Untersuchungen zur Funktion der Götter im homerischen Epos 3110107775, 9783110107777

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Untersuchungen zur Funktion der Götter im homerischen Epos
 3110107775, 9783110107777

Table of contents :
Frontmatter......Page 1
Vorwort......Page 7
Inhaltsverzeichnis......Page 9
Verzeichnis der abgekrzt zitierten Literatur......Page 11
Einleitung: Das Ziel der Untersuchung......Page 15
I. Teil. Von den Epikern entdeckte oder umgeschaffene (verwandelte) Gottheiten......Page 21
II. Teil. Die Hauptgötter......Page 101
III. Teil. Wortuntersuchungen zum homerischen Schicksalsbegriff......Page 271
Rückblick und Ausblick......Page 309
Stichwort- und Namenregister......Page 323
Stellenverzeichnis......Page 326
Griechische Wörter......Page 330

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Hartmut Erbse Untersuchungen zur Funktion der Götter im homerischen Epos

Untersuchungen

zur

antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Winfried Bühler, Peter Herrmann und Otto Z wierlein

Band 24

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1986

Untersuchungen

zur Funktion

der Götter im homerischen Epos von Hartmut Erbse

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1986

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig - pH 7, neutral)

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Erbse, Hartmut: Untersuchungen zur Funktion der Götter im homerischen Epos / von Hartmut Erbse. - Berlin; New York: de Gruyter, 1986. (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte; Bd. 24) ISBN 3-11-010777-5

NE: GT

©

1986 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus aufphotomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

MEINEM

LEHRER

BRUNO

SNELL

Zum 90. Geburtstag am 18. Juni 1986

... mivn:~ öi: 0erov xa-reoucr' liv0pc01tot('Y48)

Vorwort Den nachstehenden Eröterungen liegen Überlegungen zugrunde, die mich seit langer Zeit beschäftigt haben. Sie niederzuschreiben, ist mir erst in den letzten beiden Jahren gelungen. Im Mittelpunkt des Ganzen steht die Frage nach dem Verhältnis der homerischen Götter zur Handlung der Epen. Diese Frage ließ sich nur beantworten, wenn die Beziehungen der Götter zum homerischen Menschen gebührend beachtet, das besagt: wenn die Eigenheiten der homerischen Psychologie, wie sie besonders von Bruno Snell erkannt und dargestellt worden sind, ernstgenommen wurden. Wo der griechische Wortlaut für das Verständnis der Argumentation geringere Bedeutung hat, habe ich Homerzitate in Übersetzung gegeben (nach Rupe oder Schadewaldt für die Ilias, nach Voß oder Schadewaldt für die Odyssee), habe mich aber bemüht, diesen Notbehelf auf ein Mindestmaß einzuschränken. Das Manuskript wurde abgeschlossen im Juli 1985. Literatur, die nach diesem Zeitpunkt erschienen ist, habe ich nicht mehr berücksichtigen können. Den Herausgebern der „Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte" danke ich wiederum für die gütige Aufnahme meines Versuchs in ihre angesehene Monographienreihe. Verlag und Setzerei haben alle Arbeiten mit großer Sorgfalt ausgeführt, Frau G. Müller hat die Drucklegung gewissenhaft überwacht. Herr Dr. phil. H.-L. Barth hat mich beim Lesen der Korrekturen unterstützt und vor mancherlei Irrtümern bewahrt. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Bonn, im Mai 1986

Hartmut Erbse

Inhaltsverzeichnis Vorwort .........

.

VII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur . Einleitung: Das Ziel der Untersuchung

....

XI 1

I. Teil. Von den Epikern entdeckte oder umgeschaffene (verwandelte) Gottheiten 1. Nomen proprium und appellativum 2. Iris, Hermes, Hephaistos . .

9 54

II. Teil. Die Hauptgötter 1. Aphrodite

89

2. Poseidon.

102

3. Athene .

116 156 169 193 209

4. Ares ... 5. Apollon

6. Here. 7. Zeus .. III. Teil. Wortuntersuchungen zum homerischen Schicksalsbegriff

Aaiµcov, 0e6~ (0eoi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Moipa, µ6po~, 1t6tµo~, ohu~, 1CT1P (1d'jpe~),afoa . . . 273 Über das Verhältnis des Schicksals zu den Göttern . 284 Rückblick und Ausblick . . . .

295

Stichwort- und Namenregister. Stellenverzeichnis. . Griechische Wörter ..............................

309 312 316

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur* ADKINS ANDERSEN

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BECHTEL,Lexil. BEßLICH

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BIANCHI ßOEDEKER BRASWELL BRÖCKER ßURKERT

CALHOUN1934 CALHOUN1935 CALHOUN1937, I CALHOUN1937, II CALHOUN1939 CHANTRAINE,D. E. L. G. CHANTRAINE,Entretiens I

CHANTRAINE,Gr. homer. 1-11 COMPANION

DEICHGRÄBER DIETRICH

*

G. M. C., Telemaque et Je plan de !'Odyssee, R. Et. Gr. 47, 1934, 153-163 G. M. C., Zeus the Father in Homer, T. A. Ph. A. 66, 1935, 1-17 G. M. C., Homer's Gods: Prolegomena, T. A. Ph. A. 68, 1937, 11-25 G. M. C., The Higher Criticism on Olympus, Am. Journ. PhiIol. 58, 1937, 257-274 G. M. C., Homer's Gods: Myth and Märchen, Am. Journ. Philol. 60, 1939, 1-28 P. Ch., Dictionnaire etymologique de Ja langue grecque 1-IV, Paris 1968- 1980 P. Ch., Le divin et !es dieux chez Homere, in: La notion du Divin, Entretiens sur l'Antiquite Classique I, VandoeuvresGeneve 1952, 47-94 P. Ch., Grammaire homerique 1-11, Paris 1948-1953 A Companion to Homer, edited by A. J. B. Wace and F. H. Stubbings, London 1962

K. D., Der Iistensinnende Trug des Gottes, Göttingen 1952 B. C. D., Death, Fate and the Gods: The development of a religious idea in Greek popular belief and in Homer, 2London 1957

Diese Liste enthält nur solche Titel, die mehrmals genannt werden mußten. - Die gängigen Gesamtkommentare zu Ilias und Odyssee werden nur mit dem Namen des jeweiligen Verfassers zitiert.

XII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

DoDDS

E. R. D., The Greeks and the Irrational, Berkeley 1951

EBERHARD

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EHNMARK ELLIGER

FrNLEY FOCKE FocKE, Athene FRÄNKEL,Dichtung FRIEDLÄNDER

M. 1. F., Die Welt des Odysseus, Darmstadt 1968 F. F., Die Odyssee ( = Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft 37), Stuttgart 1943 F.F., Pallas Athene, in: Saeculum 4, 1953, 398-413 H. F., Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, 1New York 1951, 2München 1962 P. F., Studien zur antiken Literatur und Kunst, Berlin 1969

GUTHRIE

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HARDER,Einführung HARRISON

J. E. H.,

GRIFFIN GRUBER GRUPPE

HEDEN HEITSCH

HENTZE HÖLSCHER HöLSCHER,Atridensage

]ANKUHN

]ÖRGENSEN KAKRIDIS KRAUS KRAUSE1936 KRAUSE1949

R. H., Einführung in die griechische Kultur, Freiburg 1962 Prolegomena to the Study of Greek Religion, 2Cambridge 1908 E. H., Homerische Götterstudien, Uppsala 1912 E. H., Aphroditehymnus, Aeneas und Homer: Sprachliche Untersuchungen zum Homerproblem ( = Hypomnemata 15), Göttingen 1965 G. H., Das Auftreten der Iris im zweiten, dritten und fünften Gesange der Ilias, Philol. 62, 1903, 321-338 U. H., Untersuchungen zur Form der Odyssee ( = HermesEinzelschriften 6), Berlin 1939 U. H., Die Atridensage in der Odyssee, in: Festschrift R. Alewyn, Köln 1967, 1-16 H. J., Die passive Bedeutung medialer Formen, untersucht an der Sprache Homers ( = Erg. Heft der Zeitschrift für Vgl. Sprachforschung Nr. 21), Göttingen 1969 0. J.,Die Götter in 1-µ der Odyssee, Herrn. 39, 1904, 357-382

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XIII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur KREHMER KRISCHER KuLLMANN LEHRS LEITZKE LENDLE LENZ LESKY,Geschichte LfgrE. LLOYD-]ONES LOHMANN MARG MICHEL MÜLDER NÄGELSBACH

W. K., Zur Begegnung zwischen Odysseus und Athene (Od. 13, 187 -440), Diss. Erlangen 1973 T. K., Formale Konventionen der homerischen Epik ( = Zetemata 56), München 1971 W. K., Das Wirken der Götter in der Ilias, Berlin 1956 K. L., De Aristarchi studiis Homericis, 3Leipzig 1882 E. L., Moira und Gottheit im alten griechischen Epos: Sprachliche Untersuchungen, Diss. Göttingen 1930 0. L., Paris, Helena und Aphrodite, in: Antike und Abendland 14, 1968, 63-71 L. H. L., Der homerische Aphroditehymnus und die Aristie des Aineias in der Ilias, Bonn 1975 A.L., Geschichte der griechischen Literatur, 3Bern 1957/58 Lexikon des frühgriechischen Epos, vorbereitet u. herausgegeben vom Thesaurus Linguae Graecae, Göttingen 1979 ff. H. L.-J ., The Justice of Zeus, Berkeley 1971 D. L., Die Komposition der Reden in der Ilias, Berlin 1970

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OTTO

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NILSSON

PÖTSCHER1978 PORZIG

PRELLER-ROHER T PRINZ

REINHARDT REINHARDT,Tradition REINHARDT,Vermächtnis RISCH ROHDE

3Frankfurt

1947

K. R., Die Ilias und ihr Dichter, Göttingen 1961 K. R., Tradition und Geist, Göttingen 1960 K. R., Vermächtnis der Antike, Göttingen 1960 E. R., Wortbildung der homerischen Sprache, 2Berlin 1974 R. R., Psyche: Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, 2Freiburg 1898

XIV

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

DE ROMILLY RosE RosE, Entretiens I

ROTHE RüTER

SCHACHERMEYR SCHADEW ALDT ScHRADE SIMON SNELL,Entdeckung SNELL,Ges. Schriften STALLMACH

J. de R., ,,Patience mon coeur": L'essor de la psychologie dans la litterature grecque classique, Paris 1984 H. ]. R., Griechische Mythologie: Ein Handbuch, 4München 1974 H. J. R., Introductory Lecture, in: La notion du Divin, Entretiens sur !' Antiquite classique I, Vandoeuvres-Geneve 1952, 3-43 C. R., Die Ilias als Dichtung, Paderborn 1910 W. R., Odysseeinterpretationen ( = Hypomnemata 19), Göttingen 1969 F. S., Poseidon und die Entstehung des griechischen Götterglaubens, Bern 1950 W. S., Iliasstudien, 3Darmstadt 1966 H. S., Götter und Menschen Homers, Stuttgart 1952 E. S., Die Götter der Griechen; 3Darmstadt 1985 B. S., Die Entdeckung des Geistes, 4Göttingen 1975 B. S., Gesammelte Schriften, Göttingen 1966 J. S., Ate: Zur Frage des Selbst- und Weltverständnisses des frühgriechischen Menschen ( = Beiträge zur Klassischen Philologie 18), Meisenheim 1968

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USENER

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v AN DERVALK, Researches

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VANTHIEL VERDENIUS,Comment. VERMEULE VERNANT VOIGT

VON DERMÜHLL

WELCKER WEST, Comment.

WHITMAN WrLAMOWITZ 1- VI WrLAMOWITZ, GI. d. Hell. W1LAMOWJTZ, Heimkehr WrLAMOWITZ, Hesiod WrLAMOWITZ, II. Horn.

Bonn 1929

2

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Einleitung: Das Ziel der Untersuchung Die Welt Homers ist voll von Göttern, die sich an irdischen Vorgängen lebhaft beteiligen. Der moderne Leser der Epen erkennt sehr rasch, daß Götter überall dort am Werke sind, wo menschlicher Einfluß zur Motivation der Ereignisse nicht ausreichen würde. Der Erzähler kann auf die Mitwirkung der Götter nicht verzichten, anderenfalls würde ihm sein Vorhaben nicht gelingen. Soll das aber nun heißen, daß die Verfasser der uns überlieferten Epen bei Erschaffung ihrer Werke just die Ausprägung einer Gottheit vorfanden, die sie jeweils benötigten? Brauchten sie, um mit Hilfe der Götter die menschlichen Handlungen zu motivieren, nach den Objekten des Glaubens ihrer Zeit nur zu greifen und sie mit den Sagengestalten zu verbinden, die sie im Gesang verherrlichen wollten? Die Frage aussprechen, heißt sie verneinen; denn in Ansehung der Vielfalt mitwirkender Gottheiten, müßten die Dichter ein geradezu unvorstellbares Finderglück gehabt haben, wenn ihnen für jedes Motiv ihrer Erzählung der passende Gott im Glauben der eigenen Zeit begegnet wäre. Mußte also der Epiker die Götter seines Jahrhunderts, wenn sie in epische Situationen eintreten sollten, nach eigenem Ermessen umformen, ja neu gestalten? Wer so, von den Belangen der homerischen Erzählung ausgehend, das Wesen ihrer Götter zu bestimmen versucht, steht sehr rasch vor der zentralen Frage, wieviel der Epiker von sich aus zur Entstehung seiner überirdischen Gestalten beigetragen hat und was ihn veranlaßt haben könnte, die Tradition oder die allgemein verbreitete Vorstellung zu verlassen. Nur eines ist wirklich von vornherein sicher: Wenn die Verfasser von Ilias und Odyssee den vorgefundenen Charakter eines Gottes zugunsten ihrer Gedichte auch nur wenig veränderten, dann mußten doch solche Abwandlungen und Ergänzungen sogleich sein ganzes Wesen in eine neue Beleuchtung rücken. Die hinzugetretene Eigenschaft wäre fortan, wenn man den unvergleichlichen Einfluß der homerischen Epen berücksichtigt, kaum noch fortzudenken. Die Religionsgeschichte bringt uns bei Behandlung solcher Probleme nur wenig Hilfe. Nilssons Vermutung, daß die homerische Götterwelt aus mykenischer Zeit stamme, ist zwar durch die Linear B-Tafeln zu einem Teil bestätigt worden. Unter vielen unbekannten Göttern werden auf diesen Dokumenten auch einige Götter genannt, die Homer vertraut sind. Aber es gibt keine Möglichkeit zu erfahren, ob mit ihnen Sagen oder

2

Einleitung: Das Ziel der Untersuchung

Legenden verknüpft waren. Die aber müßte man kennen, um Näheres über die Eigenart jener Götter wissen zu können. Der Religionshistoriker muß also nach wie vor von Homer ausgehen, und er kann in der Regel nur feststellen, daß einzelne Namen, Attribute und Kultgebräuche schon in mykenischer Zeit nachweisbar sind. Die Forschung neigt außerdem heute mit guten Gründen der Annahme zu, daß die homerische Sagenwelt erst in den sogenannten dunklen Jahrhunderten entstanden ist, d. h. über das 12. Jahrhundert nicht zurückgeführt werden kann. Gerade deshalb aber glaubt man vermuten zu dürfen, die olympischen Götter seien in jenen dunklen Jahrhunderten ausgeprägt worden und im epischen Gesang mit der Heldensage allmählich zusammengewachsen. Auch der berüchtigte „Götterapparat" müßte demnach vor Homer, dem Iliasdichter, entstanden sein. So z. B. Nilsson, der in der epischen Verwendung der Götter nur ein traditionelles Hindernis echter Dichtung sehen kann, vgl. Op. Sei. I (1951), 390: ,,Der Glaube der Menschen, der, weil er sich nicht auf bestimmte Götter berufen konnte, nach altem Herkommen die unbestimmten Mächte verantwortlich machte, mußte in das Schema des Götterapparates übersetzt werden, da die Helden in der Sage und im Epos ihre Schutzgötter hatten. Dann hat das Schema fortgewuchert ... " oder ebend. 390: ,,Wie viel hat ein Dichter wie der des n, der gezeigt hat, welches psychologische Verständnis und welche Gestaltungskraft er besaß, sich nehmen lassen durch das allzu leichte Inbewegungsetzen des Triebwerkes der Göttermaschine!" Vgl. auch Nilsson I 368-374.

Die Annahme einer derartigen Entwicklung läßt sich grundsätzlich nicht ausschließen, mag sie auch dem poetischen Phänomen der homerischen Epen nicht gerecht werden (die Vorstellung vom Götterapparat findet heute wohl kaum noch Anhänger). Wesentlich ist, daß die These zur Lösung unseres Problems nichts beiträgt. Ihr zufolge wird alles etwas komplizierter, aber am Ende stehen wir wieder vor derselben Frage: woher stammen die himmlischen Individuen, die so überaus eng mit den beiden homerischen Epen verflochten sind, die allein das in ihnen mitgeteilte Geschehen ermöglichen, und zwar in ihrer uns kenntlichen Natur offenbar eben nur dieses Geschehen? Jedenfalls wird man, wenn man in den erhaltenen Gedichten den originellen Abschluß einer längeren Entwicklung sieht, Originalität auch im Wirken der hier beschriebenen Götter vermuten dürfen. Vor langen Jahren hat G. M. Calhoun unser Problem in einer seiner bedeutsamen Untersuchungen zu Homer klar formuliert (Am. Journ. Philol. 60, 1939, 1- 28). Sein Lösungsvorschlag 1 besagt: Homer (der hier als Verfasser beider Epen bezeichnet wird) habe freie Hand gehabt, wenn er die Hoheit seiner Götter schildern wollte, sich aber an die Naivitäten der Überlieferung gebunden gefühlt, sobald er alte Geschichten wiedergab 1

Bei dem er sich u. a. auch auf die leicht umgedeuteten und zu n 526 beruft (a. 0. 28 A. 58).

exegetischen Scholien zu 0 429

Einleitung: Das Ziel der Untersuchung

3

(a. 0. 27: ,, ... his gods must be [seil. in dem zuletzt genannten Fall] the authentic figures of Märchenand myth"). Diese geistvolle Vermutung trägt jedoch einen Zwiespalt in die poetische Gestaltung, der jeweils nur durch ungeschickte Bearbeitung der Vorbilder erklärt werden könnte. Auch die bekannten Vorwürfe, den homerischen Göttern fehlten angeblich oft Würde und Sittlichkeit, müßten dann so gedeutet werden, nämlich als schlecht verarbeitete Rudimente einer älteren, roheren Denkweise. Calhoun hat die Teile der Epen, die er für traditionell hielt, zusammengestellt (a. 0. 5-14). Aber der interessante Katalog leistet nicht das, was er sollte; denn nicht wenige der genannten Partien hat man in der Zwischenzeit als Erfindungen Homers erkannt, andere sind augenscheinlich nach Maßen der Haupthandlung abgewandelt worden (man denke z. B. an die Erzählungen von Bellerophontes und Meleager!). Calhouns Folgerungen gelten streng genommen also nur für beiläufige Anspielungen auf ältere Göttersagen (etwa auf die Titanen, auf Eos und Tithonos, auf Aphrodite und Anchises), obwohl auch hier zu fragen wäre, weshalb gerade diese Dinge erwähnt werden. Vorzüglich ist die Beobachtung, daß die Epiker traditionelle Motive übertragen haben (etwa die Streitigkeiten des Göttervaters mit Here aus der Heraklessage in die Iliashandlung). Doch auch in diesem Punkt darf es bei der bloßen Feststellung des Tatbestandes sein Bewenden nicht haben. Calhoun hat übersehen, daß sich bei solchen Übertragungen auch die betroffenen Gestalten wandeln, daß also auch die beteiligten Götter in einem neuen Zusammenhang ein anderes Aussehen erhalten. Bei dieser Lage der Dinge nehmen wir die von Calhoun gestellte Frage nach Wesen und Funktion der homerischen Götter wieder auf. Wir versuchen also festzustellen, weshalb die Verfasser der Epen in bestimmten Situationen Götter auftreten lassen oder sich auf ihren Einfluß berufen und mit welchen Mitteln sie das tun. Wie müssen diese Götter beschaffen sein, wenn sie die vom Erzähler gewünschte Wirkung ausüben sollen? Es geht uns dabei nicht um religionsgeschichtliche Probleme; denn der Religionshistoriker, der ja nach solchen Kräften sucht, die hinter dem literarischen Werke tätig, also gewissermaßen im Worte des Dichters versteckt sind, sollte eigentlich erst dann zu Worte kommen, wenn die philologische Vorarbeit geleistet, d. h. wenn festgestellt ist, in welchem Umfang der Berichterstatter (in unserem Fall der Dichter) verfärbt, verwandelt oder gar neugeschaffen hat. Man müßte also versuchen, diejenigen Elemente der Göttervorstellungen zu bestimmen, deren Existenzberechtigung allein durch die poetische Zielsetzung (das besagt: durch die Erzählung) gegeben ist. Bei diesen Versuchen stehen wir der beliebten Annahme, in den homerischen Epen spiegele sich der Glaube (oder Volksglaube) ihrer Zeit, grundsätzlich skeptisch gegenüber, jedenfalls immer dann, wenn es sich nicht um kultische Vorgänge handelt. Die Vermutung,

4

Einleitung: Das Ziel der Untersuchung

Homer müsse in der Regel den religiösen Anschauungen seiner Zeit gefolgt sein, Anschauungen, die wir meist erst aus späteren Berichten erschließen können, kann sogar in die Irre führen; denn wie die Wirkungsgeschichte der Gedichte zeigt, haben homerische Vorstellungen alle Bereiche griechischer Religionsübung tief beeindruckt und verwandelt 2 • Das ist angesichts ihrer Qualität keineswegs erstaunlich; denn Dichter und Künstler sind zu allen Zeiten gute Helfer der Gläubigen gewesen, weil sie deren oft vagen Vorstellungen von der Gottheit erst greifbare Formen gegeben haben. Es ist kaum möglich, dieses Verhältnis umzukehren und den Dichter für einen bloßen Nachahmer des sogenannten Volksglaubens zu halten. Obwohl wir unser Material aus praktischen Gründen nach Gottheiten angeordnet haben, ist der Ausgangspunkt unserer Betrachtungen immer der Text der Epen, ihr Ziel dessen besseres Verständnis. Unter Homer verstehen wir den Verfasser der Ilias. Daß er ebenso wie der Odysseedichter bei der Darstellung religiöser Phänomene, besonders bei der von Gottheiten, selbständiger und großzügiger verfahren ist, als allgemein angenommen wird, soll im ersten Teil an ausgewählten Beispielen verdeutlicht werden. Die Hauptgötter, d. h. die Olympier, die für den Ablauf der jeweiligen Handlung zuständig sind, werden im zweiten Hauptteil behandelt. Wenn wir auch dort feststellen können, daß die Dichter die Unsterblichen mit kühner Eigenwilligkeit gezeichnet haben, ergibt sich möglicherweise eine Chance, die Epen von dem bereits erwähnten Vorwurf der Frivolität zu befreien, der ja bis heute nicht verstummt ist: Man sagt ihren Göttern Unausgeglichenheit nach; Erhabenheit stehe neben Humor, Heiterkeit und Naivität, so daß das religiöse Empfinden des Betrachters befremdet sei, ja beleidigt werde. Diese Reaktion müßte sich als unberechtigt erweisen, wenn es gelänge, die Götter (wie es archaischem Denken zukommt) als Teilnehmer am irdischen Geschehen, vor allem als Urheber menschlichen Handelns zu begreifen. Es gilt zu verstehen, daß Homer mit Hilfe seiner Götter ein reiches menschliches Geschehen deuten wollte. Er hatte nicht die Absicht, irdische Unvollkommenheiten nur um des wirkungsvollen Kontrastes willen mit einem religiösen Idealbild zu konfrontieren, das ohnehin unsere Anerkennung nicht finden könnte. Zu den Vorwürfen der Frivolität vgl. zuletzt Kraus 15-26, bes. 21 f. Das Bild, das Kraus vom angeblich würdelosen Dasein der homerischen Götter zeichnet, setzt eine Gottesvorstellung voraus, die der archaischen Zeit nicht gemäß ist. Der Glaube homerischer Menschen besteht, wie man weiß, darin, daß sie das Wirken der Götter an sich und anderen erleben. Diese Erlebnisse sind natürliche Vorgänge, die man nicht leugnen kann. Sie sind aber auch nicht immer mit Würde und Erhabenheit verbunden (vgl. Snell, Entdeckung 30-44). Man vergleiche mit Kraus' Urteil Drerups Auseinandersetzung mit älterer Literatur

2

Vgl. Reinhardt, Vermächtnis 7-40.

Einleitung: Das Ziel der Untersuchung

5

zu dieser Frage (E. D., Das fünfte Buch der Ilias, Paderborn 1913, 394 ff.)! Drerups eigener Lösungsversuch geht freilich von falschen Voraussetzungen aus.

Im dritten Teil schließlich soll neben anderen Bezeichnungen für das Göttliche auch nach der Bedeutung des Schicksals gefragt werden, ohne dessen Erwähnung das homerische Weltbild unvollständig bliebe. Das Beweisziel ließ sich nur durch eingehende Interpretation aller einschlägigen Stellen erreichen. Eine besondere Schwierigkeit bestand dabei in der Verteilung des Materials. Da in vielen Szenen mehrere Götter zusammenwirken, mußten manche Situationen mehrmals zur Sprache kommen. Wiederholungen und Querverweise waren unvermeidlich. Trotzdem habe ich mich bemüht, die Nachrichten sinnvoll zu verteilen und die jeweils unterschiedlichen Aspekte zu betonen, ohne daß allzu große Eintönigkeit entstand. Ich bin mir freilich dessen bewußt, daß mir das keineswegs überall gelungen ist, und bitte den verständigen Leser um Nachsicht.

I. Teil: Von den Epikern entdeckte oder umgeschaffene (verwandelte) Gottheiten

1. Nomen proprium und Nomen appellativum Die überlegene Unbefangenheit, mit der Homer seinen Göttern gegenübertritt, läßt sich an seiner Behandlung der Nebengottheiten besonders gut verfolgen. Dieser Satz muß allerdings sofort eingeschränkt und verdeutlicht werden. W. Pötscher hat in zwei wichtigen Abhandlungen (1959 und 1978) die alte, von Wilamowitz vertretene und von Nilsson anerkannte Ansicht widerlegt, daß 0i:6i; eine bloße Eigenschaft bezeichne, die bisweilen „personifiziert" werden könne. Wilamowitz schreibt (GI. d. Hell. I 17): ,,Wir selbst oder Menschen, von deren Autorität wir abhängen, haben zu der Wahrnehmung gesagt: das ist Gott. Das ist also ein Prädikats begriff." Gegen diese Auffassung spricht, wie Pötscher mit Recht betont, die bekannte Tatsache, daß 0i:6i; (0wi) und oaiµrov schon bei Homer als Subjekte erscheinen und wie Personen handeln. Dieselbe Beobachtung läßt sich bei vielen anderen homerischen Wörtern machen, die nicht nur als Appellativa, sondern auch als Nomina propria verwendet werden (z. B. spti; - "Epti;). Die Möglichkeit des Aspektwechsels ist also bereits im ältesten Zeugnis der griechischen Literatur gegeben. Pötscher spricht deshalb von „Person-Bereichdenken", wodurch das Miteinander beider Sichtweisen angedeutet ist. Die übliche Bezeichnung ,Personifikation' aber führt irre, weil sie vorauszusetzen scheint, daß zunächst die Sachbezeichnung existieren müsse, ehe sie zur Person abgewandelt werden könne. Außerdem kennt man - vor allem im neuzeitlichen Sprachgebrauch Personifikationen, die mit religiösen Vorstellungen nichts zu tun haben 1. Pötschers Polemik gegen Wilamowitz ist allerdings nicht ganz gerechtfertigt. Die Meinungsverschiedenheit ist wohl nur dadurch entstanden, daß Wilamowitz nicht klar zwischen der Sicht des nachrechnenden Forschers und der des Gläubigen scheidet. Der oben zitierte Satz gibt eben ganz den Standpunkt der Wissenschaft wieder, die eine Defintion finden möchte 2. Der Mensch homerischer Zeit aber erlebteden Gott; er hatte keine Veranlassung festzustellen, daß diese bestimmte Wirkung Gott sei oder sein könne. Das Erlebnis der Macht eines Gottes war die Voraussetzung alles dessen, was der Einzelne über diesen Gott sagen konnte. Seine wichtigste Feststellung mochte dann gelautet haben: ,Der Gott wirkt in mir oder ist mir nahe.' Und so hat Wilamowitz die Götter des frühen Griechentums auch aufgefaßt und beschrieben. Er sagt z.B. vom griechischen Glauben (GI. d. Hell. I 28), er 1

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Vgl. übrigens schon Wilamowitz selbst im Kommentar zu Hesiods Erga, Berlin 1928, 66 zu V. 218-224 und 71 zu V. 256. Siehe jetzt vor allem Verdenius, Comment. 16 (zu V. 11) mit A. 65 (dort reiche Literaturangaben). Vgl. Wilamowitz, GI. d. Hell. I 137: ,,Den Glauben suchen wir, der den Gott erschaffen hat", um „dieser oder jener als wirkend erkannten Macht das Prädikat Gott zu verleihen".

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Von den Epikern entdeckte oder umgeschaffene (verwandelte) Gottheiten

fasse alles, was wirkt und daher Gott werden kann, persönlich und benenne es daher; vgl. auch Wilamowitz, Pindaros, Bin. 1922, 202. Pötschers Stellungsnahme richtet sich also recht eigentlich nur gegen Nilsson (813) 3 • Über die Position der Götternamen im System der Sprache, besonders über ihr Verhältnis zu den ,Dingwörtern', grundsätzlich Wichtiges bei B. Snell, Der Aufbau der Sprache Hamburg 1952, 160-162. - Zu den Grundsätzen der Religionsbetrachtung bei Wilamowitz, insbesondere in seinem Hauptwerk ,Der Glaube der Hellenen' vgl. jetzt die kritische Analyse von A. Henrichs, ,Der Glaube der Hellenen'. Religionsgeschichte als Glaubensbekenntnis und Kulturkritik, in: Wilamowitz nach 50 Jahren, Darmstadt 1985, 263-305, bes. 293 f. Henrichs vermißt in Wilamowitz' Ausführungen vor allem gebührende Berücksichtigung des Kultus, der Rituale, des Gruppenverhaltens, des Aberglaubens und anderer z. T. moderner Fragestellungen. Inwieweit diese Kritik berechtigt ist, stehe dahin. Mir scheint, die Hauptschwäche von Wilamowitz' Betrachtungsweise liegt darin, daß er das rechte Verhältnis von Dichtung zur Religion (oder auch zur Mythologie) so oft verkannt hat (vgl. unten S. 39f. u. ö.). Der Leser möge verzeihen, daß ich im Rahmen des hier behandelten Themas auf diesen Vorwurf des öfteren zurückkommen muß, den Henrichs, offenbar aus rücksichtsvoller Pietät, garnicht erst erhoben hat. Wie unentbehrlich und wie hilfreich mir selbst Wilamowitz' Arbeiten in allen anderen Hinsichten gewesen sind, zeigt fast jede Seite des nachstehenden Versuches.

Beim Person-Bereichdenken der archaischen Zeit handelt es sich nur äußerlich um ein Nebeneinander. In Wahrheit liegt eine Einheit von Person und Sache vor. Je nach Bedürfnis konnte man den einen oder den anderen Aspekt betonen. Pötschers Beobachtungen sind für den, der dem Wesen der homerischen Götter nachspürt, außerordentlich hilfreich. Sie werfen aber auch neue Fragen auf, besonders dort, wo Homer einen Gott erwähnt, dessen Name auch als Appellativum gebräuchlich ist; denn wenn die Gemeinschaft von Person und Wirkungsbereich so selbstverständlich ist, muß die Möglichkeit, beide Aspekte zur Geltung zu bringen, schon in vorhomerischer Zeit bestanden haben, und man könnte auf diesem Felde von dem Dichter nichts Originelles erwarten. Offenbar gibt es aber doch durch Appellativa bezeichnete Phänomene, die erst er als wirkend erlebt und als göttliche Kraft erfahren hat. Pötschers Beispiele zeigen sogar, daß sich der Prozeß, in den verschiedenen Wirkungsbereichen immer wieder Götter zu erleben, ja auch bislang unbekannte zu sehen, bis in die Klassische Zeit fortgesetzt hat, freilich nicht in gleicher Intensität. Es ist kein Zufall (um nur ein einziges Beispiel zu nennen), daß die homerischen Epen veµi:crn; als Appellativum kennen, daß aber erst bei Hesiod die Göttin gleichen Namens begegnet (vgl. Schol. Hsd. Th. 223). Vermutlich wird der persönliche Aspekt also erst unter bestimmten Voraussetzungen, in besonders beschaffenen Situationen, möglich, dann nämlich, wenn der Betrachter erkennt, daß die Sache einen geradezu übermenschlichen Einfluß auf ihn selbst oder auf andere ausübt. Unter solchen Umständen

3

Vgl. auch Usener 290f.; kritisch schon Ehnmark 51 ff.

Nomen proprium und appellativum

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kann Homer einen neuen Gott zwar nicht erfinden, aber unter den ihm verfügbaren Dingen entdecken. Es kommt uns im folgenden darauf an zu erkennen, wann und weshalb der Dichter eine Wirkung als Person erfährt und ob er dabei selbständig vorgeht, d. h. ohne Einwirkung eines Vorbildes. Natürlich läßt sich in mehreren Fällen Sicherheit nicht erzielen, und mit dem Einwirken von Analogien muß man überall rechnen. Beginnen wir mit den Gottheiten, die mit einiger Wahrscheinlichkeit als Schöpfungen Homers gelten dürfen! Beinahe sicher ist eine solche Neuschöpfung im Falle der Ate 4 . In der Heeresversammlung des 19. Iliasbuches erklärt Agamemnon, nicht er sei der Urheber des verhängnisvollen Streites mit Achill, sondern Ate, die Göttin der Verblendung, die nach dem Willen des Zeus seinen Sinn verwirrt habe (vgl. T 86-91)5. Das klingt zunächst wie ein Versuch des Königs, eine Schuld von sich fortzuschieben, deren er sich in Wirklichkeit bewußt sein müßte, und so wird die Stelle nicht selten aufgefaßt 6 • Da aber die homerischen Menschen keine Eigenverantwortung kennen, ist eine solche Auslegung nicht möglich. Die Heroen halten es nicht für frivol, eigene Versäumnisse der Einwirkung eines Gottes zuzuschreiben (vgl. Snell, Entdeckung 4 36). Wer Schaden anrichtet, muß für Wiedergutmachung sorgen, aber die Frage nach seiner persönlichen Schuld wird nicht an ihn gerichtet, ja sie wird überhaupt nicht gestellt. Nachträglich kann er sich Gedanken darüber machen, wie es ihm habe passieren können, daß er fehlte, und er wird dann feststellen, daß er nicht recht bei Verstande war. Genau das will Agamemnon sagen, wenn er behauptet (T 88), Zeus habe „wilde Verblendung" (liyptov liTTJV)in seinen Sinn geworfen. Er erzählt dann die Geschichte (den Ainos) von der verfrühten Geburt des Eurystheus, der zum Herrn des Zeussohnes Herakles wurde (T 95-133). Der Text besagt: Am Tage, an dem Alkmene den Herakles zur Welt bringen soll, verkündet Zeus unter allen Göttern, daß heute ein Zeusnachkomme geboren werde, dem es 4

5

0

Ich behandele hier nur den personalen Aspekt des Nomens 1h11und Homers Anteil an dieser Sichtweise. Eine vorzügliche Darstellung des komplexen Phänomens 1h11,seiner Bedeutungsmöglichkeiten bei Homer bis hin zum 5. Jahrhundert bei Gruber 56-64 (mit Lit.). Vgl. auch Porzig 130 (abstrakte Nomina als Wesen). Ebendort heißt es: Abstrakta wie Mcma, q,6ßo~, i:po~, 1h11 „haben nicht aufgehört, als Wesen im Glauben des Volkes oder in der Phantasie der Dichter zu leben". Vorsichtiger sollte man sagen: Sie haben die Möglichkeit, als überirdische Wesen in Erscheinung zu treten, nicht verloren. Zur Bedeutung von litT] vgl. G. Müller, Der homerische Ate-Begriff und Solons Musenelegie, in: Navicula Chilionensis, Leiden 1956, 1 ff.; Stallmach passim; Jankuhn 50. - Homer nennt seine Ate in T 87 - 88 neben Zeus, Moira und Erinys, wodurch eindeutig festgetegt wird, daß Agamemnon ihr Wirken als Teil seines unseligen Schicksals betrachtet (vgl. dazu unten S. 12. Vgl. z. B. A. Lesky, Göttliche und menschliche Motivation im homerischen Epos, Sitz. Ber. Heidelberg 1961, 4, 40-42; A. Schmitt, Athenes Umgang mit den Menschen bei Homer, in: Die Alten Sprachen im Unterricht 29, 1982, 9 u. a.

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Von den Epikern entdeckte oder umgeschaffene (verwandelte) Gottheiten

bestimmt sei über alle Umwohner zu herrschen. Here fordert ihren Gemahl auf, das zu beschwören, und Zeus tut das voll törichter Zuversicht. Daraufhin verhindert Here als oberste Geburtsgöttin die Niederkunft Alkmenes und sorgt dafür, daß Eurystheus, der Sohn des mykenischen Königs Sthenelos, eines Enkels des Zeus, vorzeitig (d. h. im siebenten Monat) geboren wird. Triumphierend kann sie verkünden, daß nun Eurystheus der von Zeus angekündigte Herrscher sein werde (der zukünftige Sohn Alkmenes jedoch sein Diener). Zeus aber erkennt seine Leichtfertigkeit und schleudert die Göttin Ate, die seinen Verstand getrübt hat, vom Olymp auf die Erde, wo sie künftig unter den Menschen ihr Unwesen treiben möge. - Natürlich soll man beim Anhören dieser Geschichte nicht daran denken, daß Zeus erst kürzlich wieder einem Trug seiner Gemahlin zum Opfer gefallen ist (vgl. E 153ff. und T 97: "'HpTJ... äd,T]m:v).

Diese Erzählung ist kein unnötiger Zusatz, wie ältere Kommentare behaupten, sondern sie bildet den Beweis für die Behauptung, daß auch Zeus, der mächtigste und klügste Gott, der Einwirkung der Ate erliegen konnte (vgl. T 95: Kai yap OTJvu 1to,i: Zi'jv' licraw, seil. Ate)7. Daraus geht nun leicht hervor, was Agamemnon seinen Zuhörern klarmachen möchte (als Schluß a maiore ad minus): Wenn selbst Zeus die Macht der Ate verspürte, wie hätte ich, der Mensch, mich ihr entziehen können? Dieser Gedankengang ruht auf der Vorstellung, daß der Ausgangspunkt der Fehlleistung außerhalb des Handelnden liegt, dieses Mal sogar außerhalb eines olympischen Gottes. Keiner der in der Heeresversammlung Anwesenden bestreitet die Richtigkeit dieser Voraussetzung. Wer das tun wollte, müßte nicht nur die Zuverlässigkeit der Geschichte von Eurystheus anfechten, sondern auch den Glauben an die Wirksamkeit von Zeus, Moira, Erinyen und Ate (vgl. T 87 -91) für nichtig halten. Das aber wäre absurd. Mit der Berufung auf den unheilvollen Einfluß der Göttin Ate ergänzt und erklärt Agamemnon sein Verhalten: Wäre Ate nicht, dann könnte man nicht verstehen, weshalb der König alle vernünftigen Warnungen in den Wind schlug und seinen Leidenschaften (den Regungen seines 0uµ6i;) nachgab, als er Achill kränkte und ihm die Briseis nahm. Sein Vorgehen bliebe undeutbar, unheimlich, ja dämonisch. Der Hinweis auf Ate macht es durchsichtig, indem er ihm die fehlende Begründung verleiht 8• Ate ist also eine ,Personifikation', und sie ist, wie alle derartigen homerischen Personifikationen, nach dem Vorbild der großen, allgemein anerkannten Götter gestaltet 9: Sie hat menschliche Gestalt und, ihrer besonderen Aufgabe entsprechend, zarte Füße, mit denen sie unbemerkt über die Köpfe der Menschen hinschreitet und die verwirrt, die sie berührt (vgl. T 93-94). Sie ist für die Belange des 19. (und wie wir sehen werden, auch für die 7 8

9

Zur Form des Textes siehe tiefer unten (S. 15). Schon Nägelsbach (293) stellte fest, daß „des Menschen Verirrung (li'tT])als Wirkung einer außer ihm vorhandenen Macht betrachtet wird". Vgl. damit Snells letzte Stellungnahme (Herrn. 112, 1984, 128 ff., bes. 129 A. 1). Unbefriedigend Wilamowitz, GI. d. Hell. I 352. Vgl. Reinhardt, Vermächtnis 11.

Nomen proprium und appellativum

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des 9.) Iliasbuches so vortrefflich geeignet, daß die Annahme, Homer habe eine solche Göttin im Glauben seiner Zeitgenossen bereits vorgefunden, wenig für sich hat. Man kann auch noch am Text verfolgen, wie der Dichter seine Ate aus früheren Äußerungen Agamemnons hervorwachsen läßt. Im Fürstenrat des 9. Buches sagt der König als Antwort auf die Vorwürfe Nestors u. a. folgendes (I 115-116):

cb yi:pov, oü n 'lfEUooc;tµac; ä 'tQ c; lCU'tEA.E~ac;· ciacraµ11v,oöo' aö-roc;civaivoµm ... und wenig später (I 119-120):

an'

E1tEtciacraµµv a 0ucrcrav6Ecrcrav {öElVTJV, 11v1tEpl µtv 1tllV'tlJ6ßoc;Ecr'tf:Cj)llVCO'tat, 740 sv ö' "Eptc;, sv ö' 'AAKTJ,sv öE Kpu6Ecrcra'lcoKt), sv öt -rE ropyEi'r1 KEq>aÄiJ öEtvoio 1tEAmpou öEtvt) -rEcrµEpövt) -rE),AtoUVTJ poöoMK-ruAoAt6c;

31

Platon spricht ja tatsächlich auch von Verwandten, vgl. c 5: Kai ÜAAa~ex0pa~ 7tOAM~Kai 1taV'tOÖUmi~ 0tiiiv 'tE Kai T)pCOOJV 1tp6~ O'U"(YEVEi~ TEKai olKEIOU~ aÖ'tiiiV.

Iris, Hermes, Hephaistos

85

als Konjektur anzusehen und abzuwerten 32 • Wenn diese Worte den originalen Text wiedergeben, muß der oben zitierte Satz (rep. 378 d 3) als Zeugnis für die früharchaische Dichtung von der Fesselung Heres durch Hephaistos ausscheiden. 32

Gemeinhin kann man davon ausgehen, daß griechische Textkritiker, denen von ihren antiken Kollegen Unkenntnis vorgeworfen wird, eine wohlfundierte Position einnehmen, oft sogar auch nach modernem Urteil im Rechte sind. Anderenfalls würden ihre Gegner nicht das billige Mittel abstoßender Kraftausdrücke verwenden.

II. Teil: Die Hauptgötter

1. Aphrodite In den bisherigen Betrachtungen verfolgten wir nur das eine Ziel, die Selbständigkeit der Epiker bei Darstellung der Götter ins Licht zu rücken. Es ging uns nicht um Vollständigkeit der Belege, ganz abgesehen davon, daß sich eine erschöpfende Behandlung aller Fälle nicht erreichen läßt; denn von der vorhomerischen Götterwelt wissen wir zu wenig. Trotz allem besteht aber nun Grund zu der Annahme, daß Ilias- und Odysseedichter auch ihre Hauptgötter in origineller Deutung und im Einklang mit der beabsichtigten Handlungsführung geschildert haben. Keinesfalls haben sie alles, was sie berichten, einer bereitliegenden Tradition entnehmen können. Zwischen dieser Tradition und dem uns überlieferten Text steht ja allenthalben die verwandelnde Kraft des poetischen Genies. Die wichtigste Aufgabe der Interpretation ist es, die Grenzen seiner Wirksamkeit abzuschreiten und die Art jener Umwandlung zu bestimmen. Die großen Aphroditeszenen der Ilias mögen unser erstes Beispiel sein! Ursprung und Name Aphrodites sind dunkel (vgl. Burkert 240). Wir wissen nicht, ob sie der hellenische Ausdruck einer übernommenen orientalischen Göttin ist oder ob sie als Gottheit indogermanischer Herkunft (Baedekers „Dawn goddess") bereits den Griechen mykenischer Zeit vertraut war. Es steht jedoch fest, daß sie spätestens im 12. Jahrhundert v. Chr. auf Paphos verehrt wurde, als Griechen dort siedelten. Da aber die Insel K ypros Einflüssen aus dem Orient stets offenstand, könnte sich auch eine ursprünglich indogermanische Göttin einer asiatischen Rivalin leicht angeglichen haben. Jedenfalls steht hinter der Aphrodite, die wir aus der griechischen Überlieferung kennen, die altsemitische Göttin IschtarAstarte, welche die göttliche Gemahlin des Königs, Himmelskönigin und Hetäre zugleich, war (vgl. Burkert 238; über weitere [nichtorientalische] Einflüsse, die das Wesen der vorhomerischen Aphroditegestalt mitgeprägt haben können, belehrt Simon 234-240). Daß diese von der Religionsgeschichte aufgestellten Vermutungen den Tatsachen ungefähr entsprechen, zeigen auch unsere Epen: Der Iliasdichter nennt Aphrodite auch Kypris., d. h. ,auf Kypros Verehrte'1, und der Verfasser der Odyssee, der sie auch als Ku0tpi:ta kennt (0 288; cr 193), führt sie zum Bade nach Paphos (3 362-366). Sie steht aber nicht deshalb 1

Das Nomen proprium Kt'mpt~ begegnet fünfmal, bezeichnenderweise nur im E (darüber unten S. 91 ff.). Zum Akzent (man erwartet ein Oxytonon) vgl. Wilamowitz, GI. d. Hell. I 95.

90

Die Hauptgötter

auf trojanischer Seite 2 , weil sie orientalischer Herkunft ist oder asiatische Elemente in ihrem Wesen enthält oder weil Homer etwas von ihrer fremden Abstammung wußte, sondern weil sie Paris begünstigt und ihm bei Entführung der Helena behilflich gewesen ist. Die Herkunft der Geschichte von Aphrodites Liebe zu Anchises bleibe hier dahingestellt (vgl. dazu Rose 123). Die göttliche Abkunft des Aineias wird in der Ilias vorausgesetzt (vgl. B820; E247-248. 312-313; Y208-209 u.a.St.), und sie mag zur Familientradition der fürstlichen Familie gehört haben, deren Ahnen Homer in der Ilias verherrlicht hat. Die Anklänge an orientalische Vorstellungen sind auffällig, vgl. Ischtar (Innin): Tammuz im Gilgameschepos, Kybele: Attis, Aphrodite (Astarte): Adonis. Es ist Baedeker (67 ff.) m. E. nicht gelungen, die Anchisessage den Erzählungen vom menschlichen Liebhaber anderer griechischer Göttinnen (vor allem natürlich der Eos-Sage) anzugleichen. Deren wichtigstes Motiv, die Entführung des Geliebten durch die Unsterbliche, spielt gerade in der Anchisessage keine Rolle. Es liegt also nahe, bei Behandlung des Verhältnisses Aphrodite: Anchises vor allem an die bekannten asiatischen Vorbilder zu denken. Vgl. H. J. Rose, Anchises und Aphrodite, in: CL Quart. 18, 1924, 11-16. Rose hat m. E. überzeugend nachgewiesen, daß der im homerischen Aphroditehymnus erzählte Mythos auch in Einzelheiten von orientalischen Anschauungen beeinflußt ist, die gerade im Kybelekult besonders ausgeprägt waren, vgl. V. 189-190 ( ... EltEi oö ß100cH.µ10iATJc; ci1t6 1ta'tpiöoc; aiT]c;,/ 1taiöa t eµiJv vocrq>icrcraµtvT]v 0aAaµ6v 'tE 1t6crtv 'tE / oü 'tEU Ö&u6µ&vovoüt lip' q>ptvac; OÜ'tEn döoc; (vgl. auch ö 144-146!). Da in Ilias und Odyssee jeweils verschiedene Gelegenheiten beschrieben werden, sind die bei Aristonikos zu B 356 a 1 erwähnten Überlegungen der Chorizonten (Fr. 1 Kohl) nicht schlüssig. In der Ilias aber ist die Demonstration menschlicher Hilflosigkeit gerade am Verhalten der Person, die neben Paris als Ursache des Krieges angesehen wird, von weiterreichender Bedeutung. Zwar meint Lendle (66): ,,Für den weiteren Ablauf der Kämpfe um Troja ist es ohne Belang, ob Helena sich zu jener respektlosen Schmährede an Aphrodite hinreißen läßt und ob sie mit Paris das Lager besteigt oder nicht." Aber die Schmährede hat doch, wie wir sahen, Aphrodites Antwort zur Folge, und aus dieser geht klar hervor, daß das Verhältnis zu Paris nach göttlichem Willen weiterbestehen soll. Das ist auch für den Fortgang des Krieges wichtig: Am Abend des ersten Kampftages macht Antenor in der trojanischen Heeresversammlung den vernünftigen Vorschlag, Helena und die geraubten Schätze den Griechen zurückzugeben, da man nach dem Vertragsbruch durch Pandaros keine Aussicht auf Sieg habe (H 350-352). Er dringt jedoch nicht durch, sondern Paris erklärt ihn rundheraus für wahnsinnig (vgl. H 360), wie später Hektor den Pulydamas (vgl. M 234).

Aphrodite

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~

Die Verwandtschaft beider Stellen (M 231 H 357, M 232-234 = H 358-360) deutet implicite an, wie Hektars schroffe Ablehnung des Rückzugsplanes, den Pulydamas vorgebracht hat, zu verstehen ist. Wie der Vorwurf entstehen kann, der Urheber des Vorschlags sei verrückt, hat Snell (Hypomnemata 57, 1978, 97) aus der Wahl der Wörter (siehe H 359 = M 233: fa&6v!) erklärt.

Paris ist bereit, die Schätze herzugeben, nicht aber die geliebte Helena. Dann beendet Priamos diesen Wortwechsel mit dem Vorschlag, das Angebot seines Sohnes am nächsten Morgen den Griechen zu unterbreiten, im übrigen aber einen Waffenstillstand zur Bestattung der Toten auszuhandeln. Daß der Feind sich mit den Schätzen zufriedengeben und den Krieg beenden werde, glaubt er offensichtlich nicht (vgl. H 377 -378). Das ist alles recht seltsam. Die trojanischen Heerführer und Mannen hören sich die Debatte an, finden aber kein Wort des Protests. Hektar ist gar nicht erwähnt. Über die Stimmung der Troer berichtet Idaios am nächsten Morgen im Griechenlager (H 390-393). Die Tatsache, daß Diomedes dort die Rückgabe auch Helenas ablehnt (H 400-402), muß bei Beurteilung der trojanischen Beratung zunächst unbeachtet bleiben, ganz abgesehen davon, daß sich zu diesem Punkt außer Diomedes niemand im Griechenlager äußert.

Wird hier nicht die (nach menschlichem Ermessen) letzte Chance für eine friedliche Beilegung der Streitigkeiten von den Troern verspielt? So hat man gefragt und aus diesem und aus ähnlichen Gründen den zweiten Teil des 7. Buches dem Homer abgesprochen. Vgl. z.B. Wilamowitz, II. Horn. 51 ff., wo zu lesen ist, daß der Dichter dieser Partie ,,sehr eilfertig" war und daß alles „jung" sei.

Die schwersten Einwände gegen den Inhalt der referierten Partie hat aber schon Herodot (2,120) erhoben. Er kann es sich nicht vorstellen, daß die Troer die Auslieferung Helenas verweigert hätten, damit der Prinz Paris zufriedengestellt werde, der noch nicht einmal Thronfolger war; nach den ersten schweren Verlusten hätte auch Priamos zur Einsicht kommen müssen, selbst dann, wenn Helena seine eigene Geliebte gewesen wäre. Herodot folgert deshalb, daß Helena nicht in Troia gewesen sei. Die Troer hätten sie also nicht zurückgeben können, hätten aber bei den Griechen keinen Glauben gefunden. So sei Troia denn zerstört worden, aber nicht aus den von Homer angegebenen Gründen, sondern weil die Götter demonstrieren wollten, daß sie schwere Vergehen (seil. Paris' Raub der Helena, die ihm freilich in Ägypten abgenommen wurde) mit schweren Strafen belegen. Das ist alles wohldurchdacht, zeigt aber nur, daß die Leser der klassischen Zeit der homerischen Weltsicht bereits ebenso fern standen wie viele neuzeitliche Interpreten. Tatsächlich läßt sich die Iliashandlung nicht verstehen, wenn man nicht einräumt, daß ihre Voraussetzungen auf Homers eigentümliche Auffassung des Menschen abgestimmt sind. Diese Auffassung aber ist von der unseren grundverschieden (vgl. Vernants

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Die Hauptgötter

Kennwort von der „psychologie historique"!). Im Falle Helenas wird das besonders offenkundig. Als sich die Griechin in der Teichoskopie den Ältesten der Troer nähert, ruft Priamos sie zu sich und sagt, indem er sie gegen das Urteil der anderen Greise in Schutz nimmt (r 164-165): ,,Nicht dir gebe ich die Schuld, sondern den Göttern, die mir den tränenreichen Krieg gegen die Achaier schickten." Oü ti µ01 a!tiTI ecmi, 0i:oi vu µ01 ainoi e!cnv, / oi'.µ01 eq,ropµTlOV1)Ep6EV'tU, ZEil~6' &Äa:x:' oöpavöv EÖpllvev a!8tp1 Kai vmptÄucn· yaia 6' &'tl ~IJVI]ltllV'tCOV ICUiµaKpÖ~ "OÄuµ1to~.

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Die Hauptgötter

Diese Verse bezeichnen den von Homer sanktionierten und seitdem in ganz Griechenland anerkannten Wirkungsbereich Poseidons: Er ist der Gott des Meeres. Bereits der Odysseedichter hält sich streng an diese Konzeption: Menelaos erfährt aus dem Bericht des Proteus, wie Poseidon den großmäuligen Lokrer Aias im Sturm an den Gyräischen Felsen vernichtet hat (ö 499-511). Als Herr des Meeres entfesselt der Gott das große Unwetter des 5. Buches (i: 282 ff.). Auch der Auftrag, den Teiresias dem Odysseus für die Zeit nach dem Freiermord erteilt (). 119-137: Versöhnung mit Poseidon und Verbreitung seines Kultes) betrifft den Herrn der Meere. Und in eben dieser Funktion verwandelt Poseidon das Schiff der Phaiaken, das den Odysseus nach Ithaka gebracht hat, in Stein und schneidet das Wunderland Scheria vom Meere ab; denn er fühlt sich in seiner Verfügung über dieses Element beeinträchtigt (v 125-187, dazu 3 565-569). Die Partie des 13. Odysseebuches ist den Abschnitten H 443-464 und M 5-34 nachgebildet, sie verfolgt auch ein ähnliches Ziel: Wie in der Ilias die Empfindlichkeit Poseidons benutzt wird, um die Befestigung ,des Griechenlagers in schicklicher Weise zu beseitigen, so in der Odyssee, um das Wundervolk der Phaiaken von der See zu entfernen und ihre Heimat unauffindbar zu machen. In beiden Fällen werden die Spuren des epischen Geschehens archäologischer Nachprüfung entzogen. Beide Fälle enthalten ein Urteil über die angebliche Historizität des Berichteten. Über die Phaiaken vgl. jetzt T. Krischer, Hermes 113, 1985,

9-21.

In den oben aus dem 15. Buch der Ilias zitierten Versen begeht Poseidon allerdings einen Fehler: Er übersieht (oder verschweigt absichtlich), daß Zeus ja den Göttern nicht das Betreten der Erde verboten hat, sondern die Teilnahme an den Kämpfen vor Troia. Und Poseidon hat durch sein Schweigen in der Götterversammlung des 0 diese Maßnahme anerkannt, sogar Here gegenüber seine Friedfertigkeit ausdrücklich bekundet, da Zeus ja der Stärkere sei (vgl. 0 210-211). Wenig später ehrt er Zeus bei seiner Ankunft auf dem Olymp, indem er seine Pferde ausspannt (0 440-441). Iris hat also im 15. Buch leichtes Spiel: Durch den diplomatischen Hinweis auf das höhere Alter des Zeus bestimmt sie den verärgerten Gott zur Nachgiebigkeit (vgl. 0 204: oicr0' mc;1tpi:crßottpotow 'Eptvui:c; aU:v e1tovtat). Die Religionswissenschaft pflegt die Poseidonkonzeption der Ilias als Abbild des Glaubens der kleinasiatischen Griechen des 9. Jahrhunderts zu bezeichnen 12 . Jedoch dem tatsächlichen Sachverhalt wird diese Gleichung kaum gerecht, obwohl man natürlich zugeben muß, daß sich der Dichter durch die religiösen Vorstellungen seiner Umgebung anregen lassen konnte. Aber wir hören in der Ilias ja auch von anderen Funktionen des Gottes: In Nestors Erzählung des 11. Buches errettet Poseidon seine 12

Vgl. Wilamowitz, GI. d. Hell. I 337, bes. Schachermeyr 47f. und 167f., auch Simon in einem materialreichen Kapitel ihres Buches (66-90).

Poseidon

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Söhne, die Molioniden, aus dem Gefecht zwischen Eleiern und Pyliern vor dem Angriff des jungen Nestor; der Gott hüllt beide, Kteatos und Eurytos, in Nebel und entführt sie (A 750- 752). Homer kennt den heiligen Hain des Poseidon zu Onchestos (B 506; vgl. h. Horn. Ap. 229- 238), der dort nicht als Meeresgott verehrt wurde. Der Dichter läßt Poseidon, wie wir eben sahen, Pferde und Wagen des Zeus besorgen (0 440-441), er weiß von der göttlichen Abkunft des Pferdes Arion (vgl. 'P 346-347), dessen Vater Poseidon gewesen sein soll, er nennt die unsterblichen Rosse Achills ein Geschenk des Poseidon an Peleus (P 443-444; 'P 276-278), weiß um die Vortrefflichkeit der Pferde Nestors (A 597: NT)AT)tatt1t1tot) und erwähnt, daß Zeus und Poseidon den Antilochos in der Kunst des Wagenlenkens unterrichteten ('P 307-308); schließlich erzählt er, daß derselbe Antilochos, das im Rennen gewonnene Pferd berührend, seine Fairness im Wettkampf bei dem ymiJoxoc; tvvocriymoc; beschwören soll ('P 581-585). Das sind „Erinnerungen" an eine ältere Erscheinungsform des Gottes Poseidon (des '17tmoc;). Vgl. den Überblick bei Guthrie 94-99 und bei Simon 67 ff. Man darf in diesem Zusammenhang an die lebenden Pferde erinnern, die von den Troern als Opfer an Skamander 132), auch an die vier Rosse, die Achill auf dem Scheiterhaufen im Fluß versenkt werden (cJ> des Patroklos schlachtet und verbrennen läßt ('1'171-172). Poseidon selbst erhält Stieropfer am Alpheios (A 728) und bei Geraistos (-y177 -178), jeweils Nestorerzählung; vgl. auch Y 403-405 (Stieropfer für den Poseidon Helikonios) und -y 1- 66 (Stieropfer am Strande von Pylos, die allerdings dem Meeresgott gelten).

Für den Religionshistoriker sind die genannten Belege freilich nur ,,Rudimente", ,,Elemente einer bereits profanen Tradition ritterlicher, sportlicher und literarischer Art" (Schachermeyr 47 f.), d. h. aber meist unbedachte Erwähnungen einer zur Zeit des Dichters ausgestorbenen Gottesvorstellung. Man setzt also voraus, daß Homer nicht recht verstand, was er sagte. Das trifft indessen nicht das Richtige; denn eine solche Ansicht drängt sich erst auf, wenn man die zitierten Stellen nur als Material für historische Folgerungen betrachtet, ohne nach ihrer Bedeutung im poetischen Zusammenhang zu fragen. Alle genannten Angaben haben aber ungeachtet ihrer Kürze einen besonderen Sinn, und es ist unwahrscheinlich, daß der Dichter ihm keine Bedeutung zugemessen habe. Die Übernahme einzelner Sagenzüge oder die Wiedergabe kultischer Gepflogenheiten ist auf homerischem Niveau ein überlegter Hinweis; denn der Autor deutet nun auf eine besondere Kraft des Gottes, die der Hörer kennen muß, um die Dichtung zu verstehen. Unsere Folgerung muß also lauten: Homer kannte Poseidon nicht nur in der Funktion des Meeresgottes. Im Rahmen seiner Erzählung beschränkte er ihn allerdings auf dieses Element und überließ diesem seinem neuen Gott nur beiläufig Funktionen anderer Art, meist dann, wenn ihm die umfassenderen Befugnisse Poseidons in der Sage oder im Kult begegneten.

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Die Hauptgötter

Auch die Adjektive yatiJoxo~ und tvvocriyato~ werden m. E. nicht immer zutreffend beurteilt. Man meint, sie zeigten als Signaturen des ,,Erderschütterers" eine ältere weiterreichende Funktion Poseidons an (vgl. z.B. Wilamowitz, Gl. d. Hell. I 336). Homer, so vermutet man, müsse diese Epitheta aus der mündlichen Epik übernommen haben, ohne zu bedenken, daß sie seiner Konzeption des Meeresgottes nicht angehörten. Jedoch diese Überlegung empfiehlt sich nicht. Bekanntlich ist die Bedeutung von ymiJoxo~ umstritten 13• Daß Homer das Wort als ,erderschütternd' gedeutet habe, ist unwahrscheinlich; denn es steht neben tvvocriymo~. Vermutlich brachte er es mit EJ(Etv in Verbindung und verstand darunter ,erdumfassend'. ,die Erde haltend' - eine für den Beherrscher des Meeres (besonders für den der griechischen Meere!) sehr passende Bezeichnung 14. Der Meeresgott ist aber auch ,Erderschütterer' (tvvocriymo~); denn die Griechen erlebten Erdbeben ja meist zugleich als Seebeben 15• Wenn man diese Auffassung billigt, sind beide Epitheta nicht Rudimente eines vorhomerischen Poseidonbildes, sondern Kennzeichnungen des Gottes, den wir in der Ilias kennenlernen. Mit diesen Sätzen soll freilich nicht bestritten werden, daß die Epitheta yau'toxo~ und evvocriyaio~(bzw. evocrix8wv)schon in vorhomerischer Zeit mit Poseidon verbunden waren. Für evvocriyaio~bietet sich die Annahme sogar an; denn E-ne-si-da-o-neerscheint als selbständiger Gott schon auf den Knossostafeln (siehe Vermeule 60; Simon 70). Der Poseidonkult ist in den Pylostexten belegt: Po-se-da-o-(ne) (vgl. Vermeule 62 ff.).

Irrtümer und Unklarheiten scheinen auch im Falle Poseidons dadurch entstanden zu sein, daß man eine religionshistorische Entwicklung rekonstruierte, die mit dem Zustand endete, den Homer abgebildet haben soll. Wieder brauchte der Dichter angeblich nur zuzugreifen, und er fand das, was er für seine Erzählung brauchte! Einige nicht recht passende Verse und Beiwörter wurden dabei, wie wir bereits hörten, als Rudimente oder leere Formeln entschuldigt. Die Absicht des Dichters ist hierbei jedoch verkannt: Homer benötigte nicht eine der im Kult bezeugten Auffassungen Poseidons, sondern er brauchte den nach Zeus mächtigsten Gott als dessen Gegenspieler in den Büchern N-0: Poseidon soll Here unterstützen, die eine strategische Aufgabe nicht übernehmen könnte, und er soll die geschlagenen Achaier zum Widerstand erwecken, ja zum Siege führen. 13

14

15

Vgl. Frisk, G. E. W. I 282; Chantraine, D. E. L. G. I 219 (rechte Spalte) s. v. yfi; W. Beck, LfgrE. II 115; West Comment. zu Hsd. Opp. S. 366 A. 1. Man beachte, daß Rose (63) das Epitheton als ,, ,Erdhalter', d. h. Umarmer, Gemahl der Erde" versteht (im Anschluß an Kretschmers Etymologie „Gemahl der Da"; zu dieser jedoch richtig Simon 68). Siehe Simon 67 f., die Prellers Darstellung des Poseidon zitiert. - Erinnert sei an die Katastrophen der Jahre 426 (Euboia: Thuk. 3,89,2) und 373 (Untergang Helikes, vgl. Strab. 8,7,2 [p. 385]: cruµßfivm öt ,6 mi8o~ Ka,aµfiviv TiocrEiöiiivo~).Anders Guthrie 96, der &vvocriyato~auf die Zeit bezieht, in der Poseidon noch kein (bloßer) Meeresgott war.

Poseidon

115

Durch das ehrenrührige Verhalten Laomedons ist er, wie wir sahen, zum Feinde Troias geworden und kann nun die für die Komposition nötige Gegenhandlung wirksam fördern. Die Beherrschung der Meere ist deshalb seine Hauptfunktion, weil er in dieser Eigenschaft als beinahe gleichberechtigter Rivale des Zeus auftreten kann. Tatsächlich fügt er sich dem Himmelsgott ja nur, weil dieser der ältere ist, also aus Gründen der Pietät, die Poseidon nicht verletzt. Bei Darstellung seiner Aristie aber (seil. in N-0) spielt das Meer nur eine beiläufige Rolle; denn es tritt lediglich bei Poseidons Ankunft in Erscheinung (vgl. N 17-31), also vor seiner Wirksamkeit, und mit beifälligem Rauschen auf dem Höhepunkt seines Erfolges (3 392-393). Hätten wir die oben ausgeschriebenen Verse O 187 -193 nicht, dann könnten wir, in Anlehnung an die in der Religionsgeschichte geübte Methode, vermuten, daß Homer vom Gott der Meere ebensowenig wußte, wie von dem der Pferde. Aber auch dieser Schluß wäre übereilt. Zum Rang Poseidons in der Ilias vgl. auch Y 13-18! In den Versen 284-298 eilt der Gott zusammen mit Athene dem Achill zu Hilfe, der verzweifelt gegen das Wasser des Skamander ankämpft. Er enthüllt dem Helden das zukünftige Geschehen bis zum Tode Hektars, vertritt also gewissermaßen den älteren Bruder. Vers 290 darf nicht mit Aristarch athetiert werden (vgl. den zutreffenden Einwand Leafs z. St.).

Wir sollten also vielmehr sagen: Poseidon ist Meeresgott, weil das die vom Dichter gebilligte Ordnung der Welt so verlangt. Aber sein Wirken in der Ilias ist nicht wesentlich durch die Funktion eines Meeresgottes bestimmt, noch weniger durch eine Verbindung mit den Pferden, sondern allein durch die ritterliche Pflicht, dem entmutigten Heer der Griechen aufzuhelfen und Zeus' Absichten zu durchkreuzen. Poseidons Handeln ist abgestimmt auf die gegenwärtige Schwäche seiner Schützlinge. Seine Reden lösen in ihnen eben die Reaktionen aus, die zu dem vom Dichter gewünschten Ziele führen. Zweifellos hat sein Wesen in Homers Darstellung an Großartigkeit, vermutlich aber auch an Menschlichkeit und besonders an Liebenswürdigkeit gewonnen.

3. Athene In keiner homerischen Szene steht Athene in so enger Verbindung mit einem Menschen wie in ihrem ausführlichen, an Überraschungen reichen Gespräch mit Odysseus am Strande von Ithaka (v 187-440). Der Dichter erzählt folgendes: Odysseus, von den Phaiaken schlafend an Land gesetzt, erwacht neben seinen kostbaren Geschenken, kann aber die Heimat nicht erkennen, da sie von Nebel bedeckt ist. Er ist verzweifelt und glaubt sich betrogen (187-221"). Da tritt Athene in Gestalt eines jungen Hirten zu ihm und eröffnet ihm nicht ohne Spott, daß das vor ihm liegende Land die bekannte Insel Ithaka sei. Odysseus reagiert mit einer Lügenerzählung, die erklären soll, weshalb er allein mit kostbaren Gegenständen an einer verlassenen Stelle der Küste steht (221b-286). Nun aber zeigt sich Athene in ihrer wahren Gestalt. Sie wundert sich, daß er sie, ungeachtet seiner Klugheit, nicht erkannt habe. Dann gibt sie den Grund ihres Kommens an. Odysseus aber geht auf diesen Punkt nicht ein, sondern rechtfertigt sein Verhalten (die Tatsache, daß er die Göttin nicht erkannte) mit dem Hinweis auf die lange Abwesenheit. Er bittet nun nachdrücklich um Bestätigung der früheren Angabe, daß er am Strande der Heimatinsel sei. Athene lobt die Reaktion ihres Schützlings, erklärt ihm, daß sie ihm aus Rücksicht auf Poseidon nicht beistehen konnte, und zerstreut den Nebel, wobei sie ihm die markantesten Punkte der Insel zeigt. Odysseus ist beglückt und richtet ein Dankgebet an die Nymphen (287 -360). Daraufhin schaffen beide die Kostbarkeiten in die Grotte und beraten über die bevorstehende Rache an den Freiern. Athene sagt ihr Mitwirken zu, ohne allerdings Einzelanweisungen zu geben. Sie kündigt an, daß Odysseus in Gestalt eines Bettlers zunächst zu Eumaios gehen müsse, um nähere Einzelheiten über die Dinge im Herrenhaus zu erfahren; sie selbst wolle Telemach aus Sparta herbeiholen. Schließlich berührt sie ihn mit ihrem Stabe und verwandelt ihn. Beide trennen sich (361 -440) 1• Schon die Inhaltsangabe zeigt, daß der letzte Abschnitt die vorangehenden an Bedeutung übertrifft; denn hier fordert Athene ihren Schützling zur Rache an den Freiern auf (vgl. v 376: ~EtEV föcacr-ra'tE µu9iJcrm-ro. Diese Worte bereiten die Verse v 303-310 vor; mit liyvmcr-rovvgl. v 397, mit &JCacr-ra v 385. Krehmer (7 - 35) hat den Passus v 187 - 196 in ausführlicher Interpretation gegen Mißverständnisse verteidigt. Die vorbereitende Funktion dieser Verse sollte man mit cr 158-162 vergleichen, wo ebenfalls die Absicht Athenes der nachfolgenden Szene vorangestellt ist und so erst ein angemessenes Verständnis ermöglicht. In beiden Fällen wird

2

Ä.115 b-120: 6111:1~ 6' r.v 1tiJµa-ra oilC(f),/ livöpa~ ö1t1:pcp111.Ä.ou~, oi -rot jlio-rov JCa-rtöoucrt/ µvroµi:vot civn9i:T]vliÄ.oxovJCaieöva 6t66v-ri:~. / Ö.Ä.Ä.' i'i -rm JCEivmvyi: ßia~ ci1to-r1:icr1:m r.Ä.9rov·/ aö-rap f.ltTJVµVT]O"'ti;pa~ tvi µi:yapOlO"l'tEOicrl / IC'tEIVlJ~ T]EÖÖÄ.cf)ij ciµcpaöov ö~ti xaÄ.JCi/> ... Durch den Nachweis, daß v 383 mit diesen Versen nicht in Widerspruch steht, hat Krehmer (259) ihre Athetese (vgl. z.B. Pocke 203 A. 1) unglaubhaft werden lassen.

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der Hörer nicht nur über die Richtung des Handlungsverlaufs orientiert, sondern es wird ihm auch gesagt, daß Athene diese Handlung zum Wohle ihrer Lieblinge führt 3• Nicht zutreffend hat Krehmer den Satz v 188-190 beurteilt: oölit µlV (seil. yaiav 1tm:proi11v)eyvro, / f]Öl]öf]v ci1tEcov· 1tEpiyap 8Eo~ T)&paXEiiE/ TTa).M~ 'A811vai11.Krehmer (11) sagt: ,,Abwesenheit und Nebel stehen als Begründung des Verkennens nebeneinander ... , und sie bedingen einander, da das eine ohne das andere nicht genügen würde." Das trifft jedoch den Sachverhalt nicht. Der Text gibt als Begründung nur den Nebel an (189: yup). Diese Begründung funktioniert aber nur, weil es sich um einen Spätheimkehrer handelt, dessen Erinnerungsbilder verblaßt sind. Würde Odysseus nach kürzerer Abwesenheit zurückkommen, dann würde auch der Nebel die richtige Erkenntnis nicht verhindern (vgl. Krehmer selbst S. 10 unten!). Die mangelhafte Erinnerung ist also Bedingung für das Verkennen durch Nebel, nicht umgekehrt. Die lange Abwesenheit ist mithin nicht causa dafür, daß Odysseus lthaka nicht wiedererkennt, sondern conditio sine qua non. Deshalb empfiehlt es sich, das Kolon f]Öl] öf]v ci1tECOV durch einen präpositionalen Ausdruck wiederzugeben (Ameis-Hentze: ,,nach langem Fernsein"). - Übrigens ist Nebel ein bewährtes Mittel der Götter, um menschliche Bewegungen zu hemmen, vgl. et>6- 7 (TJtpa ö'"Hpl] / 1ti-tva 1tp6cr8& ßa8&iav tpuKtµi:v).

Die große Niedergeschlagenheit des Odysseus, der nicht bemerkt, daß er endlich die Heimat erreicht hat, findet ihren poetischen Ausdruck in dem Monolog v 200-216 4 • Die Disposition dieser Rede ist umstritten. Da das richtige Verständnis des Abschnitts für das der folgenden Szenen belangreich ist, müssen wir zunächst versuchen, Klarheit zu gewinnen. Krehmer meint, die Hilflosigkeit des Sprechers komme auch im „zickzackartigen Umspringen der Gedanken" (70) zum Vorschein (vgl. sein Dispositionsschema 71). Krehmers Deutung hängt jedoch von einer entsprechenden Auffassung der Verse v 203-206 ab. Diesen Versen wenden wir uns zunächst zu. Odysseus sagt:

205

itij 011xpiJµata itoUa cptprotliöE; 1rij ot Kai aötoc; itAliy~oµat; ai0' Öq>EAOV µEivat itapa atTJKEcrcrtv aötou· eyro ÖElCEVliUov llitEpµEvtrovßacrtAiJrov E~tK6µr1v,öc; KEVµ' Eq>iAEtKai EitEµitEvtrn0at.

Krehmer (48-53) folgt in seiner Besprechung dieser Verse Schadewaldts Übersetzung, die lautet: ,,Wohin nur bringe ich diese vielen Güter? Und wohin irre ich auch selbst? Wäre ich doch bei den Phäakern dort geblieben! Dann hätte ich zu einem anderen der übergewaltigen Könige kommen können, der mir Liebes getan und mich heimgeleitet hätte." Diese Wiedergabe ist jedoch sprachlich und inhaltlich kaum haltbar: (v 204) 1. Pers. Sing. Krehmer lehnt die andere a) Ihr zufolge ist Öq>EAov Möglichkeit (3. Pers. Plur.) ab, weil xpiJµata „rein räumlich" von Öq>EAOV 3

4

Das Verfahren, den Hörer über die Pläne der Götter rechtzeitig zu unterrichten, ist gut homerisch. Ein bekanntes Beispiel sind die Verse B 35-40. Hier allerdings hat Zeus die Absicht, den Angeredeten irrezuführen und ihm zu schaden. Vgl. die ausführliche Interpretation bei Krehmer 36- 72.

Athene

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„ziemlich weit" weg stehe (50). Dabei ist jedoch verkannt, daß sich die Gegenüberstellungen von Frage und Wunsch genau entsprechen: x,piJµa-m - Kai aöt6c;, fortgesetzt in Öq>EAOV- tyro öt. Kann ferner ein betontes ,ich aber' (tyro öt) die 1. Person Sing. des vorangehenden Verbs fortführen? Krehmer (51 A. 1) sagt: ,, ... ÖE ist hier einfach weiterführend"; Schadewaldt übersetzt mit „dann", Schwartz mit „schon" (,,ich wäre schon gekommen"). Ein solches tyro ÖEbegegnet nur in Reden der Tragödie bei der Überleitung vom Prooimion zum Hauptteil (vgl. Soph. Ant. 1196; weitere Beispiele bei Denniston, Gr. Part., 2Oxford 1954, 170 f.). Da derartige Bedingungen an unserer Stelle nicht gegeben sind, kann tyro öt nur kontrastierend gebraucht sein. Es zeigt an, daß kein Verb in der 1. Person vorangegangen ist. b) Krehmer (51) hält den Wunsch (v 204f.): ,,Wären doch die Geschenke bei den Phaiaken geblieben!" nicht für sinnvoll. Er wendet ein: ,,Was hinderte ihn dann, sie einfach stehen zu lassen und sich auf den Weg zu machen?" Aber dann wäre der Sinn der kostbaren Güter verkannt. Sie sind kein beliebiger Warentransport, sondern ersetzen die verlorene Kriegsbeute, sind vor allem Gaben eines Gastfreundes. Sie sind „Symbole des Reichtums oder Ansehens" (Finley 56; vgl. auch A 358-361) und Zeichen einer feierlichen Begegnung, bei der Odysseus hoch geehrt wurde. Zugleich sind sie Sinnbild einer Verpflichtung: Undenkbar, daß Odysseus sie hätte am Strand stehen lassen, um sich bei einem anderen Gastfreund schadlos zu halten (vgl. übrigens Krehmer selbst 77!). Und wenn man von alledem absieht: Wäre Odysseus nicht in den Verdacht der Räuberei geraten und hätte sich am Ende vorzeitig verraten? Umgekehrt aber ist ein Wunsch der Art ,Wäre ich doch bei den Paiaken geblieben!' im Munde des Odysseus abwegig. Was sollte er sich davon versprechen, wenn er doch deren Geleit nicht traute? Und die in der obigen Übersetzung folgende Vermutung (,dann hätte ich zu einem anderen König kommen können') ist geradezu sinnlos: Wollte er die Phaiaken, die versprochen haben, ihn in die Heimat zu geleiten (vgl. 3 31-45 u. ö.), etwa bitten, ihn zu einem anderen König zu bringen? Ich muß also bei meiner früheren Deutung bleiben (vgl. Verf., Beiträge zum Verständnis der Odyssee, Berlin 1972, 152 f.; Hoekstra im Kommentar S. 176). Krehmers Folgerungen (66- 72) sind entsprechend zu modifizieren. Wir gewinnen nun eine viel einfachere Disposition des Monologs: 1) In welches fremde Land bin ich gekommen? Wohin mit den Geschenken, die ich weder wegstellen noch verlassen kann? (200-208). - 2) die Phaiaken sind schuld, die Götter mögen sie strafen! (209-214). - 3) Doch ich will die Wertgegenstände zählen (215-216). Odysseus stellt die Vollständigkeit der Geschenke fest. Es ist also offensichtlich, daß er nicht beraubt worden ist. Obwohl der Dichter das nicht ausdrücklich sagt, ist jedem Hörer bewußt, daß auch für Odysseus

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der Verdacht einer Beraubung nicht mehr bestehen kann. Trotzdem zieht dieser in seiner Bedrängnis die nächste Konsequenz nicht, nämlich die, daß die Phaiaken, wenn sie ehrlich waren, ihn eigentlich in die Heimat gebracht haben müßten. Es ist ihm verwehrt, eine solche Möglichkeit zu kontrollieren, da das Land ja im Nebel liegt, er selbst aber die Geschenke nicht verlassen kann. Durch diese Notlage wird der Auftritt der helfenden Göttin motiviert. Weshalb aber, so muß man nun fragen, treibt sie zunächst ein Versteckspiel mit ihm, indem sie ihm in falscher Gestalt und in ironischen Formulierungen mitteilt, er befinde sich auf der berühmten Insel Ithaka? Man kann das Vorgehen der Göttin m. E. nur verstehen, wenn man die Szene als Peira auffaßt: Athene weiß zwar, daß Odysseus gewarnt ist, aber sie möchte doch erfahren, wie er auf das seit Jahren herbeigesehnte, unaussprechlich große Glück der Heimkehr reagiert. Wird er sich beherrschen und die Größe der Gefahr bedenken, oder wird er darauf beharren, die Seinen sofort zu sehen? Odysseus besteht die Probe glänzend. Er antwortet mit einer erlogenen Erzählung (v 256-286), die so vortrefflich ist, daß Athene sich gezwungen sieht, die Prüfung zu beenden und die Maske fallen zu lassen. Odysseus Lügenbericht ist ganz vorzüglich geeignet, die Situation zu erklären, in der der Sprecher angetroffen wird (vgl. Krehmer 150 f.). Das ist m. E. die einzige Funktion dieser Rede. Odysseus hat ein Meisterstück vollbracht; denn seine Worte erklären dem unverhofft aus dem Nebel tretenden Hirten, weshalb ein gut gekleideter Mann mit vielen kostbaren Sachen allein im Nebel an einer einsamen Stelle der Küste Ithakas steht. Der Hirt könnte beim besten Willen nicht auf den Gedanken kommen, der seltsame Fremde sei der heimgekehrte König Odysseus. Odysseus hat also die früheren Warnungen sehr sorgsam bedacht. Athene kann sich kein besseres Ergebnis ihrer Prüfung wünschen. Die Erzählung enthält freilich eine Besonderheit: Die Darstellung entlarvt den Sprecher als gewissenlosen Verbrecher (vgl. Krehmer 165). Das, meint Krehmer (156 ff.), sei nicht ohne weiteres verständlich; denn Odysseus hätte ja seine angebliche Auseinandersetzung mit Orsilochos, dem Sohne des Idomeneus, auch anders begründen können. Er konnte sagen, daß er in Notwehr handelte oder einen Totschlag im Affekt vollbrachte „zur Wiederherstellung seiner schwer verletzten Ehre" (Krehmer 156). Weshalb macht er aus sich einen „moralischen Krüppel" (Krehmer 158)? Die Antwort kann wohl nur lauten: Aufgabe des Sprechers ist es, mehrere seltsame Voraussetzungen seiner jetzigen Lage wahrscheinlich zu machen, nicht zuletzt die gutmütigen Phoiniker, die ihn schlafend am Strande zurückließen, vorher aber alle seine Besitztümer aus dem Schiffe holten und neben ihn stellten, ohne etwas an sich zu nehmen. Wenn Odysseus wünscht, daß derartiges einleuchten soll, darf er sich bei Darstellung seiner gesetzwidrigen Handlung nicht schonen. Jede Schilderung, die den Anschein erwecken könnte, Beschönigung eines Unrechts zu sein, würde alle seine Worte unglaubwürdig machen. Der Mord um materieller Güter willen läßt sich zwar „als Kontrafaktur des Zwists zwischen Achilleus und Agamemnon" (Krehmer 170) ansehen (oder wenigstens bezeichnen), aber dieser Aspekt spielt in unserem Zusammenhang nur eine ganz untergeordnete Rolle.

Athene

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Die geplante Beratung kommt indessen noch nicht sofort zustande. Bedeutsam ist zunächst Athenes Verhalten. Nach ihrer Rückverwandlung streichelt und lobt sie den Prüfling, der sich so glänzend bewährt hat (v 287-295). Dann sagt sie (v 296-299): &.A},,'liye µTJKEtttaiha A.&yci>µ&0a, do6m; liµq,co Ki:poi;·,r.1td au µi:v fom ßpotrov öx' lip1crtoc;li1tavtcov ßouA.ijKai µu0ou:nv, r.yroo· r.v micr10e0icr1 µiJn tE KA.i:oµatKai KEpöEO"lV.

Trotzdem, so fährt sie dann „in Parenthese sozusagen" (Beßlich 120) fort, habe er bei aller Klugheit sie, seine Beschützerin, jetzt nicht erkannt. - Hier wird ganz deutlich, daß diese Athene nach dem Vorbild ihres menschlichen Lieblings konzipiert ist. Um ihn so zu lieben und so zu verstehen, wie sie es tut, muß der Kern ihres Wesens ebenso beschaffen sein wie der des seinen (vgl. v 299: µiJn ... Kai Ki:pöecrtv).Auch sie verstellt sich und prüft ihn, wie er ebenso sich maskiert. Für die Göttin ist das freilich leicht, sie kann mühelos in alle möglichen Hüllen schlüpfen. Der Mensch aber ist nur auf das Mittel kluger Rede angewiesen, und da das sehr begrenzte Möglichkeiten hat, ist es gar nicht erstaunlich, daß Odysseus die verwandelte Göttin nicht erkennt. Auch in Zukunft wird er ohne göttliche Hilfe nicht auskommen. Die zitierten Verse sind für die Frage, wie das eigentliche Wesen der homerischen Götter zustandegekommen sein könnte, von einzigartiger Bedeutung: Sie zeigen, daß die Dichter bei ihren Konzeptionen jeweils von der Beobachtung menschlicherEigenschaften ausgegangen sind und daß sie diese Wesenszüge dann auf die allgemein bekannten Götter übertragen haben. Immer aber geschah das so, daß der Gott Gefallen an seinem menschlichen Ebenbild finden und gleichzeitig eine glaubwürdige Rolle in der olympischen Gesellschaft spielen konnte. Es wird sich auch weiterhin herausstellen, daß die gottesfürchtigen Verfasser der beiden großen Epen in erster Linie vortreffliche Menschenkenner waren (vgl. F. G. Jünger im Nachwort seiner Übersetzung der Odyssee, Stuttgart 1981, 371). - Doch kehren wir in den Zusammenhang des 13. Buches der Odyssee zurück! Zunächst zeigt Odysseus wieder nüchternen Sachverstand. Er überhört die knappen Erklärungen, die Athene in Form eines Programms als Begründung ihres Kommens vorträgt (seil. v 303-310), er fragt, ob er wirklich in Ithaka sei, und erlebt nun, wie unter Athenes Worten die Insel aus dem Nebel emporsteigt (v 311-352)5. Man könnte sogar sagen: Die Göttin wählt die Knappheit der Verse v 303-310 absichtlich, um die 5

Vgl. Beßlich 122 f.: ,.Daß er wieder zu Hause ist, durfte von Odysseus nicht nur geglaubt, es mußte erlebt werden. Vorher war eine Beratung sinnlos. Das Übergehen von Athenes ersten Andeutungen zeigt dies; sie sind - für Odysseus - verfrüht. Das bedeutet nicht, daß sie, dichterisch gesehen, verfehlt sind. Sie sind gemacht, um übergangen zu werden:

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mißtrauische Frage des Odysseus hervorzulocken: ,Bin ich wirklich in Ithaka?' Sie will ihm ja Ithaka zeigen, ihm bei der Wiederentdeckung der Heimat behilflich sein. Wieder sehen wir: Die Göttin ist so gezeichnet, daß sie dem jeweiligen Befinden des Helden und seiner je besonderen Situation entspricht. Wichtig ist Krehmers Bemerkung (241), daß eine Anagnorisis (hier: die Wiedererkennung der Heimat) durch den Unglauben des Erkennenden wirkungsvoller wird. - Die Frage nach der Echtheit der Verse 333-338, die schon im Altertum athetiert worden sind, werfen wir hier nicht nochmals auf (vgl. Verf., Beiträge usw. [ob. A. 1] 158f.). Krehmer (219-233) hat die inkriminierten Sätze sprachlich gerechtfertigt und ihre Funktion im Zusammenhang der ganzen Szene aufgewiesen. Nur sollte man auch hier nicht sagen, daß Athene so spreche, weil sie von Odysseus' Reaktion enttäuscht oder unangenehm berührt ist (so etwa Krehmer 231). Im Gegenteil: Odysseus hat durch die Frage nach Ithaka (,Bin ich wirklich daheim?') alle weiteren Programmpunkte zurückgestellt und so zum zweiten Male seine Klugheit bewiesen. Besser konnte er sich nicht verhalten, und Athene kann nur beglückt sein über die Vorsicht und Zurückhaltung ihres Lieblings. So muß er ja sein, wenn das geplante Unternehmen gelingen soll! Zwar hat Odysseus einen Teil der Rede Athenes (seil. v 303-310) unbeachtet gelassen. Aber der Odysseedichter läßt, wie wir seit Beßlichs Untersuchungen wissen, derartiges geschehen, um bestimmte Seelenlagen, Stimmungen oder Denkweisen sichtbar zu machen. In Wahrheit hat Athene den Helden gut verstanden, wenn sie ihn (seil. v 333-338) dafür lobt, daß er, was Heimkehr und Prüfung Penelopes betrifft, nichts übereilt.

Es folgt nun die Bergung der Schätze, womit Athene ihr Programm beginnen läßt (v 362-371). Mit diesen Geschenken der Phaiaken werden die sichtbaren Zeugnisse von Odysseus' Aufenthalt in der Märchenwelt beiseitegeschafft. Odysseus steht vor dem Eintritt in die Gefahren des politischen Lebens. Es ist ein schöner Gedanke von Krehmer (vgl. 246 f.), daß Gottheit und Mensch bei der gemeinsamen Tätigkeit nach langer Zeit der Trennung wieder zueinander finden. Man sollte aber nicht übersehen, daß auch hierbei die Führung bei der Göttin liegt. Dann sitzen die beiden unter dem Ölbaum und sinnen auf den Untergang der Freier. Auch hierbei geht alle Initiative von Athene aus. Sie sagt (v 376): cppa~EU,ö1troc;µvricr·tijpcnvö:vmöfot xEipac; ecpiJcrEtc;. Sie nennt die Freier schamlos, da sie, wie ihre Worte (v 377-381) dartun, schon drei Jahre die Herren in Odysseus' Haus spielen (v 377: Kotpavfoucn) und um seine Gattin freien. Die aber wartet noch immer auf seine Rückkehr und hält die Bewerber mit leeren Versprechungen hin (v 381): ... ö:yyd.iac; 1tpoi:Eicra,v6oc; öt oi älla µEvotvq.. Für den Angeredeten steht zwischen der Erwartung der kommenden, angedeuteten Schwierigkeiten (vgl. A 115-120) und der späteren Tat der Entschluß zu einem Rachewerk, das er unter ungünstigen Bedingungen ausführen muß. Diesen Entschluß läßt die Göttin durch die Form der einerseits wird dadurch Athenes Intention und Bewegungsrichtung, seus' Seelenlage deutlich gemacht."

andererseits Odys-

Athene

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Aufforderung (376: cppa~i::u)in ihm entstehen, da sie nun ja festgestellt hat, wie vorzügliche geistige Voraussetzungen er für ein so gefährliches Vorhaben mitbringt. Die Göttin löst das Geschehen aus, aber sie gibt keine Einzelanweisungen, welche die Freiheit des Handelnden einschränken könnten. In diesem wichtigen Akt Athenes gipfelt die gesamte bisher betrachtete Szene. Odysseus ruft dankbar aus: ,0 wehe, ich hätte beinahe Agamemnons schlimmes Schicksal erlitten, wenn nicht du, Göttin, mir alles nach Gebühr gesagt hättest 6 !' Dann bittet er sie, einen Anschlag auszusinnen (v 386: µfjnv ücp11vov)und ihm persönlich beizustehen (v 386-391). Sie sagt ihre Hilfe zu und beantwortet die Bitte um Anzettelung der Intrige mit der Ankündigung seiner Verwandlung in einen Bettler. Man hat sich immer wieder darüber gewundert, daß Odysseus, obwohl er gewarnt ist, Athenes Worte mit der Behauptung beantworten kann, er wäre ohne ihre Aufklärung umgekommen wie der Atride. Die Schwierigkeit schien sich nur durch Athetese der Verse A 116-120 beheben zu lassen 7. In Wahrheit besagen die Verse v 383-385 nicht, daß der Sprecher die Eröffnungen des Teiresias vergessen oder gar nicht vernommen habe; denn die Belehrung, die Athene ihm erteilt (v 376-383), enthält nicht nur eine Bestätigung, sondern auch eine Ergänzung dessen, was er selbst weiß. Ein Vergleich der Worte Athenes mit denen des Sehers macht das deutlich. Teiresias hat zwar mitgeteilt, daß hochmütige Männer Odysseus' Besitz verzehren werden (l 115 f.: öiJi::u;... / iivöpac; i'ntEp o' Etepov µev EömKe1tatrip, hepov o' avtveucre). Athene jedoch wird zu einem derartigen Zugeständnis auch durch das reiche Opfer nicht bestimmt. Der tiefere Grund ihrer brüsken Weigerung bleibt vorerst unausgesprochen, aber der Hörer, der die Verse E 418-430 vernommen hat, erahnt ihn, und er sieht sich bestätigt, wenn er später (seil. Y 313- 317) aus Göttermund erfährt, daß sich Here und Athene geschworen haben, den Troern unter keinen Umständen beizustehen. Auch im 6. Buch ist Athenes Handeln eine Folge dieser, vom Parisurteil ausgelösten Einstellung. Das Bestreben der Göttin, sich an Aphrodite zu rächen, begegnet uns schon zu Beginn des Gedichtes. In der Heeresversammlung des ersten Buches hat der Streit der Könige so zugenommen, daß Agamemnon als Ersatz für Chryseis die Herausgabe der Briseis verlangt. Achill soll erfahren, so etwa ruft er aus, um wie vieles gewaltiger (A 186: 424-425: 1tpö~ O"t1)0eaxeipi 1tax&i1J/ ijA.aae, ,,mit der vollen, runden, d. h. flachen Hand".

Athene

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So schreibt Lesky (Geschichte 3 389 f.): ,,Aber so hilfreiche Huld wird auf der anderen Seite zur härtesten Grausamkeit. Nirgends empfinden wir das so wie beim Tode Hektors ... " Darf man jedoch ein solches, auf unser Empfinden bezogenes Urteil aussprechen, ohne zu fragen, in welchem Zusammenhang Athene handelt und was der Dichter mit ihrer Hinterlist sagen will? Die Darstellung des Wettlaufs und des Zweikampfs ist meisterhaft konzipiert. Alle Schritte der Handlung sind aufeinander abgestimmt. Man spürt, wie sich der Ring des Verhängnisses um Hektor schließt, so daß er ihm nicht entrinnen kann. Schon der Lauf um die Stadt ist ein Symbol dieser Unentrinnbarkeit. Dem Lauf sehen die Götter zu 26 • Dem Göttervater geht das bevorstehende Schicksal Hektors nahe; denn er weiß, daß er ihn, den er selbst auf diese Bahn gebracht hat, betrog und dann fallen ließ. Aber Athene erinnert ihn an das, was zu geschehen hat, und Zeus gibt ihr Vollmacht, nach ihrem Wunsche zu handeln. Sie eilt zur Erde (X 166-187). Die Kerenwägung, die Zeus am Ende des dritten Umlaufs der Helden um die Stadt vornimmt (seil. X 208-213), zeigt Zeus' unwiderruflichen Entschluß an, Hektor sterben zu lassen (Näheres über die Wägeszene unten S. 289). Über die Funktion der zwei vor der olympischen Szene stehenden Gleichnisse (seil. und 162-164) und über die der zwei ihr folgenden (seil. X 189-192 und 199-200) vgl. Krischer 57f.; Moulton, Hypomnemata 49, 1977, 84, der allerdings glaubt, keine eindeutige Interpretation der Verse X 199-200 geben zu können: ,,Oddly we cannot be sure about what the simile precisely means; for it is not clear in the end who is dreaming. Is it only Achilles?" Die Frage hätte so nicht gestellt werden dürfen; denn es ist ganz allgemein vom Traum eines Menschen die Rede. Vgl. oben S. 23. X 139-142

Die Kerenwägung ist gerade an dieser Stelle des epischen Berichtes erforderlich geworden, da der Hörer, dem eben noch (seil. X 203-204) gesagt worden ist, daß Apollon den Fliehenden (freilich zum letzten Male) stärkt, nun das Scheiden des Schutzgottes erfahren muß (X 213: Äi1tevöt E oißoc;'A1t6ÄÄ.Ärov). Da nun tritt Athene zu Achill, erweckt in ihm Hoffnungen auf Sieg und fordert ihn auf stehenzubleiben (X 214-222). Bemerkenswerterweise spricht sie von dem Kampf wie von einem gemeinsamen Werk (vgl. X 216-218: v&i: foÄ1ta ... / oicmr0m µtya KUöoc; 'Axmoicn 1tpo-civi'jac;/ "EK-copaö1Jrocrav-ce ... ). Ihre Mithilfe läßt sich auch nicht verkennen: Die Göttin selbst will veranlassen, daß Hektor dem Gegner nun entgegentritt (X 222-223). Achill weiß, daß er sich auf die Zusage der Göttin verlassen kann (vgl. X 270-271: äcpap öt cre IIaÄÄac; 'A0iJvTJ / syxe1 tµq> foµuq.). Wir werden also Zeugen eines ungleichen

26

Dazu Reinhardt 457-461 Griffin 181 und 190.

in einem wichtigen, an bitteren Bemerkungen reichen Kapitel;

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Kampfes sein, m dem Hektor, der von seinem Gott Verlassene, keine Chance hat. So geschieht es: In der Gestalt des Deiphobos wendet sich Athene an Hektor und fordert ihn zur Gegenwehr auf. Auch zu ihm spricht sie in der vertraulichen, verheißungsvollen Wir-Form (X 231: aU' liyE öfi cnfaoµ1,v Kai UAE~roµrn0aµavov-rn~), aber man ahnt, daß sie den Unglücklichen betrügen wird. Nach der freudigen Antwort Hektors spiegelt sie ihm vor, gegen den Willen von Eltern und Gefährten die Stadt verlassen zu haben, fordert ihn nochmals zum Kampfe auf und führt ihn zu Achill (X 224-247). Die Aufforderung ist so formuliert (X 243-244): viiv ö' i0i>~ µi:µaöin: µaxroµi:0a, µ11öt n öoupwv / fotw cpi:1öwAi].Der Plural µaxroµi:&r zeigt wieder die erheuchelte Gemeinsamkeit an. Außerdem spricht Athene von „Speeren". Das ist schwerlich so zu verstehen, daß auch Achills Waffe mitgemeint sei. Dann aber muß Hektor, der nur einen einzigen Speer bei sich hat, annehmen, daß der angebliche Bruder bei gegebener Gelegenheit seine eigene Lanze zur Verfügung stellen wird. In Wahrheit weiß Athene schon jetzt, was sie tun wird.

Nach kurzem Wortwechsel (X 249-272) schleudert Achill seine Lanze gegen Hektor. Der aber weicht ihr aus, und das Geschoß fährt in den Boden. Sofort bringt Athene die Lanze zu Achill zurück, ohne daß Hektor das bemerkt. Man vergleiche das ähnliche Manöver in Y 438-441, wo Athene eine von Hektor auf Achill geschossene Lanze vom Ziele ablenkt und vor Hektors Füße fallen läßt. Dort aber ist Apollon als ihr Gegenspieler beteiligt. Er kann Hektor leicht aus der gefährlichen Situation entführen (Y 443-444).

Hektar trifft nun den Schild Achills, jedoch sein Speer springt von dem Metall ab, das ein Gott gefertigt hat. Er bittet Deiphobos um einen zweiten Speer, aber der Bruder ist verschwunden. Seine Todesstunde ist da. Hektars Reaktion besteht in dem mannhaften Wunsche, etwas Großes, Unvergeßliches zu tun (X 304- 305): µfi µav acr1touöi y1, Kai UKA.Etro~ a1t0Aoiµ11v,/ aA.A.a µaya pa~a~ tt Kai focroµavotcrt 1tu0fo0m. Er stürmt mit gezücktem Schwert gegen Achill vor, der aber trifft ihn mit wohlgezielten Lanzenschuß in die Kehle. Otto (250 und 272 ff.) hat das anstößige Verhalten Athenes dadurch rechtfertigen wollen, daß er die Göttin mit dem Schicksal, ihr Tun mit der Schicksalsnotwendigkeit gleichsetzte. Er sagt (250): ,, ... und darum wird sie kein Befremden mehr hervorrufen, sondern nur Schauer und Ehrfurcht. Athene ist hier nichts anderes als der Weg und Vollzug der höheren Notwendigkeit; ihr Trug, mit dem sie das Vertrauen Hektars täuscht, ist der Trug des Schicksals." Und 273 heißt es: ,,In all ihrem Tun spiegelt sich das Walten des Verhängnisses mit schauerlicher Treue wider." Daran ist so viel richtig, daß Athene, ohne das Schicksal selbst zu sein, den durch die Waage des Zeus geoffenbarten Willen des Schicksals (der µoipa) ausführt. Aber auch mit dieser Einschränkung ist ihr Vorgehen

Athene

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nicht entschuldigt; denn es läßt sich ja nicht leugnen, daß sie, um zum Ziele zu kommen, alle Regeln der Ritterlichkeit mißachtet. Vgl. Deichgräber 117-119. Man sollte auch nicht versuchen, den Vorgang in naivrealistischer Sicht psychologisch zu deuten: In Wahrheit habe sich Hektor eben getäuscht, als er glaubte, Deiphobos neben sich zu haben, und er habe in begreiflicher Erregung nicht achtgegeben, als Achill mit großer Gewandtheit seine Lanze nach dem vergeblichen Schuß auf den Gegner zurückholte. Diese Auslegung würde besagen, daß die Götter nur poetische Hilfsfiguren sind, um des gefälligeren Erzählens willen vorn Dichter herbeigerufen. Jedoch die Personen Homers erleben tatsächlich alles Ungewöhnliche als Werk der Götter, und wir müssen davon ausgehen, daß die Götter für Homer Realitäten waren. Der durch die genannte psychologische Deutung rekonstruierte Ablauf der Handlung kann lediglich, ganz von außen gesehen, erklären, auf welche Beobachtungen Homer sich stützte, als er sich davon überzeugte, daß das Geschehen ein Werk der Götter sein müsse.

Athenes Trug läßt sich nur verstehen, wenn man ihn mit den zuvor besprochenen Textpartien vergleicht. Auch hier, im 22. Buch, hat die Göttin lediglich das eine Ziel im Auge, die Vernichtung des trojanischen Gegners. Dabei nutzt sie menschliche Schwächen rücksichtslos aus: Pandaros wird ja von dem vermeintlichen Laodokos in ähnlicher Weise betrogen wie Hektar von dem falschen Deiphobos. Athenes größere (übermenschliche) Klugheit bringt ihrem Schützling den Sieg ein, dessen Gegner aber den Tod. Im vorliegenden Fall ist ihr Strategem sogar besonders raffiniert: Wie gesagt, gibt sie dem Achill die Lanze nach dem ersten Schuß zurück, während Hektar keinen Ersatz für seinen verworfenen Speer erhält. Dadurch erreicht sie, daß Achill im zweiten Waffengang dem mit gezücktem Schwert anrennenden Gegner wieder mit der Lanze gegenübersteht. In der Monomachie Menelaos- Paris (r 340 ff.) folgt einem Waffengang mit den Speeren der Schwertstreich des Menelaos (Paris kommt nicht mehr dazu, sein Schwert zu ziehen). - Die ersten beiden Gänge des Zweikampfs Aias - Hektar (H 244 ff.) werden mit den Lanzen ausgefochten, dann schleudern beide je einen Stein auf den Gegner und wollen zum Schwertkampf übergehen. Doch da greifen die Herolde ein. Die Monomachie des 22. Buches entfernt sich also durch das Eingreifen der Göttin von der üblichen Ordnung des Tourniers, der Abfolge einzelner Gänge mit gleichen Waffen. Der Grund ist deutlich: Hektar trägt die unverwundbare Rüstung des Peleus, die Achill mit dem Schwert nicht beschädigen könnte. Der Pelide kann also dem Gegner nur mit der Lanze beikommen. Deshalb erfand der Dichter die ungedeckte Stelle am Hals (vgl. X 324-325), auf die sich Achills Meisterhand richtet. Genau genommen dürfte es diese Stelle nicht geben; denn Homer hat ausdrücklich berichtet (seil. P 210), daß Zeus selbst die erbeutete Rüstung anpaßte: "Enopt o' ijpµom: t&IJXt'titi XPOi,oiiOEµ1v "ApT)~.Aber eine so pedantische Konfrontation der beiden Stellen würde dem Geist der Dichtung widersprechen.

Der tödliche Lanzenwurf wird eben nur dadurch möglich, daß Achill die Lanze zurückerhält. Athene sorgt für diesen Vorteil, aber es gelingt

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ihr nur durch Täuschung Hektors. Durch die heimtückische List einer Göttin, die Troia haßt, kommt der Beste der Troer zu Fall 27 . Man sollte sich aber mit dieser Feststellung nicht begnügen. Homer läßt keinen Zweifel daran, daß Troias Schicksal mit dem Tode Hektors besiegelt ist; denn nur Hektor allein schützte die Stadt 28 • Troia aber ist, wie die Sage schon zu Homers Zeiten zu berichten wußte, durch List gefallen. Diese Sage von der berühmten List des Odysseus, die Erzählung vom Hölzernen Pferd, setzt der Odysseedichter bei seinen Hörern als bekannt voraus (vgl. ö 271-289, besonders 3 487-520), und man darf annehmen, daß sie auch Homer geläufig war 29 • Wenn das aber so ist, dann liegt es nahe zu sagen: Wie die Stadt Troia durch die List des Odysseus, so fällt ihr größter Held Hektor (bei Homer, der den Untergang Troias nicht erzählen wollte, ihr Repräsentant) durch die Heimtücke Athenes. Homer setzt also die Geschichte vom Hölzernen Pferd in eine epische Situation um, die den Voraussetzungen der Ilias entspricht. Das unverdiente Leid einer ganzen Bevölkerung spiegelt sich im Tod eines einzelnen Menschen. Die Grausamkeiten der Stadtzerstörung werden nur in Zukunftsvisionen sichtbar (vgl. etwa X 59- 76; Q 727 - 735), der Tod des größten Helden aber (des ,Stadterhalters') wird in einem Zweikampf beschrieben, dessen Verlauf die Sinnlosigkeit des Schicksals und die Tücke der Gottheit zu Tage bringt. Die Klagen um Hektor werden nun auch die Klagen um Troia und um seine unglücklichen Bewohner sein. Nur kurz fasse ich die Stellen zusammen, an denen Athene zugunsten der Griechen (oder gegen die Troer) wirkt, ohne daß nähere Gründe genannt oder angedeutet werden. 1) Mit Wohlwollen verfolgt sie das kühne nächtliche Unternehmen ihrer Schützlinge Diomedes und Odysseus. Sie darf zwar persönlich nicht eingreifen, kann aber den beiden Helden zur rechten Zeit die richtigen Gedanken eingeben. Sie sendet ihnen ein Vogelzeichen (K 274-276), sie erhört ihr Gebet (K 295. 462-464), verleiht dem Diomedes Kraft (K 366-367. 482) und erinnert ihn rechtzeitig an die Rückkehr ins Griechenlager (K 507 - 511). Dem Rhesos schickt sie, als böse Ankündigung seines bevorstehenden Todes, das Traumbild des ihm unbekannten Diomedes (K 496-497). Das ist gewiß ein unheimlicher, deshalb ungewöhnlicher Vorgang. Wir sind jedoch kaum berechtigt, das Außergewöhnliche mit Aristarch durch Athetese des Verses K 497 zu beseitigen, weil wir dann das Wesen des ganzen 27

28

29

Über den Grundsatz, dem Feinde mit allen Mitteln zu schaden (nach dem Athene hier handelt), vgl. den Schlußabschnitt dieses Kapitels (S. 154f.). Vgl. z 403: olo~ yup ep6Et0 "IA.lOV "Elmop, ähnlich X 507; n 499 und 729- 730, um nur die wichtigsten Stellen zu nennen. Vgl. Gruppe I 614; Verf., Hermes 111, 1983, 5.

Athene

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Buches K verkennen würden. Aristarchs drei Gründe sind übrigens wertlos, der letzte ist sogar falsch: Kai tö Ötu µfinv 'A01)v11c;AU1ti;i·µciAAOV yup öia ,11v A6Arovoc;ä1tayyi;Aiav). Kullmann (147 A. 1) meint: ,,Wo hier (seil. im K) von den Göttern die Rede ist, scheint mir nicht mehr das religiöse Empfinden dahinter zu stehen, das für die Ilias charakteristisch ist." Dieses Urteil halte ich nicht für zutreffend: Diomedes nimmt sich 0dysseus zum Gefährten, weil er klug ist und weil Athene ihn liebt (K 244-245, vgl. dazu 'P 782 f., auch Athenes Fernwirkung in A 437-438!). Beide Helden fühlen sich während der Erkundung ganz von der Göttin abhängig. Sie beten zu ihr (vgl. oben) und danken ihr nach der Rückkehr, weil sie ihr den Erfolg schulden (vgl. K 571 und 578-579). Das religiöse Empfinden, das sich hier äußert, unterscheidet sich kaum von dem des übrigen Epos - womit natürlich nicht geleugnet werden soll, daß andere Argumente (wenn es denn echte Argumente sind) gegen die Echtheit des 10. Buches zeugen können. 2) Im 15. Buth öffnet Athene den Achaiern nach den beschwörenden Worten Nestors die Augen über die augenblickliche Lage: Sie werden den Angriff Hektars und der Seinen nun erst recht gewahr und erkennen, wie viele der Ihren erschöpft hinter der Front stehen, wie wenige aber noch kämpfen (0 668-673). Der Text ist seit Aristarchs Athetese umstritten, wird aber nur dann sinnlos, wenn man an das Zerstreuen einer Wolke denkt, wie Aristarch fälschlich tat. Zum Zerstreuen eines atmosphärischen Gebildes wäre Athene nicht berechtigt, außerdem ist von einer Wolke oder von einem Nebel im vorangehenden Abschnitt nichts gesagt worden. Die Verse beschreiben die Wirkung der Rede Nestors: Nestor „erregt Kraft und Mut eines jeden" (0 667: önpuvi; µtvoc; Kai 0uµ6v EK 462-467):

'Evvocriym', oÖKliv µ&cru6q>povuµu0iJcrmo fµµ&vm, d 611croi y& ßpot&v EVf.Kll1ttOA&µi~m 6&11..&v, ot q>ö1..1..otcrtv EotK6t&~liUot& µtv tf. 15

Über die Besonderheit seiner Rolle in den Büchern 0-P oben S. 173ff.

wurde bereits gesprochen, vgl.

186

Die Hauptgötter 465

~U(j)AEYEEvEÖOV'CE / ... E7tEcrßoAiac; avaqJaiVEtv / livta CJE0Ev.Das besagt: Telemach hat einen gesunden Sinn für Takt und Anstand 16. Das zugehörige Nomen actionis begegnet zweimal in der Odyssee: 1) 'I' 13 (Penelope, die die Nachricht von der Tötung der Freier nicht wahrhaben will, zu Eurykleia): ,Die

16

Daß att. mocppcovhomer. cra6cppcovfortsetzt, hat M. Leumann (Kleine Schriften, Zürich 1959, 266-272) gezeigt: O'UfO~> aao~ > criii~.Mit den gesunden cppi:vE~darf man die 0 524), das Ergebnis eines heilen Sinnes, vergleichen. ,,gesunde Rede" (µii0o~ u-y111~,

Apollon

187

Götter haben dich toll gemacht, die den Menschen Vernunft nach Belieben nehmen und schenken können (Kai ,E xai..uppovfov,a craoq,pocruVt]~ tm:ßTJcrav).- 2) Im Vers ljl 30 sagt die Amme zu Penelope: ,Telemach wußte längst, daß sein Vater da ist', cii..Äacraoq,pocruv1Jcr1 vo11µa,a 1ta,po~ EKEU9Ev. - Alle vier Stellen hat Porzig (221 f.) ansprechend charakterisiert: „:Ea6q,pcovist, wer seinen Verstand beieinander hat (462) und sich zu benehmen weiß (6 158); die craoq,pocruVt]steht im Gegensatz zum Wahnsinn (ljl 13) und zum Leichtsinn (IJI30)." Porzig setzt hinzu (was sich uns sofort bestätigen wird): ,,Ethischen Gehalt hat crcoq,pocrUVT] erst im Theognisbuche." Vgl. auch Matthiessen, LfgrE. I 1101, 65.

In der Götterschlacht behauptet Apollon also, daß es sich für die Himmlischen, nüchtern besehen, nicht lohne, um der Sterblichen willen miteinander zu kämpfen. Mögen die kurzlebigen Wesen ihre Streitigkeiten 467: uö-roi) unter sich austragen! Die Eintracht der Olympier allein ( sollte durch menschliche Leidenschaften nicht gestört werden. Gerade das jedoch, was Apollon hier als sinnlos verwirft, tun ja hohe olympische Götter, nicht zuletzt Here und Athene im Kampf gegen Aphrodite und Ares. Die ganze Iliashandlung beruht auf dieser Auseinandersetzung; im erhabenen Spiel der Theomachie ist der Gegensatz zwischen den genannten Gottheiten soeben erst demonstriert worden ( 391-434). Apollon benutzt jedoch seine Absage an den Götterkampf nicht, um das Vorhaben der übrigen Olympier zu kritisieren, erst recht nicht, um die Menschen zu tadeln oder zu beschuldigen. Er konfrontiert nur das hinfällige Wesen der Menschen mit der Unvergänglichkeit der Himmlischen und stellt fest, daß es keinen Gewinn bringe, das Göttliche in irdische Zwistigkeiten hineinzuziehen. Seine Sophrosyne ist kein moralisches Prinzip, sondern die nüchterne Suche nach dem praktischen Nutzen. Wichtig ist hierbei, daß der Gott einen Standpunkt findet, von dem aus die Nichtigkeit und Hinfälligkeit der menschlichen Dinge sichtbar und die Andersartigkeit der Götter erkennbar wird. Das Göttliche, so scheint Apoll anzudeuten, ist nicht nur das ins Große gesteigerte Menschentum, sondern es ist, da es der Vergänglichkeit nicht unterliegt, von ihm grundsätzlich geschieden. Nur in diesem Sinne könnte man von einem „Entwurf des Höheren, Absoluten" (Burkert) sprechen. Man muß aber hinzusetzen, daß sich ja an unserer Stelle nicht eine Denk- oder Glaubensrichtung zu Worte meldet. Die zitierten Verse stehen innerhalb der Erzählung von der Götterschlacht und erhalten nur in diesem Zusammenhang ihren Sinn. Es ist unwahrscheinlich, daß sie von dem sprechen, was Menschen zur Zeit Homers über Apollon zu denken pflegten. Wohl aber bieten unsere Verse im Rahmen der epischen Erzählung ein Urteil des Dichters über die bisherigen Vorgänge der Götterschlacht. Es bleibt dem Hörer überlassen, dieses Urteil auf die Götterhandlung des gesamten Epos auszudehnen und über die Ungerechtigkeiten der homerischen Götter nachzudenken. Solche Überlegungen liegen freilich schon seit Beginn des 4. Buches nahe (Zeus und Here feilschen um die Existenz ganzer Städte!). Die neue Aufgabe unserer Verse des 21. Buches besteht darin, den Sprecher selbst zu kenn-

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Die Hauptgötter

zeichnen: Der Gott, der sich so weise über die Not der Gegenwart erheben, die irdischen Feindschaften verachten und den Blick auf den eigenen Wert richten kann, ist dazu bestimmt, ein Schirmherr der Ordnung, der Gesittung und der Eintracht zu werden. Vermutlich ist der Apollon der Ilias Homers bedeutendste Göttergestalt; denn die Keime, die hier angelegt sind, entsprechen so ganz dem religiösen Empfinden der Griechen, daß sie sich später zu voller Blüte entfalten konnten. Auch Hermes weigert sich, am Götterkampf teilzunehmen. Aber er hat einen ganz 498-501): anderen Grund als Apollon. Er sagt zu Leto (cJ> Arrroi, sycl> öe w1 oü n µaxiJaoµai· apya},,fov öt 1tA.TJK1i1;i:a0' ciMxo1m au'>~vi:cpEATJYEpfaao· 500 aUa µ6.Aa 1tp6cppaO"O"a µi:t' ci0av6.tOIO"l0wfo1v EÜXE0"0at &µEVIKijO"at1Cpati:pficp1ßiTJi:A.oE Ecr0AOV &0T]KE Zi:6EAEV ö.0uvo.tOlO"l / EÜXECJ0Ul" t6 lCEVoü n ltUVIJCJtUtOTJi:ptµi;v9avlitoto teAocrlii:(Ki;pa~ = Subj.-Akk. des A. c. l.). Da Achill jedoch in Wahrheit gar keine Wahl hat (vgl. Snells Interpretation, Ges. Schriften 22 f.), hat er selbst auch nur mit einer-KTJPzu tun.

Hier die Belege: x:,;pac; aµuvi:1v o. ä. Li 11; M 402. - x:,;pac; aA-u~m M 113; 0 287; 565; ß 352; E 387; p 547; 't 558; X 66; 'I' 332. - x:11pac; X 202, ähnlich ö 512. - x:,;pac; öfoµtvcp N 283 (,,das Todeslos Ö1ti:~tcpuyi:v fürchtend") 25 . Wahrscheinlich ist diese Verwendung des Plurals sekundär. Stellen wie B 302, 834 und 0 528 können das Vorbild abgegeben haben, ohne daß man von Mißverständnissen zu sprechen braucht. Homer selbst standen sicherlich beide Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. Ob er sie mit 24

25

Dagegen in der Nachahmung ~ 207 (über einen Kreter namens Kastor): ö.)..)..'1'itot tov Ki;pi:~i:ßav 9avlitoto q,tpoucrm. Ki;pa~ Ö.AaAKOt (cJ>548) ist wohl falsche Lesart für xEipa~ ö.MAKot.

Moipa, µ6po~. 1t6,µo~. oho~. KT\P(Kiip&~).afo-a

283

unterschiedlichen Vorstellungen verbunden hat, ist kaum entscheidbar. Ich neige dazu, die Frage zu verneinen: Daß der Plural den Singular ersetzen kann, ist bekannt, und die metrischen Vorteile der pluralischen Endung lassen sich an den genannten Beispielen ablesen 26 • 6. Dem oben (unter Nr. 1) besprochenen Nomen µoipa kommt an Bedeutung am ehesten a{cra gleich. Ein Daimon dieses Namens begegnet allerdings nur je einmal in Ilias und Odyssee. Vgl. außer dem Artikel des LfgrE. I 372,3-373,53 (Schuh) Leitzke 24-36 (der auch die Ableitungen aicno~, aicnµo~, t~aicno~ und tvaiat0c; o{voc;28 . Auf diesem Wege erhält alcra den Sinn ,Schicksal, das zum Tode führt', ,Todeslos'. So II 441; X 61. 477; 26

27

28

Vgl. K. Witte, Zur homerischen Sprache, Darmstadt 1972, 1 ff. - Zu Kiip&~als „maleficent beings" siehe auch Verdenius, Comment. 63 (zu V. 92). Die m. E. richtige Deutung dieser Wendung bei Leitzke 25, der versteht: ,,Auch der Hoffnung gebührt noch ihr Teil, ihr Recht." Hoeckstra erklärt den Ausdruck leider nicht. Der Sprecher sieht seine Trunkenheit als unheimliche Schicksalsfügung an, bei deren Verwirklichung die Gewalt des Weines mitwirkte, vgl. oben S. 264.

284

Wortuntersuchungen

zum homerischen Schicksalsbegriff

n 224

(d ol': µi:: afoa / ·n:0vuµ1::vmnapa vriucri); 428 (Kai ev 0avfrrnt6 1tEp atcrlJ, so auch 750); 0 511 (afoa yap fJv 111t0Afo0at,seil. für Troia). 59 [ = Die präpositionalen Ausdrücke JCa·t'afoav ,nach Gebühr' Z 333); K 445; P 716) und (negiert, d. h. mit größerer Genauigkeit) oöo' unep afoav (r 59 [ = Z 333); Z 487) sind problemlos. Interesse erwecken die Verse I1 780 und P 321. Die erstgenannte Stelle lautet: Kai ,6,E 8iJ p' unep afoav 'Axmoi q>Ep,EpotfJcrav, d. h. durch ungewöhnliche Tapferkeit können die Achaier die Niederlage noch abwenden, die ihnen vom Schicksal schon bestimmt ist. Gemeint ist das von Zeus verwaltete Schicksal, wie in P 321 noch deutlicher wird: 'Apydot 81':ICEJCuooc;EAOVKai unep / AivEiav &,puvE JC,A.).Zeus' Atoc;afoav (es folgt: ... aU' aö,oc; 'A1t6AAcov Beziehung zum Schicksal wird uns sogleich beschäftigen. Die vorgeführten Beispiele lassen zur Genüge erkennen, daß afoa weniger als wirkende Macht denn als zugewiesenes Los (als Anteil) verstanden worden ist 29 • Deshalb wohl die wenigen Belege für eine Gottheit Afoa, vgl. Y 127: ücr,Epov aÖ,E ,a nEicrE,at, öcrcra o{ Afoa / y1::tvoµl':v(!) E1tEVT10'E Aivql30 . Auch in der Nachahmung dieser Stelle, in dem bereits erwähnten Vers Tl 197 ist die Auffassung als Person jedenfalls intendiert: ev0a o' en1::na / n1::icr1::,m, lfoaa oi afoa (Afoa) Ka,a KA&0tc;,E ßapdm / y1::1voµl':v(!) viJcravw AtV(!).Immerhin spürt man an beiden Stellen, daß eine derartige Vorstellung nicht sehr lebendig war. In Y 127 wird Moipa das Modell abgegeben haben, in Tl 197 sorgen die „gewaltigen Spinnerinnen" für Klarheit des Ausdrucks.

er

zuden Göttern

Über das Verhältnis des Schicksals

Unser Überblick legt die Folgerung nahe, daß µoipa (neben afoa) das wichtigste sprachliche Symbol für den Begriff dessen ist, was Homer als Schicksal versteht. Wenn wir nun nach dem Verhältnis dieses Begriffs zu den Göttern fragen, können wir die enger gefaßten Synonyma als unwesentliche Ableger beiseite lassen und uns auf die Aussagen über µoipa, bzw. über µoipa und afoa, beschränken. Fast überall dort, wo die Dichter diese Ausdrücke in Beziehung zu den handelnden Menschen setzen, haben sie die Begrenzung alles Menschlichen im Auge, vor allem die durch den Tod. Sie greifen damit auf eine uralte Erfahrung des Menschengeschlechtes zurück: Der Tod wurde von jeher als die unüberwindbare, aber auch unverständliche Grenze des menschlichen Daseins erlebt. Wie aber, so muß man nun fragen,

29

Vgl. Leitzke 35 f. und Schuh, LfgrE. I 372,3; 27. n 209-210: ,cp6' &~ 1to91Moipa Kpmm,; / ye1voµEv(flE1tEVTJ