - sie müs­ sen überwunden und durch die wohlwollende Anteilnahme und das Zusam­ menwirken aller Staaten, die an Wohlstand und Frieden in Europa interessiert sind, überlebt werden. 5.

Einen anderen Weg zu einer neuen Qualität Europas gehen die westeuropä­ ischen Staaten, deren Entwicklung zum reißenden Strom des politischen Le­ bens im östlichen Teil des Kontinents auffallend kontrastiert. Ungeachtet der vielen Schwierigkeiten und Wechselfälle innerhalb der westeuropäischen Re­ gion und in den Beziehungen zu ihrem Überseepartner beeindrucken hier die Erfolge der Integration, besonders wenn es gelingt, die Pläne der Europäischen Gemeinschaft für 1992 zu verwirklichen. Durch die Integrationsbeziehun­ gen, die verzweigte Infrastruktur der zwischenstaatlichen Mechanismen der wirtschaftlichen, politischen, militärischen und kulturellen Zusammenarbeit, konnte Westeuropa eine der Sphären der Konzentrierung politischen Einflus­ ses und der Wirtschaftsmacht - nicht nur im kapitalistischen Teil, sondern in der ganzen Welt - werden, das Herz der Weltpolitik. Die Länder dieser Region sind auf dem Weg des Fortschritts und der De­ mokratie weiter als andere vorangekommen, konnten die nationajen Barrieren überwinden und allmählich - durch viele Schwierigkeiten und Verwicklun­ gen hindurch - Erfolge in der Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Kultur und soziale Errungenschaften zum gemeinsamen Erbe machen. Sie sind weit auf dem Weg fortgeschritten, ihre Region in ein einheitliches Rechtsgebiet zu ver­ wandeln, nicht nur indem sie ihre Rechtsnormen aneinander anglichen, son­ dern auch indem sie in den meisten Fällen ihre eigene Gesetzgebung mit den grundlegenden internationalen Rechtsakten (Schlussakte von Helsinki*, UNZivilpakt* u. a.) in Übereinstimmung brachten. Könnten nicht solche zwischenstaatlichen Beziehungen (die, wenn auch nicht ideal, aber zum jetzigen Zeitpunkt und auf überschaubare Perspektive optimal sind) zum Beispiel für alle europäischen Länder und Völker werden?

6.

Die Entwicklung Westeuropas ruft nicht nur Bewunderung, Neid und den Wunsch hervor, sich dieser zivilisierten Welt anzuschließen, sie nährt auch die

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VIII. Die Umgestaltung der Aussenpolitik der Sowjetunion Hoffnung auf die Möglichkeit der - wenn auch nicht baldigen, so doch zu­ künftigen - Bildung einer vollkommen neuen Situation auf dem Kontinent. Ist die Europäische Gemeinschaft etwa nicht nach Geist und in vielem auch in or­ ganisatorischer Hinsicht eine Art Prototyp des >gesamteuropäischen Hauses