Von der Dingfrage zur Frage nach Gott: Zum eigentlichen Ursprung von Religiosität in Kants Transzendentalphilosophie [Reprint 2013 ed.] 9783110909661, 3110179423, 9783110179422

In contrast to the customary interpretation that the religious question about whether there is a God does not arise for

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Von der Dingfrage zur Frage nach Gott: Zum eigentlichen Ursprung von Religiosität in Kants Transzendentalphilosophie [Reprint 2013 ed.]
 9783110909661, 3110179423, 9783110179422

Table of contents :
Vorwort
Abkürzungsvezeichnis
Einleitung
I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption und ihr Ursprung
1. Kants Frage nach den Dingen aus der Sicht Hegels
2. Die Folgen der Hegeischen Kritik: die Hypostasierung der Dinge
3. Die Lehre des Verhältnisses Substanz-Akzidens als erste Voraussetzung für die Herausarbeitung des Ursprungs der Frage nach den Dingen bei Kant
4. Die Kopernikanische Wende und das Problem des Anfangs ausgehend von Jacobis Schrift Über den transzendentalen Idealismus
5. Die Gegebenheit der Dinge in der Kantischen Wende
6. Die Spontaneität des Verstandes in der Kantischen Wende
7. Die Konsequenzen der Kantischen Wende für die Prädikationstheorie
8. Zusammenfassung
II. Intentionalität bei Kant
1. Autonomie und Selbstbewußtsein als Basis der Intentionalität
2. Zweckmäßigkeit als das Eigentümliche des Erkennens: Die Intentionalität bei Kant
3. Die Intentionalität als Schlüssel für das Verständnis der Kopernikanischen Wende
4. Erfolg und Mißerfolg der Intention in der Kopernikanischen Wende
5. Intentionalität und Gegenständlichkeit: Selbstverhältnis und Fremdbestimmung
6. Inhalt und Form der Affektion
7. Die Affektion bzw. die Leib-Seele-Problematik
8. Selbstverwirklichung als Zeitwerdung
9. Selbstverwirklichung und Gegenständlichkeit als zeit-räumliche Verwirklichung des Subjekts
10. Zusammenfassung
III. Ding und Wirklichkeit
1. Die Verwirklichung des Subjekts hin zur Gewinnung von Objektivität qua Fremdverwirklichungsbewusstsein
2. Wahrnehmung als Prädikation
3. Ding-Eigenschaft und Ursache-Wirkung: Die Beharrlichkeit der Dinge
4. Die Verifikationsfrage: Wirklichkeit und Kohärenz
5. Kohärenz und Faktizität
6. Der eigentliche Sinn von Unbegreiflichkeit: Die Dinge an sich selbst betrachtet bzw. die Empirizität als Geschenk
7. Zusammenfassung
IV. Ursprung und Religiosität
1. Von der Erkenntnis der Dinge zur Frage nach Gott
2. Der Anfang als Scheinlösung des Ursprungs der Dinge
3. Faktizität der Dinge und menschliche Freiheit: Natur-Mensch als Urphänomen der „Gottesoffenbarung
4. Ursprung und Selbsterkenntnis
5. Die Implikationen des Kantischen Gottesverständnisses für den Glauben
6. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Namenregister

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Paolo Caropreso Von der Dingfrage zur Frage nach Gott

w DE

G

Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke, Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Thomas M. Seebohm

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Walter de Gruyter · Berlin · New York

2003

Paolo Caropreso

Von der Dingfrage zur Frage nach Gott Zum eigentlichen Ursprung von Religiosität in Kants Transzendentalphilosophie

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-017942-3 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar.

© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin

Für Melanie

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Februar 2000 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. eingereicht wurde. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Gerold Prauss: Von den Gesprächen und der Auseinandersetzung mit ihm, von seinem Philosophieverständnis und von den kritischen Diskussionen in seinen Oberseminaren habe ich sehr profitiert. Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Bernhard Casper danke ich fur seine Betreuimg und die fruchtbaren Anregungen, die er mir gegeben hat. Für das mühevolle Korrekturlesen und für die Erstellung des endgültigen Manuskripts möchte ich mich herzlich bedanken bei Dr. Cord Friebe, Dr. Alwin Letzkus, Peter Schwarte und Dr. Holger Zaborowski. Meinen Eltern danke ich für ihre Unterstützung. Schließlich gilt mein Dank der Landesgraduiertenforderung BadenWürttemberg, die mir ein Promotionsstipendium und den Druckkostenzuschuß gewährt hat. Genua, April 2003

Paolo Caropreso

Inhaltsverzeichnis Vorwort Abkürzungsvezeichnis Einleitung I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption und ihr Ursprung 1. Kants Frage nach den Dingen aus der Sicht Hegels 2. Die Folgen der Hegeischen Kritik: die Hypostasierung der Dinge 3. Die Lehre des Verhältnisses Substanz-Akzidens als erste Voraussetzung für die Herausarbeitung des Ursprungs der Frage nach den Dingen bei Kant 4. Die Kopernikanische Wende und das Problem des Anfangs ausgehend von Jacobis Schrift Über den transzendentalen Idealismus 5. Die Gegebenheit der Dinge in der Kantischen Wende 6. Die Spontaneität des Verstandes in der Kantischen Wende 7. Die Konsequenzen der Kantischen Wende für die Prädikationstheorie 8. Zusammenfassung II. Intentionalität bei Kant 1. Autonomie und Selbstbewußtsein als Basis der Intentionalität . 2. Zweckmäßigkeit als das Eigentümliche des Erkennens: Die Intentionalität bei Kant 3. Die Intentionalität als Schlüssel für das Verständnis der Kopernikanischen Wende 4. Erfolg und Mißerfolg der Intention in der Kopernikanischen Wende 5. Intentionalität und Gegenständlichkeit: Selbstverhältnis und Fremdbestimmung 6. Inhalt und Form der Affektion 7. Die Affektion bzw. die Leib-Seele-Problematik 8. Selbstverwirklichung als Zeitwerdung 9. Selbstverwirklichung und Gegenständlichkeit als zeit-räumliche Verwirklichung des Subjekts 10. Zusammenfassung

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Inhaltsverzeichnis

III. Ding und Wirklichkeit 1. Die Verwirklichung des Subjekts hin zur Gewinnung von Objektivität qua Fremdverwirklichungsbewusstsein 2. Wahrnehmung als Prädikation 3. Ding-Eigenschaft und Ursache-Wirkung: Die Beharrlichkeit der Dinge 4. Die Verifikationsfrage: Wirklichkeit und Kohärenz 5. Kohärenz und Faktizität 6. Der eigentliche Sinn von Unbegreiflichkeit: Die Dinge an sich selbst betrachtet bzw. die Empirizität als Geschenk 7. Zusammenfassung

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IV. Ursprung und Religiosität 1. Von der Erkenntnis der Dinge zur Frage nach Gott 2. Der Anfang als Scheinlösung des Ursprungs der Dinge 3. Faktizität der Dinge und menschliche Freiheit: Natur-Mensch als Urphänomen der „Gottesoffenbarung 4. Ursprung und Selbsterkenntnis 5. Die Implikationen des Kantischen Gottesverständnisses fur den Glauben 6. Zusammenfassung

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Literaturverzeichnis Namenregister

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Abkürzungsverzeichnis Im dem folgenden, alphabetisch angeordneten Abkürzungsverzeichnis werden die Siglen der Ausgaben angegeben, auf die ich zurückgegriffen und auf die ich mittels Seitenzahlen in der Arbeit verwiesen habe. a-, b- Aristoteles und Piatons Texte nach der von Bekker bzw. Stephanus besorgten Akademie-Ausgabe, Berlin. A/B Kritik der reinen Vernunft nach der von Raymund Schmidt besorgten Ausgabe im Felix Meiner Verlag nach der ersten (A) bzw. zweiten Auflage (B), Hamburg. Ak Veröffentlichungen Kants, seine Reflexionen und seine Briefe nach der Akademie-Ausgabe. GHA Alle Werke Hegels nach der von Hermann Glockner herausgegebenen Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart 1949 ff. (3. Aufl.) HGA Die Veröffentlichungen Heideggers, seine Vorlesungen und Seminare nach der Gesamtausgabe Martin Heideggers, Frankfurt am Main, 1975 f. JGA Alle Werke Jacobis nach der von Friedrich Roth und Friedrich Koppen herausgegebenen Gesamtausgabe, Darmstadt 1968. LA Alle Werke Leibniz' nach der von Hans Heinz Holz übersetzten und herausgegebenen Ausgabe in fünf Bänden, Darmstadt 1959 f. SA Alle Werke Schellings nach der von K. F. A. Schelling herausgegebenen Ausgabe - Sämtliche Werke - , Stuttgart/Augsburg 1856 - 1861. SZ 1993.

Sein und Zeit nach der 17. Auflage im Verlag Max Niemeyer, Tübingen

Einleitung

Im Rahmen der Transzendentalphilosophie unterliegt es gewiß keinem Zweifel, daß der Mensch kein Wissen von Objekten hat, die jenseits der Grenze möglicher Erfahrung liegen. Ein verhängnisvolles Mißverständnis für eine richtige Deutung der Transzendentalphilosophie im ganzen wäre jedoch, die Frage nach dem Sinn von Wirklichkeit der empirischen Objekte und vor allem nach demjenigen Gottes für sinnlos zu erachten, so als könnte ausschließlich die immanente Erfahrung der Gegenstände aufgrund ihrer bloßen Existenz den Stoff liefern, aus dem heraus man den Sinn des menschlichen Daseins ein für alle Mal bestimmen könnte. Kant selbst weist sehr deutlich daraufhin, daß gerade "[die] Gegenstände, welche uns durch Erfahrung gegeben werden, uns in vielerlei Absicht unbegreiflich sind, und es können viele Fragen, auf die uns das Naturgesetz fuhrt, [...] gar nicht aufgelöst werden"1. Im Anschluß an einen Aphorismus von Plainer, der lautet: "In dem Wirklichen allein findet Unbegreiflichkeit statt", schreibt Kant: "Es klingt also nur paradox und ist übrigens nicht befremdlich zu sagen, in der Natur sei uns vieles unbegreiflich [...], wenn wir aber noch höher steigen und selbst über die Natur hinausgehen, so werde uns wieder alles begreiflich"2. Geht man nun diesem Gedanken von Kant über die Dinge sorgfältig nach, so stößt man sofort auf etwas Merkwürdiges. Denn genau besehen ist das, was uns unbegreiflich ist, nicht Gott selbst, wenn auch die Erkenntnis Gottes außerhalb des menschlichen Vermögens liegt; unbegreiflich sind für uns vielmehr die Dinge. Das Thema, das in dieser Abhandlung erörtert wird, läßt sich demnach in der folgenden Frage zusammenfassen: In welchem Sinne kann man sinnvoll von Gott sprechen, ohne das Unbegreifliche in der Natur preiszugeben? Oder anders gefragt: Wie entsteht aus der eigentümlichen Unbegreiflichkeit der Dinge die Frage nach Gott? Fest steht von vornherein dies: Ausgangspunkt für die transzendentale Reflexion auf Gott kann nichts anderes als die Frage nach den Dingen sein. Steht es aber so, daß die Frage nach den Dingen dahin mündet, in der Natur eine eigentümliche Unbegreiflichkeit zum Vorschein zu bringen, ist zunächst zu untersuchen, worauf sie als Unbegreiflichkeit beruht. Selbst wenn die Kant1 Als verbindliche Textgrundlage wird die von Raymund Schmidt besorgte Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft im Felix Meiner Verlag nach der ersten (A) bzw. zweiten Auflage (B) angesehen. Andere Veröffentlichungen Kants, seine Reflexionen und seine Briefe werden nach der AkademieAusgabe (Ak.) zitiert. Ak. Bd.4: S.348-49. 2 Ak. Bd.4: S.348-49.

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Einleitung

Interpreten in dem Kantischen Versuch einer Begründung der Objektivität auf subjektiver Basis den Ausgangspunkt fur das Verständnis der besagten Unbegreiflichkeit sehen, kommen sie jedoch nicht in einem gemeinsamen Ergebnis bezüglich des Grundes solch einer Unbegreiflichkeit überein. Die gefestigte Auslegung der Kantischen Transzendentalphilosophie behauptet, daß die Unbegreiflichkeit der Dinge auf die grundsätzliche Unmöglichkeit einer Begründung der Wirklichkeit der Außenwelt auf subjektiver Basis zurückzufuhren sei. Die Unbegreiflichkeit der Dinge hebt sich dieser Auslegung gemäß in ihrer Unerkennbarkeit auf, spreche doch - so Hegel - die Tatsache dafür, daß nach Kant die Erkenntnis sich lediglich auf Erscheinungen richte, jedoch nicht die Dinge betreffe. Sie, die Dinge, blieben uns verborgen, als "in" bzw. "hinter" den Erscheinungen derselben verborgen, also als Dinge an sich. Wenn die menschliche Vernunft als Erkenntnisvermögen betrachtet unter diesen Prämissen zur Deduktion der Wirklichkeit der Außenwelt unfähig ist, so ergebe sich notwendigerweise, daß sie als dieses Erkenntnisvermögen auch nicht in der Lage sei, die Frage nach Gott zu stellen. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach Gott müsse konsequenterweise von der "Gotteserkenntnis" zur "Erfahrung Gottes", welche nur innerhalb einer Handlungs- bzw. Moraltheorie verständlich gemacht werden könne, verschoben werden. Diesbezüglich reicht es jedoch sogar aus, allein die Frage zu stellen, ob Erkennbarkeit bzw. Unerkennbarkeit aus der Kantischen Annahme der Begründung der Wirklichkeit der Außenwelt auf subjektiver Basis allein auf die Dinge zutreffen, um zugeben zu müssen, daß vielmehr im Gegensatz zur überlieferten KantAuslegung von Erkennbarkeit bzw. Unerkennbarkeit insofern zu sprechen ist, als wir als Subjekte bezüglich derselben Dinge, die wir immer als Dinge fiir uns, d.h. als Erscheinungen betrachten, zusätzlich auch immer fragen können, was sie "an sich selbst betrachtet" seien. Im Einklang mit der primären Absicht Kants, die Wirklichkeit der Außenwelt auf subjektiver Basis zu begründen, soll also die Erkennbarkeit der Dinge als Erscheinungen als Ausgangspunkt für die Herausarbeitung der eigentümlichen Unbegreiflichkeit der Dinge, welche sich aus einer ebenso eigentümlichen Betrachtung derselben ergibt, gelten. Aus dieser Prämisse folgt auch noch die Notwendigkeit der Behandlung der Frage nach Gott innerhalb der Erkenntnistheorie, ergibt sich doch aus der subjektiven Erkennbarkeit der Dinge eine ihr eigentümliche Unbegreiflichkeit, die dazu zwingt, sie, die Dinge selbst, auch "anders", sprich: an sich selbst, und darüber hinaus so zu betrachten, als ob es Gott gebe: Also geht es darum, verständlich zu machen, wie man im Rahmen der theoretischen Philosophie Kants von der Dingfrage zur Frage nach Gott gelangt. Im ersten Kapitel wird die ursprüngliche Absicht Kants in Abgrenzung zur Hegelschen Auslegung der Transzendentalphilosophie als das dargestellt, was sie eigentlich ist: nämlich als die Konstituierung der Wirklichkeit empirischer Objekte

Einleitung

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aus dem Subjekt heraus, da die primäre Erfahrung der Dinge - Wahrnehmung ursprünglich in Form von Urteilen auftritt. Die Durchführung einer Erkenntnistheorie zeigt sich darum als mit der Ontologie als Wirklichkeitsbegründung intern verbunden. Dargelegt werden soll, daß der "Kopernikanischen Wende" gemäß das Subjekt von sich aus die Objektivität der Außenwelt gewinnt, weil Prädikation nach Kant vom subjektiven Akt, auf Objekte auszugehen, verständlich wird, und nicht (wie noch bei Aristoteles) von den Dingen her erfolgt. Zugleich aber soll bewiesen werden, daß vom Kantischen Standpunkt aus die Erkenntnis keine Schicht ausmacht, die das Subjekt von der Außenwelt trennt, sondern im Gegenteil das ist, was je neu "in die Welt" hineinführt, und zwar zunächst einmal, indem es Anderes als es selbst gewinnt. Im zweiten Kapitel wird auf den engen Zusammenhang von Erkenntnis und Wirklichkeit genauer eingegangen. Soll die eigentümliche Unbegreiflichkeit der Dinge ausgehend von ihrer Erkennbarkeit das sein, was es zu untersuchen gilt, so muß gezeigt werden, wie ersteres aus dem letzteren folgt, angenommen, daß Objektivität allein von dem Subjekt aus gewonnen werden kann. Erklärt werden soll daher, wie das Subjekt von sich aus anderes seiner selbst überhaupt gewinnen kann. Dies wird aber nur dann verständlich, wenn man die ursprüngliche Praxis des Urteilens zur Gewinnung des Objekts als Intentionalität auslegt, was allerdings Kant selbst nur in Ansätzen durchführt1. Das Subjekt kann etwas Anderes als es selbst nur dann gewinnen, wenn es sich dieses Andere zunächst einmal vorstellt. Der Entwurf dieses Anderen entspricht der Erzeugung des transzendentalen Gegenstandes. Als notwendige Bedingungen dafür erweisen sich Zeit und Raum im Sinne einer Zeit- und Raumbewußtseinsbildung, wodurch sich die formale Anschauung überhaupt ergibt. Das Subjekt muß sich derart strukturieren können, daß es - zu sich in ein Verhältnis tretend (Selbstbewußtsein als Zeitbewußtsein) - sich fur irgendeinen Gehalt rezeptiv macht und von hier aus bis zum Entwurf von etwas Anderem seiner selbst in Form von Ausdehnung (Zeit-Raumbewußtsein) als die Gegenständlichkeit dieses oder jenes Anderen gelangt. Die Herausarbeitung der Gegenständlichkeit als das, was konstitutionstheoretisch der Wirklichkeit der Außenwelt vorausgeht, zeigt sich als für die Erklärung der Unbegreiflichkeit der Dinge von besonderer Bedeutung. Denn dadurch wird deutlich, daß der transzendentale Gegenstand keineswegs der Wirkung einer unvermeidlichen Affektion der verborgenen Dinge an sich entspricht, wie die überlieferte Kant-Auslegung, beispielsweise jene Hegels, behauptet. Der transzendentale Gegenstand stellt vielmehr das reine Produkt einer anzunehmenden, zugrundelie' Im Laufe der Arbeit wird ausdrücklich auf die von Prauss erarbeitete Theorie der Intentionalität im transzendentalen Sinn Bezug genommen. Grundtext dieser Theorie ist: Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990 ff.

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Einleitung

genden transzendentalen Struktur des Subjekts dar, die als Bedingung der Möglichkeit für die Gewinnung von Objektivität zwar ein "nichts" ist, aber doch etwas: Das Nicht-empirische der transzendentalen Struktur des Subjekts, durch das allein Objektivität gewonnen werden kann. Der transzendentale Gegenstand ist keinesfalls als die Ursache für die Unerkennbarkeit der Objekte, sondern im Gegensatz dazu als die Grundvoraussetzung ihrer Erkennbarkeit anzusehen, aus der heraus in einem letzten Schritt ihre Unbegreiflichkeit verdeutlicht werden kann. Im dritten Kapitel wird erklärt, wie man von dem entworfenen bzw. vorgestellten Gegenstand zur Wirklichkeit eines Objekts kraft des Urteilens als eines Alswirklich-Hinstellens eines Dinges gelangt. Die Gewinnung der Wirklichkeit von etwas erfolgt durch die Benutzung des transzendentalen Gegenstandes, um etwas anderes als es selbst, also ein Objekt, zu verwirklichen, beispielsweise, um dies als einen Regenbogen zu thematisieren, sprich: es wahrzunehmen, bzw. zu urteilen "Dies ist ein Regenbogen". Soll nämlich die Gewinnung der Wirklichkeit eines Objekts aus dem Subjekt heraus erfolgen, so darf dessen Objektivität nicht in einer von vornherein zugrundeliegenden bestehen. Das Subjekt verwirklicht vielmehr allein aus sich selbst heraus aufgrund des Entwurfs eines Anderen seiner selbst ein Objekt als Objekt für sich, was philosophische Reflexion als "Ding als Erscheinung betrachtet" charakterisiert. Dabei geht es darum zu verstehen, wie das, was als wirklich hingestellt wird, das Objekt selbst und nicht die Vorstellung sei, denn sie wird dabei lediglich verwendet, um etwas Anderes als sie zu thematisieren. Dies hat noch als Konsequenz, daß die Wirklichkeit der Dinge ein formales und kein "sachhaltiges" (Kant), d.h. inhaltliches Prädikat ist: Nach Kant ist Wirklichkeit die Beharrlichkeit dieses Anderen, welches gegen die subjektive Zeit als etwas Raumförmiges "im" Raum beharrt. Die Gewinnung der Außenwelt durch das Urteilsvermögen zeigt sich des weiteren als das Entscheidende für die Herausarbeitung der gesuchten Unbegreiflichkeit der Dinge. Denn stellt das Urteil das Ergebnis einer vollständigen Intention dar, so hängt der Erfolg dieser Intention notwendigerweise nicht von ihr allein ab, sondern gerade auch von etwas, was außerhalb der Intention selbst liegt: die Wirklichkeit dieses Anderen eben, welche der subjektiven Intention gegenüber sich als ein Geschenk des Dinges selbst zeigt. Trotz aller Anstrengungen des Subjekts läßt also die Faktizität der Dinge allein die Intention erfolgreich sein, was aus dem internen Zusammenhang von Kohärenz der Theorie und Faktizität der Dinge durchaus erklärbar wird. Erkenntnistheoretisch gesehen erklärt sich also die Wirklichkeit der Dinge als jenes Geschenk der Empirie, welches ein Urteil als wahr bzw. eine Intention als erfolgreich gelten läßt: Faktizität als reine Kontingenz. Daraus wird aber dann das ersichtlich, worüber Rechenschaft gefordert wurde, nämlich über die Herleitung der Unbegreiflichkeit

Einleitung

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der Dinge ausgehend von der Erkennbarkeit der Dinge. Denn hinsichtlich ihrer Wirklichkeit zeigen sich die Dinge dem Subjekt gegenüber als eine Gabe der Empirie, welche auf nichts anderes als auf dieses Geschenk, das die Dinge auch sind, zurückgeführt werden darf und aufgrund dieser Grundlosigkeit als unbegreiflich erscheint, so daß diesbezüglich die Dinge auch "anders" bzw. "an sich selbst" betrachtet werden müssen. Im vierten Kapitel wird auf das Geschenk-sein der empirischen Objekte eingegangen, um aus der Untersuchung über den Ursprung der Existenz der Dinge heraus den Übergang von der Dingfrage zur Frage nach Gott zu explizieren. Kant lehnt jede Lösung für das Problem der Entstehung der Dinge ab, die den Ursprung der Dinge in dem Problem der Feststellung eines physikalischen Anfangs der Dinge "in" bzw. "außerhalb von" Zeit und Raum aufhebt. Dies hat einerseits zur Folge, den Anfang der Dinge als den, der er ist, gelten zu lassen, nämlich als Anfangslosigkeit, und andererseits die Frage nach dem Ursprung der Dinge in ihrer Subjektabhängigkeit zu analysieren, d.h. die Frage des Menschen nach dem Sinn des Daseins alles dessen, was ist, für ihn selbst als für dieses eigentümliche Lebewesen, das er ist, causa sui ex aliquo, zu untersuchen. Ob aus der Herausarbeitung der Frage nach dem Sinn der Existenz überhaupt sich des weiteren der Ursprung des Menschen als sein Frei-sein-in-Gott wird deduzieren lassen, bleibt aber nach wie vor eine offene Herausforderung für das Denken.

I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption und ihr Ursprung 1. Kants Frage nach den Dingen aus der Sicht Hegels Die Frage nach den Gegenständen und insbesondere nach ihrer Unbegreiflichkeit scheint der Ausgangspunkt für eine transzendentale Reflexion auf die Transzendenz zu sein. Die Kant-Interpreten kommen darin überein, daß die Frage nach der Unbegreiflichkeit der Gegenstände im Zusammenhang mit dem Versuch Kants einer Begründung der Objektivität der Außenwelt auf subjektiver Basis auszulegen sei1. Ein Teil davon2 behauptet, daß dieser Versuch aufgrund seiner Prämisse dazu verurteilt sei, entweder zu scheitern oder eine problematische Rolle zu spielen. Dafür spreche die Tatsache, daß Kant selbst zur Rettung eines sinnvollen Realismus nicht umhin konnte, die Existenz der sogenannten Dinge-an-sich3 anzusetzen. Für diese Interpreten gilt ferner, daß die Frage nach der XJnbegreiflichkeit der Dinge sich in derjenigen ihrer Unerkennbarkeit aufhebt. Diese kritische Einstellung dem transzendentalen Idealismus gegenüber wurzelt in der vielfaltigen Rezeption der Philosophie Kants, die während des Deutschen Idealismus stattgefunden hat, deren Gipfel in der Stellungnahme Hegels zum Problem der Dinge-an-sich gesehen werden kann. Daher seien hier die Grundzüge der Auffassung Hegels kurz dargestellt, um von Beginn an einige verhängnisvolle Mißdeutungen im Hinblick auf ein richtiges Verständnis des Ansatzes Kants bezüglich der Begründung der Objektivität der Außenwelt auf subjektiver Basis zu vermeiden. Der von Hegel vertretenen Auffassung der Kantischen Philosophie nach besteht die Unerkennbarkeit der Dinge darin, daß die menschliche Erkenntnis sich ausschließlich nach den subjektiven Vorstellungen bzw. Erscheinungen derselben richtet. "Alle Bestimmtheit der Dinge" verlege der transzendentale Idealismus, so schreibt Hegel, "sowohl der Form als dem Inhalt nach in das Bewußtsein, [...] in

1 Zu einer historischen Rekonstruktion der verschiedenen Rezeptionen der Philosophie Kants vgl. Salvucci, P. Grandi interpreti di Kant. Urbino 1984. 2 Grundtexte dieser Interpretation sind unter anderen: Prichard, Η. A. Kants Theory of Knowledge. Oxford 1909; Adickes, E. Kants Lehre von der doppelten Affektion unseres Ich. Tübingen 1929; Strawson, P. F. The Bounds of Sense, an Essay on Kant's Critique of Pure Reason. London 1966, übersetzt von M. Lange, Frankfurt am Main 1992. 3 Der Ausdruck "Dinge-an-sich" mit Bindestrichen unterstreicht den nominalen Charakter dessen, was unter Dinge-an-sich laut der Standardauslegung verstanden wird, das heißt ein zusätzliches Etwas hinter oder in den Dingen. Kant benutzt aber die Bindestriche nicht.

1. Kants Frage nach den Dingen aus der Sicht Hegels

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mich, in das Subjekt"1. Als Korrelat zur mentalen Erfahrung habe Kant dann zusätzlich die Existenz anderer Entitäten, d.h. der Dinge-an-sich, postuliert, welche "die Abstraktion des Formenlosen, ein leeres Jenseits"2, "das Äußere drüben"3 sind. Deren Existenz sei der Mensch sich sicher, nämlich im Ausgang von der Annahme einer Affektion durch dieselben, die man annehmen muß, damit der Ursprung des Materials der Erscheinung überhaupt verständlich werden kann. Gemäß dieser Auslegung müsse man von einer doppelten Affektion 4 reden: Zum einen sei der Mensch von Entitäten bzw. Dingen-an-sich sinnlich affiziert, deren Existenz zwar notwendigerweise anzunehmen sei, deren Erkenntnis aber ebenfalls notwendigerweise unmöglich sei. Diese erste Affektion wird zwar als eine "außerzeitliche" gekennzeichnet, jedoch würden die Dinge-an-sich "als Reize auf die Sinnenorgane meines empirischen Ich einwirken"5. Das Ich werde zum anderen innerhalb des Mentalen auf diese erste Affektion "mit Empfindungen antworten], die dann durch die Kategorien als Einheitsfunktionen zu [...] Wahrnehmungsgegenständen vereinigt werden"6. Die Grundzüge der Theorie der doppelten Affektion, die vor allem Adickes vertritt, knüpfen an die Hegeische Interpretation der Dinge-an-sich an. Hegel schreibt: "In Ansehung der Empfindungen und ihrer empirischen Realität bleibt nichts übrig als zu denken, daß die Empfindung von den Dingen-an-sich herkomme: denn von ihnen kommt überhaupt die unbegreifliche Bestimmtheit des empirischen Bewußtseins"7. Dieser Mannigfaltigkeit steht das bloße formale Subjekt gegenüber, dessen Spontaneität darin besteht, sie unter eine bestimme Einheit zu bringen, so daß "das Ding-an-sich Objekt wird, insofern es einige Bestimmtheit vom thätigen Subjekt erhält"8. Aus seiner Theorie der subjektiven Erscheinungen und der als ihr Korrelat existierenden Dinge-an-sich gelange also Kant gegen sei1 Alle Werke Hegels werden nach der 3. Auflage der von Hermann Glockner herausgegebenen Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden (GHA), Stuttgart 1949 ff., zitiert. GHA Bd.4: S.609. 2 GHA Bd.6: S.46. 3 GHA Bd. 19: S.572. 4 Zur Theorie der doppelten Affektion: Vgl. Adickes, E. Kants Lehre von der doppelten Affektion unseres Ich. Tübingen 1929 und Adickes, E. Kants und das Ding an sich Berlin 1924. Adickes nennt als unleugbare Beweise für seine Theorie die folgenden Textpassagen in der Kritik der reinen Vernunft: A l 9 0 B235, A358, A380, A393 und A494 B522. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Problem der doppelten Affektion aufgrund der Hegeischen Rezeption der Kantischen Lehre von den Dingen-an-sich findet sich auch bei Giulio Severino.Vgl. Severino, Giulio L 'immaginazione in Kant. Aspetti delta seconda edizione delta Critica della ragione pura (1787). In: Scritti kantiani 1990 (3), S.29-61. 5 Adickes, E. Kants Lehre von der doppelten Affektion unseres Ich. Tübingen 1929, S.58. Zur näheren Charakterisierung der Problematik der doppelten Affektion und zu den Gründen ihrer Unvertretbarkeit auch unter historischem Gesichtspunkt vgl. Prauss, Gerold Kant und das Problem der Dinge an sich. Bonn 1989, S. 194 f. 6 Adickes, E. Kants Lehre von der doppelten Affektion unseres Ich. Tübingen 1929, S.58. 7 GHA Bd.l: S.302-303. 8 Ebd.

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

nen Willen zu einer Art Idealismus, der einerseits dem problematischen Idealismus von Descartes, andererseits der theozentrischen Theorie der Erkenntnis von Leibniz sehr nahe kommt. Denn nach Hegel sind das, was für Kant erkannt wird, stets die Erscheinungen im Sinne von Vorstellungen, so daß er sich in der schwierigen Lage befunden habe, erklären zu müssen, wie sich folgendes vereinbaren läßt: Daß sich der Mensch der Existenz der Dinge sicher sein kann, obwohl ein jeglicher Zugang zu denselben Gegenständen-an-sich ihm unmöglich ist. So wie Descartes mit seinem problematischen Idealismus sei auch Kant mit seinem transzendentalen auf das folgende Problem bezüglich der Existenz der Dinge gestoßen: Entweder alle Dinge sind ein mentaler Schein oder die Erscheinungen selbst sind tatsächlich räumlich und zeitlich bzw. res exstensae. Wegen seiner transzendentalen Prämisse kann also für Kant "das reine Bewußtsein im empirischen nicht mehr und nicht weniger nachgewiesen werden, als das Ding-an-sich des Dogmatikers"1. Beweis dafür sei, daß Kant zur Auflösung dieses Engpasses, wenn nicht einen Cartesischen, so doch einen verbesserten Leibnizschen Weg gewählt habe2. Wenn bei Descartes die Erscheinungen als res extensae betrachtet werden, so daß z.B. von der Vorstellung eines jeden Dinges auf alle seine Eigenschaften geschlossen werden kann, ausgenommen seine Existenz außerhalb von uns, für die nur Gott zuständig sein kann, so kann dasselbe von Kant nicht gelten. Dabei muß allerdings folgendes beachtet werden: Auch nach Kant gilt, daß die Erscheinungen extensae sind, aber die Ausdehnung allein ist für Kant deshalb kein hinreichendes Merkmal für die Bestimmung der Dinge, weil auch die subjektiven Vorstellungen Ausdehnungen (subjektiver Raum) sind. Hinreichendes Merkmal für die Charakterisierung der Dinge ist vielmehr bei Kant ihre Beharrlichkeit im Gegensatz zum absoluten Wechsel der Vorstellungen. Ungeachtet dieser Tatsache vertritt aber Hegel und die hegelianische Interpretationslinie die These, daß bei Kant ausschließlich die Tatsache einer anzunehmenden Affektion der Dinge-an-sich für die Existenz der Dinge bürgen könne, so daß Kant ausdrücklich aufgrund dieser dogmatischen Voraussetzung einer solchen "außerzeitlichen" Affektion der Dinge-an-sich die Gefahr des Cartesischen Idealismus abgewehrt habe. Gerade durch seine stillschweigende dogmatische Voraussetzung der Dingean-sich habe Kant laut der Hegeischen Interpretation jedoch einen Leibnizschen Ausweg gewählt. Bei Leibniz eröffnet sich das Problem der Existenz der Dinge zusammen mit demjenigen ihrer Erkenntnis insbesondere im Ausgang von der Analyse der kontingenten Wahrheiten. Wenn bezüglich der mathematischen, der geometrischen und der logischen Wahrheiten die Analyse eines Begriffes vollständig durchge1

GHA Bd. 1: S.87 Vgl. GHA Bd. 1: S.34. Für die Theorie einer teleologischen Begründung der Wahrheit bei Kant und Leibniz vgl. Martin, Gottfried Immanuel Kant: Ontotogie und Wissenschaftstheorie. Berlin 1969. 2

1. Kants Frage nach den Dingen aus der Sicht Hegels

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führt werden kann und zudem z.B. das Wesen eines Dreiecks dem Mensch völlig begreiflich ist, kann dasselbe für die Begriffe der erfahrbaren Gegenstände nicht gelten. Der Natur seines Verstandes nach kann der Mensch die Allgemeinheit der Begriffe der äußeren Gegenstände, die sich nur durch eine unendliche Bestimmung derselben Begriffe in bezug auf die Ganzheit ergeben könnte, nicht erfassen, und aus diesem Grund ist seine Erkenntnis begrenzt bzw. der Wahrheitswert seiner Analyse kann nur kontingent sein1. Die Dinge sind demzufolge in ihrer Ganzheit dem Menschen unzugänglich, weil die menschlichen Begriffe dem realen Wesen der Gegenstände nicht entsprechen. In seiner Theorie der Erkenntnis sei Kant - so Hegel - zu einer ähnlichen Lösung gekommen: Denn Kant habe in Ergänzung zum Leibnizschen Gedanken klargemacht, wie die Grenze des menschlichen Denkens in dem Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand bestehe. Demzufolge seien die synthetischen Urteile nichts anderes als das Ergebnis einer Funktion der sinnlich begrenzten menschlichen Analyse einer vorauszusetzenden vollständigen Erkenntnis bzw. "des wahrhaften Dinges-an-sich oder des Vernünftigen"2. Während Gott durch eine unmittelbare geistige Anschauung die Erkenntnis der Dinge in ihrer Ganzheit erreichen kann und darüber hinaus die Dinge in ihrem realen Wesen klar sehen kann, ist dagegen der Mensch nur in der Lage, mittels seiner sinnlich begrenzten Erkenntnisse zu einer partiellen Erkenntnis der Dinge zu gelangen, im Sinne des Inbegriffes aller in der Erfahrung gesammelten Vorstellungen bzw. Erscheinungen derselben, aber keineswegs zu einer Anschauung der Dinge-an-sich. Der transzendentale Idealismus erkennt, um wieder mit Hegel zu sprechen, "die Erscheinung des Absoluten [...] nach ihrer Wahrheit"3 nicht. Kant habe also versucht, eine Lösung des problematischen Idealismus Descartes' zu geben, indem er im Anschluß an Leibniz erklärt habe, wie unsere Unfähigkeit zu einer vollständigen Erkenntnis der Dinge in unserem durch die Sinnlichkeit geprägten Vorstellungsvermögen liege. Die Vorstellungen sind demzufolge nicht res extensae, sondern das, wodurch unsere Erkenntnisse ermöglicht und zugleich erweitert werden. Extensae sind die Dinge, wobei ihr reales Wesen dem Menschen unzugänglich ist. Wenn all dies für die Erkenntnis der Dinge zutrifft, muß dies α fortiori auch für die Erkenntnis jeder transzendenten Realität (Seele, Welt, Gott) gelten. Genauso wie bei Leibniz kann die Frage nach Gott theoretisch gesehen auch bei Kant nicht anders als problematisch erscheinen. Aus diesem Grund habe Kant dann versucht, eine mögliche Antwort auf die Frage nach der Wirklichkeit Gottes für uns innerhalb der praktischen Philosophie zu geben.

1 Alle Werke Leibniz' werden nach der von Hans Heinz Holz übersetzten und herausgegebenen Ausgabe in fünf Bänden (LA), Darmstadt 1959 ff., zitiert. Vgl. hierzu Leibniz, Gottfried W. Meditationes de cognitione, veritate et ideis. LA Bd.l: S.32-47. 2 G H A B d . 5 : S.86. 3 GHA Bd.l: S.305.

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

2. Die Folgen der Hegeischen Kritik: die Hypostasierung der Dinge Obwohl die hier kurz skizzierte Auslegung wesentliche Aspekte der Problematik aufgezeigt hat und in der Geschichte der Kantinterpretation mit bedeutenden Namen verbunden ist, bleibt sie bezüglich des vorgeschlagenen Unterschieds zwischen Erscheinungen und Dingen-an-sich laut anderen Interpreten1 schon in ihren Prämissen fraglich. Der Angelpunkt der Hegeischen Auffassung besteht in der These, daß der Unterschied zwischen Erscheinungen und Dingen-an-sich ausschließlich einem Unterschied zwischen dem Subjektiven jeder menschlichen Erfahrung und dem schlechthin Objektiven entspricht. Die subjektive Seite der Erfahrung betrifft die Vorstellungen bzw. Erscheinungen, während die Dinge-an-sich nichts anderes als die Ursache der Erscheinungen in uns bezeichnen. Dieser Unterschied trifft jedoch nur auf den empirischen Status der Gegenstände im Gegensatz zu dem Nicht-empirischen der Vorstellungen zu. Der Zusatz "ansich" unterstreicht daher die Differenz zwischen dem physikalischen Objekt als dem "schlechthin Entgegengesetzten"2 und den Vorstellungen als dem absolut Privaten. Da Hegel aber meint, daß die Vorstellungen den bestimmten Inhalt einer jeden menschlichen Erfahrung ausmachen, legt er den Worten "Erscheinung" und "Vorstellung" einen Cartesianischen und Lockeschen Sinn bei. Sie bedeuten einfach die innere oder geistige Erfahrung der Welt oder, wie man heute zu sagen pflegt, die mentale, psychische, innenweltliche oder auch ideale Erfahrung der Dinge. Aus dieser Überlegung folgt aber, daß die Außenwelt als etwas Reales, d.h. die physikalischen Objekte "außer uns" bzw. "über unsere mentale Erfahrung hinaus" bei jeder menschlichen Erfahrung gar nicht mehr in Betracht gezogen würden. Ihre Existenz beruhte nur auf einer anzunehmenden reinen Empfindung. Die empirischen Gegenstände bzw. die Außenwelt würden also zu etwas von dem Bereich des Psychischen völlig Unabhängigem, und zwar so, daß "das Ding, welches, wenn es auch fremder Anstoß, oder empirisches Wesen, oder das Ding an sich genannt wird, in seinem Begriffe dasselbe jener Einheit [des Bewußtseins] Fremde bleibt"3. Der Ausdruck "an-sich" erwirbt demnach der Hegeischen Auffassung zufolge einen irreführenden nominalen und metaphysischen Wert4. Ist laut Hegel die Au' Grundtexte dieser Interpretation sind vor allem: Prauss, Gerold Kant und das Problem der Dinge an sich. Bonn 1989; Allison, Henry E. Kant's Transscendental Idealismus. An Interpretation and Defence. New Haven and London 1983. 2 GHA Bd.2: S. 189. 3 G H A Bd.2: S.189. 4 Dabei muß folgendes beachtet werden: Kant bezieht den Zusatz "an sich" nicht auf die Dinge, als gäbe es "in" oder "hinter" den physikalischen Dingen noch zusätzliche Entitäten bzw. die Dinge-ansich. Der Zusatz "an sich" bezieht sich hingegen auf eine eigentümliche Betrachtungsweise der physi-

2. Die Folgen der Hegeischen Kritik: die Hypostasierung der Dinge

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ßenwelt in den Vorstellungen aufgehoben bzw. ist die Außenwelt selbst als etwas zwar Existierendes, aber uns völlig Verborgenes zu denken, so ist das Thema der transzendentalen Philosophie nichts anderes als das, was die Vorstellungen des Subjekts betrifft im Gegensatz zu dem Realen der "Objekte-an-sich", derer Betrachtung unabhängig von den Erscheinungen sich per definitionem als unmöglich erweist. Die Grenze dieser Auslegung zeigt sich allerdings in der Weise, in der solch ein Unterschied zur Geltung gebracht wird, und aufgrund der Folge, die sich daraus in dem hier wiedergegebenen letzten Schluß ergibt. Daß Kant die Erscheinungen als Innenwelt von den Dingen als Außenwelt sehr deutlich trennt, ist unbestritten. In dieser Hinsicht zählt er zu den empirischen Realisten im Unterschied zu den empirischen Idealisten. Das Material einer jeder Erkenntnis wird nach Kant stets α posteriori geliefert, so daß fur ihn jede menschliche Erfahrung die Präsenz empirischer Data einschließt und auf keinen Fall nur private oder mentale Entitäten betrifft, so als ob die menschliche Erfahrung eine solipsistische wäre. Gleichfalls unzweifelhaft ist aber auch, daß Kant den Unterschied der Dinge von den Erscheinungen bzw. den Unterschied des Objektiven von dem Subjektiven als eine Differenz in der menschlichen Erfahrung bestimmt, die das Ideale von dem Physikalischen aber nur in einem empirischen Sinne unterscheidet. Um den eigentlichen Unterschied zwischen dem Nicht-empirischen und dem Empirischen vor der Gefahr sowohl des empirischen Idealismus, aus dem heraus alles zu einem mentalen Schein wird, als auch des Materialismus-Monismus zu bewahren, nach dem nichts als die Materie existiert, hat Kant als den einzigen möglichen Weg denjenigen des transzendentalen Idealismus aufgezeigt. Dies bedeutet zunächst, daß die Begründung des Realismus und im Anschluß daran die Frage nach den Dingen die primären Aufgaben seiner philosophischen Theorie sind, und zweitens, daß die einzige Bedingimg der Möglichkeit für die Vertretung des Realismus eine spezifische Art von Idealismus, nämlich der transzendentale, sein kann1. Die Hegeische Auffassung der transzendentalen Philosophie leugnet aber paradoxerweise diese fundamentale These des Kantischen Realismus, gerade indem sie versucht, sie im Ausgang von dem Unterschied der Dinge-an-sich von den Erscheinungen zu explizieren. Denn sie läßt einen Unterschied, dessen Gültigkeit auf der empirischen Ebene der Erfahrung einwandfrei ist, auch auf der transzendentalen Ebene in Kraft. Zu sagen, daß die Unerkennbarkeit der Dinge in unsekalischen Dinge, so daß die einzig metaphysische Bedeutung des Ausdrucks "Dinge an sich" ausschließlich in einer eigentümlichen Betrachtung der physischen Dinge, eben als Dinge "an sich selbst"-betrachtet liegt. 1 Zu einer nähren Charakterisierung der historischen Rezeption des sogenannten Problems des Kantischen Realismus vgl. Vleeschauwer, Herman 3.de Immanuel Kant Brüssel 1931 und Severino, Giulio L'immaginazione in Kant. Aspetti della seconda edizione della Critica della ragionepura (1787). In: Scritti kantiani 1990 (3), S.29-61. §5 Realismo kantiano. S.50-61.

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

rem Vorstellungsvermögen liegt, bedeutet so viel wie zu sagen, daß nur die Vorstellungen und auf keinen Fall die Dinge zugänglich sind, wohingegen für Kant gerade die Mitbeteiligung der Vorstellung an der empirischen Erfahrung den Zugang zu den Dingen ermöglicht. Die Schwierigkeit dieser Interpretation besteht also einerseits in der Verwirrung zweier jeweils unterschiedlicher Ebenen (der ideal-transzendentalen und der empirischen) und in der mißglückten Differenzierung ihrer gegenseitigen Beziehung andererseits. Kant selbst hat die Schwierigkeit, die dieser Differenzierung zugrunde liegt, gesehen, und demzufolge hat er an verschiedenen Stellen und anhand einiger Beispiele versucht, sie zu beheben. Diesbezüglich scheint besonders ein Beispiel aus der Kritik der reinen Vernunft von Bedeutung zu sein. Es handelt sich um ein Beispiel, das eine alltägliche Erfahrung zum Gegenstand hat, nämlich die Betrachtung eines Regenbogens. Wenn bei der Betrachtung eines Regenbogens, - so lautet das Beispiel -, der Sonnenregen die Erscheinung eines Regenbogens, dieser Regenbogen die Sache an sich selbst genannt wird, "welches auch richtig ist, sofern wir den letzten Begriff [die Sache an sich selbst] nur physisch [empirisch] verstehen"2, so ist der transzendentale Unterschied verloren. Denn nur die Frage "von der Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand ist transzendental"3. Wenn wir die Betrachtung bis zur tiefsten Erforschung fortführen, ergibt sich, daß wir z.B. sagen können, daß wir nicht nur einen Regenbogen sehen. Denn bei einer sorgfältigen Untersuchung müssen wir zugeben, daß es sich dabei um Regentropfen handelt. Wir haben demzufolge Regentropfen gesehen. Noch genauer läßt sich sagen, daß diese Tropfen eine runde Gestalt haben. Von da her können wir schließen, daß es sich um etwas Rundes handelt. Wir haben dann eigentlich etwas Rundes gesehen, und so weiter. Das, was wir jeweils gesehen haben, sind aber immer Objekte, d.h. Gegenstände, Dinge bzw. ein Regenbogen, Tropfen, etwas Rundes usw. Das, was erkannt wird, sind demnach für Kant unzweifelhaft Dinge und nicht Vorstellungen. Diese einfache Betrachtung läßt offensichtlich die Auseinandersetzung mit dem Problem der Dinge-an-sich, wie sie sich von der von Hegel gelieferten Auslegung her darstellt, als völlig unbegründet erscheinen. Es genügt aber, den letzten Satz dieses Beispiels von Kant zu lesen, um zu verstehen, wie diese schlichte Tatsache zum Ausgangspunkt einer ernsthaften Konfrontation wird. Denn Kant schließt seine Überlegung wie folgt: Wenn die Tropfen, die runde Gestalt usw. uns bekannt sind, "bleibt das transzendentale Objekt aber uns unbekannt"4. Diese Redewendung "Das transzendentale Objekt bleibt uns unbekannt" kann mit Recht als der Stein ' A45 B63. 2

Ebd. Kursiv von mir. Ebd. "Ebd. 3

2. Die Folgen der Hegeischen Kritik: die Hypostasierung der Dinge

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des Anstoßes betrachtet werden. Die Hegeische Interpretation schließt daraus, daß Kant damit meine, daß die Dinge zwar erkennbar sind, aber nur als Vorstellungen, wohingegen das, was als Ursache in uns diese Vorstellungen veranlaßt hat, d.h. das transzendentale Objekt, außerhalb unseres Vorstellungsvermögens liegt. Ist nun Ursache aller Vorstellungen ein Etwas, muß darüber hinaus noch folgen, daß dieses Etwas als etwas Außersinnliches nichts anderes ist als die Ursache einer uns unvernehmlichen Wirkung der Affektion der Dinge-an-sich. Aus dem Beispiel läßt sich jedoch nur sagen, daß sich ausschließlich jeweils unterschiedliche Dinge, d.h. der Regenbogen, Regentropfen, usw., thematisieren lassen. Unter dieser empirischen Betrachtung der Dinge bleibt dann das, was als "Ursache" uns ermöglicht, diese jeweiligen Dinge als Objekte zu gewinnen, unbekannt. Daß das transzendentale Objekt ein "Nichts" ist, hängt demnach damit zusammen, daß es das reine Produkt einer anzunehmenden zugrundeliegenden transzendentalen Struktur des Subjekts ist, die als Bedingung der Möglichkeit für die Gewinnung der Objektivität zwar ein "Nichts" ist, aber doch etwas: Das Nichtempirische der transzendentalen Strukturen des Subjekts. Deshalb sind eigentlich die Vorstellungen das, was uns unbekannt bleibt, denn sie sind uns zwar gegeben, aber sie sind nicht erkannt. Ihrer Natur nach sind sie etwas Nicht-empirisches und darüber hinaus unthematisiert. Dafür spricht die unleugbare Tatsache, daß Empirie und empirische Wissenschaften durch welche Mittel auch immer ausschließlich mit Dingen und nie und nimmer mit dem NichtEmpirischen zu tun haben. Wie die Vorstellungen die Erkenntnis der Dinge ermöglichen, d.h., was für eine Beziehung sie zu den Dingen haben, ist also eine Frage, die auf keinen Fall als eine empirische, sondern nur als eine durch die philosophische Reflexion zu stellende transzendentale Frage charakterisiert werden kann. Gerade dadurch, daß die Standardauslegung die Differenz zwischen Vorstellungen und Dingen unter dem empirischen Aspekt auf die transzendentale Ebene überträgt, befindet sie sich in einer schwierigen Lage. Sie ist mithin gezwungen, innerhalb der empirischen bzw. vorphilosophischen Ebene die Annahme zweier unterschiedlicher Arten von Seiendem, diejenige der Erscheinungen und jene der Dinge-an-sich, in Kauf zu nehmen, um die Möglichkeit des Nicht-Empirischen nicht preiszugeben. Diese Voraussetzung führt aber unvermeidlich zur Hypostasierung der Dinge d.h. dazu, den Dingen - als ein zusätzliches Etwas in oder hinter den Dingen - einen nicht-empirischen Status zuzuschreiben. Die Hypostasierung der Dinge vollzieht sich in zwei Schritten. Zunächst wird im Anschluß daran, daß das, was gesehen wird, immer Dinge sind, die durchaus berechtigte Frage gestellt: Wie läßt sich erklären, daß Kant eigentlich in demselben Beispiel ausdrücklich sagt, daß der Regenbogen, die Tropfen, die runde Gestalt und sogar der Raum, in

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

welchem sie fallen, nicht anders als als Erscheinungen zu betrachten sind? Zur Auflösung dieses Problems wird dann folgendermaßen argumentiert: Das, was gesehen wird, sind nichts anderes als verschiedene Erscheinungen eines und desselben Objekts, das uns unerkennbar bleibt. Da dieser Schluß aber notwendig zur Folge hätte, die Dinge nicht als Erscheinungen, sondern gerade als Schein zu betrachten, denn das, was gesehen würde, wären nicht mehr Dinge, sondern Erscheinungen, also Vorstellungen, unterscheidet man zwei Arten von Seienden: Einmal Erscheinungen für uns, einmal Dinge für sich als etwas Verborgenes, deren Unterschied zu den Erscheinungen als derjenige der Dinge-an-sich charakterisiert wird. Daraus ergibt sich aber, daß gerade das, was zu den Erscheinungen gehört, d.h. ihr nicht-empirischer Status, den Objekten selbst beigelegt wird. Denn fragt man sich, was vernünftig darunter zu verstehen sei, daß die Dinge einmal Vorstellungen bzw. Erscheinungen für uns und zum anderen Dinge-an-sich sind, so stößt man unvermeidlich auf das folgende Dilemma: Entweder die Vorstellungen selbst sind tatsächlich etwas Empirisches und die Dinge selbst würden zu etwas NichtEmpirischem oder, wenn die Vorstellungen selbst nichts anderes als etwas NichtEmpirisches sein können, werden die Dinge den Vorstellungen gegenüber zu etwas "empirisch" Transzendentem bzw. zu einer transzendenten Empirie. Folgt man dem ersten Weg, so gelangt man zum Psychologismus, denn die Vorstellungen wären dann tatsächlich so etwas wie Substanzen, wohingegen gilt, daß Vorstellungen zwar extensae (subjektiver Raum), aber nicht res bzw. nicht beharrlich sind. Wird der zweite Weg beschritten, so gelangt man zur Hypostasierung der Dinge, denn die Dinge selbst würden dann zu etwas "empirisch" derart Transzendentem, daß man kaum sagen dürfte, daß sie hinter den Erscheinungen eben als Dinge-an-sich existieren. Dieses Dilemma zeigt, wie der naive Realismus durch die Annahme der Dinge-an-sich als des "caput mortuum", des Äußeren, unmöglich ist. Zu fragen bleibt jedoch, ob Kant selbst die Dinge an sich auf diese Weise thematisiert hat oder ob diese Schwierigkeiten vielmehr in einer irreführenden Interpretation der primären Absicht Kants bei der Thematisierung des Problems der Dinge an sich liegen.

3. Die Lehre des Verhältnisses Substanz-Akzidens als erste Voraussetzung fiir die Herausarbeitung des Ursprungs der Frage nach den Dingen bei Kant Eine Untersuchung, welche die ursprüngliche Absicht Kants bezüglich des Problems der Dinge an sich herausfinden will, muß sich zunächst an den Unterschied zwischen der transzendentalen und der empirischen Ebene halten. Festzuhalten gilt: Die Dinge sind etwas Physisches, die Erscheinungen dagegen sind etwas Mentales. Die Beziehung der Vorstellungen auf die Gegenstände stellt die transzendentale Frage vor.

3. Die Lehre des Verhältnisses

Substanz-Akzidens

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Zur Erfüllung dieser Vorbedingung muß man sich zunächst aber mit dem Problem des Verhältnisses Substanz-Akzidens auseinandersetzen1. Die Voruntersuchung des Verhältnisses von Substanz-Akzidens zielt darauf ab zu verdeutlichen, wie Kant die Absonderung der Substanz gegenüber ihren Eigenschaften und umgekehrt die Absonderung der Eigenschaften gegenüber ihrer Substanz vermeiden will, und stattdessen die gegenseitige Beziehimg beider ausschließlich im Ausgang von der transzendentalen Ebene der philosophischen Reflexion gelten läßt. Denn nur dadurch wird geklärt, daß das Mißverständnis bezüglich der Dinge-an-sich eigentlich auf einer Mißdeutung der Kantischen Auffassung des Verhältnisses Substanz-Akzidens beruht. Die von Piaton2 vorgeschlagene Auffassung des Wesens des Dinges geht von der Betrachtung des Dinges als Aggregat aus. Laut unserem Beispiel liegt das Ding "Regenbogen" den verschiedenen Teilen Regentropfen, Rundes, usw. zugrunde. Diese jeweils anderen individuellen Exemplare, Regentropfen, Rundes, usw., stehen jeweils im Verhältnis zu ihren Urbildern bzw. Ideen, so daß nicht die Ideen Regenbogen, Rund, usw., sondern der Inbegriff verschiedener Gehalte, die jeweils in Verhältnis zu ihren Ideen stehen, ein Ding ausmacht. Diese Lösung zeigt aber ihre Grenze, sobald in Frage gestellt wird, ob diese Erläuterung für den Menschen zutrifft. Denn das Individuelle "Mensch" kann nicht wiederum Teil eines und desselben individuellen Menschen sein. Von dieser Bemerkung geht die Kritik von Aristoteles an Piaton aus. Er zeigt, wie allein das jeweils Individuelle, wie Regentropfen, Rundes, etwas ist, das schon immer in etwas auftritt. Regentropfen, rund, usw., sind daher jeweils das Unselbständige an einem ihnen zugrundeliegenden Selbständigen, das Aristoteles "Hypokeimenon"3 nennt. Der Weg, auf dem Aristoteles zur Thematisierung seiner Lehre in der Kategorienschrift und in der Metaphysik gelangt, ist bekannt. Er hält gegen Piaton an der Immanenz des Seienden fest, indem er zeigt, wie eine Eigenschaft schon immer in etwas bzw. in einem Ding vorliegt. Ferner sind die Eigenschaften weder Teil der Dinge noch getrennt von ihnen. Obwohl diese Bestimmung der Eigenschaften für ein vorphilosophisches Verständnis des Unterschieds zwischen Dingen und Eigenschaften zutrifft, ist diese Überlegung für eine philosophische Erklärung ihrer gegenseitigen Beziehung nicht hinreichend. Denn auch für Aristoteles gilt, daß eine Eigenschaft auf keinen Fall einem Ding gleich sein kann. Und dies führt auf eine Tautologie hinaus, die darauf beruht, daß das, was in den Dingen zwar nicht Ding, sondern Eigenschaft ist, nicht Ding sei.

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Hierbei wird ausdrücklich auf die von Prauss vorgeschlagene Interpretation von Substanz-Akzidens Bezug genommen: Vgl. Prauss, Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, §4. 2 Vor allem in Phaidon. Zu einer ausfuhrlichen Darstellung Vgl. dazu Prauss, Gerold Piaton und der logische Eleatismus. Berlin 1966 und Prauss, Gerold Ding und Eigenschaft bei Piaton und Aristoteles; in: Kant-Studien (59), 1968. 3 Metaphysik, Buch Η und Z.

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Um die Immanenz des Seienden nicht preiszugeben, versucht Aristoteles, die Eigenschaften im Unterschied zu den Dingen so zu charakterisieren, als besäßen die Eigenschaften gar keine Materie und als besäßen dagegen die Dinge eine jeweils eigene. Durch diese Charakterisierung des Unterschieds der Dinge von den Eigenschaften hinsichtlich ihrer Materialität stößt aber Aristoteles auf das umgekehrte Problem von Piaton, d.h., er setzt nicht transzendente Eigenschaften immanenten Dingen gegenüber, sondern transzendente Dinge immanenten Eigenschaften. Sinnvollerweise ist etwas Materielles immer schon ein Ding mit Eigenschaften und nicht etwa ein Ding ohne sie. Dinge ohne Eigenschaften sind folglich etwas Transzendentes bzw. transzendente Dinge. Die Standardauslegung legt genau in dieser Aristotelischen Weise den Unterschied zwischen der empirischen und der transzendentalen Ebene aus. In Abgrenzung zur Platonischen Definition der Dinge als Aggregat habe Kant im Ausgang von Aristoteles bemerkt, wie dem Unselbständigen jeder Erscheinung ein selbständiges Ding-an-sich zugrunde liegt. Das transzendentale Objekt sei demzufolge, "das, was der Erscheinung der Materie, als Ding an sich, zum Grunde liegt"1. Das, was zugrunde liegt, seien also "[d]ie Dinge-an-sich, insofern sie ohne alle Bestimmung, als Nichtse gedacht werden"2. Laut dieser Auffassung sind die sogenannten Dinge-an-sich eine weitere Thematisierung der in der Immanenz vorliegenden Transzendenz im Aristotelischen Sinne. Die Feststellung "Das transzendentale Objekt bleibt uns unbekannt" ist demzufolge ein Hinweis auf das Problem, das Aristoteles zu bewältigen suchte: Eine philosophische Auseinandersetzung mit dem immanenten Unterschied zwischen Ding und Eigenschaft in der Immanenz selbst. Obwohl solche philosophischen Versuche zweifelsohne den Übergang von der empirischen zur philosophischen bzw. transzendentalen Ebene anzeigen, ist doch das Ergebnis Kants im Vergleich zur Tradition ein ganz anderes. Die Thematisierung des Verhältnisses Substanz-Akzidens geschieht vor allem in der Ersten Analogie3. Hier fragt Kant nach dem Grund, weshalb jedes individuelle empirische Objekt im Verhältnis von Substanz-Akzidens auftritt. Solch einen Grund hat für Kant die Tradition bisher nicht benannt, weil sie übersehen hat, daß das Verhältnis von Substanz und Akzidens nur dann sinnvoll ist, wenn keinem von beiden selbständiges Dasein zukommt, sondern allein der Einheit von beiden. Daher vertritt er die These, daß es in der Natur als dem Inbegriff von Seiendem stets um Seiendes einer einzigen Art geht. Um von dem Aristotelischen Gedanken der verschiedenen Arten von Seienden, insbesondere von Ding und Eigenschaft, Abstand zu nehmen, verwendet er ganz 1 2 3

GHA Bd.l: S306-307. GHA Bd.4: S.137 Vgl. GHA Bd.4: S.609; Bd.5: S.72; Bd.8: S.295. Al 82-189 B224-232.

3. Die Lehre des Verhältnisses

Substanz-Akzidens

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bewußt im Gegensatz zu Aristoteles den Begriff "Reales" in bezug auf die Eigenschaften. Da aber "hieraus viel Mißdeutungen" entstehen, spezifiziert er, daß die Verwendung des Begriffes "Reales" erlaubt ist, "wenn man das Akzidens nur durch die Art, wie das Dasein einer Substanz positiv bestimmt ist, bezeichnet"1. So nahe Kant also an dieser Stelle der Aristotelischen Sprache steht, so entschieden setzt er sich doch auch von dessen Denken ab. Denn aus dieser Überlegung Kants ergibt sich, daß die Akzidenzen als solche keineswegs etwas wie Regenbogen am Regenbogen, Regentropfen am Regentropfen oder am Runden etwas Rundes sind. Umgekehrt sind die einheitlichen Objekte, wie z.B. der Regenbogen, die Tropfen oder etwas Rundes, indem sie als Substanzen schon immer durch die Eigenschaften bestimmt sind, etwas als etwas, d.h. dies als ein Regenbogen, dies als Regentropfen, dies als etwas Rundes, das heißt: Einheitliche Objekte, nämlich Substanz mit Eigenschaft/en. Das einheitliche empirische Objekt ist demnach für Kant im Unterschied zu Aristoteles schon immer ein Selbständiges, so daß Substanz-Akzidens nicht zwei Kategorien differenziert, sondern eine einzige Kategorie benennt unter denjenigen der Verhältnisse. Keinem von beiden, weder der Substanz noch dem Akzidens, kommt ein selbständiges Dasein zu. Gemäß dieser Überlegung gilt ferner, daß das Verhältnis von Substanz und Akzidens keineswegs einem äußeren bzw. empirischen Verhältnis entspricht2. Mit Substanz ist daher nicht ein unbestimmter empirischer Gegenstand gemeint, der sich als selbständiger in der Erfahrung zu seinen jeweils wechselnden Akzidenzen verhält. Vielmehr gilt fur Kant, daß das Verhältnis von Substanz und Akzidens stets einem inneren bzw. nicht-empirischen Verhältnis entspricht, so daß der Erkenntnis empirischer Gegenstände schon immer nicht-empirische Subjektivität in Form eines α priori entworfenen transzendentalen Objekts zugrundeliegt3. Dadurch, daß Substanz und Akzidens kein jeweils eigentümliches, d.h. selbständiges Dasein haben, spezifiziert Kant, daß diese Kategorie, die unter dem Titel der Verhältnisse steht, "mehr als die Bedingung derselben, als daß sie selbst ein Verhältnis enthielte"4. Denn es geht dabei nicht um das Verhältnis zwischen Dingen bzw. selbständigen Entitäten, sondern um eine Bedingung für die Gewinnung der Objektivität solcher selbständiger Dinge und darüber hinaus um eine Vorbedingung fur das Verhältnis zwischen Dingen bzw. Selbständigen. Diese letzte Charakterisierung des Verhältnisses Substanz-Akzidens läßt noch deutlicher den Unterschied von Kant und Aristoteles erscheinen, wenn man fol1

A186f. B229f. Da ein jedes Selbständige bzw. Seiende Substanz zusammen mit Akzidens ist, kann "Materie" als Empirisches nach Kant nur etwas immer schon Vorhandenes sein, und tatsächlich wird heute im Ausgang von physikalischen Ergebnissen die "Materie" als elektromagnetisches Feld erklärt. Vgl. B278. 3 Vgl. dazu. Ak. Bdl8: S.194. 4 Al 87 B230. 2

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gendes bedenkt: Ist das Verhältnis Substanz-Akzidens für Kant zwar Bedingung für die Gewinnung der Objektivität jeweils Selbständiger, aber nicht Verhältnis zwischen Selbstständigen, so kann es auf keinen Fall analog zum Verhältnis Ursache-Wirkung bei Aristoteles gedacht werden. Denn im Kausalverhältnis stehen zwei Selbständige in Beziehung, deren eines Ursache bzw. Wirkung eines anderen nur dann sein kann, wenn ein Selbständiges als Substanz sich "verändert", indem mindestens Akzidenzen einer Art an ihm "wechseln"1. Die Veränderung der Substanz vollzieht sich demnach durch den Wechsel der Akzidenzen, so daß es fur Kant auch bei der Veränderung, d.h. einem Ereignis, unangemessen ist, Substanz abgesondert von den Akzidenzen als Selbständige gegenüberzustellen. Ein Ereignis ist demzufolge ein komplexer Fall von Substanz in Veränderung durch den Wechsel ihrer Akzidenzen2. Aus dieser Überlegung heraus findet Kant in den "Bedingungen des logischen Gebrauches unseres Verstandes"3 den Grund dafür, weshalb die Tradition den Fehler bezüglich der Absonderung von Substanz und Akzidens begangen hat. Logischer Gebrauch darf nach Kant keineswegs dem transzendentalen gleichgesetzt werden. Eine klare Bestimmung dessen, was unter logischem Gebrauch zu verstehen sei, läßt sich an einer Stelle aus einer kleinen Schrift Kants4 ablesen, wo er im Ausgang von einem Aufsatz von Eberhart den logischen Gebrauch der Tradition kritisiert. Er schreibt: "Herr Eberhart [...] sagt: "Wir können keine allgemeine Begriffe haben, die wir nicht von den Dingen [...] a b g e z o g e n haben", welche Absonderung von dem Einzelnem er dann [...] genauer bestimmt. Dieses ist der erste Actus des Verstandes. Der zweite besteht [...] darin: daß er aus jenem sublimierten Stoffe [d.h. die abgezogenen Eigenschaften im Gegensatz zur Substanz] wiederum Begriffe zusammensetzt. Vermittelst der A b s t r a c t i o n gelangte also der Verstand zu den Kategorien [umfassende Begriffe für die Empirie], und nun steigt er von da und den wesentlichen Stücken der Dinge zu den Attributen derselben"5. Die Tradition bleibt für Kant dem Prinzip der Abstraktion treu, aus dem heraus sich die Trennung der Substanz vom Akzidens als zwei eigenständigen Kategorien ergibt. Dieser Abstraktion zufolge haben Substanz und Akzidens jeweils eigenes Dasein. Da die Tradition ferner diesen logischen Unterschied als ontologischen gelten läßt, gelangt sie, wie sich gezeigt hat, zur Bestimmung der Akzidenzen entweder als irgend etwas Transzendentes an der immanenten Substanz im Platonischen

1

Ebd. Für die Bedeutungsschwankungen Kants bezüglich des Kausalverhältnisses in Abgrenzung zu Aristoteles vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1993; Bd.I, Teil 2, §§ 26, 27. 3 A l 8 7 B230. 4 Ak. Bd. 8 S185-251. 5 Vgl. Ebd. S.216. 2

3. Die Lehre des Verhältnisses

Substanz-Akzidens

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Sinne oder umgekehrt als irgend etwas Immanentes an der transzendenten Substanz im Aristotelischen Sinne. Dadurch, daß das Abstrahieren von Empirie und empirischen Gegenständen von einer möglichen Erfahrung ausgeht, bemerkt Kant noch treffender, wie die allgemeinen Begriffe, die durch zunehmende Abstraktion gewonnen werden, als immer umfassendere Kategorien fiir die Bestimmung der Empirie immer in der Empirie selbst bzw. im empirischen Seienden verankert bleiben, aber nie auf das Nicht-Empirische zutreffen. Diese letzten Betrachtungen Kants über den "logischen" Gebrauchs des Verstandes lassen nicht nur im negativen Sinne hervorgehen, was Philosophie als "transzendentale Logik" nicht ist. Sie weisen auch sehr deutlich auf den einzigen Weg hin, der allein zur Vermeidung der Verdinglichung von Substanz im Unterschied zum Akzidens fuhren kann. Vorausgesetzt, daß für Kant transzendentale Reflexion auf Substanz-Akzidens nicht bedeuten kann, Substanz und Akzidens als Quasi-Objekte zu betrachten, d.h. an Stelle von Empirie nicht-empirische Objekte zu thematisieren, läßt sich positiv folgendes sagen. Ihm gemäß heißt, transzendentale Philosophie zu treiben, gerade Empirie und empirische Gegenstände auf eine eigentümliche, d.h. nichtempirische Weise zu betrachten, mit anderen Worten, auf Empirie und empirische Gegenstände ihrer inneren Struktur nach einzugehen. Da ferner "Substanz" und "Akzidens" weder empirische Begriffe noch nicht-empirische Sonderdinge bilden, ist nach Kant der Unterschied von Substanz und Akzidens philosophisch dann sinnvoll, wenn er als eine durch nicht-empirische Begrifflichkeit gewonnene Differenz in die innere Struktur der Empirie selbst eingetragen wird. Aus dem zuletzt Gesagten müßte einerseits der Fehler, der dem Ansatz Aristoteles' zugrunde liegt, und im Anschluß daran derjenige der Standardauslegung bezüglich der Frage nach den Dingen bei Kant endgültig entlarvt sein, und andererseits die radikale Umkehrung des transzendentalen Standpunkts Kants deutlich sein. Wenn das eigentümliche Thema, das es zu behandeln gilt, sowohl nach Kant als auch nach Aristoteles die Empirie und die empirischen Gegenstände sind, ist doch die Art der Behandlung dieser Thematik in den beiden philosophischen Sichtweisen derart verschieden, daß sie als diametral entgegengesetzt betrachtet werden müssen. Vollzieht sich nämlich fur Aristoteles die Bestimmung der Dinge durch die zwei Kategorien Substanz und Akzidens von den Dingen her, dann trifft aus seiner erkenntnistheoretischen Sichtweise die Unterscheidung der selbstständigen, zugrundeliegenden Substanz von den unselbständigen Akzidenzen stets fiir die Bestimmung von etwas schon immer Wirklichem zu. Hingegen gilt fiir Kant, daß die Bestimmung, die durch die einzige Kategorie des Verhältnisses von Substanz und Akzidens Bedingung für die Gewinnung der Objektivität der Außenwelt ist, stets vor der Wirklichkeit der Gegenstände bzw. a

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priori geschieht, so daß solch eine Bestimmung keineswegs von dem Objekt her, sondern gerade umgekehrt auf das Objekt hin geht. Nun zeigt gerade diese Umkehrung bezüglich der Bestimmung der Gegenstände das an, was unter dem Titel der "Kopernikanischen Wende" bei Kant ausgearbeitet wird. Laut ihr richtet sich "der Gegenstand nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens"1, so daß zunächst folgendes geklärt werden muß: Wie kann das Subjekt die Objektivität der Außenwelt begründen bzw. wie kann es α priori zu etwas von ihm Grundverschiedenem bzw. zum Objekt gelangen?

4. Die Kopernikanische Wende und das Problem des Anfangs ausgehend von Jacobis Schrift "Über den transzendentalen Idealismus " Daß in Kantischer Perspektive jede Bestimmung auf das Objekt hingeht und nicht von ihm ausgeht, macht also den Kern der Kantischen Wende hinsichtlich der Betrachtung der Empirie aus. Die Schwierigkeit, die der transzendentalen Umkehrung bezüglich der apriorischen Betrachtung der Empirie zugrunde liegt, besteht offensichtlich in der Feststellung des Ausgangspunkts des bestimmenden Vollzugs. Denn Bestimmung der Gegenstände α priori bedeutet unzweifelhaft Bestimmung vor der Wirklichkeit derselben, dennoch kann es sich dabei nicht um eine Bestimmimg aus dem Nichts handeln. Wenn aber Bestimmung α priori nicht Bestimmung aus dem Nichts bedeutet, muß der Inhalt der Anschauung von außen geliefert werden. Aufgrund dieser letzten Überlegung spitzt sich die Schwierigkeit hinsichtlich der Feststellung eines möglichen Anfangs des bestimmenden Vollzugs α priori bis zur äußersten Konsequenz zu. Denn macht nach Kant die Beteiligung der Sinnlichkeit an dem bestimmenden Vollzug von Anfang an ein wesentliches Element desselben aus, so scheint unausweichlich, daß jede Bestimmung gar nicht auf das Ding hin, sondern umgekehrt von dem Ding her ausgehen müsse. Wenn der Anfang des bestimmenden Vollzugs im Ausgang von dem Objekt selbst angesetzt wird, müßte man aber durch nichts anderes als einen Schluß von der Wirkung eines Gegenstandes in uns auf deren Ursache als ein außer uns befindliches Objekt zurückgehen können. Durch das bloße Schließen zeigt sich dies als unmöglich, denn dabei "muß es immer zweifelhaft bleiben, ob [die Ursache] in uns oder außer uns sei"2. Setzt man den Anfang des bestimmenden Vollzugs in einer von der Sinnlichkeit völlig abgelösten Subjektivität an, so bleibt der Ursprung des Materials jeder Bestimmung

1 2

Β XVII. A372.

4. Die Kopernikanische

Wende und das Problem des

Anfangs

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endgültig unerkennbar. Das hieße, daß das Material uns durch "Eingebung"1 bzw. aus dem Nichts gegeben würde bzw. dasselbe Material der Erkenntnis nichts anderes als ein durch "Offenbarung" 2 Geliefertes wäre. Diese auf den ersten Blick unauflösbare Aporie, in welche die transzendentale Philosophie aufgrund ihrer Prämisse unausweichlich zu geraten scheint, ist schon bald nach der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von F. Jacobi als das theoretische Problem schlechthin angesehen worden. Denn nur durch seine Auflösung kann "die Kantische Philosophie zu sich selbst den Eingang finden"3. Gemäß der durchaus berechtigten Überlegung Jacobis ist solch ein Eingang nur dann möglich, wenn man von den Gegenständen imstande ist zu sagen, "daß sie Eindrücke auf die Sinne machen, dadurch Empfindungen erregen, und auf diese Weise Vorstellungen zuwege bringen"4, ohne daß der Anfang der Bestimmimg der Dinge sich im Ausgang von dem Ding vollziehen muß. So berechtigt es ist, daß Jacobi in der komplexen Mitbeteiligung der Sinnlichkeit am bestimmenden Vollzug den Kern der Kantischen Philosophie erkennt, so unangemessen ist jedoch sein Versuch, diese Mitbeteiligung als eine erschlichene "Voraussetzung" in dem "Geist" des Kantischen Systems5 zu behandeln. Gilt es auch als unleugbare Tatsache, daß Objekte durch Eindrücke auf die Sinne Vorstellungen verursachen, so schließt dies doch nicht die Möglichkeit aus, den Anfang der Bestimmung der Dinge nicht im Objekt, sondern in der Vorstellung zu verorten6. Vorbedingung fur die Erkennbarkeit der Dinge ist daher nach Kant die Feststellung des Anfangs des bestimmenden Vollzugs in der Vorstellung, so daß das aufzulösende Problem nicht darin besteht zu erklären, daß Objekte durch "Eindrücke auf die Sinne [...] Vorstellungen zuwege bringen"7. Es geht vielmehr darum zu verdeutlichen, inwiefern man durch die Vorstellungen zu den Dingen gelangt, so daß die Dinge nicht den Ausgangspunkt, sondern den zu erreichenden Zweck des bestimmenden Vollzugs darstellen. Diesem Ansatz zufolge scheint jedoch die Jacobische These, daß die Notwendigkeit der Mitbeteiligung der Sinnlichkeit an dem bestimmenden Vollzug in der

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Ak. Bd.4: S.282. Ak. Bd.17: S.632. 3 Alle Werke Jacobis werden nach der von Friedrich Roth und Friedrich Koppen herausgegebenen Gesamtausgabe (JGA), Darmstadt 1968, zitiert. Jacobi, Friedrich David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus. Beylage: Über den transzendentalen Idealismus. JGA Bd.2: S.303 4 J G A B d . 2 : S.301. 5 Ebd. 6 Dazu gilt es, folgendes vorauszuschicken: Kant nimmt erst in seinen späten Überlegungen vollständig wahr, daß die These, gemäß welcher der Ausgangspunkt des bestimmenden Vollzugs in der Vorstellung von etwas angesetzt werden muß, mit seiner These der Spontaneität des Verstandes unvereinbar ist. Wie Kant daher allmählich zur Überzeugung gelangt, die Vorstellung im Einklang mit der vorrangigen Rolle der Verstandestätigkeit vor der Sinnlichkeit ausgehend von dem Subjekt als ihrer Ursache zu berücksichtigen, wird hier im folgenden Kapitel II, §§ 5-9 untersucht. 7 JGA Bd.2: S.303. 2

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

Kantischen Philosophie unangemessen ist, durchaus begründet zu sein, wenn man folgendes bedenkt: Nach Kant sind es die Vorstellungen, wovon alle Bestimmungen ausgehen, und die Dinge, woraufhin alle Bestimmungen hingehen. Doch es stellt sich sofort die Frage, was eigentlich dafür bürge, daß die Bestimmung nicht bei den Vorstellungen stehenbleibt, d.h. sie, die Vorstellungen, beispielsweise als Regenbogen bestimmt. Dann würde die Wirklichkeit der Dinge bzw. der Außenwelt in derjenigen der Vorstellungen aufgehoben. Von der "Art und Weise, wie wir von Gegenständen afficiert werden", würden wir uns "in der totalsten Unwissenheit"1 befinden. Dieser Schein löst sich aber fast von selbst auf, sobald man eine - nur scheinbar schlichte - Überlegung Kants in Betracht zieht, deren Selbstverständlichkeit dazu fuhrt, daß ihre Wichtigkeit in der Kantischen Philosophie leicht übersehen wird. Kant definiert die Sinnlichkeit als dasjenige Vermögen, wodurch uns allein "Gegenstände g e g e b e n werden"2. Wenn man sich aber fragt, wie es überhaupt möglich ist, daß uns Gegenstände gegeben werden, dann läßt sich als einzig mögliche Antwort geben, daß sie uns gegeben werden, nur insofern wir die Fähigkeit haben, " Vorstellungen zu bekommen"3. Durch die Sinnlichkeit sind dem Subjekt also Gegenstände gegeben, wobei die "Ursache" des Rezipierens nicht den Dingen, sondern umgekehrt der Sinnlichkeit selbst, als demjenigen Vermögen, "Vorstellungen zu bekommen"4, zuzuschreiben ist. Wohlgemerkt: Die Sinnlichkeit ist die Fähigkeit, "Vorstellungen zu bekommen" und nicht Dinge zu bekommen! Dinge sind uns durch die Sinnlichkeit nämlich ausschließlich gegeben, jedoch nur vermittelt, und zwar dadurch, daß wir Vorstellungen bekommen. Daher sind nur die Vorstellungen selbst das, was uns unmittelbar gegeben ist. Dabei muß allerdings folgendes beachtet werden: So klar Kant einzig in der Möglichkeit, Vorstellungen zu bekommen, den Weg sieht, wodurch uns Gegenstände gegeben werden können, so stößt er doch gerade wegen dieser Theorie auf eine neue Schwierigkeit, die er nie völlig geklärt hat. Denn zweifelsohne sind Empfindungen bzw. Vorstellungen als ein bloß "rezeptiv" von uns Empfangenes und von Anderem Veranlaßtes zu verstehen, so aber ist das Rezipiert-WerdenKönnen der Vorstellungen, d.h. die Möglichkeit, Vorstellungen zu empfangen, offenbar eine von uns erschaffene Möglichkeit. Zu recht charakterisiert Kant also die Sinnlichkeit als das Vermögen der Rezeptivität immer in dem Sinne, daß allein ihr die Fähigkeit des Affiziertwerdens bzw. des Wirksam-werden-könnens eignet, also als das Bestimmbare oder das 1 2 3 4

JGA Bd.2: S.306. A19 B33. Vgl. auch A50 B74. Ebd. Kursiv von mir. Ebd. Kursiv von mir.

4. Die Kopernikanische Wende und das Problem des Anfangs

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Zubestimmende. Gleichzeitig übersieht er das Wesentliche, indem er die Bestimmung der Sinnlichkeit auf den Vorstellungen selbst beruhen läßt. Denn wenn die Sinnlichkeit deshalb wirksam ist, weil Vorstellungen in ihr auftreten, so setzt dieser Auftritt die Fähigkeit voraus, sich für anderes affizierbar zu machen. Ist dies Andere jeweils eine neue Vorstellung, so können sicher nicht die Vorstellungen die Ursache der Wirksamkeit der Sinnlichkeit, sondern umgekehrt ausschließlich ihre Wirkungen sein. Damit also ein Inhalt rezeptiv gegeben wird, muß die Sinnlichkeit ihrer Form nach derart bestimmt werden, daß diese oder jene Vorstellung sich überhaupt einstellen kann. Konsequenterweise erfolgt die Bestimmung der Sinnlichkeit nicht vermittelt durch die Vorstellungen, als ob sie selbst die Ursache der Affektion in uns wären. Ursache der Affektion ist vielmehr der Verstand, der als Bestimmenkönnen die Sinnlichkeit ihrer Form nach so bestimmt, daß er einen Inhalt als ihre Wirkung in ihr überhaupt auftreten läßt. Relativ spät kommt Kant zu einer, zwar nicht ausfuhrlichen, aber dennoch klaren Charakterisierung des Zusammenspiels von Verstand und Sinnlichkeit schon bei der sogenannten "Selbstaffektion", und zwar in einer Anmerkung in der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe'. Bei der Differenzierung von "Form der Anschauung" und "formaler Anschauung"2 scheint er auf diejenige Stelle der Ästhetik* und der Deduktion4 selbst tiefer einzugehen, wo er umgekehrt die These vertreten hatte, "daß das Mannigfaltige für die Anschauung vor der Synthesis des Verstandes [...] gegeben sein müsse"5. Hier bemerkt er, daß eigentlich das Mannigfaltige ausschließlich mit der Synthesis des Verstandes gegeben wird6, und zwar, "indem [dieser] die Sinnlichkeit bestimmt"7. Vor der Synthesis des Verstandes ist demnach die Anschauung ausschließlich als eine bloß zu verwirklichende Möglichkeit zu denken. Nur dadurch läßt sich nämlich verstehen, wie Kant die These überhaupt vertreten kann, wonach auf keinen Fall Dinge oder Eigenschaften in uns "herüberwandern"8, und daß uns Gegenstände gegeben werden, nur insofern wir Vorstellungen bekommen. Ungeachtet des Problems der Selbstaffektion bezüglich des Bekommene der Vorstellungen und des damit verbundenen Problems der komplexen Charakterisie-

1

Vgl. B161. Vgl. dazu auch Ak. Bd.20: S.271. B161. 3 Vgl. B68. 4 Vgl. B145. 5 Β145. Kursiv von mir. 6 Daß bei der Affektion nach Kant der Verstand schon immer mit im Spiel ist, und inwiefern ihm die Fähigkeit zuzuschreiben ist, über die Vorstellung hinaus auch noch zum Objekt zu gelangen, wird im Paragraph 6 diskutiert. 2

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8

B161.

Ak. Bd.4: S.282.

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

rung der Sinnlichkeit in ihrem Zusammenspiel mit der Spontaneität des Verstandes legt Jacobi sie so aus, als ginge es nach Kant dabei um bloße Rezeptivität im Sinne einer Möglichkeit, Dinge oder Eigenschaften abzubilden. Daraus ergäbe sich zum einen notwendigerweise, daß die Anschauung α posteriori geschähe, als ob sie also empirisch wäre. Zum anderen würde daraus aber auch folgen, daß die Sinnlichkeit dasjenige Vermögen wäre, nicht Vorstellungen, sondern Dinge zu bekommen. Dinge wären uns demnach unmittelbar gegeben. Wären uns Dinge unmittelbar gegeben, müßte man von den biologischen Wirkungszusammenhängen unseres Körpers auf die Vorstellungen schließen können, so als ob man etwa im Ausgang von unserer privaten Sphäre als einer Wirkung eines Objekts in uns auf ihre Ursache als ein außer uns befindliches Objekt zurückgehen könnte, wie man z.B. α posteriori im Ausgang von der Bewegung einer Billardkugel auf den Billardstock samt der sich aus dem Kontakt mit der Kugel selbst ergebenden Kraft als ihre Ursache schließt. Es gilt jedoch zu bedenken, daß eine physiologische Analyse der Wirkungszusammenhänge unseres Körpers, wie sorgfaltig auch immer, zum Scheitern verurteilt ist, insofern sie ausschließlich im Physischen verankert bleibt, wohingegen Empfindungen und Vorstellungen stets Psychisches sind. Gerade aufgrund der selbst von Jacobi erkannten Eigentümlichkeit der Vorstellungen als psychisches Phänomen versucht er das aufzulösende Problem der Mitbeteiligung der Sinnlichkeit an dem bestimmenden Vollzug so zu bewältigen, als ob Kant eigentlich das aufzulösende Problem selbst als Lösung desselben in Anspruch genommen hätte. Ist es nämlich unmöglich, durch welchen Schluß auch immer von der Wirkung eines Gegenstandes in uns auf ihre Ursache als ein außer uns befindliches Objekt zurückzugehen, weil die Ursache selbst sich außer uns, aber ebenso auch in uns befinden könnte, dann hätte Kant die Dinge selbst zu Erscheinungen bzw. Vorstellungen gemacht: "Nach dem Kantischen Lehrbegriff kann der empirische Gegenstand, der immer nur Erscheinung ist, nicht außer uns vorhanden, und noch etwas anderes als eine Vorstellung seyn [...]."' Nachdem Jacobi die empirischen Dinge den Vorstellungen in dem Sinne gleichgesetzt hat, daß das, "was nicht Erscheinung ist, nie ein Gegenstand der Erfahrung seyn kann"2, fragt er rückwärts nach der Beziehung der Vorstellungen zu den Dingen. Da er aber meint, daß die einzigen Objekte einer möglichen Erfahrung die Vorstellungen in uns bzw. im Subjekt sind, kann er gar keinen Rückbezug mehr finden, denn fur ihn muß gelten, daß jede Bestimmung nicht umhin kann, bei den Vorstellungen stehenzubleiben. Auch die Einheit der Begriffe, wodurch das Mannigfaltige der Anschauung geordnet wird, hat gar "keine Gültigkeit als nur in

1 2

JGA Bd.2: S.301-2. JGA Bd.2: S.302.

4. Die Kopernikanische

Wende und das Problem des Anfangs

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Beziehung auf unsere Empfindungen"1 bzw. Vorstellungen. Der Begriff der Einheit der Erfahrung könnte höchstens demjenigen "der Vorstellung von Gegenständen=X"2, aber nicht einmal demjenigen der Ursache der Vorstellung entsprechen. Nachdem Jacobi zu dem Schluß gekommen ist, daß "die Vorstellung von Gegenständen=X" nur "Aeußerung eines blinden vorwärts und rückwärts verknüpfenden Vermögen, das wir Einbildungskraft nennen,"3 ist, schließt er daraus, daß die Kantische Philosophie daher nicht umhin kann, zwischen der Alternative eines absoluten Idealismus oder eines auf einer bloßen Voraussetzung begründeten Realismus hin und her zu pendeln. Entweder ist die Ursache der Vorstellungen ausschließlich in uns, so daß die Vorstellungen aus dem Nichts entstehen oder, wenn nichts aus dem Nichts entstehen kann, muß es eine Ursache geben, wobei "doch in der tiefsten Dunkelheit verborgen bleibt, wo [sie], und von was Art ihre Beziehung auf die Wirkung sey"4. Die Ursache der Erscheinungen bzw. Vorstellungen überhaupt findet Jacobi in dem transzendentalen Gegenstand, wobei sein Begriff "höchstens [als] ein problematischer"5 erscheinen muß. Denn sind nach ihm die Vorstellungen Objekte möglicher Erfahrungen, so muß ihre Ursache so charakterisiert werden, daß sie ihren Wirkungen gegenüber stets eine "intellegibile"6 sein muß. Statt ein transzendentaler Gegenstand scheint die Ursache der Vorstellungen dazu verurteilt zu sein, als ein transzendentes Objekt=Ding an sich zu gelten, ohne dessen "Voraussetzung" nach Jacobi "die Kantische Philosophie zu sich selbst [keinen] Eingang finden"7 kann. Aus der nun von Jacobi angenommenen intelligiblen Ursache der Vorstellungen überhaupt lassen sich unmittelbar zwei einander entgegengesetzte Schlüsse ziehen, die aber auf demselben Mißverständnis beruhen. Einerseits könnte man vermuten, daß der transzendentale Gegenstand so auf uns wirkt, daß uns nicht die Dinge, sondern ihre Eigenschaften gegeben werden. Daraus folgt als ontologisches Ergebnis eine Charakterisierung der Dinge aus einer aristotelischen Sichtweise, von der ausgehend das Wesen der Dinge in einer uns transzendenten Empirie besteht. Andererseits könnte man annehmen, daß uns die Dinge selbst in einer Art Abbildung gegeben werden, so daß das Wesen der Dinge aus der platonischen Perspektive eines uns transzendenten Bereiches der Idee, zu dem die Dinge jeweils im Verhältnis stehen, auszulegen wäre. Gemeinsam haben beide Betrachtungsweisen, daß sie den Ausgangspunkt des bestimmenden Vollzugs in den Dingen ansetzen. Wenn der Piatonismus ausdrück1 2 3 4 5 6 7

JGA Bd.2: JGA Bd.2: JGA Bd.2: JGA Bd.2: JGA Bd.2: JGA Bd.2: Ebd.

S.306. S.303. S.306. S.305. S.302. S.303.

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

lieh eine idealistische Lösung für das Problem der Wirklichkeit in Kauf nimmt, tut der Aristotelismus unausdrücklich dasselbe. Denn zu sagen, daß die Empirie uns transzendent ist, bedeutet so viel, wie zu sagen, daß wir nie mit Dingen zu tun haben. Den Grund dieses Fehlers sieht Kant gerade in der Selbstverständlichkeit bezüglich der Gegebenheit der Dinge, aus der heraus man in den Schein gerät, zu denken, daß die Dinge, oder, wenn nicht sie, so doch ihre Eigenschaften, in unsere "Vorstellungskraft hinüberwandern"1 können. Daß für Kant die Bestimmung auf die Dinge hin gehen muß, bedeutet zunächst einmal, daß weder Dinge, noch Teile derselben, noch ihre Eigenschaften rezipiert werden können. Vielmehr bedeutet dies, daß die unleugbare Tatsache der Gegebenheit der Dinge keineswegs als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten ist: Denn hätten wir die Fähigkeit nicht, Vorstellungen zu bekommen, wie anders könnten uns Gegenstände gegeben werden? Damit der Inhalt jeder Bestimmung durch Erfahrung überhaupt geliefert werden kann, muß also nach Kant die Anschauung unbedingt α priori stattfinden2. Bedenkt man weiter, daß die Sinnlichkeit nach Kant diejenige Fähigkeit bzw. dasjenige Vermögen ist, wodurch uns allein "Gegenstände g e g e b e n werden"3 und daß der Verstand dasjenige Vermögen ist, durch die Vorstellungen "einen Gegenstand zu erkennen"4, ist offensichtlich, daß wir im Ausgang von der Sinnlichkeit allein nie und nimmer auf das Objekt, das in uns eine Vorstellung verursacht hat, zurückgehen können, und zwar deshalb nicht, weil es nicht als Ursache unserer Vorstellungen, sondern umgekehrt als zu erreichender Zweck zu betrachten ist. Gerade dadurch, daß die Vorstellungen das sind, wodurch uns allein Gegenstände gegeben werden können, und die Dinge das sind, was es durch die Vorstellungen zu erkennen gilt, kann nach Kant die Betrachtung der Empirie die Tatsache nicht übergehen, daß jede Erfahrung - sei sie eine wissenschaftliche oder eine alltägliche - schon immer Subjektabhängigkeit in Form von Sinnlichkeit und Verstand voraussetzt. Das Faktum der Erfahrung ist somit eine einheitliche Verbindung von Empirischem und Nicht-Empirischem. Zwar sind physikalische Dinge ' Ak. Bd.4: S.282. Bezüglich der Apriorität der Anschauung muß folgendes angemerkt werden: Kant kommt in seinem System niemals zu einer vollständigen Thematisierung des Verhältnisses von Verstand und Sinnlichkeit als des eigentlichen „intellegiblen" Grundes der Vorstellungen, welcher daher einzig als eine Art Selbstaffektion bzw. Selbstverwirklichung verständlich gemacht werden kann. Die daraus folgende Notwendigkeit einer weiteren Entfaltung des Kantischen Ansatzes der Ursache der Vorstellungen als eines komplexen Falls von einem wechselwirkenden Verhältnis eines Inneren und eines Äußeren wird im Kapitel II, §§ 5-7 analysiert. Dort wird auch kurz skizziert werden, wie die Kantische Gebundenheit an die Newtonschen Theorie eines strengen Determinismus in der Natur viel dazu beigetragen hat, den Ursprung der Vorstellungen als einen autonomen in der Natur zu verbergen. 3 A19 B33 Vgl. auch A50 B74. 4 A50 B74. 2

5. Die Gegebenheil der Dinge in der Kantischen

Wende

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nicht Vorstellungen, wie auch umgekehrt Vorstellungen nicht physikalische Dinge, so ist es doch allein das Subjekt, das diejenige "Form" erzeugt, unter der die Empirie überhaupt erfahren werden kann. Und diese "Form" kann das Subjekt ausgehend von nichts anderem als von den Vorstellungen, die ihm unmittelbar gegeben werden, entwerfen. Gerade diese einheitliche Verbindung von Empirischem und NichtEmpirischem macht also den Kern der Kantischen Philosophie aus, die keinesfalls als ein dualistischer Ansatz1 in dem Sinne zu betrachten ist, als wären Vorstellungen einerseits und Dinge andererseits zwei entgegengesetzte Pole jeweils verschiedener möglichen Erfahrungen. Reine Objektivität im Sinne eines möglichen Umgangs mit den Dingen ohne Bezug auf uns als Subjekte, wie auch umgekehrt reine Subjektivität im Sinne eines möglichen Umgangs mit uns selbst als Subjekte ohne Bezug auf die Dinge als die zunächst erfahrbare Welt, können keinen sicheren Boden für irgendeine philosophische Reflexion bilden, und zwar deshalb nicht, weil das Faktum der Erfahrung immer schon auf eine in sich differente Einheit von Empirischem und Nicht-Empirischem hinweist, d.h. auf uns als Subjekte, die zunächst mit Dingen zu tun haben, bzw. auf Dinge, die zunächst einmal Dinge für uns sind. Die Problematik des Anfanges des bestimmenden Vollzugs weist also aus dem bislang Ausgeführten auf die Klärung der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Subjekt zur Außenwelt gelangen kann. Diese Aufgabe der Transzendentalphilosophie ist eine erkenntnistheoretische, wenn nach Kant gilt, daß das Subjekt ausschließlich aufgrund der Bestimmung zum Wirklichen gelangt. Demnach muß mit der Voranalyse der genannten Bedingungen und den damit verbundenen ontologischen Ergebnissen fortgefahren werden.

5. Die Gegebenheit der Dinge in der Kantischen Wende Die sich aus der Kantischen Umkehrung ergebenden ontologischen Folgen lassen sich gewinnen, wenn zunächst geklärt wird, wie die Bestimmung der Dinge a priori überhaupt möglich ist, wenn der Ausgangspunkt derselben, wie gezeigt wurde, die Vorstellungen in uns sind. Daß die Dinge primär Dinge für uns sind, geschieht nach Kant aber nicht nur kraft der Sinnlichkeit, sondern auch immer kraft des Verstandes. Durch die Sinnlichkeit sind uns die Dinge nämlich vermittelt gegeben, und zwar dadurch, daß wir Empfindungen bzw. Vorstellungen bekommen. Durch den Verstand hingegen werden Gegenstände erkannt. Sind also Sinnlichkeit und Verstand die zwei Bestandstücke jeder Erkenntnis, ist vorerst zu klären, was es heißt, eine Empfindung bzw. eine Vorstellung zu ha1

Vgl.JGA Bd.2: S.293.

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

ben, und im Anschluß daran, was es heißt, einen Gegenstand zu erkennen. Vorstellungen bzw. Empfindungen zu bekommen, heißt nicht Gegenstände zu erkennen, denn dabei ist das Subjekt vermittels der Gegebenheit der Dinge zwar außer sich, aber nicht außer anderem1. Daß wir Vorstellungen bekommen, bedeutet demnach, daß wir sie als etwas absolut Privates nur haben. Α posteriori kann festgestellt werden, daß das Subjekt beispielsweise Rundempfindungen bekommt bzw. Rundvorstellungen, Tropfenempfindungen bzw. Tropfenvorstellungen dadurch, daß ein physisches rundes Ding oder physische Tropfen auf seine Sinnesorgane derart einwirken, daß solche physische Einwirkung als Auswirkung in ihm jeweils eine Rundempfindung bzw. Rundvorstellung oder eine Tropfenempfindimg bzw. Tropfenvorstellung hervorruft. Das Hervorgerufene gehört daher jeweils unmittelbar der Innenwelt bzw. dem privaten Bereich der Subjekte an. Das Subjekt hat bzw. ich habe eine Rundempfindung, eine Tropfenempfindung usw. als etwas absolut bzw. unmittelbar Privates meiner Innenwelt. Ihrem Status nach sind die jeweiligen Vorstellungen bzw. Empfindungen allerdings nicht so zu charakterisieren, als wären sie Quasi-Objekte, über die man etwa aussagen könnte, daß eine Rundempfindung bzw. Rundvorstellung sich beispielsweise von einer Tropfenempfindung bzw. Tropfenvorstellung dadurch unterscheidet, daß die eine rund und die andere tropfenförmig ist. Denn rund bzw. tropfenformig sind stets Dinge. ' Eine Rundempfindung bzw. Rundvorstellung ist keine runde Empfindung bzw. Vorstellung, so wie eine Tropfenempfindung bzw. Tropfenvorstellung keine tropfenförmige Empfindung bzw. Vorstellung ist. Vorstellungen bzw. Empfindungen machen vielmehr den Stoff aus, den uns die Sinnlichkeit bloß aktualisiert, indem sie von anderem veranlaßt wird. Die Vorstellungen als Stoff bzw. Inhalt aller möglichen Anschauungen definiert Kant als das Reale2, das man "gar nicht α priori erdenken kann"3, denn es ist als Vorstellung unserer Innenwelt zwar unmittelbar, jedoch von Physischem bzw. Dingen gegeben. Wichtig ist dabei also festzuhalten, daß die Gegebenheit der Dinge stets eine vermittelte ist, so daß jede Empfindung bzw. Vorstellung - sei sie eine Gehör-, Geruchs-, Geschmacks-, Tast- oder Gesichtsvorstellung - stets von anderem, d.h. Physischem bzw. Dingen, verursacht wird, aber qua Empfindung bzw. Vorstellung etwas schlechthin Subjektives bzw. zu der Innenwelt Gehörendes ist4. Empfindungen bzw. Vorstellungen treffen ausschließlich auf das Subjekt und 1 Zu einer ausführlichen Darstellung vgl. Prauss, Gerold Einführung in die Erkenntnistheorie. Darmstadt 1993. S.56-74. 2 Vgl. A143 B182, A166 B207, A167 B209, A581 B609, A375, A376 Ak. Bd.5: S.203. 3 A375. 4 Vgl. A29 B45 und Ak. Bd.5: S.203-4 Dazu muß angemerkt werden, daß die Gesichtsvorstellungen in bezug zur Außenwelt unmittelbar informativ sind, während alle andere zwar informativ, jedoch nicht unmittelbar sind. Ihrem Status nach sind all die Vorstellungen als zur Innenwelt gehörende zu be-

5. Die Gegebenheit der Dinge in der Kantischen Wende

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keineswegs auf die Dinge zu: "[E]twa Farben [als Farbempfindungen], Geschmack usw. werden nämlich mit Recht nicht als Beschaffenheiten der Dinge, sondern bloß als Veränderungen unseres Subjekts [...] betrachtet"1. Gerade weil wir Vorstellungen bzw. Empfindungen als Modifikationen unserer Innenwelt bloß haben, erkennen wir sie nicht. Als ständiger Wechsel unseres privaten Bereiches können sie nicht unmittelbar erkannt bzw. unmittelbar gegenständlich werden. Unmittelbar gegenständlich bzw. von uns unmittelbar erkannt sind vielmehr die Dinge. Obwohl die Dinge für Kant das sind, was von uns unmittelbar erkannt wird, kann ihre Erkenntnis nur im Ausgang von den Vorstellungen geschehen. Die Dinge sind uns, wie gesagt, vermittelt gegeben, so daß die Vorstellungen in der Sinnlichkeit den einzigen möglichen Anfang des bestimmenden Vollzugs ausmachen. Nimmt die Erkenntnis ihren Ausgang von der Vorstellung, so kann sie weder bei ihr stehenbleiben2, noch auf das Ding, das die Vorstellung selbst verursacht hat, zurückgehend schließen, denn die Vorstellung, die wir bloß haben, gilt gar nicht als Beschaffenheit des Dinges, sondern als Modifikation unserer Sinnlichkeit. Erkenntnis erzeugt der Verstand dadurch, daß er durch einen Schritt über die Vorstellungen hinausgeht, um zum Gegenstand zu gelangen und nicht dadurch, daß er von den Vorstellungen her auf ihre Ursache zurückgeht. Das Hinausgehen des Verstandes charakterisiert Kant als die "Spontaneität der Begriffe" 3 , womit das Subjekt "durch [die] Vorstellungen" als etwas zu ihm prinzipiell Gehörendes die Fähigkeit hat, etwas von ihm grundsätzlich anderes bzw. "einen Gegenstand zu erkennen"*. Als Spontaneität der Begriffe gelangt also der Verstand mit Hilfe der Vorstellungen zum Objekt bzw. Etwas, das seinerseits von den Vorstellungen als dem bloß Subjektiven grundverschieden ist. Die Spontaneität des Verstandes ist deswegen nicht eine aus der Sinnlichkeit ableitbare. Der Verstand ermöglicht nämlich die Erkenntnis eines Objekts zwar aufgrund der Vorstellungen, aber immer von selbst bzw. von sich aus in dem Sinne, daß ihm allein die Fähigkeit zuzuschreiben ist, diejenige Bezugnahme zu erzeugen, wodurch uns Etwas gegenständlich und somit überhaupt erkennbar wird. Die Sinnlichkeit gilt nur als diejenige Bedingung, "worunter allein die Gegenstände der menschlichen Erkenntnis gegeben werden"5, während der Verstand die-

zeichnen. So wie die Vorstellungen gehören auch Gefühle zur Innenwelt, wobei sie auf das »Sichselbstfühlen« des Subjekts verweisen. Sie sind erkenntnistheoretisch für die Wirklichkeit der Außenwelt nicht informativ. Vgl. dazu Ak. Bd.5: S.203-4. ' A29 B45 Kursiv von mir. 2 Β XVII. 3 A50 B74. "Ebd. 5 B30.

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

jenige ausmacht, "unter welchefr] [die] selbige[n] [Gegenstände] gedacht werden"1. Sinnlichkeit und Verstand können daher "ihre Funktionen nicht vertauschen"2.

6. Die Spontaneität des Verstandes in der Kantischen Wende Daß Verstand und Sinnlichkeit je für sich verschiedene Vermögen sind, impliziert allerdings, daß sie zusammenwirken müssen, damit das Subjekt überhaupt zur Erkenntnis eines Objekts gelangen kann. Denn die Bestimmung nimmt ihren Ausgang stets von den Sinnesdaten, und trotzdem vollzieht sie sich nur kraft der Spontaneität des Verstandes, wodurch die ursprüngliche Bezugnahme auf Etwas bzw. einen Gegenstand zustande gebracht wird. Anhand zweier Stellen in der Kritik der reinen Vernunft läßt sich der innere Zusammenhang von Sinnlichkeit und Verstand trotz ihrer stets sorgfältig zu beachtenden verschiedenen Funktionen besonders klar verdeutlichen. An einer Stelle schreibt Kant: "Daß [die] Affektion der Sinnlichkeit in mir ist, macht gar keine Beziehung von dergleichen Vorstellung auf irgend ein Objekt aus"3. Daß dabei gar keine Beziehung vorliegt, liegt daran, daß die Kausaleinwirkung eines Dings auf uns keineswegs einen möglichen Anfang für den bestimmenden Vollzug ausmacht. Vielmehr ist die Auswirkung im Subjekt als Modifikation bzw. Affektion der Sinnlichkeit das, was als einzig mögliche Vorbedingung für die Erzeugung jedes Gegenstandsbezuges gilt. Damit die Bezugnahme auf ein Ding sich überhaupt vollziehen kann, bedarf es, so führt Kant an einer anderen Stelle aus, in der Tat mehr als "des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen]" 4 , denn in der Affektion ist ausschließlich etwas Reales bzw. ein Sachgehalt gegeben. Hierbei lenkt Kant also die Aufmerksamkeit darauf, daß der " A n s c h a u u n g " , "wodurch [eine Erkenntnis] sich auf die [Gegenstände] unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt"5, die er in der Transzendentalen Ästhetik als bloße Affektion definiert, eine Spontaneität zugrundeliegt. Diese Spontaneität bezeichnet nun Kant als "die Einheit" des Verstandes, die "vor allem Begriffe vorhergeht, [...] [und] nicht den Sinnen angehört"6. Mittels des Verstandes findet also die "Zusammenfassung des Mannigfaltigen" statt, " so daß die Form der Anschauung bloß Man-

1 2 3 4 5 6

Ebd. A51 B75. A253 B309. Anm. Β160 Kursiv von mir. A19B35. Anm. Β160.

6. Die Spontaneität

des Verstandes in der Kantischen

Wende

31

nigfaltiges, die f o r m a l e A n s c h a u u n g Einheit der Vorstellung gibt"1. Die Affektion wird demnach zu einer " a n s c h a u l i c h e n Vorstellung"2 bzw. zu einem aufgrund formaler Anschauung geleisteten Etwas nur, insofern sie zum Sachgehalt einer Form wird bzw. in Gegenständliches umgesetzt wird. Aus dem bisher Gesagten ergeben sich zwei wichtige Folgerungen: Terminologisch verwendet Kant das Wort "Anschauung" nicht, um zu sagen, "daß [die] Affektion der Sinnlichkeit in mir ist"3, sondern um auf der Art und Weise zu bestehen, "wie das Gemüt durch eigene Tätigkeit, [...], mithin durch sich selbst affiziert wird"4. Denn nur dadurch, wie die Affektion in mir auftritt, wird die Bezugnahme auf Etwas ermöglicht5. Somit wird auch verständlich, weswegen nach Kant die Sinnlichkeit (aufgrund von Verstand) tätig wird, indem sie von anderem affiziert wird. Tätig ist sie deshalb, weil sie aufgrund des Verstandes ermöglicht, zu etwas Fremdem bzw. zum Gegenstand zu gelangen6. Des weiteren ist festzuhalten, daß zur Ermöglichung der Anschauung der Verstand von vornherein nicht nur mit im Spiel ist, sondern auch, daß seine Tätigkeit "vor allem Begriffe vorhergeht"1. Konsequenterweise gilt nach Kant zum einen, daß jede Bestimmung stets α priori stattfindet, so daß die Gegenständlichkeit erkenntnistheoretisch Vorbedingung fur die Erkenntnis der Außenwelt ist. Im Traum wie im Wachzustand hat man es nicht nur einfach mit etwas Gegenständlichem, sondern vielmehr mit einem bestimmten Gegenständlichen zu tun.8 Daraus, daß die Tätigkeit des Verstandes "vor allem Begriffe vorhergeht", folgt aber zum anderen auch, daß die Spontaneität des Verstandes nicht nur darin besteht, diesen oder jenen Begriff zu verwenden, sondern auch den Begriff selbst zu bilden. Obwohl Kant die Erzeugung der Begriffe dem Subjekt zuschreibt, bleibt er es dennoch schuldig, die Bildung des Begriffes als Vorbedingung jeder Bezugnahme auf Gegenstände von dessen Verwendung als Ermöglichung des Bezugs auf Etwas hinreichend zu differenzieren9. Die Schwierigkeit solcher Differenzierung liegt darin, daß Bildung und Verwendung der Begriffe, wie Kant tatsächlich bemerkt, zugleich geschehen. Wenn auch erst durch die Verwendung der Begriffe Etwas für das Subjekt überhaupt erkennbar wird, so ist es aber allein durch die Bildung der Begriffe, die aufgrund der Sinnesdaten geschieht, bereits gegenständlich, so daß die Bezugnahme auf Etwas ermöglicht wird. 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Ebd. Ebd. A253 B309 Kursiv von mir. B67 B68. Vgl. Prauss, Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S . U 4 ff. Vgl. dazu §4. Anm. Β160 Kursiv von mir. Vgl. Prauss, Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S.100. Vgl. Prauss, Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S.110-1.

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

Je entschiedener Kant hervorhebt, daß "die Begriffe" "die Erfahrung" möglich machen, und nicht umgekehrt "die Erfahrung" "die Begriffe" möglich macht1, um so mangelhafter erscheint seine Deduktion, da er den Ursprung der Begriffe kaum als eine von der Verwendung der Kategorien ableitbare Folge berücksichtigt. Obwohl es ihm also klar ist, daß "die Kategorien von seiten des Verstandes die Gründe der Möglichkeit aller Erfahrungen überhaupt enthalten", berücksichtigt er dennoch nicht, daß die Deduktion der Kategorien nicht so sehr der "Anwendung [derselben] auf Erscheinungen"2, sondern zunächst einmal der Erläuterung der Begriffsbildung bedarf. Denn in der Tat ermöglicht die Erzeugung der Begriffe ihre Verwendung, und nicht etwa umgekehrt die Verwendung ihre Bildung. Wenn es z.B. darum geht, einem Kind zu erklären, was ein Regenbogen ist, kann man sehr wohl von einem Bild ausgehen und ihm sagen, daß das, was im Bild veranschaulicht ist, ein Regenbogen ist. Die Verwendung des Begriffes "Regenbogen" wäre aber fur die Erklärung umsonst, wenn das Kind nicht die Möglichkeit hätte, selber den Begriff "Regenbogen" zu erzeugen. Denn nur dadurch, daß es sich aufgrund der in dem Fall von dem Bild gegebenen Sinnesdaten den Begriff "Regenbogen" bilden kann, kann es verstehen, was ein Regenbogen ist, und zwar so, daß es den von ihm zunächst gebildeten Begriff "Regenbogen" auch noch verwendet und die Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand bezieht und somit urteilt: "Dies ist ein Regenbogen". Ungeachtet dieser Umstände setzt Kant die Strukturen der Synthesis der Verstandesbegriffe bzw. der Kategorien in Gestalt der Urteilstafel3 voraus und vergibt somit die Möglichkeit einer einsichtigen Deduktion derselben, die ausschließlich von der Begriffserzeugung ausgehen kann4. Selbstverständlich gilt nach Kant, daß "ein Erfahrungsbegriff' nichts anderes als "ein Verstandesbegriff in concreto"5 ist, so daß die reinen Begriffe bzw. die Kategorien als Form den empirischen Begriffen zugrunde liegen. Wenn man sich aber fragt, welche der Kategorien einem empirischen Begriff zugrunde liegt, findet man sowohl in der Schematismuslehre als auch in der Erörterung der Grundsätze keine Antwort darauf, und zwar deshalb nicht, weil Kant die Kategorie in der Urteilstafel bloß voraussetzt, statt sie im Ausgang von der Begriffsbildung zu deduzieren. Wäre Kant hingegen von der Begriffserzeugung ausgegangen, hätte er antworten können, daß man stets einer Kategorie bedarf, um über den gebildeten Begriff hinaus auch noch zu der Verwendung desselben und dadurch zum Objektiven zu gelangen. 1 2 3 4 5

B166-B167. Ebd. Vgl. A70 B95. Vgl. Prauss, Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S. 110 ff. A567 B595.

6. Die Spontaneität des Verstandes in der Kantischen Wende

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In der Tat wird im Fall unseres Beispiels des Regenbogens der gebildete Begriff "Regenbogen" auch noch verwendet aufgrund der Kategorie des Verhältnisses Substanz-Akzidens, so wie im Fall eines Ereignisses aufgrund der Kategorie der Ursache-Wirkung, so daß diese beiden Kategorien je für sich die Ermöglichung der empirischen Erkenntnis darstellen. Davon ausgehend hätte Kant dann auch die anderen Kategorien deduzieren können. Denn der empirischen Erkenntnis liegen eben als Erkenntnis in concreto immer reine Kategorien in Gestalt von "Urteilen α priori" zugrunde1. Aus der bisherigen Erläuterung des Kantischen Ansatzes ergibt sich noch eine weitere entscheidende Kritik bezüglich des Ursprunges der Begriffe bei Kant. Denn Kant stützt sich offenbar auf die Abstraktionstheorie für die Lösung des Problems des Ursprungs der Begriffe2, die aber seiner Lehre von der Spontaneität des Verstandes grundsätzlich widerspricht3. Er berücksichtigt die Allgemeinheit der Begriffe als entscheidend für ihre Charakterisierung4. Daß ein Wort wie "Regenbogen" für viele Gegenstände, die "Rundform" oder "Tropfenform" als Eigenschaften haben, gilt, läßt sich zwar aus Erfahrung bzw. aus den Urteilen "Dies ist rund und dies ist tropfenförmig" ablesen. Daraus folgt aber keineswegs, daß die Begriffe selber durch Abstraktion gewonnen werden. Denn das hieße, daß sie genau aus jener Erfahrung entstehen müßten, die nach Kant nur aufgrund der Begriffe samt ihrer Verwendung überhaupt möglich wird. Umgekehrt setzt Abstraktion schon immer Synthesis bzw. Bildung und Verwendung der Begriffe voraus. Es ist also reine Konvention, daß wir ein und dasselbe Wort "Regenbogen" benutzen, um jeweils verschiedene Regenbögen zu benennen. Nach dem Gesagten muß man also festhalten, daß die Erzeugung der Begriffe als Vorbedingung aller möglichen Erfahrung gilt, so daß der Verstand stets von sich aus als eine Grundquelle der Erkenntnis diejenige Fähigkeit ist, durch einen "Aktus der Spontaneität"5 Begriffe zu erzeugen, und dadurch ihre Verwendung zu ermöglichen. Erst wenn der gebildete Begriff verwendet wird, setzt sich die "Selbsttätigkeit"6 des Verstandes in die Tat um. Berücksichtigt man zudem, daß nicht nur die Verwendung des Begriffes ausschließlich aufgrund der Anschauung geschieht, sondern auch die Bildung des Begriffs gleichursprünglich mit der Bildung der Anschauung geschieht, und somit Begriffsinhalt wie Anschauungsinhalt wechselseitig aufeinander bezogen zugleich entstehen (aus dem noch unbestimmt gegebenen Inhalt), so ergibt sich folgendes:

1 2 3 4 5 6

Vgl. Prauss, Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S.l 12 ff. A68 B93 A69 B94. Vgl. B12. Vgl. Ak. Bd.9: S.91-100. B130. Ebd.

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

Die Merkmale des Begriffes entsprechen den Eigenschaften des Dinges, eben weil der Begriff seinen Inhalt schon vor der Wirklichkeit des Dings besitzt, wie jeder Traum bezeugt. So wie für die Regenbogenvorstellung gilt auch fur den Begriff "Regenbogen", daß er gar kein regenbogenhafter Begriff ist. Erst durch die Anwendimg des Begriffes "Regenbogen" auf eine Anschauung entsteht die Erfahrung eines Regenbogens bzw. läßt sich sagen, daß das "hier und jetzt" ein Regenbogen ist. An einer Stelle versucht Kant in Form einer Definition den ganzen Zusammenhang von Anschauung, Begriff und Urteil in seiner Komplexität zu entfalten. Er schreibt: "Das Urteil ist also die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes, mithin einer Vorstellung einer Vorstellung desselben. In jedem Urteil ist ein Begriff, der für viele gilt, und unter diesen Vielen [nach Erdmann] auch eine gegebene Vorstellung begreift, welche letztere denn auf den Gegenstand unmittelbar bezogen wird"1. Diese Definition scheint insbesondere deshalb von Bedeutung zu sein, weil sich von ihr ausgehend sowohl das Neue als auch die Grenze der Kantische Lehre bezüglich des Zusammenhangs von Anschauung und Begriff zeigt. Auf den ersten Blick scheint es, daß Kant in einen schlichten Widerspruch gerät, wenn er das Urteil als eine "mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes", die sich dennoch unmittelbar "auf den Gegenstand" bezieht, definiert. Dieser Widerspruch spitzt sich bis zur letzten Konsequenz zu, sobald man darauf aufmerksam wird, daß Kant schreibt, ein Begriff begreife eine gegebene Vorstellung und trotzdem sei das, was unmittelbar bestimmt wird, stets der Gegenstand und auf keinen Fall die Vorstellung. Was aber als ein Paradox erscheinen kann, liefert uns zugleich die Mittel, um den eigentlichen Sinn dieser Definition Kants zu klären. Ist für Kant immer der Gegenstand das, was bestimmt wird, muß gelten, daß das Urteil stets eine unmittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes ist. Trotzdem vollzieht sich die Erkenntnis stets vermittels des Begriffes bzw. durch den Begriff vermittelt in bezug auf eine gegebene Vorstellung, so daß Kant damit meint: In jedem Urteil wird ein Begriff in bezug auf eine Vorstellung in der Anschauung verwendet und somit wird Etwas unmittelbar als Gegenstand erkannt, so daß das, was sich in Folge eines Urteils ergibt, immer eine Erkenntnis eines Gegenstandes und keineswegs einer Vorstellung ist. Die Vorstellung in der Anschauung ist nämlich ausschließlich vorgebildet, aber nicht vorbestimmt, denn bestimmt werden immer nur die Gegenstände durch den Begriff in bezug auf eine Vorstellung bzw. durch den Begriff vermittelt aufgrund einer Vorstellung. Kant verteidigt an dieser Stelle jedoch zu Unrecht in seinem System die Abstraktionstheorie im Hinblick auf den Ursprung des Begriffes. Der Begriff gilt nicht ' A68 B93.

6. Die Spontaneität des Verstandes in der Kantischen Wende

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"für viele Vorstellungen", und zwar deshalb nicht, weil er stets aufgrund einer "gegebenen Vorstellung" erst erzeugt und dann noch verwendet werden kann. Er begreift gar keine Vorstellung, wenn "begreifen", wie Kant meint, "bestimmen" bedeutet. Erfahrung der Dinge entsteht also nach Kant nur dadurch, daß zuerst gebildete Begriffe auch noch verwendet werden, wodurch ein Urteil gebildet wird. Aus dem Gesagten ergibt sich also, daß die primäre Erfahrung der Dinge bzw. "der Natur" in Form allereinfachster "Wahrnehmung"1 nach Kant stets in Gestalt eines Urteils bzw. einer von dem Subjekt geleisteten Erkenntnis auftritt. Als innere Einheit von Anschauung und Begriff charakterisiert Kant das Urteil als einen "Aktus der Aufmerksamkeit"2, wodurch die Natur bzw. die Dinge "Objekt fur uns"3 werden: Wahrnehmen bedeutet urteilen. Werden die Dinge Objekte fur uns dadurch, daß die Affektion in mir als etwas Reales bzw. Sachhaltiges zum Inhalt einer Form wird, so folgt, daß das Referenzobjekt nach der bisher rekonstruierten primären Absicht Kants nichts Anderes als das transzendentale Objekt sein kann, das durch das Subjekt kraft einer ursprünglichen "Handlung"4 bzw. durch eine "Bewegung"5, die von sich weg auf etwas vom Subjekt Grundverschiedenes hingeht, gewonnen wird. Dabei muß auch darauf hingewiesen werden, daß Kant eigentlich in der Kategorie des Verhältnisses Substanz-Akzidens die Bedingung für die Gewinnung der Objektivität erkennt, so daß das Referenzobjekt, wenn auch schon immer vorhanden, nicht ein schon objektiv Wirkliches wie bei Aristoteles ist. Objektivität ist daher nach Kant nicht der Ausgangspunkt jeder Prädikation, sondern das zu erreichende Ziel derselben. Die Kantische Wende läßt sich somit als derjenige philosophische Versuch kennzeichnen, durch nichts anderes als das Subjekt selbst die Objektivität zu retten, denn Objektivität als Zweck setzt schon immer Subjektivität in Form von Anschauung und Begriff voraus. Daraus, daß Bildung und Verwendung der Begriffe nach Kant der Spontaneität des Verstandes zuzuschreiben sind, ergibt sich als ontologisches Ergebnis in Abhebung von Piatonismus und Aristotelismus, daß Sinn bzw. Bedeutung als Urteilen, wodurch ein bloßer Inhalt zu etwas für uns wird, gar nicht als etwas uns Transzendentes in einer Welt der Ideen oder als etwas in der Empirie selbst Verborgenes gilt. Sinn bzw. Bedeutung haben zunächst einmal ihren Ursprung im Subjekt. Sie sind es, wodurch etwas überhaupt zugänglich wird, so daß die "Ursache" unseres Verständnisses der Dinge gar nicht "außer" uns - in den Dingen 1 Β165. 2 Anm. Β157. 3

B138. "Ebd. s Anm. B155.

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

verborgenen oder in der Welt der Ideen - liegt, sondern eigentlich "in" uns: nämlich als das Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand, das uns ermöglicht, zu so etwas wie den Dingen zu gelangen bzw. etwas als Dinge für uns gelten zu lassen1. Die systematische Begründung der Wirklichkeit der Außenwelt, auf die Kant zielt, indem er als Ausgangspunkt der Empirie die Subjektivität erkennt, eröffnet allerdings schon auf den ersten Blick ein dringliches Problem: Wenn Objekte zunächst als Objekte für uns zu betrachten sind, was kann dann dafür bürgen, daß nicht alles zu einem bloßen Traum wird? Was entscheidet, ob etwa der Regenbogen tatsächlich ein wirklicher und nicht ein bloß geträumter ist, wenn ersterer wie letzterer sachhaltig, d.h. von der Bestimmung her gesehen, identisch sind? Es ist also klar, daß Kants transzendentaler Ansatz Idealismus und Realismus in sich vereinigt und aufgrund der sogenannten Kopernikanischen Wende das Problem der Wirklichkeit ins Zentrum setzt. Er ist vertretbar, wenn die Gefahr eines absoluten Relativismus in all seinem Zweifel vermieden wird. In der transzendentalen Logik führt daher die Wahrheitsfrage zu derjenigen der Wirklichkeit, wobei festzuhalten bleibt, daß die Lehrart der transzendentalen Logik der Wahrheit immer "progressiv"2 auf den Zweck hin verfahren muß und keineswegs von dem, was gesucht wird, d.h. der Wirklichkeit, als ob diese gegeben sei, ausgehen kann, wie es hingegen bei Aristoteles der Fall ist. Die Herausforderung, die in einem solchen Ansatz liegt, wird sich im Ausgang von der Analyse des Urteils noch deutlicher abzeichnen.

7. Die Konsequenzen der Kantischen Wende für die Prädikationstheorie Auch wenn Kant sich darüber im Klaren war, welche ontologischen Folgen seine transzendentale Umkehrung hinsichtlich der Betrachtung der Empirie nach sich zieht, hat er doch die entscheidenden Konsequenzen für eine Prädikationstheorie nicht im Ganzen gesehen3. Demnach geht es um den Versuch, eine in ihren Grundzügen rekonstruierte Aristotelische Prädikationstheorie der Kantischen gegenüberzustellen. Es ist aber vorauszuschicken, daß sich aus der durchgeführten Gegenüberstellung die Notwendigkeit ergeben wird, die Kantische Prädikationstheorie neu zu erarbeiten, um die ursprüngliche Kantische Absicht bezüglich der Bestimmung α priori der Dinge als unentbehrliche Vorbedingung für die Erkennbarkeit der Außenwelt gegen jede irreführende Aristotelische bzw. Platonische Interpretation seines Ansatzes abzusi1

Vgl. Prauss, Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S.l 15 ff. Ak. Bd.4: S.276. 3 Hier wird auf die von Prauss erarbeitete Theorie des elementaren Urteils Bezug genommen. Vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, §§ 3-5. 2

7. Die Konsequenzen

der Kantischen

Wende für die

Prädikationstheorie

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ehern. Aus einer systematischen Untersuchung einer Aristotelischen Prädikationstheorie ergibt sich, daß die ursprüngliche Prädikation in Form von "S ist P" auftritt, dergemäß unter S ein schon immer wirklicher Gegenstand und unter Ρ eine zu prädizierende Eigenschaft zu verstehen ist. Diese Formulierung widerspricht aber der richtigen Grundbestimmung Aristoteles', nach der eine Eigenschaft weder etwas Abgetrenntes noch Teil eines Dinges ist. Denn im Grunde genommen müßte man laut Aristoteles sagen, daß nur ein konkretes Einzelding, z.B. das individuelle Runde rund ist, so daß man von dem runden Ding eigentlich sagen müßte: Dies hat das Runde. Ungeachtet dieses Umstands erklärt Aristoteles aber die Möglichkeit eines Urteils eher im Ausgang von einem Zugrundeliegenden, so daß auch ein Urteil wie "Dies ist rund" als unvollständig zu betrachten ist. Urteilen kann nämlich nach Aristoteles nur heißen, einen wirklichen Gegenstand zu bestimmen, und mit "dies" ist offensichtlich auf gar kein immer schon wirkliches Objekt Bezug genommen. Da Prädikation für Aristoteles nur möglich ist, wenn man zunächst auf ein Ding, dem eine Eigenschaft beigelegt wird, Bezug nimmt, so vollzieht sich der Bezug selbst von dem Ding her und nicht auf das Ding hin. Kant stellt aber in Frage, ob Prädikation von wirklichen Gegenständen her überhaupt möglich ist. Denn fragt man sich, welchem Zugrundeliegenden im Fall etwas Rundem oder, wie man heute sagen würde, mit atomaren Molekülen zu tun. Bei jeder wissenschaftlichen Untersuchung wird aber nicht nach ihrer Wirklichkeit gefragt, weil sie schlicht naiv, d.h. unthematisch, unterstellt wird. Sobald man aber nach der Wirklichkeit fragt, kann man nicht umhin, nach dem Subjekt und seinen fur die Objektivität konstitutiven Strukturen zu fragen. Die Unerkennbarkeit des transzendentalen Objekts besteht demzufolge darin, daß es von dem Subjekt selbst entworfen wird und auf keinen Fall darin, daß es wie die Standardauslegung behauptet - als etwas Unbekanntes einer verborgener Entität "in" oder "hinter" den Dingen entspricht. Ist das transzendentale Objekt "irgendwo", dann kommt es stets vor der Wirklichkeit vor: Es ist in uns, im Subjekt, im Bewußtsein. Ist nun für Kant auch die elementare Wahrnehmung ein Fall von Erkenntnis, so muß die Problematik der Frage nach den Dingen stets im Zusammenhang mit derjenigen der Erkenntnis behandelt werden. Hierbei zeigt sich also, wie nach Kant ursprüngliche Prädikation als Bedingung der Möglichkeit fur die Gewinnung der Objektivität der Außenwelt den Ausgangspunkt darstellt, von dem aus man zu den Dingen gelangt. Keineswegs kann sie als Verhinderung ihrer Erkennbarkeit gelten. Denn Objekte und Gegenstände sind zunächst Objekte für uns, d.h., ihre Erkenntnis impliziert ihre Subjektabhängigkeit, so daß sie als physische Objekte bzw. Gegenstände zuerst als Erscheinungen zu betrachten sind. Wohlgemerkt: Als Erscheinung sind sie zu betrachten und nicht sie selber, die physischen Objekte, zu Erscheinungen zu machen.

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

Darüber hinaus ist auch die Frage nach der Unbegreiflichkeit der Gegenstände im Sinne ihrer Unerkennbarkeit, wie sie von der Standardauslegung gestellt wird, unberechtigt. Dies impliziert jedoch nicht die Abschaffung der Frage nach der Unbegreiflichkeit der Dinge bzw. nach dem Problem der Dinge an sich. Vielmehr wird sie zu einer berechtigten Frage, sobald sie auf der transzendentalen Ebene gestellt wird. Und gerade die Unbegreiflichkeit der Dinge und die daran anschließende Problematik der Dinge an sich wird sich als ein konstitutiver Bestandteil für die Erkennbarkeit der Dinge erweisen, wenn dies zunächst auch paradox erscheinen mag. Denn gerade weil Bestimmung Vorbedingung für die Erkennbarkeit der Außenwelt ist, wird es einer weiteren Betrachtung der Empirie bedürfen, um dasjenige Kriterium zu finden, das uns gegen den Zweifel des mit der Subjektabhängigkeit der Erkenntnis drohenden Relativismus absichern kann. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Argumentation Kants bezüglich des Problems des Realismus bzw. einer klaren Unterscheidung der transzendentalen von der empirischen Ebene in einem ganz anderen Licht. Eine Begründung der Objektivität der Außenwelt auf subjektiver Basis ist also vertretbar, wenn zunächst erklärt wird, wie Subjektivität durch sich selbst zur Objektivität gelangt, und vor allem dann, wenn man anhand dieser Theorie des Unterschieds zwischen dem Empirischen und dem Nicht-Empirischen weder in eine psychologistische Verfälschung der Wirklichkeit der Außenwelt verfallt noch in eine subjektivistische Verabsolutierung des menschlichen Fragens nach der Unabhängigkeit der erfahrbaren Dinge. Die Subjektabhängigkeit der Erkenntnis und die damit verbundene Notwendigkeit der Betrachtung der Dinge als Dinge für uns bzw. als Erscheinungen zeigen sich also als die wesentlichen Ergebnisse der bisherigen Untersuchung für die Wiederfindung der ursprünglichen Absicht Kants bezüglich der Frage nach den Dingen. Bis hierher ist jedoch nur angezeigt worden, daß die Objektivität der Dinge in Subjektabhängigkeit besteht. Wie aber das Subjekt durch sich selbst zur Objektivität gelangt, bedarf einer weiteren Entfaltung seiner Strukturen. Zwar wird uns - wie gezeigt wurde - das Material jeder Erkenntnis gegeben, erst durch dessen Umformung kann jedoch Empirie entspringen bzw. können empirische Gegenstände erfahren werden. Weder allein durch die Sinnlichkeit, noch umgekehrt allein durch den Verstand werden diejenigen Bedingungen erfüllt, unter denen etwas als etwas für uns auftritt. Vielmehr muß man den Zusammenhang beider trotz ihrer grundsätzlichen Differenz in Betracht ziehen. Darüber hinaus wird man gerade die Form jeder Erfahrung der Dinge im Ausgang von ihrer Gegebenheit und ihrer Denkbarkeit untersuchen müssen. Diesbezüglich gilt es festzuhalten, daß Subjektivität immer in Form von Anschauung und Verstand auftritt und daß jede Absonderung der einen von dem anderen stets als ein Akt der Reflexion anzusehen ist, so daß Zeit und Raum als Formen der Sinnlichkeit bzw. die Kategorien als Formen des Verstandes zwar zwei notwendig verschiedene Grundelemente der

8. Zusammenfassung

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Erkenntnis der Dinge ausmachen, aber nichtsdestoweniger von Anfang an immer schon beide mit im Spiel sind. Die Untersuchung wird daher im folgenden die Frage zu beantworten suchen, wie ein Subjekt in Form von Anschauung und Begriff ein objektiv wirkliches Ding zum Gegenstand gewinnt.

8. Zusammenfassung Aus der bisherigen Herausarbeitung der primären Absicht Kants in Abhebung von der Hegeischen Auffassung hat sich ergeben, daß die primäre Erfahrung der Dinge bzw. die Wahrnehmung nach Kant stets in Form eines Urteils auftritt. Auf keinen Fall läßt sich bei ihm ein rein sinnlich rezeptives Erleben der Dinge in Form einer unmittelbar-irrationalen Affektion vermittels der Dinge-an-sich annehmen. Gerade dadurch, daß Objekte bzw. physische Gegenstände uns vermittels des Urteils unmittelbar zugänglich werden, hat sich gezeigt, daß die empirischen Objekte zunächst als Erscheinungen betrachtet werden müssen. Dies ist nicht nur deshalb erheblich, weil die bisher durchgeführte Rekonstruktion des Kantischen Ansatzes die unhaltbare metaphysische Voraussetzung einer "außerzeitlichen" Affektion der Dinge-an-sich als interpretatorischen Irrtum aufzeigt. Bedeutend ist es vielmehr, weil die Frage nach den Dingen das wieder aufnimmt, wonach Kant ursprünglich fragt; nämlich danach, wie das Subjekt vermittelt durch sich die Objektivität der Außenwelt gewährleisten kann. Objekte bzw. empirische Dinge sind also zunächst als Objekte für uns bzw. als Erscheinung zu betrachten. Diese Feststellung darf aber gemäß dem bisher Gesagten nicht mehr den Schein erwecken, als ob die Objekte nach dieser ersten Betrachtung als Objekte für uns auch noch als Dinge an sich erfahrbar werden müssen, damit die Gefahr des Idealismus vermieden werden kann. Dieser Schein wird aufgrund der bei Kant nur terminologisch verwirrenden Verwendung des Wortes "Erscheinung" erweckt. Terminologisch gesehen benützt Kant nämlich das Wort "Erscheinung", um sowohl den sinnlichen Stoff bzw. einzig das Material der Anschauung, als auch noch das durch den Begriff geformte Material zu benennen. Es muß daher von Anfang an beachtet werden, daß die Betrachtung der Dinge als Erscheinung sich ausschließlich auf die zweite Bezeichnung bezieht, die bedeutet, daß die Dinge als Dinge für uns "Phänomene" sind bzw. daß ihre Zugänglichkeit immer nur auf den transzendentalen Strukturen des Subjekts beruht. Diesbezüglich muß noch einmal wiederholt werden, daß die Wahrnehmung als primärer Zugang zu den Dingen sich als die unmittelbare Erkenntnis derselben zeigt. "Wenn uns Erscheinung [hier einzig im Sinn des Materials einer möglichen

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I. Kants Frage nach den Dingen in der Rezeption

Anschauung] gegeben ist"1- schreibt Kant, "so sind wir noch ganz frei, wie wir die Sache daraus beurteilen wollen". Wird also uns unmittelbar irgendein Stoff gegeben, so wird von uns ebenso unmittelbar immer ein Gegenstand erkannt, als das Ergebnis einer freien Deutung durch einen Begriff und dessen Anwendung. Das Ergebnis, das sehr wohl aus einer gegebenen Erscheinung heraus entsteht, muß demnach von der Erscheinung als bloßer Stoff grundverschieden sein, aber dennoch als nichts anderes als die Erscheinung bzw. das Phänomen eines Dinges für uns charakterisiert werden. Werden beim Urteil stets Gegenstände thematisiert, so hängt es ausschließlich von der Verifikation der Wahrheit bzw. Falschheit des Urteils ab, ob das thematisierte Ding auch noch tatsächlich vorliegt oder nicht bzw. ob es auch noch objektiv oder nur subjektiv wirklich ist. Der Schein des absoluten Idealismus läßt sich also ausgehend von der Untersuchung der Wahrheit bzw. Falschheit des Urteils, das bei jeder Wahrnehmung mit im Spiel ist, bewältigen. Nur dadurch kann nämlich nach Kant die Frage nach der Wirklichkeit ernsthaft in Betracht gezogen werden, ohne sich auf schlechte metaphysische Lösungen zu stützen. Die Unterscheidung zwischen einer Welt der Erscheinungen und einer durch ein rein rezeptives Erlebnis erfahrbaren Hinterwelt der Dinge an sich entspricht demnach keineswegs der Absicht Kants bezüglich der Frage nach den Dingen und der damit verbundenen Frage nach deren Wirklichkeit. Vorausgesetzt, daß die empirischen Objekte ausschließlich durch Urteilen uns zugänglich sind bzw. von uns erkannt werden können, so daß ihre Erkennbarkeit auf nichts anderem als dem Subjekt selbst beruhen kann, so stellt sich sofort die Frage, was denn von der durch Kant betonten Unbegreiflichkeit der Natur übrigbleibe. Sollte nicht die Unbegreiflichkeit der Dinge bearbeitet werden? Durchaus! Wenn die Unbegreiflichkeit jedoch das darstellt, was gesucht wird, kann sie methodologisch niemals als Ausgangspunkt naiv vorausgesetzt werden. Zweifelsohne kann es auf den ersten Blick paradox erscheinen, die Begründung der Objektivität der Außenwelt auf subjektiver Basis durchzuführen und zugleich von der Unbegreiflichkeit der Natur sprechen zu wollen. Um so mehr, da die bisherige Untersuchung gezeigt hat, daß die Unbegreiflichkeit der Natur nach Kant nicht in ihrer Unerkennbarkeit besteht. Wenn bislang nur negativ bestimmt worden ist, was die Unbegreiflichkeit der Dinge nicht bedeutet, d.h. also keine "in" oder "hinter" den Dingen verborgene Transzendenz, so erweist sich die Aufgabe einer positiven Bestimmung des Kantischen Begriffes der Unbegreiflichkeit als dringlich. Zur Erfüllung dieser Aufgabe ist eine weitere Untersuchung der Strukturen des Subjekts notwendig, da gilt, daß Erkennbarkeit bzw. Unerkennbarkeit in der Subjektivität wurzeln. 1

Ak. Bd.4: S.290.

8. Zusammenfassung

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Im folgenden Kapitel wird unter dem Titel Intentionalität demnach tiefer auf die Struktur des Subjekts eingegangen, um die Basis zu erstellen, auf welcher der Sinn der Frage nach den Dingen und ihrer Unbegreiflichkeit überhaupt verständlich gemacht werden kann.

Π. Intentionalität bei Kant 1. Autonomie und Selbstbewußtsein als Basis der Intentionalität Der Begriff der Intentionalität bei Kant1 läßt sich einzig durch eine weitere Herausarbeitung seines Ansatzes bezüglich der Spontaneität des Verstandes und der Rezeptivität der Sinnlichkeit in ihrem inneren Zusammenspiel gewinnen. Solch eine ursprüngliche Verbindung zeigt sich in jedem Urteil, wodurch die Dinge von uns unmittelbar erkannt werden. Denn ein Urteil entsteht immer als Einheit von Anschauung und Begriff. Die Analyse des Urteils zeigt diesbezüglich, daß die Spontaneität, wodurch allein "die Sache"2 beurteilt wird, einzig dem Verstand und nicht der Rezeptivität der Sinnlichkeit angehört. Deshalb benennt Kant Sinnlichkeit und Verstand als die zwei Grundquellen der menschlichen Erkenntnis bzw. die ursprünglichen Vermögen für diese. Vorausgesetzt, daß Sinnlichkeit und Verstand die zwei grundverschiedenen Quellen unserer Erkenntnis darstellen, gilt es dennoch die Frage zu stellen, ob sie trotz ihres zu beachtenden Unterschiedes in einem gemeinsamen Grund wurzeln. Dabei muß vorausgeschickt werden, daß Kant selbst, obwohl er die Frage ausdrücklich gestellt hat, auf sie nur eine halbe Antwort gegeben hat. Hinsichtlich des Ursprungs der Sinnlichkeit weist Kant unmittelbar auf den Körper hin. Die Sinnlichkeit verweist also als Vermögen für bzw. ihrer Rezeptivität nach auf das Somatische und all seine biologischen Strukturen. Hinsichtlich des Ursprunges des Verstandes findet man hingegen in der Kritik der reinen Vernunft gar keinen Hinweis außer der berühmten Stelle, an der Kant ausdrücklich die Frage stellt, ob Verstand und Sinnlichkeit als "zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis" vielleicht "aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen"3. Eine mögliche Antwort auf diese Frage durch eine weitere Erläuterung des Kantischen Ansatzes scheint insbesondere dann von Bedeutung zu sein, wenn man folgendes bedenkt: Kant setzt - wie gesehen - die Kategorie in der Urteilstafel schlicht voraus, ohne zu bemerken, daß gerade diese Voraussetzung die Spontanei' Hierbei wird ausdrücklich auf die von Prauss erarbeitete Theorie der Intentionalität im transzendentalen Sinn Bezug genommen. Grundtexte dieser Theorie sind: Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, §§10-12 und Prauss, Gerold Intentionalität bei Kant. In: Akten des 5. internationalen Kant-Kongresses Mainz. 4.-8. April 1981. Teil 1.2: Sektionen VIII-XIV. Hrsg. von Gerhard Funke. Bonnl981, S.763-771. 2 Dazu insbesondere Vgl. Ak. Bd.4: S.290 f. 3 A15 B29.

1. Autonomie

und Selbstbewußtsein

als Basis der

Intentionalität

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tat des Verstandes selbst beeinträchtigen kann. Denn eine solche Voraussetzung gibt Anlaß zu denken, daß Kant die Kategorien des Verstandes als angeborene Vorstellungen verstanden habe. Vollzieht sich ein Urteil als Einheit von Anschauung und Begriff durch die Verwendung eines Begriffes, so muß der Begriff selbst aus nichts anderem als der Einheit des Verstandes entspringen, so daß sich die Kategorien eigentlich aus der Spontaneität des Verstandes selbst deduzieren lassen. Worin der Verstand wurzelt, bleibt deswegen bei Kant in der Kritik der reinen Vernunft eine offene Frage, weil er die Folgen seines Denkens hinsichtlich der Spontaneität des Verstandes nicht bis zur letzten Konsequenz weitergeführt hat. So entschieden Kant also die Anwendung der Kategorien auf eine gegebene Anschauung als eine freie Handlung des Verstandes definiert und so deutlich er die "ersten Prinzipien α priori unserer Erkenntnis" bzw. die Kategorien weder "aus der Erfahrung geschöpft", noch "mit unserer Existenz eingepflanzt]" 1 denkt, so berücksichtigt er doch nicht bis zur letzten Konsequenz das Entscheidende, d.h. den Ursprung der Spontaneität des Verstandes des Subjekts. Einzig an einer Stelle ist sich Kant des Problems der Deduktion der Kategorien aufgrund der Spontaneität des Verstandes, wenn auch nicht desjenigen des Ursprungs der Spontaneität in der Natur des Menschen, völlig bewußt. An jener Stelle fragt er nämlich nach der "ersten Anwendung" 2 der Kategorien auf eine mögliche Anschauung. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf eine ursprüngliche "Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit"3, die er als Einbildungskraft definiert. Solch eine ursprüngliche Wirkung des Verstandes macht den Kern der Spontaneität des Subjekts als "Quelle aller Verbindung" 4 aus. Die Spontaneität wird somit in einer "Ausübung" 5 des Verstandes auf die Sinnlichkeit bzw. in der Fähigkeit des Verstandes, sich selbst zu versinnlichen, gesehen. Wird nun diese Fähigkeit von Kant selbst in der Schematismuslehre thematisiert, so müßte konsequenterweise daraus folgen, daß die Deduktion der Kategorien eigentlich der Schematismuslehre folgen muß, wobei bei Kant aber genau das Umgekehrte gilt. Mit anderen Worten, es bleibt bei ihm ungeklärt, ob die Spontaneität des Verstandes auf den Kategorien beruht oder ob umgekehrt die Kategorien des Verstandes auf der Spontaneität desselben beruhen. Um das Eigentümliche der Kantischen Definition des Verstandes als des Vermögens der Spontaneität nicht preiszugeben, muß man demnach die Einsicht Kants bezüglich der Spontaneität des Verstandes, in bezug auf seine Fähigkeit, sich selbst zu versinnlichen, radikalisieren und als primär betrachten6. B167. B151. B152. 4 B154. 5 B151. 1

2

3

Diesbezüglich ist zu bemerken, daß die Versuche der Deutschen Idealisten - allen voran Hegels -, aber auch jene Heideggers, die Einbildungskraft als ursprüngliche Quelle der menschlichen Erkenntnis 6

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II. Intentionalität bei Kant

Die Spontaneität des Verstandes darf mithin nicht irgend etwas, auch nicht den Kategorien selbst, untergeordnet werden. Sie zeigt sich vielmehr als eine absolute, autonome und freie. Da der Verstand reine Autonomie ist, zeigt er sich darüber hinaus als Einheit. Konstitutionstheoretisch gilt nämlich, daß er von sich selbst anfängt und wieder zurück auf sich selbst in Form von reinen Begriffen oder reinen Urteilen geht. Seine Einheit ist somit stets als bloß logische und demgemäß nicht als substantielle anzusehen. Diese Einheit nennt Kant in erster Linie "Selbstbewußtsein". Gerade dadurch, daß die Eigentümlichkeit der Spontaneität des Verstandes ausschließlich in der logischen Fähigkeit besteht, von sich selbst anzufangen und zugleich auf sich selbst in Form von reinen Begriffen und reinen Urteilen zurückzukommen, ist dem "Selbstbewußtsein" nach Kant auf keinen Fall die Selbsterkenntnis als Erkenntnis von sich eigen. Dem Selbstbewußtsein eigen ist vielmehr das Selbstverhältnis als selbsttätiger Anfang. Unter diesen Umständen ist also der Verstand nach Kant das Vermögen der Spontaneität, so wie die Sinnlichkeit Vermögen der Rezeptivität ist. Beide Vermögen werden nach Kant erst in einer Spätschrift1 als "angeborene" definiert. Widerspricht diese Definition Kants aber nicht der Eigentümlichkeit beider insofern, als er Raum, Zeit und die Kategorien stets versuchte, nicht als "eingepflanzte" Prinzipien zu betrachten? Die Anmerkung Kants hinsichtlich des Ursprungs beider Vermögen als angeborener steht allerdings voll im Einklang mit der Ablehnung Kants einer Definition der Kategorien, Raum und Zeit als eingepflanzter Prinzipien. Denn angeboren ist für Kant nur derjenige Grund, "der es möglich macht, daß die Vorstellungen so und nicht anderes entstehen, und noch dazu auf Objekte, die noch nicht gegeben sind, bezogen werden können"2. Sinnlichkeit und Verstand sind also fiir Kant ihrer Möglichkeit nach als "angeborene" anzusehen, so daß er daraus folgendes hätte schließen können: Ihrer Möglichkeit nach wurzeln Sinnlichkeit und Verstand im Körper3, der nichts anderes als zu explizieren, Gefahr laufen, die Spontaneität des Verstandes preiszugeben, wenn gilt, daß die Einbildungskraft eigentlich »Wirkung des Verstandes« auf die Sinnlichkeit ist. Bezüglich der idealistischen Interpretation vgl. GHA Bd.l: S.294-327. Als verbindliche Textgrundlage Heideggers wird die 17. Auflage von Sein und Zeit (SZ) im Verlag Max Niemeyer, Tübingen 1993 angesehen. Andere Veröffentlichungen Heideggers, seine Vorlesungen und Seminare werden nach der Gesamtausgabe Martin Heideggers (HGA), Frankfurt am Main, 1975 f. zitiert. Bezüglich Heideggers Interpretation vgl. HGA Bd.3: S.138-171. 1 Ak. Bd.8: S.221 f. 2 Ak. Bd.8: S.221-22. Kursiv von mir. 3 Die Einheit von Sinnlichkeit und Verstand läßt sich somit einzig als Vermögen, d.h., als reine Möglichkeit, die noch verwirklicht werden muß, verstehen: als Vermögen, dessen Grund der Körper ist. Die Wirklichkeit von Verstand und Sinnlichkeit als verwirklichte Vermögen geht hingegen stets als eine gegensätzliche Zweiheit in einer inneren Einheit als mentale Wirklichkeiten hervor. Vgl. dazu Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999; Bd.II, Teil 1, S.256. Hierbei wird Bezug auf das Spätwerk Kants genommen, um auf das Problem von „natürlicher" Angeborenheit und „freier" Ver-

1. Autonomie

und Selbstbewußtsein

als Basis der

Intentionalität

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der gemeinsame Grund beider Vermögen ist, welche bloß als Möglichkeiten bzw. Vermögen fur die Erkenntnis und nicht als eingepflanzte Prinzipien gelten1. Zeigt sich nun der Körper als der gemeinsame Grund beider Vermögen für die Erkenntnis, so reduziert sich jedoch das Subjekt keineswegs auf einen wie komplex auch immer gedachten Fall des Somatischen. Denn der Mensch als bloßer Körper wäre ja ein Nichts, wenn er als Subjekt nicht die Fähigkeit hätte, durch eine "eigene Handlung"2 das, was ihm als bloße Möglichkeit bzw. bloßes Vermögen der Erkenntnis zukommt, auch noch zu verwirklichen. Ja sogar die Eindrücke der Dinge auf die Sinnlichkeit bedürfen dieser "Handlung", damit die von den physischen Dingen bloß kausal verursachten Einwirkungen auf den Körper überhaupt in Auswirkungen des Geistes umgesetzt werden können.3 Den Schmerz oder eine Regenbogenvorstellung, die ich als Subjekt bloß habe, habe ich stets als meinen eigenen Schmerz bzw. meine eigene Vorstellung4, so daß Subjektivität in Form einer Handlung des Verstandes bzw. in Form einer ursprünglichen "Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit"5 - "ob ich mich ihrer gleich nicht als solcher bewußt bin" 6 - als ein Fall von Spontaneität schon beim Schmerz oder beim Besitz einer Vorstellung qua Se/foiaffektion stets mit im Spiel ist. Diese Handlung definiert Kant nicht einfach als angeborene, sondern vielmehr als "o r i g i η a r i a "7. Daß das Subjekt unter den Bedingungen der Rezeptivität seiner Sinnlichkeit und der Spontaneität seines Denkens diese oder jene Vorstellung als Auswirkung in ihm bekommt, gewährleistet jedoch nicht den Zugang zu den Dingen als zunächst erfahrbare Welt, denn Vorstellungen hat es bloß, es erkennt sie aber nicht als Vorstellungen. Damit das Subjekt zum Gegenstand gelangt, muß es den durch die Sinnlichkeit bloß gegebenen Inhalt in einen Inhalt einer Form umsetzen. Die Ausübung der Spontaneität des Verstandes auf die Sinnlichkeit, "die jederzeit eine eigene Handlung ist"8, erschöpft sich demnach nicht in der Aktualisierung der Vorstellungen. Ihr eignet vielmehr auch die Möglichkeit einer "synthetischen Einheit", wodurch das bloß Mannigfaltige aufgrund einer weiteren Ausübung der Spontaneität des Verstandes auf die Sinnlichkeit auch noch zum Inhalt einer Form wird. Aus solcher Ausübung entspringt nämlich das, was Kant "formale Anschauung" nennt, wodurch also etwas überhaupt gegenständlich und somit erkennbar wirklichung von Vermögen einzugehen. Vgl. Ak. Bd.8: S.221f. Hier wird diese Problematik wieder im K.ap.11, §§ 5-7 aufgenommen. ' Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S. 190 f. 2 Ebd. S.222. 3 Hierzu vgl. Friebe, Cord Der Kategorische Imperativ bei Kant und Freud in Baumgarten, HansUlrich/Held, Carsten Systematische Ethik mit Kant Freiburg/München 2001, S. 199 f. 4 »Eigen« wird hier in einem reflexiven und nicht in einem possessiven Sinne verwendet. 5 B152. 6 B132. 7 Ak. Bd.8: S.223. 8 Ebd. S.222.

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II. Intentionalität bei Kant

wird. Das, was durch die formale Anschauung vermittelt bestimmt wird, ist aber ein Nichts, obwohl die Bestimmung sich gemäß der "Einheit der Apperception" bzw. des Selbstbewußtseins vollzieht. Denn der vorherbestimmte transzendentale Gegenstand tritt nur dann als Objekt für ein Subjekt auf, wenn das Subjekt aufgrund eines von ihm selbst ursprünglich geleisteten Rückbezuges auf sich auch noch das Objekt als Wirkliches hinstellt, nämlich durch eine Prädikation bzw. ein Urteil. Erst daraus entsteht die Erfahrung eines Objektes für ein Subjekt. Subjektivität als ursprüngliche ("o r i g i η a r i a") Handlung setzt also schon immer Selbstbewußtsein voraus, denn diese Handlung, die sich jederzeit als eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit vollzieht, ist jeweils die eigene von jeweils verschiedenen Subjekten. Gerade dadurch, daß Subjektivität stets als Einheit von Sinnlichkeit und Verstand auftritt, sind Raum, Zeit und Kategorien keinesfalls als "anerschaffene oder angeborene Vorstellungen"1 zu betrachten. Hingegen müssen sie von nichts anderem als von solcher ursprünglichen ("o r i g i η a r i a") Handlung ausgehend, die allein "angeboren" ist, deduziert werden, so daß Kant keineswegs Kategorien, Zeit und Raum als "eingepflanzte", sondern als "erworben[e]"2 annimmt. Ihrer Möglichkeit nach ist die Sinnlichkeit als Prinzip der Ausdehnung zwar als "angeborene" anzusehen. Dieser erste Grund liegt genauso wie die logische Einheit des Verstandes als schlichte Möglichkeit fur die Selbstverwirklichung der Subjektivität schon immer vor. Seine Verwirklichung beruht jedoch auf der Spontaneität. Wohl bedarf die Sinnlichkeit immer einiger Eindrücke, um zur Vorstellung eines Objekts zu gelangen, aber es geschieht allein kraft eines Akts der Spontaneität, daß die Wahrnehmung eines Regenbogens stattfindet bzw. daß ich behaupten kann, dies "hier und jetzt" sei ein Regenbogen. Raum und Zeit als bloße Vermögen der Rezeptivität liegen demnach "vor dem bestimmten Begriff von Dingen"3 vor, wobei ihre Verwirklichung als Raum- und Zeitvorstellungen sich aufgrund einer "ursprünglichen Erwerbung"4 vollzieht. Der Vollzug selbst kann sich jedoch auf nichts anderes als auf diejenige Fähigkeit gründen, wodurch allein Zeit und Raum auch noch verwirklicht werden, so daß die Erwerbung von Zeit und Raum die subjektive Bedingung der Spontaneität des Denkens voraussetzt. Solch eine Spontaneität als bloße Möglichkeit ist wiederum stets als "o r i g i η a r i a " anzusehen, so daß auch die "transzendentalen Vers-

1

Ebd. S.221. Ebd. S.221. Dazu muß angemerkt werden, daß das Präfix "er" im Deutschen auf eine Aktivität hinweist, wodurch etwas aufgrund von etwas anderem gewonnen wird. Durch die Bearbeitung eines Stücks Marmor wird beispielsweise eine Statue gewonnen bzw. erarbeitet. Analog dazu gilt, daß die Kategorien erst durch die Spontaneität des Denkens gewonnen bzw. erworben werden. Sie sind mithin stets innerhalb der Struktur Noesis - Noema, die sich bei jeder Bestimmung jeweils neu vollzieht, zu denken. 3 Ebd. S.222. 4 Ebd. S.221. 2

1. Autonomie und Selbstbewußtsein als Basis der Intentionalität

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tandesbegriffe [...] eben so wohl nicht angeboren, sondern erworben sind"1 wie das, wodurch etwas als etwas überhaupt erfahrbar wird. In unserem Beispiel läßt sich beim Urteil "Dies ist ein Regenbogen" die Kategorie des Verhältnisses Substanz-Akzidens aufgrund des Vermögens der Versinnlichung des Verstandes als erworben erklären. Denn etwas tritt als ein Regenbogen dadurch auf, daß ein "jetzt" mir bloß gegebenes Etwas zum Inhalt einer Form, also zu einem "jetzt und hier" bestimmten Etwas wird und daß dieses vorherbestimmte "jeweilige Dieses" auch noch als wirklich gesetzt wird bzw. daß dieses "jeweilige Dieses" auch noch als ein wirklicher Regenbogen wahrgenommen wird. Die Kategorie des Verhältnisses Substanz-Akzidens entspricht demnach dem, wodurch ein "jeweiliges Dieses" überhaupt gewonnen wird. Sie ist ja ein bloßes Nichts, das jedoch aufgrund der Ausübung der Spontaneität des Verstandes auf die Sinnlichkeit jeweils erworben wird. Die Wahrnehmung eines Regenbogens geschieht also unter den subjektiven Bedingungen der Rezeptivität der Sinnlichkeit und der Spontaneität des Denkens, wobei die Wahrnehmung als die primäre Erfahrung eines Regenbogens fur mich erst dann stattfindet, wenn ein infolge der Ausübung der Spontaneität auf die Sinnlichkeit zunächst entworfenes Objekt auch noch als wirklich gesetzt wird. Damit wird eben behauptet, daß etwas ein Regenbogen sei, d.h. "Dies .hierund jetzt' ist ein Regenbogen". Die Anmerkungen Kants bezüglich des Ursprungs der Sinnlichkeit und des Verstandes und der Aktualisierung von Zeit und Raum durch die Kategorien als Erwerbung von Zeit- und Raumvorstellungen sind nicht nur deshalb erheblich, weil sie den Schein eines Leibnizschen Überbleibsels hinsichtlich der anerschaffenen Vorstellungen bei Kant endgültig tilgen. Von Bedeutung sind diese Überlegungen vor allem, weil sie das Eigentümliche der Spontaneität des Verstandes bzw. des Selbstbewußtseins als die Möglichkeit des Subjekts, von sich selbst anzufangen und auf sich selbst zurückzugehen, immer in Hinblick auf das damit verbundene Problem der Verwirklichung der Spontaneität des Denkens als der Verwirklichung einer reinen Möglichkeit berücksichtigen. Die Charakterisierung des Selbstbewußtseins als der Fähigkeit eines selbsttätigen Anfangs, wodurch das Subjekt auf die Verwirklichung seiner selbst zielt und deshalb zurück auf sich selbst geht, läßt die Spontaneität des Denkens zweifelsohne zunächst einmal als Se/faiverwirklichung hervorgehen2. Geht man jedoch den Möglichkeiten nach, die das Subjekt sich im Lauf der Selbstverwirklichung verschafft, so stößt man auf etwas äußerst Merkwürdiges: Denn das Subjekt verschafft sich, indem es aus sich selbst heraus auf sich zurückgeht, keinesfalls die Möglichkeit, sich selbst zu erkennen. Im Gegenteil: gerade dadurch werden diejenigen Möglichkeiten geschaffen, auf etwas Anderes hinzugehen bzw. die Möglichkeit

' Ebd. S.223. Dazu ausfuhrlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S. 190 f.

2

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II. Intentionalität bei Kant

von Fremderkenntnis. Ebenso ist das Subjekt auch, wenn es beispielsweise Schmerzen oder eine Regenbogenvorstellung hat, aus sich selbst heraus auf sich zurückgehend schon immer außer sich, wenn auch nicht außer anderem. Das Schmerzhaben oder der Besitz einer Regenbogenvorstellung sind qua Se/fcifaffektion zwar unter der Bedingung eines Akts der Spontaneität des Denkens möglich, aber qua Akt verschafft das Denken sich einzig die Möglichkeit, daß irgendein sinnlicher Gehalt sich einstellen kann, so daß das Subjekt als Selbstbewußtsein sich selbst verwirklicht, indem es auf etwas Anderes zugeht. Und in der Tat weist jeder weitere Schritt der Selbstverwirklichung auf nichts anderes als die Bildung von Fremderkenntnis hin, um so mehr, da beim Urteil stets Dinge bzw. Objekte und gar nicht das Subjekt selbst thematisiert werden. Nun zeigt gerade die Tatsache der Selbstverwirklichung, die sich von sich selbst ausgehend auf etwas Anderes von sich bzw. auf das Objekt hin vollzieht, den Kern der Intentionalität an. Nimmt also das Subjekt seinen Ausgang von sich selbst, so gelangt es entwerfend stets zu etwas von ihm Verschiedenem bzw. zum Objekt. Ist ferner die Intention als Intendieren das Eigentümliche des Subjekts, so folgt daraus, daß das Objekt als das Ergebnis einer erfolgreichen Intention und keinesfalls als ein schon immer Wirkliches betrachtet werden muß. Unter diesen Umständen ist es dann gerechtfertigt, von Intentionalität bei Kant zu sprechen. Diesbezüglich muß weiter angemerkt werden, daß das Konstitutivum der Intentionalität auf der Spontaneität des Denkens bzw. auf dem "Selbstbewußtsein" beruht, wobei dessen Verwirklichung doch sein Gegenteil bzw. die "Fremderkenntnis" mit einschließt. Der so gewonnene Begriff der Intentionalität bei Kant1 läßt sich demnach wie folgt definieren: Intentionalität ist die ursprüngliche "Handlung" eines Subjekts als eines "zur-Fremderkenntnis-werdenden-Selbstbewußtseins".

2. Zweckmäßigkeit als das Eigentümliche des Erkennens: Die Intentionalität bei Kant Daß das Subjekt ausgehend von sich selbst und auf sich zurückgehend auf etwas von sich Grundverschiedenes bzw. auf das Objekt hin geht, und d.h., daß es seiner Natur nach Intentionalität ist, läßt die folgende Frage entstehen: Gilt Intentionalität als ein "angeborenes" Faktum der Natur des Menschen auch noch als ein naturales? Nach Kants Ansicht offenbar nicht, wenn gilt, daß Intentionalität eher als "originaria" Fähigkeit bzw. Spontaneität des Subjekts denn als bloßes Produkt der Natur zu verstehen ist. Es muß also über das Gesagte hinaus geklärt werden, inwieweit Intentionalität 1

Ebd. S. 2 1 4 - 2 1 5 .

2. Zweckmäßigkeit als das Eigentümliche des Erkennens

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als Grundbestimmung des Subjekts, als das Eigentümliche des Menschen im Gegensatz zum schlicht Empirischen gelten kann, da auch Kant selbst sie ja als ein "Faktum"1, jedoch nicht als ein bloß naturales definiert. Denn ist es nicht auf den ersten Blick ein Widerspruch, daß der Mensch aus der Natur entstanden ist, aus ihr besteht und daß er dennoch nicht als ein bloß Naturales zu betrachten ist? Wenn er als ein Fall von Natur und als Intentionalität zu charakterisieren ist, warum gilt Intentionalität dann nicht als ein empirisches Faktum? Es geht also darum, die Intentionalität ihren Grundzügen nach bzw. ihrer Autonomie gemäß der Natur als bloßer Heteronomie gegenüberzustellen, wenn auch nach Kant gilt, daß der Mensch zunächst einmal Produkt der Natur2 ist. Empirisch-wissenschaftlich gesehen gilt, daß die Natur bei der Hervorbringung der verschiedenen Spezien keinen Zweck verfolgt hat und immer noch keinen verfolgt. Wenn es auch scheinen kann, daß der ganze Kosmos nach bestimmten zweckmäßigen Gesetzen geregelt ist, hat doch dies als Inbegriff aller Naturtatsachen seine hinreichende Erklärung durch nichts anderes als durch Naturgesetzlichkeit3. In der Natur als Inbegriff aller möglichen Dinge und Ereignisse gilt also, daß zu einer Wirkung immer eine Ursache und nie auch noch ein Zweck gehört. Dabei muß weiter beachtet werden, daß eine Wirkung als Wirkung durch eine Ursache eben von der Ursache verschieden sein muß, so daß Ursache und Wirkung stets auseinanderzuhalten sind. Ihr Verhältnis ist als ein Gesetz der Heteronomie zu bezeichnen. Der Natur ist demnach zwar Verwirklichung eigentümlich, aber stets als Wirkung durch eine Ursache bzw. durch andere Natur. Auf dieser Welt stimmt alles qua Natur mit dieser Gesetzlichkeit überein, so daß auch der Mensch zunächst einmal als nichts anderes als ein Produkt der Natur zu verstehen ist. Dies schließt jedoch nicht die Möglichkeit aus, daß Natur, nachdem sie im Lauf ihrer Verwirklichung, aus welcher empirischen Ursache auch immer, in der Gestalt des Menschen aufgetreten ist, auch noch eine autonome Struktur angenommen hat, wodurch die Verwirklichung ihrer selbst nicht mehr bloß heteronom durch andere Natur vermittelt, sondern autonom aus sich selbst heraus zustandegebracht wird. Ist also der Grund dieser autonomen Struktur hinsichtlich ihres Ursprungs die Natur, so ist doch ihre Eigentümlichkeit de facto jene der Autonomie bzw. jene, etwas Nichtnaturales zu sein. Und in der Tat vermag der Mensch als ein naturaler Fall von Nichtnaturalem, sich selbst nicht bloß durch Heteronomie, sondern auch aus sich selbst heraus bzw. autonom zu vollziehen. 1

Vgl. Ak. Bd.20: S.270. Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S. 223-226 und Prauss, Gerold Der Mensch als zweideutige Natur. In: Freiburger Universitätsblätter Heft 95. 1987. S.107-115. Antrittsvorlesung an der Universität Freiburg im Breisgau am 23. 4. 1986. 3 Naturgesetzlichkeit darf nicht mit strengem Determinismus verwechselt werden, denn selbst die Physik nimmt heute die Spontaneität im Sinne von Faktizität in Anspruch, um Phänomene zu erklären, welche ansonsten unerklärt blieben. Vgl. dazu hier Kap.II, §7. 2

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II. Intentionalität bei Kant

Sobald man jedoch auf die autonome Struktur des Menschen eingeht, um zu versuchen, sie als einen in der bloßen Natur nicht vorliegenden Fall von Freiheit zu bestimmen, so stößt man schon nach wenigen Schritten darauf, daß die Autonomie des Menschen als Selbstverhältnis weiterer Erläuterungen bedarf. Autonomie einzig im Sinne der menschlichen Fähigkeit, aus sich selbst heraus anzufangen, macht kein hinreichendes Merkmal für die Charakterisierung seiner Freiheit der Kausalität der Natur gegenüber aus1. Denn würde sich die menschliche Autonomie in der schlichten Tatsache erschöpfen, daß er Vorstellungen und Gedanken als Wirkung einer in seinem eigenen Vorstellungsvermögen vorliegenden Ursache bloß hat, so wäre er selbst zwar die Ursache seiner Vorstellungen und Gedanken, aber ihm würden diese Vorstellungen und Gedanken im eigentlichen Sinne nicht als die seinen zu eigen sein, und zwar deshalb nicht, weil sie eigentlich bloßes Produkt irgendwelcher Vorstellungsvermögen wären. Unter diesen Umständen wären Ursache und Wirkung immer noch wie in der Natur auseinanderzuhalten. Bei dem Menschen müssen hingegen Ursache und Wirkung trotz ihrer stets sorgfältig zu beachtenden Differenz ineinanderfallen, wenn gelten soll, daß er seiner inneren Natur nach Autonomie bzw. Freiheit ist. Daraus, daß das Subjekt selbst Ursache seiner Vorstellungen und Gedanken ist, folgt keinesfalls seine Autonomie als Selbstverwirklichung. Von Selbstverwirklichung kann man vielmehr insofern sprechen, als wir als Menschen die Vorstellungen und die Gedanken, die wir als unsere eigene Wirkung ansonsten bloß hätten, stets für uns selbst bzw. um willen unseres Selbst auch noch im Hinblick auf etwas anderes verwenden, um also fur unser Selbst etwas Anderes zu erzielen. Daher läßt sich sagen, daß wir autonome Wesen nur deshalb sind, weil wir Vorstellungen und Gedanken als unsere eigene Wirkung als Mittel eines Zwecks für uns hervorbringen und damit auch noch uns selbst als Selbstzweck verwirklichen. Die Autonomie des Menschen als ein Fall von nicht-empirischer Kausalität läßt sich demnach nicht allein als Selbstverhältnis, sondern vielmehr als ein Fall von nichtnaturaler bzw. intentionaler Zweckmäßigkeit verstehen. Der Intentionalität eigentümlich ist demnach ihr zweckmäßiger Charakter. Demgemäß läßt sich 1

Zur Beziehung des Kantischen Ansatzes auf die Evolutionstheorie vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S.249 f. Zu weiteren Konsequenzen des Kantischen Ansatzes bezüglich der Leib-Seele Problematik vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S.231 f. Zudem sei daraufhingewiesen, daß man für ein richtiges Verständnis des Begriffes der Autonomie in der Natur des Menschen an dem von Kant betonten Unterschied zwischen dem »angeborenen« und dem »originarium«im Sinne des Erworbenen festhalten muß. Würde sich dieser Unterschied argumentativ nicht rechtfertigen lassen, reduzierte sich der Mensch auf einen Fall von Somatischem. Als Beispiel einer Erklärung des Menschen unter der einzigen Perspektive des Somatischen vgl. Vollmer, Gerhard Evolutionäre Erkenntnistheorie. Stuttgart 1990, S.90-94. Diesbezüglich muß jedoch gesagt werden, daß der Autor sich für seine Theorie m.E. zu Unrecht auf Kant stützt, denn er berücksichtigt nicht genug die Bedeutung des obengenannten Problems des Angeborenen und des Erworbenen der menschlichen Strukturen.

3. Intentionalität

als Schlüssel für das Verständnis der Kopernikanischen

Wende

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beim Menschen die Spaltung Ursache - Wirkung auf eine ursprüngliche Spontaneität zurückführen, wodurch die Wirkung einer Ursache nicht als ein schon Vorliegendes wie in der Natur gilt. Vorstellungen und Gedanken gelten vielmehr als das, wodurch ein Intentum erreicht oder erfüllt werden kann, so daß das Intentum selbst als das zu erreichende Ziel notwendigerweise nicht etwas schon Wirkliches sein kann. Dabei muß jedoch folgendes beachtet werden: Das, was es zu erreichen gilt, kann dann und nur dann als Intentum gelten, wenn ihm als Intentum ein Intendieren derart zugrunde liegt, daß es bei dem Intendieren dieses Intentum auch noch um das Selbst des Intendierenden geht. Woraufhin man um des eigenen Selbst willen ausgeht, läßt sich daher als Intentum nur aufgrund des von Kant selbst definierten "unbezweifelte[n] Factum" 1 des "Selbstbewußtseins" charakterisieren. Denn der Gedanke "Ich denke" zeigt nicht nur eine "reine Spontaneität" 2 an, die es dem Menschen ermöglicht, "zu sich selbst Ich zu sagen"3, wenn ich alle meine Vorstellungen und Gedanken begleiten können muß. Dieser Gedanke verweist vielmehr auf dasjenige "erhabene Vermögen" 4 des Selbstbewußtseins, das dadurch, daß es von allen "selbstgemachten Vorstellungen und Begriffen hinaussieht", das Wesen des Menschen qua "Person" 5 eher in der Se/Zw/Verwirklichung des Menschen sieht. Denn auch "bei der Begleitung allereinfachster Vorstellung", also beim allereinfachsten Urteil geht es einem Subjekt schon immer um die Verwirklichung seines Selbst bzw. seiner Autonomie qua Freiheit6.

3. Intentionalität als Schlüssel für das Verständnis der Kopernikanischen

Wende

Aus dem bisher rekonstruierten Kantischen Begriff der Intentionalität lassen sich in aller Deutlichkeit der Sinn der Kopernikanischen Wende und ihre entscheidenden Konsequenzen hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Frage nach den Dingen verstehen. Die Kantische Wende läuft auf die Notwendigkeit hinaus, darauf zu bestehen, daß Objekte stets als Zwecke der Erkenntnis zu betrachten sind. Solche Festlegung zeigt sich als die einzige Möglichkeit, denjenigen Zirkelschluß zu vermeiden, wonach die Wirklichkeit der Außenwelt einfach vorausgesetzt werden muß, damit eine Erkenntnis überhaupt stattfinden kann. Denn Kant 1

Ak. Bd.20: S.270. Ebd. S.271. Ebd. S.270. 4 Ebd. s Ebd. 6 Vgl. dazu Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S. 243 f. Dabei muß beachtet werden, daß der Begriff der Person schon immer auf jenem der Spontaneität beruht, so daß der Grund der Möglichkeit, unter praktisch-moralischen Umständen Person zu sein, in dem Selbstbewußtsein wurzelt. Vgl. dazu insbesondere Ak. Bd. 20: S. 270 und Bd. 7: S. 127. 2 3

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II. Intentionalität bei Kant

bemerkt diesbezüglich, daß unter dieser schlicht naiven Voraussetzung irgendeiner vorbestimmten Wirklichkeit die Erkenntnis nichts anderes als eine Art Übereinstimmung1 wäre. Das Subjekt müßte seine Erkenntnis mit dem Objekt vergleichen, wobei es zu beachten gilt, daß das Subjekt eigentlich nur "dadurch, daß es ein Objekt erkennt"2, das Objekt mit seiner Erkenntnis vergleichen könnte. Als entsprechendes Positivum dieser letzten negativen Überlegung Kants ergibt sich, daß die Bestimmung der Objekte keinesfalls unter der Voraussetzung ihrer Wirklichkeit geschehen kann, sondern vielmehr gilt, daß wir allein durch die Erkenntnis überhaupt zu den Objekten gelangen. Im Zuge der Rekonstruktion des Kantischen Ansatzes hat sich gezeigt, daß die Bestimmung der Dinge nach Kant im Gegensatz zu Aristoteles α priori stattfindet, so daß ein Urteil nur dann erfolgt, wenn ein zunächst bestimmter transzendentaler Gegenstand auch noch als wirklich gesetzt wird. Dies bedeutet weiter, daß das, was gesetzt wird, notwendigerweise etwas Nicht-Wirkliches bzw. ein NichtEmpirisches ist. Die Kantische Bedeutung des Urteils als Setzung bzw. Hinstellung der Wirklichkeit, wonach wir also "a priori auf Objekte gehen"3, läßt sich weiter vertiefen, wenn man nun die Erkenntnis als einen ausgezeichneten Fall von Intentionalität versteht. Die Erkenntnis nimmt nach dem bisher rekonstruierten Ansatz Kants die Form eines Versuches bzw. einer Intention in dem Sinne an, daß der transzendentale Gegenstand auf eine ursprüngliche Anstrengung des Subjekts hinweist, wodurch dieses sich überhaupt befähigt, zu den Objekten zu gelangen. Trotz aller Anstrengungen des Subjekts, die erkenntnistheoretisch gesehen auf nichts anderes als auf den apriorischen Entwurf des transzendentalen Gegenstandes hinauslaufen, hängt es jedoch nach Kant nicht nur von dem Subjekt ab, ob das Objekt auch noch erkannt wird. Diese letzte Feststellung läßt aber die Aufgabe einer Rekonstruktion der transzendentalen Philosophie Kants im Ausgang von dem Begriff der Intentionalität nicht nur nützlich, sondern auch notwendig erscheinen. Denn der Ausdruck "Erkennen" läßt unausweichliche verhängnisvolle Mißdeutungen bezüglich des erkenntnistheoretischen Sinnes der Kantischen Frage nach den Dingen aufkommen, wenn er nicht in seiner intentionalen Bedeutung verstanden 1 Wie in der Überlieferung bis heute auch Kant unterstellt wird, er habe die Wahrheitstheorie der Übereinstimmung vertreten, vgl. Hegel, GHA Bd. 5: S.27; Brentano, F. Wahrheit und Evidenz. Leipzig 1930, S.13; Heidegger, SZ: S.215. Für die Verbindung der Kantischen Wende mit der Wahrheitstheorie und ein genaues Verständnis des Kantischen Wahrheitsbegriffes vgl. Gerold, Prauss Einführung in die Erkenntnistheorie. Darmstadt 1988, S.161 f. und Prauss, Gerold Zum Wahrheitsproblem bei Kant, Kant-Studien, Bd.60, 1969. 2 Vgl. Ak. Bd.9: S.50. Die Wirklichkeit in Anspruch zu nehmen, statt sie als Zweck der Erkenntnis gelten zu lassen, entspräche einem Verhalten vor Gericht, in dem jemand »eine Aussage thue und sich dabei auf einen Zeugen (die Wirklichkeit eben) berufe, den niemand kenne«. Vgl. Ak. Bd.16: S.251 und Bd.24: S.386. 3 A79B105.

3. Inlentionalität als Schlüssel für das Verständnis der Kopernikanischen

Wende

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wird. Wenn man sagt, daß das Objekt nicht allein aufgrund der apriorischen Bestimmung erkannt wird, entsteht als erstes folgender trügerischer Schein, daß nämlich die Objekte durch Erkenntnis gar nicht erkannt werden. Die Erkenntnis würde mithin ausschließlich unsere Vorstellungen betreffen. Dieser erste Schein hat sich aber im Laufe der Herausarbeitung der ursprünglichen Absicht Kants bei der Frage nach den Dinge aufgelöst. Dinge und Objekte sind gar keine Erscheinungen und dennoch müssen sie notwendigerweise zunächst einmal als Erscheinungen betrachtet werden. Ein weiterer Schein ergibt sich, sobald man davon ausgeht, daß die Erkennbarkeit der Dinge ausschließlich auf der Art der Bestimmung beruht, als ob beispielsweise eine wissenschaftliche Betrachtung allein aufgrund vorbestimmter begrifflicher Kenntnis die Erkennbarkeit der Dinge ermöglichen würde. In dieser Perspektive würde ein Objekt nicht erkannt, wenn sich die Bestimmung als falsch erweist, d.h. wenn die jeder Bestimmung zugrundeliegende Begrifflichkeit dem formalen Kriterium des Widerspruches zuwiderlaufen würde. Daraus würde folgen, daß im Irrtumsfall der transzendentale Gegenstand sich entweder gar nicht oder höchstens als ein dichterisches Produkt ergibt. Dieser Schluß erweist sich aber einerseits in sich selbst als widersprüchlich und widerspricht andererseits der Bedeutung der Erkenntnis als Versuch bzw. als Intention, die dem Kantischen Ansatz zugrunde liegt. In sich widersprüchlich ist dieser Schluß deshalb, weil ein Irrtum dann und nur dann als Irrtum gilt, wenn er als unintendiert auftritt, so daß wir im Grunde genommen in einem Irrtum verbleiben, je mehr wir das, was bei dem Irrtum zwar nicht wirklich ist, als etwas Wirkliches hinstellen. Irrtum kann nicht einfach ein "Nichts" bedeuten, sondern vielmehr besteht ein Irrtum dort, wo wir ein "Nichts" als wirklich setzen. Auch die Definition des Irrtums als Dichtung wie beispielsweise durch Frege1 zeigt sich als unangemessen, denn bei der Dichtung gilt stets, daß wir das, wovon ein dichterisches Gebilde handelt, als fingierte Wirklichkeit annehmen und bei dieser Annahme irren wir uns gar nicht. Um diese Weisen des Scheins zu vermeiden und darüber hinaus das Eigentümliche der Kantischen Wende in ihrer Vollständigkeit zu verstehen, muß man auf den Kantischen Begriff der Intentionalität vertiefend eingehen. Daß Objekte allein aufgrund der apriorischen Bestimmimg nicht erkannt werden können, bedeutet im Rahmen der Kantischen Theorie der Intentionalität folgendes: Ein Urteil als eine auf Erkenntnis gerichtete Intention hat sein Ziel immer außer sich, und zwar als die Wirklichkeit des Objekts, die durch einen transzendentalen Gegenstand vermittelt zwar erreicht werden kann, aber nicht erreicht werden muß. Ob das Ziel der Intention erreicht wird, hängt deshalb nicht nur von dem Intendieren eines Intendierten

1

Vgl. dazu Frege, Gottlob Über Sinn und Bedeutung in: Funktion, Begriff, Bedeutung Güttingen 1994, S.48ff.

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II. Intentionalität bei Kant

ab, weil gerade der transzendentale Gegenstand als unentbehrliche Bedingung für die Erkennbarkeit der Dinge ausschließlich die Möglichkeit für die Erkenntnis von etwas verschafft, aber längst nicht seine Erkenntnis im Ganzen erschöpft. Dies hat zur Folge, daß der transzendentale Gegenstand zwar das ist, was gesetzt bzw. hingestellt wird. Jedoch trifft die intendierte Wirklichkeit gerade nicht auf ihn als transzendentalen Gegenstand zu, sondern auf das, was vermittelt durch ihn erreicht wird bzw. ausschließlich auf das Objekt. Durch die Spontaneität des Denkens und ihre ursprüngliche Ausübung auf die Sinnlichkeit kommt demnach das Subjekt stets dazu, sich immer gemäß bestimmten Kategorien und nie gemäß dichterischer Eingebung etwas zu vergegenständlichen. Das entworfene Objekt stellt nämlich das Ergebnis eines erkenntnistheoretischen Versuches dar, d.h. nichts anderes als eine Hypothese. Die entscheidende Konsequenz des nun gewonnenen Standpunkts von Kant besteht demnach in dem radikal neu zu denkenden Sinn von Erkenntnis und Theorie. Erkenntnis als Intention bzw. Versuch ist zunächst einmal etwas Praktisches und läßt sich keineswegs auf das bloße Subjekt-Objekt-Verhältnis reduzieren. Denn vollzieht sich die Bestimmung des Objekts notwendigerweise α priori, so folgt, daß das Subjekt-Objekt-Verhältnis auf keinen Fall als unentbehrliche Bedingung seiner Möglichkeit der Wirklichkeit eines Objekts bedarf, auf das man referiert, um es zu erkennen. Zwischen Subjekt und Objekt besteht gar keine Spaltung, so als müßte es ein schon immer wirkliches Objekt geben, von dem seine Eigenschaften prädiziert werden, um es zu erkennen. Erkannt werden nämlich nach Kant stets Objekte samt ihren Eigenschaften, so daß das Subjekt-Objekt-Verhältnis keineswegs im Sinne der Gerichtetheit eines Subjekts auf ein Objekt zu verstehen ist1. Mit Hilfe des jetzt gewonnenen Begriffs der Intentionalität läßt sich vielmehr sagen, daß das Subjekt-Objekt-Verhältnis nichts anderes ausdrückt als die ursprüngliche Verwirklichung von Subjektivität als intentionale Spontaneität. Denn Intention als Selbs/Verwirklichung impliziert schon immer, daß das Subjekt sich selbst verwirklicht, indem es die Möglichkeiten schafft, um auf etwas anderes bzw. auf ein Objekt intentional auszugehen. Die Gewährleistung von Objektivität fällt deswegen nach Kant ausschließlich dem Subjekt zu, wobei es stets zu beachten gilt, daß die Objektivität als etwas durch Erkenntnis bzw. intentionalen Versuch Gewonnenes nichts Festes ist. Hängt Objektivität von Erkenntnis ab, so kann Objektivität in Frage gestellt werden, sobald erwiesen wird, daß die ihr zugrundeliegende Erkenntnis das Ziel verfehlt.

' Vgl. dazu auch Heidegger HGA Bd.24: S.67 f. Dabei muß daraufhingewiesen werden, daß Heidegger, nachdem er bei Kant zu Recht in der unzertrennlichen Verbindung von Subjekt und Objekt die erste Thematisierung des Begriffes der Intentionalität gesehen hat, das Problem der Verifikation des Urteils im Sinne des Erfolgs einer Intention bei Kant jedoch nicht berücksichtigt hat, so daß die Frage nach dem Sinn der Erkenntnis bei Kant im Zusammenhang mit der Kopemikanischen Wende in der Interpretation Heideggers unbeantwortet bleibt.

4. Erfolg und Mißerfolg der Intention in der Kopernikanischen

Wende

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Was heißt es aber, daß eine Erkenntnis ihr Ziel nicht erreicht? Ist vielleicht eine falsche Erkenntnis dadurch, daß sie ihr Ziel nicht erreicht, gar keine Erkenntnis? Nach Kants Ansicht offenbar nicht. Denn nach ihm gilt, daß einer Erkenntnis "weder die Wahrheit noch der Irrtum angesehen werden kann"1 und sie dennoch damit nicht aufhört, eine Erkenntnis zu sein. In welchem Sinn kann daher von wahrer bzw. falscher Erkenntnis gesprochen werden? Worauf läuft die Kopernikanische Wende hinsichtlich des Zusammenhanges von Erkenntnis und Dingen hinaus? Um auf diese Frage überhaupt eine mögliche Antwort geben zu können, bedarf es einer weiteren Erörterung des Begriffes der Intentionalität.

4. Erfolg und Mißerfolg der Intention in der Kopernikanischen Wende So entschieden Kant in der Kritik der reinen Vernunft der Spontaneität des Denkens durch ihre Ausübung auf die Sinnlichkeit die Möglichkeit zuschreibt, zu den Objekten zu gelangen, so findet man doch in diesem Werk nur eine einzige Stelle, wo Kant ausdrücklich die Wahrnehmung als einen Fall von Spontaneität des Subjekts auf einen intentionalen Akt zurückfuhrt. An der besagten Stelle bezieht Kant das ganze "Feld" der Erkenntnis auf eine "intentionale Tätigkeit"2. Die volle Entfaltung dessen, was bezüglich der intentionalen Bedeutung von Erkenntnis in der Kritik der reinen Vernunft erst intuitiv angedeutet wird, findet sich in der Kritik der Urteilskrafti3. Hier wird die Spontaneität des Denkens auf eine "Kausalität" zurückgeführt, deren Eigentümlichkeit in ihrer "absichtliche[n] Zweckmäßigkeit"4 besteht. Die Spontaneität des Denkens, die den Kern des Subjekts darstellt, wird also als Intentionalität ausgelegt. Solch eine Spontaneität prägt das ganze Feld des subjektiven Intendierens, das sich zunächst einmal im theoretischen Erkennen und weiterhin im praktischen Handeln umsetzt. Theorie und Praxis beruhen daher auf einer gemeinsamen zweckmäßigen Spontaneität, die als "intentionale Tätigkeit" die Theorie wiederum als einen Fall von Praxis bestimmt. Weist Intentionalität auf eine absichtliche Tätigkeit hin, so folgt daraus, daß eine Intention sich immer auf etwas richtet, um eine Absicht zu erfüllen. Intendieren ist demnach stets ein interessiertes. Im Fall der Erkenntnisintention liegt das Interesse in der Erreichung der Außenwelt. Als Faktum von absichtlicher Zweckmäßigkeit ist Intention ferner noch mit Se/taiverwirklichung verbunden, denn das

1

A155 Β194. B128. 3 Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Intentionalität bei Kant. In: Akten des 5. internationalen KantKongresses Mainz. 4.-8. April 1981. Teil 1.2: Sektionen VIII-XIV. Hrsg. von Gerhard Funke. Bonnl981, S.763-771. 4 Ak. Bd.5: S.484. 2

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II. Intentionalität bei Kant

Interesse, das jedem Intendieren zugrundeliegt, ist stets das Interesse von jeweils verschiedenen Subjekten. Bei dem Urteil als einem Fall von Erkenntnisintention muß es daher dem Subjekt um sich selbst gehen. Dies wird deutlich, wenn man an dem Sinn des Urteils als einem Fall von auf die Erreichung der Außenwelt gerichteter Intention festhält. Gerichtet auf die Außenwelt ist die Intention in dem Sinne, daß es zunächst einmal von ihr abhängt, ob die Objektivität der Außenwelt überhaupt gewonnen werden kann, wobei dies alles nur unter der Voraussetzung möglich ist, daß ich es bin, der diese Welt erreicht oder auch nicht erreicht hat. Daher impliziert Spontaneität als Intentionalität, daß sie etwas sein muß, das entweder Erfolg oder Mißerfolg immer im Rückbezug auf ein Subjekt hat1. Daß Erfolg bzw. Mißerfolg notwendigerweise Erfolg bzw. Mißerfolg eines Subjekts sind, ist äußerst wichtig für die Charakterisierung von Subjektivität qua Freiheit gegenüber der Kausalität der Natur. Bei der beispielsweise durch den Wind verursachten Bewegung einiger Blätter eines Baumes geht es nicht um Intentionalität als Fall von Erfolg bzw. Mißerfolg, und zwar deshalb, weil es dabei nicht um Selbstverwirklichung, sondern nur um eine Verwirklichung durch andere Natur geht. Beim Erfolg bzw. Mißerfolg geht es einem Subjekt dagegen stets um sich selbst, denn Erfolg bzw. Mißerfolg setzen schon immer Se/6siverwirklichung voraus. Das Urteil als Se/fofverwirklichung unterscheidet sich jedoch von der Natur nicht dadurch, daß es beim Urteil im Gegensatz zur Natur um die Erreichimg seines Selbst geht. Denn umgekehrt setzt auch Selbstverwirklichung als Verwirklichung voraus, daß das zu erreichende Ziel immer außerhalb der Intention liegt. Daß es um eine Selbstverwirklichung als eine Verwirklichung von sich selbst geht, läßt sich vielmehr nur dadurch verstehen, daß die Erreichung des Zieles stets als Erfolg eines Subjekts auftritt. Beim Urteil ist das, was erzielt werden soll, die Objektivität der Außenwelt. Es ist nun offensichtlich, daß die Herausarbeitung des Kantischen Sinnes von Objektivität sich als die primäre Aufgabe für das Verständnis der Kopernikanischen Wende zeigt. Gerade damit kommen wir auf das Problem zurück, das es zu untersuchen galt und dessen Erörterung wir unterbrochen haben. Denn gilt nach Kant die Gleichung Erkenntnis=Intentionalität, so geht es darum zu verdeutlichen, was es bedeuten kann, daß eine Erkenntnisintention erfolglos oder erfolgreich ist. Rein formal gesehen muß beachtet werden, daß Erkenntnis als Intention nicht auf ein und dieselbe Weise erfolgreich oder erfolglos ist. Denn eine Intention intendiert immer ihren Erfolg und niemals ihren Mißerfolg, so daß Falschheit als

1

Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S. 217 f.

4. Erfolg und Mißerfolg der Intention in der Kopernikanischen

Wende

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Mißerfolg stets als unintendierte Falschheit zu verstehen ist.1 Schon von dieser formalen Charakterisierung der Intentionalität ausgehend läßt sich das Problem einer Bestimmung der Erkenntnis hinsichtlich ihrer Wahrheit bzw. Falschheit voraussehen. Denn intendiert eine Intention immer schon etwas von sich Verschiedenes und niemals sich selbst, so muß notwendigerweise diese Intention, indem sie erfolgt, das zu erreichende Ziel stets vorweg entworfen haben. Und dies muß ferner unabhängig davon gelten, ob die Intention sich als erfolgreich oder erfolglos erweist. Es kann nicht auf die schlichte Tatsache, daß eine Intention schon immer stattfindet, ankommen, ob sie Erfolg oder Mißerfolg hat. Daraus folgt als entscheidende Voraussetzung für ein richtiges Verständnis des Sinnes der Kopernikanischen Wende, daß Erfolg einer Intention nicht einfach darin besteht, daß die Dinge durch das Subjekt vermittelt unmittelbar gegenständlich werden. Denn Gegenständlichkeit macht ausschließlich die unentbehrliche Bedingung für die Erkennbarkeit der Dinge aus, wobei es immer dringlicher wird, zu definieren, was Kant unter "Erkenntnis" der Dinge eigentlich versteht. Aufgrund ihrer selbst intendiert eine Intention immer etwas anderes als sich selbst, so daß negativ gesehen sich zunächst sagen läßt, daß bei unserem Urteil "Dies ist ein Regenbogen" das, was intendiert wird, nicht die Gegenständlichkeit des Regenbogens ist, denn auch im Fall eines Wahrnehmungsirrtums ist ein Regenbogen gegenständlich. Das, was intendiert wird, ist vielmehr die Wirklichkeit von etwas Anderem als es selbst, die, eben weil sie nur intendiert wird, nicht immer schon vorausgesetzt werden darf, sondern im Mißerfolgsfall auch ausbleiben kann. Erkennen eines Regenbogens heißt somit "als-wirklich-Hinstellen" eines Regenbogens. Erfolg bzw. Mißerfolg läßt sich deshalb positiv gesehen als nichts anderes verstehen, als das jeweilige Auftreten bzw. Ausbleiben der Wirklichkeit eines immer schon gegenständlichen Etwas. Die Intention hat ihren Erfolg ausschließlich hinsichtlich der damit gemeinten Objektivität, so daß Kant einen strengen Nominalismus der Wahrheit vertritt. Eine Berücksichtigung der Erkenntnis hinsichtlich der ihr zugehörenden Wahrheit bzw. Falschheit führt hingegen unausweichlich zu der Absurdität, eine Differenz zwischen verschiedenen Urteilen wie "Dies ist ein Regenbogen" und "Dies ist rund" hinsichtlich ihres Wahrheitswertes zu formulieren, so als wäre das eine Urteil mehr und das andere weniger wahr oder als würden sie an einer selbigen "Wahrheit" teilhaben. Urteilen entspräche in dieser Perspektive der Zergliederung ein und derselben Wahrheit, wobei es anzumerken gilt, daß dies alles immer nur auf eine bloß formale Definition der Wahrheit hinauslaufen kann. Denn was kann es denn bedeuten, daß "Dies ist rund" und "Dies ist ein Regenbogen" wahre Urteile sind, weil sie im Grunde genommen wahr sind?

1

Lüge wäre als Fall von Handlung zu betrachten.

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II. Intentionalität bei Kant

Sobald der Wahrheitswert einer Aussage in Anspruch genommen wird, um eine Realdefinition der Wahrheit zu formulieren, wird eigentlich die Frage nach der Wahrheit vergessen1. Nur die Rückführung der Frage nach der Wahrheit auf diejenige nach der Wirklichkeit läßt daher nach Kant die Möglichkeit einer Realdeflnition der Wahrheit zu, denn wahr ist eine Erkenntnis in dem Sinne, daß sie als Intention Erfolg hat, d.h., daß das jeweilige Etwas, das intendiert worden ist, sich als wirklich ergeben hat. Bei der Sachlage einer nominalistischen Wahrheitstheorie geht es also zuerst darum zu klären, worauf es ankommt, daß das Objekt sich als wirklich ergeben hat und dadurch die Intention Erfolg gehabt hat. Denn ist die Intention ein NichtEmpirisches, so kommt es gewiß nicht dem transzendentalen Gegenstand, sondern vielmehr dem empirischen Ding zu, objektiv wirklich zu sein. Daraus folgt also: So wie die Intention ausschließlich das Subjekt angeht und so wie es einzig auf das Objekt ankommt, ob es in seiner Empirizität vorliegt, so wird doch Wahrheit von nichts anderem als von beiden ausgehend, d.h. von Objektivität und Subjektivität in ihrem Zusammenspiel verständlich. Wenn wir nun die Intentionalitätssprache auf die Kantische Begrifflichkeit übertragen, läßt sich folgendes sagen: Die Intention weist auf nichts Geringeres als die Erscheinung im Sinne eines Phänomens eines Dinges für ein Subjekt hin. Angenommen, daß eine Intention sich als erfolgreich zeigt, kann das empirische Ding von uns immer als ein Phänomen erkannt werden bzw. es, das physische Objekt, als Erscheinung betrachtet werden. Denn nur durch die Erkenntnis, d.h. durch eine Intention, wird gerade es, das empirische Objekt selbst, einem Subjekt überhaupt zugänglich. Die Erkennbarkeit der Dinge liegt daher in den transzendentalen Strukturen des Subjekts, so daß Verstand und Sinnlichkeit gar nicht als Hemmungen für die Erkennbarkeit der Dinge, sondern umgekehrt als eine eigentliche Gabe der Natur für sie gelten. Als eigentliche Gabe gilt aber auch die Empirizität der Dinge, denn sie zeigt sich der Intention gegenüber als ein Fall von reiner Faktizität bzw. Kontingenz, denn - wie wir gesehen haben -eine Intention hat Erfolg nicht dadurch, daß man intendiert, sondern dadurch, daß das Ziel der Intention erreicht wird. Trotz aller Anstrengungen des Subjekts hängt also der Erfolg nicht ausschließlich von ihm selbst ab. Vor diesem Hintergrund muß man nun die Frage nach den Dingen in ihrem inneren Zusammenhang mit derjenigen nach der Subjektabhängigkeit ihrer Erkenntnis weiter radikalisieren. Es geht also darum, auf das Eigentümliche von Subjektivität und Objektivität im Zusammenspiel einzugehen. Es muß, mit anderen

' Bezüglich des Nominalismus der kantischen Wahrheitstheorie vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S. 171, Prauss, Gerold Einführung in die Erkenntnistheorie. Darmstadt 1988, S.152 f. und Prauss, Gerold Intentionalität bei Kant. In: Akten des 5. internationalen KantKongresses Mainz. 4.-8. April 1981. Teil 1.2: Sektionen VIII-XIV. Hrsg. von Gerhard Funke. Bonn 1981, S.765.

5. Intentionalität und Gegenständlichkeit: Selbstverhältnis und

Fremdbestimmung

Worten, erläutert werden, wie das Subjekt als Intentionalität durch sich ein objektives Ding als Gegenstand erst gewinnt und in welchem Sinn die Faktizität die Intention erfolgreich sein läßt bzw. nicht.

5. Intentionalität und Gegenständlichkeit: Selbstverhältnis und Fremdbestimmung Aus dem bisher rekonstruierten Kantischen Begriff der Intentionalität hat sich erwiesen, daß das Subjekt allein durch sich selbst die Objektivität der Außenwelt ermöglichen kann. Dies hat als erstes zur Folge, daß das Subjekt durch sich zunächst die Gegenständlichkeit von Etwas gewinnen muß und daß es zu deren Gewinnung daher nichts anderes als sich selbst verwirklichen muß. Als zweites impliziert es, daß die Verwirklichung des Subjekts als eine Art Verwirklichung zum einem die Form betrifft, in der das Subjekt als Verstand in ein eigentümliches Verhältnis zu sich tritt und dadurch seine eigene Sinnlichkeit gestaltet. Als subjektive betrifft aber zum anderen und vor allem die Verwirklichung des Subjekts diese seine eine Form einzig aus ihrem Sich-selbst-ergeben heraus, indem also das Subjekt sich selbst formt. Dies alles zwingt zu einer Entfaltung der Kantischen Problematik des Verhältnisses von Verstand und Sinnlichkeit zueinander bis hin zur Leib - Seele - Problematik. Die Erläuterung der Gegenständlichkeit als des grundsätzlichen, wenn auch nicht des einzigen Bestandteils der Frage nach der Objektivität fängt daher mit einer weiteren Entfaltung des Kantischen Ansatzes bezüglich des Ursprungs der Subjektivität in der Ausübung der VeTstandestätigkeit auf die Sinnlichkeit an. Nach dem bisher rekonstruierten Kantischen Ansatz erfolgt Fremtierkenntnis einzig aus einer intentionalen Handlung, die primär der Spontaneität des Verstandes (wenn auch immer auf die Sinnlichkeit bezogen) zuzuschreiben ist, so daß die Gewinnung der Gegenständlichkeit zunächst einmal erklärt werden muß als die Art und Weise, wie Subjektivität sich selbst verwirklicht und somit intentional sich selbst in die Lage versetzt, die Objektivität der Außenwelt zu erreichen. Daraus folgt, daß das Subjekt der Rezeptivität der Sinnlichkeit bedarf, um überhaupt zu seiner Verwirklichung zu gelangen, so daß es bei der Gegenständlichkeitsproblematik im Grunde genommen darum geht zu erklären, wie Verstand und Sinnlichkeit als einander entgegengesetzte Vermögen dennoch eine Einheit bilden. Wenn auch die Spontaneität des Verstandes gegenüber der Rezeptivität der Sinnlichkeit in der Gewinnung der Gegenständlichkeit einen Vorrang hat, wäre es allerdings ein Irrtum, die Rezeptivität selbst dem Verstand zuzuschreiben. Denn einen Nachrang hat die Sinnlichkeit dem Verstand gegenüber nur in dem Sinne, daß ihr allein die Fähigkeit des Bestimmt-werden-könnens eignet, so wie diejenige des Bestimmen-könnens dem Verstand zukommt. Die Sinnlichkeit stellt also das

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II. Intentionalität bei Kant

Bestimmbare dar, der Verstand das Bestimmende, wobei anzumerken ist, daß ein Subjekt stets als ein für sich selbst bestimmt wirkliches, d.h. als ein aus sich selbst heraus wirksames, nämlich als wirkliche Einheit gerade der einander entgegengesetzten Vermögen von Sinnlichkeit und Verstand auftritt. Von zwei zueinander gegensätzlichen verwirklichten Vermögen in ihrer ursprünglichen Einheit und nicht von einer den zwei gegensätzlichen Vermögen zugrundeliegenden Einheit, wie dies beispielsweise Heidegger in seiner Untersuchung der Einbildungskraft1 tut, muß man also ausgehen, um auf die Frage eine Antwort zu geben, wie die Spontaneität des Denkens qua "absichtliche Tätigkeit"2 sich auch noch in die Tat umsetzt. Dabei muß jedoch von vornherein folgendes hervorgehoben werden: Obwohl Kant sich stets darum bemüht hat, Sinnlichkeit und Verstand in all ihrer Gegensätzlichkeit zu berücksichtigen, ist er niemals zu einer vollen Entwicklung ihres jeweils zugeordneten Ranges und der sich daraus ergebenden komplexen Einheit gekommen. An drei Stellen der Kritik der reinen Vernunft zeigt sich am deutlichsten diese Schwierigkeit bei Kant. In der Transzendentalen Ästhetik behauptet er ausdrücklich die Möglichkeit einer Bestimmung der Sinnlichkeit "vor aller Handlung irgend etwas zu denken", als ob die Sinnlichkeit selbst durch irgendeine ihr eigentümliche "Tätigkeit" "sich selbst affizieren" könnte und dies selbst "ohne Spontaneität"3 geschähe. Die Behauptung einer Wirklichkeit der Sinnlichkeit völlig abgelöst von der Ausübung des Verstandes auf sie wird von Kant in der zweiten Ausgabe der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe noch einmal wiederholt. Hierbei ist jedoch Kant selbst auf die daraus entstehende Schwierigkeit einer unabhängigen Wirklichkeit der Sinnlichkeit aufmerksam geworden. Nachdem er gesagt hat, "daß das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein muß"4, bemerkt er gleichzeitig, "wie" das Geschehen solch einer Affektion verurteilt sei, "unbestimmt"5 zu bleiben. Der Satz, der diesem Gedanken folgt, scheint bezüglich der von Kant immer wieder versäumten Möglichkeit einer richtigen Zuordnung der Sinnlichkeit zum Verstand von besonderer Bedeutung zu sein. Er fährt fort: "Denn, wollte ich mir einen

1 Für die Durchführung der Heideggerschen These des Primates der Einbildungskraft vor Sinnlichkeit und Verstand vgl. HGA Bd.3: S.138-171 und Bd.25: S.89 f. und S.150f. Für die daraus entstehende Schwierigkeit, die Einheit zweier gegensätzlichen wie Sinnlichkeit und Verstand ausgehend von der Einbildungskraft zu denken, vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S.298 f. 2 Ak. Bd.5: S.484. 3 B68. Kursiv von mir. 4 Β145. Kursiv von mir. 5 Ebd.

5. Intentionalität

und Gegenständlichkeit:

Selbstverhältnis

und

Fremdbestimmung

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Verstand denken, der selbst anschaute ..."'. Genau das "Denn", das dem Satz die Form einer Schlußfolgerung gibt, läßt folgendes vermuten: Obwohl sich Kant eigentlich der Schwierigkeit bewußt ist, die Möglichkeit einer Synthesis unabhängig von dem Verstand als eine durch nichts gerechtfertigte Hypothese anzunehmen, sieht er in der gegenteiligen Möglichkeit einer durch den Verstand ermöglichten Wirklichkeit der Sinnlichkeit die Perspektive des absoluten Idealismus bedrohlich nahe kommen. Ein durch den Verstand ermöglichtes Hervorrufen einer Vorstellung bedeutet nämlich für ihn soviel wie eine Hervorbringung einer Vorstellung aus dem Nichts bzw. eine Hervorbringimg durch einen Verstand, "der selbst anschaute"2, mithin eine Erschaffung der Vorstellung durch das Subjekt allein. Der Engpaß, der sich aus der Annahme einer vom Verstand unabhängigen und dadurch selbstständigen Wirklichkeit der Sinnlichkeit unausweichlich ergibt, wurzelt eigentlich in einer anscheinend selbstverständlichen Überlegung, mit der die Kritik der reinen Vernunft nicht zufällig und nicht nur wörtlich beginnt, weil sie vielmehr des sorgfältigsten Nachdenkens bedürftig ist. In der zweiten Einleitung der Kritik der reinen Vernunft genauso wie in der ersten setzt Kant als unbezweifelbar voraus, "[d]aß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange [...]; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschehe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen So selbstverständlich die Erkenntnis mit der Erfahrung anfangt, ist durchaus nicht offensichtlich, daß die "Ausübung" des Erkenntnisvermögen durch die "Gegenstände" vermittelt geschehen muß. Dies soll in der Tat als eine schlicht naive Voraussetzung gelten. Gerade aufgrund der Annahme, daß die Gegenstände die Vorstellungsvermögen "in Bewegimg bringen", bleibt völlig verborgen, wie aus dieser eigenartigen, schlicht dogmatisch vorausgesetzten Bewegungsreaktion heraus bzw. aus dieser "durch [die] Gegenstände" verursachten Erweckung heraus Vorstellungen und Gedanken "in Bewegung" gebracht werden können. Denn wenn etwas unbezweifelbar ist, so ist es weniger der Ursprung der Erkenntnis durch Erfahrung als viel mehr der Umstand, daß Vorstellungen und Gedanken, noch bevor sie in Bewegung gebracht werden können, erst einmal hervorgebracht werden müssen, und zwar nicht durch Gegenstände, sondern, wenn überhaupt, dann vom Subjekt selbst. Aus dem zuletzt Gesagten dürfte also nicht mehr unverständlich bleiben, weswegen das, was für Kant in der Einleitung der Kritik der reinen Vernunft eigentlich unbezweifelbar sein müßte, d.h. daß "die Gegenstände" es sind, die "das Vor1 2 3

Ebd. Ebd. B1. Kursiv von mir.

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II. Intentionalität bei Kant

Stellungsvermögen" "erwecken" oder "in Bewegung bringen"1, ihm nach und nach fraglich wird. Versucht man also, die Frage nach der Gegenständlichkeit und die damit verbundene Frage nach der Hervorbringung von Vorstellungen und Gedanken ausgehend von den Gegenständen als ihrer dogmatisch vorausgesetzten Ursache zu bewältigen, so ist die Gegebenheit des Mannigfaltigen dazu verurteilt, "unbestimmt" zu bleiben, wie sie es für Kant in der Deduktion auch tatsächlich bleibt. Dazu muß allerdings folgendes angemerkt werden: Indem Kant die selbständige Wirklichkeit der Sinnlichkeit als eine aufgrund ihrer Unbestimmbarkeit unvertretbare Voraussetzung erkennt, versucht er unmittelbar den gegenteiligen Weg einer durch den Verstand ermöglichten Wirklichkeit der Sinnlichkeit zu begehen. Dadurch spitzt er die Schwierigkeit, den Ursprung von Vorstellungen und Gedanken ausgehend vom Subjekt zu erklären, ohne für die idealistische Lösung einer Hervorbringung derselben aus dem Nichts Partei zu ergreifen, bis zur äußersten Konsequenz zu, wie der den Überlegungen Kants folgende Satz, "[d]enn, wollte ich mir einen Verstand denken, der selbst anschaute .. ,"2, bezeugt. Wie man ausgehend von der Tätigkeit des Subjekts, ohne sich auf eine absolute idealistische Lösung stützen zu müssen, die Wirklichkeit der Sinnlichkeit erklären kann, stellt sich also für Kant als eine neue Aufgabe. Dabei geht es nicht einfach darum, zu verdeutlichen, wie Verstand und Sinnlichkeit als zueinander gegenteilige Vermögen in einer Einheit stehen, sondern wie sie bei all ihrer Gegenteiligkeit in ihrer ursprünglichen Einheit auch noch einander zugeordnete Vermögen bilden. Denn läßt sich die Wirklichkeit der Sinnlichkeit ausgehend vom Verstand erklären, dann muß konsequenterweise der Verstand der Sinnlichkeit gegenüber einen Vorrang haben. Einen Vorrang hat der Verstand in dem Sinne, daß er Ursache fur die Sinnlichkeit als Wirkung ist, wodurch das Subjekt sich aus sich selbst heraus für anderes rezeptiv macht. Diese gegenseitige Zuordnung von Sinnlichkeit und Verstand wird von Kant selbst, wenn auch zunächst nur intuitiv, in einer späteren Anmerkung 3 in der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in Betracht gezogen. Hierbei bemerkt er ausdrücklich, daß die Wirklichkeit des Subjekts eine "Einheit" voraussetzt, die er "in der Ästhetik bloß zur Sinnlichkeit gezählt" (B161) habe, und die er nun im Gegensatz dazu als auf den Verstand zutreffend bezeichnet, "indem [dieser] die Sinnlichkeit bestimmt" 4 . Aus der Bestimmung der Sinnlichkeit durch den Verstand bzw. aus einer "Synthesis, die nicht den Sinnen angehört" 5 ergibt sich das, was Kant "formale An1 2 3 4 5

Ebd. B145. B161. Ebd. Kursiv von mir. Ebd.

5. Intentionalität

und Gegenständlichkeit:

Selbstverhältnis

und

Fremdbestimmung

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schauung"1 nennt. Als formale wird hier die Anschauung definiert, um sie von der Anschauung als inhaltlicher weiter zu differenzieren. Denn zweifelsohne kommt ihr Inhaltliches von außen, doch liegt dem Inhaltlichen ein Rezipieren dieses Inhaltlichen in einer Form zugrunde. Gemäß den in der Anmerkung der Deduktion erst intuitiv entfalteten Überlegungen, wonach die Zuordnung von Verstand und Sinnlichkeit bei all ihrer Gegensätzlichkeit aus einer vorrangigen Synthesis (Ausdehnung) des Verstandes erfolgt, verweisen die Vertiefungen Kants bezüglich der verschiedenen Arten der Synthesis des Verstandes in der späten Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik. Hier tritt deutlich in Erscheinung, wie Kant die Perspektive einer der bloßen Anschauung zugrundeliegenden Synthesis weiter verfolgt. Dazu bemerkt er nicht nur, daß "die Vorstellung eines Zusammengesetzten [...] nicht bloße Anschauung ist, sondern den Begriff einer Zusammensetzung erfordert"2. Vielmehr stellt er auch klar, daß Begriff der Anschauung "samt dem seines Gegentheiles, des Einfachen" "nicht von Anschauungen" deduzierbar ist, "als" wäre die hier genannte Anschauung eine "in diesen [den Vorstellungen] enthaltene Theilvorstellung abgezogen, sondern", daß sie "ein Grundbegriff ist"3. Der Unterschied von "formaler" und "inhaltlicher" Anschauung zeigt sich hier in ihrer Komplexität noch deutlicher strukturiert als zuvor in der Deduktion: Denn die Anschauung stellt hier einen gemeinsamen Grundbegriff zusammen mit dem gegenteiligen Begriff des Verstandes dar. Genauer weist die hier benannte Anschauung auf eine ursprüngliche Synthesis zweier Bestandstücke - Verstand und Sinnlichkeit - hin, wodurch sich jede Ausdehnung vollzieht. Formal gesehen kennzeichnet somit der Grundbegriff "Anschauung" die eigenartige Verwirklichung einer Form ("formale Anschauung"), wodurch die Einstellung dieses oder jenes Inhaltes überhaupt ermöglicht wird. Inhaltlich gesehen markiert derselbe Grundbegriff "Anschauung" hingegen das Auftreten dieses oder jenes spezifischen Inhaltes ("inhaltliche Anschauung") in Form der jeweiligen Ausübungen des Verstandes auf die Sinnlichkeit. Wenn die Anschauung sich aus der Ausübung des Verstandes auf die Sinnlichkeit ergibt, dann kommt Kant zum folgenden Schluß: daß "so viele Begriffe a priori im Verstände liegen werden, worunter die Gegenstände, die den Sinnen gegeben werden, stehen müssen, als es Arten der Zusammensetzung (Synthesis) mit Bewußtseyn, d.i. als es Arten der synthetischen Einheit der Apperzeption des in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen gibt"4. Denn werden "Gegenstände" dadurch "den Sinnen gegeben", daß im Subjekt diese oder jene Vorstellung aufgrund einer durch den Verstand entworfen Rezeptivität in seiner Sinnlichkeit auf1 2 3 4

Ebd. Ak. Bd.20: S.271. Ebd. Ebd. Kursiv von mir.

64

Π. Intentionalität bei Kant

tritt, so muß die Bildung eines Begriffes als das Ergebnis der Verwirklichimg des Verstandes im Zusammenspiel mit einer ihm gegenüber gegenteiligen Form zugleich mit der Bildung der Anschauimg je neu geschehen. Diese letzten Überlegungen Kants beinhalten nun die nötigen Angaben für die Entwicklung der Frage nach der Zuordnung zweier zueinander gegenteiligen Vermögen wie Verstand und Sinnlichkeit in ihrer ursprüngliche Einheit, wenn man folgendes bedenkt: Die Einheit zweier Gegenteiliger läßt sich ausschließlich als Synthesis (Ausdehnung) denken, womit das Subjekt (als Einheit von Verstand und Sinnlichkeit) auf keinen Fall von Anderem, sondern von sich bzw. aus sich selbst heraus sich selbst in Bewegung setzt. Dadurch werden diejenigen Möglichkeiten geschaffen, wodurch allein das Subjekt auch noch bei sich ankommen kann, so daß es bei seinem Sich-selbst-ankommen nicht sich selbst für sich, sondern sich "etwas" für sich selbst versinnlicht bzw. sich selbst für "etwas" affizierbar macht. Dies hat zur Folge, daß die Gegensätzlichkeit in dieser Einheit sich als diejenige einer "spontanen" Rezeptivität erklären läßt. Radikalisiert man diesen letzten Ansatz Kants in dem Sinne, daß die Rezeptivität der Sinnlichkeit als FraMifoestimmung ausschließlich aufgrund des Selbstverhältnisses überhaupt möglich ist, so wird das Unbezweifelbare, daß die "Gegenstände" es sind, die "das Vorstellungsvermögen" "in Bewegung bringen"1, zum Bezweifelbarsten überhaupt. Denn genau besehen ist es die Bewegung der Vorstellungsvermögen, welche die Fremdbesüxnmxmg ermöglicht2, so daß man im Grunde genommen von Fremdbestimmung nur reden darf, insofern bei jeder Bestimmung das Fremde allein als Körper zu einer zu verwirklichenden Möglichkeit zur Verfügung stehen muß. Belege dieser radikalen Umkehrung hinsichtlich des Verhältnisses von Verstand und Sinnlichkeit finden sich im Opus Postumum. An einer Stelle schreibt Kant unzweideutig, "daß die Rezeptivität der Erscheinung auf der Spontaneität beruht"3, wobei zu bemerken gilt, daß hier Erscheinung als Synonym für Sinnesdaten benutzt wird. Noch bedeutsamer bezüglich der besagten Umkehrung Kants scheint aber eine zweite Stelle im Opus Postumum zu sein. Nachdem Kant noch einmal wiederholt, daß der Rezeptivität, "Sinnenvorstellungen zu haben"4, die Spontaneität des Verstandes als eine "relative", d.h. stets auf die Sinnlichkeit "relative" oder bezogene, zugrunde liegt, kommt er zum Schluß, daß "die Erfahrung nicht das Mittel, sondern der Zweck der Erkenntnis ist"5.

'Bl. Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S.304. Ak. Bd.22: S.535. Kursiv von mir. 4 Ebd. S.493. 5 Ebd. S.493. Vgl. auch Baumgarten, Hans-Ulrich „ Wir machen alles selbst". Kants Transzendentalphilosophie im Opus postumum Kant-Kongress, Berlin 2000. 2

3

6. Inhalt und Form der Affektion

65

Wenn in der Einleitung der Kritik der reinen Vernunft Kant noch voraussetzt, daß die "Gegenstände" es sind, welche die Vorstellungsvermögen "erwecken" bzw. "in Bewegung" bringen, und daß "alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange"1, erwirbt beim späten Kant das Verhältnis "Vorstellungsvermögen" "Gegenstände" den folgenden intentionalen Sinn: Die Erfahrung wird zum Zweck der zu erreichenden Objektivität, so daß die Gegenständlichkeit als Mittel der Erkenntnis ihre Ursache innerhalb der Subjektivität hat, als die Fähigkeit, sich selbst zu verwirklichen bzw. zu "entwerfen"2, indem man sich eine Vorstellung vom Anderem seiner selbst aus sich selbst heraus um eines Zwecks willen bildet. Die späte Entdeckung der Intentionalität bei Kant, die der Gegenständlichkeit zugrunde liegt, löst dennoch das Problem bezüglich des komplexen Verhältnisses der zwei zueinander gegensätzlichen Vermögen wie Verstand und Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Einheit nicht auf. Dadurch wird im Gegenteil das Problem, das es zu bewältigen gilt, überhaupt erst sichtbar. Denn zweifelsohne wird eine Vorstellung durch das Subjekt und nicht durch das Objekt aus sich selbst heraus hervorgebracht, und so stellt sich die Frage, wie sie, die Vorstellung, auch noch Vorstellung von Anderem ihrer selbst sein kann. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, zu erklären, wie Subjektivität als freies Se/ftsiverhältnis, kurz als Spontaneität, sich selbst verwirklicht, indem sie sich auch noch vom Anderen/remJbestimmen läßt. Es geht also darum, zu verdeutlichen, wie und was uns affiziert.

6. Inhalt und Form der Affektion Aus der Entfaltung der gegenseitigen Zuordnung von Verstand und Sinnlichkeit hat sich ergeben, daß der FremJbestimmung der Sinnlichkeit notwendigerweise die Spontaneität des Verstandes zugrunde liegt. Von da her geht es jetzt darum, auch noch zu erklären, wie unter der obengenannten Bedingung der Selbstausdehnung des Verstandes die Fremdbestimmung der Sinnlichkeit stattfindet. Dabei muß aber noch einmal das Folgende in Erinnerung gerufen werden: Obwohl die späten Überlegungen Kants eindeutig jene volle Umkehrung zeigen, wonach nicht die Gegenstände es sein sollen, welche die Vorstellungsfähigkeiten "in Bewegung" bringen, sondern umgekehrt die Vorstellungsfähigkeiten es sind, welche die Fremderkenntnis von Objekten ermöglichen, bleibt Kant auch in seinen späten Überlegungen bei einer negativen Definition bezüglich des Inhalts und der Form der Affektion stehen.

1 2

Bl. Ak. Bd.5: S.68.

66

II. Intentionalität bei Kant

Dieser negativen Definition gemäß läßt sich die "Ursache" der Vorstellungen in uns einzig als eine "intellegible" "Ursache" kennzeichnen. Das Negative der Definition, die also die "Ursache" der Vorstellungen mit dem Ausdruck "intellegible Ursache"1 markiert, geht aus dem Folgenden hervor: Als "intellegible" definiert Kant die "Ursache" der Vorstellungen deshalb, weil sie nicht sinnlich ist und weil sie auch noch der Erfahrung vorhergeht, ohne jedoch außerhalb von ihr zu liegen. So eindeutig Kant sich also im Klaren darüber ist, daß die "Ursache" der Vorstellungen eine nz'cAfsinnliche ist und darüber hinaus auch nicht dem Objekt "da draußen" entsprechen kann, vor allem da "die Erfahrung" gemäß seinen späten Überlegungen "nicht das Mittel, sondern de[n] Zweck der Erkenntnis" darstellt, so läßt er aber demnach völlig unerklärt, mit welcher positiven Bedeutung all diese negativen Abgrenzungen der "intellegiblen Ursache" als w'cAisinnlich und als vor der Erfahrung liegend, aber doch nicht außerhalb von ihr, zu ersetzen sind. Dies Problem wird von vielen Kritikern, welche die Hegeische Interpretation2 der Vorstellungen in einer Cartesianischen Weise in Anspruch nehmen, um ihren Ursprung zu erklären, oft übersehen. Sie vernachlässigen das, was all diese negativen Abgrenzungen der "intellegiblen Ursache" zum Ausdruck bringen: Zum einen die Notwendigkeit zu erklären, daß der Grund, der Kant dazu treibt, die "Ursache" der Vorstellungen als eine "intellegible" zu charakterisieren, mit seinem Ansatz, demgemäß der Verstand einen Vorrang vor der Sinnlichkeit hat, zusammenhängt. Zum anderen die daraus folgende Notwendigkeit, sich mit dem Problem der Herkunft der Vorstellungen auseinanderzusetzen, um zu verdeutlichen, wie nach dem Kantischen Ansatz der Weg einer solipsistischen Aufhebung der Wirklichkeit in den Vorstellungen vermieden wird. Dies alles heißt im Grunde genommen, positiv zu explizieren, was in Kants Definition der "intellegiblen Ursache" nur negativ zum Ausdruck kommt, nämlich daß nicht trotz, sondern gerade aufgrund des Vorranges des Verstandes vor der Sinnlichkeit die Vorstellungen Vorstellungen von Anderem ihrer selbst sind. Denn ungeachtet dieser letzten Anmerkungen ist dieser Teil der Kritik dazu verurteilt, die These zu vertreten, die schon von Jacobi vertreten wurde, daß Kant mit seinen negativen Abgrenzungen der "Ursache" der Vorstellungen als "intellegible" und "nicht sinnlich" meine, sie, die "Ursache", sei gerade die Vorstellung selbst in uns3. Wie wir schon gesehen haben, entstehen aber für Kant die Schwie1

Vgl. u.a. A494 B522. Vgl hier Kap.I, §2 und §4. 3 Für die Schwierigkeiten und das Mißverständnis, die Kantische Theorie der Erkenntnis auf aristotelische oder platonische Weise zu verfalschen vgl. hier Kapitel I, §4, S.18f. Dabei muß femer das bemerkt werden, was im Anschluß an Prauss Allison entwickelt. Er verweist nämlich auf die Notwendigkeit, Schwierigkeiten, Sachgehalte und Ziel der Kantischen negativen Abgrenzungen bezüglich des Affektionsproblems genauer in den Griff zu nehmen. Vgl. dazu Allison, Henry E. Kant's Transscendental Idealismus. An Interpretation and Defence. New Haven and Londonl983; vor allem S. 247254 und S. 265-267. 2

6. Inhalt und Form der Affektion

67

rigkeiten Schritt für Schritt bis zu den späten Überlegungen gerade aus dem Umgekehrten, daß die Vorstellungen zuerst hervorgebracht werden müssen, und zwar vom Subjekt. Im Gegensatz zu jener Kritik, die das Problem der Affektion in der schlicht vorausgesetzten Annahme einer Affektion durch die Vorstellungen unberührt liegen läßt, geht es dabei vielmehr darum, die negativen Abgrenzungen Kants bezüglich der "intellegiblen Ursache" der Vorstellungen wieder aufzunehmen, um auf sie einzugehen und zu den entsprechend positiven Bedeutungen zu gelangen, deren sie bedürfen. Besonders an drei Stellen, in der Kritik der reinen Vernunft und in den Prolegomena, zeigt Kant anhand einiger Beispiele die Schwierigkeit, im Ausgang von den Vorstellungen den Weg bis zum Objekt, das in uns diese Vorstellungen erregt hat, zurück zu gehen. Die besagte Schwierigkeit besteht nach Kant zunächst einmal darin, daß beispielsweise eine bestimmte "Rose" da draußen "jedem Auge in Ansehung der Farbe [als der Farbempfindungen bzw. Vorstellungen] anders erscheinen kann"1. Aus dieser nur scheinbar belanglosen Anmerkung kommt man aber zur folgenden wichtigen Festlegung, daß die Vorstellung als etwas Mentales keineswegs außerhalb des Mentalen, d.h. im Objekt, wie z.B. in der Rose, sondern ausschließlich innerhalb des Mentalen selbst ihre Ursache hat. Mit anderen Worten: Fragt man nach dem Ursprung der Vorstellungen in uns, gelangt man unausweichlich wieder zurück auf uns selbst als "Ursache" derselben, so daß das Mentale die Form eines Zirkels annimmt, wo sich Anfang und Ende ausschließlich innerhalb des Zirkels differenzieren. Soll es gelten, daß die Vorstellungen Produkt unseres Vorstellungsvermögens sind, so kann sich die "Ursache" derselben gemäß der zirkelhaften Struktur des Mentalen nur in uns befinden. Trotz der Zirkelhaftigkeit des Mentalen, wodurch "Ursache" und "Wirkung" als ineinander differenziert zusammengehören, unterliegt es aber für Kant auch keinem Zweifel, daß die Vorstellung "es eigentlich sei, was gar nicht antizipiert werden kann"2 und daß sie somit ihren Inhalt von außen bekommen3. Aus dem zuletzt Gesagten läßt sich also eine wichtige Differenzierung ablesen, welche die Überlegungen Kants bezüglich Form und Inhalt der Affektion ständig begleitet, als wäre Kant dadurch quasi zu einer undiskutierbaren Sicherheit gelangt. Wenn nämlich die Vorstellung als rein Mentales nur wiederum im Mentalen selbst ihre "Ursache" hat, so daß sich sogar die Frage stellt, ob sie, die Vorstellung, nicht vielleicht aus dem Nichts entsteht, so schließt Kant daraus das Folgende: Daß die Vorstellung durch ein Inneres produziert wird, schließt notwendiger1

A28. Kursiv von mir. Al 67 B209. 3 Der Ausdruck »von außen« heißt nicht notwendigerweise »vom Objekt«, sondern möglicherweise bloß »vom Körper«, vgl. hier Kap.II, §7. 2

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II. Intentionalität bei Kant

weise nicht aus, daß sie dennoch Vorstellung von etwas Äußerem sei. Im Gegenteil folgt aus der Kantischen Differenz zwischen "Ursache" bzw. "Grund" der Vorstellungen als einem Inneren und "Herkunft" derselben als einem Äußeren, daß der Leitfaden fur eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem Inhalt und der Form der Affektion in einer komplex eigentümlichen Wechselwirkung von Außen und Innen zu finden ist. Denn so sicher es ist, wie Kant anhand eines Beispieles in den Prolegomena bemerkt, daß ein Objekt wie beispielsweise ein Zinnober "eine Empfindung in mir erregt", ebenso unbezweifelbar ist es, daß die dadurch "erregte" Rotempfindung mit der "Eigenschaft des Zinnobers" keine unmittelbare "Ähnlichkeit"1 hat, so als wäre quasi der Zinnober selbst die "Ursache" bzw. der Grund der Rotvorstellung. Gemäß der durch Kant gewonnenen Unterscheidung des Inhaltlichen der Vorstellung, das notwendigerweise von außen kommt, von dem Formalen derselben, das hingegen durch ein Inneres hervorgebracht wird, bleibt also das Eigentümliche dieser "Ursache" als dieses Formalen im Traum wie im Wachzustand noch aufzuklären. Denn im Traum oder bei einer Halluzination ist zwar kein objektiv wirkliches Objekt anwesend, aber dem Geträumten oder Halluzinierten entspricht jeweils das Vorgestellte von einem Regenbogen, einer Rose, einem Zinnober usw., also Vorstellungen von etwas Äußerem, und nichtsdestoweniger sind sie demnach durch ein Inneres hervorgebracht. Berücksichtigt man weiterhin, daß man auch im Wachzustand nur nachträglich und in formaler Hinsicht von der Anwesenheit dieses Regenbogens, dieser Rose, dieses Zinnobers usw. reden darf, so wird verständlich, weshalb Kant den Grund der Vorstellungen als eine nicht sinnliche "Ursache" bzw. nicht "als Objekt" 2 anschaubar, d.h. als etwas Formales, definiert. Die "Ursache" der Vorstellungen ist also eine "intellegible", sofern sie "weder im Raum, noch der Zeit [...] vorgestellt werden müssen"3. Denn daß sie weder im Raum noch in der Zeit vorgestellt werden kann, impliziert keineswegs, daß sie außerhalb von Zeit und Raum, d.h. über unsere Erfahrung hinausliege4. Die entsprechend positive Bedeutung der Kantischen negativen Abgrenzung der "Ursache" der Vorstellungen als einer "intellegiblen" läßt sich vielmehr finden, wenn man auf die Unmöglichkeit eingeht, die "Ursache" in der Zeit und im Raum vorzustellen. Denn daß sie nicht vorstellbar ist, läßt auch noch die Möglichkeit offen, daß sie eben als ein nicht in der Zeit und im Raum vorstellbarer Grund am Werk vorauszusetzen sei, soll der Ursprung der Vorstellungen überhaupt verständlich werden. Die Notwendigkeit der Voraussetzung einer nicht vorstellbaren "Ursache" der Vorstellungen zeigt sich in aller Deutlichkeit in einer Spätüberlegung, wo Kant

1

Ak. Bd.4: S.290. A494 B522. 3 Ebd. Kursiv von mir. 4 Dazu ausfuhrlicher Allison, Henry E. Kant's Defence. New Haven and London! 983; S.250f. 2

Transscendental

Idealismus.

An Interpretation

and

6. Inhalt und Form der Affektion

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ausdrücklich formuliert, wie laut seiner kritischen Philosophie die Frage zu beantworten sei: "Wer (was) gibt der Sinnlichkeit ihren Stoff, nämlich die Empfindungen?"1. Zwar geben die Gegenstände als empirische Objekte ihr den Stoff bzw. das Materiale, lautet die Antwort, wobei der "Grund des Stoffes sinnlicher Vorstellungen nicht selbst wiederum in den Dingen als Gegenständen der Sinne, sondern in etwas Übersinnlichem gesetzt werden muß"2. Noch einmal also bemerkt Kant, daß der "Grund des Stoffes sinnlicher Vorstellungen" nicht wiederum "in den Dingen" anzutreffen sei, so daß er vielmehr als "vor aller Erfahrung an sich selbst gegeben"3 vorauszusetzen sei, um den Ursprung der sinnlichen Vorstellungen zu erklären. Als "vor aller Erfahrung" an-sich-selbstbzw. allein-für-sich-selbst-betrachtet ist dieser Grand ausschließlich "gegeben" und somit weder als Objekt noch als eine Vorstellung unter Vorstellungen zu verstehen. Allerdings sind alle Vorstellungen notwendigerweise "ihm gemäß"4 bzw. diesem Grund nach gerade in der Erfahrung gegeben. Als etwas im Teil der Erfahrung Anzutreffendes geht also der Grund jeder Vorstellung aller Erfahrung vorher, denn gerade aus ihm wird uns die Möglichkeit der Erfahrung dieses Regenbogens, dieser Rose, dieses Zinnobers, usw. "gegeben". Somit gelangt man wieder zu der am Anfang gestellten Frage zurück, wie etwas vor der Erfahrung überhaupt Anteil an der Erfahrung haben kann. Aus dem zuletzt Gesagten hat man aber eine zusätzliche Feststellung gewonnen, daß nämlich das Problem der Affektion nicht unter der naiven Voraussetzung bewältigt werden kann, die Vorstellungen seien einfach von außen verursacht, als ob das Mentale ein Epiphänomen oder eine Eigenschaft, d.h. schlicht ein Zustand des Körpers wäre. Im Gegensatz dazu weist Kant, wenn auch nur durch eine negative Abgrenzung der "intellegiblen Ursache" der Vorstellungen, auf die Notwendigkeit hin, jene denkerische Umkehrung zu vollziehen, wodurch die Erfahrung nur im Ausgang von dem Vollzug eines vorauszusetzenden Grundes verständlich werden kann. Wenn die Vorstellung kein Produkt einer reinen körperlichen Reaktion sein soll, muß ihr Ursprung in dem Vollzug des Mentalen gesucht werden, obwohl der letztere für Kant stets zusammen mit seinem Gegenteil, dem Körper, sich abspielt. Wenn der Körper das Materiale jeder Vorstellung von außen muß liefern können, ist für Kant jedoch nicht deshalb der Körper "Ursache" der Vorstellung als eines "mentalen Epiphänomens" des Körpers selbst. Im Gegenteil: Dem Kantischen Ansatz nach ist "Ursache" bzw. Grund der Vorstellungen immer und nur das rein Mentale als ein ursprüngliches Agieren. Soll aber das Materiale der Vorstellungen von außen kommen, so folgt, daß der Körper eigentlich einem Reagieren zu' Ak. Bd.8: S.215. Ebd. Kursiv von mir. A494 B523. "Ebd. 2 3

70

II. Intentionalität bei Kant

kommt, und auch als bloßes Reagieren stets durch das Agieren des Mentalen ermöglicht ist. Zweifelsohne hat Kant die Spontaneität des Verstandes bis zu den äußersten Konsequenzen getrieben, und die von ihm vertretene These des Vorrangs des Verstandes vor der Sinnlichkeit ist kritisch von Jacobi an als solipsistischer oder zumindest problematischer Idealismus gekennzeichnet worden. Dennoch taucht im Kantischen System die folgende Lücke auf: Wenn das Reagieren des Körpers nur unter der Voraussetzung des Agierens eines Geistes erklärbar wird, kann der Geist selber doch nicht ein Geist in einer Maschine sein, und zwar deshalb nicht, weil das Mentale selbst, nach Kant, wenn nicht durch, so gewiß nur auf der Basis des Somatischen überhaupt möglich ist. Damit wird es notwendig, das Agieren wie Reagieren von Mentalem und Somatischem nicht je für sich, sondern vielmehr in ihrer Wechselwirkung zu entwickeln'. Eher intuitiv bemerkt Kant in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, daß beispielsweise die Rezeptivität einer "Triebfeder" "mit der absoluten Spontaneität" allein "zusammen bestehen" kann, "sofern der Mensch sie [die Triebfeder] in seine Maxime aufgenommen hat"2, d.h. spontan bzw. frei in sich aufgenommen hat. Niemals entfaltet aber Kant systematisch die Wechselwirkung von Spontaneität und Rezeptivität, wodurch einzig verständlich werden könnte, wie die Spontaneität aufgrund bzw. auf der Basis des Somatischen sich vollzieht, und wie sie nichtsdestoweniger, der Gebundenheit an das Somatische zum Trotz, jeder Rezeptivität der Sinnlichkeit vorhergeht. Es geht also darum, anhand der Leib-Seele-Problematik die Kantische These des Vorrangs des Verstandes vor der Sinnlichkeit weiter zu durchdenken, um eine mögliche Antwort auf das Affektionsproblem zu finden. Denn nur auf der Basis einer möglichen Antwort auf dieses Problem läßt sich die Frage nach den Dingen und ihr innerer Zusammenhang mit jener nach der Subjektabhängigkeit ihrer Erkenntnis, d.h. der Intentionalität, weiter radikalisieren. 7. Die Affektion bzw. die Leib-Seele-Problematik Die Notwendigkeit, die Leib-Seele-Problematik in Betracht zu ziehen, hat sich daraus ergeben, daß es ausschließlich auf die Lösung der eigentümlichen Wechselwirkung von einem Innen mit einem Außen ankommt, um verständlich zu machen, wie dem Kantischen Ansatz nach der intentionale Vollzug stets auf die Dinge hin und nie von denselben her erfolgt und wie trotz des subjektiven Anfangs der Intention kein Cartesianischer Weg eingeschlagen wird. 1 Hierbei wird ausdrücklich auf die von Prauss vorgeschlagene Interpretation von Seele-Körper Bezug genommen: Vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999; Bd.II, Teil 1, §3,6,7,8,9. Ak. Bd.6: S.24.

7. Die Affektion bzw. die

Leib-Seele-Problematik

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Der Ausgangspunkt der Kantischen Reflexion auf die Leib-Seele-Problematik liegt daher in der Frage, wie Verstand und Sinnlichkeit als zueinander gegenteilige Vermögen, die trotzdem in einer spezifischen Einheit stehen, für sich als verwirklichte Vermögen Mentales sind und demnach wechselseitig mit dem Somatischen als mit etwas Zuverwirklichendem in einem Verhältnis stehen. Wenn dem Kantischen Ansatz nach, wie wir gesehen haben, das Mentale für sich genommen Agieren und das Somatische wiederum für sich genommen Reagieren ist, so geht es darum, zu verstehen, wie das Agieren, das zwar immer von sich und nie von Anderem her geschieht, auf der Basis des Reagierens erfolgt, und umgekehrt, wie das Reagieren, das immer durch Anderes und nie von selbst stattfindet, trotzdem unter der Annahme eines ursprünglichen Agierens wirklich ist. Dabei muß ferner folgendes bemerkt werden: Gerade dadurch, daß das Verhältnis von Agieren und Reagieren für Kant notwendigerweise als ein wechselseitiges auftritt, galt es für ihn zunächst zu erklären, wie der Verstand als Ausdruck einer absoluten Spontaneität trotzdem als Anteil der Natur zu verstehen sei. Diesbezüglich hat aber zweifelsohne die Kantische Gebundenheit an das Newtonsche Denken viel dazu beigetragen, die Schwierigkeiten einer möglichen Verdeutlichung des Mentalen als Teil der Natur zu vergrößern, insofern das Mentale aus der Natur entsteht, und dennoch als Entstehendes ein nicht-naturaler Fall von Spontaneität ist. Der Begriff der Natur bei Kant entspricht nämlich dem Newtonschen des strengen Determinismus, wonach jedes Ereignis ausschließlich innerhalb der Kausalität der Reihe aller Phänomene überhaupt erklärbar wird. Die von Kant ansatzweise entdeckte Autonomie als wesentliches Merkmal des Mentalen widerspricht aber gerade dem Konstitutivum des Newtonschen Determinismus: Denn dabei geht es um einen Fall von Natur, die im Verhältnis zu sich steht und keineswegs von Anderem bedingt wird, sondern umgekehrt nur von sich bzw. aus sich selbst heraus erfolgt. Innerhalb des Bereichs der Newtonschen Theorie stellt also das Mentale nicht einfach eine Ausnahme in der Natur, sondern eine Ausnahme der Natur selbst dar. Denn aus dem Kantischen Ansatz einer mit sich selbst in einem autonomen Verhältnis stehenden Natur ergibt sich die nach dem Newtonschen Determinismus widersprüchliche Folge: Das Mentale sei ein Fall von Natur hinsichtlich seines Ursprungs und deshalb etwas innerhalb von ihr Erklärbares. Gleichzeitig sei es aber auch als ein Sonderfall derart strukturiert, daß sein Vollzug als ein autonomer außerhalb von ihr geschieht. Gerade unter der Annahme eines deterministischen Charakters der Natur schlägt Kant den einzigen Weg ein, wodurch seines Wissens die Autonomie als ein nicht-naturaler Fall der Natur noch erklärbar wäre: Den Weg, das Mentale als eine Ausnahme innerhalb der Natur anzusehen, die sich jedoch außerhalb von ihr als

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II. Intentionalität bei Kant

Produkt irgendeiner "intellegiblen Ursache" 1 abspielt. Dieses zuletzt Gesagte findet seine Bestätigung in dem berühmten Unterschied zweier Betrachtungsweisen des Ichs, das nach Kant nämlich einmal als "Erscheinung" und zum anderen als "an sich selbst" anzusehen ist2. Selbst wenn dieser Unterschied auf den ersten Blick das Eigentümliche des Verhältnisses des Ichs mit sich selbst richtig zum Ausdruck zu bringen scheint, nämlich als das Verhältnis eines "intellegiblen Grundes", also des Ich, sofern es "an sich selbst" betrachtet wird, zu seinem eigenen Hervorgebrachten, sofern es selber vor sich "erscheint", erweist er sich aber bei näherem Hinsehen als irrig3; denn daraus ergibt sich, daß auf diesem Weg das Problem, das es zu bewältigen gilt, mit der Lösung desselben verwechselt wird. Daß die "Ursache" der Vorstellungen nicht in den Vorstellungen selbst als 7ez7vorstellung liegt und auch nicht von dem Objekt her ableitbar ist, macht gerade den Grund aus, weshalb das Problem der Affektion weder ausgehend von den Vorstellungen selbst noch vom Objekt her zu entwickeln ist, sondern von dem Subjekt, das am Werk ist. Die Tatsache, daß es auf das Subjekt und ausschließlich auf es als Grund der Vorstellungen ankommt, kann jetzt aber nicht als Lösung des obengenannten Problems in Anspruch genommen werden. Durch den Unterschied des Ichs als "Erscheinung" und "an sich selbst" betrachtet, begeht man aber doch diesen Zirkel. Zu sagen, daß dem Subjekt "an sich selbst" betrachtet, als Grund der Vorstellungen, auch noch sein Selbst gegenübertritt, bedeutet so viel, wie zu sagen, daß das Subjekt in sich differenziert sein muß, wenn gelten soll, daß es die "Ursache" der Vorstellungen ist. Dadurch wird aber kein Schritt vorwärts getan in der Frage, in welchem Zusammenhang die innere Bewegung, die bis hin zur Hervorbringung der Vorstellungen fuhrt, mit dem Außen als dem eigenen Körper steht. Im Gegenteil läßt der Unterschied des Ichs, als "Erscheinung" und dann wiederum als "an sich selbst" betrachtet, das Subjekt so vorkommen, als ob es bei der Hervorbringung der Vorstellungen entweder um einen Prozeß außerhalb von bzw. völlig abgelöst von der Sinnlichkeit ginge oder als ob die Hervorrufung der Erscheinungen schlicht das Ergebnis einer körperlichen Erfahrung wäre 4 . Von da her gilt es, die von Kant entworfene Lösung fallen zu lassen, um zu dem von ihm selbst hervorgehobenen Problem zurückzukehren, wie die Vorstellungen von Außen und doch nicht durch Außen hervorgebracht werden. Genauer gesagt: In welcher eigentümlichen Wechselwirkung von Außen und Innen als in einer von Somatischem und Mentalem steht das Subjekt als komplexe Einheit von Verstand und Sinnlichkeit, so daß der Körper auf das Mentale emwirken kann, ' Vgl. u.a. A494 B522. Vgl. u.a. B68 B69 und die ganzen Paralogismen der reinen Vernunft A341 B399 - A405 B432. Für eine nähere Charakterisierung der Kantischen These des Ichs, sofern es jeweils als »Erscheinung« und »an sich selbst« betrachtet wird, und seine Unvereinbarkeit in dem Kantischen System, als dessen Angelpunkt sich Schritt fur Schritt die Autonomie erweist, vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S.289 f. und S.332 f. 4 Vgl. dazu hier Kap.I, §4. 2 3

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während es als Mentales sich selbst beim Sich-selbst-ankommen affizieren läßt, so daß es sich auch noch in Form von dieser oder jener Vorstellung auswirken kann? Mit anderen Worten geht es darum, zu verstehen, wie in der Natur als in einer Reihe kausalverursachter Ereignisse, also in ihr als einem Fall von Fremdverwiiklichung, iSe/forverwirklichung als ein Fall von Natur im Verhältnis zu sich selbst überhaupt stattfinden kann. Dabei gilt es anzumerken, daß der Anteil von Selbstverwirklichung in der Natur als Fremdverwirklichung inzwischen zu einem in gewissen Hinsichten anerkannten Faktum fur die Physik geworden ist1. Und das, was laut des strengen Newtonschen Determinismus als Geisterhaftes erscheinen muß, steht heute, wie geisterhaft es auch erscheinen mag, im Zentrum des Diskussion in der Physik, da sie zur Notwendigkeit gelangt ist, das zu erklären, was in der Philosophie seit jeher gefragt wird: Was denn die "Energie" als Anteil der Materie, von der Materie verschieden und doch als "Kraft" nicht von ihr getrennt, eigentlich sei2. Ohne auf das Spezifische der physikalischen Experimente einzugehen, sei hier nur kurz ein Beispiel in Betracht gezogen, um den neu gewonnenen physikalischen Standpunkt für die Erläuterung der Natur zu skizzieren. Ein Objekt X fallt ins Wasser. Der Fall bezeichnet ein Ereignis A, d.h. das Objekt X samt dem Wechsel seiner Eigenschaften, genauer samt dem Wechsel seiner Raumkoordinaten. Aus dem Ereignis Α folgt als Wirkung das Ereignis B: Das Wasser, das auf bestimmte Weise immer neue Formen annimmt: die Wellenproduktion. Daraus läßt sich schließen, daß Α Ursache von Β ist. Daß aber das Wasser diese oder jene anderen Welleneigenschaften annimmt, hängt nicht nur von dem Ereignis Α ab. Es kommt vielmehr auch auf das Wasser selbst unabhängig von Α an, daß es bei dem Aufschlag des Objektes X diese und nicht andere Welleneigenschaften tatsächlich annimmt. Die reine Faktizität der sich bildenden Wasserform bezeichnet also das erste Merkmal einer eigentümlichen "Spontaneität" der Natur, weil das Wasser, obwohl durch X angestoßen, doch aufgrund seiner eigenen Konstitution gerade diese Welleneigenschaften annimmt. Bei näherem Betrachten des Ereignisses B, also des Wassers, das stets neue Welleneigenschaften annimmt, stößt man dann zusätzlich noch auf etwas äußerst Merkwürdiges. Die Wellen sind zunächst einmal nichts anderes als bestimmte Eigenschaften, die das Wasser bloß als seine eigene Form hat. Als Wasserform bedeuten demnach nicht die Wellen als Welleneigenschaften die "Spontaneität" des Ereignisses B. Sie, die Eigenschaften, entstehen, um zu vergehen, im absoluten Wechsel, so daß die hier und jetzt bestimmte Wasserform nicht die Ursache der daraus folgenden absolut neuen Wasserform sein kann. Dies läßt den Anschein entstehen, daß nur Α Ursache von Β sei und es darüber hinaus unsinnig sei, von ' Dabei wird auf die von Prauss entwickelten Überlegungen Bezug genommen in: Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999; Bd.II, Teil 1, §3 u. §6. Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999; Bd. II, Teil 1, §6.

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II. Intentionalität bei Kant

"Spontaneität" in der Natur als einem eigentümlichen Anteil an Fremdbestimmung zu reden. Hängt aber von dem Wasser und nur von ihm die Möglichkeit ab, diese und nicht jene Form tatsächlich anzunehmen - denn sollte das Objekt X beispielsweise auf ein Stück Holz fallen, würden keine "Wasserwelle" hervorgebracht werden - so muß es auch im Ereignis B, zwar veranlaßt von Α und mit ihm in Wechselwirkung, eine "Ursache" geben, die doch von sich bzw. aus sich selbst heraus mit Α mitwirkt. Und im wesentlichen sieht sich heute die Physik dazu verurteilt, schon bei dem einfachsten Verhältnis von Α und Β die Äußerung einer eigenartigen Form, die Form gibt und somit formt, in Anspruch zu nehmen, die sie kurzerhand als Energie bzw. Energiepropagierung markiert. Die Energie als "Ursache" der Wellenproduktion wird also einzig von dem Wasser, wenn auch veranlaßt von A, erbracht. Genauer gesagt: Es geht um den Fall eines Agierens der Energie als geisterhaftes Sich-selbst-äußerns eines Inneren in Wechselwirkung mit einem Reagieren von außen bzw. mit dem Fall des Objektes X gleich dem Ereignis Α als einem Fall von Energieübertragung. Selbst wenn die Physik bezüglich bestimmter Phänomene ein äußerst komplexes Zusammenspiel von Aktion und Reaktion entwickelt, wäre jedoch eine schlichte Übertragung der von der Physik wahrgenommen Wechselwirkung eines "Inneren" mit einem "Außen" während der Energieübertragung auf das Subjekt in seinem wechselseitigen Verhältnis mit seinem Körper ein Irrtum. Denn als Eigentümliches der Spontaneität des Subjekts, die gewiß zur "Spontaneität" der Natur gehört, gilt es, daß sie, selbst aufgrund einer einzigartigen Gebundenheit an den Körper, sich auch noch als eine "autonome" entwickelt. Die Herausarbeitung des Spezifischen der Spontaneität des Subjekts in Abhebung von einer nur physikalischen Wechselwirkung von Innen und Außen als von Energie und Materie zeigt sich deshalb als notwendig. Denn ergäbe sich, daß die Wechselwirkung von Psychischem und Physischem sich durch kein Merkmal von der Wechselwirkung der Natur als einfacher Energieübertragung differenziert, müßte man die Konsequenz ziehen, das Mentale sei nichts anderes als bloßer Zustand des Körpers. Gewiß analog1 zum Phänomen der Energieübertragung in der Natur gilt, daß das Mentale seinen Anfang in sich hat, d.h., daß es von sich selbst bzw. aus sich selbst heraus geschieht, genauso wie im Beispiel die Energie sich ausbreitet und nicht die Wasserteilchen sich fortbewegen. Das Agieren des Mentalen, das bei dem Aufnehmen des Inhalts von außen im Spiel ist, entspricht tatsächlich dem Anteil an Selbstverursachung in der Natur. 1 Die hier dargelegte Analogie ist ein Schluß dessen, was Gerold Prauss jeweils in Die Welt und wir. Stuttgart 1999; Bd.II, Teil 1, §7 S.234-37, §8 und §9 S.296 f. in Abhebung von der Newtonschen Konzeption der Natur herausgearbeitet hat, um den Kantischen Ansatz des wechselseitigen Verhältnisses von Somatischem und Mentalem bis zur letzten Konsequenz zu verfolgen und sie weiter durchzuführen.

7. Die Affektion bzw. die

Leib-Seele-Problematik

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Denn dabei geht es um ein Umsetzen aus dem Physischen ins Psychische und darüber hinaus um ein Auswirken des Physischen und ebenso um ein Einwirken ins Psychische als ein wechselseitiges Miteinanderwirken. Das Physische reagiert demnach auf sein Geformt-werden durch jene Form, die wiederum eigens auf der Basis des Somatischen selbst von sich bzw. aus sich selbst heraus formt, und dies ist der Geist. Auch noch in Analogie zum Phänomen der Energiepropagierung muß angemerkt werden, daß das ständige Wechseln von Inhalten bzw. Vorstellungen oder Empfindungen, wie im Experiment jenes der Welleneigenschaften, mit dem Sichausbreiten der Energie einhergeht. Und daß noch der Stoff jeweiliger Vorstellungen zum "Stoff' für eine "Form" wird, auch wenn ihnen kein Substratum zugrunde liegt, wie beispielsweise die Bewegung der elektromagnetischen Welle keine Bewegung eines Bewegten ist, sondern die Bewegung einer Form, die formt und die ihren Inhalt zu sich zieht, auch wenn all dies immer unter Veranlassung von außen geschieht. Analog zu jedem physikalischen Phänomen tritt das Nicht-Empirische des Mentalen als Anteil einer Form am Empirischen auf. Das Somatische als solches, das unbezweifelbar Empirisches ist, erwirbt schon als bloßes Reagieren ein nichtempirisches Kennzeichen, denn als Reagieren läßt sich das Somatische nur deshalb definieren, weil auf der Seite des Agierens ein Sich-zuziehen eines Inhalts von außen stattfindet, wie beispielsweise das des Schmerzes wegen einer Wunde. Der Hiat zwischen Somatischen und Mentalen markiert also eine Kluft derart, daß das Reagieren des Somatischen, wenngleich durch das Mentale vermittelt, fur es als Mentales unzugänglich ist, so wie auch umgekehrt das Agieren des Mentalen, obwohl es aufgrund des Somatischen erfolgt, empirisch nicht zugänglich ist. Dies ist genau so, wie für die Physik die "Energie" bzw. die "Kraft" als Anteil und nur als Anteil des Empirischen auftritt und aufweisbar ist, jedoch nicht als solches empirisch feststellbar ist. Der Kern der bis jetzt ausgeführten Analogien zwischen Energieübertragung und Mentalem läßt sich also wie folgt zusammenfassen: Bei dem Verhältnis von Somatischem und Mentalem genauso wie bei jedem physikalischen Phänomen von Energieübertragung in der Natur geht es um ein Agieren in Wechselwirkung mit einem Reagieren und dadurch - in bezug auf Mentales - um ein Affizieren von sich als ein Sich-selbst-affizieren und demzufolge um eine Selbstaffektion. Doch nicht mehr analog zur bloßen Energieübertragung ist, daß die Vorstellungen oder Empfindungen, die zweifelsohne durch das Zusammenspiel von Außen und Innen, - von Außen veranlaßt, aber durch Inneres hervorgebracht - als Wirkungen ein Inneres sind, um hauptsächlich etwas anderes von sich zu erreichen bzw. um zwecks der Objektivität einen Gegenstand zu entwerfen. Die intentionale Grundstruktur, die zwar unintendiert ständig erfolgt, zeigt sich also als das gesuchte Merkmal, um das Mentale als einen Anteil der Natur zu er-

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II. Intentionalität bei Kant

klären, und zwar als den einzig "autonomen". Was Kant ansatzweise bei der Entfaltung seiner "kopernikanischen Wende"1 als das Spezifische der Vorstellungen als des Sich-etwas-vorstellens bezeichnet, d.h. etwas so auf eine Weise vorwegzunehmen bzw. "nach [eigenen] Entwürfe hervor[zu]bringen"2, um derart "an die Natur [zu] gehen", nicht, "um von ihr belehrt zu werden"3, sondern "in ihr zu suchen, was [man] von [ihr] lernen muß"4, läßt sich anhand der intentionalen Struktur des Subjekts weiter vertiefen. "[N]ach [eigenen] Entwürfe[n]" "an die Natur [zu] gehen"5 bedeutet also, sich etwas vorzustellen, um die Objektivität zu bilden und sie somit zu erreichen, so daß man gemäß den Spätüberlegungen Kants eigentlich jene denkerische Umkehrung zu vollziehen hat, wodurch "die Erfahrung nicht das Mittelf,] sondern der Zweck der Erkenntnis ist"6. Und von außen, doch nicht durch das Äußere, sondern durch Inneres bringt tatsächlich das Subjekt diese oder jene Vorstellung aus sich selbst heraus hervor, immer in Wechselwirkung mit dem Außen seines Somas, um auch noch über sie hinaus in die Objektivität hineinzugehen7, unabhängig davon, ob es sich um eine nur vorgestellte Objektivität, vielleicht veranlaßt durch ein Experiment eines Physiologen, um eine geträumte, um eine in der Phantasie fingierte oder um die objektiv wirkliche unseres Regenbogens handelt. Denn dem Sich-unterwerfen unter die Heteronomie des Körpers liegt stets ein Sich-selbstunterwerfen-lassen um dieses bzw. jenes Zweckes willen zugrunde. Aus der intentionalen Struktur, die jeder Vorstellungshervorbringung zugrunde liegt, geht ferner deutlich hervor, weswegen die Subjektivität als Autonomie bzw. Spontaneität immer mit ihrem inneren Gegenteiligen der Sinnlichkeit auftritt. Denn trifft auf die Intentionalität zu, daß die Gewährleistung von Objektivität, selbst aufgrund einer Wechselwirkung mit dem Außen eines Somas und demzufolge nicht als eine rein geistige Erfahrung, dem Subjekt selbst seiner Natur nach (und allein unter dieser Hinsicht unintendiert) zukommt, so muß das Subjekt konsequenterweise zunächst sich selbst ausdehnen. Bei seinem Sich-selbst-ausdehnen als einem Fall von Se/ftsiverwirklichung gelangt das Subjekt zu sich selbst zurück, allerdings in Form einer bestimmten Ausdehnung: außer sich bei seinem Sich-selbst-affizieren-lassen in Form dieser oder jener Vorstellung. Genauer gesagt: Es kommt bei sich selbst an als eine in sich

1

2 3

Vgl. BXIIf.

BXIII. Ebd. Kursiv von mir.

"Bxrv. 5

BXIII Kursiv von mir. Ak. Bd.22: S.493. 7 Daß man bei Gefühlen zwar außer sich verbleibt, ohne aber jemals außer anderem zu gelangen, hängt faktisch von dem spezifischen Inhalt derselben ab. Schon bei ihnen ist aber die innere Bewegung am Werk, die als subjektive Tätigkeit entwerfend von innen nach außen führt. Vgl. dazu hier Kapitel II, §8.

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7. Die Affektion bzw. die

Leib-Seele-Problematik

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selbst differenzierte Einheit von Verstand und Sinnlichkeit. Mit dem Konstitutivum der Subjektivität als einer Einheit, die in sich selbst ihre Ausdehnung hat, kommt man wieder auf die am Anfang gestellte Frage zurück, wie sich die Intention auf die Dinge zugehend, aber gerade nicht auf eine absolut idealistische Weise, vollzieht. Die in sich komplexe Einheit von Verstand und Sinnlichkeit erklärt dies nun: Als das, wodurch ein Subjekt intentional in "die" Welt1 ist, zeigt sich die Einheit von Verstand und Sinnlichkeit in ihrer intentionalen Bedeutung eigentlich als die von Kant erst intuitiv entwickelte "intellegible Ursache"2. Vor der Erfahrung als das, was vorauszusetzen ist, damit jede Erfahrung aufgrund des Somatischen stattfinden und damit die Objektivität erreicht werden kann, ist die Intentionalität auch noch notwendigerweise in der Erfahrung als das Intendieren des Subjekts selbst, das sich selbst vollziehend die Objektivität bildet und überhaupt gewährleistet. Angemerkt werden muß dabei allerdings, daß die Vorstellungen auf keinen Fall objektiv wirklich sind. Die Gewinnung von Objektivität wird zwar vom Subjekt und von den durch es hervorgebrachten Vorstellungen gewährleistet, aber nicht in dem Sinne, daß die Objektivität in dem Subjekt wie in seinen Vorstellungen aufgelöst wird. Denn umgekehrt, fängt man von einer vorausgesetzten Wirklichkeit an, läuft man dann ja Gefahr, sie in den Vorstellungen selbst als in einer solipsistischen Erfahrung, die sich aus einer schlicht körperlichen Reaktion ergäbe, aufzuheben. Aus dem bis jetzt Gesagten läßt sich demnach noch ein weiteres wesentliches Merkmal der Subjektivität als Intentionalität gewinnen. Wenn die Objektivität unabhängig davon, ob es um eine bloß geträumte geht oder nicht, zunächst ausgehend vom Subjekt ermöglicht wird, indem es sich selbst ausdehnt und demzufolge sich als eine in sich differenzierte Einheit konstituiert, dann folgt, daß das Sichselbst-äußerlich-machen von Intentionalität durch nichts anderes verständlich gemacht werden kann als durch das ständige Anders-werden des Subjekts. Besser gesagt: durch das Sich-selbst-zeiiz'ge« des Subjekts selbst. Die Fähigkeit des Anders-werdens verweist demnach auf den zeitlichen Charakter, der dem Subjekt, soll es überhaupt auf die Dinge hin bzw. in "die" Welt hineingehen können, notwendigerweise seiner Natur nach zugehört. Die Erläuterung des intentionalen Vollzugs, wodurch die Gewährleistung von Objektivität ermöglicht wird, muß also mit der Aufklärung der subjektiven Zeit-

' Der Ausdruck »in „die" Welt sein« ist während der Sitzung des Doktorandenkolloquium von Gerold Prauss am 11. November. 1999 in Abhebung von dem Heideggerschen »in der Welt sein« verwendet worden, um den aus Kant ableitbaren intentionalen Charakter der Subjektivität, die immer schon am Werk ist, im Traum wie im Wachzustand, bei der immerwährenden Bildung von Objektivität hervorzuheben. 2 U.a. vgl. A494 B522.

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II. Intentionalität bei Kant

lichkeit als der ersten Stufe des Intendierens1 anfangen. Es gilt also zu verdeutlichen, wie das Subjekt gebildet ist, um als dieses eine auch noch ständig anders werden zu können bzw. wie diese eine Zeit des Subjekts als seine immerwährende Zeitigung seiner selbst möglich ist. Gerade dadurch wird sich klären, daß das Subjekt weniger innerhalb der Erfahrung als vielmehr in die Erfahrung selbst ständig hineingeht und es somit nicht absolut idealistisch, sondern in einer kontinuierlichen Wechselwirkung mit dem Außen seines Somas, die Erfahrung hier und jetzt bzw. zeitlich und dann noch zeitlich-räumlich konstituiert.

8. Selbstverwirklichung als Zeitwerdung In der bisherigen Behandlung des Kantischen Ansatzes hat sich gezeigt, daß das Subjekt in dem Sinne "Ursache" der Vorstellungen ist, als es sie als ein Sichselbst-anders-machen hat, um Objektivität zu erreichen. Nur im Ausgang von dem Subjekt als einem intentional strukturierten, und nur durch es vermittelt, ist es also nach Kant möglich, Objektivität zu ermöglichen. Denn jeder Versuch, aufgrund einer naiv vorausgesetzten Wirklichkeit die Objektivität der Außenwelt zu gewährleisten, läuft ja Gefahr, diese eigentlich im Geisterhaften der Vorstellungen selbst als bloßer Wirkungen einer körperlichen Reaktion aufzuheben. Soll der Anfang für die Gewährleistung von Objektivität im Subjekt, aber in der besagten Wechselwirkung mit seinem Sorna, angesetzt werden, muß gerade es, das Subjekt, zunächst imstande sein, anders zu werden, und zwar so, daß es sich aus sich selbst heraus strukturiert, um auf Anderes hin auszugreifen. Vorausgesetzt, daß das Subjekt von sich selbst auf Anderes als es selbst tendiert und es sich selbst zunächst zum Mittel fur die Erreichung von Objektivität macht, d.h. sich selbst zwecks der Objektivität in sich differenziert, muß des weiteren folgen, daß es qua einheitliches Subjekt seine Einheit unmittelbar in seinem Sich-selbst-different-machen hat, d.h. in seiner Differenz. Die Subjektivität zeigt sich also in Form einer spezifischen Einheit bei gleichzeitigem, eigenartigem Ständig-anders-werden. Die ursprüngliche Möglichkeit, von sich aus auf Anderes seiner selbst auszugreifen und somit zunächst sich different machen zu können, begründet eigentlich die Natur des Subjekts, nämlich seine Zeitlichkeit. Die erste Stufe2 zur Gewinnung von Objektivität kann daher in nichts anderem bestehen als darin, daß das Subjekt sich selbst anders wird, d.h., anders zu sich

' Die hier folgende Analyse der dreigegliederten Intentionalität bezieht sich ausdrücklich auf die von Gerold Prauss als weitere Durchführung des Kantischen Ansatzes ausgearbeitete. Vgl. dazu Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, §16 und Bd.I, Teil 2, §17 und §§23-29. 2 Für die erste, zeitliche Stufe vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990 f., Bd.I, Teil 1, S. 358f. und Bd.II, Teil l,S.319f.

8. Selbstverwirklichung

als

Zeitwerdung

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wird, weil dieses Sich-anders-Werden die Grundvoraussetzung dafür ist, daß das Subjekt anderes als sich selbst gewinnen kann. Genauer gesagt betrifft die erste Stufe des Intendierens zunächst das Selbst-anders-werden zwecks der Objektivität als Sich-zM-ji'cA-ie/fof-anders-machen. Denn das Subjekt muß, um anders zu werden, notwendigerweise sich selbst als einem Anders-werdenden und somit auch sich selbst als einem Außer-sich-stehenden gegenübertreten, so daß Anderswerden erstens ein "Z«-sicA-anders-werden" bedeutet. Sich selbst tritt jedoch das Subjekt tatsächlich in dem besonderen Sinne gegenüber, daß es bei seinem eigenartigen Anders-werden auch noch bewußt in einem Verhältnis zu sich selbst steht, so daß letztlich die werdende bzw. sich zeitigende Einheit des Subjekts sich in nichts Geringerem als in der Einheit des Selbstbewußtseins aufheben läßt. Aus dem Gesagten geht hervor, daß geklärt werden muß, wie Subjektivität in Form von Se/fofbewußtsein als ein besonderes Außer-sich innerhalb eines In-sichstehens strukturiert ist, so daß die Erreichung von Objektivität in der Zeitwerdung des Subjekts selbst erfolgt. Dazu muß folgendes vorausgeschickt werden: Daß das Subjekt als eine in sich komplexe Einheit auftritt, d.h. als Einheit des Selbstbewußtseins, die ihre Differenz innerhalb von sich und nie außerhalb von sich selbst hat, sieht Kant zweifelsohne von der Kritik der reinen Vernunft bis zu seinen Spätwerken, als "ein unbezweifeltes Faktum"1 an. Denn er schreibt: "Ich bin mir meiner selbst bewußt, ist ein Gedanke, der schon ein zweifaches Ich enthält"2. Auf dasselbe verweisen auch all jene Überlegungen Kants, die das Rätselhafte der subjektiven Einheit als Ineinsfallen von "continens" und "contentum" 3 betreffen. Gewiß ist aber auch, daß Kant, nachdem er das Selbstbewußtsein als einen Fall einer in sich komplexen Einheit erwogen hat, welche die Konstitution von Objektivität ermöglicht und demzufolge auch noch dem Fremdbewußtsein vorhergeht, nicht vollständig die daraus folgende Möglichkeit wahrnimmt, die spezifische Einheit des Subjekts als Zeit zu entwickeln. Diesbezüglich bleibt er vielmehr vor dem Cartesianischen Engpaß4 res cogitans - res extensa stehen, ohne das cogito im Rahmen der ursprünglichen Zeitlichkeit des Subjekts weiterzuentwickeln. Indessen hätte Kant gerade im Einklang mit den Prämissen seines Systems - das Subjekt hat anders zu werden und es habe seine Differenz innerhalb von sich - die Möglichkeit gehabt, die obengenannte Gegensätzlichkeit nicht als eine zwischen "res" aufzulösen. Denn das cogito, das gewiß Natur ist, muß nicht notwendigerweise res sein. Als Natur ist es gewiß ausschließlich ein Fall von Ausdehnung,

1

Ak. Bd.20: S.270. Ebd. 3 Ak. Bd.18: S.313-14. 4 Bezüglich der Abhängigkeit des Kantischen Denkens von der Cartesianischen Konzeption der Res Cogitans vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S. 332f. 2

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II. Intentionalität bei Kant

doch nicht wie die Dinge ein Fall äußerlicher Ausdehnung, sonders als cogito umgekehrt ein Fall innerlicher Ausdehnimg. Mit anderen Worten handelt es sich dabei um Natur, die ihre Ausdehnung innerhalb von sich selbst hat: Eben als das Sich-selbst-äußerlich-machen einer reinen Form, die formt und die ihren Inhalt deshalb in sich hat, weil sie ihn eigentlich erst haben kann, wenn sie zu sich selbst ins Verhältnis tritt und somit anders wird: als das Sich-äußerlich-machen eines Innen, das nichts anderes als das Subjekt selbst als ein werdendes qua Zeit ist. Nach dem zuletzt erarbeiteten Ergebnis geht es also darum, die spezifische Einheit des Subjekts - um mit Kant zu sprechen, "die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins"1 - als eine "synthetische Einheit der Apperzeption"2 bei dem Erzeugen ihrer Synthesis als einer zeitlichen weiterzuentwickeln. Denn gerade das Erzeugen dieser Synthesis läßt im Einklang mit dem Kantischen Ansatz in aller Deutlichkeit aufgehen, wie sich das Subjekt unbedingt dynamisch und d.h. zeitlich äußern muß, will es Objektivität erreichen. Um "fur [sich] Objekt zu werden"3, d.h., um zunächst zu jenen "Bestimmungen" in sich - seien es Empfindungen im Sinne von Gefühlen oder Vorstellungen zu gelangen, die es auch noch "auf etwas Anderes bezieh[t]"4, um Objektivität zu erreichen, muß also das einheitliche Subjekt die Form einer "synthetischen" Einheit annehmen, d.h., es hat zu werden, wenn nicht als "res" in der Zeit, dann über den Kantischen Ansatz hinaus als Zeit. Mindestens an einer Stelle der ersten Fassung der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe schlägt Kant selbst, wenn auch eher intuitiv, den Weg ein, der zur zeitlichen Bestimmung der Einheit des Subjekts führen muß, und der deswegen als Vorbild für die weitere Untersuchung seines Ansatzes zu gelten hat. An der besagten Stelle bemerkt er hinsichtlich des Anders-werdens eines Subjekts in einer bestimmten Zeit, die üblicherweise als Zeitspanne verstanden wird, das Folgende: "Ich bin mir dieser Zeit, als zur Einheit meiner selbst gehörig, bewußt"5. Als Erklärung dessen fügt er noch hinzu: "Diese ganze Zeit ist in mir als individuelle Einheit oder ich bin mit numerischer Identität, in aller dieser Zeit befindlich"6. Das Bewußtsein der Zeit scheint hier dem Bewußtsein seiner selbst zu entsprechen, so daß es nicht nur als Zeitbewußtsein mit "der numerischer Identität" des Selbst unauflöslich verbunden auftritt, sondern vielmehr als Bewußtsein seiner "individuellen Einheit" mit dem Zeitbewußtsein als dem Bewußtsein, das "in sich" selbst die Zeit enthält, einhergeht.

1 2 3 4 5 6

B132. B314. Kursiv von mir. B138. Ak. Bd. 11: S.395. A362. Kursiv von mir. Ebd. Kursiv von mir.

8. Selbstverwirklichung

als

Zeitwerdung

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Gerade aufgrund dieser unzertrennlichen Verbundenheit von Zeit und Selbstbewußtsein sieht sich aber Kant zugleich dazu verurteilt, den auf den ersten Blick daraus folgenden Widerspruch zu bewältigen, das Subjekt sei ein selbiges, jedoch einzig sofern es ständig anders wird. Wie wir gesehen haben, hilft es diesbezüglich nichts, die von Kant vorgeschlagene Lösung einer zweifachen Betrachtung des Ichs, zum einem als Erscheinung und zum anderen auch noch an sich selbst, weiter zu entfalten. Denn dadurch wird im Gegenteil das Rätselhafte der Zeit als ein Selbiges in ihrem Anders-werden völlig getilgt und statt dessen die Zeit von einer außerzeitlichen Subjektivität abgeleitet. Aus der Einheit von Zeit und Selbstbewußtsein gilt es indessen, die sich scheinbar daraus ergebende Widersprüchlichkeit aufzulösen, jedoch gerade aufgrund der Zeitlichkeit des Subjekts. Denn erst dann, wenn diese die komplexe Einheit des Subjekts betreffende Widersprüchlichkeit als eine scheinbare aufgewiesen wird, läßt sich die Zeit samt ihrer Rätselhaftigkeit als wirklich erweisen. Die besagte Widersprüchlichkeit, welche die Einheit des Subjekts bedroht, entsteht deshalb, weil es auf den ersten Blick scheint, im Selbstbewußtsein müßten Selbigkeit und Andersheit bzw. Kontinuität und Diskretion einander undifferenziert beiwohnen, wenn es denn wahr ist, daß die Selbigkeit des Subjekts gleichursprünglich mit seinem Selbst-anders-werden ist. Dies scheint weiterhin zur Folge zu haben, daß die Einheit des Subjekts im nachhinein von Seinem-andersgeworden-sein wie von seiner Differenz deduzierbar sei, wobei dem Kantischen Ansatz gemäß gerade das Umgekehrte gelten muß: Die Einheit ist Grund der Differenz. Auf dem Irrweg, die Einheit des Selbstbewußtseins entspreche der sich aus einer Art Summe von Verschiedenen ergebenden Ganzheit1, verliert man gerade das aus den Augen, was nach dem Kantischen Ansatz als das Eigentümliche der Zeitfolge überhaupt gilt und was demzufolge auch für das Subjekt als ein zeitliches zutreffen muß: das Nacheinander der Zeit, doch nicht als eines von Verschiedenen im Sinne von verschiedenen Punkten, sondern, wenn überhaupt, dann von einem Selbigen im Sinne eines Punktes. Bezüglich der Charakterisierung der Zeit als eines Nacheinander eines Selbigen gilt als Vorbild eine Passage der Transzendentalen Ästhetik, in der Kant darauf hinweist, daß "wir" die Form der Zeit "durch Analogie zu ersetzen versuchen 1 Wie kantisch gesehen die Einheit gerade nicht als ein Fall von Zusammensetzung von Verschiedenen betrachtet werden kann, stellt sehr deutlich Scaravelli d a r , Vgl. dazu Scaravelli, Luigi Scritti kantiani. Firenze 1990, S.43 und S.46f. Dazu muß aber angemerkt werden, daß Scaravelli, nachdem er den Kantischen Begriff des Kontinuums gerade nicht als Menge von Punkten expliziert hat, die Zeit qua Punkt aristotelisch als das Verhältnis von einem Früher und einem Später definiert. So richtig er also zum Ausdruck bringt, daß der Wechsel der Sinnlichkeit „punktartig" ist und nicht als etwas zwischen Punkten zu verstehen ist, so irreführend ist sein Versuch, diese „Punktartigkeit" der Zeit schlicht als reine Möglichkeit in einem aristotelischen Sinne zu erklären.

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II. Intentionalität bei Kant

und die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vorstellen, in welcher das Mannigfaltige eine Linie ausmacht, die nur von einer Dimension ist, und schließen aus den Eigenschaften dieser Linie auf alle Eigenschaften der Zeit, außer dem einigen, daß die Teile der ersteren zugleich, die der letzteren aber jederzeit nacheinander sind"1. Selbst wenn hier das Mannigfaltige der Linie in Anspruch genommen wird, um die Zeit per analogiam zu vergegenständlichen und d.h., um etwas als etwas Anderes vorzustellen, darf man jedoch nicht unmittelbar schließen, Kant meine damit, daß die Zeit selbst aus einer Menge von Punkten besteht, um so mehr, als seiner Erläuterung nach die Linie "alle Eigenschaften der Zeit" "außer dem einigen", nämlich ihr eigentümliches Nacheinander, veranschaulicht. Aus der Kantischen Analogie läßt sich vielmehr einzig das Folgende ableiten: Wenn das Nacheinander der Zeit deshalb nicht dem Mannigfaltigen der Linie entspricht, weil die Linie als eindimensionales Gebilde ihrer Teile "zugleich" vorliegt, so muß konsequenterweise gelten: Erstens, daß das Nacheinander der Zeit nur auf den nulldimensionalen Punkt und keineswegs auf die Linie zutreffen kann. Zweitens, daß das Nacheinander der Zeit qua Punkt, wenn es sein Mannigfaltiges eben nicht als "zugleich" und somit als etwas außerhalb von sich Vorliegendes haben kann, es nur dann überhaupt haben kann, wenn es dies aus sich selbst erzeugt, so daß der Punkt seine Ausdehnung innerhalb von sich als seine Selbstausdehnung bei seinem Anderswerden hat. Die Tatsache, daß Kant selbst nur zum Negativum dieser ihrer Eigenschaft gelangt und nie zum entsprechenden Positivum, läßt noch offen, wie das Nacheinander der Zeit als von diesem einen Punkt weiter zu entfalten ist. Um zur ergänzenden positiven Bedeutung des Nacheinander zu kommen, muß von Anfang an klar sein, daß nach dem Kantischen Ansatz der Punkt auf keinen Fall analog zu Aristoteles2 betrachtet werden kann, nämlich nicht als Grenze, als "nun" zwischen einem Früher und einem Später, wenn auch Kant selbst, wie wir gesehen haben, auf den Punkt als wesentliches Merkmal der Zeit hinweist. Gewiß aber stellt sich aus dem gerade Vorausgesetzten noch dringlicher, als es bei Aristoteles schon sein müßte, die Frage: Wie kann Zeit als Nacheinander überhaupt auftreten, wären Früher und Später nicht bereits gegeben? Denn nach Kant geht es dabei eigentlich um einen Punkt, der auf keinen Fall aufgrund schon wirklicher (Linien-)Teile besteht und der trotzdem existent ist. Kant selbst leitet in die Beantwortung dieser Frage über, wo er noch tiefer auf die oben genannte Analogie 1

A33 B51. Kursiv von mir. Bezüglich der Thematisierung der Zeit als eines Grenzpunktes bei Aristoteles in Anschluß an die bekannten „Zeitparadoxien" von Zenon vgl. Physik, 239b 30f. Bezüglich der aristotelische Bestimmung der Zeit als Punkt im Gegensatz zu jener der Punktmenge vgl. Physik 218a 6-20, 241a 2f. Bezüglich der Charakterisierung der Zeit als Zeitgrenze und die sich unausweichlich daraus ergebenden Schwierigkeiten vgl. Physik 222a 13, 241 a 2f. Zu einer ausführlicheren Darstellung des Zusammenhangs der Zeitproblematik bei Aristoteles und Kant vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil l,S.343f. 2

8. Selbstverwirklichung

als Zeitwerdung

83

Punkt - Linie - Zeit eingeht. An einer Stelle der zweiten Fassung der Deduktion schreibt er: "Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen [...], selbst die Zeit nicht, ohne [sie in Gedanken vorzustellen], indem wir im Ζ i e h e n einer geraden Linie (welche die äußerliche figürliche Vorstellung der Zeit sein soll) bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir den inneren Sinn sukzessiv bestimmen, [...] achtgeben"1. Macht man die These Kants stark, die Möglichkeit einer Erläuterung der Zeit hänge ausschließlich von der "Handlung der Synthesis" beim "Ziehen" dieser Linie2 ab, folgt daraus notwendigerweise, daß die Linie als Kontinuum aus nichts anderem als aus der Selbstausdehnung eines einzigen Punktes bestehen kann, also aus einem Punkt am Stück und keineswegs aus einer Punktmenge. Sieht man nun auch noch von der Räumlichkeit als dem Zugleich der Linie ab, so stößt man auf jene eigentümliche Charakterisierung des Kontinuums qua "punktartig" im Sinne des reinen "Ziehens" dieser einen Linie durch den Punkt. Allerdings gilt bei diesem "Ziehen", daß es die Ausdehnung des Punktes selbst und somit die Ausdehnung eines Selbigen bei seinem Anders-werden vorstellt, obwohl der Punkt nie zum Zugleich der Linie, sondern allein zum Nacheinander des Punkts selbst kommt. Genauer gesagt: Durch das "Ziehen dieser Linie" kommt man in diesem Fall zu einem Zwischending zwischen Linie und Punkt, das in der Tat, wenn es auch noch Linie und Punkt in einem ist, als Repräsentant der Zeit gilt. Diesbezüglich schlägt Gerold Prauss ein Zeitmodell3 vor, welches das Wesentliche des Punkts als eines ständig Zu-sich-anders-werdens, sofern es um ein Selbiges als Nacheinander geht, zu veranschaulichen befähigt, solange man ausschließlich der dadurch angezeigten Dynamik Aufmerksamkeit schenkt. Mit einem Kreidestück wird versucht, an einer Tafel eine geometrisch-ideale Linie zu zeichnen, indem man unmittelbar im Anschluß daran einen Schwamm so folgen läßt, daß daraus einzig ein geometrisch idealer Punkt erzeugt wird und es nie zu einer Linie kommt. Der sich daraus ergebende Gegenstand läßt sich weder als Punkt im Unterschied zur Linie noch umgekehrt als Linie im Unterschied zum Punkt, sondern einzig als ein gewisses Zwischending in seiner reinen Dynamik definieren: als Punkt, der die Ausdehnung in sich hat. Für den hier konstruierten Gegenstand gilt widerspruchsfrei, daß Identität und Differenz zusammenfallen. Mit dem zuletzt Gesagten kommt man also in der Tat noch einmal auf die am Anfang gestellte Frage zurück, wie die Zeit als Punkt noch denkbar ist, wären Früher und Später nicht bereits gegeben.

1

Β154. Kursiv von mir. Denselben Ausdruck findet man auch in Β138. Die Thematisierung des Zeitmodells findet sich mehrmals in den Werken Prauss'. Vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990 f.; Bd.I, Teil 1, S. 358f. und Bd.II, Teil 1, S.319f. Ferner Prauss, Gerold Die innere Struktur der Zeit als ein Problem für die Formale Logik, in: Zs.f. philosophische Forschung, Bd.47, 1993. 1 3

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II. Intentionalität bei Kant

Gemäß dem Zeitmodell, das die Bedeutung der Kantischen Analogie des "Ziehens dieser Linie" richtig zum Ausdruck bringt, läßt sich jetzt auf die Frage folgendermaßen antworten: Früher und Später müssen deshalb nicht schon gegeben sein, weil der durch das Modell gewonnene Punkt keineswegs etwas in Bewegung vorstellt, als ginge es um etwas durch die Zeit Bewegtes. Der Punkt gilt vielmehr in diesem Fall als Repräsentant der Zeit und darüber hinaus als Bewegung. Er entsteht, um zu vergehen, ohne jemals zu bestehen, so daß er keineswegs von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als schon immer gegebenen ableitbar ist. Im Gegenteil: Nur in Rückbezug auf den Punkt als auf den ständig neu entstehenden Jetztpunkt läßt sich auch noch von einer aus dem Punkt heraus entworfenen Zeit als einer zukünftigen oder vergangenen reden, so daß die sogenannte "objektive Zeit" in Wahrheit eine objektivierte subjektive Zeit ist. Noch bedeutsamer ist aber, daß man durch die gemäß dem Zeitmodell gewonnene Charakterisierung der Zeit als Bewegimg, und zwar nicht als äußerliche von etwas, sondern als die selbige innere Bewegung, dem Widerspruch hinsichtlich des Zusammenfallens von Identität und Differenz im Punkt vermeidet. Laut der im Modell angezeigten Dynamik beim reinen "Ziehen" läßt sich nämlich auch noch über den idealen Gegenstand des Modells hinaus sagen, daß zur Natur dieses Punktes ursprünglich ein Selbstverhältnis gehören muß, denn der ideale Gegenstand als Punkt beginnt erst dann zu sein, wenn er sich äußerlich macht, eben als ein beim Werden außer sich Stehendes bzw. als ein ins Verhältnis zu sich als zu diesem Anderen von sich je neu Eintretendes. Und in der Tat bringt die formale Analyse des Punktes als eines ständig neu werdenden Selbigen nichts anderes zum Ausdruck als die innere Struktur des Selbstbewußtseins. Sie ist im Einklang mit der Kantischen Prämisse "synthetisch", also als Bewegung sich selbst vollziehend, wie auch "Einheit der Apperzeption"1, d.h., zu sich als zu diesem Anderem von sich im Verhältnis. Dies alles zeigt, daß das Selbstbewußtsein eigentlich mit dem Sich-äußern eines Innen als mit dem eigenartigen Ausbreiten des Subjekts hin zu seinem Selbst als zu diesem ständig Anders-sein seiner selbst übereinstimmt und daß es sich wiederum in nichts Geringerem als in der Zeitwerdung eines Selbigen aufhebt. Wie sich auch noch Verstand und Sinnlichkeit trotz ihrer Gegensätzlichkeit als Bestandstücke der Subjektivität zeigen, wenn Natur in Form von Selbstbewußtsein auftritt, geht deutlich hervor, wenn man einen weiteren Aspekt der Erläuterung dieses Punktes berücksichtigt: Wenn die Äußerung eines Innen stets als Selbstä.ußerung gilt, so kann sich das Subjekt qua Verstand verwirklichen, indem es auch noch diesen oder jenen Inhalt qua Sinnlichkeit sich zuzieht und somit qua Verstand sich selbst versinnlicht. Durch die Sinnlichkeit, die das Prinzip der Ausdehnung darstellt, steht also das Subjekt qua Verstand immer zu sich in einem ' Β134 Kursiv von mir.

8. Selbstverwirklichung

als Zeitwerdung

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Verhältnis, indem es gerade sich selbst außer sich äußert: indem es als Selbstftewußtsein auftritt. Die inhaltliche Füllung des Formalen der zeitlichen Struktur des Selbstbewußtseins ergibt sich demzufolge aus dem Aufnehmen bestimmter Inhalte in Form von Zeit. Dies bedeutet demnach in Form eines ScA-so-oder-anders-Fühlens bzw. Si'cA-so-oder-anders-Empfindens1, oder, anders gesagt, aus dem Bewußtsein seiner selbst, jedoch immer als dieses Anderen von sich in dieser oder jener bestimmten zeitlichen Form. Daß das Selbstbewußtsein als das Sich-selbst-empfinden bzw. -fühlen durch keinen Widerspruch bedroht werden kann, gewährleistet seine zeitliche Struktur als jene eines Punktes, denn dabei wird man sich seiner selbst nicht in einem und demselben Sinne bewußt. Zu sich ins Verhältnis tritt der Punkt als Bewußtsein von dieser oder jener ihm eigenen Wirklichkeit, wie beispielsweise einer, der Schmerz hat, zu sich als zu seinem eigenen Schmerzempfinden in ein Verhältnis tritt bzw. sich dieses Schmerzes bewußt wird. Nicht auf dieselbe Weise bewußt wird sich jedoch das Subjekt dabei auch noch seines in dieses spezifische Verhältnis Eintretens als eines Sich-zu-sich-differentmachens in Form von diesem oder jenem Schmerz, seines SicA-zum-Schmerzverwirklichens, d.h. also seiner Form als seines Sich-zeitlich-formens. Doch es muß sich dessen notwendigerweise bewußt sein, da dieser Schmerz als sein eigener erfahren wird. "Was" "wem" im Selbstbewußtsein bewußt wird, läßt sich gemäß der inneren Struktur des Punktes wie folgt entfalten: Demselben als dem Punkt wird dasselbe als die Wirklichkeit der Ausdehnung innerhalb von sich bewußt (formal), der Wirklichkeit von Schmerz oder Lust innerhalb von sich bewußt (inhaltlich). Hierbei waltet ein Unterschied, der durch die von der Analytischen Philosophie Freges und Quines2 herausgearbeiteten Differenz zwischen thematisierendem und nichtthematisierendem oder benutzendem Bewußtsein explizit gemacht werden kann. Das Bewußtsein des Punktes qua Erzeuger ist deshalb ein nichtthematisierendes, weil es ja eigentlich als benutzendes den Eintritt zu sich beim Sich-selbst-benutzen ermöglicht. Das Sich-selbst-benutzende kann jedoch dessen nur als benutzt bewußt werden, denn, was thematisiert wird, ist immer Anderes seiner selbst, jedoch aufgrund von einem durch sich selbst und aus sich selbst heraus Benutzten. Daher kommt man letztendlich wieder zur intentionalen Struktur des Subjekts zurück. Inzwischen wurde aber der Grund ermittelt, weswegen die innere Struktur

1 Der Inhalt von Empfindungen bzw. Gefühlen, wenn auch je für sich verschieden, kann nicht im engeren Sinne begrifflich bestimmt werden, jedoch ist der Verstand, eben in Form von Selbstbewußtsein, schon auf dieser ersten Stufe am Werke. 1 Vgl. dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999; Bd.II, Teil 1, S.354, wo unmittelbar auf Quine bzw. Frege hingewiesen wird. Quine, Willard van Orman Mathematical Logic. Cambridge 1941, §4. Frege, Gottlob Grundgesetze der Arithmetik. Jena 1893, S.4.

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II. Intentionalität bei Kant

des Subjekts in erster Linie zeitlich sein muß, soll es von sich selbst auf Anderes ausgehen. Denn gerade schon als Selbstverwirklichung als Zeit gewinnt das Subjekt Andersheit als ein sich selbst um der Objektivität willen benutzendes, und zwar in Form einer "Reizung"1, wodurch das Subjekt selbst sich ständig neu in Bewegung setzt, um sich zudem erfolgreich zum Mittel eines Zwecks machen zu können. Außer sich, doch noch nicht außer Anderem erzielt das Subjekt Andersheit auf der ersten Stufe in Form von Zeit ganz aus sich selbst heraus und ganz innerhalb von sich, beim Sich-selbst-zu-dieser-Form-machen und somit beim Sich-selbstzeitigen. Darüber hinaus geht es noch darum zu klären, wie das Subjekt seine weitere Verwirklichung auch noch durch die der Zeit gegensätzliche, aber mit ihr schon immer verbundene Form des Raumes verfolgen kann.

9. Selbstverwirklichung und Gegenständlichkeit als zeit-räumliche Verwirklichung des Subjekts Grundvoraussetzung dafür, daß die Objektivität der Außenwelt auf subjektiver Basis gewährleistet werden kann, ist zunächst, daß das Subjekt sich selbst anders wird. Die Möglichkeit, beim Anders-werden von sich weg auf Anderes hin auszugehen, wird - wie wir gerade gesehen haben - dem Subjekt tatsächlich von seiner Natur als einer zeitlichen gewährt. Qua Einheit bzw. Einfachheit des Verstandes, aber auch qua Sinnlichkeit als Prinzip von Ausdehnung verfolgt das Subjekt also Objektivität auf der ersten Stufe seiner Verwirklichimg, indem es sich selbst zeitigt, d.h., indem es auf der Basis seiner Sinnlichkeit aus sich selbst als der Einheit seines Verstandes heraus derart zu sich in Differenz tritt, daß es sich selbst in Form von diesem oder jenem Sich-selbst-fühlens ausdehnt. Das Subjekt äußert sich also zunächst einmal, wenn es aus sich selbst als Einheit heraustritt, auf sich als seine Differenz zurückkommt und somit sich als Selbstbewußtsein verwirklicht. Verbleibt aber das Subjekt auf der ersten Stufe seines Sich-selbstverwirklichens, wird seine Intention, etwas Anderes seiner selbst zu erreichen, von vornherein nicht erfolgreich sein. Da Zeit nur die erste Voraussetzung fur die Erreichung von Objektivität darstellt, ist sie für sich genommen unzureichend für die Gewinnung von Andersheit als etwas Objektivem. Eine weitere Bedingung für die Gewinnung von Objektivität auf subjektiver Basis ist, daß das Subjekt nicht nur als Zeit unaufhörlich in einem Verhältnis zu sich eintritt, indem es in Form von diesem oder jenem Fühlen außer sich steht, sondern auch, daß es analog zur Zeit auch noch als Raum derart in sich different wird, daß es zwar in Verhältnis zu sich 1

Vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999; Bd.II, Teil 1, S.91.

9. Selbstverwirklichung

und Gegenständlichkeit als zeit-räumliche

Verwirklichung

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verbleibt, gleichzeitig aber auch noch als diese oder jene Vorstellung außer Anderem stehen kann. Wiederum auf der Basis seiner Sinnlichkeit als Prinzip von Ausdehnung und dennoch aus sich selbst als der Einfachheit des Verstandes heraus muß also das Subjekt die Erreichung von Objektivität durch eine weitere Selbstdifferenzierung als Selbstwerdung in Form von Raum verwirklichen können. Denn einzig daraus ergibt sich die Möglichkeit zu klären, wie das Subjekt als ein sich selbst ausdehnender Punkt Gehalte in sich aufnehmen kann, die es als etwas außer sich, also als etwas Anderes von sich abgrenzt. Die Erreichung von Objektivität betrifft daher eine zweite subjektive Verwirklichimg. Es geht nämlich um die Versinnlichung als Verräumlichung. Berücksichtigt man darüber hinaus, daß sie qua Versinnlichung nur auf der Basis der ursprünglichen Möglichkeit des Subjekts, zu sich anders zu werden, d.h. auf der Basis seiner Verzeitlichung, erfolgen kann, betrifft im Grunde die zweite Stufe1 der Verwirklichung des Subjekts zur Erreichimg von Objektivität die zeitlichräumliche Verwirklichung des Subjekts. Dabei muß aber folgendes vorausgeschickt werden: Nachdem Kant in der Transzendentalen Ästhetik den Raum als die zweite Form der Sinnlichkeit definiert hat2, berücksichtigt er in der Schematismuslehre3, wo es ausdrücklich um die Formung der Sinnlichkeit durch den Verstand geht, die Versinnlichung im Sinne einer Verräumlichung nicht. Demzufolge taucht in der Kantischen Systematik eine Lücke auf, wodurch nicht mehr verständlich wird, wie das Subjekt von sich selbst aus überhaupt etwas als etwas Räumliches wahrnehmen kann, da als Grundvoraussetzung zur Erreichung von Objektivität nach Kant ausschließlich das Subjekt in der ursprünglichen Einheit von Sinnlichkeit und Verstand und kein naiv vorausgesetzter absoluter Raum zur Verfugung steht. Der Grund dieses Mangels im Kantischen System liegt in der von Kant selbst zwar wahrgenommenen, aber nie von ihm bis zur letzten Konsequenz verfolgten Möglichkeit, den Raum von der Zeit herzuleiten, und zwar als eine der Zeit entgegengesetzten Form. Im Einklang mit der frühen Dissertatio, in welcher der Raum als eine Form von Ausdehnung qua "extra se invicem"4 definiert wird, markiert Kant in der ersten Fassung der Kritik der reinen Vernunft den Raum einfach als die subjektive Form von "außereinander"5. Nur weil dem Kantischen Ansatz gemäß das Subjekt schon in der Zeit außer sich ist, also "extra se", erscheint die Definition des Raumes als eine Form des Außereinander sogleich als mangelhaft.

1 Für die zweite, räumliche Stufe vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990 f., Bd.I, Teil2, S.409f. und Bd.II, Teill, S.367f. 2 Vgl. A22 B37. ' V g l . u. a. A139 B178. 4 Ak. Bd.2: S.402. 5 A23 A370.

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II. Intentionalität bei Kant

Kant selbst scheint in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft den besagten Mangel beseitigt zu haben, indem er zur Definition des Raumes als der subjektiven Form des Außereinander hinzufügt, es handelt sich genauer um die Form des Außer - und "nebeneinander"1 Durch die Charakterisierung des Raumes als spezifischer Form des Außereinander, wonach die Teile desselben qua außereinander stets nebeneinander auftreten, gerät aber Kant in eine Sackgasse, weshalb der Raum entweder einfach in subjektiver Zeit aufgehoben wird oder als der Zeit entgegengesetzte Form nicht mehr als eine subjektive aus der Zeit abgeleitete Form verständlich gemacht werden kann2. Gemäß dem Kantischen Ansatz - das Subjekt als Zeit sei stets nacheinander und habe seine Ausdehnimg innerhalb von sich - gilt nämlich, daß das Subjekt bei seinem Sich-selbst-zeitigen nie im Raum ist, sondern sich selbst stets innerhalb seiner selbst in Form von diesem oder jenem Gefühl zeitlich ausdehnt und demzufolge in dem eigentümlichen Sinne seiner Verzeitlichung ausschließlich "in" der Zeit ist. Als Nacheinander "in" der Zeit kann das Subjekt also niemals in Form des Nebeneinander auftreten. Daß es zu sich kommt, bedeutet, daß es sich innerhalb seiner selbst als ein werdendes Selbiges ausdehnt, und keineswegs, daß es einer Art Zusammenfugung von statisch nebeneinander stehenden Erscheinungen eines einzigen Ichs entspricht. Im Raum kann hingegen immer nur ein Objekt, niemals ein Subjekt auftreten. Aus der von Kant selbst durchaus zu Recht betonten Abgrenzung des zeitlichen Subjekts von dem räumlichen Objekt3 ergibt sich aber unmittelbar die folgende Schwierigkeit: Daß ein Objekt im Raum ist, setzt voraus, daß es in Form von Raum auftritt. Allerdings darf nach dem Kantischen Ansatz als diese Form ausschließlich ein Subjekt (und nie, wie beispielsweise bei Newton, etwa ein absoluter Raum) auftreten, so daß man anscheinend zu dem Widerspruch kommt, das Subjekt als Nacheinander "in" der Zeit müsse zugleich Nebeneinander im Raum sein. Um sich gerade von diesem Widerspruch zu befreien, macht Kant in der Schematismuslehre4 die These stark, nur die Zeit treffe auf das Subjekt zu, dies aber zum Nachteil des Raumes, welcher sich notwendigerweise in einem Zeitmodus aufzulösen scheint. Tatsächlich betritt Kant den Weg, der zur Aufhebung des Spezifischen des Raumes in der Zeit fuhrt. In jener der Schematismuslehre folgenden Abteilung der Analogien der Erfahrung finden unter den drei Modi der Zeit neben der "Folge"5 als dem Eigentümlichen der Zeit im Sinne des Nacheinander auch noch "Beharr-

' B38. Vgl. dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil 1, S.127f. Zudem gilt als Vorbild die schon analysierte Textpassage der Transzendentalen Ästhetik A33 B51, wo Kant die Linie im Unterschied zum Punkt betrachtet. 4 Vgl. A139 B178, ebenso in den Analogien der Erfahrung AMI B219. 5 A177 B219. 2 3

9. Selbstverwirklichung und Gegenständlichkeit als zeit-räumliche Verwirklichung

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lichkeit" und "Zugleichsein" als Zeitbestimmungen Platz. Der daraus folgende Engpaß ist aber offensichtlich: Denn gerade ausgehend von der Kantischen Prämisse, die Zeit sei einzig ein Nacheinander, müßte dann nur der Raum beharren, und zwar als die Form des "Zugleich", wohingegen Kant sogar dazu kommt, die widersprüchliche These stützen zu müssen, die "Beharrlichkeit" selbst "drück[e] überhaupt die Zeit als das beständige Correlatum alles Daseins der Erscheinungen, des Wechsels und aller Begleitungen aus. Denn der Wechsel trifft die Zeit selbst nicht, sondern die Erscheinung in der Zeit"1. Obwohl hier Kant anscheinend die unvertretbare These einer beharrlichen Zeit billigt, genügt es, die darauf folgende, in Klammern gesetzte Anmerkung zu lesen, um zu verstehen, daß Kant sich im Grunde des aus dem zuletzt Gesagten ergebenden Widerspruch einer beharrlichen Zeit durchaus bewußt ist, ihn aber dennoch nie völlig aufgelöst hat. Er merkt nämlich an, daß "das Zugleich nicht ein modus der Zeit ist, als in welcher gar keine Theile zugleich, sondern alle nacheinander sind"2, so daß es sehr unwahrscheinlich scheint - wie hingegen Kant nur zwei Zeilen zuvor gemeint hat - , daß der Wechsel nicht auf die Zeit selbst zutrifft. Denn gerade im Gegensatz zu der ersten Äußerung Kant kann etwas "zugleich" bzw. in Form von Raum Seiendes nur dann wechseln, wenn es in Form von Zeit als ständiger Wechsel auftritt. Etwas Räumliches als Form von diesem bestimmten Raum kann demnach nicht als Zeit, wohl aber wie die Zeit im absoluten Wechseln auftreten: die von dem Subjekt entworfenen Vorstellungen von etwas. Daher muß man aber notwendigerweise den philosophischen Versuch Kants, den Raum als Form des Nebeneinander zu charakterisieren, fallen lassen. Und zwar deshalb, weil der Raum im Gegensatz zum Nacheinander der Zeit stets als Zugleich auftritt, jedoch nie Nebeneinander, sondern vielmehr wie die Zeit im absoluten Wechsel. Eigentlich geht es um ein "Nacheinander" von "Zugleich". Nach dem, was Kant nur intuitiv an einigen Stellen der zweiten Fassung der Kritik der reinen Vernunft bemerkt hat, gilt es zum einen, die Form des Raumes nicht als Nebeneinander, sondern als "Zugleich"3 weiterzuentwickeln, gerade "weil der Raum allein beharrlich bestimmt, die Zeit aber [...] beständig fließt"4. Zum anderen muß aber auch die Tatsache berücksichtigt werden, daß der Raum als Form des Zugleich nichts als eine abgeleitete Form von Zeit sein kann. Denn soll einzig die Form von etwas absolut wechseln und nicht etwas, das eine bestimmte Form vielmehr hat und das somit auch in einer bestimmten Form verbleiben kann, kann offenbar diese Form selbst nicht von dem Objekt her abgeleitet werden, weil es als Objekt die Form im absoluten Wechsel sowohl bekommen als auch verlieren kann. Abgeleitet werden kann die Form, wenn überhaupt, 1

Al 83 B226 Kursiv von mir.

2

Ebd.

3 4

B40 B226 B291. B291.

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II. Intentionalität bei Kant

ausschließlich vom Subjekt. Und weil das Subjekt zunächst nur als Zeit verständlich gemacht werden kann, kann wiederum der Raum als subjektive Form des Zugleich von nichts anderem als von dem Subjekt als einem zeitlichen abgeleitet werden, wenn auch mit der Einschränkung, Zeit und Raum stets in ihrer ursprünglichen Gegensätzlichkeit gelten zu lassen. Daher läßt sich noch einmal wiederholen, daß nicht danach gefragt wird, wie etwas im Raum ist, sondern gerade nach der subjektiven Form selbst, also nach der Form von Raum als einer subjektiven, so daß nun analog zur Zeitanalyse sich die Frage stellt, wie der Raum als "Zugleich" einer Linie, einer Fläche, eines Körpers auftreten kann, wäre ein absoluter Raum, in dem Linie, Fläche und Körper sind, nicht bereits gegeben. Wiederum analog zur Zeitanalyse läßt sich die Frage nur beantworten, wenn man die These der Subjektivität des Raumes derart stark macht, daß es sich um eine Art Verräumlichung des Subjekts handelt. Um die Verräumlichung des Subjekts zu erklären, wird nur das Subjekt selbst in Anspruch genommen, so daß in Wahrheit verständlich gemacht werden muß, wie das Subjekt qua nulldimensionaler Punkt sich zur eindimensionalen Linie1 gestalten kann. Schon dadurch, daß der nulldimensionale Punkt allein den Ausgangspunkt zur Gewinnung des Raums ausmacht, läßt sich verstehen, daß die Deduktion des Raumes als der zweiten Form des Sich-selbst-verwirklichens einseitig von der Zeit her zum Raum fuhren muß und nicht umgekehrt. Daß der Raum eine abgeleitete Form von Zeit darstellt, läßt sich bei Kant ausgehend von der Transzendentalen Ästhetik deutlich herausarbeiten, wo er die Form von Zeit durch die Analogie zur Linie erläutert. Indem man nämlich allein durch einen Punkt eine ideale Linie erzeugt und man von der nun gewonnenen Linie her auf alle Eigenschaften der Zeit zu schließen versucht, gelangt man deshalb noch nicht zum Wesentlichen der Zeit, weil "die Teile [der Linie] zugleich", während jene der Zeit "jederzeit nacheinander sind"3, d.h., weil man dabei gerade zum Raum als Zugleich, und zwar als zu einem durch den Punkt erzeugten, gelangt. Dabei geht es um eine doppelte Differenzierung des Subjekts, das als Nacheinander der Zeit aus sich selbst heraustritt, um etwas in sich als Gegensatz zu sich, nämlich als Zugleich des Raumes zu gewinnen. Der Ausgangspunkt ist demnach der werdende Punkt, der sich je und je vorwärts zum McAftiacheinander entwickelt. Die Gewinnung des Raumes als Zugleich erfolgt also als eine Art Selbstwegierung des Punktes selbst, der - nach und nach auf die Linie hin aus sich selbst heraustretend und zugleich qua Punkt auch bei sich verbleibend - seine Ausdeh1

Auf diese erste Deduktion folgt, daß die Linie zur Fläche, die Fläche zum Körper wird. Bezüglich dieser weiteren Raumbildungen als einzig mögliche Raumdimensionen im Einklang mit der Euklidischen Geometrie vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1993; Bd.I, Teil2, §18. 2 A33 B50. 'Ebd.

9. Selbstverwirklichung und Gegenständlichkeit als zeit-räumliche Verwirklichung

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nung qua Linie nun auch außerhalb von sich als Punkt gewinnt und diese Ausdehnung dadurch auch hat. Daß das Subjekt sich je und je negiert, bedeutet demzufolge, daß es aus sich selbst heraus nicht nur derart zu sich in ein Verhältnis tritt, daß es bei seinem Bei-sich-selbst-ankommen so oder auch anders als dieses oder jenes Sich-selbst-fühlen ist. Vielmehr tritt es auch noch derart in ein Verhältnis zu sich, daß es sich selbst negierend Anderes von sich als ein von ihm Entworfenes bzw. Vorgestelltes gewinnt und es nun für sich als ein Anderes von sich hat. Die Selbstbewegung von der Zeit zum Raum stellt also die Formung des Subjekts als seine eigene Verräumlichung dar, wobei noch zu bemerken gilt, daß das Ergebnis der doppelten Differenzierung des Subjekts, das als Zeit sich über sie hinaus auch noch verräumlicht, als Form für etwas Anderes und niemals als Form für das Subjekt selbst gilt. Allein durch seine doppelte Differenzierung verschafft sich demnach das Subjekt die Möglichkeit, auf etwas Anderes als es selbst auszugehen, indem es sich selbst die Form von etwas Anderem als es selbst entwirft bzw. vorstellt. Aus dem zuletzt Gesagten wird demnach verständlich, weshalb der Raum als Zugleich der Linie, der Fläche und des Körpers existieren kann, obwohl ein absoluter Raum nicht bereits gegeben ist. Denn etwas befindet sich eigentlich im Raum erst dann, wenn fiir es von dem Subjekt zuerst die Möglichkeit geschaffen wird, in dieser oder jener Form von Raum aufzutreten. Im Rückbezug auf sich selbst als zeitliches Selbstbewußtsein verschafft sich das Subjekts von selbst bzw. sich selbst negierend die Möglichkeit, sich eines Anderen bewußt zu werden, so daß die zweite Stufe des Sich-selbst-verwirklichens eigentlich der Selbstgestaltung des Subjekts als Selbstverräumlichung in Form von Raumbewußtsein entspricht. Genauer gesagt: Es geht um die ursprüngliche Struktur von Intentionalität qua Gestaltung des Selbstbewußtseins im Fremdbewußtsein, d.h. um das Subjekt qua fremd-werdendes Selbstbewußtsein. Auf der zweiten Stufe, d.h. bei seinem Sich-selbst-ausdehnen in Form von Raum gewinnt das Subjekt überhaupt erst etwas als etwas außerhalb von sich, wenn auch bis dahin ausschließlich als eine bloße Bestimmung in sich. Es kommt nämlich aufgrund seiner eigenen weiteren Differenzierung zur Gegenständlichkeit von etwas und steht nicht bloß außer sich qua zeitliches, sondern zusätzlich dazu auch außer Anderem. Denn im Zusammenhang mit dem Raum ergibt sich die Möglichkeit, etwas als etwas Anderes des Subjekts zu bestimmen, also etwas als etwas zwar nicht von dem Subjekt Getrenntes, aber von ihm Unterschiedenes als eine eigene entworfene Ausdehnung, und darüber hinaus auch die Möglichkeit, sinnvoll von "Quantität" und "Größe" eines Gegenstandes zu reden, während für die Zeit angemessen nur von "Qualia" als dem Sich-selbst-zu-sich-anders-machen und somit -anders-fuhlen des Subjekt gesprochen werden könnte. Die Synthesis von Raum als Gestaltung von Zeit-Raum-Bewußtsein zeigt sich demzufolge als Grundvoraussetzung dafür, Gehalte zu gewinnen, die sich faktisch

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II. Intentionalität bei Kant

von dem Subjekt als einem Punkt abgrenzen: nämlich als etwas von dem Subjekt selbst Abgesondertes, also als von ihm gewonnene Gegenstände bzw. Vorgestelltes. Wohlgemerkt: Allein die Form von Raum ermöglicht bei ihrer eigentümlichen Formung die Einstellung von Gehalten in eine bestimmte gegenständliche Form, nicht aber ermöglichen umgekehrt bestimmte Gehalte die gegenständliche Form selbst1. Daß das Subjekt sich faktisch etwas vorstellen muß, will es Objektivität erreichen, hängt deshalb ausschließlich von seiner intentionalen Struktur ab, sich als Zeitbewußtsein je und je zum Raumbewußtsein zu gestalten. Die Vorstellung als bloßer Gehalt setzt somit nach dem bisher rekonstruierten Kantischen Ansatz ein Sich-etwas-Vorstellen voraus. In Form eines zeitlichen Bewußtseins benutzt das Subjekt sich selbst und gelangt somit zu sich als einem Benutzten. Zum Benutzten als zu einem in Form von Raum Gestalteten wird aber das Subjekt nur dann, wenn seine Selbstgestaltung derart komplex ist, daß sie die Form einer weiteren Selbstbenutzung des Subjekts annimmt, das qua Nacheinander "in" der Zeit sich selbst benutzend zu sich als seinem Benutzten kommt und erst jetzt etwas als etwas Gegenständliches in sich hat. Die Form von Raum als Zugleich entsteht also aus dem Nacheinander der Zeit. Mit der Zeit geht sie auch deshalb einher, weil sie einen Fall von nichtthematisierendem Bewußtsein darstellt, und trotzdem gilt sie als "Raum-Zugleich" als eine dem "Zeit-Nacheinander" entgegengesetzte Form. Tatsächlich gehen die Vorstellungen als diese oder jene Form von Zugleich mit dem Nacheinander der Zeit einher, weil sie eben als Zugleich dieses Raumes, aber wie das Nacheinander dieser Zeit im absoluten Wechsel entstehen und vergehen. Die Formung als Verräumlichung betrifft aber nicht nur die Sinnlichkeit in Form dieser oder jener Vorstellung bzw. Anschauung, denn als Formung impliziert sie auch das tätige Prinzip des Formens, das als eine besondere Einwirkung des Verstandes (als Prinzip von Einfachheit) auf die Sinnlichkeit (als Prinzip von Ausdehnung) verständlich gemacht werden kann. Auf dem Weg zur Gewinnung von Objektivität macht sich das Subjekt eigentlich qua Verstand deutßhig in bezug auf sich qua Sinnlichkeit, die ihrerseits zum Mittel für die Erreichung von Objektivität als deutbarer Anschauung geformt wird2. Die Objektivität wird hingegen erst nachträglich und letztlich als Zweck der 1 Selbst wenn beispielsweise die Gesichtseindrücke unmittelbar informativ fiir Außenwelt sind, sind sie deswegen aber noch nicht unentbehrliche Bedingung für die Gestaltung von Räumlichkeit. Wie beispielsweise die Erfahrung blinder Menschen zeigt, ist es vielmehr die Form von Raum selbst bei ihrer eigentümlichen Formung, welche die Möglichkeit bietet, etwas als etwas Räumliches wahrzunehmen, weil sie von Blinden durch andere Gehalte - z.B. Tastempfindungen - gefüllt werden kann. Vgl. dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990; Bd.I, Teil2, S.501. 2 Bezüglich der deutbaren Anschauung vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1993; Bd.I, Teil2, S.409ff. Bezüglich des deutfähigen Begriffes vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1993; Bd.I, Teil2, S.542ff.

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und Gegenständlichkeit

als zeit-räumliche

Verwirklichung

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Deutung von Verstand und Sinnlichkeit in Form von Erdeutetem auftreten1. Auf der zweiten Stufe seines Verwirklichens benutzt das Subjekt sich selbst ausschließlich, um Objektivität zu erreichen, d.h., um etwas Anderes als es selbst überhaupt bestimmen zu können. Es wird zum Benutzten seiner selbst in Form einer bestimmten Anschauung, weil es gleichursprünglich sich selbst innerlich so differenziert, daß es sich von seiner eigenen Anschauung unterscheidet und sie zu etwas Bestimmbarem hinsichtlich der Objektivität von etwas Anderem als es selbst macht. Es macht sich selber also deutßhig für eine deutbare Anschauung, und zwar dadurch, daß es bei sich qua Punkt verbleibt und die Anschauung als Form der Ausdehnung von etwas Anderem als es selbst bestimmt. Wenn auf der ersten Stufe seiner Verwirklichung im Sinne der Verzeitlichung das Subjekt seine Ausdehnung ausschließlich innerhalb von sich selbst hat, so daß es bloß in einer bestimmten Form von Gefühl ist, verschafft es sich auf der zweiten Stufe seiner Verwirklichung als Verräumlichung die Möglichkeit, etwas in Form von Raum, also außerhalb von sich als Punkt zu haben. Es gewinnt auf dieser Stufe die Gegenständlichkeit von etwas, indem es seinen Gehalt in einer je und je bestimmten Form umgrenzt. Genauer gesagt: Durch seine eigene Formung grenzt das Subjekt seinen ihm gegebenen Gehalt von sich ab, so daß es ihn nicht nur unbestimmt bzw. unumgrenzt besitzt, sondern ihn als diesen bestimmten von sich abgegrenzten Gehalt im "Begriff' hat bzw. begreift. Bestimmung bedeutet hier also "begrifflich" bestimmen, wobei unter Begriff eine Strukturierung des Verstandes zu verstehen ist. Denn kann man sich einen Gehalt in Form von Raum vorstellen, geschieht dies stets nur unter der Voraussetzung einer Form, die Form gibt, indem sie einen Gehalt gegen seinen Gegengehalt, und d.h. beispielsweise Rundform gegen Nichtrundform oder Regenbogenform gegen Nichtregenbogenform, abtrennt, also unter Voraussetzung der Verstandestätigkeit in Form von Begriffen. Der deutfähige Begriff ermöglicht also die Bestimmbarkeit der Anschauung dadurch, daß er den ursprünglichen Widerspruch zwischen Inhalt und Gegeninhalt der gegebenen Anschauung vermeidet. Die Raumbildung in Form einer bestimmten Anschauung bzw. Vorstellung erfolgt demnach notwendigerweise gleichursprünglich mit der Begriffsbildung. Denn nur dadurch, daß das Subjekt sich einen Begriff bildet, wird etwas als etwas Gegenständliches in Form eines Inhalts im Gegensatz zu seinem Gegeninhalt in seiner Sinnlichkeit überhaupt gewonnen. Aufgrund seiner Sinnlichkeit, aber dennoch durch sich selbst gewinnt das Subjekt Gegenständlichkeit, indem es durch sich selbst in Form eines je und je neu gebildeten Begriffs, also im Nacheinander eines Begriffes, die ursprüngliche Widersprüchlichkeit von Inhalt und Gegeninhalt der 1 Die hier angeführte These, daß die objektive Erfahrung als Erdeutetes gilt, stimmt auf ausgezeichnete Weise mit den späten Überlegungen Kants überein, die Erfahrung sei »Zweck der Erkenntnis« und das Subjekt qua Verstand und Sinnlichkeit das Mittel. Vgl. Ak. Bd.22: S.535.

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II. Intentionalität bei Kant

Anschauung vermeidet1: z.B. als hier und jetzt Rundes oder Regenbogen im Unterschied zum dort undjetzt Nichtrunden oder Nichtregenbogen. Zudem gilt es weiter zu berücksichtigen, daß aufgrund der Gleichursprünglichkeit von Begriffs- und Anschauungsbildung Begriffsinhalt und Anschauungsinhalt zugleich wechselseitig aufeinander bezogen entstehen. Darüber hinaus entsprechen auch die Merkmale des Begriffs den Eigenschaften der Dinge, eben weil der Begriff seinen Inhalt vor der Wirklichkeit des Dinges besitzt und ihn schon auf der Stufe der Gegenständlichkeit von etwas gewinnt. Der Begriff wird immer einmalig in bezug auf eine ebenfalls einmalige Anschauung gebildet und nur im Rückbezug auf sie bekommt er seine Gültigkeit. Diesbezüglich sei aber hier noch einmal daran erinnert, daß Kant selbst zu Unrecht die Abstraktionstheorie2 hinsichtlich des Ursprungs der Begriffe verteidigt hat. Dies führte aber zur absurden Annahme, daß ein Begriff für viele Anschauungen gelten müsse. Nach dem bisher rekonstruierten Kantischen Ansatz bzw. über ihn hinausgehend gilt vielmehr, daß die Worte, jedoch nicht die Begriffe für viele Dinge aufgrund reiner Konventionen geschichtlich überliefert sind. Durch die Analyse von Anschauimg und Begriffsbildung als zeit-räumliche Verwirklichung des Subjekts gelangt man gerade zu dem Eigentümlichen jener viel diskutierten transzendentalen Gegenständlichkeit, von der die Frage nach den Dingen ausgegangen ist. Denn gewinnt das Subjekt aufgrund von Anschauung durch den Begriff vermittelt etwas als etwas Gegenständliches, so erreicht es noch keine Objektivität. Vorstellungen bzw. Erscheinungen von etwas sind bestimmt nicht Dinge, aber doch etwas: verwirklichte Subjektivität und entworfene Objektivität, d.h. Gegenständlichkeit um Objektivität willen. Wie kann man es aber aufgrund dieser Prämisse vermeiden, daß sich nicht alles in dem reinen Subjekt, also in den Vorstellungen, auflöst? Sogar inhaltlich gesehen hat unser Regenbogen die gleichen Sachgehalte eines bloß Gegenständlichen, wie jeder Traum bezeugt. Und auch die Ausdehnung, in welcher Form sie auch immer auftreten mag, wird gewiß niemals ein Merkmal für die Wirklichkeit darstellen können. Bevor diese Frage beantwortet werden kann, gilt es, weiter auf die Subjektivität einzugehen, um zu sehen, ob nicht vielleicht gerade aufgrund der Gegenständlichkeit rein subjektiv formal die Wirklichkeit der Dinge erreicht werden kann.

1 Wie die Bestimmung unbedingt »nacheinander« erfolgen muß und darüber hinaus zeitgebunden ist, sieht Kant an zwei Stelle der Kritik der reinen Vernunft. Vgl. B48 B291. Diese Textpassagen lassen ferner deutlich hervorgehen, wie Kant zu Unrecht die Abstraktionstheorie hinsichtlich des Ursprungs der Begriffe vertreten hat. Vgl. dazu Kap.I, §6. 2 Kant vertritt ausdrücklich die Abstraktionstheorie in den folgenden Textpassagen: A76f. B102f. B130f. Ak. Bd.9:S.91f.

10. Zusammenfassung

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10. Zusammenfassung Das Verhältnis zwischen Vorstellung und Objekt ist ein zentrales Problem der Kantischen Erkenntnistheorie. So klar es ist, daß Erkenntnis stets unmittelbare Erkenntnis von Objekten ist - denn in einem Urteil wie "Dies ist ein Regenbogen" wird ausschließlich ein Objekt der Außenwelt, nämlich ein Regenbogen, thematisiert - , so klar ist ebenfalls, daß uns aber Vorstellungen (und nicht Objekte) ursprünglich gegeben sind, so daß wir nur aufgrund von Vorstellungen bzw. von ihnen ausgehend zu den Objekten gelangen können. Qua Verstand geht ein Subjekt über die gegebenen Vorstellungen hinaus auf Objekte der Außenwelt aus. Die Erkenntnis der Objekte ist somit subjektabhängig in Form des Zusammenspiels von Verstand und Sinnlichkeit. Gemäß der sogenannten Kopernikanischen Wende Kants ist aber nicht nur die Erkenntnis der Objekte subjektabhängig, sondern die Wirklichkeit der Objekte ist selbst subjektabhängig. Jede Annahme einer subjektunabhängigen Wirklichkeit der Außenweltobjekte muß vom Kantischen Standpunkt aus als naiver Realismus abgelehnt werden. Wie im ersten Kapitel ausfuhrlich begründet, ist damit auch eine Kant-Deutung, wonach Dinge-an-sich als vom Subjekt unabhängig wirklich angesetzt werden müßten, abzulehnen. Vielmehr reflektiert der Ausdruck vom "Ding an sich", daß die Objekte der Außenwelt s\ib)ektabhängig und nicht subjektiv sind, nämlich nicht bloß als Erscheinung, sondern auch an sich selbst betrachtet werden können. Von diesem Hintergrund aus hat sich im zweiten Kapitel als notwendig erwiesen, die Entfaltung der Subjektivität qua eigentümlicher Einheit von Verstand und Sinnlichkeit durchzufuhren, um herauszuarbeiten, wie das Subjekt überhaupt strukturiert sein muß, soll es Objektivität ermöglichen. Allein dadurch, daß laut dem Kantischen Ansatz das Subjekt von sich selbst bzw. aus sich selbst heraus auf Objekte ausgeht, ergibt sich ein weiteres Merkmal, das auf die Erkenntnis als Produkt subjektiver Tätigkeit notwendigerweise zutrifft: ihr zweckmäßiger Charakter. Vorstellungen und Empfindungen liegt immer ein Subjekt zugrunde, das sie eigentlich hervorruft, um etwas Anders als sich, Objekte, zu erzielen. Wenn auch eher intuitiv in der Kritik der Urteilskraft und ausführlich erst im Opus Postumum hat Kant anhand der Zweckmäßigkeit der Erkenntnis darauf hingewiesen, daß das Subjekt in seinem Wesen Intentionalität ist, wobei Intentionalität nichts anderes bedeutet, als daß das Subjekt seiner Natur nach absichtlich bzw. um willen seines Selbst Anderes gewinnen will. Denn ihrem Wesen nach besteht jede Intention darin, Erfolg als etwas von ihr Verschiedenes zu erlangen. Damit wird es gerade der Erfolg einer Intention sein, welcher die Objektivität von etwas wird gewährleisten können. Jeder Vorstellung liegt demnach eine Form zugrunde, welche sich nach und nach aus sich selbst heraus so formt, um etwas Anderes ihrer selbst zu erzielen.

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II. Intentionalität bei Kant

Laut der Kopernikanischen Wende ist daher eine Vorstellung nicht einfach ein mentales Epiphänomen des Körpers, sondern vielmehr ein Sich-selbst-etwasvorstellen, um nach eigenen Entwürfen auf die Dinge auszugehen. Daraus folgt, daß Vorstellungen die Ebene der Gegenständlichkeit darstellen, wodurch das Subjekt Anderes seiner selbst entwirft, obwohl dieses jeweilige Etwas zunächst einmal in Form von etwas rein Subjektivem auftritt und darüber hinaus eigentlich als ein "Nichts" zu betrachten ist, um mit Kant zu sprechen, bloß als "Erscheinung". Aus dem zuletzt Gesagten erwirbt der sogenannte "transzendentale Gegenstand" eine ganz andere Bedeutung, als daß es dabei um etwas Verborgenes "in" oder "hinter" den Dingen ginge. Denn durch den geheimnisvollen Ausdruck "transzendentaler Gegenstand" weist Kant vielmehr auf die reine Subjektivität hin, welche sich selbst in Form von reinem Bewußtsein zum Mittel für die Erreichimg von Objektivität macht. Die intentionale Form des Subjekts bei seiner Selbstformung stellt demnach den Leitfaden für das Verständnis dar, wie Subjektivität durch sich selbst Anderes als sich erzielen kann. Aufgrund dieser Formung werden nämlich jene Bedingungen erklärt, wodurch zunächst einmal ein Gehalt als eine Bestimmung "in" uns aufgenommen werden kann, und d.h., wie das Subjekt von seinem Körper (und nicht notwendigerweise von dem Äußeren eines Objekts), aber durch das Innere seines Vorstellungsvermögens sich selbst in eine bestimmte Form um der Erreichung der Objektivität willen verwirklicht. Grundvoraussetzung dafür, daß das Subjekt von sich selbst bzw. aus sich selbst heraus Andersheit in Form von seinem eigenen Erfolg gewinnt, ist, daß es zu sich selbst anders wird, so daß es selbst stets dynamisch zu sich in ein Verhältnis tritt: qua werdendes bzw. zeitliches Selbstbewußtsein. Denn die Möglichkeit, zu sich in ein Verhältnis zu treten, hat das Subjekt, wenn es sich selbst derart in sich ausdehnt, daß es zu sich als zu diesem ständig anders Gewordenen im Verhältnis steht und somit sich selbst als ein außer sich Stehendes zeitigt. Das Subjekt ist als Einheit von Verstand und Sinnlichkeit bzw. tritt als ein Wirkliches erst dadurch auf, daß es wird, d.h. indem es sich für etwas Anderes als sich bzw. für irgendeinen Gehalt rezeptiv macht. Die Zeitverwirklichung des Subjekts stellt daher die Kategorie der "Gegebenheit" dar, denn seine Selbstausdehnung erfolgt stets unter der Voraussetzung, daß es sich selbst benutzend als dieses oder jenes Benutzte bzw. in Form von diesem oder jenem Sich-selbst-so-oder-anders-fühlen auftritt. Obwohl das Subjekt schon immer außer sich in Form von diesem oder jenem Gefühl steht, bleibt es qua Selbstbewußtsein von sich inhaltlich undifferenziert. Es selbst ist bloß, doch nicht hat es diesen einen Gehalt als etwas von sich Abgesondertes. Andersheit gewinnt das Subjekt qua Zeit einzig innerhalb von sich qua Punkt. Wenn das Subjekt Andersheit auch außerhalb von sich, eben Objektivität, erreichen will, muß es daher nicht allein als dieses außer sich Stehende verbleiben,

10. Zusammenfassung

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sondern sich auch noch derart strukturieren, daß es seinen eigenen Gehalt von sich als diesem Punkt unterscheiden kann: Es muß sich zum Raumbewußtsein verwirklichen (zweite Grundvoraussetzung für die Erreichung der Objektivität). Die Bildung des Raumbewußtseins bezeichnet also den weiteren ursprünglichen Vollzug des Subjekts als eines Fremd-werdenden Selbstbewußtseins. Zur Andersheit außerhalb von sich gelangt das Subjekt deshalb, weil es als Raumbewußtsein außer Anderem stehen kann und sich in die Lage versetzt, etwas Fremdes zu entwerfen. Solch eine Bewußtseinsbildung vollzieht sich durch eine Selbstnegierung des Subjekts, das dadurch, daß es seinen Gehalt von sich qua Nacheinander Zeit absondert, den Gehalt selbst in Form von Zugleich im Begriff hat. D.h., es hat sich zum deutfähigen Begriff für eine deutbare Anschauung gemacht und hat durch den eigenen Akt einer ursprünglichen Widerspruchsvermeidung einen Inhalt gegen dessen Gegeninhalt unterschieden und somit etwas Gegenständliches gewonnen. Zudem gilt es daher anzumerken, daß dieses jeweilige Etwas, wenn auch begrifflich bzw. im Sinne der "Quantität" bestimmt, nichts anderes als eine weitere Selbstausdehnung des Subjekts ist und als Selbstausdehnung mit dem Subjekt zeitlich im absoluten Wechsel entsteht und vergeht. Es geht eigentlich um die Gegenständlichkeit, welche als subjektiv entworfene bzw. vorgestellte Form des Zugleichs für etwas Anderes bzw. für ein Objekt die unentbehrliche Bedingimg zur Erreichung von Objektivität darstellt. Der Stand der Arbeit ist also die Erläuterung des eigentümlichen Begriffes der Gegenständlichkeit, die nach Kant als die vom Subjekt entworfene bzw. vorgestellte Form des Raumes für ein Objekt anzusehen ist. Regenbogenform, Regentropfenform, Rundform usw. sind daher reine Formen, in welchen jeweilige Objekte bestehen können, aber nicht notwendigerweise bestehen müssen. Denn all diese Formen als reine von dem Subjekt gewonnene entstehen und vergehen, ohne je zu bestehen, wie ebenso das Objekt allein in einer bestimmten Form besteht oder sich verändern kann, sobald eine Form an ihm wechselt. Obwohl aus dem zuletzt Gesagten deutlich hervorgeht, daß die Gegenständlichkeit gegenüber der Wirklichkeit der Objekte nach dem Kantischen Ansatz konstitutionstheoretisch primär ist, gilt es noch die Frage zu stellen, wie ausgehend von der Prämisse einer jeder Erkenntnis zugrunde liegenden, Gegenständlichkeit in Form dieser oder jener Vorstellung die Wirklichkeit nicht in den Vorstellungen bestehen kann. Selbst die Tatsache, daß die Vorstellungen Formen fiir etwas Anderes darstellen, läßt jedoch eine Anzeige dessen, was nicht mehr auf die Vorstellungen, sondern eigentlich ausschließlich auf die Dinge zutreffen kann, ahnen: ihre Wirklichkeit. Berücksichtigt man aber, daß die Gegenständlichkeit nur eine erste Vorleistung des Subjekts für die Erreichung der Objektivität darstellt, so ist noch

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II. Intentionalität bei Kant

eine weitere Ausübung der Verstandestätigkeit auf die Sinnlichkeit bzw. eine weitere Verwirklichimg des Subjekts vonnöten. Daher zeigt sich die Thematisierung des letzten Schritts des Subjekts als notwendig, um die Wirklichkeit der Objekte zu erreichen. Denn ist Anderes qua subjektive Gegenständlichkeit bloß als "Erscheinung" zu betrachten, so gilt es doch gerade, Anderes zu erzielen, das gerade nicht bloß als "Erscheinung", sondern eben auch noch "an sich selbst"betrachtet werden kann. Die Wirklichkeitsproblematik wird daher im Zusammenhang mit der am Anfang gestellten Frage einer eigentümlichen Unbegreiflichkeit der Dinge Thema des nächsten Kapitels sein.

EU. Ding und Wirklichkeit 1. Die Verwirklichung des Subjekts hin zur Gewinnung von Objektivität qua Fremdverwirklichungsbewußtsein Die bisherige Entfaltung des Kantischen Ansatzes hat zur Einsicht gefuhrt, daß die Gegenständlichkeit in Form von Zeit-Raum-Bewußtsein gegenüber der Wirklichkeit der Objekte primär ist, und zwar deshalb, weil Vorstellungen und nicht Dinge dem Subjekt ursprünglich gegeben sind. Daher gilt es, die Frage zu stellen, ob die Wirklichkeit aufgrund dieser Prämisse nicht unausweichlich dazu verurteilt ist, sich in Vorstellungen aufzulösen1. Als Vorarbeit zur Beantwortung dieser Frage sei zunächst daran erinnert, daß die Stufe des Zeit-Raumbewußtseins ausschließlich die Selbstverwirklichung des Subjekts in Form des FremdvergegensianiW/cAwngsbewuBtseins2 und keineswegs die Stufe eines objektiven Fremdbewußtseins von etwas Anderem als es selbst darstellt. Das Fremdvergegenständlichungsbewußtsein erfolgt aufgrund der Selbstverwirklichung des Subjekts bzw. der Selbstausdehnung desselben, indem es qua Verstand aufgrund seiner Sinnlichkeit derart zu sich in ein Verhältnis tritt, daß es sich aus sich selbst heraus einen in Form von Raum auftretenden Inhalt zuzieht und somit sich etwas Anderes als sich entwirft. Das Subjekt hat auf dieser Stufe seiner Selbstformung einen Gehalt im Griff, d.h. es hat sich zu einem deutfahigen Begriff für eine deutbare Anschauimg gemacht. Das Fremdvergegenständlichungsbewußtsein ist in diesem Sinn bloß Bewußtsein von einem aus sich selbst heraus allein vergegenständlichten bzw. entworfenen Anderen. Auf dieser Stufe des Sichselbst-gestaltens wird vom Subjekt keine Objektivität erreicht. Zum anderen gilt es, noch einmal das asymmetrische Verhältnis zwischen Selbstbewußtsein und Fremdbewußtsein genau zu umreißen, dies um so mehr, als Kant selbst die Ableitbarkeit von Fremdbewußtsein aus Selbstbewußtsein ständig verkennt. Er stiftet diesbezüglich sogar Unklarheit, und zwar deshalb, weil er bei dem irrigen Versuch einer Deduktion des Selbstbewußtseins ausgehend vom Fremdbewußtsein die Möglichkeit einer zweifachen Betrachtung des Ichs - "das Ich als Subjekt, und das Ich als Objekt"3 - nicht nur als möglich, sondern als ohnehin faktisch gelten läßt, wobei das genaue Gegenteil sich als richtig erweist. 1 Für die dritte Stufe der dreigegliederten Intentionalität, jene der Verwirklichung von etwas, vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990 f., Bd.I, Teil.2, S.675f. und Bd.II, Teil.l, S. 416f. 2 Für eine nähere Charakterisierung des Fremdvergegenständlichungsbewußtseins vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999, Bd.II, Teil.l, S.367f. und 423f. 3 Ak. Bd.20, S.270.

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III. Ding und Wirklichkeit

Denn die Unerklärbarkeit des Selbstbewußtseins als Fremdbewußtsein von sich selbst betrifft weniger die Theoretisierung des komplexen Phänomens des Selbstbewußtseins, wie Kant meint, als sie vielmehr in der Verkennung des Vorrangs des Selbstbewußtseins vor dem Fremdbewußtsein besteht. Statt Selbstbewußtsein als einen Fall von Fremdbewußtsein aufzufassen - wie Kant - muß vielmehr der umgekehrte Weg beschritten werden. Zunächst rein negativ gesehen ist Selbstbewußtsein somit weder ein Selbstvergegenständlichungs- noch ein Vergegenständlichungsbewußtsein von Anderem als sich. Positiv gesehen kann Selbstbewußtsein einzig ein autonom dynamisches Zusich-ins-Verhältnis-treten bezeichnen, wodurch das Subjekt aus sich selbst heraus es ermöglicht, sich einen Gehalt zuzuziehen und aufgrund einer weiteren Selbstformung ihn als diese oder jene Vorstellung zu haben. Gerade die Selbstgestaltung von Selbstbewußtsein macht also den Ursprung von Fremdbewußtsein aus, denn es allein schafft qua werdende Selbstgestaltung durch seine eigentümliche zeitliche Dynamik auf die Räumlichkeit hin die Möglichkeit von Fremdbewußtsein, und zwar ursprünglich als Fremdvergegenständlichungsbewußtsein. Daß das Subjekt beim bloßen Haben einer Vorstellung nicht nur außer sich, sondern zusätzlich außer anderem steht, macht aber einzig die Grundvoraussetzung für die Gewinnung von Objektivität aus. Beim Fremdvergegenständlichungsbewußtsein stehen Zeit und Raum bzw. Punkt und Ausdehnung derart zueinander im Verhältnis, daß das Raum-Zugleich (Ausdehnung) zeitlich bzw. im absoluten Wechsel (dem Punkt gemäß) auftritt. Die Vorstellungen als Raum-Zugleich sind infolgedessen mit der Zeit untrennbar verbunden, (wenn auch qua subjektiver Raum von der Zeit selbst unterschieden), und daher etwas rein Subjektives und keineswegs als etwas Objektives anzusehen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist es offensichtlich, daß das Subjekt nach Kant allein aus sich selbst heraus Objektivität erreichen soll und daß es sie nur dann erreichen kann, wenn es bei den Vorstellungen gerade "nicht stehenbleibft]"1. Fragt man sich aber, was genau es bedeuten kann, daß das Subjekt nicht bei den Vorstellungen stehenzubleiben hat, so stößt man auf die folgende Schwierigkeit: Wenn Objektivität ausschließlich durch das Subjekt gewonnen werden kann, indem es nicht bei den Vorstellungen stehenbleibt, kann diese Gewinnung gewiß nicht vom Objekt ausgehen und somit nicht völlig unabhängig von den Vorstellungen erfolgen. Im Gegenteil, sie kann nur von ihnen ausgehend erklärt werden. Die Tatsache, daß Objektivität nur erreicht werden kann, wenn das Subjekt nicht bei den Vorstellungen stehenbleibt, darf also nicht nur nicht ausschließen, daß das Subjekt von ihnen ausgeht, sondern muß mit diesem Ausgang auch noch kompatibel sein. Denn hätte das Subjekt nicht die Möglichkeit, Vorstellungen hervorzubringen, so hätte es auch keinen Zugang zu den Dingen. Daraus

1

BXVII.

1. Die Verwirklichung des Subjekts hin zur Gewinnung von Objektivität

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kann nur folgen, daß das Subjekt in dem Sinne nicht bei den Vorstellungen stehenbleibt, sofern es mit deren Hilfe und somit über sie hinaus auf Objektivität hin ausgeht. Es geht folglich darum zu verdeutlichen, wie das Subjekt durch eine weitere Selbstverwirklichung mit den Vorstellungen umgehen muß, soll es Objektivität erreichen können. D.h. es gilt zu erklären, wie das Subjekt als Punkt in ein eigentümliches Verhältnis zu sich tritt, so daß es die Ausdehnung nicht als eine Bestimmung qua Vorstellung bloß hat, sondern auch noch etwas Ausgedehntes als etwas Objektives vor sich sieht. Die Gewinnung von Objektivität muß aber daher gleichursprünglich mit der Bildung einer neuen subjektiven Synthesis bzw. einer neuen Bewußtseinsart entstehen, denn dem Subjekt bleibt nichts anderes übrig, als sich als Zeit auf den Raum anders zu beziehen bzw. sich als Zeit-Raum-Bewußtsein anders zu gestalten, und d.h. Raum und Zeit in ein neues Verhältnis zueinander zu bringen, will es etwas Ausgedehntes als Objektives gewinnen. Aus einem Stiften einer neuen Einheit von Punkt und Ausdehnung jeweils in Form von Anschauung und Begriff wird sich also Objektivität als subjektive Gewinnung ergeben. Die Notwendigkeit einer weiteren Selbstbildung von Subjektivität über das Fremdvergegenständlichungsbewußtsein hinaus zwecks der Gewinnung von Objektivität ergibt sich also einerseits daraus, daß das Subjekt in Form von Fremdvergegenständlichungsbewußtsein allein eine rein subjektive Form für etwas anderes bildet bzw. durch sich qua Zeit und Raum Anderes seiner selbst, welches bloß als eine Art Gegenständlichkeit hinsichtlich einer noch zu gewinnenden Objektivität gilt, nur entwirft. Andererseits kann aber die ideale Gegenständlichkeit Form für etwas anderes nur dann sein, wenn das Subjekt von sich selbst aus die Gegenständlichkeit auch noch als Modell für Objektivität entwirft, so daß schon der Entwurf von etwas in Form des transzendentalen Gegenstands auf eine weitere Strukturierung des Subjekts im Hinblick auf Objektivität hindeutet. Kant selbst skizziert sehr deutlich in der Kritik der reinen Vernunft die Notwendigkeit, die aus der Betrachtung der Vorstellungen als bloß subjektiver Bestimmungen folgt, nämlich die Objektivität mit einer bestimmten Art von Bewußtsein zu untersuchen, ohne auf einen unmittelbaren, schlicht naiv vorausgesetzten Bezug auf die Dinge zurückgreifen zu müssen. Er schreibt: "Wir haben Vorstellungen in uns, deren wir uns auch bewußt werden können. Dieses Bewußtsein aber mag so weit erstreckt [...] sein als man wolle, so bleiben es doch nur immer Vorstellungen f...]. Wie kommen wir nun dazu, daß wir diesen Vorstellungen ein Objekt setzen?"1. Wenn das Ding nach Kant nicht naiv vorausgesetzt werden darf, so kann für ihn aber die "[ojbjektive Bedeutung [...] [auch] nicht in der Beziehung auf eine

' A l 97

B242.

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III. Ding und Wirklichkeit

andere Vorstellung bestehen"1. Die "Dignität" des Dinges gewinnt etwas erst durch Folgendes: "die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig zu machen, und sie einer Regel zu unterwerfen"2. Für Kant ist klar, daß es ausschließlich auf das Subjekt ankommt, die Vorstellungen auf eine bestimmte "Art" zu "verbinden", um Objektivität zu erreichen, doch ist ihm nicht völlig durchsichtig geworden, daß diese "Verbindungsart" im Grunde der Vervollständigung der Intention entspricht3. Denn schon auf den ersten Blick zeigt sich, daß die weitere Selbstbildung von Subjektivität zur Gewinnung von Objektivität mit der Struktur der Intentionalität deshalb innerlich verbunden ist, weil etwas sich nur dann als Modell für Objektivität definieren läßt, wenn dem Entwurf dieser oder jener Vorstellung die Intention bzw. die Absicht zugrundeliegt, dieses oder jenes Objekt zu erreichen. Und gerade die Absicht, Objektivität zu erreichen, macht den Grund aus, weswegen "wir d[en] Vorstellungen ein Objekt setzen"4. Daß das Subjekt allein aus sich selbst heraus Anderes als sich selbst bzw. Objektivität erreichen soll, kann daher nichts anderes bedeuten, als daß es sich zu einer Intention vollendet, indem es die Bestimmung in sich in Form von Anschauung und Begriff benutzt, um dadurch etwas anderes als das Benutzte zu erreichen: Objektivität als Erfolg der Intention. Aus dem zuletzt Gesagten ergibt sich aber sofort die Frage, wie das Subjekt sich strukturieren muß, um sich als Intention zu vervollständigen, wenn die Intention sich in Form von VremAvergegenständlichungsbvmi&Xsem nicht vervollständigen läßt. Die Vervollständigung der Intention vollzieht sich durch einen weiteren Schritt des Subjekts hin auf die Objektivität, welcher als weitere Se/6sfverwirklichung jedoch auch die Verwirklichung von etwas Anderem als es selbst ermöglichen muß, so daß die Vervollständigung des Subjekts qua Intention auf die Se/Zwiwerdung des Subjekts als Fremdverwi>Mc/iMng.?bewußtsein hinausläuft5. Von Beginn an muß dabei ein naheliegendes Mißverständnis vermieden werden: die Selbstverwirklichung des Subjekts zum Verwirklichungsbewußtsein von etwas anderem als sich selbst darf weder als eine Art Verwirklichung der Vorstellungen selbst zu etwas Objektivem noch als eine Art Fremdbewußtsein von etwas schon wirklich Vorhandenem verstanden werden. Während das erste Verständnis zur Hypostasierung der Vorstellungen zu Objekten führt, so ist letzteres jener naive Realismus. Das Fremdverwirklichungsbewußtsein betrifft vielmehr die Selbstwerdung von Subjektivität, wodurch das Subjekt sich aufgrund seiner eige' Ebd. Ebd. Vgl. dazu Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999, Bd.II, Teil.l, S. 423-424. Im Gegensatz dazu Baumgarten, Hans-Ulrich „Wir machen alles selbst" Kants Transzendentalphilosophie im Opus Postumum. (Beitrag beim Kantkongreß, Berlin 2000). 4 Al97 B242. 5 Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999, Bd.II, Teil.l, S.421-423. 2 3

1. Die Verwirklichung des Subjekts hin zur Gewinnung von Objektivität

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nen Selbstgestaltung in Form einer eigentümlichen Bewegung von Innen nach Außen - ausgehend von den Vorstellungen über sie hinaus - den Eintritt "in die Welt" ermöglicht. Der Form des Schrittes "in die Welt" entspricht die Form der Werdung (Synthesis) eines neuen Bewußtseins, wodurch das Subjekt sich eines Anderen als sich selbst bewußt wird, d.h. allerdings nur, daß das Subjekt etwas rein formal als wirklich-Anderes hinstellt, das nicht immer schon wirklich ist (daher FremdverwirklichungsbevmRtsem). Die rein formale Gewinnung von Objektivität durch das Sich-selbst-formen des Bewußtseins zum Fremdverw;>&/ic/zung.sbewußtsein erfolgt also aus dem vorhergehenden FierndvergegenständlichungsbewuSitsein, indem das Subjekt über es hinausgeht. Denn Objektivität wird zwar durch einen Rückbezug auf den entworfenen transzendentalen Gegenstand vollzogen, wobei dieser aber ausschließlich verwendet wird, so daß das Subjekt gerade aufgrund der Verwendung nicht bei dem Verwendeten bzw. den Vorstellungen stehenbleibt, wohl aber von ihnen ausgeht. Auf die Art der Verwendung kommt es deshalb an, weil die Selbstverwirklichung von Subjektivität als Form von Fremdverwirklichungsbewußtsein qua Gewinnung von Objektivität erklärt werden soll. Angesichts der Intention kann die subjektive Verwendung einer Vorstellung nicht anders denn als Deutung verständlich werden. Wird die Vorstellung gedeutet, bleibt das Subjekt gewiß nicht bei ihr stehen, sondern es geht gerade aufgrund seiner Deutung über die Vorstellung hinaus zum Ding, das also nach der bisherigen Entfaltung des Kantischen Ansatzes im Erfolgsfall als Erdeutetes auftritt1. Das Subjekt qua Verstand übt aufgrund der Sinnlichkeit als diese oder jene Vorstellung seine Spontaneität auf die Sinnlichkeit in dem Sinne weiter aus, daß ein sinnlicher Gehalt, wie beispielsweise eine Regenbogenvorstellung, so gedeutet wird, daß durch ihn nicht die Vorstellung selbst für wirklich gehalten wird, sondern daß das Objekt, das Regenbogenform hat (und nicht ist), erdeutet wird. Allein die Struktur der Deutung bürgt dafür, daß etwas als etwas Wirkliches hingestellt wird. Keineswegs rezeptiv von dem Ding her, sondern aktiv vom Subjekt her wird also der Schritt "in die Welt" von den Vorstellungen her auf die Dinge hin vollzogen, und zwar, insofern das Subjekt sich selbst zum Fremdverwirklichungsbewußtsein formt. Geht man der Selbstformung zum Fremdverwirklichungsbewußtsein nach, muß man zunächst einmal zugeben, daß sie ein Zurückgreifen des Verstandes auf sich selbst qua Zeit einerseits auf sich qua Raum andererseits einschließt. Denn Bewußtsein als Verwirklichungsbewußtsein setzt notwendigerweise einen Rückbezug des Subjekts auf sich selbst voraus, woraus sich eine Trennung zwischen sich als 1 Als Modell für die Deutungstheorie kann das Aristotelische Beispiel einer Marmorstatue gelten: So wie die Statue durch die Arbeit mit Meißel und Hammer als etwas Erarbeitetes entsteht, denn Gearbeitet wird in dem Fall nur der Marmor, so tritt das Ding als etwas £rdeutetes auf, denn dabei wird die Vorstellung allein gedeutet, wohingegen das Ding erdeutet wird.

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III. Ding und Wirklichkeit

einem nur "in der Zeit" und dem Anderem als einem auch "im Raum", also die Trennung zwischen dem Subjekt und dem Objekt ergibt1. Gleichursprünglich mit der subjektiven Bildung eines Gegensatzes zu sich erfolgt also die Gewinnung von Objektivität, welche immer die Form einer Trennung von Subjekt und Objekt annimmt. Kraft seiner selbst konstruiert sich das Subjekt einen Gegensatz zu sich dadurch, daß es einen Inhalt bzw. eine Bestimmung in sich (subjektiver Raum in Gestalt einer Vorstellung) als wirklich hinstellt bzw. die Bestimmung verwirklicht wird, so daß das Ding auf eine paradoxe Weise gerade auf subjektiver Basis in Form von FTemdverwirklichungsbewoRtsein, aber dennoch stets als etwas ursprünglich von dem Subjekt Getrenntes, als Objektives, nämlich dem Subjekt Fremdes, hervorgeht. Kants These - "Sein [...] [sei] bloß die Position eines Dinges"2 - weist darauf hin, die Wirklichkeit zwar qua subjektive Hinstellung bzw. Setzung eines Dinges auf der Basis der Selbstformimg des Subjekts zum Fremdverwirklichungsbewußtsein als subjektabhängig anzusehen. Sie impliziert aber keineswegs die Auflösung der Wirklichkeit in Vorstellungen. Denn durch die Ausübung der Verstandestätigkeit auf die Sinnlichkeit wird ein Ding als wirklich hingestellt und nicht die Vorstellung als etwas Objektives behauptet. Beim Zu-sich-ins-Verhältnis-treten in Form des Fremdverwirklichungsbewußtseins hat das Subjekt qua Punkt nicht nur seine eigene Ausdehnung als etwas von ihm bloß Verschiedenes, sondern es sieht im Erfolgsfall die Ausdehnung, die etwas anderes als es selbst ist, etwas von sich auch noch Getrenntes, also ein Ding vor sich. Berücksichtigt man ferner, daß die Wahrnehmung stets aufgrund der Deutung dieser oder jener Vorstellung im Hinblick auf die Gewinnung von Objektivität erfolgt, so folgt daraus, daß vom Kantischen Standpunkt aus die Wahrnehmimg auf der ursprünglichen Fähigkeit des Subjekts beruht, etwas als wirklich hinzustellen: also zu urteilen. Die Selbstverwirklichung des Subjekts entspricht daher nichts Anderem als der Formung des Subjekts zu einem Urteil. Dazu muß Folgendes angemerkt werden: Wenn die Grundvoraussetzung für die Gewinnung von Objektivität die Selbstgestaltung der Subjektivität zum Urteil ist, erfolgt diese Selbstformung stets unintendiert, denn beabsichtigt wird auf keinen Fall das Urteil, sondern gerade das, worüber geurteilt wird, d.h. das zu erzielende Objekt. Thematisch ist dem Subjekt somit ausschließlich das zu erzielende Objekt, sowohl im Erfolgsfall als auch im Mißerfolgsfall der Intention. Denn wahre Wahrnehmung und Wahrnehmungsirrtum (wie Traum oder Halluzination) sind ununterschieden in der Hinsicht, daß es sich in beiden Fällen um einen Verwirklichungsveriwc/i handelt. Daher erweist sich eine Untersuchung über die Feststellung von Erfolg oder Mißerfolg der Intention als notwendig, denn es ist noch gar nicht verständlich, worin sich Erfolg und

' Für eine nähere Charakterisierung der genannten Subjekt-Objekt-Trennung vgl. hier Kap.III, §3. A598 B626.

2

2. Wahrnehmung als Prädikation

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Mißerfolg einer Intention bzw. Wirklichkeit und Unwirklichkeit eines Objekts eigentlich unterscheiden. Um diese Schwierigkeit zu bewältigen, muß man zunächst die weitere Ausarbeitung der inneren Struktur des Urteils, nämlich der Prädikation, in welcher jede Wahrnehmung besteht, fortsetzen.

2. Wahrnehmung als Prädikation Tritt Weltbezug ursprünglich in Form von Wahrnehmung auf, so hängt dies nach Kant notwendigerweise mit einem bestimmten subjektiven Akt zusammen: mit dem des Urteilens. Laut der Kopernikanischen Wende kann das Subjekt nicht umhin, sich durch eine Bewegung von innen nach außen allein aus sich selbst heraus in die Lage zu versetzen, Objektivität zu erreichen, und zwar dadurch, daß es etwas als wirklich hinstellt. Das als wirklich Hingestellte ist aber, wie man denken könnte, keineswegs die Vorstellung, denn die ist schon wirklich. Als wirklich hingestellt kann aber nur etwas werden, was noch nicht wirklich ist. Nun könnte man einwenden, die Vorstellung sei nur subjektiv wirklich, nicht aber objektiv, und urteilen hieße, sie zu objektivieren. Das aber ist irrig, wäre dann doch ein Objekt eine (objektive) Vorstellung. Doch das Subjekt geht von einer Vorstellung nur aus und über sie hinaus, bleibt also nicht bei ihr stehen und stellt nicht sie als wirklich hin, sondern sie, die Vorstellung, wird benutzt, als Mittel verwendet, um etwas Anderes als sie als wirklich hinzustellen. Dieses Andere ist gerade das durch die Vorstellung Vorgestellte, das Vergegenständlichte, das Entworfene. Dieses noch nicht Wirkliche, sondern eben nur Vergegenständlichte ist es, was im Urteilsakt noch verwirklicht werden soll. Wenn es auch auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, schützt also gerade die formale Struktur der Behauptung vor der Gefahr der Hypostasierung der Vorstellungen und der letztlich daraus folgenden Auflösung der Außenwelt in bloße Anschauungen. Denn aufgrund des Verwirklichungsverfahrens des Urteils kann das, was als wirklich hingestellt wird, ausschließlich das zu erzielende Objekt sein, also beispielsweise ein Regenbogen, Regentropfen, etwas Rundes usw. Nicht aber wird die Vorstellung selbst als etwas Wirkliches, z.B. nicht die Regenbogenvorstellung als ein wirklicher Regenbogen, beurteilt. Das subjektive Verwirklichungsverfahren des Urteilens nimmt seinen Ausgang bei der Vorstellung, doch bleibt das Subjekt durch die Urteilswerdung bei ihr nicht stehen. Das Urteilsverfahren bezeichnet vielmehr die Gewinnung der Wirklichkeit auf subjektiver Basis, welche sich gewiß gemäß der Form des absoluten Idealismus durch die Konstitution einer bestimmten Bewußtseinsart, nämlich durch das Fremdverwirklichungsbewußtsein vollzieht, jedoch läßt das Kantische Seinsverständnis nicht - wie hingegen der problematische Idealismus es tut - eine so-

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III. Ding und Wirklichkeit

lipsistische Auflösung der Wirklichkeit zu. Umgekehrt weist sein Seinsverständnis vielmehr darauf hin, aufgrund idealistischer Prämissen die Objektivität der Dinge zu retten. Von dem Subjekt her und durch es allein werden also jene Möglichkeiten geschaffen, etwas wirklich-Anderes wahrzunehmen. Das Urteilen qua inneres Verfahren beim Fremdverwirklichungsbewußtsein von etwas anderem seiner selbst vermeidet auf eine rein formale Weise die Auflösung des Objekts in bloßen Schein der Vorstellungen. Die Notwendigkeit der Betrachtung der Dinge als Erscheinung hat daher ihren Ursprung in der subjektiven Struktur des Urteils. Denn das Urteil drückt stets den Fall der eigentümlichen Bewußtseinswerdung aus, wonach ein Subjekt durch sich selbst zu sich anders wird und wodurch es das Objekt als ein Wirkliches vor sich sichtbar macht. Daraus folgt aber, daß die Thematisierung des zu erzielenden Objekts nur Frucht einer neuen subjektiven Synthesis sein kann, deren Untersuchung die Antwort auf die Frage Kants liefert: Was denn für eine "Verbindung" muß es sein, welche einer Entität die "Dignität"1 des Dinges verleiht. Schon auf den ersten Blick ist offensichtlich, daß die gesuchte Synthesis auf die Prädikation hinweist. Daß die Deutungsstruktur des "etwas als etwas", welche jedem Urteil zugrundeliegt, seinem Inhalt nach nichts Anderem als dem Prädizieren entsprechen kann, wird dadurch verständlich, daß im Erfolgsfall durch ein Urteil etwas als etwas erdeutet wird, wie beispielsweise dies als einen Regenbogen, als Regentropfen, als rund, was stets eine Aussage wie "Dies ist A" 2 ist, also beispielsweise "Dies ist ein Regenbogen", "Dies sind Regentropfen", "Dies ist rund" usw. Der Zusammenhang der Selbstwerdung zum Fremdverwirklichungsbewußtsein mit der Prädikation erweist sich des weiteren als unausweichlich, wenn die Betrachtung des nur äußerlichen Aufbaus des Urteils fortgesetzt wird. Wie die Selbstwerdung auf Fremdbewußtsein hin notwendigerweise auf ein ZeitRaumbewußtsein zurückgreift, so blickt das Urteil stets auf etwas in einer be-

' Al97 B242. Diesbezüglich muß noch einmal daran erinnert werden, daß Kant niemals explizit Prädikation in seiner eigentlich ursprünglichen Form »Dies ist A« thematisiert, und zwar einfach deshalb nicht, weil er niemals systematisch die Konsequenzen seiner Theorie der Setzung der Wirklichkeit hinsichtlich einer möglichen Prädikationstheorie ausgeführt hat. Vielmehr bleibt er ungeachtet der daraus folgenden möglichen Konsequenzen für die Prädikation bei der Urteilsform »S ist P« stehen, so daß nach ihm ein Urteil mindestens zwei Begriffe enthalten muß. Vgl. A73 B98. Diese letzte Überlegung widerspricht aber nicht nur seinem Ansatz, demgemäß jede Prädikation im Gegensatz zu Aristoteles' These auf die Dinge hin geht, sondern vielmehr auch noch faktisch der elementaren logischen Struktur des Urteils hinsichtlich seines Objekts. Denn soll Fx der ursprüngliche Fall eines Objekts eines Urteils ausdrücken, demgemäß unter F die Eigenschaft des Objekts und unter χ ein Indikator für das entsprechende Objekt zu verstehen ist, so bedarf ein Urteil über ein Objekt allein eines einzigen Begriffes, beispielsweise »... Regenbogen«, und das Urteil zeigt sich in der Form »Dies ist A«, also z.B. in der Form »Dies ist ein Regenbogen«, als vollständig. Vgl. dazu hier Kap.I,§7. 2

2. Wahrnehmung

als

Prädikation

107

stimmten jetzigen Zeit und in einem ebenso genau abgegrenzten Raum. "Dies ist ein Regenbogen" läßt sich nämlich immer als "Dies hier und jetzt ist ein Regenbogen" explizieren. Auch der Rückbezug auf das Zeit-Raumbewußtsein in Form von Begriffs- und Anschauungsbewußtsein erweist sich für die Urteilsstruktur als zutreffend: "Dies..." und "...Regenbogen" verweisen nämlich jeweils auf Anschauung und Begriff. Bleibt man aber einzig bei der äußerlichen Betrachtung des Urteilsaufbaus stehen, so läuft man Gefahr, die innere Struktur des Urteils in dem Sinne mißzuverstehen, als bestünde das Urteil aus einer Zusammenstückelung von Teilen. Denn das "ist", welches äußerlich Subjekt und Prädikat im Sinne eines bloßen Zusammensetzens zu verbinden scheint, deutet auf eine eigentümliche Synthesis hin, wodurch eine Anschauung und ein Begriff wechselseitig aufeinander bezogen und "verbunden" werden, aber nur, sofern sie auf eine eigentümliche Weise verwendet werden. Und die Prädikation reflektiert gerade diese eigentümliche Art und Weise der Verwendung von Begriff und Anschauung. Sie weist also nicht auf eine Synthesis im Sinne einer Zusammensetzung von Teilen hin, sondern vielmehr umgekehrt auf eine ursprüngliche Einheit, welche - um ein Urteil zu bilden - sich different zu sich machen muß und dadurch auch als eine in sich komplexe auftritt. Die Verbindung des Subjekts mit dem Prädikat muß infolgedessen ausschließlich von der in sich komplexen Einheit des Prädizierens aus erklärt werden, denn allein daraus ergibt sich ihre einheitliche innere Struktur als Einheit einer Zweiheit, nämlich von Begriff und Anschauung. Nicht etwa muß umgekehrt die Einheit des Urteils von der Summe von Anschauung und Begriff hergeleitet werden. Daraus folgt aber, daß die Erläuterung der einheitlichen Struktur von Prädikation zunächst einmal durch die Tilgimg jener allgemein als wahr anerkannten Erklärung derselben im Sinne der Bestimmung einer vorhandenen Substanz1 von Kant her und gleichzeitig über ihn hinaus durchzuführen ist, denn das Verständnis von Prädikation als Determinatio eines Subjektes "S" durch ein Prädikat "P" gründet gerade auf jener äußerlichen, jedoch mißverständlichen Betrachtung des Urteils qua Zusammenstückelung, welche gerade das unberücksichtigt läßt, was in der eigentlich ursprünglichen Form des Urteils "Dies ist A" sich als das Entscheidende zeigen soll, was es zu untersuchen gilt: den Sinn von Wirklichkeit. Wenn ein Urteil wie "Dies ist ein Regenbogen" oder "Dies ist rund" als bloße Zusammenfassung von Bestandteilen, also nicht als eine sich vollziehende Einheit angesehen wird, entsteht der Schein, wonach mit "Dies" ein Objekt der Außenwelt gemeint wird, während "Regenbogen" und "rund" inhärierende Eigenschaften einer Substanz bezeichnen, wodurch die jeweiligen Objekte bestimmt werden (Determinatio). Dies ist aber offensichtlich ein Irrtum. Und dies nicht nur, weil diese Überlegung dem Grundsatz der Kopernikanischen Wende widerspricht,

' Dazu ausführlicher. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999, Bd.II, Teil. 1, S.678f. und 680f.

108

III. Ding und Wirklichkeit

demgemäß "die Erfahrung Zweck der Erkenntnis ist"1, und konsequenterweise das Objekt allein durch ein Urteil gewonnen wird und nicht umgekehrt - wie dies beispielsweise bei Aristoteles der Fall ist. Vielmehr erweist sich diese Auslegung deshalb als falsch, weil ihr eine Art naiver Realismus zugrundeliegt, welcher darauf hinauslaufen würde, daß die Wahrnehmung nur aufgrund der Anwesenheit eines wirklichen Objektes möglich ist, was aber die Traumerfahrung faktisch widerlegt. Macht man hingegen gerade aufgrund dieses faktischen Umstands die These der Kopernikanischen Wende Kants stark, so erweist sich die Annahme der Anwesenheit des Objekts als Grund der Wahrnehmung als völlig überflüssig. "Dies" setzt vom Kantischen Standpunkt aus bei der Anschauung an, und "Regenbogen", "Regentropfen", "rund" usw. sind die zu diesen Anschauungen gehörige Begriffe: die Art ihrer Verbindung und nur sie wird den Sinn der Prädikation erschließen, denn auf sie allein kommt es bei der Möglichkeit, Objektivität zu gewinnen, an. Prädikation reflektiert auf Kantische Weise demzufolge die eigentümliche Verbindung von Anschauung und Begriff, insofern sie sich beim Fremdverwirklichungsbewußtsein aufgrund von Fremdvergegenständlichungsbewußtsein einstellt. Wenn es auf den Übergang vom Fremdvergegenständlichungs- zum Fremdverwirklichungsbewußtsein ankommt, um den Sinn von Prädikation richtig zu explizieren, so kann sie auch nicht eine weitere sachhaltige Bestimmung des Objekts, über das geurteilt wird, bedeuten. Denn sachhaltig gesehen, decken sich beispielsweise die Bestimmungen: "...hier und jetzt ein Regenbogen", "...hier und jetzt rund" usw. mit den entsprechenden Bestimmtheiten der Urteile: "Dies ist ein Regenbogen", "Dies ist rund" usw. Auf der Stufe der bloßen Vergegenständlichung ist die Bestimmtheit eines jeweiligen Etwas begrifflich - beispielsweise als "Regenbogen und nicht Nichtregenbogen", "rund und nicht Nichtrund" - wie auch anschaulich als "Regenbogengehalt im Unterschied zum Nichtregenbogengehalt", "Rundgehalt bzw. Rundform im Unterschied zum Nichtrundgehalt bzw. zur Nichtrundform" völlig ausgeschöpft. Diesbezüglich gilt anzumerken, daß Kant auf keinen Fall meinte, daß das Wirkliche eines Objekts mehr als das bloß Mögliche einer Anschauung enthalte. Denn gerade an dem berühmten Beispiel der hundert Taler, wonach "hundert wirkliche Taler nicht das mindeste mehr enthalten als hundert mögliche"2, läßt sich ablesen, daß der Unterschied des bloß Möglichen von dem Wirklichen nichts Sachhaltiges3, also keine inhaltlich-empirische Differenz, betrifft, obwohl es für ' Ak. Bd.22: S.535. A599 B627 A600 B628. Dazu gilt zu bemerken, daß Kant das Wort »Realität« (lat. Realitas) (Vgl. A574 B602) verwendet, um die Bestimmtheit im Sinne von Sachgehalt auszudrücken. Für eine nähere Charakterisierung hinsichtlich des heutigen Sprachgebrauchs des Terminus »Realität« und des Kantischen sowie bezüglich der theoretischen Implikationen seines Gebrauchs im Denken Kants in Abgrenzung zum Thomistischen vgl. Heidegger HGA Bd.24: S.35-57. 2 3

2. Wahrnehmung als Prädikation

109

Kant unzweifelhaft ist, daß "an meinem Begriffe [...] eines Dinges überhaupt [...] doch noch etwas fehlt"1, damit das Objekt dieses Begriffs wirklich werden kann. Die Bestimmtheit von etwas zeigt sich also nach Kant lediglich als Grundvoraussetzung, damit eine Prädikation überhaupt stattfinden kann. Die Prädikation kann zwar nur aus der Bestimmung erfolgen, dennoch kann sie nichts Sachhaltiges bestimmen. Diese letzte negative Abgrenzung der Prädikation, die keine zusätzliche Bestimmung eines möglichen Sachgehaltes darstellt, läßt aber schon das erahnen, worauf Prädikation nach Kant abzielen muß, wobei dies von Kant selbst nur intuitiv entdeckt wurde: nämlich auf die formale Charakterisierung von Wirklichkeit. Denn gerade nach Kant gilt, daß "Alles, was existiert, durchgängig bestimmt ist"2, was "aber nicht umgekehrt"3 gilt. Geht also die Bestimmtheit der Wirklichkeit vorher, und nicht etwa umgekehrt die Wirklichkeit der Bestimmtheit, so muß Prädikation gerade aufgrund von Bestimmtheit über sie hinaus auf Wirklichkeit abzielen. Doch versucht Kant selbst diesbezüglich seine nur intuitiv entdeckte These, Prädikation betreffe notwendigerweise die formale Charakterisierung der Wirklichkeit von etwas, u.a. in einer an die vorherige anknüpfende Reflexion begrifflich zu fassen, indem er schreibt: "Der Satz: "ein Ding Α ist wirklich" ist synthetisch"4. Allerdings zeigt sich dieser Versuch gerade aufgrund der Prämisse, aus der er entsteht, als mißglückt. Ein Satz wie "Das Ding Regentropfen ist wirklich" ist uninformativ und deswegen nicht synthetisch, weil mit dem Ausdruck "Ding Regentropfen" die Wirklichkeit des Regentropfens schon vorausgesetzt wird, muß man doch hier "Ding" im Sinne von "Objekt" verstehen - und nur ein wirkliches Objekt ist überhaupt ein Objekt. Deshalb heißt "Ding Regentropfen" eo ipso "wirkliches Regentropfen-Objekt". Die Aussage "Das Ding Regentropfen ist wirklich", entspricht nichts anderem als der tautologischen Behauptung "Der wirkliche Regentropfen ist wirklich". Weiterhin fuhrt die Formulierung "Ein Ding Α ist wirklich" zur widersprüchlichen Gegenbehauptung "Ein Ding Α ist nicht wirklich", wonach z.B. ein wirklicher Regentropfen als unwirklich behauptet wird. Die Formulierung Kants "Ein Ding Α ist wirklich" ist also für die Explikation dessen, worauf sie eigentlich abzielt, nicht geeignet. Nur eine innere Betrachtung der Urteilsstruktur kann die eigentliche Charakterisierung von Wirklichkeit liefern, eine Untersuchung der Prädikation, welche den Übergang von einer jeglichen Bestimmtheit zur Wirklichkeit ihres Objekts im Rückbezug auf Anschauung und Begriff und gleichzeitig im Hinblick auf eine neue Synthesis von beiden im Urteil berücksichtigt. ' Ebd.

2 Ak. 3

Bd.18: S.333. Ebd. "Ebd.

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III. Ding und Wirklichkeit

So klar Kant also die These vertritt, daß Erkenntnis in Form eines Urteils nur daraus entspringen kann, "daß [Begriff und Anschauung] sich vereinigen"1 und daß sie qua Erkenntnis "durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskursiv"2 ist, so unzweifelhaft ist auch, daß er die letzte Konsequenz solch eines Ansatzes nicht zieht: nämlich, daß die Art der Verbindung von Anschauung und Begriff in Form der diskursiven Erkenntnis zum Ergebnis hat, daß jede Erkenntnis zwar wie eine Prädikation, aber ursprünglich als Wirklichkeitsaussage bzw. Existenzurteil in dem Sinne zu betrachten ist, daß dabei etwas als wirklich hingestellt wird. Durch das Urteilen zielt man also aufgrund der Verwendimg von Anschauung und Begriff auf ein Objekt ab, so daß eine Behauptung wie "Dies ist A" ein Objekt χ mit seiner Eigenschaft als wirklich hinstellt. Die Verwendung des Begriffs nimmt somit stets die Form einer Prädikation = "Dies ist A" an. Das Subjekt vervollständigt sich also als Intention, indem es qua Verstand denkt bzw. zu einem Urteilspunkt wird. Das Subjekt qua Begriffsbewußtsein benutzt die Anschauung als ein Mittel, um damit das entworfene Andere als wirklich hinzustellen, und wird so zu einem Subjekt qua Urteilsbewußtsein. Das Subjekt macht sich also dadurch zu einem Urteil, daß es als Zeitpunkt die Existenz eines Anderen als es selbst zu gewinnen versucht, und zwar so, daß es dieses Andere aus sich selbst heraus vor sich als wirklich hinstellt und im Erfolgsfall auch wahrnimmt. Kraft seiner selbst qua Urteil als ursprüngliches Intendieren als ein Verwirklichungsgeschehen von Außenwelt thematisiert das Subjekt das zu erzielende Andere seiner selbst, beispielsweise durch das Urteil "Dies ist ein Regenbogen" den zu erzielenden Regenbogen. Wenn es also darauf ankommt, daß das Subjekt zum Urteil wird, um die Wirklichkeit von Anderem seiner selbst gewinnen zu können, so stellt sich sofort die Frage, wodurch eigentlich dieses Andere als dem Subjekt gegenüber Anderes erkennbar wird. Denn wenn es auch faktisch unbestritten ist, daß etwas sich als Ding erweist, soweit es als etwas von dem Subjekt nicht nur Verschiedenes - wie im Fall einer Vorstellung - sondern zusätzlich dazu als etwas zu ihm als Subjekt Gegensätzliches auftritt, so muß die Andersheit notwendigerweise durch ein Merkmal erkennbar sein, das ausschließlich für das Ding zutrifft. Und für Kant unterliegt es keinem Zweifel, daß "an meinem Begriffe [...] eines Dinges überhaupt [...] noch etwas fehlt"3. Daher muß das eigentümliche Merkmal des Dinges im Gegensatz zum Subjekt untersucht werden, welches sich ja aus dem Urteil selbst ergibt und daher als ein subjektiv Bedingtes auftritt, welches aber auch allein dem Ding zugehören kann. Um mit Kant zu sprechen, handelt es sich darum, jenes subjektive "Schema" herauszuarbeiten, wodurch das Subjekt etwas als wirklich hinstellt, das Schema also, das für die Objektivität von Außenwelt gilt. ' A51 B75. A68 B93. A600 B628.

2 3

3. Ding-Eigenschaft

und Ursache-Wirkung: die Beharrlichkeit der Dinge

111

3. Ding-Eigenschaft und Ursache-Wirkung: die Beharrlichkeit der Dinge Aus der bisherigen Entfaltung des Kantischen Ansatzes der subjektiven Setzung bzw. Hinstellung der Wirklichkeit hat sich ergeben, daß die Objektivität von dem Subjekt her und allein durch es hergeleitet werden muß. Genauer wird sie kraft des subjektiven Akts des Urteilens, das als Form der Wahrnehmung eines Dinges gilt, gewonnen. Seinerseits tritt das Ding immer aufgrund der subjektiven Leistung des Urteilens als etwas vom dem Subjekt Getrenntes auf. Denn das Subjekt bildet als Urteilsbewußtsein ein eigentümliches Verhältnis zu sich qua Punkt als ein Gegensätzliches zur Ausdehnung, welche also gerade durch das aus dem Subjekt selbst heraus gebildete Verhältnis zu sich nun (im Erfolgsfall) als Selbständiges auftritt und gegenüber dem Subjekt sich als ein wirkliches Ding zeigt. Durch eine Ausübung der Verstandestätigkeit auf die Sinnlichkeit erfolgt daher auf der Seite des Subjekts ein Urteil in Form einer Prädikation = "Dies ist A" und auf der Seite des Objekts der Auftritt eines Selbständigen in der einheitlichen Form Ax bzw. in der einheitlichen Form einer eigentümlichen Zweiheit: jener von Substanz - Akzidens bzw. Ding - Eigenschaft1. Gerade dadurch, daß die einheitliche Struktur der Zweiheit von Ding und Eigenschaft sich auf subjektiver Basis ergibt, darf sie nicht Anlaß zu denken geben, daß sie auf eine schlicht naiv vorausgesetzte "nackte" bzw. ungesättigte Substanz hinweist, an welcher diese oder jene Eigenschaften kleben. Denn die Einheit von Ding und Eigenschaft kommt vielmehr durch die Selbstwerdung des Subjekts zum Fremdverwirklichungsbewußtsein zustande, dadurch also, daß eine bestimmte Form auch noch als Form fiir etwas Anderes als sich verwendet wird, und d.h. als Form eines Dinges. Kant selbst setzt in voller Klarheit fest, daß gerade die "forma dat esse rei"2 und daß "das Wesen der Sachenf...], so fern sie durch Vernunft erkannt werden, die Form"3 ist. Nicht die Materie verleiht daher nach Kant etwas die "Dignität"4 des Dinges, sondern umgekehrt die Form5. 1 Hierbei wird ausdrücklich auf die von Prauss erarbeitete Theorie des Verhältnisses von Substanz Akzidens im transzendentalen Sinne bezug genommen. Sie geht von der Kritik an der Platonischen und der Aristotelischen Konzeption von Substanz und Akzidens aus und führt über sie hinaus auf die Theoretisierung des formalen bzw. nur per Reflexion erschließbaren Unterschiedes von Substanz und Akzidens. Vgl. dazu Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990f., Bd.I, Teil.l, S.31-50, Teil.2, S.748-791 und Bd.II, Teil.l, S.457-469. 2 Ak. Bd.17: S.312. 3 Ebd. 4 Al97 B242. 5 Obwohl auf den ersten Blick die formale Charakterisierung von Wirklichkeit auch absurd scheinen kann, da die Wirklichkeit jenseits einer bestimmten Objektivität gesetzt wird, bemerkt W. Viertel sehr zutreffend, daß die Bestimmung der Wirklichkeit als sachhaltige Objektivität zu einem Problem auch für die Physik geworden ist, welche die Materie als einen falschen Begriff für Objektivität eindeutig ablehnt, wenn dies auch jene „irritiert", die hinsichtlich der Bestimmung von Wirklichkeit Gewißheit und somit etwas „Objektives" verlangen. Denn, wenn es auch auf den ersten Blick scheint, daß der „naive" Realismus sich als die einzige mögliche Lösung für die Wirklichkeitsproblematik anbieten

112

III. Ding und Wirklichkeit

Dies hat ferner zur Folge, daß das Merkmal für die Charakterisierung des Dings in Abhebung vom Subjekt allein ausgehend von der von dem Subjekt selbst ermöglichten Trennung von sich dem Objekt gegenüber zu finden ist und darüber hinaus ausschließlich ein rein Formales sein muß. Die Andersheit des Dings im Gegensatz zum Subjekt wird also eigentlich vom Subjekt selbst gewonnen, und zwar, indem dieses Andere auf eine eigentümliche Weise als von dem Subjekt Getrenntes hingestellt wird: nach Kant als ein Beharrliches, so daß das "Schema" der Kategorie Substanz-Akzidens bzw. Ding-Eigenschaft für ihn die Beharrlichkeit ist. Von hier aus geht es darum, den genannten formalen Sinn von Beharrlichkeit zu erschließen. Obgleich es auf den ersten Blick paradox erscheint, gilt die Beharrlichkeit als das eigentümliche Kennzeichen des Dinges eigentlich dadurch, daß sie einzig auf subjektiver Basis gestiftet wird. Denn, wie Kant diesbezüglich in der Ersten Analogie - der Beharrlichkeit der Substanz gewidmet - sehr deutlich bemerkt, ist "[die] Beharrlichkeit [...] indes doch weiter nichts, als die Art, uns das Dasein der Dinge (in der Erscheinung) vorzustellen"1. Allein die subjektive Vorstellungsart der Existenz der Dinge kann deshalb die Beharrlichkeit derselben bestimmen, weil die Vorstellungen, von denen ausgehend gerade die Wirklichkeit der Dinge gewonnen wird, nichts Beharrliches ausmachen können. "Können" die Vorstellungen allein im Subjekt "angetroffen werden"2, so kommt die Beharrlichkeit einem "von ihnen unterschiedene[n]"3 zu, "wogegen" das Subjekt sich "in Relation betrachten muß"4, wobei von vornherein mit Kant zu bemerken gilt, daß "die Vorstellung von etwas Beharrlichem im Dasein" als Vorstellungsart der Existenz der Dinge, woraus sich die Beharrlichkeit als eigentümliches Kennzeichnen für die Dinge ergibt, "nicht einerlei mit der beharrlichen Vorstellung ist"5, also keineswegs damit, als ob die Vorstellung selbst als etwas Beharrliches betrachtet werden müßte. Die Beharrlichkeit der Dinge entspringt zwar aus einer allein von dem Subjekt zustande gebrachten Relation, dennoch kommt sie qua Merkmal der Dinge auf keinen Fall den Vorstellungen zu. So klar Kant die Beharrlichkeit der Dinge weder empirisch von dem Ding her deduziert, noch auf eine rein subjektive Weise den Vorstellungen selbst zuspricht, sondern allein aus dem subjektiven Verfahren der Gewinnung der Wirklichkeit bzw. aus der Vorstellungsart der Existenz der Dinge ableitet, bleibt dennoch die darauf

muß, erweist er sich doch aus seinen Konsequenzen als unhaltbar, wohingegen die entgegengesetzte Position des Idealismus im Wesentlichen auf einer eigentümlichen Ebene, auf einer der Reflexion nämlich, die Wirklichkeit tatsächlich rettet. Vgl. Viertel, Wolfgang Raum und Wirklichkeit: Naturphilosophie als Ontologie. Frankfurt am Main 1996, S.24. ' A l 87 B230 Kursiv von mir. 2 BXL BXLI. 3 Ebd. 4 BXLI. 5 Ebd.

3. Ding-Eigenschaft und Ursache-Wirkung: die Beharrlichkeit der Dinge

113

folgende Erklärung von Beharrlichkeit als einem Formalen unvollständig, obwohl die Prämissen seiner Erklärung sich eigentlich als richtig erweisen lassen. Die Grundüberlegung, wovon die Ableitung von Beharrlichkeit vom Kantischen Ansatz her ausgehen muß, kann also keine andere sein, als daß die Relation Subjekt - Objekt sich als eine aus dem Subjekt selbst entstandene und zum Subjekt gegensätzliche zeigt, und zwar in dem Sinne gegensätzlich, daß das Subjekt gegen sich als Zeit etwas als wirklich hinstellt. Dies läuft darauf hinaus, daß dieses Etwas nur dann wirklich sein kann, wenn es als ein zum Subjekt als Zeit Gegensätzliches dem Subjekt gegenüber "überdauert". Beharrlichkeit kann nach Kant nichts anderes bedeuten als "Zeitüberdauern". So eindeutig das Subjekt, und zwar als Zeit, den Ausgangspunkt für die Deduktion der Beharrlichkeit ausmachen muß, verwickelt man sich aber unausweichlich in Schwierigkeiten, wenn man das Zeitüberdauern im Sinne eines Zeitverhältnisses des Dauerns bestimmt. Eigentlich schon semantisch gesehen scheint es keine andere Möglichkeit zu geben, als das Zeitüberdauern qua "Dauern"1 auszulegen, und in der Tat verfolgt Kant selbst diesen Weg. Doch gleich nach wenigen Schritten zeigt sich dieser Versuch als zumindest problematisch, was auch die zahlreichen Fußnoten und Anmerkungen Kants diesbezüglich in der zweiten Fassung der Kritik der reinen Vernunft bis zu späten Werken bezeugen. Kant definiert die Beharrlichkeit als Zeitverhältnis des "Dauerns"2, nachdem er sich überlegt hat, daß sie, die Beharrlichkeit, notwendigerweise "[ein] beständige^] Korrelatum alles Daseins der Erscheinung"3 ausmachen soll. Und wenn "das Dasein in der bloßen Folge [...] [Nacheinander Zeit] immer verschwindend ist"4, so scheint daraus notwendigerweise folgen zu müssen, daß die Beharrlichkeit nicht umhin kann, einen bestimmten modus der Zeit, den des Bleibens nämlich, auszudrücken. Das Zeitüberdauern scheint demzufolge qua Dauern der ausgezeichnete "modus der Existenz dessen, was bleibt und beharrt"5, zu sein. Fragt man sich jedoch, was es bedeuten kann, daß etwas, um überhaupt als Ding aufzutreten, eine Zeit lang, in dem üblich verstandenen Sinne einer Zeitspanne, beharren muß, so kommt man nicht um die Metapher herum, es heiße, es sei in einer Zeit, welche beharrt, also es sei in einer "bleibenden" Zeit. Geht man dem Gedanken, demgemäß die Objektivität nur durch das Subjekt vermittelt gewonnen wird, noch weiter nach, so zeigt sich der Sinn bzw. Unsinn der zuletzt genannten Metapher noch deutlicher als zuvor. Denn wenn die Gewinnung von Objektivität dadurch erfolgt, daß das Subjekt zum Urteilspunkt wird, ergibt sich daraus notwendigerweise, daß die Gültigkeit beispielsweise der Aussage "Dies ist ein Re1 Al84 B227. 2 Ebd. 3

Al 83 B226. "Ebd. 5 A183 B227.

114

III. Ding und Wirklichkeit

genbogen" mit dem bestimmten Zeitpunkt, an dem sie ausgesprochen1 wird, verbunden ist. "Dies ist ein Regenbogen" heißt unausgesprochen "Dies hier und jetzt ist ein Regenbogen", unabhängig davon, ob der Regenbogen selbst in dem unmittelbar nachfolgenden Zeitpunkt sich in eine Dampfwolke auflöst oder nicht. Infolgedessen ist nicht nur faktisch widerspruchsfrei denkbar, daß etwas nur zu einem bestimmten einzigen Zeitpunkt eine Form, in dem Fall jene eines Regenbogens, hat, und nichtsdestoweniger zu dem Zeitpunkt aufhört, beispielsweise ein wirklicher Regenbogen, als ein Ding und somit als etwas Beharrliches zu sein. Seinem Wesen nach impliziert daher, beharrlich zu sein, nicht, eine Weile lang zu überdauern.2 Zwar scheint Kant an wenigen Stellen, den Sinn von Beharrlichkeit, obwohl dies auf den ersten Blick semantisch unhaltbar erscheint, anders als zeitüberdauernd im Sinne des Dauerns auszulegen und sich dadurch von der Metapher einer "bleibenden" Zeit zu lösen. Diesen neuen Gedankenweg schlägt er vor allem in einer Passage der Kritik der reinen Vernunft ein. Hierbei suggeriert er, daß das Zeitverhältnis die Dinge betreffend das sei, "was mit dem Nacheinandersein zugleich ist (des Beharrlichen)"3. Hält man desweiteren fest, daß das Beharrliche nur "als formale Bedingung der Art, wie wir [die Vorstellungen] im Gemüte setzen"4, gilt, so läßt sich Beharrlichkeit ausschließlich verstehen als die Art, wie etwas, "was mit Nacheinandersein zugleich ist"5, in einem bestimmten Zeitverhältnis steht. Fragt man sich auch noch, was es denn sein kann, "was mit dem Nacheinander" zugleich sein kann, so bietet sich als einzige Antwort gewiß nicht die Zeit an, welche vielmehr ausschließlich als Punkt entsteht, um zu vergehen, sondern, wenn überhaupt, dann etwas, was im Gegensatz zum Nacheinander der Zeit zugleich ist, also das Raum-Zugleich der Vorstellung6. 1 Dabei muß beachtet werden, daß „ausgesprochen" nicht semantisch äquivalent mit „verlautbart" ist. Das erste geht vielmehr dem letzten der Bedeutung nach voraus. 2 Demnach könnte nach Kant empirisch auch zeitpunktuell Beharrliches realisiert sein, beispielsweise Quantenobjekte. Vgl. hierzu Friebe, Cord Substanz/Akzidens-Ontologie physikalischer Objekte. Eine transzendentalphilosophische Deutung der modernen Physik, Freiburg/München 2001. 3 B67 Kursiv von mir. "Ebd. 5 Ebd. Kursiv von mir. 6 Das Spezielle der Problematik des Verhältnisses von Zeit und Raum besteht also darin, zu erklären, wie die Schematisierung der Kategorie Substanz - Akzidens über die Zeitform hinaus auch die Raumform betrifft. Vgl. diesbezüglich Prauss, Gerold Zum apriorischen Entwurf. (Peter Rohs: Transzendentale Ästhetik, Meisenheim 1973). In: Philosophische Rundschau 22, 1976. S.190-198. Der Autor verweist darauf, daß Rohs und Heidegger zwar sehr deutlich erwiesen haben, wie die Schematismusproblematik notwendigerweise Zeit und Raum einschließt. Vgl. Heidegger, HGA Bd.3: S. 181, Rohs, P. Transzendentale Ästhetik. Meisenheim 1973. Dadurch ist aber das Problem des Schematismus nicht gelöst, und ebensowenig ist die Frage nach dem eigentümlichen Verhältnis von Zeit und Raum beispielsweise durch die Zeitlichkeit der „Ekstase" im Sinne Heideggers aufgehoben. Denn die zu beantwortende Frage des Schematismus betrifft weniger die bloße .Augenblicklichkeit" der Zeit, innerhalb derer sich etwas als Ding zeigt bzw. „sehen läßt", als vielmehr das komplexe Verhältnis von Zeit und Raum im Rahmen einer punktartigen Zeitlichkeit. Weitere Ausführungen zum komplexen Zeit-Raum-

3. Ding-Eigenschaft

und Ursache-Wirkung: die Beharrlichkeit der Dinge

115

Aus dem zuletzt Gesagten ergibt sich demnach, daß die Beharrlichkeit nicht ausschließlich die Zeit, obwohl sie als Relation gewiß nur eine zeitliche sein kann, sondern auch den Raum in Form einer jeglicher Vorstellung mit einschließt. Beharrlichkeit drückt letztendlich die Art aus, wie ein Subjekt sich zeitlich bzw. synthetisch formt, damit es durch die Bestimmung von Raum-Zugleich in Form dieser oder jener Vorstellung etwas als ein Ding mit dieser bzw. jener Form auftreten läßt bzw. gewinnt. Bei der Beharrlichkeit geht es also darum zu verstehen, wie Nacheinander und Zugleich zueinander in Verhältnis stehen müssen, so daß sich etwas als ein Ding überhaupt zeigen kann. Es handelt sich darum, um mit Kant zu sprechen, zu verdeutlichen, wie der Raum "mit dem Nacheinander [der Zeit] zugleich ist"1. Und dies heißt α fortiori, klar zu machen, wie Zugleich (Raum) mit dem Nacheinander (Zeit) zugleich ist, wobei zu bemerken gilt, daß mit dem letzten "zugleich" nicht wiederum ein Raum-Zugleich gemeint werden kann, sondern gerade das Zugleich des Raumes, welches sich per Negation gegen das Nacheinander der Zeit, also als Nichtnacheinander, ermitteln läßt. Daraus ergibt sich, daß das beharrlich ist, was qua Zugleich mit Nacheinander η i cA mache inander ist. Die Antwort auf die Frage, was es denn eigentlich bedeuten kann, daß das Beharrliche einem Zugleichsein entspricht, das mit dem Nacheinander der Zeit m'cAfnacheinander ist, liefert Kant selbst, wenn man seine rein intuitive Überlegung an den zeitlich- räumlichen Anspielungen bezüglich der Beharrlichkeit der Dinge in der späten Anmerkung zum System der Grundsätze bis zur letzten Konsequenz entfaltet. Auf eine rein intuitive Weise bemerkt er, daß "wir", um etwas Beharrliches vorzustellen, "einer Anschauung im Raum [...] bedürfen, weil der Raum allein beharrlich bestimmt"2. Aus der Überlegung Kants, daß man zwecks der Ermittlung von Beharrlichkeit einer Anschauung "im" Raum und "allein" in ihm bedarf, läßt sich α fortiori schließen, daß die Anschauung nicht notwendigerweise "im" Raum und "allein" in ihm sein muß. Und in der Tat ist eine Anschauung bzw. Vorstellung - wie es auf der Stufe der Gegenständlichkeit sich gezeigt hat - zwar etwas in Form von Raum, dennoch gewiß nicht im Raum, sondern vielmehr allein in der Zeit. Das Subjekt entwirft sich etwas bzw. stellt sich etwas vor, dadurch daß es sich selbst derart formt, daß es sich zu einer deutbaren Anschauung wechselseitig auf ihren deutfähigen Begriff bezogen macht bzw. wird. Allein es hat eine Bestimmung in sich, und zwar, indem es wird. Die Anschauung oder Vorstellung stellt hier zweifelsohne Raumartiges dar und dennoch tritt sie als Raumartiges wie die Zeit im absoluten Wechsel auf und ab. Dabei geht es also nicht um etwas Beharrliches, weil das Raum-Zugleich der Vorstellung in dem Fall "mit dem Nacheinander" gerade Verhältnis angesichts der Beharrlichkeitsproblematik finden sich in: Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1993, Bd.I, Teil.2, S.752f. 1 B67 Kursiv von mir. 2 B291 Kursiv von mir.

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ΙΠ. Ding und Wirklichkeit

nacheinander und nicht zugleich (Nichtnacheinander) einhergeht. Es handelt sich um ein Nacheinander von Raum-Zugleich. Das Raum-Zugleich ist in der Zeit, ein Zugleich nach innen also. Das Kennzeichnen dieses "Zugleich" ist daher nicht die Beharrlichkeit, obwohl es ein ausgezeichneter Fall von Ausdehnung seiner Teilbarkeit nach darstellt. Regenbogenform, Regentropfenform, Rundform usw. sind Raumartiges bloß nach innen, d.h. sie gehen als reine Vorstellungen "mit" der Zeit einher. Zutreffend sagt dann Kant, daß das Subjekt etwas nicht nur als Vorstellung bzw. Anschauung bloß hat, sondern auch noch als ein Ding vor sich sieht, wenn dieses Etwas ausschließlich "im Raum" auftritt, da nicht die Zeit, sondern "der Raum allein beharrlich bestimmt"1. Um beharren zu können, muß etwas nicht bloß r&uraartig bzw. als Zugleich nach innen, sondern auch noch im Raum bzw. als Zugleich nach außen auftreten. Denn ein Zugleich ist mit dem Zeitnacheinander nichtnacheinander, wenn es mit der Zeit nicht einhergeht, woraus sich notwendigerweise ergibt, daß es als etwas nicht "in der Zeit", sondern gerade umgekehrt "im" Raum ist, insofern es gegen die Zeit "allein" als "Räumliches "im" Raum" beharrt. Im Gegensatz zum Zugleich nach innen ist etwas Beharrliches Ausdehnung "im" Raum und allein in ihm: d.h. nicht "in der Zeit" als vielmehr gegen die Zeit "zugleich" nach außen. Wie die Vorstellung tritt etwas Beharrliches als etwas Räumliches auf, doch qua Ding gegen die Vorstellung ist es keineswegs "in der Zeit", auch nicht in einer "bleibenden", sondern ausschließlich "im" Raum bzw. zugleich nach außen. Als subjektive Charakterisierung der Beharrlichkeit gilt, daß etwas, um beharrlich zu sein, "im" Raum ist. Dies darf nicht damit verwechselt werden, daß damit gemeint sei, etwas sei in einem vorhandenen objektiven Raum enthalten. Darunter ist statt dessen vielmehr zu verstehen, daß etwas in dem Sinne "im" Raum ist, soweit es um eine Objektivierung von subjektivem Raum geht. Diese Objektivierung betrifft dabei die Synthesis, wodurch Subjekt-Objekt Trennung auf subjektiver Basis ermöglicht wird, wobei sie qua Bildung eines Gegensatzes zu sich einem Anderen als sich gegenüber nicht von diesem Anderem, also nicht von einem schlicht naiv vorausgesetzten Objekt, sondern einzig vom subjektiven Raum als diese oder jene Vorstellung ausgehen kann. Das Subjekt gewinnt also die Objektivität dieses Anderen, indem es eine Form als Raumzugleich nach innen (subjektiver Raum einer Vorstellung) verwendet, um etwas in dieser Form zu thematisieren, und zwar ein Ding (objektiver Raum), welches als Zugleich nach außen aus der Form eines Zugleichs nach innen entsteht. Es geht um eine Objektivität, welche stets als eine durch eine Form ermittelte zu betrachten ist, so daß das Ding deshalb eine Einheit einer Zweiheit von Substanz-Akzidens bzw. Ding-Eigenschaft ausmacht, weil es aus subjektiven Grün-

' Ebd. Kursiv von mir.

3. Ding-Eigenschaft und Ursache-Wirkung: die Beharrlichkeit der Dinge

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den ein ürformtes ist. Substanz - Akzidens gilt daher qua Grundkategorie als das Subjektive, wodurch rein formal Außenwelt gewonnen wird, und dementsprechend zeigt sich auf der Seite des Objekts die Einheit Ding - Eigenschaft als die irreduzible Grundstruktur von Außenwelt. Ax bezeichnet somit eine in sich komplexe Einheit bzw. eine Differenz innerhalb der Identität, deren Ursprung im Subjekt ist. Qua Differenz drückt sie nämlich eine Gegensätzlichkeit zwischen einem Zugleich nach innen und einem nach außen aus, welche sich einzig im Rückbezug auf die Art verstehen läßt, wie ein Zugleich nach innen (subjektiver Raum in Form einer Vorstellung) beim Abzielen auf ein Zugleich nach außen (objektiver Raum) verwendet wird. Denn Beharrlichkeit ist, um mit Kant zu sprechen, "doch weiter nichts, als die Art, uns das Dasein der Dinge (in der Erscheinung) vorzustellen"^. Also entsteht Beharrlichkeit letztlich aus der Form jener einheitlichen und dennoch in sich komplexen Relation, wonach man nur im Rückbezug auf Innenwelt auch noch von Außenwelt reden kann. Denn die Wirklichkeit des Außen hat ja ihren Ursprung in einem Inneren, in der subjektiven Hinstellung der Wirklichkeit von etwas nämlich, doch wirklich zu sein, trifft auf das Objekt und allein auf es, keineswegs auf das Nicht-empirische der Vorstellung, zu. Das Verhältnis Substanz - Akzidens bzw. Ding - Eigenschaft2 bestimmt somit weder eine empirische Trennung, noch irgendeinen physikalischen Zustand, noch den unsinnigen "stofflichen" Unterschied hinsichtlich der Materialität von Ding und Eigenschaft. Als nur per Reflexion3 deduzierbar, betrifft sie vielmehr die Existentia des Dinges als eines Erformten, nicht seine Essentia. Der nichtempirische Unterschied von Substanz und Akzidens bestimmt infolgedessen den Sinn von Sein der Dinge überhaupt qua formales Prädikat, welches zwar subjektiv ermittelt, aber dennoch allein den Objekten zukommt. Subjektive Vorstellungen sind formal in sich einfache Sachgehalte, Objekte in sich komplexe. Durch innere Verdoppelung des Sachgehaltes "verwandelft]" sich eine Eigenschaft "in Erfahrung"4. Denn im Traum wie im Wachzustand sind jene Formen qua Zugleich nach innen stets ins Zugleich nach außen eingegangen. Dabei tritt auf subjektiver Basis etwas als Ding auf, so wie etwas sowohl im Traum als auch im Wachzustand als 1

Al87 B230 Kursiv von mir. Für nähere Charakterisierungen des Verhältnisses Substanz-Akzidens im Kantischen Denken gegenüber der Aristotelischen wie auch der Platonischen Auffassung von Substanz-Akzidens vgl. hier Kap.I, §3 und §7. 3 Schon sprachlich gesehen zeigt der Übergang von der Formulierung »Dies ist rund« zur dementsprechenden, auf die zusätzliche Thematisierung der Eigenschaft des Dinges gerichteten »Dies hat Rundheit«, daß die Erwähnung des Unterschiedes Substanz-Akzidens eines anderen komplexen einheitlichen Urteils, welches sich auch nur äußerlich von der Prädikation im Fall der Objektsprache »Dies ist rund« abgrenzt, vonnöten ist. Diese äußerliche Betrachtung weist aber wesentlich auf die Steigerung in der Reflexion für die Gewinnung eines solchen Unterschieds hin. Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999, Bd.II, Teil.l, S.467f. 4 Ak. Bd.4: S.297. 2

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III. Ding und Wirklichkeit

wirklich hingestellt wird. Zwar findet die Objektivierung von subjektivem Raum (Vorstellung) im Wachzustand wie im Traum statt; beharrlich zu sein, kommt aber nur dem Objekt zu, und gewiß nicht deswegen, weil es als ein wirkliches Ding eine Zeit lang im Traum hingestellt wurde, um so mehr, als Traum sich als "Irrtum am Stück" definiert. So gewiß Wirklichkeit aus einer eigentümlichen subjektiven "Verwandlung" deduziert wird, so ist aber "hier nicht die Rede von Verwandlung des Scheins in Wahrheit, sondern der Erscheinung in Erfahrung"'. Denn dabei muß stets berücksichtigt werden, daß die Objektivierung beispielsweise eines Regenbogens sich zweifelsohne auf der Basis einer Regenbogenvorstellung und eines Regenbogenbegriffes vollzieht, indem ein Subjekt, aufgrund seiner Fähigkeit zu urteilen, zur Aussage "Dies ist ein Regenbogen" kommt und den Regenbogen als ein Wirkliches gewinnt, weshalb sich die "Erscheinung in Erfahrung" verwandelt hat. Unbezweifelbar ist aber auch, daß nur ein wirkliches Objekt, und nicht ein unwirklicher Schein, als Ergebnis eines Fehlers, einer Halluzination oder eines Wachtraumes, im eigentlichen Sinne beharrt. Also nicht ein "Schein" wird für wirklich gehalten. Denn beharrlich ist allein das objektiv Wirkliche (und nicht das subjektiv Wirkliche, selbst wenn es für wirklich gehalten wird, soweit man dem Fehler nachgeht), was einem wahren Wahrnehmungsurteil in Form einer Prädikation entspricht. Daher läßt sich sagen, daß Beharrlichkeit im Grunde genommen als Existenz eines objektiv Wirklichen aufzufassen ist. Sie ist demzufolge nicht gemäß dem Dauern "eine Weile lang", sondern gerade im Gegenteil dazu, gemäß dem einzelnen Zeitpunkt eines Urteils anzusehen. Aus dieser letzten Überlegung muß aber ein auf den ersten Blick merkwürdiger Schluß gezogen werden: Wenn das Urteil unbezweifelbar als "zeitpunkthaft" gilt, folgt auf der Seite des Objekts, daß es, das Objekt selbst also, gleichermaßen auch zeitpunkthaft als wirklich auftritt, so daß es durch die Objektivierung von Raum unmöglich ist, zwei nacheinander gewonnene Objekte als ein und dasselbe zu erkennen. Die Erschließung von Außenwelt vollzieht sich in zeitpunkthafter Form von Nacheinander-Zeit, beispielsweise "Dies hier und jetzt ein Regenbogen" und "Dies hier und jetzt ein Regenbogen" usw. Die Zeitobjektivierung im Sinne des Dauerns ist dann im Fall eines einzelnen durch das Urteil gewonnenen Objekts in einer bestimmten Form völlig unnötig. Daher ist ein Argument gefordert, damit der Sinn von Zeitobjektivierung eines Früher und eines Später nicht verloren geht. Dies zeigt sich, wenn nicht im Fall eines Objekts mit seiner Eigenschaft, als notwendig in dem Fall, wo ein Objekt eine Eigenschaft bzw. mehrere Eigenschaften verliert bzw. bekommt, was üblicherweise Ereignis2 genannt wird1. In dem Fall gewinnt das Subjekt Gegenständ-

1

Ak. Bd.4: S.555. Hierbei wird nur eine Art Ereignis, die Veränderung, kurz untersucht. Auf die andere zwei Arten von Ereignisse, d.h. die Teilung und die Verschmelzung, wird nicht eingegangen. 2

3. Ding-Eigenschaft und Ursache-Wirkung: die Beharrlichkeit der Dinge

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lichkeit nicht dadurch, daß es zu einem Zeitpunkt aufgrund seiner ursprünglichen Widerspruchsvermeidungstätigkeit eine durch ihren Inhalt im Unterschied zu ihrem Gegeninhalt bestimmte Vorstellung hat, z.B. "...hier und jetzt Regenbogen" (Vordergrund) im Unterschied zu "...hier und jetzt Nichtregenbogen" (Hintergrund). Auch in Form von Bestimmtheit kann es Unbestimmtheit geben, wenn sich z.B. Regenbogenform und Nichtregenbogenform bzw. Dampfwolkenform zum gleichen Zeitpunkt im Vordergrund einstellen. Dann wird eine zusätzliche Leistung des Subjekts nötig, um den sich daraus ergebenden Widerspruch zu vermeiden. Es handelt sich um die gesuchte Zeitobjektivierung, wonach eine formale Zerlegung eines widersprüchlichen Inhaltes im mindestens zwei Raumzugleich stattfindet, was nur nacheinander möglich ist. Der Gehalt ist somit nicht nur ein Räumliches, sondern auch eines "in der Zeit" Verteiltes. Indem das Subjekt sich so formt, daß es sich eine Zeitspanne entwirft, erfüllt es durch sich selbst jene Bedingung, damit gegensätzliche Inhalte im Rahmen des Nacheinander widerspruchsfrei bestehen können. Ausschließlich aufgrund der Zeitobjektivierung erreicht das Subjekt aber deshalb noch keine Objektivität, weil es dabei um einen Wechsel von Raumformen, also einen Wechsel nach innen geht. Die Objektivierung von Zeit2 allein gewährleistet keine Beharrlichkeit, sondern vermeidet nur einen Widerspruch durch einen Wechsel, indem z.B. der Inhalt "...Regenbogen" und der Inhalt "... Dampfwolke" verteilt werden als "... früher Regenbogen und ... nachher Dampfwolke" im Wechsel. Das, was beharrlich ist, kann indessen nach Kant allein das Objekt sein, was sich eigentlich verändert, denn nur das "Beharrliche (die Substanz) wird verändert", während "das Wandelbare keine Veränderung erleidet"3. "Daher ist" gerade "alles, was sich verändert, bleibend, und nur sein Zustand wechselt"*. Wenn man anhand dieser letzten Überlegung Kants zusätzlich noch berücksichtigt, daß vom Kantischen Standpunkt aus die Veränderung nicht als ein Fall von Wechsel von Akzidenzen an einer dahinterliegenden Substanz im Aristotelischen Sinne des "Hypokeimenon" ausgelegt werden darf, denn Ausgangspunkt fur die Erklärung von Veränderung kann nach Kant ausschließlich der Wechsel der Vorstellungen nach innen und somit gerade nicht eine bloß angenommene und zugrundeliegende Objektivität sein, so geht es eigentlich darum, auf die formale

1 Hierbei wird ausdrücklich auf die von Prauss erarbeitete Theorie der Kausalität im transzendentalen Sinne als Zeitobjektivierung qua Grundvoraussetzung für die Gewinnung von Objektivität in Form eines Ereignisses Bezug genommen. Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990 f., Bd.I, Teil.2, S.822-874 und Bd.II, Teil.l, S.483f. 2 Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990 f., Bd.I, Teil.2, S.791-822 und Bd.II, Teil.l, S.484f., wo der Autor den Übergang vom Ding zum Ereignis als denjenigen vom Ruhefall zum Bewegungsfall eines Dinges erläutert. 3 Al 87 B230. 4 Ebd. Kursiv von mir.

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III. Ding und Wirklichkeit

Bedeutung eines "Bleibenden", "was sich verändert"1, einzugehen, statt das Bleibende als eine bloße Materialität unreflektiert hinzunehmen. Kant selbst zeigt nur auf eine negative Weise den Weg an, wie der Sinn von "bleibend" sich aufklären läßt, indem er bemerkt, "daß alle Veränderung etwas Beharrliches in der Anschauung voraussetzt, um auch selbst als Veränderung wahrgenommen zu werden", wobei eigentlich "im inneren Sinn [...] gar keine beharrliche Anschauung angetroffen wird"2. Wenn keine Anschauung beharrt, so muß notwendigerweise das Objekt es sein, das beharrt, und zwar gerade indem es "sich verändert"3, und dies allein in formaler Hinsicht. Die Veränderung bestimmt demzufolge allein die "Art zu existieren"4 eines Dinges und keineswegs jene der Vorstellungen, welche hingegen bloß wechseln. Läßt sich ferner Existenz nach Kant einzig als Beharrlichkeit definieren, die "indes doch weiter nichts [ist], als die Art, uns das Dasein der Dinge (in der Erscheinung) vorzustellen"5, ergibt sich dann das Folgende: Das "Bleibende" bei der Veränderung eines Dinges kennzeichnet nichts anderes als eine bestimmte subjektive Art, das Dasein der Dinge zu gewinnen. Beharrlichkeit stellt dem Kantischen Ansatz nach im Fall des Verhältnisses Ding - Eigenschaft wie auch im Fall des Ereignisses bzw. der Veränderung eines Dinges beim Wechsel seiner Eigenschaft/en ausschließlich ein aus subjektiver Basis entspringendes Merkmal dar, welches dennoch den Dingen zugehört. Dies hat dann zur Folge, daß auch fur ein Ereignis gilt, Beharrlichkeit zu begreifen als ein rein formales Kennzeichen einer bestimmten Art der Dinge zu existieren. Die sich daraus ergebende Folge besteht also darin, die Beharrlichkeit des sich Verändernden gegen den absoluten subjektiven Wechsel der Eigenschaften rein formal abzugrenzen. Und das kann positiv nur heißen zu erklären, wie das Subjekt sich gestalten muß, soll es von sich selbst aus etwas in Form eines nicht nur räumlich wie im Fall des Ding-Eigenschaft-Verhältnisses - , sondern auch zeitlich Bestimmten wahrnehmen, also von sich aus in Form eines Wechsels von Eigenschaften eigentlich etwas als die Veränderung eines Dinges beim Wechsel seiner Eigenschaft/en. Es geht darum, klar zu machen, wie sich das Subjekt selbst weiter entwirft, um von einem bloßen Wechsel von Formen her über ihn hinaus etwas als etwas Sich-Veränderndes "im Raum" und somit als etwas auf eine eigentümlich komplexe Weise Beharrliches zu gewinnen. Das Subjekt gewährleistet von sich aus die Objektivität der Veränderung, und zwar dadurch, daß es gegen den absoluten Wechsel der Eigenschaften etwas als ein und dasselbe beim Wechsel seiner Eigenschaft/en als wirklich hinstellt. Um 1 2 3 4 5

Ebd. B292. A l 8 7 B230. Ebd. Kursiv von mir. A l 8 7 B230 Kursiv von mir.

3. Ding-Eigenschaft

und Ursache-Wirkung: die Beharrlichkeit der Dinge

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gegen das absolute Entstehen und Vergehen von Raumformen im Wechsel beharrlich zu sein, muß etwas ein und dasselbe sein, was sich verändert, also muß es als ein und dasselbe als wirklich im Urteil ausgesagt werden. Die hier in Betracht gezogene Selbigkeit gewinnt das Subjekt nach Kant auf eine eigentümliche Weise durch Kausalität: "[D]adurch, daß wir die Folge der Erscheinungen, mithin alle Veränderung dem Gesetze der Kausalität unterwerfen, [ist] selbst Erfahrung [...] möglich"1. Die Kausalität entspricht aus dieser Sichtweise der besonderen Art, wodurch das Subjekt qua Zeit sich gestaltet, um ein Ereignis als objektiv wirklich zu gewinnen. Daß das Subjekt etwas in ein bestimmtes Gesetz bringt, erfordert einen Rückbezug desselben auf sich, so daß es den bloßen Wechsel von mindestens zwei Raumzugleich in zwei aufeinanderfolgende Zeitteile in einer besonderen Weise deutet: nämlich im Sinne von Ursache - Wirkung. Die Objektivierung der Zeit wird hier nicht einfach auf die Vermeidung eines Widerspruchs von Inhalten, wie beispielsweise "...Regenbogen" und "...Dampfwolke" als "...früher Regenbogen und ... nachher Dampfwolke" in einem Zeitwechsel gerichtet. Zusätzlich dazu und gleichzeitig über sie hinaus wird die Objektivierung von Zeit im Sinne der Kausalität verfolgt, so daß eine Veränderung nur als die Wirkung eines anderen Objekts (oder einer anderen Veränderung), welches seinerseits als Ursache dieser Wirkung gilt, anzusehen ist. Auf der Seite des Subjekts nimmt somit das Urteil die besondere Form der Prädikation "Dies wird A"2 an, beispielsweise "Dies wird eine Dampfwolke", was notwendigerweise mit einschließt, daß "es keine Dampfwolke, sondern ein Regenbogen war" und "es ein Dampfwolke sein wird", wobei es nur aufgrund eines anderen Objekts (oder einer anderen Veränderung) erfolgt, welche Ursache diese Veränderung als Wirkung hat.Dabei gilt es aber noch zu bemerken, daß das Urteil ein Ereignis betreffend, z.B. "Dies wird eine Dampfwolke" oder "Dies wird nebelig", genauso wie das Urteil ein Ding betreffend "Dies ist ein Regenbogen" oder "Die ist rund", ein zeitpunkthaftes Gebilde ist. Auch im Fall "Dies wird A" bedeutet Beharrlichkeit infolgedessen nicht, eine Weile lang zu überdauern. "Bleibend" ist hier allein das Beharrliche, welches aber "verändert wird"3, und zwar durch den Wechsel seiner Eigenschaft/en. Beharrlichkeit bezeichnet also nach wie vor allein die Existenz, hier aber eines Ereignisses, was dem objektiv Wirklichen einer wahren Prädikation in Form "Dies wird A" entspricht. Durch die Kategorien der Relation gewinnt das Subjekt sowohl im Fall des Verhältnisses von Substanz - Akzidens als auch des von Urasche Wirkung Objektivität von etwas Anderem als es selbst qua Ding bzw. Ereignis. 1

B234. Für eine nähere Charakterisierung von Prädikation im Fall des Ereignisses vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990 f., Bd.I, Teil.2, S.831f. und Bd.II, Teil.l, S.484f. 3 Al 87 B230. 2

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III. Ding und Wirklichkeit

Die Gültigkeit des Unterschiedes Ding - Eigenschaft bzw. Ursache - Wirkung kann nur eine aus der inneren Struktur von Subjektivität entspringende formale Differenz sein, die Differenz einer Einheit. Dementsprechend formal ist auch das Merkmal der Dinge bzw. der Ereignisse: die Beharrlichkeit. Sie hat zwar ihren Ursprung in der subjektiven Fähigkeit zu urteilen, wodurch letztendlich etwas als wirklich hingestellt wird - sei dieses Etwas ein einfach räumlich Bestimmtes, wie im Fall des Dinges, oder ein komplex räumlich und zeitlich Bestimmtes, wie im Fall des Ereignisses (= Ding beim Wechsel seiner Eigenschaft/en). Dennoch waltet diesbezüglich die Beharrlichkeit stets als ein Merkmal der Dinge und Ereignisse. Denn beharrlich ist ausschließlich das objektiv Wirkliche, was einer wahren Aussage entspricht. Aus dem zuletzt Gesagten ergibt sich aber die Notwendigkeit, genauer auf das genannte objektiv Wirkliche einzugehen. Denn so gewiß es ist, daß die Wirklichkeit nach Kant deshalb subjek{abhängig ist, weil sie durch das Subjekt allein gewonnen wird, indem es als ein Urteilendes etwas als wirklich (Ding oder Ereignis) hinstellt, ebenso unbezweifelbar ist für ihn aber auch dies: daß wirklich zu sein, dem Ding und nur dem Ding zukommt1. Gemäß der Intentionalitätssprache bedeutet dies: Trotz aller Anstrengungen des Subjekts beim Intendieren, hängt es nicht nur von ihm ab, ob die Intention erfolgreich ist oder nicht. Daher gilt es, die Frage zu untersuchen, was es denn bedeuten kann, daß etwas Wirkliches das ist, was einer wahren Aussage entspricht. Es geht also darum, von dem Urteil und der damit verbundenen "Subjektabhängigkeit" der Wirklichkeit der Dinge zur Verifikationsfrage und der daraus folgenden "Objektabhängigkeit" der Wahrheit der Aussagen überzugehen.

4. Die Verifikationsfrage: Wirklichkeit und Kohärenz Auf die Frage, wie das Subjekt aus sich selbst heraus die Wirklichkeit von anderem seiner selbst überhaupt gewinnen kann, ist nach der bisherigen Rekonstruktion des Kantischen Ansatzes wie folgt zu antworten: Dadurch, daß das Subjekt sich derart selbstverwirklicht, daß es etwas Anderes als wirklich hinstellt, wobei dies letztlich bedeutet, daß es Anschauung und Begriff, die wechselseitig aufeinander bezogen entstehen, benutzt, um ein Urteil zu fällen. Gewinnt allerdings ein Subjekt Objektivität durch sich selbst als Urteilendes, trifft die Objektivität aus-

1 In Analogie zur Veranschaulichung der subjektiven Intention qua Hinstellung der Wirklichkeit bzw. qua Existenzurteil durch die Arbeit eines Bildhauers, der versucht, mit Hammer und Meißel eine Statue aus dem Marmor zu bilden, schlägt G. Prauss vor, auch Erfolg bzw. Mißerfolg der Intention in Analogie zur Arbeit des Bildhauer, und zwar im Hinblick auf die immer anwesende Möglichkeit einer mißlingenden Herstellung der Statue, zu betrachten. Vgl. u.a. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999, Bd.II, Teil. 1, S.438.

4. Die Verifikationsfrage: Wirklichkeit und Kohärenz

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schließlich auf das Ding zu, dessen Merkmal in Abgrenzung zum Subjekt die Beharrlichkeit ist. Als subjektive Charakterisierung des Dinges gilt die Beharrlichkeit aber nur für es als Objektives. Beharrlich ist indessen das objektiv Wirkliche, das einer wahren Aussage bzw. einem wahren Wahrnehmungsurteil entspricht. Berücksichtigt man ferner, daß das, was mit einem Urteil eigentlich vermeint wird, keineswegs das Urteil selbst, sondern nur das ist, worüber geurteilt wird, also immer (im Wachzustand wie auch aber im Traum) die Wirklichkeit dieses Anderen, kann es nur auf das Objekt allein ankommen, objektiv wirklich zu sein. Gemäß der Intentionalitätssprache läßt sich dies folgendermaßen ausdrücken: Wenn auch stets (im Traum wie im Wachzustand) Erfolg intendiert wird, hat trotz aller Anstrengungen des Subjekts die Intention Erfolg nicht dadurch, daß intendiert wird, sondern nur dann, wenn das Ziel derselben auch erreicht wird. Fragt man sich jedoch, wonach Erfolg bzw. Mißerfolg der Intention festgesetzt werden können, gerät man unausweichlich in die Schwierigkeit, Wahrheit des Urteils und Wirklichkeit des Objekts einander richtig zuordnen zu müssen. Zwar läßt sich auf den ersten Blick die genannte Zuordnung aus der Wahrheit des Urteils ableiten, daraus also, daß das objektiv Wirkliche einer wahren Aussage entspricht, demnach ist die daraus folgende Konsequenz, daß das Urteil seine Wahrheit innerhalb von sich besitzen müßte, zumindest als problematisch anzusehen. Denn gewiß nicht daraus, daß eine Aussage wahr ist, ergibt sich das objektiv Wirkliche. Nicht deswegen also, weil sie "in sich" wahr ist. Denn "wahr" bedeutet hier nur, daß sie beansprucht, wahr zu sein. Doch auf diese Weise ist auch eine falsche Aussage "wahr", da sie wie die wahre die Wirklichkeit dieses Anderen seiner selbst, des Objekts nämlich, als "wahr" behauptet bzw. intendiert. Infolgedessen erweist es sich als notwendig, sich von der Wahrheits- zur Wirklichkeitsfrage hinzuwenden, was allerdings gleichfalls mit analogen Schwierigkeiten verbunden ist. Hat zwar ein Urteil Wahrheit innerhalb von sich, so hat doch ein Urteil als Intention Erfolg außerhalb von sich, d.h., es besitzt ihn im Objekt und in dessen Wirklichkeit. Schon aus der Formulierung "die Aussage besitzt ihre Wahrheit nicht "in sich", sondern "im Objekt"" geht hervor, worauf die hier vorgeschlagene Hinwendung unvermeidlich hinauszulaufen scheint, obwohl sie darauf gerade nicht hinauslaufen darf: Die Zuordnung der Wahrheit zur Wirklichkeit des Objekts, als ob die Wahrheit eines Urteils eigentlich aus einer schon immer naiv vorauszusetzenden, vorhandenen Objektivität folgen müßte, was von der Tradition als adaequatio intellectus ad rem bzw. als Übereinstimmung der Wahrheit mit dem Objekt bezeichnet wird, was aber für Kant unsinnig ist, weil gerade das Subjekt und es allein die Wirklichkeit konstituiert. So gewiß es auch sein mag, daß Kant als Ausgangspunkt der Reflexion auf die Wahrheitsfrage die überlieferte Definition der Wahrheit nimmt1, wonach in der 1

Vgl. dazu Ak. Bd.9: S.49f. und A54 B78f.

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III. Ding und Wirklichkeit

heutigen Sprache eine Aussage über ρ = "ρ" dann und nur dann wahr ist, wenn p1, ebenso unbezweifelbar ist es doch, daß das Ergebnis seiner Reflexion auf die Wahrheitsproblematik und die damit verbundene Hinwendung zur Wirklichkeitsfrage im Vergleich zur Tradition ein ganz anderes2 ist. Denn der Anspruch Kants auf die genannte Definition der Wahrheit läßt sich nur rechtfertigen, weil er dadurch auf die Notwendigkeit des Vertretens einer nominalistischen Theorie der Wahrheit3 hinweist, wonach als unbestritten gilt, daß Wahrheit und Objektivität aufeinander bezogen sind, nicht jedoch, weil er damit die Art und Weise ihrer Relation in einer bloßen Definition unreflektiert läßt. Mag auch eine Definition als "Namenerklärung"4 der Wahrheit gelten, was der Theorie der Übereinstimmung der Wahrheit mit dem Objekt zugrundeliegt, gesucht wird aber dennoch keine "Worterklärung"5, sondern ausschließlich eine "Realdefinition"6 der Wahrheit, welche sich notwendigerweise mit der Art und Weise der wechselseitigen Relation innerhalb der in sich komplexen Einheit von Wahrheit und Wirklichkeit auseinandersetzen muß. Dabei geht es, um mit Kant zu sprechen, darum, "die o b j e k t i v e Realität" der Wahrheit " deutlich [zu] mach[en]" und nicht "bloß dem Namen ["Wahrheit"] andere und verständlichere Wörter" einfach zu "unterleg[en]"7. 1 Vgl. zur hier genannten Tarskischen Definition der Wahrheit als Ansatzpunkt der Modemen Logik beispielsweise Stegmüller, Wolfgang Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik. Wien 1957, S.20. Ob man von dieser Definition ausgehend auch noch über sie hinaus zu einer Realkonzeption der Wahrheit gelangen muß, stellt der Autor auch in einem späteren Werk in Frage. Ders., Das ABC der modernen Logik und Semantik. Berlin Heidelberg - New - York 1974, S.XVII. Diesbezüglich muß noch angemerkt werden, daß die Reflexion auf die Notwendigkeit der Ausarbeitung einer nominalistischen Theorie der Wahrheit eigentlich auf dem Fregeschen konstitutionstheoretischen Unterschied zwischen »Objektsprache« und »Metasprache« beruht. Aus diesem Unterschied folgt nämlich, daß ein Urteil wie beispielsweise »Dies ist ein Regenbogen« als Objekt den Regenbogen selbst hat. Fragt man nach seiner Wahrheit, wird statt dessen gerade das Urteil selbst thematisiert, und nicht sein Objekt, so daß der Satz „»Dies ist ein Regenbogen« ist wahr bzw. falsch" eine metasprachliche Aussage ist. Wie sich Wahrheit des Urteils und Wirklichkeit des Objekts einander zuordnen lassen, wird daher offensichtlich zum nächstliegenden Problem. Wenn nach Kant dies auf nichts anderes als auf den Nominalismus der Wahrheit fuhren muß, wird dies gerade durch Freges Theorie der Gedanken bestritten, wonach man vielmehr zum Piatonismus gelangt. Vgl. dazu Frege, G. Funktion, Begriff, Bedeutung. Göttingen 1994, S. 41-43 und ders. Logische Untersuchungen. Göttingen 1993, S.34-35. Im unmittelbaren Anschluß an dem Fregeschen Ansatz schreibt Tarski: »Die grundlegenden Konventionen fur den Gebrauch einer jeden Sprache verlangen, daß in jeder Äußerung, die wir über ein Objekt machen, der Name des Objekts verwendet wird und nicht das Objekt selbst. Folglich müssen wir, wenn wir etwas über einen Satz sagen wollen, zum Beispiel, daß er wahr sei, den Namen dieses Satzes verwenden und nicht den Satz selbst«. Tarski, A. The semantic conception of truth. In: Philosophy and Phenomenological Research 4, 1944, kursiv von mir. Hierbei ist es also offensichtlich auf analytischer Basis eine Überlegung über den Nominalismus der Wahrheit gefordert. 2 Vgl. hier Kap. II, § 3. 3 Bezüglich des Kantischen strengen Nominalismus vgl. auch hier Kap.II, §§3-4. 4 A58 B82. 5 Ak. Bd.9: S.54. 6 A242. 7 Ebd.

4. Die Verifikationsfrage: Wirklichkeit und Kohärenz

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Wenn man die Definition der Übereinstimmung unreflektiert gelten läßt, wird aber gerade das, wonach gefragt wird, unberücksichtigt gelassen. Denn ihr gemäß müßte die Wahrheit eines Urteils über die Existenz von p, gerade ausgehend von dessen Existenz überprüft werden. Die Folge ist die Bildung eines Vergleichsprinzips, wodurch die Wahrheit eines Urteils "p" auf der Basis von ρ festgesetzt wird. Der Vergleich erweist sich aber deshalb als unmöglich, weil man dabei gerade das in Anspruch nimmt, was gesucht wird: Die Wirklichkeit von p. Kant selbst verweist sehr deutlich in einer kurzen Reflexion auf die Unmöglichkeit, den Weg der Vergleichung von "p" und ρ zu betreten, denn "soll mein Urtheil mit dem Obiect übereinstimmen^] [n]un kann ich das Obiect nur mit meiner Erkenntnis vergleichen dadurch, daß ich es erkenne. D i a 1 e 1 e Verschafft vom Kantischen Standpunkt aus gerade die Erkenntnis den Zugang zu den Dingen, und zwar laut der Rekonstruktion seines Ansatzes in Form von Existenzaussagen, kann die obengenannte "Objektabhängigkeit" der wahren Erkenntnis gewiß nicht ausgehend von einer schlicht vorausgesetzten Objektivität deduziert werden. Dies fuhrt dennoch wieder auf den Punkt zurück, an dem die Frage nach der Wahrheit entsteht und worauf sie sich zugleich zu jener nach der Wirklichkeit hinwendet. Die negative Lehre der Kantischen "Dialele"2 deutet bezüglich der Notwendigkeit solch einer Hinwendung der Wahrheits- zur Wirklichkeitsfrage sehr klar darauf hin, daß sie qua Hinwendung nur noch dann verständlich werden kann, wenn man nicht ein sachhaltiges bzw. schlicht objektives Merkmal fur die Wahrheit in der Empirie der Dinge sucht, um von diesem Empirischen her den Schritt hin zur Herstellung der Wahrheit eines Urteils zu vollziehen. Daraus folgt aber als entsprechend positive Kehrseite dieses Gedankens, daß die Hinwendimg der Wahrheits- zur Wirklichkeitsfrage gewiß deshalb gerechtfertigt ist, weil ein Urteil den Grund seiner Wahrheit außerhalb von sich hat, in dem Objekt und in dessen Wirklichkeit. Dies schließt jedoch weder ein, die Wirklichkeit an das bloß Empirische preiszugeben, noch die Wahrheit allein ins Subjekt aufzuheben. Denn nach Kant ist es nicht nur klar, daß nur "p" und nicht ρ Wahrheit zugesprochen werden muß, es ist für ihn sogar selbstverständlich, daß dem Objekt von ρ die Wirklichkeit zukommt. "Die Wahrheit in der Wirklichkeit" schließt darüber hinaus zunächst einmal nicht aus, daß die Wirklichkeit dieses Anderen, des Objekts also, durch das Subjekt erkannt bzw. festgestellt werden kann. Es muß also noch der Weg betreten werden, worauf die Feststellung der Wirklichkeit auf subjektiver Basis gewonnen wird, und wobei nichtsdestoweniger die Wirklichkeit wenn auch aus subjektiver Basis gewonnen - nur auf das objektiv Wirkliche übertragen wird.

' Ak. Bd.16: S.251. Ebd.

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III. Ding und Wirklichkeit

In diesem Sinne mündet die genannte Hinwendung der Wahrheits- zur Wirklichkeitsproblematik in die Verifikationsfrage, so daß es eigentlich darum geht, jenes formale bzw. subjektive Kriterium der Wahrheit eines Urteils zu finden, welches auf eine rein formale Weise zeigen muß, inwieweit sich sagen läßt, daß dieses oder jenes Objekt ein objektiv Wirkliches ist. Es wird also ein Kriterium gefordert, welches auf eine rein formale Weise bzw. argumentativ überzeugend dafür bürgt, daß es auch auf das objektiv Wirkliche ankommt, ein Urteil als wahr gelten zu lassen. So unleugbar es ist, daß die Wahrheit eines Urteils nicht aufgrund einer vorausgesetzten Objektivität verifiziert werden kann, denn gerade auf sie, d.h. auf die Wirklichkeit des Objekts wird abgezielt, ebenso unbezweifelbar ist aber für Kant auch die Existenz eines formalen Kriteriums, wodurch man argumentativ nachweisen kann, daß das Objekt und seine Wirklichkeit das ist, was ein Urteil als wahr gelten läßt. Daß das Verifikationskriterium ein formales sein muß, impliziert jedoch nicht, Kant meine damit, daß es innerhalb der Logik im strengen Sinne zu suchen sei. Denn gerade nach ihm gilt, daß die Logik im strengen Sinne, "[d]ie allgemeine Logik" - wie er sagt-, notwendigerweise "von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert, d.i. von aller Beziehung derselben auf das Objekt"1. Hingegen darf das gesuchte Kriterium gerade nicht "von [der] Beziehung [des Urteils] auf das Objekt", zumindest nicht "von aller [seinen] Beziehung"2 bzw. nicht von jener auf seine Wirklichkeit abstrahieren, denn gerade die Beziehung des Urteils auf das Objekt ist eigentlich das, worum es dabei geht. Infolgedessen ist es nach Kant "ungereimt", "die Frage nach der Wahrheit" dem "Logiker"3 zu stellen, weil die Logik im strengen Sinne kein Organon derselben sein kann4. Wenn es sich hinsichtlich des formalen Kriteriums der Wahrheit trotzdem um eine Logik handeln muß, wie dies bei Kant auch tatsächlich der Fall ist, dann muß es eine sein, die nicht "von allem Inhalt abstrahiert"5, also nur von einem Teil dieses Inhalts, aber von einem anderen Teil dieses Inhaltes gerade nicht. Abstrahieren muß man gewiß von den "empirischen" Gehalten jeder Erkenntnis, denn "es [ist] ganz unmöglich und ungereimt, nach einem Merkmale der Wahrheit dieses [also dieses spezifischen] Inhalts der Erkenntnis zu fragen, und daß also ein hinreichendes, und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich angegeben werden könne"6. Wenn es sich als unmöglich

1 2

3 4

A55 B79. Ebd.

A58 B82.

Bezüglich der Gründe, weshalb Kant die Logik im strengen Sinn keineswegs als Organon der Wahrheit betrachtet, vgl. Prauss, Gerold Zum Wahrheitsproblem bei Kant, Kant-Studien, Bd.60, 1969, S.166-174. 5 A55 B79. 6 A59 B83 Kursiv von mir.

4. Die Verifikationsfrage: Wirklichkeit und Kohärenz

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erweist, ein "allgemeines"1 Merkmal der Wahrheit zu finden, sofern man nicht von allem "empirischen"2 Inhalt der Erkenntnis abstrahiert, so erweist sich doch ein allgemeines Kennzeichen der Wahrheit als möglich, sofern man - von dem "empirischen" Inhalt der Erkenntnis abstrahierend - von ihrem Nicht-empirischen gerade nicht abstrahiert3. Und das heißt, wenn man von der Form der Erkenntnis bzw. von der Form, in welcher jeder Inhalt erfahrbar gemacht wird, nicht abstrahiert, also vor allem, wenn man von der Zeitabhängigkeit des Urteils und der Räumlichkeit der Dinge, also von Zeit und Raum als von den Formen, in denen die Erfahrung ermöglicht wird, nicht abstrahiert. Nach der subjektiven Bedingung bzw. dem formalen Kriterium zu fragen, wodurch etwas als wirklich Hingestelltes sich auch noch als objektiv wirklich zeigt, bedeutet nach dem zuletzt Gesagten, danach zu fragen, in welcher Form eines bestimmten Inhaltes etwas auftreten muß, um als ein objektiv Wirkliches auftreten zu können, wobei es immer auf das Ding ankommt, objektiv wirklich zu sein. Diese Form kann ferner aufgrund ihrer Subjektabhängigkeit nur eine zeitliche sein im Vergleich zu der dem Subjekt absolut entgegengesetzten Räumlichkeit des Objekts. Um die gesuchte Form der Erkenntnis überhaupt untersuchen zu können, muß aber nach Kant eine erste unentbehrliche Bedingung erfüllt werden, die als conditio sine qua non für die Möglichkeit der Erkenntnis selbst gilt und die diesmal gerade die formale Logik im strengen Sinne liefert: Die Erkenntnis darf "dem Gegenstand", von dem sie nämlich beansprucht, Erkenntnis zu sein, nicht "widersprechen"4. Widerspricht die Erkenntnis sich in sich, indem ihr Gehalt ein widersprüchlich-bestimmter ist, verliert sie sogar den Status der Sinnvollen, so daß es auch nicht mehr angemessen ist zu fragen, ob sie wahr bzw. falsch ist. Rein formal gesehen zeigt sich das Prinzip des Widerspruchs als ein bloß negatives Kriterium der Erkenntnis selbst. Soweit man von jedem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert und ein Widerspruch den Gebrauch des Verstandes betreffend auftaucht, ergibt sich ein Nichts, etwas Sinnwidriges, weil jene Bedingungen nicht erfüllt werden, wonach sich etwas überhaupt als etwas Erfahrbares gibt. Unabhängig von dem Inhalt jeder Erkenntnis müssen daher zunächst einmal die Voraussetzungen für die Erfahrbarkeit von etwas überhaupt erfüllt werden, so daß im Sinne der strengen Logik durch 1

Ebd. Ebd. 3 Für nähere Charakterisierung hinsichtlich der Allgemeingültigkeit des Kriterium der Wahrheit von Erkenntnissen vgl. Scheffer, Thomas Kants Kriterium der Wahrheit. Berlin New York 1993, S.8-12 und S.62-63. Scheffer stellt richtig dar, daß die Kantische Wahrheitstheorie erklären muß, wie die Allgemeingültigkeit ihres Kriteriums noch beansprucht werden kann, da seine Logik qua transzendentale nicht von jedem Inhalt der Erkenntnis abstrahieren kann. Doch m.E. geht bei ihm bis zuletzt nicht genug hervor, daß die Allgemeingültigkeit einer Theorie nur noch dann erklärbar ist, wenn man die innerliche Verbundenheit von Erkenntnis und Theorie mit der Zeit berücksichtigt, denn die Zeitverbundenheit der Wahrheit ist es eigentlich, woraufhin man von Kantischen Standpunkt ausgeht. 4 A59 B84. 2

128

III. Ding und Wirklichkeit

das Widerspruchsprinzips der Unterschied sinnvoll gegen nicht sinnvoll gewährleistet wird1. Wird aber diese erste logische Bedingung erfüllt, so taucht eine Erkenntnis als solche in dem Sinne auf, daß es auch adäquat ist zu fragen, ob es sich dabei um eine wahre oder eine falsche handelt, gerade, weil sie Erkenntnis eines Objekts ist. Unabhängig davon, ob sie sich als wahr oder als falsch zeigt, hört sie aufgrund ihrer Falschheit nicht auf, Erkenntnis zu sein, so wie sie aufgrund ihrer Wahrheit nicht den Status einer "echten" bzw. ausgezeichneten Erkenntnis erlangt. Bezüglich des eigentümlichen Status der Erkenntnis im Hinblick auf ihre Wahrheit bzw. Falschheit sei hier eigens ein kurzer Blick auf die wissenschaftlichen Theorien und auf ihren Zuverlässigkeitswert geworfen2. Denn das Verhältnis einer Theorie zur Erfahrung, deren Theorie sie ist, zeigt, daß die Falschheit derselben keineswegs die Abschaffung des Status von Erkenntnis für die Theorie zur Folge hat. Daß eine Theorie auf Erfahrungen stößt, welche für sie als Theorie unerklärlich bleiben, hängt nämlich nicht von der Theorie als dem einheitlichen Inbegriff von Erkenntnissen ab, so als könnte sie einzig aufgrund der Erkenntnis, auf der sie beruht, in die Enge getrieben werden. Unentbehrliche Bedingung dafür, daß eine Theorie als solche auftritt, ist, daß sie widerspruchsfrei und d.h. konsistent ist. Nichtsdestoweniger kann es den Fall geben, daß sie unfähig ist, bestimmte Erfahrungen zu bewältigen. Nicht von ihrem innerlichen Aufbau als der Struktur der Erkenntnisse hängt ihre Falschheit ab. Es ist mithin unmöglich, allein aufgrund der Analyse bestimmter Erkenntnisse zu entscheiden, ob eine Theorie sich als wahr oder als falsch erweisen wird. Gerade umgekehrt gilt, daß sie aufgrund bestimmter Erkenntnisse sich auch als Theorie definieren läßt. Daß eine Theorie in Schwierigkeiten geraten muß, läßt sich erst auf der faktischen Tatsache bzw. kontingenterweise darauf gründen, daß es diese und jene Erfahrung gibt, der sie sich als widerspruchsfreie Theorie aussetzt. Eine konsistente Theorie erweist sich also nicht deshalb als falsch, weil sie keine Theorie ist. Daraus folgt aber keinesfalls, daß eine Theorie konstitutionstheoretisch sich nur als möglicherweise wahr definieren läßt, denn eine Theorie ist vielmehr in bezug auf die Erfahrung, deren Theorie sie ist, wahr, und zwar je unter der faktischen Tatsache bzw. unter den kontingenten Umständen, daß diese oder jene Erfahrung so und nicht anders tatsächlich stattfindet. Erweist sich im Lauf der Zeit, daß diese oder jene Erfahrung in ihrer Komplexität auf eine für die Theorie unvorhersehbare andere Weise geschieht, hört die Theorie nicht auf, Theorie zu sein, sondern sie hört nur auf, wahr zu sein. In Analogie zum Zuverlässigkeitswert der wissenschaftlichen Theorien muß auch im Fall einfacherer Erkenntnisse das Prin' Vgl. dazu Ak. Bd.24, Teil.2: S.543. Dazu ausführlicher Kuhn, Thomas S. Die Struktur Main 1967. 2

wissenschaftlicher

Revolution.

Frankfurt am

4. Die Verifikationsfrage: Wirklichkeit und Kohärenz

129

zip des Zusammenspiels von Faktizität bzw. Kontingenz der Erfahrung und Wahrheit bzw. Falschheit der Erkenntnis gelten, selbst wenn Kant nicht ausdrücklich eine Theorie der Faktizität entwickelt hat1. Auf die Notwendigkeit, das Zusammenspiel von der Faktizität der Erfahrung und der Wahrheit bzw. Falschheit der Erkenntnis für die Bewältigung der Verifikationsfrage in Betracht zu ziehen, weisen jedoch sehr deutlich einige Überlegungen Kants in seiner Vorlesungen über Logik und in der Kritik der reinen Vernunft hin, wenn man sie radikalisiert: D.h., indem man getreu der Kantischen Prämisse von der Kopernikanischen Revolution folgend jede Form von naivem Realismus und von der damit verbundenen Übereinstimmungstheorie klar ablehnt. Hält man daran fest, daß die Objektivität von etwas ausschließlich durch eine Aussage gewonnen wird, folgt, daß eine Aussage, dadurch daß sie einer Erfahrung qua Wahrnehmung irgendeines Objekts entspricht, weder als wahr noch als falsch zu betrachten ist. Vom Kantischen Standpunkt aus kann nämlich der Aussage bzw. "dem Urteile an ihm selbst weder die Wahrheit, noch der Irrtum angesehen werden"2, und zwar deshalb nicht, weil eine Aussage, sofern sie allein die Erfahrung eines Objekts möglich macht, dem Objekt selbst auch nicht widerspricht. Im Gegenteil, mit jeder Aussage wird stets - im Traum wie auch im Wachzustand eigentlich Objektivität intendiert. Genauso wie eine Theorie qua Theorie ihrem Objekt nicht widerspricht, bleibt eine Aussage, sofern sie die Erfahrung eines Objekts bloß ermöglicht, wahrheitsindifferent. Gemäß dem berühmten Beispiel der "hundert Taler" 3 "enthält das Wirkliche nichts mehr als das bloß Mögliche"4, so daß bei der Analyse der Aussage "Dies sind hundert Taler" nur herausgefunden werden kann, daß das entworfene Objekt als wirklich hingestellt wird: Weder eine sachhaltige Untersuchung ihres Inhaltes, ihrer sogenannten "Empirie" bzw. "Materialität" bezüglich ihrer Farbe beispielsweise, noch eine Untersuchung der Form der Aussage als Form der Wahrnehmung, in welcher der bestimmte Inhalt "hundert Taler" auftritt, könnten hinsichtlich der Feststellung der Wahrheit und Falschheit der Aussage in bezug auf die objektive Wirklichkeit ihres Objekts entscheidend sein. So wie man im Traum sogar überzeugt sein kann, hundert Taler berührt zu haben, könnte sich im Wachzustand etwa ergeben, daß es sich um gefälschtes Geld handelt, auch wenn die Form der Wahrnehmung Anlaß zu denken geben könnte, es gehe wirklich um hundert Taler. Analog zum Zuverlässigkeitswert wissenschaftlicher Theorien muß demzufolge auch 1 Nähere Angaben zum Kantischen Verständnis der Modalitätskategorie und zum Bedarf einer weiteren Durchführung des Kantischen Ansatzes, welcher die Wirklichkeit als Modus der Faktizität bzw. des faktischen Wahrseins im Abgrenzung sowohl zur bloßen Möglichkeit als Modus der Wahrscheinlichkeit als auch zur Notwendigkeit als Modus der Gewißheit ansieht, vgl. Gerold, Prauss Einführung in die Erkenntnistheorie. Darmstadt 1988, S. 80-86. 2 A155 Β194 Kursiv von mir. 3 A599 B627. 4 Ebd.

130

III. Ding und Wirklichkeit

für eine einfache Aussage gelten, daß sich das Zusammenspiel von Wahrheit einer Aussage mit der objektiven Wirklichkeit ihres Objekts ausschließlich faktisch im Lauf der Erfahrung nachweisen läßt, und d.h., daß die objektive Wirklichkeit des gemeinten Objekts sich erst nachträglich als der Probierstein fiir die Wahrheit der Aussage zeigen wird. Der konstitutionstheoretische Grund der Wahrheit einer Aussage durch die Faktizität der Erfahrung liegt nach Kant an etwas auf den ersten Blick leicht Einsehbarem: Daran nämlich, daß es bei einer Aussage, wie z.B. "Dies sind hundert Taler", adäquat ist, nach ihrer Wahrheit bzw. Falschheit zu fragen, insofern die hundert Taler selbst durch die Aussage "Dies sind hundert Taler" auch noch "als in dem Kontext der gesamten Erfahrung enthalten gedacht"1 werden. Die Art und Weise, in welcher ein Objekt, beispielsweise die hundert Taler, im "Kontext der gesamten Erfahrung enthalten"2 ist, erweist sich demzufolge als der einzige Probierstein fur die Herausstellung der objektiven Wirklichkeit des Gegenstandes einer Wahrnehmung. Daß die Erkenntnis der hundert Taler zu einer auf die Wirklichkeit der damit gemeinten Objekte bezogenen wahren Erkenntnis wird, kann daher im Rahmen des Kontextes, in dem sie auftaucht, nachgeprüft werden. Und dies läuft darauf hinaus, daß die Wahrheit einer Aussage in Bezug auf die entsprechende Wirklichkeit des Objekts auch nur "a posteriori"3 festgestellt werden kann, aber nicht, als gäbe es eine schon im voraus angefertigte zugrundeliegende bestimmte Wirklichkeit, aus der heraus aufgrund irgendeines Vergleichs (wie es hingegen die Übereinstimmungstheorie als möglich annimmt) geprüft werden könnte, ob etwas wirklich oder unwirklich ist. Denn dies führte zu dem Unsinn, die Wirklichkeit, worauf hierbei eigentlich gezielt wird, durch sich selbst nachzuweisen. Α posteriori ist die Feststellung der Wahrheit vielmehr in dem Sinne, daß die Existenz zwar faktisch, aber stets auf eine rein formale Weise bzw. ausschließlich in bezug auf einen Erfahrungskontext die Bedingung der Wahrheit einer Aussage ausmacht. Die Erkenntnis "Dies sind hundert Taler" ist also wahr, wenn im Laufe der Erfahrung mit diesem Geld ein Juwel aus Gold gekauft wird, sonst kann es auch sein, daß es sich dabei um hundert Kopeken aus Zinn handelt. Daß die Frage nach der Wahrheit einer Aussage in bezug auf die entsprechend objektive Wirklichkeit ihres Objekts sich als adäquat zeigt, soweit sie im "Kontext der gesamten Erfahrung"4 gedacht wird, hat einen weiter zu untersuchenden konstitutionstheoretischen Grund. Denn eine Aussage muß deshalb in einem Kontext gedacht werden, weil sie keinesfalls mit ihrem Objekt, sondern als "Erkenntnis 1

A601 B629.

2

Ebd.

3 4

A600 B628. A601 B629.

4. Die Verifikationsfrage: Wirklichkeit und Kohärenz

131

[dieses] Gegenstandes [allein] mit [anderen] Erkenntnissen] desselben Gegenstandes"1 verglichen werden kann, so daß erst danach, "a posteriore,2, gemäß einem formalen Prinzip auch festgestellt werden kann, ob es dabei um etwas objektiv Wirkliches geht. Daß die Verifikation einer Aussage, damit sie überhaupt stattfinden kann, sich im Rahmen eines Erkenntnis- bzw. eines Wahrnehmungskontextes abspielen muß, hat also seinen Grund in der Tatsache, daß nichts übrig bleibt, um die objektive Wirklichkeit eines Objekts einer Aussage nachzuweisen, als die Erkenntnis eines Objekts mit anderen Erkenntnissen bzw. die Aussage über ein Objekt mit anderen Aussagen über dieses Objekt zu vergleichen. Dies beantwortet allerdings noch nicht die Frage, wie die Verifikation stattfindet, sondern macht gerade dies zur Frage. Geht es dabei um einen Vergleich, muß seine spezifische Art bestimmt werden. Negativ gesehen hebt sich dieser spezifische Vergleich nach Kant keineswegs in einem Austausch "unseres Urtheils mit dem Urtheil anderer Menschen"3 auf, d.h. daß er keine Konsenstheorie der Wahrheit vertritt. Auf der Basis des Konsenses wird nämlich nach Kant der Grund des "Fürwahrhalten[s], der im Subjekt liegt, mit [jenem] im Objekt verwechselt]" 4 , als ob es auf die Meinungen ankäme, etwas als wirklich bloß scheinen zu lassen. Die genannte Verwechslung hat daher als unvermeidliche Folge, die Logik der Wahrheit einer Logik des bloßen "Scheins"5 preiszugeben, und zwar, weil sie gerade das nicht berücksichtigt, was kraft des Vergleichs der Erkenntnisse miteinander bewiesen werden muß: Daß es auf das Objekt, und allein auf es ankommt, objektiv wirklich zu sein, und somit das entsprechende Urteil als wahr gelten zu lassen, und dies alles, obwohl dessen Wirklichkeit nur auf eine rein formale Weise bzw. "a posteriori"6 festgestellt werden kann. Positiv gesehen zeigt sich indessen, daß das Kriterium des Vergleichs der Erkenntnisse miteinander nach Kant von nichts anderem ausgehen kann als von dem "Satz des Widerspruchs", aber auf eine ganz andere Weise, als das Widerspruchsprinzip von der formalen Logik im strengen Sinne verstanden wird. Wenn der Widerspruch zwischen zwei Erkenntnissen "a und nicht a" rein formal bzw. allein in bezug auf die Verbindung der zwei Gliedsätze a/nicht a, also auf das "und", nach Kant schon ein Kriterium der Wahrheit ausmacht, kann es doch ausschließlich als "ein negatives"7 gelten. Dabei ist sogar Gewißheit gewährleistet,

1

2 3 4 5

6 7

Ak. Bd.24: S.387.

A600 B628. Ak. Bd.24, Teil.2: S.256. Ebd. Kursiv von mir. Ebd.

A600 B628. A151 Β194.

132

III. Ding und Wirklichkeit

denn "widerspricht sich ein Erkenntnis, [so ist es] falschund zwar allemal. Doch gilt Gewißheit nur auf eine negative Weise allein für die Bestimmung der Falschheit, denn, "widerspricht sich [die Erkenntnis] [...] nicht, [ist sie] nicht allemal wahr"2. So gewiß es auch sein mag, daß aus dem Widerspruch stets Falschheit folgt, so gewiß ist es aber auch, daß die formale Rolle des Widerspruchs nichts zur Herausstellung des wahrhaftigen Gliedsatzes innerhalb des Widerspruchs oder eines dritten außerhalb dessen beiträgt. Gewißheit macht demnach für Kant kein eigentliches Merkmal der Wahrheit aus, gerade deswegen, weil laut dem Satz des Widerspruchs - rein formal verstanden - einzig festgestellt werden kann, daß die Aussagen α und nicht α nicht zur gleichen Zeit zutreffen können, jedoch nicht, ob die Aussage α oder nicht α oder vielleicht sogar eine dritte b es ist, welche wahr ist. Die Entscheidung für die Aussage a oder nicht a oder auch für eine weitere b wird zwar gemäß dem Satz des Widerspruchs, aber dennoch auf ganz andere Weise getroffen. Denn nie rein formal im Sinne der Gewißheit, sondern stets formal im Sinne der Faktizität, also im Laufe der Erfahrung, wird sie getroffen. Genauer erfolgt sie nach Kant dadurch, daß "wir uns durch Erfahrung mit den Objekten bekannt machen und unsere Erkenntnis auf sie referieren"3. Und "bekannt" wird das Objekt dadurch, daß seine Erkenntnis sich "in einem Kontext"4 als widerspruchsfrei erweist, dadurch also, daß seine Erkenntnis im Lauf der Erfahrung einem bestimmten Kontext nicht widerspricht. Aus der Kontextabhängigkeit des neu verstandenen Sinnes des Widersprachsprinzips ergibt sich zunächst einmal, daß die Feststellung der Wahrheit sich stets in bezug auf die Breite des Erfahrungs- bzw. Wahrnehmungskontextes "abmessen" läßt, so daß das Widerspruchsprinzip qua Wahrheitsprinzip diesbezüglich einen quantitativen Wert hat5. Gerade daraus, daß das Widerspruchsprinzips als kontextabhängig anzusehen ist, folgt des weiteren als selbstverständliche Konsequenz, daß es nicht von jedem Inhalt der Erkenntnis abstrahieren kann, obwohl es dabei nicht um den empirischen Inhalt jeder einzelnen Erkenntnis geht. Daraus folgt vielmehr die Notwendigkeit der Berücksichtigung der einstweiligen Zeitigung der Wahrheit der Aussage bzw. der Erkenntnis gegenüber der faktischen bzw. nicht α priori 1

Ak. Bd.9: S.51. Ebd. 3 Ak Bd.24, Teil.2: S.526. 4 A601 B629. 5 Diesbezüglich wird in der Wissenschaftstheorie angemessen von »Paradigma« geredet, so daß beispielsweise die Newtonsche Theorie sich nur dann als falsch erwiesen hat, wenn der Kontext der Erfahrung sich so weit erstreckt hat, daß auch die Lichtgeschwindigkeit mit ins Spiel gebracht wurde. Dazu ausführlicher Kuhn, Thomas S. Die Struktur wissenschaftlicher Revolution. Frankfurt am Main 1967, S.57-64. 2

4. Die Verifikationsfrage: Wirklichkeit und Kohärenz

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vorhersehbaren Objektivität der Erfahrung. Daß die objektive Wirklichkeit von etwas sich nicht als vorhersehbare zeigt, erklärt gerade den Grund, weshalb es sich erst aus dem Vergleich zwischen Erkenntnissen entscheiden läßt, ob die Wirklichkeit dieses Etwas bloß gemeint oder auch als objektiv anzusehen ist. Angesichts der Kompatibilität bzw. Nichtkompatibilität einer einzelnen Erkenntnis mit einem Erkenntnishorizont, innerhalb dessen sie auftritt, wird nämlich eine neue Erkenntnis je zu der zur Zeit geltenden Erkenntnis hinzugetan oder ausgeschlossen. Ergibt sich im Lauf des Vergleiches einer einzelnen Erkenntnis mit dem gesamten Kontext, innerhalb dessen sie auftritt, ein Widerspruch, aufgrund dessen die Wirklichkeit sich in einer "Rhapsodie von Wahrnehmung"1 aufheben ließe, dann zeigt sich diese neue Erkenntnis als falsch und ihr Objekt als bloß subjektiv wirklich. Ergibt sich daraus aber kein Widerspruch, wird die Erkenntnis mit dem Kontext, worin sie auftritt, als kompatibel betrachtet und gleichzeitig als wahr, so wie ihr Objekt auch noch als objektiv wirklich angesehen wird. Von dem damit gewonnen Standpunkt aus könnte allerdings der Schein entstehen, daß der Unterschied Wahrheit/Falschheit ausschließlich im Sinne der Quantität bzw. nur in bezug auf die Breite des Erkenntniskontextes zu betrachten ist. Es ist jedoch hinreichend, darauf zu reflektieren, daß der Erkenntniskontext selbst sich aufgrund neuer wahrer Erkenntnisse erweitert, um die Notwendigkeit auch einer Betrachtung hinsichtlich des qualitativen Unterschieds Wahrheit/ Falschheit zu erkennen. Es ist nämlich durchaus widerspruchsfrei denkbar, daß eine Erkenntnis nicht kompatibel mit dem geltenden Erkenntniskontext ist. Aufgrund ihres Zutreffens im Lauf der Erfahrung könnte sich des weiteren ergeben, daß sie in bezug auf die zur Zeit geltenden Erkenntnisse auch noch unvermeidlich dazu verurteilt ist, unerklärlich zu bleiben. Der Widerspruch träfe in dem Fall auf die zur Zeit geltenden Erkenntnisse in bezug auf eine neue qualitativ bzw. absolut wahre Erkenntnis zu. Die zur Zeit geltenden Erkenntnisse erwiesen sich in bezug auf die Wirklichkeit dieser Erfahrung als falsch, und zwar darauf bezogen als qualitativ absolut falsch, wie es auch die sogenannten "nichtkumulativen Entwicklungsepisoden"2 im Lauf der Geschichte der wissenschaftlichen Revolutionen tatsächlich bezeugen. Angesichts der Betrachtung des qualitativen Unterschiedes zwischen der Wahrheit und der Falschheit zeigt sich auch noch, daß das formale Kriterium der Feststellung der Wirklichkeit innerlich bzw. seiner Qualität nach zez'/verbunden ist, und daß die Kantische Logik konsequenterweise den Fall einer zeitlichen Logik der Wahrheit darstellt. An einer Stelle in den Prolegomena stellt Kant m.E. besser als irgendwo sonst den zeitlichen Charakter seiner Transzendentalen Logik dar. 1

A156B195. Bezüglich der Auftrittsdynamik von »nichtkumulativen Entwicklungsepisoden« und bezüglich ihres zeitlichen Charakters im Sinne der Epochalität vgl. Kuhn, Thomas S. Die Struktur wissenschaftlicher Revolution. Frankfurt am Main 1967, jeweils S.104 und S.57-64. 2

134

III. Ding und Wirklichkeit

Hierbei definiert er die Lehrart einer Logik der Wahrheit als " p r o g r e s s i v u m eigens zu verdeutlichen, daß solch eine Logik keineswegs von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben wäre, ausgehen soll. Sie soll vielmehr das Wagnis in Kauf nehmen, daß alles - sogar Objekte und vertraute Dinge - auch nur ein Traum oder nichts sein könnte, und niemals die Wirklichkeit in irgendeinem wie auch immer komplexen Inbegriff von Erkenntnis als endgültig erschöpft betrachten. Und in der Tat gilt, daß das progressive Verfahren der Logik der Wahrheit für die Feststellung der Wirklichkeit einfacher oder komplexer Erfahrungen nicht nur auf bestimmte wissenschaftliche Theorien, sondern auch noch auf die geläufige Erfahrung jedes Subjekts zutrifft. Denn die "logische Weise" des Widerspruchs, aus der heraus α posteriori nachgeprüft werden kann, ob eine einzige Erkenntnis mit dem im Gang des Lebens entstandenen Erfahrungsschatz vereinbar ist oder nicht, gilt eigens als Vorbild für den Sinn eines formalen Kriteriums der Wahrheit. Fragt man sich nach dem Gesagten, worauf das progressive logische Verfahren hinweist, muß man antworten, daß es auf nichts anderes als auf das Prinzip der Kohärenz hinausläuft2. Das Kantische Seinsverständnis entspricht daher jenem eines immerwährenden Versuches, eine widerspruchsfreie Theorie der Wirklichkeit aufzubauen. Die Kohärenz ist also das gesuchte Kriterium, wodurch die Feststellung der Wirklichkeit von etwas gewonnen wird, jedoch nur, sofern diese Feststellung je neu (zeitlich) vollzogen wird, so daß es auch nur im zeitlichen Sinne angemessen ist, von Kohärenz zu sprechen. Kohärenz gilt ferner als subjektives Kriterium für die Feststellung des objektiv Wirklichen nur seiner Form nach. Unter "formales Kriterium" ist also keine logische Angelegenheit im strengen Sinne zu verstehen. Denn die Formalität des Kriteriums der Feststellung der Wahrheit betrifft zwar die Form der Erkenntnis, aber dennoch nur, sofern sie Form der Erkenntnis in bezug darauf ist, wovon sie Erkenntnis ist, also in bezug auf das Ding selbst. Nach dem bisher Gesagten muß aber noch geklärt werden, inwiefern Kohärenz und Faktizität miteinander kompatibel sind, denn Ausgangspunkt der dargelegten Überlegungen über die Verifikationsfrage war ja, daß die Wirklichkeit nur subjektiv formal festgestellt werden kann, daß es aber dennoch auf das Objekt allein ankommt, damit diese wirklich ist. Läßt die Kohärenztheorie die faktische Wirklichkeit des Dinges hervorgehen, oder verbirgt sie gerade dessen Wirklichkeit, ist somit die nächste zu beantwortende Frage.

' Bd.4: S.276 kursiv von mir. Zur näheren Charakterisierung der Kantischen Bedeutung von Kohärenz vgl. Gerold, Prauss Einfiihrung in die Erkenntnistheorie. Darmstadt 1988, S.168-171. Daß das Verständnis der Kantischen Wahrheitstheorie auf eine »mentalistische Form einer Kohärenztheorie« hinausläuft, vertritt auch Scheffer. Vgl. dazu Scheffer, Thomas Kants Kriterium der Wahrheit. Berlin New York 1993, S. 1 f. 2

5. Kohärenz und Faktizität

135

5. Kohärenz und Faktizität Die Ergebnisse der bisherigen Entfaltung des Kantischen Ansatzes lassen sich in bezug darauf, daß beharrlich das objektiv Wirkliche ist, was einem wahren Wahrnehmungsurteil in Form einer Prädikation entspricht, wie folgt zusammenfassen: Der Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit einer Aussage ist ein absolut qualitativer, wenn auch die Feststellung der Wahrheit bzw. Falschheit derselben sich stets innerhalb eines Wahrnehmungs- bzw. Erkenntniskontextes abspielt, welcher sich dagegen allein quantitativ, d.h. hinsichtlich seiner Horizontbreite, bestimmen läßt. Aufgrund des Nominalismus der Kantischen Wahrheitstheorie hat sich ferner als Verifikationskriterium für die Aussage allein der Satz des Widerspruchs erwiesen, wodurch die Kompatibilität bzw. Inkompatibilität eines einzelnen Satzes mit einem je neu im Laufe der Erfahrung zu bestimmenden Erkenntnishorizont nachgeprüft wird, so daß die Wahrheit nach Kant letztlich ihr Objekt außerhalb von sich besitzt: In dem objektiv Wirklichen, als Erfolg des Urteils, so daß stets gelten muß, daß dessen Objektivität einzig auf subjektiver Basis gemäß dem Kohärenzprinzip gewährleistet werden kann. Die Kohärenz zeigt sich daher als das innere Prinzip, wonach ein Erkenntnissystem bzw. eine argumentativ konsistente Theorie, welche als Modell für die Wirklichkeit gelten soll, zeitlich dynamisch bzw. je neu und anders aufgebaut wird. Aus den zuletzt gewonnenen Ergebnissen tauchen allerdings unvermeidlich zwei Fragen auf, die sich im engeren Sinne als Einwände gegen die Kantische mentalistische Kohärenztheorie der Wahrheit verstehen, die aber in einem weiteren Sinne, sofern sie die Kantische Seinsauffassung als Setzung der Wirklichkeit im ganzen umfassen, kritisch dem transzendentalen Ansatz schlechthin gegenüberstehen. Infolgedessen ist es einzig von der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit angemessener Erwiderungen abhängig, ob der Kantische Versuch einer Rettung der Objektivität auf subjektiver Basis zu akzeptieren oder abzulehnen sei, ohne mithin die Wirklichkeit selbst bloß naiv voraussetzen zu müssen, sondern durch eine rein formal geführte Argumentation qua Faktizität der Dinge selbst zu rechtfertigen. Die erste Frage stellt sich, sobald man den Grundbaustein des Kantischen Verifikationsprinzips der Kohärenz folgendermaßen hinterfragt: Angenommen, daß ein Vergleich der Erkenntnis mit dem Objekt deshalb unmöglich ist, weil gerade die Erkenntnis in Form von Wahrnehmung und sie allein zum Objekt führt1, bleibt nach Kant als die einzig mögliche Alternative für die Feststellung der objektiven Wirklichkeit nichts anderes übrig, als Erkenntnis mit Erkenntnis bzw. Wahrnehmung mit Wahrnehmung zu vergleichen2, was also des weiteren dazu zwingt, die Erkenntnis innerhalb eines Kontextes anzusehen3 und gemäß dem Prinzip der ' V g l . dazu Ak. Bd. 16: S.251. Vgl. dazu Ak. Bd.24, Teil. 1: S.251. Vgl. dazu A601 B629.

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136

III. Ding und Wirklichkeit

Widersprachsfreiheit ihr Objekt dementsprechend als objektiv bzw. nicht objektiv wirklich zu bestimmen. Wenn nun aber - so lautet der erste Einwand - Erkenntnisse und nur Erkenntnisse miteinander verglichen werden können, also nicht Erkenntnisse mit ihrem Objekt, was bleibt dann von dem Ding übrig, wenn es und dessen Wirklichkeit es doch ist, was einer wahren Erkenntnis entspricht? Im Anschluß daran, daß man die Verifikationsfrage nach Kant ausschließlich rein formal im Sinne eines kohärenten Systems von Erkenntnissen durchzuführen hat, scheint auch noch notwendigerweise zu folgen, daß die Dinge von der Erkenntnis ausgeblendet werden, so daß auch noch die radikalere Frage an die Kantische Philosophie gestellt wird, ob Kohärenz und Faktizität überhaupt vereinbar seien. Denn erstere trifft ja auf die Theorie bzw. auf einen einheitlichen Inbegriff von Erkenntnissen zu, welcher bloß als Modell der Wirklichkeit gilt, während letztere tatsächlich allein den Dingen als deren Eigentümliches zuzuschreiben ist. Die Prämisse, auf der die zwei Einwände basieren, betrifft eine auf den ersten Blick unvermeidliche Folge jeder Kohärenztheorie: Die Ausblendung der Faktizität der Dinge zugunsten der Systematik der Theorie. Auf die beiden Fragen zu antworten, bedeutet daher, zunächst einmal das folgende Mißverständnis aufzuklären, daß die Erkenntnis keineswegs eine Art Schicht ist, welche die Dinge hinter sich ausblendet. Denn überlegt man sich vorphilosophisch, wovon eine Erkenntnis Erkenntnis ist, läßt sich einzig die Antwort geben, daß sie in erster Linie Erkenntnis eines Dinges und nicht von einer weiteren Erkenntnis ist. Und in der Tat stimmt die Kantische Seinsauffassung mit dieser vorphilosophischen Behauptung gerade dadurch überein, daß ihr gemäß das Ding uns aufgrund dessen Erkenntnis zugänglich ist. Die argumentative Rechtfertigung der absoluten Kompatibilität von Erkenntnis und Faktizität der Dinge hat sich aber bei Kant erst durch wiederholte Betrachtungen der Existenzaussage allmählich vollzogen, was auch impliziert, das seine ersten Versuche einer angemessenen Erläuterung diesbezüglich fehlgeschlagen sind und gleichsam in einer nur intuitiven Weise entwickelt wurden. In dem Frühwerk Kants Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes läßt sich die erste vollständige Überlegung Kants im Gegensatz zur Tradition über den Sinn des Ausdrucks "Dasein" finden. Hierbei stellt Kant fest, daß "man sich des Ausdrucks vom Dasein als eines Prädikats" bloß "bedient"1, so daß unexpliziert damit auch gemeint ist, daß das Prädikat "Dasein" dem bloßen Gebrauch gegenüber einer anderen Bedeutung zugehört. Obwohl es rein äußerlich betrachtet hinsichtlich der Form ihrer grammatischen Verwendung keinen Unterschied zwischen Aussagen der Art "Regenbogen existieren" und "Regenbogen glänzen" zu geben scheint, zeigt sich schon hinsichtlich der inhaltlichen Charakterisierung ihrer jeweiligen Objekte, daß durch "Existieren", im

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Ak. Bd.2: S.72.

5. Kohärenz und Faktizität

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Unterschied zum "Glänzen", gar keine weitere sachhaltige Kennzeichnung des Objekts hinzugefügt wird. Obwohl sich Kant der Unmöglichkeit einer jeglichen sachhaltigen Bestimmung des Prädikats "Dasein" völlig bewußt ist, so erweist sich dennoch der Schritt, den er diesem Gedanken folgen läßt, um so verhängnisvoller, als er gerade aufgrund seiner Selbstverständlichkeit unberücksichtigt gelassen zu werden scheint. Kant schreibt: "Es ist aber das Dasein in den Fällen, da es im gemeinen Redegebrauch als ein Prädikat vorkommt, nicht sowohl ein Prädikat von dem Dinge selbst, als vielmehr von dem Gedanken, den man davon hat"1. Wenn der Unterschied zwischen dem Prädikat "Dasein" und den übrigen sich weder anhand irgendeines unterschiedlichen Gebrauches, (denn diesbezüglich zeigt sich eher ihre Gemeinsamkeit als ihre Verschiedenheit), noch anhand irgendwelcher sachhaltigen Differenzen herleiten läßt, kann der genannte Unterschied nur noch formal sein. Dies scheint weiterhin zu implizieren, daß die formale Differenz zwischen dem Prädikat "Dasein" und den übrigen auf den Unterschied "von dem Ding" und "dem Gedanken, den man davon hat"2 deshalb übertragen werden muß, weil die Existenz weniger etwas Sachhaltiges bzw. Empirisches als vielmehr das Nicht-empirische "an den Objekten" angehen muß, was nach Kant nur noch der Gedanke bzw. die "Vorstellung eines Dinges"3 sein kann. Angenommen, Regenbögen existieren, so gilt nicht selbstverständlich, daß beispielsweise ein "Landeinhorn"4 existiert, so daß "Regenbogen existieren" nur heißen kann: die "Vorstellung" des Regenbogens "ist ein Erfahrungsbegriff, das ist, die Vorstellung eines existierenden Dinges"5, wohingegen "Landeinhörner existieren nicht" bedeutet, daß deren Vorstellung kein Erfahrungsbegriff ist. Sie ist zwar immer noch eine Vorstellung, aber eine von einem nichtexistierenden Ding, so daß tatsächlich zu stimmen scheint, daß "Dasein" bzw. Existenz nicht das Ding selbst betrifft, sondern einzig dessen Gedanken bzw. Vorstellung. Wie selbstverständlich es auch erscheinen mag, dem Gedanken statt dem Ding das Dasein zuzusprechen, so liegt diesem Schluß doch ein Fehler zugrunde, den Kant selbst erst in der Kritik der reinen Vernunft völlig wahrgenommen und dementsprechend korrigiert hat. Sollte es wirklich stimmen, daß die Existenz auf die Vorstellung und nicht auf das Ding zutrifft, ergäbe sich nämlich als unmittelbare Folge, daß jede Wahrnehmung bzw. jede Erkenntnis primär Wahrnehmung bzw. Erkenntnis einer Vorstellung sein müßte, was aber zu dem regressus ad infinitum fuhren muß, jede Vorstellung nicht als Vorstellung eines Dinges - wie Kant hingegen unreflektiert zu

1

Ebd. Kursiv von mir. Ebd. 3 Ebd. "Ebd. 5 Ebd. Kursiv von mir. 2

138

III. Ding und Wirklichkeit

sagen pflegt1 -, betrachten zu müssen, sondern vielmehr jede Vorstellung als Vorstellung einer anderen Vorstellung, die wiederum Vorstellung einer anderen Vorstellung wäre usw. im einen endlosen Regressus.2 In dieser Perspektive wird das Ding zugunsten der Vorstellungen ausgeblendet3. Obwohl Kant zweifelsohne in seiner ersten Schrift den formalen Unterschied zwischen dem Prädikat "Dasein" und den anderen auf den Unterschied zwischen Ding und dessen Vorstellung unreflektiert überträgt, widersetzt er sich eindeutig dem Absurdum des endlosen regressus der Erkenntnis von Gedanken bzw. "Vorstellungen eines existierenden Dinges"4 in der Kritik der reinen Vernunft, und zwar ausgehend von einer Überlegung, welche eigentlich in der eben zitierten Schrift schon präsent war: daß das Eigentümliche des Prädikats "Dasein" in nichts anderem als in dem "Ursprünge der Erkenntnis, die ich davon [von dem Ding wohlgemerkt] habe"5, zu suchen sei. Nicht der Vorstellung, sondern vielmehr dem Ding muß das "Dasein" zugesprochen werden, und konsequenterweise muß auch das Formale des Prädikats "Da1

Vgl. oben. Als erster hat zwar Frege die Auffassung der Wirklichkeit in formaler Hinsicht auf Kantischer Basis weiter entwickelt. Solch eine Entwicklung basiert aber auf der frühen Kantischen Seinsauffassung, so daß sein Versuch, das Dasein des weiteren als Klasseninklusion durch den Ausdruck »Es fällt unter den Begriff...« zu explizieren, sich als unvollständig erweist. Freges Versuch beschränkt sich nämlich auf die einfache Ersetzung des Ausdruck „Dasein" durch jenen »Es fällt unter den Begriff...«, was nur einer Worterklärung für das eigentliche Problem entspricht, das Dasein auf formale Weise dem Dinge und nicht dem Gedanken davon zuzusprechen, wie Frege analog dem frühen Kant meint. Vgl. Frege, G. Die Grundlagen der Arithmetik. Darmstadt 1961. §53. Für nähere Ausführungen zur Fregeschen Rezeption der Wirklichkeitsproblematik Kants und zu ihrer Kritik vgl. Prauss, Gerold Einführung in die Erkenntnistheorie. Darmstadt 1988, S.197-208. 3 Auf das Problem, die Wahrnehmung ursprünglich als Vorstellungswahmehmung anzunehmen, ist Descartes in seinen Meditionen gestoßen. Dabei gilt es aber zu bemerken, daß Descartes die Annahme der Wahrnehmung als Wahrnehmung einer Vorstellung statt als Wahrnehmung eines Dinges wegen der Schwierigkeit macht, Traum bzw. Irrtum von der Wirklichkeit bzw. Wahrheit zu differenzieren, nachdem er in der ersten Meditation eigentlich versucht hat, die genannte Schwierigkeit ausgehend von der geläufigen Definition der Wahrnehmung als Wahrnehmung eines Dings zu bewältigen. Vgl. Descartes, Rene Meditationes de prima philosophia. (Meditationen über die Grundlagen der Philosophie). Hamburg 1994, übers, und hrsg. von Arthur Buchenau, S.12f. Da nach Descartes der Leibnizianische Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit aufgrund der Deutlichkeit bzw. Undeutlichkeit der Wahrnehmung sich als falsch erweist, versucht er als erster in der Geschichte der Philosophie solch einen Unterschied durch die spezifische Rolle des Verstandes aufzuklären. Er spricht nämlich dem Verstand die Rolle des Schließens zu und nicht, wie hingegen Kant es tut, jene des Deutens, so daß die Wirklichkeit bei ihm auch unvermeidlich ganz abgelöst von der Sinnlichkeitskomponente bleibt. Nehmen wir erst die Vorstellungen wahr - so meint Descartes, denn sie müssen ja irgendwie schon immer im Traum wie im Wachzustand im Spiel sein - so wird die Wirklichkeit der Dinge durch den Verstand bloß erschlossen. (Schlußtheorie und problematischer Idealismus in einem) Vgl. ebd. S.24f. Da femer der Schluß notwendigerweise von Prämissen ausgeht, die nur weiteren Vorstellungswahrnehmungen entsprechen, wird bei Descartes in ausgezeichneter Weise klar, daß die Ausblendung der Dinge zugunsten der Vorstellung dann erfolgt, wenn man von der falschen Annahme ausgeht, die Wahrnehmung sei primär Wahrnehmung von Vorstellungen und das Dasein betreffe daher die Vorstellung des Dinges. Vgl. dazu auch hier Kap.I, §1. 4 Vgl. Ak. Bd.2: S.72. 5 Ak. Bd.2: S.73 Kursiv von mir. Bezüglich des Zusammenhang zwischen dem Dasein des Dinges und dem Ursprung der Erkenntnis vgl. auch A549 B627. 2

5. Kohärenz

und Faktizität

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sein" das Ding betreffen, sofern es erkannt wird. Die radikale Wende, die dazu führt, das "Dasein" den Dingen, statt seinen Vorstellungen zuzusprechen, zeigt sich in ihrer vollen Deutlichkeit, sobald man die sachliche Verschiebung der Problematik von den Vorstellungen auf die Dinge im Anschluß an einen nicht zufallig veränderten Sprachgebrauch hinsichtlich des Verhältnisses von Vorstellung und Objekt eigens berücksichtigt. Im Gegensatz zum früheren Ausdruck "Dasein [sei ein] Prädikat vom Gedankenschreibt Kant in der Kritik der reinen Vernunft, daß "der Gegenstand meines Begriffes existiere"2. Nicht mehr die Vorstellung, sondern gerade das Ding existiert, was dennoch nicht ausschließt, daß es auf eine eigentümliche Weise existiere, und d.h. eigentlich, sofern es erkannt wird, denn die Weise des Erkanntseins macht ja das eigentümlich Formale aus, das dem Ding zugehört. Das Ding läßt sich nach Kant als Existierendes kennzeichnen, sofern es als existierend (wirklich) hingestellt und im Erfolgsfall auch hergestellt wird (und also erkannt wird). Als Existierendes kann es ferner einzig aufgrund eines Begriffes und einer Anschauung hingestellt werden, doch impliziert dies keineswegs, daß sein Dasein dem entsprechenden Gedanken zugesprochen werden muß. Im Gegenteil: Gerade dadurch, daß etwas durch einen Begriff und eine Anschauung als ein Ding begrifflich erfaßt und anschaulich gemacht wird bzw. stets - im Traum und im Wachzustand - unmittelbar als Ding vergegenständlicht wird, ist es allein von dem Ding abhängig, selbstverständlich gerade von dem Ding "meines Begriffes" 3 und meiner Anschauung, also von dem Erkannten, aber einzig von ihm qua Ding selbst, objektiv wirklich zu sein. Im Urteil "Dies ist ein Regenbogen" — in Analogie mit dem berühmten Beispiel der hundert Taler, wonach zwischen dem bloß Erkannten und dem objektiv Wirklichen kein sachhaltiger Unterschied waltet4 -, wird ein Regenbogen durch einen Regenbogenbegriff und eine Regenbogenanschauung (im Traum wie im Wachzustand) unmittelbar als Ding vergegenständlicht, so daß es gerade auf den Regenbogen qua Ding selbst allein ankommt, das Urteil als wahr gelten zu lassen, soweit sein Gegenstand auch noch objektiv wirklich ist. Der Unterschied zwischen etwas, das bloß als Ding vergegenständlicht wird, und etwas, das sich auch noch als objektiv Wirkliches zeigt, läßt sich also weder von dessen Anschauung noch von dessen Begriff noch von dem Akt des Urteilens als Akt des Verobjektivierens festlegen. Obwohl das Urteil samt seinen Bestandteilen, Anschauung und Begriff, zur Wirklichkeit von etwas fuhrt, hängt die Wahrheit des Urteils als Wirklichkeit seines Objekts nicht allein vom Intendieren ab, sondern auch vom gegebenen Inhalt, den das Subjekt nicht in der Hand hat. 1 2 3 4

Ak. Bd.2: S . 7 2 Kursiv von mir. A 6 0 0 B 6 2 8 Kursiv von mir. Ebd. Vgl. A 5 9 9 B 6 2 7 A 6 0 0 B 6 2 8 .

140

III. D i n g und W i r k l i c h k e i t

Wenn der innere Zusammenhang der Subjektabhängigkeit des Urteils mit der Objektabhängigkeit der Wirklichkeit in der Formulierung der Kritik der reinen Vernunft "[D]er Gegenstand meines Begriffes existiere" deutlich zum Ausdruck gebracht wird, bleibt aber noch die Weise, wie sich solch ein Zusammenhang darstellt, zu explizieren. Dessen Explikation liefert zwar Kant selbst, wenn auch nur auf eine intuitive Weise, durch seine These "Sein ist kein reales Prädikat". Dadurch läßt sich nämlich in aller Deutlichkeit verstehen, daß die objektive Wirklichkeit, die das Ding selbst betrifft, einzig auf eine rein formale Weise deduziert werden kann, was auch noch mit sich bringt, daß das Ding eigentlich die Rolle einer verborgenen Sonne in der Kopemikanischen Wende spielt. Daß "Sein" bzw. "Dasein" kein reales Prädikat ist, bedeutet, daß es zwar ein Prädikat ist, aber eben kein reales, sondern vielmehr ein formales. Des weiteren gilt auch noch zu bemerken, daß es qua Prädikat dem Ding zugesprochen wird. Denn, wenn etwas sich als ein Ding erkennen läßt, muß sich dieses jeweilige Etwas stets von sich selbst als objektiv wirklich zeigen. So gewiß es gemäß dem Kantischen Standpunkt der Kritik der reinen Vernunft einzig auf das Ding ankommt, objektiv wirklich zu sein bzw. sich von sich selbst als wirklich-Anderes zu zeigen, ebenso unbezweifelbar ist es aber auch, daß die Verifikation der Wahrheit des Urteils nicht bei seinem Objekt als bei einem schon wirklichen Ding anfangen kann, sondern rein formal aufgrund je neu zu vollziehender Vergleiche innerhalb eines Kontextes verfahren muß, um gerade seine Wirklichkeit nachzuprüfen. Die Kantische These "Sein ist kein reales Prädikat" fuhrt schließlich dahin, die Wirklichkeit des Dinges rein formal gemäß dem Kohärenzprinzip zu gewährleisten. Davon ausgehend entsteht ein Vorurteil gegenüber der besonderen Art des Formalismus der Kantischen Seinsauffassung nur deshalb, weil vernachlässigt wird, was in der Kantischen These unausgesprochen enthalten ist und dessen Wichtigkeit sich Kant selbst nie bis zur letzten Konsequenz bewußt wurde: daß die Form, wodurch die Wirklichkeit gewährleistet wird, also die Kohärenz jeder Theorie im weitesten Sinne - sei sie eine wissenschaftliche oder die jedes Subjekts -, notwendigerweise mit der Art und Weise, wie die Dinge von selbst im Lauf der Erfahrung unabhängig von dem Subjekt geschehen, zugleich entsteht. Daß die Kohärenz der Theorie zugleich mit der Faktizität der Dinge entsteht, wird ersichtlich, wenn man das Folgende berücksichtigt: Daß von Kohärenz einer Theorie nur in bezug auf die Dinge, wovon sie Theorie ist, gesprochen werden darf, so daß die Form der Theorie die Wirklichkeit der Dinge gewährleistet, ebenso wie die Dinge auch noch die Form der Theorie widerlegen können. Und in der Tat reicht ein einzelnes Gegenbeispiel aus, um eine Theorie in Frage zu stellen. Eine Theorie läßt sich beispielsweise nicht deshalb als kohärent definieren, weil

5. Kohärenz und Faktizität

141

ihr gemäß unser Regenbogen allein so gebogen erscheinen kann. So paradox es auch erscheinen mag, es könnte auch geschehen, daß aus irgendeiner Ursache und unter wie auch immer veränderten Umständen unser Regenbogen sich ab morgen auf den Kopf gestellt zeigt. Eine neue formale Bestimmung der Wirklichkeit würde gefordert, und zwar faktisch bzw. von dem Ding selbst gefordert. Das Ding selbst stellte nämlich in dem Fall die Kohärenz der Theorie in Frage. Bestimmt die Form der Theorie die Wirklichkeit der Dinge, so zeigt sich zum anderen dieselbe Form deshalb als die adäquate im Rückbezug auf ihn qua Ding selbst, weil es nicht mehr von der von dem Subjekt entworfenen Theorie abhängt, daß unser Regenbogen so ist, wie er qua Ding auch faktisch ist, so daß letztlich vom dem Kantischen Ansatz der formalen Theorie der Wirklichkeit aus die Faktizität der Dinge und die Kohärenz der Theorie nicht nur kompatibel, sondern vielmehr innerlich aufeinander bezogen sind. Mit dem zuletzt Gesagten wird daher sowohl auf den ersten als auch auf den zweiten Einwand gegen die Kantische Theorie der Setzung der Wirklichkeit angemessen geantwortet: Die Erkenntnis macht das aus, was in bezug darauf, wovon die Erkenntnis eigentlich Erkenntnis ist, die objektive Wirklichkeit gewährleistet1. Als ausgezeichneter Beweis fur das Zutreffen der Kantischen These, wonach sich ausschließlich auf formale Weise die Faktizität der Dinge erschließen läßt, seien hier auch noch einige kurze Überlegungen zum Irrtum angeführt. Im Irrtums- wie im Erfolgsfall wird etwas als wirklich hingestellt, denn intentional gesehen wird immer Erfolg intendiert. Solange man im Irrtum verbleibt, ist mithin faktisch die Wahrheit des Urteils beansprucht und konsequenterweise faktisch die Wirklichkeit seines Objekts unterstellt. Α posteriori bzw. im nachhinein anhand wiederholter Vergleichungen mit verschiedenen Wahrnehmungen kann man dann die folgenden Ursachen des Irrtums qua Wachtraum bzw. Halluzination feststellen: a) Die Veränderung der äußeren Umstände bei der Gewinnung eines Inhaltes, beispielsweise eine Brechung, welche unseren Regenbogen jetzt gerade aussehen läßt. b) Die Veränderungen irgendwelcher biologischer Gehirnstrukturen verursacht durch eine plötzliche Krankheit, welche z.B. die Halluzination eines Regenbogens hervorruft, c) Die Veränderung des psychischen Zustandes. Gewiß läßt sich daraus auch noch ableiten, daß wegen der hier besprochenen Ursachen bei der Gewinnung eines Inhaltes eine ungünstige Vorstellung gedeutet worden ist und ein Fehler sich ergeben hat. Um ein alltägliches Beispiel in Betracht zu ziehen: im Fall eines Stocks im Wasser ist die Ursache seines Krummaussehens die Lichtbrechung des Wassers, die eine andere als jene der Luft ist. 1 Eine Kritik an der formalen Bestimmung der Wirklichkeit, wonach die Wirklichkeit selbst allein durch die Erkenntnis gewährleistet werden kann, müßte in der Lage sein zu beweisen, daß ein anderer Zugang zu den Dingen außerhalb der Wahrnehmung, also ein nicht subjektabhängiger auch noch möglich ist, was aber weniger problematisch als vielmehr schlicht unmöglich scheint.

142

III. Ding und Wirklichkeit

Doch bleibt der Stock im Wasser gerade, auch wenn er krumm erscheint. Worauf es hier aber im wesentlichen ankommt, ist, daß die Erfahrung des Fehlers ersichtlich macht, daß es ausschließlich von dem Ding - im Beispielsfall also von dem Stock - abhängt, objektiv so zu sein, wie es auch ist, - beispielsweise im Wasser krumm zu erscheinen, obwohl er gerade ist. Nicht von irgendwelchen sachhaltigen Kennzeichen ausgehend, sondern vielmehr anhand des formalen Kriteriums der Kohärenz innerhalb des bestimmten Kontextes, in dem die Erfahrung des Stocks stattfindet, läßt sich das Urteil "Dies ist krumm" durch jenes "Dies ist gerade" korrigieren. Die Form der Erkenntnis als "Wahrheit" des Urteils gewährleistet somit je neu bzw. zeitpunktuell die Wirklichkeit des Dinges, wobei andererseits der Erfolg desselben stets der faktischen Tatsache zuzuordnen ist, daß sich das Ding von selbst zeigt, so oder auch anders dem Beispiel gemäß, im Wasser krumm auszusehen und in Wirklichkeit gerade zu sein. Daß der Stock gerade ist, wird eigens mittels der Erkenntnis festgestellt, die man von dem Ding (und nicht von der Vorstellung desselben) je neu gewinnt, so daß keineswegs die Erkenntnis das Ding in seiner objektiven bzw. faktischen Wirklichkeit verdeckt, sondern es wird vielmehr durch die Erkenntnis in seiner Wirklichkeit erschlossen. Aus den bisher durchgeführten kurzen Überlegungen zum Irrtum läßt sich auch noch ein wichtiger letzter Schluß hinsichtlich der Faktizität der Dinge und der Korrigierbarkeit ziehen. Die Wirklichkeit betrifft das Ding in einer formalen Weise, dadurch nämlich, daß es erkannt wird. Sie wird je neu bzw. zeitpunktuell aufgrund der Möglichkeit der Korrigierbarkeit gewonnen1, so daß die Korrigierbarkeit selbst den ausgezeichneten Modus der Freiheit des Subjekts darstellt. Als unentbehrlicher Gegenpol der Freiheit des Subjekts gilt aber das Ding als die Grenze desselben, da dem Ding durch Reflexion seine eigentümliche Faktizität zugesprochen werden muß. Dies alles führt aber schließlich dahin, bei den Dingen selbst eine bestimmte Art von Unbegreiflichkeit zu berücksichtigen. Wohlgemerkt: bei den Dingen in ihrer Faktizität. Nicht deswegen, weil die Dinge in einer undurchschaubaren Ganzheit2 erscheinen, folgt, daß ihre Wirklichkeit für das Subjekt niemals endgül-

1 Dazu gilt ferner zu bemerken, daß die Korrigierbarkeit aufgrund eines im Laufe des Lebens gesammelten Erfahrungsschatzes, der je neu im Gedächtnis gespeichert wird, stattfindet, so daß ein Subjekt beispielsweise im Fall einer Wahrnehmung eines Stockes im Wasser sein erstes Urteil »Dies ist krumm« durch das Urteil »Dies ist gerade« unmittelbar korrigieren und dadurch die Wirklichkeit dieses Anderen seiner selbst als etwas Gerades erreichen kann. 2 In der Tradition hat zwar Leibniz die These vertreten, die Dinge seien aufgrund der Undurchschaubarkeit der unendlichen Zusammenhänge des Kontextes, worin sie sich befinden, niemals vollständig bestimmbare. Zugleich hat er als erster aber auch auf die Korrigierbarkeit als das Mittel für die Bestimmung der Wirklichkeit hingewiesen und in gewisser Hinsicht den transzendentalen Weg eröffnet, wonach die Bestimmung der Wirklichkeit sich aus ständig neu bzw. zeitabhängig durchzuführenden

6. Der eigentliche

Sinn von Unbegreiflichkeit:

Die Dinge an sich selbst betrachtet

143

tig bestimmbar ist, sondern vielmehr, weil die Wirklichkeit als Modus, also als das "Wie" der Dinge, etwas ist, was diese allein betrifft. Von hier aus geht es daher darum gerade den Sinn jener am Anfang der Arbeit zur Diskussion gestellten Unbegreiflichkeit der Dinge, die kantisch gesprochen das Ding an sich selbst betrachtet betrifft, weiter zu untersuchen.

6. Der eigentliche Sinn von Unbegreiflichkeit: Die Dinge an sich selbst betrachtet bzw. die Empirizität als Geschenk Durch die Entfaltung der Kantischen Kohärenztheorie der Verifikation hat sich erwiesen, daß die Kohärenz der Theorie und die Faktizität der Dinge wechselseitig aufeinander bezogen sind. Den inneren Zusammenhang von Faktizität und Kohärenz hat man ferner nur durch eine rein formale Reflexion gewonnen, indem man gedanklich Folgendes annehmen mußte: Wenn die Wirklichkeit eines Dinges in nichts anderem als dem Erfolg einer Intention besteht, so hängt es nicht von dem Intendieren als solchem ab, erfolgreich zu sein, sondern zusätzlich zu ihm vom Inhalt. Die Wirklichkeit des Dinges erscheint also als die verborgene Sonne der Kopernikanischen Wende. Ausgehend von dem rein formalen Prinzip der Kohärenz erlangt das Ding also eine zentrale Rolle, und zwar so - wie sich anhand des Beispiels des Stocks im Wasser gezeigt hat -, daß es an dem Ding allein liegt, ein wirklich-gerades und kein wirklich-krummes zu sein, wie es faktisch bzw. je neu in einem Wahrnehmungskontext kohärenterweise festgestellt wird. Von diesem Standpunkt aus geht es des weiteren darum zu verdeutlichen, wie die erworbene Charakterisierung der Faktizität der Dinge dazu beiträgt, die eigentliche Kantische Bedeutung jener spezifischen Unbegreiflichkeit der Dinge aufzuzeigen. Auf eine zunächst nur intuitive Weise läßt sich schon ahnen, daß die bestimmte Unbegreiflichkeit der Dinge gleichursprünglich mit ihrer Begreiflichkeit deshalb entsteht, weil so verständlich wird, daß das Ding nach Kant durch die Erkenntnis in Form eines Urteils gewonnen wird, obwohl es für ihn ebenso einleuchtend ist, daß das Urteil den Grund seiner Wahrheit außerhalb von sich besitzt: In der Wirklichkeit des Dinges nämlich, welche dem Urteil gegenüber eine reine Angelegenheit der Faktizität der Dinge darstellt, und somit ihm gegenüber auch nur unbegreiflich sein kann. Allein von dieser intuitiv entwickelten Überlegung aus entsteht die Notwendigkeit einer zweifachen Betrachtung der Dinge, welche sich bei Kant tatsächlich in die Notwendigkeit umsetzt, die Dinge zum einem als Erscheinung und zum ande-

Korrekturen eines einheitlichen Inbegriffs von Urteilen im Hinblick auf die Faktizität der Dinge ergibt. Vgl. LA B d . l : S.32-47. Vgl. dazu hier Kap.I, §1.

144

III. Ding und Wirklichkeit

ren nicht als Erscheinung, sondern an sich selbst zu betrachten. Jede Betrachtung eines Dinges hat nach Kant "jederzeit zwei Seiten [...], die eine, da das Objekt an sich selbst betrachtet wird, unangesehen der Art, dasselbe anzuschauen [...], die andere, da auf die Form der Anschauung dieses Gegenstandes gesehen wird"1, also gerade angesichts der Art, dasselbe anzuschauen, so daß das Ding als Erscheinung betrachtet wird. Dabei muß allerdings noch einmal bemerkt werden2, daß die Angelegenheit der zweifachen Betrachtung der Dinge aufgrund einer in der Kantischen Rezeption stattgefundenen Reduzierung des Ausdrucks "Ding an sich selbst betrachtet" auf jenen des "Ding-an-sich"3 zu einem verhängnisvollen Mißverständnis fuhrt: Daß Kant damit meine, daß die Dinge als Erscheinungen und als Nichterscheinungen zugleich zu betrachten seien, als ob der Unterschied der Betrachtungsweise der Dinge nicht auf zwei verschiedene subjektive Ansehung eines Selbigen zuträfe, sondern auf zwei Entitäten: die Erscheinungen einerseits, die Dinge andererseits. In der Tat hat Kant selbst der Gefahr der Mißdeutung seiner Lehre der zweifachen Betrachtung der Dinge in dem falschen Sinne einer Betrachtung verschiedener Entitäten, statt in dem richtigen von jeweils subjektiv verschiedenen Betrachtungen eines Selbigen, bis in seine Spätwerke und Reflexionen des Opus Postumum Aufmerksamkeit geschenkt. Deutlich wie niemals zuvor schreibt Kant im Opus Postumum, daß "[d]ie Unterscheidung des sogenannten Gegenstandes an sich im Gegensatz mit dem in der Erscheinung [...] nicht ein wirkliches Ding bedeutet, was dem Sinnengegenstand gegenübersteht"4, wobei unter "sogenanntem Ding an sich" eigens das von der Literatur sogenannte "Ding-an-sich" zu verstehen ist. Die Sekundärliteratur zu Kant und nicht Kant selbst begeht daher den Fehler, die Kantische Lehre der Notwendigkeit der eigentümlichen Betrachtung der Dinge an sich selbst so auszulegen, als ob es dabei um eine Betrachtung von Entitäten = Dinge-an-sich ginge. Daraus entsteht ferner das Absurdum, die Dinge auch noch als Schein anzusehen. Denn, wenn die Dinge als Dinge an sich zu betrachten, bedeuten würde, sie als Nichterscheinungen zu betrachten, müßte konsequenterweise sie als Erscheinungen zu betrachten heißen, sie, die Dinge selbst, qua Erscheinungen, also Vorstellungen, als bloßen Schein zu betrachten. Solch eine Überlegung mündet demnach in den Widerspruch, ein und dasselbe, die Dinge, zugleich als Dinge und als Nichtdinge bzw. Vorstellungen anzusehen. 1

A38 B55 Kursiv von mir. Dazu ausführlicher Kap.I, §§1-2. Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Kant und das Problem der Dinge an sich. Bonn 1989, S. 13-32; Prauss, Gerold Zur Problematik der Dinge an sich. In: Akten des XIV Intematinalen Kongresses für Philosophie Wien 2-9 September 1968. Universtität Wien 1970, BandV, S.525-527; Prauss, Gerold Erscheinung bei Kant. Berlin 1971, S. 70-81; Allison, Henry E. Kant's Transscendental Idealismus. An Interpretation and Defence. New Haven and London 1983. 4 Ak. Bd.22: S.24. 2

3

6. Der eigentliche Sinn von Unbegreiflichkeit: Die Dinge an sich selbst betrachtet

145

Eine späte Anmerkung in der Kritik der reinen Vernunft scheint diesbezüglich von Bedeutung zu sein, weil Kant damit Schein von Erscheinung in aller Deutlichkeit abgrenzt. Um den besagten Unterschied aufzuweisen, zieht Kant eine alltägliche Erfahrung in Betracht: die Wahrnehmung einer roten Rose. Zum Verständnis des Beispieles muß daran erinnert werden, daß das Urteil "Die Rose ist rot" logisch äquivalent mit dem Urteil "Die Rose hat Röte"1 ist, während semantisch gesehen hier ein Unterschied waltet, demgemäß im ersten Urteil die Eigenschaft prädiziert, im letzten hingegen thematisiert wird, nämlich als die Farbe der Rose: die Röte. Ausgehend von diesem Unterschied läßt sich nämlich verstehen, wie Kant in der genannten Bemerkung hinsichtlich der Röte als Farbe der Rose behaupten kann, daß "die Prädikate der Erscheinung dem Objekte selbst beigelegt werden können [...], z.B. der Rose die rote Farbe", und zugleich, daß die Röte etwas sei, "[w]as gar nicht am Objekte an sich selbst, jederzeit aber im Verhältnisse desselben zum Subjekt anzutreffen und von der Vorstellung des ersteren unzertrennlich ist"2. Derselbe Inhalt tritt nach Kant in Form von Eigenschaft an einem Objekt (Röte) und in Form von Vorstellung dieses Objektes (Rotvorstellung) auf. Die Röte wird der Rose prädiziert, allerdings, so meint Kant, wird etwas Rotes in keiner Weise zu einer Rotvorstellung oder einer "roten" Vorstellung. Denn berücksichtigt man, daß die Prädizierung nichts anderes ausdrückt, als die subjektive Art, das Ding anzuschauen bzw. wahrzunehmen, folgt daraus, daß etwas sich als rot nur aufgrund von einer Rotvorstellung erdeuten läßt. Als solche ist die Röte nichts als derselbe Inhalt in Form von Eigenschaft, der in Form von Vorstellung dem Subjekt gegeben war, so daß das Objekt die Röte als Eigenschaft nur in bezug daraufhat, daß das Objekt dem Subjekt rot erscheint. Dadurch, daß etwas Rotes als Erscheinung betrachtet wird, d.h. in bezug auf die Art, es anzuschauen, läßt sich verstehen, inwieweit die Dinge durch die Vorstellungen gewonnen werden, nämlich dadurch, daß etwas Sachhaltiges (z.B. eine Rotvorstellung) als Mittel benutzt wird, um etwas als wirklich rot hinzustellen. Das, was aus der Hinstellung sich im Erfolgsfall ergibt, ist aber gerade ein Ding (z.B. etwas Rotes), da nicht die Vorstellung selbst als wirklich hingestellt wird, sondern bloß als Mittel verwendet wird, um etwas Anderes als sich, nämlich den durch sie entworfenen Gegenstand, als wirklich hinzustellen. Dadurch hat im Erfolgsfall das Objekt genau den zuvor gegebenen Inhalt in Form einer Eigenschaft, der mithin ein hinausprojizierter Inhalt ist, weshalb das Objekt als Erscheinung, d.h. als subjektabhängig zu betrachten ist. Aufgrund der Betrachtung der Dinge als Erscheinung sichert sich Kant infolgedessen eigentlich

1 Bezüglich der Unvollständigkeit der Kantischen Prädikationstheorie angesichts der Herausarbeitung der Form des elementaren Urteils als »Dies ist A« vgl. hier die Rekonstruktion der Kantischen Prädikationstheorie von Gerold Prauss im Kap.I, §3 und §7 und Kap.II, §2. 2 B70.

146

III. Ding und Wirklichkeit

gegen die Gefahr ab, die Existenz der Dinge dem bloßen "Schein"1 preiszugeben. Nur dadurch, daß etwas Rotes als Erscheinung betrachtet wird - ausgehend von der Art und Weise, wie es durch die Rotvorstellung als ein rotes Ding bestimmt wird und dem Subjekt als rot erscheint -, ist die Gefahr gebannt, irrtümlich das Ding selbst als bloßen Schein zu verstehen. Sobald das Ding als Erscheinung betrachtet wird, entsteht damit zugleich die Notwendigkeit, es auch noch nicht als Erscheinung, nämlich allein an sich selbst zu betrachten. Denn wenn es keine Vorstellung ist, was ist es dann? Seine Existenz wird durch das Subjekt aufgrund einer Vorstellung und eines Begriffes durch ein Urteil gewonnen, doch um objektiv so zu sein, wie es ist, kommt es nur auf es qua Ding an. Ein und dasselbe Ding muß daher nach Kant zugleich als Erscheinung und nicht als Erscheinung betrachtet werden können: Dies besagt die Kantische Lehre der zweifachen Betrachtung der Dinge. Wenn feststeht, daß die Dinge auf zwei verschiedene Weisen zu betrachten sind, als Erscheinungen und nicht als Erscheinungen bzw. an sich selbst, leuchtet es auch ein, daß die Betrachtung derselben als Nicht-Erscheinungen mit ihrer Betrachtung als Erscheinungen intern verbunden ist. Der Grund des inneren Zusammenhangs der zwei Betrachtungsweisen liegt eigentlich darin, daß aufgrund des subjektiven Wahmehmungsprozesses primär etwas als ein Ding mit seinen Eigenschaften erscheint, so daß gerade ausgehend von der subjektabhängigen Erscheinungsart der Dinge, aber dennoch über sie hinaus, sich die Frage ergibt, was sich über dieselbe hinaus, d.h. "unangesehen der Art [sie] anzuschauen"2, von den Dingen noch sagen läßt. Abgesehen davon, daß die Dinge stets als Dinge mit ihren jeweiligen Eigenschaften auftreten bzw. dem Subjekt erscheinen, wie beispielsweise dies als ein Regenbogen, als Regentropfen, als rund oder rot, als gerade oder krumm erscheint, bleibt noch zu fragen: Was sind sie über all dies Inhaltliche hinaus, bzw. was sind sie ihrer Wirklichkeit nach betrachtet? Um mit Kant zu sprechen, "was ist denn das Ding [...] an sich selbst [betrachtet] [?]"3. Die Dinge an sich selbst zu betrachten, bedeutet also, sie unabhängig von den subjektiven Bedingungen der Erfahrung anzusehen, so daß dabei ein gedanklicher Schritt erforderlich wird: der Schritt zur transzendentalen Reflexion4. Zunächst einmal ist es, um auf die Frage, "was denn das Ding an sich selbst [betrachtet] sei"5, eine Antwort zu geben, vonnöten, auf eine negative Weise die subjektive Beschaffenheit, wodurch die Dinge dem Subjekt zugänglich werden, "wegzuneh-

1

Ebd. A38 B55. Ak. Bd.8: S.154 Kursiv von mir. 4 Der Reflexionsschritt ist schon vollzogen, indem das Ding als Erscheinung betrachtet wird, denn der Wahrnehmende betrachtet ja nicht das Ding als Erscheinung, sondern als Rotes. Jedoch scheint der Schritt, die Dinge an sich zu betrachten, von besonderer Schwierigkeit. 5 Ak. Bd.8: S.54. 2 3

6. Der eigentliche Sinn von Unbegreiflichkeit: Die Dinge an sich selbst betrachtet

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men", und somit das Subjekt selbst "aufzuheben"1. Denn erst dann, wenn das Subjekt diesen Schritt zur Reflexion vollzieht, läßt sich feststellen, daß es an den Dingen allein liegt, so zu sein, wie sie auch faktisch sind. Unter diesen Umständen wird nämlich verständlich, inwiefern für Kant etwas dem Ding zugehört, das selbst "zugleich"2das Ding transzendiert, indem es dem Subjekt als Ding erscheint: Es geht eigentlich um seine Wirklichkeit, die gerade nicht allein in der Hand des Subjekts liegt. Aber worauf kommt es noch an, daß die Dinge so sind, wie sie auch faktisch bzw. ihrer-Wirklichkeit-nach-betrachtet sind? Fällt die Frage nach der Betrachtung der Dinge an sich selbst mit jener nach ihrer Wirklichkeit zusammen, so eröffnet die zuletzt herangezogene Überlegung nach den Dingen ein neues Kapitel: jenes bezüglich ihres Ursprungs, dessen Aufklärung bei Kant notwendigerweise mit der damaligen Newtonschen Konzeption der Natur und ihrem strengen Determinismus anfangen3 bzw. zugleich in einer problematischen Weise auf sie stoßen mußte. In der Tat wird angesichts der Kantischen Abhängigkeit von der Newtonschen Theorie der Natur als eines kausalverursachten Inbegriffes von Phänomenen verständlich, weswegen Kant die Existenz auf einem Freiheitsakt jenseits der Natur ruhen läßt. Denn hängt die Wirklichkeit der Dinge nicht allein vom Subjekt ab, so kann es nach Kant aber auch nicht allein auf die Dinge ankommen, so zu sein, wie sie sind, und zwar deshalb nicht, weil nach Newton keinerlei Spontaneität in der Natur angetroffen werden kann. Berücksichtigt man auch noch, daß der Newtonsche Determinismus die Betrachtung des Naturgeschehens hinsichtlich irgendeiner Art von Zweckmäßigkeit bzw. Finalismus leugnet, so stößt Kant auf das Problem, einen Begriff für eine auf Newtonscher Basis unerklärbaren Spontaneität der Natur herauszuarbeiten. Denn vom Kantischen Standpunkt aus bleibt die unleugbare Tatsache zu rechtfertigen, daß die Dinge ihrer Wirklichkeit nach betrachtet als Erfolg einer Erkenntnisintention im wesentlichen nicht von dem Subjekt allein abhängen, was für Kant Newtons Determinismus berücksichtigend zusätzlich bedeutete, den Ursprung der Dinge auch nicht allein den Dingen selbst zuzuschreiben. Angesichts seines Wissens über die Natur blieb daher Kant nichts anderes übrig, als eine Hinterwelt hinter der Natur (Noumena) bzw. eine Welt der "Freiheit" zu thematisieren, um den Engpaß einer Spontaneität der kausaldeterministisch geregelten Natur zu vermeiden. Die Thematisierung der Welt der Noumena läßt sich daher gerade auf die Notwendigkeit zurückführen, eine Art Spontaneität in der Natur anzunehmen. Diesbezüglich muß man aber zweierlei anmerken: Zunächst einmal bezeichnet die noumenale Welt eine bestimmte Weise, die unleugbare Tatsache der "Dingabhängigkeit" der Wirklichkeit selbst argumentativ zu deduzieren, ohne der Natur 1 Vgl. A42 B59 und BXIX 2 Vgl. Ak. Bd.ll: S.50. 3

Vgl. A257 B313.

f.

148

III. Ding und Wirklichkeit

der Dinge (nach Newton ihrer Kausalverbundenheit) zu widersprechen. Dies alles bringt es femer mit sich, daß der Begriff Noumenon auf nichts anderes als auf eine subjektive Betrachtungsweise der Wirklichkeit verweist, und zwar auf eine ihrer eigentümlichen Spontaneität, woraus sich weniger ein Wissen von Nichts als vielmehr ein Nichtwissen von Etwas, von den Dingen hinsichtlich ihrer Wirklichkeit nämlich, ergibt. Kant selbst deutet diesbezüglich sehr klar darauf hin, daß das "Noumenon in positiver [bzw. negativer] Bedeutung"1 nichts als einen "Grenzbegriff' 2 darstellt, wodurch aber auf eine negative Weise verdeutlicht wird, daß die Wirklichkeit der Dinge nicht im Subjekt aufgehoben werden kann, so wie auf eine positive Weise, daß sie auch noch auf eine Art Spontaneität "in" der Natur hinweist, die jedoch infolge des Newtonschen Determinismus nur als bloßer Schein, als eine Annahme dessen, was sich "hinter" der Welt der Dinge abspielt, gelten kann. Kant verbleibt aber bei dieser bloßen Annahme sogar mit der Konsequenz, die Faktizität der Dinge selbst in Frage zu stellen, indem er die Hinterwelt der Noumena qua Welt der Spontaneität bzw. der Freiheit als eine "Verstandeswelt"3 in dem Sinne interpretiert, daß Freiheit bzw. Spontaneität als etwas auf gar keine Weise die Natur Betreffendes, sondern meistens als eine bloß eingebildete subjektive Hypothese anzusehen sei. Allein ein unendlich erweitertes Denken wäre zur Freiheit befähigt, und zwar deshalb, weil es sich aufgrund einer die Totalität der Determinationen aller weltlichen Phänomenen umfassenden Anschauung in der Lage versetzte, jenen für das begrenzte Subjekt undurchschaubaren Grund zu sehen, wonach die Phänomene sich auch so abspielen, wie sie es tatsächlich tun, so daß die Faktizität der Dinge von dem Geheimnis eines verborgenen Grundes getilgt wird. Zugleich scheint sich aber m.E. gerade in dem Kapitel über Die Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena4, wo Kant ausdrücklich die Möglichkeit in Kauf nimmt, daß die Freiheit ausschließlich eine Welt des Verstandes in dem besagten Sinne betrifft, eine ganz andere und tiefere Dimension bezüglich des Nichtwissens um die Wirklichkeit der Dinge zu zeigen. Kant bemerkt an einer Stelle des obengenannten Kapitels, daß im Grunde "die Einteilung [...] der Welt in eine Sinnen- [Phänomenon] und Verstandeswelt [Noumenon] in positiver Bedeutung gar nicht zugelassen werden kann"5, und zwar deshalb nicht, weil die negative Bedeutung der Noumena eine "negative Erweiterung"6, d.h. dennoch eine per Negation "positive" gewinnbare Erweiterung, unse-

1 B307. 2 A255 B311. 3 A256B311. 4

A235 B294-A260 B315.

5

6

Ebd. Kursiv von mir.

A256 B312.

6. Der eigentliche Sinn von Unbegreiflichkeit: Die Dinge an sich selbst betrachtet

149

res Wissens bezüglich der Wirklichkeit der Dinge ermöglicht. Solch eine Erweiterung folgt daraus, daß gemäß der negativen Bedeutung der Noumena bzw. gemäß der Notwendigkeit, die Wirklichkeit der Dinge nicht dem Subjekt zuzuschreiben, der Verstand "nicht durch die Sinnlichkeit eingeschränkt wird, sondern vielmehr dieselbe einschränkt, dadurch, daß er die Dinge an sich selbst (nicht als Erscheinung betrachtet) Noumena nennt"1. Nicht deshalb also, weil das Subjekt einen irgendwie anzunehmenden Grund für die Wirklichkeit der Dinge wegen seines durch die Sinnlichkeit eingeschränkten Denkens nicht anschauen kann, nennt es die Dinge Noumena. Im Gegenteil: Sofern das Subjekt qua Verstand aufgrund der Sinnlichkeit sich selbst durch einen Reflexionsakt einschränkt, wird die Betrachtung ermöglicht, wonach die Dinge nicht als Erscheinung, sondern darüber hinaus auch noch an sich selbst angesehen werden. Durch eine Art Abgrenzung seiner selbst nennt also das Subjekt die Dinge Noumena, wobei anzumerken ist, daß der Grund solch einer Nennung in der transzendentalen Reflexion auf etwas liegt, was auf den ersten Blick eine Hemmung für die Nennung der Dinge als Noumena zu sein scheint: Der Grund liegt in der Reflexion auf ihre Existenz als auf das Dasein der Empirie, da eigentlich ihre Empirizität das ist, was die Dinge so existieren läßt, wie sie auch faktisch aus reiner Kontingenz der Empirie2 sind, ohne daß irgendein weiterer Grund für deren Erklärung in Anspruch genommen werden muß. Schließlich ist eine Erweiterung des Wissens um die Dinge dadurch ermöglicht, daß ihre Existenz als reines Geschenk der Empirizität gilt. Die reine Kontingenz der Existenz der Dinge, sofern sie selbst sind, so wie sie auch faktisch sind, nennt die Dinge in ihrer Empirizität Noumena, und schließt durch die transzendentale Reflexion von einem Nichtwissen auf das eigentliche Wesen der Dinge ansich-selbst-betrachtet als Gabe bzw. Geschenk der Natur qua Empirizität. Somit kann man die Untersuchung der Dinge in ihrer Unbegreiflichkeit, die als unentbehrliche Bedingung für die Stellung der Frage nach dem Ursprung des Religiösen in der Natur der Dinge galt, für abgeschlossen halten, denn gerade der Charakter der Kontingenz bzw. der Faktizität der Dinge ihrer Empirizität nach betrachtet macht jene Unbegreiflichkeit aus, die den sehr wohl begreiflichen Dingen zugehörend, sie selbst transzendiert.

1

Ebd. Kursiv von mir. Laut der heutigen Physik zeigt sich weder eine finalistische noch eine kausaldeterministische Auslegung der Natur als angemessen. Ober diese zwei Konzepte hinaus hat sich erwiesen, daß sie vielmehr eine spezifische Faktizität der Empirie in Kauf nehmen, denn nur aufgrund einer eigentümlichen Art von Spontaneität der Natur lassen sich bestimmte Phänomene im mikroskopischen Bereich erklären. Die physikalischen Modelle, die der Faktizität der Natur nachgehen, haben sich als besser geeignete Hypothesen für die Erklärung einiger Experimente gezeigt als jene Modelle, die versuchen, sie anhand "verborgener" Variablen zu bewältigen. Vgl. dazu Kap.II, §7. 2

150

III. Ding und Wirklichkeit

7. Zusammenfassung Wenn die zu beantwortende Frage nach der Subjektabhängigkeit der Wirklichkeit vom Kantischen Standpunkt aus lautete, "Wie kann das Subjekt aus sich heraus Objektivität gewinnen, einerseits, ohne die Wirklichkeit des Objekts vorauszusetzen, wie andererseits, ohne die Objektivität selbst in Vorstellungen aufzulösen?", dann lautet die Antwort: "Dadurch, daß das vom Subjekt als Begriffsbewußtsein vergegenständlichte Andere, der Entwurf, verwendet wird, um etwas als wirklich hinzustellen". Laut der Kantischen These des Als-wirklich-Hinstellens eines Dinges kann das Subjekt allein Objektivität gewinnen, wenn es auf eine eigentümliche Weise zu sich ins Verhältnis tritt und sich - Vorstellung und Begriff benutzend - etwas als etwas von sich Getrenntes qua Ding sichtbar macht. Das Subjekt, soll es Objektivität gewinnen, muß nämlich nicht einfach ein jeweilig Anderes seiner selbst in Form dieser oder jener Ausdehnung als eine eigene Bestimmung von einem anderen seiner selbst sich vorstellen bzw. nicht einfach es als eine Vorstellung haben. Darüber hinaus muß es vielmehr das jeweilige etwas, das es sich als die jeweilige Form bzw. Ausdehnung von etwas vorgestellt hat, benutzen, um ein etwas als ein von sich Getrenntes für sich wahrnehmbar zu machen bzw. es qua Ding zu sehen, sprich, wahrzunehmen. Objektivität wird daher nach Kant durch eine vom Subjekt geleistete Trennung des Anderen von sich gewonnen, und zwar insofern Subjektivität sich zum Fremdverwirklichungsbewußtsein gestaltet und etwas subjektiv Entworfenes verobjektiviert. Da Objektivität gemäß dem Kantischen Ansatz aus der subjektiven Leistung der Verobjektivierung von Anderem seiner selbst entspringt, hat sich die Notwendigkeit ergeben, die Formung des Subjekts, welche die Verobjektivierung von Anderem seiner selbst als einem Ding ermöglicht, weiter zu explizieren. Dabei ging es darum zu verstehen, wie das Subjekt ausgehend von einer Vorstellung etwas als ein Ding thematisieren kann, wenn es die Vorstellung bloß hat und keineswegs sieht, während es das Ding sieht bzw. wahrnimmt. Aus der Untersuchung der spezifischen Formung des Subjekts zum Fremdverwirklichungsbewußtsein hat sich ergeben, daß die subjektive Leistung zur Erreichung der Objektivität eigentlich der Formung des Subjekts zu einem Urteilenden entspricht. Die Erreichung von Objektivität betrifft nämlich den Übergang von dem Begriffsbewußtsein (Fremdvergegenständlichungsbewußtsein) zum Urteilsbewußtsein (Fremdverwirklichungsbewußtsein). Denn soll das Subjekt von sich aus Objektivität erreichen, muß einerseits die subjektive Relation des Habens einer Vorstellung als der Ausgangspunkt der nachfolgenden subjektiven Relation des Sehens bzw. Wahrnehmens eines Dinges gelten, wie andererseits der eigentümliche Umgang mit der Vorstellung den Schritt über die Vorstellung selbst hinaus

7.

Zusammenfassung

151

zum Ding gewährleisten muß. Durch einen spezifischen Umgang mit der Vorstellung versetzt sich das Subjekt in die Lage, Objektivität zu erreichen, soweit es eigens mit der Hilfe einer jeweiligen Vorstellung ein Ding in der vorgestellten Form thematisiert. Die Formung des Subjekts zum Urteil ermöglicht die Thematisierung von etwas als Ding, sofern ein subjektiv entworfenes Etwas auch noch als wirklich hingestellt bzw. als ein Ding geurteilt wird, d.h., soweit das Subjekt sich eines zu erzielenden Anderen thematisiert-bewußt wird. Das Subjekt erreicht letztlich die Objektivität von etwas dadurch, daß es ausgehend von der Vorstellung und über sie hinaus etwas in der von sich selbst entworfenen bestimmten Form thematisiert, d.h., indem es durch sich selbst qua Urteilendes etwas in der jeweiligen Form zu verwirklichen versucht und somit sich zu einer weiteren Bewußtseinsart gestaltet. Ist es also eine spezifische Art, mit der Vorstellung umzugehen, die im Erfolgsfall zur Objektivität des Dinges fuhrt, so entsteht sofort die Frage, welche sie eigentlich sei: nach Kant zweifelsohne die Deutung. Die Objektivität wird durch die Deutung der Vorstellung mittels eines Begriff erreicht, was zur Folge hat, daß auf der Seite des Subjekts die Gewinnung der Wirklichkeit von etwas in der in sich komplexen Struktur des Urteils als der Einheit einer Zweiheit von Anschauung und Begriff, so wie auf der Seite des Objekts als eine ebenso in sich komplexe Entität von Substanz-Akzidens auftritt. So klar Kant aber die Deutung als die innere Modalität des Urteils gelten läßt, so bleibt doch seine Erklärung bezüglich des subjektiven Schrittes von der Vorstellung zum Ding unvollständig, und zwar deshalb, weil er die Selbstgestaltung von Subjektivität in Form des Urteilens als Deuten nur auf eine intuitive Weise im Sinne der Vervollständigung der Intention entwickelt. Die Deutung der Vorstellung durch den Verstand als die Vervollständigung der Intention läßt indessen in voller Deutlichkeit hervorgehen, daß die Objektivität von anderem seiner selbst als Ergebnis der Deutung ausschließlich etwas betrifft, was über das Gedeutete, also über die Vorstellung, womit die Deutung selbst eigentlich anfängt, hinausliegt: das Ding als Zsrdeutetes eben, als Erfolg der Intention. Daraus, daß die Deutung eine subjektive Bestimmtheit in Form von Vorstellung und Begriff voraussetzt, hat auch noch zur Folge, daß Prädikation kantisch gesehen eine eigentümliche Bedeutung bekommt. Da Urteilen qua Verobjektivierung eine zu verwirklichende Bestimmtheit voraussetzt, welche nach dem Kantischen Ansatz gerade Vorstellung und Begriff im vorhinein liefern, kann Prädikation auf keinen Fall auf die Bestimmimg einer vorhandenen Substanz hinweisen. Prädikation drückt vielmehr die Werdung des Subjekts (Synthesis) aus, wodurch die Objektivität von etwas aufgrund einer Bestimmtheit rein formal erlangt wird. Die Setzung der Wirklichkeit beispielsweise eines Regenbogens geht von der Regenbogenvorstellung und dem entsprechenden Regenbogenbegriff aus. Die

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III. Ding und Wirklichkeit

Regenbogenform geht in die Erfahrung eines Regenbogen dadurch ein, daß sie als Form für etwas benutzt wird, um dieses etwas als Ding zu thematisieren. Das Urteil in der Form "Dies ist ein Regenbogen" thematisiert nur das Objekt "Regenbogen", obwohl dessen Form notwendigerweise im Spiel ist: Sie wird nämlich benutzt, um etwas anderes zu thematisieren: Das eigentliche Objekt, das seine jeweilige Form vielmehr hat, so daß letztlich ein Urteil in der Form "Dies ist ein Regenbogen" logisch äquivalent mit dem Urteil "Dies hat Regenbogenform" ist, wenn auch semantisch gesehen im ersteren nur das Objekt, im letzteren zusätzlich dazu auch noch dessen Eigenschaft als dessen Bestimmtheit thematisiert wird. Die Form des Urteils ermöglicht somit die Objektivität des Dinges, so daß der Unterschied von Substanz und Akzidens bzw. von Ding und Eigenschaft nicht als eine empirische Differenz zweier Entitäten, sondern als eine nicht-empirische gilt, welche den Ursprung in der inneren Struktur einer einzigen Entität hat, insofern es aber nur aufgrund von Subjektivität in Form von Prädikation qua Deutung ermittelt wird und konsequenterweise als die Einheit einer Zweiheit auftritt. Tritt das Objekt in der komplexen Einheit von Ding-Eigenschaft auf, und ist die Objektivität des Objekts als ein Verwirklichtes seiner inneren Struktur nach subjektabhängig, so stellt sich die Frage, inwieweit es eigentlich auf dieses dem Subjekt gegenüber Andere, also auf das Ding ankommen kann, objektiv wirklich zu sein. Denn bei der formalen Charakterisierung der Wirklichkeit der Dinge zeigt sich die Notwendigkeit der Untersuchung eines subjektiven Merkmals, wodurch sich das Ding als objektives definieren läßt. Die Objektivität von etwas entspringt aufgrund von dessen Verwirklichung, sie gehört aber zugleich allein diesem Etwas selbst an, was impliziert, daß es zwar subjektiv erkannt wird, und nichtsdestoweniger qua Ding objektiv wirklich ist. Das rein subjektive bzw. formale Merkmal, kraft dessen das Subjekt dieses Etwas von sich ablöst, entspricht in der Kantischen Terminologie dem subjektiven "Schema" bzw. der Regel, wodurch das Subjekt von sich aus rein formal etwas als ein Ding mit dieser oder jener Eigenschaft verwirklicht, und wodurch auch auf umgekehrte Weise sich feststellen läßt, daß etwas sich als ein Ding zeigt. Nach Kant ist das Schema bzw. die Weise, wodurch das Ding als Ding auftritt, seine Beharrlichkeit. Sie stellt nichts anderes dar, als die Art, wie das Ding als solches gegenüber der Zeitlichkeit des Subjekts vorgestellt wird: beharrlich als Zeitüberdauern. Denn gerade dadurch, daß Urteilen einem Verwirklichungsversuch entspricht, kann das im Erfolgsfall Verwirklichte nichts anderes als ein gegen das Subjekt als Zeit Beharrendes sein. Dabei hat man allerdings den Kantischen Ansatz bezüglich der Beharrlichkeit der Dinge weiter entfalten müssen, weil Kant bloß intuitiv bemerkt hat, daß es, um beharrlich zu sein, nicht konsequenterweise bedeuten muß, eine Weile lang zu überdauern. Widerspruchsfrei denkbar ist es nämlich, daß ein Regenbogen nur in einem einzigen Augenblick als solcher auftritt, um anschließend zur Dampfwolke

7.

Zusammenfassung

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zu vergehen. Doch hört er deshalb nicht in dem Zeitpunkt auf, in dem er als Regenbogen auftritt, ein Regenbogen und zwar ein wirklicher, also ein Ding zu sein. Berücksichtigt man ferner, daß ein Regenbogen aufgrund des Verwirklichungsversuchs für das Subjekt in dem Augenblick wahrnehmbar wird, so betrifft dessen Erfahrung als die eines Dinges nicht nur die Zeit, sondern auch das RaumZugleich. Denn insbesondere der Raum ist das, was verobjektiviert wird, weshalb auf ihn allein zutreffen kann, beharrlich zu bestimmen. Wohlgemerkt: auf den verobjektivierten Raum, also auf das Ding "im" Raum trifft die Beharrlichkeit zu, nicht auf das Raum-Zugleich der Vorstellung. Und zwar deshalb nicht, weil die Vorstellung, obwohl sie ein Raum-Zugleich ist, allein mit der Zeit einhergeht und ihr somit auf keinerlei Weise objektive Wirklichkeit zugesprochen werden kann. Beharrlich ist also die Form im Raum als das Ding, das zeitpunktuell gegenüber dem Subjekt objektiv wirklich ist. Angesichts des Urteils, das sich im Wachzustand wie im Traum in der Form "Dies ist ein Regenbogen" ergibt, wodurch die Wirklichkeit eines Regenbogens in dem Sinne gewonnen wird, daß er als wirklich hingestellt wird, läßt sich dann nur sagen, daß er beharrt, wenn er gegen das Subjekt objektiv wirklich ist, so daß Kantisch gesehen beharrlich nur das objektiv Wirkliche ist, was einer wahren Aussage entspricht. Wenn die Beharrlichkeit des Dinges gegenüber dem absoluten Wechsel des Subjekts als Zeit das formale Kennzeichen darstellt, wodurch die Objektivität rein formal dem Ding zugesprochen wird, so ergibt sich die Frage, wie eigentlich sich feststellen läßt, ob etwas nur als wirklich /»'«gestellt oder auch noch als faktisch wirklich Aergestellt wird. Wenn beharrlich das ist, was einer wahren Existenzaussage entspricht, zeigt sich die Untersuchung bezüglich der Verifikation der Wahrheit des Urteils als notwendig und zugleich mit der Feststellung der objektiven Wirklichkeit intern verbunden. Dabei hat man aber festzuhalten, daß das Urteil als Intention seinen Erfolg außerhalb von sich besitzt. Da nämlich eine Intention Erfolg nur intendiert, nicht aber garantiert, läßt nur das Ding in seiner Objektivität die Intention erfolgreich oder erfolglos sein. Allerdings kann das zuletzt Gesagte nach Kant nicht bedeuten, daß der Erfolg der Intention mittels einer zugrundeliegenden Objektivität nachgeprüft werden kann. Denn gerade nach Kant wird das Ding nur durch die Intention in ihrem Vollzug gewonnen. Wie ist es folglich zu verstehen, daß das Subjekt allein von selbst feststellen kann, ob etwas objektiv wirklich ist? Das ist vom Kantischen Standpunkt aus nur möglich, wenn die Wahrnehmung eines Objekts innerhalb eines Wahrnehmungs&o/jtettes betrachtet wird und gemäß dem Prinzip der Kohärenz dem Kontext selbst nicht widerspricht. Nicht die Übereinstimmung des Urteils mit dessen Objekt zeigt sich als ein angemessenes Kriterium der Wahrheit, sondern die Konsistenz der Inbegriffe von Erkenntnissen bzw. der Theorie in bezug darauf, wovon sie Erkenntnisse sind:

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III. Ding und Wirklichkeit

Erkenntnisse der Dinge. Gerade die Kohärenz als das subjektive Kriterium jedoch für die Objektivität der Dinge läßt die Frage entstehen, ob das Ding in der transzendentalen Theorie noch eine wesentliche Rolle spielen kann. Von diesen Prämissen ausgehend hat sich aber gerade es, das Ding selbst, als die verborgene Sonne der Kopernikanischen Wende Kants erwiesen. Denn von Kohärenz kann nur gesprochen werden, weil das Ding es ist, was von sich selbst aus bestimmte Erkenntnisse als wahr gelten läßt. Nicht ist eine Erkenntnis wahr, weil sie innerhalb eines Erkenntniskontextes sich als kompatibel in dem Sinne zeigt, daß sie als widerspruchsfrei in dem Kontext auftritt, denn gerade seine Widerspruchsfreiheit läßt sich nur in bezug darauf abmessen, daß die Dinge so sind, wie sie auch tatsächlich sind. Daß z.B. ein Stock im Wasser gerade ist, auch wenn er krumm aussieht, hängt vom Stock allein ab, und gerade von dem Ding selbst wird eine neue Erkenntnis gefordert, wodurch die Erfahrung des Stocks im Wasser nicht eine widersprüchliche bleibt. Die Korrektur des Urteils "Dies ist krumm" durch das Urteil "Dies ist gerade" wird somit von dem Ding gefordert, so daß Kohärenz und Faktizität nicht nur kompatibel, sondern vielmehr miteinander intern verbunden sind. Aus der Subjektabhängigkeit der Wirklichkeit der Dinge zeigt sich aber dann gerade das, was es am Anfang zu untersuchen galt: die Unbegreiflichkeit der Dinge ihrer Wirklichkeit nach. Denn, daß die Dinge so sind, wie sie sind, zeigt ihre Faktizität, welche den Dingen allein zugehört, und zwar in ihrer Wirklichkeit, welche nicht allein in der Hand des Subjekts liegt, da sie vielmehr jene immerwährende Unbegreiflichkeit darstellt, mit der das Subjekt umgehen muß. Gerade die Faktizität der Dinge zwingt somit das Subjekt, sie an sich selbst zu betrachten, was Kant auch zwang, sie diesbezüglich Noumena zu nennen, wenn auch dies nicht kompatibel mit dem Wissen seiner Zeit um ihren Ursprung war. Von der Unbegreiflichkeit, die jede Erfahrung der Dinge als das Geschenk ihres Daseins begleitet, gilt es jetzt die Frage nach ihrem Ursprung zu untersuchen, welche den einzigen Weg zum Religiösen darstellen kann, da die Dinge, soweit sie an sich selbst betrachtet werden müssen, eine eigentliche Gabe immanent in der Empirie anzeigen, welche die Empirie selbst transzendiert.

IV. Ursprung und Religiosität 1. Von der Erkenntnis der Dinge zur Frage nach Gott Der Ausgangspunkt der zu untersuchenden Frage nach Gott war eine eigentümliche Unbegreiflichkeit der Dinge, denn nach Kant "sei" gerade "in der Natur uns vieles unbegreiflich" und "Gegenstände, welche uns durch Erfahrung gegeben werden, [sind] uns in vielerlei Absicht unbegreiflich"1. Wie dargelegt, betrifft diejenige Unbegreiflichkeit, die uns zur Frage nach Gott fuhren wird, das Problem der Wirklichkeit der Dinge, d.h. die Faktizität der Erkenntnis. "Wirklichkeit" ist dabei ein eigentümliches Prädikat der Dinge selbst. Dieses Ergebnis kann auf den ersten Blick als mit der sogenannten Kopernikanischen Wende Kants unvereinbar erscheinen, der gemäß nicht nur die Erkenntnis der Objekte, sondern auch die Wirklichkeit derselben subjektabhängig ist. Doch gerade indem Kant die Wirklichkeit der Objekte als subjektabhängig charakterisiert, bestimmt er sie nicht als subjektiv. Die Wirklichkeit eines Objekts ist nach Kant das Korrelat einer erfolgreichen Intention und insofern nur in Abhängigkeit von ihr zu verstehen, aber gerade weil eine Intention stets Anderes ihrer selbst intendiert, löst sich die Außenwelt nicht in Vorstellungen auf, sondern es ergibt sich vielmehr im Gegensatz dazu, daß die Objektivität der Dinge nur auf der Basis dieser Vorstellungen fur das Subjekt zu gewährleisten ist, ohne sich dabei auf irgendwelche Formen eines naiven Realismus stützen zu müssen. Gemäß der Kopernikanischen Wende geht nämlich das Subjekt allein nach eigenen "Entwürfe[n]" an die Natur heran, um "zwar von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, [...], sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Frage zu antworten, die er ihnen vorlegt"2. Macht also die ursprüngliche Fähigkeit, nach eigenen "Entwürfe[n]" von sich aus auf die Dinge auszugehen, das innere Wesen von Subjektivität als Intentionalität aus, so steht in Korrelation zu ihr die Natur in ihrer Wirklichkeit, denn Erfolg besteht in etwas, was außerhalb der Intention selbst liegt: Nämlich die Wirklichkeit der Dinge selbst, deren Faktizität sich für das Subjekt als Gabe der Natur bzw. Geschenk der Empirie zeigt. Das Zusammenspiel von Intentionalität und Faktizität erweist sich somit als der Ausgangspunkt jeder weiteren Reflexion auf die Wirklichkeit der Dinge, was Kant 1 Ak. 2

Bd.4: S.349. BXIV.

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IV. Ursprung und Religiosität

selbst zu Beginn der Transzendentalen Dialektik seiner Kritik der reinen Vernunft sehr deutlich im Anschluß an Piaton hervorhebt. Er schreibt, daß "Plato sehr wohl bemerkte, daß unsere Erkenntniskraft ein höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere Vernunft natürlicherweise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel weiter gehen, als daß irgendein Gegenstand der Erfahrung gehen kann"1. So nahe Kant an dieser Stelle dem Platonischen Gedanken auch stehen mag, dem gemäß die Vernunft, die vorrangig von der Erkenntnis der Dinge ausgeht, auf eine bestimmte Unbegreiflichkeit stößt, so entschieden setzt er sich doch auch von dessen Denken ab, denn nach Kant kann ausschließlich die Faktizität und nicht eine Ideenwelt das ausmachen, was in jeder Erkenntnis qua Erkenntnis der Dinge unbegreiflich bleibt. Intentionalität und Faktizität machen die zwei Aufbaustücke des einheitlichen Geschehens der Erkenntnis qua zweckmäßiger Gewinnung der Außenwelt aus, so daß die Erkenntnistheorie Kants sich als ein gelungener philosophischer Versuch erweist, eine Theorie der Erfahrung unabhängig von jeder dogmatischmetaphysischen Voraussetzung zu entwickeln, wonach die Dinge in ihrer Wirklichkeit mittels eines kohärenten einheitlichen Inbegriffes von Erkenntnissen erfaßbar sind. Laut der Kantischen Theorie der Erfahrung ist die Wirklichkeit den Dingen inhärent und transzendiert sie dennoch, was widerspruchsfrei deshalb ist, weil das Subjekt als Intendierendes ihre Wirklichkeit nur ermöglichen, nicht aber garantieren kann. Zwar ist das Ergehen einer Intention notwendig dafür, daß sich als ihr Korrelat ein Objekt einstellen kann, hinreichend ist sie aber nicht. Der Bürge für den Erfolg und damit für die Wirklichkeit der Dinge liegt nicht im Subjekt allein: Objektivität als absolute Kontingenz. Unter diesen Umständen kann es als sinnlos erscheinen, eine Untersuchung der Frage nach Gott in bezug auf die erkenntnistheoretische Frage nach den Dingen vorzunehmen. Historisch gesehen wäre das Wortpaar "Gott - Erkenntnis" beispielsweise auf die Theorie der prästabilierten Harmonie Leibniz', der adaequatio intellectus ad rem bezogen und als innerlich verbunden anzusehen. Nach dem Kantischen Ansatz zeigt sich hingegen jede göttliche Handlung bezogen auf den Erfolg der Intentionen zweifelsohne als überflüssig bzw. als der absoluten Kontingenz geradezu widersprechend. Berücksichtigt man zudem, daß die Faktizität der Dinge gemäß dem heutigen physikalischen Wissen aus einer notwendigerweise anzunehmenden 1 A314 B370/1 Den Ausdruck »Erscheinungen buchstabieren, um sie als Erfahrung zu lesen« verwendet Kant auch in den Prolegomena. Vgl. dazu Ak. Bd.4: S.312. Zu genaueren Hinweisen bezüglich der Bedeutung des »Buchstabierens« im Rahmen der Kantischen Theorie der Erfahrung vgl. Prauss, Gerold Erscheinung bei Kant. Ein Problem der "Kritik der reinen Vernunft". Berlin 1971; S.55f. und S.93f.

1. Von der Erkenntnis der Dinge zur Frage nach Gott

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"Spontaneität" der Dinge durch ihre Form bzw. Energie erklärt werden kann, so scheint eine Untersuchung, welche beabsichtigt, einen internen Zusammenhang der Entstehung der Frage nach Gott mit jener nach den Dingen aufzuzeigen, zum Scheitern verurteilt. Aus der Tatsache, daß man durch die Erkenntnis ohne jegliche dogmatischmetaphysische Voraussetzung die Dinge erfaßt, könnte man auf eine radikale Säkularisierung nicht nur hinsichtlich der Frage nach der Erkenntnis der Dinge, sondern auch bezüglich der Frage nach ihrer Existenz schließen. Da innerhalb des einheitlichen Geschehens der Erkenntnis als eines in sich komplexen Zusammenspiels von Subjektivität und Faktizität Gott als metaphysische Voraussetzung keine Rolle mehr spielt, wäre also die eigentliche Frage nach ihm außerhalb der Frage nach den Dingen und ihrer Erkenntnis anzusiedeln, und dies um so mehr, als die Erkenntnis als Erkenntnis von Dingen nie und nimmer zur Erkenntnis Gottes führen kann. Aus den genannten Gründen neigt ein Teil der kritischen Kant-Rezeption dazu, die Frage nach Gott lediglich innerhalb einer Handlungstheorie gelten zu lassen. Diese kritische Haltung vernachlässigt aber, daß die Handlung gemäß dem Kantischen Ansatz notwendigerweise der Erkenntnis konstitutionstheoretisch (und nicht unbedingt zeitlich) folgen muß. Handeln und Erkennen stellen zwei Arten von Praxis dar, wobei die Erkenntnis den ursprünglichen "Schritt" in die Welt ermöglicht, also die Voraussetzung dafür ist, überhaupt handeln zu können. Wenn also die Frage nach den Dingen keinesfalls Anlaß gibt, sinnvollerweise auf eine eigentümliche Weise an Gott zu denken, wie läßt sich dann erklären, daß Kant darauf kommt zu behaupten, daß man in dieser Wirklichkeit, in der keine Spur von Gott erkannt wird, trotzdem nur unter der Annahme von dessen Existenz moralisch handeln können soll? Gewiß behauptet ein Teil der Kritik1, nur das Moralgesetz erschließe die Möglichkeit, Gott zu entdecken bzw. nur durch es allein falle Gott ins Denken ein. Und nicht von ungefähr rekurriert sie auf den Schluß der Kritik der praktischen Vernunft, um von hier aus eine innere Abhängigkeit zwischen der "Bewunderung" des "Himmels" und dem Moralgesetz aufzuzeigen. Kant schreibt an der besagten Stelle: "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir"2. Die angebliche Abhängigkeit von Moralgesetz und Religiosität ist allerdings in diesem Textabschnitt allein nicht ohne weiteres aufzuzeigen. ' Als exemplarisch gilt hier Karl Löwiths Aufsatz Das Verhältnis von Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes und Kant. In: Sitzungsberichte der Heidelbergeschen Akademie des Wissenschaften. Phil.- Hist. Kl. Jahrgang 1963/64. Heidelberg Universität 1964, 3.Abhandlung, S.3-26. 2 Ak. Bd.5: S.161.

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IV. Ursprung und Religiosität

Deshalb sei diesbezüglich kurz daran erinnert, daß das Bild des bestirnten Himmels samt seiner Rhetorik nicht erst in den kritischen Werken Kants auftaucht, sondern bereits in der 1755 erschienen Frühschrift, die den Titel Theorie des Himmels trägt. Hier schreibt Kant: "In der Tat, wenn man mit [den] Betrachtungen [über die Dinge] sein Gemüt erfüllt hat, so gibt der Anblick eines bestirnten Himmels bei einer heiteren Nacht eine Art des Vergnügens, welches nur edle Seelen empfinden. Bei der allgemeinen Stille der Nacht und der Ruhe der Sinne redet das verborgene Erkenntnisvermögen des unsterblichen Geistes eine unnennbare Sprache und gibt unausgewickelte Begriffe, die sich wohl empfinden, aber nicht beschreiben lassen"1. Schon in theoretischer Einstellung, als welche die Erkenntnis des "bestirnten Himmels" gelten kann, also nicht erst in praktischer Einstellung aufgrund des Moralgesetzes, fuhrt Kant zur Reflexion auf eine bestimmte Religiosität. Jenseits des Bildes vom "bestirnten Himmel" gilt es aber auch der Sache nach anzumerken, daß Religiosität schon im Rahmen der Erkenntnisleistungen anzusetzen ist. Daß nämlich eine Handlung nach Kant als moralische Handlung nur dann ergehen kann, wenn sie unter der Annahme einer "Gottesexistenz" gefuhrt wird, kann überhaupt nicht verständlich werden, wenn das handelnde Subjekt nicht schon konstitutionstheoretisch zuvor mit der Idee Gottes Bekanntschaft macht. Man muß notwendigerweise von vornherein die Möglichkeit ansetzen, daß eine solche Annahme von dem Subjekt als eine "göttliche" zugänglich gemacht bzw. anerkannt werden kann. Damit diese Idee aber als solche anerkannt wird, ist es offensichtlich, daß sie als "göttliche" zunächst bekannt wird. Eine Handlung kann nur aufgrund eines Wissens, welches nach Kant zunächst einmal Wissen um die Dinge ist, erfolgen. Im Zuge dieses Wissens um die Dinge muß das Subjekt mit der Idee Gottes konfrontiert sein, d.h. mit der Möglichkeit seiner Wirklichkeit, um im Falle des Glaubens an seine Wirklichkeit unter der Annahme einer "Gottesexistenz" daran anschließend moralisch handeln zu können. Aus der Untersuchung des besagten Vorrangs der Erkenntnis vor der Handlung folgt, daß die eigentümliche Annahme der "Gottesexistenz" notwendigerweise bekannt und darüber hinaus auch noch anerkannt werden muß, bevor man handelt. Die Haltung der Kritik, die nicht ausreichend diesen Vorrang berücksichtigt, verwickelt sich in die Schwierigkeit, daß die Annahme der Gottesexistenz unreflektiert, d.h. gewissermaßen von Natur aus, in uns ist. Denkt man jedoch ausgehend von einer Handlung, die stets Erkenntnis voraussetzt, über die Eigentümlichkeit der Annahme "Gottesexistenz" hinsichtlich der Moralhandlung nach, welche Annahme ausschließlich durch einen Erkenntnisakt für eine Handlung als Maßstab internalisiert werden kann, so drückt Kant ihre Eigentümlichkeit mit der Verwendung des Ausdruckes aus, daß man handeln soll, 1

Ak. B d . l : S.367 Kursiv von mir.

I. Von der Erkenntnis der Dinge zur Frage nach Gott

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als ob es Gott gebe.1 Sollte sich ergeben, daß solch eine Formulierung, theoretisch gesehen, inhaltlich unbestimmt bleibt, müßte man daraus schließen, daß aufgrund des nominalistischen Ausgangspunktes in Kants theoretischer Philosophie gilt, daß Gott ein bloßes Wort sei bzw. nicht sinnvollerweise von Gott gesprochen werden könne. Mit anderen Worten: Sollte es sich als unmöglich erweisen, daß in der Reflexion über die Wirklichkeit der Dinge keine Spur von Gott gefunden werden kann und das subjektive Wissen nicht zum Gottesgedanken gelangen kann, so wäre alles, was Gott angeht, Frucht einer bloßen psychischen Suggestion, und keine Handlung wäre in der Lage, für Gott Platz zu schaffen. Vom Kantischen Standpunkt aus, wonach Handeln Erkenntnis voraussetzt, fällt somit einzig der Vernunft, zunächst als Erkenntnisvermögen betrachtet, die Aufgabe zu, dem Glauben Platz zu schaffen, so daß sich die Frage dringlicher als zuvor stellt, wie das Subjekt ausgehend von der Dingerkenntnis überhaupt auf den Gottesgedanken kommen kann. Wenn also das Primat der Erkenntnis nach dem Kantischen Ansatz den Angelpunkt darstellt, um den sich die Gottesfrage ursprünglich dreht, muß man allerdings einerseits daran festhalten, die Erkenntnis qua Dingerkenntnis als säkularisiert gelten zu lassen bzw. auf keinen Fall die Annahme der Gottesexistenz mit der Dingerkenntnis zusammenfallen zu lassen. Andererseits muß man aber auch ein Denken, welches unmittelbar Gott zu intendieren beansprucht, als sinnlos kennzeichnen, denn gerade dadurch, daß Gott nicht unmittelbar erkannt werden kann, entsteht die Frage, wie man überhaupt auf den Gedanken Gottes kommen kann. Letzterem zum Trotz gilt nach Kant stets, daß die Möglichkeit der Annahme Gottes in nichts Anderem als in einer Art Bekanntschaft2 liegen muß. Die hier angedeutete spezifische Art von Erkenntnis kann sich nicht einmal durch das Handeln ' Vgl. Ak. Bd. 9: S. 93. („Die Realität der Idee von Gott kann nur durch sie [die Idee der Freiheit] und also nur in praktischer Absicht, d.i. so zu handeln, als ob ein Gott sei, also nur für diese Absicht bewiesen werden."). Kant behauptet, daß der Beweis der Realität der Idee von Gott ausschließlich in praktischer Absicht bzw. nur für die praktische Absicht der Vernunft vollzogen wird. Also meint er, daß die Annahme einer bestimmten Gottesexistenz, d.h. jener, nach der so zu handeln ist, als ob ein Gott sei, für die Bestimmung moralischer Handlungen wertvoll wird. Wie aber der Beweis der besagten Realität durchgeführt werden muß - entweder ausgehend von einem theoretischen oder aber von einem praktischen Standpunkt - wird von Kant nur dahingegehend angedeutet, daß ein solcher Beweis allein durch die Idee der Freiheit möglich ist. Desweiteren gilt es zu bemerken, daß Kant nicht unbedacht den Ausdruck „als ob ein Gott sei" benutzt: Im Deutschen wird der Konjunktiv I normalerweise in indirekter Rede gebraucht, hier jedoch, um eine reine Möglichkeit auszudrücken. Der Konjunktiv II („wäre") wird vermieden, da es nicht um ein Irrealis geht: Die Realität der Idee Gottes wird nicht fingiert. Mit der Gottesidee wird nicht ein von der Erfahrung her eingebildetes Objekt bezeichnet, sondern ein Gegenstand, der in der Erfahrung gar nicht angetroffen werden kann, also etwas als reine Möglichkeit, welche durch „sei" bzw. „gebe" oder „existiere" ausgedrückt wird. So sagt Kant an anderer Stelle (Ak. Bd. 8: S. 142), „daß, um zu urteilen, ob ein Gott sei" nicht danach gefragt werden muß, ob ein wirkliches Objekt der Erfahrung unserer Idee von Gott „adäquat" sei, sondern ob die Idee von Gott widersprüchlich sei oder nicht, ob er also als reine Möglichkeit angenommen werden könne oder nicht. 2 Ob man letztlich gar von "Erkenntnis" sprechen kann, klärt sich im weiteren Verlauf.

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IV. Ursprung und Religiosität

vollziehen, geht sie ihm doch vielmehr voraus. Da sie sich also weder aus dem Handeln, noch aus einer dogmatischen Annahme der Existenz Gottes, aber auch nicht aus einer ebenfalls dogmatischen Annahme von dessen Nichtexistenz gedacht werden kann, fragt man sich letztlich, wovon man überhaupt noch ausgehen kann, um die Frage nach Gott erkenntnistheoretisch zu behandeln. Den Ausgangspunkt der Erkenntnis, welche zum Gottesgedanken fuhrt, liefert aber Kant selbst, indem er jeden unmittelbaren Zugang zu Gott verbietet und die absolute Notwendigkeit unterstreicht, sich an der Erfahrung festzuhalten. Denn gerade sie, die Erfahrung selbst, weist in ihrer Faktizität auf eine den Dingen immanente Wirklichkeit hin, welche allein der Ausgangspunkt jeder weiteren Reflexion der Vernunft sein kann. Die Reflexion auf die Faktizität der Dinge, d.h. auf ihre Wirklichkeit bzw. in ihrer Wirklichkeit an sich betrachtet, macht den Leitfaden fur das Denken von Gott aus, nach dem man auch in einem weiteren Schritt verfahren soll. Die Faktizität der Dinge stellt sich nämlich aus dem Kantischen Blickwinkel als eine solche dar, von der ausgehend das Subjekt aufgrund eines sonst "verborgenen Erkenntnisvermögens"1 zu sich in ein Verhältnis tritt, in dem es sich von der Erfahrung her und dennoch aus sich selbst heraus befragt, welche Bedeutung die Faktizität der Dinge für es selbst hat. Und in dieser Frage hört es "eine unnennbare Sprache", die "sich [nur] empfinden [...] läß[t]"2. Mittels dieser spezifischen Art von Erkenntnis, die aufgrund ihres Reflexionscharakters Se/foferkenntnis zu nennen ist, bietet sich also dem Subjekt der einzige Weg an, auf dem es sich selbst erkennend, eine eigentümliche Annahme von "Gott" entdeckt und dadurch dem Glauben vernünftig Platz schafft. Vor der Reflexion auf die Faktizität der Dinge, welche als Reiz für die Selbsterkenntnis gilt, steht jedoch nach Kant ein Schein, dessen Auflösung Aufgabe der Transzendentalen Dialektik ist3. Der angesprochene Schein entspricht allerdings keinem Irrtum im strengen Sinne, denn er ist im Unterschied zum Irrtum "nicht auf Erfahrung angelegt"4. Weniger als um einen "empirisch[en] Schein" geht es vielmehr um einen "transzendentalen"5. Genauer handelt es sich dabei um eine unvermeidliche "Illusion"6, welche die Reflexion über die Faktizität der Dinge und ihre damit verbundene Art

1

Ak. B d . l : S.367. Ebd. 3 Kant selbst versteht auch die Dialektik als eine Logik der Wahrheit, insofern ihr die Aufgabe zukommt, Fälle von dialektischem Schein aufzulösen. Aus diesem Grund definiert er sie auch als »Logik des Scheins«. Vgl. dazu A61 B86. Für ausführliche Hinweise über die Rolle der Logik des Scheins im Rahmen einer Logik der Wahrheit in der Kritik der reinen Vernunft vgl. Andersen, Svend Ideal und Singularität. Berlin - New York 1983; S.158-161. 4 A295 B351. s A295 B352. 6 A297 B352 B298 B354. 2

1. Von der Erkenntnis der Dinge zur Frage nach Gott

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Unbegreiflichkeit bis zur Verderbung verfälscht. Der transzendentale Schein ergibt sich daraus, daß die Vernunft - "als menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet"1 - die subjektiven Grundsätze für die Erkennbarkeit der Dinge, d.h. die Kategorien Substanz - Akzidens und Ursache - Wirkung als objektive "Bestimmung der Dinge an sich selbst" betrachtet. Statt zu fragen, was fur eine Bedeutung die Dinge in ihrer Faktizität bzw. in dem Geschenk-sein ihres Daseins für das Subjekt selbst haben, und darüber hinaus die Frage nach ihrem Ursprung im Rahmen der Reflexion auf ihre Existenz zu klären, wird versucht, das Problem der Faktizität qua ihres Daseins außerhalb der Reflexion zu bewältigen. Die Unbegreiflichkeit ihrer Existenz; soll dahingehend überwunden werden, daß jene Ursache, welche die Welt hervorgebracht hat, aufgezeigt wird. Wüßte man doch, wie die Welt angefangen hat zu sein, hätte man die Lösung für das den Dingen immanente Geheimnis ihrer Existenz für das Subjekt, und die Unbegreiflichkeit ihres Daseins würde damit wie von selbst verschwinden. Die so gestellte Frage nach dem Anfang der Dinge verstellt nicht nur jene nach dem Ursprung ihres Daseins, sondern darüber hinaus führt das, was eine "Erweiterung des reinen Verstandes"2 und seiner Erkenntnisse verspricht, zur absoluten Tilgung jenes Rätsels, welches die Wirklichkeit der Dinge für das Subjekt gemäß ihres Geschenk-seins in sich birgt: das Geheimnis des Sinnes ihrer Wirklichkeit für uns. Um zu verstehen, wie sich der Begriff von Gott im Rahmen der Struktur der theoretischen Vernunft in dem genannten Sinne aus der Reflexion auf die Faktizität der Dinge und des damit intern verbundenen Aufstiegs in die Selbsterkenntnis bildet, muß man zunächst einmal den Unterschied zwischen dem Anfang der Dinge und dem Ursprung ihres Daseins aufzeigen. Wird nämlich der Anspruch, die Gottesfrage ausgehend von der erkenntnistheoretischen Frage nach den Dingen zu bewältigen, so ausgelegt, als ob die Wirklichkeit der Dinge für das Subjekt in ihrer Unbegreiflichkeit durch weitere ausgefeilte physikalische Erkenntnisse endgültig erschöpft werden könnte, oder umgekehrt, als ob die Wirklichkeit der Dinge aufgrund der Unmöglichkeit einer durchgängigen Bestimmung der Dinge hinsichtlich ihrer Existenz notwendigerweise und gewissermaßen durch bloße Annahme von Gott abhängig gemacht werden könnte, so fuhrt dies zur Profanierung des Gottesbegriffes und zu einer damit verbundenen Abschaffung jedes religiösen Bedürfnisses des Subjekts. Eine solche Profanierung geschieht sowohl in einer dogmatischen als auch in einer materialistisch-skeptischen Haltung gegenüber der Gottesfrage. Beide erweisen sich als unkritisch, verfallen sie doch völlig dem Schein, der Anfang der Dinge entspräche dem Ursprung ihres Daseins. Sie vernachlässigen dadurch aber die 1 A297 2

B353. A295 B352.

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IV. Ursprung und Religiosität

Frage, wo denndie Gottesfrage ihren eigentlichen Sitz im Leben hat, nämlich in der Reflexion auf die Wirklichkeit der Dinge ihrer Faktizität nach betrachtet und der daraus folgenden Selbsterkenntnis des Subjekts in bezug auf sie1. Daher gilt es hier zunächst einmal, auf den genannten Unterschied zwischen dem Anfang der Dinge und dem Ursprung ihres Daseins weiter einzugehen.

2. Der Anfang als Scheinlösung des Ursprungs der Dinge Wenn die Untersuchung über die Gottesfrage nach dem Kantischen Ansatz von der Reflexion auf die Dinge ausgehen muß, so kann es sich dabei ausschließlich um die Reflexion auf ihre Existenz im Sinne einer Gabe bzw. eines Geschenks der Empirie handeln. Die Reflexion auf das Geschenksein der Dinge zeigt sich nämlich als ein unleugbares Zeichen der menschlichen Möglichkeit, "über die Grenze des Empirischen, doch aber in Verknüpfung mit demselben"2 hinauszugehen. Da der Übergang zum besagten Nicht-empirischen in der Reflexion auf die Dinge Anlaß zu denken geben kann, Kant meine damit, das Dasein der Dinge sei transzendent aufgrund einer absoluten Notwendigkeit der Dinge selbst qua ihrer Materialität, weil die Transzendenz nach ihm in "Verknüpfung mit dem [Empirischen]"3 und nicht in einer über die Welt hinausliegenden Ideenwelt zu finden ist, sei hier von Anfang an eine Textpassage in Betracht gezogen, welche als Vorlage fur die weitere Untersuchung gelten soll. Um gerade jedes Mißverständnis über die den Dingen "immanente Transzendenz" ihres Daseins zu vermeiden, setzt sich Kant ausdrücklich in der Transzendentalen Dialektik von jener Denkart ab, welche eine absolute Notwendigkeit der Existenz der Dinge in der Materie angelegt sieht. Diesbezüglich schreibt Kant: "Die Philosophen des Altertums sahen [B: sehen] alle Form der Natur als zufallig, die Materie aber, nach dem Urteile der gemeinen Vernunft, als ursprünglich und notwendig an. Würden sie aber die Materie nicht als Substratum der Erscheinungen respektiv4, sondern a n s i c h selbst ihrem Dasein nach betrachtet haben, so wäre die Idee der absoluten Notwendigkeit sogleich verschwunden. Denn es ist nichts, was die Vernunft an dieses Dasein schlechthin bindet, sondern sie kann solches, jederzeit und ohne Widerstreit, in Gedanken aufheben; in Gedanken aber lag auch allein die absolute Notwendigkeit"5. Man betrachte zur Erläuterung dieses Satzes das berühmte Beispiel von

1 Über das Verhältnis von Selbsterkenntnis und Reflexion auf die Dinge ihrer Wirklichkeit nach vgl. Genaueres weiter unten im §4. 2 A409 B436-437. 3 Ebd. 4 "Respektiv" kann hier nur "Respektiv auf die Form" bedeuten. 5 A617 B646.

2. Der Anfang als Scheinlösung des Ursprungs der Dinge

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dem Bildhauer, der eine Statue aus Marmor herstellt. Die fertig gestellte Statue ist das Objekt, das Kant hier Erscheinung nennt. Aristoteles als Beispiel eines Philosophen des Altertums betrachtete die Form dieser Statue als empirisch-zufällig, denn sie liegt dank des Bildhauers vor, der die Statue nicht hätte zu schaffen brauchen. Die Materie der Statue hingegen (der Marmor) sei "ursprünglich und notwendig", denn sie muß schon von vornherein vorhanden sein, um überhaupt die Statue zu ermöglichen. Nach Kant aber ist die Materie nur notwendig als "Substratum der Erscheinungen respektiv [auf die Form]", d.h. als Substanz im Sinne eines inneren Aufbaustücks eines Objekts. Die Materie, d.h. die Substanz "an sich selbst", also im Unterschied zu der Form als selbständig betrachtet, ist hingegen keinesfalls notwendig, denn "es ist nichts, was die Vernunft an dieses Dasein schlechthin bindet". Unaufhebbar ist der Gedanke an das Dasein der Materie nämlich nur, wenn man sie als unselbständiges Aufbaustück der einzig selbständigen Statue betrachtet. Aristoteles hingegen, der auch das Verhältnis von Form und Materie nur als quasi-empirisches Verhältnis von zwei quasi-Dingen ansieht, muß die Materie für sich betrachtet als selbständig verstehen, d.h. als ursprünglich und unabhängig vom Bildhauer existierende. Damit ist die Materie der Statue nach der Kantischen Auslegung von Aristoteles mit dem zeitlich zuvor existierenden Marmor identifiziert. Nach Kant selbst hingegen ist der Marmor, wie er vor dem Entstehen der Statue vorliegt, selber wieder etwas als Einheit von Form und Materie (Substanz und Akzidens) und nicht etwa die Materie der Statue flir sich betrachtet1. Die Statue entspringt zu dem Zeitpunkt, da die Statuen-Form sich mit dem Marmor verbindet, d.h. zum Endpunkt des Entstehungsprozesses und zum Anfangspunkt der Bestehensphase. Die Statue entsteht durch den Bildhauer, also durch etwas Anderes als sich. Versteht man den Ursprung der Dinge im Sinne eines zeitlichen Anfangs, so wird folglich ein Schöpfer nötig, denn ohne Bildhauer entsteht keine Statue. Doch das Verhältnis von Form und Materie entspringt nur nach Aristoteles zu diesem Zeitpunkt. Nach Kant hingegen entsteht das Verhältnis von Substanz und Akzidens nicht in einem empirischen Prozeß, sondern liegt jeder Empirie als das Verhältnis, das die Bedingung aller anderen Verhältnisse2 ist, zugrunde. Da aber das Verhältnis von Substanz und Akzidens nach Kant das formale Kriterium der Wirklichkeit der Dinge ist, stellt sich die Frage nach dem Ursprung der Dinge in der Reflexion auf ihre Wirklichkeit hin gänzlich anders. Die den Dingen "immanente Transzendenz" ihres Daseins, d.h. ihre Wirklichkeit ist korreliert mit dem Verhältnis von Form und Materie bzw. von Substanz und Akzidens. Aus der Verselbständigung der Materie fur sich, d.h. im Unter1 Damit radikalisiert Kant die Aristotelische Unterscheidung zwischen der Statue, die marmorn ist, und einem etwas, das Marmor ist. 2 Vgl. B230.

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IV. Ursprung und Religiosität

schied zur Form betrachtet, ergibt sich zur Konstituierung von Wirklichkeit, nämlich zur Konstituierung des Form-Materie-Verhältnisses die Notwendigkeit eines empirischen oder quasi-empirischen Schöpfers (Bildhauer). Zur Konstituierung des Substanz-Akzidens-Verhältnisses bedarf man nach Kant hingegen eines nichtempirischen Subjekts, und weil dieses in seinem Intendieren fehlbar ist, des Zusammenspiels von Intentionalität und Faktizität. Muß also die Reflexion auf die Dinge mit der Berücksichtigung ihrer Wirklichkeit anfangen, so gelangt man zunächst dazu, die Entstehung der Dinge außerhalb ihrer bloßen Materialität zu analysieren. Hinsichtlich der Entstehung der Dinge stellt sich dabei aber sofort die folgende Frage: Wie kann etwas, das "aus" Empirisch-Naturalem besteht, "durch" etwas Anderes entstehen? Wie soll man verstehen, daß, weil etwas ist, etwas Anderes auch sei? Genau vor dieser Frage, welche den Kern einer Wissenschaft des Anfangs der Dinge schlechthin darstellt, steht Kant selbst in der Transzendentalen Kosmologie. Wenn er einerseits in ihr den Keim der Reflexion auf die Wirklichkeit der Dinge, die des weiteren auch zur Frage nach Gott führt, enthalten sieht, erkennt er in der Art und Weise, wie sie gestellt wird, andererseits die Gefahr, den eigentümlichen religiösen Aspekt selbst, der sich in ihr verbirgt, zu verstellen. Denn, so unbezweifelbar es auch ist, daß die Vernunft hinsichtlich der Entstehung der Dinge "nicht von Begriffen, sondern von der gemeinen Erfahrung" der Dinge als eines empirisch Bestehenden "anfängt"1, um von hier bis hin zur Frage nach ihrem Anfang zu gelangen, ebenso unbezweifelbar ist es auch, daß die Vernunft "mit hyperphysischen Erklänmgsarten"2 auf die Frage nach dem Anfang der Dinge versucht, eine Antwort zu geben. Das heißt, sie setzt als Anfang der Dinge entweder einen Gott als hyperphysische Ursache derselben oder sieht in den Dingen bzw. in ihrer Materialität selbst die Ursache ihrer Existenz, sprich, sie vergöttlicht die Welt3. So paradox, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, so paradox muß sich also auch die Untersuchung der Entstehung der Dinge aufgrund der grundsätzlich unüberwindbaren Unwissenheit vom Anfange der Dinge darstellen. Wird diese vorgängig unentbehrliche Bedingung nicht anerkannt, d.h. bliebe man bei einer hyperphysischen Erklärung des Anfangs der Welt, würde man unausweichlich die Möglichkeit, von der Dingfrage zur Frage nach Gott zu gelangen, verkennen, und die Frage nach dem Anfang der Dinge würde sich in dem bloßen transzendentalen Schein einer hyperphysischen Erklärung ihrer Existenz aufheben. In Kants Kritik an der kosmologischen Idee des Anfangs der Dinge, die er innerhalb der Transzendentalen Dialektik, und zwar im Abschnitt über die sogenannten Antinomien der Vernunft übt, muß infolgedessen zunächst einmal der 1

A584 B612. Ak. Bd.4: S.359. Diese Art der Selbstschöpfung der Dinge ergibt sich als zweite Möglichkeit aus der Aristotelischen Ontologie: Die Statue schafft sich selbst (Creatio sui). 2 3

2. Der Anfang als Scheinlösung

des Ursprungs der Dinge

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Grund des Scheins gesucht werden, wodurch der Anfang der Dinge sich in einer hyperphysischen Erklärung der Existenz derselben auflöst. Dazu muß man jedoch von vornherein bemerken, daß die Untersuchung Kants darüber sich innerhalb des physikalischen Wissens seiner Zeit bewegte, und daher z.T. unvermeidlich eingeschränkt blieb. Dies impliziert darüber hinaus, daß deren Ergebnisse auch nur eine negative Abgrenzung dessen liefern, was mit dem Anfang der Dinge nicht gemeint werden darf: d.h. nicht ein "göttlicher" Anfang der Welt, sei es im Hinblick auf die Materialität der Dinge allein oder sei es im Hinblick auf einen hyperphysischen Gott. Der für die Analyse der Antinomien der reinen Vernunft geltende Leitfaden wird von Kant zum einen im Anschluß an den Gedanken Humes1 herausgearbeitet, wonach sich niemals α priori aus einer einfach angenommenen Ursache auf ihre Wirkung schließen läßt, weil die Wirkung von ihrer Ursache stets ein getrenntes Ereignis ist. Zum anderen stützt sich die Kantische Kritik der kosmologischen Idee der Entstehimg der Dinge auf die Newtonsche Theorie der Natur modo meccanico, der gemäß keine Kraft für die Erklärung einer Wirkung in Anspruch genommen werden darf, die sich als eine Einwirkung außerhalb des deterministischen Systems der Natur begreifen ließe. Aus diesen Prämissen folgt, daß die Grundthese für die Bewältigung der Antinomie der Vernunft, die sich im Lauf der Untersuchung über die Entstehung der Dinge ergibt, zunächst auf der negativen Abgrenzung dessen beruht, was hinsichtlich der Analyse des Anfanges der Welt nicht gelten kann: weder die Hypothese eines jenseits der Natur liegenden anfanglichen Urprinzips bzw. einer der Dinge vorhergehenden bestimmenden Urform noch die Annahme einer an sich selbst bestimmenden "göttlichen" Urmaterie. Vom Kantischen Standpunkt aus betrachtet mißversteht man also überhaupt die Frage nach der Entstehung der Dinge, solange man das Problem eines Anfangs der Welt so zu bewältigen versucht, als ob der Naturanfang nur ein einziges Glied der komplexen Einheit der Natur - entweder die Form (Akzidens) oder die Materie (Substanz) - , beträfe, ohne einzusehen, daß Form und Materie als Glieder einer einheitlichen Relation vielmehr als intern verbunden zu betrachten sind. Zwar ist die Form gewiß von der Substanz verschieden, wie auch umgekehrt die Substanz von der Form, so besteht doch jedes Seiende in Form der unzertrennlichen Einheit beider qua Substanz mit Akzidenzen. Die Entstehung der Dinge kann also nicht so verstanden werden, als ob es darum ginge, einen bestimmten Punkt zu finden, von dem aus sie anfangen zu sein. Und dies deshalb nicht, weil sonst gerade deren einheitlicher Komplexität von Substanz und Akzidens widersprochen wird und man darüber hinaus unausweich-

1

Vgl. dazu Ak. Bd.4: S.260.

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IV. Ursprung und Religiosität

lieh gezwungen wird, eine Art Dualismus in der Natur in Kauf zu nehmen1, welche die Natur der Dinge selbst nicht rechtfertigt. In der Ersten Antinomie, die sich ergibt, sobald man fragt, ob "[d]ie Welt einen Anfang in der Zeit hat und in dem Raum auch noch in Grenzen eingeschlossen ist"2 oder nicht, wie auch in der Zweiten Antinomie, die sich aus der Frage ergibt, ob "[e]ine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt aus einfachen Teilen besteht"3 oder nicht, zeigt Kant gerade die Unmöglichkeit auf, die Entstehung der Dinge weder aus einem Anfang in der Zeit und in dem Raum noch aus einem Anfang außerhalb des Raumes und der Zeit als in dessen Grenzen verständlich zu machen. Bezüglich der Unmöglichkeit, den Anfang der Dinge als einen in dem Raum bzw. außerhalb desselben bzw. in dessen Grenzen zu explizieren, knüpft Kant an die überlieferten Begriffe der "Monas" und des "Atomus" an4. Der Begriff "Monas" entspricht dem Begriff einer einfachen Substanz, wohingegen der Begriff "Atomus" dem Begriff eines Grundelements in einem Zusammengesetzten entspricht. Beide können nach Kant aus den folgenden Gründen nicht dazu beitragen, den Begriff des Anfangs der Dinge qua ihre Entstehung im Raum aufzuklären. Gemäß der Idee der "Monas" wird der Anfang der Dinge in einer außerhalb des Dinges selbst liegenden Grenze des Raumes, welche jedoch selbst wiederum kein Raum sein kann, bestimmt, um den regressus zu vermeiden, wonach jeder Raum wiederum einen vorhergehenden Raum voraussetzt, um als bestimmender Raum definiert werden zu können. Solch eine Annahme läßt sich aber nur als eine bloß metaphysische bezeichnen. Und zwar deshalb, weil gemäß der Idee der "Monas" der Anfang als Grenze eines Raumes notwendigerweise auf etwas hinweist, was selbst wiederum durch diese Grenze umgrenzt wird: auf etwas Räumliches also, dessen Entstehung aber gerade durch den Begriff der Grenze eines Raumes erklärt werden sollte. Um mit Kant zu sprechen, läßt sich dies alles folgendermaßen zusammenfassen: "Da der Raum kein Zusammengesetztes aus Substanzen [...] ist, so muß, wenn ich alle Zusammensetzung in ihm aufhebe, nichts, auch nicht einmal der Punkt übrigbleiben; denn dieser ist nur als die Grenze eines Raumes [...] möglich"5. Der Anfang der Dinge läßt sich demzufolge nicht als ein Punkt außerhalb der räumlichen Erfahrung definieren, von dem aus etwas beginnt, in einem Raum zu sein, denn die Vorstellung solch eines "Punktes" als "Grenze eines Raumes" läßt sich vielmehr umgekehrt erst aus etwas Räumlichem im Raum ableiten. 1 2 3 4 5

Vgl. dazu A440 B468. A426 B454 A427 B455 Kursiv von mir. A434 B462 A435 B463 Kursiv von mir. A440 B468 A441 B469. A438 B466 A440 B468.

2. Der Anfang als Scheinlösung des Ursprungs der Dinge

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Gerade dadurch aber, daß der Anfang nicht in einem Punkt außerhalb des Raumes bestimmt werden kann, ergibt sich der umgekehrte Schein, den Anfang selbst in etwas im Raum finden zu können. Dabei setzt sich Kant mit dem Begriff des "Atomus" als Grundelement eines Zusammengesetzten auseinander. Der Anfang der Dinge sei nach der atomistischen Annahme in "physische[n] Punkte [n]" zu finden, die "als Teile des Raumes, durch ihre bloße Aggregation denselben erfüllen"1. Dazu muß jedoch mit Kant bemerkt werden, daß jedes Zusammengesetzte gewiß aus Einfachem besteht, so doch nicht auch der Raum selbst, weil "kein Teil des Raumes einfach ist"2. Auch physische Punkte erklären nicht den Anfang der Dinge als Entstehung von etwas Räumlichem im Raum, weil dabei gerade der Raum selbst als das, was "erfüll[t]"3 wird, schlicht vorausgesetzt werden muß. Physische Punkte sind Punkte im Raum, weshalb sie aber sind, wie sie sind, räumlich also, wird nicht gesagt. Wie sie als räumliche Bestimmtheiten auch noch entstehen bzw. je neu wirklich werden können, darüber kann nur geschwiegen werden. Dieselbe Kritik an der kosmologischen Idee eines Anfanges wiederholt sich, wenn analog dem Anfang der Welt ihrer Räumlichkeit nach danach gefragt wird, ob die Welt einen Anfang in der Zeit bzw. außerhalb der Zeit habe. Ein solch außerzeitlicher Punkt allerdings, von dem aus die Zeit selbst anfangen könnte, hebt sich in der leeren Vorstellung einer Grenze der Zeit auf, welche lediglich in bezug auf etwas zeitlich Vorhandenes entsteht. Solch ein Punkt ist noch weniger als die Entstehimg der Dinge zu erklären, er läßt sich vielmehr nur von ihnen als von etwas in der Zeit Bestehendem bzw. "in" ihr Beharrendem herleiten. Aber auch nicht in der Zeit kann der Anfang der Dinge definiert werden, weil damit die Zeit als etwas objektiv Vorhandenes schlicht vorausgesetzt wäre. Aus der Analyse der Ersten und Zweiten Antinomie der reinen Vernunft, welche in bezug auf die Frage nach dem Anfang der Welt als einer "absoluten Grenze" der Dinge ihrer Zeit und ihrem Raum nach entstehen, ergibt sich also, daß der Begriff "Anfang" sich als unangemessen fur die Erklärung der Wirklichkeit der Dinge erweist. Zu sagen, daß die Dinge von einem bestimmten Punkt aus - mag er zeitlich oder räumlich verstanden sein - anfangen zu sein, bedeutet so viel, wie zu sagen, daß die Dinge sich stets jeweilig zeitlich und räumlich bestimmen lassen. Zeitlich dadurch, daß sie stets "in" einer objektiven Zeit sind, sofem sie gegen subjektive Zeit beharren. Räumlich dadurch, daß sie nicht nur etwas Räumliches in Form eines Zugleich nach innen vorstellen, sondern auch noch ein Zugleich nach 1

A439 B467. A442 B472. 3 Bezüglich des möglichen Einwandes, daß der Raum sich prinzipiell aus den Verhältnissen zwischen den Atomen konstituiert, vgl. A439 B467, wo Kant ausdrücklich auf die Untersuchung der Transzendentalen Ästhetik verweist. Vgl auch hier Kap.II, §9. 2

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IV. Ursprung und Religiosität

außen, eben etwas RaumfÖrmiges im Raum sind. Berücksichtigt man zudem, daß die Kategorie der Relation Substanz - Akzidens nach Kant ausschließlich etwas als etwas bestimmt, beispielsweise etwas als einen Regenbogen oder als etwas Rundes, so wird auch der Grund verständlich, weshalb durch sie die Wirklichkeit der Dinge selbst unberücksichtigt bleiben muß. Denn ein Ding beginnt beispielsweise zwar "dort" rund zu sein, wo es nicht rund ist, um so mehr, als beim Urteil "Dies ist rund" auch noch unausgesprochen "Dies ist rund und nicht nicht-rund" geurteilt wird. Keinesfalls aber läßt sich von seinem Rundsein bzw. seinem NichtNicht-rundsein auf seine Existenz schließen. Und zwar deshalb nicht, weil diese Art der inhaltlich räumlichen Abgrenzung schon in dem Entwurf, d.h. im Vorgestellten vorliegt. Und zeitlich gesehen ist in einem Urteil wie "Dies ist rund" gar nicht behauptet, daß es "jetzt" oder zu einem anderen Zeitpunkt beginnt, rund zu sein, denn beharrlich zu sein, bedeutet zunächst nur gegen das Nacheinander der subjektiven Zeit zu beharren. Von der ausgefeiltesten und sorgfältigsten Analyse der Dinge in all ihrer Formen kommt man infolgedessen nie zum Anfang der Dinge als zu ihrer eigenen Wirklichkeit, so daß diesbezüglich Kant selbst bemerkt, daß man nur "komparativ" in bezug auf Zeit und Raum von einem "absolut ersten Anfange" 1 der Dinge reden kann. Aus dem Gedanken eines nur komparativen ersten Anfangs der Dinge gegen die Zeit und ihrem Raum gegenüber vollzieht Kant den Übergang zur Dritten und Vierten Antinomie. Kant nennt sie deshalb "dynamische"2 Antinomien, weil sie sich aus der Frage nach dem Anfang der Welt durch ihre verursachte Entstehung ergeben. Die Fragen, aus denen sie sich ergeben, betreffen nicht einen Anfang als einen "mathematischen" Punkt qua Grenze, von dem aus die Dinge zu sein anfangen, sondern einen "dynamischen" Punkt qua Ursache der Dinge, welche sie in Gang gesetzt hat. Besteht die Welt aus einem einheitlichen Inbegriff von zusammenstehend kausalgeregelten Dingen, so stellt sich doch die Frage, ob sich ihre Entstehung "eine[r] Kausalität durch Freiheit"3 zu verdanken hat oder ob "alles in der Welt lediglich nach Gesetzen der Natur geschieht"4. Anders ausgedrückt bedeutet dies nach der Vierten Antinomie, ob "ihre Ursache ein schlechthin notwendiges Wesen ist"5 oder ob "überall kein schlechthin notwendiges Wesen, weder in der Welt, noch außer der Welt, als ihre Ursache existiert"6. Betrachtet man die Welt als einen einheitlichen Inbegriff von kausalbestimmten Geschehnissen, entsteht zugleich das

1 A450 2 A449 3 A444 4 A445 5 A452 6

B478. B477. B472. B473. B480. A453 B481.

2. Der Anfang als Scheinlösung

des Ursprungs der Dinge

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Problem, für das Ganze der Folge einen Anfang qua Ursache zu finden. Dies fuhrt jedoch analog dem Problem der Bestimmung eines uranfänglichen Anfangs der Dinge der Zeit und dem Raum nach zu einem unendlichen regressus. Denn folgt eine Wirkung aus einer Ursache, so kann die Ursache selbst wiederum nichts als die Wirkung einer vorhergehenden Ursache sein, so daß aber eine Reihenfolge von Geschehnissen, wie weit sie auch reichen mag, immer selbst noch einmal bewirkt ist. Daß die Dinge in ihrer Totalität "aus" einer Reihe von Geschehnissen bestehen, erklärt aber längst noch nicht, wie bzw. "wodurch" ihre Kausaldeterminiertheit entsteht. Aus diesem Grund schließt Kant auf die Unmöglichkeit, "[a]us bloßer Natur [...] einen ersten Anfang begreiflich zu machen"1. Die entgegengesetzte Möglichkeit allerdings, eine bewirkende erste Ursache jenseits des Ganzen anzunehmen, welche die Reihe von Geschehnissen anfangen ließe, erweist sich ebenfalls als problematisch. Denn sie müßte außerhalb des Ganzen dennoch das Ganze der Geschehnisse bewirken. Daß die Dinge als in sich komplexe Einheit von Geschehnissen "anfangen zu handeln"2 müssen, kann nicht ausgehend von einem ersten uranfanglichen Etwas, wodurch etwas Anderes in Bewegung gesetzt wird, erklärt werden. In einer kurzen Anmerkung in der Vierten Antinomie spitzt Kant das Problem des Anfangs der Dinge ihrer Dynamik nach bis zum äußersten zu. Er schreibt: "Das Wort: Anfangen, wird in zwiefacher Bedeutung genommen. Die erste ist Aktiv, da die Ursache eine Reihe von Zuständen als ihre Wirkung anfängt (infit.). Die zweite passiv, da die Kausalität in der Ursache selbst anhebt (fit ). Ich schließe hier aus der ersteren auf die letzte"3. Bemerkt man dazu, daß der Ausdruck "passiv" nur auf die Grammatik bezogen ist, der Sache nach aber vielmehr auf die höchste Aktivität einer Kausalität in der Ursache selbst hinweist4, wird deutlich, wie Kant den Schein des Wortes "Anfangen" hinsichtlich des Problems der Entstehung der Dinge in der ersten Bedeutung sieht. Denn die erste Bedeutung verweist auf den Anfang als die bloße Bestimmung eines Punktes, von dem aus etwas in dem Sinne zu sein anfangt, daß es allererst durch etwas Anderes in Gang gesetzt wird. Die Entstehimg der Dinge verweist hingegen auf eine Kausalität, welche "in der Ursache selbst anhebet"5: Also weist das Wort "Anfang" qua Entstehung weniger auf etwas, das in der Bewegung etwas Anderes setzt, als vielmehr auf die Bewegung selbst hin. Der Anfang der Dinge qua ihrer Entstehung muß demzufolge in den Dingen selbst gesucht werden, soweit sie als Natur wirklich werden.

1 2 3 4 5

A450 B478. A455 B483. A455 B483 Kursiv von mir. Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999, Bd.II, Teil.l, S. 94ff. A455 B483 Kursiv von mir.

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IV. Ursprung und Religiosität

Weniger als entstandene zu sein, entstehen sie von selbst je neu faktisch als das, was sie sind: ein aus einem Entstehen sich je neu vollziehendes Bestehendes. Hierbei stößt sich aber Kant an der Newtonschen Theorie der Natur, die jede Form von Spontaneität der Natur selbst ausschließt, so daß er, was unbestreitbar ist, aufgrund des physikalischen Wissens seiner Zeit nie bis zum letzten das Problem des Anfangs der Dinge als eines solchen ihrer Faktizität betrachten konnte. Er sieht sich sogar gezwungen, eine Hinterwelt der Freiheit, welche die Dinge in ihren Geschehnissen bewirkt, zu thematisieren, was eine hyperphysische Erklärung des Anfangs der Welt1 zur Folge hat. Nichtsdestotrotz bleibt sich Kant der Spannung zwischen der Notwendigkeit, den Anfang der Dinge qua ihrer Entstehung als "Bewegung" der Natur zu verstehen, ohne dies freilich aus dem physikalischen Wissen seiner Zeit begründen zu können, völlig bewußt. In den Antinomien fragt er sich nämlich, ob "jede Wirkung in der Welt entweder aus Natur oder aus Freiheit entspringen müsse, oder ob nicht vielmehr" aus beiden "zugleich"1. Obwohl Kant nie die Wende von dem "Anfang" der Welt hin zu ihrer Entstehung als ihrer Faktizität als Spontaneität der Dinge selbst vollzieht, zieht er doch ausdrücklich die Möglichkeit einer Entstehung durch das Zusammenwirken von Freiheit und Kausalität in Betracht. Vor allem in den Prolegomena berücksichtigt Kant noch einmal das Problem des Anfangs der Dinge qua ihrer Entstehung und er schlägt einen neuen Weg ein, ohne dabei allerdings diesen neuen Versuch bis zur letzten Konsequenz durchzufuhren. Im Anschluß an die Betrachtungen über Kausalität und Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft bemerkt er, daß "die Bestimmung der Ursache zur Kausalität auch etwas sein muß, was sich ereignet oder geschieht·, die Ursache muß angefangen haben zu handeln"3. Einerseits knüpft der Gedanke einer Ursache, welche von selbst aus "sich ereignet oder geschieht"4, gewiß an die Anmerkung der Kritik der reinen Vernunft hinsichtlich jener Art von Kausalität an, die "in der Ursache selbst anhebt"5. Andererseits aber an den Gedanken, daß die Ursache zu handeln "angefangen haben" muß, was wiederum unmittelbar auf die unausweichliche Notwendigkeit hinweist, eine hyperphysische Annahme in Kauf zu nehmen, um solch eine Spontaneität der Natur rechtfertigen zu können. Doch an diesem Punkt schlägt er eine Unterscheidung vor, um eben die Frage nach der Entstehung der Dinge von jeder hyperphysischen Erklärung zu befreien, ohne allerdings auf eine materialistische Erklärungsart rekurrieren zu wollen. 1

Vgl. dazu u.a. A549 B577. A536 B564. 3 Ak. Bd.4: S.343 Kursiv von mir. "Ebd. 5 A455 B483 Kursiv von mir. 2

2. Der Anfang als Scheinlösung des Ursprungs der Dinge

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Er differenziert hinsichtlich der Entstehung der Dinge zwischen Grenze und Schrankelateinisch Terminus und Limes1. "Grenzen (bei ausgedehnten Wesen) setzen immer einen Raum voraus, der außerhalb einem gewissen bestimmten Platze angetroffen wird und ihn einschließt; Schranken bedürfen dergleichen nicht, sofern sie bloße Verneinungen, die eine Größe affizieren, sofern sie nicht absolute Vollständigkeit hat"3. Aus dieser Differenzierung schließt Kant auf die folgende Bemerkung: "Unsere Vernunft aber sieht gleichsam um sich einen Raum für die Erkenntnis der Dinge an sich selbst, ob sie gleichsam von ihnen niemals bestimmte Begriffe haben kann und nur auf Erscheinungen eingeschränkt ist. Solange die Erkenntnis der Vernunft gleichartig ist, lassen sich von ihr keine bestimmte Grenzen denken. In der Mathematik und Naturwissenschaft erkennt die menschliche Vernunft zwar Schranken, aber keine Grenzen, d.i. zwar, daß etwas außer ihr liege, wohin sie niemals gelangen kann, aber nicht, daß sie selbst in ihrem inneren Fortgange irgendwo vollendet sein werde"4. Nach Kant steht man also in zweifacher Hinsicht vor dem Problem der Entstehung der Dinge: Einerseits ist die Naturwissenschaft durch eine Schranke eingeschränkt, andererseits setzt sich die Vernunft in Form von Wissenschaft der Reflexion mit einer Grenze auseinander. Die Schranken der Naturwissenschaft ergeben sich daraus, daß diese nicht zur absoluten "Vollständigkeit"5 dessen gelangen kann, wonach sie fragt, nämlich nach der empirischen Entstehung der Dinge. Die Aufgabe der Wissenschaft beschränkt sich auf die Erscheinungsformen der Natur, deren Existenz als solche vorausgesetzt wird. Bezüglich der Frage nach dem Anfang der Dinge als nach ihrer Entstehung wird somit die Naturwissenschaft Physik gefordert, die Möglichkeit des Anfangs der Dinge als dem ihres Entstehens innerhalb der Natur verständlich zu machen. Und die heutige Physik expliziert diese Entstehung als eine Werdung6, die sich innerhalb der Natur selbst als eines einheitlichen Komplexes eines aus Entstehen sich selbst ermöglichenden Bestehens vollzieht, ohne sich auf irgendwelche hyperphysische Annahmen stützen zu müssen. Die Dinge verdanken also in dem besagten Sinne ihren Anfang ihrer eigenen Werdung. Denn die Natur zeigt sich in all ihren Formen als Selbstträger ihres je neu aus sich selbst heraus sich ereignenden Werdens. 1 Für ausfuhrlichere Angaben über die Differenz zwischen Grenze und Schranken vgl. Chieregin, Franco La metaflsica come scienza ed esperienza del limite. Relazione simbolica ed autodeterminazione pratica secondo Kant. In: »Verifiche«, XVII (1988), 81 -106. 2 Für die entsprechende lateinische Terminologie vgl. Ak. Bd.27, Teil.l: S.644. 3 Ak. Bd.4: S.352 Kursiv von mir. 4 Ebd. Kursiv von mir. 5 Ebd. 6 Bezüglich des Begriffes „Anfang" als Werdung vgl. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999, Bd.II, Teil.l, S.209 f.

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IV. Ursprung und Religiosität

Aus diesen Prämissen folgt weiter, daß die Frage nach dem Anfang der Dinge in jene ihrer Anfangslosigkeit einmündet1. Denn ermöglicht eine empirische Werdung das Sosein der Dinge, wie sie faktisch sind, kann ihr Anfang nichts anderem als ihrem sich immerwährend je neu Ereignen entsprechen. Die Anfangslosigkeit der Entstehung der Dinge läßt sich letztlich aus der Selbstgenügsamkeit der Natur für die Erklärung der Realität in all ihren Erscheinungsformen ableiten, so daß man gemäß der heutigen Physik sagen muß, daß die Dinge "in sich selbst" entstehen, analog einem Prozeß von Selbstentstehung durch eine autonome Wechselwirkung von Energie und Ding selbst. Selbst wenn die Physik auch durch eine vollständige und somit schrankenlose Erklärung die Werdung der Natur erschöpfend erklären würde, so hätte sie es jedoch nicht mit einer Grenze im Kantischen Sinne zu tun. Denn sie beschäftigt sich lediglich mit dem Anfang der Dinge qua ihrer Entstehung in Form einer empirisch höchst komplexen Werdung der Dinge, nicht aber mit ihrer Entstehung für das Subjekt und ihrem je neu Wirklich-werden für es. Die Wirklichkeit der Dinge bestimmt somit nach Kant gerade eine "Grenze" und keine "Schranke", "wohin [die Naturwissenschaft] niemals gelangen kann"2. Denn um auf eine solche Grenze auch nur stoßen zu können, bedarf es einer bestimmten Art von Erkenntnis: Der Reflexion nämlich, durch die allein über die Werdung der Dinge im Sinne des Anfangs bzw., wie gezeigt, in ihrer Anfangslosigkeit hinaus auch noch nach dem Ursprung ihres Daseins für das Subjekt gefragt wird. Erst dadurch gelangt die Vernunft zu einer Grenze: Jene der "Erkenntnis der Dinge an sich selbst" bzw. ihrer Wirklichkeit nach betrachtet, "ob sie gleichsam von ihnen niemals bestimmte Begriffe haben kann"3. Aus dem zuletzt Entwickelten läßt sich also in aller Deutlichkeit verstehen, inwieweit wir von den Dingen an sich selbst bzw. ihrer Wirklichkeit nach überhaupt etwas wissen: Wir wissen von ihnen, daß sie ein Geschenk der Empirie sind, und zwar erkennen wir per Reflexion sie selbst hinsichtlich ihrer Wirklichkeit, so daß konsequenterweise die Frage nach ihrem Anfang im Sinne ihrer Werdung nicht äquivalent mit der Frage nach dem Ursprung ihrer Existenz ist. Und darüber hinaus, daß eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Existenz der Dinge dazu verurteilt ist, zu einer Scheinlösung zu werden, sofern sie sich auf eine hyperphysische Erklärung der Werdung der Dinge stützt. Aus dem Unterschied von "Schranke" und "Grenze" folgt somit eine wichtige Differenzierung innerhalb der Frage nach der Entstehung der Dinge, aus der sich 1 Bezüglich des Begriffes der Anfangslosigkeit der Welt nach Kant in einer genauen Abgrenzung zu dem analogen Begriff der Anfangslosigkeit nach Thomas von Aquin vgl. Antweiler, Anton Die Anfangslosigkeit der Welt nach Thomas von Aquin und Kant. Trier 1961, S. 107-127 und 141-151. 2 Ak. Bd.4: S.352 Kursiv von mir. 3 Ebd.

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zugleich verstehen läßt, inwiefern solch eine Frage den Keim eines religiösen Denkens in sich birgt bzw. nicht in sich birgt. Soweit die Entstehung der Dinge jene Bewegung bzw. Werdung im Sinne einer in Wechselwirkung mit dem Objekt agierenden Energie bzw. Form angeht, läßt sich auf keinen Fall von einer "göttlichen" Entstehung der Dinge reden. Wird aber solch eine Werdimg an sich selbst bzw. ihrer Existenz nach betrachtet, so ergibt sich die Notwendigkeit, sie als ein Geschenk für uns anzusehen. Dadurch wird nämlich über den bloßen Anfang bzw. über die empirische Anfangslosigkeit der Welt hinaus nach dem Grund bzw. dem Ursprung des Daseins gefragt, so daß die so gestellte Frage nach dem Ursprung der Existenz der Dinge bzw. nach der Existenz der Dinge qua Geschenk der Empirizität auch noch den Keim eines religiösen Gedankens enthält. Betrifft aber die Frage nach dem Ursprung der Existenz der Dinge nicht ihren Anfang als den, der er ist, nämlich Anfangslosigkeit, so muß sie auf eine eigentümliche Weise die Entstehung der Dinge angehen. Und tatsächlich geht sie auf eine besondere Art die Entstehung der Dinge an, denn die Frage nach dem Ursprung ihrer Existenz spielt sich sozusagen "dazwischen" ab1: nämlich, zwischen dem Subjekt als einem Fragenden und der Entstehung der Dinge als einer Gabe für es selbst. Kant definiert des weiteren in der Kritik der reinen Vernunft die Grenze als das, was "nicht bloß Unwissenheit an einem oder anderen Teil, sondern in Ansehung aller möglichen Fragen von einer gewissen Art"2 bestimmt. Fragt man sich, von welcher Art die Fragen sein müssen, die auf einer absoluter Unwissenheit beruhen, so kann es sich aus dem Gesagten dabei ausschließlich um Fragen nach dem Ursprung bzw. dem Grund der Existenz der Dinge für das Subjekt handeln, denn die Unwissenheit ist bezüglich einer Erkenntnis, welche beansprucht, die Faktizität der Dinge begreiflich zu machen, eine absolute. Wenn die Unwissenheit um die Dinge ihrer Existenz nach betrachtet als eine absolute gilt, kann es nur bedeuten, um auf die Frage nach dem Ursprung des Daseins der Dinge einzugehen, daß man auf solch eine eigenartige Unwissenheit zu reflektieren hat, indem man allerdings "auf der Grenze alles erlaubten Vernunftgebrauchs"3 stehenbleibt. Denn die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung läßt sich nur diesseits der "Grenzlinie"4 zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen finden, welche die Dinge selbst angeht, und zwar als Existierende für das Subjekt. Aus der bisherigen Untersuchung über die Reflexion auf die Faktizität der Dinge als dem einzig möglichen Ausgangspunkt eines religiösen Denkens zeigt sich, daß sich der Kantische Ansatz von jedem Dogmatismus und jeder Art Materialis1

Dazu ausführlicher. Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999, Bd.II, Teil.l, S.209 f. A761 B789. 3 Ak. Bd.4: S.356. 4 Vgl. dazu A760 B780. 2

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IV. Ursprung und Religiosität

mus abgrenzt. Denn wenn der Ursprung des Daseins der Dinge auf keine hyperphysische Ursache der Dinge verweist, so erhebt sich auch nicht die Frage nach ihrer Entstehung in ihrer Empirizität, und zwar deshalb nicht, weil dieselbe Empirizität zunächst Empirizität für ein Subjekt ist bzw. sich darüber hinaus auch noch als Gabe für dieses zeigt, so daß es von den Dingen ausgehend zur Notwendigkeit geführt wird, sie selbst anders zu betrachten In den Prolegomena expliziert Kant besser als anderswo die Bedeutung dieser "anderen" Betrachtung der Dinge hinsichtlich ihrer Entstehung, welche sich nicht in dem Rahmen bzw. in den Schranken einer empirischen Betrachtung erklären läßt. Hier weist er nämlich auf eine Analogie hin, mit deren Hilfe zu verdeutlichen ist, inwiefern man ausgehend von der Entstehung der Dinge im Sinne empirischer Geschehnisse zu einer bestimmten Betrachtungsweise ihrer Existenz gelangen kann. In einer Fußnote schreibt Kant, daß "die Kausalität der obersten Ursache dasjenige ist, was menschliche Vernunft in Ansehung ihrer Kunstwerke ist"2. Dabei muß von vornherein bemerkt werden, daß Kant mit einer solchen Analogie Abstand von der geläufigen Analogie nimmt, wonach die Welt dadurch, daß sie angeblich das "Werk eines höchsten Verstandes und Willens sei"3, auch noch im Verhältnis zu ihrem Urheber stünde, sowie sich beispielsweise "eine Uhr, ein Schiff, ein Regiment zum Künstler, Baumeister, Befehlshaber"4 verhalten. Wenn z.B. das Verhältnis zwischen den Gliedern "Schiff - Baumeister" sich als das Verhältnis zwischen einem Produkt und seinem Urheber als seinem Hersteller erklären läßt, so gilt dies nach Kant jedoch nicht für das Verhältnis zwischen der menschlichen Vernunft und ihren Kunstwerken. Und zwar deshalb nicht, weil das Kunstwerk weniger das Produkt einer absichtlichen Zweckmäßigkeit, wodurch eine Umwandlung eines Wirklichen in ein anderes Wirkliches durch Veränderung im Hinblick auf irgendeine Brauchbarkeit vollzogen wird, als vielmehr ein schönes Werk ist: D.h. also kein Produkt im engen Sinne, sondern ein Werk, dessen Herstellung auf keinen Fall irgendeiner Brauchbarkeit zugeordnet werden kann. Es handelt sich beim Kunstwerk um ein Geschenk. Aufgrund seiner Schönheit läßt sich sogar sagen, daß es nicht anders hätte sein können, als es ist; dabei geht es letztlich um eine freie Gabe. Wendet man des weiteren den Unterschied zwischen einer Grenze und einer Schranke auf das Kunstwerk an, um seine Grenze als Kunstwerk gemäß seinem ' Aus dem zuletzt Gesagten läßt sich auch noch zeigen, daß vom Kantischen transzendentalen Ausgangspunkt der Unterschied zwischen Theologie und Philosophie nicht in dem liegt, worüber sie reden, sondern in dem, was sie jeweils darüber aussagen. Ist in diesem Sinne die Philosophie eine nichtempirische Wissenschaft des Empirischen, soll die Theologie als eine nichtempirische Wissenschaft des Nichtempirischen auftreten. 2 Ak. Bd.4: S.360. 3 Ak. Bd.4: S.357. 4 Ebd.

2. Der Anfang als Scheinlösung des Ursprungs der Dinge

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Status eines nicht zwecks irgendeiner Brauchbarkeit intendierten Artefakts herauszustellen, zeigt sich, daß ein Kunstwerk als Kunstwerk gewiß nicht von einem bestimmten Punkt ab - sei er ein Zeit- oder auch ein Raumpunkt - zu sein "anfangt", von dem aus es sich empirisch feststellen läßt, ob es dabei um ein Artefakt geht, welches sich in Abgrenzung zu einem brauchbaren Produkt als Kunstwerk definieren läßt.1 Denn zum Kunstwerk wird ein Artefakt vielmehr nur dann, wenn es sich von sich aus einem Subjekt als Kunstwerk zeigt bzw. auf der Basis einer eigentümlichen Spontaneität des Subjekts2 je neu sich als Kunstwerk gibt bzw. zum Kunstwerk verwirklicht wird, so daß von einer Grenze des Kunstwerks als eines Ursprungs nur in bezug auf seine Verwirklichung bzw. auf sein Sich-freiGeben fiir das Subjekt gesprochen werden kann, wobei gerade unter dem "für" keine willenlose Rezeptivität, sondern die höchste subjektive Aktivität verstanden werden muß. Wenn nach Kant Gott der Welt gegenüber in demselben Verhältnis wie die Vernunft zu ihren Kunstwerken steht, so muß die "göttliche" Aktivität es ermöglichen, daß die Dinge sich so ereignen, wie sie auch faktisch stattfinden: aus sich selbst heraus, genau so, wie die Vernunft als ästhetische Spontaneität im Kunstwerk die Dinge in ihrem Geschenk-sein sehen läßt, und zwar aus dem Kunstwerk heraus: Es hätte nämlich aufgrund seiner Schönheit nicht anders sein können, als es ist. Die besagte Analogie, daß die Dinge von sich aus geschehen können, um sich dadurch fiir das Subjekt als ein Geschenk zu zeigen, hat notwendigerweise zur Folge, daß sich Gott in seinem Akt, die Welt zu schaffen, sich ihr zugleich entzieht, damit das Wunder der Existenz der Dinge sich für das Subjekt erneuern kann. Ausgehend davon läßt sich das Verhältnis Gott - Welt vorläufig folgendermaßen explizieren: Dadurch, daß die Dinge sich aus sich selbst heraus ereignen, muß die Welt für sich als gottlos betrachtet werden; man darf die Welt nicht zum Gott machen. Doch "göttlich" wird die Welt fiir das Subjekt dadurch, daß die Entstehung der Dinge hinsichtlich ihrer Existenz als ein sich immerwährend erneuerndes Wunder zwar nicht als "göttlich" betrachtet werden kann, wohl aber so, als ob die Welt ein Kunstwerk Gottes sei3. Von dieser vorläufigen Prämisse ausgehend soll nun das Kantische religiöse Verständnis der Welt untersucht werden, welches sich daraus ergibt, daß Gott als hyperphysische Ursache die Welt endgültig verlassen hat. 1

Vgl. hierzu Ak. Bd. 4: S. 359/360. Fiir eine ausfuhrliche Darstellung der Kantischen Theorie des Schönen vgl. Prauss, Gerold Kants Theorie der ästhetischen Einstellung. In: Dialectica, 35, 1981, S.265-281. Der Autor erklärt diesbezüglich, daß die ästhetische Beziehung eines schönen Objekts zu einem Subjekt nach dem Kantischen Ansatz nur aus einer höchsten Aktivität des Subjekts erfolgen kann, und konsequenterweise, daß die ästhetische Einstellung keineswegs sich in einer willenlos-passiven Kontemplation des Objektes auflöst. 3 Vgl. dazu Ak. Bd.4: S.359-360. 2

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IV. Ursprung und Religiosität

3. Faktizität der Dinge und menschliche Freiheit: Natur-Mensch als Urphänomen der "Gottesoffenbarung" Aus der bisherigen Untersuchung über das Kantische Verständnis des überlieferten Begriffs des "Anfangs der Welt" hat sich ergeben, daß jede Lösung, welche die Entstehung der Dinge auf einen Punkt zurückfuhren will, von dem aus die Welt angefangen hätte zu sein, als Scheinlösung des Problems der Wirklichkeit der Dinge abzulehnen ist. Kant gelangt zwar nur zur negativen Abgrenzung dessen, was mit dem Ausdruck "Anfang" in bezug auf die Entstehung der Dinge nicht gemeint werden darf: Daß der Anfang der Dinge also weder einem Punkt in dem Sinne einer die Dinge bestimmenden Urform entspricht, welche außerhalb derselben sie selbst auch noch räumlich umgrenzt, noch einem Punkt als causa prima, welcher die zeitliche Abfolge von Geschehnissen der Natur in Gang gesetzt hat, und ebensowenig einem physikalischen Punkt in Form irgendeines ursprünglichen atomaren Moleküls. Von dieser zwar nur negativen Ablehnung Kants des Anfangs der Welt wird man dennoch auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, die Entstehung der Dinge im Rahmen ihrer einheitlich-komplexen Struktur eines durch ein Entstehen hervorgerufenen Bestehens zu berücksichtigen. Betrachtet man die Dinge in der besagten einheitlichen Komplexität, kann ihr eigentlicher "Anfang" in nichts Anderem als in ihrem sich je neu selbst vollziehenden Bestehen bzw. in ihrem eigenen anfangslosen Werden liegen, welches die heutige Physik als Wechselwirkung von Materie und Energie erklärt, die Kant aber aufgrund des physikalischen Wissens seiner Zeit noch inizugänglich bleiben mußte. Die Newtonsche deterministische Theorie der Natur, auf die allein Kant sich stützen konnte, schließt nämlich jede Form von Spontaneität der Natur aus, so daß eine Entstehung aufgrund einer in den Dingen selbst angelegten Fähigkeit, von sich aus zu geschehen, d.h. aufgrund ihrer eigenen Faktizität, wie dies die heutige Physik zu sagen pflegt, für Kant nicht einmal denkbar war. So unverständlich auch Kant die Entstehung "in" der Natur selbst als Möglichkeit ihrer spontanen Selbstgestaltung qua eines sich je neu durch empirisches Entstehen vollziehenden bzw. werdenden Bestehens tatsächlich bleibt, so verständlich ist es ihm allerdings, daß jeder Versuch, den Anfang der Welt durch hyperphysische Mittel zu bewältigen, als eine metaphysisch eingebildete Lösung zu gelten hat. Ebenso eingebildet ist ihm gemäß eine materialistisch-skeptische Lösung, die die Dinge auf ihre bloße Empirie gemäß dem Prinzip eines MaterialismusMonismus reduziert, weil dann sowohl ihre Faktizität wie auch ihr damit verbundener Geschenkcharakter unvermeidlich verkannt werden. Auch wenn die heutige Physik in selbstverständlicher Weise davon ausgeht, daß die Entstehung der Dinge im Sinne ihres Anfangs in einem empirisch-

3. Faklizität der Dinge und menschliche Freiheit

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naturalen Werden zu gründen ist, ist damit aber noch auch längst nicht das Problem ihrer Existenz für das Subjekt geklärt. Zeigt sich die Natur in ihrer Spontaneität in Form eines Werdens hinsichtlich ihrer Entstehung selbstgenügsam, so geht ihre Wirklichkeit jedoch über ihre eigene empirische Werdung, die nach Kant stets nur als eine Schranke gilt, hinaus, um sich als die eigentliche unüberwindbare Grenze ihres Ursprungs für das Subjekt zu erweisen. Denn die eigentliche Grenze der Dinge besteht nicht in ihrer je neu sich empirisch vollziehenden Werdimg, sondern vielmehr in ihrem je neuen Wirklich-werden, in dem nach Kant schon immer Subjektivität am Werk ist. Zur eigentlichen Frage nach dem Ursprung wird die Frage nach der Entstehimg der Dinge bzw. nach ihrer empirisch-naturalen Werdung nur dann, wenn neben ihrer Empirie zusätzlich nach dem Grund bzw. dem Sinn dieser ihrer Werdung für das Subjekt gefragt wird. Die Wirklichkeit der Dinge geht demzufolge über ihre Werdung hinaus, denn sie bezeichnet den Gabe- bzw. Geschenkcharakter der Empirie für das Subjekt, der sich jeder empirisch-bestimmten Begrifflichkeit entzieht. Die Frage nach dem Ursprung der Existenz der Dinge betrifft nicht allein die rein empirische Entstehung der Dinge, sondern mehr noch ihre Entstehung für das Subjekt, so daß sich die Frage nach dem Ursprung der Existenz der Dinge gleichsam in einem "dazwischen", d.h. zwischen dem Subjekt als Fragendem und den Dingen in ihrem Geschenk-sein abspielt. Setzt also die Wirklichkeit der Dinge eine in dem besagten Sinne unüberwindbare Grenze für das Subjekt, geht es des weiteren nach Kant darum, auf sie als auf das "Unbekannte, das [man] also hierdurch zwar nicht nach dem, was es an sich selbst ist, aber nach dem, was es für [das Subjekt] ist, nämlich in Ansehung der Welt, davon [es] ein Teil [ist]"1, einzugehen. Aufgrund des Kantischen Ansatzes der Unüberschreitbarkeit der Erfahrung auf eine Ideenwelt hin kann mit dem schlechthin "Unbekannte[n]"2 nur die Existenz der Dinge gemeint sein. Auch wenn, so Kant, "die Natur ganz aufgedeckt"3 würde, so wäre es dennoch illusorisch zu denken, damit wäre auch jeder Zweifel bezüglich des Ursprungs des Daseins der Dinge getilgt. Denn die Frage, ob man "im Räume oder in der Zeit [...] an nichts Unbedingtes kommt, um auszumachen, ob das Unbedingte in einem absoluten Anfange der Synthesis, oder einer absoluten Totalität der Reihe, ohne allen Anfang zu setzen sei [...]", ist "in empirischer Bedeutung jederzeit nur komparativ"4 zu beantworten. Komparativ deshalb, weil der Anfang der Dinge als ein räumlicher und zeitlicher sich eigentlich nur aus der Bestimmung von etwas Räumlichem im Raum und damit als von etwas gegen das Subjekt qua Zeit Beharrlichem ableiten läßt, ohne 1 2 3 4

Ak. Bd.4: S.357. Ebd. A482 B510. A482 B 5 1 0 A 4 8 3 B511.

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IV. Ursprung und Religiosität

daß dabei die Existenz der Dinge in ihrer eigenen Existenz auch nur in Betracht gezogen würde. Die Frage nach der Entstehung der Dinge wird demzufolge erst dann zu einer relevanten Frage, wenn sie sich der Existenz der Dinge überhaupt bzw. ihrer eigenen Existenz für das Subjekt zuwendet, so daß letztlich nur diese Existenz der Dinge die eigentliche Grenze für die Vernunft ausmacht. Auf das Unbekannte einzugehen, kann unter diesen Prämissen nur bedeuten, es als solches bzw. an sich selbst qua Unbekanntes gelten zu lassen, um sich dann nach der Bedeutung dieser Unbekanntheit der Existenz der Dinge für das Subjekt selbst zu fragen. Von dieser Perspektive aus gilt es nun, die Kantische Kritik an den sogenannten Gottesbeweisen zu analysieren. Mit Hilfe des Gottesbeweises hat man nach Kant stets versucht, "dessen Existenz zu beweisen", man hat aber dabei vergessen zu fragen, "ob und wie man sich ein Ding von dieser Art auch nur denken"1 kann, d.h. ob und wie man eigentlich im Ausgang von der Faktizität der Dinge zur Frage nach Gott als zur Frage nach dem Ursprung bzw. dem Sinn der Existenz all dessen, was ist, fur das Subjekt selbst gelangen kann. In den Gottesbeweisen wurde also gerade die Quelle nicht untersucht, aus der allein des Menschen Frage nach Gott entsteht. Diese Frage erwacht nicht aus einer absoluten Unwissenheit, sondern aus einer sehr wohl bestimmten: nämlich aus der Unwissenheit um den Ursprung der Existenz der Dinge2. Diese Unwissenheit um ihren Ursprung aber in einem Anfang der Welt aufzuheben, indem Gott als hyperphysische Ursache der Welt in Anspruch genommen wird, bedeutet für Kant gerade den Schein, den der Ausdruck "Anfang" in sich birgt, und diesem Schein gilt es nachzugehen. Das Problem der Unwissenheit um den Ursprung des Daseins der Dinge in jenes ihres Anfangs zu verschieben, macht nämlich den Grundgedanken jedes dogmatischen Wissens um Gott aus. Man geht also von der Unwissenheit alles dessen aus, was über die Erfahrung hinausliegt, um dann auf ein daraus abgeleitetes unbekanntes Ding zu schließen. Wenn gemäß dem dogmatischen Verfahren die Unwissenheit alles, was über die Erfahrung hinausliegt, als Grund, durch den die Existenz eines unbekannten transzendenten Ding sich beweisen ließe, wird gelten lassen, so ergibt sich aber daraus, daß "das Dasein in dem Begriffe von einem möglichen"3 Unbekannten

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A592 B620. Dazu bemerkt zutreffend D. Henrich, daß die Kantische Kritik an den Gottesbeweisen aus der von Kant entdeckten unauflösbaren Abhängigkeit des Gottesbegriffes von dem Weltbegriff erfolgt. Vgl. Henrich Dieter, Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit. Tübingen 1960. S.137-188. 3 A596 B624 A597 B625. 2

3. Faktizität der Dinge und menschliche Freiheit

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liege bzw. "der Gedanke" einer solchen unbekannten Transzendenz "das Ding selber sei"1. Auf dem dogmatischen Argumentationsverfahren beruht allerdings die Möglichkeit einer skeptisch-materialistischen Erwiderung eines Gegenbeweises für die Nichtexistenz Gottes: Da der Beweis der Existenz dieses einen unbekannten transzendenten Dinges aus dem dogmatischen Blickwinkel die Wirklichkeit Gottes allein aus seinem Begriff ableitet, so läßt es sich auf umgekehrte Weise dennoch mit dem gleichen Recht annehmen, daß das, was man Gott nennt, allein die Frucht einer psychologischen Suggestion ist, welche aus der Unmöglichkeit entsteht, über die Grenze der Erfahrung hinauszugehen. Der skeptische Einwand nützt nämlich genau das aus, worauf sich der dogmatische Beweis gründet, nämlich die Unmöglichkeit, über die Erfahrung hinauszugehen. Dem Argument für die Existenz von einem transzendenten unbekannten Ding, das dessen Existenz allein aus dem Begriffe ableitet, ist leicht zu entgegnen, daß es auch nur der Begriff des Unbekannten sein könne. So wie also das dogmatische Argument sich auf eine bestimmte Unwissenheit von etwas über der Erfahrung Liegendem beruft, um auf die Existenz jenes unbekannten Dings zu schließen, so macht die skeptische Erwiderung aus dieser Unmöglichkeit, über die Grenze der Erfahrung hinauszugehen, eine Ursache für den Gedanken von jenem Unbekannten, und zwar als Produkt einer psychologischen Suggestion. Es gilt diese falsche Debatte zu schließen, indem man sich, statt einen Gottesbeweis zu fordern, vielmehr fragt, wo diese Unwissenheit, welche auf beiden Seiten unreflektiert in Anspruch genommen wird, ihren eigentlichen Sitz hat: Folgt solch eine Unwissenheit aus der Natur jenes transzendenten Dings oder aus dessen bloß psychologischer Idee, also aus der Unmöglichkeit der Überwindbarkeit der Grenze der Erfahrung? Nach Kant liegt die eigentliche Antwort darin, daß sie weder aus dem einen noch aus dem anderen Grund herrührt. Denn ist das Unbekannte das, was es zu untersuchen gilt, so kann es sich dabei ausschließlich um eine faktische Unbekanntheit handeln: um die Unwissenheit des Subjekts um den Ursprung der Existenz der Dinge als um deren Sinn für es selbst. Äußerst interessant ist diesbezüglich ein Gedanke aus dem Jahre 1798, den Kant in einem Brief an Garve äußert. Er stellt nämlich fest, daß die Metaphysik im eigentlichen Sinne als eine über die Grenze der Empirie hinausgehende Wissenschaft ihren Ausgangspunkt "nicht" in der "Untersuchung vom Daseyn Gottes" hat. Er schreibt statt dessen, daß "der Punct [...], von dem ich ausgegangen bin, [...] vielmehr die Antinomie der Kritik der reinen Vernunft" ist: "Die Welt hat einen Anfang - : sie hat keinen Anfang ecc. Bis zur vierten: Es ist Freiheit im Menschen, - gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendig1

A597 B625.

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IV. Ursprung und Religiosität

keit"; diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um den Scandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben"1. Der Ausgangspunkt der Metaphysik als nicht-empirischer Wissenschaft wird vom späten Kant noch einmal in enge Beziehung mit der Wirklichkeitsproblematik gestellt, und zwar im Rahmen der Antinomieproblematik, in der ausgehend von den Dingen in ihrer Faktizität gefordert wird, ihre Entstehung als eine innerweltliche zu begreifen, ohne sich dabei in Aporien zu verstricken, d.h. vor allem, ohne dem Skandal eines hyperphysischen "Schlummers" oder einer materialistischen Skepsis nachzugeben. Denn jenseits beider Positionen stellt die Kantische Lösung einen philosophischen Versuch dar, die Transzendenz der menschlichen Erfahrung zugänglich zu machen, soweit sie sich dem Subjekt selbst durch die Frage nach der Faktizität der Dinge erschließen läßt. Losgelöst von einer dogmatischen Haltung wird vom Kantischen Standpunkt aus also auf einen "immanentefn] Gebrauch"2 der Vernunft, d.h. auf einen innerzeitlichen verwiesen, dem gemäß der Ursprung der Existenz der Dinge sich weder aus der Idee eines transzendenten Objekts herleiten läßt, der Beweis seiner Existenz also als eine bloß müßige Beschäftigung betrachtet werden muß, sondern sich vielmehr aus der faktischen Begegnung des Subjekts "mit den Dingen" ergibt, deren Bedeutung jeden ihrer empirischen Begriffe transzendiert. Dem immanenten Gebrauch der Vernunft, auf den Kant verweist, kommt also nicht die Tilgung der Transzendenz zu, sondern vielmehr deren Bewältigung innerhalb der Grenze eines dem Menschen möglichen Fragens, d.h. eines Fragens, das aus seinem Verhältnis zu dem Sinn der Dinge als zu dem Ursprung ihrer Existenz für es selbst erwächst. Um die Antinomie zu vermeiden, muß man also einerseits die Frage nach der Entstehung der Dinge als Frage nach ihrer innerweltlichen Entstehung, d.h. nach ihrem Werden stellen, ohne andererseits allerdings das zu tilgen, was selbst in dem antinomischen Verfahren als eine unüberwindbare Grenze der Vernunft gilt: Die grundsätzliche Unmöglichkeit, nämlich den Grund bzw. den Ursprung des Daseins der Dinge für das Subjekt im Rückgriff auf die Empirie erschließen zu wollen. Das "Woher" der Dinge in ihrem Ursprung entspricht demzufolge weniger ihrem empirischen Anfang als vielmehr ihrem eigenen "Wozu" für das Subjekt, so daß die Unwissenheit bezüglich ihrer Existenz auch noch der Unmöglichkeit zuzuschreiben ist, die Dinge in ihrer Faktizität für das Subjekt als nichts Anderes als ein grundloses bzw. in ihrem Ursprung unbegreifliches Geschenk für sich anzusehen. Die Bedeutung der aufgezeigten Notwendigkeit eines immanenten Gebrauchs der Vernunft und der damit verbundenen Notwendigkeit der Hinwendung zur

1 2

Ak. Bd.12: S.257-258. Ak. Bd.4: S.328.

3. Faktizität der Dinge und menschliche Freiheit

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Frage nach dem Ursprung der Dinge als nach ihrem Wozu-sein für das Subjekt wird von Kant in den Prolegomena weiter expliziert. Hier erklärt Kant sehr deutlich, daß die Frage nach dem "Anfang" der Dinge in dem oben aufgezeigten Sinne keineswegs "die objektive Gültigkeit metaphysischer Urteile, sondern die Naturanlage zu denselben"1 betrifft. Denn zeigt sich für Kant die Antwort auf die Problematik des Anfangs der Welt ihrem überlieferten Verständnis nach als eine Scheinlösung auf die Frage nach dem Ursprung des Daseins der Dinge, so schlägt er selbst den einzig möglichen Weg ein, auf dem die Frage nach dem Ursprung noch als relevant angesehen werden kann: den Weg, welcher zur Notwendigkeit einer Berücksichtigung der Frage nach dem Ursprung der Existenz der Dinge hinsichtlich ihrer eigentümlichen Subjektabhängigkeit bzw. zur Berücksichtigung der subjektiven "Naturanlage" führt. Dieser eingeschlagene Weg muß nach Kant konsequenterweise "außer dem System der Metaphysik in der Anthropologie"2 liegen. Gewiß kann der Ausdruck "Anthropologie" in seinem engeren Sinne, ebenso wie der Ausdruck "Naturanlage" zu der folgenden Mißdeutung des Kantischen Ansatzes führen, daß dieser nämlich die Frage nach dem Ursprung des Daseins der Dinge auf eine bloß psychologische Angelegenheit reduziere, die ihre Rechtfertigung in einer den Dingen gegenüber eigentümlichen Unwissenheit hätte. Ebenso gewiß ist es aber auch, daß dieser Schluß des von Kant eingeschlagenen "anthropologischen" Weges für die Erschließung des Ursprungs der Dinge auf subjektiver Basis nicht aus sich herausführt. Denn die eingeschlagene Hinwendimg zur Anthropologie erfolgt keineswegs mit der Absicht, die Wirklichkeitsproblematik der Dinge ihrer Faktizität nach und als bloßes Naturprodukt betrachtet erschöpfen zu können. Vielmehr läuft die Kantische "philosophisch-anthropologische" Wende darauf hinaus, das in Augenschein zu bringen, was der metaphysische Dogmatismus und der skeptische Materialismus völlig übersehen haben: Daß aus der Tatsache, daß es allein auf den Menschen ankommt, den Dingen überhaupt einen Sinn zuschreiben zu können, die Notwendigkeit folgt, die Existenz all dessen, was ist, als ein Geschenk anerkennen zu müssen und darüber hinaus auch noch als Geschenk gelten zu lassen. Der Kantische anthropologische Ansatz einer Berücksichtigung des Ursprungs der Existenz der Dinge "im " Subjekt ergibt sich somit aus dem internen Zusammenhang von Faktizität der Existenz und Subjektivität. Der interne Zusammenhang von Faktizität und Subjektivität zeigt sich darin, daß sich das Subjekt mittels der Frage nach dem Ursprung der Dinge als nach dem Sinn bzw. dem Grund ihrer Existenz für es selbst im Grunde nach dem Grund seiner eigenen Existenz fragt. Die Reflexion auf die Wirklichkeit der Dinge eröff-

' Ebd. S.362 Kursiv von mir. Ebd. Kursiv von mir.

2

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IV. Ursprung und Religiosität

net insofern die Frage nach dem Ursprung des Subjekts selbst, als die Existenz der Dinge in ihrem Wozu-sein für dieses Subjekt zum eigentlichen Problem geworden ist. Wie entscheidend sich für Kant das Zusammenspiel von Faktizität und Subjektivität im Laufe der Reflexion auf die Frage nach den Dingen erweist, zeigt sich besonders in einer berühmten Stelle der Kritik der reinen Vernunft, mittels derer Kant klar herausstellt, wie die Frage nach dem Ursprung des Daseins der Dinge unlösbar mit der nach dem Sinn ihrer Existenz verbunden ist: "denn es ist nichts, was die Vernunft an dieses Dasein schlechthin bindet"1. Diese Tatsache ernst zu nehmen, kann allerdings nicht bedeuten, nun eine weitere Verschiebung des Problems vorzunehmen, und irgendwelche Hypothesen über die Verständlichkeit bzw. Unverständlichkeit dieses Sinnes der Existenz aufzustellen, würde dies doch nur wiederum zu einer sinnlosen Streitfrage zwischen Materialismus und Dogmatismus fuhren. Die entsprechende Reflexion Kants beginnt folgendermaßen: "Die unbedingte Notwendigkeit, die wir, als den letzten Träger aller Dinge, so unentbehrlich bedürfen, ist der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft" 2 . Die Betonung liegt hier vor allem auf dem Rückbezug auf uns selbst, denn Kant führt seinen Gedankengang wie folgt fort: "Selbst die Ewigkeit [...] macht lange den schwindligen Eindruck nicht auf das Gemüt; denn sie mißt nur die Dauer der Dinge, aber t r ä g t sie nicht"3. Die Frage nach dem Ursprung der Dinge bezieht sich diesem Gedanken gemäß auf den "letzten Träger aller Dinge", und das heißt auf das Subjekt selbst als ein Fragendes. Der Rückbezug auf die Ewigkeit, welche bloß zur Anfangslosigkeit der Dinge hinsichtlich ihrer Entstehung im Sinne ihres empirischen Werdens führt, kann die Wirklichkeit der Dinge für das Subjekt nicht verständlich machen. Denn bei der Ewigkeit geht es lediglich um die Dinge in ihrer Empirizität als eines aus einem immerwährenden Entstehen geschehenden Bestehens. Die Vernunft befindet sich daher in einer Verlegenheit, wenn sie die reine Faktizität der Dinge qua ihrer bloßen Anfangslosigkeit als den letzten Grund ihrer Existenz betrachtet, so wie sie sich in der gleichen Verlegenheit befindet, wenn sie den Träger derjenigen Existenz, dessen sie bedarf, mit irgendwelcher Ursache gleichsetzt, die die Dinge so existieren läßt, wie sie auch faktisch sind. Beide Einstellungen lassen die Frage unbeantwortet, wonach man denn eigentlich fragt, wenn man nach der Existenz der Dinge fragt: "[Wjoher bin ich denn? Hier sinkt alles unter uns [..]"4. Mit dieser letzten Überlegung, die in aller Deutlichkeit den Sinn bzw.

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A618B645. A613 B641 Kursiv von mir. Ebd. "Ebd. 2 3

3. Faktizität der Dinge und menschliche Freiheit

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den Ursprung der Existenz der Dinge fur das Subjekt als den "wahr[en] Abgrund"1 für es selbst skizziert, kehrt man wieder zu dem Punkt zurück, um den sich die Untersuchung über die Grenze der Vernunft als das eigentlich "Unbekannte"2 für das Subjekt und seine damit verbundene Unwissenheit um den Grund alles dessen, was ist, dreht: Zur Faktizität der Dinge in ihrer Existenz als dem unauflösbaren Problem überhaupt für das Subjekt. Inzwischen hat sich jedoch ein weiteres wichtiges Ergebnis gezeigt: Die Frage nach dem Ursprung des Daseins der Dinge erwies sich deshalb als grundlegend für das Subjekt, weil es in ihr in eigentümlicher Weise um das Subjekt selbst geht. Stellt die Existenz der Dinge ein unlösbares Problem für das Subjekt dar, so findet das Subjekt gerade durch diese Unwissenheit um sie im Sinne eines "Unbekannten" für es selbst auf eine eigentümliche Weise sich selbst: nämlich, sich selbst als ein nach seinem eigenen Ursprung Fragendes. Mit der Frage nach dem Ursprung der Existenz der Dinge fragt das Subjekt also zunächst einmal nach seinem eigenen Grund, weil es ein naturales Seiendes unter Seienden ist, so daß vom Kantischen Standpunkt aus das einheitliche Phänomen Mensch - Natur den eigentlichen Kern jeder weiteren Reflexion über den Ursprung des Daseins der Dinge ausmacht. Die Analyse der eigentümlichen Zusammengehörigkeit von Mensch und Natur stellt nämlich gerade die angesprochene "Grenze" dar, auf der es noch Folgendes zu erklären gilt: Wie soll dem, was für das Subjekt immer unbekannt bleiben soll, dem Grund bzw. dem Ursprung des Daseins von allem, was ist, eine spezifische religiöse Bedeutung in Rückbezug auf das Subjekt zugeeignet werden? Analog den Dingen gilt es in bezug auf den Menschen zu bemerken, daß er als ein naturales Wesen unzweifelhaft "aus" Natur besteht, wenngleich er auch nur auf eine eigentümliche Weise "durch" ein "naturales" Entstehen so existiert, wie er je neu ist bzw. wird. Phylo- wie ontogenetisch entsteht er ja stets wieder "aus" Natur3, so daß gewiß seine Entstehung hinsichtlich seines Anfangs in Analogie zu den Dingen als eine anfangslose anzusehen ist. In seinem empirischen Bestehen als einem "durch" ein empirisches Entstehen je neu werdendes Bestehen erweist sich also auch der Mensch samt alles Seienden als eine in sich komplexe Einheit einer Zweiheit: als Natur eben. Doch wie für die Dinge gilt auch für ihn, daß seine Entstehung als ein Naturphänomen nur zur negativen Abgrenzung dessen führt, was seine Existenz ausmacht, so daß es sich dementsprechend viel angemessener dem Subjektwerden qua seiner Zeitwerdung gegenüber lediglich von negativen Schranken des Anfangs der 1

Ebd. Ak. Bd.4: S.357. Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990 f., Bd.I, Teil.l, §12, S.248f., S.253f., S.257, S.259-270; Bd.I, Teil.2, S.930-932, 970f. 2

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IV. Ursprung und Religiosität

Dinge sprechen läßt. Die sich je neu vollziehende Entstehung des Menschen qua seines Körpers bestimmt nur die Basis, aus welcher der Mensch so ist, wie er qua Subjekt je neu wirklich-wird bzw. sich verwirklicht. Durch seine Existenz als seine Verwirklichung auf der Basis des eigenen Körpers geht daher der Mensch über die Schranke seiner bloßen Empirizität hinaus, um wieder zu einer Grenze zu gelangen: zur Grenze des Ursprungs bzw. des Grundes seiner eigenen Existenz als seiner Selbstverwirklichung. Nicht weil der Mensch "aus" Natur besteht, sondern insofern er als ein Naturales (Körper) "durch" sie je neu empirisch wird, muß seine Existenz als eine bloß durch Empirisches verursacht gedacht werden. Denn so unbezweifelbar es ist, daß der Mensch "doch selbst nicht gleichsam sich schafft" 1 , sondern ex aliquo, d.h. aus Natur je neu empirisch entstehend besteht, so unbezweifelbar ist es auch, daß er aufgrund seines Empirisch-werdens auch noch wirklich-wird, und zwar nicht bloß aus Natur, sondern vielmehr auf der Basis der Natur durch sich selbst. Auf die Frage "[WJoher bin ich denn?" 2 mit der Antwort zu begegnen: "Aus Natur qua aus einem empirischen Entstehen" reicht demzufolge nicht aus, denn aus Natur im Sinne des empirischen Entstehens besteht der Mensch ja eigentlich nur qua Körper. Aus der unleugbaren Tatsache, daß die menschliche Existenz sich nur auf der Basis der Existenz des Körpers selbst verwirklicht, läßt sich dem Kantischen Ansatz entsprechend dennoch keineswegs ableiten, daß sie sich als Existenz in der reinen Empirie des Körpers auflöst. Und zwar deshalb nicht, weil die Existenz in ihrem eigenen Wirklich-werden über das empirische Werden des Körpers hinausgeht, dadurch, daß sie sich als Geist bzw. Se/Z«/Verwirklichung aus Natur (causa sui ex aliquo) vollzieht. Wir sind nicht bloßer Körper, sondern wir haben als Geist einen Körper. Die Entstehung des Menschen aus Natur wird daher zu einem Geschenk bzw. einer Gabe der Empirie, soweit sie nicht bloß als eine Erscheinungsform der Natur, sondern vielmehr als eine Art Naturverwirklichung, welche in Form einer Selbstverwirklichung auftritt, betrachtet wird. Phylogenetisch aus der Natur entstehend, tritt der Mensch seiner Ontogenese nach in Form einer Selbstgestaltung durch eine Se/Zwiverwirklichung "aus" dem Anderen hervor bzw. auf Basis von Anderem auf, und dies kann nicht als ein Geschenk der Empirie angesehen werden. Will man also fur die Entstehung des Menschen der Empirizität seines Körpers gemäß einen Anfang finden, muß die empirische Naturwerdung ihrer Faktizität nach betrachtet werden. Wenn man aber über die Naturwerdung hinaus auch noch nach dem Ursprung bzw. dem Grund für das Dasein solch eines Werdens fragen will, muß auf die eigentümliche Kausalität des Subjekts, das auf der Basis des Körpers als causa sui sich selbst verwirklicht, zurückgegangen werden, in welcher

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Ak. Bd.4: S.451. A613 B641.

3. Faktizität der Dinge und menschliche Freiheit

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der menschliche Ursprung seines Daseins im Ganzen in einer Art Leibwerdung enthalten ist, die jedoch zugleich aus der vollkommenen Spontaneität der Subjektivität heraus erfolgt. Ontogenetisch gesehen ist daher der Ursprung des Menschen nicht als ein bloßes Produkt der Natur anzusehen, sondern er liegt "in" der Natur nur insofern, als diese die Form einer Verwirklichung annimmt, die sich von sich aus, also spontan und ohne einen äußeren Grund vollziehen kann: Es geht also um den Ursprung als Spontaneität, die von sich aus bzw. durch sich selbst und nur aufgrund von Anderem seiner selbst, nämlich seines eigenen Körpers, etwas anzufangen vermag. Die Frage nach dem Ursprung im Ganzen mündet somit nach Kant dahin, Spontaneität als die ursprünglichste Erwerbung bzw. Erzeugung dessen anzusehen, was vorher überhaupt nicht existierte, nämlich etwas von sich aus anzufangen. Spontaneität bezeichnet daher das Wesen von Subjektivität als die innere Bewegung, durch die der Mensch, mehr als bloß zu werden, wirklich-wird bzw. sich aufgrund eines Anderen, nämlich seines eigenen Körpers, aus sich selbst heraus verwirklicht. Die ausdrückliche und vielleicht deutlichste Thematisierung der Kantischen These vom Ursprung des Daseins in der Selbstverursachung der menschlichen Existenz "aus" dem Anderen seines Körpers in Form einer Selbstverwirklichung findet sich in einer Reflexion über die Rechtsphilosophie. Bezüglich der menschlichen Spontaneität drückt sich Kant folgendermaßen aus: "Der Mensch ist sui ipsus imperans [...] und doch zugleich subditus. Aber obgleich sui iuris in beydem betrachtet dennoch nicht dominus (Eigenthümer) von sich selbst.- Ob Gott selbst als Eigenthümer betrachtet werden könne; Ich zweifle[,] ob man dieses sagen könne; denn von einem freyen Wesen kann man nicht begreifen[,] daß es von einem andern geschaffen sey[,] wohl zwar der Körper[,] aber nicht sein geistiges Wesen. Eben darum kann man sagenf,] er könne auch kein unbedingtes Recht über diesen haben"1. Nach Kant ist allein der Körper von einem Anderen geschaffen worden, nicht aber der Geist. Dieser Körper stellt ein Vermögen zur Selbstverwirklichung von Subjektivität auf dessen Basis dar2. Als diese Selbstverwirklichung, d.h. als Selbsttätigkeit (Spontaneität) ist der Mensch sui ipsus imperans, aber zugleich subditus, also nicht Eigentümer seiner selbst. Denn ein Subjekt als Intentionalität intendiert Anderes seiner selbst, man intendiert also nicht die Intention selbst: Das Subjekt ist nicht frei zu intendieren, sondern geradezu dazu verurteilt. Aus der Tatsache aber, daß der Geist nicht als von Gott geschaffen betrachtet werden kann, scheint sich nun aber mit Notwendigkeit folgende Unmöglichkeit zu ergeben: Von der Frage nach dem "Unbekannten" "in" der Erfahrung als nach dem

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Ak. Bd.23: S.258 Kursiv von mir. Vgl. B161, Anmerkung.

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IV. Ursprung und Religiosität

Ursprung der Existenz kann im Rahmen einer philosophischen Anthropologie der gesuchte religiöse Aspekt der Existenz selbst nicht aufgezeigt werden. Aus diesem Grund sieht ein Teil der Kant-Kritik die Möglichkeit der Grundlegung einer Religionsphilosophie in der Kantischen Philosophie allein in der Erweiterung der Freiheitsproblematik innerhalb einer Handlungs- bzw. Moraltheorie. Ein Gedanke von K. Löwith scheint dafür exemplarisch zu sein. Er schreibt: "Der einzige Ausweg aus der Alternative der möglichen Herkunft des Menschen: entweder durch göttliche Schöpfung oder durch natürliche Evolution, wäre die dritte Möglichkeit: daß er sich selber hervorbringt, d.h. sich selbst zu dem macht, was er eigentlich ist und sein soll. Das ist in der Tat Kants praktisch-moralische Lösung. Es ist dem Menschen aufgegeben, sich selbst als Person zu schaffen. Er soll und kann sich selber dazu machen, denn er ist autonom, indem er sich an das Pflichtgesetz bindet"1. Obwohl die vorher zitierte Reflexion Kants über die "Freiheit", nach der ein "freies Wesen" nicht "von anderem geschaffen"2 werden kann, durchaus mit der Schlußfolgerung Löwiths übereinstimmt, nach welcher der Mensch deijenige sein soll, der "sich hervorbringt", so verkennt allerdings der Ausgangspunkt der Löwithschen Überlegungen das Entscheidende des Kantischen Gedankens zur Herkunft der menschlichen Freiheit. Die Herkunft der menschlichen Freiheit läßt sich nicht auf die von Löwith vorgeschlagenen sich aber gegenseitig ausschließenden Alternativen reduzieren, nach der der Mensch entweder von Gott geschaffen oder durch natürliche Evolution hervorgebracht gedacht wird. Vom Kantischen Standpunkt aus betrachtet wird nämlich weder von Gott noch durch natürliche Evolution der menschliche Geist selbst geschaffen, sondern allein der Körper, der bloß ein Vermögen, d.h. nur die Möglichkeit zu und nicht die Wirklichkeit von Geist darstellt bzw. impliziert. Die Selbsttätigkeit (causa sui) ist noch keine Freiheit in dem von Löwith gemeinten Sinn: Daß es dem Menschen aufgegeben sei, sich selbst als Person zu schaffen, sich selbst dazu zu machen, erfordert keine bloße Selbsttätigkeit, sondern bereits darüber hinaus die Reflexion des Subjekts auf sich als Selbsttätigen. Löwith verortet diese reflektierte Selbstverwirklichung sogleich in der Moralphilosophie, weil er zwischen Spontaneität und reflektierter Freiheit nicht differenziert und sich so gar nicht die Frage stellt, ob dieser Unterschied nicht auch schon im Kontext des Erkennens anzusiedeln sei3. Radikalisiert man die hier aufgezeigte Notwendigkeit, "in" der Natur selbst die eigentliche Grenze für die Erklärung des Ursprungs des menschlichen Daseins zu 1 Löwith, Karl Das Verhältnis von Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes und Kant. In: Sitzungsberichte der Heidelbergeschen Akademie der Wissenschaften. Phil. - Hist. Kl. Jahrgang 1963/64. Heidelberg Universität 1964; Jahrgang 1964, 3. Abhandlung, S.3-26. Kursiv von mir. 2 Ak. Bd.23: S.258. 3 Vgl. dazu den folgenden §4.

3. Faktizität der Dinge und menschliche Freiheit

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sehen, läßt sich die von Löwith angesprochene Dualität folgendermaßen verständlich machen: Aus Natur, und zwar durch natürliche Evolution, ist das Lebewesen "Mensch", das die Fähigkeit besitzt, von sich aus etwas anzufangen, hervorgegangen. Betrachtete man die menschliche Spontaneität als eine aus Natur entstandene, so würde sie zu einer Erscheinungsform der Empirie. Wird jedoch dieselbe Spontaneität als solche bzw. ihrer Existenz nach betrachtet, so erweist sie sich nicht von ungefähr als ein Geschenk und eben nicht als ein Produkt der Empirizität, denn ihre Existenz läßt sich nicht, wie heute allgemein angenommen, durch eine Evolutionstheorie, und wohl auch nicht in Zukunft durch eine andere empirischwissenschaftliche Theorie erklären. Der religiöse Ursprung der menschlichen Existenz liegt also primär in der Komplexität Spontaneität-Freiheit-Natur, welche jeder weiteren Explizierung der Freiheit innerhalb einer Handlungstheorie vorausgeht. Der philosophisch-anthropologische Ansatz Kants, dem gemäß die Gottesfrage in der "Naturanlage"1 des Subjekts, d.h. in der Fähigkeit, sich nach seinem eigenen Ursprung zu befragen, aufgewiesen wird, schließt das Religiöse nicht als solches aus. Der Mensch ist nicht "Eigentümer"2 seiner Spontaneität, denn das Subjekt "schafft sich nicht von selbst"3, denn im Sinne der reinen Selbsttätigkeit ist es dem Menschen gerade nicht aufgegeben, sich zu verwirklichen, so als könnte er es auch bleiben lassen, sondern er ist dazu verurteilt, sich selbst zu verwirklichen. Erst in der reflektierten Spontaneität (Freiheit) liegt der eigentliche Ort, an dem sich auch "Gott" offenbart, weist doch die menschliche Freiheit auf eine eigentümliche "Kreatürlichkeit" (conditio humana) hin. Die ursprüngliche Spontaneität verweist jedoch auf keine Art von Abhängigkeit derselben als Spontaneität, denn diese ist eine absolute. Hinsichtlich ihrer naturbedingten Entstehung aber stellt ihr Auftreten in der Welt sehr wohl ein Wunder bzw. eine grundlose "Schöpfung" dar (sie entsteht gewissermaßen ohne Grund aus der Natur), dessen sich der Mensch bewußt werden könnte, wenn er auf sich als diese Spontaneität auch noch reflektiert und so im eigentlichen Sinne frei wird. Und genau die Möglichkeit zur Reflexion auf die Grundlosigkeit der "Schöpfung" verweist auf das eigentliche Geheimnis des Ursprungs der Dinge in ihrer Faktizität, weil aufgrund seiner reflektierten Spontaneität (Freiheit) sich die Frage nach dem "Woher" bzw. nach dem "Wozu-sein" der Dinge für das Subjekt eröffnet. Denn "in" ihr offenbart sich das "Unbekannte"4 der Existenz selbst und insofern "Gott", als dieser die Natur von sich aus bzw. aus sich selbst heraus entstehen ' Ak. Ak. Ak. "Ak. 2 3

Bd.4: S.362. Bd.23: S.258. Bd.4: S.451. Bd.4: S.357.

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IV. Ursprung und Religiosität

ließ. Dem Menschen, der aus der Natur herausgetreten ist, wurde seine Spontaneität als Gabe geschenkt und, weil er auf sich als Intentionalität reflektiert, befragt er die Dinge hinsichtlich der Bedeutung ihrer Existenz für ihn. So unbezweifelbar es ist, daß nach dem Kantischen Ansatz die Frage nach Gott in nichts anderem als in der Frage nach der menschlichen Freiheit als dem Ort der Gottesoffenbarung aufgeworfen wird, so unbezweifelbar ist es auch, daß Kant mittels seiner Reflexionen nicht mehr als nur die Prämissen fur das Verständnis der Gottesoffenbarung in der menschlichen "Kreatürlichkeit" liefern konnte. In der zitierten Reflexion sieht Kant sehr deutlich und zwar in der Charakterisierung der Spontaneität sowohl als einer absoluten, wie aber auch als einer geschenkten, die Grenze des Menschen in seiner Kreatürlichkeit1. Und Kant selbst weist ausdrücklich an anderen Stellen, die noch zu erläutern sind, darauf hin, was dann allerdings erst mit Schelling in voller Deutlichkeit als eigentlicher Ausgangspunkt der menschlichen Frage nach Gott zu Tage treten wird: Daß "[n]ur der Mensch in Gott ist und [...] durch dieses In-Gott-sein der Freiheit fähig"2, d.h. der Reflexion fähig. Stellt diesen Prämissen gemäß das "In-Gott-sein" des Menschen bzw. nur des Menschen als reflektierte Spontaneität konsequenterweise das dar, was die menschliche Kreatürlichkeit in Form ihrer Freiheit gewährleisten muß, so stellt sich doch die Frage, wie sich das "In-Gott-sein" aus der dem Menschen eigentümlichen Freiheit (als einer reflektierten) überhaupt ergeben kann, wenn immer noch die Voraussetzung gelten soll, daß "In-Gott-sein" nicht eo ipso "Moralisch-sein" bedeutet. Daher gilt es, auf das Verhältnis von Spontaneität und Freiheit des Menschen als auf dessen Ursprung noch tiefer einzugehen.

4. Ursprung und Selbsterkenntnis Aus den bisherigen Überlegungen zur Frage nach dem Ursprung der Existenz der Dinge als dem eigentlichen Ausgangspunkt für eine angemessene Fragestellung über "Gott" hat sich ergeben, daß das Subjekt, indem es nach dem Ursprung 1 B. Casper sieht in Thomas von Aquin einen Vorläufer der Kantischen These des Menschen als causa sui ex aliquo, die in der menschlichen Kreatürlichkeit als die Anerkennung seiner eigenen Endlichkeit besteht. Vgl. dazu Casper, Bernhard Der Gottesbegriff „ens causa sui". In: Philosophisches Jahrbuch, 76 Jahrgang, München - Freiburg i.B. 1968/69. S.315-331. 2 Alle Werke Schellings werden nach der von K. F. A. Schelling herausgegebenen Ausgabe - Sämtliche Werke - (SA), Stuttgart - Augsburg 1856 - 1861, zitiert. SA Bd.7: S.411. Für das Verständnis Gottes im Ausgang von dem Naturprozeß vgl. u.a. SA Bd.7: S.433 und Bd.7: S.347, wo Schelling auf die Gottesoffenbarung in bezug auf die menschliche Freiheit verweist. Er schreibt: »Gott kann nur offenbar werden in dem, was ihm ähnlich ist, in freien aus sich selbst handelnden Wesen«. Vgl. dazu Baumgarten, H.-U. Das Böse bei Schelling. Schellings moralphilosophische Überlegungen im Ausgang von Kant. Antrittsvorlesung an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. B. 1997/98.

4. Ursprung und

Selbsterkenntnis

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der Existenz der Dinge als ihrem Wozu-sein für es selbst fragt, im Grunde zunächst einmal eine Antwort auf seinen eigenen Ursprung sucht. Denn nur ein sich selbst thematisierendes und somit sich als intendierendes Subjekt erkennendes Subjekt kann die Frage nach der Wirklichkeit der Dinge überhaupt stellen, wenn es doch zu bedenken gilt, daß Wirklichkeit im Sinne von Faktizität subjektabhängig ist. Wirklichkeit als objektive Wirklichkeit ist die Wirklichkeit von etwas Anderem als sich. Dieses seiner Wirklichkeit nach zu thematisieren, heißt somit, es als Anderes zu thematisieren, und dies wiederum heißt, es als Anderes als ich zu thematisieren. Die Existenz der Dinge wird daher zu einem Problem für es, insofern es dabei in erster Linie für dieses Subjekt um es selbst geht. Geht man folglich der Frage nach dem Ursprung des Subjekts nach, bietet sich als einzige Antwort zur Erklärung dieses Ursprungs an, daß der Mensch "aus" Natur insofern besteht, als sein Körper je neu in einem empirischen Prozeß aus ihr entsteht, so daß analog den Dingen sein "Anfang" in der Naturwerdung besteht. Andererseits aber ist sein je neu aufgrund der Naturwerdung entstehendes Bestehen deshalb ein eigentümliches, weil dieses Bestehen je neu als ein Wirklichwerden in Form einer Se/fosiverwirklichung in Erscheinung tritt, für deren Wirklichkeit der Körper nur ein Vermögen, d.h. nur eine Möglichkeit ist. Sein eigentlicher Ursprung liegt daher "in" der Natur im Sinne einer über die bloße Empirie hinausgehenden Selbstverwirklichung qua Spontaneität. Aus der Naturwerdung als faktischer Werdung geht daher etwas hervor, was sich nicht rein empirisch erklären läßt: die Entstehung von Subjektivität, und zwar in Form von Spontaneität. Ihre Entstehung, die zwar auch phylo- und ontogenetisch als Naturales explizierbar ist, zeigt sich hinsichtlich ihres Daseins als ein Geschenk bzw. eine Gabe der Empirie, welche auf nichts zurückgeführt werden darf und darum als ihre Grundlosigkeit auch eine Grenze für die Vernunft darstellt. In bezug auf die Spontaneität als dem ersten Funken der Freiheit läßt sich ferner von "Schöpfung" sprechen. Dies kann allerdings nicht bedeuten, die Spontaneität von einer hyperphysischen Gottesvorstellung abhängig zu machen. Spontaneität nimmt aufgrund von causa sui vielmehr eine Sonderstellung in der Natur ein: Sie tritt wie Natur, aber nicht als Natur auf. Hinsichtlich der subjektiven Spontaneität zeigt sich daher vom Kantischen Standpunkt aus eine eigentümliche Komplexität: Wie Natur ist das Subjekt in seiner Spontaneität " s u b d i t u s i n s o f e r n es dazu verurteilt ist, sich selbst zu verwirklichen, insofern es also nicht darüber verfügen kann, dies gegebenenfalls auch einmal bleiben zu lassen. Es liegt aber nicht als Natur vor, weil es andererseits seiner Spontaneität gemäß "sui ipsus imperans"2 ist, denn es wird aus sich selbst heraus tätig, indem es sich selbst verwirk-

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Ak. Bd.23: S.258. Ebd.

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IV. Ursprung und Religiosität

licht (causa sui), und zwar auf Basis eines Körpers, d.h. der Natur. Von dem internen Zusammenhang von Naturalität und Selbsttätigkeit als naturwüchsiger Spontaneität ausgehend, läßt sich die Selbstverwirklichung bzw. der Vollzug der Intention folgendermaßen explizieren: Er entspricht einem Intendieren als einem Wirklich-werden, das auf der Basis der Natur erfolgt, so daß er nicht als ein Intendieren-zu-Intendieren definiert werden kann. Denn dem subjektiven Intentionsvollzug ist vielmehr eine naturwüchsige Praxis eigentümlich, die sich in Form eines Wollens in die Tat umsetzt, ohne dies auch nicht-wollen zu können. Die Naturwüchsigkeit des Intendierens im Sinne der unreflektierten Selbsttätigkeit bringt somit eine Naturabhängigkeit mit sich, welche eine äußere Grenze für das Subjekt darstellt1. Begrenzt ist nicht die Spontaneität als solche, sondern vielmehr gilt die Natur als Grenze, denn Subjektivität als Spontaneität wird "aus" Natur und nicht von sich aus ermöglicht, sie ist nämlich keine causa sui ex ttihilo, sondern eine causa sui ex aliquo. Aufgrund dieser Naturwüchsigkeit seiner Spontaneität untersteht das Subjekt selbst letztlich dem Zwang, "frei" zu sein. Aus dem Kantischen Ansatz der Naturwüchsigkeit der Freiheit qua Spontaneität ergibt sich ferner unmittelbar, daß diese Freiheit im Sinne eines spontanen Tuns zunächst einmal in Form der Selbstverlorenheit auftritt2, - was sich in der Kantischen Terminologie auch als Freiheit qua "absoluter Selbsttätigkeit"3 bestimmen läßt. Denn dadurch, daß der Intentionsvollzug auf der Grundlage der empirischen Körperwerdung nicht anders als je neu stattfinden kann, ohne daß das Subjekt selbst zum "Eigentümer"4 seines Frei-seins werden kann, ist es als Intendierendes bereits verloren oder, um mit Schelling zu sprechen: Es ist als Intendierendes seiner Freiheit noch nicht "fähig".5 Aus der Naturalität der Leibwerdung ergibt sich also die Menschwerdung zunächst einmal in Form einer Selbstverlorenheit, weil das Subjekt qua Intentionalität sich selbst seiner Spontaneität nicht entziehen kann, selbst wenn es sich qua Spontaneität zerstören wollte6. Denn, um sich selbst zu vernichten, muß das Subjekt selbst seine Zerstörung intendieren, d.h. also gerade der Spontaneität nachgeben, von der es sich eigentlich befreien will. 1

Vgl. dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1999, Bd.II, Teil.l, S.70-78. Dazu bemerkt Verweyen zutreffend, daß Freiheit in einem ersten Schritt in der angesprochenen Form der »Selbstverlorenheit« auftritt, was seinen Grund in einer Naturabhängigkeit hat. Zum anderen definiert er jedoch die besagte Abhängigkeit durch den Ausdruck »vollzugsorganische Freiheit«, welche deswegen Unklarheit stiftet, weil damit das Phänomen der Naturwüchsigkeit der Spontaneität als eines, welches wie Natur, nicht jedoch als Natur stattfindet, nicht genügend berücksichtigt wird. Vgl. dazu Verweyen, Hansjürgen Gottes letztes Wort. Düsseldorf 1991; S. 248-249. 3 A418 B446. "Ak. Bd.23: S.258. 5 SA Bd.7: S.411. 6 Dazu die Grundlegung der Metaphysik der Sitten als Textverweis der Kantischen Ablehnung des Selbstmords in bezug auf die menschliche Verbundenheit seiner Freiheit Ak. Bd.4: S.397. 2

4. Ursprung und Selbsterkenntnis

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Wenn also die Unmöglichkeit, sich seiner selbst als Selbsttätigkeit zu entziehen, den ersten Schritt zur conditio humana als Tragik der Freiheit bestimmt1, so stellt sich die Frage, inwiefern sich aufgrund dieser Prämisse das Subjekt aus der Selbstverlorenheit seines Spontan-seins aus sich heraus sich allererst findet, so daß man letztlich sagen darf, daß es allein "in Gott und dadurch der Freiheit fähig ist"2. Die naturwüchsige Spontaneität bzw. Selbsttätigkeit stellt nämlich ausschließlich den Fall einer Selbstverwirklichung dar, die allen Lebewesen gemeinsam ist, die fähig sind, von sich aus etwas anzufangen, die Zeit- und Raumbewußtsein haben und wahrnehmen können, also auch Tiere. Stellt Kant selbst auch sehr deutlich fest, daß die transzendentale Freiheit als Spontaneität im Sinne einer "absolute[n] Selbsttätigkeit"3 das "Vermögen" ist, "einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben, schlechthin anzufangen"4, so ist er sich doch zweifelsohne völlig bewußt, daß diese "transzendentale Idee der Freiheit"5 verurteilt ist, zum "eigentliche[n] Stein des Anstoßes für die Philosophie"6 zu werden. Und zum Stein des Anstoßes wird sie deshalb, weil sich allein von der Spontaneität als Selbstverwirklichung her noch nicht bestimmen läßt, ob das Subjekt darüber hinaus noch die Fähigkeit besitzt, auf sich als diese Selbstverwirklichung zu reflektieren. Es verwirklicht sich aus sich selbst heraus, und zwar dadurch, daß es durch sich selbst zu sich derart in ein Verhältnis tritt, daß es auf der Basis seines eigenen Körpers von sich aus spontan etwas empfindet. Von diesem Empfinden ausgehend kommt es aufgrund seiner ursprünglichen Fähigkeit, etwas als wirklich hinzustellen, selbsttätig bis zur Wahrnehmung der Außenwelt, was konstitutionstheoretisch nur aus einem vorhergehenden Entwurf des Anderen seiner selbst in Form eines transzendentalen Objekts erfolgen kann. Aufgrund von der gewonnenen Wirklichkeit der Außenwelt kann es - und tatsächlich tut es dies auch — seine Spontaneität derart weiterentwickeln, daß es sich zur Praxis der Handlung erweitert. Seine Selbstverwirklichung nämlich wird zur Handlung, wenn es umwillen seiner Neigung das auswählt, was zu seiner eigenen Verwirklichung als zu seinem Glücklichwerden beiträgt. Die Ausübung der Spontaneität in all ihren Formen bedeutet jedoch keineswegs, weder in der Selbstverwirklichung zu einer Fremdverwirklichung im Sinne des Erkennens, noch in der aufgrund des (unterstellten) verwirklichten Anderen sich vollziehenden Fremdverwirklichung im Sinne des Handelns, daß sich das Subjekt als dieses Selbstverwirklichende mitthematisiert. Die Selbstverwirklichung

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Dazu ausführlicher Prauss, Gerold Die Welt und wir. Stuttgart 1990, Bd.I, Teil.l, S.259-263. SA Bd.7: S.411. 3 A418B446. 4 A445 B473. 5 A448 B476 Kursiv von mir. 'Ebd. 2

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IV. Ursprung und Religiosität

wird zu einer Thematisierung von Anderem als sich - im Erkennen wie auch im Handeln - und nicht zu einem Thematisieren von sich. Wie jedes Tier, so verwirklicht sich auch der Mensch als Intentionalität spont a n - ' ^ ! " gemäß seinen naturwüchsigen Strukturen umwillen seiner Neigungen, ohne der Freiheit - die auf dieser Ebene von bloßer Selbsttätigkeit verbleibt "fähig" zu sein. Das Subjekt als Intentionalität tritt aus sich selbst heraus zu sich in ein Verhältnis, so daß es etwas empfindet bzw. Lust oder Unlust (Schmerz) fühlt, was auf eine spezifische Art der Selbstverursachung "aus" Anderem im selben verweist (causa sui ex aliquo) und sich sprachlich als "sich-als-Lust/Unlust-fühlen" fassen läßt. Aufgrund seines Selbstbewußtseins als Verwirklichung seiner selbst vergegenständlicht es sich auch noch dieses oder jenes Andere seiner selbst durch diese oder jene Vorstellung, was wiederum auf eine eigentümliche Selbsttätigkeit einer Selbstverursachung "aus" Anderem im selben hinweist und sich sprachlich beispielsweise als "sich-einen-Regenbogen-entwerfen" beschreiben läßt. Es verwirklicht sich schließlich zu den Urteilen "Dies ist ein Regenbogen" bzw. "Dies sind Regentropfen" dadurch, daß es beispielsweise jeweils seine Regenbogenvorstellung bzw. Tropfenvorstellung verwendet, ohne sie zu erwähnen, um etwas als wirklich hinzustellen, als einen Regenbogen bzw. als Tropfen zu thematisieren, was sich sprachlich als "sich-einen-Regenbogen-verwirklichen" beschreiben läßt. Aufgrund der unterstellten Wirklichkeit dieses Anderen ergeht erneut eine in sich dreistufige Intention im Sinne des abgeleiteten Verwirklichungsversuchs (Handeln).Doch seine Freiheit als Spontaneität stellt (einschließlich des Handlungsfalls) ein naturwüchsiges Agieren dar, d.h. die Subjektivität als Intentionalität, welche sich umwillen ihrer Neigungen auf eine eigentümliche Weise vollzieht, d.h. nicht als Natur, sondern auf Basis der Natur, ohne daß das Subjekt anderes könnte, als zu intendieren, also wie Natur. Da sich die Freiheit als Spontaneität, die Kant "die transzendentale Idee der Freiheit"1 nennt, letztlich in der bloßen, naturwüchsigen Selbstverwirklichung aufhebt, stellt sich dringlicher als zuvor die Frage, ob denn überhaupt dem Subjekt die Freiheit in dem Sinne zugesprochen werden kann, daß es auf reflektierte Weise sich selbst verwirklicht, und wenn ja, wie es dazu "fähig" ist. Die Selbsttätigkeit als "transzendentale"2 Freiheit wird aus dem zuletzt Dargelegten zu einem Problem, weil sie zwar sehr wohl die immer am Werk seiende Selbstverwirklichung erklärt, aber nicht auch schon die Möglichkeit des subjektiven Sich-selbst-schaffens, im Sinne des

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A448 B478.

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Ebd.

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zu-einer-Person-werdens, wie es Löwith an der zitierten Stelle einforderte. Mit anderen Worten: Wie läßt sich behaupten, daß es dem Subjekt um sein eigenes Person-sein geht, wenn Selbstverwirklichung doch zunächst nur die zu einer Fremdverwirklichung ist, wenn es dem Subjekt seinem Wesen als Intentionalität nach also zunächst thematisierenderweise nur um Anderes als sich geht (im Erkennen wie auch im Handeln)? Um genau auf diese Frage eine Antwort zu geben, fahrt ein Teil der KantKritiker mit einem Argument fort, so als ob es sich hierbei um den unmittelbaren und einzig möglichen Schluß der vorhergehenden Explikation der transzendentalen Freiheit als der Selbsttätigkeit handeln würde: Daß es nämlich bei der Selbstverwirklichung auch und gerade um die Selbstverwirklichung des eigenen Personseins geht, insofern solch eine Selbstverwirklichung im Sinne des Handelns für den Menschen eo ipso zu einer moralischen Aufgabe wird, so daß das Subjekt, weniger als sich selbst bloß zu verwirklichen, sich selbst in ursprünglicher Weise moralisch verwirklicht1. Dieser Schluß scheint etwa für Löwith aus Kants Entfaltung der transzendentalen Freiheit als Selbsttätigkeit einleuchtend zu sein, weil damit auch noch der interne Zusammenhang zwischen dem Frei-sein im Sinne der Fähigkeit zur Freiheit und des dem Menschen eigentümlichen "In-Gott-seins"2 verständlich werde. Das Handeln müsse man eo ipso als Sich-als-Person-verwirklichen im Sinne eines autonomen moralischen Handelns verstehen, weil das Sittengesetz als "göttliches" Faktum α priori von vornherein vorliegt. Die Intention im Sinne des Handelns sei als naturwüchsige schon immer moralisch bestimmt, d.h. unter dem Sittengesetz, und so werde Reflexion aufgrund des Moralgesetzes ermöglicht. Nur weil das Moralgesetz als Faktum α priori im naturwüchsigen Handeln schon immer vorliege, werde der Mensch seiner "Freiheit fähig", er könne sich als Person hervorbringen, nur und gerade weil in ihm das Sittengesetz als eine "göttliche Gabe" sich offenbare. Das moralische Handeln ermögliche nämlich die Freiheit selbst, da das Subjekt - aufgrund der vorausgegangenen Prämissen - erst dann der Freiheit fähig werde, wenn es seinem Sollen, das es in ihm finde, nachgehe, so daß das Sollen selbst eine Gabe, und zwar eine "göttliche" Gabe darstellt, die das Subjekt als ein freies Wesen gelten läßt. Das Subjekt sei also frei In-Gott und der Freiheit fähig aufgrund der "göttlichen" Grundlosigkeit seines moralischen Sollens. Gemäß dieser Auslegung sei das Subjekt seiner Freiheit fähig, weil es seiner Natur nach im Unterschied zu den Tieren, die keine "Personen" werden können, moralisch bestimmt ist. Seine Fähigkeit, frei zu sein, sei von diesem Sollen ableitbar. ' Stellvertretend für diese Meinung stehen K. Löwith in dem oben zitierten Aufsatz und Hermann Cohen. Dazu besonders vgl. Cohen, Hermann Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Wiesbaden 1995; S.68-116. 2 SA Bd.7: S.411.

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IV. Ursprung und Religiosität

Fragt man sich nach der Herkunft dieses Sollens, müßte man demnach antworten, daß das Sollen ein naturgegebenes Apriori darstellt. Das Subjekt sei wesensmäßig dem Sittengesetz "subditus", weil es nicht über es verfüge, aber es werde seiner Moralität "imperans", indem es dem Sollen von sich aus nachgehe. In der hier kurz angesprochenen Auslegung einer über der Spontaneität als Selbsttätigkeit liegenden Freiheit im Sinne eines Sich-als-Person-verwirklichens wird eben dieses nicht deduziert, weil dessen Erklärung an eine metaphysischdogmatische Voraussetzung geknüpft wird. Würde das Sich-als-Personverwirklichen des Subjekts auf einer naturwüchsigen, "göttlich" gegebenen a priorz'schen Moralität beruhen, müßte man konsequenterweise daraus schließen, daß das Subjekt nie der Freiheit fähig würde, da nach Kant nicht-deduzierte a priorische Voraussetzungen eigentlich zu verwerfen sind. Dann hätte man aber über das "In-Gott-sein" zu schweigen. Denn es geht nach dem recht verstandenen Kant vielmehr darum, zu erklären, weshalb das Subjekt umwillen des Sittengesetzes handeln soll, wobei zunächst erklärt werden muß, daß es dies überhaupt kann. Offensichtlich wird in dem Versuch, die Fähigkeit zur Freiheit aus einer ursprünglichen naturwüchsigen und subjektiven Moralität herzuleiten, das ins Auge gefaßte Problem auf den Kopf gestellt. Das Subjekt ist nicht deswegen der Freiheit fähig, weil es moralisch bestimmt ist, hätte dies doch die unplausible Folge, daß es aus Freiheit nur moralisch handeln könnte, d.h. gewissermaßen aus Freiheit dazu gezwungen wäre. Es gilt vielmehr umgekehrt, daß es, weil es der Freiheit fähig ist, auch noch auf Moralität hin angelegt sein kann, woraus aber wiederum und dringlicher als zuvor zu erklären wäre, inwiefern es überhaupt der Freiheit fähig ist1. Bevor ein moralisches Sollen deduziert werden könnte, geht es darum zu erklären, wie das Subjekt überhaupt kann, d.h. wie es in seinem Intendieren thematisierenderweise auch um es selbst als dieses Intendieren gehen kann. Die Herleitung eines Sollens zeigt sich konsequenterweise als abhängig von der Rechtfertigimg seiner Fähigkeit zur Freiheit als eines Sich-als-Personverwirklichens, was Kant aber nur auf eine intuitive Weise aufzeigt. Wenn das Subjekt nicht deshalb frei sein kann, weil es soll, so muß umgekehrt das Sollen auf seinem Sich-als-Person-verwirklichen gründen. Zunächst muß es also die Fähigkeit haben, aus sich selbst heraus über seine Selbstverlorenheit sich zu erheben und dadurch sich seine Freiheit aneignen zu können. Und tatsächlich kann es, wenn es sich auch keineswegs seiner selbst qua seines von sich aus Wirk//cA-werdens entziehen kann, doch sich selbst als Person verwirklichen, weil sich das Subjekt nach Kant als Selbstverwirklichung noch auf eine eigentümliche Weise "aneignen" kann. Fragt man sich nun aber, wie diese Aneignung als Erhebung aus der Selbstverlorenheit von sich aus wirklich wird, bietet sich als einzige Antwort Kants an, daß

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Hier ist „Freiheit" stets als,reflektierte Spontaneität" zu verstehen.

4. Ursprung und

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das Subjekt zwar nicht über seine Selbstverwirklichung verfugt, jedoch aber ihrer fähig ist, weil es um diese Verwirklichung auch weiß. Das Subjekt eignet sich seine Selbstverwirklichung in dem Sinne an, daß es sich selbst aus sich selbst heraus erkennt. Es weiß mithin um seine Selbstverwirklichung und wird dieser dadurch fähig. Eindeutiger Beleg für die Selbsterkenntnis als dem ausgezeichneten Fall der über der Freiheit als subjektiver Selbsttätigkeit liegenden reflektierten Freiheit scheint eine Textpassage in der Kritik der reinen Vernunft zu sein, wo Kant ausdrücklich die Vernunft der Selbsterkenntnis gleichsetzt. Er schreibt: "Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann. [...]. Wir nennen dieses Vermögen Verstand und Vernunft"1. Dazu muß zunächst interpretierend bemerkt werden, daß Kant die Selbsterkenntnis nicht als einen Fall der Erkenntnis betrachtet, welche sich getrennt von der intentionalen Praxis ("Handlung" qua Selbstverwirklichung) und von jedem Gemütszustand ("innere Bestimmungen" qua "sich-als-Lust/Unlust-empfinden") vollziehen könnte. Die Selbsterkenntnis erfolgt ihm gemäß vielmehr samt der intentionalen Praxis bzw. "in Handlungen" und/oder den Gemütszuständen bzw. "in inneren Bestimmungen"2, obwohl sie sich von beiden grundsätzlich unterscheidet. Sie hat demzufolge die punktuelle Form eines Selbstbewußtseins von Selbstbewußtsein. Wenn auf den ersten Blick gesehen solch eine Formulierung auch tautologisch erscheinen mag, so erweist sie sich doch der Sache nach als völlig angemessen. Sie bezeichnet nämlich den Übergang von der bloßen Selbstverwirklichung in eine reflektierte Selbstverwirklichung, die einzig dem Menschen zugesprochen werden kann, denn er allein erhebt sich von sich aus bzw. aus sich selbst heraus kraft der Reflexion über seine Selbstverwirklichung qua einer "selbstverlorenen" Spontaneität. Schon bei den elementaren Selbstverwirklichungsformen wie "sich-alsLust/Unlust-empfinden" als Fälle von Selbstbewußtsein wird das Subjekt sich der Empfindungen innerhalb von sich bewußt, ohne sich als einen auf bestimmte Weise Empfindenden auch zu begreifen bzw. zu vergegenständlichen. Erst durch den Akt der Reflexion auf dieses Selbstbewußtsein einer Selbstverwirklichung kann es von sich als beispielsweise Schmerzen-Empfindendem auch noch wissen: Denn hinsichtlich seines Schmerzempfindens ist es dann auch noch fähig zu urteilen: "Ich habe Schmerzen" bzw. "Ich bin ein Schmerzen-Empfindender". Des weiteren besteht auch im Falle des Habens von Vorstellungen, mittels derer man sich Anderes als sich entwirft, die Möglichkeit zum Einstieg in die Reflexion, sobald man

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A546 B574 A547 B575 Kursiv von mir. Ebd.

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IV. Ursprung und Religiosität

z.B. von dem bloßen Haben von einer Regenbogenvorstellung zum "Ich habe eine Regenbogenvorstellung" übergeht. Und analog dazu ist die Reflexion vonnöten, um von dem bloßen Urteil "Dies ist ein Regenbogen" zu "Ich urteile, dies ist ein Regenbogen" bzw. gar zu dem Urteil "Ich weiß, 'dies ist ein Regenbogen' ist wahr."1 gelangen zu können. Der Ausdruck "Selbstbewußtsein von Selbstbewußtsein" zeigt somit eine punkthafitige in sich komplexe Identität im Sinne einer Selbstvergegenständlichung der Selbstverwirklichung. Wenn die Selbstvergegenständlichung der Selbstverwirklichung sozusagen in einem einzigen Zug auftritt, insofern "[d]as Ich denke, alle meine Vorstellungen begleiten können muß"2, wird infolgedessen das Subjekt sich nicht in dem Sinne seiner selbst bewußt, daß es zum Objekt seiner Erkenntnis wird, als wäre es zugleich Subjekt und Objekt einer Erkenntnisintention. Die Form der Selbsterkenntnis entspricht vielmehr einer Selbstvergegenständlichung in einem reflexiven Rückbezug auf sich, d.h. einer gekrümmten Intention (intentio obliquä) im Unterschied zu der geraden Intention der Selbstverwirklichung zu einer Fremdverwirklichung (intentio recta), und zwar wie Kant sich ausdrückt, im Sinne einer bloßen Apperzeption, welche nicht auf Sinneseindrücken beruht. Im Ergehen einer Intention hat das Subjekt die Möglichkeit, zu sich in ein weiteres Verhältnis zu treten, so daß es sich - auf sich selbst als Intention rückbeziehend - apperzipiert bzw. sich selbst thematisiert. Macht die Form des Apperzipierens als eines Sich-selbst-thematisierens das aus, was die formale Möglichkeit der Selbsterkenntnis im Sinne eines Selbstbewußtseins von Selbstbewußtsein (Selbstvergegenständlichungsbewußtsein vom Selbstverwirklichungsbewußtsein) gewährleistet, so bleibt aber immer noch die über die formale Struktur der Selbsterkenntnis hinausliegende Frage offen, weswegen das Apperzepieren die Fähigkeit zum Frei-sein ermöglicht. Denn hierbei könnte sich der Einwand erheben, daß es sich ausschließlich um ein Apperzepieren vergleichbar eines Sich-fuhlens handeln würde, so daß es im Grunde unangemessen wäre, von Selbsterkenntnis zu sprechen. Dieser Einwand würde sich damit begründen, daß Kant selbst im Zusammenhang mit Apperzeption stets von Gefühl spricht3, so daß man den Eindruck bekommen könnte, Apperzeption bestünde in diesem Gefühl. Dann aber würde das Subjekt nur sich apperzepieren, d.h. sich fühlen, ohne allerdings sich selbst auch als ein freies Wesen behaupten zu können. Sein Sich-apperzipieren würde nämlich nicht nur wie ein Gefühl zu bestimmen

1 Der Unterschied der letzten beiden Fälle besteht darin, daß man im letzten Urteil wie auch in den vorherigen in reiner Selbsterkenntnis ist, während man mit dem vorletzten Urteil („ich urteile, dies ist ein Regenbogen") nur zusätzlich zur Thematisierung von Anderem als sich auch noch sich selbst mitthematisiert. 2 B132. 3 Vgl. Ak. B d . l : S.367.

4. Ursprung und

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sein, sondern es wäre tatsächlich nichts Anderes als bloß ein Gefühl. Dazu gilt es zu bemerken, daß Kant die Apperzeption ihrer Form nach zwar wie ein Gefühl, sie aber nicht qua Apperzeption als bloßes Gefühl gelten läßt, und zwar deshalb nicht, weil er sie "gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann"1. Apperzeption ist für Kant eine Erkenntnisart, die nicht auf Anschauungen beruht, d.h. die einer Reflexion, sich als Selbstverwirklichung zu vergegenständlichen bzw. zu thematisieren, d.h. sich durch "ich denke,..." vernünftig zu erkennen. Denn erst dann, wenn man auf sich zu reflektieren fähig wird, kann man beispielsweise auch behaupten: "Ich habe Schmerzen bzw. Lust", "Ich habe eine Regenbogenvorstellung" oder "Ich weiß, 'dies ist ein Regenbogen' ist wahr". Um so mehr, als man aufgrund des Sich-selbst-verstehens auch noch fähig wird, sich zu verstellen bzw. zu lügen und von sich unaufrichtigerweise zu sagen, ich habe Schmerzen. Die Quelle des Sich-apperzipierens liegt daher keinesfalls im Organischen, sondern, obwohl es wie ein Gefühl stets auf dessen Basis erfolgt, in einem reinen Denkakt, durch den das Subjekt sich durch "ich denke, ..." erkennt und damit überhaupt erst seiner Freiheit fähig wird. Das Subjekt verwirklicht sich nicht nur aus sich selbst heraus, sondern es verwirklicht sich vielmehr noch zu einer Person, d.h. zu einem reflektierenden Subjekt, da es aus sich heraus um seine Selbstverwirklichung weiß. Aufgrund dieses Wissens um sich selbst kann es nämlich sogar eine Verstellung intendieren, aus der heraus beispielsweise auch noch die Frage nach der Moralität hinsichtlich seiner Lüge bzw. seines Lügen-wollens entsteht. Sein ursprüngliches Können begründet nämlich sein Sollen, so daß wiederum selbst das Sollen als ein abgeleiteter Fall seines Könnens auftritt, nämlich als Resultat seiner Reflexion. Wenn die Selbstvergegenständlichung als ein ichhaftes Denken die Freiheit des Subjekts im ausgezeichneten Sinne ermöglicht - denn von sich aus bzw. aus sich selbst heraus als reflektierendes Wesen wird das Subjekt seiner Freiheit fähig - so stellt sich doch die Frage, ob es als ein reflektierendes zusätzlich auch noch als ein Wesen In-Gott verständlich werden kann. Hierbei könnte man noch den Einwand erheben, daß es erst dann, wenn es aus sich selbst heraus seine Freiheit als eine moralisch bestimmte Freiheit gelten läßt, In-Gott ist, mag es auch erst aufgrund seiner Reflexion der Freiheit fähig werden. Dies liegt nahe, um so mehr, als Kant diesbezüglich selbst von einem "Primat der reinen praktischen Vernunft" 2 spricht und in einer bestimmten Art der Apperzeption, nämlich einem "Achtungsgefühl", die Möglichkeit sieht, sich als moralisch selbstbestimmte Person anzuerkennen, was nach Kant ein eigentümliches In-Gottsein bezeichnet.

' A546 B574. Ak. Bd.5: S.l 19 Kursiv von mir.

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IV. Ursprung und Religiosität

Dazu muß allerdings angemerkt werden, daß Kant vom Primat der praktischen Vernunft eigentlich im Sinne von der praktischen Vernunft "in ihrer Verbindung mit der Spekulativenredet, so daß auch das In-Gott-sein der praktischen Vernunft stets mit einem vorausgehenden In-Gott-sein der theoretischen Vernunft, aus dem heraus ersteres erfolgt, zu betrachten ist. Zwar ist unbestritten, daß das Subjekt von sich aus, indem es auf sich reflektiert, noch in ein weiteres Verhältnis zu sich tritt, und sich als Subjekt erkennt, doch ist das Achtungsgefuhl nicht dieses Sich-als-Intendierendes-erkennen, sondern es entsteht als Folge daraus. Indem als Resultat der Selbsterkenntnis nach dem recht verstandenen Kant das Sollen des Sittengesetzes erst entspringt, muß auch das Gefühl der Achtung vor diesem Sollen als Resultat und damit als Folge von Selbstreflexion verstanden werden. Der angesprochene Rückbezug auf die theoretische Vernunft verweist demzufolge nach Kant auf die Notwendigkeit, den Ursprung der moralischen Personbildung aus dem Ergehen von Selbstvergegenständlichung als Selbsterkenntnis zu analysieren. Dabei muß man allerdings berücksichtigen, daß Kant lediglich darauf hindeutet, die Personbildung aus der internen Verbundenheit mit der subjektiven Selbsterkenntnis in dem besagten Sinne zu untersuchen. In der diesbezüglich zitierten Frühschrift2 Kants, der sogenannten Theorie des Himmels, weist er nämlich auf ein "verborgenefsj Erkenntnisvermögen des unsterblichen Geistes" hin, das "eine unnennbare Sprache redet und unausgewickelte Begriffe, die sich wohl empfinden, aber nicht beschreiben lassen, gibt". Der Anlaß, der das Erkenntnisvermögen zur Sprache bringt, ist der "Anblick eines bestirnten Himmels" bei "der allgemeinen Stille der Nacht und der Ruhe der Sinne"3. Wird die hier in dieser rhetorischen Ausdrucksweise angesprochene Unauflösbarkeit der Frage nach der Herkunft des Himmels als dem Ursprung des Daseins alles dessen, was ist, auf die Frage des Menschen nach seinem eigenen Ursprung zurückgeführt, so leuchtet ein, daß das besagte "verborgene Erkenntnisvermögen"4 nichts anderem als dem Vermögen zur Selbsterkenntnis entsprechen kann. Der "bestirnten Himmel"5 wird zu einem Problem für das Subjekt, weil es hier in erster Linie um das Subjekt als ein durch "ich denke, ..." auf sich Reflektierendes geht, es - sich als ein naturwüchsig-selbsttätiges Wesen erkennend und dadurch sich seine Freiheit aneignend - "in" der Natur selbst seine eigene Grenze entdeckt, und zwar jene seiner eigenen Existenz. In seiner Selbstthematisienmg entdeckt sich nämlich das Subjekt als von der Natur auf eine eigentümliche Weise abhängig6. 1

Ebd. Kursiv von mir. Vgl. hier Kap. IV, §1. Ak. Bd. 1: S.367 Kursiv von mir. 4 Ebd. Kursiv von mir. 5 Ebd. 6 Dazu muß angemerkt werden, daß erst Schleiermacher in voller Deutlichkeit von einem Abhängigkeitsgefühl redet. Vgl. Schleiermacher, Friedrich Der Christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Neu hrsg. von M. Redeker, Berlin 1960; Bd.l, 2 3

4. Ursprung und Selbsterkenntnis

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Und zwar steht der Mensch zur Natur in einer Abhängigkeit nicht nur aufgrund seiner organischen Konstitution, sondern er hängt auch von ihr deshalb ab, weil das Vermögen zu Selbsttätigkeit sich ihm selbst als ein grundloses Geschenk zeigt. Seine Freiheit qua Selbsterkenntnis darf zwar phylo- wie ontogenetisch auf nichts anderes als auf Natur rückbezogen werden, sie wird aber hinsichtlich ihrer Existenz deshalb zu einem Geschenk dadurch, daß sie dem Subjekt ohne Grund bzw. ex gratia "aus" der Natur je neu gegeben wird. Aufgrund seiner Selbsterkenntnis als der Vergegenständlichung seiner Selbstverwirklichung erfährt sich das Subjekt als das einzige Wesen, das aus sich selbst heraus fordern kann, seine Existenz als ein Geschenk gelten zu lassen, dadurch, daß es sie zunächst einmal als eine Gabe faßt und versteht, ohne daß es einen anderen Grund außer seiner Freiheit selbst gibt, seiner eigenen Existenz einen Sinn zu verleihen. Beim Sich-selbst-erkennen erfährt also das Subjekt die Grundlosigkeit seiner Existenz in Form eines geschenkhaften Anspruchs auf sich selbst und "hört" dadurch eine "unnennbare Sprache", die "sich empfinden läßt"1: Die Sprache einer Selbstforderung an die Existenz, die sich in Form eines Abhängigkeitsgefühls, als welches das Kantische Achtungsgefübl also ursprünglich2 auftritt, "hören läßt"3. Aufgrund seiner reflektierten Freiheit bzw. seines Selbstverständnisses wird dem Subjekt die Möglichkeit gegeben, aus sich selbst heraus sich als Person zu verwirklichen, ohne diesbezüglich unter einem Zwang zu stehen. In der Erkenntnis seiner selbst versteht sich also das Subjekt als ein freies Wesen dadurch, daß es der Unverfügbarkeit der Existenz seiner Spontaneität, die ihm grundlos auf der Grundlage der Natur je neu gegeben wird, bewußt ist, ohne welche es aber nicht sein könnte, was es ist und was es auf Grund deren sein soll. Das "Woher" seiner Existenz entzieht sich somit dem Subjekt dadurch, daß sein Dasein sich ihm als ein Geschenk zeigt, was zur Folge hat, daß sein Ursprung sich letztlich in die Aufgabe verwandelt, dieser Gabe seiner Existenz frei aus sich selbst heraus bzw. von sich aus einen Sinn zu verleihen, den es ja nicht einfach vorfindet. Berücksichtigt man ferner, daß bei diesem Verständnis seines Ursprungs das Subjekt die es selbst fordernde Aufgabe, seiner eigenen Existenz erst von sich aus einen Sinn zu verleihen, als eine grundlose und nur in Freiheit zu bewältigende erkennt, so muß es, um sich seine Existenz angesichts der Grundlosigkeit des Daseins alles dessen, was ist, als seine eigene Aufgabe anzueignen, ein letztes §§3-4. Dazu ausgezeichnet Cramer, Konrad Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins. In: Friedrich Schleiermacher. Theologe-PhilosophPädagoge, hrsg. von Dietz Lange, Göttingen 1985; S. 127-162. 1 Ak. Bd.l: S.367. 2 Ursprünglich meint hier, daß es bereits im Rahmen des reflektierten Erkennens und nicht erst im reflektierten Handeln auftritt. 3 Ebd.

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IV. Ursprung und Religiosität

"Trotzdem" aussprechen: Erst dadurch ist es frei "In-Gott", wenn es der vorgefundenen Grund- und Sinnlosigkeit zum Trotz und daher in der Hoffnung seiend von sich fordert, den Ursprung bzw. den Grund seiner Existenz als eine Aufgabe zu verstehen, ihr einen Sinn zu verleihen. Es stellt an sich die Forderung, den Ursprung des Dasein alles dessen, was ist, von sich aus so zu verstehen, als ob es Gott gebe. Die von Kant vorgeschlagene Analogie, wonach wir die Existenz aller Dinge so betrachten können, "als ob sie von einer höchsten Vernunft ihrem Dasein und inneren Bestimmungen nach abstamme"1, hat somit ihren Ursprung in der reflektierten menschlichen Freiheit, d.h. in der Tatsache, sich selbst innerhalb der Grenze seiner Menschlichkeit2 bei dem Verständnis der Unverfügbarkeit über den Ursprung seiner eigenen Existenz zu erkennen. Der Ursprung der menschlichen Existenz als der dem Menschen eigentümlichen reflektierten Freiheit darf also vom Kantischen Standpunkt aus nicht auf Gott bezogen werden. Umgekehrt aber läßt sich aus der Grundlosigkeit des Daseins alles dessen, was ist, von "Gott" sprechen bzw. ausgehend von der Faktizität der Existenz alles dessen, was ist, in der Weise sprechen, als ob es Gott gebe. Denn die "Als-ob-Struktur"3 verweist auf nichts anderes als gerade auf die menschliche Möglichkeit, sich selbst innerhalb der eigenen Grenzen und damit dem eigenen Menschsein auf Hoffnung hin zu transzendieren. Des Menschen Frage nach Gott wurzelt daher nach Kant in der menschlichen Freiheit, der Grundlosigkeit der Existenz zum Trotz, ihr hoffend einen Sinn zu geben bzw. die Existenz als eine Gabe, welche sie selber ist, gelten zu lassen. Denn "in Gedanken [...] allein" als in der reflektierten Selbstverwirklichung liegt wie am Anfang gesagt wurde4 -"die absolute Notwendigkeit"5, dem Dasein aller Dinge einen Sinn zuzusprechen. Aus dem Entwickelten folgt also, daß der Mensch "In-Gott, und eben [dadurch] der Freiheit fähig"6 ist. Ihm kommt die Fähigkeit zu, seine Existenz so zu betrachten, als ob es Gott gebe, um die Grundlosigkeit seiner Existenz anzuerken-

1

Ak. Bd.4: S.359. Wie die Abschaffung der Gottesvorstellung „ens causa sui" das Verständnis der Religiosität in der Anerkennung der Endlichkeit des Menschen zur Folge hat, zeigt sehr treffend Casper anhand eines Exkurses von Thomas von Aquin bis zur modernen Philosophie. Vgl. Casper, Bernhard Der Gottesbegriff „ens causa sui". In: Philosophisches Jahrbuch, 76 Jahrgang, München - Freiburg i.Br. 1968/69. S.315-331. 3 Fischer verweist mit Recht darauf, die ,Als-ob-Struktur" außerhalb ihrer »Afunktionalität« im Erkenntnisprozeß als der Dingerkenntnis zu verankern, ohne jedoch dabei der Freiheitsproblematik im Denken als Selbsterkenntnis genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Vgl. Fischer, Norbert Die Transzendenz in der Transzendentalphilosophie. Untersuchung zur speziellen Metaphysik in Kants „Kritik der reinen Vernunft". Bonn 1979; S.134-151. 4 Vgl. hier Kap.IV, §2. 5 A617B646. 6 SA Bd.7: S.411. 2

5. Die Implikationen des Kantischen Gottesverständnis für den Glauben

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nen, aufgrund derer er sich selbst als Mensch, d.h. als endliches Wesen versteht und darüber hinaus seiner Existenz einen Sinn gibt. Denn nach Kant hat Gott mit der Schaffung der Welt uns zwar verlassen, er hat uns aber die Freiheit ex gratia geschenkt, ihn dennoch nennen zu können. Die beabsichtigte Untersuchung, den Ursprung der menschlichen Gottesfrage von der Dingfrage her verständlich zu machen, kommt hier also zu ihrem Abschluß. Konnte doch gezeigt werden, daß das Subjekt "Gott" ursprünglich dadurch entdeckt, daß es aufgrund von Reflexion auf sich als Selbstverwirklichendes seinen Ursprung in einer spezifischen Naturabhängigkeit im Sinne einer grundlosen Gabe erblickt, mithin die Grenzen seiner Menschlichkeit anerkennt, und daran anschließend dieser seiner Existenz einen "erhofften" Sinn verleiht. Wie sich die menschliche Religiosität als ein weiterer Vollzug der Freiheit aufgrund von Selbsterkenntnis im Handeln erklären läßt, folgt nun zwanglos aus dem Dargelegten. Hier seien indessen die Implikationen des Kantischen Gottesverständnisses als innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft liegende noch kurz dargestellt.

5. Die Implikationen des Kantischen Gottesverständnis fiir den Glauben Aus der Analyse der menschlichen Problematik, im Ausgang von der Dingexistenz nach Gott zu fragen, hat sich ergeben, daß vom Kantischen Standpunkt aus Gott keineswegs einer hyperphysischen Ursache der Welt entspricht. Doch auch wenn der "Anfang" der Welt in einem physikalischen, von der Wissenschaft zu explizierenden Werden besteht, so erweist es sich dennoch als angemessen, von einem "göttlichen" Ursprung der Dinge zu reden, insofern als das Subjekt - sich selbst erkennend - die Wirklichkeit der Dinge und im Anschluß daran seine eigene naturwüchsige Existenz als ein Geschenk betrachtet. Aufgrund der Selbsterkenntnis versteht sich das Subjekt als von der Natur abhängig, denn seine Freiheit entsteht je neu "aus" ihr ex gratia. Und auch aus seiner reflektierten Freiheit ist ihm als letzte Möglichkeit die seiner Fähigkeit, frei zu sein, gegeben, "Gott" zu nennen bzw. seine eigene grundlose Existenz auf die Hoffnung hin zu verstehen, als ob es Gott gebe, was konstitutionstheoretisch durch einen aus der Selbsterkenntnis als Apperzeption resultierenden Abhängigkeitsgefühls explizierbar wird. Aus der Möglichkeit, sich als Mensch zu verstehen, seiner Existenz Sinn zu geben, folgt, dem Glauben vernünftig Platz zu schaffen, denn die Faktizität der Natur in ihrem Sosein, welche primär die Freiheit des Menschen angeht, entzieht sich jeder empirisch-wissenschaftlichen Erklärung, zeigt sich als eine Gabe fiir das Subjekt, so daß auch allein im Subjekt die Möglichkeit eines letzten Zeichens seiner Freiheit ruht, die Natur ihrer Wirklichkeit nach als "göttlich" bzw. so zu betrachten, als ob es Gott gebe.

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IV. Ursprung und Religiosität

Vor diesem Hintergrund soll hier noch auf zwei Einwände eingegangen werden, welche die These vertreten, Kant habe in seinem Gottesverständnis als einem menschlichen Transzendieren auf die Hoffnung hin den Glauben selbst abgeschafft und in unmittelbarem Anschluß daran die geschichtlichen Formen des Glaubens als bloße und darum verwerfliche Produkte einer falschen Einstellung dem Religiösen gegenüber betrachtet. Bezüglich der vermeintlichen Abschaffung des Glaubens gilt die Behauptung als paradigmatisch, daß ohne ein unmittelbares Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen nur unangemessen von Glaube die Rede sein könne. Die von Kant explizierte "Relation" zwischen Gott und Mensch sei daher hinsichtlich des Glaubens als unexakt anzusehen, weil er sie stets mit der sprachlichen Formulierung exemplifiziere, "als ob es Gott gebe". Unrichtig sei es daher von Relation zu sprechen, weil eines der Relata, nämlich Gott, nicht von vornherein als ein Gegebenes gelte, was dazu führe, daß Kant den Glauben im eigentlichen Sinne verkenne.1 Dabei wird aber gerade der Sache nach zu leicht vergessen, worin der Glaube wurzelt, und woraus er entsteht. Setzt man als notwendige Bedingung zur Erläuterung der menschlichen Frage nach Gott voraus, Gott müsse von vornherein ein vorhandenes Glied in der Relation Gott-Mensch darstellen, so folgt daraus, daß der Glaube einen unmittelbaren menschlichen Bezug auf Gott darstelle. Fällt aber Gott als Glied der Relation aus, so führe dies zur Unmöglichkeit des Glaubens. Entspricht erstere Erklärung einer dogmatischen Einstellung dem Glauben gegenüber, erweist sich letztere als eine materialistisch-skeptische. Die Diatribe zwischen diesen entgegengesetzten Einstellungen entsteht jedoch aus einem entscheidenden Mangel beider Positionen. Man könnte sagen - auch wenn dies zunächst als ein Paradox erscheinen mag -, daß die Dogmatiker wie die Skeptiker ein Zuviel an Glauben voraussetzen. Denn sie gehen jeweils von einer scheinbaren Gewißheit der Existenz Gottes bzw. dessen Nichtexistenz aus, um dann wieder zu Gott bzw. dessen Nichtexistenz zurückzukehren. Somit verstellen sie aber gerade den Sinn des Glaubens, den Kant gerade durch den außergewöhnlichen, ja provokativen Ausdruck zum Vorschein gebracht hat, daß man nur dann wirklich glaubt, wenn man von der Faktizität der Dinge ausgehend die eigene menschliche Existenz so betrachtet, als ob es Gott gebe. Wenn aber der Ausgangspunkt der Reflexion auf Gott gemäß dem erkenntnistheoretischen Ansatz Kants nichts anderes ist als ein Geschenk des Empirischen und also keineswegs eine schon von vornherein bestehende Definition Gottes, 1 Diesbezüglich muß angemerkt werden, daß Kant von dem Begriff des ens realissimum her eine Kritik an der Teologia rationalis durchführt; vgl. Henrich, Dieter, Der ontologische Gottesbeweis, Tübingen 1960. Solch eine Kritik ist aber von der Teologie nicht unbedingt als negative angesehen worden, da sie in erster Linie die Unmöglichkeit der Verdinglichung Gottes betrifft. Vgl. hierzu Barth, Karl, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 19522, § 7.

5. Die Implikationen des Kantischen Gottesverständnis für den Glauben

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dann muß auch gelten, daß daraus keinesfalls eine Abschaffung des Glaubens in einem skeptischen Sinne folgen muß. Eine Auslegung nämlich, die aus Mangel an Gewißheit von Glauben die Folgerung seiner Nichtexistenz ableitet, kann sich nur als kurzsichtig, wenn nicht als grundlegend falsch erweisen. Denn hier ist bereits die Bemerkung Kants eindeutig genug, daß nämlich die Undenkbarkeit der absoluten Notwendigkeit keineswegs als Zeichen der Nichtexistenz Gottes gelten kann1. Die von Kant vollzogene Wende, den Glauben ausgehend von einem subjektiven Standpunkt, nach Gott zu fragen, zu analysieren, findet also seinen Grund in der Notwendigkeit, den Glauben außerhalb der Diatribe zwischen Dogmatismus und skeptischem Materialismus zu rechtfertigen, um ihm jene Dignität eines subjektiv-vernünftigen Faktums überhaupt zuschreiben zu können. Die genannte Dignität kann der Glaube aber nur dann gewinnen, wenn er sich als eine vernünftige Haltung gegenüber dem unlösbaren Problem des Ursprungs der Wirklichkeit des Seienden erweist. Gerade dadurch aber, daß die Existenz der Dinge sich für das Subjekt als eine grundlose erweist - "denn es ist nichts, was die Vernunft an dieses Dasein schlechthin bindet" 2 -, kann der Glaube als eine vernünftige Haltung gerechtfertigt werden, insofern durch ihn das Subjekt in erster Linie die Existenz von allem, was ist und in all dem, was ihm an Geheimnisvollem zukommt, von sich aus gelten lassen kann und dadurch sich selbst zum Träger für dessen Sinn macht. In einer Spätschrift, die den Titel Das Ende aller Dinge trägt, schreibt Kant diesbezüglich, daß "die Menschen nicht ohne Ursache die Last ihrer Existenz fühlen, ob sie gleich selbst die Ursache derselben sind"3. Nicht von ungefähr ist die "Last der Existenz" also nicht "ohne Ursache" beschrieben, weil der Ursprung des Daseins der Dinge auf nichts zurückgeführt werden darf, als darauf, daß das Subjekt - sich selbst erkennend - aufgrund der unexplizierbaren Tatsache seiner Existenz je neu aus sich heraus fordern muß, sich für den Endzweck aller Dinge mitverantwortlich zu begreifen. Berücksichtigt man zudem noch, daß es ausschließlich und allein am Subjekt selbst hängt, seiner Existenz aus sich als einem sich als frei verstehenden Wesen heraus einen Sinn zu verleihen, so ergibt sich daraus, daß diese seine Möglichkeit mit einer grundsätzlichen Unwissenheit verbunden ist: Der Unwissenheit nämlich um den Grund seines Soseins als eines der Freiheit fähigen Wesens, ohne welche es auch nicht sein könnte, was es ist und was es auf Grund deren darüber hinaus noch sein soll. Diese Unwissenheit stellt nun gerade vom Kantischen Standpunkt aus das wankende "freie Feld"4 des Glaubens dar. Der Glaube bezeichnet demzufolge nach Kant den Ort des Nichtwissens, der seinen Ursprung in dem Zusammenspiel von 1 2 3 4

Vgl. dazu A641 B669. A618 B645. Ak. Bd.8: S.332. Ebd. S.333.

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Freiheit und Faktizität des Existierens hat. Fragt man sich nun, wie außerhalb dieser metaphorischen Redeweise die formale Struktur des Glaubens zu definieren ist, so läßt sich aus der Unwissenheit um den Grund der Existenz zunächst nur eine negative Abgrenzung dessen liefern, was er konstitutionstheoretisch nicht sein kann. Seiner Struktur nach kann nämlich der Glaube weder ein intentionalen Akt noch ein bloßen Zustand sein. Keine intentionale Form ist dem Glauben angemessen, weil der Intentionalität semantisch Erfolg bzw. Mißerfolg korrelieren, wohingegen dem Glauben - und zwar der Sache nach und nicht bloß aufgrund eines Mangels an Verifikationskriterien1 - die Unmöglichkeit zum Erfolg eigentümlich ist. Die Struktur des Glaubens kann aber auch nicht als Zustand erläutert werden, denn die Unwissenheit um den Grund der Dinge zeigt sich zwar durch ein eigentümliches Fühlen an, setzt aber einen reflektierenden Denkakt voraus. Vor dem Hintergrund der beiden negativen Abgrenzungen des Glaubens wird aber dann gerade das ersichtlich, worüber Rechenschaft gefordert wurde: Nämlich über die Notwendigkeit, hinsichtlich des Glaubens sich folgendermaßen auszudrücken: Daß man glaubt, wenn man sich selbst so versteht, als ob es Gott gebe. Mit solch einer Formulierung gewährleistet man die Eigenständigkeit des Glaubens sowohl gegenüber dem subjektiven Intentionalitätsvollzug, der immer einen Erfolg intendiert, als auch gegenüber dem bloßen Fühlen, welches selbst keinen Erfolg intendiert, jedoch keine Reflexion benötigt. Wenn der Glaube konstitutionstheoretisch sich weder als eine Intention noch als ein Zustand fassen läßt, so stellt sich doch die Frage, wie er sich dann überhaupt begreifen läßt, und vor allen Dingen, ob aufgrund der vorausgegangenen Prämissen noch von einer Relation hinsichtlich des Glaubens gesprochen werden kann. Der Übergang von der negativen Erläuterung der formalen Struktur des Glaubens zur entsprechend positiven ergibt sich daraus, daß der Glaube weder auf einer intentionalen Struktur beruht noch ein Fühlen als bloßes Empfinden ist, sondern vielmehr den Fall einer autonomen Reflexion darstellt. Konstitutiv für eine solche Reflexion ist ihre Autonomie im Sinne eines Rückbezugs des Subjekts auf sich selbst, den das Subjekt selbst von sich aus bzw. aus sich heraus leistet. Zum einen wird dadurch ein Selbstverständnis von sich als einem freien Wesen ermöglicht, wird das Subjekt doch erst auf diese Weise seiner Freiheit fähig. Zum anderen erfährt das Subjekt dadurch aber auch, daß die Existenz seiner eigenen Freiheit nicht von ihm selbst abhängt, sondern vielmehr eine grundlose Gabe darstellt, die als eine göttliche zu bestimmen aber allein in seiner eigenen Möglichkeit liegt. 1 Bezüglich der Notwendigkeit bzw. Nicht-Notwendigkeit des Glaubens, Verifikationskriterien zu fordern, um zu einer Rechtfertigung des Glaubens selbst als einem vernünftigen Faktum überhaupt zu gelangen, vgl. Crombie, Ian M. Die Möglichkeit theologischer Aussagen. In: Sprachlogik des Glaubens, hrsg. von Dalferth, Ingolf U., München 1974. S.96-146.

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Gerade diese seine letzte Möglichkeit, die eigene Existenz als "göttlich" gelten zu lassen, bestimmt die Eigentümlichkeit des Glaubens als autonomer Reflexion, denn sie erschöpft sich nicht in dem bloßen Selbstverständnis seiner selbst als einem freien Wesen ex gratia, sondern sie vollzieht sich in der "blinden" Übernahme seiner selbst, welche auch mit einer ebenso "bedingungslosen" Hoffnung in der Erwartung Gottes verbunden werden kann. "Blind" ist die Übernahme seiner selbst, weil sie auf nichts anderem als auf der subjektiven Möglichkeit beruht, ein letztes "Trotzdem" vor der Grundlosigkeit seiner Existenz als den höchsten Akt seiner Freiheit auszusprechen. Und die damit verbundene Hoffnung gilt als eine "bedingungslose", weil sie sich in der Erkenntnis verzehrt, daß die Erwartung Gottes zwar vielleicht nur eine letzte "Fiktion" des Subjekts sein wird, sie aber nie und nimmer nur eine vorübergehende "Illusion"1 sein kann. Sie kann dies deshalb nicht sein, weil der Glaube als Reflexion sich im Lauf der Verwirklichung der menschlichen Freiheit vollzieht. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Struktur des Glaubens eine autonom-freie Reflexion des Subjekts auf Hoffnung hin als Übernahme seiner eigenen Existenz in der Erwartung Gottes ist, was theologisch gesehen sich als eine sich je neu vollziehende messianische Strukturierung der Vernunft selbst beschreiben ließe. Theologisch gesehen gilt des weiteren, daß die Meinung, der Glaube sei nur möglich innerhalb eines Verhältnisses zwischen zwei voneinander unabhängig vorhandenen Gliedern (Gott - Mensch), als falsch anzusehen ist. Denn, wie aus dem Kantischen Ansatz gerade gezeigt wurde, gewährleistet erst eigens das Ausfallen des Relatums "Gott" als eines vorhandenen die Möglichkeit des Glaubens selbst als menschlicher "Korrelation"2 in der Erwartung Gottes3. In immittelbarem Anschluß an einen Gedanken von Rosenzweig läßt sich deutlicher der Kern der Implikationen aus Kants Gotteslehre für den Glauben erhellen. Rosenzweig schreibt nämlich, daß "das Wunder wirklich des Glaubens liebstes Kind ist"4, so daß man - Kant ergänzend - eigentlich vielleicht sagen müßte, daß der Glaube selbst des Wunders "liebstes Kind" ist, denn, indem Gott uns mit der Schöpfung verlassen hat, hat er uns eine freie Existenz geschenkt. Bei Kant kann sich also die Frage nach Gott im Glauben an nichts anderes wenden als an die im Vollzug der menschlichen Existenz immer neu auftretende

1 Der Gebrauch der Termini »Fiktion« und »Illusion« hat in bezug auf den Glaubensvollzug seinen Ursprung in dem Werk Cohens Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Vgl. dazu Cohen, Hermann Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Wiesbaden 1995, S. 195. 1 Auch in dem Terminus „Korrelation" wird auf Cohen bezug genommen, wenn gleich nur hinsichtlich der formalen Struktur des Glaubens als einem menschlichen Freiheitsvollzug. Vgl. Cohen, Hermann Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Wiesbaden 1995, S.95. 3 Anlaß zu der zuletzt ausgeführten Reflexion ist die Sitzung des Doktorandenkolloquiums von Bernhard Casper am 13. November 2000 gewesen, wo der Begriff „Korrelation" im engen Zusammenhang mit dem Begriff des Freiheitsvollzugs im Glauben erläutert wurde. 4 Rosenzweig, Franz Der Stern der Erlösung. Frankfurt 1996. S.103.

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IV. Ursprung und Religiosität

Möglichkeit dafür, daß sich dort, wo die Unsicherheit und das mit ihr verbundene letzte "Trotzdem" des Menschen herrschen, sich das Mysterium der Wirklichkeit Gottes klar erkennen läßt. Wenn aus dem Gesagten letztlich deutlich geworden ist, daß das Kantische Gottesverständnis als eines menschlichen Transzendierens auf Hoffnung hin also keineswegs die Abschaffung des Glaubens impliziert, sondern ihn vielmehr, und erst als eine vernünftige Ausübung der menschliche Freiheit rechtfertigt, so bleibt doch immer noch zu untersuchen, in welchem Zusammenhang die Gotteslehre Kants zu den geschichtlich überlieferten Formen des Glaubens der Religionen steht. Diesbezüglich wird allgemein mit Nachdruck hervorgehoben, dem Kantischen erkenntnistheoretischen Ansatz gemäß hebe sich der Gott der monotheistischen Religionen bzw. das Heilige der gottlosen Religionen (Kant bezieht sich allerdings in seinen Hauptwerke vor allem auf das Christentum) in der Idee eines bloß "regulativ[en] Prinzipfs] der Vernunft"1 auf. Es wird ferner darauf aufmerksam gemacht, daß dieser spezifisch regulative Aspekt des Kantischen Gottesverständnisses in eine Art Afunktionalität im Hinblick auf den Glaubensvollzug einmünden kann. Auch wenn nicht zu bestreiten ist, daß der Gott der Religionen nach Kant zu einem regulativen Prinzip geworden ist, so läßt er sich doch nicht nur als ein bloßes, sondern eben gerade deshalb als ein nur regulatives Prinzip bezeichnen. Ein nur regulatives Prinzip wird der Gott der Religionen, weil der Ursprung der Religionen selbst samt dem Religiösen stets im Menschen als einem vernünftigen Wesen auf dem Hintergrund der Grundlosigkeit seiner eigenen Existenz zu betrachten ist, und daher Gott zu einer regula für den Menschen wird2. Nur scheinbar gelangt man also ausgehend von der durch Kant thematisierten Regulativität Gottes der Religionen zu einer Afunktionalität Gottes, denn es zeigt sich, daß die Afunktionalität Gottes viel eher aus dogmatischen Voraussetzungen abgeleitet wird. Solange der Glaube unabhängig von der subjektiven Möglichkeit, sich als freies Wesen in der Erwartung Gottes zu verstehen, betrachtet wird, stellt sich nämlich die Frage, inwiefern man von Gott als jenem Mysterium reden kann, auf dessen Grund die Menschen stehen, um gemeinsam auf die unüberwindbare Unsicherheit ihrer Existenz eine konkrete Antwort zu geben, indem sie Gott zu einer regula für sich selbst gemacht haben. Versucht man hingegen, die These Kants stark zu machen, daß Gott in erster Linie im Vollzug der menschlichen Freiheit offenbar wird, so zeigt sich in dem genannten gläubigen Entsprechungsverhältnis zum Gott der Religionen eine mögliche und zugleich konkrete Antwort und damit der Grund dafür, weshalb sich 1

A619B647. Theologisch gesehen wäre es also blasphemisch zu sagen, Gott brauche die Theologie als Wissenschaft und nicht vielmehr die Menschheit in jedem Menschen, um sich zu offenbaren. 2

7.

Zusammenfassung

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jeder Mensch für den Endzweck aller Dinge mitverantwortlich machen muß. Dieses Entsprechungsverhältnis zum Gott der Religionen kann somit vom Kantischen Standpunkt aus nicht als verwerflich angesehen werden, sofern es dazu beiträgt, "die frechen und das Feld der Vernunft verengenden Behauptungen des Materialismus Naturalismus und Fatalismus aufzuheben"1, um der Menschwerdung auf Hoffnung hin Platz zu schaffen. Nach Kant gilt also, daß das Entsprechungsverhältnis zum Gott der Religionen sich nur dann in die Tat umsetzt, wenn eine vorausgegangene Entsprechung stattgefunden hat: jene zu sich selbst durch Anerkennung der eigenen Menschlichkeit. Nach Kant gilt gewiß, daß der Gott der Religionen zu einem nur regulativen Prinzip innerhalb der bloßen Vernunft wird, wobei sich aber auf dessen Grund das vollzieht, was sich dem Menschen allein ex gratia je neu in seiner Zeit offenbart: Das Mysterium des Geschenks seiner eigenen Existenz. Denn aufgrund der Möglichkeit, seine eigene Geschichte frei zu verwirklichen, ist der Mensch nicht der Eigentümer, weder der Dinge, noch seiner selbst, da er beide nicht geschaffen hat. Aus dem zuletzt Gesagten läßt sich also zeigen: Ausgehend von der Dingfrage gelangt der Mensch zur Gottesfrage, weil er in der Wirklichkeit der Dinge wie seiner selbst schon immer ein Geschenk entdeckt: Die Möglichkeit, sich selbst zu verstehen; ein sich grundlos und doch auf Hoffnung hin verwirklichender Mensch.

6. Zusammenfassung Durch die Herausarbeitung der Dingfrage hat sich gezeigt, daß Objekte bzw. physische Gegenstände, obwohl sie zunächst als Erscheinungen betrachtet werden müssen, auch noch an sich selbst zu betrachten sind. Denn subjektive Intentionalität und objektive Faktizität zeigen sich notwendigerweise als miteinander verbunden, besteht doch der Erfolg der Erkenntnisintention in etwas, was außerhalb der Intention selbst liegt: nämlich in der Wirklichkeit der Dinge selbst als Geschenk bzw. Gabe der Empirie. Allein ausgehend von der Subjektabhängigkeit der Wirklichkeit der Dinge läßt sich also die Faktizität der Dinge im Sinne einer Gabe bzw. eines Geschenks der Empirie für das Subjekt ableiten. Die Wirklichkeit der Dinge wird zu einem Problem für das Subjekt, weil ihre Faktizität die Form eines Geschenks annimmt und daher sich nicht unter einem empirischen Begriff fassen läßt. Die Faktizität der Dinge bestimmt vielmehr die Unbegreiflichkeit ihrer Existenz für das Subjekt. Gerade aufgrund der Problematik dieser eigentümlichen Unbegreiflichkeit der Dinge für das Subjekt galt es die Frage zu stellen, ob im Rahmen der Kantischen Erkenntnistheorie ein Übergang zur Frage nach Gott nötig ist, obwohl doch ein 1

Ak. Bd.4: S.363.

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IV. Ursprung und Religiosität

Teil der Kant-Kritik behauptet, die Frage nach Gott sei vom Kantischen Standpunkt aus eigentlich in einer Handlungs- bzw. Moraltheorie anzusiedeln. Vor diesem Hintergrund mußte man zunächst auf den Grund der Unbegreiflichkeit der Existenz der Dinge für das Subjekt anhand einer Untersuchung der sogenannten Antinomien der reinen Vernunft eingehen. Fragt man sich nach der Ursache der Unmöglichkeit, die Faktizität der Dinge unter einem empirischen Begriff zu fassen, so erhebt sich der Zweifel, ob diese Unmöglichkeit auf der Schwierigkeit beruht, die Entstehung der Dinge im Sinne ihres physikalischen Anfangs verständlich zu machen. Die Entstehung der Dinge läßt sich nämlich keineswegs innerhalb der bloßen Materialität der Objekte erklären, wenn sich die Konstituierung physischer Gegenstände aus dem Form-Materie Verhältnis ergibt. Um als das, was sie sind, also als ein "aus" EmpirischNaturalem konstituiertes Etwas zu bestehen, bedürfen die Dinge einer sich je neu vollziehenden Entstehung, durch die allein sie auch sein können, wie sie faktisch sind. Der Versuch, die Entstehung der Dinge ausgehend von einer uranfänglichen Form, durch die die Dinge so sind, wie sie faktisch sind, zu erklären, zeigt sich allerdings als der Faktizität der Dinge selbst widersprechend und geradezu als falsch, wenn dieser Anfang in einem außerzeitlichen und außerräumlichen Schöpfer oder in Form einer creatio sui derselben Dinge gedacht wird. Aus dem Gedanken einer uranfänglichen Ursache der Welt im Sinne eines Schöpfers oder einer creatio sui der Dinge ergibt sich nämlich, daß die Dinge als bloß Entstandene zu betrachten wären, was erneut zur Frage führt, wie sie hier und jetzt als ein faktisches Entstehen und Bestehen in einem zu betrachten wären. Zwecks einer widerspruchsfreien Auflösung des Problems der Entstehung der Welt als ihres physikalischen Anfangs galt es daher an Folgendem festzuhalten: Weniger als Entstandene müssen die Dinge von selbst je neu faktisch als das entstehen, was sie sind: Ein aus einem Entstehen sich je neu vollziehendes Bestehendes, was Kant allerdings aufgrund der physikalischen Theorie Newtons' nur auf intuitive Weise explizit machen konnte, soweit er den Anfang der Welt auf eine Kausalität, welche "in der Ursache selbst anhebt"1 bzw. "sich ereignet oder geschieht"2 beruhen ließ. Zieht man aus der von Kant erwähnten Notwendigkeit, den Anfang der Dinge, ausgehend von "etwas", was "sich ereignet oder geschieht", verständlich zu machen, die letzten Konsequenzen, so ergibt sich daraus, daß der Anfang der Dinge nicht in Etwas, was etwas Anderes in Bewegung brächte, sondern "in" Etwas als diese Bewegung selbst verortet werden muß. Dies führt darum dazu, den Anfang als die Werdung zu verstehen, die sich innerhalb der Natur selbst im Sinne eines

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A455 B483 Kursiv von mir. Ak. Bd.4: S.343 Kursiv von mir.

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Zusammenfassung

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immerwährenden Naturgeschehens vollzieht, was ferner mit sich bringt, den Anfang als den, der er ist, nämlich als Anfangslosigkeit, gelten zu lassen. Wenn man von diesem Ergebnis aus noch einmal auf die zu Beginn gestellte Frage zurückkommt, ob der Grund der Unbegreiflichkeit der Existenz der Dinge fur das Subjekt in der Schwierigkeit besteht, die Komplexität der physikalischen Entstehung der Dinge zu erläutern, so wird offensichtlich, daß hierbei die Vernunft als Erkenntnisvermögen, um mit Kant zu sprechen, zwar mit einer "Schranke"1 bzw. mit dem wissenschaftlichen Problem der Physik, die Möglichkeit des "Anfangs" der Dinge als der ihres Entstehens innerhalb der Natur zu erklären, aber nicht mit ihrer eigenen "Grenze"2 zu tun hat. Die Entstehung der Dinge erweist sich nämlich nur dann als eine "Grenze" der Vernunft, wenn man über die Naturwerdung hinaus auch noch fragt, was fur eine Bedeutung diese Werdung für das Subjekt hat. Nicht die bloße Naturwerdung, sondern das je neu Wirklich-werden der Dinge für das Subjekt macht die Unbegreiflichkeit der Dinge ihrer Faktizität nach aus. Kant spricht desweiteren in bezug auf diese Unbegreiflichkeit den Dingen einen Geschenkcharakter zu, denn die sich je neu vollziehende Entstehung der Empirie ist in Analogie zum Geschenkcharakter eines Kunstwerks zu verstehen. Wie der Ursprung des Kunstwerks in seinem Sich-je-neu-freien-geben für das Subjekt besteht, so zeigt sich auch der Ursprung der Dinge in einem Sich-je-neu-freiengeben, und zwar in dem der Dingexistenz sich je neu dem Subjekt Schenken, so daß sich Gott in seinem Akt, die Welt zu schaffen, ihr zugleich entzieht, damit das Wunder der Existenz der Dinge sich für das Subjekt erneuern kann. Eigens der geschenkhafte Charakter der Dinge wies daher auf die Notwendigkeit hin, auf die Unbegreiflichkeit der Dinge als die Grundlosigkeit ihrer Existenz für das Subjekt weiter einzugehen. Die Frage nach dem Ursprung der Existenz der Dinge zu bewältigen, heißt somit, auf die Bedeutung der grundlosen Entstehung der Dinge für das Subjekt zu reflektieren, denn die Frage nach dem Ursprung alles dessen, was ist, spielt sich gleichsam in einem "Dazwischen" ab, d.h. zwischen dem Subjekt als Fragendem und den Dingen in ihrem Geschenksein. Auf der Grundlage der besagten Subjektabhängigkeit der Frage nach dem Ursprung der Dinge - da ihre Existenz sich als eine grundlose fur das Subjekt erweist - wird es also notwendig, die Frage nach dem Ursprung zu jener nach dem Wozusein der Existenz der Dinge für das Subjekt zu wenden. Indem das Subjekt die Dinge in ihrer Existenz bzw. "an sich selbst" betrachtet, muß es sie auch "anders" als in einem wissenschaftlichen Verständnis wie Erscheinungsformen der Natur betrachten, denn es fragt dabei nicht nach einem Geschehen als einem Naturbe-

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Ak. Bd.4: S.352. Ebd.

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IV. Ursprung und Religiosität

dingten, sondern bezüglich desselben Naturgeschehens auch noch nach dessen Bedeutung fur es selbst. Die Frage nach dem Ursprung der Dinge wurzelt somit dem Kantischen Ansatz gemäß in der "Naturanlage"1 des Subjekts, "anders" bzw. nach dem Wozu-sein der Existenz alles dessen, was ist, für es selbst zu fragen, was konsequenterweise dazu führt, die Frage nach dem Ursprung der Existenz der Dinge im Rahmen einer philosophischen "Anthropologie"2 anzusiedeln. Deshalb wird also die Frage nach dem Ursprung der Existenz der Dinge grundlegend, weil das Subjekt sich in ihr in eigentümlicher Weise mit sich selbst beschäftigt, d.h., indem es nach dem Wozu-sein von Etwas für es selbst fragt, fragt es im Grunde nach seinem eigenen Ursprung als dieses Fragenden in der Welt. Die Frage nach dem Ursprung der Existenz der Dinge für das Subjekt birgt in sich die Frage "[W]oher bin ich denn?"3. Dieser letzten Frage mit der Antwort zu begegnen: "Aus Natur qua aus einem empirischen Entstehen", reicht jedoch nicht aus, denn aus Natur im Sinne des empirischen Entstehens besteht der Mensch ja eigentlich nur als Körper. Dabei gilt es nämlich zu bedenken, daß der Mensch zwar phylogenetisch aus der Natur entsteht, aber seiner Ontogenese nach in Form einer Selbstgestaltung durch eine Se/fosfverwirklichung auf Basis von Anderem (causa sui ex aliquo) auftritt, und dies kann nicht als ein Geschenk der Empirie angesehen, sondern muß "anders" betrachtet werden. Aus dem bisher Dargelegten zeigt sich somit in aller Deutlichkeit vom Kantischen Standpunkt aus die Notwendigkeit, von der Dingfrage ausgehend den Übergang zur Frage nach Gott in dem Mensch-Natur-Phänomen zu suchen. Der Auftritt der Spontaneität im Sinne der menschlichen Selbstverwirklichung "aus" Anderem (causa sui ex aliquo) stellt in der Welt ein Wunder bzw. eine grundlose "Schöpfung" dar, denn sie entsteht gewissermaßen ohne Grund aus der Natur. Hinsichtlich der menschlichen Spontaneität als einer Selbsttätigkeit scheint es also angemessen zu sein, von einer Naturwüchsigkeit zu sprechen, denn nach Kant ist der Mensch nicht der "Eigentümer"4 seiner Spontaneität, sondern er ist auf sie ihrer Möglichkeit nach angelegt: Die Selbsttätigkeit entsteht der Möglichkeit nach "aus" Natur, d.h. auf der Basis des Körpers. Der Mensch intendiert nämlich nicht die Intention selbst, sondern ist seiner Natur nach geradezu dazu verurteilt, selbst wenn er als diese Selbstverwirklichung "sui ipsus imperans ist"5, weil er in der Lage ist, etwas von sich aus "schlechthin anzufangen"6. Fragt man sich nun, ob vielleicht Gott selbst der eigentliche Eigentümer der menschlichen Selbsttätigkeit sein könnte, so meint aber dazu Kant, daß "zwar der

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Ak. Bd.4: S.362. Ebd. A613 B641. "Ak. Bd.23: S.258. 5 Ebd. 6 A445 B473. 2 3

7. Zusammenfassung

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Körper, aber nicht [das menschliche] geistig[e] Wesen" 1 von Gott geschaffen sein könne. Vom Kantischen Standpunkt aus betrachtet wird nämlich weder von Gott noch durch natürliche Evolution der menschliche Geist geschaffen, so daß es dem Menschen selbst aufgegeben ist, sich als Person zu schaffen. Dies impliziert jedoch nicht, die Schaffung der Person müsse sogleich in der Moralphilosophie verortet werden. Denn der Mensch muß seine Selbsttätigkeit, welche im Sinne eines spontanen Tuns erst in Form der Selbstverlorenheit auftritt, zunächst einmal finden bzw. ihrer allererst, um mit Schelling zu sprechen, "fähig" 2 werden. Und das Subjekt eignet sich seine Selbstverwirklichung nach Kant ursprünglich in dem Sinne an, daß es sich selbst aus sich selbst heraus erkennt, so daß der Ursprung des Menschen in seiner reflektierten Freiheit besteht: Das Subjekt weiß mithin um seine Selbstverwirklichung und wird dieser dadurch fähig. Kant nennt den Fall von Selbsterkenntnis auch noch "bloße Apperzeption" 3 . Von der Analyse der Selbsterkenntnis im Sinne eines bloßen Apperzipierens galt es zuletzt zu untersuchen, ob der Mensch dadurch sich auch noch als ein Wesen in-Gott versteht, und darüber hinaus, welche die bedeutendste Implikation des Kantischen Gottesverständnisses für den Glauben sei. Kant beschreibt die reflektierte Freiheit als "bloße Apperzeption" 4 , denn sie tritt wie ein Gefühl, doch nicht als ein Gefühl auf. Sie bestimmt vielmehr eine Erkenntnisart in Form der Reflexion, durch die das Subjekt sich durch "ich denke, ..." vernünftig erkennt. Sie ist nämlich auf ein "verborgene[s] Erkenntnisvermögen"5 zurückzufuhren, kraft dessen das Subjekt zu einer eigentümlichen Selbstthematisierung gelangt, so daß es sich als von der Natur auf eine spezifische Weise abhängig entdeckt: Es versteht sich nämlich als das einzige Wesen, das aus sich selbst heraus fordern kann, seine Existenz als ein Geschenk gelten zu lassen, dadurch, daß es sie zunächst einmal als eine grundlose Gabe der Empirie faßt und versteht, ohne daß es einen anderen Grund außer seiner Freiheit selbst gibt, seiner eigenen Existenz einen Sinn zu verleihen. Um zu dieser Selbstforderung überhaupt zu kommen, muß das Subjekt aber angesichts der Grundlosigkeit des Daseins alles dessen, was ist, ein letztes "Trotzdem" aussprechen: Dadurch wird es frei "in-Gott". Das Subjekt kann dadurch seine eigene Existenz so betrachten, als ob es Gott gebe. Hinsichtlich des Glaubens impliziert dies auch noch, daß die Übernahme seiner eigenen Existenz sich im Glauben in der Erwartung Gottes vollzieht. Als die finden Glauben von größter Relevanz geltende Implikation des Kantischen Gottesverständnisses gilt daher, daß die Struktur des Glaubens einer autonom-freien 1 Ak. Bd.23: S.258. 2 SA Bd.7: S.411. 3

A546 B574 Kursiv von mir. "Ebd. 5 Ak. Bd.l: S.367.

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Reflexion des Subjekts auf Hoffnung hin entspricht, was sich theologisch gesehen als eine sich je neu vollziehende messianische Strukturierung der Vernunft selbst beschreiben ließe.

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Namenregister Adickes, Ε.: 6 Anm., 7, 213 Allison, Η.: 10 Anm., 66 Anm., 68 Anm, 144 Anm., 213 Andersen, S.: 160 Anm., 213 Antweiler, Α.: 172 Anm., 213 Aristoteles: 3, 15ff, 35ff, 52, 82, 106 Anm., 108, 163,213 Barth, K.: 202 Anm., 213 Baumgarten, H.-U.: 45 Anm., 64 Anm., 102 Anm., 188 Anm., 213 Brentano, F.: 52 Anm., 213 Casper, Β.: 188 Anm., 200 Anm., 205 Anm., 213 Chieregin, F.: 171 Anm., 213 Cohen, H.: 193 Anm., 205 Anm., 213 Cramer, Κ : 199 Anm., 213 Crombie, 1. M.: 204 Anm., 213 Descartes, R.: 8, 9, 138 Anm., 157 Anm., 186 Anm., 213 Fischer, N.: 200 Anm., 213 Frege, G.: 53, 85, 124 Anm., 138 Anm., 213 Friebe, C.: 45 Anm., 114 Anm., 213 Hegel, G. W. F.: 2,6ff, 43 Anm., 52 Anm. Heidegger, M.: 43 Anm., 45 Anm.,52 Anm., 54 Anm., 60, 77 Anm., 108 Anm., 114 Henrich, D.: 178,202,213 Jacobi, F. H.: 21, 24f, 66, 70 Kant, I.: Iff, 6ff, lOff, 20ff, 27ff, 30ff, 36ff, 39ff, 42ff, 48ff, 52, 54, 55ff, 60ff, 65ff, 70ff, 76ff, 82ff, 94, 95ff, 99ff, 102, 105ff, 11 Iff, 122ff, 129ff, 133, 135ff, 140, 143ff, 150ff, 155ff, 160, 162ff, 176ff, 182, 185f, 188ff, 191, 20Iff, 205ff Kuhn, T. S.: 128 Anm., 132 Anm., 133 Anm., 213 Leibniz, G. W.: 8f, 138 Anm.,142 Anm., 156, 213

Löwith, K.: 157 Anm.,186, 187,193,213 Martin, G.: 8 Anm., 44 Anm., 213 Piaton: 15f, 156,213 Prauss, G.: 3 Anm., 7 Anm., 10 Anm., 15 Anm., 18 Anm., 28 Anm., 31 Anm., 32 Anm., 33 Anm., 36 Anm., 42 Anm., 44 Anm., 45 Anm., 47 Anm., 49 Anm., 50 Anm., 51 Anm., 52 Anm., 55 Anm., 56 Anm., 58 Anm., 60 Anm., 64 Anm., 66 Anm., 70 Anm., 72 Anm., 73 Anm., 74 Anm., 77 Anm., 78 Anm., 79 Anm., 82 Anm., 83, 85 Anm., 90 Anm., 92 Anm., 99 Anm., 102 Anm., 107 Anm., 111 Anm., 114 Anm., 117 Anm., 119 Anm., 121 Anm., 122 Anm. 126 Anm., 129 Anm., 134 Anm., 138 Anm., 144 Anm., 145 Anm., 156 Anm., 169 Anm., 171 Anm., 173 Anm., 175 Anm., 183 Anm., 190 Anm., 191 Anm., 213,214 Prichard, Η. Α.: 6 Anm., 214 Quine, W. O. van: 85,214 Rohs, P.: 114 Anm., 214 Rosenzweig, F.: 205, 214 Salvucci, P.: 6 Anm., 214 Scaravelli, L.: 81 Anm., 214 Scheffer, T.: 127 Anm., 134 Anm., 214 Schelling, F. W. J.: 188, 190,211 Schleiermacher, F.: 198f Anm., 214 Severino, G.: 7 Anm., 11 Anm., 214 Stegmüller, W.: 124 Anm., 214 Strawson, P.F.: 6 Anm., 214 Tarski, Α.: 124 Anm., 214 Verweyen, H.: 190 Anm., 214 Viertel, W.: l l l f Anm., 214 Vleeschauwer, H. J.: 11 Anm., 214 Vollmer, G.: 50 Anm., 214