Storytelling : Einführung in Theorie und Praxis narrativer Gestaltung 9783838552378

Toolbox für die Analyse und Gestaltung von Erzählungen Narrative Techniken erlauben eine besonders wirkungsvolle und n

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Storytelling : Einführung in Theorie und Praxis narrativer Gestaltung
 9783838552378

Table of contents :
Cover......Page 1
Impressum......Page 5
Inhalt......Page 6
1 Storytelling – Mehr als Geschichten erzählen......Page 10
2 Die narrative Figur – Leben, Thema, Funktion......Page 16
Der strukturalistische Ansatz......Page 18
Der kulturanthropologische Ansatz......Page 19
Figur mimetisch......Page 22
Figur thematisch......Page 25
Figur antinarrativ......Page 29
3 Setting – Der erzählte und der erzählende Raum......Page 32
Juri Lotman und der semantische Raum......Page 33
Weitere Möglichkeiten der Raumsemantisierung......Page 40
Hierarchisierung von Raumereignissen......Page 47
Die Sinnhaftigkeit der Erzählung......Page 50
Sinnproduktion durch narrative Basisoppositionen......Page 51
Idee vs. Konteridee – Narrative Oppositionen in der Filmdramaturgie......Page 54
Narrative Basisoppositionen als Strukturierungsprinzip in seriellen und interaktiven Erzählungen......Page 56
Konflikte als initiale Handlungsauslöser......Page 64
Grundformen des Konflikts......Page 67
Der universelle Konflikt......Page 70
Konflikttypen und Handlungstypen......Page 80
Want und Need......Page 82
Transformation vs. Veränderung......Page 86
Transformation als Kriterium der Geschlossenheit......Page 88
Die zyklische Transformation......Page 94
Transformationen in interaktiven Erzählungen......Page 96
7 Emotion – Progression der Gefühle......Page 102
Emotionen als Genres......Page 104
Emotionale Progression als Strukturprinzip von Erzählungen......Page 114
8 Wendepunkte – Die erwartete Überraschung......Page 122
Wissenschaftliche Konzepte des Wendepunkts......Page 123
Der Wendepunkt in der anwendungsbezogenen Dramaturgie......Page 127
Die Wirkung von Wendepunkten in Literatur und Film......Page 130
Wendepunkt und Transformation in interaktiven Erzählungen......Page 136
Struktur dramatisch......Page 142
Struktur mythologisch......Page 145
Struktur oral......Page 147
Struktur interaktiv......Page 149
Kausalität als Bedingung für Narrativität......Page 152
Formen der Kausalität......Page 154
Formen non-kausalen Erzählens......Page 158
Kausalität und Interaktivität......Page 160
11 Subtext und Gapping – Die Rezipierenden erzählen mit......Page 166
Gapping als text- und medienspezifische Strategie......Page 167
Subtext......Page 168
Spannungserzeugung durch Informationsmanagement......Page 171
Informationsmanagement in interaktiven Erzählungen......Page 179
12 Semantische Objekte – Macguffins, Horkruxe und Heilige Grale......Page 184
Plotfunktional vs. nonfunktional......Page 185
Semantische Objekte in Erzählmedien......Page 189
Objektsemantisierung als Kommunikationsstrategie......Page 192
Epilog: Werte und Weltsicht......Page 196
Glossar......Page 202
Literaturliste......Page 206

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utb 0000 5237

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlag · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld

Prof. Dr. Joachim Friedmann ist Autor für Fernsehserien (ARD, ZDF, SAT1, RTL) sowie Comictexter (Disney, Egmont Ehapa, Carlsen Verlag) und hat zudem zahlreiche interaktive Online-Formate entwickelt, unter anderem für Microsoft Deutschland und den Deutschen Fußballbund DFB. Er lehrt an verschiedenen Universitäten und Hochschulen zum Thema interaktives und transmediales Storytelling, Serielles Schreiben sowie Film- und Fernsehdramaturgie, u.a. an der Universität Hildesheim, der Filmuniversität Potsdam-Babelsberg, der Filmakademie BadenWürttemberg und der Hamburg Media School. 2016 wurde er mit einer Arbeit zu Transmedialem Erzählen zum Dr. phil. promoviert. Seit 2017 ist er Professor für Serial Storytelling an der Internationalen Filmschule Köln.

Joachim Friedmann

Storytelling Einführung in Theorie und Praxis ­narrativer Gestaltung  

UVK Verlag · München

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlag München 2018 – ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: Henk Wyniger Foto Seite 2: Nataly Savina Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck UVK Verlag Nymphenburger Straße 48 · 80335 München Telefon: 089/452174-65 www.uvk.de Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon: 07071/9797-0 www.narr.de UTB-Nr.: 5237 ISBN 978-3-8252-5237-3 (Print) ISBN 978-3-8385-5237-8 (Ebook)

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Inhalt 1

Storytelling – Mehr als Geschichten erzählen

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Die narrative Figur – Leben, Thema, Funktion

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Figur funktional Der strukturalistische Ansatz Der kulturanthropologische Ansatz Figur mimetisch Figur thematisch Figur antinarrativ

Setting – Der erzählte und der erzählende Raum

Juri Lotman und der semantische Raum Weitere Möglichkeiten der Raumsemantisierung Hierarchisierung von Raumereignissen

Narrative Basisoppositionen – Gegensätze machen Sinn

Die Sinnhaftigkeit der Erzählung Sinnproduktion durch narrative Basisoppositionen Idee vs. Konteridee – Narrative Oppositionen in der Filmdramaturgie Narrative Basisoppositionen als Strukturierungsprinzip in seriellen und interaktiven Erzählungen

Konflikt – Hindernisse zwingen zum Handeln

Konflikte als initiale Handlungsauslöser Grundformen des Konflikts Der universelle Konflikt Konflikttypen und Handlungstypen Want und Need

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Inhalt

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Transformation – Was muss sich ändern?

Transformation vs. Veränderung Transformation als Kriterium der Geschlossenheit Die zyklische Transformation Transformationen in interaktiven Erzählungen

Emotion – Progression der Gefühle

Emotionen als Genres Emotionale Progression als Strukturprinzip von Erzählungen

Wendepunkte – Die erwartete Überraschung

Wissenschaftliche Konzepte des Wendepunkts Der Wendepunkt in der anwendungsbezogenen Dramaturgie Die Wirkung von Wendepunkten in Literatur und Film Wendepunkt und Transformation in interaktiven Erzählungen

Narrative Struktur – Heldenreise in drei Akten

Struktur dramatisch Struktur mythologisch Struktur oral Struktur interaktiv

Kausalbeziehungen – Warum und Wodurch

Kausalität als Bedingung für Narrativität Formen der Kausalität Formen non-kausalen Erzählens Kausalität und Interaktivität

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Inhalt

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Subtext und Gapping – Die Rezipierenden erzählen mit 165

Gapping als text- und medienspezifische Strategie Subtext Spannungserzeugung durch Informationsmanagement Informationsmanagement in interaktiven Erzählungen

Semantische Objekte – Macguffins, Horkruxe und Heilige Grale

Plotfunktional vs. nonfunktional Semantische Objekte in Erzählmedien Objektsemantisierung als Kommunikationsstrategie

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Epilog: Werte und Weltsicht

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Glossar

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Literaturliste

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Hinweis: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit, die mir in einem Lehrbuch auch ein didaktisches Anliegen ist, verzichte ich auf Gendersternchen oder Unterstriche. Ich habe mich weitestgehend um eine genderneutrale Sprache bemüht. Wo mir dies nicht gelungen ist, sei mir erlaubt zu bemerken, dass sich von diesem Buch alle Leser*innen angesprochen fühlen sollen, egal ob diversen, weiblichen oder männlichen Geschlechts. Autoren wichtiger Sekundärliteratur sind in Kapitälchen gesetzt und die zitierten Werke im Literaturverzeichnis aufgeführt. Fett gesetzte Fachtermini sind im Glossar erklärt.

1 Storytelling – Mehr als Geschichten erzählen Es wäre verführerisch, an dieser Stelle mit einer Geschichte zu beginnen. Wäre das nicht der richtige Anfang für ein Buch über Storytelling? Eine spannende, interessante Erzählung, die die Leserinnen und Leser gleich in den Bann und ins Thema zieht? Ja, spannend wäre es vielleicht. Aber unter Umständen nicht hilfreich. Denn auch wenn praktisch alle Menschen Geschichten erzählen und die narrative Form intuitiv benutzen und erkennen, machen sie sich doch wenig Gedanken über die Art und Weise, wie Geschichten erschaffen werden. Genau um diese Frage soll es aber in diesem Buch gehen. Hier sollen die Methoden erforscht und dargestellt werden, mit denen man Geschichten erzählt, es ist gewissermaßen ein Blick hinter die Kulissen des Storytellings. Erzählungen sind allgegengewärtig, sie gehören zum menschlichen Leben einfach dazu, erscheinen als eine natürliche Weise, zu kommunizieren. Seien es Mythen und Märchen, die für viele frühe Gesellschaften identitätsstiftend waren, Alltagserzählungen, die zwischenmenschliche Beziehungen thematisieren und strukturieren oder die Vielzahl von Erzählungen, die in Büchern, Filmen, Serien, in Computergames erzählt werden, sei es um zu unterhalten, zu informieren oder zu überzeugen: Geschichten sind quer durch alle sozialen, historischen und kulturellen Schichten eine der wichtigsten Formen, Kommunikation und Information zu organisieren. Die Erzählung ist, wie Roland Barthes es formuliert, „international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben.“ (1991, S. 102) Diese Beobachtung verleitet manche Menschen zu der irreführenden Aussage, dass das Leben doch die besten Geschichten schreibe. Warum dann also überhaupt ein Buch zum Thema Storytelling,

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Storytelling – Mehr als Geschichten erzählen

wenn doch die Geschichten allgegenwärtig sind und ums uns herum ohnehin dauernd geschehen? Die Antwort ist einfach: Geschichten geschehen eben nicht, sondern werden erzählt. Das Leben und die Existenz stellen nur das Material zur Verfügung, aus dem Storyteller ihre Geschichten formen. Aus der schier unendlichen Menge von Ereignissen wählen sie als Erzählerinnen und Erzähler die aus, die von Interesse erscheinen, gestalten sie auf bestimmte Weise, um sie so zur Geschichte zu machen, perspektivieren sie, strukturieren sie, dramatisieren sie. Wenn dem nicht so wäre, gäbe es dieses Buch nicht. Das Narrativieren von Texten, wie man den Prozess des Storytellings akademisch beschreiben könnte, ist ein hochkomplexer, vielschichtiger und differenzierter Vorgang. Es gäbe auf den ersten Blick logischere, einfachere, knappere Wege, Informationen zu ordnen, zu strukturieren und zu kommunizieren. Aber Geschichten sind für das menschliche Gehirn offenbar die einfachste Form, Informationen zu verarbeiten, wie Untersuchungen der Kognitionspsychologie nahelegen. Doch obwohl oder gerade, weil sie so allgegenwärtig sind, scheint es gar nicht so leicht, Geschichten zu untersuchen, ihre Gestaltungsprinzipien offenzulegen. Erzählungen werden als natürliches Phänomen wahrgenommen. Wenn ich in Seminaren oder Workshops die vermeintlich simple Frage stelle: „Was ist eigentlich eine Geschichte“ herrscht oft nachdenkliches Schweigen – obwohl alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen schon mal eine Geschichte erzählt haben und eine Vielzahl von Geschichten gelesen, gesehen, gehört oder auch interaktiv rezipiert haben. Trotzdem ist dies kein widersprüchlicher Befund. Auch wenn bereits Kinder narrative Texte intuitiv identifizieren und benennen, ist eine Erzählung gleichzeitig ein komplexes semiotisches Konstrukt und narrative Gestaltungsstrategien sind bei näherer Betrachtung keineswegs selbstverständlich. So lässt der narrative Text bewusst Leerstellen und gibt oftmals – im Gegensatz

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Storytelling – Mehr als Geschichten erzählen

etwa zu instruktiven oder wissenschaftlichen Texten – gezielt bestimmte Informationen nicht preis, etwa in Krimis oder Detektivgeschichten. Selbst wenn uns in Geschichten sprechende Tiere wie in Äsops Fabeln oder gar handelnde Haushaltgeräte wie im Disney-Animationsfilm The Brave Little Toaster begegnen, können wir die Erzählung auf einer emotionalen und semantischen Ebene immer noch als glaubwürdig empfinden. Und egal, ob eine Erzählung oral, literarisch, filmisch oder digital vermittelt wird – in den allermeisten Fällen nimmt sie eine prototypisch narrative Struktur an. Der Versuch, die Spezifik dieser transkulturellen und transhistorischen Kommunikationsform auch theoretisch zu erfassen, beginnt bereits in der Antike mit Aristoteles’ grundlegendem Werk, der Poetik, wobei sich Aristoteles auf die damals zeitgenössischen Erzählformen des Dramas, des Epos und der Lyrik bezieht. Dieser Ansatz wird in Deutschland von Gotthold Ephraim Lessing in einer Sammlung von Aufsätzen, publiziert als Hamburgische Dramaturgie, weiterentwickelt. Ende des 19. Jahrhunderts emanzipiert sich die Erzählforschung zunehmend von der Dramentheorie. In Russland legt Vladimir Propp 1928 mit der Morphologie des russischen Volksmärchens die erste systematische Untersuchung einer narrativen Gattung vor. Eine grundlegendere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Erzählungen beginnt allerdings erst in den 1960er Jahren, als französische Strukturalisten die Ideen Propps und der russischen Formalisten aufgreifen und systematisch weiterentwickeln. Seit Tzvetan Todorov 1969 für die Erzählwissenschaft den Fachbegriff der Narratologie geprägt hat, erfahren narrative Kommunikationsformen, in der Praxis unter dem Begriff des Storytellings subsumiert, immer mehr Aufmerksamkeit. Ganz besonders gilt dies in den letzten zwanzig Jahren, in anwendungsbezogenen Kontexten wie Journalismus, Marketing, Organisationsentwicklung oder Coaching ebenso wie in der Wis-

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Storytelling – Mehr als Geschichten erzählen

senschaft. So prägt Martin Kreiswirth den Begriff des narrative turn in den Humanwissenschaften und stellt fest, dass seit den neunziger Jahren in einer Vielzahl von akademischen Disziplinen, seien es Kunst- und Kulturwissenschaften, Sozial- und Naturwissenschaften aber auch die Medizin, die Volks- und Betriebswirtschaftslehre und die Rechtswissenschaften ein erhöhtes Interesse an Fragestellungen zur narrativen Form besteht. Gleichzeitig ist dabei festzustellen, dass der Begriff des Storytellings sowohl im Alltag als auch in akademischen Kontexten oftmals wenig reflektiert benutzt wird. Eine Erzählung ist etwas, was erzählt wird, so der Minimalkonsens und Zirkelschluss. Auch die Minimaldefinitionen der Erzählwissenschaft greifen vor allem in einem anwendungsbezogenen Kontext zu kurz. So wird eine Erzählung in der Narratologie als eine Kette von Ereignissen und Handlungen in Zeit und Raum beschrieben. Gerade für Menschen, die daran interessiert sind, selbst Geschichten zu erzählen, für Storyteller, greifen solche Beschreibungen zu kurz. Wie die Narratologin Marie Laure Ryan zeigt, unterliegt die Gestaltung eines narrativen Textes einer Vielzahl von Bedingungen und Spezifikationen – auch wenn Storytelling-Techniken oft intuitiv genutzt werden. Sowohl im wissenschaftlichen als auch im anwendungsbezogenen Kontext muss es aber das Ziel sein, Prinzipien narrativer Gestaltung zu analysieren, zu reflektieren und so bewusst nutzbar zu machen. Durch die Vielzahl der Disziplinen, die sich mit dem Storytelling beschäftigen, sind hierbei heterogene Erkenntnis-, Anwendungs- und Lehrinteressen zu erwarten. So stellen Filmschaffende möglicherweise Fragen der narrativen Strukturierung in den Mittelpunkt, da audiovisuelle Formate wie Feature-Film, horizontal erzählte Dramaserien oder Sitcoms unterschiedliche zeitliche Längen aufweisen, die sich auf die Erzählstruktur auswirken. Im Game Design wiederum sind Fragen der Raumsemantik von Bedeutung, da in Games für die Rezipierenden Erlebnisräume

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Storytelling – Mehr als Geschichten erzählen

geschaffen werden, die sowohl spielerisch als auch erzählerisch erkundet werden. Im Marketing ist dagegen von Interesse, wie über die Emotionalisierung einer Geschichte bestimmte Botschaften wirkungsvoller kommuniziert werden können, um so Kaufimpulse auszulösen oder politische Inhalte nachhaltiger vermitteln zu können. In der Medizin kann eine Frage sein, wie Patienten und Patientinnen über Kausalzusammenhänge, die in Heilungserzählungen fokussiert werden, in die Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung gebracht werden. Die Nutzung entsprechender Techniken geschieht also auch kontextabhängig und gerade in der akademischen Lehre sollten möglichst die spezifischen Erkenntnisinteressen der jeweiligen Fachrichtung berücksichtigt werden. Ermöglicht werden kann dies durch einen systematischen Überblick über narrative Gestaltungsstrategien in verschiedenen Erzählmedien, basierend auf wissenschaftlichen, praktischen sowie dramaturgisch-künstlerischen Ansätzen. Diesen Überblick zu schaffen und Techniken des Storytellings für theoretisch wie praktisch Interessierte nutzbar zu machen, ist Zweck des vorliegenden Buches. Den zentralen Gestaltungsprinzipien von Erzählungen – seien es die Kreation von narrativen Figuren und Erzählräumen, die Schaffung von Wendepunkten oder die Strukturierung von Erzählungen – sind jeweils eigene Kapitel gewidmet, in denen sowohl aus wissenschaftlich-theoretischer wie praktischer und anwendungsbezogener Sicht Geschichten in verschiedenen Erzählmedien untersucht werden. Dabei sind die grundlegenden narrativen Gestaltungsstrategien transmedial anwendbar. Trotzdem finden einige dieser Strategien medienspezifische Ausformungen. So unterscheidet sich die Schaffung von Subtext oder die Emotionalisierung einer Erzählung in verbal vermittelten und audiovisuell rezipierten Texten in einigen Punkten – auch wenn sie in beiden Medien wichtiger Bestandteil der Narrativierung ist. Ein besonderes Augenmerk wird in diesem

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Storytelling – Mehr als Geschichten erzählen

Zusammenhang auf neue Formen des interaktiven Erzählens gelegt – die Eingriffsmöglichkeiten, die Rezipierende zum Beispiel in Games in die Gestaltung der Erzählung haben, verändern einige der Parameter, die in klassischen Erzählmedien gelten. So kann dieses Buch zwar nicht die Frage beantworten, warum Storyteller es bevorzugen, in Form von Geschichten zu kommunizieren, Informationen zu emotionalisieren, Zuhörer und Zuhörerinnen mit Wendungen zu überraschen, in Serien über viele Folgen den Charakter einer Figur zu erkunden, das Publikum in einem Kinosaal zu Tränen zu rühren, Spielerinnen und Spieler über viele Stunden an ein Game zu fesseln. Aber wie sie das tun, diese Frage wird auf den nächsten 200 Seiten ausführlich beantwortet werden.

2 Die narrative Figur – Leben, Thema, Funktion Eine Konstante von Erzählungen, die sofort ins Auge fällt, sind die Protagonisten und Protagonistinnen. In allen Erzählungen aller Kulturen begegnen uns handelnde Figuren mit Zielen, Wünschen und Emotionen – dieser Befund wird bereits in der Antike von Aristoteles gestellt, der bemerkt, dass in Geschichten „handelnde Menschen“ nachgeahmt werden. Wenn es um die Nachahmung von handelnden Menschen geht, sollten Storyteller sich von der Wirklichkeit und vom Leben inspirieren lassen – diese Vermutung läge nah. Das nimmt auch Linda Seger an, eine Drehbuchberaterin aus Hollywood. Für sie ist der beste Weg, eine Filmfigur zu erschaffen, eine genaue Recherche. Psychologie, Beruf, Herkunftsmilieu und Erscheinungsbild sind für sie der konstituierende Rahmen, um möglichst glaubwürdige, lebensechte Figuren zu erschaffen. Betrachtet man Serien wie die Lindenstraße, die sozialrealistischen Filme von Ken Loach oder die Romane von Jonathan Franzen, so trifft dieser Befund auch zu. Aber wie steht es mit einer Figur wie Colonel Hathi, dem disziplinierten Elefanten aus Disneys Dschungelbuch, oder HK-47 dem erbarmungslosen Kampfdroiden aus dem Computergame Star Wars: Knights of the Old Republic? Hier hätte auch intensivste Recherche nicht zum Ziel geführt, denn im Leben gibt es bekanntlich keine Elefanten mit militärischen Rängen oder zynische Kriegsroboter. Solche Figuren sind nicht glaubwürdig in einem naturalistischen Sinne, sondern transportieren in erster Linie eine Weltsicht und verkörpern ein Thema. Der Drehbuchlehrer Robert McKee schreibt dazu:

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Die narrative Figur – Leben, Thema, Funktion

Eine Figur ist genausowenig ein menschliches Wesen wie die Venus von Milo eine echte Frau ist. Eine Figur ist ein Kunstwerk, eine Metapher für die menschliche Natur. (2000, S. 403)

In diesem Zusammenhang können auch ein Elefant, eine Marionette wie Pinocchio oder – wie in The Brave Little Toaster – ein Ensemble von Haushaltsgeräten zu narrativen Figuren werden. Ob sie lebensecht sind oder nicht spielt zunächst keine Rolle. In der strukturalistischen Erzählforschung dagegen stehen weder die Glaubwürdigkeit noch die metaphorische bzw. thematische Verortung einer Figur im Fokus der Betrachtung. Theoretiker wie Vladimir Propp oder Algidars Julien Greimas betonen die Funktion der Figur im Handlungsgefüge der Erzählung. So identifiziert Propp sieben Figuren, die sämtliche Handlungen und Rollen in einem russischen Zaubermärchen ausfüllen können: der Gegenspieler, der Schenker, der Helfer, die Zarentochter und ihr Vater, der Sender, der Held und der falsche Held. Tatsächlich ist Propps Schema auch auf andere Textarten übertagbar: So ist eine Figur wie Conan der Barbar weder glaubwürdig aus dem Leben gegriffen noch transportiert sie zwingend ein Thema oder eine Weltsicht. Aber Conan ist immer ein Held, egal ob in der literarischen Vorlage, der Comicversion, den Verfilmungen oder dem Computergame Conan Exiles. Es gibt also ganz verschiedene Ansätze, eine Figur in einer Geschichte darzustellen, die über die bloße Nachahmung von Menschen offensichtlich hinausgeht. Mit welchen unterschiedlichen Schwerpunkten diese Figurengestaltung realisiert werden kann, soll im Folgenden dargestellt werden.

Figur funktional

Figur funktional Der strukturalistische Ansatz Die Figur hat eine klar umrissene Funktion in der Handlung – zu diesem Schluss kommt Vladimir Propp bereits 1928, als er systematisch die russischen Zaubermärchen untersucht und die genannten sieben Funktionen identifiziert. Der Semiotiker Algidars Greimas entwickelt Propps Modell weiter und reduziert es auf sechs Funktionen, die er „Aktanten“ nennt. Diese benennt er als Subjekt, Objekt, Sender, Empfänger, Helfer und Gegner, wobei sich diese Bezeichnungen aus der Beziehung zum „Objekt des Begehrens“ ergeben. Somit muss ein Aktant nicht zwingend eine Figur sein, es kann sich auch um ein Objekt handeln. Ebenso kann aber auch das Objekt des Begehrens ein figürliches sein, wenn etwa Harry Potter den Gefangenen von Askaban sucht oder der Klempner Mario seine Freundin aus den Fängen von Donkey Kong befreien will. Dabei können auch mehrere Aktanten in einer Figur verschmolzen werden, diese nennt Greimas dann Archi-Aktanten. Ebenso kann sich ein Aktant in mehreren Figuren realisieren. Das Modell von Greimas ist durch seinen hohen Abstraktionsgrad auf die Analyse einer Vielzahl verschiedener Erzählungen anwendbar. So untersucht Greimas neben den russischen Volksmärchen auch das Werk des Romanciers Georges Bernanos sowie Transkripte der Therapiesitzung eines Kindes, das Träume und selbsterfundene Geschichten erzählt. Auch in Filmerzählungen kann man die Funktionen der Figuren darstellen. In Indiana Jones und der Tempel des Todes soll Indiana Jones (Subjekt) für die notleidenden Dorfbewohner (Sender und Empfänger = Archi-Aktant) den heiligen Shankara-Stein (Objekt) zurückholen,

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Die narrative Figur – Leben, Thema, Funktion

der gestohlen wurde und die Kinder des Dorfes (Objekt) befreien, die entführt worden sind. Mit Hilfe von Willie und Shorty (beide Helfer) kann Indiana Jones den Wesir (Gegner) besiegen, die Kinder retten und den Dorfbewohnern den Shankara-Stein zurückbringen. Zudem ist der Ansatz von Greimas auch im Coaching sowie in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften für die Analyse von Erzählungen von Bedeutung. So untersucht Anne Marie Soderberg mit Hilfe des Modells von Greimas eine Geschäftsübernahme in Dänemark und analysiert die Geschichten, in denen die Belegschaft ihre Erfahrungen mit der Fusion in Form von narrativen Interviews vermittelt. Dabei kann sie zeigen, dass die sechs Aktanten in jeder dieser Erfahrungsberichte zu identifizieren sind.

Der kulturanthropologische Ansatz Mit einem anderen methodischen Ansatz kommt der Drehbuchlehrer Christopher Vogler ebenfalls zu einem Modell, das ein Figurenensemble über seine Funktionen beschreibt. Vogler baut dabei vor allem auf den Arbeiten von Joseph Campbell auf, dessen Konzept der Heldenreise (vgl. Kapitel  Narrative Struktur) erheblichen Einfluss auf die Praxis des Storytellings hatte. Der Anthropologe Campbell untersuchte eine Vielzahl von Märchen, Mythen, religiösen Erzählungen und Sagen aus aller Welt. Dabei identifizierte er immer wiederkehrende strukturelle Parameter, deren Handlungsabfolge er als den transkulturell und transhistorisch wirksamen Monomythos beschreibt. Das heißt, der Aufbau einer solchen Geschichte ist in allen Kulturen nachvollziehbar. Dasselbe gilt auch für die Figuren, denen der Held des Monomythos auf seiner Reise begegnet und die transkulturell in einer Vielzahl von Erzählungen auftauchen. Campbell benennt diese in Bezug auf die psychotherapeutischen Arbeiten C.G. Jungs

Figur funktional

als „Archetypen des kollektiven Unbewussten“. Vogler macht diese Theorien für die Dramaturgie nutzbar und überträgt sie auf Filmerzählungen. Folgende archetypischen Figuren einer Erzählung benennt Vogler: ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶

Held Mentor Schwellenhüter Herold Gestaltwandler Schatten Trickster

Alle diese Archetypen können natürlich auch ein weibliches oder diverses Geschlecht haben. Der Held ist in den meisten Fällen die Hauptfigur der Erzählung, so wie Luke Skywalker in Star Wars. Der Mentor ist sein weiser Ratgeber oder Lehrer, im konkreten Beispiel verkörpert durch Obi Wan Kenobi. Der Schatten ist der Gegenspieler des Helden, hier Darth Vader. Der Schwellenhüter wacht an einer Schwelle oder Grenze, die der Held im Laufe der Erzählung überwinden muss – die Stormtrooper des Imperiums wollen Luke daran hindern, Tatooine zu verlassen. Der Herold ist analog dem Sender von Greimas zu begreifen, er konfrontiert den Helden mit seiner Aufgabe, so wie R2D2 den Hilferuf von Prinzessin Leia an Luke überbringt. Der Gestaltwandler zeichnet sich dadurch aus, dass er seine Funktion aus der Perspektive des Helden immer wieder ändern kann und so für ein Moment von Unsicherheit oder überraschender Wendung sorgt, so wie Han Solo erst als zynischer Söldner auftritt, um dann im entscheidenden Moment als wichtiger Freund wieder aufzutauchen und Luke im Showdown das Leben zu retten. Der Trickster ist eine anarchische, oft humorvolle Figur, der in der Lage ist, Vorannahmen und Gewissheiten des Helden wie des Publikums immer wieder in Frage zu stellen, so wie C3PO, der durch sein unangemessenes,

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Die narrative Figur – Leben, Thema, Funktion

zeremonielles Verhalten auch in Momenten der höchsten Gefahr für komische Situationen sorgt. Nicht nur an den Bezeichnungen wird deutlich, dass Vogler seine Figuren enger definiert als Greimas. Gleichzeitig aber ist das Ensemble in seiner Funktion weiter gefasst als bei Propp oder Greimas. So ist etwa dem Gestaltwandler zu eigen, dass er mehrfach seine Rolle wechseln kann. Smeagol aus Der Herr der Ringe, der in Voglers Terminologie ein Gestaltwandler wäre, wird in der Terminologie von Greimas vom Helfer zum Gegner und schlussendlich wieder zum unfreiwilligen Helfer des Helden Frodo. Wissenschaftlich-theoretisch ist Voglers dramaturgische Applikation des Archetypenbegriffs kritisch zu betrachten. Für Jung, der sein Modell in der Psychotherapie nutzbar gemacht hat, sind Archetypen nicht zwingend Charaktere, sondern Symbole und sogenannte Energiekomplexe, denen Bedeutung in der Persönlichkeitsentwicklung seiner Patienten zukommt. Trotzdem ist Voglers Modell in der Praxis aufgrund seiner unproblematischen Anwendbarkeit auf alle Arten von Erzählungen nützlich und in vielen Gebieten wie Marketing, Filmdramaturgie oder Gamedesign einsetzbar. Zudem zeigt es, dass bestimmte Figurenfunktionen transkulturell und transhistorisch immer wieder zu identifizieren sind. Und dies gilt nicht nur für die von Vogler beschriebenen Archetypen. So ist zum Beispiel die Figur der weiblichen Kriegerin in einer Vielzahl von Kulturen präsent, sei es die Amazonenkönigin Penthesilea im antiken Griechenland, Mulan im China der Wei-Dynastie, Jeanne D’Arc im Mittelalter im Frankenreich, Snoop in der Fernsehserie The Wire, Katniss in Die Tribute von Panem oder Lara Croft in Tomb Raider. Ebenso ist die Figur des gerechten Gesetzlosen in fast jeder Kultur zu identifizieren, als Robin Hood in der europäischen Erzähltradition, als die Räuber vom Liang Shan Moor in China, in der Moderne als Mythos von Che Guevara. Man könnte einwenden, dass Jeanne D’Arc und Che Guevara keine narrativen Figuren

Figur mimetisch

sind, sondern wirklich gelebt haben. Aber das zeigt nur die Kraft dieser narrativen Archetypen und die Tatsache, dass das Faktuale ebenso narrativiert werden kann wie das Fiktionale, wie die zahlreichen Nachdichtungen des Mythos von Jeanne d’Arc in erfolgreichen Romanen, Theaterstücken, Opern und Filmen zeigen. Sich solch transkulturell wirksamer Figurenfunktionen oder – in der Terminologie von Vogler – Archetypen zu bedienen, sie dabei aber gleichzeitig neu und in ungewohnter Weise frisch zu kreieren, ist dabei eine Herausforderung und eine Chance für jeden Storyteller.

Figur mimetisch Zwar betont die Narratologie die Funktion als entscheidende Komponente in der Figurengestaltung. Doch eine rein funktionsorientierte Figur kann eindimensional wirken und birgt die Gefahr, zu einem formelhaften Erzählen zu führen. Conan der Barbar ist zwar in seiner Funktion klar einzuordnen, aber es mangelt ihm an der psychologischen Tiefe eines echten Menschen. Der Erfolg der Superhelden von Marvel beim Publikum liegt unter anderem darin begründet, dass die Autoren ihre Figuren – neben ihrer Funktion als Superheld – mit einem nachvollziehbaren Alltagsleben ausgestattet haben, was beim Konkurrenten DC Anfang der sechziger Jahre kaum der Fall war. Die Marvel Superhelden dagegen waren nicht nur im Namen der Gerechtigkeit unterwegs, sie kämpften auch mit Alltagsproblemen, die von der jugendlichen Zielgruppe als lebensecht und relevant wahrgenommen wurden. Peter Parker alias Spiderman muss als Fotograf arbeiten und sich von seinem herrischen Chef Jonah Jameson tyrannisieren lassen, um sein Studium zu finanzieren. Er hat Probleme mit seiner Freundin Mary Jane und er

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Die narrative Figur – Leben, Thema, Funktion

versucht seiner Tante May zu helfen, die in kleinen, beengten Verhältnissen lebt. Aristoteles’ Postulat, dass in Geschichten handelnde Menschen nachgeahmt werden, findet bis heute in der Erzählforschung Anwendung und wird in Anlehnung an den altgriechischen Begriff μίμησις, der eben „Nachahmung“ bedeutet, als „Mimesis“ bezeichnet. Diese mimetische Dimension der Figurengestaltung wird vor allem von der modernen Filmdramaturgie betont – Glaubwürdigkeit und psychologische Tiefe der Figur werden hier in den Fokus gestellt, die sorgfältige Recherche gilt als Schlüssel zur Kreation solch einer Figur. In der Tat würden eine Serie wie Emergency Room oder die Erzählung Djamila von Tschingis Aitmatov ohne eine genaue Kenntnis des Milieus und der Menschen nicht ihre erzählerische Kraft entwickeln. Die Rezipierenden haben – ganz ungeachtet der erzählerischen Funktion der Figuren – den Eindruck, die Erlebnisse echter Menschen zu verfolgen. Somit gehört auch eine genaue Recherche des Stoffes zu den Aufgaben eines Storytellers. Gerade in Erzählungen, die ein eng begrenztes Milieu schildern, wie etwa in einer Krankenhaus- oder Krimiserie, stößt dieses Konzept aber gleichzeitig an seine Grenzen, wenn man die narrative Funktion betrachtet. In einer Krankenhausserie sind die festen Mitglieder des Ensembles alle Ärzte oder Pfleger, in einer Krimiserie Ermittler. Zudem verfolgen sie alle das gleiche Ziel, nämlich Menschen zu heilen beziehungsweise einen Fall aufzuklären, sind also funktional mehr oder weniger identisch. Ein Modell, solche Figuren psychologisch glaubwürdig zu differenzieren und sie dabei gleichzeitig auch funktional einzuordnen, hat die amerikanische Dramaturgin Laurie Hutzler entwickelt. Sie benutzt dazu das sogenannte Enneagramm, ein Modell zur Persönlichkeitsbestimmung, das neun verschiedene Typen beschreibt, die wiederum in drei Gruppen zusammengefasst sind, je nachdem ob der Charakter emotional, rational oder ins-

Figur mimetisch

tinktiv gesteuert ist. Im Coaching werden diese als Beziehungs-, Sach- und Handlungstyp bezeichnet, oder popularisierend als Herz, Hirn und Bauch. Diese Persönlichkeitstypen geben Aufschluss über das zugrundeliegende Wertesystem und die daraus resultierenden Verhaltensweisen, die nach Hutzlers Auffassung bei den verschiedenen Typen klar differenziert werden können. Gerade in Ensembles, die in einem eng begrenzten Milieu agieren und in denen Figuren sich auf den ersten Blick stark zu ähneln scheinen, kommt diese Differenzierung zu tragen. So schildert die Serie The Big Bang Theory das Leben der vier Freunde Sheldon, Leonard, Raj und Howard. Alle vier sind hochintelligente Männer, die als Physiker am Caltech Institut in Pasadena arbeiten. Leonard ist als sogenannter View-Point-Charakter die am wenigsten ausdifferenzierte Figur. Der View-Point-Charakter, aus dessen Perspektive meist erzählt wird, ist idealerweise die „normalste“ Figur des Ensembles, sodass die Rezipierenden zu ihr potenziell die höchste Identifikation aufbauen können. Seine drei Freunde dagegen sind nach den Grundtypen des Enneagramms designt. Sheldon stellt mit seinem IQ von 187 den Sachtyp dar, er ist kaum in der Lage, Gefühle zu zeigen oder zu erkennen. Der Ingenieur Howard wird von seinen Freunden wegen seines fehlenden Doktortitels verspottet und ist ein amouröser Draufgänger – der Handlungstyp. Raj sucht die große Liebe, ist aber aufgrund seiner Sensitivität und Schüchternheit kaum in der Lage, mit Frauen zu kommunizieren. Als Beziehungstyp lebt er seine Liebesbedürftigkeit in einem zärtlichen Verhältnis zu seinem Yorkshire-Terrier Cinnamon aus. Ein ähnliches Muster ist in der Serie Sex and the City zu erkennen: Im Mittelpunkt stehen die vier Freundinnen Carrie, Samantha, Cynthia und Miranda, die im New York der Jahrtausendwende leben. Alle vier sind erfolgreiche, wohlhabende, gebildete, attraktive Frauen – und mit Mitte bis Ende Dreißig auf der Suche sowohl nach dem Partner fürs Leben als auch

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nach sexuellen Abenteuern. Wiederum ist es die View-Point-Figur Carrie, die psychologisch die wenigsten Extreme aufweist. Samantha dagegen, eine erfolgreiche Marketingunternehmerin, lebt als aktiver Handlungstyp ihre Sexualität ungehemmt aus und benutzt Männer selbstbewusst und egoistisch, ohne sich jemals emotional zu öffnen. Für die romantische Charlotte ist Sex dagegen zweitrangig und nur ein Mittel, um endlich den Mann fürs Leben zu finden. Als Beziehungstyp glaubt sie fest an die große Liebe. Die zynische, rationale Cynthia ist Akademikerin und Juristin, die die romantischen Vorstellungen von Charlotte belächelt. Sie ist die typische Repräsentantin des Sachtyps. Die Narratologie sieht diese psychologisch orientierten Ansätze zur Figurengestaltung kritisch. Das funktional-psychologische Archetypenmodell gilt als wissenschaftlich überholt, dem Enneagramm wird von Seiten der Psychologie jede Wissenschaftlichkeit abgesprochen. In der Praxis haben sich die genannten Konzepte trotzdem vielfach bewährt. Laurie Hutzler berät unter anderem den Oscar-Preisträger Paul Haggis, Voglers Archetypen sind die Blaupause für die Ensembles etlicher erfolgreicher Disney-Filme wie zum Beispiel König der Löwen. In Deutschland greifen Autoren und Dramaturgen wie Jens Becker oder Gunther Eschke und Rudolf Bohne das Enneagramm als Figuren- und Strukturmodell auf. Auch wenn diese Ansätze wissenschaftlich umstritten sein mögen, haben sie in der Praxis ihren Nutzen bewiesen und sind interkulturell anwendbar.

Figur thematisch Über die funktionale und mimetische Gestaltung hinaus gibt es noch eine weitere Dimension der Figurengestaltung, die der Erzählwissenschaftler Brian Richardson die thematische nennt,

Figur thematisch

und die vor allem in einem Typ von Erzählungen zu identifizieren ist, die in der Narratologie als gnoseologisch bezeichnet werden. Das Ziel des Protagonisten ist in diesem Geschichtstypus nicht unbedingt die Erlangung eines Objekts. Stattdessen steht hier – wie schon die Bezeichnung gnoseologisch andeutet – der Erkenntnisgewinn der Hauptfigur im Mittelpunkt der Erzählung. Parzival muss in der Grals-Legende zwar den Heiligen Gral suchen, aber vor allem muss er im Laufe seiner Queste vom unschuldigen Narren zum Ritter werden. Mowgli, von den Wölfen erzogen, muss im Disney-Film Das Dschungelbuch sein Menschsein entdecken, Hans Castorp muss in Der Zauberberg zum Mann reifen. Dabei begegnen diese Protagonisten im Laufe der Erzählung immer wieder Figuren, die ihnen das nötige Wissen für diesen Reifungsprozess vermitteln: Parzival dem Ritter Gurnemanz, der ihn in höfischen Tugenden unterweist, oder dem Einsiedler Trevrizent, der ihn Demut und Gottesfürchtigkeit lehrt. Mowgli wird von dem Panther Bagheera zu Vernunft und Vorsicht ermahnt, Balu der Bär lehrt ihn die Lebensfreude, Colonel Hathi und seine Elefanten den Wert der Disziplin. Hans Castorp begegnet Settembrini, der ihn in Humanismus und musischen Tugenden unterweist, dem kalten Rationalisten Naphta und dem disziplinierten Joachim, während Clawdia Chauchat den Eros verkörpert und ihr Liebhaber Mynheer Pepperkorn für einen überschäumenden Vitalitätskult steht. Auch im Game findet dieses Prinzip Anwendung. Revan, der Protagonist von Star Wars: Knights of the Old Republic hat am Beginn des Spiels sein Gedächtnis verloren und muss sich nun entscheiden, ob er sich der dunklen oder der hellen Seite der Macht anschließen will. Dabei begegnet er immer wieder Figuren, die thematisch die eine oder andere Seite verkörpern, so etwa dem Kampfdroiden HK-47, der die dunkle Seite verkörpert, oder der Jedi-Ritterin Bastila Shan, die für die helle Seite der Macht steht.

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Diese Figuren wirken in einer mimetischen Dimension oft wenig lebensecht, eher sind sie überlebensgroß und idealisiert. Sie müssen auf einer funktionalen Ebene auch nicht zwingend zum Fortgang der Handlung beitragen. Am ehesten sind sie in ihrer Funktion einem Mentor vergleichbar, denn oftmals begleiten und beraten sie die Hauptfigur bei ihrer archetypischen Heldenreise, die diese meist im Zustand paradiesischer Unschuld aufnimmt, um dann mit Unterstützung der thematischen Figuren ihren Reifungsprozess abzuschließen. Diese Rolle ist aber nicht zwingend. Bei diesem Figurentyp steht somit weniger eine Funktionszuweisung oder eine mimetische bzw. psychologische Modellierung im Vordergrund als die Repräsentation eines bestimmten Weltmodells oder einer Ideologie, die der Hauptfigur als Beispiel für eine mögliche Gestaltung des eigenen Lebens dient. Dabei sind diese thematischen Figuren oft in Oppositionspaaren organisiert (vgl. Kapitel  Narrative Basisoppositionen), um ihre Eigenschaften besonders zu pointieren. So wird das rationale Wesen Bagheeras im Kontrast zu dem lebenslustigen Balu ebenso betont wie das Maßlose von Mynheer Pepperkorn und Clawdia Chauchat im Gegensatz zu dem disziplinierten Joachim und dem asketischen Naphta. Diese thematischen Figuren können nicht nur in Opposition zu anderen Figuren stehen, sondern auch in Opposition zu einem Setting, also einem Erzählraum (vgl. Kapitel  Setting). Diese Konstellation ist im Hollywood-Erzählkino als „Fish-out-of-Water“-Prinzip bekannt. Hier muss sich die Hauptfigur in einer Umwelt bewähren, die in semantischer Opposition zu den thematischen Aspekten ihrer Persönlichkeit konstruiert ist, um auf diese Weise eine Vielzahl von Konflikten zu generieren, die die Figur zur Handlung zwingt. So muss sich die zunächst als naiv geschilderte Ellie Woods in Natürlich Blond an der Elite-Universität Harvard beweisen. Die romantische, naive Prinzessin Giselle wird in Verwünscht aus ihrem Märchenland in das moderne, kalte Manhattan versetzt. Und Nemos Vater

Figur thematisch

muss in Findet Nemo als Fisch buchstäblich aus dem Wasser, um seinen Sohn zu retten. Da sich die gnoseologischen Erzählungen auf den Erkenntnisprozess fokussieren, bietet es sich an, diesen Typ der Erzählung mit den entsprechenden Figuren auch bei sogenannten Edutainment-Formaten zu verwenden, die narrative und didaktische Elemente verknüpfen, um auf diese Weise bei den Rezipierenden bestimmte Erkenntnisse zu vermitteln. So soll das DFB-Maskottchen Paule Werte verkörpern, die für den DFB stehen: Teamgeist, Toleranz, Fairness. Entsprechend ist auch die Figur mit diesen Charaktereigenschaften ausgestattet, während seine Freundin Franziska für weibliches Selbstbewusstsein steht, Emil und Katy für intellektuelle Qualitäten und Henri für Mut und Lebensfreude. Auch Marketing- und Werbekampagnen machen sich dieses Prinzip zunutze, wenn grundlegende Eigenschaften oder bestimmte Werte, die mit einem Produkt verknüpft werden sollen, in einer narrativen Figur realisiert sind – sei es in den männlichen, naturverbundenen Cowboys der Marlboro-Werbung oder im kraftvollen Meister Proper, der jeden Schmutz löst. Untersucht man weitere Beispiele, so stellt man fest, dass in einer narrativen Figur meist alle drei Dimensionen der Figurengestaltung in unterschiedlicher Gewichtung realisiert sind. Keines dieser drei Modelle kann für sich beanspruchen, die Komplexität der narrativen Figur in Gänze zu erfassen. Je nach Erzählabsicht werden unterschiedliche Aspekte einer Figur betont. In einem Action-Abenteuer sind psychologische Überlegungen meist zweitrangig, die Funktionalität der Figuren als Held, Helfer oder Gegenspieler steht im Vordergrund. Geht es um ein zwischenmenschliches Drama, fokussiert sich die Figurengestaltung auf mimetische Aspekte, um Glaubwürdigkeit und psychologische Tiefe zu erzeugen. Stehen thematische und didaktische Aspekte im Vordergrund, können – wie in den Fabeln von Äsop, in Disney-Filmen oder in Games – auch Tiere, Roboter oder andere

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nichtmenschliche Protagonisten zu narrativen Figuren werden, ohne dass sie an Glaubwürdigkeit einbüßen.

Figur antinarrativ Die beschriebenen Gestaltungsdimensionen können natürlich auch bewusst unterlaufen werden. So wird das Konzept der Mimesis in Frage gestellt, wenn sich eine narrative Figur ihrem Status als erzählter Charakter bewusst wird – und so auch den Rezipierenden kommuniziert, dass sie eben nicht aus dem Leben, sondern aus einem Buch oder einem Film gegriffen ist, wie Harold Crick, der Protagonist des Filmes Stranger Than Fiction oder Max Payne, der Held der gleichnamigen Game-Reihe. Manche Storyteller verzichten sogar darauf, ihre Figuren mit einer klar definierten Identität zu gestalten, wie etwa Salman Rushdie, dessen Protagonist Gibril aus Die Satanischen Verse mehrere Identitäten aufweist und gleichzeitig ein Bollywood-Schauspieler wie auch der Erzengel Gabriel ist. In Becketts Warten auf Godot haben die Protagonisten Vladimir und Estragon gar keine konsistente Identität mehr, somit auch keine thematische oder mimetische Glaubwürdigkeit, zudem keine Funktion innerhalb der Handlung – oder in diesem Fall: Nichthandlung. Was in einer protoypischen Erzählung als „Fehler“ wahrgenommen würde, ist in diesem Fall ein bewusst gesetztes künstlerisches Ausdrucksmittel. Hier wird aktiv gegen die „willing suspension of disbelief “ der Rezepierenden im Sinne Coleridges gearbeitet. Auch intertextuelle Verfahren legen das „Gemachtsein“ des Textes und der Figuren offen. So verwenden etwa Turgenjew in Ein König Lear der Steppe oder Akira Kurosawa in Das Schloss im Spinnwebwald Figuren, die aus den Dramen Shakespeares stammen, somit eine Verweisfunktion auf die Ursprungserzählung enthalten und da-

Figur antinarrativ

mit auch ihren Ursprung als erdachte Figuren offenlegen, die eben nicht aus dem Leben stammen. Obwohl diese Art der Figurengestaltung gerade in der postmodernen Literatur und im zeitgenössischen Drama immer häufiger umgesetzt wird, wäre es falsch, dies als eine narrative Strategie zu sehen. Empirische Untersuchungen legen nahe, dass ein Text anthropomorphe Protagonisten oder Protagonistinnen aufweisen muss, um als Erzählung wahrgenommen zu werden. Insofern sind solche Gestaltungsmethoden als antinarrativ anzusehen, sie werden eingesetzt um, wie am Beispiel des Beckett-Dramas gezeigt, einen künstlerischen Effekt zu erzielen. Sie arbeiten aber oder gerade zu diesem Zweck mit Figuren, die nicht als prototypisch narrativ anzusehen sind. Zusammenfassung: Die Nachahmung von handelnden Menschen ist konstituierend für eine Erzählung, wie schon Aristoteles feststellt. Dabei ist eine narrative Figur nicht nur als Repräsentation eines menschlichen Charakters zu verstehen, was die mimetische Dimension beschreiben würde. Zudem gibt es eine funktionale Dimension, die die Funktion der narrativen Figur in der Handlung der Erzählung beschreibt. Die thematische Dimension beschreibt eine Figur, die eine bestimmte ideelle oder philosophische Weltsicht repräsentiert. Solche Figuren tauchen besonders oft in Erzählungen auf, bei denen der Erkenntnisgewinn der Hauptfigur im Zentrum der Handlung steht. Die meisten narrativen Figuren vereinen alle drei Dimensionen der Figurengestaltung, wobei sich die jeweilige Gewichtung je nach Geschichtstyp und Genre unterscheidet. In einigen Erzählungen wird diese Figurengestaltung aus künstlerischen Gründen auch unterlaufen, in dem etwa einer Figur keine klar umrissene Identität zugewiesen wird oder sie sich ihres Status als erzählter Charakter bewusst ist und so die mimetische Dimension der Figur in Frage gestellt wird.

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Setting – Der erzählte und der erzählende Raum

Eine Geschichte ist räumlich verortet – diese Aussage ist in der Narratologie fast ein Allgemeinplatz. Die Handlungen und Ereignisse einer Erzählung spielen sich an einem bzw. mehreren Orten ab – in einer dramaturgischen Terminologie das Setting. Aber unterliegt die Gestaltung eines Erzählraumes einer narrativen Spezifik oder handelt es sich um eine rein beschreibende Darstellung, weil eine Geschichte einen Raum voraussetzt, in dem sie sich abspielt? In diesem Falle würde auch eine Wegbeschreibung alle Kriterien der Definition einer Geschichte erfüllen. Es handelt sich um eine räumliche Bewegung, die kausal organisiert ist, ein Mensch verfolgt ein nachvollziehbares Motiv, er handelt, um einen gegebenen Raum zu durchqueren, erreicht schließlich sein Ziel. Wahrscheinlich muss er auf dem Weg auch Hindernisse überwinden, die Konflikte auslösen, so z. B. in Form von Baustellen oder Verkehrsbeschränkungen. Auch eine Reisebeschreibung in einem Buch oder Zeitungsartikel könnte dann als Erzählung gelten. Intuitiv würde man so einen Text aber nicht zwingend als Geschichte definieren. Insofern ist zu fragen, ob es spezielle Strategien der narrativen Raumgestaltung gibt. Wie bereits an der Beschreibung der narrativen Figur deutlich wurde, unterliegt die Darstellung eines Charakters einer Geschichte anderen Gestaltungsprinzipien als in einem rein beschreibenden Text. Dies gilt auch für narrativ dargestellte Räume. Für die strukturalistische Narratologie war die narrative Raumgestaltung lange Zeit kaum ein Thema. Ein Grund dafür lag wohl in den Wurzeln der Narratologie in Linguistik und Literaturwissenschaft und dem damit verbundenen Fokus auf lite-

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rarisch vermittelte Erzählungen, damit wiederum auf Fragen der Zeitlichkeit, der Erzählerposition und der Erzählperspektive. Tatsächlich können verbal vermittelte Erzählungen, im Gegensatz zu visuellen Erzählmedien wie dem Film, dem Comic oder dem Game, auf eine Ortsbeschreibung sogar gänzlich verzichten kann. So ist zum Beispiel im Witz als Kurzform des Narrativen oft nur eine Dialogsituation realisiert, ohne dass eine Örtlichkeit dargestellt wird. Auch wenn dies auch in der Literatur eher eine theoretische Option sein mag, verweist der Narratologe Gerard Genette auf die Möglichkeit, eine Geschichte ohne Ortsangaben zu erzählen, während es nicht möglich wäre, sie ohne zeitlichen Bezug in den Zeitformen Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft zu situieren. Genette schließt daraus, dass die zeitlichen Bestimmungen der Narration wichtiger seien als die räumlichen.

Juri Lotman und der semantische Raum Der Semiotiker Juri Lotman weist dagegen erstmals darauf hin, dass gerade der Gestaltung des Raumes bei der Sinnproduktion entscheidende Bedeutung zukommt Die allgemeinsten sozialen, religiösen, politischen und moralischen Modelle der Welt, mit Hilfe derer der Mensch in den verschiedenen Etappen seiner Geistesgeschichte das ihn umgebende Leben begreift, sind stets mit räumlichen Charakteristika versehen. […] Besonders wichtig ist diese Eigenschaft der räumlichen Modelle für die Kunst. (Lotman 1973, S. 329)

Lotman definiert nicht genauer, was er unter einem künstlerischen Text versteht, aber da er sein Modell beispielhaft an Erzähltexten entwickelt, ist davon auszugehen, dass er seine Überlegun-

Juri Lotman und der semantische Raum

gen auf die narrative Form bezieht. Die gesamte Handlung des narrativen Textes bezeichnet er als „Sujet“, wobei für ihn dieses Sujet aus drei notwendigen Elementen besteht 1. 2.

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ein semantisches Feld, das in zwei komplementäre Untermengen aufgeteilt ist; eine Grenze zwischen diesen Untermengen, die unter normalen Bedingungen impermeabel ist, im vorliegenden Fall jedoch […] sich für die die Handlung tragenden Helden als permeabel erweist; der die Handlung tragende Held. (Lotman 1973, S. 360)

Vereinfacht gesagt, formuliert Lotman hier eine Minimaldefinition einer Erzählung. Diese besteht für ihn, wiederum vereinfacht ausgedrückt, aus zwei Räumen, die durch eine Grenze getrennt sind und einem Protagonisten oder einer Protagonistin, die er hier „Held“ nennt. Kern der Handlung ist dabei die Grenzüberschreitung des Helden. Wichtig ist hier vor allem der Begriff des „semantischen Feldes“, der die erzählte Welt bezeichnet. Wie dargestellt geht Lotman davon aus, dass der menschliche Erkenntnisprozess und damit die Sinnproduktion in erster Linie räumlich organisiert ist, der Raum also Sinnträger ist, wobei er sich in Übereinstimmung mit neueren humangeographischen und kognitionspsychologischen Erkenntnissen befindet. Diese Semantisierung des Raumes vollzieht sich in erzählenden Texten laut Lotman auf drei Ebenen: Einmal ist der Raum durch binäre topologische Oppositionen wie „oben – unten“ oder „innen – außen“ charakterisiert. Die topologischen Oppositionen sind mit semantischen Oppositionen wie „gut – böse“, „geschützt – ungeschützt“ oder „künstlich – natürlich“ verknüpft. In der erzählten Welt werden diese Oppositionen durch Gegebenheiten des Raumes konkretisiert und im Text der Erzählung topographisch realisiert, etwa als Berg

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und Tal, Haus und Wald oder – wie Lotman an Dantes Göttliche Komödie zeigt – Himmel und Hölle. Der Raum in Erzählungen ist also nicht ein neutraler Container, sondern macht durch die Semantisierung das Handeln in diesem Raum erst bedeutungsvoll. Hier kommt der zweite wichtige Terminus von Lotmans Definition ins Spiel, die Grenze. Denn das wichtigste topologische Merkmal des Raumes ist für Lotman die Grenze, die den semantischen Raum in mindestens zwei Unterräume aufteilt, die in Opposition stehen, beispielsweise der urbane und der ländliche Raum, oder die profane Welt des Alltags in Opposition zur magischen Welt des Abenteuers. Dem Motiv der Grenzüberschreitung kommt in Lotmans Modell dabei besondere Bedeutung zu, denn die Grenze ist, wie schon dargestellt, impermeabel, also unüberwindlich, außer für den Helden oder die Heldin der Erzählung. Die Grenzüberschreitung definiert ihn oder sie erst als Protagonist der Geschichte. Ohne sich auf seine Arbeiten zu beziehen, steht Lotman hier in Übereinstimmung mit dem bereits erwähnten Anthropologen Joseph Campbell und seinem Konzept des Monomythos. Auch hier ist der Moment der Grenzüberschreitung ein konstituierendes Element, bei Campbell von der Welt des Profanen und des Alltags in die Welt der Magie und des Abenteuers. Christopher Vogler, der die Erkenntnisse Campbells als strukturierendes Modell für die Filmdramaturgie nutzbar gemacht hat, erkennt in der Grenzüberschreitung des Helden auch die strukturelle Grenze zwischen dem 1. und 2. Akt. (Vgl. Kapitel  Narrative Struktur) Campbell beschreibt im Weiteren ebenfalls die semantisierten Räume und deren topologische Verknüpfungen. Der Held wird nach Campbells Beobachtung oft von einem Schwellenhüter am Überschreiten der Grenze gehindert, die durch eine hohe Mauer oder ein großes Tor markiert wird. Dabei sind diese Grenzen in mythologischen Erzählungen meist an einem oberen oder unteren Ende der Welt postiert – also ebenfalls topologische Zu-

Juri Lotman und der semantische Raum

schreibungen. So muss die Heldin in Frau Holle zunächst in einen tiefen Brunnen springen, also nach ganz unten. In der magischen Welt angekommen, muss die Heldin Frau Holle helfen, die für den Schneefall auf der Erde verantwortlich ist, also offenbar ganz oben im Himmelsgewölbe ihren Pflichten nachgeht. Der Weg zurück in die Welt des Alltags führt für die Heldin durch ein großes, prächtiges Tor, an dem sie ihren Lohn in Form eines Goldregens empfängt. Tatsächlich lässt sich Lotmans Modell besonders gut auf mythologische Erzählungen anwenden, nicht nur auf die ursprünglichen Sagen und Mythen, die Campbell untersucht hat, sondern auch auf Erzählungen, die nach ähnlichen Strukturprinzipien aufgebaut sind. So muss in Tolkiens Der Herr der Ringe der Held Frodo aus seiner Heimat, dem grünen Tal im Auenland, ins hochgelegene, schwarze Mordor ziehen, von unten nach oben, vom fruchtbaren Land in das karge Gebirge, von der idyllischen, guten Heimat in die böse Fremde. Dabei durchqueren nur er und sein Gefährte Sam Gamdschie die Grenze zu Mordor, wo die Riesenspinne Kankra als Schwellenhüterin wacht. Dabei ist zu bemerken, dass die Grenze nach Mordor keinesfalls die einzige ist, die die Helden zu überwinden haben. Mittelerde, der Schauplatz des Romans, ist aus einer Vielzahl von semantischen Räumen mit unterschiedlicher topographischer Beschaffenheit aufgebaut: Die Gefährten müssen den gefährlichen und verwunschenen Alten Wald durchqueren, sie müssen die öde, verlassene Wetterspitze erklimmen, sie müssen in die dunkle, unterirdisch gelegene Minenstadt von Khazad-dûm hinabsteigen. Lotmans Modell dient aber nicht nur zur Analyse von mythologischen Plots, sondern kann auch in der Untersuchung moderner Literatur seine Anwendung finden, so etwa in Thomas Manns Novelle Tod in Venedig, wo die Räume „München“ und „Venedig“ semantisiert werden, unter anderem durch Oppositionspaare wie Heimat vs. Fremde, Land vs. Meer, Hetero- vs.

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Homosexualität. Im Überschreiten der Grenze von Deutschland nach Italien flieht Gustav von Aschenbach aus der repressiven bürgerlichen Welt, in der er seine Homosexualität unterdrücken muss. In Venedig findet er seine sexuelle Identität, muss diese Grenzüberschreitung allerdings mit dem Leben bezahlen. Das Modell ist dabei nicht nur für verbal vermittelte Erzählungen anwendbar, die Raumsemantisierungen und damit verbundene Grenzüberschreitungen sind prinzipiell in allen Medien darstellbar. Zwar spielt der Film Titanic zu großen Teilen auf dem gleichnamigen Schiff, doch auch hier sind semantische Räume nachzuweisen, samt der Grenze, die von den Hauptfiguren überschritten wird. So ist das Schiff in Ober- und Unterdeck geteilt, auf denen die Angehörigen der jeweiligen gesellschaftlichen Klassen reisen, gemäß den topologischen Zuordnungen der Ober- und Unterschicht. Jack, ein mittelloser Künstler aus dem Unterdeck, wird Zeuge, als sich Rose, eine junge Frau aus der Oberschicht, umbringen will. Er kann sie von ihrem Suizid abhalten und wird infolgedessen zu einem Diner auf dem Oberdeck eingeladen und überschreitet so auch die semantische soziale Grenze. Er kann sich während des Diners im Raum der Oberschicht behaupten und Sympathien gewinnen, obwohl ihn Ruth, die Mutter von Rose, mit spöttischen Bemerkungen herausfordert. So beweist Jack auch, dass er ein echter archetypischer Held im Sinne Campbells ist, denn der Held des Monomythos kann sich in beiden Räumen bewegen, er ist ein „Herr der zwei Welten“. Nun ist es aber an Rose, ihr Potential als Heldin zu entdecken. Jack steckt ihr eine Einladung für eine Party auf dem Unterdeck zu. Heimlich schleicht sie sich zu der Party, überwindet dabei ihrerseits die Grenze, einerseits die topographische, in dem sie verbotenerweise aufs Unterdeck geht, damit auch die soziale, denn als Angehörige der Oberschicht darf sie nicht zu den niederen sozialen Schichten. Und sie überschreitet eine weitere Grenze, als sie im Unterdeck feiert, denn wilder, ausgelassener

Juri Lotman und der semantische Raum

Tanz zu Dudelsack- und Geigenklängen gehört sich nicht für ein Mädchen aus der Oberschicht, was durch einen Gegenschnitt zu der steifen Gesellschaft auf dem Oberdeck klar gemacht wird. Auch sie wird zur „Herrin der zwei Welten“, als sie die Partygesellschaft auf dem Unterdeck dank ihrer Ballettausbildung mit einem Spitzentanz beeindruckt und dafür Applaus erntet. Die Titanic ist hier, wie im Modell von Lotman beschrieben, in oben und unten geteilt, mit den semantischen Zuschreibungen Reich vs. Arm, Triebunterdrückung vs. Lebenslust und damit auch Vernunft vs. Liebe. Denn Rose liebt Jack, soll aber den ungeliebten, doch wohlhabenden Cal heiraten, weil sie, wie wir im Laufe der Erzählung erfahren, keine reiche Erbin ist, sondern der Vater nur Schulden hinterlassen hat. Auch in interaktiven Medien sind entsprechende Gestaltungsstrategien nachweisbar. Lara Croft, die Protagonistin der Tomb Raider-Spiele, ist zwar kampferprobt, aber gleichzeitig eine Wissenschaftlerin und damit eine Vertreterin des Rationalen und der Zivilisation. Entsprechend beginnt sie ihr erstes Abenteuer in einem Luxushotel, dem Imperial Calcutta. Doch schon kurz darauf finden wir sie in einem neuen semantischen Raum, sie muss sich durch eine unwirtliche Anden-Landschaft mit hoch aufragenden Bergen kämpfen. Im Gegensatz zu dem engen Hotel-Raum ist hier topografisch eine weite, von der menschlichen Zivilisation unberührte Gebirgslandschaft gestaltet, im Sinne der topologischen Oppositionen niedrig vs. hoch sowie deren Zuschreibungen Enge vs. Weite und Kultur vs. Natur. Am Ende ihrer Reise durch die Anden findet sich die Protagonistin vor einem riesigen, mit aztekischen Zeichen verzierten Tor wieder – der Eingang zur antiken Ruinenstadt Vilcaramba. Wenn Lara das Tor durchschreitet, überquert die Heldin im Sinne einer Grenzüberschreitung endgültig die Schwelle zur Welt der Abenteuer, denn jetzt beginnt das eigentliche Spiel, in dem die Rezipierenden interaktiv partizipieren können. Die Grenzüberschreitung

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des Avatars ist gleichzeitig eine Grenzüberschreitung der Rezipierenden von einer Welt, bei der sie Beobachtende waren in eine Welt, in der sie interaktiv partizipieren können – analog der Bewegung die Campell für den Monomythos postuliert, bei der die Hauptfigur bei der Grenzüberschreitung von der profanen Welt in die magische Welt eintritt. Bei den beschriebenen Beispielen wird bereits deutlich, dass sich die Konsequenzen einer Grenzüberschreitung, auch wenn sie stattfindet, unterscheiden: Der Held kann nach der Grenzüberschreitung auch scheitern bzw. sie mit dem Leben bezahlen, so wie Gustav von Aschenbach. In Titanic muss Jack zwar auch sterben, aber Rose hat dank ihm begriffen, was sie wirklich will und kehrt nicht in ihre alte Welt zurück, sondern beginnt unter neuem Namen ein selbstbestimmtes Leben als Künstlerin, inspiriert von Jack. Ihre Grenzüberschreitung ist erfolgreich und endgültig. Im Gegensatz dazu sind auch Erzählungen denkbar, bei denen die Grenzüberschreitung rückgängig gemacht wird. In dem Western Der gebrochene Pfeil von 1950 überschreitet der weiße Abenteurer Tom Jeffords die Grenze zwischen dem Land der Siedler und der Ureinwohner und geht zu einem Apachenstamm, um mit dem Häuptling Cochise Friedensverhandlungen zu führen. Er erwirbt den Respekt und die Freundschaft der Ureinwohner und heiratet schließlich Sonseeahray, die Schamanin des Stammes. Als sie von einem Weißen erschossen wird, kehrt er jedoch wieder in seine eigene Siedler-Welt zurück. Die Grenzüberschreitung wird rückgängig gemacht, wohl auch mit Rücksicht auf den Geschmack des amerikanischen Publikums dieser Zeit. Im Roman Blauvogel von Anna Jürgen, der im selben Jahr in der DDR erschien, wird eine andere Bewegung beschrieben. Der neunjährige Georg Ruster, ein Sohn von weißen Siedlern, wird von Ureinwohnern entführt und adoptiert. Nachdem er zunächst große Schwierigkeiten hat, sich an das Leben bei den Ureinwohnern zu

Weitere Möglichkeiten der Raumsemantisierung

gewöhnen, wird er schließlich zu einem geachteten und geliebten Mitglied des Stammes, er wird zu Blauvogel. Als er auf Druck des weißen Militärs den Stamm verlassen und zu seiner alten Familie zurückkehren muss, stellt er fest, dass er sich dem Leben bei den Weißen entfremdet hat und flieht zurück zu dem Stamm der Ureinwohner. Seine Grenzüberschreitung ist somit endgültig. Geschichten, die eine ständige Grenzüberschreitung und die damit verbundene Transformation beschreiben, werden in der Erzählwissenschaft auch mit dem Terminus „revolutionär“ bezeichnet. Texte, die eine gescheiterte Grenzüberschreitung so wie in Der Tod in Venedig oder eine rückgängig gemachte wie in Der gebrochene Pfeil schildern und so oftmals den Status Quo einer gegebenen Ordnung bestätigen, nennt man dagegen „restitutiv“.

Weitere Möglichkeiten der Raumsemantisierung Lotmans Modell ist analytisch leicht anwendbar und überzeugt auch in der praktischen Gestaltung von Erzählungen durch seine klare, nachvollziehbare Logik. Gleichzeitig fällt dabei die schematische Reduktion des Modells auf, die es einerseits vielseitig anwendbar macht, die andererseits aber auch simplifizierend wirkt. So ist zum Beispiel zu fragen, ob es in der erzählerischen Realität immer nur zwei dargestellte Räume gibt. Autoren und Autorinnen aus Migrantenkulturen wie z. B. Hanif Kureishi oder Zadie Smith führen so in der postkolonialen Literatur bewusst weitere (Zwischen-)Räume ein, „contact zones“ und „third spaces“. Auch Lotman hat seinen Ansatz später erweitert und das Konzept der Sub-Semiosphären eingeführt, durch die wiederum neue Bedeutungsräume erschlossen werden können. Insofern ist zu prüfen, inwieweit Lotmans Überlegungen auch in der praktischen Anwendung sinnvoll erweitert werden

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können. So kann man an einigen Beispielen darstellen, dass eine Semantisierung des Raumes sich nicht nur in einer topographischen bzw. topologischen Dimension beschreiben lässt. Untersucht man etwa die Raumgestaltung in Der Herr der Ringe, springt die Farbsemantisierung ins Auge. Räume, in denen Grün dominiert, wie zum Beispiel das Auenland oder Lothlorien, sind positiv konnotiert, während in Mordor, dem Reich des Bösen, Schwarz vorherrscht. In der Elbensprache Sindarin heißt „Mordor“ wörtlich „Schwarzes Land“. Man könnte sogar ein phonetisch-semantisches Design in den Raumbenennungen interpretieren. So stehen die Vokale „O“ und „U“ offenbar für die böse, schwarze Seite. Die Zuflucht des bösen Widersachers Sauron nach seiner ersten Niederlage heißt Dol Guldur, danach erobert er das Reich Mordor, dessen größter Landesteil Nurn heißt und dessen höchster Berg sich auf der Hochebene Golgoroth erhebt. Nachdem die Stadt Minas Ithil von den bösen Ringgeistern erobert wird, wird sie in Minas Morgul umbenannt. Zudem ist in Frage zu stellen, ob das Vorhandensein zweier semantischer Räume und die damit einhergehende topographische Grenze tatsächlich grundlegende Bedingung für das Sujet eines Erzähltextes ist. Selbst im Film, der durch seine visuelle Rezeptionsebene für Raumdarstellungen prädestiniert ist, ist dies offenbar keine zwingende Bedingung, wenn man etwa das Genre der Kammerspiele betrachtet, z. B. Lumets Die zwölf Geschworenen, dessen Handlung sich in einem einzigen Geschworenenzimmer entfaltet. Dieser Raum ist durch Erfahrungswissen der Rezipierenden in hohem Maße semantisiert. Ihnen ist klar, dass in diesem Raum Recht gesprochen wird, dass hier über Schuld und Unschuld und – in diesem konkreten Beispiel – sogar über Leben und Tod entschieden wird. Aber es fehlen die Grenze und der zweite semantische Raum. Trotzdem sind natürlich auch in dieser Erzählung oppositionelle Beziehungen zu identifizieren, so etwa Schuld vs. Unschuld, Moral vs. Recht, Rassismus vs.

Weitere Möglichkeiten der Raumsemantisierung

Anti-Rassismus, Opportunismus vs. Prinzipientreue, allerdings sind diese nicht an konkrete Räume gebunden. Ein ähnliches Problem ergibt sich bei der Betrachtung von Games, vor allem wenn man Casual Games oder Spiele mit weniger elaborierter Grafik und Geschichtsführung untersucht. Gerade bei den frühen Arcade-Spielen stand, schon durch die damaligen mangelnden Rechnerkapazitäten bedingt, oft nur ein einziger Spiel-Raum zur Verfügung, so z. B. bei Spielen wie Pong, Space Invaders oder Asteroids. Da hier kein zweiter Raum mit den entsprechenden Oppositionen konstruiert werden kann, mithin auch keine Grenzüberschreitung, ist eine Semantisierung im strengen Sinne Lotmans nicht möglich. Trotzdem beinhalten diese Spiele trotz ihrer teilweise simplen Grafik und eingeschränkter Darstellungsmöglichkeiten durchaus narrative Elemente mit den entsprechenden Semantisierungen. Schon bei einem der allerersten Computergames, Spacewar!, 1961 programmiert von Studenten des Massachusetts Institute of Technology, wurde das Weltall als Setting gewählt. Damit ist eine Tradition begründet, denn in allen Phasen der Computerspielgeschichte sind das Weltall, fremde Planeten, Raumstationen etc. stetig wiederkehrende Schauplätze, sei es in Galaga, Doom oder Halo. Space Invaders aus dem Jahr 1978 gilt als der erste kommerziell erfolgreiche Weltraum-Shooter und löste die Entwicklung einer ganzen Reihe von Spielen aus, die ebenfalls das Weltall als Setting wählten. Allerdings ist die Gestaltung des Spiel-Raumes dieser Computergames zunächst noch rudimentär – im Fall von Space Invaders gibt es nichts anderes als vier Blöcke, hinter denen das Raumschiff der Spielenden Schutz suchen kann. So wird das Setting noch über andere Faktoren unterstützt, einmal durch die Namensgebung des Spiels, weiterhin durch die Gestaltung des Automaten. Seine Oberfläche ist mit Darstellungen von Außerirdischen, Raketen, Planeten, Sternen etc. verziert, um so das Science-Fiction-Setting des Spiels zu verdeutlichen.

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Setting – Der erzählte und der erzählende Raum

Mit Phoenix und Galaga wird der Raum elaborierter und zeigt im Hintergrund bereits eine sternenübersäte Galaxis. Aber nicht der Detailreichtum der Darstellung ist hier entscheidend, sondern die Semantisierung des Spiel-Raums durch die Aktivierung eines narrativen Skripts. Der Medienwissenschaftler Henry Jenkins nennt diese Strategie des Game-Designs „evocative spaces“. Er vergleicht die Arbeit des Game-Designers hier mit dem Entwurf eines Vergnügungsparks, in dem die Attraktionen oft auf der Basis bekannter narrativer Genres und Settings wie dem Wilden Westen, einer Märchenumgebung oder eines Piratenschiffs gestaltet werden. Dieselbe Strategie wenden laut Jenkins auch Game-Designer an. Weil man auf die narrativen Kompetenzen der Rezipierenden zurückgreift, ist die Ausgestaltung der Welt oft unterkomplex und kann andeutungsweise oder schematisch ausgeführt werden. Das heißt, Games greifen gezielt auf narrative Archetypen oder Genres zurück, um den Raum zu semantisieren bzw. das Game in einen narrativen Kontext einzubinden. Gerade die alten Arcade-Games benutzen diese Gestaltungsstrategie, weil die Computertechnologie in dieser Zeit keine anspruchsvolle grafische Repräsentation zuließ. So wurden bei Galaga oder Space Invaders nicht nur im Spiel-Raum rudimentäre Pixel-Aliens oder Raumschiffe dargestellt, sondern auch der Arcade-Automat selber war auf seiner Außenfläche mit Aliens, Kometen und Ringplaneten verziert, um den Rezipierenden zu kommunizieren, dass es sich hier um ein Spiel im Science-Fiction Setting handelt, mit den entsprechenden narrativen Tropen wie der Invasion von Außerirdischen, Raumgefechten etc. Analog wurden in Ghost’n Goblins sowohl auf dem Automat selber als auch im Spiel-Raum Geister, Fabelwesen, Ritterfiguren und Prinzessinnen dargestellt, um das Spiel im Fantasy- und Märchengenre zu verorten und so bei den Rezipierenden die entsprechenden narrativen Skripts zu aktivieren, mit den Oppositionspaaren wie Alltagswelt vs. magische Welt, Leben vs.

Weitere Möglichkeiten der Raumsemantisierung

Tod, edle Ritter vs. gefährliche Fabelwesen, schöne Prinzessin vs. häßliches Monster. Es gibt aber noch weitere Möglichkeiten der Semantisierung im Sinne eines „evocative space“, die nicht zwingend auf bestehende erzählerische Genres zurückgreifen müssen. Das Handheld-Game Candy Crush Saga ist eines der erfolgreichsten Casual Games, die es gibt. Dabei ist die Spielidee an sich nicht neu. Es handelt sich um ein sogenanntes „match three game“, bei dem es darum geht, drei gleichfarbige bzw. gleichgeformte Spielsteine miteinander zu kombinieren.Als erstes Computergame, das diese Spielmechanik benutzt, gilt Shariki. In dem Spiel geht es darum, benachbarte Bälle auf dem Spielfeld in ihren Plätzen so miteinander zu tauschen, dass man drei gleichfarbige Bälle horizontal oder vertikal kombiniert, woraufhin diese explodieren und neuen Bällen Platz machen. Die Spielmechanik von Shariki wurde oft kopiert, so z. B. von Tetris Attack, Bejeweled oder eben Candy Crush Saga. Schon Bejeweled war ein großer kommerzieller Erfolg und gilt als eine der wichtigsten Wegbereiter für die sogenannten Casual Games. Was ist nun der Unterschied zwischen Shariki und Bejeweled, die beide derselben Spielmechanik folgen? Abgesehen von kleineren spielerischen Innovationen fällt Bejeweled vor allem durch eine komplexere und anspruchsvollere Grafik auf. Die Spielsteine unterscheiden sich nun nicht nur durch die Farbe, sondern auch durch die Form. Weiterhin handelt es sich nicht nur um abstrakte Formen bzw. Bälle, sondern die Spielsteine sind bei Bejeweled wie Juwelen geformt. Candy Crush Saga geht in der Gestaltung des Spielraumes und der Spielobjekte weiter. Die Spielsteine unterscheiden sich in der Farbe als auch in der Form und sind Süßigkeiten nachempfunden. Kindliche, wie Gliederpuppen gestaltete Charaktere in Cartoonstil führen durch den Spielraum, in dem sich Orte wie die Pastillenpyramide, die Lebkuchenlichtung oder die Kaugummibrücke befinden. Im Verlauf des Spiels werden in Cut-Scenes

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Setting – Der erzählte und der erzählende Raum

Probleme der Bewohner des Landes vorgestellt: Ein Einhorn hat sein Horn verloren, der Limonadensee ist ausgetrocknet, der Yeti hat sich in klebriger Zuckermasse verfangen. Kurz: Alle Elemente des Spiel-Raums und der dazugehörigen Welt, die bei Shakiri oder Bejeweled noch nicht vorhanden war, sind konsequent einer kindlichen, farbenfrohen, unschuldigen Gestaltung verpflichtet. Auch hier kann man von einem semantischen Raum sprechen, auch wenn auf den ersten Blick kein zweiter, komplementärer semantischer Raum realisiert ist und keine Grenzüberschreitung stattfindet. Doch in Form von Hindernissen, die die Rezipierenden bei der Kombination der Spielsteine einschränken, bricht ein oppositionelles Prinzip in die Welt der Candy Crush Saga ein: Schwarze Lakritze blockiert die Bewegungen der Spieler; farbloses Gelee umhüllt die bunten Spielsteine und macht sie bewegungsunfähig; dunkelbraune Schokolade wächst im Spielfeld und schränkt die Bewegungsfreiheit ein. Die Basisoppositionen bunt vs. farblos, mobil vs. statisch, dunkel vs. hell sind hier realisiert. Hervorzuheben ist dabei, dass in Candy Crush Saga keine echte Geschichte erzählt wird. Trotzdem werden viele narrative Gestaltungselemente benutzt, am konsequentesten die Raumsemantik. Es ist nicht abschließend festzustellen, in welchem Maße die Raumsemantik für den Erfolg des Spiels verantwortlich ist. Trotzdem ist auffällig, dass die gleiche Spielmechanik mit steigender Semantisierung immer populärer wird. In visuellen Erzählmedien kann diese Semantisierung zudem auf einer formalen Ebene realisiert werden, in dem nicht der erzählte Raum gestaltet wird, sondern auch der Raum, in dem die Erzählung präsentiert wird, wie z. B. die Fernsehserie Homecoming zeigt. Die Serie spielt auf zwei Zeitebenen, im Jahr 2018 und vier Jahre später, 2022. Im Jahr 2022 hat die Protagonistin Heidi Bergmann ihr Gedächtnis verloren und erinnert sich nicht mehr an die Ereignisse im Jahr 2018, wo sie ein psychologisches Experiment mit Kriegsveteranen leitete. Die beiden Zeitebenen

Weitere Möglichkeiten der Raumsemantisierung

stehen also in einer Opposition von Wissen vs. Nicht-Wissen. Dabei ist auch der formale Präsentationsraum semantisiert, denn die 2018 handelnde Geschichte ist im herkömmlichen 16:9 Bildformat inszeniert, die Handlung im Jahr 2022 dagegen in einem kleineren, quadratischen Format realisiert, zudem ist diese Zeitebene farblich entsättigt und dunkler dargestellt. In der 8. Episode der Serie kehrt Heidis Erinnerung im Jahr 2022 zurück, es folgt eine transformatorische Wendung (vgl. Kapitel  Transformation) von Nicht-Wissen zu Wissen, womit sich auch das Bildformat ändert, zurück zu 16:9 wie in der Vergangenheit. Als Heidi in der zehnten Episode im Jahr 2018 das Medikament nimmt, durch das sie ihre Erinnerung verloren hat, wird die entgegengesetzte Transformation von Wissen zu Nicht-Wissen realisiert, damit verändert sich auch das Bildformat wieder von 16:9 auf das kleine, quadratische Bild. Die unterschiedlichen Bildformate dienen nicht nur zur visuellen Unterscheidung der Zeitebenen, sondern semantisieren auf einer formalen Ebene auch die Zustände Wissen vs. Nicht-Wissen. Die Semantisierung des Raumes als narrative Gestaltungsstrategie kann also auf vielen Ebenen stattfinden und über topographische und topologische Kategorien hinausgehen. Sie muss mithin nicht an die reduzierten Vorgaben von Lotmans Modell angepasst sein. Trotzdem bleibt es Lotmans Verdienst, die narrative Raumgestaltung theoretisch erfasst und spezifiziert zu haben und dabei zu zeigen, dass die Raumdarstellung in erzählenden Texten eine andere ist als z. B. in rein deskriptiven. Die Semantisierung des Raumes, so kann man in Bezug auf Lotman formulieren, ist eine typische und distinkte narrative Strategie, die transmedial anwendbar ist.

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Setting – Der erzählte und der erzählende Raum

Hierarchisierung von Raumereignissen Handlungen, die den Raum und seine Ordnung betreffen, haben offenbar eine besondere Bedeutung in Erzählungen. Dies zeigt bereits Lotman, wenn er in einer Grenzüberschreitung eine definitorische Voraussetzung für die narrative Form und die Rolle des Helden sieht. Die Erzählwissenschaftler Petra Grimm und Michael Müller definieren auf dieser Grundlage weitere Raumereignisse, nennen sie in Bezug auf Michael Titzmann Meta-Ereignisse und hierarchisierten sie in ihrer Bedeutung. Eine noch höhere Bedeutung als eine Grenzüberschreitung hat demnach eine Grenzverschiebung. Dieses Motiv begegnet uns wiederum in vielen Western-Erzählungen und anderen Narrativen der USA, die die Bewegung der Siedler nach Westen schildern. Dort verschiebt der weiße Mann nicht nur die Grenze, sondern bringt mit Mut, Tatkraft und Entschlossenheit auch Recht, Ordnung und Zivilisation in das vormals als „unzivilisiert“ geschilderte Land – eine Semantisierungsstrategie, der viele Erzählungen der kolonialen Literatur folgen. Die Ermordung der Ureinwohner, die mit dem Verschieben der Grenze einherging, wurde als notwendiger Preis für das Errichten der neuen Ordnung dargestellt. Dabei ist dies natürlich eine Frage der Perspektive: Die Grenzverschiebung kann auch als grausame Invasion dargestellt werden, wenn man sie aus Sicht der Ureinwohner schildert, so wie dies in Blauvogel geschieht. Ebenso beschreiben die Mythen und Geschichten rund um die christlichen Kreuzzüge die Geschichte einer Grenzverschiebung. Hier wurde aus Sicht des Abendlandes im Zuge der Grenzverschiebung das Christentum zurück ins Heilige Land gebracht, während die muslimischen Erzählungen bis heute das Trauma der fremden Aggressoren darstellen. Wiederum bedeutsamer ist eine Grenztilgung. Erzählungen, die die Befreiung von einem

Hierarchisierung von Raumereignissen

tyrannischen Despoten oder einem totalitären System schildern, beinhalten oft eine Grenztilgung. So stellt das fünfteilige Spielfilm-Epos Befreiung von 1969 die Geschichte des 2. Weltkriegs aus sowjetischer Perspektive dar. Am Ende des Films verbrüdern sich die sowjetischen Soldaten mit deutschen Zivilisten, die semantische wie politische Grenze, die die beiden Völker getrennt hat, existiert nicht mehr, die sowjetische Fahne flattert auf dem Reichstag. Entsprechend thematisiert der Film Good Bye Lenin aus dem Jahr 2003 die erneute Grenztilgung nach dem Mauerfall. Protagonist Alexander Kerner versucht seiner bettlägerigen Mutter Christiane zu verschweigen, dass die Grenze nicht mehr existiert. Christiane, eine überzeugte Sozialistin, ist herzkrank und würde diese Nachricht nicht überleben, so die Überzeugung ihres Sohnes Alexander. Das bedeutsamste Ereignis ist aber demnach eine Raumtilgung, wenn ein ganzer semantischer Raum zerstört wird oder verschwindet. Solche Ereignisse sind der Untergang der Titanic im gleichnamigen Film oder die Vernichtung des Todessterns in Star Wars. Auch der Untergang von Mordor nach der Zerstörung des Einen Rings ist eine Raumvernichtung. Der Schicksalsberg bricht in einer gewaltigen Eruption aus, verbrennt die verbliebenen Ringgeister und bedeckt Mordor mit Lava. Alles, was Sauron mit der Macht des Rings errichtet hat, wird zerstört. Nicht nur der Antagonist Sauron, sondern der gesamte semantische Raum der Tyrannei, den er errichtet hat, geht unter. Die weltweite Empörung, die die Sprengung des alten Berliner Stadtschlosses 1950 durch die sozialistischen Machthaber weltweit ausgelöst hat, ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass eine Raumvernichtung als ein so bedeutsames Ereignis wahrgenommen wird. Hier wurde nicht nur ein ohnehin beschädigtes Gebäude gesprengt, sondern das neue sozialistische System, das schon eine Grenzverschiebung zu verantworten hatte, zerstörte symbolhaft den Raum der alten Ordnung.

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Setting – Der erzählte und der erzählende Raum

Zusammenfassung: Der Raum, in dem die Handlungen und Ereignisse einer Geschichte dargestellt werden, ist mehr als nur eine Bühne oder ein Container, er ist Sinnträger und trägt auf einer semantischen Ebene zur Sinnproduktion bei. Systematisch beschrieben hat dies erstmals der Semiotiker Juri Lotman. Das Setting ist hiernach ein semantisches Feld, das in zwei semantisch komplementäre Felder geteilt ist, die durch eine Grenze getrennt sind. Nur der Held oder die Heldin der Erzählung können diese Grenze überwinden. Die beiden semantischen Räume sind dabei in topologischen, topographischen und semantischen Oppositionen gestaltet. Eine Grenzüberschreitung ist aber nicht zwingendes Merkmal einer jeden Geschichte, Semantisierungen können auch ohne Grenzüberschreitung realisiert werden, über Farben, Sprache oder die Aktivierung narrativer Scripts. Der Medienwissenschaftler Henry Jenkins nennt letztere Strategie „evocative spaces“. Raumereignisse können zudem hierarchisiert werden. Eine Grenzverschiebung oder Grenztilgung wird als bedeutsamer wahrgenommen als eine Grenzüberschreitung, ein maximal bedeutsames Ereignis ist eine Raumvernichtung.

Die Sinnhaftigkeit der Erzählung

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Narrative Basisoppositionen – Gegensätze machen Sinn

Die Sinnhaftigkeit der Erzählung Gibt es sinnlose Geschichten? Der eine mag bei sogenannten Fake News diesen Eindruck haben, die andere bei einem surrealistischen Theaterstück. Grundsätzlich aber, so stellt die Erzählwissenschaft fest, sollen Geschichten sinnvolle Kommunikate sein. So sieht der Anglist Werner Wolf als wesentliches Element des Narrativen, dass es Sinnangebote für die menschliche Existenz herstellt, sieht in Erzählungen sogar den wichtigsten Beitrag zur menschlichen Sinnsuche. Alltagssprachlich spiegelt sich das im von Wilhelm Busch geprägten Diktum von „der Moral der Geschichte“ oder in der Frage des Deutsch-Lehrers, was der Autor mit der Geschichte wohl sagen will. Auf den ersten Blick mag dieser Befund trivial erscheinen. Sollten nicht alle Kommunikate sinnvoll sein? Auch ein lexikalischer Eintrag, eine Bedienungsanleitung oder eine mathematische Formel wie a² + b² = c², die eine Berechnungsgrundlage für die Größenverhältnisse von rechtwinkligen Dreiecken darstellt, sind sinnvolle Kommunikate – erscheinen aber trotzdem wenig narrativ. Es stellt sich also die Frage nach der spezifischen Sinnhaftigkeit von Erzählungen. Es ist wiederum Juri Lotman, der die Sinnproduktion in narrativen und wissenschaftlichen Texten unterscheidet, wenn er schreibt: Wissenschaftliche Wahrheit tritt in einem semantischen Feld auf, künstlerische gleichzeitig in mehreren. (1973, S. 373)

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Narrative Basisoppositionen – Gegensätze machen Sinn

In wissenschaftlichen oder auch instruktiven Texten, wie z. B. einer Gebrauchsanweisung, wird also eine Eindeutigkeit angestrebt. Auch eine mathematische Formel sollte keinen Interpretationsspielraum zulassen, sondern eine klare Rechenanweisung kommunizieren. Künstlerische bzw. erzählende Texte dagegen lassen eine Mehrdeutigkeit zu, aus der ein Leser oder eine Zuschauerin den Sinn erst erschließen muss.

Sinnproduktion durch narrative Basisoppositionen Diese Mehrdeutigkeit einer Erzählung ist aber nicht im Sinne einer willkürlichen Vieldeutigkeit zu verstehen. Die strukturalistische Erzählforschung beschreibt ein Ordnungsprinzip, das die semantische Ebene, also die Ebene der Sinnproduktion, in narrativen Texten organisiert. Wie schon gezeigt, können Figuren und Räume durch die Setzung von Oppositionspaaren semantisiert werden – die Alltagswelt der Muggles gegen die magische Welt von Hogwarts, der unerschrockene James Bond gegen den niederträchtigen Blofeld, die zivilisierten Siedler gegen die primitiven Ureinwohner. Aufbauend auf den Arbeiten von Greimas identifiziert der Romanist Karl-Heinz Stierle diese sich immer weiter ausdifferenzierenden Paare auf allen Ebenen der Erzählung und nennt sie „narrative Basisoppositionen“. Die Setzung dieser Oppositionen sieht er als grundlegendes, prototypisches Gestaltungprinzip des Narrativen, ohne das ein Text nicht als Geschichte wahrgenommen wird. Die Oppositionspaare konkretisieren sich dabei nicht nur über Orte und Figuren, sondern auch über unterschiedliche Wertesysteme, Gesellschaftsordnungen, Sprachen, ästhetische Anschauungen oder in semantischen Objekten, weiterhin manifestieren sie sich in den Konflikten, Emotionen, den Wendepunkten und den transformatorischen

Sinnproduktion durch narrative Basisoppositionen

Prozessen der Erzählung. Oft lassen sich diese konzeptuellen Oppositionen bereits an den Titeln von Erzählungen ablesen. Stierle nennt als Beispiele etwa Tolstois Krieg und Frieden, Dostojewskis Verbrechen und Strafe oder Jane Austens Verstand und Gefühl. Das zugrundeliegende Oppositionspaar wird dabei nicht einfach immer wieder repetiert, sondern bildet einen semantischen Kern, aus dem heraus die Erzählung in ihrer gesamten Komplexität organisiert werden kann, oder wie Stierle es formuliert: Narrative Texte verfügen dadurch über nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Differenzierung und Nuancierung oppositiver Konzepte. (2012, S. 171)

So werden etwa in Turgenjews Roman Väter und Söhne nicht nur zwei Generationen konfrontiert, sondern mit ihnen ganz unterschiedliche Wertvorstellungen, Epochen und Weltsichten: Religion vs. Nihilismus, Aberglaube vs. Vernunft, Tradition vs. Fortschritt, Emotion vs. Ratio, Konservatismus vs. Liberalismus, Wissenschaft vs. Kunst. Auch in Erzählungen der Populärkultur sind die Basisoppositionen ein wesentliches Gestaltungselement. Umberto Eco identifiziert in den James-Bond-Romanen von Ian Fleming neben der zugrundeliegenden Opposition Gut vs. Böse vierzehn weiter Oppositionspaare, die im gesamten Text wirken. So werden einerseits die narrativen Figuren im Sinne von Oppositionen semantisiert. Bonds Loyalität steht im Gegensatz zur Illoyalität des Feindes, sein Maß kontrastiert die Prunksucht seiner Gegner, sein Idealismus die Gier, sein Improvisationstalent die kalte, kalkulierende Planung seiner Widersacher. Aber auch Länder und Kulturen stehen in Opposition: Die Freiheit des Westens gegen die Tyrannei des Ostblocks, das kultivierte angelsächsische Wesen gegen die Primitivität der restlichen Welt. Die Wertung, die damit in den James Bond-Romanen vorgenommen wird, ist natürlich eine ideologische. Man kann eine Agentenerzählung auch genau

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gegensätzlich semantisieren, wie die in der DDR produzierte Roman- und Fernsehserie Das unsichtbare Visier zeigt. Hier sind es die Agenten des Ostblocks, die gegen die Tyrannei der Imperialisten antreten. Stasi-Offizier Bredebusch und seine Kollegen finden unter anderem heraus, dass die CIA die amerikanische Bevölkerung mit Psychodrogen kontrolliert und in Südeuropa national-faschistische Regimes installieren will. Die Erzählung benutzt ähnlich narrative Basisoppositionen wie Freiheit vs. Tyrannei oder Idealismus vs. Gier, deutet sie aber um und semantisiert sie in einer gegensätzlichen Weise. Hier ist der Ostblock das freiheitsliebende, fortschrittliche System, während der imperialistische Westen die Menschen aus Gewinnsucht unterdrückt. Das Konzept der narrativen Basisoppositionen wird von der modernen Erzählforschung uneinheitlich beurteilt. Kritiker wie Andrew Gibson sehen darin eine Illusion von Ordnung und Klarheit und befürchten eine Geometrisation von erzählenden Texten. Stattdessen fordern sie Platz für Mehrdeutigkeiten und Zwischenräume. Zwar ist es ein berechtigtes Anliegen, narrative Texte in ihrer ganzen Komplexität erfassen zu wollen, aber wie schon gezeigt, ist eine komplexe Gestaltung auch auf Grundlage von sich immer weiter ausdifferenzierenden Oppositionen möglich. Weiterhin sind die Basisoppositionen in der Analyse von Erzählungen ein wichtiges Merkmal, um die Spezifik der narrativen Sinnproduktion zu beschreiben. Indem ein bestimmtes Set von Themen und Konflikten angeboten wird und Alternativen formuliert werden, beziehen narrative Texte die Rezipierenden aktiv in die Sinn- und Bedeutungsproduktion ein. Dabei fungieren die Basisoppositionen als strukturierendes Prinzip auf der semantischen Ebene, um eine willkürliche Vieldeutigkeit zu vermeiden – ohne dabei eine Mehrdeutigkeit auszuschließen. Zudem bietet das Konzept der narrativen Basisopposition den Anschluss an die anwendungsbezogene Filmdramaturgie und damit in die erzählerische Praxis.

Idee vs. Konteridee – Narrative Oppositionen in der Filmdramaturgie

Idee vs. Konteridee – Narrative Oppositionen in der Filmdramaturgie In der filmdramaturgischen Praxis herrscht die Auffassung, dass einer Erzählung ein Thema zugrunde liegt. Robert McKee nennt dieses Thema die „beherrschende Idee“. Sie ist der Kern einer Erzählung und lenkt nach McKees Auffassung alle ästhetischen Entscheidungen eines Storytellers. Laut McKee muss diese beherrschende Idee in der Erzählung mit der von ihm sogenannten „Konter-Idee“ konfrontiert werden. In jeder Sequenz und jeder Szene soll so über den Widerstreit einer positiven Idee mit ihrer negativen Konter-Idee in einer dialektischen und dramatischen Debatte der erzählerische Konflikt weiterentwickelt werden. (Vgl. Kapitel  Konflikt) Bis am Ende des Films, im sogenannten Showdown, eine der beiden Ideen über die andere siegt und so zur beherrschenden Idee wird. Beispielswiese lässt sich die „beherrschende Idee“ von Dirty Harry laut McKee folgendermaßen formulieren: „Die Gerechtigkeit wird wiederhergestellt, weil der Protagonist gewalttätiger ist als der Verbrecher“. Die beherrschende Idee von Columbo dagegen ließe sich folgendermaßen ausdrücken: „Die Gerechtigkeit triumphiert, weil der Protagonist scharfsinniger ist als der Verbrecher“. In der Tat lässt sich hier schon ein erzählerisches Regelwerk ableiten. Wo Harry Callahan auf Gewalt setzt und seine Magnum zückt, treibt Columbo seine Gegner mit überlegenem Intellekt, Beobachtungsgabe und versierter Verhörtechnik in die Enge – er trägt entgegen der Vorschrift nicht mal eine Dienstwaffe, weil er Gewalt verabscheut und kein Blut sehen kann. Trotzdem siegt am Ende jeder Folge von Columbo die Gerechtigkeit, ebenso wie bei Dirty Harry – nach McKee ein idealistisches Ende, bei dem die positive Idee über die negative triumphiert, das klassische Happy End. In Roman Polanskis

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Chinatown dagegen wird zwar der Fall aufgeklärt, aber der Verbrecher kommt ungeschoren davon, die Gerechtigkeit wird nicht wiederhergestellt. Im Gegenteil, es wird deutlich, dass der Vergewaltiger Noah Cross auch weiterhin ungestraft sein Unwesen treiben wird. Die negative Konter-Idee triumphiert, in solchen Fällen spricht McKee von einem pessimistischen Ende. Wenn die beiden Ideen in einem dialektischen Prozess in eine Synthese überführt werden, spricht McKee dagegen von einem ironischen Ende. Dabei unterscheidet er wiederum zwei Typen. In Der Malteser Falke kann Protagonist Sam Spade den Fall zwar lösen, muss aber dafür die Frau opfern, die er begehrt. Diesen Fall bezeichnet McKee als negative Ironie. In der Serie True Detective können die beiden Ermittler Cole und Hart zwar nicht alle Schuldigen überführen, lösen sich aber von der toxischen Fixierung auf ihren Fall, was dazu führt dass der nihilistische Cole wieder optimistisch in die Zukunft schauen kann, während Hart sich endlich mit seiner Familie versöhnt. Ein solches Ende bezeichnet McKee als positiv ironisch. Entsprechend kann man in allen vier genannten Beispielen, so wie in den meisten Kriminalerzählungen, die narrative Basisopposition mit Verbrechen vs. Gerechtigkeit beschreiben. Im Falle von Columbo wird diese noch ergänzt durch die Opposition Intellekt vs. Gewalt, im Fall von Dirty Harry durch gerechte Gewalt vs. verbrecherische Gewalt. Sowohl im Malteser Falken als auch in True Detective wird die zentrale Basisopposition durch Liebe vs. Pflicht ergänzt, wobei die abschließende Transformation dieser Opposition in den beiden Erzählungen gegensätzlich ist. (Vgl. Kapitel  Transformation) Diese Systematisierung ist natürlich nicht nur bei Kriminalfilmen anwendbar. So können Filme mit Liebesthematik oft über die Kombination der Basisopposition differenziert werden. Und täglich grüßt das Murmeltier: Liebe vs. Lebensüberdruss mit einem idealistischen Ende. Gefährliche Liebschaften: Liebe vs.

Narrative Basisoppositionen als Strukturierungsprinzip

Manipulation mit einem pessimistischen Ende. French Kiss: Liebe vs. Kontrolle mit einem positiv ironischen Ende. Obwohl McKee sich nicht ausdrücklich auf das Konzept der narrativen Basisoppositionen bezieht, ist die Nähe der Ansätze unverkennbar. Beide Theorien erkennen in semantischen oppositionellen Konzepten ein inhaltlich strukturierendes System von erzählenden Texten. Auch wenn die Komplexität einer Erzählung nicht ausschließlich in diesen Kategorien beschrieben werden kann, zeigt sich auch an anderen Beispielen, wie wirkungsvoll gerade serielle oder interaktive Erzählungen auf diese Weise strukturiert werden können.

Narrative Basisoppositionen als Strukturierungsprinzip in seriellen und interaktiven Erzählungen Serielle oder transmediale Erzählungen sind potentiell unendlich. Es handelt sich hier weniger um einzelne Erzählungen als um eine ganze Storyworld, in der multiple Erzählungen möglich sind. Die Medientheoretiker Harrigan und Wardrip-Fruin nennen diesen Typ von Erzählungen „vast narratives“. Trotzdem dürfen diese Erzählungen auch in langlaufenden Serien wie etwa der James-Bond-Reihe oder in komplexen Storyworlds wie dem Marvel-Universum ihren seriellen Charakter nicht verlieren, sie müssen typisch für die jeweilige Storyworld sein. Als Kriterien für serielle Erzählungen werden von der Erzähltheorie oft Kategorien wie ein festes Setting oder ein festes Ensemble genannt. Tatsächlich werden etwa in der Marvel-Welt aber ständig neue Figuren eingeführt und bestehende Charaktere werden modifiziert. Zudem wird auch die räumliche Ausdehnung durch die Entdeckung neuer Planeten, ja ganzer Universen, ständig ver-

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ändert. Trotzdem sollen Marvel-Stories immer erkennbar sein. So wäre etwa eine Erzählung im Marvel-Universum ohne das Element eines Zweikampfs, meist zwischen einem Superhelden und einem Superschurken, nur schwer vorstellbar. Offenbar gibt es also in dieser Storyworld bestimmte Konflikttypen – oder, in anderer Terminologie, ein bestimmtes Set an Basisoppositionen, die die serielle Erzählwelt determinieren, auch wenn sie im Falle des Marvel-Universums zunächst wie eine simple Gut-vs.-Böse-Opposition erscheint.Diese ist aber weiter ausdifferenziert. So kämpfte Captain America im 2. Weltkrieg oft gegen faschistische Gegner, während in der Zeit des Kalten Krieges viele Superschurken, so z. B. Red Skull, im Dienste des Kommunismus standen. In dem Film Black Panther wird die Gut-Böse-Opposition noch einmal weiter ausdifferenziert, wenn im erzählerischen Zentrum die Frage steht, welche Methoden im Kampf gegen Rassismus und Ausgrenzung zulässig sind und welche nicht. Als eine der ersten „vast narratives“ gilt Der Herr der Ringe von Tolkien, in dessen Welt eine Vielzahl von Geschichten erzählt werden, neben der Trilogie gibt es unter der Titel Das Silmarillon eine Mythensammlung, die Vorgeschichte in Form von Der kleine Hobbit und sogar eigene, niedergelegte Sprachen. Bei Der Herr der Ringe würde man, ähnlich wie im Marvel-Universum, als zugrundeliegende Basisopposition zunächst eine Gut-vs.Böse-Dichotomie vermuten, die Grundlage vieler Werke des Fantasy-Genres ist. Betrachtet man den Roman genauer, fällt allerdings eine andere dominante Basisopposition ins Auge. Zentraler Konflikt der Erzählung ist der Kampf gegen Sauron, den „dunklen Herrscher“, der Mittelerde unterjochen will. Eine Schlüsselrolle kommt in diesem Kampf den Hobbits aus dem Auenland zu. Der Schilderung des Auenlandes wird zu Beginn des Romans sehr viel Platz eingeräumt – ohne, dass dadurch die Handlung in Gang gebracht wird. Stattdessen wird die Heimat der Hobbits als ein Land ohne Armee und ohne König geschil-

Narrative Basisoppositionen als Strukturierungsprinzip

dert, den Ordnungshütern und Regierungsbeamten kommen in erster Linie repräsentative Aufgaben zu. Während Sauron Mordor und seine restlichen Eroberungen grausam unterjocht, ist das Auenland als gegensätzlicher semantischer Raum gezeichnet, ein idyllisches, herrschaftsfreies Land der Selbstbestimmung. In diesem Sinne kann man die dominierende Basisopposition in Der Herr der Ringe auch als Freiheit vs. Tyrannei bezeichnen. Untersucht man die Figuren, Räume und Objekte der Erzählung wird deutlich, dass in einer Vielzahl der ineinander verschachtelten Erzählungen die Problematik der Macht thematisiert wird. So muss Frodo den „Ring der Macht“ vernichten – eine Umkehrung der gewohnten mythologischen Queste, bei der es nach dem Vorbild der Gralssuche meist darum geht, ein besonders mächtiges semantisches Objekt (Vgl. Kapitel  Semantische Objekte) aufzufinden, um es in Besitz zu nehmen. Frodos Queste droht zu scheitern, als er sich die Macht im letzten Moment selber aneignen will, nur die unerwartete und ungeplante Intervention Smeagols erlaubt letztlich den Triumph über Sauron. Damit verknüpft ist ein weiteres Motiv, das sich durch viele Erzählstränge des Romans zieht, die Opposition illegitime Macht vs. legitime Macht. So misstraut Denethor, der Truchsess von Gondor, dem wahren König Aragorn und klammert sich an den Thron – was ihm den Tod auf dem Scheiterhaufen beschert. Sein Sohn Boromir, der Frodo auf seiner Queste begleitet, entwickelt eine Besessenheit zu dem Ring der Macht, den er nicht vernichten, sondern als Waffe gegen Sauron einsetzen will. Als er den Ring Frodo entreißen will, muss er dies ebenfalls mit dem Leben bezahlen. Auch der Zauberer Saruman, der erst ein Gegner Saurons ist, dann aber selbst einen Zauberring schmiedet und nach Macht giert, sich nach seiner ersten Niederlage sogar zum Herrscher des Auenlandes aufschwingen will, muss sterben. In Opposition dazu stehen die weisen, legitimen Herrscher, wie zum Beispiel Aragorn. Er ist der Nachfahre der Könige

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von Gondor, trotzdem dient er zunächst unerkannt unter dem Truchseß Ecthelion, dem Vater Denethors, als Heerführer von Gondor, denn er hat Demut gelernt und weiß, dass seine Zeit noch nicht gekommen ist. Auch später zeigt er seine Macht nicht, sondern tarnt sich als Landstreicher. Die Krone und seinen Platz auf dem Thron nimmt er erst an, nachdem Sauron bezwungen ist. Galadriel, die mächtige Elbenkönigin, verlangt es ebenfalls nach Macht. Sie wünscht sich den Einen Ring, um Sauron zu bezwingen. Doch als Frodo ihr den Ring anbietet, entscheidet sie weise, ihn nicht anzunehmen, obwohl ihr klar ist, dass mit der Vernichtung des Ringes auch ihre Kraft geschmälert wird und das Elbenreich Lotholorien untergehen wird. Doch im Einklang mit der Kernopposition des Romans weiß sie, dass illegitime Macht ihren Besitzer verdirbt. Die James Bond-Reihe ist ein bereits erwähntes Beispiel für eine serielle Erzählung, die bereits in den fünfziger Jahren in Romanform etabliert wurde und die nach wie vor als Kinoreihe beträchtlichen Erfolg hat. Es ist einsichtig, dass eine Serie, die nun fast seit siebzig Jahren erzählt wird, bestimmte Modifikationen vornehmen muss, um zeitgemäß zu bleiben. Gleichzeitig müssen die Erzählungen aber der seriellen Storyworld treu bleiben. Nachdem man dieses Problem über lange Jahre vor allem dadurch gelöst hatte, dass die Stunts und technischen Gimmicks immer spektakulärer wurden, modifizierte man 2006 im Film Casino Royale die Figur von James Bond selbst. Nicht nur, dass Bond von einem neuen, erstmals blonden Darsteller verkörpert wurde, Bond empfand nun auch echte Liebe für das Bond-Girl Vesper und überlegt am Ende des Filmes, ob er den Dienst quittieren soll, um eine Beziehung mit Vesper zu führen. Als sie ihn verrät, will er sie zunächst töten, dann retten – um schlussendlich hilflos mitansehen zu müssen, wie sie stirbt. Der nächste Film Quantum of Solace schildert seinen Versuch, die Verantwortlichen für ihren Tod zu finden, sich an ihnen zu

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rächen und so Trost zu finden. Mit anderen Worten: Das erste Mal in seiner Filmkarriere hat James Bond mit einem inneren Konflikt zu kämpfen, der sogar seine Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigen könnte, wie seine Vorgesetzten befürchten. Und das, obwohl Umberto Eco in seiner Analyse der Serie feststellt, dass der Autor Ian Flemming die Möglichkeit der psychologischen Selbsterforschung seiner Hauptfigur erzählerisch explizit ausgeschlossen hat – und dass womöglich gerade darin der Erfolg der Serie besteht. Eine so radikale Abkehr von den erzählerischen Regeln einer Serie birgt natürlich die Gefahr, dass die Erzählung nicht mehr als Teil der Serie oder der Storyworld wahrgenommen wird, so wie etwa die Casino Royale-Verfilmung von 1967, die unter anderem wegen ihres parodistischen Grundtons nicht als kanonische Bond-Erzählung gilt. Diese Gefahr war auch den Machern der Bond-Filme seit 2006 bewusst. So führen sie zwar den inneren Konflikt bei der neuen, von Daniel Craig verkörperten Bond-Figur ein, stützen sich aber gleichzeitig umso stärker auf die bewährten erzählerischen Oppositionen. Obwohl Bond im Konflikt mit seinen Vorgesetzten ist, siegt schlussendlich doch immer seine Loyalität, er beugt sich am Ende von Quantum of Solace den Befehlen von M und ist im Finale von Skyfall sogar bereit, sein Leben für sie zu opfern, als der illoyale Ex-Agent Tiago Rodriguez sie ermorden will. Bond ist nach wie vor ein genialer Improvisateur, während seine Gegner so geldgierige wie kühl kalkulierende Planer sind, zudem Nicht-Angelsachsen von zweifelhafter Herkunft, wie Le Chiffre in Casino Royale, ein Balte, der unter Haemolacria leidet und aus den Augen blutet. Selbst wenn es sich bei dem Antagonisten, wie in Skyfall, um einen traumatisierten Ex-Agenten handelt, so ist er doch in der Tradition der Serie ein Südamerikaner, der zudem durch einen zerstörten Unterkiefer entstellt ist. Es ist kein Zufall, dass im Zuge der erzählerischen Neuausrichtung gleichzeitig die ursprüngli-

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chen Antagonisten Bonds wie Le Chiffre oder Blofeld reaktiviert werden. Selbst wenn der Antagonist, wie in Quantum of Solace, als ein gewissenloser Umweltsünder charakterisiert wird und somit als moderner Verbrechertypus erscheint, ist er doch ein Mitglied von Spectre, der Organisation, mit der es Bond seit dem Beginn seiner Karriere zu tun hat. Dieser Bezug auf die gegebenen narrativen Basisoppositionen und traditionellen Motive der Serie ermöglicht gleichzeitig eine erzählerische Neuausrichtung wie auch Kontinuität. Auch narrativ geprägte Games benutzen diese erzählerische Strategie, so etwa die Grand Theft Auto-Reihe. Diese Game-Reihe, gerade GTA V mit mehr als 100 Stunden Spiel- und Erzählzeit, kann als „vast narrative“ begriffen werden. Da es zudem im Sinne einer Open World eine Erkundung der gesamten Spielwelt zulässt und damit eine lineare narrative Strukturierung erschwert (vgl. Kapitel  Narrative Struktur), wirken hier vor allem die narrativen Basisoppositionen als strukturierendes Element auf einer semantischen Ebene. Einer der Schöpfer, Dan Houser, bezeichnet das Spiel in Interviews als eine permanente Schlacht zwischen dem amerikanischen Traum und dem amerikanischen Alptraum. Houser benennt dabei explizit die grundlegende Basisopposition seiner Storyworld, die sich auf verschiedenen Ebenen des Spiels realisiert. Schon das Ziel des Gameplay bedient die Basisopposition, denn es geht in erster Linie darum, Autos – also eines der klassischen Symbole des amerikanischen Traums – zu stehlen. Auch auf der Ebene der Figuren wirkt die Basisopposition im Sinne eines persönlichen inneren Konflikts (vgl. Kapitel  Konflikt). Eine der spielbaren Figuren, Michael Townley, ist ein scheinbar geläuterter Ex-Gangster, der sich nach seiner kriminellen Karriere den amerikanischen Traum des Familienidylls geschaffen hat, das aber im Verlauf des Spiels immer mehr Risse zeigt. Sein Sohn ist eine Enttäuschung, seine Frau betrügt ihn, nach und nach gerät sein Leben wieder außer Kontrolle. Schließ-

Narrative Basisoppositionen als Strukturierungsprinzip

lich holt ihn die Vergangenheit ein und er muss mit seinen alten Komplizen zusammenarbeiten, um sich und seine Familie mit Mord, Totschlag und Waffengewalt zu retten. Zudem bietet sich in Games die Möglichkeit, die Spielmechanik mit den erzählerischen Basisoppositionen zu verschränken, wie dies in dem vielfach prämierten Computergame Braid gelingt. Tim, der Protagonist, hat in der Vergangenheit mehrere nicht weiter beschriebene Fehler gemacht, die dazu geführt haben, dass die Liebesbeziehung zu seiner Freundin zerbrochen ist. Das Ziel von Tim ist es, diesen Fehler wiedergutzumachen. Man könnte die daraus resultierende narrative Basisopposition mit Schuld vs. Vergebung beschreiben. Zudem wird in dem Spiel immer wieder der zeitliche Determinismus dieser Opposition hervorgehoben. So ist das erste spielbare Level mit „Zeit und Vergebung“ bezeichnet. Im Gegensatz zu den klassischen Jump’n Run-Spielen, deren Zeit linear verläuft, kann man bei Braid die Zeit mit bestimmten Tastenkombinationen manipulieren; man kann sie verlangsamen, anhalten und sogar zurückspulen. Denn in Braid kann der Spieler sein Leben nicht verlieren, sondern muss bei einem Fehler die Zeit zurückspulen, und Tim muss erneut versuchen, das Problem zu lösen. Im letzten Level läuft die Zeit sogar komplett rückwärts und man muss mit den entsprechenden Tasten den normalen Zeitablauf wiederherstellen. Die zeitlich determinierte narrative Basisopposition wird somit in der Spielmechanik widergespiegelt.

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Narrative Basisoppositionen – Gegensätze machen Sinn

Zusammenfassung: Indem in einer Erzählung über ein System von narrativen Basisoppositionen Alternativen formuliert werden, bezieht sie die Rezipierenden in die Sinnproduktion ein, denn die Alternativen funktionieren als verschiedene Sinnangebote, zwischen denen die Rezipierenden eine Auswahl treffen können. Andere sinnproduzierende Texte, z. B. mathematische Formeln oder Bauanleitungen, sind ebenfalls Sinnträger, formulieren aber keine oppositionelle Konteridee. Zudem bieten die narrativen Basisoppositionen eine Möglichkeit, erzählende Texte thematisch zu strukturieren, in der Filmdramaturgie wird dies als Konzept der „beherrschenden Idee“ bezeichnet. Besonders wirksam zeigt sich dies bei Erzählungen im Sinne der „vast narratives“, die multiple Erzählungen vereinen und oftmals non-linear organisiert sind, wobei die narrativen Basisoppositionen ein semantisch strukturierendes Prinzip darstellen. Dies gilt auch für non-lineare interaktive Erzählungen wie Games, bei denen die Setzung narrativer Basisoppositionen ein wirksames Mittel zur thematischen Strukturierung der Erzählung sein kann.

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5 Konflikt – Hindernisse zwingen zum Handeln

Konflikte als initiale Handlungsauslöser Die meisten Minimaldefinitionen, die in der Narratologie für die Textform der Erzählung angeboten werden, fokussieren darauf, dass eine Geschichte eine Abfolge von Ereignissen bzw. Handlungen schildert. Festgestellt hat das bereits Aristoteles, der das Drama als eine Nachahmung von Handlungen definiert. Die Bedeutung dieses Konzepts lässt sich schon etymologisch ­belegen, denn das altgriechische Wort δρᾶμα oder dráma bedeutet übersetzt eben „Handlung“. In der deutschen Sprache bezeichnet dieser Begriff allerdings nicht nur die Tätigkeiten von Menschen oder narrativen Figuren im Sinne Aristoteles’, sondern auch die spezifische Zusammensetzung der Ereignisse der Erzählung. Im englischen Sprachraum dagegen spricht man von „actions“, wenn man die Handlungen von narrativen Figuren bezeichnet und von „Plot“, wenn man die Handlung der Erzählung meint. Ereignisse in Erzählungen müssen aber nicht immer absichtsvolle Handlungen von narrativen Figuren sein. Auch der Untergang eines Schiffes wie der Titanic im gleichnamigen Film oder der Einsturz einer Brücke wie in Fontanes Ballade Die Brücke am Tay kann ein wichtiger Baustein in der Kette der Ereignisse und Handlungen sein, die den Plot bzw. die erzählerische Handlung bilden. Insofern wird in den Definitionen der angelsächsischen Narratologie meist der Begriff des „Events“ benutzt, also des Er-

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Konflikt – Hindernisse zwingen zum Handeln

eignisses, um die Textform der Erzählung zu beschreiben, so wie etwa bei dem Narratologen Gerald Prince: Narrative is the representation of at least two real or fictive events or situations in a time sequence, neither of which presupposes or entails each other. (1982, S. 4)

Der Begriff des „events“ meint dabei beides, einmal die Handlungen, die absichtsvoll von narrativen Figuren ausgeführt werden, und Geschehnisse, die nicht absichtsvoll ausgeführt werden, im englischen als „actions“ und „happenings“ bezeichnet. So wäre – um ein literarisches Beispiel anzuführen – der Schneesturm, der Hans Castorp bei seinem Ausflug im berühmten Schneekapitel in Thomas Manns Zauberberg überrascht, ein Geschehnis. Sein Versuch, in einem Schuppen vor dem Unwetter Schutz zu finden, wäre dagegen eine Handlung. Auch wenn die Darstellung von Handlungen von narrativen Figuren offensichtlich eine Voraussetzung für eine Erzählung ist, so ist sie doch noch nicht hinreichend, um die narrative Form zu beschreiben. So gibt es eine Vielzahl von Texten, die eine Abfolge von Handlungen beschreiben, ohne dass man sie als eine Geschichte bezeichnen würde, zum Beispiel Gebrauchsanweisungen, Bauanleitungen oder Youtube-Tutorials. Hier fehlen offenbar noch weitere Merkmale, um solche Texte zu Erzählungen zu machen. Eng verknüpft mit dem Begriff der Handlung sind in der Film-Dramaturgie die Zielorientiertheit sowie der Terminus des Konflikts. So haben die Protagonisten der Erzählung meist ein klar umrissenes Ziel: Romeo und Julia wollen im gleichnamigen Theaterstück heiraten, Frodo will in Der Herr der Ringe den Ring der Macht vernichten, Rotkäppchen will ihrer Großmutter Kuchen und Wein bringen, damit sie gesund wird. Wenn nun aber Romeo und Julia zum Traualtar schreiten würden, weil ihre Eltern nichts gegen die Heirat einzuwenden haben, wenn Frodo

Konflikte als initiale Handlungsauslöser

den Einen Ring einfach im Auenland entsorgen würde, ohne sich vorher gegen unzählige Widerstände und Gefahren durchzusetzen, wenn Rotkäppchen keinem Wolf begegnen würde – dann würde offenbar keine Geschichte vorliegen. In Erzählungen erreicht die narrative Figur ihr Ziel nicht auf direktem Weg, sondern sie muss Hindernisse überwinden, die sie zu Handlungen zwingen. Die narrative Figur folgt also einem Ziel oder einem Bedürfnis, das sie vorerst nicht erreichen kann, woraus ein Konflikt entsteht. Um ihr Ziel trotzdem zu erreichen und den Konflikt zu lösen, muss die Figur handeln. Um vor diesem Hintergrund eines der genannten Beispiele zu konkretisieren: Die Protagonistin, die in einem Youtube-Film demonstriert, wie man das zerbrochene Display eines Smartphones austauscht, könnte dies mit verschiedenen Zielsetzungen tun. Liegt das Ziel vor, den Vorgang in Form einer Anleitung zu demonstrieren, tauchen zudem keine Hindernisse auf, so wäre dies ein Tutorial bzw. ein instruktiver Text. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sich die Protagonistin mit einer Freundin gestritten hat und sie nun anrufen will, weil sie das Ziel oder das Bedürfnis hat, sich mit ihr zu versöhnen. Oder sie hat erfahren, dass einem Freund eine Gefahr droht, und hat das Ziel, ihn mit dem Anruf zu warnen. Wenn der Austausch des Displays nun zum Beispiel an fehlendem Werkzeug scheitert, wäre ein Konflikt etabliert, der neue Handlungen generiert. Dieser Film würde wohl nicht zu Schulungszwecken im Internet veröffentlicht, aber es ist ersichtlich, dass eine derartige Gestaltung mit entsprechender Handlungsinitiierung einen höheren Grad an Narrativität aufweist als das einfache Tutorial. Die spezifische narrative Strategie der Handlungsdarstellung involviert also einen Konflikt.

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Grundformen des Konflikts Um den vieldeutigen Begriff des Konflikts für den erzähltheoretischen Zusammenhang klarer zu fassen, kann man ihn wie folgt definieren: Ein Konflikt wird ausgelöst, wenn eine narrative Figur an der Befriedigung eines Bedürfnisses bzw. der Erreichung eines Ziels gehindert wird, sei es durch innere Widerstände, die Handlung einer anderen narrativen Figur oder durch ein Geschehnis. Dieses Ziel kann vieles sein: Das Überleben im Angesicht einer Naturkatastrophe wie etwa in dem Öko-Thriller The Day After Tomorrow, eine glückliche Beziehung wie im Genre der romantischen Komödie oder der Wunsch, sich von einer unheilbringenden Sucht oder Fixierung zu lösen und persönlich zu reifen wie bei den Helden in den Romanen Dostojewskis. Entsprechend der genannten Beispiele differenziert die Filmdramaturgie Konflikte von narrativen Figuren in drei verschiedenen Kategorien: ▶ Äußere Konflikte ▶ Persönliche Konflikte ▶ Innere Konflikte Äußere Konflikte entstehen, weil der narrativen Figur eine antagonistische Kraft in Form einer Naturgewalt, eines übernatürlichen Phänomens oder von gesellschaftlichen Regeln entgegensteht. Viele Katastrophenfilme arbeiten mit diesem Motiv, aber auch Mythen und Märchen, in denen sich der Held gegen übernatürliche Wesen oder Götter durchsetzen muss. Moderne Erzählungen thematisieren den äußeren Konflikt, in dem sie den Kampf gegen ein totalitäres System darstellen, so wie in  oder in dem KZ-Drama Nackt unter Wölfen. Ebenfalls ein äußerer Konflikt ist der Kampf gegen Rassismus und Sklaverei, so wie in dem Südstaatendrama  Years a Slave oder gegen überkommene

Grundformen des Konflikts

Moralvorstellungen wie durch Harvey Milk, den ersten offen homosexuellen Politiker der USA, dessen Lebensgeschichte in Büchern, einer Oper und mehreren Filmen thematisiert wurde. Ein persönlicher Konflikt liegt vor, wenn der Protagonist von einer anderen narrativen Figur an der Erreichung seines Ziels gehindert wird. So muss Frank Underwood in der Serie House of Cards alle Konkurrenten ausschalten, die seinem politischen Ehrgeiz im Wege stehen. Vicomte Valmont, der Protagonist von Gefährliche Liebschaften, einer Geschichte, die als Briefroman, Theaterstück und Film erzählt wurde, kämpft um seinen Ruf als größter Verführer des Hofes, in dem er mit Intrigen, Charme und Lügen die adligen Damen im Frankreich des Rokoko manipuliert. Die Helden und Heldinnen des Marvel-Universums müssen ein ums andere Mal gegen feindliche Superschurken antreten, so wie auch die meisten Avatare in Games gegen computergenerierte oder von anderen Spielern gesteuerte Charaktere kämpfen müssen. Von einem inneren Konflikt spricht man, wenn die antagonistischen Kräfte im Charakter der Protagonisten begründet sind. So weiß Aleksej Iwanowitsch, der Held der Dostojewski Novelle Der Spieler, dass er die Liebe von Polina nur erringen wird, wenn er sich von seiner Spielsucht lösen kann. Diese Entscheidung liegt in seiner Hand, trotzdem zieht es ihn immer wieder zum Roulette-Tisch. Elinor Dashwood, die Heldin aus Jane Austens Verstand und Gefühl unterdrückt aus Vernunft ihre Gefühle zu Edward, denn ihr Stolz und Realitätssinn gestatten es ihr nicht, offen zu ihrer Liebe zu stehen. In den meisten Erzählungen dominiert dabei der persönliche Konflikt. Selbst wenn ein äußerer Konflikt vorliegt, werden doch in den meisten Fällen narrative Figuren dargestellt, die die entsprechenden antagonistischen politischen oder moralischen Kräfte repräsentieren, so wie der rassistische Farmer Edwin Epps in  Years a Slave oder der Vizepräsident Raymond Becker, der

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in The Day After Tomorrow den Klimawandel nicht wahrhaben will. Analog werden Naturgewalten in Sagen oder Märchen oft personalisiert, so zum Beispiel durch mythische Figuren wie den Meeresgott Poseidon oder den japanischen Windgott Fujin. Ebenso verhält es sich mit den inneren Konflikten. Oftmals werden die antagonistischen Kräfte, die in den Protagonisten kämpfen, von anderen narrativen Figuren der Erzählung repräsentiert, so wie Marianne Dashwood für das Gefühl steht, das ihre Schwester Elinor in sich unterdrückt. Robert McKee postuliert dementsprechend, dass in einer gelungenen Erzählung möglichst alle drei Konfliktebenen gleichzeitig bedient werden sollten. In der Tat gibt es hierfür eine Vielzahl von Beispielen. So muss sich Frodo in Der Herr der Ringe nicht nur durch die Minen von Moria, über die Totensümpfe und auf den Schicksalsberg kämpfen. Er muss sich auch mit Boromir auseinandersetzen, der ihm den Einen Ring abnehmen will, er muss Smeagol zähmen, den es ebenfalls nach dem Ring gelüstet und er muss auf seiner Reise gegen diverse Kreaturen von Sauron antreten. Zudem wird er ständig von Zweifeln geplagt, ob er seiner Aufgabe gewachsen ist und leidet unter der Last des Rings. Schlussendlich kann er sich nicht einmal überwinden, seine Aufgabe wie geplant zu erfüllen und den Ring selbst in das Feuer des Schicksalsberges zu werfen. In der Fernsehserie Transparent identifiziert sich Protagonist Mort Pfefferman nicht mit dem ihm zugewiesenen Geschlecht als Mann und entschließt sich zu einer geschlechtlichen Transition. Dabei plagen ihn innere Ängste und Zweifel. Bald gerät er in Konflikte mit seinen Kindern und seiner Exfrau sowie seinen Kollegen, zudem wird er mit gesellschaftlichen Vorurteilen konfrontiert. Selbst als Mort schließlich Maura ist, wird sie von der feministischen Community nicht als Frau akzeptiert. Alle drei Konfliktebenen, der innere, der persönliche und der äußere, sind in diesen Beispielen berücksichtigt.

Der universelle Konflikt

Trotzdem ist dies keine Voraussetzung für eine publikumswirksame oder künstlerisch gelungene Erzählung. So haben Conan der Barbar, Lara Croft oder die Agentin Emma Peel nicht mit inneren Konflikten zu kämpfen. Ihre Ziele, Gegner und Loyalitäten sind klar definiert und sie retten die Welt ohne jeden Selbstzweifel. Patrick Bateman hingegen, der Protagonist des Romans American Psycho, trägt fast ausschließlich einen inneren Konflikt aus, die Handlung wird in Form eines inneren Monologs vollständig aus seiner Perspektive geschildert und es bleibt bis zum Schluss unklar, ob die brutalen Morde, die er begeht, real sind oder sich nur in seiner psychotischen Phantasie abspielen.

Der universelle Konflikt Ein weiteres Kriterium, um einen wirksamen narrativen Konflikt zu gestalten, ist die Nachvollziehbarkeit des Konflikts, um für die Rezipierenden einen emotionalen und empathischen Zugang zu den Zielen und Motiven der Hauptfiguren zu ermöglichen. Um diesen initialen Zugang einfach zu gestalten und kulturübergreifend zu ermöglichen, bemerkt der Filmdramaturg Christopher Vogler: Helden sollten mit universellen Eigenschaften, Gefühlen und Motivationen ausgestattet sein, die jeder von uns schon einmal erlebt hat. (1998, S. 90)

Insofern kann man von einem universellen Konflikt sprechen, wenn eine narrative Figur ein allgemein nachvollziehbares, grundlegendes menschliches Ziel nicht erreichen oder ein Bedürfnis nicht erfüllen kann. Solch ein Konflikt ist nicht nur transkulturell und transhistorisch wirksam. Er ermöglicht es zudem, gänzlich unbekannte oder fantastische Milieus zu schildern. Der

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Ausgrenzungskonflikt, mit dem ein Waisenkind konfrontiert ist, das seine Eltern verloren hat, ist in jeder Kultur verstehbar, unabhängig davon, ob das Kind in einer religiös-mythischen Erzählung wie Moses in einem Weidenkorb am Nilufer angetrieben wird, ob es in einem Jugendroman wie Harry Potter als Zaubererkind bei den zur Magie unfähigen „Muggles“ aufwächst oder im Science-Fiction Genre wie Luke Skywalker vor den Häschern der dunklen Seite der Macht in Sicherheit gebracht werden muss. Tatsächlich liegt fast allen erfolgreichen Erzählungen, seien sie nun künstlerisch herausragend oder besonders publikumswirksam, ein klar identifizierbarer universeller Konflikt vor. Im Folgenden werden typische Beispiele für Konfliktfelder beschrieben, die sowohl transkulturell aus auch transmedial immer wieder als Handlungsauslöser in Erzählungen wirksam sind. Sie sind für jeden Storyteller ein elementarer Baustein, um eine allgemein nachvollziehbare Geschichte zu kreieren. Definiert werden soll der Konflikt dabei über das zugrundeliegende Bedürfnis der Hauptfigur. Liebe Schon Paris entbrennt in der Ilias in Liebe zur schönen Helena, doch vor allem, wenn man die Erzählungen der letzten 200 Jahre betrachtet, scheint die Liebe das dominierende Grundbedürfnis des Menschen und nicht erfüllte Liebe einer der wichtigsten Konflikte zu sein, die Menschen austragen. Sei es Romeo und Julia im Drama, Die Leiden des jungen Werther als Novelle oder Pretty Woman als moderne Filmerzählung. Der Liebeskonflikt wird in interaktiven Erzählungen vor allem im asiatischen Kulturraum und hier insbesondere in Japan thematisiert, in sogenannten Dating-Simulations oder Ren’ais. Bei Computergames wie Boyfriend Maker muss eine romantische oder auch erotische

Der universelle Konflikt

Beziehung zwischen dem Avatar und einem NPC angebahnt und geführt werden. Überleben Das grundlegendste Bedürfnis des Menschen ist es zu leben. So resultiert aus einer Bedrohung des Lebens automatisch ein nachvollziehbarer Konflikt. Der Kampf ums Überleben steht im Zentrum von Katastrophenfilmen der siebziger Jahre wie Flammendes Inferno, in Kriegsfilmen wie Die durch die Hölle gehen, in apokalyptischen Zombie-Comics wie The Walking Dead oder in Jugendromanen, wenn in Die Tribute von Panem Katniss in der Arena um ihr Leben kämpft. In Computergames sind Überlebenskonflikte eines der meistgespielten und erzählten Motive. Selbst unbelebte Avatare wie das Raumschiff in Asteroids werden in diesem Kontext als lebendig wahrgenommen, und ihre Zerstörung wird wie ein Tod betrauert, allerdings mit dem Vorteil, dass man im iterativen Spiel den Kampf, dank Bonusleben und Zwischenspeicherung, immer wieder aufnehmen kann. Rettung Gerät ein geliebter Mensch in Gefahr, wird unweigerlich ein Konflikt ausgelöst. So steigt Orpheus in der gleichnamigen Sage in den Hades hinab, um seine geliebte Euridyke aus dem Totenreich zu befreien, ebenso wie Marlin in Findet Nemo aufbricht, um seinen Sohn zu retten oder Captain Miller in Der Soldat James Ryan den letzten überlebenden Sohn der Familie Ryan wiederfinden soll. Im Tim in Tibet muss Tim hinauf in den Himalaya, um seinen Freund Chang zu retten. Aber auch die ganze Welt kann gerettet werden, wie Superman und seine diversen Superheldenkollegen immer wieder beweisen. Im Game The Last of Us wird das Rettungsmotiv auf vielen verschiedenen Ebenen thematisiert. Joel, der es nicht geschafft hat, seine Tochter Sarah vor den in-

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fizierten Mutanten zu retten, hat nun die Chance, die 14jährige Ellie zu beschützen. Im Laufe des Spiels rettet er immer wieder ihr Leben – bis er so schwer verletzt wird, dass Ellie sein Leben retten muss. Zum Ende des Spiels muss sich Joel entscheiden, ob er die Menschheit rettet und dafür Ellie opfert, oder Ellie befreit. Er entscheidet für Elli, um so sein Trauma zu überwinden, dass ihn verfolgt, seit er seine Tochter nicht retten konnte. Reifung Der Reifungskonflikt kann auf verschiedene Arten erzählt werden: Im Sinne einer Selbstverwirklichung gegen äußere Widerstände, wie im Fall von Billy Elliot – I will dance, oder als innerer Konflikt, bei dem eine narrative Figur aus ihren Gewohnheiten gerissen wird und ein neuer Mensch werden muss wie in About Schmidt. Die Loslösung von gewohnten Denkweisen und Einstellungen und die damit verbundene Möglichkeit zur Reifung können auch scheitern, wie in Oblomov. Oft sind die Protagonisten und Protagonistinnen der Reifungsgeschichte suchende jugendliche Figuren wie Buddy Bradley aus der Comicserie Hate, die Highschool-Schülerin Christine McPherson aus Lady Bird oder der 14-jährige Maik aus Tschick. In diesem Sinne erzählt der Bildungsroman ebenfalls einen Reifungskonflikt, genauso wie Parzival oder Das Dschungelbuch. Die Notwendigkeit zu reifen, erscheint oft als Sekundärkonflikt in Geschichten, die einen anderen Grundkonflikt erzählen. Dies liegt unter anderem daran, dass viele dramaturgische Theorien die Notwendigkeit einer Reifung oder Transformation der Hauptfigur im Laufe der Erzählung betonen und dies als wesentliches Element einer Erzählung sehen. Doch dies ist keine Notwendigkeit. Odysseus bleibt von Anfang bis Ende seiner Irrfahrten der listenreiche Krieger, genauso wie Conan ein Barbar bleibt. Auch in Computergames werden nur selten Reifungskonflikte erzählt.

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Freiheit Der Drang nach Freiheit ist ebenfalls ein prototypisch narrativ verhandeltes Bedürfnis, das uns schon in Erzählungen der Antike begegnet, wenn Theseus mit Ariadnes Hilfe aus dem Labyrinth entkommt. Doch der Konflikt muss nicht immer durch Gefängnismauern ausgelöst werden wie in der Fernsehserie Prison Break oder der Comicserie Bobo. Auch Schulvorschriften wie in If… oder moralische Tabus wie in Milk können als antagonistische Kräfte gegen die Hauptfiguren wirken, die um ihre Freiheit kämpfen. Der Kampf um Freiheit gegen gesellschaftliche Zwänge kann zudem als innerer Konflikt verhandelt werden, wie in Madame Bovary, und er kann auch scheitern, wie in Jim Thompsons Roman Getaway, in dem Doc und Carol erfolgreich nach Mexiko fliehen, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, um dann in ihrem Gangster-Exil noch viel grausamere Unterdrückung und Tyrannei zu erleben. Im Bereich der Games hat dieser Konflikt sogar eine eigene Genre-Bezeichnung generiert, die sogenannten Escape-Games, wie z. B. You Must Escape oder Portal. Abenteuer Die Neugier des Menschen, seine Lust, Grenzen zu überwinden und Fremdes zu entdecken, wird in Abenteuererzählungen thematisiert: Das Entdecken fremder Länder und Kulturen in den Romanen von Karl May oder den Tim und Struppi-Comics von Hergé, das Finden von Schätzen in den Filmen um Indiana Jones oder Lara Crofts spektakuläre Expeditionen in Film und Game. Abenteuergeschichten finden meist in Settings statt, die als semantische Opposition zu der Welt des Alltags konstruiert sind. So enthalten sie fast immer ein sensationelles Element, und dementsprechend sind die meisten Abenteuerkonflikte äußerer Natur. Die Abenteuergeschichte kann aber auch mit einem inneren Konflikt initiiert werden wie in Sean Penns Into the Wild, wenn

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sich der Protagonist der Herausforderung des Lebens in der unberührten Natur stellt, weil er im Konflikt mit den für ihn verlogenen Werten der modernen Gesellschaft steht. Im Computergame hat der Abenteuerkonflikt eine eigene Genre-Bezeichnung generiert, das sogenannte Adventure-Game. Wird der Aspekt der äußeren Handlung betont, wie etwa in der Tomb Raider- oder Uncharted-Reihe, spricht man von Action-Adventures. Gerechtigkeit Der Konflikt um Gerechtigkeit wird ausgelöst, wenn ein Protagonist oder eine Protagonistin sich nicht mit einer Ungerechtigkeit abfinden will wie etwa in Erin Brockovich oder in Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame. Die Handlung wird oft von einer narrativen Figur vorangetrieben, die ein persönliches Unrecht erlitten hat, wie Michael Kohlhaas aus der gleichnamigen Novelle von Heinrich Kleist. Dabei kann der Wille, die Gerechtigkeit wiederherzustellen, durch ein persönliches Trauma ausgelöst werden, was zu besonders radikalen Handlungen führt wie im Beispiel des Films Death Wish oder der Comicserie The Punisher, wo es dem Protagonisten Frank Castle nach der Ermordung seiner Familie weniger um die Aufklärung eines Verbrechens geht als um das Wiederherstellen der Gerechtigkeit mit allen Mitteln. Dementsprechend weisen viele Gerechtigkeitskonflikte einen inneren Aspekt auf, selbst wenn die Gerechtigkeit meist gegen den Widerstand persönlicher und äußerer Hindernisse hergestellt werden muss. Ein innerer Konflikt liegt auch vor, wenn der Held eine Ungerechtigkeit begangen hat und nun bereut, wie etwa Raskolnikow in Verbrechen und Strafe. Wahrheit Unerklärliche Ereignisse, Fakten, die nicht zusammenpassen, ein ungelöstes Rätsel – wenn diese Situation einen Konflikt bei

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der Hauptfigur auslöst, liegt eine Suche nach der Wahrheit vor. In der Filmerzählung geht es in diesem Fall fast immer um die Aufklärung eines Verbrechens wie in Chinatown oder den Edgar Wallace-Filmen der sechziger Jahre. Die popularisierte Genrebezeichnung für diesen universellen Konflikt lautet in Deutschland „Krimi“. Im literarischen Erzählen ist dieses Genre ebenfalls hochpopulär, beginnend mit den Werken von Arthur Conan Doyle und Agatha Christie oder zeitgenössischen Autoren wie Henning Mankell oder Stieg Larsson. Auch in anderen Genres kann dieser Konflikt erzählt werden, z. B. in Mystery-Serien wie The X-Files oder Supernatural. Ein wichtiges Element dieser Erzählungen ist es, die Rezipierenden im Sinne eines narrativen Spiels über Mutmaßungen und Annahmen partizipatorisch in die Aufklärung des Falls mit einzubeziehen – ein Aspekt, der in interaktiven Erzählungen noch stärker fokussiert wird. Das kriminalistische Rätsel wie in L.A. Noire oder Heavy Rain ist dabei weniger dominierend als in Film oder Literatur, vielmehr wird dieser Konflikt im Game meist im Rahmen des Adventure-Genres verhandelt. In Tomb Raider muss Lara Croft das Rätsel um ein außerirdisches Artefakt lösen, in Myst müssen die Geheimnisse um eine Magier-Familie aufgeklärt werden. Ordnung Das Bewahren einer bestimmten Ordnung oder die Etablierung einer neuen Ordnung sind archetypische narrative Motive. In traditionellen Epen sind es oft die Kräfte der Zivilisation, die ihre Ordnung etablieren und die Natur unterwerfen, wenn zum Beispiel im Gilgamesch-Epos der wilde Waldgott Humbaba bezwungen wird und die Zedern seines Waldes für den zivilisatorischen Akt des Tempelbaus benutzt werden. Im Krimi-Genre ist die gesellschaftliche Ordnung von einem Verbrechen bedroht. Die Durchsetzung des Rechts durch den Protagonisten ist in diesem

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Genre meist mit der Suche nach Wahrheit verknüpft. Wenn diese durch den Ermittler enthüllt ist, kann der Verbrecher bestraft und die Ordnung wiederhergestellt werden. Im Superhelden-Genre kämpfen Helden wie Batman für die gesellschaftliche Ordnung und unterstützen die staatlichen Organe, während die Superschurken wie der Joker oftmals die Basisopposition Chaos und Zerstörung repräsentieren. Auch in vielen Dystopien wie z. B. The Walking Dead oder im Game The Last of Us geht es neben einem Überlebenskonflikt meist um die Frage, wie die Ordnung in kleineren sozialen Verbänden bewahrt oder wiederhergestellt werden kann, wenn unsere Zivilisation zusammengebrochen ist. Ungehorsam Wenn die Ordnung aus Sicht eines Protagonisten eine falsche oder ungerechte ist, kann ebenfalls ein Konflikt ausgelöst werden. Rebellion oder Ungehorsam sind die Folge, thematisiert in zahlreichen Film-, Comic- und Romanerzählungen um Helden wie Spartacus oder Robin Hood. Die Rebellion kann auch in einer fiktionalen Zukunft stattfinden wie in der Graphic Novel V for Vendetta, in der ein als Guy Fawkes maskierter Anarchist ein totalitäres Regime in England bekämpft. Auch gegen überkommene Moral- oder Rollenvorstellungen kann rebelliert werden, wenn sich etwa die Protagonistinnen in Yentl oder Merida gegen traditionelle Frauenbilder auflehnen und diese schließlich überwinden. Doch nicht immer ist die Rebellion gegen die Konventionen politisch oder gesellschaftlich motiviert, der Konflikt kann auch ein innerer sein. So weiß der Held in Eine verhängnisvolle Affaire sehr wohl, was er zu tun hätte, und will nicht gegen das moralische Verbot des Ehebruchs verstoßen. Doch seine Lust, angestachelt durch die Versucherin, ist stärker. Das Übertreten von Verboten ist auch im Computergame ein wichtiger Handlungsmotor, so zum Beispiel in BioShock Infinite, wenn der Prot-

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agonist in Columbia, einer fliegenden Stadt, in einen Bürgerkrieg zwischen einer Rebellengruppe und die Truppen des totalitären, nationalistischen und rassistischen Despoten Comstock gerät. Anerkennung Menschen sind soziale Wesen und haben das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung und Gruppenzugehörigkeit. Die Verweigerung des Wunsches nach Annahme durch die Gruppe erzeugt den Konflikt bei einer Außenseitergeschichte. Die fehlende Anerkennung kann durch körperliche Entstellungen entstehen wie in Der Glöckner von Notre Dame oder durch eine andere Hautfarbe und Kultur wie im Jugendroman Blauvogel, in dem der weiße Protagonist bei einem Stamm von amerikanischen Ureinwohnern aufwächst. Der Grundkonflikt der erfolgreichen Comicserie X-Men, die auch vielfach verfilmt wurde, basiert auf einem Anerkennungs-Konflikt, denn die Mutanten der X-Men unterscheiden sich durch ihr teilweise bizarres Aussehen und ihre Superfähigkeiten von den Menschen, die sie ausgrenzen. Während Professor Xavier, der Anführer der X-Men, auf Dialog und Integration setzt, will sein Bruder Magneto die Menschen, die ihn ausgrenzen, bekämpfen. Rausch Die Ekstase, das rauschhafte Erleben, ist ebenfalls ein transhistorisches und transkulturelles Bedürfnis, das immer wieder in Erzählungen thematisiert wird. Die Antagonisten, die das rauschhafte Erleben verhindern, können im Rahmen eines persönlichen oder äußeren Konflikts auftreten, zum Beispiel als Beziehungspartner, die die Selbstzerstörung verhindern wollen, oder als Vertreter des Gesetzes, die juristische Grenzen repräsentieren. Dennoch ist der hier geschilderte Konflikt vorwiegend ein innerer: Die Hauptfigur will überleben und gleichzeitig ein Be-

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dürfnis befriedigen, das sie zerstört – eine Sucht oder ein Laster. Dieser Konflikt kann humoristisch erzählt werden, wie in der Comic-Serie Freak Brothers, oder dramatisch wie in Unter dem Vulkan. Moderne Rausch-Erzählungen wie Trainspotting – Neue Helden thematisieren oft beide Aspekte des Rausches – die freudvolle Ekstase und den dramatischen Absturz. Oftmals werden diese Geschichten als unaufhaltsamer Fall erzählt. Denn um sich von ihrem selbstzerstörerischen Bedürfnis zu befreien, müssten die Helden reifen. Doch würde ihnen das gelingen, läge eine Reifungsgeschichte vor. In Trainspotting geschieht beides. Während Protagonist Renton zu einem zynischen, aber funktionierenden Erwachsenen reift, geht sein Freund Tommy an der Drogensucht zugrunde. Wenn einer oder mehrere der dargestellten Konflikte in einer Erzählung geschildert werden, ist gewährleistet, dass diese Erzählung und ihre Motive transkulturell rezipiert werden können. In vielen komplexeren Erzählungen, längeren Romanen, Serien oder Filmerzählungen wird dabei oft ein dominanter universeller Konflikt behandelt, der dann mit anderen Konflikten ergänzt wird. So wird, wie bereits dargestellt, in vielen Hollywood-Filmen unabhängig von dem Grundkonflikt, wie z. B. einer Wahrheitsfindung, auch eine Reifung erzählt. Auch eine Liebesgeschichte wird in den meisten Hollywood-Blockbustern unabhängig von den grundsätzlichen Konflikten erzählt. Ein typisches Beispiel sind die erfolgreichen Marvel-Filme. Unabdingbar und definitorische Voraussetzung für einen Marvel-Film ist ein Zweikampf mit einem Antagonisten, der die bestehende Ordnung bedroht. Im X-Men-Universum ist dieses Motiv zudem grundsätzlich mit einem Ausgrenzungskonflikt verknüpft. Weiterhin spielen bei den X-Men-Filmen die persönlichen Beziehungen der Mutanten, oft verhandelt in Form einer Liebesgeschichte, eine große Rolle. Ähnlich verhält es sich in Spiderman: Homecoming, wo bereits im Trailer innerhalb von zwei Minuten eine Ausgrenzung, ein

Konflikttypen und Handlungstypen

Liebesverlangen, die Notwendigkeit zur Reifung, die Rettung von Menschen und ein Überlebenskonflikt thematisiert werden. Dabei ist es nicht zwingend, dass eine Erzählung eine derartige Vielzahl von Konflikttypen darstellt. Es gibt durchaus Erzählungen, die nur einen oder wenige Konflikte verhandeln, ohne dass dies der Qualität oder dem Erfolg Abbruch tut. So wurde in der James Bond-Reihe ursprünglich immer nur ein Kampf um die Ordnung thematisiert, manchmal kombiniert mit einer Rettungsgeschichte. Es ist allerdings zu beobachten, dass die Varianz und Vielfalt von Konfliktangeboten in modernen Filmerzählungen sowie in horizontal erzählten, von Streamingdiensten angebotenen Serien meist höher ist und hier mehrere Konflikte und Konfliktebenen kombiniert werden.

Konflikttypen und Handlungstypen Einige dieser universellen Konflikte sind so oft erzählt worden, dass sie eigene Genrebezeichnungen gebildet haben: Die Liebesgeschichte, die Notwendigkeit der Reifung im Coming-of-AgeGenre, die Suche nach Wahrheit und die Wiederherstellung der Ordnung in Form von Aufdeckung eines Verbrechens im Krimi. Aus dramaturgischer Sicht lohnt sich die Untersuchung dieser Konflikttypen auch, weil sie dazu neigen, ähnliche Handlungsketten zu erzeugen. Oder, in dramaturgischer Terminologie: Ein bestimmter Initialkonflikt erzeugt bestimmte, vergleichbare Plotmuster. Zentrale Punkte der Handlung in Liebeserzählungen sind zunächst die Darstellung des entsprechenden Bedürfnisses der Hauptfigur, zum Beispiel durch die Begegnung mit einem von der Dramaturgie so bezeichneten „Love Interest“, also dem Objekt der Liebe. Der Konflikt entsteht, wenn Hindernisse auftauchen, die der Anbahnung der Beziehung im Wege stehen. Je

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nach Hindernis kann auch hier wieder zwischen inneren (z. B. Gewissenskonflikte oder moralische Vorbehalte der Hauptfiguren wie in Effi Briest), persönlichen (z. B. ein Nebenbuhler oder eine Konkurrentin wie in der klassischen Dreiecksgeschichte, etwa in Die Leiden des jungen Werther) oder äußeren (z. B. Rassen- und Klassenschranken wie in Pocahontas und My Fair Lady oder moralische Tabus wie in Brokeback Mountain) Konflikten unterschieden werden. Anschließend folgt ein Kampf des Protagonisten oder auch des Paares um seine Liebe. Die Hindernisse werden dabei eskalierend immer größer; in der Beharrlichkeit der Handelnden beweist sich die Größe der Liebe. Abschließend muss die Frage beantwortet werden, ob die Liebenden sich wirklich finden – die in der Hollywood-Dramaturgie standardisierte Version. Doch viele berühmte Liebesgeschichten verzichten auf ein Happy End, so zum Beispiel Romeo und Julia, die genannten Effi Briest und Werther, aber auch zeitgenössische Stoffe wie Love Story. Auch bei der Wahrheitsfindung, z. B. im Krimigenre, sind diese standardisierten Handlungsabfolgen immer wieder zu beobachten. Der entsprechende Plot beginnt mit einem Rätsel, oftmals einem ungelösten Verbrechen. Der Protagonist versucht das Rätsel zu lösen und folgt dabei mehreren Fehlspuren, oft sind es drei, bis der Fall durch Intellekt und Kombinationsgabe (im Whodunit-Genre, etwa bei den Miss Marple-Krimis) Hartnäckigkeit und körperliche Überlegenheit (im Hard-Boiled-Genre wie in den Romanen von Dashiell Hammett und Raymond Chandler) oder auch durch Teamwork (in Ermittlerserien wie CSI oder den SOKO-Reihen) gelöst wird. Dieser Befund muss aber nicht zu formelhaftem Erzählen führen. Gerade die Kenntnis dieser Muster kann helfen, gewohnte Plotstrukturen zu variieren oder neu zu kombinieren. So fokussiert sich die Krankenhausserie Dr. House nicht auf den Überlebenskonflikt, der normalerweise in diesem Genre erzählt wird. Der Protagonist Dr. Gregory House ist in erster Linie an der

Want und Need

Aufklärung eines Rätsels und der richtigen Diagnose interessiert ist. So lehnt Dr. House sogar Fälle ab, wenn sie keine medizinische Herausforderung darstellen, selbst wenn der Zustand der Erkrankten lebensbedrohlich ist. Entsprechend endet die Episode nicht mit der Beantwortung der Frage, ob die Erkrankten geheilt sind oder nicht, sondern mit der korrekten Diagnose – nach der House sogar sucht, wenn der Patient oder die Patientin schon gestorben ist. Hier wird in erster Linie eine Suche nach der Wahrheit thematisiert und somit ein Rätselplot erzählt, der in seiner Struktur dem Handlungsverlauf eines Krimis ähnelt.

Want und Need Eine weitere Differenzierung, die die Filmdramaturgie auf der Ebene der Konflikte bzw. in der Bezeichnung des Ziels der Hauptfigur vornimmt, ist die Unterscheidung von „Want“ und „Need“. Dabei bezeichnet der „Want“ das von der Hauptfigur formulierte Ziel, das sie bewusst zu erreichen versucht. Der „Need“ dagegen ist ein tiefliegendes Bedürfnis oder eine Schwäche, die die Hauptfigur überwinden muss – oft, ohne dass ihr das bewusst ist. Somit steht der „Need“ oft für das Thema eines inneren Konflikts, häufig auch verknüpft mit einer Reifungsgeschichte, während der „Want“ meist in der äußeren Welt zu verorten ist. So wollen die arbeitslosen Protagonisten in der britischen Komödie Ganz oder gar nicht eine Striptease-Gruppe gründen, um so an Geld zu kommen – ihr „Want“. Viel wichtiger ist es für sie allerdings, in der Gruppe Selbstliebe und Selbstrespekt zu gewinnen, um so wieder beziehungsfähig zu werden – ihr „Need“. In Little Miss Sunshine hat jedes Mitglied der dysfunktionalen Familie Hoover einen anderen „Want“: Tochter Olive will bei einem Schönheitswettbewerb für Kinder gewinnen. Vater Richard will als Motiva-

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Konflikt – Hindernisse zwingen zum Handeln

tionstrainer erfolgreich sein und sein Buch veröffentlichen. Sohn Dwayne will Testpilot bei der Air Force werden. Onkel Frank will die Anerkennung als führender Proust-Experte. Im Laufe des Filmes müssen sie alle ihre Träume begraben, aber gewinnen ihr „Need“, als sie alle gemeinsam auf der Bühne des Schönheitswettbewerbes tanzen, um die Demütigung von Olive zu verhindern und auf diese Weise als Familie zusammenwachsen. Nur Mutter Sheryl will von Anfang an die Beziehungen in der Familie heilen. Bei ihr sind „Want“ und „Need“ identisch. Oft stehen die Hauptfiguren in einem krisenhaften Moment der Erzählung vor der Situation, sich für ihr „Want“ oder ihr „Need“ zu entscheiden, und dabei das eine für das andere zu opfern. Ted Kramer versucht in Kramer gegen Kramer nach einer Scheidung mit allen Mitteln, das Sorgerecht für seinen geliebten Sohn zu bekommen. Als ihm klar wird, dass er mit der verbissenen Auseinandersetzung seinen Sohn unglücklich macht, verzichtet er auf sein „Want“ und eine Fortsetzung des Kampfes – woraufhin er sein „Need“ gewinnt, eine Aussöhnung mit seiner Frau zum Wohl des Kindes. Es geht aber auch andersherum: Im Film-Drama The Rose ist Mary Rose Foster trotz ihres Erfolges im Showbusiness eine verletzliche und unsichere Frau, die Alkohol- und Drogenprobleme hat. Ihre Beziehung zu dem Kraftfahrer Huston Dyer leidet unter Roses exzessivem Lebensstil. Als Rose beschließt, eine Auszeit von der Bühne zu nehmen, scheint es eine Chance für die Beziehung der beiden zu geben. Doch ihr Manager überzeugt sie, das wichtige Engagement doch anzunehmen. Rose wählt ihr „Want“, den Ruhm und die Bewunderung des Publikums, und entscheidet sich gegen ihr „Need“, bedingungslose Liebe. Bei ihrem folgenden Auftritt stirbt sie an einer Überdosis.

Want und Need

Zusammenfassung: Die Handlungen in Erzählungen werden immer durch einen Konflikt ausgelöst, der entsteht, wenn der Protagonist oder die Protagonistin an der Erreichung eines Ziels gehindert wird. Dieses Ziel ist oft ein kulturübergreifend nachvollziehbares, universelles Ziel, um einen möglichst einfachen Zugang zu der Erzählung und den Motiven der handelnden Figuren zu ermöglichen. Entsprechend kann man universelle Konflikte identifizieren, die immer wieder in Erzählungen auftauchen und zu vergleichbaren Handlungsmustern führen. Die Dramaturgie unterscheidet dabei zwischen drei Konflikttypen, dem äußeren, persönlichen und inneren Konflikt. Zudem unterscheidet man auf der Ebene des Ziels zwischen „Want“ und „Need“.

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Transformation vs. Veränderung

6 Transformation – Was muss sich ändern?

Transformation vs. Veränderung Erzählungen erfassen das Wie und Warum von Veränderungen und überführen einen Anfangszustand in einen Endzustand – darin sind sich eine Vielzahl von Erzählforschern einig. Die Narratologie nennt diese Veränderungen, die eine Bedingung für narrative Sinnhaftigkeit sind, Transformationen. Für Todorov ist das Moment der Transformation sogar grundlegend für die Bestimmung der narrativen Form, sie macht für ihn die Erzählung erst möglich. Er definiert die Transformation dabei wie folgt: Wir sagen, dass zwei Aussagen die Beziehung der Transformation haben, wenn ein Prädikat für beide identisch bleibt. (1972, S. 223)

Ein identisches Prädikat kann in erzählerischem Sinne vieles sein, in den meisten Fällen handelt es sich um eine narrative Figur – zum Beispiel, wenn Parzival vom unwissenden Narren zum Gralsritter reift. Oder die Beziehung zweier Figuren wird transformiert, wenn Harry und Sally im gleichnamigen Film nach anfänglicher Abneigung zu einem Liebespaar werden. Oder es wird die ganze Storyworld transformiert, wenn die Völker von Mittelerde von Saurons Joch befreit werden und wieder frei leben können. Diese Minimaldefinition reicht aber noch nicht aus, um die erzählerische Transformation ausreichend zu beschreiben. Wenn etwa geschildert würde, wie Harry und Sally sich nach ihrer

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ersten Begegnung in ihrer Arbeit verwirklichen und erfolgreiche Berufskarrieren realisieren, wir aber nichts über ihre weitere Beziehung erfahren, wären zwar die Prädikate identisch und auch eine Veränderung wäre erzählt. Trotzdem wäre diese Geschichte erzählerisch unbefriedigend und würde wichtige, von der Erzählung aufgeworfene Fragen offenlassen. Wenn die Geschichte mit einem streitenden Pärchen beginnt, so soll die Beziehung der beiden transformiert werden, in welcher Form auch immer. Wird eine junge, naive Hauptfigur eingeführt, so begleitet die Erzählung normalerweise ihre Reifung und ihren Weg in die Welt der Erwachsenen. Wird die Bedrohung eines Landes thematisiert, so wollen die Rezipierenden erfahren, ob die Bewohnerinnen und Bewohner dort weiter in Sicherheit und Frieden leben können. Was ist also der Unterschied zwischen einer Veränderung und einer Transformation? Hier ist ein Anschluss an das Konzept der narrativen Basisoppositionen möglich. Eine Veränderung ist erst einmal ungerichtet und kann sich auf viele Elemente der Erzählung beziehen. Eine Transformation aber ist spezifisch und muss neben der Veränderung eines identischen Prädikats zudem in einem bestimmten, semantisch begrenzten Rahmen stattfinden, den die narrativen Basisoppositionen der Erzählung definieren. In diesem Sinne transformiert sich die Beziehung in Harry und Sally von Abneigung zu Liebe, Parzival reift von Unwissenheit zu Weisheit, die Welt von Mittelerde transformiert sich von Tyrannei zu Freiheit. Diese transformatorischen Prozesse beschreiben aber nicht nur den Anfangs- und Endzustand eines narrativen Textes, sondern sind auch auf allen anderen Ebenen der Erzählung wirksam. Todorov gliedert den Text der Erzählung dabei in verschiedene Einheiten. So bilden laut Todorov die Transformationen von Aussagen Sequenzen, die Transformation der Sequenzen wiederum bildet den Bogen der gesamten Erzählung. So beinhalten die Aussagen und Sequenzen eines Krimis gemeinhin die

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Lösung einzelner Rätsel, die in ihrer Kombination die Lösung des gesamten Falles erlauben, im Sinne einer Transformation der narrativen Basisoppositionen von Nichtwissen zu Wissen. Übersetzt in die Sprache der Filmdramaturgie könnte man eine Szene als narrative Einheit der Aussage beschreiben, die eine Mikrotransformation darstellt – in dem Beispiel eines Krimis entsprechend das Auffinden eines Indizes. Die einzelnen Szenen bilden einen Akt, analog einer Sequenz, die wiederum eine Makrotransformation beschreibt – zum Beispiel die Erkenntnis, dass ein bestimmter Verdächtiger entgegen der ersten Beweislage doch unschuldig ist. Die Akte wiederum bilden die ganze Filmerzählung, in deren Verlauf der Schuldige endgültig überführt wird. Jede der narrativen Einheiten beschreibt also eine Mikro-, Makro- oder vollständige Transformation von Nichtwissen zu Wissen, ausgehend von dem Ausgangskonflikt, der in der Exposition der Erzählung geschildert wird – im Falle des Krimis meist ein ungelöstes Verbrechen.

Transformation als Kriterium der Geschlossenheit Diese vollständige Transformation, die zwischen dem Anfangsund dem Endzustand einer Erzählung stattfindet, ist ein wichtiges Merkmal, um ein weiteres Element narrativer Gestaltung zu beschreiben, die Geschlossenheit. Die Kategorie der Geschlossenheit gilt bereits seit der Antike als ein wichtiges Kriterium für Erzählungen, wenn Aristoteles definiert, dass eine Erzählung einen Anfang, eine Mitte und ein Ende habe. Auf den ersten Blick mag dieser Befund trivial erscheinen, denn offenkundig hat jede Erzählung ein Ende. Comics und Bücher haben eine letzte Seite, Filme eine klar begrenzte Vorführzeit. Dies trifft aber auf praktisch alle Texttypen zu, auf ein Märchenbuch genauso wie

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auf eine wissenschaftliche Monografie. Also kann dies kein Kriterium für eine spezifisch narrative Geschlossenheit sein, die in der Theorie aber immer wieder beschrieben wird und der zudem die Kategorie der offenen Erzählung beziehungsweise des offenen Endes entgegengestellt wird. Was aber ist also gemeint, wenn von erzählerischer Geschlossenheit gesprochen wird? Viele Erzähltheoretiker wie auch Dramaturgen postulieren, eine Erzählung könne dann als geschlossen gelten, wenn der Text keine Fragen der Rezipierenden mehr offenlässt. Diese Definition bleibt unbefriedigend, denn in dieser Form und auf die Rezipierenden bezogen ist sie kaum objektivierbar. So könnte man sich durchaus fragen, wie Luke Skywalker, Leia Organa und Han Solo nach dem Ende von Episode  – Die Rückkehr der Jedi-Ritter ihr Leben weiter gestalten. Dass dies spannende Fragen sind, die die Rezipierenden offenbar interessieren, erfahren wir spätestens im Laufe des siebten Teils der Star Wars-Saga, Das Erwachen der Macht. Trotzdem würde niemand Die Rückkehr der Jedi-Ritter als offene Erzählung bezeichnen. Auch hier ist der von Todorov und der strukturalistischen Narratologie definierte Begriff der Transformation hilfreich. So zeigt etwa Algidars Greimas am Beispiel des Romanciers Bernanos, wie die in seinem Werk dominierende Basisopposition Leben vs. Tod entweder in ein ideales Leben oder den totalen Tod transformiert wird und dadurch eine Geschlossenheit der Erzählung erzielt wird. Es sind ganz bestimmte, semantisch definierte Fragen, die der Text beantworten muss. Oder in wissenschaftlicher Terminologie: Es ist die vollständige Transformation der erzählerischen Basisoppositionen, die den Eindruck der Geschlossenheit hervorruft. Das heißt auch, dass ein Text durchaus Fragen offenlassen oder sogar neue Fragen einführen kann, solange die Transformation der Basisoppositionen abgeschlossen ist – so etwa bei Dostojewskis Roman Verbrechen und Strafe. In der Rezeption herrscht

Transformation als Kriterium der Geschlossenheit

Uneinigkeit, ob hier eine geschlossene Erzählung vorliegt, da das weitere Schicksal des Protagonisten Raskolnikow im Arbeitslager nicht geklärt wird, ebensowenig, ob er zum christlichen Glauben gefunden hat. Zudem deutet Dostojewski in der letzten Passage eine Fortsetzung seiner Erzählung an, auch wenn er diese nie verwirklicht hat. Gleichzeitig aber sind die grundsätzlichen Fragen, die innerhalb der Erzählung aufgeworfen werden, durchaus beantwortet, und zwar im Sinne der Transformation aller im Titel formulierten Basisoppositionen. Raskolnikow muss für sein Verbrechen sühnen, indem er sich der Gerichtsbarkeit stellt und seine Strafe antritt. Durch die Annahme der Liebe von Sofja erlangt er Vergebung und reift zu einem beziehungsfähigen Menschen und auch Sofja wird erlöst, weil sie die Prostitution aufgibt und ihrer Liebe ins Arbeitslager folgt. Die Erzählung beschreibt, auch in ihren zahlreichen Nebenhandlungen, eine vollständige Transformation. Tatsächlich ist ein echtes offenes Ende im Sinne der vorgeschlagenen Definition selten zu finden. Solch eine Geschichte würde auf die Transformation und die damit verbundene spezifische Sinnproduktion einer Erzählung verzichten und ist daher als anti-narrativ anzusehen. Zudem wird den Rezipierenden die Geschlossenheit als ein wichtiges, befriedigend erlebtes erzählerisches Element vorenthalten und führt daher nicht selten zu einer Ablehnung durch das Publikum. Trotzdem wird das offene Ende in einigen Erzählungen realisiert. Zum einen kann die Wahl eines offenen Endes künstlerisch motiviert sein. Das absurde Theater oder der surrealistische Film verzichten, neben anderen Elementen des Narrativen, oft bewusst auf eine geschlossene Handlung, um Zuschauererwartungen und Sehgewohnheiten zu unterlaufen, so wie zum Beispiel in Samuel Becketts Drama Warten auf Godot. Die Ankunft von Godot, auf den die beiden Protagonisten Vladimir und Estragon warten, findet nie statt, das Stück beantwortet weder die Frage, wer Godot

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ist, noch warum auf ihn gewartet wird. Es bleibt sogar offen, ob Godot existiert. Die damit verknüpfte Frage, welche Sinnhaftigkeit man der menschlichen Existenz überhaupt zusprechen kann, wird auf verschiedenen Ebenen des Stücks thematisiert, aber ebenfalls nicht beantwortet. Wenn man die Frage nach dem Sinn des Lebens erzählerisch nicht beantworten kann oder will, ist es also durchaus konsequent, auch auf der formalen Ebene auf die Sinnproduktion durch eine abschließende Transformation zu verzichten. Doch auch in der Populärkultur werden offene Enden realisiert, so etwa im Genre des Horrorfilms. Hier unterstützt das offene Ende die Gefühlserwartung des Genres (vgl. Kapitel  Emotion), denn ein Horrorfilm soll ängstigen und beunruhigen. Indem die Rezipierenden am Ende der Erzählung im Unklaren darüber gelassen werden, ob die Bedrohung besiegt ist oder nicht, wird dieser emotionale Effekt noch gesteigert. Allerdings gibt es Unterschiede in der Umsetzung dieses offenen Endes. So wird in dem Genreklassiker Das Ding aus einer anderen Welt von 1951 die Geschichte einer Invasion durch Außerirdische erzählt, die in eine Forschungsstation am Polar eindringen. Der Besatzung der Station gelingt es zwar im Showdown, den Außerirdischen mit Hilfe eines Stromkabels zu verbrennen. Doch der Reporter Ned Scott warnt am Ende die Menschheit per Funk, dass die Bedrohung jederzeit wiederkehren kann. Das gleichnamige Remake des Films von 1982 bricht an einer entscheidenden Stelle mit dem Original. Der Außerirdische ist in der modernen Fassung in der Lage, das Aussehen von Tieren oder Menschen anzunehmen, sodass die Besatzung der Station nicht in der Lage ist, den Alien zu identifizieren. Ein Crewmitglied nach dem anderen kommt ums Leben. Im Showdown greift der Protagonist MacReady den Außerirdischen mit Dynamit an, doch es bleibt unklar, ob der Angriff letztendlich erfolgreich war. Denn nun taucht der Wissenschaftler Child auf, der während des Showdowns verschwun-

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den war. MacReady kann nicht entscheiden, ob es sich um seinen Kollegen Child handelt oder um den Außerirdischen in Gestalt von Child. Lauernd sitzen die beiden voreinander, keiner wagt es zu handeln. Der Film endet mit den apokalyptischen Bildern der brennenden Polarstation. Ob die außerirdische Bedrohung wirklich eliminiert ist oder die ganze Menschheit bedroht, bleibt offen. Tatsächlich sind die Basisoppositionen Leben vs. Tod sowie Bedrohung vs. Sicherheit hier nicht abschließend transformiert. Im Falle des Originals von 1951 handelt es sich um einen Sieg über die außerirdische Bedrohung – mag er auch nur temporär sein – und damit um eine vollständig transformierte und abgeschlossene Erzählung, bei der am Ende, wie in Verbrechen und Strafe eine neue Frage aufgeworfen wird. Man könnte auch formulieren, dass hier der Beginn einer neuen Erzählung markiert wird. Im Falle des Remakes von 1982 ist die Transformation der Basisoppositionen nicht abgeschlossen, und man kann von einem echten offenen Ende sprechen, was den beunruhigenden Effekt der Erzählung nur noch steigert. Wieder anders liegt der Fall im seriellen Erzählen, das per Definition nicht abgeschlossen sein sollte, um eine Fortsetzung der Geschichte zu ermöglichen. Trotzdem verzichten die meisten Serien nicht auf das geschlossene Ende. Oft werden in einer Episode mehrere Erzählstränge kombiniert, so zum Beispiel in den sogenannten Daily Soaps. Bei diesem Genre wird im Laufe der Episode in einem Erzählstrang ein Konflikt transformiert und abgeschlossen, während ein anderer Erzählstrang offen endet, um so Spannung zu erzeugen und die Rezipierenden zum Einschalten der nächsten Episode zu animieren. Viele Krimiserien verfahren ähnlich, indem sie meist einen abgeschlossenen Fall präsentieren, diesen aber innerhalb der Episode mit anderen Geschichten kombinieren, zum Beispiel mit den privaten Erlebnissen der Ermittler, die über mehrere Folgen erzählt werden. Anders formuliert: Der äußere Konflikt, also die Bedrohung der

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gesellschaftlichen Ordnung durch ein ungelöstes Verbrechen, wird vollständig transformiert, während auf eine Transformation des persönlichen Konflikts, zum Beispiel eines Eheproblems, verzichtet wird. So wird über den Fall einerseits eine als befriedigend erlebte narrative Geschlossenheit der Episode erreicht. Anderseits wird über eine Fortsetzungsgeschichte auf der persönlichen Ebene bei den Rezipierenden der Impuls geweckt, für die nächste Folge wieder einzuschalten. Dies ist aber kein Prinzip, das nur im Krimi verwendet wird. Ähnlich verfährt die Krankenhausserie Emergency Room, in der die Geschichte der Patienten meist in einer Episode erzählt und transformiert wird. Es wird aber ein erneuter Einschaltimpuls ausgelöst, indem offene Fragen bezüglich der Ärzte aufgeworfen werden: Wird John Carter seine Medikamentensucht überwinden? Wird aus Doug Ross und Carol Hathaway doch noch ein Paar? Im Genre der Daily Soap wird dieser Einschaltimpuls oftmals noch durch den sogenannten Cliffhanger ausgelöst, eine besonders spannende Szene direkt am Ende der Folge, die viele Fragen offenlässt oder neue aufwirft. Auch Serien, die über Streaming-Anbieter als ganze Staffel verfügbar sind, arbeiten mit dieser Technik, um die Zuschauerinnen und Zuschauer zum sogenannten Binge-Watching zu verführen. Bei einer Vielzahl von seriellen Erzählungen wird aber sogar auf eine Transformation von einem Pol der narrativen Opposition zum anderen völlig verzichtet. Stattdessen kehrt die Erzählung zu ihrem semantischen Ausgangspunkt zurück. Dies ist aber nicht zu verwechseln mit dem offenen Ende und das heißt auch nicht, dass auf Transformationen verzichtet wird.

Die zyklische Transformation

Die zyklische Transformation Stattdessen wird, nach einer Reihe von Transformationen, der ursprüngliche semantische Zustand wiederhergestellt. Todorov nennt diesen Typus eine zyklische Transformation und beschreibt sie anhand eines bereits von Propp analysierten russischen Zaubermärchens, Die wilden Schwäne. Dabei identifiziert Todorov folgende Sequenzen, die in transformatorischer Beziehung zueinanderstehen: 1. Ein Zustand des Gleichgewichts zu Beginn, im Falle des konkreten Beispiels ein friedliches Familienidyll. 2. Die Störung des Gleichgewichts durch ein Ereignis und/ oder eine antagonistische Kraft, in diesem Fall die Entführung des kleinen Bruders durch die wilden Schwäne. 3. Die Erkenntnis der Protagonistin, dass das Gleichgewicht gestört ist, im Beispiel das Erschrecken der Schwester, als bei ihrer Heimkehr der Bruder verschwunden ist. 4. Der Kampf um die Wiederherstellung des Gleichgewichts, in diesem Fall die schließlich erfolgreiche Suche nach dem Bruder. 5. Die Wiederherstellung des Gleichgewichts, in diesem Fall die Heimkehr des Mädchens mit ihrem Bruder. Einfacher ausgedrückt: Die Geschichte erzählt einen Zustand des Gleichgewichts, der durch antagonistische Kräfte gestört wird. Durch das Eingreifen der Protagonistin wird der Zustand des Gleichgewichts wiederhergestellt. Andere Märchen folgen einer ähnlichen Struktur. Rotkäppchen ist in der Sicherheit ihres Elternhauses, geht in den Wald, in dem durch den Wolf Gefahr droht. Durch das Eingreifen des Jägers wird sie gerettet und die Bedrohung durch den Wolf wird ausgeschaltet. Der Zustand des Gleichgewichts bzw. der Sicherheit ist wiederhergestellt.

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Aber nicht nur in Märchenerzählungen, vor allem im seriellen Erzählen ist diese Form der zyklischen Transformation ein wichtiges Stilmittel. So folgen zum Beispiel Sitcoms wie Big Bang Theory oder Modern Family weitgehend einer zyklischen Dramaturgie: Am Anfang der Episode wird das Gleichgewicht gestört, der zweite Akt schildert das Ringen um die Wiederherstellung des Gleichgewichts durch die Hauptfiguren, bis im dritten Akt das Gleichgewicht wiederhergestellt wird. Nicht nur Sitcoms, auch fallorientierte Serien wie Krimis, Krankenhaus- oder Anwaltsserien benutzen oftmals die zyklische Erzählweise. Einerseits werden die jeweiligen episodischen Fälle zwar transformiert: Der Verbrecher wird überführt, Kranke werden geheilt. Die Hauptfiguren des Ensembles dürfen sich auf der Ebene des persönlichen Konflikts jedoch nicht endgültig transformieren. Der Grund liegt auf der Hand: Columbo, der Kommissar der gleichnamigen Serie, soll zu Beginn jeder Folge aufs Neue scharfsinnig und gewieft ermitteln, Sheldon Cooper soll in jeder Episode von Big Bang Theory die gleichen Eigenheiten und Empfindlichkeiten aufweisen, die die Handlung erst ermöglichen, Dr. Heilmann soll in jeder Folge von In aller Freundschaft kompetent und empathisch die Patienten behandeln und Asterix und seine Freunde aus dem gallischen Dorf sollen am Ende jedes Abenteuers am Feuer beisammensitzen und Wildschweine verspeisen. Das setzt aber voraus, dass die Figuren sich nicht entscheidend verändern bzw. transformieren. Sheldon darf nicht aus seinen Fehlern lernen, Columbo darf den Kampf gegen das Verbrechen nie aufgeben und Asterix und die Gallier müssen immer wieder in ihr Dorf zurückkehren. Die zyklische Transformation macht das episodische serielle Erzählen erst möglich und erlaubt potenziell unendliches Erzählen. Neuere serielle Formate wie Breaking Bad oder Love dagegen folgen einer klassischen Transformation und erlauben eine Entwicklung ihrer Protagonisten – in der Terminologie McKees im Sinne eines negativen Endes in Breaking Bad und

Transformationen in interaktiven Erzählungen

eines positiven Endes in Love. Damit verbunden ist allerdings auch eine Geschlossenheit der Serie, sie ist endlich und beendet, wenn die Transformation der Protagonisten abgeschlossen ist.

Transformationen in interaktiven Erzählungen Die endgültige Transformation der narrativen Basisoppositionen führt nicht nur zu einer Geschlossenheit der Erzählung. Wie McKee darstellt, repräsentiert die Art und Weise der Transformation der narrativen Basisoppositionen auch gleichzeitig den erzählerischen Kern, in dem sie die „beherrschende Idee“ ausdrückt. Hier stößt nun das Prinzip der Interaktion an seine Grenzen, denn überlässt man den Rezipierenden die Entscheidung, ob eine Geschichte tragisch oder glücklich endet, verändert man die Grundaussage der Erzählung. So wird in vielen Erzählungen schon am Anfang angedeutet, in welcher Form die Basisoppositionen gewendet und transformiert werden. In der griechischen Tragödie ist das ebenso eine Genrekonvention wie im Film Noir. Auch bei großen Werken der Weltliteratur ist dies oft genug der Fall. Wenn Anna Karenina und Wronskij sich das erste Mal auf dem Moskauer Bahnhof treffen und sich dort gleichzeitig ein tödliches Unglück ereignet, ahnen wir schon, dass auch ihre Liebesgeschichte nicht gut enden wird. Wenn Anna Karenina eine interaktive Erzählung wäre, müsste man konsequenterweise den Rezipierenden die Entscheidung überlassen, ob Anna sich zum Ende der Erzählung vor den Zug wirft oder ob sie mit Wronskij eine Familie gründet und glücklich bis ans Ende ihrer Tage lebt. So ein idyllisierendes Ende würde aber wohl zu Recht als erzählerisch unbefriedigend wahrgenommen werden. Trotzdem gibt es durchaus interaktive Erzählungen, die den Spielenden diese Wahl lassen. Bei dem Computergame Heavy

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Rain sind nicht nur etliche Spielverläufe, sondern ebenfalls mehrere Enden der Erzählung möglich. Je nachdem, welchen Avatar die Rezipierenden wählen, müssen entweder Ethan Mars, Norman Jayden oder Madison Paige Ethans Sohn Shaun finden, der von dem sogenannten Origami-Killer entführt worden ist. Abhängig von den Entscheidungen der Spielenden kann Shaun gefunden werden, Ethan und Madison beginnen eine Beziehung. Oder Ethan wird am Ende fälschlicherweise als der Origami-Killer verhaftet und erhängt sich in seiner Zelle – zwei vollkommen gegensätzliche Varianten einer erzählerischen Transformation. Entsprechend versuchen die meisten Rezipierenden, das Game so oft zu spielen, bis sie das Happy End freischalten. Die Herausforderung, Interaktivität zuzulassen, aber gleichzeitig eine erzählerische konsistente Transformation zu erzeugen, können interaktive Erzählungen aber trotzdem meistern. Spec Ops: The Line gilt als künstlerisch und erzählerisch herausragendes Spiel aus dem Shooter-Genre, das in der Tradition von Filmen wie Apocalypse Now das Grauen und die Brutalität des Krieges thematisiert und entsprechend als „Anti-Kriegs-Shooter“ bezeichnet wird. Aber es bleibt ein Spiel, in dem man mit Waffengewalt feindliche Soldaten und sogar Zivilisten töten muss. Entsprechend der beherrschenden Idee des Games kann der Einsatz von Gewalt aber nicht belohnt werden. Nachdem der oder die Spielende bzw. der Avatar John Walker im Showdown noch einmal mit seinen im Laufe des Spiels begangenen Gräueltaten konfrontiert worden ist, hat er die Wahl zwischen vier verschiedenen Endoptionen. Er kann Selbstmord begehen, indem er sich metaphorisch von seinem Alter Ego John Konrad erschießen lässt. Alternativ kann er den nur in seiner Einbildung existierenden Konrad erschießen und wird anschließend von einem Rettungstrupp abgeholt. In dieser Situation bieten sich drei weitere Endversionen an. Walker kann das Feuer auf den Rettungstrupp eröffnen und wird seinerseits erschossen. Oder er

Transformationen in interaktiven Erzählungen

überwältigt den Rettungstrupp, woraufhin er, offensichtlich dem Wahnsinn verfallen, mit seiner Waffe in die Wüste geht. Zuletzt kann Walker auch die Waffen niederlegen und sich, traumatisiert und gebrochen, nach Hause bringen lassen. Das heißt, es sind interaktive Eingriffe und Entscheidungen möglich, aber in allen Fällen wird, im Einklang mit den narrativen Basisoppositionen, ein tragisches Ende erzählt. Eine andere Möglichkeit, erzählerische Logik und Interaktivität zu kombinieren ist die Bewertung der Entscheidungen der Rezipierenden. Während in Spec Ops: The Line viele Handlungen, vor allem die moralisch fragwürdigen, durch Cut Scenes vordefiniert sind, verfährt Dishonored anders: Hier verändert sich das Inselreich mit seiner Hauptstadt Dunwall, in der die Erzählung angesiedelt ist, in Abhängigkeit von Entscheidungen der Spielenden. Zeigen sie Mitleid mit den Gegnern und retten sie die Thronfolgerin Emily, bricht in Dunwall eine Periode des Friedens und des Glücks an. Werden bei der Rettung von Emily dagegen viele Gegner getötet, wird sie zwar Königin, aber das Reich, das sie regiert, ist zerrüttet; es herrscht Korruption, und niemand wird der Rattenplage Herr. Stirbt Emily zudem, versinkt das Reich endgültig im Chaos. Eine ähnliche Mechanik weist das Game Bioshock auf, bei dem die sogenannten Little Sisters eine Rolle spielen. Little Sisters sind kleine Kinder, die genetisch manipuliert worden sind und so zur Produktion einer Droge befähigt werden. Je nachdem, ob man ihnen im Spiel mit Empathie begegnet oder sie ausbeutet, um selbst Vorteile zu erlangen, verändert sich der Ausgang der Erzählung. Die erzählerische Konsistenz wird in diesen Beispielen dadurch gewahrt, dass die moralischen Entscheidungen der Rezipierenden konkrete Auswirkungen auf die Transformationen der Geschichte haben. Nicht nur die Spielwelt, auch der Avatar kann sich aufgrund solcher Entscheidungen transformieren. So ist eine zentrale Fragestellung der Erzählung Star Wars: Knights of the Old Republic,

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kurz Kotor, ob sich der von den Rezipierenden gesteuerte Avatar Lord Revan den Jedi-Rittern anschließt oder ein Sith-Lord wird, also ein Gefolgsmann der hellen oder der dunklen Seite der Macht. Dabei muss im Laufe des Spiels immer wieder unter angebotenen Dialog- und Handlungsoptionen ausgewählt werden. Je nachdem, ob sich die Rezipierenden aggressiv oder uneigennützig verhalten, entwickelt sich der Avatar zur einen oder anderen Seite. Eine andere Strategie einer Charaktertransformation findet sich in Tomb Raider von 2013. Als Prequel zu den bereits erschienenen Teilen der Reihe wird hier die Geschichte der jungen Archäologiestudentin Lara Croft erzählt, die zu ihrer ersten abenteuerlichen Expedition aufbricht. Ihr Schiff strandet nach einem fürchterlichen Unwetter auf einer geheimnisvollen Insel und Lara ist auf sich selbst gestellt. Zu Beginn des Spiels flieht sie nur vor Feinden, statt sie zu bekämpfen. Als sie mit Hilfe von Pfeil und Bogen einen Hirsch erlegt, um sich zu ernähren, entschuldigt sie sich bei dem Tier. Dabei sucht sie die ganze Zeit Rat bei ihrem Mentor Kapitän Roth, erinnert sich an seine Ratschläge und bricht sogar in Tränen aus, als es ihr endlich gelingt, ihn über Funk zu erreichen. Sichtlich verängstigt bittet sie ihn, ihr endlich zu helfen. Nachdem Lara aber in Notwehr ihren ersten menschlichen Gegner getötet hat, wird sie zu einer immer unbarmherzigeren Kämpferin, die ihren eigenen Weg geht und ihre Gefährten schließlich retten kann. Aus der unerfahrenen, ängstlichen jungen Studentin ist die wehrhafte Kämpferin geworden, die die Rezipierenden aus den bereits erschienenen Teilen kennen. Indem das Game Laras Vorgeschichte aufgreift, wird es möglich, eine psychologisch komplexe Transformation zu erzählen, die zwar stark direktiv und nicht interaktiv ist, denn die Rezipierenden haben im Falle dieser Transformation keine Eingriffs- oder Entscheidungsmöglichkeit. Trotzdem kann man annehmen, dass dies von den Rezipierenden nicht als einschränkend wahrgenom-

Transformationen in interaktiven Erzählungen

men wird, denn es ist davon auszugehen, dass sie den Charakter von Lara Croft, wie er über die vorangegangenen Spiele etabliert wurde, kennen und akzeptieren. Jede andere Entwicklung würde als erzählerischer Bruch wahrgenommen werden. Doch diese Technik der Transformation birgt auch Nachteile: im Sinne eines befriedigenden Gameplays muss die Transformation von Lara Croft relativ schnell vonstattengehen – eine Heldin, die nur flieht und weint, ist als Protagonistin eines Action-Games unbefriedigend. So dauert es nicht einmal eine halbe Stunde Spielzeit, bis Lara den Umgang mit Pfeil und Bogen beherrscht und einen Hirsch erlegt, nach einer guten Stunde bringt sie ihren ersten Feind um. Hier stehen sich spielerische und erzählerische Interessen im Weg, denn im Grunde kann das Spiel erst beginnen, wenn die innere Transformation Laras abgeschlossen ist – was nach erzählerischer Logik erst am Ende der Geschichte der Fall sein dürfte. Allerdings wird das erzählerische und spielerische Ende ebenfalls durch eine abgeschlossene Transformation markiert, wenn Lara im Showdown die Sonnenkönigin Himiku vernichtet, die die Stürme heraufbeschworen hat, denen Laras Expedition zum Opfer gefallen ist. Die vorher gestörte Ordnung der Erzählwelt ist wiederhergestellt. Ist man sich als Storyteller der spezifischen Anforderungen bewusst, die eine interaktive Gestaltung an ein narratives Design stellt, ist also durchaus auch in Games und anderen interaktiven Formaten eine von den Rezipierenden als befriedigend erlebte erzählerische Transformation möglich.

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Zusammenfassung: Erzählungen beschreiben Veränderungen, oder, in der narratologischen Terminologie, Transformationen. Diese sind laut Todorov eine der Grundbedingungen für narrative Gestaltung. Eine Transformation ist definiert durch die Veränderung eines identischen Prädikats von einem Pol der narrativen Basisopposition zur anderen. Das identische Prädikat kann eine Figur, eine Beziehung oder eine Welt sein. Wird auf eine vollständige Transformation der narrativen Basisoppositionen verzichtet, spricht man von einem offenen Ende. Kehrt die Erzählung nach einer Reihe von Transformationen zu ihrem semantischen Ausgangspunkt zurück, spricht man von einer zyklischen Transformation. Die Transformation erzeugt dabei nicht nur den Eindruck der Geschlossenheit, sondern drückt auch den erzählerischen Kern im Sinne einer beherrschenden Idee aus. Transformationen wirken daher direktiv und schränken die mögliche Interaktivität von Erzählungen ein.

Transformationen in interaktiven Erzählungen

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Emotion – Progression der Gefühle

Geschichten sollen Gefühle auslösen – dies ist eine der wichtigsten Motivationen eines Storytellers. Vielleicht ist hier sogar das entscheidende Distinktionsmerkmal zu finden, wenn man fragt, was Erzählungen von anderen Textformen unterscheidet: Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Abhandlungen, instruktiven, beschreibenden oder juristischen Texten verknüpft die Erzählung die Informationsvergabe mit Gefühlen, sie lässt die Rezipierenden an einer emotionalen Reise teilhaben und ist gerade deshalb so nachhaltig. Zur Veranschaulichung dieses Unterschieds kann man die Textform des Polizeiberichtes betrachten. Dieser weist alle wichtigen Eigenschaften auf, die die Narratologie Erzählungen zuschreibt: handelnde Personen, Kausalität, einen Schauplatz, zudem die Basisopposition Gut vs. Böse bzw. Gesetz vs. Verbrechen. Wenn der Fall abgeschlossen und der Verbrecher seiner Strafe zugeführt worden ist, liegt eine transformatorische Geschlossenheit vor. Zudem ist mit einer Vielzahl von Beispielen belegbar, dass sich Geschehnisse rund um ein Verbrechen hervorragend narrativieren lassen, was sogar zu der eigenen Genrebezeichnung des Krimis geführt hat. Dennoch unterscheidet sich der Polizeibericht in einem entscheidenden Punkt von einer Erzählung: Er versucht die Ereignisse zu objektivieren und zu ent-emotionalisieren, um einen möglichst sachlich beschreibenden Bericht zu generieren, der eben keine Erzählung im engeren Sinne ist. Entsprechend wird die grundsätzliche affektive Kraft von Erzählungen schon seit der Antike reflektiert, nicht erst bei Aristoteles, sondern bereits bei Gorgias, einem Zeitgenossen von Sokrates. Dieser postuliert, dass Erzählungen „Jammer“ und „Schauder“, – im griechischen ἔλεος/eleos und φόβος/phobos

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– hervorrufen können. Aristoteles benutzt das gleiche Begriffspaar im Rahmen seiner Poetik, in der er die sogenannte Katharsis-Theorie formuliert, wobei Katharsis mit „Reinigung“ übersetzt werden kann: Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung […], die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt. (2012, S. 19)

Durch die Rezeption einer Erzählung, bzw. im Falle von Aristoteles einer Tragödie, sollen also die entsprechenden Gefühlszustände hervorgerufen werden, wodurch die Rezipierenden beim Durchleben eben dieser Zustände gleichzeitig von ihnen gereinigt werden – das Drama als emotionales Reinigungsbad. Das Katharsis-Konzept war in der Erzähltheorie lange Zeit sehr wirkungsmächtig, wurde im französischen Sprachraum von Corneille aufgegriffen, in Deutschland von Lessing, der es in seiner Hamburger Dramaturgie beschrieb. Durch ihn wurde auch die im deutschen bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhundert gebräuchliche, aber falsche Übersetzung der Begriffe eleos und phobos als „Mitleid“ und „Furcht“ etabliert. Auch Goethe adaptierte die Katharsis-Theorie, wobei er die Reinigung bei den narrativen Figuren verortete und nicht beim Zuschauer. Brecht hingegen kritisierte das Katharsis-Konzept und fordert in seinem Konzept des epischen Theaters einen distanzierten Blick des Zuschauers, weg von der Illusion einer Scheinrealität, an der die Rezipierenden empathisch und emotional teilhaben, hin zu einem kritischen, aufklärerischen Impetus der Erzählung, die die Rezipierenden dazu bringen soll, die gesellschaftliche Realität zum Besseren zu verändern. Auch von der Psychologie, namentlich Freud, wurde das Katharsis-Konzept aufgegriffen. Aber auch von dieser Disziplin wird das Konzept in neuerer Zeit kritisch gesehen – entsprechende Forschungen zeigen, dass die

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Darstellung und das Miterleben von Leid oder Aggression die entsprechenden eigenen Emotionen eher verstärkt als mindert. Ohnehin ist einsichtig, dass die Fokussierung auf die beiden von Aristoteles beschriebenen Emotionen zu eng wäre. Ob beispielsweise eine Komödie die entsprechenden Gefühle auslöst, darf bezweifelt werden. Es handelt sich hier um Emotionen, die spezifisch von Dramen bzw. Tragödien ausgelöst werden. Andere Genres erzeugen andere Emotionen. Dabei sind die zentralen Gefühle, die von bestimmten Genres bei den Rezipierenden ausgelöst werden sollen, derart bedeutsam, dass aus ihnen eigene Genre-Bezeichnungen entstanden sind.

Emotionen als Genres Wer ins Kino geht, eine Serie anschaut, eine Theateraufführung besucht oder einen Roman liest, möchte unterhalten und berührt werden. Das war schon in der Antike so. Die beiden klassischen Theatermasken des antiken Griechenland, eine lachende und eine weinende Maske, zeigten ikonisch welche Emotionen beim Publikum ausgelöst werden sollten. Heutzutage sind die Emotionsangebote durch Genres reichhaltiger. Wenn das Publikum Angst oder Beklemmung verspüren will, kann es sich einen Horror-Film oder einen Thriller ansehen. Will es sexuell erregt werden, bieten sich im Internet diverse Erotik- und Porno-Kanäle. Soll die Stimmung positiv beeinflusst werden, gibt es eine Vielzahl von Feelgood-Movies. Und will man mit den Figuren einer Erzählung über eine totalitäre Bedrohung oder die dunkle Seite der Macht triumphieren, genießt man einen Action-Film, liest ein Superhelden-Comic oder kämpft in Form seines Avatars in einem Game mit den Mächten des Bösen.

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Die Mehrzahl dieser Genres befriedigen Gefühle, auf denen sich ein Spannungsbogen aufbauen lässt. Damit ist gemeint, dass sie in ihrer Exposition beim Zuschauer ein emotionales Bedürfnis entstehen lassen, das durch eine erzählerische Transformation am Ende befriedigt wird. Man könnte diese Bewegung auch so beschreiben, dass hier emotional konnotierte narrative Basisoppositionen transformiert werden. Zudem entsteht durch diese beiden emotionalen Pole erst so etwas wie eine erzählerische Progression. In keinem Horror-Film wird nur Angst erzeugt, diese kontrastiert auch immer mit einer Phase der Entspannung und vermeintlichen Sicherheit. Harmonie und Wohlgefühl können erzählerisch nur erzeugt werden, wenn vorher ein Streit oder ein Konflikt gezeigt wird, der die Harmonie bedroht. Folgende Genres, die sich vor allem über ihre Gefühlserwartung definieren, kann man mit den dazugehörigen emotionalen Polen beschreiben. ▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶

Thriller/Horror – Angst und Erleichterung Melodram/Tragödie – Leid und Erlösung Feelgood – Streit und Harmonie Action/Heldenfilm – Wagnis und Triumph Erotik/Pornographie – Verlangen und Befriedigung Komödie – Lachen

Nur die Komödie hat keine Pole von Bedürfnis und Befriedigung, die die Erzählung strukturieren, es gibt keine Dramaturgie des Lachens. Hier wird die Transformation über den universellen Konflikt des Protagonisten entwickelt. Warum sind es gerade diese Emotionen, die eigene Genres konstituieren? Diese Frage ist objektiv kaum zu beantworten, die Darstellung dieser Genres ist in erster Linie ein empirischer Befund. Ohnehin ist der Genre-Begriff kein trennscharfer. Genres entstehen dann, wenn es genug Erzählungen mit vergleichbaren Eigenschaften gibt – sei es nun das gleiche Setting wie beim Wes-

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tern, der gleiche Grundkonflikt wie bei einer Liebesgeschichte oder die gleiche emotionale Grundstimmung wie beim Feelgood-Movie. Als erster Western der Filmgeschichte gilt Der große Eisenbahnraub. Im Erscheinungsjahr 1903 wurde er allerdings noch als Kriminalfilm bezeichnet. Erst als es genug andere Filme dieses Typus gab, entstand der Genrebegriff „Western“. Analog ist der Begriff des Feelgood-Movies noch ein recht junger. Über Jahrhunderte dominierten gerade in den mimetischen Künsten melodramatische oder tragische Stoffe, sei es das antike Drama, die Shakespeare-Dramen, das bürgerliche Trauerspiel oder das melodramatische Hollywood-Kino. Im zeitgenössischen Hollywood-Film gilt ein tragisches Ende dagegen als Kassengift und ist in den Arthouse-Bereich verbannt. Heutzutage, so nehmen die meisten Produzenten an, will das Publikum im Kino, vor dem Fernseher oder dem Computermonitor in der Mehrzahl nicht weinen, sondern lachen oder triumphieren. Storyteller, die ihr Publikum über eine Gefühlserwartung ansprechen wollen, sollten sich dieser Präferenzen, die sich über bestimmte Genres ausdrücken, bewusst sein. Die Art und Weise, wie diese Emotionen bei Zuschauern erzeugt werden, differieren im Detail noch einmal. Die Filmwissenschaftlerin Linda Williams identifiziert sogenannte „Body Genres“, die in visuellen Erzählmedien kohärente Emotionen erzeugen. Konkret sind dies die Genres “Pornography, Horror and Melodrama”. Kennzeichnend für diese Genres ist die Tatsache, dass die von den narrativen Figuren empfundenen Emotionen analog denen der Rezipierenden sind – wir sehen lustvolle, traurige oder verängstigte Gesichter und Körper und empfinden in empathischer Spiegelung ähnliche Emotionen. Mit Einschränkungen gilt dies auch für andere Genres. Die triumphierende Pose eines Superhelden kann ebenso zu einer empathischen Spiegelung führen wie die strahlenden Mienen eines verliebten Paares in einem Feelgood-Movie. Grundsätzlich aber kann Emotion

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auch über Kontext und das Erkennen bestimmter Zusammenhänge erzeugt werden. So kann ein Feelgood-Movie auch damit enden, dass das Brautpaar in einer idyllischen Hochzeitsszene weiße Tauben in die Freiheit entlässt. Das Bild der Vögel, die in den Himmel fliegen, ist eine im westlichen Kulturkreis weithin bekannte Metapher, die stimmungshebend wirkt. Oder in semiotischer Terminologie formuliert: Bestimmte Zeichen oder Zeichenketten können Emotionen auslösen, wenn sie von den Rezipierenden decodiert werden können. Angehörige anderer Kulturkreise könnten sich bei der idyllischen Hochzeitsszene beispielsweise fragen, warum man Nutztiere oder Jagdbeute in die Freiheit entlässt. Insofern sind die kulturellen Prägungen und Vorkenntnisse der Rezipierenden auch immer ein entscheidender Faktor bei der narrativen Gestaltung. Im Folgenden soll nun anhand von konkreten Beispielen gezeigt werden, wie bestimmte Basis-Emotionen medienübergreifend erzählerische Genres bilden. Horror und Thriller: Angst und Erleichterung Angst, Beklemmung und Anspannung sind Gefühle, die Menschen in der Realität meist versuchen zu vermeiden. Die fiktionale Darstellung und das damit verbundene Durchleben dieser Gefühle werden von den Rezipierenden aber offenbar als Genuss erlebt. Es gibt unterschiedliche Bezeichnungen für die erzählerische Verarbeitung dieses Gefühls: Thriller, Horror, der Schauerroman oder die Gothic Novel. Dabei wird im Thriller das Gefühl der Angst durch eine ausweglose Situation erzeugt, die aber meist rational nachvollziehbare Ursachen hat; die Gegenspieler sind Verbrecher oder Psychopathen. Oft erzeugt das Gefühl der Bedrohung im Thriller eine Handlungskette von Flucht und Verfolgung. In der Horrorerzählung dagegen sind es meist übernatürliche Kräfte wie Geister, Monster oder auch Außerirdische

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mit übernatürlichen Kräften, die den Protagonisten bedrohen. Im Thriller wird das Gefühl der Angst im Gefühlsbogen nach gelungener Flucht meist durch ein Gefühl der Erleichterung aufgelöst, während im Horror oft angedeutet wird, dass die übernatürlichen Kräfte die Oberhand behalten werden. In den frühen literarischen Formen des Genres sind die angsterzeugenden Effekte weniger unmittelbar, stattdessen dominiert oft ein Gefühl des Unbehagens und der nichtbestimmbaren Bedrohung. Man kann annehmen, dass im literarischen Horror durch die verbale Vermittlung die Darstellungsmöglichkeit des unmittelbaren Schocks im Sinne der „Body Genres“ fehlt, der in audiovisuellen Medien besonders effektvoll inszeniert werden kann. Es gibt allerdings auch Filme, die die Emotion eher über ein Gefühl des Unbehagens statt über einen Schockeffekt erzeugen, z. B. Rosemaries Baby von Roman Polanski, ein Klassiker des Genres. Weitere Beispiele für das Genre sind die Geschichten von Dracula und Frankenstein, die in verschiedenen Medien erzählt worden sind. Als filmische Beispiele für einen Thriller sind etwa Das Schweigen der Lämmer oder Psycho zu nennen. Im Comic gelten Swamp Thing oder From Hell als besonders gelungene Beispiele für Horror-Erzählungen. Games, die die Gefühlserwartung der Angst befriedigen, sind z. B. Doom oder The Walking Dead. Tragödie und Melodram: Leid und Erlösung Die Distinktion zwischen den beiden Genres ist nicht trennscharf: Die Theaterdramaturgie unterscheidet nach Setting und Protagonisten. Während die Tragödie eher in Adelskreisen spielt und einen männlichen Helden hat, treten in Melodramen eher weibliche Heldinnen aus der bürgerlichen Schicht auf. Beiden gemeinsam ist aber, dass sie Trauer erzeugen sollen, ebenfalls ein auf den ersten Blick paradoxer Befund, da auch dieses Gefühl im wahren Leben negativ konnotiert ist. Löst eine filmische Tragö-

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die oder ein Melodram im Theater Tränen bei den Rezipierenden aus, gilt dies aber sogar als Beleg für die besondere Qualität der Erzählung. Der Tod oder der Untergang des Protagonisten ist dabei nicht zwangsläufig negativ, sondern belegt meist eine höhere Wahrheit oder ein moralisches Prinzip. So opfern die Heldinnen des bürgerlichen Trauerspiels lieber ihr Leben als ihre Ehre, beweisen damit die moralische Überlegenheit des Bürgertums gegenüber dem Adel und konstituieren im 19. Jahrhundert so ein neues Selbstbewusstsein der bürgerlichen Schicht. Ebenso opferten sich die Helden der griechischen Tragödie für die Polis oder für eine höhere, göttliche Gerechtigkeit. Die Haltung der Figuren, die dem Tod oder dem Untergang geweiht sind, ihre würdevolle Haltung, die sie stellvertretend für das Publikum einnehmen, ist von großer Bedeutung. Eine nach Mitleid heischende Figur kann nicht der Held einer Tragödie oder die Protagonistin eines Melodrams sein. Dagegen kann eine Figur in einem Melodram durchaus unmoralische Motive haben, solange sie am Ende Einsicht zeigt. Handelt der Protagonist aus Rache oder Gier, wirkt sein Tod wie eine gerechte Strafe. Handelt die Protagonistin aus Liebe, oder weil sie ihre Würde bewahren will, wirkt ihr Opfergang wie eine gerechte Anklage. In diesem Sinne kann man Anna Karenina oder Mildred Pierce als literarische Beispiele zu diesem Genre rechnen, obwohl Tragödie und Melodram vor allem in Theater und Film zu großer Bedeutung gelangt sind, sei es mit Dramen wie König Ödipus und Emilia Galotti oder mit Filmen wie Imitation of Life oder Umberto D. Im Comic haben dieses Genre und die dazugehörige Gefühlserwartung weniger Bedeutung. Ausnahme ist der japanische Kulturraum, mit Mangas wie Barfuß durch Hiroshima und Animes wie Die letzten Glühwürmchen. Im Bereich des Game gibt es, sieht man von Ausnahmen wie etwa Spec Ops: The Line ab, ebenfalls wenige Beispiele für das Genre der Tragödie oder des Melodrams. Ohnehin scheint das

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Genre spätestens seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts an Bedeutung zu verlieren. Feelgood: Streit und Harmonie Gleichzeitig gewinnt das Feelgood-Genre an Bedeutung. Tatsächlich ist der Begriff noch relativ neu und wird erst in den siebziger Jahren geprägt. Es scheint bei den Rezipierenden offenbar ein immer stärkeres Bedürfnis nach versöhnlichen, positiven oder auch idyllisierenden Erzählungen mit Happy End und optimistischer Grundaussage zu geben – in denen, um eine Transformation im narrativen Sinne zu erlauben, im Laufe der Exposition eine disharmonische Situation und ein entsprechender Konflikt etabliert werden müssen. Zum Ende sind die Gegenspieler besiegt oder überzeugt, die Liebenden haben sich gefunden. Normalerweise heißt auch die Gemeinschaft in Form der Familie oder der Gesellschaft die Liebenden in ihrer Mitte willkommen. Denn die Harmonie soll auf allen Konfliktebenen realisiert werden, auf der inneren, der persönlichen und der äußeren. Entsprechende Erzählungen, die die Zuschauer erheben sollen, ohne sie zwangsläufig – wie in der Komödie – zum Lachen zu bringen, gibt es schon lange, auch wenn die eigene Genrebezeichnung erst in jüngster Zeit geprägt wurde. So dominiert eine positive Gefühlserwartung eine Vielzahl von erzählerischen Genres, die vordergründig über ihr Setting bzw. ihren universellen Konflikt definiert werden, wie den Heimatfilm, den Arztroman, die Romance Comics oder die Familienserie. Literarisch kann man Autorinnen wie Hedwig Courths-Mahler und Rosamunde Pilcher diesem Genre zuordnen. Ein erfolgreiches zeitgenössisches Subgenre, welches Komödie und Feelgood-Genre verschmilzt ist die Romantic Comedy mit Filmen wie Notting Hill, French Kiss oder der Bridget Jones-Reihe. Relativ selten ist das Feelgood-Genre in interaktiven Erzählungen und Games realisiert. Ausnahmen

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finden sich in Casual-Games oder Spielen für Kinder, die ein möglichst gewaltfreies Setting anbieten. Die Heldenerzählung: Wagnis und Triumph Kann man bei einer Heldengeschichte wirklich von einer Gefühlserwartung sprechen? In jedem Fall gibt es eine emotionale Konstante bei allen Heldenerzählungen: Der Held muss seine Risikobereitschaft bzw. seinen Mut zeigen und eine Herausforderung annehmen. Je größer das Risiko ist, je unbezwingbarer der Antagonist erscheint, desto größer ist das Triumphgefühl am Ende, wenn Held oder Heldin den Kampf gewinnen und Wagemut mit dem Sieg belohnt wird. Gerade in Games ist das Triumphgefühl, das von den Rezipierenden in der Rolle des Avatars erlebt wird, ein primäres Ziel auf der emotionalen Ebene, das sowohl erzählerisch als auch spielerisch vermittelt wird. Die Heldenerzählung ist somit das dominierende emotionale Genre im Game, in MMORPGs wie World of Warcraft oder Fortnite: Battle Royal, in Action-Adventures wie Tomb Raider oder Shootern wie Duke Nukem. Auch in Filmen ist die Heldenerzählung ein wichtiges Genre, wie die Beispiele Predator, Conan der Barbar oder Catwoman und die Vielzahl von erfolgreichen Superhelden-Verfilmungen zeigen. Im Comic-Bereich wird das Superheldengenre mit Titeln wie Supergirl, Batman oder Spiderman vollständig von der Heldenerzählung dominiert. Literarisch finden sich Heldengeschichten in Mythen und Sagen aller Kulturen, so in den Geschichten des griechischen Herakles, des irischen Cuchulain oder des japanischen Yamato Takeru. Moderne Varianten sind zum Beispiel die Hard-Boiled-Krimis von Raymond Chandler oder die Jack Reacher-Reihe von Lee Child. Die Heldenerzählung ist auch der Kern vieler Business- und Coachingerzählungen, bei denen der risikobereite Unternehmer mit einem geschäftlichen Triumph belohnt wird, so zum Beispiel in den Geschichten,

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die sich um Apple-Gründer Steve Jobs ranken und in denen er als unbeirrbarer Visionär und Unternehmerpionier dargestellt wird. Bill Gates, der geschäftlich ebenso erfolgreich war, wurde dagegen lange nicht als Held, sondern als kalter Geschäftsmann geschildert, der ungerührt seinen Marktvorteil ausnutzt. Ein Narrativ, dem er mit der Gründung der Bill-Gates-Foundation erfolgreich entgegengetreten ist. Erotik und Pornographie: Verlangen und Befriedigung Ob sexuelles Verlangen eine Emotion oder ein biologischer Trieb ist, ist strittig. In jedem Fall beeinflusst es unseren emotionalen Haushalt in starkem Maße und taucht in allen Kulturen als wichtiges Thema von Erzählungen auf. Es umfasst sowohl sublime Erotik als auch explizite Pornographie, wobei in erotischen Erzählungen, wie z. B. Lady Chatterleys Liebhaber, noch ein Gefühlsbogen von Verlangen und Befriedigung aufgebaut wird, während in der Pornografie, hier vor allem in audiovisuellen Medien, nur lusterzeugende Bilder produziert werden. Die Gefühlserwartung ist im pornografischen Film so dominant, dass auf einen universellen Konflikt und damit auf eine Handlung weitgehend verzichtet werden kann. Anders ist das im erotischen Film. Beispiele für den erotischen Film sind ½ Wochen und für den erotischen Roman Salz auf unserer Haut. In jüngster Zeit ist eine narrative Enttabuisierung sadomasochistischer Praktiken zu beobachten, was sich im Erfolg von Erzählungen wie Fifty Shades of Grey sowohl als Roman wie als Film zeigt. In Games wird die Gefühlserwartung des sexuellen Verlangens vor allem im japanischen Eroge-Genre bedient, mit Titeln wie To Heart oder Kanon. Komödie: Lachen Mit Recht ist zu fragen, ob Lachen überhaupt ein Gefühl ist oder nicht nur eine Gefühlsäußerung, die zudem unterschied-

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lich emotional konnotiert sein kann: als erleichtertes Lachen, als triumphierendes Lachen, als verächtliches Lachen usw. Gleichzeitig aber sind im erzählerischen Kontext – und hier vor allem in der Theater-Tradition – die Komödie und die Tragödie immer mit den gegensätzlich aufgefassten Gefühlen der Freude und der Trauer verknüpft worden. Insofern kann eine Beschreibung der emotionalen Angebote und Erwartungen des Erzählens auf das Genre der Komödie nicht verzichten, die seit der Antike mit den Werken von Kratinos oder Aristophanes präsent ist. Trotzdem unterscheidet sich die Komödie von den übrigen Genres, die durch eine Gefühlserwartung beschrieben werden. Es ist hier keine emotionale Transformation zu beschreiben und kein Gefühlsbogen zu erzählen. Die Komik, die den Zuschauer zum Lachen bringt, kann in jeder Situation und jeder Szene erzeugt werden und wird oft mit einem universellen Konflikt oder sogar anderen Gefühlserwartungen verknüpft. Es gibt Actionkomödien wie Hot Shots, Liebeskomödien wie Harry und Sally, Krimikomödien wie Der letzte Bulle, Horrorkomödien wie Ghostbusters und Tragikomödien wie Grand Budapest Hotel. Im Fernsehen werden Erzählungen, die Komödie und Melodram verknüpfen, als Dramedys bezeichnet, so etwa in der Serie Ally McBeal. Im Comic kann man die entsprechende Gefühlserwartung sogar etymologisch in der Bezeichnung des Mediums nachweisen. Auch im Bereich des Games sind komödiantische Elemente wichtige Gestaltungselemente, so etwa bei Adventures wie Day of the Tentacle oder Monkey Island, aber auch in Action-Shootern wie Borderlands oder der Fantasy-Parodie Overlord. Die Darstellung der emotionsbasierten Genres und ihrer emotionalen Pole und Transformationen soll nicht zu formelhaftem Erzählen verleiten. Ebenso wenig geht es darum, Genres zu definieren und anschließend bestimmte Werke korrekt zuzuordnen. Genrebegriffe sind traditionell nicht trennscharf und es wäre müßig, darüber zu diskutieren, ob Pretty Woman eher dem

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Feelgood-Genre oder der Komödie zuzurechnen ist. In erster Linie soll hier gezeigt werden, dass es bestimmte dominierende Emotionen gibt, die von erzählerischen Texten ausgelöst werden – bis hin zu einem Punkt, wo aus einer Vielzahl von Erzählungen mit vergleichbarer Gefühlserwartung ein Genrebegriff entsteht. Dieser kann eine jahrtausendealte Tradition haben, wie im Fall der Komödie oder Tragödie, oder sich als noch junger Begriff etablieren, wie im Falle des Feelgood-Genres. Die Entstehung dieser Genrebegriffe zeigt, dass das Publikum bestimmte Gefühlserwartungen bei der Rezeption von Erzählungen hat, auf die die Storyteller rekurrieren. Diese Übereinkunft zwischen Storyteller und Publikum ist ein zentrales Element des Erzählens  – ein ungeschriebener Vertrag, der nicht leichtfertig aufgekündigt werden kann, da gerade ein Bruch der emotionalen Tonalität besonders irritierend auf das Publikum wirkt.

Emotionale Progression als Strukturprinzip von Erzählungen In den vorangegangenen Kapiteln stand die Frage im Vordergrund, welche Emotionen beim Publikum entstehen, wenn es Erzählungen rezipiert. Diese müssen nicht deckungsgleich mit den dargestellten Emotionen der narrativen Figuren sein, auch wenn das bei den „Body Genres“ der Fall sein mag. Aber den handelnden Figuren in Komödien ist meist nicht besonders komisch zumute – auch wenn das Publikum noch so lachen mag. Wenn Kitty in Anna Karenina voller Hoffnung und Vorfreude auf den großen Ball geht, weil sie dort Wronskij treffen will, in den sie verliebt ist, wissen die Rezipierenden schon, dass sich zwischen Wronskij und Anna Karenina eine Anziehung entwickelt hat. Während Kitty also Hoffnung verspürt, spüren die

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Leserinnen und Leser eher Mitleid, weil sie Kittys Enttäuschung antizipieren können. Die dargestellten Emotionen der narrativen Figuren sind aber nicht nur in Hinblick auf die evozierten Emotionen des Publikums von Interesse. Die Emotionen der Figuren spielen zudem eine wichtige Rolle im Aufbau und der Strukturierung von Erzählungen. Systematisch untersucht hat dies der Erzählwissenschaftler Patrick Colm Hogan. Einerseits definiert er ebenfalls erzählerische Genres über die emotionalen Ziele der Protagonisten. Andererseits untersucht er, wie die Emotionen der narrativen Figuren textimmanent die Struktur einer Erzählung bestimmen. Emotionen sind für Hogan dabei die eigentlichen Handlungsauslöser in Erzählungen, die eng mit der Zielorientiertheit der Figuren verbunden sind. Hogan geht davon aus, dass jede Figur im Laufe der Erzählung ein sogenanntes „Happiness Goal“ verfolgt. Mit anderen Worten: Narrative Figuren versuchen, für sich oder ihr Umfeld eine emotional befriedigende Situation herzustellen. Der handlungsauslösende Konflikt entsteht, weil die Figur in ein emotionales Ungleichgewicht gerät und dieses zum Positiven auflösen will. Hogan untersucht dabei Erzählungen aus allen Epochen und aus aller Welt und definiert auf dieser Grundlage drei transhistorisch und transkulturell dominierende Erzählgenres bzw. in seiner Diktion: „Universal Narrative Prototypes: Sacrifice, Heroism, and Romantic Love“. In diesen drei Erzählmustern des Opfer-, Helden- bzw. Liebesplots sieht Hogan prototypische „Happiness-Goals“ realisiert, die als Motor der Handlung wiederum bestimmte narrative Strukturen generieren. Zu unterscheiden ist diese Kategorisierung von den klassischen emotional determinierten Erzählgenres dadurch, dass es hier nicht um die Emotionen der Rezipierenden, sondern um die Emotionen der narrativen Figuren innerhalb der Erzählung geht. Die drei zentralen Lebens- und Erzähl-Situationen, in denen Glück verwirklicht werden kann, beschreibt Hogan auf der per-

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sönlichen, der sozialen und der physischen Ebene. Auf der persönlichen Ebene sollen sexuelles Verlangen gestillt und Bindung erreicht werden, was im romantischen Plot erzählt wird, wie z. B. in Romeo und Julia. Auf der sozialen Ebene geht es laut Hogan um Dominanz innerhalb der Gruppe oder über eine außenstehende Gruppe, was erzählerisches Thema des heroischen Plots ist. Dieses Muster ist vergleichbar mit der Handlungsstruktur des mythologischen Plots oder der Heldenerzählung, realisiert in vielen Märchen und Sagen wie den Nibelungen. Weniger offensichtlich ist die Wurzel des Opfer-Plots, der das Streben nach physischem Glück erzählt. Zwar ist auf der physischen Ebene das Stillen von Hunger und Durst ein nachvollziehbares und prototypisches Glücksziel, der narrative Weg zur Erlangung dieses Ziels liegt aber nicht unbedingt auf der Hand. Hogan postuliert, dass es in erster Linie Hungersnöte oder Dürren sind, die diesem Glücksziel im Wege stehen. In diesen Fällen sind die Handlungsoptionen sowohl im Leben als auch in Erzählungen beschränkt. Denn wie bekämpft man zum Beispiel einen Hagelsturm, der die Ernte vernichtet und der als gottgegeben oder als Akt eines erbarmungslosen Schicksals wahrgenommen wird? Die Antwort der meisten Kulturen auf diese Frage war, dass solche Ereignisse Folgen von Gottes Zorn sind, der durch eine Sünde bzw. einen Sünder erregt wurde. Um Gott zu versöhnen, muss der Sünder oder die Sünderin nun handeln und büßen, entweder aus Eigeninitiative oder auf Druck der Gemeinschaft. Auf welche Weise das geschieht, wird im Opfer-Plot erzählt. Beispiele für diesen Plot sind die Erzählungen vom Fall eines Auserwählten wie in Prometheus oder Adam und Evas Vertreibung aus dem Paradies. Weiterhin identifiziert Hogan noch sogenannte „Cross-Cultural Minor Genres“, die er mit „Attachment, Lust, Revenge and Criminal Justice“ benennt. Diese finden transkulturell und transhistorisch weniger Verbreitung als die dominierenden Genres, sind aber prinzipiell auch in allen Kulturkreisen zu identifizieren.

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Sie entstehen durch isolierte bzw. neu kombinierte emotionale Aspekte und „Happiness-Goals“ der dominierenden Genres. So wird der Attachment-Plot von dem Bedürfnis nach Bindung ohne sexuelles Verlangen organisiert, etwa bei der Suche nach einem verlorenen Kind wie in Findet Nemo oder bei dem Versuch, wieder in die familiäre oder soziale Gemeinschaft zu gelangen, wie z. B. in der Odyssee. Bei dem mit „Lust“ benannten Genre geht es entsprechend um die Stillung eines sexuellen Bedürfnisses ohne das Verlangen nach Bindung. Hogan macht klar, dass es hier nicht um pornographische Erzählungen geht und nennt als protoypischen Handlungsverlauf das Bindungsversprechen eines Mannes, das nur aus sexuellem Verlangen ausgesprochen und dann nicht eingehalten wird. Die verlassene Frau ist nun mit den Konsequenzen des gebrochenen Versprechens konfrontiert, zum Beispiel mit einer ungewollten Schwangerschaft oder sozialer Ausgrenzung, wie etwa in Don Juan oder in Die Marquise von O…. Im „Revenge“-Plot sieht Hogan als emotionale Wurzel die individuelle Zornesreaktion auf eine Verletzung sozialer Normen, wie z. B. einen Mord, der in Selbstjustiz eines Geschädigten mündet, so wie in Hamlet. Das Genre „Criminal Justice“ kombiniert das Motiv der Schuld mit einer – im Unterschied zum Rache-Plot – gesellschaftlich kontrollierten Aufklärung und Bestrafung der Verletzung der sozialen Norm, sei es im populären Krimi-Genre oder in Justizdramen wie der Fernsehserie The Good Wife. Bei den beiden letztgenannten Genres ähneln sich die Handlungsstrukturen, wobei beim „Revenge“-Genre meist der Geschädigte der Protagonist ist, während im „Criminal Justice“-Genre meist die Ermittlerfiguren und damit die Repräsentanten der gesellschaftlichen Ordnung im Zentrum der Erzählung stehen. Aus einer anwendungsbezogenen Perspektive sind Hogans Erkenntnisse deshalb so wertvoll, weil sie zeigen, dass bestimmte emotionale Motive von narrativen Figuren in allen Kulturen

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der Welt nachvollzogen werden können – insofern sind Hogans Kategorien auch analog zu den universellen Konflikten zu sehen. Zudem zeigt er, dass ein starker emotionaler Antrieb der Figur der entscheidende Impuls ist, der die Kette von Handlungen und Ereignissen in einer Erzählung initiiert. Dieser Impuls ist aber nicht nur auf der erzählungsübergreifenden Ebene der „Happiness-Goals“ wirksam, sondern die emotionalen Impulse und Transformationen bestimmen die Struktur der gesamten Erzählung bis in ihre kleinsten Handlungsschritte. Um dies darzustellen, strukturiert Hogan eine Erzählung hierarchisch in verschiedene Einheiten, so wie es auch Todorov mit seiner Gliederung der Erzählung in Einheiten von Aussage, Sequenz und Erzählungmacht. Die kleinsten Einheiten benennt Hogan als „incidents“. Eine Reihe von „incidents“ wiederum bilden einen „event“. Während „incidents“ als singuläre und isolierte Momente der Gefühlsregung zu betrachten sind, erlangen sie in den „events“ Handlungsrelevanz, indem die narrativen Figuren auf die emotionale Regung mit einer Handlung reagieren. Diese Handlung erregt einen erneuten emotionalen Reiz, entweder bei der narrativen Figur selbst oder bei einer anderen narrativen Figur, die daraufhin wiederum mit einer Handlung reagiert. Man könnte die „events“ also als emotionale Reiz-Reaktionsketten bezeichnen. Eine bestimmte Anzahl von „events“ bilden die „episodes“. Eine Reihe von „episodes“ wiederum bildet die „story“. In die Sprache der Filmdramaturgie übersetzt könnte man die „incidents“ als einzelnen Beat einer Szene auffassen. Die „events“ entsprächen demnach einer ganzen Szene, die „episodes“ den Akten und die „story“ dem ganzen Film. Verdeutlichen lässt sich dies wiederum an einem Beispiel aus Anna Karenina, als Lewin um Kittys Hand anhält. Als Kitty realisiert, dass Lewin ihr einen Antrag machen wird, kommt es zum ersten „incident“: Sie reagiert mit Angst auf einen inneren Konflikt. Denn sie will Lewin nicht heiraten, will ihn aber auch

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nicht durch eine Ablehnung kränken, da sie ihn sehr schätzt. Daraus ergibt sich ein „event“: Kitty überlegt aufgeregt, wie sie ihm ihre Ablehnung mitteilen soll, ohne ihn zu verletzen. Sie ist ratlos, ihre Angst steigt, bis sie schließlich fliehen will, um sich der Situation zu entziehen. Doch dann reißt sie sich zusammen und gibt diesem emotionalen Impuls nicht nach, denn sie empfindet es als unehrenhaft, sich der Situation nicht zu stellen, ihr innerer Zustand wird von Angst zu Entschlossenheit transformiert, über die einzelnen „incidents“ Aufregung, Ratlosigkeit, gesteigerte Angst, Entschlossenheit. Nun kann der nächste „event“ beginnen, denn jetzt tritt Lewin ein. Als er sieht, dass Kitty allein ist und er ungestört seinen Antrag machen kann, packt ihn trotz seiner Hoffnung die Angst. Aus Unsicherheit und weil es der Anstand gebietet tauscht er ein paar Höflichkeitsfloskeln mit Kitty aus. Schließlich nimmt Lewin allen Mut zusammen und macht den von Kitty bang erwarteten Antrag – zu ihrer eigenen Überraschung reagiert sie mit einem tiefen Glücksgefühl. Trotzdem lehnt sie den Antrag, in Gedanken an Wronskji, ab. Dem tief enttäuschten Lewin bleibt nur noch, sich zu verbeugen und sich zum Gehen zu wenden. Damit ist auch dieser „event“ sowie die „episode“ abgeschlossen – mit einer emotionalen Transformation von Kitty von Angst zu Glück, im Falle Lewins von Hoffnung zu Enttäuschung, bei ihm mit den „incidents“ Hoffnung, Angst, Unsicherheit, Entschlossenheit, Enttäuschung. Beide narrativen Figuren machen also eine Bewegung in Form verschiedener emotionaler Zustände, die aufeinander aufbauen. Wichtig ist diese Erkenntnis auch, weil die klassische Narratologie lange Zeit eine äußere Handlung als konstituierend oder zumindest prototypisch für den narrativen Text angesehen und gegenüber inneren Bewegungen und psychologischer Beschreibung priorisiert hat. Prototypisch aus Sicht eines Storytellers wäre aber eine Verknüpfung von innerer und äußerer Handlung, oder mit anderen Worten: Eine äußere Handlung ist nur dann relevant,

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wenn sie zu einer – wie auch immer gearteten – psychologischen oder emotionalen Progression führt. Hogan betont in seiner Darstellung eben diesen Aspekt. Zwar beschreibt er transformatorische Bewegungen, so wie sie in ähnlicher Weise auch Todorov identifiziert. Bei Hogan sind diese Schritte allerdings immer emotional determiniert: das heißt, die emotionalen Impulse und die dadurch ausgelösten Handlungen der Figuren sind für den gesamten Fortgang der Erzählung verantwortlich, ebenso lässt sich die transformatorische Bewegung über emotionale Pole und dem Verfolgen der Happiness Goals beschreiben – in der abstraktesten Form im Sinne von Unglück zu Glück, oder im Falle der Tragödie von Glück zu Unglück. Sicher sind diese Befunde nicht uneingeschränkt auf alle Erzählungen zu übertragen. So ist der emotionale Status von Actionhelden, mythologischen Helden oder Ermittlerfiguren nicht immer von Bedeutung. Über das Gefühlsleben von Columbo ist uns relativ wenig bekannt und es ist auch nicht entscheidend für den Fortgang der Geschichte. Im Krimi stehen eher das Fortschreiten der Ermittlung und damit eine transformatorische Bewegung von Nichtwissen zu Wissen im Fokus der Handlung. Aber für alle Formate und Genres, die innere Konflikte fokussieren oder Beziehungskonflikte im weitesten Sinne verhandeln, trifft die Analyse zu, seien es Liebesgeschichten, Familiendramen oder psychologische Romane. Dies hat für Storyteller zuweilen auch ganz konkrete praktische Folgen. So wird in täglichen Serien wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten oder Sturm der Liebe, die wegen der hohen Produktionsmenge in einem stark arbeitsteiligen Prozess entstehen, jede Szene mit einem sogenannten One-Liner beschrieben. In diesem One-Liner soll in einer für alle Gewerke verständlichen Form der dramaturgische Kern der Szene beschrieben werden. Dabei bezieht sich dieser Satz immer auf den emotionalen Status der Hauptfigur, beispielweise: Emily streitet aufgewühlt mit ihrem Bruder oder Lisa macht sich vor dem

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Treffen mit Marc große Hoffnungen. Entsprechend lässt sich an den One-Linern einer Episode die emotionale Progression der Figur innerhalb der Folge darstellen. In Ermittlerformaten wie den SOKO-Reihen, die teilweise ebenfalls mit dem dramaturgischen Tool des One-Liners arbeiten, wird im Gegensatz dazu der Ermittlungsfortgang beschrieben, also etwa: Udo schöpft einen Verdacht, als sich das Alibi des Gärtners als falsch entpuppt. Die Frage, in welchem Maße und in welcher Form eine Geschichte emotionalisiert wird, ist also auch immer eine Frage des Genres und der Erzählabsicht. Aber eine wie auch immer geartete Darstellung und Auslösung von Emotionen ist zentraler Bestandteil aller Erzählungen. Zusammenfassung: Die Darstellung und Auslösung von Emotionen ist ein zentrales Merkmal der narrativen Form. Dies postuliert schon Aristoteles, wenn er in seiner Katharsis-Theorie feststellt, dass Dramen Jammer und Schauder erregen und die Zuschauer dadurch von diesen Emotionen reinigen sollen. Erzählungen können aber eine Vielzahl von anderen Emotionen auslösen, was sich in entsprechenden Genre-Bezeichnungen niederschlägt, die auf die Gefühlserwartung der Rezipierenden rekurrieren, so etwa Horror und Thriller, Tragödie und Melodram, Feelgood, Erotik und Pornografie sowie Action- und Superheldenerzählungen oder die Komödie. Zudem wird die Erzählung durch die emotionalen Transformationen ihrer narrativen Figuren strukturiert. Narrative Figuren versuchen, eine emotional befriedigende Situation herzustellen. Der Konflikt, der die Handlung der Erzählung initiiert, entsteht, weil die Figur durch antagonistische Kräfte in ein emotionales Ungleichgewicht gerät und dieses zum Positiven auflösen will. Dabei erlebt sie im Laufe der Handlung verschiedene emotionale Stadien und wird von einem emotionalen Pol zu anderen transformiert.

Emotionale Progression als Strukturprinzip von Erzählungen

8 Wendepunkte – Die erwartete Überraschung Ein weiteres Spezifikum von Erzählungen ist, dass sie die Rezipierenden mit unerwarteten Wendungen in der Handlung überraschen. So taucht Gandalf in Der Herr der Ringe nach dem vermeintlich tödlich geendeten Zweikampf mit dem Balrog schließlich doch wieder lebendig bei den Gefährten auf. Elinor Dashwood erfährt in Verstand und Gefühl überrascht, dass Edwards Verlobte ihn verlassen hat, so dass er nun frei für Elinor ist. Als Luke Skywalker in Das Imperium schlägt zurück seinen vermeintlichen Erzfeind Darth Vader bekämpft, offenbart ihm dieser, dass sie Vater und Sohn sind. Ein wichtiges Element im Whodunit-Krimi-Genre sind ständige Enthüllungen im Laufe der Handlung, die immer wieder neue Indizien und Verdächtige präsentieren – bis wir am Ende erfahren, dass es doch der sprichwörtliche Gärtner war. Wendepunkte können in der Erzählung somit Ungewissheiten und Alternativen eröffnen, bei der die Handlung auf die ein oder andere Weise fortgeführt werden kann, wie im Krimi-Genre. Oder sie erlauben den Rezipierenden durch neue Informationen semantische Umdeutungen, die die bisherige Handlung im anderen Licht erscheinen lassen, so wie im Beispiel von Das Imperium schlägt zurück. Auf diese Weise erzeugen sie einen für Erzählungen charakteristischen Moment der Überraschung, der anderen Texttypen fehlt. So ist eine Gebrauchsanweisung gemeinhin ohne überraschende Wendungen konzipiert, um den Rezipierenden eine möglichst unmissverständliche Schilderung einer Handlungsfolge zu geben und sie nicht mit falschen Spuren oder Ungewissheiten in die Irre zu führen. Ebenso verzichten wissenschaftliche Texte in ihrer Darstellung auf überraschen-

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de Wendungen. Oftmals werden solchen Texten die zentralen Thesen oder Erkenntnisse vorangestellt, die dann im weiteren Verlauf elaboriert werden. Erzählerische Texte verfahren konträr. Klappentexte von Büchern oder Ankündigungen von Filmen schildern oft nur die Prämisse der Geschichte und werfen Fragen auf, um die Rezipierenden im Laufe der eigentlichen Erzählung dann mehrmals mit unerwarteten Wendungen zu überraschen.

Wissenschaftliche Konzepte des Wendepunkts Die erste theoretische Beschreibung eines dramatischen Wendepunktes stammt wiederum von Aristoteles. Dabei stellt er in seiner Poetik fest: […] die Peripetie ist […] der Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil, und zwar, wie wir soeben sagten, gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit […]. (1994, S. 35)

Aristoteles führt als Beispiel die Szene in Sophokles’ König Ödipus an, in der Ödipus von dem Boten aus Korinth erfährt, dass sein vermeintlicher Vater Polybos gestorben ist. Ödipus meint, dass ihn nun nur noch der Orakelspruch von der blutschänderischen Ehe mit seiner Mutter daran hindere, nach Korinth zurückzukehren. Daraufhin informiert ihn der Bote, dass Ödipus gar nicht das leibliche Kind von Polybos und Merope ist. Eigentlich will er Ödipus damit die Furcht vor der Weissagung nehmen, doch in der Folge deckt Ödipus seine wahre Herkunft auf und erkennt erschüttert, dass sich der Orakelspruch bewahrheitet hat. Der Bote hat also mit seiner Nachricht das Gegenteil dessen erreicht, was er beabsichtigt hat. Weitere Kriterien sind für Aristoteles eine Wendung von „Unkenntnis in Kenntnis“, die er auch als „Wiedererkennung“ bezeichnet, sowie eine damit ver-

Wissenschaftliche Konzepte des Wendepunkts

bundene Wendung zu „Glück oder Unglück“. Auch diese beiden Kriterien sind gegeben, denn Ödipus wird in Kenntnis gesetzt, dass er ein Findelkind ist, was ihn in der Folge ins Unglück stürzt. Hier deutet sich bereits ein weiteres Kriterium des Wendepunktes an, nämlich eine transformatorische Bewegung von narrativen Basisoppositionen. Obwohl man den altgriechischen Begriff der „Peripetie“ mit „Überraschung“ übersetzen kann, nimmt Aristoteles noch eine weitere Spezifizierung vor, wenn er feststellt, dass die Ereignisse trotz einer Überraschung gemäß der Wahrscheinlichkeit bzw. Notwendigkeit eintreten müssen. In dem Drama von Sophokles ist dies gegeben, denn man kann annehmen, dass den meisten Rezipierenden der Mythos des Ödipus bekannt war, somit auch die Vorgeschichte des Orakelspruchs, der Laios und seine Frau Iokaste dazu bringt, ihren Sohn Ödipus auszusetzen, da ihnen geweissagt wird, dass er seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten werde. Zudem werden im Stück selbst durch die Orakelsprüche sowie die Weissagungen des blinden Sehers Teiresias die Herkunft des Ödipus und die wahren Ereignisse angedeutet. Die Enthüllung des Boten ist somit für Ödipus eine Überraschung, aber nicht unbedingt für das Publikum, das einerseits das nötige Kontextwissen hatte, anderseits durch gezielte Informationen im Text auf diese Enthüllung vorbereitet ist, wodurch die Wendung im Rahmen des Dramas durchaus wahrscheinlich ist. Der narrative Text kann also durch ein entsprechendes Informationsmanagement (vgl. Kapitel  Subtext und Gapping) dafür sorgen, dass ein Wendepunkt sowohl überraschend als auch wahrscheinlich oder sogar notwendig ist. Die entsprechende Gestaltung von Wendepunkten lässt sich auch in modernen Beispielen darstellen. So wird in Verstand und Gefühl bereits früh erzählt, dass Edward auch Liebe zu Elinor empfindet. Aber erst zum Ende der Erzählung hat ihn seine Verlobte verlassen, da er enterbt worden ist. Sein neuer Beziehungs-

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status ist eine Überraschung, seine Zuneigung zu Elinor dagegen nicht. Der Grund für die Trennung der Verlobten ist zudem als wahrscheinlich geschildert worden, denn das Motiv der ökonomisch angemessenen Heirat ist bereits früh in der Erzählung etabliert. Weiterhin wird Elinor in Kenntnis gesetzt, dass ihr geliebter Edward, der vorher vergeben war, nun wieder für sie frei ist, was sie von einem Zustand von Unglück in emotionales Glück versetzt. So ist auch der eingeforderte „Umschlag“ bzw. die transformatorische Bewegung gegeben. Dabei entspricht der beschriebene Wendepunkt allerdings nicht den strukturellen Anforderungen der Peripetie, denn er befindet sich kurz vor Schluss der Erzählung, während die Peripetie darüber hinaus so definiert ist, dass sie sich strukturell in der Mitte der Erzählung befindet. Allerdings stellt auch Aristoteles fest, dass sich eine solcherart von ihm beschriebene „Wiedererkennung“ auch an anderen Stellen der Erzählung befinden kann. Ihre stärkste Wirkung aber, so Aristoteles’ Auffassung, entfaltet sie in Verbindung mit der Peripetie. Einen anderen Ansatz, Wendepunkte zu beschreiben, wählt Roland Barthes. Er beschreibt innerhalb von Erzählungen zwei verschiedene Elemente der Handlung, die Katalysen und die Kardinalfunktionen. Dabei definiert er die Kardinalfunktionen wie folgt: Kardinal wird eine Funktion allein dadurch, daß die Handlung, auf die sie sich bezieht, eine für den Fortgang der Geschichte folgentragende Alternative eröffnet (aufrechterhält oder beschließt), kurz, daß sie eine Ungewissheit begründet oder beseitigt. (1991, S. 112f.)

Dabei sind für Barthes die Kardinalfunktionen Scharniere der Handlung, an denen sich die Geschichte in verschiedene Richtungen entwickeln kann, oder die, wie Barthes es ausdrückt, Risikomomente darstellen. Eine Kardinalfunktion liegt dabei für Barthes schon vor, wenn z. B. in einer Erzählung das Tele-

Wissenschaftliche Konzepte des Wendepunkts

fon klingelt. Die narrative Figur kann sich nun entscheiden, den Anruf entgegenzunehmen – oder auch nicht. Damit ist für Barthes bereits ein sogenannter Risikomoment begründet. Ob und wie signifikant diese Entscheidung ist, spielt in Barthes‘ Systematik keine Rolle, die Kardinalfunktion ist für ihn eine rein funktionale, aber keine qualitative Kategorie. Katalysen füllen für Barthes dagegen den narrativen Raum zwischen den Kardinalfunktionen, sie stellen oftmals Beschreibungen von Zuständen oder Gegebenheiten dar. Wenn, wie in dem beschriebenen Beispiel, das Telefon klingelt, sind die Momente des Klingelns und des Abhebens Kardinalfunktionen. Zusätzlich könnte ein Storyteller aber schildern, in welcher Räumlichkeit sich die narrative Figur befindet, ob sie durch den Anruf in einer Tätigkeit gestört wird oder welche Klangfarbe der Klingelton hat. Solche Beschreibungen wären Katalysen. Sie haben laut Barthes eine phatische Funktion, schaffen Atmosphäre und Verbindung, sie können auch dazu eingesetzt werden, die geschilderte Welt plastischer oder realistischer zu machen, haben aber für den Fortgang der Handlung keine erzählerische Konsequenz. Es ist einsichtig, dass sich die Systematik von Barthes deutlich von der Aristotelischen unterscheidet. Für eine Kardinalfunktion bei Barthes muss keine transformatorische Bewegung von Oppositionspaaren vorliegen, die für die Peripetie Bedingung ist. Zwar eröffnet auch die Peripetie eine den Fortgang der Handlung folgentragende Alternative im Sinne Barthes, aber sie ist ein singulärer Moment in der Mitte der Erzählung, während die Kardinalfunktionen in sehr viel größerer Zahl auftreten können. Anders ausgedrückt: Jede Peripetie ist eine Kardinalfunktion, aber nicht jede Kardinalfunktion eine Peripetie.

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Der Wendepunkt in der anwendungsbezogenen Dramaturgie In der anwendungsbezogenen Filmdramaturgie ist die Frage des Wendepunktes immer wieder von großer Bedeutung, sowohl im strukturellen Aufbau der Gesamterzählung als auch in der Szenenanalyse. Als einer der ersten Drehbuchtheoretiker thematisiert diese Frage der Filmdramaturg Syd Field. Er sieht in den Wendepunkten das entscheidende strukturierende Element der Spielfilmhandlung und prägt dabei den Begriff des sogenannten „Spielfilmparadigmas“, eine Übertragung der Drei-Akt-Struktur auf die Filmerzählung. (Vgl. Kapitel  Narrative Struktur) Dabei bezeichnet er die Wendepunkte als „Plot Points“ und definiert sie folgendermaßen: Ein Plot Point ist ein Vorfall, eine Episode oder ein Ereignis, das in die Handlung „eingreift“ und sie in eine andere Richtung dreht. (1996, S. 42)

Der Plotpoint 1 markiert dabei strukturell den Übergang vom 1. zum 2. Akt, der Plotpoint 2 den Übergang vom 2. zum 3. Akt. Darüber hinaus kann es laut Field noch einen großen Plotpoint in der Mitte der Erzählung geben, den er entsprechend als Mid Point bezeichnet. Zudem gibt es daneben noch weitere kleine Plot Points, die sich als Wendepunkte über alle Akte verteilen. Field bleibt aber über die endgültige Zahl der Wendepunkte unbestimmt. Zudem ist seine Definition des Wendepunktes begrifflich so unscharf, dass sie sich in einem wissenschaftlichen Kontext nur schwer anwenden lässt. Was genau eine andere Richtung der Handlung sein soll, wird der Intuition der Storyteller oder der Rezipierenden überlassen. Trotzdem hatten seine Arbeiten, die die grundsätzliche Bedeutung von Wendepunkten in erzählenden Texten betonen, über viele Jahre erheblichen

Der Wendepunkt in der anwendungsbezogenen Dramaturgie

Einfluss im Hollywood-Erzählkino und in der anwendungsbezogenen Filmdramaturgie. Präziser formuliert das Konzept des Wendepunktes Robert McKee. Dabei geht er in dramaturgischer Tradition davon aus, dass jede narrative Figur ein Ziel verfolgt. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die narrative Figur handeln. Auf die Handlung folgt eine für die Figur überraschende antagonistische Reaktion, die sie an der Erreichung ihres Ziels hindert und so einen Konflikt auf einer oder mehreren Konfliktebenen auslöst: Mit dem Ergebnis, dass sich die Kluft zwischen Erwartung und Ergebnis auftut, die ihre äußeren Geschicke, ihr inneres Leben oder beides vom Positiven ins Negative oder vom Negativen ins Positive wendet, bezogen auf die Werte, die, wie das Publikum weiß, auf dem Spiel stehen. (McKee 2000, S. 254)

Bei dieser Definition wird deutlich, dass der Begriff des Wendepunkts für McKee eng mit dem Begriff der Transformation verknüpft ist, wenn er von einer Wendung der Werte spricht. Sein Konzept baut also einerseits auf Aristoteles Argumentation auf, anderseits erlaubt es den Anschluss an das Konzept der narrativen Basisoppositionen. Auf Basis der vorgestellten Konzepte kann man den Wendepunkt wie folgt definieren: Ein Wendepunkt ist eine Kardinalfunktion, die einen transformatorischen Schritt in der Erzählung im Sinne eines Umschwungs der narrativen Basisoppositionen bewirkt. Allerdings ist der Wendepunkt kein singuläres Ereignis im Sinne der Aristotelischen Peripatie. McKee postuliert, dass jede Szene einen Wendepunkt aufweisen sollte. In McKees Diktion ist somit im Gegensatz zu dem Modell von Field die Anzahl der Wendepunkte, die eine Filmerzählung aufweisen sollte, quantifizierbar: Sie entspricht der Anzahl der Szenen. Er unterscheidet im Weiteren szenische Wendepunkte, Sequenzhöhepunkte und Akt-Höhepunkte, wobei ein szenischer Wendepunkt eine gering-

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fügige, jedoch signifikante Wendung herbeiführt. Ein Sequenzhöhepunkt führt einen moderaten Umschwung herbei, der jedoch eine größere Wirkungskraft haben sollte als ein Umschwung in einer Szene. Eine wiederum größere erzählerische Wirkungskraft sollte der Akt-Höhepunkt haben. Zwar ist intuitiv einsichtig, dass es größere und kleinere Wendepunkte gibt. So wird in Der Herr der Ringe das Wiederauftauchen des totgeglaubten Gandalf im Kreis der Gefährten von den meisten Rezipierenden wohl als bedeutsamer wahrgenommen als Gandalfs Entschluss, die Reise nicht über das Nebelgebirge fortzusetzen, sondern stattdessen den Weg durch die Minen von Moria zu nehmen. Doch auch wenn die durch einen Schneesturm ausgelöste Wendung auf dem Bergpass wesentlich unspektakulärer wirkt, ist sie erzählerisch genauso notwendig, um den folgenreichen Zweikampf zwischen Gandalf und dem Balrog überhaupt zu ermöglichen. Was macht also den Unterschied aus? Auch McKee beschreibt nicht, wie man die Wirkungskraft eines Umschwungs definieren könnte. Allerdings beschreibt er vier grundlegende Wirkungseigenschaften, die ein Wendepunkt in einer Erzählung entfalten sollte. ▶ ▶ ▶ ▶

Überraschung Gesteigerte Neugier Einblick Neue Richtung

Dabei spezifiziert er nicht, auf wen diese Wirkung ausgeübt wird. Auf die Rezipierenden? Auf die narrativen Figuren? Auf beide? Zudem stellt sich die Frage, ob jedem Wendepunkt alle vier Eigenschaften zugeordnet werden können, oder ob man auch von einem Wendepunkt sprechen kann, wenn eine der Eigenschaften fehlt. Oder ist ein Wendepunkt dann besonders wirkungsvoll, wenn alle vier genannten Wirkungen eintreten? Um sich diesen Fragen anzunähern, lohnt es sich, konkrete Beispiele zu untersuchen.

Die Wirkung von Wendepunkten in Literatur und Film

Die Wirkung von Wendepunkten in Literatur und Film Ein bereits erwähntes Beispiel, an der sich einerseits die Progression der Emotionen in einer erzählerischen Sequenz darstellen lässt, in dem anderseits aber auch ein wichtiger Wendepunkt markiert wird, ist die Episode aus Anna Karenina, in der Lewin um Kittys Hand anhält. Definitiv kann man bei dem Antrag von einem Risikomoment und damit einer Kardinalfunktion der Erzählung sprechen, bei dem bedeutsam ist, in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln wird. Zudem findet eine Transformation statt: Wie bereits dargestellt wendet sich Lewins emotionaler Status von Hoffnung zu Enttäuschung, oder in der Terminologie von Aristoteles von Glück zu Unglück. Bei Kitty ist ebenfalls eine emotionale Wendung zu beschreiben, und zwar ein Umschlag von Angst zu einem tiefen Glücksgefühl, also eine entgegengesetzte Bewegung von Unglück zu Glück. Wir können hier also von einem Wendpunkt im Sinne der oben eingeführten Definition sprechen. Allerdings wird deutlich, dass hier die Frage der Perspektive bedeutsam wird, die auch McKee nicht hinreichend klärt. Denn man könnte von zwei verschiedenen Wendepunkten sprechen, die sich um den Antrag und die Ablehnung kristallisieren. Damit unterscheiden sie sich auch, je nach Perspektive, bezüglich der anderen Kriterien, die McKee von einem Wendepunkt fordert. Aus der Perspektive von Lewin kann man keine „Überraschung“ annehmen, denn obwohl er inständig hofft, dass Kitty ihn liebt, ahnt er die Ablehnung. Auch aus der Sicht der Rezipierenden kann man nicht von einer Überraschung sprechen, zumindest nicht was die Ablehnung des Antrags angeht, denn in dieser Episode wird auch die Perspektive Kittys sowie ihre emotionale Befindlichkeit geschildert und wir wissen, dass sie Lewin nicht erhören wird. Insofern ist durch die Ablehnung auch kein

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„Einblick“ oder eine „gesteigerte Neugier“ erzeugt worden, denn Lewin wird vorerst weiterhin allein bleiben, ebenso wie Kitty. Andere Wirkungen werden allerdings erzielt, wenn man Kittys Perspektive betrachtet und hier vor allem die Ebene des inneren Konflikts von Kitty und ihre emotionale Transformation. Nachdem geschildert wird, dass die Werbung Lewins Kitty unangenehm ist und sie Angst hat, löst der Antrag neue Emotionen aus, Glücksgefühle über das offene Liebesgeständnis Lewins. Der Moment der „Überraschung“ ist aus der Perspektive Kittys explizit geschildert. Insofern erhalten sowohl Protagonistin als auch die Rezipierenden einen neuen „Einblick“, denn nachdem Kitty mit Angst und Ablehnung auf die Aussicht reagiert, dass Lewin ihr einen Antrag machen wird, ist das Glücksgefühl, das sie anschließend empfindet, eine neue Information. Ebenso kann man davon ausgehen, dass damit eine „neue Richtung“ eingeschlagen wird, denn es lässt sich annehmen, dass Kitty auf die Transformation in einen neuen emotionalen Zustand reagieren wird. Damit verbunden ist auch das Kriterium der „gesteigerten Neugier“, denn man kann annehmen, dass die Rezipierenden neugierig sind, wie sich Kitty zu ihrer neuen Erkenntnis verhalten wird. Im dramaturgischen Sinne ist hier ein emotionaler „Cliffhanger“ gesetzt, der Fragen bei den Rezipierenden aufwirft, die sie im Laufe der weiteren Erzählung beantwortet wissen wollen. Auch im weiteren Verlauf von Anna Karenina ist die Frage der Perspektivierung von Wendepunkten von Bedeutung. Ein wichtiger Wendepunkt, den man mit dem Plot Point 1 im Sinne Fields gleichsetzen kann, ist der Tanz der Masurka bei dem Ball, bei dem sich Anna Karenina und ihr späterer Liebhaber Wronskij endgültig ineinander verlieben. Dieser für die Erzählung so wichtige Wendepunkt wird in dem Roman allerdings nicht aus der Perspektive einer der beiden Beteiligten erzählt, sondern aus der Sicht Kittys. Während Wronskij und Anna tanzen, findet bei Kitty ein Umschlag von Glück zu Unglück statt, da sie erkennen

Die Wirkung von Wendepunkten in Literatur und Film

muss, dass Wronskij nicht sie, sondern Anna Karenina liebt. Eine interessante dramaturgische Entscheidung, die nicht auf der Hand liegt, die aber im thematischen Gesamtgefüge des Romans sinnvoll erscheint, denn die Liebe zwischen Anna und Wronskij ist zum Scheitern verurteilt. Insofern ist eine Verknüpfung dieses so entscheidenden Wendepunktes mit einer tragischen emotionalen Transformation wie bei Kitty schlüssig. Zudem weist dieser Wendepunkt aus der Perspektive Kittys noch ein zusätzliches Merkmal auf: Während Wronskij und Anna schon lange voneinander angezogen sind und der Tanz eher wie ein Besiegeln ihrer Liebe erscheint, ist bei Kitty das Kriterium der „Überraschung“ gegeben, wenn ihr schlagartig bewusst wird, welche Gefühle Wronskij für Anna hegt. Man könnte also vermuten, dass Tolstoi mit dieser dramaturgischen Entscheidung die Wirkung des Wendepunktes verstärken wollte. Dass diese Entscheidung nicht zwingend ist, zeigt Joe Wrights Verfilmung von Anna Karenina aus dem Jahr 2012. Hier spielt Kittys Perspektive nur eine untergeordnete Rolle; die Kamera fokussiert sich während des Tanzes, bei dem sich Anna und Wronskij näherkommen, fast ausschließlich auf diese beiden Figuren. Über die Gründe für diese ästhetische Entscheidung lässt sich nur spekulieren. Aber während in Literatur und längeren audiovisuellen Formaten wie Fernsehserien das multiperspektivische Erzählen häufig vorkommt, sind im Hollywood-Erzählkino die Wendepunkte meist aus der Perspektive der Hauptfigur dargestellt, in diesem Fall der titelgebenden Protagonistin. Ein Grund dafür ist vermutlich die begrenzte Erzählzeit von ca. 120 Minuten, die eine Konzentration auf wenige Figuren erfordert und multiperspektivisches Erzählen erschwert. Auch einer der berühmtesten Wendepunkte der jüngeren Filmgeschichte ist perspektivisch klar der Hauptfigur zuzuordnen. In The Sixth Sense soll der Kinderpsychologe Dr. Malcom Crowe dem Jungen Cole Sear helfen, der von Geistererscheinun-

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gen geplagt wird. Am Ende der Filmerzählung realisiert Crowe, dass er selbst ein Geist ist – eine Erkenntnis, die auch die Rezipierenden erst in diesem Moment haben. Damit finden eine Vielzahl von Wendungen bzw. Transformationen statt: von Unkenntnis zu Kenntnis, als Crowe realisiert, dass er den Anschlag eines Patienten nicht überlebt hat, womit ebenso ein Umschlag von Leben zu Tod stattfindet. Auf der Ebene des persönlichen Konflikts findet eine Transformation von Abneigung zu Liebe statt, denn Crowe versteht, dass die Kälte und Sprachlosigkeit zwischen ihm und seiner Frau nicht aus der Zerrüttung der Ehe resultiert, sondern allein aus der Tatsache, dass seine Frau ihn als Geist nicht wahrnehmen kann. Crowe kann seinen Tod nun akzeptieren und endgültig gehen. Dieser Wendepunkt überrascht und erzeugt eine Vielzahl der beschriebenen „Einblicke“, sowohl für den Protagonisten als auch für das Publikum. Obwohl er am Ende des Films positioniert ist, erfüllt er auch das Kriterium der „neuen Richtung“ und der „Neugier“, denn die Rezipierenden sind dazu angeregt, den Film in der Rückschau neu zu interpretieren und nach Indizien zu suchen, die den Wendepunkt bereits durch Hinweise auf den Tod Crowes vorbereitet haben. Durch die Kombination der vier Wirkungen, die der Wendpunkt sowohl auf den Protagonisten als auch auf das Publikum hat, ist er besonders eindrucksvoll. Einen Wendepunkt mit einer ähnlichen Mechanik und Wirkung findet man am Ende von Die üblichen Verdächtigen. Hier entpuppt sich der Protagonist, der Kleinkriminelle Verbal Kint, einerseits als der eigentlich Schuldige, andererseits als unzuverlässiger Erzähler im narratologischen Sinne. Kint hat, um von sich abzulenken, dem Inspektor Dave Kujan beim Verhör eine erdachte Geschichte über die Unterweltgröße Keyzer Söze erzählt. Kujan realisiert erst am Ende der Erzählung, dass Kint selbst Keyzer Söze ist, eine Erkenntnis, die auch die Rezipierenden erst in diesem Moment haben. Die Erkenntnis kommt für

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den Inspektor jedoch zu spät, denn er hat Kint/Söze laufen lassen. Für das Publikum dagegen ist die überraschende Enthüllung ein neuer „Einblick“ und ein ästhetischer Genuss, denn nun können in der Rückschau die falschen Spuren identifiziert werden, die Kint durch seine Erzählung gelegt hat. Ein Beispiel für einen typischen Wendepunkt zu Beginn der Filmerzählung, entsprechend dem Plot Point 1 von Syd Field, findet sich bei Wall Street. Das Ziel des Protagonisten Bud Fox ist es, Karriere als Börsenmakler zu machen. Als er endlich den ersehnten Termin beim Börsenguru Gordon Gekko bekommt, wird ihm klar, dass man auf den Trading Floors mit Ehrlichkeit nicht weiterkommt. Bud, der sein berufliches Fortkommen bislang mit legalen Methoden betrieben hat, verrät Gekko an diesem Punkt Insider-Geheimnisse, um nicht wieder abgewiesen zu werden. Auch wenn hier ein Geschäftstermin plötzlich eine kriminelle, konspirative Wendung erfährt, ist zumindest strittig, ob man von einer Überraschung sprechen kann, denn Bud trifft eine autonome Entscheidung, die ihn schwerlich überraschen kann. Gekko dagegen ist es gewohnt Menschen zu manipulieren, er triumphiert, ist aber nicht überrascht. Es ist auch anzunehmen, dass die Rezipierenden bereits ahnen, dass Gekko seinen Reichtum nicht mit legalen Mitteln angehäuft hat, ebenso wie sie antizipieren können, dass der ehrgeizige Bud verführbar ist. Trotzdem sind mit diesem Punkt starke transformatorische Bewegungen der narrativen Basisoppositionen verknüpft. Bud wendet sich von einem ehrlichen Geschäftsmann zu einem kriminellen, damit wird sich sein Vermögensstand von arm zu reich wenden. Ebenso kann man von einer „neuen Richtung“ sprechen. In Wall Street beginnt bei diesem Wendepunkt die eigentliche Reise des Helden im Sinne Campbells, Bud überschreitet die Schwelle zum Abenteuer in mehrfacher Hinsicht: räumlich, indem er in Gekkos Büro vorgelassen wird, auf der Ebene des inneren Konflikts, indem er seine Prinzipien über Bord wirft, auf der Ebene des

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persönlichen Konflikts, indem er sich auf eine Kooperation mit Gekko einlässt, der auch der Antagonist in einem erzählerischen Zweikampf ist. Es ist anzunehmen, dass die Rezipierenden mit „Neugier“ auf diese Wendung reagieren, weil sie wissen wollen, auf welche Weise Bud diesen neuen Weg beschreiten wird. Ebenfalls erzeugt der Wendepunkt „Einblicke“, einmal in die kriminelle Welt des Insiderhandels, vor allem aber auch in den Charakter des Protagonisten, der sich selbst als ehrlichen, prinzipientreuen Mann sieht, der aber eben diese Prinzipien über Bord wirft, um geschäftliche Vorteile zu erlangen. Die Darstellungen zeigen, dass eine Transformation bei jedem Wendepunkt ausgelöst wird – dies ist eine erzählerische Grundbedingung. Die weiteren Wirkungen, die McKee dem Wendepunkt zuschreibt, sind dagegen nicht unbedingt zwingend, auch wenn anzunehmen ist, dass ein Wendepunkt eine besonders starke Wirkung entfaltet, wenn alle vier Merkmale berücksichtigt werden. Trotzdem können Kategorien wie „Neugier“ oder „Überraschung“, vor allem aus Perspektive der Rezipierenden, nicht immer objektiv dargestellt werden. Oft sind bestimmte Transformationen aus dem thematischen oder emotionalen Kern der Erzählung zu antizipieren oder durch Genrekonventionen geprägt und müssen deshalb nicht überraschend sein. Die Rezipierenden wissen, dass der Held der antiken Tragödie am Ende scheitern wird. Genau dieses Wissen um Konventionen kann natürlich wiederum benutzt werden, um Überraschung zu erzeugen, indem man die Erwartung bricht. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang die sogenannte „Rote Hochzeit“ in der Buch- und Fernsehserie Game of Thrones. Bei diesem folgenreichen Wendepunkt wird einer der wichtigsten Protagonisten der Serie, Rob Stark, bei seiner eigenen Hochzeit mitsamt seinem Gefolge ermordet. Dieser Bruch mit den erzählerischen Konventionen, bei der der Held seine eigene Heldenreise nicht überlebt, gilt unter Fans der Serie als besonders überraschendes und auch

Wendepunkt und Transformation in interaktiven Erzählungen

schmerzvolles Ereignis. Gleichzeitig bricht Game of Thrones die Erwartungen nur auf der Ebene der Genrekonvention, bleibt sich aber thematisch treu. Denn immer wieder wird gezeigt, dass in der unbarmherzigen Welt von Westeros nur Macht zählt und das Überleben garantiert, nicht aber die Liebe.

Wendepunkt und Transformation in interaktiven Erzählungen Wendepunkte sind Schlüsselmomente der Geschichte, die Transformationen, die sie auslösen, sind zwingend für den weiteren Verlauf der Erzählung. Dieser Befund stellt Autoren und Autorinnen von interaktiven Erzählungen vor ein Problem, denn es ist ersichtlich, dass es die Interaktivität einer Erzählung einschränkt, wenn die Rezipierenden zwingend an festgelegte narrative Scharniere einer Geschichte geführt werden müssen, um bestimmte Transformationen auszulösen. Die einfachste Art, mit diesem Problem z. B. bei Games umzugehen, besteht darin, die Wendepunkte über sogenannte Cut-Scenes zu etablieren, filmische Sequenzen, in die die Rezipierenden nicht eingreifen können und die den benötigten Wendepunkt ohne interaktive Eingriffsmöglichkeiten darstellen. Solche Wendepunkte finden sich oft am Anfang eines Spiels im Sinne des Plotpoint 1. Zu Beginn werden die Rezipierenden in Cut-Scenes über die Prämisse des Games und der Erzählung informiert. Der eigentliche Beginn des Spiels und die damit verbundene interaktive Eingriffsmöglichkeit ist dann oft mit einem erzählerischen Wendepunkt verknüpft. Beispielsweise brechen bei The Last of Us die fleischfressenden Zombies in die scheinbare Sicherheit von Joels Haus ein, das Gameplay beginnt.

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Weiterhin kann man Wendepunkte beschreiben, die scheinbar eine Interaktion zulassen, aber dennoch im Rahmen einer linearen Ereignisfolge erzählt werden. So können die Rezipierenden in Grand Theft Auto V zwar entscheiden, ob sie einen wehrlosen Gefangenen foltern, was eine moralische Grenzüberschreitung und eine starke Wendung darstellt. Tun sie es aber nicht, können sie auch nicht weiterspielen. Ähnlich liegt der Fall in The Last of Us bei der Befreiung von Ellie aus den Händen der Fireflies. Diese Rebellengruppe will Ellie auf dem Operationstisch opfern, um ein Heilmittel gegen die todbringende Pilzinfektion zu entwickeln, die die Menschen zu tödlichen Zombies macht. Das Spiel geht aber erst weiter, wenn Joel, gesteuert von den Rezipierenden, den Chirurgen, der Ellie operiert, erschießt. Joel entscheidet sich für Ellie und gegen die Zukunft der Menschheit, an die er längst den Glauben verloren hat. Dieser starke Wendepunkt steht im Einklang mit der dystopischen Grundgestaltung des Spiels und der Psychologie der Hauptfigur Joel, der unter dem Trauma leidet, seine eigene Tochter verloren zu haben. Der Wendepunkt ist damit erzählerisch zwingend und kann nicht optional bzw. interaktiv gestaltet werden. Wendepunkte dieser Art suggerieren Interaktivität, da sie einen Eingriff der Rezipierenden erfordern, aber nur eine Handlungsoption offenlassen, die den entsprechenden Fortgang der Geschichte erlaubt. Es gibt aber in Games durchaus auch Wendepunkte, die eine echte Interaktivität zulassen. So müssen die Rezipierenden im ersten Teil von The Walking Dead entscheiden, ob sich Protagonist Lee nach einem Zombie-Angriff den infizierten Arm absägt, um so die drohende Verwandlung in einen Zombie zu verlangsamen, vielleicht sogar zu verhindern, oder ob er die möglichen Folgen des Bisses ignoriert und mit beiden Armen weiterkämpft. Dabei sind sich die Spielenden nicht darüber im Klaren, ob die Amputation den gewünschten Effekt haben wird. Hier verschmelzen erzählerischer und spielerischer Wendepunkt, denn in der Tat

Wendepunkt und Transformation in interaktiven Erzählungen

verlangsamt die Amputation die Verwandlung in einen Zombie, was andere spielerische Möglichkeiten zulässt. An der endgültigen Transformation von Leben zu Tod ändert dies allerdings nichts, denn Lee muss am Ende des Games ohnehin sterben. Eine spezifische Spielart des Wendepunkts im Game sind Umschläge, die mit spielerischen oder erzählerischen Konventionen des Games brechen und somit sehr stark das Moment der „Überraschung“ betonen. So werden zu Beginn von Braid die Rezipierenden folgendermaßen über das Ziel des Protagonisten informiert: „Tim hat sich aufgemacht, die Prinzessin zu retten, die von einem schrecklichen und bösen Monster entführt wurde.“ – Der universelle Konflikt der Rettung. Damit soll dem Protagonisten Tim u. a. eine nicht näher definierte Schuld vergeben werden, die er auf sich geladen hat. Am Ende des Games muss Tim zusammen mit den Rezipierenden feststellen, dass er selbst das Monster ist, das die Prinzessin gefangen hält. Hier handelt es sich um einen Bruch mit den erzählerischen Konventionen des Jump&Run-Genres, bei dem man fast immer den Protagonisten steuert, der aber bei Braid zugleich der Antagonist ist, wie die Rezipierenden in einem Umschlag von Unkenntnis zu Kenntnis und Vergebung zu Schuld realisieren müssen. Ähnliche Wendepunkte findet man z. B. in BioShock: Infinite. Protagonist Booker kämpft gegen Zachary Comstock, den Erbauer der fliegenden Stadt Columbia. Am Ende muss Booker herausfinden, dass er selbst Comstock ist, zu dem er sich in einer alternativen Dimension entwickelt hat. Nun muss er einen metaphorischen Selbstmord begehen und seine Parallelexistenz ertränken, um den Antagonisten zu besiegen. In Assassins Creed  steuern die Rezipierenden zunächst Haytham Kenway. Nach etwa drei Stunden Spielzeit erfährt man, dass Haytham ein Templer ist – und damit ein Angehöriger des autoritären Ordens, den die Assassinen in den vorangegangenen Teilen des Spiels bekämpft haben. Anschließend übernehmen die Rezipierenden den eigentlichen Protagonisten

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Connor, der Assassine ist, gleichzeitig aber der Sohn Haythams. Am Ende des Spiels muss Connor seinen Vater Kenway töten – und damit die Rezipierenden ihren früheren Avatar. Eine weitere Besonderheit im Computergame ist die potenziell längere Erzählzeit im Vergleich mit einem Feature-Film. Zwar ist es schwierig, einheitliche Spielzeiten anzugeben, da diese auch erheblich vom Geschick der Rezipierenden abhängen. Allerdings kann man bei komplexen Spielen wie etwa Grand Theft Auto V von bis zu 100 Stunden Spielzeit ausgehen. Dies führt aber in der Regel nicht, wie etwa in langen Romanen oder Serien, zu einem multiperspektivischen Erzählen. Selbst bei Grand Theft Auto V sind nur drei spielbare Avatare und damit Perspektiven möglich. Potenziell sollte eine längere Erzählzeit auch eine komplexere Erzählung mit mehr Wendungen erlauben. Betrachtet man das Kriterium der Wendepunkte, so zeigt sich tatsächlich, dass bei einem Game wie BioShock mit einer Spielzeit von ca. 20 Stunden eine große Anzahl von starken Wendepunkten zu identifizieren ist, bei denen meist eine Transformation von Nicht-Wissen zu Wissen stattfindet: Der Protagonist Jack gerät nach einem Flugzeugabsturz in die geheime Unterwasserstadt Rapture (Wendepunkt 1). Dort bittet ihn Atlas, ein Bewohner der Stadt, um Hilfe. Jack soll Atlas’ Familie retten (WP2). Als der Versuch misslingt, schwört Atlas Rache und fordert Jack auf, Andrew Ryan zu vernichten, der seit dem Tod seines Gegenspielers Fontaine der alleinige Herrscher von Rapture ist (WP3). Jack gelingt es, Ryan aufzuspüren (WP4). Dabei wird enthüllt, dass Jack nicht nur Ryans Sohn (WP5), sondern auch ein Klon von ihm ist (WP6) und genetisch so manipuliert wurde, dass er mit Hilfe bestimmter Wortkombinationen kontrolliert werden kann (WP7). So erfahren Jack und die Rezipierenden auch, dass sie keine andere Wahl hatten, als Atlas’ Bitten nachzukommen, da er die entsprechenden Kombinationen kannte und benutzt hat (WP8). Obwohl er während des Spiels mehrfach an die Willensfreiheit von Jack

Wendepunkt und Transformation in interaktiven Erzählungen

appelliert, bringt Ryan mit Hilfe dieser Wortkombinationen Jack dazu, ihn, den eigenen Vater, zu töten (WP9). Anschließend erfährt Jack, dass Ryans alter Gegenspieler Fontaine noch lebt, seinen Tod nur vorgetäuscht hat (WP10) und in Wirklichkeit Atlas ist (WP11). Im anschließenden Showdown gelingt es Jack trotz seiner genetischen Programmierung, Atlas alias Fontaine zu töten. (WP12). Auch wenn die meisten Games wesentlich linearer und wendungsärmer erzählen, wird an diesem Beispiel deutlich, dass Games durchaus in der Lage sind, komplexe Plots zu erzählen, die eine Vielzahl von Wendungen aufweisen, die alle Kriterien erfüllen, die McKee an einen Wendepunkt stellt. Zusammenfassung: In der Handlung von Erzählungen kommt es immer wieder zu überraschenden Wendungen, die auf einer wissenschaftlichen Ebene als transformatorische Bewegung von erzählerischen Basisoppositionen beschrieben werden können. Bereits Aristoteles beschreibt dieses Phänomen und bezeichnet es als Peripetie. Syd Field erkennt in den Wendepunkten zudem ein wichtiges strukturierendes Element von Erzählungen, die die Aktgrenzen markieren. Robert Mckee schreibt den Wendepunkten neben der transformatorischen Bewegung noch vier weiter Wirkungen zu: Überraschung, gesteigerte Neugier, Einblick und eine neue Richtung der Erzählung. Diese Wirkungen differieren aber, je nachdem ob man die Wirkung auf die Rezipierenden oder auf die narrativen Figuren betrachtet. In interaktiven Erzählungen kann die Setzung von Wendepunkten die Entscheidungsfreiheit der Rezipierenden beeinträchtigen, da sie obligatorische Punkte der Erzählung sind und somit zwingend dargestellt werden müssen.

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Struktur dramatisch

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Narrative Struktur – Heldenreise in drei Akten

Untersucht man die Struktur von Erzählungen, stellt man immer wieder fest, dass die Handlungen und Ereignisse der Geschichte in spezifischer Weise angeordnet sind. Die Handlung der Erzählung ist dabei nicht nur durch einen Konflikt initiiert und durch transformatorische Bewegungen gekennzeichnet, sondern die Verknüpfung der Ereignisse ist in typischen Mustern organisiert. Die erste und grundsätzliche Beschreibung dieses Phänomens stammt von Aristoteles. Wir haben festgestellt, daß die Tragödie die Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung ist […] Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. (2012, S. 25).

Dieser Befund klingt zunächst trivial und nicht wirklich spezifisch. Man kann aber pointiert behaupten, dass auf diesem einen Satz das Modell der Drei-Akt-Struktur in Form von Exposition – Komplikation – Auflösung basiert, das heute noch die dominierende Struktur der Filmerzählung und von vielen Theaterstücken darstellt, die sich aber auch in einer Vielzahl anderer Erzählungen nachweisen lässt.

Struktur dramatisch Dabei ist der Mittelteil einer Erzählung, gerade im Drama, oft so lang und komplex, dass er strukturell wieder in drei Teile gegliedert wird, sodass die Struktur in insgesamt fünf Teilen dargestellt werden kann. Diese sogenannte Fünf-Akt-Struktur wird das erste

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Narrative Struktur – Heldenreise in drei Akten

Mal in der Antike von Horaz in seiner Ars Poetica beschrieben. Auch wenn sich nicht unbedingt alle griechischen Dramen auf diese Weise aufbauen, so ist dies doch die dominierende Form bei den römischen Dramatikern. Zudem wirkt diese auf Aristoteles zurückgehende Form bis in die Neuzeit, die meisten Dramen Shakespeares sind in fünf Akten erzählt, so wie auch der Großteil aller Theaterstücke bis ins 19. Jahrhundert. Als ein Standardwerk der Theaterdramaturgie gilt Gustav Freytags Die Technik des Dramas von 1863. Freytag beschreibt hier als die Abschnitte oder Akte der Handlung: ▶ ▶ ▶ ▶ ▶

die Exposition die steigende Handlung den Höhepunkt, die fallende Handlung den Endpunkt

Dabei werden in der Exposition die Vorgeschichte, die handelnden Figuren und der Kernkonflikt eingeführt. So wird etwa in Lessings Emilia Galotti geschildert, dass Prinz Hettore in Liebe zu Emilia entbrannt ist und ihre Hochzeit mit dem Grafen Appiani verhindern will. Im zweiten Akt wird die Handlung durch den von Freytag sogenannten erregenden Moment gesteigert – der Prinz hat Emilia in der Kirche galant angesprochen, Emilias Vater Odoardo erfährt entsetzt vom Begehren des Prinzen. Im dritten Akt steuert die Handlung auf ihren dramatischen Höhepunkt zu, zu der von Aristoteles so genannten Peripetie. (Vgl. Kapitel  Wendepunkte) In Emilia Galotti kommt es hier zur Ermordung von Emilias Verlobten und ihrer Entführung durch den Prinzen. Dann setzt die fallende Handlung ein, mit dem sogenannten „retardierenden Moment“. Handelt es sich um eine Tragödie, keimt hier für den Protagonisten oder die Protagonistin noch einmal Hoffnung auf – Vater Ordoado beschließt, den Prinzen seinerseits zu erdolchen. Handelt es sich um eine Erzählung mit

Struktur dramatisch

positivem Ausgang, kommt es hier zu einem Tiefpunkt, in dem die Hauptfigur ihr Ziel scheinbar doch nicht erreicht. Der fünfte Akt bringt dann die Auflösung der Erzählung, in der Tragödie von der Dramaturgie als „Katastrophe“ bezeichnet – Odoardo ersticht seine Tochter auf ihren eigenen Wunsch, damit sie ihre Tugend bewahren kann. Die Genrekonventionen der Tragödie verbieten einen positiven Ausgang, der erzählerisch aber natürlich denkbar ist und in Lustspielen und Komödien durchaus realisiert wurde. Auch wenn man keinesfalls davon sprechen kann, dass diese Fünf-Akt-Struktur in modernen Filmerzählungen ähnlich dominiert wie im klassischen Drama, sind doch viele ähnliche Parameter zu identifizieren. So kann man die Fünf-Akt-Struktur wieder auf das drei-aktige „Spielfilmparadigma“ von Syd Field übertragen. Der erregende Moment bei Gustav Freytag lässt sich z. B. mit dem sogenannten Inciting Incident oder dem Plot Point 1 der Filmdramaturgie gleichsetzen, die Peripetie mit dem sogenannten Midpoint. Das ist zunächst kein überraschender Befund, wenn man berücksichtigt, dass die Dramaturgie des Spielfilms sich aus der Theaterdramaturgie entwickelt. Zudem könnte man die Dominanz dieser Struktur mit der Wirkungsmacht der Aristotelischen Texte, und hier vor allem der Poetik, seit der Renaissance erklären. Allerdings beschreibt Zeami Motokiyo, einer der wichtigsten Schauspieler und Dramatiker des japanischen No-Theaters, bereits Anfang des 15. Jahrhundert die Struktur des klassischen No-Theater-Stücks ebenfalls als fünfteilig. Da die Texte der griechischen Antike zu dieser Zeit in Japan nicht rezipiert wurden, könnte man also vermuten, dass diese Erzählstruktur kulturübergreifend wirksam ist.

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Struktur mythologisch Gestützt wird diese Vermutung durch Arbeiten Vladimir Propps und vor allem Joseph Campbells. Propp, der die Struktur russischer Volksmärchen untersucht, stellt fest, dass es nur eine bestimmte Anzahl von Figuren und Handlungsabläufen gibt, die in diesen Märchen dargestellt werden. Ohne den Korpus seiner Untersuchungen auf Märchen anderer Kulturkreise zu erweitern, vermutet er, dass sich seine entwickelte Systematik kulturübergreifend anwenden lässt. Bestätigt wird diese Annahme durch die Arbeiten des Anthropologen Joseph Campbell. Dieser untersucht Sagen, Märchen und Schöpfungsmythen aus aller Welt und stellt in ihnen eine gemeinsame Struktur der Erzählung fest, die er als „Monomythos“ oder „Reise des Helden“ bezeichnet. In diesen Erzählungen werden bestimmte charakteristische Handlungen ausgeführt, die meist in bestimmten Muster-Abfolgen erzählt werden und so eine definierte Struktur bilden. Als eine der ersten Filmerzählungen, die sich dieses Prinzip zunutze gemacht haben, gilt Star Wars, dessen Autor und Regisseur George Lucas das Drehbuch auf der Basis von Campbells Erkenntnissen verfasst hat. Christopher Vogler, ein Mitarbeiter der Entwicklungsabteilung von Disney, hat die Erkenntnisse Campbells für das Hollywood-Erzählkino nutzbar gemacht. Er gliedert die „Heldenreise“ in 12 dramaturgische Schritte, die Held oder Heldin auf ihrer Reise machen müssen. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Gewohnte Welt Ruf des Abenteuers Weigerung Begegnung mit dem Mentor Überschreiten der ersten Schwelle Bewährungsproben, Verbündete, Feinde Vordringen zur tiefsten Höhle

Struktur mythologisch

8. 9. 10. 11. 12.

Entscheidende Prüfung Belohnung Rückkehr Auferstehung Rückkehr mit dem Elixier

In Star Wars lassen sich diese Schritte folgendermaßen darstellen: Luke Skywalker wird in der gewohnten Welt gezeigt, er führt ein eintöniges Leben auf der Farm seines Onkels. Als ihn über R2D2 der Hilferuf von Prinzessin Leia erreicht, folgt er diesem zunächst nicht – auch wenn er die Botschaft zu dem Einsiedler Obi Wan Kenobi bringt, der sein Mentor wird, ihn in das Prinzip der „Macht“ einweiht und ihm sein Laserschwert übergibt. Doch erst als die Truppen des Imperiums seinen Onkel und seine Tante ermorden, bricht Luke auf. Obwohl ihn die Soldaten des Imperiums daran hindern wollen, kann er Tattoine verlassen. Dabei unterstützt wird er von Obi Wan, Han Solo und Chewbacca. Sie können in den Todesstern eindringen, in dem eine Vielzahl von Prüfungen warten. Sie müssen abermals vor den Sturmtruppen Zuflucht suchen und finden Schutz in der Müllkammer des Todessterns – was Luke fast das Leben kostet. Schließlich können die Gefährten vom Todesstern fliehen, allerdings verliert Obi Wan dabei sein Leben und Luke seinen Mentor. Doch dafür haben sie die Baupläne des Todessterns erbeutet – ihre Belohnung. Sie kehren zur Rebellenbasis zurück, wo Luke nun nach seiner metaphorischen Auferstehung in der Müllkammer weiße Kleidung trägt und zum Showdown aufbricht, wo er den Todesstern dank seiner Kontrolle der Macht vernichten kann und so die metaphorische Auferstehung auch praktisch unter Beweis stellt. Nach bestandener Schlacht kehrt er mit dem – ebenfalls metaphorischen – Elixier der Freiheit zur Rebellenbasis zurück. Da die „gewohnte Welt“ gegensätzlich zur Welt des Abenteuers semantisiert ist und somit oft mit Eintönigkeit und wenig Auf-

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regung gleichgesetzt wird, gibt es in vielen Filmerzählungen noch einen vorgelagerten Prolog. Neben anderen Funktionen wie dem Setzen der Tonalität und einer Etablierung des Themas bzw. des Grundkonflikts soll er die Zuschauer von Anfang an in den Bann ziehen. Entsprechend beginnt auch Star Wars mit einer Raumschlacht und der Heldenreise der beiden Roboter C3PO und R2D2, die sie schließlich zu Luke bringt, woraufhin die Haupthandlung in Lukes „gewohnter Welt“ des Alltags beginnen kann. Dabei zeigt Vogler, dass sich die Drei-Akt-Struktur auch auf dieses Muster anwenden lässt. Für ihn ist das Überschreiten der ersten Schwelle, hinein in die magische Welt, mit dem Anfang des zweiten Aktes gleichzusetzen. Der dritte Akt dagegen beginnt mit der Rückkehr. Entsprechend könnte man ergänzen, dass das Vordringen zur tiefsten Höhle und die damit verbundene entscheidende Prüfung meist mit einem großen Wendepunkt, also einer Peripetie, einhergeht.

Struktur oral Aber nicht nur mythische und dramatische Stoffe, auch verbal vermittelte Erzählungen gliedern sich in einer bestimmten Struktur. Die Soziolinguisten William Labov und Joshua Waletzky untersuchen mündliche Alltagserzählungen, die sie in einkommensschwachen Vierteln in New York sammeln, deren Bewohner und Bewohnerinnen meist nur geringe Schulbildung aufweisen. Dabei berücksichtigen sie mehr als 600 Erzählungen von Angehörigen verschiedener Ethnien im Alter von 10 bis 72. Obwohl sie die große inhaltliche und formale Varianz der Erzählungen betonen, erkennen sie eine grundlegende Struktur in den mündlich vorgetragenen Erzählungen, die sie als „normal form“ bezeichnen. Diese ist laut Labov und Waletzky folgendermaßen strukturiert:

Struktur oral

▶ ▶ ▶ ▶ ▶ ▶

Abstract Orientation Complication Evaluation Resolution Coda

Der sogenannte „Abstract“ ist der eigentlichen Erzählung vorangestellt, signalisiert den baldigen Beginn der Geschichte im Sinne einer narrativen Rahmung und kann zudem Kontext schaffen sowie einen kurzen Überblick über die Erzählung geben. Anschließend beginnt die Erzählung in Form einer „Orientation“, bei der Ort und Zeit des zu berichtenden Geschehens sowie die handelnden Personen eingeführt werden. Es folgt die sogenannte „Complication“, in der die eigentliche Problemstellung dargestellt wird, die Handlung an Spannung gewinnt und weiter dramatisiert wird. Diese mündet dann in die „Evaluation“, die den zentralen Punkt der Erzählung und das eigentliche Kommunikationsanliegen thematisiert, somit auch als der Kern oder Höhepunkt der Handlung begriffen werden kann. Es folgt die „Resolution“, also die Auflösung der Handlung im Sinne einer Geschlossenheit. Abschließend folgt die „Coda“, die ein Resümee der Handlung bildet, in dem sie im Sinne eines „Sensemaking“ noch einmal zentrale Punkte der Geschichte zusammenfasst sowie fokussiert und den Zuhörenden das Ende der Erzählung signalisiert. Labov und Waletzky weisen darauf hin, dass keiner ihrer Probanden einen High School-Abschluss hat. Es ist also davon auszugehen, dass die Erzählerinnen und Erzähler keinerlei dramaturgische Ausbildung genossen haben. Ihre Erzählleistung ist, so ist demzufolge anzunehmen, rein intuitiv. Trotzdem folgt die Struktur der beschriebenen Geschichten dem in den dramaturgischen Theorien beschriebenen Aufbau. Es gibt eine – ebenso benannte – „Exposition“. Dann kommt es durch die „Complication“

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zu einer Steigerung der dramatischen Spannung, ebenso wie es Freytag mit dem „erregenden Moment“ postuliert. Dem folgt der Höhepunkt der Handlung, so wie Aristoteles und Freytag der Peripetie diese Funktion zuweisen. Die Handlung wird mit einer Auflösung beschlossen, ebenso wie in der klassischen Dramaturgie. Da der „Abstract“ genaugenommen kein Teil der Geschichte ist, ebenso wie der Trailer eines Films oder der Klappentext eines Buches kein Teil der Geschichte sind, sondern Neugier und Spannung wecken sollen, könnte man sogar analog zu den fünf Akten fünf Abschnitte der erzählten Geschichte benennen. Auch die spontan vermittelte, mündliche Erzählung folgt also den bereits beschriebenen Strukturprinzipien. Durch diesen Befund wird die Annahme, dass die narrative Struktur ein kulturübergreifendes Prinzip darstellt, weiter gestützt.

Struktur interaktiv Untersucht man interaktive Erzählungen hinsichtlich ihrer narrativen Struktur, fällt ein Problem sofort auf. Interaktivität bedeutet für die Rezipierenden, in den Ablauf der Geschichte eingreifen zu können. Das steht aber im Widerspruch zu der Struktur eines linearen Erzähltextes. Weisen interaktive Medientexte nun keine erzählerische Struktur auf? Bei den sogenannten „Sandbox“ oder „Open-World“-Games, die eine für die Rezipierenden frei begehbare Spielwelt erzeugen, ist das durchaus möglich. Unterscheiden muss man in diesem Genre noch zwischen Spielen, die keine von den Game-Designern vorgegebene Storyline beinhalten und bei der die Rezipierenden die Spielwelt weitgehend frei erkunden oder sogar gestalten können, also etwa Minecraft oder The Sims. Hier liegt keine narrative Strukturierung des Spiels vor. Ein anderer Fall sind Open-World-Spiele, die trotzdem vorgegebene

Struktur interaktiv

Storylines enthalten, also etwa Grand Theft Auto V oder Red Dead Redemption . Obwohl die Handlung dieser Games aufgrund der langen Spielzeit relativ komplex ist und eine Menge von optionalen Missionen und damit auch Geschichten spielbar sind, zudem die Rezipierenden die ganze Spielwelt erkunden können, ist hier durchaus eine narrative Strukturierung zu erkennen. In beiden Spielen ist eine klare Exposition dargestellt, in beiden Fällen wird ein Überlebenskonflikt etabliert, zudem gibt es eine narrative Auflösung und Transformation. In GTA V sind dabei, abhängig von den Entscheidungen der Rezipierenden, drei verschiedene Enden möglich. In RDD 2, das im Sinne eines Prequels die Vorgeschichte zu dem zuvor veröffentlichten Teil der Reihe Red Dead Redemption erzählt, ist für den Protagonisten Arthur dagegen nur ein tragisches Ende möglich – er stirbt an Tuberkulose. Die Erzählung behandelt von da an das weitere Schicksal von John, dem Protagonisten des zeitlich nachgelagerten Games Red Dead Redemption. Spiele wie die Zelda-Reihe, die teilweise auch dem OpenWorld-Genre zugerechnet werden, weisen eine noch stärkere narrative Strukturierung auf, die Handlungen und Ereignisse der Storyline sind oft im Sinne einer mythologischen Heldenreise gestaltet. Tatsächlich empfehlen viele Game-Designer den Monomythos als Blaupause zum Design eines narrativen Games. So ist in vielen Games eine entsprechende Strukturierung zu finden, etwa in Blademasters, in vielen Teilen der Tomb Raider-Reihe oder in parodierender Form in Fable. Allerdings geht eine entsprechende Gestaltung mit einer reduzierten Interaktivität einher, denn wie bereits beschrieben, sind bestimmte Wendepunkte der Handlung zwingend und müssen über eine entsprechend direktive Spielgestaltung oder sogenannte Cut-Scenes – also animierte Sequenzen in denen die Rezipierenden keine Eingriffsmöglichkeiten haben – angesteuert werden. Noch stärker ist die Interaktivität bei den sogenannten Visual Novels eingeschränkt, die vor allem im japanischen Kulturraum verbreitet sind. Die

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Spielelemente sind hier weitgehend reduziert, die Interaktivität beschränkt sich in erster Linie darauf, Entscheidungen zu fällen, auf welche Weise die Handlung fortgesetzt wird. Hier liegt meist eine sehr starke narrative Strukturierung vor, vergleichbar mit der Struktur längerer Filmerzählungen. Es ist offenbar schwierig, eine befriedigende narrative Strukturierung und eine interaktive Rezeption zu vereinbaren, wenn man nicht entscheidende Segmente der Handlung direktiv festlegt – also das Prinzip der Interaktivität annulliert. Ein Befund, der analog zur Problematik der Gestaltung von Wendepunkten in interaktiven Erzählungen zu begreifen ist. Den Monomythos oder andere Strukturmodelle als modularen Erzähl-Baukasten zu begreifen, ohne die Geschichte in das Korsett einer Drei- bzw. Fünf-Aktstruktur zu zwingen oder linear die Schritte der Heldenreise abzuarbeiten, könnte sich aber für das Design non-linearer Erzählungen in interaktiven Medien als erfolgversprechende Gestaltungsstrategie erweisen. Zusammenfassung: Narrative Texte neigen dazu, sich in spezifischer Form zu strukturieren. Diese Form wird im klassischen Drama als Drei-Akt oder Fünf-Akt-Struktur beschrieben und lässt sich auch in modernen Filmerzählungen nachweisen. Dabei scheint eine prototypisch narrative Struktur kulturübergreifend wirksam zu sein, wie der Anthropologe Joseph Campbell bei der Untersuchung von Märchen und Mythen aus aller Welt feststellt. Die diesen Erzählungen zugrundeliegende Struktur nennt er Monomythos. Auch sie lässt sich in drei bzw. fünf Akte gliedern, wie Christopher Vogler zeigt. Aber nicht nur Dramen und Märchen unterliegen dieser Struktur, sondern auch intuitiv und spontan vermittelte Alltagserzählungen, wie die Soziolinguisten Labov und Waletzky nachweisen. Die entsprechende Strukturierung von narrativen Computergames kann mit einer Einschränkung der Interaktivität einhergehen.

Kausalität als Bedingung für Narrativität

10 Kausalbeziehungen – Warum und Wodurch

Kausalität als Bedingung für Narrativität Die meisten wissenschaftlichen Minimaldefinitionen bestimmen die Erzählung als eine Kette von Ereignissen in Zeit und Raum. Daraus kann man die Frage ableiten, in welcher Form diese Ereignisse miteinander verknüpft sind. Eine historische Chronik schildert ebenfalls eine Abfolge von Ereignissen in Zeit und Raum: Kriege, Missernten, Unwetter, Geburten, Todesfälle. Dabei erzählt sie aber nicht zwangsläufig eine Geschichte. Ebenso können in Gedichten Handlungen und Ereignisse geschildert werden, ohne dass diese eine narrative Form annehmen müssen. Sie können es durchaus, zum Beispiel im Falle von Balladen wie Schillers Die Bürgschaft oder Fontanes Die Brücke am Tay. Sie müssen es aber nicht, wie etwa in Werken des Dadaismus, so z. B. in Hans Arps Gedicht Kaspar ist tot oder in der konkreten Poesie, z. B. in Eugen Gomringers es – immer wieder gelingt es. Bei den beiden letztgenannten Beispielen fehlt ein wichtiges Merkmal des Narrativen: Die kausale Verknüpfung der Handlungen und Ereignisse. Während in anderen Textformen Ereignisse durchaus singulär und ohne kausale Verknüpfung dargestellt werden können – zum Beispiel wie im Fall der Chronik nur in einer zeitlichen Verknüpfung oder im Falle der Poesie in einer thematisch-ästhetischen –, bedingen sich bei einer Erzählung die Handlungen und Ereignisse im Sinne einer Impulskette und stellen sie so erst in den spezi-

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Kausalbeziehungen – Warum und Wodurch

fisch narrativen Sinnzusammenhang. Oder, anders ausgedrückt: Geschichten schildern in einer Kausalkette das Wie und Warum von Veränderungen. Romeo und Julia können nicht heiraten, weil ihre Familien verfeindet sind. Deshalb soll Julia mit einem anderen Mann verheiratet werden. Um der Heirat zu entrinnen, nimmt sie einen Trunk, der sie in einen todesähnlichen Schlaf versetzt. Weil Romeo daraufhin glaubt, sie sei gestorben, wählt er den Freitod. Julia will ohne ihren Geliebten nicht weiterleben und erdolcht sich. Eine Handlung folgt aus der nächsten und wäre ohne die vorhergehende nicht denkbar. Es ist wiederum Aristoteles, der als erster auf diese spezifische Art der Sinnproduktion hinweist. Peripetie und Wiedererkennung müssen sich aus der Zusammensetzung der Fabel selbst ergeben, d. h. sie müssen mit Notwendigkeit oder nach der Wahrscheinlichkeit aus den früheren Ereignissen hervorgehen. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob ein Ereignis infolge eines anderen eintritt oder nur nach einem anderen. (2012, S. 35)

Entsprechend kritisch sah Aristoteles Stilmittel wie den Deus Ex Machina, also eine Göttergestalt, die am Ende des Stückes überraschend und unvermittelt auftritt und in die Handlung eingreift, so wie in der Orestie von Aischylos, als nur noch das Auftauchen der Göttin Athene die Kette von Rache und Gewalt im Haus der Atriden beenden kann. Nicht nur die Erzählwissenschaft, auch die Kognitionspsychologie stützt diesen Befund. Entsprechende Untersuchungen belegen, dass es bereits Kinder ablehnen, von einem Text als „Geschichte“ zu sprechen, wenn er keine Kausalverknüpfungen aufweist. Nun heißt aber eine Kausalbeziehung nicht, dass die Verknüpfung der Handlungen und Ereignisse zwangsläufig und voraussehbar wäre. Denn das würde dem narrativen Merkmal

Formen der Kausalität

des Wendepunktes widersprechen, der überraschende Ereignisse einfordert. Es lohnt sich also, Formen der Kausalbeziehung näher zu untersuchen.

Formen der Kausalität Der Begriff der Kausalität ist auch in der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie nicht eindeutig definiert und durchaus vieldeutig. In Bezug auf Kausalbeziehungen in Erzählungen schlägt der Linguist Yeshayahu Shen deshalb eine Differenzierung vor und unterscheidet drei verschiedene Formen von Kausalbeziehungen in erzählenden Texten, die sich wie folgt beschreiben lassen: ▶ Die Beziehung der Ursache ▶ Die Beziehung der Voraussetzung ▶ Die Beziehung der Motivation Die Beziehung der Ursache ist als eine Kausalverknüpfung zu verstehen, bei der das erste Ereignis eine notwendige und gleichzeitig hinreichende Bedingung für das zweite Ereignis darstellt, zum Beispiel: „Die Prinzessin warf den Goldenen Ball, der Ball flog“. Die Beziehung der Voraussetzung ist eine Verknüpfung, bei der das erste Ereignis eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung darstellt, also etwa: „Die Prinzessin warf den Goldenen Ball, der Ball flog in den Brunnen, wo ein Frosch ihn fand“. Die Beziehung der Motivation dagegen liegt vor, wenn ein Ereignis eintrifft oder eine Handlung ausgeführt wird, die eine narrative Figur dazu motiviert, eine bestimmte zweite Handlung auszuführen, ohne dass hier eine hinreichende Bedingung vorläge. Also zum Beispiel: „Als der Frosch in ihrem Bett übernachten wollte, warf die Prinzessin ihn vor lauter Ekel an die Wand“.

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Dabei lässt die Beziehung der Ursache aufgrund ihrer Ausschließlichkeit und damit Alternativlosigkeit keine Risikomomente oder mögliche Wendungen zu. Man könnte eine Erzählung, die nur kausale Beziehungen der Ursache aufweist, auch als eine Erzählung bezeichnen, die nur aus Katalysen besteht und deren Kardinalfunktionen fehlen. Ob ein solcher Text überhaupt noch als Erzählung wahrgenommen würde, ist fraglich. Offenbar ist nicht nur die Kausalität an sich Voraussetzung für einen erzählerischen Text, sondern es bedarf auch bestimmter Formen der Kausalität – hier insbesondere die Beziehung der Voraussetzung und der Motivation, da diese Wendungen zulassen und damit erst narrative Transformationen ermöglichen. Trotzdem sind in verschiedenen Erzählungen auch weiter zu differenzierende Formen der Kausalität festzustellen. So können in praktisch allen Questen in World of Warcraft Heiler-Figuren mit Zaubersprüchen die Wunden von verletzten Figuren versorgen und so ihre Gesundheit und Kampfkraft wiederherstellen. Auch in literarischen oder filmischen Fantasy-Erzählungen ist dies eine häufig vorkommende Prämisse. Bei Anwendung eines entsprechenden Zauberspruchs und anschließender Heilung kann man von einer Beziehung der Ursache ausgehen. Würde aber nun besagte Heiler-Figur in Tolstois Krieg und Frieden auftauchen, um dort den schwer verwundeten Fürst Andrej Bolkonski mit einem Zauberspruch zu behandeln und ihm so das Leben zu retten, würde das zu Recht als erzählerischer Bruch gewertet werden. Eine entsprechende Kausalbeziehung ist in Tolstois Roman nicht herzustellen, denn er schildert eine realistische Welt. Im Russland des 19. Jahrhunderts ist Magie wirkungslos und es gibt keine heilenden Zaubersprüche. Verschiedene Storyworlds unterscheiden sich also noch einmal nach den Bedingungen, unter denen sich Kausalbeziehungen realisieren lassen. Entsprechend geht der Erzählforscher Brian Richardson davon aus, dass jedes Setting bzw. jede Storyworld ein eigenes System

Formen der Kausalität

kausaler Gesetzmäßigkeiten generiert. Er unterscheidet dabei vier grundsätzliche Typen kausaler Settings: ▶ ▶ ▶ ▶

Supernatural Naturalistic Metafictional Chance

Dabei können in einem „Supernatural“-Setting übernatürliche Kräfte und Akteure wie Zauberer, Hexen, Feen oder Götter die Ereignisse direkt beeinflussen und gestalten, realisiert etwa im Fantasygenre, in den Superheldencomics, der Märchenliteratur oder auch in Theaterstücken wie der Orestie oder Macbeth. In den als „Naturalistic“ bezeichneten Storyworlds gelten dagegen die Naturgesetze, und alle Ereignisse werden von Menschen oder natürlichen Kräften ausgelöst. Beispiele hierfür sind Romane wie Krieg und Frieden, Fernsehserien wie Breaking Bad oder autobiographisch inspirierte Comics wie Joe Matts Peepshow. „Metafictional“-Settings sind für Richardson in Werken gegeben, die auf einer Meta-Ebene ihre eigene Textform thematisieren und sich als gemachte Erzählung zu erkennen geben, indem die Erzählebenen durch sogenannte Metalepsen durchbrochen werden. Von einer Metalepse spricht man, wenn sich zwei vormals getrennte Erzählebenen vermischen. So können sich zum Beispiel die narrativen Figuren ihres Status als fiktionale Charaktere bewusst sein oder der Erzähler kann in der Storyworld auftreten und in die Geschichte eingreifen. Beispiele hierfür sind Filme wie Schräger als Fiktion, Bandersnatch oder Duck Amuck, Romane wie Rushdies Mitternachtskinder und Laurence Sterns Tristram Shandy, Theaterstücke wie Sechs Personen suchen einen Autor von Pirandello oder Games wie Max Payne. In den mit „Chance“ bezeichneten Storyworlds werden die kausalen Beziehungen zeitweise oder ständig unterbrochen. Unwahrscheinliche Ereignisse kreieren absurde oder unplausible Situationen und Handlungen,

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die auch nach dem Zufallsprinzip aufeinander folgen können. Beispiele hierfür sind Romane wie James Joyces Ulysses, viele der Erzählungen Kafkas, Theaterstücke von Beckett, die surrealistischen Filme von Bunuel und Lynch, weiterhin Arbeiten von Godard wie Weekend oder Elf Uhr nachts. Jede Erzählwelt kann also potentiell ihre eigenen kausalen Gesetzmäßigkeiten kreieren. Wichtig beim Storytelling im Sinne einer nachhaltigen und gelingenden Kommunikation ist, diese Gesetzmäßigkeiten möglichst klar und möglichst schon zu Beginn der Erzählung zu formulieren, um die Rezipierenden so über die erzählerischen Regeln und die entsprechenden Kausalbeziehungen zu informieren. So werden etwa in den Harry Potter-Romanen immer wieder eine Vielzahl von Erklärungen eingeflochten, die die Regeln, Möglichkeiten und Beschränkungen der magischen Welt erläutern – was unter anderem durch das Schulsetting erleichtert wird, in dem die Lehrkräfte es übernehmen, sowohl die Rezipierenden als auch die narrativen Figuren über die Regeln der magischen Welt zu unterrichten. Es ist natürlich auch möglich, auf diese Informationen zu Beginn zu verzichten und die Rezipierenden im Unklaren zu lassen, wie die spezifischen Kausalbeziehungen gestaltet sind und sie, zum Beispiel aus einer künstlerischen Entscheidung heraus, im Sinne eines metatextuellen Wendepunktes zu überraschen – so wie dies in den mit „Metafictional“ bezeichneten Settings der Fall sein kann. Allerdings macht auch eine Vermischung der Erzählebenen nur Sinn, wenn man diese Ebenen vorher klar etabliert hat. So scheint Schräger als Fiktion zunächst in einem naturalistischen Setting zu spielen. Protagonist Harold führt ein ganz normales Leben als Angestellter der Steuerbehörde, liebt Mathematik sowie genau geplante Abläufe und Routinen, wie uns die Erzählerinnenstimme aus dem Off informiert. In einem metatextuellen Wendepunkt, entsprechend dem Plot Point 1, beginnt aber auch Harold, die ursprünglich extradiegetische

Formen non-kausalen Erzählens

Stimme der Erzählerin zu hören, die Erzählebenen vermischen sich, die weitere Geschichte in einem „Metaficitional“-Setting nimmt ihren Lauf.

Formen non-kausalen Erzählens Trotz der geschilderten Befunde findet man teilweise auch unter Erzählwissenschaftlern die Auffassung, dass eine kausale Verknüpfung der Ereignisse kein zwingendes Element narrativer Textgestaltung ist. Begründet wird dies unter anderem durch Beispiele aus dem literarischen Erzählen, bei dem seit dem 19. Jahrhundert oft explizit auf Kausalitäten verzichtet wird, so etwa in Henry James Die Drehung der Schraube, in Kafkas Die Verwandlung oder Austers Stadt aus Glas. Im 20. Jahrhundert ist diese Tendenz auch in anderen Medien zu beobachten, in expressionistischer Lyrik, im surrealistischen Film oder im absurden Theater. Wenn man die genannten Texte näher betrachtet, fällt jedoch auf, dass sich auch dort eine Vielzahl von Kausalbeziehungen findet. So wird in Kafkas Die Verwandlung zwar nicht kausal hergeleitet, warum sich Gregor Samsa in einen Käfer verwandelt. Die meisten Beziehungen in den Ereignissen des Textes sind trotzdem kausal organisiert: Gregors Vater ist durch den Käfer, in den sich sein Sohn verwandelt hat, angewidert, woraufhin er mit einem Apfel nach ihm wirft, woraufhin der Apfel im Panzer von Gregor steckenbleibt, woraufhin der Apfel in seinem Panzer festwächst und seinen Tod verursacht. Hier sind also eine Vielzahl von Kausalbeziehungen der Ursache, der Voraussetzung und der Motivation gegeben, auch wenn das Setting durch die ungeklärte Verwandlung dem Typ „Chance“ zuzurechnen ist. Dieser Befund lässt sich auf die meisten anderen Erzählungen Kafkas ausweiten.

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Ähnliches lässt sich im surrealistischen Film feststellen, wenn man z. B. Arbeiten von Luis Bunuel oder David Lynch betrachtet, in denen immer wieder non-kausal verknüpfte Handlungs- und Ereignisfolgen realisiert werden. Trotzdem finden wir etwa in Belle de Jour – Schöne des Tages von Luis Buñuel ebenso eine Vielzahl von kausal organisierten Ereignisketten. Pierre, der Ehemann von Severine, die sich prostituiert, wird im Laufe des Films von dem eifersüchtigen Marcel niedergeschossen und muss sich fortan invalide in einem Rollstuhl fortbewegen. Später besucht Marcel das Paar noch einmal und droht Severine, gegenüber Pierre ihr Doppelleben aufzudecken. Severine lässt die beiden allein, als sie wiederkommt, laufen Pierre Tränen über die Wangen – offenbar wurde ihr Geheimnis enthüllt. Bis dahin ist die Handlung kausal zu erklären. Nur in der letzten Szene, die das Paar allein in der Wohnung zeigt, steht Pierre plötzlich aus dem Rollstuhl auf und kann – ohne eine kausale Herleitung – wieder laufen. In dieser Handlungskette ist dies allerdings das einzige non-kausale Element der Erzählung. Eine der berühmtesten Szenen aus Mulholland Drive von David Lynch ist die Winkie-Diners-Sequenz. Nachdem die Protagonistin Diane auf ihrem Bett eingeschlafen ist, wechselt der Film unvermittelt den Schauplatz und wird in einem Diner fortgesetzt, in dem sich zwei Männer treffen, die bislang nicht in der Erzählung aufgetaucht sind. Dan, einer der beiden Männer, berichtet seinem Gegenüber, dem er offenbar freundschaftlich verbunden ist, von einem wiederkehrenden Alptraum, der ihn plagt. In diesem Traum sieht Dan einen Mann, der hinter dem Diner lebt. Dans Freund will ihn beruhigen und schlägt deshalb vor zu überprüfen, ob der furchteinflößende Mann sich wirklich dort befindet. Die beiden gehen hinaus, Dan sichtlich nervös. Als sie hinter dem Diner sind, taucht hinter einer Mauer plötzlich ein Mann mit schwarzgefärbtem Gesicht auf. Dan erschrickt zutiefst, schreit schockiert auf und bricht besinnungslos zusammen, sein

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Freund muss ihn auffangen. Dann ist die Szene beendet. Im Gesamtgefüge der Filmerzählung ist die Szene vollkommen isoliert und in keinen kausalen Zusammenhang einzuordnen. Dan und sein Freund spielen in dem Film keine weitere Rolle mehr. Innerhalb der Szene sind allerdings sämtliche Handlungsbeziehungen kausal organisiert, so wie auch die meisten anderen Ereignisse und Handlungen der Erzählung. Diese Beispiele sollen deutlich machen, dass auch Erzählungen, die von der Kritik oder der Literatur- und Filmwissenschaft als non-kausal eingeordnet werden, eine Vielzahl von Kausalbeziehungen aufweisen, die die Handlungen und Ereignisse verknüpfen – und den Text so erst zu einer Erzählung machen. Nur bestimmte Knotenpunkte, die bei Lynch meist mit Szenengrenzen identisch sind, bei Kafka oder Bunuel mit Kardinalfunktionen bzw. Wendepunkten, sind non-kausal verknüpft. Verzichtet ein Text vollständig auf Kausalbeziehungen, wäre seine Einordnung als Erzählung wahrscheinlich fragwürdig. Nonkausales Erzählen ist in seiner konsequenten Form keine Erzählung mehr, sondern findet seinen Ausdruck in assoziativen Gedichten, der konkreten Poesie, dem Dadaismus oder in Texten der Fluxusbewegung. Insofern könnte man non-kausales Erzählen auch als eine prinzipiell antinarrative Strategie bezeichnen – die aus künstlerischen Erwägungen aber durchaus ihren Platz im Storytelling haben kann.

Kausalität und Interaktivität Betrachtet man interaktive Erzählungen und hier wieder vor allem Games, so fällt auf, dass es dort nur wenige Beispiele für Storyworlds gibt, die man mit „Chance“ oder „Metafictional“ bezeichnen kann. Die überwiegende Mehrzahl von Games ist in

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übernatürlichen oder naturalistischen Settings angesiedelt. Beispiele für naturalistische Settings sind die Spiele der Reihen Far Cry oder Grand Theft Auto, übernatürliche Settings findet man in der Tomb Raider-Reihe oder in den Fantasy-Storyworlds von World of Warcraft oder Diablo. Eine Erklärung für diesen Befund liegt vermutlich in der interaktiven Natur des Mediums. Wenn die Eingriffe der Rezipierenden keine Wirkung zeigen würden, wie dies in metafiktionalen oder von Zufällen dominierten Storyworlds immer wieder der Fall wäre, wenn also kein Kausalzusammenhang der Ursache zwischen einer Eingabe von Rezipierendenseite und einem dadurch ausgelösten Ereignis oder einer Handlung in der Storyworld des Games gegeben wäre, würde das Prinzip der Interaktivität ad absurdum geführt. Gestützt wird diese Annahme auch noch durch einen anderen Befund: In den genannten Games ist eine Vielzahl von Beziehungen der Ursache zu finden, also die einfachste und direkteste Art der Kausalbeziehung, bei der die Eingaben der Rezipierenden eine unmittelbare Wirkung haben. Wenn Lara Croft ihre Waffe betätigt, löst sich ein Pfeil beziehungsweise eine Kugel, wenn sie läuft, legt sie eine bestimmte Strecke zurück, wenn sie einen Gegenstand aufnimmt, kann sie ihn bewegen usw. Diese Vorgänge, die in ihrer Darstellung oft vollkommen wendungsfrei sind, keine Transformation beinhalten und im Film wahrscheinlich einem Schnitt zum Opfer fielen, sind im Game nötig, weil im Sinne der Spielregularien bestimmte Strecken zurückzulegen, eine bestimmte Anzahl von Antagonisten auszuschalten, bestimmte Hindernisse zu überwinden sind. Man kann also eine Medienspezifik feststellen: Beziehungen der Ursache treten in Games im Gegensatz zu anderen Erzählmedien gehäuft auf. Zudem sind Games aufgrund ihrer Rezeptionsweise vorzugsweise in Settings angesiedelt, die sich als „Supernatural“ oder „Naturalistic“ bezeichnen lassen. Nun dominieren auch im filmischen und literarischen Erzählen sowie in Comics oder Graphic Novels naturalistische

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und übernatürliche Storyworlds gegenüber den beiden anderen Settings. Trotzdem finden sich gerade in Film und Literatur viele Beispiele für Storyworlds der Settings „Chance“ und „Metafictional“, die sogar so zahlreich sind, dass dafür eigene Genrebezeichnungen entstanden sind, so etwa der surrealistische Film, der postmoderne Roman oder das absurde Theater. In Games sind die Settings „Chance“ und „Metafictional“ dagegen noch Ausnahmen. Trotzdem gibt es auch hier Beispiele, so wie etwa das Independent-Game The Stanley Parable, das mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet wurde. Der Protagonist Stanley arbeitet auf einer Büroetage, wo er über seinen Computer Anweisungen für seinen Arbeitsalltag bekommt. Eines Tages bleiben die Anweisungen aus, und er stellt fest, dass er völlig allein in dem Büro ist. Wohin seine Kollegen verschwunden sind, wird nicht erklärt. Er muss nun in dem Bürokomplex nach einem Weg suchen, um das Rätsel zu lösen. Dabei wird er von einem Erzähler geführt, der Stanley auf seinem Weg durch die Gänge des Gebäudes Anweisungen gibt. Oft hat Stanley mehrere Optionen, den Weg fortzusetzen und z. B. die linke oder die rechte Tür zu öffnen. Im Gegensatz zu der gewohnten Spielmechanik muss Stanley aber nicht den Vorschlägen des Erzählers folgen, sondern kann seinen eigenen Weg gehen. Er kann also gegen die Erzählung handeln, was von dem Erzähler mit Missfallen kommentiert wird. An anderen Stellen wird die Kausalität der interaktiven Spielaktion außer Kraft gesetzt, wenn die Rezipierenden Knöpfe drücken müssen, ohne dass diese Intervention einen Effekt hätte. Insgesamt ist die ganze Storyworld in einem irritierenden Zustand, die Rezipierenden können nicht antizipieren, was sie beim Betreten des nächsten Raumes erwartet: eine Kunstausstellung, eine Bombenexplosion, ein Baby, das in eine Feuersbrunst krabbeln will – oder ob man sich sogar unvermittelt in einem anderen Game wie Portal oder Minecraft wiederfindet. Szenen der entsprechenden

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Games sind in The Stanley Parable ebenfalls enthalten. Es liegt also eine Storyworld vor, die Richardson mit „Chance“ bezeichnen würde, zudem sind metaleptische Brüche der Erzählebenen wie in metafiktionalen Settings gegeben, wenn der Erzähler Entscheidungen der Rezipierenden kritisiert. Die Frage, warum die Welt Stanleys so aus den Fugen geraten ist, wird nicht abschließend beantwortet. Insgesamt hat das Spiel neunzehn mögliche Enden, bei denen verschiedene Erklärungsmodelle angeboten werden. Unter anderem wird erzählt, dass Stanley in einem Koma liegt und träumt, er befinde sich in einer virtuellen Realität. Bei einem anderen Ende ist er Opfer einer Super-Intelligenz geworden, die ihn und seine Welt manipuliert. Das erklärte Ziel des Entwicklers Davey Wrede war, Gewohnheiten und Vorannahmen von Spielern zu unterlaufen. Die ständige Durchbrechung von Kausalbeziehungen ist dabei ein besonders wirkungsvolles Gestaltungsmittel, wie sich an diesem Beispiel zeigt. Eine interaktive Rezeption, die mit Formen der Kausalbeziehung experimentiert, ist aber nicht nur auf Computergames beschränkt. Der interaktive Film Bandersnatch scheint zunächst in einem naturalistischen Setting zu beginnen. Protagonist Stefan will ein Game programmieren und wendet sich an einen Spieleentwickler, der ihm schließlich den ersehnten Auftrag gibt. Nach und nach brechen aber – unter anderem durch die interaktiven Eingriffe der Rezipierenden – seltsame Ereignisse in die Erzählwelt ein, die sich Stefan nicht erklären kann und die ihn psychisch immer weiter destabilisieren. Schließlich beginnt Stefan in einem metatextuellen Eingriff mit den Rezipierenden zu kommunizieren – und die Erzählwelt entpuppt sich als ein „Metafictional“-Setting. Die interaktiven Eingriffe selbst werden somit Teil der Handlung, denn durch die Eingriffe entstehen Situationen, die sich für Stefan nicht in die kausalen Gesetzmäßigkeiten seiner Welt einordnen lassen – bis er entdeckt, dass er in einer fiktionalen Welt existiert, was ihn wiederum zu neuen

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Handlungen motiviert. Die widersprüchlichen Kausalgesetze der Welt der Rezipierenden und der Storyworld des Protagonisten haben hier also direkte Auswirkungen auf die Erzählung. Ein weiteres Beispiel für innovative Gestaltung von Kausalbeziehungen in einer interaktiven Erzählung stellt das Game Antichamber dar. Zunächst wirkt das Gameplay klassisch, die Rezipierenden müssen sich durch ein Labyrinth bewegen und Räume erkunden, in denen Rätsel gelöst werden müssen, meist dreidimensionale Puzzle-Aufgaben. Auf den ersten Blick scheint es sich bei Antichamber um ein „Naturalistic“-Setting im Sinne Richardsons zu handeln. Doch wenn man sich fortbewegt und die Position verändert, ändern sich auch die räumlichen Gegebenheiten: Objekte wechseln ihre Form, neue Wege entstehen, andere verschwinden. Es handelt sich bei der Storyworld von Antichamber um eine Welt mit einer nichteuklidischen Geometrie. Eine zentrale Aufgabe der Rezipierenden ist es, diese Gesetzmäßigkeiten, die sich von den physikalischen Gesetzen unserer Welt unterscheiden, zu erforschen. Eine Einordnung in die vorgestellten Kategorien fällt hier schwer. Man kann im Grunde nicht von einem „Naturalistic“-Setting sprechen, denn es gelten andere Naturgesetze als in unserer realen Welt. Diese werden aber nicht von übernatürlichen Kräften manipuliert, sie sind auch nicht zufällig, und ebenso wenig greift der Erzähler oder Erbauer dieser Welt in das Geschehen ein. Insofern sind die Kausalbeziehungen unserer Welt außer Kraft gesetzt, nicht aber diejenigen der Alternativ-Welt, in der Antichamber angesiedelt ist. Ergänzen müsste man die Kategorien Richardsons hier um ein „Alternative“-Setting, das nicht wie das Setting „Chance“ von Zufällen dominiert wird, sondern Kausalbeziehungen beinhaltet, die aber von einem naturalistischen Setting in unserem Sinne differieren und andere Kausalgesetze zulassen. Diese Kategorie ließe sich auch auf andere Erzählmedien übertragen. So sind z. B. in Science-Fiction-Erzählungen durch technischen Vorsprung oder

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kulturelle Besonderheiten andere Kausalbeziehungen möglich als in unserer „Naturalistic-World“, ohne dass übernatürliche Kräfte in die Ereignisse eingreifen oder der Zufall bemüht werden muss. Entsprechend läge auch bei Antichamber ein alternatives kausales Setting vor. Die genannten Beispiele zeigen, dass die ursprünglich literarische Strategie der Brechung von Kausalbeziehungen gerade in interaktiven Erzählwelten zu besonders interessanten und reizvollen Ergebnissen führen kann. Zusammenfassung: Die kausale Verknüpfung der Handlungen und Ereignisse ist Voraussetzung für die narrative Form. Dabei kann man auf einer narrativen Ebene verschiedene Arten der kausalen Verknüpfung unterscheiden, die Beziehung der Ursache, der Voraussetzung und der Motivation. Die Beziehung der Ursache ist als die narrativ am wenigsten wirkungsvolle zu betrachten, da sie wegen ihrer Ausschließlichkeit keine Wendepunkte zulässt. Weiterhin definiert jede Storyworld ihre eigenen kausalen Gesetzmäßigkeiten. Dabei kann man vier verschiedene Modelle unterscheiden: „Supernatural“, „Naturalistic“, „Metafictional“ und „Chance“. Dabei sind selbst in „Chance“-Settings, die eine relativ neue erzählerische Entwicklung darstellen, noch eine Vielzahl von Kausalbeziehungen zu identifizieren, die den Text erst zu einer Erzählung machen. Besondere Bedeutung haben Kausalbeziehungen in interaktiven Geschichten, da eine non-kausale Führung das interaktive Element ad absurdum führen würde. Eine entsprechende Gestaltung ist in interaktiven Erzählungen daher seltener, kann aber zu künstlerisch besonders interessanten Ergebnissen führen.

Kausalität und Interaktivität

11 Subtext und Gapping – Die Rezipierenden erzählen mit Man könnte annehmen, dass jeder Text so verfasst wird, dass er alle Informationen bereitstellt, die nötig sind, um den von Autor oder Autorin intendierten Sinn zu erfassen. Ein Merkmal narrativer Texte ist es jedoch, die Rezipierenden aktiv in die Sinnproduktion einzubinden, indem der Text Leerstellen anbietet, die ergänzt werden müssen. Zu diesem Schluss kommt der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser bereits in den siebziger Jahren, wenn er bezüglich der Rezeption fiktionaler literarischer Texte von einem Dialog spricht. Die Leserschaft, so Iser, muss während der Rezeption Unbestimmtheitsstellen eines Textes in einem Akt der Konkretisierung ergänzen, nur so wird Sinn produziert. Wissenschaftliche oder instruktive Texte verfahren dagegen konträr. Sie sind so verfasst, dass möglichst alle Informationen bereitgestellt werden, die nötig sind, um den Text zu verstehen und die gewünschten Inhalte zu kommunizieren. Leerstellen in einer Bauanleitung könnten dazu führen, dass ein Möbel oder ein Gerät nicht funktionstüchtig aufgebaut werden kann. Eine wissenschaftliche Abhandlung, die zu viel Interpretationsspielraum lässt, kann ihre Thesen möglicherweise nicht schlüssig darlegen und produziert Missverständnisse.

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Gapping als text- und medienspezifische Strategie Obwohl Iser sich in seiner Argumentation auf den Rezeptionsprozess fiktionaler Literatur bezieht, ist sein Befund grundsätzlich auf andere Erzählmedien übertragbar. In der Narratologie werden diese Strategien der Auslassung als „Gapping“ bezeichnet. Die Literaturwissenschaftlerin Ellen Spolsky beschreibt dies folgendermaßen: Texts do not supply all the information needed for their interpretation. […] audiences mobilise a variety of cognitive abilities in combination with a large amount of linguistic, social and cultural information, allowing them to complete perceived patterns, making sense of them in context. (2008, S. 193)

Zwar stellt Spolsky dies für alle Texte fest, allerdings lässt sich dieser Befund nicht verallgemeinern und man muss, abhängig vom Texttyp, von erheblichen Unterschieden in der Häufigkeit der „Gaps“ ausgehen. So sind, wie dargestellt, Gebrauchsanweisungen, Lehrabhandlungen oder wissenschaftliche Texte üblicherweise darum bemüht, alle notwendigen Informationen in den Text zu integrieren, um Eindeutigkeit zu schaffen und den Spielraum von Interpretationen zu begrenzen. Lyrische Texte dagegen sind am anderen Ende der Skala anzusiedeln, sie arbeiten bewusst mit einer hohen Dichte von Auslassungen und Mehrdeutigkeiten, die zur Interpretation einladen. Aber nicht nur der Texttyp, auch die Art des verwendeten Mediums hat Einfluss auf die Strategie des Gappings, sowohl auf die Häufigkeit als auch auf die Ausformung der Leerstellen. So ist einsichtig, dass die Leserschaft eines literarischen Textes auf andere Weise in die Sinnkonstruktion eingebunden wird als das Publikum eines Films. Ein literarischer Text muss zwangs-

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läufig Leerstellen aufweisen, denn er muss auswählen, welche Orte, Charaktere, Ereignisse und Handlungen beschrieben werden, und er bleibt dabei zwangsläufig selektiv. Ein audiovisueller Text muss zwar auch eine Auswahl treffen, stellt aber über den visuellen Kanal neben den für die Erzählung essenziellen Elementen noch viele weitere Informationen zur Verfügung: den gesamten Hintergrund der Mise-en-scène, zudem das komplette Erscheinungsbild der narrativen Figuren, das nicht von den Rezipierenden ergänzt werden muss, wie das bei teilweise knappen Beschreibungen in verbal vermittelten Texten, die sich oft nur auf wenige Charakteristika beschränken, der Fall sein kann. Allerdings fordert der szenische Aufbau der meisten Filmerzählungen, dass die Filmzuschauer zwischen zwei Szenen jeweils den Lauf der Handlung kognitiv ergänzen müssen. Eine ähnliche Rolle nehmen Rezipierende eines Comics laut Scott McCloud ein. Im Rezeptionsprozess müssen die Leerstellen zwischen den einzelnen Panels, die McCloud „Gutter“ nennt, im aktiven Rezeptionsprozess ergänzt werden, um einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Panels herzustellen.

Subtext Es sind aber nicht nur Leerstellen, die die Rezipierende ergänzen müssen. Erzählerische Texte können Brüche und Widersprüche einsetzen, um nicht nur den expliziten Sinn einer verbalen Schilderung oder einer visuellen Szene zu vermitteln, sondern ebenso eine implizite Bedeutung, die von den Rezipierenden erschlossen werden muss, ein Konzept, das in der Dramaturgie mit dem Terminus „Subtext“ beschrieben wird, oder in Alltagssprache formuliert: Man muss zwischen den Zeilen lesen. Dies gilt nicht nur für Literatur. So werden die Rezipierenden in Filmerzäh-

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lungen aktiv, wenn sie aus scheinbaren Widersprüchen z. B. der Bild- und Textebene eine neue Bedeutung konstruieren müssen. Ein simples Beispiel sind Protagonisten von Actionfilmen, die in scheinbar ausweglosen Situationen nicht mit Verzweiflung oder Trauer reagieren, sondern ungerührt bleiben oder einen Witz erzählen – die Zuschauer können leicht erschließen, dass sie es hier mit einem besonders beherrschten und überlegenen Charakter zu tun haben. Auch um einen dramatischen oder emotionalen Effekt zu erzielen, ist diese Strategie anwendbar. In Sideways trifft Protagonist Miles auf der Hochzeit seines besten Freundes Jack seine Ex-Frau Victoria. Miles leidet immer noch unter der Trennung – zumal Victoria mit ihrem attraktiven neuen Partner erschienen ist. Trotzdem bewahrt Miles im Gespräch mit ihr, das sich zunächst um Nichtigkeiten dreht und sich auf Floskeln beschränkt, die Haltung. Als er allerdings erfährt, dass Victoria von ihrem neuen Mann schwanger ist, bricht seine Haltung zusammen. Obwohl er Victoria beglückwünscht und sich in seinem Dialog für sie freut, stehen seine Miene und seine Körpersprache dazu im Widerspruch und drücken den großen Schmerz aus, den er bei dem Gespräch empfindet – auch wenn er diesen nie direkt verbalisiert. So lässt der Film die Rezipierenden den impliziten Sinn der Szene konstruieren und den Schmerz des Protagonisten mitfühlen – gemäß der Prämisse der Filmdramaturgie, dass im Kino nicht der Protagonist, sondern der Zuschauer weinen soll. Dabei ist, auch in audiovisuellen Erzählungen, nicht immer von dem gleichen Subtext- und Gappingniveau auszugehen. So erzählen täglich ausgestrahlte Fernsehserien wie Sturm der Liebe oder Rote Rosen tendenziell eher eindeutig, subtextarm, ohne Leerstellen und teilweise sogar redundant. Dies liegt unter anderem an der von den Sendern und Produzenten angenommenen Rezeptionssituation. Die genannten Serien werden meist unregelmäßig rezipiert. Zudem werden sie oft neben der Hausarbeit oder anderen Alltagsverrichtungen angesehen. Dies erzwingt

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ein eindeutiges und redundantes Informationsdesign, damit die Rezipierenden trotz unregelmäßigem Konsum und Ablenkung durch andere Aktivitäten dem Gang der Erzählung folgen können. Auch Filme und Serien für Kinder erzählen tendenziell subtext- und leerstellenärmer, denn Kindern stehen nicht die linguistischen, sozialen und kulturellen Informationen zur Verfügung, die Spolsky als Voraussetzung zum Ergänzen der „Gaps“ sieht. Doch auch hier sind Unterschiede festzustellen, vergleicht man etwa die zwar redundant erzählten, aber tendenziell subtextreicheren Sketche der Sesamstraße mit eindeutigeren und leerstellenärmer erzählten Serien wie Pokemon. Am anderen Ende der Skala befinden sich Kunstfilme wie z. B. Alain Resnais Letztes Jahr in Marienbad, die mit ihrer assoziativen und teilweise inkongruenten, non-kausalen Erzählweise eine Vielzahl von Leerstellen mit dem entsprechenden Raum für Interpretationen lassen. Ein Beispiel aus dem Serienbereich stellt Mad Men dar. Diese subtextreiche Serie erfordert von Seiten der Rezipierenden eine genaue Kenntnis des Serien-Universums sowie der Kultur der sechziger Jahre, um alle Anspielungen, Leerstellen und Subtextkonstruktionen zu entschlüsseln und mit Sinn zu füllen. Bei diesen Beispielen wird noch einmal eine zentrale Voraussetzung für das „Gapping“ deutlich: Das Informationsniveau und die Entschlüsselungskompetenz der Rezipierenden. So zeigt bereits der Soziologe Pierre Bourdieu, dass die Decodierung eines Kunstwerks die Kenntnis bestimmter kultureller Codes voraussetzt. Dies gilt ebenso für Erzählungen, wie unter anderem Roland Barthes feststellt. Dabei muss von Autorenseite ein bestimmtes Informations- und Bildungsniveau der Rezipierenden angenommen oder vorausgesetzt werden. Zwar gilt eine subtextreiche Erzählung gemeinhin als anspruchsvoller und künstlerisch interessanter. Tatsächlich ist es aber auch eine Frage der Rezeptionssituation bzw. des Rezeptionshintergrunds, wie stark

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Autoren und Autorinnen ihr Publikum in die Sinnproduktion einbinden wollen und können. Storyteller müssen somit auch immer antizipieren, in welchem Maße sie ihr Publikum mit Leerstellen oder Widersprüchen im Text konfrontieren wollen.

Spannungserzeugung durch Informationsmanagement Allerdings besteht in der Erzählung als zeitlich gebundener Kunstform – im Gegensatz etwa zur Skulptur oder einem Gemälde – die Möglichkeit, durch gezielte Informationsvergabe im Laufe der Erzählung das Informationsniveau der Rezipierenden zu steuern, wie dies z. B. in Kriminalromanen geschieht, wenn Leerstellen bewusst gesetzt oder gefüllt werden, um die Rekonstruktion eines Verbrechens zu ermöglichen oder zu erschweren. Die Praxis der Informationsdistribution ist natürlich nicht nur für Kriminalgeschichten von Bedeutung, sondern für alle Erzählungen. Aber am Beispiel des Krimis bzw. des Thrillers und der damit verbundenen Spannungserzeugung lässt sich diese Strategie narrativer Gestaltung besonders klar darstellen. Spannung zu erzeugen ist eine der wichtigsten Aufgaben von Autorinnen und Autoren. Damit ist nicht zwingend gemeint, die Rezipierenden in atemloser Spannung zu halten – auch wenn das durchaus ein Ziel sein kann. Es geht aber immer darum, Rezipierende durch geschickte Informationsverteilung zu Mutmaßungen und Spekulationen über den weiteren Verlauf der Erzählung zu veranlassen, Ungewissheiten zu produzieren und wieder aufzulösen. Erzähler kennen ihre Geschichte ja schon und könnten sie in ein paar Sätzen darlegen. Aber ein Storyteller will die Rezipierenden in die Sinnproduktion involvieren, emotional wie kognitiv, und mit Überraschungen, Wendungen und

Spannungserzeugung durch Informationsmanagement

Spannung das Interesse an der Geschichte wach halten. Genau in diesem Spiel der Partizipation an der Sinnproduktion des Textes besteht ein Großteil des Genusses, der bei der Rezeption einer Erzählung entsteht. Ein Beleg dafür sind auch die „Spoiler-Warnungen“, die oft zu Beginn einer Rezension eines Filmes, einer Serie oder eines Romans zu finden sind. Die Informationen über den Aufbau der Handlung könnten die Spannung mindern und so das spätere Rezeptionsvergnügen einschränken. Die Dramaturgie unterscheidet dabei drei verschiedene Modelle der Spannungserzeugung: ▶ Surprise ▶ Suspense ▶ Mystery Der Begriff des Suspense wird dabei oftmals mit Spannung übersetzt, ist aber in dramaturgischer Terminologie eine Unterform der „Tension“, die ebenfalls mit Spannung zu übersetzen wäre. Insofern verwende ich im Folgenden die englische Terminologie, die sich – mindestens im Fall des Suspense – auch im deutschen etabliert hat. Hitchcock erläutert in einem berühmt gewordenen Interview mit dem Kritiker und Regisseur François Truffaut seine Unterscheidung von „Suspense“ und „Surprise“. Wenn in einem Film zwei Gesprächspartner an einem Tisch sitzen, sich lachend unterhalten und plötzlich eine Bombe explodiert, ist das Publikum schockiert und überrascht – das Prinzip des „Surprise“. Der emotionale Effekt ist hoch, aber voraussichtlich schnell vorbei. Zeigt man dem Publikum dagegen, dass unter dem Tisch eine Bombe tickt, während die Gesprächspartner nichts von der Bedrohung ahnen, ist das Publikum länger in gespannter Erwartung und kann zudem eine Vielzahl von Spekulationen über den weiteren Verlauf der Erzählung anstellen: Wird die Bombe explodieren oder nicht? Werden die Protagonisten rechtzeitig den Tisch verlassen? Werden sie die Bombe möglicherweise sogar

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entdecken? Werden sie dann fliehen oder werden sie versuchen, die Bombe zu entschärfen? Der Mystery-Effekt hingegen wird erzeugt, wenn die Rezipierenden auf einer kognitiven Ebene an der Lösung eines Rätsels mitwirken und Spekulationen über Täter oder Täterin in einem Whodunit Krimi anstellen, sei es in den Miss Marple-Romanen von Agatha Christie oder den Geschichten um Sherlock Holmes von Arthur Conan Doyle. Auch hier kann es im Laufe der Erzählung zu Überraschungseffekten kommen, aber diese sind meist nicht schockartig, sondern eher als transformatorischer Umschlag von Unkenntnis zu Kenntnis zu verstehen. Hitchcock setzt den Mystery-Effekt selten ein, er bevorzugt den Suspense, der als ein Stilmittel des Regisseurs gilt. In der dramaturgischen Literatur wird der Suspense zudem meist als wirkungsvoller betrachtet als der Surprise, weil er den Zuschauer länger bindet. Dieser Befund wäre aber zu einfach, der Einsatz der Mittel hängt von der jeweiligen Erzählabsicht ab. Gerade in längeren Kriminalerzählungen sind meist alle drei Elemente in unterschiedlicher Gewichtung vertreten – meist auch an unterschiedlichen Stellen der Erzählung. So setzt auch Hitchcock in der berühmten Duschszene in Psycho auf einen Überraschungseffekt, wenn Protagonistin Marion Crane plötzlich ermordet wird. Anschließend sind solche Überraschungen nicht mehr nötig, denn die Gefahr durch den psychotischen Mörder ist etabliert, die in diesem Fall metaphorische Bombe tickt. Suspense ist natürlich nicht nur dem Krimi vorbehalten, sondern findet sich in jedem Genre, das Spannung erzeugen will, seien es Abenteuerfilme, Spionagethriller oder Science Fiction. So arbeitet auch Alien mit einer Vielzahl von Überraschungs- wie Suspense-Elementen. Wenn die Crew des Raumschiffes „Nostromo“ unbekannte, eiförmige Artefakte auf einem Planetoiden untersucht, ist es eine Überraschung und ein Schock, als sich plötzlich aus dem Ei ein fremder Organismus auf Astronaut Kane stürzt und sich an seinem Gesicht fest-

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klammert. Ebenso ist es eine Überraschung, als später das Alien aus seinem Brustkorb bricht und ihn so umbringt. Wir sind nun darüber informiert, wie gefährlich diese Spezies ist, anschließend reicht schon die Information, dass sich das tödliche Monster an Bord der „Nostromo“ befindet, um den Suspense zu erzeugen und Protagonistin Ripley unter ständigen Druck zu setzen. Nicht nur das Spannungserleben kann durch Leerstellen bzw. das entsprechende Informationsmanagement gesteuert werden – auch andere emotionale Effekte können von Storytellern mit dieser Strategie erzielt werden. Wie bereits geschildert haben die Rezipierenden in Anna Karenina einen Informationsvorsprung vor Kitty, die voller Spannung und freudiger Erwartung zum Ball geht, wo sie Wronskij zu treffen hofft. Hätten Leser und Figur dasselbe Informationsniveau, wäre anzunehmen, dass die Rezipierenden Kittys Gefühle in empathischer Spiegelung teilen. Durch das Wissen, das Wronskij Anna liebt, empfindet man jedoch Mitleid, weil man Kittys Verletzung und Schmerz antizipiert. Auch hier tickt eine metaphorische Bombe, aber sie ist emotionaler Natur und erzeugt andere Gefühle als eine bloße Spannung. Mit dem gleichen Mittel arbeitet Graham Greene in Am Abgrund des Lebens. Protagonistin Rose spielt mit dem Gedanken, sich umzubringen, nachdem ihr Mann Pinkie gestorben ist. Doch das Gespräch mit einem Priester weckt in der religiösen Rose neuen Lebenswillen. Hoffnung gibt ihr eine Schallplatte, die Pinkie für sie aufgenommen hat und auf der sie ein Liebesgeständnis vermutet. Die Rezipierenden wissen allerdings bereits, dass Pinkie auf der Aufnahme nur seinen Abscheu gegenüber Rose zum Ausdruck gebracht hat. Während sie am Ende des Buches hoffnungsvoll nach Hause geht, um die Aufnahme anzuhören, bangt die Leserschaft um Rose, weil sie weiß, welchen Schmerz ihr der Hassausbruch Pinkies zufügen wird. Aber nicht nur dramatische Effekte können mit einem unterschiedlichen Informationsniveau von Rezipient und Figur er-

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zeugt werden, sondern auch komische. In Verrückt nach Mary wird Protagonist Ted auf der Fahrt zu seiner großen Liebe Mary verhaftet. Während er im Verhörraum wartet, erfahren die Zuschauer, dass Ted von der Polizei für einen Serienmörder gehalten wird. Ted allerdings nimmt an, dass er verhaftet wurde, weil er einen Anhalter mitgenommen hat, was in manchen Staaten der USA illegal ist. Da er der Meinung ist, nur ein Kavaliersdelikt begangen zu haben, gesteht er seine Schuld und rechtfertigt sich sogar – was die Beamten als Rechtfertigung für den Mord interpretieren. Durch eine Reihe von Missverständnissen eskaliert die komische Situation immer mehr und gipfelt in einem Wutausbruch eines der Polizisten – wobei nur die Rezipierenden über das Missverständnis im Bilde sind, die handelnden Figuren dagegen nicht. Das unterschiedliche Informationsniveau der Figuren und des Publikums ist hier die notwendige Voraussetzung für die Komik und die Eskalation der Szene. Hier wird auch eine Problematik der dramaturgischen Terminologie deutlich. „Mystery“ und „Surprise“ sind keine trennscharfen Kategorien, denn in beiden Fällen werden die Rezipierenden überrascht. Zwar ist die unterschiedliche emotionale Wirkung, die in beiden Fällen angestrebt wird, intuitiv erfassbar. Trotzdem eignet sich die Terminologie nicht für eine systematische und wissenschaftliche Betrachtung des Spannungserlebens. Betrachtet man das Spannungs- und Emotionserleben der Rezipierenden in Abhängigkeit vom Informationsniveau, kann man aber drei unterschiedliche Modelle beschreiben: ▶ Die Hauptfiguren haben ein höheres Informationsniveau als die Rezipierenden. ▶ Hauptfiguren und Rezipierende haben das gleiche Informationsniveau. ▶ Die Rezipierenden haben ein höheres Informationsniveau als die Hauptfiguren.

Spannungserzeugung durch Informationsmanagement

Robert McKee benennt diese drei Modelle der Informationsvergabe mit „Geheimnis“ „Spannung“ und „Dramatische Ironie“. Das Modell “Geheimnis“ liegt entsprechend vor, wenn die Hauptfigur mehr weiß als die Rezipierenden – eine typische Struktur der Whodunit-Krimis, wenn Sherlock Holmes, Hercule Poirot oder Miss Marple mit überlegenem Intellekt die Ermittlungen führen und die Rezipierenden eine ahnungslose Vermittlerfigur wie Watson brauchen, um den Überlegungen der Ermittler folgen zu können. „Spannung“ in der Terminologie McKees bedeutet, dass Rezipierende und Hauptfiguren das gleiche Wissen haben. Tendenziell fällt hier die Identifikation mit den narrativen Figuren leichter, da man die Geschichte gemeinsam mit den Protagonisten und Protagonistinnen erlebt, typisch für Abenteuergeschichten oder Horrorfilme, bei denen das Moment der Überraschung dominiert. Auch bei interaktiven Erzählungen wird fast immer dieses Modell gewählt, da die Hauptfigur auch meist der Avatar des Gamers ist und so die Erzählung im Rezeptionsprozess gemeinsam erlebt wird. Die „Dramatische Ironie“ liegt schließlich vor, wenn das Publikum mehr weiß als die Hauptfigur. Während bei dem Modell „Spannung“ davon auszugehen ist, dass die Rezipierenden in empathischer Spiegelung ein ähnliches emotionales Erleben haben wie die Hauptfiguren, ist dies bei dem Modell „Dramatische Ironie“ deutlich differenzierter zu sehen, hier sind Gefühlserleben von Figuren und Rezipierenden oft unterschiedlich, so wie etwa bei dem geschilderten Beispiel von Kitty in Anna Karenina. Gerade dadurch kann aber die Subtextproduktion erleichtert werden, da die Rezipierenden durch ihren Informationsvorsprung in die Lage versetzt werden können, weitere Bedeutungsebenen zu erschließen. Ebenso ist letzteres Modell die Voraussetzung, um Suspense zu erzeugen. Beschrieben wird bei dieser Betrachtungsweise nur das Informationsniveau der Hauptfiguren und der Rezipierenden, da es einsichtig ist, dass nicht alle narrativen Figuren innerhalb einer

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Erzählung das gleiche Informationsniveau haben können. In einem Krimi gibt es Täter, Opfer, Ermittler, unbeteiligte Beobachter oder Zeugen, die vermutlich alle unterschiedliche Informationsniveaus haben. So ist etwa der Täter in einem Whodunit-Krimi zunächst immer auf einem höheren Informationsniveau als Ermittler und Rezipierende, obwohl er nicht der Protagonist ist. Das zeigt auch, dass das Kriterium der Informationsvergabe keine statische Größe sein muss. So haben in den Columbo-Krimis die Rezipierenden zunächst ein höheres Informationsniveau als der Protagonist Columbo, da sie in der Anfangsszene Zeugen des Verbrechens werden. Wenn Columbo an den Tatort kommt, hat er zunächst ein niedrigeres Informationsniveau als die Rezipierenden. Aufgrund seiner Intuition und Kombinationsgabe kommt er dem Verbrecher aber schnell auf die Spur – ohne seinen Verdacht offen auszusprechen, denn noch fehlen ihm die nötigen Beweise. Trotzdem konzentrieren sich seine Ermittlungen auf den Täter. An dieser Stelle haben Columbo und die Rezipierenden das gleiche Informationsniveau. Doch im Laufe der Erzählung wendet sich das Niveau noch einmal. Bald verfolgen die Zuschauer die Tricks und Kniffe Columbos, ohne zunächst genau zu wissen, mit welcher Strategie er den Verbrecher zur Strecke bringen will. An diesem Punkt hat Columbo ein höheres Informationsniveau als die Rezipierenden. Wenn der Fall aufgeklärt ist, haben Rezipierende und Columbo wieder dasselbe Informationsniveau erreicht. Das heißt, innerhalb einer Erzählung können auch alle drei Informationszustände realisiert werden. Informationsvergabe, Gapping und Subtext sind nicht synonym zu benutzen. Aber wie die Darstellung gezeigt hat, sind die drei Begriffe eng miteinander verknüpft. Storyteller, die bestimmte Einsichten oder Emotionen bei den Zuschauern evozieren wollen, müssen diese Dimension der Textgestaltung berücksichtigen. Sie müssen im Laufe der Erzählung unauffällig

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Informationen platzieren, die später wichtig werden, sie müssen die Rezipierenden durch bestimmte Informationen zu Spekulationen über den weiteren Fortgang der Geschichte anregen. Sie können auch Fehlspuren legen, um so unerwartete Wendungen zu produzieren und müssen einen Blick in das Innenleben der Figuren ermöglichen, ihre Wunden und Schwächen offenlegen, um so ihre Emotionen erlebbar zu machen. Der Subtext und der Schmerz von Miles in Sideways werden nur klar, wenn wir vor der Konfrontation mit seiner Frau Victoria informiert wurden, wie sehr er unter der Trennung leidet. Die Gefährlichkeit des außerirdischen Lebewesens in Alien ist in einer Vielzahl von Szenen gezeigt worden, bevor es konkret zum Kampf zwischen Alien und Besatzung kommt. Wir wissen, das Alien ist praktisch unverwundbar und sein Blut besteht aus einer aggressiven Säure – wie soll Ripley nun gegen dieses Monster bestehen, so die bange Frage des Publikums. Im Whodunit-Genre ist das Informationsmanagement von noch größerer Bedeutung, denn diese Erzählungen erzeugen die Spannung völlig ohne Action. Verhöre und Gespräche, mithin lange Dialoge dominieren die Handlung dieser Geschichten. Aber durch Fehlspuren, fehlende Informationen und offene Fragen werden die Rezipierenden in die Bedeutungsproduktion involviert und in Spannung gehalten. Das Informationsmanagement, das gezielte Platzieren und Zurückhalten von Informationen durch Gapping ist eine der wichtigsten Aufgaben eines Storytellers.

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Subtext und Gapping – Die Rezipierenden erzählen mit

Informationsmanagement in interaktiven Erzählungen Hier zeigt sich nun eine zentrale Herausforderung von non-linearen und interaktiven Erzählungen. Wenn die Rezipierenden nicht einem linearen Pfad der Erzählung folgen, ist es schwierig, das Informationsniveau an verschiedenen Stellen der Erzählung zu steuern. Entsprechend kompliziert gestaltet sich die Subtextproduktion besonders bei sogenannten Open-World-Spielen, die den Rezipierenden vollkommene Freiheit in der Erkundung der Spielwelt lassen, da hier kein linearer Verlauf des Spiels und der Erzählung angelegt ist. Subtext findet sich dann meist nur in den sogenannten Cut-Scenes, auf die die Rezipierenden keinen Einfluss haben, während die Passagen, die von spielerischen Elementen dominiert werden, wenig oder keinen Subtext aufweisen. Visual Novels oder stark narrative Games, die eine lineare Erzählung aufweisen, haben dagegen – ähnlich wie andere audiovisuelle Erzählungen – potenziell viele Möglichkeiten, Subtext zu erzeugen. Game-Designer haben also durchaus die Möglichkeit, das Informationsmanagement gezielt zu steuern – allerdings um den Preis, an den entsprechenden Stellen die Interaktivität einzuschränken. Hier müssen Storyteller abwägen, da konsistentes Informationsmanagement der Interaktivität oft entgegensteht. Entsprechend sind viele Games, gerade aus den Action- oder Shooter-Genres eher subtextarm erzählt. Dieser Befund lässt sich natürlich nicht verallgemeinern. Wiederum beweist The Last of Us, dass auch ein Shooter-Game subtil und subtextreich erzählen kann. Schon die Eingangssequenz macht klar, dass hier eine Erzählung vorliegt, die auch die narrative Partizipation der Rezipierenden erfordert. Es wird ein warmer, naher Moment zwischen Protagonist Joel und seiner Tochter Sarah geschildert, als sie ihm zum Geburtstag eine Uhr

Informationsmanagement in interaktiven Erzählungen

schenkt. Doch die damit verbundenen Emotionen werden nicht offen ausgesprochen, sondern es entwickelt sich ein scherzhaftes, schnoddriges Wortgefecht zwischen Vater und Tochter. Joel zeigt seine offensichtliche Freude und Rührung nicht, sondern ärgert seine Tochter, indem er behauptet, die Uhr sei kaputt. Trotzdem ist über den Subtext die tiefe emotionale Verbindung von Joel und Sarah zu spüren. Zudem wird mit den Mitteln des Subtextes schon in dieser Passage etwas über den Charakter von Joel erzählt: Er ist ein harter, aber emotional empfänglicher Mann, der aus Selbstschutz seine Gefühle nicht preisgibt. Allerdings wird dieser Subtext um den Preis erzeugt, dass die Rezipierenden keine interaktiven Einflussmöglichkeiten haben, es handelt sich um die expositorische Cut-Scene am Anfang des Games. Ähnlich verläuft ein emotionaler Höhepunkt des Spiels, wenn Joel Ellie klar macht, dass sie nicht seine Tochter ist und dies auch nie sein wird. Obwohl Ellie verletzt von Joels Haltung ist, strafen seine emotionale Reaktion und später auch seine Handlungen seine Worte Lügen: Am Ende des Spiels und der Erzählung opfert Joel sogar das Wohl der gesamten Menschheit, um Ellies Leben zu retten und damit sein Trauma zu heilen, das er erlitten hat, als er seine Tochter nicht beschützen konnte – allerdings auch hier um den Preis, das die Rezipierenden keine andere Entscheidung treffen können. Doch mit diesen Strategien erfüllt die Erzählung wortwörtlich die Prämisse von den Widersprüchen im Text, die den Subtext produzieren. Ein weiteres Beispiel für eine subtextreiche Erzählung bietet das Game Borderlands . Obwohl es ein Open-World-Spiel ist, bei dem kein fester Handlungsverlauf vorgegeben ist, wird durch ein raffiniertes Informationsdesign geschickt mit Subtext und Leerstellen gespielt. Spiel und Erzählung sind auf dem Planeten Pandora angesiedelt, einem düsteren, postapokalyptischen Ort, der von dem mächtigen Waffenhändler Handsome Jack beherrscht wird. Bei einem Unfall wurden auf dem Planeten große Mengen

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Subtext und Gapping – Die Rezipierenden erzählen mit

des seltenen Rohstoffs Eridium freigesetzt, das sich Handsome Jack sichern will. Die Aufgabe der Gamer ist es, Handsome Jacks Pläne zu durchkreuzen und mit Hilfe von Widerstandsgruppen seine Macht zu brechen. Dabei sind auf dem ganzen Planeten sogenannte ECHOs verteilt. Hierbei handelt es sich um Audio-Aufnahmen, die die Rezipierenden immer wieder mit Informationen versorgen. Dabei entsteht Subtext durch Widersprüche, wenn Aufnahmen auftauchen, die von dem Antagonisten Handsome Jack stammen. Die von Handsome Jack produzierten ECHOs nennen sich "Hyperion Truth Broadcast", sind stark propagandistischer Natur und widersprechen meist dem Spielverlauf. Wenn die Spielerin beispielsweise den Anführer des Widerstands rettet, behaupten diese News, er sei tot. Wenn Handsome Jack im Spiel androht, alle Mitglieder des Widerstands langsam und qualvoll zu töten, behauptet der Broadcast, Jack hätte ihnen Vergebung angeboten, was vom Widerstand angeblich abgelehnt wurde. Über andere ECHOs, die nicht von Handsome Jack stammen, wird nach und nach die Backstory der narrativen Figuren enthüllt. Als Charakter Maya erfährt man zum Beispiel – falls man die entsprechenden ECHOs auffinden kann – dass man zur Charakterklasse der Sirens gehört, die spezifische Eigenschaften im Kampf einsetzen können. Falls man die ECHOs nicht findet, entgeht einem dieser Aspekt der Erzählung, ohne dass der Spielfluss entscheidend gestört würde. Aber die Möglichkeit, durch die Suche nach den ECHOs erzählerische Leerstellen zu füllen und partizipatorisch Subtext zu konstruieren, bietet neben dem übergeordneten Spiel- und Erzählungsziel, den Antagonisten Handsome Jack zu besiegen, einen weiteren spielerischen wie erzählerischen Anreiz.

Informationsmanagement in interaktiven Erzählungen

Zusammenfassung: Narrative Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie über Leerstellen und Widersprüche im Text die Rezipierenden in die Sinnproduktion mit einbinden, wie Wolfgang Iser zeigt. Dabei gibt es unterschiedliche Strategien, eine zusätzliche Sinnebene zu evozieren. Über Widersprüche im Text oder Auslassungen konstruieren die Rezipierenden sogenannten Subtext. Durch unterschiedliche Informationsniveaus von Rezipierenden und narrativen Figuren kann ein Text zu Mutmaßungen und Spekulationen über den weiteren Fortgang der Erzählung anregen oder bestimmte Emotionen auslösen. Dabei gibt es, je nach Informationsmanagement, die Möglichkeit Spannung, Suspense oder ein Geheimnis zu kreieren. In interaktiven Erzählungen muss berücksichtigt werden, dass durch die non-lineare Rezeption das Informationsmanagement erschwert werden kann.

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Informationsmanagement in interaktiven Erzählungen

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Semantische Objekte – Macguffins, Horkruxe und Heilige Grale

Plotfunktional vs. nonfunktional Als erste Beschreibung dieses Phänomens wird Paul Heyses sogenannte „Falkentheorie“ angesehen, die er in Bezug auf eine Novelle aus Boccaccios Decamerone formuliert und die später von der Literaturwissenschaft mit dem Terminus „Dingsymbol“ beschrieben wird. In dieser Erzählung wirbt ein Ritter vergeblich um eine reiche, adlige Dame und verschwendet dabei sein Vermögen, bis er so verarmt ist, dass er nur noch seinen geliebten, edlen Jagdfalken besitzt. Als der Sohn der Dame erkrankt, wünscht er sich ebendiesen Falken, weil er meint, nur dann zu gesunden. Die Dame besucht den Ritter, um ihn um den Falken zu bitten. Der Ritter, der nichts von ihrem Begehren ahnt, will sie angemessen bewirten und setzt ihr zum Festmahl den kostbarsten Besitz vor, den er noch hat: den Falken. Der Sohn der Frau verstirbt daraufhin, aber sie ist so berührt von der Opferbereitschaft und dem Edelmut des Ritters, dass sie ihn heiratet und er so nicht nur seine Liebe erfüllt sieht, sondern auch wieder zu einem großen Vermögen kommt. Auf diese Novelle bezugnehmend bemerkt Heyse: Gleichwohl aber könnte es nicht schaden, wenn der Erzähler auch bei dem innerlichsten oder reichsten Stoff sich zuerst fragen wollte, wo „der Falke“ sei, das Spezifische, das diese Geschichte von tausend anderen unterscheidet. (1871, S. XX)

Zwar ist es diskutabel, ob diese kurze Beobachtung bereits eine Theorie darstellen kann. Trotzdem wird hier darauf hingewiesen, dass der Falke eben mehr ist als ein Vogel, dass er das Spezifische dieser Novelle repräsentiert, oder -in erzählwissenschaftlicher Diktion- dass er für die wichtigen Wendepunkte von Bedeutung ist und ein zentrales Thema bzw. die narrative Basisopposition ökonomischer Reichtum vs. sittlicher Reichtum symbolisiert.

Plotfunktional vs. nonfunktional

Eine vollkommen andere Art von Objekten in Erzählungen beschreibt Roland Barthes. Er postuliert, dass viele Objekte in Erzählungen keine andere Funktion haben, als die Illusion der erzählten Realität aufrechtzuerhalten – dementsprechend spricht er in Bezug auf diese Objekte vom „Realitätseffekt“. Barthes führt als Beispiel die Erwähnung eines Barometers in einer Raumbeschreibung an, die sich am Beginn der Erzählung Ein schlichtes Herz von Flaubert findet. Während, so Barthes, die Beschreibung des Pianos und der ungeordneten Kisten Rückschlüsse auf den bürgerlichen Stand und eine gleichzeitige Nachlässigkeit des Hausherrn zulässt, ist die Erwähnung des Barometers ohne erzählerische Funktion. Flaubert’s Barometer […] says nothing but this: we are the real. […] The reality effect is produced. (1989 [1968], S. 148)

Wir haben es hier also mit zwei völlig unterschiedlichen Klassen von Objekten zu tun: Das eine ist im Zentrum der Handlung und symbolisiert wichtige narrative Basisoppositionen. Das andere ist im Grund verzichtbar bzw. könnte durch ein anderes Objekt ersetzt werden. Es dient nur dazu, in der erdachten, narrativen Welt die Illusion von Realität zu erzeugen. Insofern unterscheidet die Erzählwissenschaft zwischen plotfunktionalen und nonfunktionalen Objekten. Entsprechend könnte man in Abgrenzung zu dem Barometer aus Ein schlichtes Herz das Arsen, mit dem sich Madame Bovary in Flauberts gleichnamigen Roman vergiftet, als plotfunktional bezeichnen. Zum Ende der Erzählung ist Madame Bovary derartig verzweifelt, dass sie sich das Leben nehmen will. Sie belügt Justin, den Gehilfen des Apothekers, um an den Schlüssel zu dem Raum zu gelangen, in dem das Arsen gelagert ist. Als sie in Begleitung Justins in den Raum kommt, kann sie ihn überrumpeln und das Arsen einnehmen, bevor Justin sie daran hindern kann, was schließlich zu ihrem Todeskampf und ihrem Ableben führt. Das Arsen ist für den Ausgang der Erzählung also

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von entscheidender Bedeutung. Allerdings ist die Erlangung des Giftes nur in einem kleinen Abschnitt der Erzählung das Ziel der Protagonistin. Insofern hat es nicht die gleiche Bedeutung wie etwa der Eine Ring in Der Herr der Ringe oder der Heilige Gral im Parzival. Auch diese beiden Objekte sind plotfunktional, das aber über den gesamten Verlauf der Erzählung, zudem für verschiedene narrative Figuren aus verschiedenen Gründen. Ein Objekt, dessen Inbesitznahme ebenso über einen größeren Zeitraum der Erzählung, potenziell über die gesamte Erzählung, als Ziel der narrativen Figur fungiert, ist der Hitchcock’sche MacGuffin. Als MacGuffin bezeichnete Hitchcock ein Objekt, das gleichzeitig von Protagonist und Antagonist begehrt wird. Durch das konfligierende Bedürfnis wird die Handlung ausgelöst. Beispiele hierfür sind die Mikrofilme in Topaz oder die mit einem dunklen Pulver gefüllten Weinflaschen in Notorious. Im Sinne Hitchcocks lässt sich auch der schwarze Koffer, den die Gangster Vincent und Jules in Pulp Fiction ihrem Auftraggeber Marsellus beschaffen sollen, als MacGuffin bezeichnen. In dem bereits erwähnten Interview mit Truffaut weist Hitchcock darauf hin, dass die eigentliche Beschaffenheit oder der Inhalt des MacGuffins zweitrangig ist – er ist für ihn nichts weiter als ein Plotmotor. Tatsächlich wurde in der ersten deutschen Synchronfassung von Notorious das dunkle Pulver in den Flaschen als Rauschgift bezeichnet, die Antagonisten waren dementsprechend eine Dealerbande. Im deutschen Erscheinungsjahr des Filmes, 1951, sollten Verweise auf nationalsozialistische Verbrechen unterbleiben – in der Originalversion handelt es sich nämlich nicht um Rauschgift, sondern um waffenfähiges Uran in den Händen von Alt-Nazis. Trotz dieses erheblichen inhaltlichen Eingriffs bleibt die Plotmechanik genau die gleiche. In Pulp Fiction ist es sogar so, dass die Rezipierenden nie erfahren, was sich eigentlich in dem schwarzen Koffer befindet, der für den Gangsterboss Marsellus Wallace von so großer Bedeutung ist, dass dafür etliche Menschen sterben

Plotfunktional vs. nonfunktional

müssen. Trotzdem bleibt der McGuffin nicht nur plotrelevant, sondern sogar plottreibend – ohne McGuffin keine Handlung. Ebenso plottreibend sind Objekte wie der Heilige Gral oder der Eine Ring. Aus dem Wunsch, diese Objekte zu besitzen – bzw. im letzteren Fall auch zu vernichten – entsteht die Handlung. Trotzdem können diese Objekte nicht als McGuffin definiert werden. Zwar wäre für die Handlung der Erzählung nicht von Bedeutung, ob es sich bei dem Gral um ein Trinkgefäß handelt oder um einen Kessel, wie z. B. in der keltischen Mythologie, auf der die Gralslegende basiert. Doch die semantischen Zuschreibungen des Grals können nicht umgedeutet werden, wie dies in Notorius geschehen ist, als aus dem Material zum Bau von Waffen Rauschgift wurde und somit faschistische Kriegsverbrecher plötzlich Dealer waren. In Parzival sind die Rollen und die entsprechenden Zuschreibungen über das Objekt des Grals determiniert. So erlangt man durch den Gral einerseits Glückseligkeit und ewige Jugend, andererseits steht er für die Symbiose des Göttlichen mit dem Irdischen, verspricht auf diese Weise tiefste mystische Einsicht. Zudem kann er nur von einem Unwissenden gefunden werden. Der Gral verspricht also dem bislang unwissenden Parzival Weisheit und tiefere Einsicht und somit eine Transformation der der Gralslegende zugrundeliegenden narrativen Basisoppositionen Unkenntnis zu Kenntnis. Analog verspricht der Ring Saurons in Der Herr der Ringe einerseits Macht, andererseits droht Verderben aufgrund der Korrumpierung durch eben diese Macht. Der Ring könnte im Rahmen der Erzählung auch ein anderes Objekt sein, z. B. ein Zauberstab oder eine Halskette. Nicht zu verändern ist aber die spezifische Semantisierung des Objekts, denn sowohl im Falle des Grals als auch des Rings sind in dem Objekt die narrativen Basisoppositionen der Erzählung gebunden. In Anlehnung an Lotmans Konzept des semantischen Raumes kann man bei diesen Objekten von semantischen Objekten sprechen.

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Semantische Objekte – Macguffins, Horkruxe und Heilige Grale

Abhängig von ihrer Bedeutung für die Geschichte ist es nun möglich, die in Erzählungen dargestellten Objekte in folgende Klassen zu ordnen: ▶ ▶ ▶ ▶

Nonfunktionale Objekte Plotfunktionale Objekte Plottreibende Objekte Semantische Objekte

Semantische Objekte in Erzählmedien Am Beispiel von Pulp Fiction kann man die Systematik noch einmal konkret darstellen. Die beiden Auftragskiller Jules Winfield und Vincent Vega sitzen mit dem schwarzen Koffer von Marsellus Wallace in einem Diner und essen, als die beiden Kleinganoven Pumpkin und Honey Bunny ihre Pistolen zücken und die Gäste des Diner auffordern, ihr Geld herauszugeben. In dieser Szene sind nun drei Klassen von Objekten zu finden: Einmal solche, die man als nonfunktional bezeichnen kann, wie etwa der Salzstreuer auf dem Tisch des Diners, der von den handelnden Figuren nicht benutzt wird. Er dient dem Realitätseffekt und steht auf dem Tisch, weil auf Diner-Tischen üblicherweise Salzstreuer stehen. Die Revolver, mit denen Pumpkin und Honey Bunny die Gäste sowie Jules und Vincent bedrohen, sind dagegen plotfunktional – ohne die Waffen würde kein Konflikt entstehen, da die beiden Kleinganoven kein Drohpotenzial aufbauen könnten, Jules und Vincent somit nicht um den Verlust des Koffers fürchten müssten. Die Revolver von Pumpkin und Honey Bunny sind allerdings nur in der Prolog- und der Abschlussszene relevant, nicht im weiteren Verlauf des Films. Der schwarze Koffer dagegen ist über viele Szenen des Films das Objekt, das von mehreren narrativen Figuren begehrt wird. Aber kann man in diesem

Semantische Objekte in Erzählmedien

Fall von einem semantischen Objekt sprechen? Nein, denn der Koffer ist nicht im Sinne der Basisoppositionen semantisiert. Wir erfahren nicht einmal, was sich eigentlich in dem Koffer befindet, er könnte sogar leer sein und ist es im semantischen Sinne auch – selbst wenn er als McGuffin den Plot antreibt. Allerdings ist an anderer Stelle des Films ein semantisches Objekt zu identifizieren. In der Episode um den Boxer Butch Coolidge taucht ein weiterer Gegenstand auf, der als Objekt des Begehrens die Handlung eben dieser Episode vorantreibt: die goldene Uhr, die in der Soldatenfamilie Coolidge seit dem ersten Weltkrieg jeweils von Vater zu Sohn vererbt wurde. Um zu verhindern, dass die Uhr dem Feind in die Hände fällt und seinem Sohn vorenthalten wird, verbirgt Major Coolidge, der in vietnamesische Kriegsgefangenschaft gerät, die Uhr fünf Jahre in seinem Gesäß. Als er stirbt, übergibt er die Uhr seinem Kameraden Koons, damit dieser die Uhr dem jungen Butch geben kann. Diese Informationen erhalten wir in einer Rückblende, die Butch als kleinen Jungen zeigt. Wie wir anschließend in der Gegenwartsebene der Filmerzählung erfahren, hat sich Butch auf einen illegalen Deal eingelassen und sich scheinbar von dem Gangsterboss Marsellus Wallace kaufen lassen. Doch statt den Kampf wie verabredet zu verlieren, hat er viel Geld auf sich selbst gesetzt und seinen Gegner k. o. geschlagen – entgegen der Absprache mit Marsellus, der ihn nun umbringen will. Butch flieht zusammen mit seiner Freundin Fabienne vor den Killern Marsellus’. Bei der Flucht hat Fabienne die Uhr vergessen. Butch fährt trotz des Risikos zurück in die Wohnung, um die Uhr zu holen, wobei er mehrmals sein Leben aufs Spiel setzt. Bereits bevor Butch sein Leben für die Uhr riskiert, ist sie durch den Monolog von Captain Koons semantisiert worden, der anhand der Uhr eine Geschichte von unbeugsamem amerikanischem Heldentum erzählt. Dabei fällt der Monolog auf verschiedene Weise aus dem Rahmen. Einmal rein formal durch

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seine ungewöhnliche Länge von fast vier Minuten, kombiniert mit einer fast statischen Fotografie aus der subjektiven Sicht des Kindes, eine Perspektive und Gestaltung, die in deutlichem Kontrast zu den dynamischen Action-Szenen des restlichen Films steht. Zudem wird Koons’ Erzählung durch die grotesk-komische Natur des Verstecks der Uhr ironisch gebrochen. Durch diese Brechungen und Kontrastierungen erhält die Szene ihr Alleinstellungsmerkmal innerhalb des Filmes, wodurch wiederum die Semantisierung besonders wirkungsvoll wird. Im Gegensatz zu dem Koffer kann man die Uhr als ein semantisches Objekt bezeichnen, weil durch die Semantisierung die Basisoppositionen der Episode um Butch in dem Objekt gebunden werden: Unbeugsamkeit vs. Aufgabe. Butchs Vater hat bis zu seinem Tod nicht aufgegeben, die Uhr, die er als Besitz seines Sohnes ansieht, im eigenen Leib zu verstecken. Nicht zufällig stirbt er an Ruhr, einer Krankheit, die mit starkem Durchfall verbunden ist, was sein Opfer noch einmal größer macht. Auch Butch ist niemand, der freiwillig aufgibt und verliert, deshalb muss er den Boxkampf gewinnen und Marsellus hintergehen. Und er riskiert als echter, unbeugsamer Held und Nachkomme mehrerer Generationen von Kämpfern und Soldaten ohne jeden Selbstzweifel sein Leben, um die Uhr zurückzubekommen. Weitere Beispiele für semantische Objekte, in denen die Basisoppositionen der Erzählung gebunden sind, sind etwa das Bildnis des Dorian Gray aus der gleichnamigen Erzählung von Oscar Wilde mit den Oppositionen von Jugend vs. Alter und Unschuld vs. Verderbtheit; der erste selbstverdiente Taler von Onkel Dagobert mit der Opposition von Armut vs. Reichtum oder der Apfel der Erkenntnis in der Geschichte von Adam und Eva mit der Opposition von Unschuld vs. Erkenntnis. Auch in interaktiven Erzählungen sind semantische Objekte nachzuweisen – aber auch hier lohnt eine genaue Betrachtung. So ist der Scion aus Tomb Raider definitiv plotfunktional und auch

Objektsemantisierung als Kommunikationsstrategie

über die gesamte Erzählung hinweg plottreibend. Allerdings ist der Scion nicht weiter semantisiert, er ist ein Objekt der Macht, mehr nicht. Anders verhält es sich mit den Edenäpfeln in Assassins Creed, die ebenfalls ein Objekt der Macht darstellen. Sie werden sowohl von den Assassinen als auch von den Templern gesucht. Die Templer werden im Kontext des Spiels als autoritäre Gruppierung dargestellt, die ein rigides, totalitäres Gesellschaftssystem aufbauen will, woran die Assassinen sie zu hindern suchen. Die „erste Zivilisation“, eine geheimnisvolle, untergegangene Rasse von Außerirdischen, hat die Edenäpfel geschaffen, um die Menschheit zu kontrollieren. Menschen können die Edenäpfel zwar verwenden, riskieren dabei aber, unter dem Einfluss der Edenäpfel ihre geistige Gesundheit und ihre Willensfreiheit zu verlieren. In dem Edenäpfeln ist also die Basisopposition der Erzählung Freiheit vs. Unterwerfung realisiert, insofern sind sie als semantische Objekte anzusehen.

Objektsemantisierung als Kommunikationsstrategie Semantische Objekte sind nicht in allen Erzählungen nachzuweisen, stellen somit keine obligatorische Bedingung für narratives Gestalten dar, wie dies z. B. für Kausalbziehungen, die Emotionalisierung der Erzählung oder die Darstellung von narrativen Figuren gilt. Die Beschreibung der Semantisierung von Objekten ist trotzdem von Bedeutung. Einmal, weil sie vor allem in audiovisuellen Erzählungen eine wirkungsvolle Gestaltungsstrategie sind, die es im Falle von plottreibenden und semantischen Objekten erlauben, das Ziel und damit den Konflikt der narrativen Figuren zu visualisieren und symbolisieren. Im Falle der semantischen Objekte ist es zudem möglich, das zugrundeliegende

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Semantische Objekte – Macguffins, Horkruxe und Heilige Grale

Thema und die narrativen Basisoppositionen der Erzählung in einer konkreten Symbolik darzustellen. Die Idee, dass ein Objekt mehr ist als nur ein Objekt, sondern darüber hinaus symbolhaft Bedeutung trägt, verweist auch auf einen ursprünglichen Aspekt des Geschichtenerzählens, die kultische Praxis. Das antike Drama diente nicht in erster Linie der Unterhaltung des Publikums, sondern entstand aus religiöser und kultischer Handlung im Rahmen der Dionysien, einer Reihe von religiösen Feiertagen im antiken Griechenland. Das Fest begann, indem das Kultbild des Dionysos von einem Tempel außerhalb der Stadt in die Theaterarena gebracht wurde, erst dann konnten die Aufführungen beginnen. Im Vorfeld wurde das Theater zu religiösen Handlungen, Opferriten und Ehrungen benutzt – so bekamen etwa die Söhne gefallener Krieger eine Rüstung, die sie symbolisch zu Männern machte. Die Rüstung und das Kultbild des Dionysos sind nur zwei der Objekte, die in diesem Zusammenhang im Theater präsentiert wurden. Man kann davon ausgehen, dass in diesem Zusammenhang noch mehr rituelle Objekte zum Gebrauch kamen, die einen kultischen oder symbolischen Charakter hatten. Dies ist aber keineswegs nur eine antike Praxis. Die Verehrung bestimmter heiliger Objekte ist ein transkulturelles Phänomen, seien es die Reliquien in der katholischen Kirche, im Buddhismus oder im schiitischen Islam, Objekte wie die jüdische Menora oder eine Vielzahl von Gegenständen wie Schwerter, Steine oder Bäume, die im Shintoismus als Wohnort von Gottheiten angebetet werden. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, ob hier religiöse Praxis zur narrativer wurde oder ob narrative Techniken zur Vermittlung bestimmter mystischer Einsichten benutzt wurden. In jedem Falle ist die Semantisierung von Objekten eine effektive Kommunikationsstrategie, die eine wichtige Rolle auch in unserem Alltag spielt – ohne dass wir es zwingend auf einer bewussten Ebene wahrnehmen müssen. Im Marketing ist es eine beliebte

Objektsemantisierung als Kommunikationsstrategie

Strategie, bestimmte Produkte in narrativen Werbespots zu semantisieren und ihnen so die gewünschten Eigenschaften zuzuschreiben. Auf diese Weise, so wird suggeriert, erlangt man über den Kauf eines bestimmten Autos Freiheit, so wie das Rauchen bestimmter Zigarettenmarken zu überlegener Männlichkeit verhilft oder die Anwendung bestimmter Pflegeprodukte Schönheit und Anziehungskraft verspricht. Durch das Benutzen eines bestimmten Waschmittels wurde Kleidung in den siebziger und achtziger Jahren „nicht nur sauber, sondern rein“. Die Nähe zu einem kultischen oder magischen Denken ist hier unverkennbar. Zudem sind, ähnlich wie bei den Archteypen von C.G. Jung, bestimmte Symboliken oder Gegenstände transkulturell mit Bedeutung aufgeladen – oder, wenn man die Terminologie C.G. Jungs benutzen will, sie sind Teil unseres kollektiven Unterbewusstseins. So ist der Apfel nicht nur die Frucht vom Baum der Erkenntnis. Er ist auch das Markensymbol eines der führenden Computerkonzerne der Welt. Die Beatles haben ihn als Logo ihrer Plattenfirma gewählt. Er ist das Ziel von Wilhelm Tells Pfeil. Und es ist eben keine Reichsorange oder Reichskartoffel, sondern ein Reichsapfel, der die Herrschaft von Kaisern und Königen symbolisiert. Ähnlich verhält es sich mit dem Heiligen Gral. Die Idee, dass ein Kelch oder ein Kessel mythische Kräfte haben, ist ein transkulturelles und transhistorisches Konzept in Religion, Mythos und Populärkultur. Sei es die keltische Kesselmythologie, die uns in Form des Heiligen Grals ebenso wiederbegegnet wie als Kupferkessel des Druiden Miraculix in den Asterix-Comics. Sei es das Wunder- oder Füllhorn aus der mittelalterlichen Überlieferung, das Horn von Utgardloki aus der nordischen Mythologie, der goldene Topf aus der gleichnamigen Novelle von E.T.A. Hoffmann oder der Feuerkelch aus den Harry-Potter-Romanen. Gleichzeitig ist bei vielen Sportturnieren der Pokal die zu erringende Trophäe, nach der alle Mannschaften streben und der als Symbol für die beste sportliche Leistung steht. Aber warum

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Semantische Objekte – Macguffins, Horkruxe und Heilige Grale

ist es ein Pokal oder eine Meisterschale, die der besten Fußballmannschaft überreicht wird? Man könnte annehmen, dass es viel näher läge, z. B. einen stilisierten Fußball als Symbol für den Sieg zu wählen. Aber es ist eben der Pokal, mit all der Symbolik und Bedeutung, die ihm unzählige Geschichten und Mythen zuschreiben. Wie wirkungsvoll diese Strategie ist, wird uns auch bei jedem Kirchenbesuch vor Augen geführt, wenn wir vor dem Kreuzsymbol stehen. Hier gelingt durch die Passionsgeschichte die Umdeutung eines Folterwerkzeugs zu dem Symbol einer Weltreligion, deren Kernwerte Liebe, Opferbereitschaft und Mitleid sind. Zusammenfassung: In vielen Erzählungen sind bestimmte Objekte im Zentrum der Handlung oder dienen als Ziel der narrativen Figur, so wie das Schwert Excalibur, der Heilige Gral oder der Ring der Macht. Auf Paul Heyse bezugnehmend nennt die Erzählwissenschaft diese Objekte Falken- oder Dingsymbol. Dabei werden in Erzählungen Objekte in verschiedenem Ausmaß semantisiert. Es sind nonfunktionale Objekte, plotrelevante Objekte, plottreibende Objekte und semantische Objekte zu unterscheiden. Die semantischen Objekte binden dabei die narrativen Basisoppositionen und symbolisieren sowie verdinglichen bestimmte Kernthemen der Erzählung. Hier ist eine Nähe zu einem ursprünglichen Aspekt des Erzählens zu beobachten, der kultischen und religiösen Praxis. Im Alltag begegnet uns diese Strategie in Form von Marketingkampagnen oder in gesellschaftlichen Ritualen wie Sporturnieren.

Objektsemantisierung als Kommunikationsstrategie

Epilog: Werte und Weltsicht In den vorangegangenen Kapiteln wurden die Techniken und Gestaltungsprinzipien erläutert, mit denen man eine Geschichte erzählen kann. In einer prototypischen Erzählung sind alle diese Gestaltungsprinzipien aufs engste miteinander verflochten und bedingen sich gegenseitig, um so die spezifisch narrative Sinnproduktion zu ermöglichen. Erzählungen können als eine besonders wirkungsvolle Technik betrachtet werden, mit der Menschen Informationen bündeln, strukturieren und kommunizieren. Geschichten transportieren dabei vielmehr als nur Fakten. In der Art und Weise, wie Storyteller Figuren, ein Setting oder Wendungen konstruieren und Emotionen kontextualisieren, machen sie klar, wie sie die Realität und ihre Umwelt sehen. In der abschließenden Transformation, die die Geschichte beschließt und die die beherrschende Idee formuliert, kommunizieren Storyteller ihre persönliche Weltsicht und geben ihr Wertesystem preis. Dabei erleben die Rezipierenden die Geschichten durch die Emotionalisierung der Erzählung und die empathische Spiegelung im wahrsten Sinne des Wortes mit. Neurobiologische Untersuchungen belegen, dass bei der Rezeption von erzählten Erlebnissen sowohl bei den Erzählenden als auch den Rezipierenden die gleichen Hirnareale stimuliert werden, die auch beim realen Erleben der entsprechenden Handlungen und Ereignisse aktiv sind. Dies sind nur einige der Faktoren, die dafür verantwortlich sind, dass Geschichten so eine nachhaltige Kommunikationsform sind und deshalb in so starkem Maß den öffentlichen Diskurs beeinflussen – oftmals mehr als eine objektivierte, faktenbasierte Kommunikation das tun würde. Dafür gibt es eine Vielzahl von wissenschaftlichen Belegen. So weist der Literatur-

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wissenschaftler Franz Stanzel nach, dass die Vorstellungen, die wir von anderen europäischen Nationen haben, öfter aus ethnographisch-literarischer Überlieferung als aus der realhistorischen Erfahrung der Menschen oder Völker untereinander stammen – und dass auf diese Weise Stereotypen und Vorurteile in Geschichten immer weiter tradiert werden. Petra Grimm und Michael Müller zeigen anhand des Aufstiegs der Pegida-Bewegung aus Dresden, wie diese sogenannte Meta-Narrative nutzt, um ihre Botschaften zu kommunizieren. Meta-Narrative sind für sie Muster, nach denen Kulturen ihre Kommunikation zu einem bestimmten Thema strukturieren. So entstehen eine Vielzahl von Geschichten, die in unterschiedlicher Ausformung, aber nach dem gleichen Muster, immer wieder erzählt werden und so auf ein tiefliegendes Thema einer Kultur oder Gesellschaft hindeuten. Gleichzeitig geht mit der wiederholten Erzählung dieses Meta-Narrativs eine Selbstvergewisserung einher – die Wiederholung der Erzählung bestätigt und verifiziert das Meta-Narrativ. Im Falle der Pegida-Bewegung sind dies Erzählungen von Patriotismus, der europäischen Identität, einer drohenden Islamisierung und damit von der Bedrohung des Kulturraumes des Abendlandes. Diese von Pegida beschworene Bedrohung führte in Dresden offenbar zu ganz besonderer Beunruhigung der Bevölkerung, obwohl von Seiten der Politik und der Medien immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass gerade in Ostdeutschland und Dresden der Anteil islamischer Bürger so niedrig wie sonst nirgends in Deutschland ist. Aber Erzählungen müssen nicht dazu führen, dass Stereotype befördert oder Fakten verschleiert werden. Sie können auch das Gegenteil bewirken. Als bekannt wurde, dass Pegida-Gründer Lutz Bachmann selbst vorbestraft war und auch während seines Engagements für Pegida mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt kam, war es möglich ein Gegen-Narrativ zu konstruieren – dass nämlich die Gründer von Pegida es mit der Moral und den Wer-

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ten, die sie angeblich vertreten, selber nicht so genau nehmen. Erst dieses Gegen-Narrativ führte zu einer deutlichen Schwächung der Bewegung. Auch an anderen Stellen lässt sich nachweisen, dass Geschichten zur Aufklärung dienen können. So zeigt der Humangeograph Anthony Leiserowitz in einer empirischen Studie, dass der Klimathriller The Day After Tomorrow weitreichende Auswirkungen auf persönliches Verhalten, politische Prioritäten und damit sogar auf politische Wahlentscheidungen amerikanischer Kinobesucher hatte. Die Rezeption des Filmes erhöhte beim Publikum nachweislich das Verständnis für ökologische Fragen und führte zu Änderung von Verhaltensweisen, die Auswirkungen auf das Ökosystem haben. Gut erforscht ist auch der sogenannte CSI-Effekt. Die Krimiserie CSI, die von 2000 bis 2015 ausgestrahlt wurde und von der drei Spin-Offs produziert wurden, gilt als eine der erfolgreichsten Fernsehproduktionen der Welt. Sie rückte erstmalig die kriminalistische Aufklärungsarbeit von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in den Fokus der Darstellung. Eine weitere Besonderheit war die Tatsache, dass die beiden Forensikerinnen des Teams, Catherine Willows und Sara Sidle, weibliche Figuren waren. Dies war in der Fernsehlandschaft ungewöhnlich und entsprach auch nicht den damaligen Gegebenheiten in der realen Berufswelt, in der diese Stellen überwiegend von Männern besetzt waren und die auch in der Öffentlichkeit als typische Männerberufe wahrgenommen wurden – was sich unter anderem in niedrigen Zahlen weiblicher Bewerberinnen bei den entsprechenden Ausbildungsgängen niederschlug. Seit Ausstrahlung der Serie verzeichneten die forensischen Wissenschaften in den USA einen ungewöhnlich hohen Zuwachs an Bewerberinnen. 2011 waren 75 % der Studierenden der Forensik in den USA weiblich, was einem Zuwachs von 64 % seit dem Jahr 2000 entspricht. Frauen haben derzeit mehr als 60 % der Arbeitsplätze in den forensi-

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schen Laboren der USA inne – ein Effekt, der auf die Darstellung von entsprechenden Rollenvorbildern in der erfolgreichen Serie zurückgeführt wird. Gleichzeitig wurden mit der Darstellung der forensischen Ermittlungsmethoden in CSI auch als negativ bewertete Ergebnisse erzielt. So ist in Gerichtsverhandlungen in Amerika Geschworenen sowie Verbrechensopfern und deren Angehörigen heutzutage offenbar schwerer zu vermitteln, dass forensische Analysen und Gutachten Tage oder auch Monate erfordern können, anstatt innerhalb weniger Stunden verfügbar zu sein, wie in der Serie dargestellt. Storyteller und ihre Geschichten haben einen großen Einfluss auf Diskurse und damit auf Menschen und ihre Gesellschaft. Zwar ist einsichtig, dass derlei Effekte von Erzählungen nicht immer steuerbar sind. Auch die Messung und der Nachweis entsprechender Wirkungen sind nicht immer unproblematisch. Aber es zeigt sich, dass gerade die Repräsentation von neuen Rollenbildern sowie das Brechen von Geschlechter- oder Rassenstereotypen und damit das Befördern von sozialpolitischen Diskursen und gesellschaftlicher Veränderung ein wichtiges Feld von Storytelling sein kann. Diese Wirkungen gilt es zu nutzen, vor allem in einer Zeit, in der Populisten mit Geschichten von Spaltung, Trennung und Isolation Menschen voneinander entfremden, wenn mit narrativen Oppositionen von „Wir vs. die Fremden“ Stimmung gegen Minderheiten gemacht wird oder wo mit nationalistischen Narrativen versucht wird, das Projekt einer europäischen Einigung zu verhindern. Das soll nicht heißen, dass in Geschichten nur noch politischer oder gesellschaftlicher Konsens vermittelt werden soll. Gerade Erzählungen sind ein Feld des Experiments, der Spekulation und der künstlerischen Freiheit. Ein Raum, in dem man sich fragen kann „Was wäre, wenn…“ Aber gerade deshalb tragen Storyteller Verantwortung und müssen sich fragen, was die beherrschenden Ideen ihrer Erzählungen sind und

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welche Oppositionen sie auf welche Weise beschreiben. Wohin sollen unsere Geschichten und unsere Gesellschaft transformiert werden? Zu Gemeinschaft, Solidarität und Mitgefühl? Oder zu Nationalismus, Egoismus und Ablehnung? Storyteller werden mit ihren Erzählungen Einfluss darauf nehmen. Aber das ist vielleicht schon wieder eine andere Geschichte und ein anderes Buch.

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Epilog: Werte und Weltsicht

Glossar Anthropomorph – Abgeleitet aus dem griechischen Wortstamm ἄνθρωπος/anthrop, was „Mensch“ heißt. Antropomorphisierung bedeutet entsprechend „Vermenschlichung“, wenn z. B. Tieren, Pflanzen oder Gegenständen menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden – ein in Erzählungen häufig vorkommendes Motiv, vor allem in Fabeln, Märchen oder Animationsfilmen. Dystopie – Der gegenteilige Begriff von Utopie. In der Dystopie wird eine düstere, als negativ bewertete Zukunft beschrieben, in der durch Kriege, Seuchen oder Umweltkatastrophen die menschlichen Lebensvoraussetzungen zerstört worden sind und Tyrranei herrscht oder die Zivilisation zusammengebrochen ist. Enneagramm – Das Enneagramm ist ein Modell zur Persönlichkeitsbestimmung, dessen Ursprünge unklar sind. Manche Quellen gehen von einer mündlichen Überlieferung seit der Antike aus. Die erste schriftliche dokumentierte Version stammt aus dem Jahr 1916 von dem Schriftsteller und Komponisten Georges Gurdjieff. Exposition – Der Beginn einer Erzählung, in dem grundlegende Elemente der Handlung eingeführt werden, wie zum Beispiel die Protagonisten, der Grundkonflikt und das Setting, die räumliche Verortung der Erzählung. Gnoseologisch – Abgeleitet aus dem griechischen Wortstamm γνῶσις/gnos, was als „Erkenntnis“ oder „Wissen“ übersetzt werden kann. Als gnoseologsiche Plots bezeichnet Todorov entsprechend Erzählungen, bei denen der Erkenntnisgewinn oder Wissenszuwachs der Hauptfigur im Vordergrund steht, oft erzählt im Rahmen einer Reifungsgeschichte. Inciting Incident – Im deutschen auch als „auslösendes Ereignis“ bezeichnet und strukturell am Übergang zwischen 1. und 2. Akt mit dem Plot Point 1 verknüpft. Dieses auslösende Ereignis motiviert die Hauptfigur, den Ruf des Abenteuers anzunehmen und die Grenzüberschreitung in den anderen semantischen Raum zu

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Glossar

wagen. In Star Wars ist das Inciting Incident die Ermordung von Lukes Onkel und Tante durch die imperialen Truppen, woraufhin Luke seine Heimat Tattoine verlässt. Meta-Ereignisse – Mit diesem Terminus bezeichnet der Erzählwissenschaftler Michael Titzmann Ereignisse, die direkt in die Raumstruktur der erzählten Welt eingreifen und deshalb als besonders bedeutsam wahrgenommen werden, etwa eine Grenztilgung oder eine Raumvernichtung. Monomythos – Als Monomythos oder auch Heldenreise wird ein typisches Handlungsmuster bezeichnet, das sich in vielen Mythen, Sagen und Märchen aus aller Welt nachweisen lässt. Ebenso lassen sich im Monomythos bestimmte Figurenarchetypen nachweisen, die immer wiederkehren. Narrative Turn – Mit narrative turn wird das in den letzten Jahren gestiegene Interesse an erzähltheoretischen Fragen in den Wissenschaften bezeichnet. Zum einen werden narratologische Konzepte auf andere Disziplinen übertragen, so zum Beispiel in Medizin, Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaften. Zum anderen erweitert sich der lange literaturwissenschaftlich fokussierte Blick der Narratologie und beschreibt Erzählungen und Manifestationen des Narrativen in anderen Medien wie Film, Comic und Game. Narrative Tropen – Immer wiederkehrende Erzählmuster oder Metaphern, die für die Rezipierenden aufgrund ihres Kontextwissens bedeutungstragend sind, so etwa das Märchenmotiv der Prinzessin, die gerettet werden muss, des bedrohlichen Aliens, der die Erde vernichten will, oder des zynischen Detektivs, der trotz seiner harten Schale ein empfindsames Gemüt hat. Phatische Kommunikation – Mit dem Terminus werden Sprechakte bezeichnet, die eine rein soziale Funktion haben und darüber hinaus keine relevanten Informationen beinhalten, im Gegensatz z. B. zu Belehrungen, Instruktionen oder Befehlen. Ein typisches Beispiel für phatische Kommunikation ist ein Gespräch über das Wetter. Die Teilnehmer wissen meist alle, dass die Sonne scheint, aber man kommuniziert diesen Fakt, um Verbindung und ein Gefühl der Übereinstimmung zu schaffen.

Glossar

Queste – Ein Begriff, der seit dem Mittelalter die archetypische Heldenreise eines Protagonisten beschreibt, in deren Verlauf er verschiedenen Herausforderungen begegnet, innerlich reift und bei der er durch die Lösung von Aufgaben oder das Besiegen von Feinden seinen Status als Held unter Beweis stellt. Unzuverlässiger Erzähler –Wenn Rezipierende sich normalerweise darauf verlassen können, dass die Aussagen des Erzählers in der erzählten Welt zutreffen, ist dies beim unzuverlässigen Erzähler nicht der Fall. Er kann, bezogen auf die dargestellte Welt, lügen, Sachverhalte verschweigen, diese auch verzerren oder übertreiben. In der Kurzgeschichte Ein Vorfall an der Owl-Creek-Brücke von Ambrose Bierce soll der Erzähler Peyton Farquhar hingerichtet werden. Doch der Strick reißt, er kann entkommen und zu seiner Farm fliehen. Als er seine Frau in die Arme schließen will, verspürt er einen Schlag im Nacken und hängt tot unter der Brücke. Die Rezipierenden erfahren erst am Ende der Erzählung, dass Peyton sich seine Flucht in den letzten Sekunden seines Lebens nur eingebildet hat und in der Tat hingerichtet wurde. Visual Novels – Interaktive Erzählungen, verbreitet vor allem im japanischen und asiatischen Kulturraum. Sie werden in manchen Quellen auch als eine Ausprägung des Adventure Games gesehen, lassen aber im Vergleich weniger Eingriffsmöglichkeiten der Rezipierenden zu. Zudem werden in Visual Novels im Gegensatz zu Adventure Games oftmals romantische und erotische Motive verwendet.

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Objektsemantisierung als Kommunikationsstrategie

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