Schriften zur Ideologie und Politik

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Schriften zur Ideologie und Politik

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Georg Lukacs Werkauswahl Band 2

Ausgewählt und eingeleitet von Peter Ludz

Georg Lukacs

Schriften zur Ideologie und Politik

Dialectical_books

Luchterhand

Herausgeber Prof. Dr. Heinz Maus, Marburg-Lahn Prof. Dr. Friedrich Fürstenberg, Linz-Donau Redaktion Dr. Frank Benseler, Neuwied-Rhein

© 1967 by Hermann Luchterhand Verlag GmbH, Neuwied und Berlin Alle Rechte vorbehalten Ausstattung Christian Honig Gesamtherstellung Druck- und Verlags-Gesellschaft mbH, Darmstadt

Inhaltsübersicht

I.

Vorwort

XI

Zu dieser Ausgabe

XI

2. Der Begriff der »demokratischen Diktatur«

1Il

der

politischen Philosophie von Georg Lukacs

I.

XVII

Taktik und Ethik = Taktika es ethika, Budapest 1919. Aus dem Ungarischen übertragen.

2. Was ist orthodoxer Marxismus? (1919)

41

aus: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (Kleine revolutionäre Bibliothek, 9), Berlin I923, S. 13-38. 3· Die Rolle der Moral in der kommunistischen

Produktion = »Az erkölcs szerepe a kommunista termelesben«, in: Szocialis Termeles, 1. Jg., Heft II (I919), S. 3-5. Aus dem Ungarischen übertragen. 4· Der Funktionswechsel des historischen Materialismus (1919)

75

82

aus: Geschichte und Klassenbewußtsein, a. a. 0.,

s. 229-260. 5· Zur Frage des Parlamentarismus in: Kommunismus, 1. Jg., Heft 6 (1920), S. 161-172.

123

6. Die moralische Sendung der kommunistischen Partei in: Kommunismus, 1. Jg., Heft 16-17 (I920), s. 482-488.

136

V

7· Zur Frage der Bildungsarbeit in: Jugend-Internationale, 2. Jg., Heft 7 (1921), s. I81-182.

I44

8. Spontaneität der Massen, Aktivität der Partei in: Die Internationale, 3. Jg., Heft 6 (I92I), s. 208-2I5.

I49

9. Noch einmal Illusionspolitik in: Ladislaus Rudas, Abenteurer- und Liquidatorenturn. Die Politik Bela Kuns und die Krise der KPU, Wien I922, S. 254-261.

I6I

IO.

Revolutionäre Realpolitik aus: Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken (Wissenschaft und Gesellschaft, I ), BerlinWien I924, S. 63-77.

I69

II.

N. Bucharin: Theorie des historischen Materialismus (Rezension) in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, II. Jg. (1925), S. 2I6-224.

12. Die neue Ausgabe von Lassalles Briefen (Rezension)

I88

20I

in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, II. Jg. (I925), S. 40I-423. I

3· Moses Hess und die Probleme der idealistischen

Dialektik in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, I2. Jg. (I926), S. Io5-I 55.

237

I4. Thesen über die politische und wirtschaftliche Lage

in Ungarn und über die Aufgaben der Kommunistisehen Partei Ungarns (Blum-Thesen, I928) (Auszug) = »Reszletek a >Tezistervezet a magyar politikai es gazdasagi helyzetröl es a KMP feladatair61< (BlumVI

290

Tezisek) c. dokumentumb61«, in: Parttörteneti Közlemenyek, 2. Jg., Heft 3 (1956), S. 75-94. Aus dem Ungarischen übertragen. 15. Mein Weg zu Marx (1933) in: Georg Lukacs zum siebzigsten Geburtstag, Berlin 1955, s. 225-231.

323

16. über Preußentum (1943) aus: Schicksalswende. Beiträge zu einer neuen deutschen Ideologie, 2. verb. Aufl., Berlin 1956, S. 50-68.

330

17. Schicksalswende ( 1944) aus: Schicksalswende, a. a. 0„ S. 134-150.

354

18. Parteidichtung (1945) = »Partkölteszet«, aus: Irodalom es demokracia, 2. verb. Aufl„ Budapest 1948, S. 111-133. Aus dem Ungarischen übertragen. 19. Aristokratische und demokratische Weltanschauung = »La vision aristocratique et democratique du monde«, in: L'Esprit Europeen. Rencontres Internationales de Geneve 1, 1946, Paris 1947, S. 165-194. Nach der von Georg Lukacs zur Verfügung gestellten deutschen Fassung.

404

20. Freie oder gelenkte Kunst? (1947) = »Szabad vagy iranyftott müveszet?«, aus: Irodalom es demokracia, a. a. 0., s. 134-159. Aus dem Ungarischen unter Berücksichtigung der französischen Fassung übertragen.

434

21.

Die Erkenntnistheorie Lenins und die Probleme der modernen Philosophie aus: Existentialismus oder Marxismus?, Berlin 1951, s. 127-160.

464

VII

22. Zur philosophischen Entwicklung des jungen Marx, 1840-1844 in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2. Jg., Heft 2 (1954), s. 288-343. 23. Rede in der philosophischen Debatte des PetöfiKreises am 15. Juni 1956 (Auszug) = »Reszlet Lukacs Györgynek a Petöfi-Kör filoz6fiai vitajan tartott beszedeböl (1956, junius 15.-en)«, in: Filoz6fiai Ertesftö, Heft 4 (1956), S. 148-151. Aus dem Ungarischen übertragen. 24. Der Kampf des Fortschritts und der Reaktion in der heutigen Kultur in: Aufbau, 12. Jg., Heft 9 (1956), S. 761-776. 25. Interview der Redaktion von »Szabad Nep« mit Georg Lukacs = »Lukacs György nyilatkozik a müveszeti es filoz6fiai irfoyzatok szabad vitair61, a szocialista realizmus körül kialakult vitakr61 es sajat terveiröl«, in: Szabad Nep, vom 14. Oktober 1956, S. 2. Aus dem Ungarischen übertragen. 26. Radio-Botschaft an die ungarische Jugend = »Lukacs György egyetemi tanar, nepmüvelesi miniszter üzenete a magyar ifjusagnak«, in: Szabad Nep, vom 28. Oktober 1956, S. i. Aus dem Ungarischen übertragen. 27. Vorwort zur italienischen Ausgabe der »Beiträge zur Geschichte der Asthetik« = »Prefazione«, aus: Contributi alla storia dell'estetica, Mailand l 9 57. Nach der von Georg Lukacs zur Verfügung gestellten deutschen Fassung.

VIII

506

593

60 3

6 33

641

643

28. Postscriptum 1957 zu: Mein Weg zu Marx = »La mia via al marxismo«, in: Nuovi Argomenti, Heft 33 (1958), S. 1-16. Nach der von Georg Lukacs zur Verfügung gestellten deutschen Original-Fassung.

646

29. Brief an Alberto Carocci (1962) in: Forum. Österreichische Monatsblätter für kulturelle Freiheit, 10. Jg., Hefte 115-116, 117 (1963), S.335-337,S.407-411.

658

30. Zur Debatte zwischen China und der Sowjetunion. Theoretisch-philosophische Bemerkungen in: Forum. Österreichische Monatsblätter für kulturelle Freiheit, 10. Jg., Hefte 119, 120 (1963), S. 519 bis 523, S. 582-585.

681

Anhang 31. Georg Lukacs: Biographische Daten Zusammengestellt von Peter Ludz 32. G. Sinowjew gegen die Ultralinken (1924) = G. Sinowjew, »Bericht über die Tätigkeit der Exekutive«, in: Protokoll des v. Kongresses der Kommunistischen Internationale, 17. Juni bis 8. Juli 1924 in Moskau, 2 Bände, Berlin o. J. (1925), Band r, S. 52-5 3; sowie ders., »Die Hauptergebnisse des v. Weltkongresses«, m: Internationale Presse-Korrespondenz, 4. Jg., Nr. 104 (1924), S. 1339-1340. 33. Offener Brief des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale an die Mitglieder der Kommunistischen Partei Ungarns (1928) in: üj Marcius, 5. Jg., Heft 8-11 (1929), S. 253-267; sowie auszugsweise in: Internationale Presse-Korre-

719

727

IX

spondenz, 9. Jg., Nr. 116, l 17, 119 (1929), S. 2729 f.,

s. 2747 f., s. 2788 f.

Unter Berücksichtigung der deutschen Fassung aus dem Ungarischen übertragen. 34. Marton Horvath über die Lukacs-Diskussion (1949) = M. Horvath, »A Lukacs vitar61«, in: Szabad Nep, vom 25. Dezember 1949· Aus dem Ungarischen übertragen. 35. Diskussion über die Blum-Thesen ( l 9 56) (Auszug) = »Vita a >Blum-TezisekNeue Menschendemokratischen Diktatur< in der politischen Philosophie von Georg LukKlassenbewußtseinc. (G. L.) - .zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung•, a. a. 0., S. 391. Der Aufsatz ·Klassenbewußtsein• ist abgedruckt in: Lukacs, Geschichte und Klasscnbewußtsein, a. a. 0., S. 57-93. (Hrsg.)

43

Beziehungen mit der Revolution. Sondern sie ist ihrem Wesen nach nichts als der gedankliche Ausdruck des revolutionären Prozesses selbst. Jede Stufe dieses Prozesses fixiert sich in ihr zur Allgemeinheit und Mittelbarkeit, zur Verwertbarkeit und Fortsetzbarkeit. Indem sie nichts als die Fixierung und das Bewußtsein eines notwendigen Schrittes ist, wird sie zugleich zur notwendigen Voraussetzung des kommenden, des nächsten Schrittes. Die Klarheit über diese Funktion der Theorie ist zugleich der Weg zur Erkenntnis ihres theoretischen Wesens: der Methode der Dialektik. Das übersehen dieses schlechthin entscheidenden Punktes hat in die Diskussionen über die dialektische Methode viel Verworrenheit gebracht. Denn ob man die - für das Weiterwirken der Theorie ausschlaggebenden - Ausführungen von Engels im »Antidühring« kritisiert, sie für unvollständig, vielleicht sogar für unzureichend, oder für klassisch hält, es muß doch zugegeben werden, daß in ihnen gerade dieses Moment fehlt. D. h. er beschreibt die Begriffsbildung der dialektischen Methode im Gegensatz zur »metaphysischen«; er betont mit großer Schärfe, daß in der Dialektik die Starrheit der Begriffe (und der ihnen entsprechenden Gegenstände) aufgelöst wird; daß die l)ialektik ein ständiger Prozeß des fließenden Übergangs aus einer Bestimmung in die andere, ein ununterbrochenes Aufheben der Gegensätze, ihr lneinanderübergehen ist; daß demzufolge die einseitige und starre Kausalität von der Wechselwirkung abgelöst werden muß. Aber die wesentlichste Wechselwirkung: die dialektische Beziehung des Subjekts und Objekts im Geschichtsprozeß wird nicht einmal erwähnt, geschweige denn in den - ihr zukommenden - Mittelpunkt der methodischen Betrachtung gerückt. Jedoch ohne diese Bestimmung hört die dialektische Methode - trotz aller, freilich letzten Endes doch bloß scheinbarer, Beibehaltung der »fließenden« Begriffe usw. - auf, eine revolutionäre Methode zu sein. Der Unterschied von der »Metaphysik« wird dann nicht mehr darin gesucht, daß in jeder »metaphysischen« Betrachtung das Objekt, der Gegenstand der Betrachtung unberührt, unverändert verharren muß, daß deshalb die Betrachtung selbst bloß anschauend bleibt und nicht praktisch wird, während für die dialektische Methode das Verändern der Wirklichkeit das Zentralproblem

44

ist. Bleibt diese zentrale Funktion der Theorie unbeachtet, so wird der Vorteil der »fließenden« Begriffsbildung ganz problematisch: eine rein »wissenschaftliche« Angelegenheit. Die Methode kann je nach dem Stand der Wissenschaft angenommen oder verworfen werden, ohne daß sich an der zentralen Einstellung zur Wirklichkeit, daran, ob sie als veränderbar oder unveränderlich aufgefaßt wird, das geringste ändern würde. Ja, Klassenkämpfe in Frankreich, 1848 bis 1850Anti-Dühringewigen Naturgesetze< der kapitalistischen Produktionsweise zu entbinden.« 22 Kapital !, S. 725. (G. L.) - Marx-Engels-Werke, Bd. XXIII, S. 787. (Hrsg.)

106

Es ist aber auch klar, daß der Wettstreit der konkurrierenden Produktionssysteme - weltgeschichtlich gesehen - in der Regel durch die sozial-ökonomische Überlegenheit des einen Systems entschieden wird; diese Überlegenheit fällt aber durchaus nicht notwendig mit ihrer produktions-technischen Überlegenheit zusammen. Daß die ökonomische Überlegenheit sich im allgemeinen in einer Reihe von Gewaltmaßnahmen auswirkt, wissen wir bereits; daß die Wirksamkeit dieser Gewaltmaßnahmen von der - weltgeschichtlichen - Aktualität und Berufenheit zur Weiterführung der Gesellschaft abhängt, die die auf diese Weise überlegene Klasse besitzt, versteht sich von selbst. Es fragt sich jedoch: wie läßt sich dieser Zustand der konkurrierenden Produktionssysteme gesellschaftlich begreiflich machen? D. h. inwiefern ist eine solche Gesellschaft als einheitliche Gesellschaft im marxistischen Sinne zu fassen, wo ihr doch die objektive Grundlage dieser Einheit, die Einheit der »ökonomischen Struktur«, fehlt? Es ist einleuchtend, daß es sich hier um Grenzfälle handelt. Gesellschaften von ganz rein einheitlicher, homogener Struktur hat es gewiß selten gegeben. (Der Kapitalismus ist es nie gewesen und kann es nach Rosa Luxemburg auch nie werden.) Es wird demzufolge in jeder Gesellschaft das herrschende Produktionssystem den untergeordneten seinen Stempel aufdrücken und ihre eigentliche ökonomische Struktur entscheidend modifizieren. Man denke an das Eingehen der »industriellen« Arbeit in die Grundrente zur Zeit überwiegender Naturalwirtschaft und an das Beherrschtsein ihrer ökonomischen Formen von ihr23; andererseits an die Formen, die die Landwirtschaft im Hochkapitalismus aufnimmt. In den eigentlichen Übergangszeiten ist aber die Gesellschaft von keinem der Produktionssysteme beherrscht; ihr Kampf ist eben noch unentschieden, keinem gelang es noch der Gesellschaft die ihm gemäße ökonomische Struktur aufzuzwingen und sie - wenigstens der Tendenz nach - in dieser Richtung in Gang zu bringen. In solchen Lagen ist es selbstredend unmöglich, von irgendwelcher ökonomischer Gesetzmäßigkeit zu sprechen, die die ganze Gesellschaft beherr23 Kapital III. II, S. 319. (G. L.) - Marx-Engels-Werke, Bd. XXV, S. 794-795. (Hrsg.)

107

sehen würde. Die alte Produktionsordnung hat ihre Herrschaft über die Gesellschaft als Ganzes bereits verloren und die neue hat sie noch nicht erlangt. Es ist ein Zustand des akuten Machtkampfes oder des latenten Kräftegleichgewichtes vorhanden, in dem die Gesetze der Okonomie man könnte sagen »intermittieren«: Das alte Gesetz gilt nicht mehr und das neue Gesetz gilt noch nicht allgemein. Meines Wissens hat sich die Theorie des historischen Materialismus dieses Problem von der ökonomischen Seite noch nicht gestellt. Daß die Frage der Aufmerksamkeit der Begründer des historischen Materialismus keineswegs entgangen ist, zeigt die Staatstheorie von Engels in voller Klarheit. Engels stellt fest 24 , daß der Staat »in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse« ist. »Ausnahmsweise indes kommen Perioden vor, wo die kämpfenden Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, daß die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält. So die absolute Monarchie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, die Adel und Bürgertum gegeneinander balanciert usw.« Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß der Übergang aus dem Kapitalismus in den Sozialismus eine von dem Übergang aus dem Feudalismus in den Kapitalismus prinzipiell verschiedene ökonomische Struktur aufweist. Die konkurrierenden Produktionssysteme treten hier nicht nebeneinander als bereits verselbständigte Systeme auf (wie es die Anfänge des Kapitalismus in der feudalen Produktionsordnung zeigen), sondern ihre Konkurrenz äußert sich als der unlösbare Widerspruch innerhalb des kapitalistischen Systems selbst: als Krise. Diese Struktur macht die kapitalistische Produktion von Anfang an antagonistisch. Und an diesem Antagonismus, daß in den Krisen das Kapital als Schranke der Produktion, selbst »in rein ökonomischer Weise, d. h. vom Bourgeoisiestandpunkt« 25 zum Ausdruck gelangt, kann die Tatsache, daß die Krisen der Vergangenheit eine Lösung innerhalb des Kapitalismus gefunden haben, nichts ändern. Eine 24 Ursprung, S. 180. (Von mir gesperrt.) (G. L.) - Engels, »Der Ursprung der Familie ... •, a. a. 0„ S. 166-r67. (Hrsg.) 25 Kapiral III.!, S. 242. (G. L.) - Marx-Engels-Werke, ß. (Hrsg.) 115

gewordene, vergegenständlichte Gegenüberstehen der eigenen Arbeit objektiv aufgehoben. Indem das Proletariat selbst das Kommando sowohl über die bereits vergegenständlichte wie über die sich aktuell auswirkende Arbeit gleichzeitig übernimmt, ist dieser Gegensatz praktisch und objektiv aufgehoben und mit ihm der ihm in der kapitalistischen Gesellschaft korrespondierende Gegensatz von Vergangenheit und Gegenwart, deren Beziehung sich damit strukturell verändern muß. Wie langwierig immer sowohl der objektive Prozeß der Sozialisierung wie das Bewußtwerden der veränderten inneren Beziehung der Arbeit zu ihren gegenständlichen Formen (der Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit) im Proletariat sein mag, die fundamentale Wendung ist mit der Diktatur des Proletariats geschehen - eine Wendung, an die sich keine »Sozialisierung« als »Experiment«, keine »Planwirtschaft« usw. in der bürgerlichen Gesellschaft annähern kann. Diese sind - bestenfalls - organisatorische Konzentrationen innerhalb des kapitalistischen Systems, bei denen der fundamentale Zusammenhang der ökonomischen Struktur, die fundamentale Beziehung des Bewußtseins der proletarischen Klasse zum Ganzen des Produktionsprozesses keine Veränderung erfährt, während die bescheidenste oder »chaotischste« Sozialisierung als Besitzergreifung, als Machtergreifung gerade diese Struktur umwälzt und dadurch die Entwicklung objektiv und ernsthaft auf den Sprung einstellt. Die ökonomistischen Vulgärmarxisten vergessen nämlich stets, wenn sie durch allmähliche Übergänge diesen Sprung aus der Welt zu schaffen versuchen, daß das Kapitalverhältnis kein bloß produktiv-technisches, kein »rein« ökonomisches Verhältnis (im Sinne der bürgerlichen Okonomie) ist, sondern ein im wahren Sinne des Wortes sozialökonomisches Verhältnis. Sie übersehen, daß »der kapitalistische Produktionsprozeß, im Zusammenhang betrachtet, oder als Reproduktionsprozeß nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert produziert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der anderen den Lohnarbeiter« 37 • So daß 37 Kapitol 1, S. 541. (Von mir gesperrt.) (G. L.) ßd. XXIII, S. 604. (Hrsg.)

II6

Marx-Engels-Werke,

eine Veränderung der gesellschaftlichen Entwicklung nur in einer Weise möglich ist, die diese Selbstreproduktion des Kapitalverhältnisses verhindert, die der Selbstreproduktion der Gesellschaft eine andere, eine neue Richtung gibt. Das grundlegende Neue dieser Struktur wird dadurch nicht im geringsten verändert, daß die ökonomische Unmöglichkeit, den Kleinbetrieb zu sozialisieren, eine erneuerte Reproduktion des Kapitalismus und der Bourgeoisie »unausgesetzt, täglich, stündlich, elementar und im Massenmaßstab« zustande bringt38 • Der Prozeß wird dadurch selbstredend viel verwickelter, das Nebeneinanderbestehen der beiden sozialen Strukturen verschärft sich; aber der soziale Sinn der Sozialisierung, ihre Funktion im Prozeß der Bewußtseinsentwicklung des Proletariats erfährt doch keine Veränderung. Gerade der Fundamentalsatz der dialektischen Methode, daß »nicht das Bewußtsein der Menschen ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein ihr Bewußtsein bestimmt«, hat - richtig verstanden - die Notwendigkeit zur Folge, am revolutionären Wendepunkt die Kategorie des radikal Neuen, der Umstülpung der ökonomischen Struktur, der veränderten Richtung des Prozesses, also die Kategorie des Sprunges praktisch ernst zu nehmen. Denn gerade dieser Gegensatz des »post festum« zu der schlichten und wahren Voraussicht, des »falschen« zu dem richtigen gesellschaftlichen Bewußtsein bezeichnet den Punkt, wo der Sprung objektiv-ökonomisch wirksam wird. Dieser Sprung ist selbstredend kein einmaliger Akt, der blitzschnell und übergangslos diese größte Umwandlung in der bisherigen Menschheitsgeschichte vollziehen würde. Noch weniger jedoch - nach dem Schema der abgelaufenen Entwicklung - ein bloßes Umschlagen der langsamen und allmählichen quantitativen Veränderung ins Qualitative, wobei die »ewigen Gesetze« der Wirtschaftsentwicklung über die Köpfe der Menschen hinweg, durch eine Art »List der Vernunft« die eigentliche Leistung vollbringen; wobei der Sprung dann nichts weiter bedeutet, als daß der Menschheit (post festum) der bereits erreichte neue Zustand, 38 Vgl. I.cnin, »Der >linke RadikalismusÜn s'engage et puis on voitMan muß zunächst einen ernsten Kampf aufnehmen, dann wird schon das weitere ersichtlichneue ökonomische PolitikÜber unsere Revolution. Aus Anlaß der Aufzeichnungen N. Suchanows• (1923), in: Lenin-Werke, Bd. XXXIII, S. 466. (Hrsg.)

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den und umgekehrt. So will Lenin am r. September 1917 den Menschewiki und S. R. auf Grund der alten bolschewistischen Parole »Alle Macht den Räten« ein gemeinsames Vorgehen, ein Kompromiß anbieten 12• Jedoch bereits am 17. September schreibt er13: »Am Ende ist das Anerbieten eines Kompromisses schon verspätet. Vielleicht sind die wenigen Tage, im Laufe derer die friedliche Entwicklung noch möglich war, ebenfalls vorüber. Ja, nach allem ist es evident, daß sie schon vorbei sind.« Die Anwendung dieser Theorie auf Brest-Litowsk, auf die Konzessionen usw. ergibt sich von selbst. Wie sehr die ganze Leninsche Theorie der Kompromisse auf seine Grundanschauung von der Aktualität der Revolution begründet ist, zeigt sich vielleicht noch schärfer in seinen theoretischen Kämpfen gegen den linken Flügel seiner eigenen Partei (nach der ersten Revolution und nach dem Brester Frieden im russischen, in den Jahren 1920 und 1921 im europäischen Maßstab). In allen diesen Debatten war die prinzipielle Ablehnung eines jeden Kompromisses die Parole des Links-Radikalismus. Und die Polemik Lenins geht sehr wesentlich darauf hinaus, daß in dem Ablehnen eines jeden Kompromisses ein Ausweichen vor den entscheidenden Kämpfen enthalten ist, daß dieser Anschauung ein Defaitismus der Revolution gegenüber zugrunde liegt. Denn die echte revolutionäre Lage - und dies ist nach Lenin der Grundzug unserer Epoche - äußert sich darin, daß es kein Feld des Klassenkampfes geben kann, wo nicht revolutionäre (oder konterrevolutionäre) Möglichkeiten vorhanden wären. Der echte Revolutionär also, derjenige, der es weiß, daß wir in einer revolutionären Epoche leben und praktisch die Konsequenzen dieser Erkenntnis zieht, muß stets das Ganze der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit von diesem Standpunkt betrachten und im Interesse der Revolution alles, das Größte und Kleinste, das Gewohnte und überraschende je nach ihrer Wichtigkeit für die Revolution - aber nur danach - intensiv berücksichtigen. Wenn Lenin den Links-Radikalismus zuweilen einen Links-Opportunismus genannt hat, so hat er damit sehr 12 »S. R.« = Sozialrevolutionäre; vgl. Lenin, i.Über Kompromisse.-: (1917), in: Lenin-Werke, Bd. XXV, S. 313 ff. (Hrsg.) 13 Lenin, •Über Kompromisse•, a. a. 0„ S. 319. (Hrsg.)

180

richtig und tief auf die gemeinsame Geschichtsperspektive diese1 beiden sonst so entgegengesetzten Strömungen, deren eine ein jedes Kompromiß verpönt, deren andere im Kompromiß das Prinzip der »Realpolitik« im Gegensatz zum »Starren Festhalten an dogmatischen Prinzipien« erblickt, hingewiesen: auf einen Pessimismus in bezug auf Nähe und Aktualität der proletarischen Revolution. Aus dieser Art, wie er beide Tendenzen von dem gleichen Prinzip aus ablehnt, zeigt es sich, daß das Kompromiß bei Lenin und bei den Opportunisten nur dasselbe Wort ist, das aber bei jedem auf eine grundverschiedene Wirklichkeit bezogen wird und deshalb bei jedem einen grundverschiedenen Begriff deckt. Eine richtige Erkenntnis darüber, was Lenin unter Kompromiß verstanden, wie er die Taktik der Kompromisse theoretisch fundiert hat, ist nicht nur von grundlegender Bedeutung für das zutreffende Verständnis seiner Methode, sondern auch praktisch von sehr weittragender Wichtigkeit. Das Kompromiß ist bei Lenin nur in der dialektischen Wechselwirkung mit dem Festhalten an den Prinzipien und der Methode des Marxismus möglich; im Kompromiß zeigt sich stets der nächste reale Schritt der Verwirklichung der Theorie des Marxismus. Wie also diese Theorie und Taktik sich von der mechanischen Starrheit eines Festhaltens an »reinen« Prinzipien scharf abheben, so müssen sie auch von jeder prinzipienlos schematisierenden »Realpolitik« streng ferngehalten werden. Das heißt, es reicht für Lenin nicht aus, daß die konkrete Lage, in der gehandelt wird, die konkreten Kräfteverhältnisse, die das Kompromiß bestimmen, die Tendenz der notwendigen Weiterentwicklung der proletarischen Bewegung, die ihre Richtung bedingt, in ihrer T atsächlichkeit richtig erkannt und bewertet werden, sondern er betrachtet es als eine ungeheure praktische Gefahr für die Arbeiterbewegung, wenn solche richtigen Erkenntnisse der Tatsächlichkeit nicht in einen Rahmen der allgemein richtigen Erkenntnis des ganzen Geschichtsprozesses eingefügt werden. So hat er das praktische Verhalten der deutschen Kommunisten zu der nach dem Niederwerfen des Kapp-Putsches geplanten »Arbeiterregierung«, die sogenannte loyale Opposition als richtig erkannt, hat aber zugleich aufs schärfste gerügt, daß diese richtige Taktik mit einer

theoretisch falschen - von demokratischen Illusionen erfüllten - Geschichtsperspektive begründet wurde. Die dialektisch richtige Vereinigung des Allgemeinen und des Besonderen, die Erkenntnis des Allgemeinen (der allgemeinen Grundtendenz der Geschichte) im Besonderen (in der konkreten Lage), das daraus entspringende Konkretwerden der Theorie ist also der Grundgedanke dieser Theorie der Kompromisse. Diejenigen, die in Lenin bloß einen klugen oder eventuell sogar genialen »Realpolitiker« erblicken, verkennen das Wesen seiner Methode durchaus. Aber diejenigen, die in seinen Entscheidungen überall anwendbare »Rezepte«, »Vorschriften« für ein richtiges praktisches Handeln zu finden vermeinen, verkennen ihn erst recht. Lenin hat nie »allgemeine Regeln« aufgestellt, die auf eine Reihe von Fällen »angewendet« werden könnten. Seine »Wahrheiten« entwachsen der konkreten Analyse der konkreten Lage mit Hilfe der dialektischen Geschichtsbetrachtung. Aus einer mechanischen »Verallgemeinerung« seiner Winke oder Entscheidungen kann nur eine Karrikatur, ein Vulgär-Leninismus entstehen; so zum Beispiel bei jenen ungarischen Kommunisten, die bei völlig verschiedener Lage, bei der Beantwortung der Clemenceau-Note im Sommer 1919, den Brester Frieden schematisch nachzuahmen versucht haben. Denn wie Marx bei Lassalle scharf tadelt 14 : »... die dialektische Methode wird falsch angewandt. Hegel hat nie die Subsumption einer Masse von >Fällen< under a general principle (unter ein allgemeines Prinzip) Dialektik genannt.« Die Berücksichtigung aller vorhandenen Tendenzen in der jeweiligen konkreten Lage bedeutet aber keineswegs, daß diese Tendenzen nun mit gleichem Gewicht in die Waagschale der Entscheidung fallen. Im Gegenteil. jede Lage hat ein zentrales Problem, von dessen Entscheidung sowohl die der gleichzeitigen anderen Fragen, wie die Weiterentwicklung aller gesellschaftlichen Tendenzen in der Zukunft abhängt. »Man muß es verstehen«, sagt Lenin 15, »in jedem Augenblick jenes besondere 14 Marx an Engels, 9. XII. 1861, in: Marx-Engels-Briefwechsel, Bd. III, S. 60. {Hrsg.) 15 Lenin, »Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht~ (1918), in: Lenin-Werke, Bd. XXVII, S. i65. (Hrsg.)

Glied der Kette zu ergreifen, an das man sich mit allen Kräften klammern muß, um die ganze Kette festzuhalten und den festen Übergang zum nächsten Gliede der Kette vorzubereiten, wobei die Reihenfolge der Glieder, ihre Form, ihre Verkettung, ihr Unterschied voneinander in der historischen Kette der Ereignisse nicht so einfach und sinnlos sind, wie bei einer gewöhnlichen, von einem Schmiede angefertigten Kette.« Welches Moment des gesellschaftlichen Lebens im gegebenen Augenblick zu einer solchen Bedeutung erwächst, kann sich nur aus der marxistischen Dialektik, aus der konkreten Analyse der konkreten Lage ergeben. Der Leitfaden, mit dem es gefunden werden kann, ist aber die revolutionäre Betrachtung der Gesellschaft, als eines sich im Prozeß befindenden Ganzen. Denn nur diese Beziehung zum Ganzen erhebt das jeweilige entscheidende Kettenglied zu dieser Bedeutung: Es muß ergriffen werden, weil nur auf diese Weise das Ganze ergriffen wird. So hebt Lenin, ebenfalls in einem seiner letzten Aufsätze, wo er von den Genossenschaften spricht und darauf hinweist, daß »vieles davon, was in den Träumen der alten Genossenschaftler phantastisch oder selbst übelriechend romantisch war, die nackteste Wirklichkeit geworden«16 ist, dieses Problem besonders scharf und konkret hervor. Er sagtl 7 : »Eigentlich bleibt uns >nur< das eine übrig: unsere Bevölkerung so >zivilisiert< zu machen, daß sie alle Vorteile der persönlichen Beteiligung an der Kooperation begreift und zu dieser Beteiligung schreitet. >Nur< so viel. Keiner anderen Spitzfindigkeiten bedürfen wir jetzt, um zum Sozialismus überzugehen. Aber um dieses >nur< zu vollbringen, dazu ist ein ganzer Umschwung, eine ganze Strecke der kulturellen Entwicklung der ganzen Volksmasse notwendig.« Es ist hier leider nicht möglich den ganzen Aufsatz ausführlich zu analysieren. Eine solche Analyse - und zwar die eines beliebigen taktischen Winkes von Lenin - würde zeigen, wie in jedem solchen »Kettengliede« stets das Ganze enthalten ist. Daß das Kriterium der richtigen marxistischen Politik darin liegt, stets jene Momente

16 Lenin, •Über das Genossenschaftswesen• (1923), in: Lenin-Werke, Bd. XXXIII, S. 453. (Hrsg.) 17 Lenin, »Über das Genossenschaftswesen.:, a. a. 0., S. 456. (Hrsg.)

aus dem Prozesse herauszuheben und die größte Energie auf sie zu konzentrieren, welche Momente - im gegebenen Augenblick, in der gegebenen Phase - diese Beziehung zum Ganzen, zum Ganzen der Gegenwart und zum zentralen Entwicklungsproblem der Zukunft, also auch zur Zukunft in ihrer praktischergreifbaren Ganzheit in sich bergen. Dieses energische Anfassen des nächsten, des entscheidenden Kettengliedes bedeutet also keineswegs, daß nun dieses Moment aus dem Ganzen herausgerissen würde und die anderen Momente seinetwegen vernachlässigt werden sollten. Im Gegenteil. Es bedeutet, daß alle anderen Momente in Beziehung auf dieses zentrale Problem gebracht, in dieser Beziehung richtig verstanden und gelöst werden. Der Zusammenhang aller Probleme miteinander wird durch diese Auffassung nicht gelockert, sondern im Gegenteil intensiver und konkreter gemacht. Diese Momente werden vom Geschichtsprozeß, von der objektiven Entwicklung der Produktionskräfte hervorgebracht. Es hängt aber vom Proletariat ab, ob und wie weit es sie zu erkennen, zu ergreifen und dadurch ihre Weiterentwicklung zu beeinflussen imstande sein wird. Der grundlegende, bereits öfter angeführte Satz des Marxismus, daß die Menschen ihre Geschichte selbst machen, erhält im Zeitalter der Revolution, nach der Ergreifung der Staatsmacht eine sich stets steigernde Bedeutung, wenn auch selbstredend seine dialektische Ergänzung durch die Bedeutung der nicht selbstgewählten Umstände zu seinem Wahrbleiben unerläßlich ist. Das bedeutet praktisch, daß die Rolle der Partei in der Revolution - der große Gedanke des jungen Lenin - im Zeitalter des Überganges zum Sozialismus noch größer und entscheidender wird, als sie es in der vorbereitenden Epoche gewesen ist. Denn je größer der aktive, den Gang der Geschichte bestimmende Einfluß des Proletariats wird, je schicksalhafter - im guten wie im schlechten Sinne - die Entscheidungen des Proletariats für sich und für die ganze Menschheit werden, desto wichtiger bleibt es, den einzigen Kompaß auf diesem wilden, sturmbewegten Meer, das Klassenbewußtsein des Proletariats in reiner Gestalt zu bewahren - diesen Geist, den einzig möglichen Führer im Kampfe, zu immer wachsender Klarheit heranzubilden. Diese Bedeutung der aktiv-

geschichtlichen Rolle der Partei des Proletariats ist ein Grundzug der Theorie und deshalb der Politik Lenins, den er nicht müde wird, immer wieder hervorzuheben und seine Bedeutung für die praktischen Entscheidungen zu betonen. So sagt er am xr. Parteitag der RKP, als er die Gegner der staatskapitalistischen Entwicklung bekämpft hat 18 : »Der Staatskapitalismus ist jener Kapitalismus, den zu beschränken, dessen Grenzen festzustellen wir imstande sein werden; dieser Staatskapitalismus ist mit dem Staate verbunden, und der Staat, das sind Arbeiter, der vorgeschrittenste Teil der Arbeiter, die Avant-Garde, das sind wir ... Und das hängt schon von uns ab, wie dieser Staatskapitalismus sein wird.« Darum ist jeder Wendepunkt in der Entwicklung zum Sozialismus stets und in entscheidender Weise zugleich ein inneres Problem der Partei. Eine Umgruppierung der Kräfte, eine Anpassung der Parteiorganisationen an die neue Aufgabe: die Entwicklung der Gesellschaft in dem Sinne zu beeinflussen, den die sorgsame und genaue Analyse des Ganzen vom Klassenstandpunkt des Proletariats ergibt. Darum steht in der Rangordnung der entscheidenden Mächte im Staate - der wir sind - die Partei auf der allerhöchsten Stufe. Darum ist aber diese Partei selbst - da die Revolution nur im Weltmaßstabe siegen kann, da das Proletariat nur als Weltproletariat sich wirklich zur Klasse konstituiert - als Sektion dem höchsten Organ der proletarischen Revolution, der kommunistischen Internationale, eingeordnet und untergeordnet. Die mechanistische Starrheit des Denkens, die alle Opportunisten und Bürgerlichen kennzeichnet, wird in solchen Verknüpfungen stets unlösbare Widersprüche sehen. Sie wird nicht verstehen, wieso die Bolschewiki, nachdem sie »Zum Kapitalismus zurückgekehrt« sind, dennoch an der alten Parteistruktur, an der alten »undemokratischen« Diktatur der Partei festhalten. Sie wird nicht verstehen, wieso die kommunistische Internationale keinen Augenblick auf die Weltrevolution verzichtet, ja sie mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln vorzubereiten und zu organisieren trach18 Lenin, Politischer Bericht des ZK der KPR (B) auf dem XI. Parteitag am 27. März 1922, a. a. 0., S. 265. (Hrsg.)

tet, während der Staat des russischen Proletariats gleichzeitig seinen Frieden mit den imperialistischen Mächten, die möglichste Beteiligung des imperialistischen Kapitalismus am wirtschaftlichen Aufbau Rußlands zu fördern versucht. Sie wird nicht verstehen, wieso die Partei an ihrem inneren strengen Charakter unerbittlich festhält und ihre ideologische und organisatorische Festigung mit den energischsten Mitteln betreibt, während die Wirtschaftspolitik der Räterepublik ängstlich darüber wacht. daß jenes Bündnis mit den Bauern, dem sie ihr Bestehen verdankt, nicht gelockert werde, während die Räterepublik in den Augen der Opportunisten immer mehr zu einem Bauernstaat wird, immer mehr ihren proletarischen Charakter verliert usw. usw. Die mechanische Starrheit des undialektischen Denkens vermag es nicht zu fassen, daß diese Widersprüche objektive, seiende Widersprüche des gegenwärtigen Zeitalters sind; daß die Politik der RKP die Politik Lenins nur insofern widerspruchsvoll ist, als sie die dialektisch richtigen Antworten auf die objektiven Widersprüche ihres eigenen gesellschaftlichen Seins sucht und findet. So führt uns die Analyse der Politik Lenins stets zu den Grundfrag~n der dialektischen Methode zurück. Sein ganzes Lebenswerk ist die konsequente Anwendung der Marxschen Dialektik auf die ununterbrochen wechselnden, stets Neues hervorbringenden Ersd1einungen eines ungeheuren übergangszeitalters. Da aber die Dialektik keine fertige Theorie ist, die mechanisch auf die Erscheinungen des Lebens angewendet werden könnte, sondern nur in dieser Anwendung, durch diese Anwendung als Theorie existiert, ist die dialektische Methode aus der Praxis Lenins erweiterter, erfüllter und theoretisch entwickelter hervorgegangen, als er sie aus der Erbschaft von Marx und Engels übernommen hat. Es ist deshalb vollkommen berechtigt, vom Leninismus als einer neuen Phase in der Entwicklung der materialistischen Dialektik zu sprechen. Lenin hat nicht nur die Reinheit der Marxschen Lehre nach einer jahrzehntelangen Verflachung und Entstellung, die der Vulgärmarxismus zustande gebracht hat, wiederhergestellt, sondern die Methode selbst weiterentwickelt, konkreter und reifer gemacht. Wenn es aber nun zur Aufgabe der Korn186

munisten wird, auf dem Pfade des Leninismus weiter zu gehen, so kann dieses Weitergehen nur dann fruchtbar werden, wenn sie sich zu Lenin so zu verhalten versuchen, wie sich Lenin selbst zu Marx verhalten hat. Art und Inhalt dieses Verhaltens sind von der Entwicklung der Gesellschaft, von den Problemen und Aufgaben, die der Geschichtsprozeß dem Marxismus stellt, sein Gelingen von der Höhe des proletarischen Klassenbewußtseins in der führenden Partei des Proletariats bestimmt. Der Leninismus bedeutet, daß die Theorie des historischen Materialismus den Tageskämpfen des Proletariats noch näher gerückt ist, noch praktischer geworden ist, als sie es zu Marx' Zeiten sein konnte. Die Tradition des Leninismus kann also nur darin bestehen, diese lebendige und lebenspendende, diese wachsende und das Wachstum fördernde Funktion des historischen Materialismus unverfälscht und unerstarrt zu bewahren. Darum muß - wir wiederholen - Lenin von den Kommunisten so studiert werden, wie Marx von Lenin studiert wurde. Studiert, um die dialektische Methode handhaben zu lernen. Um zu erlernen: wie durch die konkrete Analyse der konkreten Lage im Allgemeinen das Besondere und im Besonderen das Allgemeine; im neuen Moment einer Situation das, was es mit dem bisherigen Prozeß verbindet und in der Gesetzlichkeit des Geschichtsprozesses das immer wieder entstehende Neue; im Ganzen der Teil und im Teil das Ganze; in der Notwendigkeit der Entwicklung das Moment des aktiven Handelns und in der Tat die Verknüpfung mit der Notwendigkeit des Geschichtsprozesses gefunden werden kann. Der Leninismus bedeutet eine bisher unerreichte Stufe des konkreten, nicht schematischen, nicht mechanischen, rein auf Praxis gerichteten Denkens. Dies zu erhalten ist die Aufgabe der Leninisten. Aber in dem Geschichtsprozeß kann sich nur das sich lebendig Entwickelnde erhalten. Und ein solches Erhalten der Tradition des Leninismus bedeutet heute die vornehmste Aufgabe eines jeden, der die dialektische Methode als Waffe im Klassenkampf des Proletariats ernst nimmt.

11.

N. Bucharin: Theorie des historischen Materialismus::- (Rezension) in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, II. Jg. ( r925), S. 2I6-224.

Das neue Werk Bucharins stellt eine längst erwünschte systematische Zusammenfassung des historischen Materialismus vom marxistischen Standpunkt dar. Da im marxistischen Lager, seit Engels' »Antidühring« - mit Ausnahme des Büchleins von Plechanow - nichts Ähnliches versucht und die Zusammenfassung der Lehre den Gegnern des Marxismus, zumeist solchen, die ihn sehr oberflächlich verstanden, überlassen wurde, wäre Bucharins Versuch auch dann sympathisch zu begrüßen, wenn an seiner Methode und seinen Resultaten noch mehr ausgesetzt werden müßte, als es in diesen Zeilen geschehen muß. Denn es muß anerkannt werden, daß es Bucharin gelungen ist, alle wichtigen Fragen des Marxismus in einheitlich-systematischen Zusammenhang zu bringen, der - im großen und ganzen - marxistisch ist; ferner, daß die Darstellung überall klar und leicht verständlich ist, so daß das ßuch seine Bestimmung: ein Lehrbuch zu sein, gut zu erfüllen geeignet erscheint. Diese Zielsetzung Bucharins, ein gemeinverständliches Lehrbuch zu schreiben, muß den Kritiker seinen Einzelresultaten gegenüber, besonders wenn sie sich auf etwas abseits gelegene Gebiete beziehen, nachsichtig stimmen. Diese Zielsetzung sowie die Schwierigkeit, in Rußland die nötige Literatur zu beschaffen, entschuldigt, daß Bucharin bei der Behandlung von Kunst, Literatur und Philosophie fast durchweg aus zweiten Quellen schöpft und die Resultate der fortgeschrittensten Forschung zumeist unberücksichtigt läßt. Die Gefahr, die hieraus entsteht, wird jedoch dadurch gesteigert, daß Bucharin im Bestreben, ein allgemein verständliches Lehrbuch zu schreiben, die Neigung hat,

* N. Bucharin, Theorie des historisd1cn Materialismus. Gemeinverständliches Lehrbuch der marxistischen Soziologie, Hamburg 1922, Verlag der Kommunistischen Internationale, X und 372 Seiten. (G. L.)

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die Probleme selbst allzusehr zu vereinfachen. Seine Darstellung wird solcherart zwar sehr hell und durchsichtig, sie verwischt und verdeckt aber zugleich vielfach die Zusammenhänge, statt sie wirklich zu erläutern. Eine simplifizierende Darstellung aber, die nicht in der Vereinfachung der sachlich richtigen Problemstellungen und Resultate, sondern in der Vereinfachung von Problem und Resultat selbst beruht, kann niemals anerkannt werden - um so weniger, als diese Vereinfachungstendenz sich bei Bucharin nicht auf die entfernteren ideologischen Gebilde beschränkt, sondern auch in die zentraleren Fragen eindringt. So führt z. B. Bucharin aus, eine wie genaue Parallelität zwischen der Hierarchie und den Herrschaftsverhältnissen in der ökonomischen Struktur der Produktion einerseits und derjenigen im Staate andererseits obwaltet (S. 168-170), und schließt mit der Bemerkung: »Wir sehen hier also, daß der Bau des staatlichen Apparates selber den ökonomischen Bau widerspiegelt, d. h. dieselben Klassen stehen an denselben Stellen«. Dies ist als Tendenz der Entwicklung zweifellos richtig. Es ist auch richtig, daß ein dauernder und scharfer Widerspruch zwischen beiden Hierarchien zu einer revolutionären Umwälzung zu führen pflegt. Der konkreten Geschichte gegenüber ist aber die Formulierung Bucharins allzu vereinfachend, schematisch. Denn es ist durchaus möglich, daß das ökonomische Kräftegleichgewicht zwischen den konkurrierenden Klassen zeitweilig einen Staatsapparat entstehen läßt, der von keiner der beiden Klassen wirklich beherrscht wird (wenn er auch zu mannigfachen Kompromissen mit ihnen gezwungen ist), der deshalb ihre Struktur keineswegs einfach widerspiegelt. Das gilt z. B. von der absoluten Monarchie in der beginnenden Neuzeit. Es ist ferner möglich, daß eine Klasse ökonomisch zur Herrschaft gelangt, ohne in der Lage zu sein, den Staatsapparat vollständig ihren Bedürfnissen anzupassen, ihm ihr Klassengepräge aufzuunbedingte< Aussichtslosigkeit zu >beweisenHeiligen Familie, anführt« (4. x1. 1845, Bf. I, 242) usw. Da aber Lassalles Antworten fehlen, ist mit diesen Hinweisen schwer etwas anzufangen; Das Lob Grüns deutet allerdings darauf hin, daß im Lassalleschen Kreis die Kritik von Hess über Stein aus den »21 Bogen« 9 kaum bekannt war oder in ihrer Tragweite begriffen wurde, von den Aufsätzen von Marx und Engels in den »Deutsch-französischen Jahrbüchern« gar nicht zu reden. Daß Lassalle - wie Arnold Mendelssohn dies (Bf. 1, 241) klar ausspricht - der Meinung war, in seiner Hegelschen Dialektik das absolute Mittel in der Hand zu haben, mit dem Ordnung im Chaos dieser »verschiedenen Gestalten des Bewußtseins«, die »die Geburtsstätte des Herrn, des Begriffs« umdrängen, geschaffen werden kann, und daß er sich deshalb sowohl einer Selbstverständigung über Dialektik und Geschichte, wie einer ein8 ?vlarx und Engels, »Die deutsdie Ideologie«, in: Marx-Engels-Werke, Bd. III, S. 476. (Hrsg.) 9 Moses Hess, ... Sozialismus und Kommunismus« (in: Einundzwanzig Bogen aus der Sdrwciz, hrsg. YOn Georg I-Icrwcgh, Teil I, Zürich-W'intcrthur 1343, S. 74 ff.), in: ders., Philosophische und sozialistische Schriften, 1837 bis 1850. Eine Auswahl, hrsg. und eingel. von Auguste Cornu und Wolfgang Mönkc, Berlin 1961, S. 195 ff., besonders S. 202 ff. (Hrsg.)

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gehenden Kritik der einzelnen revolutionären Theorien überhoben hielt, zeigen alle seine Jugendbriefe. Am klarsten vielleicht die Skizze der Entwicklung des Kommunismus im Brief an seinen Vater in ihrer Mischung von Selbstsicherheit und Mangel an tiefem Eindringen in den Stoff. »Er (der Kommunismus) tritt in seiner rohesten Gestalt gleich auf, nachdem in der Konstitution von 1795 das Eigentum als Prinzip für die Staatsfreiheit hingestellt worden, im Jahre 1796 in der Verschwörung Babeufs und seiner Genossen entwickelt er sich dann immer mehr, bildet sich zu den sozialistischen Theorien St. Simons und Fouriers aus, die ihren Grundgedanken nach ebenfalls zum Kommunismus gerechnet werden müssen, wird dann zum eigentlichen Kommunismus, spaltet sich wiederum in verschiedene Sekten, als die Travailleurs egalitaires, die Reformistes und kommt endlich zu seiner vorläufig höchsten Gestalt, dem ikarischen Kommunismus, den Cabet gestiftet und vertritt (aber auch in dieser Gestalt, so tief und wahr seine aufgezeigte Bedeutung, ist er noch abstrakt und einseitig) (Bf. r, q2).« Jedoch die Wichtigkeit solcher philologischer Probleme sinkt, wenn man bedenkt, daß dieses Zurückgreifen auf Fichte die einzige sachlich-philosophische Möglichkeit war, die innere Struktur der Hegelschen Dialektik beizubehalten und der Geschichtsphilosophie dennoch einen auf das Handeln gerichteten, einen revolutionären Akzent zu geben. Hier ist nicht der Ort und die Möglichkeit, diese Frage in ihrer ganzen Breite auch nur anzudeuten. Wir wollen nur auf einige Motive hinweisen. Der bereits erwähnte, aktivistische Charakter der Fichteschen Geschichtsphilosophie hängt aufs engste damit zusammen, daß die methodische Stelle der Gegenwart, des notwendigen Angelpunktes einer jeden Geschichtsphilosophie, bei Fichte nicht Abschluß, nicht erreichtes Ziel des Geschichtsprozesses ist, wie bei Hegel, sondern die Mitte. Auch Fichte will durch seine Geschichtsphilosophie die Gegenwart begreifen und erklären, diese Gegenwart ist jedoch für ihn nicht, wie für Hegel, die vollendete Verwirklichung der Idee, sondern ganz im Gegenteil: das Zeitalter der vollendetsten Sündhaftigkeit. Diese Gegenwart muß also durchweg negativ bewertet werden. Ihre Bedeutung und Funktion liegt darin, daß sie ein not207

wendiger Durchgangspunkt zur Vollendung der Idee, zur utopisch geschauten Zukunft ist. (Am klarsten dargestellt in den »Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters«to.) Wenn nun hierin auf den ersten Anblick ein über Hegel hinausweisendes philosophisches Motiv erscheint - das auch tatsächlich über Hegel hinaus wirksam wurde, sowenig seine Wirkungsgeschichte bis heute erforscht ist - so darf doch nicht vergessen werden, daß die Hegelsche, politisch reaktionäre, philosophisch-methodisch auf reine Kontemplation auslaufende »Versöhnung«, das Aufgipfeln der Geschichtsphilosophie in der Gegenwart gerade als »Versöhnung« eine (wenn auch bei Hegel selbst größtenteils unbewußt und unausgewertet gebliebene) innigere Verknüpfung der logischen Kategorien mit den Aufbauformen der bürgerlichen Gesellschaft, folglich eine größere Wirklichkeitsnähe bedeutet, als sie für Fichte je erreichbar gewesen ist. So sehr also die Gesinnung Fichtes revolutionärer ist als die Hegels, so sehr bleibt sie eine bloß utopische Gesinnung, während Hegel imstande ist, den inneren gesellschaftlichen Aufbau der Gegenwart (ihre über sich selbst hinausweisenden Tendenzen mitinbegriffen) in sein Kategoriensystem aufzunehmen. D. h.: Die Hegelschen Kategorien sind in ihrer logisch-methodischen Abfolge von dem historischen Nacheinander der realen Entwicklung viel abhängiger als die Kategorien Fichtes. Freilich ist dieses Problem auch bei Hegel nicht gelöst. Indem aber die radikalen und revolutionären Junghegelianer - also auch Lassalle - um die konservativen Denkelemente der Schule zu überwinden, auf Fichte zurückgreifen, fallen sie dadurch notwendigerweise hinter Hegel zurück, indem sie den methodischen Zusammenhang zwischen Kategorie und Geschichte lockern, statt die Kategorien in der Geschichte zu verankern, sie aus der geschichtlichen Wirklichkeit herauswachsen zu lassen. Dies führt bei einzelnen - vor allem bei Bruno Bauer und Stirner - zu einem philosophischen Subjektivismus, der freilich auch vom jungen Hegel, von der »Phänomenologie des Geistes« mitbeeinflußt ist. Lassalle selbst hält auch in seiner frühen Jugend an 10 Johann Gottlieb Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Berlin 1806. (Hrsg.)

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1.

Aufl„

dem Objektivismus des reifen Hegel fest. Er kann aber unmöglich verhindern, daß die Beziehung zwischen Kategorie und Geschichte auch bei ihm gelockert sei. Denn auch er kann bloß ein - logisch-zeitlos fertiges - Kategoriensystem auf die Geschichte anwenden, wobei die Beziehung von logisch-methodischer Abfolge und geschichtlichem Nacheinander eine zufällige bleibt und bleiben muß. Wie stark diese Tendenz bei Lassalle ist, zeigt, daß er noch in dem 1861 gehaltenen Vortrag über den Unterschied der Hegelschen und Rosenkranzsehen Logik an dieser Dualität festhält und sogar anderen Hegelianern (z. B. Cieszkowski) gegenüber, die das Problem durch eine mechanische Parallelisierung von Kategorientypen und Geschichtsepochen lösen wollen, diese Unabhängigkeit der Kategorien von der Geschichte ausdrücklich betont. Es ist eine tragische Ironie in der Entwicklung Lassalles, daß er an derselben Stelle, wo er den Rückfall Rosenkranz' zur Kantischen Dualität von Denken und Sein scharfsinnig aufdeckt, auf dem Umweg über Fichte zu dem Problem der »Kritik der Urteilskraft«, zum Problem der realen Anwendbarkeit der Kategorien, der Subsumierbarkeit des Besonderen (geschichtlich Realen) unter die Allgemeinheit (logische Kategorie) zurückkehrt. Dieser Rückfall ist aber Lassalle selbst nie bewußt geworden. Einerseits weil er durch strenges Festhalten an der Hegelschen Logik sich berechtigt fühlt, das Problem von Denken und Sein als definitiv erledigt anzusehen. Andererseits weil er durch die Fülle des empirischen Materials, das er in seinen reifen Werken verarbeitet und durch die orthodox festgehaltenen Hegelschen Kategorien ordnet, diesen Abstand auch von der empirischen Seite überwunden zu haben meint. Nun soll selbstredend die Bedeutung dieses letzteren Umstandes keineswegs unterschätzt werden. Ja, wir glauben sogar, daß Lassalle nicht nur durch seine gedankliche Überlegenheit, sondern gerade hierdurch, durch dieses ununterbrochene Untertauchen in ein empirischgesellschaftliches Material, sich aus der Sackgasse des revolutionären Junghegelianers gerettet hat. Der methodische Abstand ist aber damit nur psychologisch verdeckt, nicht aber philosophisch überwunden. Marx und Engels haben auch diese schwache Seite des Lassalleschen Denkens stets sehr scharf gesehen. So betont 209

z. B. Marx in seinem Brief vom 1. n. 58 an Engels über den Heraklit: »Noch weniger fällt es dem Burschen ein, irgend kritische Gedanken über die Dialektik selbst zu verraten ... Er wird zu seinem Schaden kennenlernen, daß es ein ganz anderes Ding ist, durch Kritik eine Wissenschaft erst auf den Punkt bringen, um sie dialektisch darstellen zu können, als ein abstraktes, fertiges System der Logik auf Ahnungen eben eines solchen Systems anzuwcndenll.« Daß die »Idee« auf diese Weise eine der Geschichte gegenüber selbständige Existenz erhält, ist selbstverständlich, ist aber nur die notwendige logische Konsequenz dieses Ausgangspunktes. Diese von der geschichtlichen Materie methodisch ungehemmte (wenn auch durch empirisches Material noch so reich illustrierte) Selbstentwicklung des Begriffs muß sich als eine geradlinige Steigerung in dem Bewußtwerden der Idee, in der Durchdringung der Wirklichkeit durch die Idee spiegeln. So ist auch Fichtes Geschichtsphilosophie aufgebaut (wobei freilich die Frage auftauchen müßte, die aber hier nicht einmal angedeutet werden kann, ob dies nicht bloß eine Systematisierung und Schematisierung des unendlichen Progresses der Kantschen Philosophie der Geschichte ist). Und Lassalles im reifsten Alter ausgeführte Geschichtsphilosophie - im »System der erworbenen Rechte« (Wk. rx, 390-400) - geht noch im wesentlichen diesen Weg. Denn seine Kritik der ßeziehung von Geschichte und zeitlosem Ansieh in der Hegelschen Rechtsphilosophie gipfelt bloß in der Forderung eines Aufbaus »wie Hegel selbst die Religionsphilosophie geschrieben hat«. Hinter dem Wandel im Geschichtsprozeß bleibt ein Identisches »in dem allgemein formellen Wesen der Rechtsphilosophie (Eigentum, Vertrag usw.)« bestehen, »was aber als bloßes Ansieh aufzufassen ist«. Die Beziehung zwischen diesem Ansieh und der geschichtlichen Wirklichkeit könnte erst in einem »System der Philosophie des Geistes« klargelegt werden (ebd. 140-141). Ob dieses Kategoriensystem, das Ansieh selbst, nicht ebenfalls ein Produkt der Geschichte ist, oder wie - im Falle der Verneinung dieser Frage - eine Geschichte überhaupt methodisch verständlich zu machen ist, hat Lassalle nie 11 Bw. II, S. 243. (G. L.) - Marx-Engels-Briefwedisel, Bd. II, S. 352. {Hrsg.)

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als Problem aufgeworfen. Sehr bezeichnend ist seine von Bernstein veröffentlichte .i\ußerung an Marx, als dieser ihn r 86 r besuchte: »Wenn du nicht an die Ewigkeit der Kategorien glaubst, mußt du an Gott glauben« (zit. Wk. vr, 9). So ist sein Hinausgehen über Hegel - vom methodischen Gesichtspunkt aus gesehen - nur ein scheinbares Hinausgehen. Denn daß Lassalle durch seine revolutionären Inhalte und die dadurch unbewußt entstandene schärfere Fragestellung an die Schwelle des Problems gelangt, kann, da er diese Schwelle doch nie zu übertreten vermag, an der Gesamtlage nichts Entscheidendes ändern. Im Gegenteil. Der unbewußt gebliebene Hegel entdeckt ungewollt viel mehr wichtige kategorielle Zusammenhänge als Aufbauformen von konkreten Geschichtsepochen als Lassalle, den seine »Klarheit« in die Richtung auf Fichte zurücktreibt. Je höher aber die »Idee« bewertet wird, je zeitloser und unabhängiger sie über dem konkreten Geschichtsprozeß thront, desto weniger vermag sie im Konkreten richtunggebend zu werden. Wird, wie bei Marx und Engels, der konkrete Geschichtsprozeß selbst als das originär Dialektische verstanden, der in unseren Gedanken nur zum Bewußtsein gelangt, so können ihm selbst die entscheidenden Tendenzen des gesellschaftlichen Geschehens abgelauscht und so zum Gegenstand der Wissenschaft gemacht werden. Die Wissenschaft, die so erreicht wird, kann als Wissenschaft die Praxis leiten: Eine Realpolitik im weltgeschichtlichen Sinne ist dadurch methodisch möglich geworden. Lassalle vermag aber aus seiner Dialektik und Geschichtsphilosophie keinen Maßstab für das richtige Handeln zu finden, und er muß »Realpolitiker« - im gewöhnlichen Sinne des Wortes - werden. Lassalle hat diese Schranke seiner Geschichtsauffassung ohne sich freilich über die Tragweite seiner .i\ußerung bewußt zu sein - wiederholt ausgesprochen. Am klarsten in der Diskussion mit Marx und Engels über den »Sickingen« (17. v. 1859, Bf. m, r 88): »Geht man von der Hegelschen konstruktiven Geschichtsauffassung aus, der ich ja selbst so wesentlich anhänge, so muß man sich freilich mit Euch antworten, daß in letzter Instanz der Untergang doch notwendig eingetreten wäre und eintreten mußte, weil Sickingen, wie Ihr sagt, ein au fond reaktionäres Interesse vertrat, und daß er dies wieder notwendig 211

mußte, weil ihm Zeitgeist und Klasse das konsequente Einnehmen einer anderen Stellung unmöglich machten«. »Aber diese kritisch-philosophische Geschichtsauffassung, in der sich eherne Notwendigkeit an Notwendigkeit knüpft, und die eben deshalb auslöschend über die Wirksamkeit individueller Entschlüsse und Handlungen hinwegführt, ist eben darum kein Boden, weder für das praktisch-revolutionäre Handeln noch für die vorgestellte dramatische Aktion.« Diese Auffassung der Notwendigkeit zeigt nicht nur einen unüberbrückbaren Abstand zur Geschichtsauffassung von Marx (Oncken zitiert sie auch in seiner Lassalle-Biographie 12 begeistert als Widerlegung des historischen Materialismus), sondern sie bedeutet zugleich einen tiefen Rückfall von der Hegelschen dialektischen Einheit von Freiheit und Notwendigkeit in der Geschichte zu der Fichteschen Dualität des »absoluten Seins« und der »absoluten Freiheit«. (Wie noch Spinoza und Kant in diese Problemstellung einspielen, kann hier nicht erörtert werden.) Nicht nur beruht die Hegelsche Theorie der Tragödie auf einer Einheit von Freiheit und Notwendigkeit, um den konkreten, aber hier nicht entscheidenden Anlaß der Diskussion kurz zu streifen, sondern sie bildet den Kern seiner ganzen Geschichtsphilosophie. Die Theorie der Leidenschaft, durch die die - für Hegel sehr wichtige - Rolle der großen Individuen in der Geschichte vermittelt wird, zeigt dies am klarsten. Idee und Leidenschaft bilden »den Faden des Teppichs der Weltgeschichte«. Sie sind »die Extreme; die sie bindende Mitte, worin beide konkurrieren, ist die sittliche Freiheit«D. Bei dem gründlichen und gediegenen Hegel-Kenner Lassalle ist es von vornherein ausgeschlossen, daß er jemals irgendeinen wesentlichen Punkt des Hegelschen Systems übersehen hätte. Diese Theorie Hegels hat er sogar in verschiedenen Gerichtsreden ausführlich zitiert und die Hegelsche Auffassung der Leidenschaft als die eigene bezeichnet. Er ist hier also bewußt über Hegel hinausgegangen, er hat hier Hegel durch Fichte korrigiert, weil die

12 Hermann Oncken, Lassalle, 2. durchgearb. Aufl. (Politiker und Nationalökonomen, 2), Stuttgart-Berlin 191i, S. 136 ff. (Hrsg.) 13 Die Vernunft in der GeschidHe. Einleitung in Jie Philosophie der Weltgeschichte,

neu hrsg. von G. Lassen (Philosophische Bibliothek, 171 a), Leipzig 1917, S. 6r. (G. L.)

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Hegelsche Notwendigkeit seinem Aktivismus nicht genug tat. Und tatsächlich ist die Hegelsche Geschichtskonzeption in all ihrer Größe viel zu abstrakt und viel zu kontemplativ, um für die einzelne Tat Richtung weisen zu können. Dies kann die geschichtliche Dialektik nur in ihrer Marxschen Form tun. Da aber Lassalle - im großen ganzen - beim orthodoxen Hegelianismus stehenbleibt, kann er den Weg zur Tat nur in der Richtung auf Fichte, in der Irrationalität des rein individuellen Entschlusses und - politisch gesprochen - in der »Realpolitik« finden. Daß Lassalle in einzelnen Fragen einen bewundernswerten politischen Scharfblick gezeigt hat, ist die Frage seiner persönlichen Genialität. Seine Methode, seine Geschichtsphilosophie vermochten ihm dabei keine Richtschnur zu geben. Womit freilich ihre sonstige Bedeutung für seine Agitation nicht geleugnet werden soll. Sie haben im Gegenteil in manchen Fällen ihm die Möglichkeit zur richtigen Einsicht verstellt; z. B. Stellung zur Gewerkschaftsfrage, Problem des Staates etc. Man pflegt häufig einzelne grobe Mißgriffe der Lassalleschen Politik - wie z.B. sein Verhalten zu Bismarck - bloß seiner »Persönlichkeit«, seinem Temperament etc. zuzurechnen. Aber gerade dem Fichteverehrer Lassalle gegenüber ist es nur gerecht, in seiner Denkmethode den klarsten Ausdruck dieser Persönlichkeit zu erblikken, um aus dieser Denkweise, die sein Verhalten zur Wirklichkeit bestimmt, seine Handlungen in ihrer Übereinstimmung mit dem innersten Kern seines Wesens zu begreifen. (Was selbstverständlich keineswegs die Betrachtung ausschließt, daß diese ganze Methode und ihre inhaltliche Erfüllung in Lassalles Weltanschauung ihrerseits ideologische Formen der Entwicklung des deutschen Proletariats sind, eine Etappe in dem Entstehen seines Klassenbewußtseins bedeuten.) Am klarsten zeigen sich diese Zusammenhänge in dem größten und bedeutungsvollsten Erlebnis Lassalles, in seiner Beziehung zur Gräfin Hatzfeldt, in der Art, wie er ihre Sache ergriffen, wie er für sie gekämpft und hauptsächlich - was er als Kern der ganzen Angelegenheit betrachtet hat. Es ist hier nicht der Ort über die tatsächlichen Momente der Hatzfeldtschen Händel zu sprechen. Nicht nur weil der Briefwechsel hier nicht viel Material zu einer neuen Beurteilung der Einzelheiten (Kassettenaffäre etc.) bringt, sondern 213

vor allem, weil wir die - wenn auch noch so kurze - Analyse der inneren Stellungnahme Lassalles zum Hatzfeldtschen Handel für aufschlußreicher für sein Wesen halten, als die einzelnen Momente des Handels selbst. Der Briefwechsel mit der Gräfin Hatzfeldt bringt darüber sehr viel Interessantes. Vor allem einen großen Aufsatzbrief (Bf. IV, l 2-48), in dem Lassalle der Gräfin Hatzfeldt ausführlich seinen geschichtsphilosophischen Standpunkt zu ihrem Prozeß und im engsten Zusammenhang damit zu ihrer Person auseinandersetzt: Sie ist für ihn die Verkörperung eines Prinzips. Das zurückweichende Verhalten ihrer Umgebung ist auf das Empfinden dieser Sachlage zurückzuführen. »Was die Frauen in Ihrer Gegenwart und Nähe ergreift, das ist jenes unbestimmte Gefühl von Furcht und Haß, jenes vage, ahnungsvolle Zittern, sich in der Nähe des Prinzips zu finden, von welchem man den Todesstoß empfangen soll. In der Natur wie in der Geschichte, ja selbst im Einzelleben gibt es solcher Beispiele die Fülle, in welchen eine Existenz, in die Nähe des Prinzips gebracht, durch das sie unterzugehen bestimmt ist, von unheimlicher Furcht und darum von um so lebhafterem Haß unbewußt ergriffen wird (ebd. 13).« Es ist dabei gleichgültig, ob dies der Gräfin Hatzfeldt selbst immer bewußt wird. »Sie übersehen manchmal, daß in dem, was Ihnen Ihre bloß individuelle Leidensgeschichte zu sein scheint, noch ganz anderes vorhanden ist; daß nämlich ein welthistorischer Gedanke sich Ihren Leib geliehen hat, um sich zum erstenmal zum Ausdruck und zur Darstellung in der Wirklichkeit zu bringen, daß somit Ihre Geschicke, ob gut, ob schlimm, nichts anderes sind als die praktisch (als Ereignis) gesetzten Konsequenzen jenes Gedankens und seines gegensätzlichen Verhaltens zu der bisherigen Welt (ebd. 14).« Wir wollen hier nicht diese Geschichtsphilosophie, die vom l 8. Jahrhundert über Goethe, F. Schlegels »Lucinde«, Schleiermachers »Vertraute Briefe«, den Saint-Simonismus, Georges Sand etc. als Etappen der Befreiung der Frau und der Liebe zum Falle Sophie Hatzfeldt führt, erörtern. Es kommt mehr darauf an, daß Lassalle dieser Kampf als der Kampf um ein Prinzip, um das Prinzip der Revolution erschien. So will er seine Beziehung zu Sophie Hatzfeldt - auch von ihr - betrachtet sehen. »Daß aber das einsam ringende Weib diese Hilfe findet, 214

das beweist eben am mächtigsten und siegreichsten, daß es nicht für seine bloße Lust, auch nicht für irgendein noch so vortreffiiches, aber rein persönliches Element kämpft, sondern daß es für eine wirkliche und schlechthin allgemeine Zeitidee, für das wahrhaft allgemeine Prinzip der freien Persönlichkeit selbst gelitten und gekämpft hat. - Diese Hilfe wird jener Individualität aber nicht zuteil individueller Beziehungen wegen, sondern wegen des Prinzips, das aus ihr handelt; nicht also ein Verliebter ist es, der, weil er sie liebt, sondern drei Männer auf einmal sind es, die nicht in persönlicher Liebesbeziehung zu ihr stehen, sondern rein durch die innere Macht des Prinzips bestimmt, sich der um ihre Geltung kämpfenden Persönlichkeit zur Disposition stellen. Und gerade weil diese Hilfe nicht eine aus persönlichen Beziehungen, persönlicher Teilnahme entsprungene ist, beschränkt sie sich auch nicht auf ein mehr oder weniger hilfreiches Bemühen, sondern als durch die Identität des Prinzips erzeugt, trägt sie den Fanatismus des Prinzips in sich und ist eine Hilfe auf Leben und Tod! ... Natürlich aber konnte diese Hilfe nur in den Reihen derer entstehen, die in jeder Beziehung zu der Fahne der freien Verwirklichung der Persönlichkeit geschworen hatten, d. h. der sozialen Revolutionäre; und sie konnte ferner nur in einem Augenblicke entstehen, wo die Idee der unbedingten Verwirklichung der freien Persönlichkeit sich schon tief genug in die Welt eingearbeitet und hinreichend entwickelt hatte, um zu ihrer gewaltsamen praktischen Durchführung entschlossen zu sein, d. h. kurze Zeit vor dem Ausbruche einer allgemeinen sozialen Revolution (ebd. 40/41).« Marx schrieb über Lassalles Rolle im Hatzfeldtschen Handel wegwerfend an Engels 14 : »als ob ein wirklich bedeutender Mensch zehn Jahre einer solchen Bagatelle opfern würde«; und wenn er über »seinen Todesvorwand« sagt: »es ist eine der vielen Taktlosigkeiten, die er in seinem Leben begangen hat« 15 , so ist der Hatzfeldtsche Handel sicher unter diesen Taktlosigkeiten der Arbeiterbewegung gegenüber - mitgemeint. Für Lassalle war 14 5. III. 1856. Bw. II, S. 99. (G. L.) - Marx-Engels-Briefwechsel, Bd. II, S. 149· (Hrsg.) 15 7. IX. 1864. Bw. III, S. 181. (G. L.) · Marx-Engels-Briefwechsel, Bd. III, S. 228. (Hrsg.}

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aber diese Stellungnahme - die Tat, mit den Begründungen, die sie hervorriefen und die sie in ihm hervorrief - keine »Verirrung«, nichts »Jugendliches«, das er später in seiner Reife überwunden hätte, sondern die wichtigste und jedenfalls die für ihn selbst bezeichnendste, ihn am stärksten ausdrückende, die symbolische Tat seines Lebens. Darum konnte er - wenn auch vielleicht in einem Augenblick der Depression - mit vollem Recht an Sophie Hatzfeldt schreiben: »Ach, es war doch schöner, als ich meine Prozesse für Sie hatte! Sie wußten doch wenigstens, was ich für Sie tat! Dies Volk weiß es nicht einmal und versteht es nicht (Bf. IV, 329, Brief vom 20. r. 1863).« Ich will hier nur beiläufig erwähnen, daß dabei - auch wenn, ich wiederhole, vielleicht nur als vorübergehende Depressionsstimmung - jene grundfalsche, das Wesen der Arbeiterbewegung völlig verkennende Verhaltungsart des bürgerlichen »Führers« zum Proletariat zum Ausdruck kommt, den Bebel so treffend und scharf Schweitzer gegenüber charakterisiert: »Er ist der erwählte Verfechter ihrer Forderungen, der Dolmetsch ihrer Sehnsucht, ihrer Hoffnungen und Wünsche. Solange der Führer dieser Aufgabe gerecht bleibt, ist er Vertrauensmann einer Partei ..• Eine Partei ist nicht der Führer wegen da, sondern der Führer der Partei wegen ... Die Massen sind also nie undankbar ... Wer über Undankbarkeit der Massen klagt, klage sich selber an 16.« Es ist vielleicht überflüssig zu sagen, daß hiermit Lassalle nicht mit Schweitzer, geschweige denn mit dem Schweitzer der Bebelschen Memoiren verglichen werden soll. Es ist aber doch nicht zu leugnen, daß in solchen .Außerungen eine Weltanschauung zum Ausdruck kommt, die den Führer, die »große Persönlichkeit« als eigentlichen Träger des weltgeschichtlichen Geschehens, die Masse als Mittel zum Erreichen dieses Zieles mag das Ziel selbst auch im Interesse der Massen liegen- ansieht. Lassalle hat sich mit Recht von früher Jugend an als revolutionären Sozialisten betrachtet. Denn seine Ziele waren sozialistisch und so waren auch die Wege, auf denen er sie zu verwirklichen 16 August Bebe!, Aus meinem Leben, Bd. II, S. 1}3-134. (G. L.) - August Bebe!, Aus memem Leben, unveränderter Nadidruck der 1. Aufl., Berlin 1946, Teil II, S. u3. (Hrsg.)

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bestrebt war. Aber die Verknüpfung von Arbeiterbewegung, von Aktivität und Zum-Selbstbewußtsein-Erwachen der proletarischen Masse und Sozialismus blieb bei ihm äußerlich. Dies ist die theoretische Grundlage von seinen häufigen Depressionen über den langsamen Gang der Entwicklung, von seiner Unlust, sich innerlich auf das Tempo der Bewußtseinsentwicklung des Proletariats einzustellen, die sich zuweilen so weit steigerten, daß er sich von der Bewegung zurückzuziehen gewünscht hat. Wie weit diese Wünsche sich in Tat umgesetzt hätten, kann freilich nicht entschieden werden und so können wir auch heute nicht wirklich beurteilen, wie tief oder oberflächlich diese Depressionen gewesen sind; Marx oder Bebel oder Lenin (um recht verschiedene Persönlichkeiten des entgegengesetzten Typus aufzuzählen) haben jedenfalls solche Stimmungen überhaupt nicht gekannt. So schreibt erz. B. (28. vn. 1864) an die Gräfin Hatzfeldt: »Ach, wie wenig Sie au fait in mir sind! Ich wünsche nichts sehnlicher, als die ganze Politik loszuwerden und mich in Wissenschaft, Freundschaft und Natur zurückzuziehen. Ich bin der Politik müd und satt! Zwar, ich würde so leidenschaftlich wie je für dieselbe aufflammen, wenn ernste Ereignisse da wären, oder wenn ich die Macht hätte, oder ein Mittel sähe, sie zu erobern - ein solches Mittel, das sich für mich schickt. Denn ohne höchste Macht läßt sich nichts machen. Zum Kinderspielen aber bin ich zu alt und zu groß! Darum habe ich so höchst ungern das Präsidium übernommen! Ich gab nur Ihnen nach! Darum drückt es mich jetzt so gewaltig. Wenn ich es los wäre, jetzt wäre der Moment, wo ich entschlossen wäre, mit Ihnen nach Neapel zu ziehen! (Aber wie es loswerden?!) (ebd. 370).« Ich wiederhole: nicht das psychologische, sondern das philosophisdn Problem ist dabei für uns entscheidend. Es zeigt sich in diesen Ausbrüchen - einerlei wie tiefgehend sie gewesen sein mögen - jene Auffassung der Beziehung von Masse und Führer, die schon der junge Marx Bruno Bauer gegenüber aufs Energischste bekämpft und deren philosophische Grundlage, den Fichteisch »radikalisierten« Hegel, er durch die »Umstülpung« der Hegelschen Dialektik durch den historischen Materialismus radikal überwunden hat. (Auch hier soll Lassalle nicht mit Bruno Bauer verglichen werden; Lassalles Fichteanismus hat 217

einen ganz anderen Charakter, die beiden hängen nur einerseits als Zeiterscheinungen - obwohl Lassalle sich sehr wenig mit Bruno Bauer befaßt hat - andererseits als verwandte, wenn auch ganz anders geartete philosophische Tendenzen, Hegel idealistisch zu radikalisieren, zusammen.) Es scheint, als ob wir uns mit diesen Betrachtungen von der Analyse der Bedeutung des Falles Hatzfeldt für Lassalle sehr entfernt hätten. Es muß aber bedacht werden, daß hinter dieser Auffassung des Führerproblems, des Verhältnisses von Führer und Masse eben das ganze Problem des »Idealismus« steckt. Nicht umsonst betont Marx schon in der frühen Polemik gegen Bruno Bauer den Zusammenhang zwischen Hegelschem »Idealismus« (man könnte auch formalistische Geschichtsphilosophie sagen) und Überschätzung der Rolle des großen »lndividuums«1 7 • Und er hebt gerade als Charakteristikum der kommenden Zeit, der weltgeschichtlichen Periode des proletarischen Befreiungskampfes, das wirkliche Zusammenfallen von »Idee« und »Masse«, »dieses echte Herauswachsen der >Idee< aus den realen Interessen der Masse« hervor 18. Der Formalismus des durch Fichte revolutionierten Hegel gestattet Lassalle nicht das radikal Neue in der Revolution, die er erlebt und mitschafft, zu erblicken. Zwischen »Prinzip« und »Empirie« besteht für ihn ein - von ihm nicht erkannter - hiatus irrationalis (nach Fichtes Ausdruck). Dieser hiatus kann bei ihm deshalb bloß symbolisch-mythologisch überbrückt werden: dadurch, daß sich das »Prinzip« in irgendeiner Weise, in irgendeiner empirischen Begebenheit, in einem Menschen und seinem Schicksal »Verkörpert«. Eine solche Verkörperung der Gesamtproblematik der ganzen bürgerlichen Gesellschaft ist für Lassalle der Fall Hatzfeldt. So wie - hier liegen unserer Ansicht nach die richtigen Parallelen zu Lassalles Tat - sich diese Lage für Voltaire im Fall Calas, für Zola in der Affäre Dreyfus verkörpert hat. So wie Lassalle seinerzeit theoretisch im großen Brief an seine Jugendfreunde die Krise der bürgerlichen Gesellschaft einerseits in einer abstrakten Dia17 Die Heilige Familie, Nachlaß II, S. 186. (G. L.) - Marx-Engels-Werke, Bd. II, S. 89-90. (Hrsg.) 18 Ebd„ S. 182-183. (G. L.) - Vgl. dazu Marx-Engels-Werke, Bd. II, S. 86. (Hrsg.)

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lektik der Idee, andererseits an einzelnen Gestalten wie Diderots Rameau, Cagliostro, Casanova etc., in denen sich dieses Schicksal kristallisiert, aufzeigt (Bf. 1, 222 ff.), so faßt sich jetzt für ihn im Fall Hatzfeldt der ganze Kampf der revolutionären Emanzipation zusammen. Das Einzelne ist mit dem Ganzen, sein Schicksal mit der geschichtlichen Krisis teils gefühlsmäßigunmittelbar, also symbolisch-pathetisch-dichterisch verbunden, teils - was die notwendige Komplementärform hierzu ist abstrakt-juristisch vermittelt. Denn während das kollektive Schicksal der Klasse nur der bewußtseinsmäßige Ausdruck ihrer ökonomisch-sozialen Lage ist, das durch die richtige Totalitätsbeziehung zur Gesamtgesellschaft und zum Geschichtsprozeß real und erkenntnismäßig simultan bedingt ist (man denke daran, wie die Beziehung des Verhältnisses von V. zu C.19 das Schicksal des Proletariats in der kapitalistischen Gesellschaft bei Marx ausdrückt}, ist kein Einzelschicksal mit der »Idee« als simultan koexistent in der Totalität setzbar. Die unendlich verzweigten real-kausalen Relationen zwischen gesellschaftlicher Totalität und Einzelschicksal müssen notwendig so voll von nicht rationalisierbaren Elementen bleiben, daß hier keine wirklich allgemeine Beziehung möglich ist. (Marx und Engels haben auch in ihren geschichtlichen Analysen stets den gesellschaftlich-geschichtlichen, ökonomisch-klassenmäßigen realen Spielraum der möglichen Handlungen bis zur Vollendung konkretisiert, nicht aber die einzelnen Handlungen der einzelnen Personen, oder gar ihre »Persönlichkeit« aus diesen Verhältnissen »kausal« oder »deduktiv« abgeleitet.} Wird aber - wie bei Lassalle - die Totalität nicht in dieser ökonomischen Konkretheit gefaßt, erscheint auch die Okonomie bloß als eine der vielen Erscheinungsformen der »Idee«, die Kern und Wahrheit des Gesamtprozesses ist, so bekommen Einzelperson und Einzelgeschick 19 In der Marxschcn Mehrwertlehre bezeichnet •V• das •variable Kapital«, das zur Lohnzahlung verwendet wird, einen Mehrwert erzeugt und damit •variabel« ist. •C« bezeichnet das .konstante Kapitale, d. h. das gesamte sonstige für die Produktion eingesetzte Kapital. Es wtrft keinen Mehrwert ab, sondern produziert sich lediglich stets erneut. Die Profitrate, also das Verhältnis des Gewinns des Kapitalisten zum überhaupt aufgcl"n:nderen Kapital, hat Marx mit dem Quotienten bestimmt. {Hrsg.)

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einerseits eine überspannt große Bedeutung in diesem Prozesse, da sie dann als die einzig wirklich »konkreten« Verkörperungen der »Idee« übrig bleiben, andererseits entsteht das oben angedeutete schwierige Problem ihrer evident-notwendigen Verknüpfung mit der »Idee«. Diese »Idee« in ihrer bloß begriffsmythologischen Konkretheit wird dann entweder konkret-unmittelbar mit dem Einzelschicksal verknüpft, welche Verknüpfung aber, da die Konkretheit der Idee eine bloß mythologische und die Konkretheit des Einzelschicksals eine bloß sinnlichunmittelbare ist, nur symbolisch-dichterisch beschaffen sein kann. Oder es kommt in dieser Verknüpfung der abstrakte Charakter der »Idee« zum Vorschein: In diesem Falle kann das Einzelgeschick der abstrakten »Idee« nur als abstrahierter Einzelfall subsumiert werden; und die natürliche, gesellschaftlich gegebene Form einer solchen Subsumtion ist - in der bürgerlichen Gesellschaft - die rechtliche Beziehung. Es ist deshalb auch nicht zufällig, daß bei Lassalle diese beiden Momente des Falles Hatzfeldt in notwendigem Zusammenhang erscheinen. »Diesen höchsten Beweis der übermacht der freien Persönlichkeit über das ihr absolut Entgegenstehende legten Sie an Westphalen ab. Es war damit ein wahrer Sieg errungen, denn es war der absolute Gegensatz selbst überwunden, es war der Stand selbst, welcher par excellence das Alte vertrat und angegriffen wurde, der Adel zur Anerkennung der Wahrheit des neuen Prinzips gebracht. Natürlich konnte (wie auch z.B. bei der Französischen Revolution) dies Geständnis, daß sein eigenes Lebensprinzip überwunden und die freie Persönlichkeit das Wahre sei, nur von dem geistig gebildeten Teil des alten Adels ausgehen. Sie müssen sich aber hüten, Westphalen usw. als bloße Ausnahme aufzufassen. Westphalen, Oppenheim, Mendelssohn, ich usw. usw., wir sind alle nicht .,-1ttsnahmcn, sondern nur die V crtreter der verschiedenen Klassen der Gesellschaft, welche herbeieilen, um dem neu aufgegangenen Prinzipe der weiblichen Persönlichkeit ihre Huldigung darzubringen ... Die freie Persönlichkeit kämpft für die allgemeine Anerkennung und Geltung ihrer inneren Wahrheit, ihres Prinzips. Das zur allgemeinen Anerkennung und äußeren Geltung gelangte Prinzip ist das - Recht. Sie kämpft also um ihr Recht und auf dem Rechtsweg (Bf. rv, 44).« 220

Freilich reicht zur vollständigen Erklärung der Priorität des Rechts in der Gesellschaftsauffassung Lassalles diese formalsystematische Notwendigkeit nicht aus; obwohl ihre Rolle sicher größer ist, als man gewöhnlich annimmt. Es muß hier hinzugefügt werden, daß das Recht neben dieser seiner formal-systematischen Funktion (als Prinzip der Subsumption des Einzelnen unter das Allgemeine) auch inhaltlich erfüllt auftritt: Naturrecht ist. Denn das Recht ist »zugleich der verwirklichte Ausdruck der alten Gesellschaft und ihres Prinzips. Das Gesetz steht daher allüberall der neuen Wahrheit entgegen (ebd.)«. Hier, indem dieser Gegensatz nicht nur theoretisch zugespitzt und das Recht dadurch in sich dialektisch gemacht wird, sondern auch ihre sämtlichen praktischen Folgerungen gezogen werden, kommt die Korrektur Hegels durch den revolutionären Naturrechtler Fichte klar zum Vorschein; das Naturrecht als das Prinzip der Gerechtigkeit, der Freiheit und des menschlichen Fortsc.1ritts im Kampf gegen und als Sieg über das verknöcherte Prinzip des bloß positiven Rechts. Es geht aber dabei die durch Hegel vollzogene - halbe - Überwindung des Naturrechts verloren. Die Auflösung des Rechts in die Formen der »Gesellschaft« (der Staat Hegels ist seinem Wesen nach weit mehr gesellschaftlich als juristisch) mag bei Hegel einen noch so konservativen, ja reaktionären Charakter haben. Die Rechtsformen, sowohl in ihrer abstrakt-formellen, rein juristischen Wesensart, wie in der naturrechtlichen Auflehnung gegen diese, werden doch in den höheren Momenten des dialektischen Prozesses - der hier freilich ein vorwiegend logisch-dialektisch-systematischer und kein realgeschichtlicher Prozeß ist - aufgehoben, während bei Fichte und Lassalle die naturrechtliche Fassung des »höheren« Rechtsprinzips gerade in dem revolutionären Sieg über das alte Prinzip die Kontinuität des Rechts systematisch verewigt. Was übrigens Lassalle im »System der erworbenen Rechte« klar ausspricht: »Der inhaltliche Gedanke unseres Themas ist, in seiner höchsten und allgemeinsten Auffassung, kein anderer, als der Gedanke der - aus der Rechtsidee selbst hervorfließenden und ihr entsprechenden - Hiniiberführung eines alten Rechtszustandes in einen neuen« (Wk. IX, r r 3). So sehr also Lassalle an anderen Stellen den historischen Charakter des Naturrechts selbst betont 221

und hervorhebt, so verbleibt doch der Tatbestand, daß nicht, wie bei Marx (und freilich schwankend, bloß teilweise bei Hegel), das Recht selbst nur eine Etappe des geschichtlichen Prozesses darstellt, also in ihm entsteht und vergeht, sondern daß innerhalb der zeitlos-übergeschichtlichen allgemeinen Rechtsphilosophie eine Geschichte der einzelnen Rechtsformen sich abspielt. Lassalles Revolutionstheorie gipfelt also einerseits in einer naturrechtlichen Begründung des »Rechtes auf Revolution«, andererseits in der theoretischen Grundlegung des »Rechtssystems der Revolution«. Und indem auf diese Weise das Verwurzeltsein des Rechts überhaupt in der Klassengesellschaft und unseres Rechtes im Kapitalismus nicht bis ans Ende durchschaut wird, verbleibt die ganze Konzeption der Revolution - bei allen proletarischen Einzelinhalten - innerhalb der ideologischen Schranken der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist die Konzeption einer bürgerlichen Revolution. Freilich einer derart umfassenden, gründlichen und tiefen, daß die bürgerliche Gesellschaft zu ihrem Vollziehen bereits prinzipiell unfähig sein muß, daß sie sie als Erbschaft der proletarischen Revolution überlassen muß. Lassalle, der hier ahnend am Tore eines Zusammenhanges stand, der uns erst heute - in erster Reihe durch Lenin - klargeworden ist, konnte den richtigen Zusammenhang nicht erkennen, daß diese Revolution nur das Proletariat vollführen kann. Wohl knüpft die proletarische Revolution in ihrem Ausgangspunkte an diese Probleme an, wohl erfüllt sie sie in ihrem radikalen Fortschreiten, sie ist aber hierzu nur dadurch imstande, daß in ihr die spezifische Art der proletarischen Revolution ganz klar zum Bewußtsein gekommen ist. Hierzu gehört aber vor allem das vollkommene Durchschauen des klassenmäßig-ökonomisch bedingten Charakters von jedem Recht (das eigene Recht der proletarischen Diktatur selbstredend mitinbegriffen). Woraus notwendig folgt, daß selbst bei Fragen, die formell angesehen als Rechtsfragen erscheinen müssen, ihr Rechtscharakter einen bloß technisch-formellen Gesichtspunkt abgibt und mit dem Wesen der Sache sehr wenig zu tun hat, während es zum Wesen der bürgerlichen Revolution gehört, in und trotz der Revolution die Rechtskontinuität aufrechtzuerhalten, d. h. die revolutionären Umwandlungen rechtlich zu begründen. Ein Natur222

recht (de lege ferenda) ist also unerläßlich, um eine Rechtskontinuität (de lege lata) hervorzubringen. Das revolution:irc Naturrecht wälzt also das bestehende positive Recht um, ohne aber an dem Grundcharakter der Gesellschaft Entscheidendes zu ändern, so daß das dadurch entstehende neue Recht, das »positiv« gewordene Naturrecht, sich in Kontinuität an das alte Recht heranfügt. Für die bürgerliche Klasse, selbst in ihrer revolutionären Periode, ist dieser Strukturzusammenhang eine Lebensnotwendigkeit. Denn es kommt ihr darauf an, ihre ökonomisch bereits vorhandene und teilweise sogar rechtlich (in Form von »Privilegien« etc.) zugebilligte Existenzform der ganzen Gesellschaft aufzuzwingen: die Rechtsform der Umwälzung, sowohl die naturrechtliche des Kampfes wie die positivrechtliche des Sieges, hängt wesenhaft mit ihren ökonomischen Lebensinteressen zusammen. Ganz anders für das Proletariat, das eine radikal neue Gesellschaftsordnung erstrebt, das zwar als Übergangsformen, aus technischen etc. Gründen Rechtsformen schafft, ja zuweilen sogar für die Kontinuität mit dem alten Rechte sorgt, in alledem aber stets nur eine untergeordnete Seite der Revolution erblicken muß. Lassalle mag also sehr enttäuscht gewesen sein, als Marx für seine rechtsphilosophischen Deduktionen über Expropriation so wenig Interesse gezeigt hat. Er zeigt aber schon in der Erwartung, daß er weder auf die theoretische noch auf die praktisch zentrale Fragestellung der proletarischen Revolution je wirklich einging: auf die Frage, welche ökonomischen Kräfte zu der Notwendigkeit und Möglichkeit der Expropriation führen, und welche realen Machtmittel diese Notwendigkeit zu verwirklichen imstande sind; die Fragen, die für Marx hierbei die einzig wesentlichen waren. Steht aber selbst die siegreiche Revolution im Verh:iltnis der Rechtskontinuität zur vorangehenden Entwicklung, so ist es klar, daß der Sieg des »Prinzips« nur der Sieg des »Rechtes«, der Sieg im Rechtskampfe sein kann. Wie das Recht formell die Vermittlungsform gewesen ist, die den bloß individuellen Fall Hatzfeldt mit dem Schicksal der Revolution verknüpft hat, so erscheint jetzt der Sieg im Rechtskampfe als die inhaltlich einzig mögiiche Art und Weise, das im Individuum verkörperte 223

»Prinzip« zur geschichtlichen Gestalt zu machen, zu emer geschichtlichen Potenz zu erhöhen. Freilich ragt diese Lassallesche Konzeption der bürgerlichen Revolution weit über alle - realen, wie gedanklichen - Möglichkeiten hinaus, die dem Bürgertum von damals gegeben waren. Eine Stütze konnte Lassalle nur in der Arbeiterklasse finden, so wie die deutsche Arbeiterklasse, die damals ihre ersten tastenden klassenmäßig selbständigen Schritte tat, nur konsequent handelte, als sie ihn zum ersten Führer erwählte. In diesem Zusammenhang jedoch interessiert uns mehr, was die Beziehung für Lassalle, als was sie für das Proletariat bedeutet hat. Und hier können wir durch diesen, eine größere Konkretheit schaffenden Umweg, zu dem Problem der Lassalleschen »Realpolitik« zurückkehren und unsere dort ausgesprochene Behauptung, daß Lassalles Geschichtsphilosophie ihm - prinzipiell - unmöglich eine praktische Richtschnur zum Handeln geben konnte, bestätigt finden. Es liegt nicht an der persönlichen »Einsamkeit«, an dem Mangel an »ebenbürtigen« Gefährten etc. Auch Marx und Engels lebten in einer tiefen Isolierung, und es umgab sie keineswegs eine verstehende Atmosphäre. Was immer sie aber politisch gedacht haben, sie hatten stets ihren Maßstab: die Klassenlage des Proletariats und sein daraus entspringendes Klassenbewußtsein; wenn sich auch im Einzelfalle eventuell kein einziger Proletarier zu der Höhe des Klassenbewußtseins erhob20. Sie konnten sich im Einzelfall irren, nicht aber von ihrem Weg abirren. Lassalle aber konnte nur in sich selbst den Maßstab für seine Handlungen finden. Denn für diese war das Proletariat - im günstigsten Fall - ein treuer Verbündeter, und eine bürgerliche Klasse, deren großer revolutionärer Theoretiker er gewesen ist, gab es - nur in seinem Denken. Indem er - auch darin ein würdiger Vollender, aber kein Überwinder der klassischen deutschen Philosophie - die Probleme der großen Französischen Revolution auf ihren wirklichen Begriff gebracht und zu Ende gedacht hatte, befand er sich welt20 Ober den marxistischen Begriff des Klassenbewußtseins vgl. mein Buch •Geschichte und Klassenbewußtsein•, Berlin, Malik-Verlag, 1923. (G. L.) - Das Kapitel •Klassenbewußtsein« (S. 57 ff.) ist in der vorliegenden Ausgabe nicht enthalten, siehe aber Text 2, S. 41 ff., sowie Text 4. S. 82 ff. (Hrsg.) 224

geschichtlich im luftleeren Raum. Die Beziehungen seiner Ideen zur Wirklichkeit waren wirklich die zwischen »Idee« und »Wirklichkeit«. Erst diese Spannung macht seine persönliche »Realpolitik« und seine »Eitelkeit« etc. verständlich und die vielen Fälle, wo er aus seinem revolutionären Temperament heraus, infolge seines echten Bündnisses mit dem Proletariat dessen Klasseninteressen richtig vertreten hat, zeigen seine politische Genialität um so klarer, als das Wesentliche seiner Philosophie ihm dabei eher im Wege stand, als daß sie ihm einen Weg zu weisen vermochte. So wird es aber verständlich, daß er auf das gewagte Spiel mit Bismarck einging, daß es ihn - wie Marx sagt - immer wieder zum Koblenz der Revolution (zu Rüsrow, Herwegh etc.) hinzog2t. Die Sackgasse, in die ihn sein Weg geführt hat, mag er am Ende seines Lebens empfunden haben, sein Schicksal hat ihn, wenn auch durch einen grotesk-unwürdigen Tod, davor bewahrt, die Sackgasse wirklich als solche zu erkennen. Darum ist es verständlich, daß in seinem Bild für die Nachwelt das am meisten lebendig blieb, wo das ethische Pathos seines Fichteanismus an rechten Stellen zum Ausdruck gelangen konnte. Die Jugendbriefe Lassalles, speziell die bereits hervorgehobenen großen Briefabhandlungen sind nun deshalb so interessant, weil sie uns zeigen, wie früh Lassalle im Wesentlichen fertig war. Er hat später unendlich viel empirisches Material in seine Methode hineingearbeitet, seine Konzeption der Geschichte ist immer reicher und reifer geworden, aber alles Spätere ist doch nichts mehr als eine Entfaltung, eine Entwicklung (im buchstäblichen Sinn) dieser Jugendgedanken. Es wäre wirklich sehr interessant, genau zu wissen, wann und in welcher Weise er die Resultate des Marxschen Denkens in sich aufgenommen hat: wirklich beeinflußt haben sie ihn doch niemals. Es ist sehr cha-

21 Friedridt Wilhelm Rüstow (1821-1878}, Offizier und Militärsdtriftsteller, Demokrat, lebte als Emigrant in der Schweiz, war 1860 Generalstabschef Garibaldis unklassischen< Drama festhielten, nachdem Dacier und andere ihnen den Aristoteles richtig interpretiert hatten. Oder daß sämtliche moderne Konstitutionen großenteils auf der mißverstandenen englischen Konstitution beruhen, die gerade das, was als Verfall der englischen Konstitution erscheint - und jetzt noch formell nur per abusum in England existiert -, als wesentlich aufnehmen, z. B. ein sogenanntes verantwortliches Kabinett. Die mißverstandene Form ist gerade die allgemeine und auf einer gewissen Entwicklungsstufe der Gesellschaft zum allgemeinen use verwendbare (Brief vom 22. VII. 1861, Bf. m, 375).« Es ist aber sehr bezeichnend, daß er einerseits auf die Antwort Lassalles, der ihm besonders die rechtsphilosophischen Partien des Buches ans Herz legt (»liegen die §§ 7 und 10 keinem Menschen näher als Dir gerade«, 27.-28. VII. 1861, Bf. m, 381), überhaupt nicht reagiert. Andererseits wird in seiner Kritik all das vorsichtig verschwiegen, was als scharfe Ablehnung der Lassalleschen Dialektik im Briefe an Engels 24 ganz schroff zum Ausdruck kommt: »Der Ideologismus geht durch, und die dialektische Methode wird fals eh angewandt. Hegel hat nie die Subsumtion einer Masse von >Fällen< under a general principle Dialektik genannt.« (Am unverhülltesten zeigt sich Marxs Meinung über Lassalle in dem Brief an Kugelmann vom 23. 11. 186625, den Kautsky »im Kampf« [xv1/3] veröffentlicht hat.) Eine öffentliche Auseinandersetzung aber, die auf solchen Prinzipien aufgebaut wäre, ist nie erfolgt. Die Tendenzen Proudhon und Dühring haben Marx und Engels theoretisch erledigt26. Mit der 24 9. XII. 1861. Bw. III, S. 44. (G. L.) - Marx-Engels-Briefwechsel, Bd. III, S. 60. (Hrsg.) 25 Der Brief an Kugelmann datiert vom 23. II. 1865. Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, S. 197 ff. 26 Vgl. etwa Marx, :..Das Elend der Philosophie«, in: Marx-Engels-Werke, Bd. IV, S. 63 ff.; En;:;els, »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring)«, in: Marx-Engels-Werke, Bd. XX, S. r ff. (Hrsg.)

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Tendenz Lassalles haben sie nie offen abgerechnet. (Nur Engels wußte, daß der Proudhon-Artikel im »Sozialdemokrat« von 186 5 gegen Lassalle gerichtet war, und die Kritik des Gothaer Programms ist auch erst sehr spät veröffentlicht worden 27.) Zum großen Schaden der theoretischen Klarheit der späteren Entwicklung. Die Gründe ihres Verhaltens Lassalle gegenüber haben Marx und Engels klar ausgesprochen. So schreibt Marx an Engels28: »Lassalle hat wirklich zu viel Interesse >an der SacheZU endende, Bocksprünge er immer machen ... mag.« Und wenn später diese Hoffnung auch immer mehr abnahm, so daß Engels sich nach dem Tode Lassalles an Marx so äußert 29: »Er war für uns gegenwärtig ein sehr unsicherer Freund, zukünftig ein ziemlich sicherer Feind«, so dauerte diese Diplomatie doch bis zum Tode Lassalles, ja spielt selbst - trotz des zeitweiligen offenen Bruches - auch in die Beziehung zu Schweitzer hinüber. Marx und Engels haben offenbar eine persönliche offene Auseinandersetzung mit Lassalle für ganz aussichtslos gehalten; Lassalle wirklich und gänzlich für ihren Standpunkt zu gewinnen, schien ihnen vollends unmöglich. Andererseits gestattete die Lage der Arbeiterbewegung und seine Stellung in ihr nicht, mit ihm wie mit Proudhon und Dühring abzurechnen, und dazu war er zu bedeutend und einflußreich, um wie Moses Hess einfach ignoriert zu werden. Sie gingen dabei offenbar von der Annahme aus, daß die deutsche Arbeiterbewegung auch die »Kinderkrankheit« des Lassalleanismus überwinden werde. Diese Hoffnung hat sich aber nur teilweise erfüllt. Vor allem hat es auch in ihrer 27 Marx, >Über P.-J. Proudhon. Brief an J. B. v. Schweitzer. (in: Der SocialDemokrat, Nr. 16, 17 und 18, vom 1., 3. und 5. Februar 1865), in: Marx-EngelsWerke, Bd. XVI, S. 25 ff.; vgl. Mar:< an Engels, 25. !. 1865, in: Marx-EngelsBriefwechsel, Bd. III, S. 259. - Die »Kritik des Gothaer Programms« wurde von Engels erstmals vcröffentlidlt im Jahre 1891; vgl. Marx-Engels-Werke, Bd. XIX, S. II ff., S. 549 {Anm. 12). {Hrsg.) 28 25. II. 1859. Bw. II, S. 308. (G. L.) - Marx-Engels-Briefwechsel, Bd. II, S. 454. (Hrsg.) 29 4. IX. 1864. Bw. III, S. 179. (G. L.) - Marx-Engels-Briefwechsel, Bd. III, S. 266. (Hrsg.)

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Zeit viel iänger gedauert, als sie es gehofft haben, bis diese Überwindung vollzogen ward. Es konnte nicht allzuviel nützen, noch so fein und scharf auf die irrigen Konsequenzen des Lassalleanismus hinzuweisen (Staatstheorie in der Kritik des Gothaer Programms), wenn selbst den intimsten Anhängern die prinzipiellen Differenzen in der theoretischen Grundlegung nicht klargeworden sind. Wohl hat die lebende Bewegung sehr vieles davon allmählich, ohne viel Theorie, erledigt und beseitigt. Aber gerade weil die Lassallesche Lehre allmählich aufgehört hat, eine bestimmte geistige Tendenz in der Partei zu sein, da sie aufhörte, ohne daß ihre letzten Differenzen zum Marxismus klargelegt und auf diese Weise überwunden worden wären, konnte sie unterirdisch, in den verschiedensten Formen weiterleben, um dann in modernisierter Form wieder aufzutauchen. Und je stärker in der deutschen Arbeiterbewegung die dialektische Tradition verblaßte, desto weniger war man in der Lage, sich mit der Tendenz Lassalles ernsthaft auseinanderzusetzen. Wenn der Beziehung zu Hegel bei Marx und Engels bestenfalls nur ein antiquarischliterargeschichtliches Interesse gewidmet wurde, so war es vollends unmöglich, Lassalle die richtige Stelle in der Entwicklungsgeschichte .der dialektischen Methode zuzuweisen. Und dies ist für eine solche Auseinandersetzung unumgänglich notwendig. Mehrings richtige Einstellung, daß Lassalle kein Schüler von Marx ist, muß dahin ergänzt werden, daß Lassalle dem Wesen seiner Methode nach ein vormarxistischer Denker ist; sein geistesgeschichtlicher Platz ist zwischen Hegel und Marx, wobei alle Probleme des vormarxistischen, stets (wenn auch noch so verschiedenartig) auf Fichte zurückgehenden Hegelianismus bei Cieszkowski, Bruno Bauer, Moses Hess etc. in ihren Beziehungen zu Lassalle, dem weitaus bedeutendsten Denker dieser Vorläufergruppe, eingehend untersucht werden müßten. Diese Fragen sind aber vorwiegend historische Fragen, da durch die Entstehung und Entwicklung der materialistischen Dialektik diese Tendenzen endgültig überholt worden sind. Erst wenn diese geschichtliche Seite der Frage erledigt ist - und die Möglichkeit ihrer Erledigung wird sehr erleichtert sein, wenn die ganze Ausgabe Gustav Mayers mit dem so wertvollen Material vollständig vorliegt -, wird die aktuell-praktische Seite des 234

Lassalle-Problems ganz klarwerden. Denn es scheint, als ob der Revisionismus, der ja stets der Entwicklung der bürgerlichen Wissenschaft nachgeht, den Tendenzen der deutschen Philosophie, sich von Kant in der Richtung auf Hegel zu bewegen, ebenfalls zu folgen gewillt wäre; als ob jetzt auf die »neukantische« Ara im Marxismus die »neuhegelsche« folgen würde. Eine solche Entwicklung muß aber zwangsläufig auf Lassalle stoßen, und die heute schon sichtlich zunehmende Beschäftigung mit Lassalle nährt sich bestimmt zum großen Teil aus dieser Quelle. Aber doch nur teilweise. Der wirkliche Grund einer wahrscheinlichen Lassalle-Renaissance liegt tiefer: in der politischen und sozialen Lage Deutschlands. Teils ist durch Krieg und Revolution das Problem des Staates wieder stark in den Vordergrund der Diskussion gestellt worden. Und es wurde immer klarer, daß sowohl von revisionistischer wie von progressivbürgerlicher Seite der Marxschen Staatstheorie, die ja, wie dies Lenins »Staat und Revolution« ganz klar zeigt, die Theorie der proletarischen Revolution ist, in wirksamer und innerlich einheitlicher Weise nur die Staatslehre Lassalles gegenübergestellt werden kann. Die Versuche, Marx entweder zum Pazifisten oder Staatsverehrer umzudeuten, oder ihn in der gewohnten Weise zu »widerlegen«, mußten scheitern. Lassalle ist die einzige geistige Potenz, von der vorausgesetzt werden kann, daß sie gegen Marx etwas ausrichtet. Und zwar nicht nur wegen seiner geistigen Potenz, sondern weil er - wie wir anzudeuten versucht haben - gerade in seinem fichteanisierten Hegelianismus der Theoretiker der bürgerlichen Revolution ist. Die Kontroverse Marx-Lassalle, die heute im Anzuge ist, ist letzten Endes der Streit, ob die gegenwärtige Periode die der bürgerlichen oder der proletarischen Revolution ist. Die Lassalle-Renaissance bedeutet dabei den theoretischen Versuch, die Entwicklung bei der bürgerlichen Revolution festzuhalten. Und diese Geschichtsperspektive scheint um so verführerischer, als ja die scheinbare Widerlegung der revolutionären Theorie von der Einheit Deutschlands, die Bismarcksche Reichsgründung, im Weltkrieg elend zusammengebrochen ist, und die Geschichte Deutschland offenbar noch einmal vor das alte Problem von 1812, 1848 usw., der revolutionären Erringung der Einheit, zu stellen beabsichtigt. 2 35

Gerade hier ist aber jede Strömung (diejenigen, die die Geschichte einfach rückgängig machen wollen, kommen hier nicht in Betracht), die nicht mit Marx und seinen orthodoxen Schülern, Luxemburg und Lenin, dies als Aufgabe der proletarischen Revolution betrachtet, d. h. nicht einsieht, daß eine bürgerliche Revolution, die heute sich vollenden will, in die proletarische Revolution übergehen muß, gedanklich gezwungen, auf Lassalle, auf das revolutionäre Naturrecht, auf Fichte und Hegel zurückzugreifen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Lassalle allmählich zum führenden Theoretiker des linken Revisionismus wird. Und eine Auseinandersetzung zwischen Marx und Lassalle - die, wie wir sehen, von großer aktueller Bedeutung ist - kann nur dann wirklich ergebnisvoll werden, wenn sie auf die letzten Differenzpunkte zurückgreift. Die hier gegebenen Bemerkungen erheben selbstredend keinen Augenblick den Anspruch, in dieser Frage die Lösung auch nur angedeutet zu haben. Sie beabsichtigen bloß an der Hand des so wertvollen neuen Materials, das die wissenschaftliche Behandlung dieses Problems erst wirklich möglich macht, einen Hinweis auf die wichtigsten Probleme zu geben.

13.

Moses Hess und die Probleme der idealistischen Dialektik':in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 12. Jg. (1926), S. 105-155.

Das harte und absprechende Urteil von Marx und Engels über Moses Hess im »Kommunistischen Manifest« hat man vielfach zu revidieren versucht. Ganz abgesehen von Versuchen wie die Koigens oder Harnmachers, Marx und Engels im Anfang ihrer Entwicklung ebenfalls zu »wahren Sozialisten« zu stempeln!, findet sogar Franz Mehring das Urteil des »Kommunisuischen Manifests« zu streng. Freilich nicht in theoretischem Sinn. Er meint nur, daß die »wahren Sozialisten«, vor allem Hess, nicht bloß im Lichte des »Kommunistischen Manifests« betrachtet werden sollten. »In analoger Weise kann man sagen, daß aus der Kritik des Kommunistischen Manifests am deutschen Sozialismus der damaligen Zeit das Wesen dieses Sozialismus bestimmt worden ist, statt daß umgekehrt aus den wirklichen Lebensverhältnissen, worin die Verfasser des Manifests mit dem deutschen Sozialismus ihrer Zeit standen, die Elemente ihrer Kritik entwickelt wurden 2 .« Andererseits weist Mehring auf die ehrliche revolu* Theodor Zlocisti, Moses Hess. Der Vorkämpfer des Sozialismus und Zionismus 1812-1875. Eine Biographie, 2., vollk. neu bearb. Aufl., Berlin, Welt-Verlag, 1921, 4+1 S.; Moses Hess, So1,ialistische Aufsätze, 18.41-1847, hrsg. von Th. Zlocisti,

Berlin, Welt-Verlag, 1921, 233 S. (G. L.) - Eine umfassendere Auswohl von Texten aus der Feder Moses Hcss' haben Auguste Cornu und Wolfgang Mönkc neuerdings herausgegeben: Moses I-Iess, Philosophie und sozialistische Schriften, 1837-1850. Eine Auswahl, hrsg. und eingel. von A. Cornu und W. Mönke, Berlin, AkademieVerlag, 1961, LXVIII und 516 S. Da die zuletzt genannte Ausgabe dem Leser leichter zugänglich sein dürfte als die Zlocistis von 1921, v;rerden die Zitatvcrwcise auch für diese Ausgabe gegeben. Sie wird im folgenden als •Ausgabe Cornu/Mönke« bezeid1net. (Hrsg.) 1 Vgl. David Koigen, Zur Vorgeschichte des modernen philosophischen Sozialismus in Deutschland. Zur Geschichte der Philosophie und Sozialphilosophie des Junghegelianismus (Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte, 26), Bern 1901, S. 256 ff.; und Emil Harnmacher, Das philosophisch-ökonomische System des Marxismus. Unter BerüdGrundsätzen der Philosophie der Zukunft< philosophisch, theoretisch ausgesprochen.« Hess sieht zugleich ein, daß die Schranke in Feuerbachs Denken das überspringen des gesellschaftlichen Wesens des Menschen ist, daß deshalb »der Mensch« der Feuerbachsehen Anthropologie nicht der wirkliche und konkrete Mensch sein kann. So führt er in seinem Aufsatz »Über die sozialistische Bewegung in Deutschland« aus 40 : »Warum ist Feuerbach zu diesen wichtigen praktischen Konsequenzen seines Prinzips nicht gelangt? - Das Wesen Gottes, sagt Feuerbach, ist das transzendente Wesen des Menschen, und die wahre Lehre vom göttlichen Wesen ist die Lehre vom menschlichen Wesen: Theologie ist Anthropologie - das ist wahr - aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Das Wesen des Menschen, muß hinzugefügt werden, ist das Marx-Engels-Briefwechsel, Bd. I, S. 9. Dort ist der Brief von En;;cls auf den 19. November 1844 datiert. {Hrsg.) 39 •Die krztca Philosophen« (1845), Zlocistis Ausgabe, S. 192. (G. L.) - Ausgabe Cornu/Mönke, S. 384. (Hrsg.) 40 In: Griins Neuen Anekdoten (1845), Zlocistis Ausgabe, S. I1 5--II6. (G. L.) -Ausgabe Cornu/Mönke, S. 293. (Hrsg.)

gesellschaftliche Wesen, das Zusammenwirken der verschiedenen Individuen für den einen und denselben Zweck, für ganz identische Interessen, und die wahre Lehre vom Menschen, der wahre Humanismus ist die Lehre von der menschlichen Gesellschaftung, d. h. Anthropologie ist Sozialismus.« Und Hess wirft unmittelbar darauf Feuerbach vor: dieser gehe zwar über den individuellen Menschen hinaus, finde aber »den menschlichen Gattungsakt«, wenn nicht ausschließlich, doch wesentlich im »Denken«. Die Versuche Feuerbachs, über diesen bloß anschauenden Charakter seiner Philosophie hinauszukommen, die Anerkennung anderer Gebiete, wo der »Gattungsakt« sich äußert, beurteilt Hess mit Recht als Inkonsequenzen. Denn »man sieht nicht ein, weshalb Feuerbach das zugibt, da er nirgends zu anderen philosophischen Konsequenzen als zu jenen gelangt, die aus der richtigen Fassung des Denkakts folgen«. Trotz dieser richtigen Kritik - die stellenweise der von Marx und Engels ziemlich nahekommt, in welche eine ebenso zutreffende Kritik des Junghegelianismus eingeflochten ist - verfällt Hess dennoch gerade der schwächsten, idealistischsten Seite Feuerbachs: seiner Ethik der Liebe. Oben wurden die sozialen Gründe angedeutet, die in dieser Hinsicht Hess als Intellektuellen, der mit dem revolutionären Proletariat nur eine »Alliance« schließt, aber niemals aus der Klassenlage des Proletariats heraus zu denken vermag, bestimmt haben. Philosophisch drückt sich dies darin aus, daß Hess die im Grunde falsche Stellung Feuerbachs zur Hegelschen Dialektik, insbesondere seine Lehre vom Verhältnis zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung, sich kritiklos zu eigen macht. »Feuerbach geht« - sagt er 41 - »Von dem richtigen Grundsatz aus, daß der sein Wesen entäußernde oder sich entwickelnde Mensch der Erzeuger aller Kollisionen, Widersprüche und Gegensätze sei, daß mithin von einer spekulativen Vermittlung gar keine Rede sein könne, da in Wahrheit nichts zu vermitteln, keine Identität von Gegensätzen, sondern überall nur die Identität des Menschen mit sich selber herzustellen sei. Gegensätze, Widersprüche existieren nur in der Einbildung der spekulativen Mystiker.« Indem Feuerbach als Wesen 41 A. a. 0., S. 114. (G. L.) - Ausgabe Cornu/Mönke, S. 292-293. (Hrsg.)

des Christentums den entäußerten Menschen nachwies, hat er »die Grundlage aller theoretischen Irrtümer und Widersprüche nachgewiesen - obgleich er es nicht systematisch durchführt, wie alle Gegensätze und Widersprüche aus dem sein Wesen entäußernden Menschen entstehen«. Hier ist es klar ersichtlich, wie wenig Hess, obwohl er das Fehlen des gesellschaftlichen Elements bemängelt, den grundlegenden Irrtum in der ganzen Fragestellung Feuerbachs zu durchschauen vermag. Wir meinen hier selbstverständlich sein Abstrahieren vom geschichtlichen Verlauf und demzufolge sein unkritisches Verhalten zum gesellschaftlich-geschichtlichen Charakter der religiösen Gebilde, die er zu kritisieren, anthropologisch aufzulösen unternimmt. Marx42 formuliert (im 7. Aphorismus über Feuerbach) diesen Einwand mit der höchsten Präzision: »Feuerbach sieht daher nicht, daß das >religiöse Gemüt< selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, einer bestimmten Gesellschaftsform angehört«. Darum kann, nach Marx, der Standpunkt des alten Materialismus - zu dem auf diese Weise auch Feuerbach zu zählen ist - bloß die bürgerliche Gesellschaft sein (9.-10. Aphor.) - eine Kritik, der Hessin seiner Identifizierung der Feuerbachsehen »Philosophie der Zukunft« mit der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft in England etc. zustrebt, von der er aber in allen entscheidenden Momenten, wo seine Kritik Feuerbachs konkret werden müßte, abbiegt, um die schwächsten Seiten Feuerbachs in seine eigene Philosophie einzuarbeiten. Der falsche methodologische Boden, auf den Hess sich von Feuerbach locken ließ, ist dessen Ablehnung des Hegelschen Begriffs der Vermittlung, der Versuch, das unmittelbare Wissen wieder in seine Rechte einzusetzen. Zwar verwahrt sich Feuerbach dagegen, daß sein unmittelbares Wissen mit früheren Fassungen desselben, z. B. mit der Jacobis, verwechselt werde 43 . Wenn man ihm aber hierin auch völlig recht geben könnte, so wäre damit doch, wie wir sehen werden, eine der wichtigsten Errungenschaften der Hegelschen Philosophie, einer der Punkte, 42 43

In: Marx-Engels-Werke, Bd. III, S. 535. (Hrsg.)

>Zur Kritik der Hegelschen Philosophie., a. a. 0., S. 168. (G. L.)

in denen sie die Möglichkeit enthielt, zur materialistischen Dialektik weiterentwickelt zu werden: die methodologische Möglichkeit, die gesellschaftliche Wirklichkeit der Gegenwart in ihrer Wirklichkeit anzuerkennen und zu erkennen und sich zu ihr trotzdem kritisch (aber nicht moralistisch-kritisch), sondern im Sinne einer praktisch-kritischen Tätigkeit zu verhalten, verlorengegangen. Freilich war bei Hegel nur die Möglichkeit hierzu vorhanden. Es ist aber für die Entwicklung der sozialistischen Theorie entscheidend geworden, daß Marx an diesem Punkte methodologisch direkt an Hegel anknüpft, dessen Methode von ihren idealistischen Inkonsequenzen und Schiefheiten reinigt, »auf die Füße stellt« und, soviel er dem Anstoß durch Feuerbach auch verdanken mag, diese Feuerbachsche »Verbesserung« Hegels ablehnt. Der »wahre Sozialismus« dagegen (auch Hess) folgt hier kritiklos Feuerbach. Gerade weil die »wahren Sozialisten« bereits in ihrem Ausgangspunkt Hegel idealistisch verwässert, seine objektive Dialektik des Geschichtsprozesses selbst in eine bloße Gedankendialektik verwandelt haben, mußte bei ihnen die Feuerbachsche Opposition Hegel gegenüber wie ein endlich gefundener Weg aus der Sackgasse, in die sie sich verrannt hatten, wirken. (Wenn Lassalle trotz seiner idealistischen Dialektik in vielen Punkten ihnen überlegen blieb, so beruht dies vielfach auf seinem orthodoxeren Hegelianismus.) Die große Wirkung Feuerbachs auf die radikalen Junghegelianer beruht also darauf, daß er in dieser Frage - nur oft mit verkehrten Vorzeichen der Bewertung der Aufbauelemente der Methode - methodologisch auf dem gleichen Boden wie sie gestanden ist. Für unser jetzt zu behandelndes Problem ist dies so zu formulieren: Beide haben die Vermittlung als etwas rein Gedankliches behandelt; die Brüder Bauer, um in ihrer Philosophie des Selbstbewußtseins einen Gedankenfetisch, den wahren Beweger der Weltgeschichte, aus ihr zu machen 44 ; Feuerbach, um 44 Hcss lehne die Philosophie des Selbstbewußtseins stets ab, kommt ihr aber oft viel näher, als er es selbst weiß. So z. D. in der rncchodologischcn Grundlegung der »Philosophie der Tat«: »Der Wechsel, die Verschiedenheit des Lebens kann nicht als ein Wechsel des Gesetzes der T:icigkcir, als objektiv verschiedenes Leben, sondern nur ::ds eine Verschiedenheit des Selbstbewußtseins begriffen werden. Die Reflexion, die alles auf den Kopf stellt, sage umgekchrc: >Das objektive Leben ist

ihr jede reale Objektivität abzusprechen. So führt Feuerbach in den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« aus 45 : »Wahr und göttlich ist nur, was keines Beweises bedarf, was unmittelbar für sich spricht und einnimmt, unmittelbar die Affirmation, daß es ist, nach sich zieht - das schlechthin Entschiedene, schlechthin Unzweifelhafte, das Sonnenklare ... Alles ist vermittelt, sagt die Hegelsche Philosophie. Aber wahr ist etwas nur, wenn es nicht mehr ein Vermitteltes, sondern Unmittelbares ist . . . . Die sich vermittelnde Wahrheit ist die noch mit ihrem Gegensatz behaftete Wahrheit. Mit dem Gegensatz wird begonnen; er verschieden, das Ich stets dasselbe< (a. a. 0„ S. 39).• Daß Hess hier ein Dilemma sieht und es nicht einmal als methodologische Möglichkeit in Betracht zieht, daß diese beiden Faktoren in dialektischer Wechselwirkung, sich gegenseitig verändernd, wirksam sein können, kennzeichnet seinen Kant-Fichteschen Idealismus. (G. L.) -

Ausgabe Cornu/Mönke, S. 211. (Hrsg.) 45 Feuerbach, >Grundsätze der Philosophie der Zukunft•, Werke, Ausg. Jodl, Bd. II, S. 301. Ich zitiere hier nur das, was sich auf das Problem: Unmittelbarkeit-Vermittlung bezieht. Die Feuerbachsche Identifikation von Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit erklärt seine große Wirkung auf Hess, ist aber hier, wo die Scheidung zwischen dialektischem und undialektischem Denken, nicht aber die zwischen Idealismus und Materialismus behandelt wird, unwesentlich. Entscheidend wird die frage erst bei Marx selbst, wo das Problem des Materialismus ebenso die Grenzlinie zwischen ihm und l-legel bildet wie hier das Problem der Dialektik zwischen ihm und Peuerbach. Die Beziehung zwischen diesem und Marx ist (wie übrigens auch

die von Hegel und Marx) weder theoretisch noch historisch geklärt. Mehring überschätzt meines Eradttcns den Einfluß Feuerbachs. Er kann sich dabei auf einzelne .i\ußerungen Marx' berufen, die aber noch lange nicht beweisen, daß der sachliche Einfluß tatsächlich so groß war wie der Eindruck, den Marx erhalten zu haben vermeinte. Denn die Stellen aus der »Heiligen Familie«, auf die sidt z. B. Harnmacher beruft, für die Annahme: Marx habe wenigstens zeitweilig so wie die •wahren Sozialisten« die Liebesethik Feuerbachs akzeptiert, zeigen bei genauer Analyse gerade das Gegenteil. Mir scheint, daß zur Zeit, als der junge Marx versuchte, aus dem Begriffsgestrüpp des Junghegelianismus den Weg zur Realität zu finden, ihm der Materialismus Feuerbachs - trotz tiefgehender Differenzen aus ähnlidien Gründen sympathisch sein mußte wie z. B. dem jungen Hegel zur Zeit seiner großen Auseinandersetzung mit Kant und Pichte die naturalistischen

Rechtsphilosophen (vor allem Hobbes), die er damals mit größerer Sympathie als sonst je und viel milder polemisch als Kant und Fichte behandelt. Bei Marx ist Feuerbach gegenüber schon sehr früh ein klares Durchschauen vorhanden. Und später haben gerade die Peuerbach preisenden Teile der »Heiligen Familie« »Sehr humoristisch« auf ihn gewirkt, obwohl er sich zum Ganzen nicht ablehnend verhielt (Brief an Engels vom 24. IV. 1867, Briefwechsel III, S. 370). (G. L.) - Zu Mehring über

Feuerbachs Einfluß auf Marx vgl. Franz Mehring, Karl Marx. Geschichte seines Lebens, 5. Aufl„ Leipzig 1933, S. 76 ff. Zu Harnmacher: Emil Harnmacher, Das philosophisch-ökonomisdte System des Marxismus, a. a. 0„ besonders S. 78. Marx an Engels, 24. IV. 1867, in: Marx-Engels-Briefwechsel, Bd. III, S. 458. (Hrsg.)

wird aber hernach aufgehoben. Wenn er aber ein Aufzuhebendes, ein zu Negierendes ist, warum soll ich mit ihm, warum nicht gleich mit seiner Negation beginnen? ... Warum soll denn das durch sich selbst Gewisse und Bewährte nicht höher sein als das durch die Nichtigkeit seines Gegenteils Gewisse? Wer kann also die Vermittlung zur Notwendigkeit, zum Gesetz der Wahrheit erheben? Nur der, welcher selbst noch befangen ist in dem zu Negierenden, welcher noch mit sich kämpft und streitet, noch nicht vollkommen mit sich im Reinen ist .. .« Daraus folgt, gewissermaßen als erkenntnis-theoretische Grundlegung des allein wahren unmittelbaren Wissens, die Einheit von Sein und Wesen, wobei freilich Feuerbach, als ehrlicher Denker, sich gezwungen sieht, zuzugeben, daß »im menschlichen Leben«, »aber auch nur in abnormen unglücklichen Fällen« das Sein vom Wesen abgesondert ist; da »ereignet es sich, daß man nicht da, wo man sein Sein, auch sein Wesen hat, aber eben wegen dieser Scheidung auch nicht wahrhaft, nicht mit der Seele da ist, wo man wirklich mit dem Leibe ist. Nur wo Dein Herz, da bist Du. Aber alle Wesen sind - naturwidrige Fälle ausgenommen - gern da, wo, und gern das, was sie sind, d. h. ihr Wesen ist nicht von ihrem Sein, ihr Sein nicht von ihrem Wesen abgetrennt 46.« Die Vermittlung ist dann nicht mehr der gedankliche Ausdruck der dialektischen Struktur des Seins selbst, das aus sich auflösenden und 46 »Grundsätze der Philosophie der Zukunft,Feuerbach•, S. 30-31. (G. L.) - Engels, »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« in: Marx-Engels-Werke, Bd. XXI, S. 286 bis 287. (Hrsg.)

Engels in der Kritik der Feuerbachsehen Ethik auf Hegel zurückweisen. Denn sowohl Feuerbach wie Proudhon und Hess fallen hier tief hinter Hegel zurück. Sie stehen zu dem Grundphänomen der bürgerlichen Gesellschaft viel unkritischer, viel unmittelbarer als Hegel selbst. Allerdings behandelt auch dieser die »Entäußerung« als allgemein philosophisches Problem. In der bedeutendsten Darstellung seiner Bewußtseinslehre jedoch, in der »Phänomenologie des Geistes«, stellt er sich dieses Problem als Problem der Struktur der Gesellschaft, als Problem des aus dieser Struktur entsteigenden Bewußtseins des Menschen über sich selbst als Gesellschaftswesen. Es ist hier nicht der Ort, auch nur andeutend die Stellungnahme Hegels zu diesen Problemen zu schildern. Es muß bloß - um die methodologische Lage in der Entstehungszeit der kommunistischen Theorie in Deutschland zu verstehen - ganz kurz darauf verwiesen werden, daß das ganze Problem der »Entäußerung«, der »Entfremdung« des Menschen von sich selbst als historisch wie philosophisch notwendige Stufe zu seinem endgültigen Zu-sich-Selbstkommen die entscheidenden Kapitel der »Phänomenologie des Geistes« erfüllt. Daß die »Entäußerung« ein Hegelscher Terminus ist, ist allgemein bekannt. Die Feuerbachsche Polemik gegen Hegel hat aber diese Frage teils als Problem der idealistischen Logik überhaupt erscheinen lassen, teils sie wesentlich auf das Problem der Hegelschen Naturphilosophie, auf das Problem der Natur als das »Anderssein«, das Sich-»Ji.ußerlich«-Sein der Idee verschoben56. Indem Hess und Genossen - obwohl einige von ihnen gründliche Hegelkenner gewesen sind - wegen ihrer gemeinsamen Grundeinstellung hier Feuerbach gefolgt sind und seine 56 Enzyklopädie, § 147. Diese Frage steht hier nicht zur Diskussion. Erwähnt sei nur, daß speziell Engels die Hegclsche Naturphilosophie nie ganz preisgab. In einem Brief vom 29. III. 1865 an F. A. Lange (Neue Zeit XXVIII/I, S. 186) sowie in einem anderen vom 21. IX. 1874 an Marx (Briefwed1sel IV, S. 368) bezeichnet er den zweiten Teil der Logik, die Lehre vom Wesen, als ihren eigentlichen Kern. In der Lehre vom Wesen steckt allerdings meines Erachtens tatsädtlid1 der entwicklungsfähige Kern der Hcgelsd1en Dialektik, und er hat nicht nur auf die Naturauffassung von Engels, sondern auch auf die Geschichtsdialektik von Marx und

Engels, auf die Erfassung der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft entscheidend eingewirkt. (G. L.) - Engels an F. A. Lange, 29. III. 1865, in: Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, S.

205;

Engels an Marx,

wechsel, Bd. IV, S. 509. (Hrsg.)

21.

IX. 1874, in: Marx-Engels-Brief-

Theorie der »Entäußerung« wieder auf die Gesellschaft angewendet haben, übersahen sie den gesellschaftlich-geschichtlichen Grundcharakter dieser ganzen Problemstellung bei Hegel. Denn das merkwürdige, faszinierende und zugleich verwirrende W esen der »Phänomenologie des Geistes« liegt darin, daß in ihr erstmals in der Geschichte der Philosophie die sogenannten letzten Probleme der Philosophie, die Fragen von Subjekt und Objekt, von Ich und Welt, von Bewußtsein und Sein als geschichtliche Probleme behandelt werden; und zwar nicht in dem Sinne, daß etwa eine apriorische (also zeitlos gedachte) Fragestellung, Typologie usw. auf die Geschichte als empirisches Material »angewendet« wäre (wie bei Kant oder Fichte), sondern so, daß diese Probleme, als philosophische Probleme, in ihrer »Apriorität«, in ihrer rein philosophischen Wesensart zugleich als Gestalten der geschichtlichen Entwicklung des menschlichen Bewußtseins behandelt werden. Freilich ist hier Hegel keineswegs konsequent geblieben. Das Verwirrende der »Phänomenologie des Geistes« pflegt man ja gerade darin zu erblicken, daß geschichtliche und übergeschichtliche Begriffsbildung durcheinanderlaufen, sich kreuzen und aufheben. Wie bei anderen Problemen zeigt sich auch hier gleichzeitig die Stärke und die Schranke Hegels. Wenn er die »Phänomenologie« als Vorstufe zur eigentlichen Philosophie behandelt, wenn die in ihr auftauchenden Bewußtseinsstufen als apriorische Stufen gedacht sind, die der »Geist« zu durchlaufen hat, um sich von der Stufe des gewöhnlichen Bewußtseins zu der des identischen Subjekt-Objekts, zur Stufe des philosophischen Bewußtseins zu erheben, so wird damit einerseits diese ganze Entwicklung zu einer bloß subjektiven (wenn auch nicht im Sinne der empirischen Psychologie), andererseits das geschichtliche Material zu bloßem Illustrationsmaterial herabgedrückt. Dieses idealistische Programm wird aber von Hegel nicht eingehalten. Die Zuordnung von Bewußtseinsstufen zu historischen Epochen - wie wir gleich an einem einleuchtenden Beispiel sehen werden - ist eine unvergleichlich innigere: die apriorische Behandlung erscheint, trotz der rein gedanklichen Terminologie, als bloße Spiegelung, als bloß gedanklicher Ausdruck der ihr zugrunde liegenden historischen Materie, der Geschichtsepoche, die für diese apriorische Stufe als Illustration die-

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nen sollte. Aber nicht nur in Einzelheiten wächst die »Phänomenologie« über die ihr von Hegel selbst im System zugewiesene Stellung hinaus. Auch als Ganzes vermag er ihr keine seinem Programm entsprechende Stelle im System zuzuweisen: die Phänomenologie, die Hegel in seiner »Enzyklopädie« zwischen Anthropologie und Psychologie als zweite Stufe des subjektiven Geistes behandelt, hat gerade in den entscheidenden Problemen sehr wenig mit der »Phänomenologie des Geistes« zu tun. Diese enthält vielmehr die ganze Philosophie Hegels. Sie ist einer seiner Versuche, sein Weltbild einheitlich zusammenzufassen. Und in dieser Perspektive zeigt die »Subjektivität« der »Phänomenologie« (ebenso wie früher die »Versöhnung«) eine doppelte Physiognomie. Einerseits wird der Wirklichkeitscharakter der die »Phänomenologie« erfüllenden »Gestalten des Bewußtseins« von vornherein abgeschwächt, andererseits zeigt sich aber eben in dieser Abschwächung eine großartige, wenn auch unbewußt gebliebene - geschichtlich-gesellschaftliche - Selbstkritik. Die Phänomene, die Hegel hier behandelt, die Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft mit ihrem politischen Gipfel der »Schreckenszeit« der Französischen Revolution waren für das damalige Deutschland doch eben bloß - Gestalten des Bewußtseins und nicht konkret-reale geschichtliche Wirklichkeit. Man konnte entweder ihren gedanklichen Gehalt als naturrcchtlichcthische Forderung der deutschen Wirklichkeit gegenüberstellen (wie dies der junge Fichte tat), wodurch aber gerade das philosophische Grundproblem der Zeit, die Auffassung der Wirklichkeit als von »uns«, vom Menschen »erzeugte« ungelöst blieb, oder es mußte die Lösung in der Hegelschen Richtung gesucht werden. Der springende Punkt in Hegels Behandlung dieser Frage ist die Herstellung der Diesseitigkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das Kapitel über die »Wahrheit der Aufklärung«, die Überleitung zur Behandlung der Französischen Revolution schließt mit den Worten 57 : »Beide Welten sind miteinander ver57 Werke 11, 5. 4!,0. (G. L.) - G. W. I'. Hegel, Phänornendogic Jes Geistes, nach dem Texte der Originalfassung hrsg. von J. Hoffmeisrer, 6. /u::1. (Philosophische Bibliothek, 1 q). H::imburg 1952. S ..11 ;.. (l Irsg.)

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söhnt, und der Himmel auf die Erde herunter verpflanzt.« Und diese Tendenz liegt für Hegel keineswegs allein auf ideologischem Gebiet. Die entscheidende Kategorie, die diese Diesseitigkeit herbeiführt, ist vielmehr ökonomisch (wenn auch in mythologisierter Fassung): das Nützliche. Und dieses Nützliche trägt schon sehr stark den dialektischen Doppelcharakter der Ware, die Einheit von Gebrauchswert und Tauschwert, den Schein der Dinghaftigkeit bei innerem Beziehungscharakter an sich. »Es ist« - sagt Hegel5 8 - »ein Ansichbestehendes oder Ding, dies Ansichsein ist zugleich nur reines Moment; es ist somit absolut für ein Anderes, aber es ist ebenso nur für ein Anderes als es an sich ist; diese entgegengesetzten Momente sind in die unzertrennliche Einheit des Fürsichseins zurückgekehrt.« Durch dieses Nützliche erringt diese Stufe des Bewußtseins das, was den früheren Stufen gefehlt hat: die Wirklichkeit. »Dies Fehlende ist in der Nützlichkeit insofern erreicht, als die reine Einsicht daran die positive Gegenständlichkeit erlangte; sie ist dadurch wirkliches in sich befriedigtes Bewußtsein. Diese Gegenständlichkeit macht nun ihre Welt aus; sie ist die Wahrheit der vorhergehenden ganzen, der ideellen wie der reellen Welt geworden 59 .« Diese Welt, die Welt der bürgerlichen Gesellschaft, in Gedanken gefaßt, ist die Hegelsche Welt der »Entäußerung«, der »Entfremdung«. Dem Bewußtsein steht eine objektive, gesetzmäßige Welt gegenüber, die trotz ihrer Fremdheit und Eigengesetzlichkeit, oder gerade in diesen und durch sie, ihr eigenes Produkt ist. »Aber derjenige Geist« - sagt Hegel in den einleitenden Bemerkungen dieses Abschnitts60 - »dessen Selbst das AbsolutDiskrete ist, hat seinen Inhalt sich als eine ebenso harte Wirklichkeit gegenüber, und die Welt hat hier die Bestimmung, ein Äußerliches, das Negative des Selbstbewußtseins zu sein. Aber diese Welt ist geistiges Wesen, sie ist an sich die Durchdringung des Seins und der Individualität; dies ihr Dasein ist das Werk 58 Ebenda, s. 438. (G. L.) - Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. 0., S. 411-412. (Hrsg.) 59 Ebenda, s. 440. (G. L.) - Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. 0., S. 413. (Hrsg.) 60 Ebenda, s. 365. (G. L.) - Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. 0., S. 347. (Hrsg.)

des Selbstbewußtseins; aber ebenso eine unmittelbar vorhandene ihm fremde Wirklichkeit, welche eigentümliches Sein hat, und worin es sich nicht erkennt ... Sie erhält ihr Dasein durch die eigene Entäußerung und Entwesung des Selbstbewußtseins ... « Die terminologische Verwandtschaft dieser Ausführungen mit dem radikalen Junghegelianismus ist zu augenfällig, als daß es nötig wäre, sie ausführlich zu analysieren. Und aus dem bisher Gesagten ergibt es sich ebenfalls, daß es sich hier nicht um eine bloß terminologische Verwandtschaft handelt, sondern daß die radikalen Junghegelianer hier angeknüpft haben - allerdings an den subjektiven, idealistischen Seiten solcher Ausführungen Hegels an den Schranken seines Denkens. Sie übersahen aber dabei gerade das Wesentliche: daß Hegel die Gegenständlichkeitsformen der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Doppeltheit, in ihrem Widerspruch erfaßt hat: als Momente eines Prozesses, in dem der Mensch (bei Hegel mythologisch: der Geist) in der Entäußerung zu sich kommt, zum Punkt, wo die Widersprüche seines Daseins auf die Spitze getrieben sind und die objektive Möglichkeit des Umschlagens, der Aufhebung der Widersprüche selbst produzieren61. Die Entäußerung, die Abstraktion von sich selbst ist also zwar ein Schein, der sich in dem Sich-Selbst-Erreichen des »Geistes« als Schein enthüllt. Sie ist aber als Schein zugleich eine objektive Wirklichkeit. »Das Sein ist nicht verschwunden« sagt Hegel6 2 in seinem späteren System, wo er dasselbe Problem logisch zu fassen versucht - »sondern erstlich ist das Wesen als einfache Beziehung auf sich selbst, Sein: fürs andere ist aber das Sein nach seiner einseitigen Bestimmung, unmittelbares zu sein, zu einem Negativen herabgesetzt, zu einem Scheine. - Das Wesen ist hiermit das Sein als Scheinen in sich selbst.« Es ist hier unmöglich, die verschiedenen Formen, in denen Hegel mit diesem Problem ringt, auch nur skizzenhaft zu analysieren (neben der Lehre vom Wesen, sowohl in der »Enzyklopädie« wie in der »Logik«, gehört vor allem die Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft in der »Rechtsphilosophie« hierher). Worauf es hier methodologisch ankommt, konnte sich ja aus 61 Vgl. darüber ebenda, S. 439. (G. L.) - Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. 0„ S. 41>. (Hrsg.) 62 Enzyklopädie, § 112. (G. L.)

2 77

diesen wenigen Andeutungen erhellen. Erstens, daß für Hegel die »Entäußerung«, die »abstrakten« Formen des Lebens, die Abstraktion und Entfremdung selbst weder Gedankengebilde, noch eine »verwerfliche« Wirklichkeit gewesen sind, sondern die unmittelbar gegebenen Daseinsformen der Gegenwart als Übergangsformen zu ihrer Selbstüberwindung im historischen Prozeß. (Die Rechtsphilosophie endet mit dem Übergang zur Weltgeschichte.) Sie sind also weder erkenntnistheoretisch noch ethisch-utopisch überwindbar, sondern können nur durch Selbstaufhebung im identischen Subjekt-Objekt der Geschichte zur Auflösung gelangen. Zweitens erscheint damit die »Entäußerung« als die Unmittelbarkeit und die Unmittelbarkeit als die unüberwundene »Entäußerung«, womit Hegel im voraus die Kritik Feuerbachs an seiner Philosophie widerlegt hat. Drittens ist damit die Unmittelbarkeit sowohl historisch wie methodologisch relativiert worden: Auf jeder Stufe der Entwicklung erscheint das Resultat des bisherigen Prozesses als Unmittelbares. Seine Unmittelbarkeit ist Schein: Sie ist das Unerkanntbleiben der Vermittlungskategorien, durch die es im Prozeß hindurchgegangen ist, um diese - neue - Unmittelbarkeit zu werden. Viertens ist aber dieser Schein selbst eine - notwendige und objektive - Form des Seins, der nur dann richtig begriffen werden kann, wenn dieser sein Doppelcharakter in seinen dialektischen Wechselwirkungen begriffen wird; d. h. wenn jene Vermittlungskategorien aufgezeigt werden, die ihn zum notwendigen Schein des Wesens, zur notwendigen Erscheinungsform des Seins gemacht haben, wenn er also nicht nur als Produkt, sondern zugleich als Moment des Prozesses erfaßt wird. Und endlich vereinigt sich hiermit methodologisch die historische mit der philosophischen Betrachtungsweise, indem es klar wird, daß jede für sich genommen in der Unmittelbarkeit steckenbleiben muß, indem gezeigt wird, daß die wirkliche philosophische »Deduktion« eines Begriffes, einer Kategorie nur in ihrer »Erzeugung«, in der Demonstration ihrer historischen Genesis bestehen kann, und daß andererseits die Geschichte eben im ununterbrochenen Wandel jener Formen besteht, die das bisherige, stets in der Unmittelbarkeit seiner Gegenwart steckenbleibende, undialektische Denken als ewige, als überhistorische Formen betrachtet hat.

Allerdings: auch die Hegelsche Philosophie mündet in die Unmittelbarkeit ihrer Gegenwart. Der dialektische Prozeß, in dem sich für sie alles auflöst, erstarrt zuletzt und liefert einen metaphysischen und nicht dialektischen Gegenstand und hebt sich damit als Prozeß auf. Trotzdem aber ist im Weg zu diesem Scheitern die methodologische Grundlage zu einer neuen, kritischen (praktisch-kritischen, historisch-kritischen) Stellungnahme zur Gegenwart, als Moment des Geschichtsprozesses, niedergelegt - zu einer Stellungnahme, in der die Dualität von Theorie und Praxis aufgehoben wird, indem die Gegenwart einerseits als konkrete und unmittelbare erfaßt, aber als Resultat des Geschichtsprozesses, also genetisch, durch Aufzeigung aller Vermittlungen, die ihrer Unmittelbarkeit zugrunde liegen, begriffen wird, andererseits aber zugleich dieser selbe Vermittlungsprozcß die Gegenwart als bloßes Moment des über sie hinausgehenden Prozesses aufzeigt. Denn gerade diese kritische Stellungnahme zur Unmittelbarkeit der Gegenwart bringt sie in Beziehung zur menschlichen Aktivität: in den über sich selbst hinaustreibenden Momenten der Gegenwart sind die Richtlinien und der reale Spielraum der praktisch-kritischen Tätigkeit, der umwälzenden Praxis gegeben. Jedoch nur für den, dessen Stellungnahme in der Richtung dieser weitertreibenden Tendenzen, die die Gegenwart nicht nur nach rückwärts, sondern auch nach vorwärts in einen Prozeß verwandeln, liegt. Und diese Stellungnahme war für Hegel selbst unerreichbar. Er konnte zur höchsten gedanklichen Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft gelangen und ihren Aufbau geschichtlich, prozeßhaft, dialektisch erfassen63. Und es folgt aus der antagonistischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, daß Hegel gerade infolge seiner adäquaten Auffassung 63 Es ist im allgemeinen zu wenig bekannt, daß Hegel ökonomisch stets auf der höchsten, für ihn historisch möglichen, theoretisdicn Stufe gestanden ist. Leider sind diese Beziehungen noch zu wenig ausgearbeitet. Gutes Material zu einer sehr erwünschten Spez:albchandlung dieser Frage findet man bei F. Rosenzweig, Hegel

und der Staat, München und Berlin, R. Oldenburg,

1920,

Bd. I, S.

131-132,

S. 148 ff„

Bd. II, S. 120 ff., mit Hinweisen auf ältere Literatur z.B. auf Rosenkranz' Bemerkungen über den Steuan-Kommcntar aus Hegels Jugendzeit. (G. L.) - Luk.lcs ist diesen Fragen in einem seiner späteren Werke nachgegangen, vgl.: Der junge Hegel und die

Probleme der kapitalistischen Gesellschaft, Berlin 1954, besonders S.

208

ff. (Hrsg.)

279

der bürgerlichen Gesellschaft ebenso wie Ricardo, gedanklich über sie hinausgetrieben wurde. Dies bleibt aber bei Hegel rein logisch, rein methodologisch. Er kann sich, da er in einer weniger entwickelten kapitalistischen Gesellschaft lebt als Ricardo, wo die Daseinsformen seiner sozialen Umwelt viel stärker mit Überresten vergangener Epochen vermischt sind, da er deshalb die bürgerliche Gesellschaft viel mehr als werdende denn als gewordene sieht, unbefangener zu den von ihr geschaffenen Daseinsformen verhalten. Seine Denkmethode, gefunden zur Erkenntnis dieser Gegenwart, die deshalb alle ihre Widersprüche in der Form methodologischer Probleme in sich birgt, wird durch diese Widersprüche über die Gegenwart, über die bürgerliche Gesellschaft hinausgetrieben. Sie kann sich aber aus demselben Grunde - nicht zu einer wirklichen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft konkretisieren. Er bleibt mit dieser Kritik entweder vor der Gegenwart stehen (Versöhnung), oder er führt die weitertreibende dialektische Bewegung in den rein kontemplativen Sphären der vermittelt-gesellschaftlichen Formen zu formellem Stillstand (absoluter Geist). Dieses Abbiegen von den dialektischen Tendenzen der Dialektik zeigt sich freilich nicht bloß an diesen Punkten, wo es ganz konkret und offenbar werden muß, sondern wirkt auf Anlage und Aufbau der ganzen Methode zurück und gestaltet die ganze Dialektik Hegels problematisch. Die Weiterentwicklung, der Versuch, über die bürgerliche Gesellschaft hinauszugehen, kann also nicht in einfachem Weiterführen der Hegelschen Dialektik bestehen - an diesem Versuch ist Lassalle methodologisch gescheitert - ebensowenig aber darin, die Schranken des Hegelschen Denkens entweder zur systematischen Grundlage zu machen (Bruno Bauer), oder mit der einseitigen Polemik gegen diese Schranken alles hier Errungene einfach wegzuwerfen (Feuerbach); am allerwenigsten im Versuch, die beiden, starren Gegensätze miteinander zu verquikken, was Hess unternahm. Daß keiner der radikalen Junghegelianer auch nur entfernt die ökonomischen Kenntnisse Hegels besaß, geschweige denn die ökonomische Entwicklung der zwischenliegenden Jahre verarbeitete, ist ein Symptom dafür, wie wenig sie den springenden Punkt der geschichtlichen Dialektik Hegels verstanden haben, wie wenig ihnen klargeworden

ist, wo das Fruchtbare und Fortsetzbare an semen Problemen gelegen ist. Wir haben den Mangel an realen ökonomischen Kenntnissen, die mangelhafte Bekanntschaft mit der Weiterentwicklung der ökonomischen Theorie ein Symptom genannt. Dieser Mangel war aber - wie hinzugefügt werden muß - zwar einerseits Symptom und Folge der falschen Fragestellung Hess' und der anderen radikalen Junghegelianer, andererseits stammt die falsche Fragestellung selbst aus ihrem revolutionären lntelligenzlertum. Hegel also, der ideologische Vertreter der bürgerlichen Entwicklung selbst, ist ihnen schon infolge dieses Ausgangspunkts überlegen64. Denn über die bürgerliche Entwicklung ideologisch hinausstrebend, verwerfen sie prinzipiell die typische Klassenwissenschaft der bürgerlichen Klasse, die Okonomie, ebenso in Bausch und Bogen, wie die Klassenwissenschaft des junkerlichen Absolutismus, die Theologie6S, und suchen die Befreiung auf dem Weg der Feuerbachsehen, undialektischen und unhistorischen Genesis: der Entlarvung des »entäußerten«, unmenschlichen Wesens dieser Sphären, worauf die richtige Reaktion nur die Einsicht, das bewußte Finden »des Menschen« sein kann 66. Dagegen hat für Hegel die Erkenntnis der ökonomischen Phänomene einen integrierenden Bestandteil seiner systematischen Orientierung gebildet. Allerdings lagen in Hegels Einstellung selbst unübersteigbare Schranken. Erstens indem auch für ihn, der die Erkenntnis der bürgerlichen Gesellschaft im Staate kulminieren ließ und die Philosophie darüber hinaus in die »reinen« Regionen des absoluten Geistes trieb, die Okonomie dem »Gedanken« nur insofern »Ehre macht, weil sie zu einer Masse von Zufälligkeiten die Gesetze findet« 67. Dadurch werden die ökonomischen 64 Wie sich Hegel immer stärker in diese Richtung entwickelt, kann an seinen verschiedenen Darstellungen der bürgerlichen Gesellschaft studiert werden. So weist Rosenzweig mit Redit darauf hin (a. a. 0., Bd. II, S. 120), daß die Bestimmung: des »Standes« im laufe seiner Entwicklung immer »ökonomischer« gefaßt wird; die Standessittlichkeit ist in der ))Rechtsphilosophie« nur mehr Ergebnis, nicht mehr

Voraussetzung des Standes wie in Hegels Jugendzeit. (G. L.) 65 Hess parallelisiert beide im Aufsatz »Über das Geldwesen«, Zlocistis Ausgabe,

S. 167. (G. L.) - Ausgabe Cornu/Monke, S. 335. (Hrsg.) 66 Ebenda, S. 163. (G. L.) - Ausgabe Cornu/Mönke, S. 332-333. (Hrsg.) 67 Rechtsphilosophie, § 189, Zusatz. (G. L.)

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Elemente teilweise bloß unbewußt zu systematischen Bestandteilen seines Denkens, und er ist außerstande, die von ihm bereits errungene historisch-soziale Einsicht festzuhalten und auszuwerten. Zweitens aber hindert ihn seine bürgerliche Einstellung, die Schranken der Okonomie selbst methodologisch aufzudecken. Neben ausgezeichneten und teilweise über die von ihm bearbeitete Ökonomie hinausgehenden Beobachtungen68 , finden wir, daß Hegel, neben Smith und Ricardo, Say als gleichwertigen Vertreter der ökonomischen Wissenschaft nennt, also ihren Niveauunterschied gar nicht bemerkt69. Hier setzt die Kritik von Marx und Engels ein. Die bahnbrechenden Aufsätze in den »Deutsch-französischen Jahrbüchern« führen eine ganz neue Methode der Kritik in das Denken ein: die Kritik als Aufzeigung der gesellschaftlichen Grundlagen eines Problems und der gesellschaftlichen Voraussetzungen seiner Lösung. Erst diese Fragestellung ermöglicht das Hinausführen der Dialektik über den toten Punkt in der Hegelschen Fassung. Und trotz aller scheinbaren Verwandtschaft zu ihren Zeitgenossen trennt sich bereits hier der Weg von Marx und Engels von dem der radikalen Junghegelianer und der sozialistischen Feuerbachanhänger, die ausnahmslos, statt den Hegelschen Weg zu Ende zu gehen, das Denken über Gesellschaft und Geschichte aus der Sackgasse, in die die Hegelsche Philosophie geriet, hinauszuführen, sich lobpreisend oder kritisierend in dieser Sackgasse heimisch niedergelassen haben. Es ist unmöglich, an diesem Orte selbst die Umrisse dieser Wendung der dialektischen Methode durch Marx und Engels zu skizzieren. Es sollte bloß an diesem Gegenbeispiel die methodologische Notwendigkeit aufgezeigt werden, die die Versuche eines so ehrlichen Denkers wie Hess von vornherein zu kläglichem Scheitern verurteilt hat. Es heißt oft: die Junghegelianer wollten die philosophischen Widersprüche von Hegels System philosophisch auflösen und seien an dieser Aufgabe gescheitert. Das ist richtig. Aber es muß noch der Nach68 >Es kommt hierin zum Vorschcm, daß bei dem Übermaß des Reichtums die bürgerlidie Gesellschaft nicht reidJ genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlidien Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern {ebenda, § 245).« (G. L.) 69 Ebenda, § 189. (G. L.)

weis hinzugefügt werden, wie tief die Motive dieses Scheiterns in die Philosophie selbst hineinragen, wie sehr die Wendung von Marx und Engels eine Theorie von vollkommen neuem Typus - wenn auch in tiefem Zusammenhang mit der Hegelschen Dialektik - geschaffen hat: die Kritik der politischen Ökonomie. Die Kritik der politischen Ökonomie ist methodologisch auf die Hegelsche Lehre der Auflösung der Unmittelbarkeit durch die Aufzeigung der historischen Vermittlungskategorien, durch die konkrete, historische Genesis begründet. Marx und Engels können diese Wendungen vollziehen, weil sie die bürgerliche Gesellschaft vom Standpunkt des Proletariats betrachten, von wo aus sich die dialektische Einheit der unmittelbaren Wirkliei1.keit der kapitalistischen Kategorien zugleich mit der Auflösung ihrer Starrheit, ihres Fetischcharakters ergibt7D. Die Borniertheit der bürgerlichen Ökonomie liegt darin, daß sie alle Phänomene des ihr zugrunde liegenden Daseins in den - unmittelbar vorgefundenen - Formen hinnimmt und darum - bei den großen Vertretern der klassischen Ökonomie - in ihrer Theorie, unbewußt, jene Widersprüche widerspiegelt, die hinter dieser Unmittelbarkeit real wirken, während die flachen Vulgärökonomen und die befangenen Apologeten der kapitalistischen Gesellschaft diese Widersprüche - theoretisch - aufzuheben versuchen. Der Idealismus ihrer - mehr oder weniger bewußten - proletarischen Kritiker gründet sich darauf, daß sie diesen dialektischen Doppelcharakter nicht durchschauen können. Diesem Idealismus sind nicht bloß die »wahren Sozialisten« in Deutschland verfallen (allerdings äußert sich dieser Idealismus bei ihnen am krassesten, wegen ihrer Hegelianischen, äußerlich dialektischen Gedankenformen), sondern auch Proudhon, Bray7t und die englischen sozialistischen Kritiker Ricardos. So hebt z.B. Marx Hodgskin gegenüber, den er ebenfalls als »Idealisten« bezeich-

70 Diesen Zusammenhang habe idi ausführlidi dargestellt in meinem Aufsatz >Die Verdinglidiung usw.• (a. a. 0„ S. 94 ff.). (G. L.) 71 John Francis Bray, 1809-189s, von Beruf Schriftsetzer, englisch-amerikanischer utopischer Sozialist, Mitbegründer und Schatzmeister der im September 1837 ins Leben gerufenen »Leeds Working Men's Association«, veröffentlichte 1839 sein von Robert Owen beeinflußtes Hauptwerk »Labour's Wrongs and Labour's Remedy, or thc Age of Might and the Age of Righr.. (Hrsg.)

net72 , hervor: »Hodgskin sagt also mit anderen Worten: Die Wirkungen einer bestimmten gesellschaftlichen Form der Arbeit werden der Sache, den Produkten dieser Arbeit zugeschrieben; das Verhältnis selbst wird in dinglicher Gestalt vorphantasiert. Wir haben gesehen, daß dies ein spezifisches Charakteristikum der auf Warenproduktion, auf Tauschwert beruhenden Arbeit ist, und daß dieses Quidproquo sich in der Ware, dem Gelde (was Hodgskin nicht sieht) und noch potenzierter im Kapital zeigt. Die Wirkungen, die die Dinge als gegenständliche Momente des Arbeitsprozesses haben, werden ihnen im Kapital zugeschrieben als von ihnen besessen in ihrer Personifizierung, Selbständigkeit gegen die Arbeit. Sie würden aufhören, diese Wirkungen zu haben, wenn sie aufhörten, in dieser entfremdeten Form sich der Arbeit gegenüber zu verhalten. Der Kapitalist als Kapitalist ist bloß die Personifikation des Kapitals, die mit eigenem Willen, Persönlichkeit begabte Schöpfung der Arbeit im Gegensatz zur Arbeit. Hodgskin faßt dieses als rein subjektive Täuschung auf, hinter der sich der Betrug und das Interesse der ausbeutenden Klassen versteckt. Er sieht nicht, wie die Vorstellungsweise aus dem realen Verhältnis selbst entspringt, wie das letztere nicht Ausdruck der ersteren ist, sondern umgekehrt73 .« Marx unterstreicht die - relative, historische - Berechtigung dieses subjektivistischen Standpunkts von Hodgskin7 4 dem Fetischismus der Okonomie gegenüber, weist aber ausdrücklich darauf hin, daß dieses Verkennen des Wirklichkeitsfaktors in den fetischistischen Gebilden der kapitalistischen Produktion und ihren theoretischen Spiegelungen einerseits darin begründet ist, daß Hodgskin die Problemstellungen der Okonomie (und 72 Theorien über den Mehrwert III, S. 318. (G. L.) - Theorien über d"n Mehrwert, Bd. III, S. 265. (Hrsg.) 73 Ebenda, S. 354-355. (G. L.) - Theorien über den Mehrwert, Bd. III, S. 293-294. (Hrsg.) 74 Ebenda, S. 318-329. überhaupt ist der ganze Ton seiner Polemik von dem gegen die Posthegelianer grundverschieden. Dies beruht nicht nur darauf, daß sie nach seiner Selbstverständigung und nicht als Weg zu ihr geschrieben wurde, sondern hauptsächlich darauf, daß der Pamphletist Hodgskin u. a. einen wirklichen Fortschritt über Ricardo hinaus bedeuten, also objektiv Vorläufer Marx• gewesen sind, während Hess und Genossen nicht als Verbindungsglieder zwischen Hegel und Marx betrachtet werden können. (G. L.) - Theorien über den Mehrwert, Bd. III, S. 273274. (Hrsg.)

die ihnen zugrunde liegende Wirklichkeit) so nimmt, wie er sie vorfindet (z. B. Unterscheidung von fixem und zirkulierendem KapitaFS), andererseits jedoch dazu führt, daß er das Prozeßartige auch in den »einfachen« Erscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft übersieht (z. B. in der Frage der »Zinseszinsen«, wo er nicht bemerkt, daß der »einfache Profit« in der Tat ebenso sich zusammensetzt wie der zusammengesetzte, daß also nicht ein »Ding« sich im »Prozeß« befindet, sondern die »Dingheit« nur eine Erscheinungsweise des Prozesses ist 76). Der »wahre Sozialismus« befindet sich in dieser entscheidenden Frage auf dem Standpunkt der bornierten bürgerlichen Ökonomie. Wenn Marx z. B. James Mill gegenüber betont: »Er macht die Einheit von Gegensätzen zur unmittelbaren Identität dieser Gegensätze«77, so setzt er seine frühere Polemik gegen die Ökonomie des »wahren Sozialismus« fort, wo er Grün für die abgeschmackte, vulgärökonomische Auffassung von der »Einheit von Produktion und Konsumtion« mit Hohn überschüttet73 , denn »man sieht, wie bei dieser überschwenglichen Manier nichts als eine Apologie der bestehenden Zustände herauskommt«. Und die harte Kritik des »Kommunistischen Manifestes« ist nur die konsequente Ergänzung dieser Kritik: dort wurde theoretisch die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Unmittelbarkeit einfach hingenommen, hier, in der Stellung des »wahren Sozialismus« zu den revolutionären Bewegungen des Bürgertums, der konkret revolutionäre Kern des sozialen Entwicklungsprozesses abstrakt-utopisch - aber ebenso

75 Ebenda, S. 318-319. (G. !..) - Theorien über den Mehrwert, l\J. III, S. 265266. (! lr>g.)

76 Ebenda, S. 364. (G. I..) Theorien über den Mehrwt·rt, ßd. III, S. 3or. (Hrsg.) 77 Ebenda, S. 99. (G. L.) - Theorien über den Mehrwert, Bd. III, S. 84. (Hrsg.) 78 Vgl. seine Kritik der Grlinschcn Geschichte des Sozialismus, in: Die Neue Zeit XVIII/! (1890-1900), S. 138-q9. Diese Auffassung findet sich bei Hess, z. B. im Aufsatz ,..Qber die Not in unserer Gesellschaft usw . .:, Zlocistis Ausgabe, S. 153. Ober die angeführte Dialektik dieser Kategorien vgl.: Zur Kritik der politischen Ukonomie. Einleitung, S. XX-XXXIV. (G. L.) - Engels und Marx, »Die deutsd1c Ideologie«, in: Marx-Engels-Werke. Bd. III, S. 504; Ausgabe Cornu/Mönke, S. 323 bis 324; Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Okonomie, S.11-16. (Hrsg.)

in der Unmittelbarkeit stecken bleibend - verkannt. Diese beiden - scheinbar entgegengesetzten und tatsächlich widerspruchsvollen - Auffassungen hängen aber methodologisch eng zusammen. Sie sind notwendige Konsequenzen der idealistischen Grundauffassung des »wahren Sozialismus«: des Auseinanderfallens von Theorie und Praxis und demzufolge von theoretischer und geschichtlicher Betrachtung der Phänomene der Gesellschaft. Hegels ungeheure geistige Leistung bestand darin, Theorie und Geschichte einander gegenüber dialektisch relativ zu machen, sie in einer dialektischen, wechselseitigen Durchdringung aufzufassen. Dies ist aber auch bei ihm ein - letzten Endes - gescheiterter Versuch geblieben. Er konnte nie bis zur wirklichen Einheit von Theorie und Praxis vordringen, sondern bloß entweder das logische Auseinanderfolgen der Kategorien mit einem reichen geschichtlichen Material durchtränken, oder die Geschichte zu einer Aufeinanderfolge von zu Kategorien erhobenen, sublimierten und abstrahierten Gestalten, Strukturveränderungen, Epochen etc. rationalisieren. Erst Marx vermochte dieses falsche Dilemma zu durchschauen, indem er die Reihenfolge der Kategorien weder aus ihrem logischen Auseinander, noch aus ihrem historischen Aufeinander ableitete, sondern »ihre Reihenfolge bestimmt durch die Beziehung, die sie in der bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben«, erkannte79 • Dadurch gab er nicht nur der Dialektik das von Hegel vergeblich gesuchte reale Fundament, stellte sie nicht nur auf die Füße, sondern hob zugleich die zur Grundlage der Dialektik gemachte Kritik der politischen Ökonomie aus der fetischistischen Erstarrung und abstrahierenden Enge, der die Ökonomie selbst bei ihren größten bürgerlichen Vertretern verfallen mußte, heraus. Die Kritik der politischen Ökonomie steht nicht mehr als »eine« Wissenschaft neben den anderen, ist nicht bloß als »Grundwissenschaft« den anderen übergeordnet, sondern sie umfaßt 79 Zur Kritik der politischen tlkonomie, S. XLIV. Die Ableitung des Bewußtseins aus dem gesellschaftlichen Sein und nicht umgekehrt, die der „wahre Sozialismus~ nie finden konnte, aber auch nie ernsthaft zu sud1cn vermochte, folgt notwendig aus der - dialektischen - Auffassung der Kategorien »als Daseinsformen, Existenzbestimmungen« (ebenda, S. XLIII). (G. L.) - Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ukonomic, S. 28; S. 16. (Hrsg.)

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die gesamte Weltgeschichte der »Daseinsformen« (der Kategorien) der menschlichen Gesellschaft8o. Mit dieser Grundlegung der materialistischen Dialektik hat der »wahre Sozialismus« jede, selbst subjektive Daseinsberechtigung verloren 81 . Und Hess als ehrlicher Denker und Revolutionär hat dies auch nach schweren inneren Kämpfen zugegeben. Mehring zitiert82 einen Brief Hess' aus dem Jahre 1846, in dem er dies bedingungslos zugibt. Er war aber nicht imstande, den neuen Standpunkt sich wirklich zu eigen zu machen. Sein in der »Deutschen Brüsseler Zeitung« 1847 veröffentlichter Aufsatz nähert sich zwar terminologisch stark an Marx an, bemüht sich zwar, auch die Marxsche Denkweise anzuwenden. Aber schon das Thema »Die Folgen der Revolution des Proletariats« zeigt, daß Hess auch zur Zeit seiner größten Annäherung an Marx noch der alte Idealist und ethische Utopist geblieben ist. Und in seinem gleich nach der 48er Revolution herausgegebenen Werk »Jugement Dernier Du Vieux Monde Social« wendet er sich wieder zum alten Standpunkt zurück. Er sagt da über Marx und Engels: »Sie verstehen aufs vorzüglichste die Kunst, den Körper unserer Gesellschaft zu sezieren, ihre Ökonomie zu entwickeln und ihre Krankheit klarzulegen. Aber sie sind zu materialistisch, um den Schwung zu besitzen, der elektrisiert, der das Volk hinreißt. Nachdem sie die idealistische Philosophie aufgegeben haben, haben sie sich der materialistischen Ökonomie in die Arme geworfen. Sie haben den nebelhaften Standpunkt der deutschen Philosophie mit dem engen und kleinlichen Standpunkt der englischen Ökonomie vertauscht83.« Aber eine wirkliche Rückkehr zum alten Standpunkt war 80 Dies ist aus der Einteilung, die Marx in der Einleitung gibt, klar ersichtlich, ebenda, S. XL V-XL VI. (G. L.) - Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 29-30. (Hrsg.) 81 Marx anerkennt dies für die Anfänge von Hess. Vgl. die Kritik über Grün, a. a. 0., S. 10. (G. L.) - Engels und Marx, »Die deutsche Ideologie•, a. a. 0., S. 479. (Hrsg.) 82 Lit.-Nachlaß II, S. 371. (G. L.) - Moses Hess an Karl Marx, 28. VII. 1846, in: Moses Hcs·s, Briefwed15el, hrsg. von E. Silberner unter Mitwirkung von W. Blumenberg (Quellen und Untersuchungen zur Geschichte der deutschen und österreichischen Arbeiterbewegung, 2), Thc Haguc 1959, S. 165. (Hrs~.) 83 F. Melly, Genf 1851. Auszugsweise veröffentlicht in Bernsteins Dokumenten des Sozialismus 1, S. 540. (G. L.)

doch nicht mehr möglich. Die ökonomische Betrachtungsweise blieb fortan für die Theorie von Hess maßgebend, nur daß sie in seinem weiter idealistisch gebliebenen Denken methodologisch als Fremdkörper wirkte. So enthält die oben zitierte Broschüre manche Annäherungen an den historischen Materialismus, nur daß Hess dabei stets auf halbem (manchmal dreiviertel) Weg stehenblieb, um an seinem alten moralistischen Idealismus anzuknüpfen und diesen mit phantastisch-mythologischen, kosmischen oder Rassen-Theorien zu unterstützen. So schreibt erz. B. in der eben zitierten Broschüre: »Die Arbeit ist stets für den Fortschritt organisiert gewesen, stets hat der Fortschritt der Arbeit die Produktivkräfte vermehrt und vervollkommnet, und stets sind die großen Revolutionen zu dem Zweck ausgebrochen, die Produktionsweise auf die Höhe der Produktivkräfte zu erheben, die Arbeit für den Fortschritt zu organisieren«. Oder er formuliert - gegen Saint-Simon - die Wirtschaftsweise der kommenden sozialistischen Gesellschaft »von jedem nach seinen Kräften, an jeden nach seinen Bedürfnissen«. Trotzdem bleibt die ganze Darstellung doch ideologisch: Die alte, starre Entgegensetzung von Notwendigkeit und Freiheit, von unmittelbar hingenommener Welt und ebenso unmittelbar hingenommener ethischer Forderung (und moralischer Beurteilung des Seins) ist unverändert, höchstens in - scheinbar - weniger starrer Weise auf Vergangenheit und Gegenwart aufgeteilt. So sagt z.B. Hess, nachdem er für die Vergangenheit die objektive Notwendigkeit des Antagonismus der Klassen zugegeben hat: »Heute allerdings haben die aufgeklärten Menschen nicht unrecht, wenn sie das Weiterbestehen dieses Antagonismus dem bösen Willen einer Handvoll Privilegierter zuschreiben« 84 • Ideologischer ist der Umschwung, der in einer revolutionären Situation eintreten soll, schwer formulierbar. Da Hess außerstande war, seinen alten Standpunkt aufrechtzuerhalten oder den neuen richtig zu verstehen und anzuwenden, ist seine schriftstellerische Tätigkeit nach seiner »Bekehrung« durch Marx ein hilfloses Hinundhertaumeln zwischen ganz leeren und abstrakten Gedankenkonstruktionen, phantasti84 A. a. 0., S. 5-17, S. 549 und 545· (G. L.)

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sehen Konzeptionen einer Naturphilosophie, rassentheo:-etisch·geschichtsphilosophischer Begründung des Zionismus 85 etc. Er hat als ehrlicher Revolutionär an der Lassalleschen Arbeiterbewegung teilgenommen und ist bis zu seinem Ende in Reih und Glied des kämpfenden Proletariats geblieben. Als Theoretiker ist er aber an der Berührung mit der materialistischen Dialektik zugrunde gegangen. Die Seltsamkeit dieses Schicksals, diese beinahe übergangslose Trennung von Theorie und Praxis, das anonyme Weiterwirken der falschen theoretischen Fragestellungen, nachdem sie von Hess selbst - wenigstens unbewußt - fallengelassen wurden, die Möglichkeit, daß ein typisch philosophisch veranlagter Revolutionär in den entscheidenden Momenten ganz unabhängig von seinen Theorien handelt, lassen sich nur aus der Unentwickeltheit der Klassengegensätze im damaligen Deutschland erklären. Denn überall später, wo ähnliche Gedanken auftauchen, führen sie mit einer gewissen Zwangsläufigkeit aus dem Lager des Proletariats in das der Bourgeoisie. Der Fall Hess, sowohl sein völliges Scheitern im Sachlichen, trotz aller Begabung, trotz richtiger Ansätze in Einzelproblemen, wie sein persönliches Festhalten an der Sache der Revolution, ist eines der interessantesten Beispiele, um den geistigen Zustand Deutschlands in der Entstehungszeit der Theorie der proletarischen Revolution zu beleuchten. Als der sowohl in Fehlern wie in Tugenden typischste Vertreter dieses Übergangs - und nicht etwa als theoretisches Bindeglied zwischen Hegel und Marx - wird Hess in der Geschichte der Arbeiterbewegung seinen Platz erhalten.

85 über die Entwicklung von Hcss vgl. die fleißige, aber prinzip!enlosc, ,·i.:rworrcne, für Hess voreingenommene Biographie Zlocistis. (G. L.)

14.

Thesen über die politische und wirtschaftliche Lage in Ungarn und über die Aufgaben der Kommunistischen Partei Ungarns (Blum-Thesen, 1928) (Auszug) = »Reszeletek a >Tezistervezet a magyar politikai es gazdasagi helyzetröl es a KMP feladatairol< (Blum-Tezisek) c. dokumentumbol«, in: Parttörteneti Közlemenyek, 2. Jg., Heft 3 (1956), S. 7 5-94 (= erste Veröffentlichung). Aus dem Ungarischen übertragen.

Vorbemerkung der Redaktion der »Parteigeschichtlichen Mitteilungen« (hrsgg. vom Parteigeschichtlichen Institut beim ZK der PVW): Im Archiv des Parteigeschichtlichen Instituts beim Zentralkomitee der Partei der Ungarischen Werktätigen haben Genossen, die sich mit der Periode 1929-1939 beschäftigen, während ihres Studiums ein bedeutendes Dokument der Geschichte der KPU, die sog. »Blum-Thesen«, entdeckt, deren Autor der Genosse Georg Lukacs ist. Der Thesenentwurf entstand Ende 1928 und hatte die Aufgabe, das politische Referat des u. Kongresses der KPU vorzubereiten. Der Thesenentwurf interpretiert die Situation der KPU und die allgemeinen Verhältnisse in Ungarn und weist auf Grund des vom vr. Kongreß der Kommunistischen Internationale angenommenen Programms auf die Notwendigkeit einer li.nderung der strategischen Zielsetzung der Partei und den Gedanken einer demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern hin. Trotzdem sind in dem Thesenentwurf aus seinen an sich richtigen strategischen Zielsetzungen nicht die notwendigen Konsequenzen für die Bündnispolitik, die Agrarpolitik und die Taktik der Partei im allgemeinen gezogen worden. Dieser Thesenentwurf wurde 1929 in der Partei besprochen. Nach dem Streit in der Partei und dem Offenen Brief des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) 1 hatten das Zentralkomitee und danach auch der n. Kongreß der KPU (Februar-März 1930) die Thesen gerade wegen der Erwähnung der strategischen Zielsetzung als ein falsches und opportunistisches Dokument verworfen. Der Thesenentwurf ist in fünf Kapitel untergliedert: r. Die Lage der KPU während des r. Kongresses und ihre Entwicklung bis zum Plenum 1928; 1 Der "Offene Brief< ist im Anhang, Text 33. S. 727 ff., abgedruckt. (Hrsg.)

Die grundlegenden Knderungen während des Bethlen-Regimes und die Klassen; m. Die Lage der Arbeiterklasse; rv. Die Tätigkeit der KPU seit dem Plenum; v. Die Hauptprobleme der gegenwärtigen Situation. Im folgenden drucken wir die Kapitel 1 und IV des Thesenentwurfes sowie die Abschnitte A und D des Kapitels v ab2. 11.

r. Die Lage der KPU während des r. Kongresses und ihre Entwicklung bis zum r. Plenum 1928 r. Die KPU hielt ihren ersten Kongreß 3 in der Periode sich stark entwickelnder linksgerichteter Massenbewegungen ab. Die besten linksgerichteten Elemente der Arbeiterklasse begannen, sich zu einer Opposition zusammenzuschließen. Der KPU gelang es schon zu Beginn der Bewegung, zum selbstbewußtesten Teil dieser Opposition eine Verbindung aufzunehmen und sie unter ihren Einfluß zu bringen. Die Bewegung führte im Frühjahr r925, anläßlich der neuen, bei den Dorfwahlen eingegangenen bürgerlichen Koalition, zur Spaltung der sozialdemokratischen Partei. 2. Die politische Richtung der MSZMP4 war von Anfang an richtig auf die grundsätzlichen Probleme des Klassenkampfes in Ungarn eingestellt: zum Sturz des sich damals konsolidierenden 2 Die iibrii:;:cn Teile der ßlurn-Thcsen wurden bisher nicht zugänhlich gemacht. An die Veröffentlichung des Auszugs der Blum-Thcscn von 1956 schließt sich die W'iedcrg:abe der Diskussion im Parreigeschichrlichen Institut in Iludapcsc an. Ein läng:ncr Bcit!'luxcmburgistischcn« Opposition in der ungarisd1cn Sozia!Jcmokratie vor 19q, seit 1907 einer der markantesten Führer der ungarischen Arbeiterjugend, seit Anfang der zwanziger Jahre der bekannte Chefredakteur der i.lnternationalen Presse-Korrespondenz«. SzJ.ntO (1881-1951), während der Räterepublik Volkskommissar für die Rote Armee, in den zwanziger Jahren in der Roten Gewerkschafts-Internationale tätig, nach 19.J-5 Botschafter Ungarns in Polen. (Hrsg.)

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Fehleinschätzung der wichtigsten Probleme der gegenwärtigen ungarischen Situation repräsentieren, dadurch die Lösung der aktuellen und entscheidenden Fragen der Partei hindern und eine klare theoretische Stellungnahme der Partei verzögern. 6. Die wichtigsten solcher Rechtsabweichungen sind folgende: a) Der Standpunkt des Genossen Julius und seine Einschätzung des Bethlen-Regimes und der Sozialdemokratie (vgl. seine vor dem Ländersekretariat der Kommunistischen Internationale gehaltene Rede in der Beilage der Thesen). Genosse Julius bringt darin zum Ausdruck, daß er mit der in den letzten Jahren betriebenen Politik der KPU ganz und gar nicht einverstanden ist. Seine Stellungnahme bildet ein zusammenhängendes rechtsgerichtetes System. Er leugnet den faschistischen Charakter des Bethlen-Regimes, leugnet das Hineinwachsen der Sozialdemokratischen Partei in den Bethlenschen Faschismus und bewertet die Sozialdemokratische Partei als eine oppositionelle, um demokratische Reformen kämpfende Partei. Wenn dies wahr wäre, müßte die KPU offensichtlich ihre gesamte Politik revidieren. In Wirklichkeit würde die »Analyse« von Genosse Julius jene praktische Konsequenz haben, daß der Partei keine andere Tätigkeit übrigbliebe, als die oppositionelle Sozialdemokratische Partei im Kampf um demokratische Reformen zu unterstützen und höchstens nach links zu verschieben. Für die KPU bliebe als selbständige Aufgabe nichts anderes übrig als eine rein theoretische Propaganda der Diktatur des Proletariats. Die Plattform von Genosse Julius, abgesehen von der völligen Irrigkeit seiner Analyse, würde nur dazu dienen, die Partei in unmittelbar dem Sturz einer Diktatur folgende Verhältnisse, nämlich auf das Niveau einer reinen Propagandagruppe, zurückzuversetzen. Dieser Standpunkt, der sich den (ungarischen) abweichenden Verhältnissen entsprechend dem Standpunkt anderer internationaler Rechtsgruppen angleicht, drückt im wesentlichen ein Zurückschrecken vor der Lösung der schweren aktuellen Aufgaben, die der Partei bevorstehen, aus. b) Der Standpunkt von Genosse Robert (vgl. seine drei Artikel in der Beilage der Thesen) trägt noch mehr den Stempel einer Ideologie der Schwäche. Genosse Robert sieht die herannahende Faschisierung und den ständigen Rückgang der Mit300

gliederzahl der Gewerkschaften, aber er begreift nichts von den konkreten Umständen dieser Entwicklung. Deshalb identifiziert er mechanisch den Tiefstand der Mitgliederzahl in den Gewerkschaften mit dem Tiefstand der Arbeiterbewegung. In der Unorganisicrtheit der Arbeitermassen sieht er nur Zeichen eines Zerfalls der Bewegung und in den spontanen Bewegungen mechanisch nur ein Warten auf den Messias. Die Konsequenz dieser kurzsichtigen Einstellung, die der Radikalisierung der Massen und der Vielfältigkeit und Entwicklung dieser Radikalisierung gegenüber völlig blind ist, liegt darin, daß er den gegenwärtigen konkreten und grundsätzlichen Aufgaben der Partei ausweicht. Er kleidet dieses Ausweichen in das Gewand eines Scheinradikalismus. Er behauptet, daß die organisatorischen Thesen des Plenums im Gegensatz zu den politischen Thesen stehen, daß sich Linie und Perspektive des Plenums widersprechen. Dabei bemerkt er den notwendigen dialektischen Gegensatz nicht, der anläßlich jeder spontanen Bewegung zwischen Perspektive und Linie der Partei besteht: Die Partei arbeitet nämlich darauf hin, der spontanen Bewegung eine andere Richtung zu geben, in die diese in ihrer bloßen Spontaneität fortschreiten würde. Darüber hinaus leugnet Genosse Robert die Bedeutung einer sich spontan zeigenden Linksverschiebung für die verschiedensten Bereiche (Kultur, Sozialdemokratische Opposition etc.). Er versucht, die Arbeit der Partei ausschließlich auf die Betriebszellenarbeit zu reduzieren, mit der Begründung, daß man nur dadurch, »auf der Linie des stärksten Widerstandes«, die Massen erreichen kann. Wenn wir jedoch den Kampf gegen den Zentralismus meiden, wenn wir die Rückentwicklung der Gewerkschaften mit dem Zerfall der Arbeiterbewegung identifizieren, wenn wir, demzufolge, die Faschisierung als unvermeidlich hinstellen, gegen die sich die Arbeiterschaft nicht einmal wehrt, ja sie sogar nicht einmal erkennt wenn wir also die Linksverschiebung der Arbeiterschaft nicht erkennen, ja, nicht erkennen, daß die Arbeiterschaft bereits jetzt, wenn auch nur spontan, dennoch gegen die Vorbereitungen der Faschisierung kämpft - was würde dann für die Betriebszellenarbeit als Betätigungsfeld übrigbleiben? Die von der Fraktionsarbeit isolierten, des politischen Inhalts beraubten BetriebsJOI

zellen würden eine Rückentwicklung hinter die in den letzten Jahren erreichte Entwicklungsstufe der Partei bedeuten. Die Betriebszellen würden nur noch formal, ohne jegliche Aktionsmöglichkeit, ohne die Möglichkeit einer Politisierung existieren. Gerade jetzt hat die KPU die Aufgabe, an allen Fronten der Arbeiterbewegung, überall, wo Massen vorhanden sind, mit Hilfe der zentralen Stellung der Betriebszellen ihre Arbeit im Interesse der Herausbildung einer linksgerichteten Arbeiterbewegung unter ihrer Führung fortzusetzen. Auch hinter diesem Standpunkt von Genosse Robert steht also eine Ideologie der Schwäche. Er beseitigt die Kluft zwischen dem politischen Einfluß und der organisatorischen Stärke derart, daß er den politischen Einfluß der Partei aufhebt. c) Eine Unterschätzung des Zentralismus und eine schwankende und unentschlossene Haltung den Zentralisten gegenüber. Eine solche Haltung hatte sich auch im Kreise der in Ungarn arbeitenden Parteiarbeiter verbreitet. (Dies ist ebenfalls ein Teil des Systems des Genossen Robert.) Sie tritt in verschiedenen Formen, ja sogar in ganz gegensätzlicher Weise auf - zum Teil in der Weise, daß die Sozialdemokratie bereits keinen Einfluß mehr auf die Massen ausüben kann, daß unser siegreicher Kampf gegen die Sozialdemokratie nur durch polizeiliche Verfolgung behindert wird, daß hinter Jenö Kis niemand steht usw. Zum Teil als Furcht davor, daß die in illegaler Opposition arbeitenden Kommunisten den kommunistischen Charakter der klassenkämpferischen Opposition viel zu sehr bloßstellen würden, wenn sie den ideologischen Kampf gegen den Zentralismus in scharfer Form aufnähmen. Beide Auffassungen repräsentieren Rechtsabweichungen, oder doch eine Tendenz, die, wenn sie bewußter wird, zur Rechtsabweichung werden kann, weil sie den jetzigen konkreten Aufgaben der Partei ausweichen. Der Zentralismus ist eins jener Mittel der Sozialdemokratie, mit deren Hilfe sie die nach links strebenden, noch nicht bewußten Massen von der kommunistischen Partei oder doch von ihrem Einfluß fernhält. Die Kommunisten müssen also, wenn sie die linksgerichtete Arbeiterschaft unter ihre Führung bekommen wollen, den Kampf auf der ganzen Linie gegen die zentralistische Ideologie aufnehmen. Es genügt nicht, wenn sie in konkreten Fällen 302

beweisen, daß die Zentralisten Peyer1 7 und Konsorten dienen, sondern sie müssen bestrebt sein, die ganze zentralistische Ideologie vor den Arbeitern als Haupthindernis des Klassenkampfes bloßzustellen und sie den Arbeitern aus dem Kopf zu schlagen. Unkenntnis des Zentralismus, als unseres gefährlichsten Feindes, oder dessen Unterschätzung können in Ungarn genauso wie in der gesamten internationalen Bewegung eine ernste Rechtsabweichung bedeuten. d) Ebenfalls rechtsgerichtete Stimmungen und nicht nur Ungeschick und Unerfahrenheit sind hinter dem Zurückschrecken vor der Kombination der illegalen und legalen Arbeit, hinter dem Versteck in der Illegalität, hinter der Angst vor einem SichZeigen, ja, einem offenen Auftreten der Partei verborgen. Dadurch, daß die Partei einer Periode reiner Propaganda bereits entwachsen ist und sich in den Plenum-Thesen die Aufgabe gestellt hatte, selbständig, ohne Vermittlung von Tarnorganisationen, Aktionen durchzuführen, ist eine Wendung in der ganzen Taktik der Partei eingetreten, die sich auf die Haltung eines jeden Parteimitgliedes tief auswirkt. Ein Teil der Mitglieder, die noch nicht fähig waren, alle taktischen und organisatorischen Konsequenzen aus dieser Wendung zu ziehen, die also noch nicht verstanden hatten, daß die Sicherheit kommunistischer Grundorganisationen um so größer ist, je breiter sie einen Ring aus wirklich und wirksam mit ihr Sympathisierenden um sich ziehen, schrecken davor zurück, daß die Partei bei den Aktionen ihr Gesicht zeigt; sie bangen um die Entdeckung der Organisationen. Zwei Formen des Zurückschreckens vor den konkreten Aufgaben der Partei verdichten sich damit zu einer rechten Haltung: Ein Teil der Mitglieder versteht es einerseits nicht, die Zelle oder die Fraktion mit dem breiten Ring der mit ihr Sympathisierenden zu umgeben, andererseits haben sie wegen des sich daraus ergebenden Schwächegefühls Angst vor dem eigenen offenen Auftreten. Diese Haltung ist deshalb verwerflich, weil die Par17 Karoly Peyer (1881-1956), führender, mit den Faschisten sympathisierender Gewerkschaftsiührcr (Gewerkschait Jer Bergarbeiter) und Sozialdemokrat, 1919 (unter PciJI)

Innenminister, 1920 (unter HuszDie proletarische Revolution und der Renegat Kautsky• (1918), in: Lenin-Werke, Bd. XXVIII, S. 301. (Hrsg.)

c) Deshalb müssen den Parteimitgliedern die gegensätzlichen Funktionen der bürgerlichen Demokratie sehr genau verständlich gemacht werden. Es muß deutlich unterschieden werden, ob in dieser Demokratie die Bourgeoisie die politisch herrschende Klasse ist, oder ob sie - bei Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Ausbeutung - die Macht wenigstens zum Teil den breiten Massen der Arbeiter überläßt. Im ersten Fall ist eine Funktion der Demokratie, die arbeitenden Massen zu zerstreuen, irrezuführen und zu desorganisieren; im zweiten Fall, die Aufrechterhaltung der politischen und wirtschaftlichen Macht der Bourgeoisie zu untergraben, zu desorganisieren und die arbeitenden Massen zu selbständigem Handeln zu organisieren. Die Kommunisten müssen also im Hinblick auf den Wert oder die Wertlosigkeit der Demokratie die Frage so stellen: Die Macht welcher Klasse wird durch die Demokratie desorganisiert? Hat sie vom Standpunkt der Bourgeoisie her eine konsolidierende oder destruktive Wirkung? (Der »Kampf« der Sozialdemokratie um demokratische Reformen ging immer im Zeichen einer Konsolidierung im Interesse der Vorbeugung einer Revolution vonstatten.) Alle Losungen der demokratischen Diktatur müssen also von diesem Standpunkt aus, vom Standpunkt der Mobilisierung der Massen und der Desorganisierung der Bourgeoisie, beurteilt werden. So z. B. die dann aktuell werdende proletarische Kontrolle der Produktion. Dabei dürfen nicht Illusionen wie die, daß diese Kontrolle auf die Produktion selbst irgendeine >konsolidierende< Wirkung haben könnte, gehegt werden. Die Entlarvung der Sabotage der Bourgeoisie, eventuell nur deren Unterbindung, ist lediglich als Kampf um die Macht, als ein Instrument zur Mobilisierung der Massen von einem gewissen Wert. 4. Wenn wir die demokratische Diktatur als eine konkrete strategische Losung in der heutigen Zeit anwenden wollen, dann müssen wir uns darüber klar sein, was der Nachkriegsimperialismus in seiner jetzigen dritten Periode (eine Feststellung des VI. Weltkongresses) bedeutet und welche Formen die Demokratie im Interesse der Konsolidierung der Macht der Bourgeoisie annimmt. Diese Frage wird in den breiten Massen der europäischen Arbeiter durch die Tatsache verwischt, daß die Demokra-

tie in den meisten europäischen Ländern als ein Ergebnis der bürgerlichen Revolution zustande kam, daß die unterdrückten und ausgebeuteten Klassen Jahrhunderte oder doch Jahrzehnte hindurch zusammen mit der Bourgeoisie um den Sturz des feudalen Absolutismus und um die Erringung einer bürgerlichen Demokratie gekämpft hatten. Deshalb erkennen die Massen die durch den Imperialismus entstandene völlig neue Situation nur schwer, obwohl gleichsam ein Schulbeispiel dieser Situation durch die Demokratie der Vereinigten Staaten von Amerika vor uns steht. Hier ist es der Bourgeoisie als der herrschenden Klasse (die die feudale Macht nicht mit Hilfe von Proletariern und halbproletarischen Massen vernichten mußte) gelungen, solche Formen der Demokratie zu schaffen, in denen alle Möglichkeiten zur freien Entwicklung, zur Akkumulation und zur Ausdehnung des Kapitals gegeben sind und in denen die äußeren Formen einer Demokratie gewahrt bleiben, in denen aber die arbeitenden Massen auf die eigentliche politische Führung überhaupt keinen Einfluß nehmen können. Amerika ist nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch ein Ideal der gegenwärtig herrschenden Bourgeoisie. Die politische Entwicklung großer »abendländischer Demokratien« tendiert in den letzten Jahren immer mehr in die Richtung, eine solche Demokratie in den verschiedensten Abwandlungen zu schaffen. Die Illusionen in den Arbeitermassen, abgesehen von den bereits erwähnten revolutionären Überlieferungen, die besonders in Frankreich lebendig, aber auch in Deutschland wirksam sind, werden durch die Politik der Sozialdemokratie unterstützt. Die Sozialdemokratie, die ihre Kräfte während der unmittelbar auf die russische Revolution folgenden Zeit auf die Agitation gegen die Diktatur des Proletariats konzentrierte, ist bemüht, eine Demokratie nach amerikanischem Typ in allen Staaten Europas aufrichten zu helfen. Diese Einstellung hat sehr ernste wirtschaftliche Ursachen - vom Standpunkt der Arbeiterbürokratie her. Der Nachkriegsimperialismus ist nämlich, besonders wegen der Vorbereitung eines neuen Weltkrieges, jedoch auch wegen des erbitterten Wettbewerbs um den Weltmarkt, gezwungen, den gewerkschaftlichen Kampf vom Typ der Vorkriegszeit, in welcher Form auch immer, nicht mehr zu dulden: d. h. aber die Gewerkschaften zu faschisieren. Diese 310

Paschisierung hat sehr verschiedene Ausdrucksformen. Den einen Typ hat Mussolini geschaffen, der mit Hilfe einer kleinbürgerlichen und mittelbäuerlichen Konterrevolution die alten Gewerkschaften zerschlug und an ihrer Stelle neue aufgebaut hat. Diese Lösung birgt für die Bourgeoisie wie auch für die Arbeiterbürokratie Gefahren in sich. Es kostet die Bourgeoisie große Anstrengungen, die kleinbürgerliche Konterrevolution zur Konsolidierung der Großbourgeoisie zu transformieren; ein Teil der Arbeiterbürokratie verliert seine Positionen in der Arbeiterbewegung (italienische Emigration); jener Teil jedoch, der sich dem faschistischen System anpaßt, stellt sich den Arbeitermassen in gefährlicher Weise entgegen. Bei dieser Lösung scheint sowohl vom Standpunkt der Großbourgeoisie als auch von dem der Arbeiterbürokratie jene Methode günstiger, reibungsloser und ungefährlicher zu sein, die in Deutschland durch das staatliche Schlichtungswesen schon verwirklicht wurde, die in England durch ein Gewerkschaftsgesetz bereits zum Teil in Kraft trat und die zu krönen der »Mondismus« berufen ist24. Es ist klar, daß der Klasseninhalt beider Systeme, was das Proletariat angeht, der gleiche ist. Nur die Methoden sind verschieden. Dieser Unterschied in den Methoden bedeutet freilich, daß in jedem faschistischen Staat andere Schichten die Gewalt ausüben, d. h. an dieser Gewalt in verschiedenem Maße beteiligt sind. Auf Grund dieser Situation wird verständlich, daß die gesamte internationale Sozialdemokratie heutzutage die Frage so stellt: Demokratie oder Faschismus? Durch diese Fragestellung verdeckt sie vor den Arbeitern die wirklichen Klassenziele der im gegenwärtigen Imperialismus möglichen Demokratie und unterstützt die Unterdrückung der Klassenkämpfe, die institutionelle Verhinderung der Lohnkämpfe, die Faschisierung der Gewerkschaften, das Hineinwachsen der Sozialdemokratie und der 24

Lukacs bezieht sich fiir Deutschland auf die Verordnung ~bcr das Schlichtungs-

wesen vom 30. Oktober 1923, für England auf den im Jahre 1927 von der Regierung erlassenen „Trade-Disputes and Trade-Unions Act«, »Mondismus« ist eine sozialpolitische Bewegung mit dem Ziel einer Arbeitsgemeinschaft zwischen Unternehmern und Gewerkschaften. Sie erhielt ihren Namen nach dem englischen Groß-

industriellen unRepublik• war die zentrale Parole der MSZMP. Sie spielte eine Rolle im Obergangsprogramm, das nach dem V. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (nach Entsendung Rakosis nach Ungarn) formuliert und auf dem ersten Kongreß der KPU angenommen worden war, vgl. Deszö Ncmes, Der Kampf der Kommunistischen Partei Ungarns vom August 1919 bis zum Herbst 1929 (ung.), Budapest 1954, S. 72, S. 81. (Hrsg.)

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ungestörten und reibungslosen Macht des Großgrundbesitzes und des Großkapitals ist, so lange repräsentiert der Kampf um die Republik für die breiten Massen auch den Kampf um sämtliche Freiheitsrechte, um Vereinigungs-, Versammlungs-, ja um Streikrecht usw. Bei der Propagierung dieser Losung darf sich kein Kommunist durch die sog. republikanische Propaganda der Sozialdemokratie irreführen lassen. Im Gegenteil: Es muß darauf hingewiesen werden, daß die Losung der Republik für die Sozialdemokraten nichts anderes bedeutet als eine Abschirmung des Legitimismus, als eine Wachhund-Rolle den Faschisten der kleinbürgerlichen Albrecht-Partei gegenüber. Natürlich darf die Partei die republikanische Losung auch künftig nicht isoliert prägen. Die republikanische Losung kann nur als ein Kampf um die ganze Demokratie, um die Republik, an deren Spitze die Regierung der Arbeiter- und Bauernschaft steht, als ein Kampf gegen die demokratische Liquidierung der Demokratie, als eine Verwirklichung der Losung »Klasse gegen Klasse«, als eine Mobilisierung zum Kampf um die demokratische Diktatur eine Rolle spielen. (Diese Stellungnahme hinsichtlich der Republik ist jedoch nur gültig, solange die Union des Großgrundbesitzes und des Großkapitals ein legitimes Königtum bejaht. Wenn sie dies - aus außenpolitischen Gründen - aufgeben und eine Republik der Bourgeoisie vom deutsch-österreichischen Typ verwirklichen würde, dann müßte die KPU, ohne an ihrer strategischen Richtlinie etwas zu ändern, ihre taktischen Losungen revidieren.) 7. Dieser Kampf für die Arbeiter muß in engstem Zusammenhang mit den im strengsten Sinne verstandenen Arbeiterforderungen geführt werden. Es muß aufgezeigt werden, daß im Mittelpunkt des ganzen demokratisierten Faschismus eine Senkung des Lebensstandards der Arbeiterschaft und die Liquidierung des Streikrechts stehen. Der Kampf um die demokratische Diktatur muß also in stetem Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Faschisierung und das staatliche Schlichtungswesen den Arbeitern eingehämmert werden. In diesem Kampf muß freilich auf die praktische Bedeutung aller demokratischen Freiheitsrechte (Vereinigungs- und Versammlungsrecht, Pressefreiheit usw.) für den täglichen Klassenkampf der Arbeiter hingewiesen, der

Kampf um die Bewegungsfreiheit der Arbeiter in den Betrieben aufgenommen (Vertrauenssystem, Betriebsausschuß), die Praxis des Regimes gegen jegliche Bewegung der Arbeiterschaft (Deportationen, die Rolle der Polizei, Streiks der Berg- und Landarbeiter usw.) entlarvt werden, mit einem Wort: Der Kampf um die bürgerlichen Freiheitsrechte muß mit den täglichen Bedürfnissen der Arbeiter verbunden werden. Gerade im Hinblick auf diese täglichen Fragen muß eine Entlarvung des sozialdemokratischen Verrats, der organischen Anpassung der Sozialdemokratie an den demokratisierten Faschismus, vorgenommen werden. So sehr aber auch gegen jeden Nihilismus gekämpft werden muß, der sich in den bürgerlichen Freiheitsrechten offenbart, so sehr muß immer der vom Standpunkt der Arbeiterschaft aus relative Wert der Demokratie - in der bürgerlichen Gesellschaft, also auch in der demokratischen Diktatur - in den Vordergrund gestellt werden. »Zwischen Unterdrücker und Unterdrückten, zwischen Bourgeois und Proletarier kann es keine Gleichheit geben (Lenin27).« Die vollkommenste Verwirklichung der bürgerlichen Demokratie beseitigt eine Ausbeutung der Arbeiterschaft noch lange nicht. 8. Die Eigentümlichkeit der ungarischen Entwicklung ist, daß die feudale Form der Verteilung des Grundbesitzes neben dem verhältnismäßig entwickelten und sich weiter entwickelnden Kapitalismus unverändert bleibt, daß sie sich sogar durch die Reform des Grundbesitzes28 eher verschlechtert als verbessert hat. Obwohl sich einzelne Mitglieder der herrschenden Klassen, die sich über den Gentry-Provinzialismus erhoben, darüber klar sind, daß der gegenwärtige Zustand der Verteilung des Grundbesitzes den Keim einer Bauernrevolution in sich trägt, und, um dieser vorzubeugen, über die Möglichkeit einer neuen Boden27 Vgl. den Abschnitt •Kann es Gleichheit zwischen dem Ausgebeuteten und dem Ausbeuter geben?~ in Lenins •Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky«, a. a. 0., S. 2~8 ff. (Hrsg.) 28 Die erste Bodenreform datiert vom März/April 1919. Jeder Grundbesitz, der über 100 Joch (57 ha) hinausging (= etwa 50'/o der Gesamtfläche), wurde enteignet, Jie enteigneten Güter in landwirtschaftlidie Produktionsgenossenschaften umgewandelt. Eine zweite Neuverteilung des Grundbesitzes erfolgte, nach dem Zusammenbruch der R:.itediktatur, im Jahre 1920. Beide Reformen hilben an der feudalen Agrarstruktur Ungarns de facto nichts geändert. (Hrsg.) 31 7

reform reden, ist es objektiv unmöglich, daß sich die Verteilung des Grundbesitzes durch Reformen auch nur geringfügig ändert, da Grundbesitz und Großkapital immer enger zusammenwachsen. Die Mittelbauern und noch mehr die unteren Schichten der Bauern haben keine Parteien. Die städtischen kleinbürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie folgen auch in dieser Hinsicht vorbehaltlos dem Großkapital. Also auch hier bleibt die KPU die einzige Partei, die die konsequente Durchführung der Forderungen der bürgerlichen Revolution auf ihre Fahne schreibt: entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes, revolutionäre Besetzung des Bodens, freier Boden für die Bauern! Ohne konsequente Propaganda, ohne entschlossenen Kampf im Interesse seiner Verwirklichung bleibt der Bund der Arbeiter und Bauern, die demokratische Diktatur, nur eine leere Phrase. Die KPU muß alles daran setzen, für dieses Programm immer breitere Schichten der Landarbeiter und der armen Bauern zu gewinnen. Sie muß deshalb auch die Schichten der Arbeiterschaft heranziehen, die ihre Beziehungen zum Lande noch nicht verloren haben. Sie muß durch den regelmäßigen und organisierten Aufbau der Beziehungen zu den Landarbeitern versuchen, in den unteren Schichten des Dorfes Wurzel zu schlagen. Im Interesse der Rückgewinnung des Vertrauens der Bauernschaft, die durch die Konterrevolution enttäuscht worden ist, muß die Partei eine schonungslose Selbstkritik der fehlgeschlagenen Agrarpolitik während der Diktatur des Proletariats üben. Ohne alle Umschweife muß gesagt werden, daß die Partei ihren Standpunkt, den sie während der Diktatur eingenommen hatte, geändert hat. In der Partei muß jedem einzelnen klargemacht werden, daß es sich hierbei um eine entscheidende strategische Frage der Partei handelt: um die unvermeidliche Voraussetzung der Eroberung der Macht und der Befreiung des Proletariats. Es darf also nicht die Meinung aufkommen, daß dies »noch kein Sozialismus« ist, daß die Interessen der Aufrechterhaltung der Produktion und der Versorgung der Arbeiterschaft eine andere Politik brauchen usw. Alle Parteimitglieder müssen verstehen, daß es sich hier um eine grundlegende Frage des Übergangs von der bürgerlichen Revolution zur Revolution des Proletariats handelt, daß die Macht des Großgrundbesitzes und des Groß-

kapitals in Ungarn nur durch eine solche Revolution vernichtet und die Überreste des Feudalismus nur durch die Beseitigung des Kapitalismus ausgerottet werden können.

D. Losungen und unmittelbare Aufgaben der Partei 30. Den oben skizzierten Interpretationen und Aufgaben entsprechend orientiert sich die Tätigkeit der KPU an folgenden Losungen: a) Kampf um den Sturz des Bethlen-Regimes. Kampf gegen jegliche Pseudo-Opposition des Bethlen-Regimes wie auch gegen die bürgerliche und sozialdemokratische Pseudo-Opposition. Kein Pakt mit der Bourgeoisie: Klasse gegen Klasse - es lebe der Bund der Arbeiter und Bauern. Kampf gegen die Verwirklichung des Faschismus in demokratischem Rahmen. Kampf gegen die die Arbeiter irreführende Losung: »Demokratie oder Faschismus«. Kampf gegen die Sozialdemokratie als eine Hauptstütze des Faschismus. Kampf um allgemeine Freiheit, die die Bewegungsfreiheit der Arbeiterschaft sichert (Vereinigungs- und Versammlungsrecht, Pressefreiheit und Streikrecht). Kampf um die Zusammenballung dieser Freiheitsrechte: um eine Republik, mit einer Regierung der Arbeiter und Bauern an der Spitze. Kampf um die demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern. Kampf um die Diktatur des Proletariats. Kampf um die revolutionäre Besetzung des Bodens durch die armen Bauern und um die entschädigungslose Konfiszierung allen Großgrundbesitzes über 100 Morgen. Freier Boden für die Bauern. b) Kampf um die klassenkämpferische Einheit der Arbeiterbewegung. Kampf gegen die Teilung und den Zerfall der Arbeiterbewegung, gegen die die Parteiorganisation zersetzende Politik der Bürokratie. Verteidigung des klassenkämpferischen Charakters der Gewerkschaften in den alten Gewerkschaften - und falls nötig, auch außerhalb - gegen die Bürokratie. Bei der Verteidigung des klassenkämpferischen Charakters der Gewerkschaften dürfen unsere Hände durch die gewerkschaftlichen Grundregeln nicht gebunden sein.

Verteidigung der Gewerkschaften gegen den Faschismus gegen die Bethlen-Regierung und die ihr verbündete Bürokratie. Liquidierung der versöhnlerischen Kritik. Der finanziellen Lage der Arbeiterschaft kann nur das Zu-Ende-Führen des Klassenkampfes Abhilfe schaffen. Acht-Stunden-Arbeitszeit. Friedensreallohn29. Arbeitslosenunterstützung. Kampf gegen die Rationalisierung. Die Frage des Klassenkampfes ist die Frage der gesamten Arbeiterklasse. Einschaltung der Unorganisierten in die Lohnkämpfe. Einschaltung der Unorganisierten in die klassenkämpferischen Gewerkschaften. »Unpolitisch-Sein« tötet auch den wirtschaftlichen Kampf. Die »politikfreie« berufliche Voreingenommenheit oder der Syndikalismus führt die Arbeiter zum Faschismus. Politisierung der Wirtschaftskämpfe. Solidarität aller streikenden Arbeiter. Kampf gegen die Streikbrecher. Kampf gegen den Staat, der die Streikbrecher unterstützt, die Streikmöglichkeit einschränkt und das Streikrecht unterdrückt. Kampf gegen die Faschisten. Kampf um die Straße. Der Betrieb ist die Burg der klassenkämpferischen Arbeiter. Vertrauenss;ystem, Betriebsausschüsse, betriebliche Lohnbewegungen entgegen dem Willen der Bürokratie: gegen die von der Bürokratie geleiteten Gewerkschaften. Die Grundlage zur klassenkämpferischen Organisierung ist der Betrieb. Propaganda für die Verwirklichung des Gedankens einer Industrie-Union (Betriebskassierer). Es lebe die VSZJ30. Verbreitung der Ideologie der VSZI. Anschlußversuch an die VSZI. c) Das Bethlen-Regime führt Ungarn in den Krieg. Der Feind befindet sich nicht außerhalb, sondern unter uns. Keine regionale Integrität. Kampf der revisionistischen Hochstapelei. Die Befreiung der Nationen kann nur durch die internationale Revolution des Proletariats erreicht werden. Die sozialdemokratische Partei ist die kriegerische Reserve des Bethlen-Regimes. Die sozialdemokratische Partei ist die Reserve 29 Unter >Friedensreallohn« wird der Reallohn im Jahre 1913 verstanden. (Red.) 30 = Vörös Szakszervczeti lnternacion:l.lC (Rote Gewerkschafts-Internationale, Profiatern). (Red.)

po

des Zentrums als »Opposition«. Weg mit Peyer und Jenö Kis, den Fürsprechern der Bethlenschen Kriegspolitik. Das Bethlen-Regime bereitet den Krieg gegen die Sowjetunion vor. Die Sowjetunion muß gegen den Angriff der Imperialisten verteidigt werden. Macht den Krieg zum Bürgerkrieg. Arbeiterund Bauernsoldaten wechselt in die Rote Armee der Sowjetunion über. Nieder mit den pazifistischen Illusionen. »Der Friede« des Völkerbundes ist - die Vorbereitung eines Krieges gegen die Sowjetunion. Der »radikale« Pazifismus ist eine Täuschung der Arbeiter. Sie glauben, daß man dem Krieg im letzten Augenblick zuvorkommen kann. (Dies ist jedoch weder mit Boykott noch mit allgemeinem Streik möglich.) Aufhören mit dem Boykott der Armee. Hinein in die Armee. Hinein in die Levente3t. Hinein in die Munitionsbetriebe, zur Eisenbahn, zur Post und in das Telegrafenbüro. Hinein in alle zum Krieg notwendigen Organisationen, um diese zu desorganisieren, um die Waffen und die Kriegsmittel der Bourgeoisie gegen sie zu wenden. Agitation unter den Soldaten. (Es müssen Forderungen ausgearbeitet werden.) 3 r. Die hier aufgezählten Losungen und Aufgaben der KPU stellen in größerem Maße als bisher die Grundorganisationen der Partei, die Betriebszellen, in den Mittelpunkt der politischen Arbeit; sie machen die Politisierung der Zellen zur grundlegenden Aufgabe. Auf welche »Arbeitsgebiete« auch immer die Losungen der KPU sich beziehen, sie bilden ein einheitliches System und können isoliert den Arbeitern nicht klargemacht, und noch viel weniger können die Arbeiter nur für einzelne Losungen in den Kampf geführt werden. Die reale Grundlage dieser Einheit ist: das Leben des Arbeiters, seine täglichen Probleme. Nur so können diese Losungen wahrhaft ins Blut der Arbeiter eingehen. Die Aufgabe der Zelle ist es also, alles, was im Betrieb geschieht, die aktuellen konkreten Probleme des Betriebes, zu erfassen, mit der Gesamtlage der Arbeiterklasse, das heißt 31 = Ehemalige staatliche Jugendorganisation 14- bis 18jähriger mit vormilitiirisd1cr Ausbildung. (Hrsg.)

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mit ihrer Befreiung in Zusammenhang zu bringen. Durch die Anpassung an eine solche Entwicklung und durch die Verallgemeinerung der konkreten, täglichen Betriebsprobleme, durch die Anpassung an nationale und internationale Maßstäbe muß den Arbeitern über die Isolierung des Betriebskampfes, über den spontanen und engen Rahmen der Methode dieses Kampfes hinweggeholfen werden, ohne dabei die Beziehung zu den konkreten Tagesproblemen zu verlieren. Der Betrieb soll unsere Burg werden32. Der Betrieb ist der Ausgangspunkt unserer Strategie. Alle Kämpfe, die gesamte Massenarbeit der KPU (durch die Fraktionen) können nur dann erfolgreich sein, wenn ihr Fundament aus der Grundlage des Arbeiterlebens und des Klassenkampfes, d. h. aus dem Leben der Arbeiter im Betrieb, besteht.

32 Offenbar in Anlehnung an Lenin: »Jeder Betrieb sei unsere Burg«, vgl. korr, 5. Jg„ Nr. 117 (1925). (Hrsg.)

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lnpre~

15.

Mein Weg zu Marx (1933) in: Georg Lukacs zum siebzigsten Geburtstag, Berlin r9 55, S. 22 5 bis 23I. Ursprünglich in: Internationale Literatur, 3. Jg., Heft 2 ( 1933), S. r78 ff.

Die Beziehung zu Marx ist der wirkliche Prüfstein für jeden Intellektuellen, der die Klärung seiner eigenen Weltanschauung, die gesellschaftliche Entwicklung, insbesondere die gegenwärtige Lage, seine eigene Stellung in ihr und seine Stellungnahme zu ihr ernst nimmt. Der Ernst, die Gründlichkeit und die Vertiefung, die er dieser Frage widmet, geben den Maßstab dafür ab, ob und wieweit er einer klaren Stellungnahme zu den welthistorischen Kämpfen der Gegenwart - bewußt oder unbewußt - ausweichen will. Die biographische Skizze der Beziehung zu Marx, des geistigen Ringens mit dem Marxismus ergibt also jeweils ein Bild, das als Beitrag zur sozialen Geschichte der Intellektuellen in der imperialistischen Periode ein gewisses Allgemeininteresse hat, auch wenn - in meinem Fall - die Biographie selbst keinerlei Anspruch auf ein Interesse der Öffentlichkeit erheben kann. Meine erste Bekanntschaft mit Marx (mit dem »Kommunistischen Manifest«) machte ich am Ende meiner Gymnasiastenzeit. Der Eindruck war außerordentlich groß, und als Student habe ich dann mehrere Schriften von Marx und Engels (so den »I8. Brumaire«, den »Ursprung der Familie«) gelesen und insbesondere den ersten Band des »Kapital« durchstudiert. Dieses Studium überzeugte mich sogleich von der Richtigkeit einiger Kernpunkte des Marxismus. In erster Linie war ich von der Mehrwertlehre, von der Auffassung der Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen und von der Klassengliederung der Gesellschaft beeindruckt. Indessen, wie dies bei einem bürgerlichen Intellektuellen sehr naheliegend ist, beschränkte sich dieser Einfluß auf Ökonomie und vor allem auf »Soziologie«. Die materialistische Philosophie, wobei ich damals keinen Unterschied zwischen dialektischem und nichtdialektischem Materialismus machte, hielt ich erkenntnistheoretisch für völlig überwunden. Die neukantische Lehre von der »Immanenz des 323

Bewußtseins« paßte ausgezeichnet zu meiner damaligen Klassenlage und Weltanschauung. Ich unterzog sie auch gar keiner kritischen Prüfung und akzeptierte sie widerstandslos als Ausgangspunkt einer jeden erkenntnistheoretischen Fragestellung. Zwar hatte ich stets Bedenken gegen den extremen subjektiven Idealismus (sowohl gegen die Marburger Schule des Neukantianismus1 wie gegen den Machismus 2 ), indem ich nicht einzusehen vermochte, wie die Frage der Wirklichkeit einfach als immanente Kategorie des Bewußtseins abzuleiten sei. Dies führte jedoch nicht zu materialistischen Konsequenzen, sondern, im Gegenteil, zu einer Annäherung an jene Schulen der Philosophie, die diese Frage irrationalistisch-relativistisch, manchmal ins Mystische hinüberschillernd, lösen wollten (Windelband-Rickert, Simmel, Dilthey). Der Einfluß Simmels, dessen persönlicher Schüler ich gewesen bin, gab mir auch die Möglichkeit, das, was ich mir von Marx in dieser Periode aneignete, in eine solche Weltanschauung »einzubauen«. Die »Philosophie des Geldes« von SimmeP und die Protestantismusschriften von Max Weber 4 waren meine Vorbilder zu einer »Literatursoziologie«, in der die notwendigerweise verdünnten und abgeblaßten Elemente aus Marx zwac noch vorhanden, aber kaum erkennbar waren. Ich löste nach Simmels Vorbild die »Soziologie« einerseits von der sehr abstrakt aufgefaßten ökonomischen Grundlage möglichst 1 Unter Marburr,~r Schule ist - im Gcgc:1sarz zur si.idwC'stdcutsd1cn (Rickert/Windclband) - die von Hermann Cohcn und P.~·.:l 0fat0rp bcgri.indete Sdwle des Neukantianismus zu verstehen. Die Marburr,er Schule wie überhaupt der Kcuk:rnti:rnismus richtete sich gegen den hegclianisrhen und Jen positivi~tischcn Materialismus gleidtermaßcn. Cohen wie N atorp vcrsud1tcn, den Kritizismus Kants mit der modernen Logik zu verbinden. Im Rahmen dc:r Ethik wollte besondcn; Natt•rp Kants Ethik auf (lic soi"ialen Probleme der bür~erlichen Gcscllsd1aft des au.o:;~chendca I'.). Jahrhunderts anwenden. (Hrsg.) 2 Machismus ist die von Leni·1 und dem Leninismus mit abwertendem Akzent versehene Bczeidrnung für die Lehre des Physikers und Philo~0phl·n Ernst 11ach (1838-1916). Für Mach, der auf den Neupositiv!smus wirkte, war die Wissenschaft »Denkökonomie«. Sie hat die Aufgabe der Ordnung von Erfahnmgstatsachcn. Tatsachen jedoch sind fiir 1tadl nur die Empfindungen. Hauptwerk: i.Die Ana1yse der Empfindungen« (1886). (Hrsg.) 3 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, I. Aufl., Leipzi~; 1900; 2. verm. Aufl., Leipzig 1907. (Hrsg.) 4 Max Webers :.Die protestantische Ethik und der >Geist< des Kapira1ismusc enchic11 1905 im •Archiv für Sozialwissensd1aft und Sozidpolitik4( (Bd. XX, S. 1 ff.; Bd. XXI, S. 1 ff.). (Hrsg.)

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los, andererseits erblickte ich in der »soziologischen« Analyse nur ein Vorstadium der eigentlichen wissenschaftlichen Untersuchung der Ästhetik (»Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas« 1909 5 ; »Methodologie der Literaturgeschichte« l9ro; beide ungarisch). Meine zwischen 1907 und 191 l erschienenen Essays6 schillerten zwischen dieser Methode und einem mystischen Subjektivismus. Es ist klar, daß bei einer solchen weltanschaulichen Entwicklung die Jugendeindrücke aus Marx immer mehr verblassen und eine immer kleinere Rolle in meiner wissenschaftlichen Tätigkeit spielen mußten. Ich hielt nach wie vor Marx für den kompetentesten Okonomen und »Soziologen«; aber Okonomie und »Soziologie« spielten vorübergehend eine geringere Rolle in meiner damaligen Tätigkeit. Die Einzelprobleme und Phasen jenes Entwicklungsganges, in dem dieser subjektive Idealismus mich in eine philosophische Krise führte, sind für den Leser uninteressant. Diese war aber - mir freilich unbewußt - vom erstarkten Hervortreten der imperialistischen Gegensätze objektiv bestimmt und wurde durch den Ausbruch des Weltkriegs beschleunigt. Vorerst zeigte sich diese Krise allerdings bloß im Übergang vom subjektiven Idealismus zum objektiven Idealismus (»Theorie des Romans«, geschrieben 1914-1915 7 ). Und natürlicherweise gewann damit Hegel - insbesondere die »Phänomenologie des Geistes« - eine wachsende Bedeutung für mich. Mit dem mir immer klarer werdenden imperialistischen Charakter des Krieges, mit der Vertiefung meiner Hegelstudien, wobei auch Feuerbach, allerdings damals bloß von der Seite des Anthropologismus, herangezogen wurde, beginnt meine zweite intensive Beschäftigung mit Marx. Diesmal standen die philosophischen Schriften der Jugendzeit im Vordergrund meines 5 »A modern cldma fejlödtsCnek törtenctc«

(190'.)) ist erstmals

in zwei Bänden in

Budapest 1911 erschienen; das Einleitungskapitel zu diesem Werk wurde 1909 in Budapest unter dem Titel "»A dnl.ma form.i.ja« veröffentlicht. (Hrsg.) 6 Als wichtigste Arbeiten aus dieser Periode seien außer den genannten angeführt: i.Die Seele und die formen. Essays« (Berlin 1911); »Esztcfrikai kultUra« (Budapest 1913);

S.

Ȇber Sehnsucht und Form(< (in: Die Neue Rundschau, 22.

Jg.

[1911],

ff.). (Hrsg.) 7 In Deutschland erstmals vcröffcntlidn in der •Zeitschrift für lisrhctik und All-

192

gclllcine Kunstwissenschaft« (u. Jg. [1916]), als Buch 1920 ersdJ.iencn. (Hrsg.)

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Interesses, obwohl ich auch die große »Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie« eifrig studierte. Diesmal war es jedoch ein Marx, nicht mehr durch die Simmelsche, wohl aber durch eine Hegelsche Brille gesehen. Nicht mehr ein Marx als »hervorragender Einzelwissenschaftler«, als Ökonom und Soziologe. Es »dämmerte« mir bereits der umfassende Denker, der große Dialektiker. Allerdings sah ich auch damals noch nicht die Bedeutung des Materialismus für die Konkretisierung und Vereinheitlichung, für das Konsequentmachen der Probleme der Dialektik. Ich kam nur bis zu einer - Hegelschen - Priorität des Inhalts vor der Form und versuchte, wesentlich auf Hegelscher Grundlage, Hegel und Marx in einer »Geschichtsphilosophie« zu synthetisieren. Eine besondere Nuance erhielt dieser Versuch dadurd1, daß in meinem Heimatland, in Ungarn, die einflußreichste »linkssozialistische« Ideologie der Syndikalismus Ervin Szab6s8 gewesen ist. Seine syndikalistischen Schriften gaben meinen »geschichtsphilosophischen Versuchen« neben manchem Wertvollen (zum Beispiel der Vermittlung der »Kritik des Gothaer Programms«, die ich durch ihn kennengelernt habe) eine starke abstrakt-subjektivistische und darum ethisierende Note. Als akademischer Intellektueller von der illegalen Arbeiterbewegung abgetrennt, habe ich während des Krieges weder die Spartakusschriften9 noch die Kriegsschriften von Lenin!O je zu Gesicht bekommen. Ich las - mit starker und dauernder Wir8 Ervin Szab6 (1877-1918), der theoretische Kopf des linken Flügels der ungarischen Sozialdemokratie, Soziologe und Historiker, Mitbegründer der Budapester Soziologischen Gesellschaft (:..T3.rsadalomtudom:lnyi Tarsadg«), seit 1911 Direktor

der St;1>Ürganisationsfragen der russischen Sozialdemokratie« (in: Die Neue Zeit, 22. Jg., 2. Halbbd. (1903-04), S. 484 ff., S. 529 ff.). (Hrsg.) 12 W. l. Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, in: Lenin-Werke, Bd. XXV, S. 393 ff.; gesdtrieben August-September 1917; erstmals veröffentlidtt (russ.) 1918, in erweiterter Form 1919. (Hrsg.) 13 Vgl. in der vorliegenden Ausgabe Text 5, S. 123 ff. (Hrsg.) 14 Vgl. in der vorliegenden Ausgabe Text 8, S. 149 ff. (Hrsg.) 15 Vgl. in der vorliegenden Ausgabe Text 2, S. 41 ff.; Text 4, S. 82 ff. (Hrsg.)

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Erst die aus langjähriger Praxis hervorgegangene Verwachsenheit mit der revolutionären Arbeiterbewegung, erst die Möglichkeit, die Werke Lenins zu studieren und sie - allmählich - in ihrer grundlegenden Bedeutung zu begreifen, leiteten die dritte Periode in meiner Beschäftigung mit Marx ein. Erst jetzt, nach fast einem Jahrzehnt der praktischen Arbeit, nach sicher über einem Jahrzehnt des theoretischen Ringens mit Marx, ist mir der umfassende und einheitliche Charakter der materialistischen Dialektik konkret klar geworden. Aber gerade diese Klarheit bringt die Erkenntnis mit sich, daß das wirkliche Studium des Marxismus erst jetzt anfängt und nie zur Ruhe kommen kann. Denn, wie Lenin so treffend sagt, »die Erscheinung ist reicher als das Gesetz ... und darum ist das Gesetz, jedes Gesetz, eng, unvollständig, annähernd«t6. Das heißt: jeder, der sich einbildet, auf der Grundlage einer noch so weiten, breiten und tiefen Erkenntnis des dialektischen Materialismus die Erscheinungen von Natur und Gesellschaft ein für allemal begriffen zu haben, muß notwendig aus der lebendigen Dialektik in mechanische Starrheit, aus dem umfassenden Materialismus in idealistische Einseitigkeit zurückfallen. Der dialektische Materialismus, die Lehre von ·Marx, muß täglich, stündlich neu an der Hand der Praxis erarbeitet, angeeignet werden. Andererseits bildet die Lehre von Marx gerade in ihrer unangreifbaren Einheit und Totalität die Waffe zur Führung der Praxis, zur Bewältigung der Erscheinungen und ihrer Gesetze. Wird nur ein Glied aus dieser Totalität herausgelöst (oder bloß vernachlässigt), so entsteht wiederum Starrheit und Einseitigkeit; verfehlt man bloß die Proportion der Momente untereinander, so kann man wiederum den Boden der materialistischen Dialektik unter den Füßen verlieren. »Denn jede Wahrheit kann«, sagt Lenin, »wenn man sie übertreibt, wenn man die Grenzen ihrer Geltung überschreitet, zur Absurdität werden, ja sie muß unter solchen Umständen unvermeidlich zur Absurdität werden17.« Es sind über dreißig Jahre vergangen, seit ich als Knabe das 16 W. I. Lenin, „Konspekt zu Hegels >Wissenschaft der Logiklinke RadikalismusKants Kritik der Urteilskraft I« (1923) sowie seine »Studien zur deutschen GeistesgeschichteHoradter«, in: ders., Das ausgewählte Werk. Kritisch durchgesehene Ausgabe, besorgt von K. Hoppe, Bd. III, Berlin 1954, S. 601. (Hrsg.)

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liehen Grundlagen des preußischen Geistes und seines notwendigen historischen Verfaulungsvorgangs zeigt klar: Nur ein demokratisches Deutschland kann hier für das deutsche Volk die Gesundung bringen. Aber Kritiker, die vor allem den preußischen Geist angreifen, sind doch auf dem richtigen Weg. Denn zur Gesundung genügen die formalen Institutionen der Demokratie nicht; auch der Geist der Demokratie muß gegen den Geist des Preußentums auf allen Gebieten des menschlichen Lebens zur Wiederkehr der Humanität in Deutschland mobilisiert werden. Es ist eine der wichtigsten Lehren der Weimarer Republik, daß eine Republik ohne Republikaner in dieser Frage keinen Ausweg zeigen kann. Ebensowenig Hoffnung kann eine Wiedergeburt des alten Weimar begründen. Wirtschaftlich und sozial und damit auch politisch und kulturell ist Deutschland längst geradeso über den alt-weimarischen wie über den preußischen Rahmen hinausgewachsen. Wir haben gezeigt, daß die Überreste des kleinstaatlich-partikularistischen Elements als magnetischer Südpol des preußischen Nordpols während der ganzen Entwicklung vorhanden waren; sie mußten deshalb den Verfaulungsprozeß des Preußentums mitmachen. Man könnte mit einer gewissen notgedrungenen Übertreibung sagen, daß keine solche Erneuerung des alten Deutschland notwendig ist, denn sie war als anarchistische Romantik, als im Individuum lebende, ästhetisch-moralische »Faszination der Verwesung« immer vorhanden. Nur trat an die Stelle eines Arnim oder Brentano - Hanns Heinz Ewers, an die von Kleist - Wildenbruch, an die von Novalis oder Schelling - Spengler oder Keyserling. Freilich war das ein »Weimar« ohne Goethe und Hegel. Und das nicht zufällig. Denn was an Weimar weltgeschid1tlich bleibend war, entstand im ständigen Kampf gegen das von uns skizzierte falsme Dilemma der deutschen Entwicklung. Viele große Vertreter dieses »tertium datur« mußten mit Georg Forster und Georg Büchner, mit Heinrich Heine und Karl Marx schon in viel älteren Zeiten aus der Emigration für die demokratische Erneuerung Deutschlands kämpfen. Das taten jüngst unter erschwerten Bedingungen nam Ausmaß ihrer Kräfte die antifaschistismen deutschen Schriftsteller. 352

Erst wenn es in Deutschland eine zeitgemäße demokratische Grundlage des gesellschaftlichen Lebens gibt, erst wenn aus der eigenen Geschichte, aus den eigenen - vorhandenen, jedoch begrabenen - Traditionen eine deutsche demokratische Kultur herauswächst, kann wieder in einer für das deutsche Volk fruchtbaren Weise an die ewig wertvollen Seiten Weimars allgemein angeknüpft werden. Bis dahin bleibt dieses Erbe ein bloßes Waffenarsenal der Kämpfer gegen die deutsche Misere in ihrer blutigsten und schmutzigsten, barbarisch-diabolischen Form. Das alte Preußen war ein Zersetzungselement des auch sonst zerfallenden »Heiligen Römischen Reichs Deutsd1er Nation«, Bismarcks Preußen ein fauler Kompromiß zwischen wirtschaftlicher Modernisierung und politisch-sozialem Rückschritt in der deutschen Entwicklung mit einer modernisierten pseudodemokratischen und pseudoparlamentarischen Fassade. Hitlers Preußen war die akute und ekelhafte, die ganze Welt verpestende Eruption aller seit Jahrhunderten angesammelten Krankheitskeime der deutschen Entwicklung. Soll dieser Infektionsherd nicht das deutsche Volk endgültig vergiften, soll er nicht eine ständige Gefahr für die Weltzivilisation bedeuten, so ist eine Umkehr des deutschen Volkes im Sinne der Überwindung des falschen Dilemmas, im Sinne des demokratischen »tertium datur« der einzig gangbare Weg.

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17.

Schicksalswende ( 1944) aus: Schicksalswende. Beiträge zu einer neuen deutschen Ideologie, 2. verb. Aufl., Berlin 1956, S. 1]4-150.

Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Schiller

Peripetie ist seit Aristoteles ein Hauptbegriff der Dramaturgie. Er bezeichnet den Punkt des tragischen Umschlags, den Gipfelpunkt der dramatischen Handlung, der Taten des Helden, zugleich den Punkt, an dem Zusammenhang und Widerspruch zwischen Zentralfigur und tragischem Schicksal sinnfällig zum Ausdruck gelangen. Aristoteles verknüpft die Peripetie mit der Erkennungsszene, in der sich der »Umschlag von der Unkenntnis zur Kenntnis« im Helden vollzieht. Einflußreiche Richtungen des modernen Dramas, vor allem Ibsen, haben die dramatische Form ganz auf die Peripetie konzentriert. Ihre Handlung ist im wesentlichen eine Analyse: das Herausschälen des Wesens aus dem Trug und Betrug der Oberfläche des Alltags. Was am Ende als Ergebnis erscheint, ist also in der objektiven Wirklichkeit schon längst vorhanden. Die Handlung reißt nur die Hüllen ab, die das Wesen verdecken. Diese Form hat man oft als künstlich bekrittelt. Die Ereignisse des Lebens zeigen aber, daß sich in ihr eine tiefe Wahrheit des geschichtlichen Ablaufs zum Symbol verdichtet. In einem bestimmten Sinne haben wir immer gewußt, was Hitler vorstellt. Die Bestialität seiner politischen Methoden trat bereits vor seiner Machtergreifung in den viehischen Arbeitermorden in Potempa und anderswo klar ans Tageslicht. Die Konzentrationslager, die Bücherverbrennungen, die Gleichschaltung haben in der Regierungspraxis gezeigt, was die Schriften von Hitler und Rosenberg im voraus programmatisch festsetzten. Aber heute sehen wir, daß unser Wissen um diese Dinge unvollständig war. Nicht nur im quantitativen Sinne, insofern, als wir nidlt alle Untaten kannten, sondern auch in bezug auf das 354

Wesen des Hitlerismus: auf die Tiefe der Vergiftung des deutschen Volkes, auf das allumfassend Teuflische dieser Maschinerie. Die Welttragödie dieses Krieges hat einen Ibsenschen Ablauf: Jeder Schritt, den Hitler machte, enthüllte auch das Wesen seiner Tätigkeit in der Vergangenheit. Jeder Anfangserfolg, jede spätere Niederlage vervollkommneten diesen Enthüllungsvorgang. Hitler hat sich während seiner Herrschaft über Teile der Sowjetunion grausige Denkmäler aus Blut und Schmutz errichtet. Dennoch bedeuten die Vorgänge in Lublin, dem Vernichtungslager der SS, eine Peripetie in diesem Geschehen. Nur scheinbar haben wir hier eine quantitative Steigerung der Hitlerschen Untaten vor uns. Denn wir wußten längst, wie viehisch die Nazis überall hausten. Unzählige Dokumente und Prozeßberichte geben dafür unwiderlegbare Zeugnisse. Trotzdem handelt es sich hier nicht nur um eine bloße Steigerung der Greuel, sondern um etwas schreckhaft Neues: um das konzentrierte Bild des gesamten Systems. Der ganze Hitlerismus, seine Beziehung zur Welt, seine Verbundenheit mit allen Schichten des deutschen Volkes erscheinen auf einem Ort, in einem »Betrieb« zusammengefaßt. Es ist die grausige »Erkennungsszene« der Welt mit Hitler, mit Hitlerdeutschland. Die Einzelheiten sind heute allgemein bekannt. Wir stehen vor den größten Greueln der bisherigen Menschheitsgeschichte. Jeder, dem die Zukunft der Menschheit am Herzen liegt, fragt erschüttert: Wie ist so etwas möglich?

II

Um diese Frage beantworten zu können, sei zunächst einmal untersucht, wie Deutschland auf den Zusammenbruch seiner imperialistischen Träume im ersten Weltkrieg reagiert hat. Es gab einige Besonnene, die die historische Notwendigkeit dieses Zusammenbruchs eingesehen haben. Im Winter 1918 schrieb Max Weber, einer der führenden Ideologen des liberalen Imperialismus, folgendes 1 : »Zur Zeit ist unser Gesicht so zerstört, wie das 1 Max Weber an Professor Friedrich Crusius (München), Frankfurt, 24. XI. 1919, 1921, S. 483. (Hrsg.)

in: Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, München

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keines Volkes in ähnlicher Lage je gewesen ist ... Wir fangen noch einmal wie nach 1648 und 1807 von vorn an. Das ist der einfache Sachverhalt ... Natürlich gebietet die Selbstzucht der Wahrhaftigkeit uns zu sagen: Mit einer weltpolitischen Rolle Deutschlands ist es vorbei ... « Solche besonnenen Worte waren jedoch Ausnahmen. Deutschland hatte sich von seiner militärischen Niederlage noch nicht erholt, als es von einer neuen imperialistischen Ausdehnung zu träumen begann. Der Weimarer Demokratie wird oft vorgeworfen, daß sie schwach war. Das stimmt, aber in einem anderen Sinne, als es die deutschen Chauvinisten behaupten. Die Weimarer Demokratie war viel zu schwach gegen die alten Mächte des Wilhelminischen Deutschland, deren Herrschaftsapparat sie nicht zerschlug, sondern weiterfunktionieren ließ; die Urheber und Mitschuldigen der ersten Katastrophe durften ungestraft und ungehindert neue Katastrophen vorbereiten. Die Reklamemacher des Hitlerismus sprechen mit Vorliebe von der »Unwiderstehlichkeit« der Nazi-Bewegung. Das ist insofern richtig, als die Nazis am konsequentesten den reaktionären und abenteuerhaften deutschen Imperialismus vertreten haben und darum stärker sein mußten als jene, die dieselben Bestrebungen mit »realpolitischen« Bedenken und Kompromissen durchsetzen wollten. Hitler lehnt von vornherein die nationale Forderung breitester Massen, die Wiederherstellung der Vorkriegsgrenzen, als ungenügend ab2: »Die Forderung nach Wiederherstellung der Grenzen des Jahres 1914 ist ein politischer Unsinn von Ausmaßen und Folgen, die ihn als Verbrechen erscheinen lassen«. Von diesem offenen und zynischen Standpunkt des Angreifers aus kritisiert Hitler die imperialistische Politik Vorkriegsdeutschlands als inkonsequent und ungenügend. Der richtige Weg wäre nach Hitler gewesen3: »Stärkung der Kontinentalmacht durch Gewinnung neuen Bodens in Europa, wobei gerade dadurch eine Ergänzung durch spätere koloniale Gebiete in den Bereich des natürlich Möglichen gerückt erschien«. 2 Adolf Hitler, Mein Kampf, ungekürzte Ausgabe, 2 Dände in 34. Aufl., München 1933, S. 7J6. (Hrsg.) 3 Adolf Hitler, Mein Kampf, a. a. 0 .. S. 689-690. (Hrsg.)

ein~m

Band,

Man sieht: Hitler unterscheidet sich vom Imperialismus der Wilhelminischen Periode darin, daß er die kontinentalen Eroberungen in den Mittelpunkt stellt, zur Hauptaufgabe erklärt. Das Ziel des Hitlerschen Angriffs ist also vor allem Rußland. Hitler sagt4 : »Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.« Es ist aber aus den angeführten Zitaten klar ersichtlich, daß Hitler keineswegs auf ein überseeisches Kolonialreich verzichtet hat. Er wollte nur die Reihenfolge umkehren. Zuerst mit Hilfe oder unter Duldung der Westmächte das kontinentale Europa unterwerfen, um dann mit dessen zusammengefaßter Kraft, wirksamer als es der Wilhelminische Imperialismus vermochte, die Frage der Neuaufteilung der Welt wieder aufzuwerfen. Diese »nordische List« des deutschen Faschismus ist gescheitert. Die freiheitsliebenden und zivilisierten Völker der Welt begannen allmählich einzusehen, daß der Hitlersche Imperialismus die Existenz ihrer Staaten noch gefährlicher bedrohte als seinerzeit das Deutschland der Hohenzollern. So hat das imperialistische Abenteurertum Hitlers notwendig wieder eine Weltkoalition gegen Deutschland zustande gebracht, an deren Kraft seine die ganze bisherige Menschheitskultur gefährdenden Pläne scheitern mußten. Noch wichtiger als diese Steigerung und »Überwindung« der imperialistischen Bestrebungen Hohenzollern-Deutschlands ist die Wendung in den Methoden der kontinentalen Kolonisation. Hitler räumt hier mit brutalem Zynismus alle Halbheiten der Wilhelminischen Periode aus dem Wege. Das von Hitler geplante deutsche Weltreich beruht auf dem »Prinzip, daß Germanisation nur am Boden vorgenommen werden kann und niemals am Menschen« 5• Das ist der zentrale Punkt des Hitlerschen imperialistischen Programms. Hitler tritt in dieser programmatischen Erklärung noch vor der Machtergreifung, noch zu der Zeit, als seine Propaganda vor allem darauf gerichtet war, die nationale Erbitterung über den 4 Adolf Hitler, Mein Kampf, a. a. 0., S. 742. (Hrsg.) 5 Adolf Hitler, Mein Kampf, a. a. 0., S. 428. (Hrsg.)

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Versailler Frieden, über den Verlust rein deutscher Gebiete für seine imperialistischen Zwecke auszunützen und den beleidigten Patriotismus in einen angriffslustigen und bestialischen Chauvinismus umzuwandeln, bereits mit den Umrissen dieses Weltvernichtungsprogramms auf. In diesem Zusammenhang wird es erst verständlich, was die Rassentheorie politisch für Hitler bedeutet. Agitatorisch wird sie als eine mystische Heilslehre vorgetragen. In einem intimen Privatgespräch mit Rauschning gibt jedoch Hitler einen offenen und zynischen politischen Kommentar zu seiner Agitation 6 : »Die >Nation< ist ein politischer Ausdruck der Demokratie und des Liberalismus. Wir müssen diese falsche Konzeption loswerden und an ihre Stelle die Konzeption der Rasse setzen, die politisd1 noch nicht verbraucht ist ... Ich weiß genau ... , daß in wissenschaftlichem Sinne nichts Derartiges wie Rasse existiert ... Ich als Politiker brauche eine Konzeption, die es möglich macht, die bisherigen historischen Grundlagen zu vernid1ten und an ihre Stelle eine vollständig neue antihistorische Ordnung zu setzen und dieser eine intellektuelle Basis zu geben.« Die Aufgabe sei die Zerstörung der nationalen Grenzen. »Mit der Rassenkonzeption kann der Nationalsozialismus seine Revolution durchführen und die Welt umstülpen.« Und der offizielle Rechtsphilosoph des Nationalsozialismus, Carl Schmitt, schafft auf dieser Grundlage den Begriff der »Großraumordnung« des »Reiches« 7 : »Reiche ... sind die führenden und tragenden Mächte, deren politische Idee in einen bestimmten Großraum ausstrahlt und die für diesen Großraum die Interventionen fremdräumiger Mächte grundsätzlich ausschließen.« So entsteht ein modernes, ein faschistisches »internationales Recht«, dessen wichtigste Maxime nach demselben Schmitt» Wehe den Neutralen« lautet. Ist es aber Hitlers Ziel, aus dem europäischen Kontinent ein kompaktes deutsches Herrschaftsgebiet 6 Luk;lcs hat offenbar eine der ersten (ungekürzten) Ausgaben der Aufzeichnungen Rauschnings benutzt, die u. W. nicht in deutscher Sprache vorliegt. Wir verweisen deshalb hier und im folgenden auf die französische Ausgabe: Hermann Rausdming, Hitler rn'a dit. Confidences du Führer sur son plan de conquCte du

monde, Paris 1939. Zum vorstehenden Zitats. S. 258-259. (Hrsg.) 7 Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, 4. Aufl., BerlinLeipzig-Wien 1941, S. 36. (Hrsg.)

zu schaffen, so ergibt sich daraus für ihn als unvermeidliche Aufgabe die physische Ausrottung der Völker. Nur in vorkapitalistischen Zeiten - und auch damals nur unter besonders günstigen Umständen - ist eine vollständige Assimilation fremder Unterworfener möglich gewesen. Im allgemeinen hat selbst die feudale und frühkapitalistische Herrschaft die unterworfenen Völker konserviert. Die Ideologen des deutschen Imperialismus rühmen sich der Aufsaugung (beziehungsweise Vernichtung) der slawischen Bevölkerung im preußischen Ordensland. Aber selbst sie müssen melancholisch feststellen, daß schon im Baltikum die deutschen Grundbesitzer eine dünne und isolierte Oberschicht geblieben sind. Seit der Entfaltung des kapitalistischen Systems, seit der Entstehung eines eigenen nationalen Bewußtseins, bestimmter Anfänge einer eigenen nationalen Kultur in den bis dahin »geschichtslos« dahinlebenden unterdrückten Völkern gibt es kein Beispiel mehr für eine Volksassimilation. Diese Lage hat aber ihre eigene Logik. Und diese sagt: Wo verschiedene Nationen in einem Reich vereinigt sind, dort ist entweder Freiheit, Gleichberechtigung und Brüderlichkeit der Völker der Weg, wie längst in der Sowjetunion, oder es entbrennt ein ununterbrochener Kampf zwischen unterdrückenden und unterdrückten Nationen, der letzten Endes notwendig mit der Auflösung solcher Kerker der Völker, mit der Befreiung der Unterdrückten endet (die alte Türkei, die Habsburger Monarchie). Diesen Zwiespalt löst nun Hitler mit seinem bestialischen »tertium datur« der systematischen Ausrottung der Völker. Freilich treten die äußersten Konsequenzen seines Prinzips erst im Laufe der praktischen Verwirklichung mit voller Klarheit hervor. Die deutschen Faschisten versuchten ja verschiedene Quislingbewegungen in den stammverwandten Ländern aufzuziehen. »Nur« für die slawischen Völker lautete von vornherein das Programm: vollständige Versklavung bei physischer Ausrottung der zur nationalen und sozialen Führung geeigneten Elemente. Die Quislinge erwiesen sich jedoch überall als einflußlose Abenteurersekten, als Gangsterbanden, die von den Volksmassen isoliert waren. Die »stammverwandten« Dänen und Norweger 359

verteidigten ihre nationale Selbständigkeit nicht minder erbittert, wenn auch vorerst minder erfolgreich, als die slawischen »Untermenschen«. So bringt der Krieg die innere Logik des Hitlerschen Imperialismus ans Tageslicht: Das Hitlersche »Dritte Reich« kann nur entstehen, wenn alle freiheitlich und national empfindenden Menschen sämtlicher europäischer Völker physisch ausgerottet werden und der Rest zu einem jeder Führung und jeden Zusammenhaltes beraubten Arbeitsvieh der deutschen Herrenschicht herabgedrückt wird. Das ist das Wesen des Hitlerschen Raubund Mordkrieges. Dieses innere Wesen des Hitlerschen Imperialismus stellt das Lubliner Lager in ein schauriges Bild sinnfällig konzentriert vor uns hin. Eine Sammelstätte der Märtyrer der Freiheit und der nationalen Selbständigkeit fast aller Völker Europas; zugleich eine gedrängte Zusammenfassung dessen, was der Hitlerismus in Wahrheit ist. Boris Gorbatow schreibt hierüber: »Ein Mensch, der in das Lager von Maidanek kam, hörte auf, Mensch zu sein; er wurde zum Objekt, das zu vernichten ist. Man nahm ihm seine persönlichen Habseligkeiten, seine Wertsachen, Kleider. Man gab ihm eine Blechnummer auf einem Draht, die er ständig am Hals tragen mußte, und gestreifte Arrestantenlumpen. Auf die Jacke wurde mit Ölfarbe ein rotes, schwarzes oder gelbes Dreieck und ein Buchstabe gemalt, der die Nationalität des Verhafteten andeutete: P - Pole, F Franzose. Der Mensch konnte in diesem Lager seinen eigenen Namen vergessen, aber die Henker erlaubten ihm nie zu vergessen, daß er ein >russisches Schweinpolnisches ViehJude< sei.« Unheimlich ist es, Ordnung, Organisation und Technik im Dienst derartiger barbarischer Attentate auf Freiheit und Menschenwürde zu sehen. Um so mehr, als hier Organisation und Technik in Politik umschlagen: Das Lubliner Lager erscheint als die notwendige, logische Konsequenz des Hitlerschen »Dritten Reiches«, der deutschen Welteroberung, der faschistischen Kolonialpolitik. Darum ist die Enthüllung der Wahrheit über das Lubliner Lager wirklich eine erschütternde Erkennungsszene: Das Wesen des Hitlerismus steht dramatisch plötzlich und doch durch

eine notwendige Entwicklur.g zwangsläufig vorbereitet vor uns. Lublin ist viel mehr als ein schauriges, weithin leuchtendes Symbol der Hitlerherrschaft: es ist ihr angemessenes Regierungsinstrument, ja die vollständige, restlos vollendete, düstere Verkörperung ihres Wesens.

1i I

Wie jedes technisch auf der Höhe der Zeit stehende Industrieunternehmen konnte das Todeskombinat von Lublin nur durch die Zusammenarbeit von Menschen der verschiedensten Volks:;chichten Deutschlands entstehen. Darum ist die Frage, die die »Prawda« aufwarf, vollkommen gerechtfertigt: »Die Missetaten überschreiten jedes denkbare Maß der Vertierung. Tausende von Deutschen der verschiedensten Gesellschaftsschichten: Architekten, Arzte, Ingenieure, Wissenschaftler, Deutsche verschiedensten Lebensalters, alte und junge, nehmen an der organisierten, durchdachten Ausrottung von Millionen friedlicher europäischer Menschen teil.« Viele sagen - und zwar mit einer gewissen Berechtigung über ein Jahrzehnt der Hitlerherrschaft habe diese moralische I·~orruption des deutschen Volkes zustande gebracht, und tatsächlich hat Hitler in Deutschland ein gewaltiges »Erziehungswerk« vollzogen. Das ideologische Instrument dazu war vor allem die Rassentheorie. Will man ihre verheerende Wirkung im Denken und Fühlen des deutschen Volkes richtig abschätzen, so darf man nicht davon ausgehen, daß man in den Briefen der Soldaten, in den Aussagen der Kriegsgefangenen selten die Hitler-Rosenbergsche Rassenphraseologie findet; die offizielle Rassentheorie ist ihnen oft unbekannt, wird sogar zuweilen (stillschweigend) abgelehnt. Denn in der Hitlerschen »Erziehung« durch Rassentheorie handelt es sich in erster Linie nicht so sehr um das Eintrichtern eines innerlich sinnlosen und wissenschaftlich haltlosen biologischen Mythos, sondern um die radikale Zerstörung des Gefühls und der Überzeugung von der Gleichheit der Menschen. Das .:ntscheidende Moment der Hitlerpropaganda richtet sich von

Anfang an darauf, eine Ungleichheit als »Naturgesetz« in die Menschen einzuhämmern, mit dem Ziel, daß jeder Deutsche, so versklavt er zu Hause auch sei, sich den anderen Völkern gegenüber als Übermensch fühlt. Mit Hilfe der Rassentheorie wurde ein chauvinistischer Größenwahn in Deutschland gezüchtet. Aus der Unmasse der Erklärungen Hitlers und seiner Ideologen sei nur eine angeführt, die sich gerade auf die Entwicklung dieses Größenwahns auf der Grundlage der körperlichen Erziehung beziehtS: »Dieses Selbstvertrauen aber muß schon von Kindheit auf dem jungen Volksgenossen anerzogen werden. Seine gesamte Erziehung und Ausbildung muß darauf angelegt werden, ihm die Überzeugung zu geben, andern unbedingt überlegen zu sein. Er muß in seiner körperlichen Kraft und Gewandtheit den Glauben an die Unbesiegbarkeit seines ganzen Volkstums wiedergewinnen.« Damit ist das Hitlersche »Erziehungswerk« aber noch lange nicht vollendet. Chauvinistischen Größenwahn gab es auch früher schon in Deutschland (und es gibt ihn auch in anderen Ländern); er hatte immer höchst gefährliche Folgen, war aber weit entfernt von der besonderen Grausamkeit des nationalsozialistischen Deutschland. Es mußte ein organisatorischer Rahmen, ja eine Maschinerie der Organisation geschaffen werden, um die düsteren und dumpfen Kräfte dieser Megalomanie des Germanentums spontan und geordnet in die Bahnen der Hitlerschen Völkervernichtung zu lenken. Diese Maschinerie trägt die pompöse und trügerisch demagogische Aufschrift »Germanische Demokratie«9, Hitler gibt, gegen seine sonstigen Gewohnheiten, hier eine präzise und unmißverständliche Definition 10 : »Autorität jedes Führers nach unten und Verantwortlichkeit nach oben.« Auch diese Erfindung Hitlers ist nichts radikal Neues in der deutschen Geschichte. Sie ist nur - wie so oft im Hitlerismus - die Vollendung längst vorhandener reaktionärer deutscher Institutionen, von Einrichtungen, die - bewußt oder spontan - darauf angelegt waren, die »aus der Erniedrigung des Dreißigjährigen Krieges in das 8 Adolf Hitler, Mein Kampf, a. a. 0„ S. 456. (Hrsg.) 9 Adolf Hitler, Mein Kampf, a. a. 0„ S. 99 f. (Hrsg.) 10 Adolf Hitler, Mein Kampf, a. a. 0„ S. 501. (Hrsg.)

nationale Bewußtsein gedrungene Bedientenhaftigkeit« (Engels) höher zu züchten. Im zerrissenen Deutschland des feudal-absolutistischen Kleinfürstentums bedeutete dies eine einfache Bedientenhaftigkeit: den kategorischen Imperativ des Sichbeugens vor jedem Befehl, jedem Wunsch der Obrigkeit, die Ideologie, daß gerade hierin die Erfüllung der gesellschaftlichen und moralischen, der nationalen und religiösen Pflichten läge. Nach der verworrenen Übergangsperiode zwischen 1806 und 1870, zwischen Jena und Sedan, in welcher sich - unklar und zaghaft ein anderes Gefühl der gesellschaftlich-sittlichen Verantwortung herauszubilden versuchte, jedoch von der Niederlage der Achtundvierziger Revolution zerschmettert und vom Siegesrummel der Bismarckzeit begraben wurde, erhält diese Bedientenhaftigkeit, diese jahrhundertelange Verzerrung der deutschen Moral durch die deutsche Misere ein neues, aggressiv-aktives Antlitz. Wir können hier diese Geschichte unmöglich skizzieren, wir müssen uns auf einige Hauptzüge beschränken. Der Funktionswandel, der sich in den Entscheidungen und vor allem nach der Entscheidung der Übergangskrisen durchsetzt, ist ein doppelter: Einerseits begnügt man sich bei der Vernichtung der Menschenwürde durch die Autorität nach unten nicht mehr mit dem alten friderizianischen Grundsatz, daß der deutsche Soldat seinen Unteroffizier mehr fürchten müsse als den Feind. Es wird nun mit allen raffinierten Mitteln des gesellschaftlichen Drucks, mit der Bismarckschen Zweiheit von »Zuckerbrot und Peitsche« versucht, im Untergebenen einen masochistischen Begeisterungsrausch für sein Unterdrücktsein zu erwecken. Heinrich Mann gibt in seinem »Untertan« ein glänzendes satirisches Bild dieser »Erziehungsmethode« des deutschen Menschen im Wilhelminischen Deutschland. Elternhaus, Schule, Universität, Studentenverbindung, Amt, Arbeit wirken alle, spontan oder bewußt, in dieser Richtung. Wir führen nur eine kleine Beschreibung aus der Rekrutenzeit des Helden, des Papierfabrikanten Diederich Heßling, anll: »Beim Exerzieren im Kasernenhof, beim Gliederbilden, Sichzerstreuen und Platzwechseln 11 Hervorhebungen von mir. (G. L.) - He;nrich Mann, »Der Untertan«, in: ders., Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, hrsg. im Auftrag der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin von A. Kantorowicz, Bd. IV, Berlin 1954, S. 44-45. (Hrsg.)

ward weiter nichts beabsichtigt, als die >Kerls< umherzuhetzen. Ja, Diederich fühlte wohl, daß alles hier, die Behandlung, die geläufigen Ausdrücke, die ganze militärische Tätigkeit vor allem darauf hinzielte, die persönliche Würde auf ein Mindestmaß herabzusetzen. Und das imponierte ihm; es gab ihm, so elend er sich befand, und gerade dann, eine tiefe Achtung ein und etwas wie selbstmörderische Begeisterung. Prinzip und Ideal war ersichtlich das gleiche wie bei den Neuteutonen, nur ward es grausamer durchgeführt. Die Pausen der Gemütlichkeit, in denen man sich seines Menschentums erinnern durfte, fielen fort. Jäh und unabänderlich sank man zur Laus herab, zum Bestandteil, zum Rohstoff, an dem ein unermeßlicher Wille knetete. Wahnsinn und Verderben wäre es gewesen, auch nur im geheimsten Herzen sich aufzulehnen.« Andererseits fügt sich diese hündisch begeisterte Unterwürfigkeit in die Hierarchie (mit Ausnahme der grauen Masse) so ein, daß ein jeder zugleich Vorgesetzter und Subalterner, Sklavenhalter und Sklave, Hetzer und Gehetzter ist. Und wer nun im öffentlichen Leben keine Untergebenen hat, die er »schleifen« könnte, findet sie zu Hause an Frau und Kindern. Man lese in den ersten Kapiteln von Falladas »Kleiner Mann - was nun?« nach, wie dieser Herrschaftstrieb sonst Unterdrückter sich sogar bei organisierten, klassenbewußten deutschen Arbeitern auslebt. Die Explosion eines solchen Sadismus, der der künstlich gezüchtete Gegenpol des Begeisterungsrausches der Unterwürfigkeit ist, äußert sich im Wilhelminischen Deutschland noch oft bloß grotesk und zwecklos, das heißt ohne sichtbaren Nutzen für die imperialistischen Ziele. Der typische wilhelminische Mensch erscheint, wenn er richtig nachgebildet wird, als grauenvolle Karikatur. Man denke an das Verhältnis des Heinrich Mannschen Professor Unrat zu seinen Schülern, des Sternheimsehen Polizisten Busekow zu der Prostituierten, die er zu seiner Geliebten macht. Man sage nicht, daß ich satirische Karikaturen und nicht wirklichkeitstreue Abbilder vorführe. Gerade für diese Zeit gilt der Ausspruch Juvenals, daß es schwer sei, keine Satire zu schreiben; daß also das Leben selbst, seinem Stoff und Rhythmus nach, bereits karikaturistisch geformt war. Und in der Tat, die beste Karikatur des Wilhelminischen Zeitalters hat kein Künstler

geschaffen, sondern das Leben selbst: nämlich den Hauptmann von Köpenick, die konzentrierte Verkörperung des Prinzips der unbedingten »Autorität nach unten«. Die Mobilisierung des ganzen Volkes, die Eroberung von halb Europa im ersten imperialistischen Weltkrieg gibt dieser Hierarchie eine neue breitere Basis: Die »verbündeten«, die »befreiten« Völker sind jetzt bloßes Material, ihre Länder sind »Lebensraum«, in welchem die kleinlich-tyrannische Kehrseite der Heßling-Busekowschen, der wilhelminischen Begeisterung der Unterwerfung, der »Autorität und Verantwortung« sich hemmungslos austoben kann. Diese Entwicklung hat noch eine andere Seite, und zwar eine moderne: die kapitalistische Korruption. Korruption gab es immer; auch (und nicht wenig) in der vielgerühmten altpreußischen Bürokratie. Aber das Ausmaß, die Ausbreitung der Korruption ist mit der Entwicklung des Kapitalismus viel größer geworden, um so mehr, als die obrigkeitliche, scheinkonstitutionelle Struktur des Bismarckschen und Wilhelminischen Deutschland die laufende Kontrolle der Öffentlichkeit über die Tätigkeit der Bürokratie ausschließt. So bekommt das Prinzip der »autoritären Verantwortung« besonders im Weltkrieg einen immer stärker egoistisch-korrupten Inhalt. Für Karriere und Wohlleben werden unzählige Verbrechen begangen, die dann mit Hilfe des Apparates, der deutschen Antidemokratie, des Fehlens jeder Kontrolle vertuscht werden. So entstehen neue Typen von kleinlich-kleinbürgerlichen Ungeheuern, von gewissenlosen Mördern und Dieben, die dabei korrekte Beamte sind und bleiben. Wie sieht so ein Verbrecher innerlich aus? Arnold Zweig gibt in seinem Kriegsroman »Erziehung vor Verdun« eine präzise Beschreibung. Der Etappenhauptmann Niggl hat einen Unteroffizier in den Tod geschickt, damit der Betrug an der Verpflegung der Mannschaft nicht aufgedeckt werde. Dabei ist er der normale gemütliche Bayer, der stille und pünktliche Bürokrat geblieben. »Fanden Sie nicht heraus«, sagt über ihn der Bruder des Ermordeten12 zu einem

in

12 Arnold Zweig, ~>Erziehung vor Verdun«, in: Einzelausgaben, Bd. III, Berlin 1959, S. 179. (Hrsg.)

ders.,

Ausgewählte

Werke

Geistlichen, der vermitteln will, »wenn Sie seit zwei Jahren dabei sind, daß Machtfülle vielen Leuten schlecht bekommt? Und daß der brave Durchschnitt durchschnittlichen Druck braucht, um seine Fasson zu behalten? Das Herrentum der Kriegerkaste versetzt solche Leute in zu dünne Luft, da quellen sie über die Ränder, die Niggl und Konsorten. Ein Weinreisender oder ein Rentamtmann von einiger Schlauheit leistet sich dann ohne Gewissensbisse Großtaten wie König David ... « So weit die Vorarbeiten, die das Wilhelminische Deutschland für Hitler geleistet hat. Dessen »erzieherische« Tat besteht nun darin, das, was bis dahin zumeist spontan aus dem System des deutschen Regiertwerdens entsprang und nur streckenweise bewußt hervorgebracht wurde, in umfassendem Maßstabe in ganz Deutschland zielsicher zu züchten. Brutalidt und Korrruption sind die großen Maximen Hitlers bei seiner »Erziehung«. Alle Schriften und Taten des Nazismus zeugen davon. Wir führen einige Bemerkungen des »Führers« aus Privatgesprächen mit Rauschning an, weil dort seine Absichten in voller zynischer Klarheit hervortreten. Er fördert in seinem Herrschaftsapparat die Korruption, das »Bereichert euch«. Aus dieser systematischen moralischen Verderbnis erzielt er folgenden Vorteil: Wenn man die Verbrechen unzuverlässiger Funktionäre kennt, hält man sie besser in der Hand. Es entsteht in der »Elite« eine gegenseitige Spionage und Denunziation13: »Jeder ist in der Macht eines jeden anderen und niemand ist mehr sein eigener Herr. Das ist das erwünschte Resultat der Losung: >Bereichert euch!Jetzt werde ich dich erschießen!< Der Verhaftete erbleichte, stellte sich aber gehorsam zum Erschießen hin. Der SS-Mann zielte lange und genau. Er richtete den Lauf der Pistole bald gegen die Stirn, bald gegen das Herz, er tat, als wählte er aus, wie er am besten töten könne. Dann schrie er plötzlich: >Feuer!< Der Verhaftete erzitterte und schloß die Augen. Ein Schuß ertönte. Auf den Kopf des Opfers fiel etwas Schweres. Er verlor das Bewußtsein und fiel hin. Als er nach einigen Minuten zu sich kam, sah er die über ihn gebeugten Gesichter der Deutschen: das Gesicht dessen, der ihn >erschossen< hatte, und das jenes anderen, der ihm unbemerkt von rückwärts auf den Kopf geschlagen hatte. Die SS-Männer lachten, daß ihnen die Tränen in die Augen traten. >Du bist gestorben!< riefen sie ihrem Opfer zu, >und bist jetzt im Jenseits. Was? Siehst du? Auch hier, in der anderen Welt sind wir. Die Deutschen. Die SS.«
Sein Gedicht ist Gesetz, von dessen Rhythmus I Stein fällt und des Schlosses Fenster klappert.« (Hrsg.) 18 •Ich bin ein Dichter - was sollte I mich die Dichtkunst selbst angehen?« (Hrsg.) 19 •Ich halte nicht meinen Zankesmund. I Vorm Geist erhebe >eh Klage. / Auf mich blickt zustimmend das Jahrhundert: I Der Bauer denkt beim Pflügen an mich; I in seinem Körper spürt midi der Arbeiter I zwischen zwei steifen Bewegungen; I abends vor dem Kino erwartet mich I der Gassenjunge, der schlecht angezogene. / Und wo Gauner, im Lager versammelt, I die Ordnung meiner Gedichte verfluchen, I fangen brüderliche Panzer an, I deren Reime in die Welt zu dröhnen.• (Hrsg.) 394

jeder Dichtung und aller Künste - die ja letztlich stets aus der gesellschaftlichen Problematik entstanden sind - ein Ende machen wird.

V

Es ist kein Idyll und kein Happy-End, zu dem unsere Erörterungen führen. Die Lösung dieser Konflikte bedeutet bei weitem nicht, daß die Parteidichtung nunmehr frei von jeglicher Problematik wäre. Um eine richtige Perspektive zu gewinnen, müssen wir auf unsere früher gegebene Feststellung zurückgreifen. Der Parteidichter erscheint früher auf der Bühne des Lebens als die modernen Organisationen der Parteien; es gab zahlreiche große Parteidichter - von Shelley über Heine bis Ady - die keiner Partei angehörten und auch nicht angehören konnten, weil die Geschichte die Partei, für die sie als Dichter bestimmt waren, noch nicht herausgebildet hatte. Das ist die objektive Tragödie der Tätigkeit von Petöfi; dies wird auch Heine und Ady subjektiv tragisch bewußt. Wenn es jedoch einmal Parteien gibt, wenn Partei und Parteidichter aufeinandertreffen, ist ihr Verhältnis zueinander dennoch nicht frei von Problemen. Dies hat tiefe, in das Wesen von Gesellschaft und Dichtung eingreifende Ursachen. Der banale, moderne bürgerliche Individualismus vereinfacht viel zu vulgär, wenn er der Parteimaschine, in der jeder Mensch nur die Funktion eines Rädchens hat, das »Heiligtum« des Individuums und besonders des dichterischen Individuums entgegenstellt. Wir sprechen hier nicht ausführlich über die großen welthistorischen Persönlichkeiten, von Cromwell und Marat bis zu Lenin und Stalin, bei denen Persönlichkeit und welthistorische Aufgabe, d. h. Parteifunktionen, zu solcher Einheit verschmolzen sind, daß beide eine neue und beispielhafte Klassizität in dieser höheren Synthese gewinnen. Jedoch auch auf niedrigerem Niveau ist der banale Individualismus einfach unfähig, die fruchtbare Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt und die Rückwirkung einer großen Entwicklung auf die Persönlichkeit zu sehen. Das Problem kann beim Durchschnittsmenschen, wenn auch 395

oft durch Konflikte, letztlich ohne Probleme gelöst werden. Bei einem großen politischen Führer löst es sich problemlos. Für ihn sind die Kreise des privaten und des gesellschaftlichen Lebens eines Zeitabschnittes konzentrisch. Die Größe eines politischen Genies besteht darin, welche Ausdehnung der Radius seines Privatkreises im Verhältnis zu dem der Gesellschaft erreicht hat. Vielfach fallen beim Durchschnittsmenschen die Mittelpunkte beider Kreise nicht zusammen. Die Problematik ihres politischen Lebens bzw. die Problemlosigkeit entscheidet, wie groß die sich deckenden Flächen der beiden Kreise sind. Beim Dichter dagegen ist dieses Problem, durch die in der Tiefe seiner Seele angelegten Konflikte, stets gegeben, so sehr er auch Parteidichter sein mag. Ohne den angegebenen Vergleich überspannen zu wollen: Die beiden Mittelpunkte fallen beim Dichter wohl niemals zusammen. Wenn er dagegen ein wirklicher Parteidichter ist, ist der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Kreises immer Teil, und zwar ein dem individuellen Zentrum naheliegender Teil des persönlichen Lebens und seiner eigenen Dichtung. Die soeben aufgewiesene Problematik soll nun noch näher betrachtet werden. Ein theoretisch nicht notwendiger Konflikt tritt in der Praxis am häufigsten hervor: die Auseinandersetzungen des sektiererischen Geistes mit der Dichtung. Dieses Sektierertum ist in den Parteien immer vorhanden und gelangt nicht selten zur Macht. Die Sektierer sehen nur den Dichter des plakativen Stils als Parteidichter. Jede Abweichung in der Formulierung wird als Verstoß gegen die Parteilichkeit bezeichnet. Somit bilden sich geradezu lächerliche Urteile über die großen Parteidichter der Vergangenheit aus der Abstraktheit dem Problem gegenüber heraus. Was jedoch aus einer gewissen Entfernung nur grotesk wirkt, das kann in der Gegenwart zur Quelle tragischer Konflikte werden. Die Wurzel der Konflikte liegt jedoch tiefer: Ein wirklicher Parteidichter ist stets ein Sänger der großen, nationalen, humanistischen und welthistorischen Berufung der Partei. Da aber durch den sektiererischen Geist - wie in der sektiererischen Praxis der Partei - gerade dieses Bewußtsein der Berufung in der Partei verblaßt, tauchen hier mit Notwendigkeit ununterbrochen Konflikte auf. Nur wenn die Partei sich durch

die Liquidierung des Sektierertums selbst wiederfindet, verschwindet auch dieser Konflikt. In der Entwicklung eines Parteidichters hat das Individuum als Persönlichkeit eine qualitativ andere Rolle als beim gewöhnlichen Menschen. Es hängt von der eigenen Entwicklung des Dichters und von der Eigenart seiner Persönlichkeit ab, wo, wann, inwiefern und in welchem Maße er mit den Zielen, den Prinzipien und der Praxis der Partei in Berührung kommt. Die Selbsterziehung des Dichters, jedoch auch die fruchtbare Wechselwirkung zwischen Dichter und Partei können hier vieles, wenn auch niemals alles, bewirken. Die Persönlichkeit des Dichters hat damit - als Quelle jeder wirklichen Dichtung - eine für diese unerläßliche, kaum modifizierbare Funktion. Vor allem: Das Lebenswerk eines wirklich großen Parteidichters hat sich noch niemals nur in einer breitgefaßten Parteidichtung erschöpft. Petöfi war, im Sinne unserer Bestimmung, ein wirklicher Parteidichter. In seinem kurzen Leben gab es jedoch naturgemäß keinen Zeitraum, in dem für ihn die Parteidichtung so sehr im Mittelpunkt gestanden hätte wie in den krisenreichen Perioden der Revolution von 1848. Dennoch stellt er selbst gerade zu jener Zeit die Frage: »Warum singt ihr noch, ihr frommen Dichter?« Er stellt jedoch die Frage der Rechtmäßigkeit einer von der Politik unabhängigen, subjektiven Lyrik nur deshalb, um sie mit einem entschiedenen Ja zu beantworten: »Önmagh61 szall a dal szfvünkböl, Ha bu vagy kedv erintette meg, Szall a dal, mint szallanak a szelben A letepett r6zsalevclek. Enekeljünk, tarsak, söt legyen most Hangosabb, mint eddig volt, a lant, Hadd vegyüljön e zavaros földi Zajba egy-ket tiszta egi hang! Rombadölt a fel vilag ... kietlen Latomany, mely szemet s szlvet bant! Hadd boruljon a rideg romokra Dalunk, lelkünk zöld repkeny gyanant!«20 20 »Von selbst steigt das Lied aus unseren Herzen, / wenn diese von Kummer oder Lust berührt wurden. / fliegt das Lied wie im Winde flattern / von Rosen-

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Freilich ist bei Petöfi trotz der lauten Proklamation ebenfalls kein bloßes Nebeneinander von individueller und politischer Lyrik gegeben. Wir sahen: Noch in der Proklamation der Individualität neigt diese Lyrik dem öffentlichen zu. Allgemein ist bekannt, mit welcher Intensität auch die subjektivste Lyrik Petöfis von seinem politischen Temperament genährt wird; denken wir nur an den tiefen dichterischen Zusammenhang zwischen den Landschaftsbildern der Tiefebene (Alföld) und seinem revolutionären Freiheitswunsch. In diesem Zusammenhang: Es wäre eine sehr interessante und dankbare, jedoch auch lehrreiche Aufgabe, die Landschaftsbilder der Lyrik des 19. Jahrhunderts auf ihre politischen und gesellschaftlichen Grundtöne zurückzuführen; viele, bisher unbeachtete Zusammenhänge würden dabei ans Licht kommen. Ich erlaube mir, hier darauf hinzuweisen, daß bei Attila J6zsef ein Umschlag der rein individuellen Stimmung ins Politische auffallend scharf ist, wenn auch ein solches Umschlagen nicht immer durch die entsprechenden Worte betont wird, etwa in manchen Gedichten »Regen« (Esö), »Totes Land« (Holt videk). Bei Attila J6zsef können noch die Landschaftsbilder revolutionär stimmen. Jedoch handelt es sich hier um mehr. Notwendigerweise greift die Partei einerseits alle prosaischen Fragen des praktischen Lebens auf und sucht in ihnen jenes Kettenglied, das die nationalen und die welthistorischen Ziele im täglichen Leben aufdeckt und in Bewegung setzt. Andererseits halten die durch die täglichen oder jährlichen Ereignisse bedingten Nachteile, durch ihre Schwankungen und Krisen, inmitten scheinbarer Hoffnungslosigkeit die Tendenz auf eine bessere Zukunft unerschütterlich aufrecht. Ein Parteidichter, der sich von seiner notwendig individuellen dichterischen Erlebniswelt nicht lösen kann, wird nur selten von den objektiv wesentlichen und unerläßlichen »Kettengliedern« des täglichen politischen Lebens inspiriert. (Freilich, auch anläßlich solcher Gelegenheiten können große Gedichte entSträuchern abgepfli.ickte Blätter. / Laßt uns singen, Genossen, jetzt muß sogar / die Leier lauter werden als bisher, / damit in dem trüben irdischen Lärm I auch ein paar reine himmlische Stimmen ertönen. / Die h:tibe Welt liegt in Ruinen . . . Leere I Vision, die das Auge und das Herz schmerzt. I Lasset auf die kalten Ruinen fließen I unser Lied, unsere Seele, wie grüner Efeu.« (Hrsg.)

stehen, besonders bei Petöfi 21 .) Andererseits können weder das eigene Schicksal, noch die Erlebnisse eines Dichters in die Lage versetzen, mit unerschütterlichem Glauben dem festen, im Laufe und in der Logik der Weltgeschichte herausgebildeten Weg zu folgen. Die Bestimmung dieses Zieles wie dessen Aufrechterhaltung sind gerade in den schwersten Zeiten eine wichtige Funktion und ein Verdienst der Partei. Der einzelne kann verzweifelt sein, er kann unter den Schicksalsschlägen zusammenbrechen. Wenn er ein wirklicher Dichter ist, auch wenn er ein Parteidichter ist, muß er auch seiner eigenen Ausweglosigkeit Ausdruck geben können. Eine solche Stimme der Verzweiflung wird etwa in den letzten, in ihrer Redlichkeit erschütternden Gedichten von Attila J6zsef laut: »Tejfoggal köbe mert harapd.l? Mert siettcl, ha elmaradd.l? Miert nem ejszaka almodd.l? Vcgre mi kellett volna, mondd?«22 Lenin, der große Parteiführer, hatte stets betont, daß es keine ausweglose Situation gibt; aber dies bezieht sich nur auf die politischen Aktionen der Nationen, Klassen und Parteien. Das Individuum dagegen, der Dichter, wenn er auch nur Parteidichter ist, kann, ja muß sogar stets auch zum Troubadour der Ausweglosigkeit des eigenen Lebens werden. Zur dichterischen Freiheit gehört die Freiheit zur Verzweiflung. Sie zu gestalten ist alte dichterische Tradition. Bei großen Ereignissen steht sie in engem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Bestimmung des Dichters. Es ist in diesem Zusammenhang interessant und charakteristisch, daß Goethes Werther, als er um sein Recht zum Selbstmord kämpft, weil dies ein menschliches Recht der Persönlichkeit sei, im Disput den Vergleich aufführt, daß der einzelne dieses heilige Recht, seine Fesseln revolutionär zu brechen, genauso besitzt wie ein unterdrücktes Volk. Diese Frage hat jedoch noch eine andere wesentliche Seite. Auch ein so klarer, wegen seiner Nüchternheit bekannter revolu21 Vgl. das Gedicht >Hängt die Könige auf!«. (G. L.) •Warum hast du mit Milchz'1hnen in den Stein gebissen? / Warum hast du dich so beeilt, wenn du doch zurückbliebst? I Warum hast du nicht während der Nacht geträumt? I Was wolltest du schließlich, sage nun?• (Hrsg.)

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tionärer Führer wie Lenin spricht davon, daß es oft geradezu Pflicht des Revolutionärs sei, zu träumen. Diese Träume sind Ausdruck des festen Glaubens an die sichere Verwirklichung der fernen Ziele. Ein Revolutionär muß träumen, damit er den Blick auf diese fernen Ziele im Kampf des Alltags nicht verliert. Wir haben betont, daß das Verhältnis des Dichters zur dialektischen Einheit des täglichen Lebens und zum welthistorischen Ziel wesentlich anders ist, als das der großen politisd1en Führer. Aber hier, in der Sphäre der oberflächlichen seelischen Erscheinungen, ist der Gegensatz scheinbar am größten; gleichzeitig ist jedoch auch die Tendenz der Konvergenz gegeben. Denn gerade in jener Erlebniskraft, die den Dichter in seinen ausweglosen Situationen zur Verzweiflung treibt, steckt seine Fähigkeit, solche fernen Ziele zu erblicken und sie durch dichterische Visionen, die dann von der Zukunft gerechtfertigt werden, spürbar zu machen -wenn auch diese Visionen für Durchschnittsmenschen nicht nachvollziehbar sind. Marx sagt von Balzac, dem großen Darsteller gesellschaftlicher Objektivität, daß er in seiner Typenzeichnung prophetisch gewesen sei. Er habe solche Figuren gesehen und dargestellt, die in seiner Gegenwart nur als Keime vorhanden, deren Entfaltung zu konkret-gesellsd1aftlichen Typen sich jedoch erst viel später vollzogen hat. Wir Ungarn haben die Verwirklichung solcher Visionen bei Endre Ady erlebt. Nach diesen Ausführungen ist, so glauben wir, die Problematik des Verhältnisses zwischen Partei und Parteidichter klar zu erkennen. Ist diese Problematik unlösbar? Ich glaube, nein. Allerdings besteht ein ganz spezifisches Verhältnis zwischen Partei und Parteidichter. Kurz formuliert: Der Parteidichter ist niemals Führer oder einfacher Soldat, sondern immer Partisan. Das heißt, wenn er ein wirklicher Parteidichter ist, dann besteht eine tiefe Einheit mit der geschichtlichen Berufung der Partei, mit der großen strategischen Linie, die von der Partei bestimmt wird. Innerhalb dieser Einheit muß er sich jedoch mit eigenen Mitteln auf eigene Verantwortung offenbaren. Das heißt weder, daß Anarchie oder ein nur zufälliger Zusammenhang herrschen, sondern weist lediglich auf die richtige Erkenntnis der Beziehungen zwischen Parteitätigkeit und den entsd1eidenden 400

Wesenszügen des Parteidichters, wie auf die entsprechende praktische Anwendung dieser Beziehungen hin. Die großen Führer der Arbeiterbewegung wußten dies und haben es stets in die Tat umgesetzt. Denken wir nur an das Verhältnis von Marx zu Freiligrath, zu Heine und zu Herwegh; denken wir an das Verhältnis von Lenin zu Gorki. Diese Beziehungen verlangten vom Dichter niemals eine kleinliche Anpassung an die täglichen Bedürfnisse; die sogenannten Schwankungen hat der Dichter mit liebevoller, verständnisvoller Nachsicht empfunden. Andererseits bedeutet das keine Prinzipienlosigkeit. Zwischen Führer und Partisan war das Verhältnis nur so lange innig und verständnisvoll, wie sich das individuelle Handeln des Partisanen tatsächlich auf dem welthistorischen strategischen Weg der Partei bewegte. Als Freiligrath der revolutionären Demokratie von 1848 untreu geworden war, als in seiner Entwicklung jene Periode begann, die während des Krieges der 7oer Jahre zu Gedichten vom Stil wie »Hurrah Germania« führte, hatte sich Marx kalt und scharf von ihm distanziert. Solche Konflikte gab es, obwohl sie niemals bis zum Bruch führten, öfters auch zwischen Gorki und Lenin. Wir glauben, in diesem Zusammenhang ein von der Intelligenz oft mißverstandenes und deshalb unpopuläres Problem behandeln zu müssen: nämlich das Problem der Parteidisziplin. Die Mißverständnisse entstehen größtenteils deshalb, weil der Subjektivismus, der in anarchistische Stimmungen, wie sie die moderne Zeit kennt, verfällt, wirkliche Treue kaum noch kennt, sie oft sogar - und nicht nur in bezug auf die Partei - ablehnt. Treue ist: dem Wesentlichen auch dann anzuhängen, wenn die Erscheinungen des Augenblicks dem zu widersprechen scheinen. Dieses Gefühl der Treue ist in der Mentalität der BourgeoisieLeute so sehr abgeschwächt, ja fast schon verlorengegangen, daß Treue in der bürgerlichen Literatur häufig nur noch als pathologisch-kitschiges Gefühl erscheint. Die Parteidisziplin ist dagegen eine höhere, abstrakte Stufe der Treue. Treue eines Menschen in der tlffentlichkeit ist: eine weltanschauliche Beziehung zu irgendeiner geschichtlich gegebenen Richtung - und sie bleibt auch dann Treue, wenn in irgendeiner konkreten Frage keine völlige Einheit mit dieser geschichtlichen Tendenz besteht. War401

um sollte eine solche Treue ein Hindernis für die individuelle und künstlerische Entwicklung eines Parteidichters sein? Dies ist um so weniger einzusehen, als die welthistorische Berufung der Partei gerade für den wirklich großen Parteidichter das lebendigste Ereignis bedeutet. Für ihn wird die weltgeschichtliche Berufung visionär in ihrer Plastizität lebendig. Freilich, wenn die Frage der Parteidisziplin von einem sektiererischen Bürokraten aufgeworfen wird, wenn dadurch die Beziehung der Parteidisziplin zur welthistorischen wie nationalen Bestimmung der Partei verlorengeht, wenn das Prinzip der Disziplin gerade in den kleinen Kämpfen des Tages auf den Kopf gestellt und die Parteidisziplin dadurch zur toten Disziplin wird - dann geht diese Verbindung verloren, dann ist sie nicht mehr die wahre Beziehung zwischen Partei und Parteidichter, sondern deren sektiererische Verzerrung. Die Frage richtig zu stellen, heißt dagegen: Auf der einen Seite steht der Parteidichter als treu und dennoch individuell handelnder Partisan einer großen Sache, auf der anderen Seite stehen verständnisvolles Taktgefühl und die sich in einer organischen Einheit vereinigende Prinzipienfestigkeit von Marx und Lenin. Wenn die Frage nach dem Verhältnis zwischen Partei und Parteidichter richtig gestellt wird, so ist sie - wenn oft auch nur durch Konflikte - dennoch in vollem Maße zu lösen. Nur dadurch kann der Dichter als Dichter seinen Anschluß an die Partei erlangen und dadurch mit den Besten des arbeitenden Volkes den Kampf um das gemeinsame Ziel gemeinsam führen. In diesem Kampf kann der Dichter gerade sein Bestes entwickeln: jene dichterische Berufung und Bewußtheit nämlich, von der in dieser Abhandlung mehrmals die Rede war. Völlig andere Entwicklungsmöglichkeiten hat der Parteidichter. Er kann sich auf die Partei stützen und - als Antäus - in ihr festen Boden finden. Es ist kein Zufall, daß sich diese Probleme bei der Gedenkfeier der KPU für Attila J6zsef stellten. Man kann Attila J6zsef als Dichter nicht ohne ernsthafte Klärung des Wesens der Parteidichtung verstehen. Wenn wir Kommunisten, die wir die Demokratie in Ungarn kompromißlos, mit blutigem Ernst fordern und aufbauen, Attila J6zsef als den unseren aner402

kennen, können wir und müssen wir dies in zweierlei Hinsicht tun. Einerseits ist unsere Bewegung Ausdruck der bisher erreichten Höhe jener großen Linie, in die alle früheren Bewegungen hinaufführen, die die Befreiung erstreben; von dieser Höhe aus ist klar zu erkennen, was Petöfi und Ady wollten und erreichten. Attila J6zsef gehört auch noch in einem anderen Sinn zu uns: weil er liebte, was wir liebten, weil er haßte, was wir gehaßt haben, weil ihn schmerzte, was uns schmerzte. In seinen Gedichten sind die wahrsten und tiefsten Gefühle der unter dem Horthy-Regime leidenden ungarischen Arbeiter, Bauern und der fortschrittlichen Intelligenz zum Ausdruck gebracht worden. Er gehörte zu uns, solange er lebte, und er bleibt unter uns auch in seiner Unsterblichkeit.

19.

Aristokratische und demokratische Weltanschauung

= »La vision aristocratique et democratique du monde«, in: L' Esprit Europeen. Rencontres Internationales de Geneve l, 1946, Paris 1947, S. 165-194. Nach der von Georg Lukacs zur Verfügung gestellten deutschen Fassung.

In der heute herrschenden Philosophie ist es eine allgemeine Sitte, von der sogenannten »Situation« auszugehen. Wir wollen dies in unseren Betrachtungen ebenfalls tun, obwohl wir unter »Situation« nicht die individuelle Lage des einsam handelnden Menschen verstehen, sondern die Situation, in welcher sich heute die Menschheit befindet. Diese Situation kann kurz so beschrieben werden: Die militärische Macht des Faschismus ist im Krieg vernichtet worden. Jedoch die Entwicklung der Nachkriegszeit zeigt, daß seine politische, organisatorische und - vor allem - ideologische Vernichtung viel langsamer und schwerer vor sich geht, als viele dachten. Politisch, weil manche Staatsmänner, die sich emphatisch demokratisch zu nennen pflegen, die Faschi~ten als Reserve betrachten, sie schonen, ja sie sogar unterstützen. Und auch weltanschaulich erweist sich der Faschismus viel widerstandsfähiger, als viele sich dies nach der vernichtenden Niederlage Hitlers vorgestellt haben. Ich muß gestehen, daß ich nicht in die Reihe der von dieser Entwicklung überraschten und Enttäuschten gehöre. Schon vor dem Krieg und während des Krieges war es die Grundlinie meiner Aufsätze, daß der Faschismus keineswegs eine historisch isolierte Krankheitserscheinung sei, keineswegs ein plötzlicher Einbruch des Barbarentums in die europäische Zivilisation. Der Faschismus, als Weltanschauung, ist vielmehr eine allerdings qualitative Kulmination von erkenntnistheoretisch irrationalistischen, sozial-moralisch aristokratischen Theorien, die in der offiziellen und nicht-offiziellen Wissenschaft, in der wissenschaftlichen und pseudo-wissenschaftlichen Publizistik seit vielen Jahrzehnten eine führende Rolle spielen. Weil hier ein organischer Zusammenhang vorhanden ist, können sich die geistigen Anhänger des Faschismus leicht zurückziehen; sie können Hitler

und Rosenberg preisgeben und sich - für einen neuen Vorstoß unter günstigeren Bedingungen - in der Philosophie von Spengler oder Nietzsche verschanzen. Gelegentlich meiner Vorträge während des Krieges vor gefangenen führenden deutschen Offizieren konnte ich diesen Prozeß schon in seinen Anfängen aus persönlicher Nähe beobachten. Also auch weltanschaulich ist die Vernichtung der faschistischen Ideologie keine einfache Frage. Dadurch, daß man die Schriften von Mussolini, Hitler und Rosenberg aus dem Verkehr gezogen hat, ist noch nichts geschehen. Die Vernichtung muß die der geistigen und moralischen Wurzeln des Faschismus sein. Dies ist aber unmöglich, wenn wir nicht klar sehen, wann und wie jene Krise entstanden ist, aus welcher als besondere, barbarisch unmenschliche Form ihrer Lösung der Faschismus entsprang. Diese Krise ist bis jetzt von verschiedenen Gesichtspunkten verschieden betrachtet worden. Jedoch die letzten Wurzeln, aus denen diese verschiedenen Aspekte stammen, sind identisch, und zwar vor allem dem Sein nach und eben deshalb auch gedanklich. Wenn wir diese Krise gedanklich umschreiben wollen, so stoßen wir auf vier große Komplexe: auf die Krise der Demokratie, auf die der Idee des Fortschritts, auf die des Glaubens an die Vernunft, auf die des Humanismus. Alle vier Krisenkomplexe entstammen aus dem Sieg der großen Französischen Revolution. Alle vier erreichen ihren Höhepunkt in der imperialistischen Periode. Alle vier erhalten einen qualitativ akuten Akzent in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, in der Geburtszeit des Faschismus. Wir wollen nun diese vier Komplexe, der Darstellungsweise nach getrennt, jedoch dem Wesen nach verbunden, betrachten. Denn alle diese Komplexe bilden - seinsmäßig und darum auch gedanklich - eine Einheit. Nur die Klarheit der Darstellungsweise zwingt uns zur Trennung, aber auch dann gehen die verschiedenen Komplexe unwillkürlich ineinander über. Bevor wir auf die Darstellung selbst übergehen, sei eine methodologische Vorbemerkung gestattet. Alle Argumente, die gegen Demokratie, Fortschritt, Vernunft und Humanismus auftauchen, sind nicht bloß ausgeklügelt, sondern entstammen aus dem gesellschaftlichen Sein unserer Epoche. Sie kommen, wie

Marx sagt, nicht aus den Büchern ins Leben, sondern aus dem Leben in die Bücher. Das hat zur Folge, daß alle diese Gedankengänge reale Probleme, reale Leiden, reale Bedürfnisse gedanklich widerspiegeln (freilich in einer verzerrten Weise). Infolge dieser Verankerung im gesellschaftlichen Sein besitzen sie eine gewisse Berechtigung, sind nicht einfach durch Nachweis ihrer Widersprüchlichkeit, ja selbst Unsinnigkeit widerlegbar. Es muß vielmehr gezeigt werden, daß diese Widersprüchlichkeit, diese Unsinnigkeit aus realen Bedürfnissen stammt, daß sie Elemente einer berechtigten Fragestellung in sich birgt, nur eben in schiefer und verzerrter Form, daß deshalb die so entstehende subjektiv berechtigte, aber objektiv falsche Frage nur durch eine auf sie erteilte richtige Antwort widerlegt werden kann. Warum verursachte nun gerade der Sieg der großen Französischen Revolution diese Krise? Darum, weil eben dieser Sieg unter seinen konkreten historischen Bedingungen und in nicht zufälliger Parallelität mit der industriellen Revolution in England, die ökonomische Grundlage der modernen bürgerlichen Gesellschaft, den Kapitalismus in seiner entfalteten Widersprüchlichkeit zum Ausdruck brachte. Weltanschaulich hat dies zur Folge; daß die so entstehende gesellschaftliche Lage gleichzeitig und in unzertrennbarer Weise eine Erfüllung und eine Widerlegung der Ideen der Aufklärung beinhaltet. Wir wollen nun die vier Krisenkomplexe einzeln betrachten.

I

Die gesellschaftliche wie gedankliche Krise der Demokratie entstammt aus dem Widerspruch der politischen Freiheit und Gleichheit zur realen Freiheit und Gleichheit der Menschen. Das bekannte Witzwort von Anatole France, daß das Gesetz mit der gleichen Majestät Reichen wie Armen verbietet, unter der Brücke zu schlafen, umschreibt klar und plastisch diesen Komplex der Widersprüche. Einzelne scharfsinnige Gesellschaftskritiker, wie etwa Linguet1 haben diese Widersprüche schon vor dem Sieg der 1 Henri Linguct (1736-1794), französischer Schriftsteller der Aufklärung. Hauptwerk: »Annales politiques, civiles et litteraires«, 19 Bände, 1777-1792. (Hrsg.)

Französischen Revolution gesehen. Jedoch die formale Freiheit und Gleichheit mußte sich im Leben durchsetzen, damit ihre Widersprüchlichkeit zum Kristallisationspunkt aller politischsozialen - und darum weltanschaulichen - Gruppierungen des 19. Jahrhunderts werde. Und zwar je nachdem, ob erstens der Versuch gemacht wurde, die reale Freiheit und Gleichheit der Menschen zu erreichen oder sich ihr wenigstens anzunähern (Jakobiner, radikale Demokraten, Sozialisten), ob zweitens erstrebt wurde, die politisch-sozialen Endergebnisse der Französischen Revolution gesetzlich zu fixieren und gedanklich zu idealisieren (Liberalismus), ob drittens die Tendenz entstand, die vorhandene reale Ungleichheit und Unfreiheit der Menschen als »Naturtatsache«, als »Naturgesetz« oder metaphysische Gegebenheit zum Ausgangspunkt der Weltanschauung zu machen (reaktionäre Tendenzen verschiedener Art bis zum Faschismus). Diese Gruppierungen, in denen die Möglichkeit der Stellungnahme zu den Hauptfragen der Krise der modernen Demokratie typologisch erschöpft ist, bestimmen die verschiedenen, aber stets eng zusammenhängenden weltanschaulichen Kontroversen des 19.-20. Jahrhunderts. Der verbindende Gedanke in den Bestrebungen der radikalen revolutionären Demokratie und des Sozialismus ist ein neuer Begriff der Demokratie. Er läßt sich in aller Kürze so formulieren: nur wenn alle realen Formen der Abhängigkeit des Menschen vom Menschen, der Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, der gesellschaftlichen Ungleichheit und Unfreiheit verschwinden, kann von Demokratie gesprochen werden. Es muß also eine Freiheit und Gleichheit erreicht werden, ohne Rücksicht auf die ökonomische Lage, auf Nationalität, Rasse, Geschlecht etc. Erst dann wäre die dritte große Etappe der Gleichheit der Menschen erreicht. Diese Etappen könnte man kurz so charakterisieren: das Christentum statuierte eine Gleichheit der menschlichen Seelen vor Gott, die Französische Revolution die der abstrakten Menschen vor dem Gesetz, der Sozialismus wird eine Gleichheit der konkreten Menschen im wirklichen Leben schaffen. Alle diese Tendenzen, so verschieden sie sonst auch sein mögen, haben die Gleichheit stets als unerläßliche Voraussetzung einer wirklichen Persönlich-

keitsentwicklung und niemals als Vernichtung der Persönlichkeit aufgefaßt. Philosophisch bringt nun die neue Deutung und Ausdehnung des Materialismus in der marxistischen Weltanschauung das Neue, daß Freiheit und Gleichheit nicht bloße Ideen, sondern reale Lebensformen der Menschen, reale Beziehungen zwischen ihnen, d. h. reale Beziehungen zur Gesellschaft und durch sie vermittelt zur Natur, sind, daß ihre Realisierung deshalb notwendig die Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen der menschlichen Beziehungen voraussetzt. Bei den eigentlich gesellschaftlichen Siegern der Französischen Revolution entsteht als Folge des Sieges ein immer stärkeres Erstarren und Vertrocknen der ursprünglichen Idee dieser großen Umwälzung. Je mehr der Liberalismus, als geistig-politischer Ausdruck der gesellschaftlichen Tendenzen der radikalen Demokratie und dem Sozialismus gegenüber in eine ideologische Defensive gedrängt wird, desto abstrakter und formalistischer werden die Begriffe von Freiheit und Gleichheit. Sie sind allerdings bereits bei Kant und Fichte bloß formale Ideen. Bei ihnen ist jedoch die philosophische Setzung von Freiheit und Gleichheit als Ideen mit gewaltigen utopischen Hoffnungen verknüpft, deren Path9s, besonders den jungen Fichte 2 , zuweilen über die Schranken des Formalismus hinausdrängt. Geht auch die Praxis der Französischen Revolution selbst selten über den formal-juristischen Begriff von Freiheit und Gleichheit hinaus - man denke an Robespierres Auftreten gegen die Assoziationen der Arbeiter - ist es hier dennoch besonders klar, wie sehr der plebejische Utopismus der Sansculotten über die engen Schranken der formalen Freiheit und Gleichheit hinausstrebt und auf die Realisierung der realen Freiheit und Gleichheit tendiert. Die theoretische Grundlage aller liberalen Auffassungen, mag dies nun bewußt werden oder unbewußt bleiben, ist die klassische englische Dkonomie. Die Auffassung, daß das ungehinderte Handeln des homo oeconomicus unter den Bedingungen 2 Vgl. dazu seine Rede •Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten« (1793) sowie seine Arbeit •Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution• (1793), in: ]. G. Fichte, Sämtliche Werke, hrsg. von J. H. Fichte, Bd. VI, Leipzig o. ]., S. 3 ff., S. 39 ff. (Hrsg.)

der formal-juristischen Gleichheit und Freiheit durch den Automatismus der wirtschaftlichen Kräfte einen sozialen und kulturellen Idealzustand, das größte Glück, die breiteste Entfaltung für alle Menschen hervorbringt, bildet die Basis aller liberalen Hoffnungen. Diese Auffassung wird aber durch die ökonomische Entwicklung selbst bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts widerlegt. Und dieser Widerspruch zwischen der ursprünglichen Auffassung der klassischen englischen Okonomie und zwischen den Tatsachen des kapitalistischen Wirtschaftslebens spiegelt sich im geistigen Zusammenbruch der klassischen Okonomie selbst (Diskussion Ricardo-Sismondi3, Auflösung der RicardoSchule). Diese Krise bringt die proletarische Okonomie zur Reife. Auf der anderen Seite produziert die kapitalistische Okonomie, schon vor der imperialistischen Periode eine ganze Reihe von Institutionen (Schutzzoll, Protektionismus, Monopolorganisationen), die nicht nur eine praktische Widerlegung der ökonomischen Lehren der Klassiker im engeren Sinne bringen, sondern zugleich den Niederbruch aller weltanschaulichen Grundlagen für eine Erneuerung oder selbst Konsolidierung der Menschheit als Folge des freien Spiels der ökonomischen Kräfte im Rahmen der formalen Freiheit und Gleichheit. In dieser Lage entsteht entweder eine empiristische Ideenlosigkeit in der Okonomie oder eine immer apologetischere Verteidigungsposition. Eine in der Wirklichkeit höchst problematisch existierende und stets problematischer werdende Freiheit und Gleichheit wird verteidigt, ohne einen real begründeten Glauben, daß die Zukunftsentwicklung die unmöglich zu verleugnenden Mängel der Gegenwart je wird beheben können. So erstarrt die liberale Weltanschauung dadurch, daß ihre ökonomisch-gesellschaftliche Lage immer irrealer wird. Diese Erstarrung wirkt auch auf eine wichtige Seite des Menschen der bürgerlichen Gesellschaft ein. Die Französische Revolution lebte in der Spannung zwischen Citoyen und Bourgeois in einem freien Volke. Die hochwertige tragisch-menschliche 3 Lukacs spielt hier auf die untcrschied1id1cn Erkenntnisziele der beiden Nationalökonomen an. Während für Ricardo die bestmögliche Güterversorgung das Ziel der Gesellschaft war, sah Sismondi es im größten Glück der größten Zahl. (Hrsg.)

Problematik des Citoyentums, die aus dieser Spannung entsteht, findet ihren Ausdruck in der besten Poesie aller Länder des Jahrhundertanfangs (Schiller, Hölderlin, Stendhal, Shelley). Die oben skizzierte Entwicklung, vor allem ihre reale ökonomische Grundlage, verwandeln jedoch alsbald den Citoyen in eine abstrakte Karikatur, in welcher besonders die aus der großen Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution äußerlich übriggebliebenen, innerlich leer gewordenen Züge am stärksten ins Karikaturistische umschlagen (Flauberts Homais 4 ). Die liberale formalistische Demokratie privatisiert den Menschen. Das Verschwinden des Citoyentums aus dem Leben bedeutet nicht bloß eine Entleerung und Entgeistung des öffentlichen Lebens, von welcher sogleich die Rede sein wird, sondern zugleich eine Verstümmelung des Menschen gerade als Individuum, als Persönlichkeit. Der moderne bürgerliche Individualismus, so wie er auf diesem gesellschaftlichen Boden - einerlei ob zustimmend, gleichgültig oder ablehnend - entstanden ist, will natürlich von dieser Verstümmelung nichts wissen. Von der ästhetischen Lebensbejahung des Jahrhundertendes bis zum düsteren Starren Heideggers ins nichtende Nichts, wird immer und überall ausschließlich die private und persönliche Seite des Menschen - die Bourgeois-Seite nach Auffassung der Französischen Revolution - als wesentlich anerkannt. Da jedoch der Mensch, ob er will oder nicht, ob er es anerkennt oder nicht, Teil und Teilhaber auch des öffentlichen Lebens ist, hat eine solche Negation die notwendige Konsequenz, daß aus der Persönlichkeit alle jene Möglichkeiten und Fähigkeiten, die sich erst in der öffentlichen Tätigkeit entfalten können, künstlich und gewaltsam extirpiert werden. Man muß nur an die Antike denken, um zu sehen, wie sehr ein jeder moderne Individualismus eine gewaltsame Verstümmelung der menschlichen Persönlichkeit ist. Dadurch entsteht jedoch auch eine falsche Strukturierung der privat-ökonomischen Seite des Menschen, des Bourgeois. Je mehr die kapitalistische Ökonomie sich fetischisiert, je mehr sie apologetische Formen annimmt, desto mehr wird die ausbeuterische, die parasitäre Seite des homo oeconomicus mit seiner Persönlich4 Homais ist der Apotheker in Flauberrs »Madame Bovary«. (Hrsg.)

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keit identifiziert. Man geht vom - an sich berechtigten - Gedanken aus, daß zur Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit stets ein konkreter Spielraum unter den Dingen und den menschlichen Beziehungen gehört. Dieser Gedanke wird aber dahin verzerrt, daß die Mittel der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu einem unaufhebbaren Attribut seiner Persönlichkeit fetischisiert werden, weshalb auch dieses Lebensgefühl in ihrer Vergesellschaftung eine Vernichtung der Persönlichkeit überhaupt erblickt. Es wird dabei außer acht gelassen, daß gerade vom Standpunkt der wirklichen Persönlichkeitsentwicklung nur die real vom konkreten Menschen konkret in Tätigkeit gesetzten Wechselbeziehungen mit den Menschen und den Dingen diesen »Spielraum« bilden, daß es für die wirkliche Persönlichkeitsentwicklung, wenn nur diese tätigen Wechselbeziehungen vorhanden sind, völlig gleichgültig ist, welche juristischen Eigentumsbeziehungen zwischen Mensch und Dingen diesen »Spielraum« organisieren, daß im Gegenteil ein Besitz ohne solche tätige Wechselbeziehung mit ihm - und das letztere ist typisch für die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse - die Persönlichkeitsentwicklung hemmt und verzerrt, nicht aber fördert. Dies haben bereits Stoiker und Epikuräer klar erkannt. Auf der anderen Seite entsteht die ebenso fetischisierte Vorstellung, als ob für bestimmte Menschen, für die Nicht-Kapitalisten, Hunger, Entbehrung etc. als Stimulus zur Persönlichkeitsentwicklung unentbehrlich wäre. Damit schlägt der Fetischismus dieser Periode in einen oft heimlichen, immer aber objektiv verlogenen Aristokratismus um, in eine Lehre von zwei Menschenarten, die ganz entgegengesetzte gesellschaftliche Beziehungen zu ihrer Entfaltung brauchen. So bringt diese Entwicklung gleichzeitig eine Verstümmelung und eine fetischisierte Anschwellung und Schrumpfung der Persönlichkeit hervor. Wir können hier unmöglich die Krise der liberalen W e!tauffassung ausführlich schildern. Wir heben nur zwei Momente hervor. Erstens das Problem der sogenannten »Vermassung«, wo bestimmte ökonomische Seiten der kapitalistischen Entwicklung sozialpsychologisch und sozialphilosophisch fetischisiert werden. In ihr kommt eine wichtige gedankliche Widerspiege-

lung dieser Krise zum Ausdruck: die allgemeine Trennung von Liberalismus und Demokratie, wobei die letztere außerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung immer schwächer und einflußloser wird. Also vollständige Trennung des liberalen Gedankens von den Massen, Furcht vor den Massen und zugleich Verachtung der Massen. Diese Entwicklung fängt bereits bei John Stuart Mill an und erreicht ihren Gipfelpunkt in der modernen Sozialpsychologie Le Bons, in der Soziologie von Pareto, Michels etc. Bei den innerlich ehrlichen Vertretern des liberalen Gedankens verknüpft sich dieses Stadium mit einer tiefen Resignation. Der bedeutendste Soziologe unserer Periode, Max Weber, kämpfte sein ganzes Leben lang um eine Demokratisierung des Wilhelminischen Deutschland. Er tat es aber mit der Anschauung, daß dadurch ein »technisch« etwas besser funktionierendes System entstehen würde, ohne jeden Glauben an einen wirklichen Umschwung des deutschen Volks, was bei seinen gedanklichen Voraussetzungen nur ein rechtschaffenes Eingeständnis der von ihm aus sichtbaren Sachlage war. Mit dem Problem der »Vermassung« ist das der »Elite«, der »Führerauswahl« eng verknüpft. Die Fragestellung ist an sich wiederum. berechtigt, sogar der Anspruch selbst, daß die Elite sich den Massen gegenüber, die sie angeblich vertritt, weitgehend selbständig macht, ist eine nicht unrichtige Feststellung von Tatsachen. Die Verzerrung fängt erst dort an, wo die Frage überhistorisch verallgemeinert wird, wo man außer acht läßt, daß es sich um den sozialen Tatbestand einer bestimmten Phase der kapitalistischen Entwicklung handelt. Was richtig festgestellt wird, drückt eine der zentralen Schwächen der bürgerlichen formalen Demokratie aus: die Massen erscheinen - formal, im Akt der Abstimmungen - als absolute, inappellable Herrscher; de facto sind sie jedoch vollständig machtlos und sollen auch nach dem Willen der wirklichen Drahtzieher - machtlos bleiben. Es genügt, um diesen Tatbestand völlig klarzumarhen, auf wenige Fakten hinzuweisen, so auf die enorme Kostspieligkeit der Wahlapparate, der Massenzeitungen etc., deren wirtschaftlicher Charakter notwendig alle Macht in wenige Hände konzentriert. Die von dort dirigierte Presse, Literatur, Kinos etc. wirken in der Richtung der Apologetisierung der Gesinnun412

gen der Massen; denn nur so erzogen, können sie bei den Wahlentscheidungen durch Propaganda leicht beeinflußbar werden. Kurz gefaßt: die sogenannte neue Elite wird in Wirklichkeit von wenigen anonymen, zumeist im Hintergrund bleibenden Figuren ausgewählt, teilweise wählt sie sich selbst aus, aber ihr Niveau, ihre Verantwortungslosigkeit, ihre Korruption wird auf das Konto der Demokratie, der Massen, die sie - formal - gewählt haben, geschrieben. Auf diesem zwiespältigen Boden kann nur eine Inkohärenz, ja Hypokrisie des Denkens entstehen, und der einzige Ausweg für die subjektive denkerische Ehrlichkeit bleibt eine tiefe Resignation. Die neue offen antidemokratische Ideologie entsteht auf dem Boden dieser Krise. Der am Anfang des Jahrhunderts gegen die kapitalistische Kultur rebellierende romantische Antikapitalismus hat anfangs demokratische Züge, verliert sie jedoch bald, nachdem die Krise schärfer hervortritt (Carlyles Wendung nach 1 848 5 ). Die romantische Opposition der zweiten Hälfte des Jahrhunderts steuert offen auf Ungleichheit und Unfreiheit der Menschen als Grundlage einer »gesunden« Gesellschaft. Diese Auffassung hat viele Berührungspunkte mit der RestaurationsIdeologie nach der Französischen Revolution, ist aber keineswegs einfach der Versuch der Wiederherstellung des damals vernichteten feudalabsolutistischen Systems, sondern eben ein neues Produkt der aktuellen modernen Krise der Demokratie. Man kann Nietzsche als die größte Erscheinung des Übergangs zu dieser Weltauffassung betrachten. Es ist verständlich, daß die antidemokratische UngleichheitsIdeologie in der Biologie ihre Grundwissenschaft sieht. Denn nur auf dem Wege des Nachweises einer biologisch unaufhebbaren Ungleichheit der Menschen kann sie selbst den Schein einer gedanklichen Begründung erhalten. Freilich ist diese Biologie keine Wissenschaft, sondern ein Mythos. Dies ist schon bei Nietzsche klar ersichtlich; seine »Herrenrasse« ist in Wirklichkeit romantisch-moralisch begründet und die Biologie bildet nur eine mystische Garnierung dazu. 5 Lukacs bezieht sidi auf die Wendung Thomas Carlyles von der Abfassung des Werkes »The French revolution« (1837) bis zur heroisierenden Arbeit »The history of Frcderick the Grcat« (1858-1865). (Hrsg.)

Daneben entsteht ein ganz grob mythifizierter Biologismus: der der Rassentheorie. Auch sie entsteht nicht, wie zumeist vorgegeben wird, aus Ergebnissen der Naturwissenschaften, sondern aus dem politisch-sozial entstandenen methodologischen Bedürfnis, die radikale Ungleichheit zwischen den Individuen innerhalb eines Volkstums oder zwischen Völkern nachzuweisen. Die alte Wahrheit, daß die Verschiedenheit, ja Einzigartigkeit von Persönlichkeiten, sowohl bei Menschen wie bei Völkern mit der Gleichheit der Rechte und erst recht mit der Gleichheit der ökonomisch-sozialen Entwicklungsbedingungen durchaus verträglich ist, wird nun schroff geleugnet. Bei Gobineau erscheint die erste Systcmatisierung der Rassentheorie der radikalen Ungleichheitslehre. (Es ist nicht zufällig, wie aus dem Briefwechsel mit Tocqueville hervorgeht, daß die amerikanischen Sklavenhalter seine ersten begeisterten Leser gewesen sind6.) Denn erst eine so statuierte radikal-qualitative Andersheit zwischen den Menschen kann eine Moral, eine Soziologie, eine Geschichtsphilosophie begründen, aus denen das Nicht-Menschsein bestimmter Rassen folgt, eine weltanschauliche Begründung für die völlige Konfiszierung ihrer Menschenrechte. Auch innerhalb dieses Lagers gab es heftige Richtungskämpfe, wobei der grob mythifizierte Biologismus immer mehr die Oberhand erhielt, und die Begründung durch eine - freilich ebenfalls mythifizierte - Moralpsychologie immer mehr in den Hintergrund drängte. Aber daß die Linie Chamberlain-Rosenberg am Ende die von Nietzsche überwand, darf die Tatsache nicht verdunkeln, daß in der Beantwortung der Krise der Demokratie die beiden Linien konvergieren. So entstand zwisd1en den beiden Weltkriegen die paradoxe Lage, daß fast die ganze zivilisierte Welt demokratisch regiert wurde, jedoch die Demokratie trotzdem wehrlos, ohne Verteidiger stand. Die Weimarer Republik war eine Demokratie ohne Demokraten und brachte, weil ihr Herrschaftsapparat für eine kleine anonyme Minderheit wirkte, eine tiefe allgemeine Ent6 Vgl. den Brief von Gobineau an Tocqueville vom 1. V. 1856 und Tocquevilles Antwort vom 30. VI. 1856, in: Correspondance entre Alexis de Tocqueville et Arthur de Gobineau, 184;-1859, hrsg. von L. Schcmann, Paris 1909, S. 282 ff. (Hrsg.)

täuschung an der Demokratie in den deutschen Massen hervor. Ihre besten Verteidiger waren, wie Max Weber, ohne das Pathos einer tiefen Überzeugung. Und was das Wichtigste ist, die einzigen möglichen tatkräftigen Verteidiger der Demokratie, die revolutionären Arbeiter, wurden in eine feindliche Gegensätzlichkeit zur Demokratie gedrängt. Die allgemein verbreitete Perspektive dieser Zeit, daß die Welt zwischen Faschismus und Bolschewismus zu wählen habe, steigerte die Verwirrung unter den Feinden des Faschismus aufs .Außerste, zerstörte eine jede mögliche antifaschistische Front. Erst ein solches ideologisches Chaos konnte der Faschismus dazu ausnützen, um vor verzweifelten Massen, vor einer verzweifelten Intelligenz als Ausweg aus der Krise der Demokratie zu erscheinen. So konnte die Strategie Hitlers bis 1941 von Sieg zu Sieg schreiten. Erst mit dem Bündnis von 1941, mit dem Bündnis von Demokratie und Sozialismus, entstand eine Wendung, eine Möglichkeit der Rettung der Zivilisation.

II

Alle diese Probleme weisen auf den zweiten Krisenkomplex: auf die Krise des Fortschrittsgedankens. Philosophisch setzt der Begriff des Fortschritts Entdeckung von Tendenzen in der Gesellschaft voraus, die eine ständige (wenn auch nicht gleichmäßige) Steigerung der menschlichen Werte in der Wirklichkeit selbst garantieren. Eine solche philosophische Konzeption kann eine Annäherung an einen Idealzustand, an eine Idee beinhalten - darum auch einen unendlichen Progreß wie bei Kant -, kann das Erreichen eines Zustandes, der qualitativ von den früheren verschieden ist und die Entfaltung der »natürlichen« Kräfte der Menschheit garantiert, sein (Kapitalismus in der klassischen Ökonomie, Zielsetzungen der Aufklärung, der französischen Revolution etc.). Immer aber handelt es sich um eine Höherentwicklung in der Wirklichkeit selbst. Dieser Glaube an die Realisierung eines Fortschritts in der Wirklichkeit geht aber in der oben umrissenen Krise verloren. Wird jetzt die bloße Unendlichkeit des Progresses pointiert, wie

im liberalen Neukantianismus, so geht jede Beziehung zur gesellschaftlichen Realität verloren, alles wird abstrakt, kraftlos, unüberzeugend. Eine solche Entwicklung ist jedoch gesellschaftlich notwendig. Sie erscheint bei den Neukantianern in einer akademischen Form. Aber diese Struktur der Weltanschauung, die notwendige radikal unüberbrückbare Inkongruenz zwischen Ideal und Wirklichkeit bringt sehr bald in der wichtigsten intellektuellen Elite einen tiefen Kulturpessimismus hervor. Von Schelers »Ohnmacht der Vernunft«? bis zu Valcry 8 entsteht die Weltanschauung eines heroischen Alleinstehens, eines heroischen Sterbens auf verlorenem Posten; Ideale werden verkündet, von denen man selbst weiß, daß sie keine Beziehung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit haben, oder selbst nur haben können. Die Kulturentwicklung der geistigen Elite sondert sich resigniertaristokratisch von der feindlich-ideenlosen Wirklichkeit ab. Eine Verwirklichung der Ideale kann nur rein ins Innere verlegt werden. Der einzelne Mensch kann eine Entwicklung haben, kann in dieser Entwicklung einen Fortschritt aufweisen, die Gesellschaft nicht. Damit hängt der in den letzten Jahrzehnten einflußreich gewordene Gegensatz von Kultur und Zivilisation zusammen. Wenn wir ihn ganz allgemein fassen, so besagt er, daß in der äußerlichen Welt der Zivilisation, insbesondere in der technischen Zivilisation ein Fortschritt möglich sei, in der wirklich wesentlichen Welt der Kultur jedoch nicht. Auch hier handelt es sich um die schiefe Beantwortung einer berechtigten Frage. Die beste Intelligenz protestierte mit Recht dagegen, daß die Entwicklung der Kultur nach dem Schema einer rein technischen Entwicklung behandelt werde. Aber die Tatsache der Ungleichmäßigkeit der Kulturentwicklung ist für den Dialektiker gerade das Prinzip ihrer Entwicklung selbst. Und daß etwa ein Fortschreiten, ein Fortschritt in der Kunst festgestellt werden könne, ohne daß deshalb das Spätere als künstlerisch höherstehend als das Frühere bewertet werden müsse, hat bereits Schiller gewußt. 7 Vgl. etwa Max Scheler, :i>Die Wissensformen und die Gesellschaft«, 2. durchges. Aufl. mit Zusätzen hrsg. von M. Schcler, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. VIII, Bern-München 1960, S. 2r, S. 50. (Hrsg.) 8 Vgl. etwa sein i.La soirCe avec Monsieur Teste« (1894). (Hng.)

Erst die Verlorenheit der besten Intelligenz in der heutigen Gesellschaft, ihre »organische« Unfähigkeit, Wege und Ziele zu sehen, bringt den modernen Gegensatz von Kultur und Zivilisation hervor. Und es wäre lehrreich zu untersuchen, wie diese Entfremdung aufs allertiefste mit der Entfremdung der besten Intelligenz vom Demokratismus zusammenhängt, wobei es selbstverständlich ist, daß ein Stehenbleiben bei liberalen Idealen ebenfalls einen Teil dieses Entfremdungsprozesses bildet. So entsteht schon verhältnismäßig früh ein Leugnen des geschichtlichen Fortschritts überhaupt. (Am radikalsten bei Schopenhauer; aber auch Kierkegaard und der deutsche romantische Historismus, Ranke und seine Schule, gehören letzten Endes hierher.) Bei Nietzsche entsteht der Versuch, auf dieser Grundlage ein Weitersehreiten zu seiner reaktionären Utopie gedanklich zu begründen. Aber erstens ist seine wirkliche Geschichtsauffassung der von Schopenhauer sehr nahe verwandt: Die Geschichte zeigt eine ständige Korruption, ein unaufhaltbares Sinken, und die einzelnen Wendungen sind durch nichts begründete Wunder. Zweitens ist seine Lehre von der Wiederkehr des Gleichen eine neue Aufhebung einer jeden Geschichtlichkeit, eines jeden Fortschritts. Es ist kein Wunder, daß er dort, wo ein Fortschritt in seinem Sinne statuiert werden soll, ins rein Mythische verfällt. Hier wird ein interessanter struktureller Gedankenzusammenhang sichtbar: Der gesellschaftliche Pessimismus geht auf eine historische Statik aus; der Antidemokratismus hängt aufs engste mit der Antifortschrittlichkeit zusammen: Soweit es etwas Wertvolles in der Geschichte gibt, ist es ein früherer Zustand. Der Prozeß selbst muß eine Verschlechterung sein, und das Maximum, das realisiert werden kann, ist eine Restitution des Ursprünglichen. Aber auch dies entsteht nicht organisch aus der Entwicklung selbst, sondern stellt einen qualitativen Sprung dar. Dieser letztere Gedanke beherrscht insbesondere die Rassentheorie. Was im romantischen Antikapitalismus das Mittelalter war, ist hier der Urzustand der reinen Rasse. Die Geschichte ist nichts weiter als eine Vermischung der Rassen und darum ihre Korrumpierung. Daher der Pessimismus Gobineaus. Die faschistische Ideologie baut sich auf diesen Grundlagen auf, leugnet

radikal jeden Fortschrittsgedanken und stellt durch das »Wunder« - Hitlers Bezeichnung für seine eigene Sendung die Restitution des Urzustandes in Aussicht. Damit bekommt der Elitegedanke, der weltanschauliche Aristokratismus einerseits eine auch für breitere Massen plausible, weil auf ganze Völker anwendbare Geltung, andererseits eine völlig starre und zugleich völlig willkürliche Begründung. Die radikalen Rassisten waren lange Zeit kleine Sekten, aber umgeben von einer weltanschaulichen Umwelt, die selbst aristokratisch war und den Elitegedanken zwar vorwiegend moralisch-sozial, psychisch oder spirituell begründete, letzten Endes aber immer auf die mythifizierte Rasse zurückgreifen mußte (Nietzsche und Spengler). So dehnte sich ihr Einfluß immer mehr aus. Freilich erst die gesellschaftliche und soziale Vorbereitungszeit des zweiten Weltkrieges brachte die faschistische Massenbewegung zum Siege. Es ist hier eine Konvergenz zwischen Demokratismus und Antidemokratismus und zwischen den sogenannten letzten Positionen in philosophischen Fragen feststellbar, die keine bloße Konstruktion ist, keine - stets mehr oder weniger willkürliche - »Typologie«, wie in den Geisteswissenschaften. Es handelt sich vielmehr darum, festzustellen, wie die Denker zu bestimmten realen Lebenstendenzen ihrer gesellschaftlichen Umwelt stehen, wie sie diese verstehen, sie bejahen oder ablehnen, zur Kenntnis nehmen oder verleugnen etc. Die Verknüpfung von Fortschritt und Demokratie einerseits, von Leugnen des Fortschritts und aristokratischer Weltanschauung andererseits ist also eine Tatsache des Lebens selbst. Nicht zufällig taucht hier der Begriff des Pessimismus auf. Aud1 hier kann ein wichtiger- ebenfalls in der realen gesellschaftlichen Entwicklung verankerter - Zusammenhang festgestellt werden. Es gehören nämlich einerseits Fortschritt, Optimismus und Demokratie, andererseits Fortschrittsfeindlichkeit, Pessimismus und Aristokratismus, wieder nicht zufällig, zusammen. Denn obwohl in den Argumentationen zwischen Optimismus und Pessimismus Naturtatsachen eine große Rolle zu spielen pflegen, entscheidet doch letzten Endes die gesellschaftliche Perspektive, und die Naturtatsachen liefern bloß die Belege. Keinen demokratischen

Optimisten wird die notwendige Einsicht, daß die Erde und mit ihr die ganze menschliche Kultur einmal untergehen müsse, in seinem Optimismus irremachen, und andererseits haben Chamberlain und Nietzsche gezeigt, wie der Darwinismus für die Ziele einer Anti-Entwicklun~s-Philosophie ausgenützt werden kann. Die wachsende Macht des Pessimismus in unseren Tagen zeigt besonders klar diese gesellschaftlichen Wurzeln, tritt er doch fast durchweg als Kulturpessimismus, als Leugnen des Fortschritts in den wesentlichen Fragen der Menschheit auf. Mit der oben geschilderten Lage der Intelligenz unserer Zeit hängt aufs engste zusammen, daß der Pessimismus immer stärker den Akzent einer besonderen Vornehmheit erhält, im Gegensatz zum robusten, plebejischen Optimismus; er erscheint als die einzig mögliche echt geistige Haltung, als etwas moralisch Höherwertiges dem Optimismus gegenüber. Auch hier kann man eine gewisse relative Berechtigung erblicken: Im Milieu einer Apologetik des kapitalistischen Lebens, die bemüht ist, alles Häßliche, Niedrige, Unmenschliche daran teils zu leugnen, teils zu idealisieren, im geistigen Milieu eines vulgären Fortschrittsbegriffs, der in der Weiterentwicklung dieser Ökonomie, ihrer technischen Zivilisation, ohne ihre menschen- und kulturzerstörende Wirkung zu berücksichtigen, eine geradlinig fortschreitende Aufwärtsbewegung sieht, kann der Skeptizismus, ja der Pessimismus tatsächlich intellektuell und moralisch höher stehen als seine Widersacher. Der Umschlag erfolgt jedoch sehr bald - wenn nämlich dieser Pessimismus in einen selbstgefälligen Aristokratismus umschlägt, wenn er zu einem Bündnis mit den Mächten der Reaktion führt. Der Antihistorismus und der metaphysische Pessimismus Schopenhauers treten mit der Prätention auf, eine Erhebung über alle Kleinlichkeit des gesellschaftlichen und politischen Lebens zu beinhalten. In Wirklichkeit bedeuteten sie, gerade bei Schopenhauer selbst, eine Unterstützung des weißen Terrors in und nach 1848. Und die Steigerung solcher aristokratisch-pessimistischen Tendenzen nach Schopenhauer bringt diesen ihren dekadent-reaktionären Charakter nur noch stärker zum Ausdruck. Nicht umsonst spricht Thomas Mann in seiner Charakteristik unserer Zeit von der Anziehungskraft von Krankheit, Verwesung und Tod.

Alle diese Tendenzen erhalten ihre äußerste Steigerung im Faschismus, denn daß diesen Rassentheorien ein immanenter Pessimismus und ein absoluter Aristokratismus zu eigen ist, haben wir bereits gesehen. Der »heroische Pessimismus« der Faschisten ist die Philosophie der äußersten Menschenverachtung, der gewissenlosen Ausnützung der tiefen Verzweiflung breiter Massen und verirrter Intelligenz. Die Vernichtungslager von Auschwitz oder Maidanek hat natürlich die imperialistische Politik des Faschismus nur mittelbar hervorgebracht. Aber dieses politische System und diese seine Außerungen wären unmöglich auszubilden gewesen ohne jenen Aristokratismus, der jeden Andersrassigen nicht als Menschen betrachtet, ohne eine generell verzweifelte allgemeine Weltanschauung, ohne eine gesellschaftliche und historische Perspektivenlosigkeit, die das Schicksal einer ganzen Nation wie ein am Rand des Abgrunds lebender Hasardeur behandelt.

III

Wir haben uns der eigentlichen philosophischen Problematik schon ziemlich angenähert. Unsere folgenden Betrachtungen führen uns zur Zentralfrage: zur Bejahung oder Verneinung der Vernunft. Es ist ein falscher Akademismus, in der Stellung der Philosophie zur Vernunft eine immanente Frage der Philosophie - der Erkenntnistheorie, Phänomenologie, Ontologie etc. - zu erblicken. Alle diese Disziplinen sind nur Momente der Gesamtphilosophie, deren Grundlage, wie schon die Griechen, auch Fichte, von den Materialisten gar nicht zu reden, gesehen haben, im Sein selbst zu suchen ist. Jede erkenntnistheoretische etc. Fragestellung und Antwort hängt davon ab, wie der Philosoph sich den Zusammenhang von Sein und Vernunft denkt, ob für ihn der Kern der Existenz, das Seiende des Seins als vernünftig oder unvernünftig erscheint. Es ist hier unmöglich, die philosophische Problematik des Irrationalismus auch nur anzudeuten. Wir weisen bloß auf seinen Zusammenhang mit unserem Problem, mit dem Dilemma von Aristokratismus oder Demokratismus hin. Die Koordina420

tion ist auch hier klar. Freilich nicht in dem vereinfachten Sinn, ob ein Denker unmittelbar politisch rechts oder links steht. In dieser Hinsicht gibt es oft Ausnahmen, z. B. Sore!. Aber weltanschaulich ist der Zusammenhang eindeutig: Die Stellungnahme gegen den Fortschritt steht fast immer im engen Zusammenhang mit dem Irrationalismus und mit dem eigenartigen Begriff der neuen Elite. Sore! war seiner Grundtendenz nach sicher sozialistisch gesinnt; ebenso sicher aber nicht demokratisch. Die verhängnisvolle Spaltung von Sozialismus und Demokratie zeigt sich aud1 in seiner Philosophie. Der historischen Genesis nach ist die gegen die Vernunft gerichtete Ideologie im Kampf gegen die Französische Revolution entstanden und ist eben darum scharf gegen den Fortschrittsbegriff, gegen die notwendige Zerstörung des Alten durch das Neue gerichtet. Sie ist also von vornherein eine Verteidigung der alten aristokratischen Gesellschaft, und diese Verteidigung ist nicht nur politisch. Sie ist weltanschaulich gegen die Vernunftherrschaft der Aufklärung gerichtet und will Institutionen etc. nur darum schützen, weil sie eben existieren, Traditionen, weil sie lebendig scheinen, ganz unabhängig davon, ob sie vernünftig sind oder nicht. Es ist also eine Ablehnung der Vernunft als Kriterium. Die so statuierte Unabhängigkeit von der Vernunft verwandelt sich in eine positive Auffassung: Eben weil diese Institutionen, Traditionen etc. etwas Höheres als jede Vernünftigkeit vorstellen, offenbart sich in ihnen der übervernünftige irrationale Kern der Wirklichkeit überhaupt. Daß den heutigen lrrationalisten Burke oder De Maistre oder Haller reichlich rationalistisch vorkommen würde, zeigt nur die gewaltige Entwicklung dieser Weltkonzeption in Breite und Tiefe. Der Zusammenhang des Irrationalismus mit der aristokratischen Weltanschauung bestimmt aber nicht nur ihre Genesis, sondern auch ihre philosophische Struktur selbst. Man denke an die Kontroverse zwischen Schelling und Hegel über die intellektuelle Anschauung 9• Hier wird der Gegensatz auf eine dauernde

9 Lukacs hat die Polemik Hegels gegen Schelling über die intellektuelle Anschauung ausführlich in seinem Budt „Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellsch1ft< (Berlin 1954, S. 494 ff.) dargestellt. (Hrsg.)

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philosophische Höhe gehoben, und zugleich erhalten wir scharfe Formulierungen des aristokratischen, beziehungsweise demokratischen Charakters der beiden Standpunkte. Schelling meint, daß zur intellektuellen Anschauung, d. h. zum Organ, das den Zugang zum Wesen der Wirklichkeit sichert, eine angeborene, nie erlernbare Generalität vonnöten ist. Dieser Gedanke entwickelt sich weiter über Schopenhauer, über Nietzsche und Bergson, über die George-Schule bis zum Irrationalismus der Gegenwart. Ob eine ästhetische, moralische, philosophische, psychologische etc. »Generalität« erforderlich ist, ist nicht entscheidend wichtig. Wichtig ist das aristokratische Prinzip, das seit Chamberlain auch als Rassenprinzip auftritt. Gegen diese Auffassung vertritt Hegel die Anschauung, daß ein jeder Mensch, der Möglichkeit nach den Zugang zur philosophisch erfaßten Wirklichkeit besitzt. Das bedeutet keineswegs, daß Hegel die philosophische Erkenntnis für den »gesunden Menschenverstand« ohne weiteres für möglich hielt, daß er die fachgemäßen Vorarbeiten zur Philosophie als überflüssig betrachtete. Sein Standpunkt bedeutet nur so viel, daß dieser Weg prinzipiell einem jeden normalen Menschen offensteht. Dabei ist sein Bei-spiel charakteristisch: Wie jeder Napoleonische Soldat Marschall werden könne, aber selbstverständlich nicht jeder es wurde, so stehen die Menschen zur philosophischen Erkenntnis. Die Hegelsche »Phänomenologie des Geistes« ist schon darum gegen Schelling gerichtet, weil dem irrationalistisch genialen »Sprung« der intellektuellen Anschauung die vernünftige Bloßlegung des Weges zur Welterfassung individuell wie gattungsmäßig, anthropologisch wie gesellschaftlich-geschichtlich gegenübergestellt wird. Freilich darf die hier vollzogene Wendung nicht abgeschwächt werden: Die Hegelsche Vernunft ist nicht einfach mit der der Aufklärungszeit identisch. Dazwischen liegt die Französische Revolution und die durch ihren Sieg verursachte Menschheitskrise, deren Reflexe in der Krise des demokratischen Gedankens und des Fortschrittgedankens wir bereits gesehen haben. Bei Hegel reicht diese Wendung bis zu den letzten Fragen und bis zur Struktur der Weltanschauung selbst herunter. Auch hier ist nur eine ganz kurze Umschreibung des Phänomens möglich. 422

Hegels Beziehung zur irrationalistischen Philosophie seiner Zeit haben wir bereits gesehen; auch wissen wir, wie sich diese zur Restauration und zur Romantik verhielt. Hegels scharf ablehnende Stellung zu diesen Tendenzen wird in der letzten Zeit oft geleugnet oder abgeschwächt, obwohl man nur die Stellen gegen Haller oder Savigny in der »Rechtsphilosophie« nachlesen muß, um seine Position klar zu sehen. Auf der anderen Seite war die Aufklärung ein einziger großer Kampf um das Reich der Vernunft. In der Französischen Revolution wurde nun, wie dies auch Hegel klar ausspricht, die Vernunft zur Herrscherin von Gesellschaft und Geschichte. Das Reich der Vernunft ist also verwirklicht - wie sieht aber diese Verwirklichung aus? Engels zeigt sehr richtig, daß das verwirklichte Reich der Vernunft sich eben als Reich der Bourgeoisie erweist. Die hier hervortretenden Widersprüche auf allen Lebensgebieten haben wir bereits, wenn auch nur andeutend, gestreift. Angesichts der Widersprüchlichkeit des ganzen gesellschaftlich-geschichtlichen Seins stehen vor der Philosophie drei Möglichkeiten: erstens Verengung und Verarmung der Vernunft, damit das Reich der Bourgeoisie auch weiter als Reich der Vernunft erscheinen könne; zweitens Auffassung der Wirklichkeit als unvernünftig, wobei wir auch hier die vielfachen Variationen innerhalb beider Standpunkte vernachlässigen müssen. Hegel tritt hier mit einem tertium datur auf: Während die eine Richtung vor dem Auftreten der Widersprüche in die Leugnung der Vernunft flüchtet und die andere die Widersprüche zu verflüchtigen versucht, stellt sie Hegel radikal in den Mittelpunkt der Philosophie, sowohl der Logik und der Ontologie wie jedes konkreten Teils, besonders der Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie. Alle Momente in der Wirklichkeit, die - isoliert und verabsolutiert - als endgültige, unaufhebbare Gegebenheiten aufgefaßt, die Grundlage des Irrationalismus bilden, erscheinen bei Hegel als bloße Momente der neuen Vernunft, als Probleme, die dialektisch gelöst werden. Alle Widersprüche, die die vorhegelsche Philosophie als die zwischen Vernunft und Wirklichkeit aufgefaßt hat, erscheinen als dialektische Widersprüche des Verstandes, die dann zur neuen Vernünftigkeit weitertreiben. 423

Hegel wird damit zum Vollender zweier Entwicklungslinien: erstens der uralten Entdeckung der Widersprüchlichkeit seit den Eleaten und Heraklit, wobei er aber die Widersprüchlichkeit zur systematisch durchgeführten Grundlage der ganzen Philosophie macht; zweitens der modernen Philosophie der Vernunft seit Descartes, aber auf der Basis jener Weiterveränderung, die die Französische Revolution hervorgebracht hat. Eine ausführliche Darlegung ist hier selbstredend nicht möglich. Wir wollen nur zur Beleuchtung der Problemlage auf zwei charakteristische Momente hinweisen. Einerseits auf die Vernunft in der Geschichte. Der vielgenannte Antihistorismus der Aufklärung ist freilich eine reaktionäre Legende. Aber die Aufklärung faßte das Grundproblem doch so auf, daß die eine und unwandelbare Vernunft sich in geschichtlichen Wandlungen allmählich durchsetzt. Hegel dagegen zeigt die Wandlung, die Vollendung, das Zu-Sich-Kommen, das Sich-Selbst-Erreichen, das Selbstbewußtwerden der Vernunft in der Geschichte, durch die Geschichte. Andererseits erscheinen die Widersprüche des Lebens, gesteigert bis zur Tragödie, als Vehikel, als höchste Erscheinungsformen der Vernunft selbst. Dies ist besonders in der Beziehung von Individuum uµd Gattung sichtbar; aber auch Volk und Nation sind von diesem Standpunkt Individuen. Die Tragödie erscheint als die höchste Form der Realisierung der Vernunft. Dies ist der gemeinsame Grundgedanke von Goethes Faust und Hegels »Phänomenologie des Geistes«. So entsteht bei Hegel die adäquate gedankliche Auflösung und Aufhebung der neuen, durch die Französische Revolution entstandenen Weltlage. Jedoch bei all ihrer Größe bedeutet diese Philosophie nur eine relative, nur eine methodologische Vollendung. Der historische Begriff der widerspruchsvollen Vernunft war gefunden, aber seine Vollendung, seine historische Konkretisierung für Hegel selbst dennoch unmöglich. Die Freiheit soll in ihrer neuen Fassung der Zentralbegriff der widerspruchsvollen inneren Entwicklung der Vernunft sein, aber die Hegelsche Philosophie der Freiheit geht infolge der Ungunst der Periode überhaupt und der Deutschlands speziell im Konkreten zuweilen sogar hinter die Französische Revolution zurück. So umgibt ein schillernder Nebel die Gestalt Hegels. Manche

nennen ihn den Philosophen des reaktionären Preußentums. Herzen sieht in seiner Methode »die Algebra der Revolution« 10 • Da seine bürgerlichen Schüler und Nachfolger nicht auf der Herzensehen Linie gehen, geht das wertvoll Neue der Hegelschen Dialektik immer mehr verloren; die akademischen Erneuerungen bleiben gerade in der Hauptfrage erfolglos. Erst bei Marx kommt es zu einem Hineinarbeiten der konkreten Ergebnisse und Erfahrungen der Periode in die philosophische Methode. Bei Marx wird die Hegelsche Vernunft radikal irdisch, die Verwirklichung der Freiheit und Gleichheit zu einer Forderung der realen Freiheit und Gleichheit für real existierende Menschen in einer konkreten und realen Gesellschaft. Erst durch Marx und seine großen Nachfolger wird die reale, konkrete, sich widerspruchsvoll, in Gegensätzen entwickelnde, konstituierende, zur Selbstbewußtheit, zur Selbsttätigkeit erwachende Gattung zum wirklichen Subjekt der Geschichte. Erst durch Marx wird die wirkliche Entwicklung des Menschen (nicht seines durch den Kapitalismus entstellten Atombewußtseins in einer fetischisierten Welt) in seinen realen und konkreten, widerspruchsvollen, gegensätzlichen Beziehungen zu seinen Mitmenschen sichtbar. Die Beziehungen zwischen den Menschen erscheinen als Fundament der Struktur und Dynamik des Fortschritts, als lebendige Organe der Realisation der Vernunft in der Geschichte. Diese große Philosophie ist in der bürgerlichen Welt bis jetzt fast völlig wirkungslos geblieben; eben deshalb mußte die Dialektik vergessen oder entstellt werden. Jedoch die Entwicklung selbst läßt sich durch dieses Ignorieren und Entstellen nicht aufhalten: Sie wirft ununterbrochen neue und immer höhere Probleme der Dialektik auf, die - infolge jener philosophischen Entwicklung, die oben skizziert wurde - nunmehr als »unaufhebbare Gegebenheiten« des Irrationalismus erscheinen. So erhalten die verengten und verzerrten Fragestellungen notwendig schiefe und falsche Lösungen, können keinen Zugang zu den realen Problemen der Zeit finden. 10 Alexander Herzen, Mein Leben. Memoiren 3 Bände, Berlin 196i, Band I, S. 540. (Hrsg.)

und

Reflexionen,

1812-1868,

IV

Damit sind wir bei der Krise des Humanismus angelangt. über die Tatsache dieser Krise braucht man kein Wort zu verlieren. Es genügt daran zu denken, daß der Faschismus 12 Jahre in Deutschland geherrscht hat. Worin aber besteht diese Krise des Humanismus? Der Humanismus ist ursprünglich und dem Wesen nach eine Erkenntnis vom Menschen, seine Würde und seine Rechte zu verteidigen. Darum ist der Humanismus kämpferisch aggressiv von der Renaissance über die Aufklärung bis zu den großen Tagen der Französischen Revolution. Die von uns oben analysierte Krise wirkt sich nun für den Humanismus darin aus: je stärker die Verbundenheit mit den antidemokratischen, antifortschrittlichen und besonders rassentheoretischen Philosophien, desto stärker werden in allen Wissenschaften die antihumanistischen Richtungen. Der Humanismus verliert seine Basis in den konkreten Wissenschaften vom Menschen. Und die Verteidigung der Würde und der Rechte des Menschen gerät ihrerseits immer stärker in eine Defensive, die ideologisch in Abstraktionen steckenbleibt, die immer stärker zur Passivität, zur Entfremdung von ·der realen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu einem blassen Utopismus führt. Die entscheidenden Gründe dieser Krise sind aus unseren bisherigen Ausführungen klar hervorgetreten: Meint das isolierte Individuum, dessen Lebenspostulate von dieser Isolation ausgehen, als Privatperson einer entfremdeten, toten und entmenschten Gesellschaft gegenüberzustehen, so kann auf diesem Boden der Humanismus nur pazifistische Rückzugsgefechte schlagen. Diese Verarmung des Humanismus zeigt sich klar in seiner Beziehung zur eigenen Vergangenheit, zu deren größter praktischer Leistung, zur Französischen Revolution. Große humanistische Schriftsteller, wie Victor Hugo in » r 79 3 «, Dickens in »Zwei Städte«, geben hierfür typische Auseinandersetzungen. Der Humanismus vermag gegen die unmenschliche »Realpolitik« der herrschenden politischen und sozialen Mächte, sowohl innerhalb der einzelnen Länder, wie außenpolitisch nichts wirklich Durchschlagendes zu sagen. Die humanistischen Parolen laufen auf ein »widerstehe nicht dem Übel«, »halte dich individuell rein« etc.

hinaus. Der rein humanistische Pazifismus des ersten Weltkrieges, seine abstrakte Proklamation des abstrakten Menschen überhaupt konnte dem Handeln der Menschen keine Richtung geben. Daher die so starke Enttäuschung unter den besten Intellektuellen dieser Zeit. Und die Ideologie des Antihumanismus nimmt ununterbrochen an Faszinationskraft, an extensiver und intensiver Wirkung zu. Diese Schwäche des Humanismus liegt in der Lockerung ihrer Beziehung zur Demokratie überhaupt und zur kämpferischen Demokratie im besonderen. Victor Hugo und Dickens sind freilich echte Demokraten. Die Krise des Humanismus zeigt sich bei ihnen darin, daß sie vor dem echten Weg der Verwirklichung ihrer Ideale zurückschrecken, daß sie sich im Labyrinth der Widersprüche, das mit dem Sieg der Französischen Revolution entstand, nicht zurechtfinden, daß sie keinen gangbaren Weg in die Zukunft der Humanisierung des Menschengeschlechts erblicken können. Sie akzeptieren die jakobinischen Ideale, lehnen aber die Methoden ihrer Verwirklichung ab. Jedoch gerade die Ablehnung der Methode ist ein Zeichen der Abschwächung des demokratischen Gedankens, des aktiven Humanismus. Während die Gegner der Demokratie, ohne durch irgendwelche humanistischen Skrupel gehemmt zu sein, alle Mittel für ihre reaktionären Ziele einsetzen, ist die in Krise geratene Ideologie des demokratischen Humanismus konservativ im Beharren bei den in der Wirklichkeit verbrauchten vorrevolutionären Aufklärungsidealen und hyperkritisch, selbstzersetzend skeptisch in bezug auf die Mittel ihrer realen Verwirklichung. Das Leugnen des Bösen läuft hier auf eine äußere Kapitulation vor ihm hinaus, mit Vorbehalt der Bewahrung der individuellen moralischen Unbeflecktheit des Subjekts. Erst das Aufgipfeln der antihumanistischen, antidemokratischen Tendenzen in der Aufmarschzeit des Faschismus und während seiner Herrschaft löst hier eine realistischere humanistische Gegenbewegung aus. Man kann Anatole France als ihren Vorläufer ansehen: Er bejaht die aktiv heroische Methode der Jakobiner, bei einer scharf skeptischen Kritik ihrer Ideale, über welche hinausgegangen werden muß. Diese Bewegung bedeutet, daß die hervorragendsten Humanisten unserer Zeit sich gerade

in dieser Hinsicht verändert haben: Das Hinausgehen über die jakobinischen Ideale beinhaltet, daß sie eine konkrete und positive Stellung zum Sozialismus gewonnen haben, was keineswegs so viel bedeutet, daß sie unbedingt Sozialisten werden mußten, sondern bloß, daß sie den gesellschaftlichen Inhalt der Demokratie konkreter, real-humanistischer, über den alten Formalismus hinausgehend erfaßt haben; daß sie einzusehen beginnen, daß die Gewalt des antihumanen, die Gewalt des entfesselten Rassenwahnsinns nur mit Gewalt: mit der Macht des zum demokratischen Leben erwachten Volks überwältigt werden kann. Diese Entwicklung sehen wir bei Romain Rolland vom Ghandismus bis zur kämpferischen Humanität; diesen Weg sind Thomas und Heinrich Mann gegangen. Es ist eine wichtige Gegenbewegung zu der des vorigen Jahrhunderts; es ist der Beginn der Wiederherstellung des Bündnisses zwischen Sozialismus und Demokratie und damit eines konkret gewordenen Humanismus. Und der zweite Weltkrieg, der Kampf der Völker gegen die faschistische »Neue Ordnung«, löst - freilich in verschiedenen Ländern verschieden stark - solche Gegenbewegungen des Volkes aus, aus welchen die demokratischen Lebensformen des neuen Europa sich herauskristallisieren können.

V

Damit sind wir beim Problem des neuen Europa angelangt. Und wir hoffen, daß unser bisheriger Weg klar die Richtung zur Antwort zeigt, die hier zu geben ist. Das neue Europa kann nur dann wirklich entstehen und fest bleiben, wenn es gelingt, auch ideologisch die Wurzeln des Faschismus auszurotten, seine Wiederkehr endgültig unmöglich zu machen. Nicht hier ist der Ort, darüber zu sprechen, wie unzulänglich das bisher Geleistete sowohl innenwie außenpolitisch ist. Wenn wir weltanschaulich die Lehren der faschistischen Herrschaft ziehen, so zeigt sich, daß der Widerstand gegen ihn dort am stärksten einsetzte, wo ein wirklicher, nicht liberal-formalistisch verwässerter Geist der Demokratie im Volk lebendig war (Sowjetunion, Jugoslawien, Frankreich). Diese Feststellung ist richtig, aber nicht ausreichend. Wir müssen auch

sehen, daß der Faschismus nie hätte siegen können ohne jene Krise der Demokratie und in ihr des ganzen Komplexes der demokratischen Gedanken, deren Umkreis wir hier skizziert haben. Diese Krise machte Massen und Intelligenz empfänglich für das ideologische Gift der Rassentheorie; sie machte die Widerstrebenden ideologisch wehrlos oder fast wehrlos. Es kommt darauf an, in der Zukunft in allen diesen Fragen eine größere Voraussicht und mehr Energie zu besitzen, als man sie im Kampf gegen das Aufkommen des Faschismus besaß; es kommt darauf an, die - von uns am Anfang angedeuteten - Rückzugslinien der Reaktion aufzudecken, um ihr einen geordneten Rückzug, ein Neuordnen und Neuaktualisieren ihrer Ideologien unmöglich zu machen. Dazu ist die Ausbildung einer demokratischen Weltanschauung unumgänglich notwendig; besser gesagt: die Erkenntnis, daß die Weltanschauungen in bezug auf Aristokratismus und Demokratismus nie neutral sein können, daß jede philosophische Position auch eine Stellungnahme zur Demokratie beinhaltet. Und andererseits zeigt uns z.B. das Schicksal der Weimarer Republik, wie schwach und wehrlos auch ideologisch eine Republik ohne Republikaner, eine Demokratie ohne Demokraten sein muß. Ich weiß, auch heute glauben noch viele an den Wert einer Restitution der Demokratie der Vorkriegszeit, an eine Wiedereinführung der alten formalen Demokratie. Wir hoffen, gezeigt zu haben, daß diese - notwendig - die alte Krise und mit ihr die Massen-Anziehungskraft der reaktionären Ideologie wieder reproduzieren muß; ja sogar, wie dies in der Geschichte stets der Fall zu sein pflegt, in gesteigertem Maße. Und die kurze Nachkriegszeit zeigt bereits massenhaft Beispiele dafür, wie diese soziale Lebensform duldsam gegen die Feinde der Demokratie ist, um sich mit möglichst starker Macht gegen jene zu wenden, die die Demokratie wirklich erneuern sollen. Persönlich werden diese sehr oft Sozialisten oder Kommunisten sein. Es wäre aber eine verhängnisvoll falsche Fragestellung, hier von der Wegscheide zwischen bürgerlicher Kultur und Sozialismus oder zwischen östlicher und westlicher Demokratie etc. zu sprechen. Gerade diese falschen Dilemmen der Vorkriegszeit sollen jetzt überwunden werden. Zur ideologischen Schwäche der fortschrittlichen Kräfte

vor dem Krieg trug das falsche Dilemma: Faschismus oder Bolschewismus außerordentlich bei. Während des Krieges, im Jahre 1941, entstand ein wichtiger Umschlag, der mit der hier notwendigen Frontveränderung aufs engste zusammenhängt. Soll der Friede ebenso gewonnen werden, wie der Krieg gewonnen wurde, so muß - unter veränderten Bedingungen mit veränderten Mitteln - die Politik von 1941 fortgesetzt werden. Gerade nach den verheerenden Wirkungen des falschen Vorkriegsdilemmas gilt es einzusehen, daß die Demokratie von der Weltgeschichte eine ungeahnte Chance der politischen, sozialen und ideologischen Renaissance erhalten hat. Die Frage ist bloß: Wie wird man diese Chance ausnützen? Es kann nicht unsere Aufgabe sein, hier ein Programm aufzustellen, obwohl wir überzeugt sind, daß unsere negativen, kritischen Bemerkungen einige Umrisse eines solchen Programms zeigen. Sie weisen auf die Notwendigkeit eines energischen weltanschaulichen Umbaus hin: Kategorien wie Freiheit und Gleichheit, wie Fortschritt und Vernunft müssen einen neuen Glanz, eine neue Bedeutungsschwere erhalten, und sie können diese erhalten, wenn der soziale Gehalt der Demokratie, den heutigen veränderten Umständen entsprechend, wieder die Inhaltsfülle und die Leuchtkraft von 179 3 oder 1917 erhält. Und andererseits müssen lange Zeit beliebte, in manchen Kreisen fast axiomatisch gewordene Kategorien, wie »Vermassung«, ihre Geltung verlieren. Diese letztere Richtungsänderung ist als weltanschauliche Wendung von besonderer Bedeutung: Denn die Angst vor den Massen, die Verachtung der wirklichen, der organisierten und bewußten Massen war und ist eine der wichtigsten ideologischen Einfallspforten des Faschismus. Und zwar sowohl in den Massen selbst, wie in der Intelligenz. Dazu gehört, was wir zuletzt erwähnen, was aber bei weitem nicht das Unwichtigste ist, die Überwindung des isolierten Individualismus; positiv ausgedrückt: die Wiedererweckung des Citoyen. Es freut mich, über diese Frage in der Schweiz sprechen zu können, denn gerade die Schweiz des 19. Jahrhunderts besaß den größten CitoyenDichter des Westens in der Person Gottfried Kellers, und ich 430

halte es für eine Ehre, hier unter seiner Fahne zu kämpfen. Schon aus seinem Werk und erst recht aus der Wirklichkeit der letzten Jahrzehnte können wir lernen, daß erst Menschen, für welche das Citoyentum wieder zur Lebensform des Alltags geworden ist, ein wirkliches neues Europa werden aufbauen können. Aber niemand kann durch einfachen Entschluß zum Citoyen werden. Daß der Citoyen in Westeuropa verschwand oder zur abstrakten Karikatur wurde, daran ist ein öffentliches Leben schuld, in welchem es für die Massen keine Gelegenheit zum selbständigen Handeln gab, in welchem die Verknüpfung der eigenen lebenswichtigen Fragen mit den Problemen des öffentlichen Lebens nur auf Hintertreppen, auf Wegen der Korruption möglich war. Jene Privatisierung der Menschen, aus denen sich die Massen bilden, die in den alten formalen Demokratien entstand, bringt einen Menschentypus hervor, produziert eine Einstellung, eine Mentalität und Moralität, die dem Wesen einer wirklichen, lebendigen und lebensfördernden Demokratie widerspricht. Man muß aber auch hier ein falsches Dilemma, das aus dem erstarrt fetischistischen Denken entspringt, gedanklich überwinden. Die Menschen unserer Zeit pflegen zu fragen: Soll zuerst der neue Mensch, in diesem Fall: der wiedergeborene Citoyen, entstehen, um die neue Demokratie aufzubauen, oder sollen die Institutionen der neuen Demokratie die Menschen zum Citoyentum erziehen? In der Wirklichkeit existiert dieses Dilemma nicht: Indem die Menschen um die neue Demokratie kämpfen, sie aufbauen, erwacht in ihnen der Geist des Citoyentums, indem sie sich selbst weltanschaulich umbauen, drängen sie zum Kampf um neue Institutionen der Demokratie. Vielleicht wird man hier einwenden: Diese neue Demokratie sei bloß der Versuch, die alten unmittelbaren Demokratien wieder herzustellen, wo doch schon Rousseau erkannt hat, daß die modernen Großstaaten zur unmittelbaren Demokratie ungeeignet sind. In diesem einen Punkt wird Rousseau vom Liberalismus über Gebühr gelobt. Natürlich ist eine unmittelbare Demokratie im Sinne des alten Athen in einem modernen Großstaat einfach technisch unmöglich. Aber die große Französische Revolution war, gerade in ihrer Heldenzeit, durch und durch erfüllt vom Geist, von realen Elementen der unmittelbaren 431

Demokratie, und das ökonomische, soziale, kulturelle Leben der Pariser Kommune, der Sowjetunion, enthält unendlich viele Momente der unmittelbaren Demokratie. Gerade die Tatsache, daß alle Fragen des realen Alltags, die Fragen des öffentlichen Lebens die breitesten Massen unmittelbar bewegen, zeigt, daß das Einbauen dieser Elemente in die proletarische Demokratie ein bewußtes ist. Die Widerstandsbewegung, besonders in Jugoslawien und Frankreich, war naturgemäß voll von solchen Momenten der unmittelbaren Demokratie. Wo nach dem Sieg der Widerstandsbewegung dies alles abgebaut wurde, entstand die Gefahr, daß damit die Stärke der Abwehr gegen die Überreste des Faschismus, der Schwung zum Aufbau der neuen Demokratie ebenfalls abgebaut wurde. Europa kämpft um seine neue Physiognomie. Der Kampf geht heute formal zwischen den verschiedenen Typen der Demokratie: um die Frage, ob Demokratie bloß eine staatlich-politischjuristische Form oder eine reale Lebensform für das Volk werden soll. Dahinter verbirgt sich freilich die Machtfrage: ob die demokratische Form auch jetzt noch die anonyme Herrschaftsform für die »zweihundert Familien«, wie man in Frankreich zu sagen pflegt, bleiben soll, oder zur wirklichen Herrschaftsform des arbeitenden Volkes weiterentwickelt werden kann? Erst die Entscheidung für das letztere, sowohl im ideologischen wie im politischen Sinn, erst die sie erleuchtende und fördernde Entscheidung für eine demokratische Weltanschauung wird, nach unserer Überzeugung, ein neues Europa hervorbringen, das gegen die Rückkehr des Fas.:hismus, gegen die dadurd1 heraufbeschworene Gefahr neuer Kriege und Verwüstungen eine Sicherheit besitzen kann. Das Bündnis von 1941 war schon clamals - freilich widerspruchsvoll und nur im Keime - mehr als ein bloß politisches Bündnis. Seine damalige Form reichte zum Gewinnen des Krieges aus. Der Kampf um einen wirklichen Frieden muß den wesentlichen Ideengehalt von l 94 l erneuern: das Bündnis zwischen Sozialismus und Demokratie; die Einsicht, daß Sozialisten und wirkliche Demokraten, unbekümmert d2.rum, wie stark aud1 ihre sozialen, ökonomischen, politischen, kulturellen und weltanschaulichen Ansichten auseinandergehen mögen, 432

durch den Kampf gegen ihren gemeinsamen Feind, den gemeinsamen Feind von Zivilisation, Kultur und Entwicklung, gegen den Faschismus, enger verbunden sind, als jegliche Trennung ihrer Anschauungen sein mag. Dieses Bündnis ist der Ideengehalt von 1941. Und von der Demokratie hängt es ab, ob sie in diesem Bündnis von 1941 erfolgreich für ein neues Europa kämpfen wird, ob sie dadurch eine glanzvolle Wiedergeburt der Demokratie herbeiführen wird, oder sich wieder zum ohnmächtigen Zuschauer eines neuen München herabwürdigt.

20.

Freie oder gelenkte Kunst? ( 1947)

= »Szabadvagy iranyftott müveszet?«, aus: Irodalom es demokracia, 2. verb. Aufl., Budapest, S. I 34-r 59. Aus dem Ungarischen unter Berücksichtigung der französischen Fassung• übertragen.

Diese Frage taucht gegenwärtig als wichtige, aktuelle und vor allem als »peinliche« Frage allerorts auf. Und gerade weil es eine wichtige Frage ist, darf man sie nicht meiden, sondern muß sie offen und entschieden beantworten. Wenn wir den Weg einer Lösung jedoch nur auf der Ebene der gegenwärtig üblichen Fragestellungen und Antworten - wie bei allen wichtigen Fragen der Zeit - suchen, dann kommen wir aus dem Labyrinth der falschen Alternativen nie heraus. Die gegenwärtig am meisten verbreitete Alternative lautet folgendermaßen: Einerseits wird gesagt, daß Kunst und Literatur ausschließlich Propaganda seien (vielleicht mit der Ergänzung, daß sie Propaganda mit den ihr eigenen Mitteln seien). Die Kunst habe ausschließlich die Aufgabe, in den Auseinandersetzungen der Epoche, der Gesellschaft und der kämpfenden Klassen Stellung zu nehmen, den gesellschaftlichen Sieg welcher Richtung auch immer und die Lösung welcher sozialen Frage auch immer zu begünstigen. Was über diese Zielsetzung hinausgehe, sei bereits l'art pour l'art, »Elfenbeinturm« und als solches unbedingt abzulehnen. Upton Sinclair ist - im internationalen Maßstab - einer der prägnantesten Vertreter dieser Richtung. Andererseits wird verbreitet, daß Kunst und Literatur ausschließlich Selbstzweck seien. Sie hätten keine Beziehung zu dem, was in der Gesellschaft geschieht. Sie seien nicht nur frei von den unmittelbaren gesellschaftlichen Künsten und Problemen, sondern sie hätten auch keine Beziehung zu den großen Fragen der Geschichte. Der Künstler werde von nichts, weder von einem inhaltlichen Gesetz noch von einem der Form, gebunden; er

··. »Art libre ou art dirig~?•, in: Esprit, 16. Jg„ Heft 9 (1948), S. 273 ff.

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sei unabhängig von jeder wahren und konventionellen Moral; er sei unabhängig von jedem Gedanken der Menschlichkeit und Tiefe. Die Persönlichkeit des Künstlers - genauer: seine im Augenblick der Schöpfung jeweils gegebene Stimmung, sei das höchste Prinzip der Kunst. Die völlig freie und spielerische Entfaltung, deren adäquater Ausdruck nur durch bewußt oberflächliche und stimmungsmäßige Mittel bestimmt wird, sei das einzige Objekt der Kunst und deren einziger Maßstab. Ist es tatsächlich so, daß wir nur die Wahl zwischen diesen beiden ästhetischen Konzeptionen haben?

Auf die Fragen: Wo stehen wir? Wo werden wir hingehen? können wir nur dann eine sinnvolle und konkrete Antwort erhalten, wenn wir wissen, woher wir kommen. Wie entstand jedoch diese Frage selbst? Denn wir verhalten uns ganz anders, wenn es sich um solche Fragen handelt, die konstante Elemente des menschlichen Daseins sind (wir müssen arbeiten, damit uns die Existenzvoraussetzungen gegeben sind) - oder wenn es sich um Elemente irgendeiner bestimmten historischen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, Variable also, handelt. Freilich: Jede Epoche - besonders die Ästhetik jeder Epoche - neigt dazu, ihre Haltung der Welt gegenüber zu verabsolutieren und sie als eine endlich gefundene, endgültige Form der menschlichen (oder künstlerischen) Haltung zu betrachten. Dieser Standpunkt charakterisiert die Vertreter der beiden Seiten der vorhin erwähnten falschen Alternative. Wie steht es mit der Wahrheit? Wenn wir ein gedankliches Experiment anstellten und versuchten uns vorzustellen, was Äschylos oder Giotto zu diesem Dilemma sagen würden, müßten wir entdecken, daß ihnen nicht einmal erklärt werden könnte, worum es sich hier handelt. Und das ist kein Zufall; denn - über Kunst und Kunstauffassung hinaus - gerade in den für beide entscheidenden Lebenstatsachen und Lebensformen - und somit in ihren Begriffen ist im Laufe der Geschichte eine Entwicklung vor sich gegangen, 435

die tiefe qualitative und organische Ver:lnderungen mit sich gebracht hat. In erster Linie gilt dies für den Begriff der Freiheit selbst. Deshalb müssen wir dieses Problem, wenn auch nur kurz, anschneiden, um nicht gerade in der zentralen Frage unseres Themas solche Formulierungen zu verwenden, die in verschiedener Art und Weise auszulegen sind. Solche Unklarheit würde die Diskussionspartner statt in schöpferische Dialoge unvermeidlich in parallel verlaufende Monologe führen, und die von verschiedenen Grundbegriffen ausgehenden Argumente würden nicht einmal aufeinander stoßen. Deshalb soll ein kurzer Abriß von der Vorstellung der Freiheit gegeben werden. Zusammengefaßt: In der Freiheitsvorstellung der Antike spielten die konkreten Voraussetzungen der menschlichen Freiheit eine entscheidende Rolle. Das menschliche Ideal der Antike ist der allseitig harmonische - nach außen wie nach innen gleichermaßen - freie Mensch. Daraus ergibt sich einmal die Forderung nach jener freien Gesellschaft, in der die Freiheit im aktiven Verhältnis der Menschen zueinander zur Geltung kommen kann. Die Freiheit der Antike ist in erster Linie eine Freiheit des Staatsbürgers (des Citoyen). Zweitens ist sie der Vollzug jener menschlichen Haltung durch Erziehung, Selbstdisziplin usw., durd1 die der einzelne Mensch befähigt wird, über seine Freiheit wirklich verfügen und seinen mit der Freiheit zusammenhängenden Verpflichtungen entsprechen zu können. Damit hängt der - wie wir heute sagen würden - intellektuelle Charakter der antiken Freiheitsvorstellung zusammen. So sehr die antiken Ethiken in ihren Zielsetzungen und Methoden voneinander abweichen, so haben sie doch stets einen gemeinsamen Bezug gehabt: Sie verstanden unter Freiheit - unter Freiheit des einzelnen Menschen - immer die Gewalt über die Instinkte des Menschen. Dies ist etwa das Grundprinzip der Moral Epikurs. Wir können also sagen: Die innigste Überzeugung der Antike war, daß der Mensch nur wahrhaft frei in einer freien Gesellschaft sein kann. Wenn diese Freiheit vernichtet wird, wenn der Mensch unter ungünstigen historischen Bedingungen, in einer nicht auf Freiheit gebauten Gesellschaft leben muß, bedeutet

seine innere Freiheit nicht nur, daß er sich etwa den Forderungen der Tyrannei gegenüber selbständig macht, sondern daß er auch in seinen inneren Lebenseinrichtungen über jene Bindungen emporstreben will, die das bloß physische Dasein, die Macht seiner Instinkte, Stimmungen, Empfindungen und Leidenschaften gegenüber den inneren, moralischen Notwendigkeiten seines Lebens schafft. Der Charakter des antiken Freiheitsbegriffs als solcher bringt es mit sich, daß die auf ihn gebaute Moral immer konkret ist: Sie beruht auf der konkreten Erkenntnis aller Voraussetzungen, verwickelten Wechselwirkungen und Stufen eines freien inneren und äußeren Handelns, eines freien Daseins. Die allgemeinen Regeln und Prinzipien sollen diese konkreten Zusammenhänge hervorheben - und zwar, um das Konkrete auszubilden und die menschliche Vollkommenheit anzustreben. Es ist kein Zufall, daß in der antiken Moral - nicht nur bei Aristoteles - eine zwischen den Extremen liegende Mitte die entscheidende Rolle spielt. Es ist kein Zufall, daß es niemals eine Unterdrückung der Persönlichkeit bedeutet, wenn der gesellschaftliche Standpunkt in den Vordergrund gestellt wird. Die Macht der Ideen, der Moral und des Bewußtseins schlägt jedoch niemals in Asketentum um. Die Geschichte der Moral an dieser Stelle zu skizzieren, kann nicht unsere Aufgabe sein. über die Antike sprachen wir jedoch deshalb so ausführlich, damit der zeitgebundene, durch bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse bedingte Charakter der gegenwärtigen Auffassung von der Freiheit mit der nötigen Schärfe zum Ausdruck kommt. Die entscheidende Grundlage seiner Bestimmtheit ist die kapitalistische Entwicklung der Gesellschaft, ist die Genesis solcher Staaten, solcher Rechtssysteme und solcher Morallehren, die dieser Entwicklungsstufe entsprechen. Aber die neue Gesellschaft wächst bekanntlich nicht aus der Aktivität unmittelbar heraus sondern durch die Auflösung des Feudalismus. Sie wächst auf den Ruinen des Feudalismus und durch dessen Zerstörung. Das heißt für unser Problem: Die neue Moral (sie war rein ideologisch, während sie in ihrer revolutionären Periode unter der Wirkung der Antike stand) verschaffte sich in der ge437

sellschaftlichen Wirklichkeit durch die Zerstörung der feudalen Beziehungen Geltung. Während dieser Kämpfe entstand jedoch wegen der neuen Beziehungen zwischen einzelnen und Gesellschaft, die die kapitalistische Produktionsordnung geschaffen hatten, ein grundsätzlich neuer Begriff von Freiheit. Im Feudalismus galt der Mensch immer als Mitglied irgendeiner Gemeinschaft (Orden, Zunft usw.). Seine Rechte und Pflichten wurden allein durch diese Gemeinschaft bestimmt. überspitzt könnte man sagen, daß der Feudalismus den Begriff der Freiheit überhaupt nicht kannte (weder im antiken noch im modernen Sinn), sondern nur positive und negative Standesprivilegien und -pflichten. Sofern hier überhaupt von Freiheit die Rede sein kann, so war dies nur die moralische Freiheit der Seele im Hinblick auf die eigene Seligkeit, die Freiheit der inneren Wahl zwischen Gut und Böse, wo jeder Inhalt des Handelns von der ständischen Gesellschaft vorgeschrieben wurde. (Die sich so herausbildende innere Moral sickerte durch allerlei Kanäle in die Moral der kapitalistischen Gesellschaft ein, besonders in ihrer Untergangsperiode.) Die von allen vorangehenden abweichende kapitalistische Produktionsordnung verschärft und vertieft die Abhängigkeit des Schicksals eines jeden Menschen von den verborgenen Bewegungsgesetzen der ganzen Gesellschaft. Zugleich jedoch verleiht sie jedem Menschen (dem Subjekt des Warenaustausches) eine solche oberflächliche, scheinbare Selbständigkeit, wie sie eine frühere Gesellschaft nicht gekannt hat. Warenaustausch gab es zwar auch im Altertum und im Mittelalter. Daß jedoch der Warenaustausch zu einer konstruktiven Bestimmung der Beziehungen der Menschen untereinander und ihres Verhältnisses zur Gesellschaft wurde: das ist eine neue Tatsache in der Geschichte. Die kapitalistische Produktionsordnung jedoch schafft in der objektiven Wirklichkeit gerade diesen neuen Zusammenhang. Die Revolutionen, die ihm entsprechende Staaten schaffen, kodifizieren dieses Gefüge, wenn sie die Menschenrechte propagieren. Die Moral des neuen Lebens faßt - wenn sie die Wirklichkeit wirklich ernst nimmt und deshalb auch ernst zu nehmende Gedanken hervorbringt - in Theorie und Praxis diese neuen Lebenstatsachen in einem System zusammen.

Auf dem Höhepunkt der großen Französischen Revolution bestimmte die Verfassung von 1793 den Privatbesitz (die juristische Voraussetzung der Universalität des \Varenaustausches) und die Freiheit (in neuer Formulierung: die moralische Voraussetzung der Universalität des Warenaustausches) derart, daß der Privatbesitz jedem ein unbegrenztes Verfügungsrecht über den eigenen Besitz zusichert. Die Freiheit ist total, soweit sie die unbegrenzte Handlungsfreiheit des anderen nicht verletzt. Mit Recht wurde die bis auf unsere Tage einflußreichste Philosophie, die Philosophie Kants, der philosophische Ausdruck der Französischen Revolution genannt. Wer sich an Kants Morallehre erinnert, wird wissen, daß ihre ganze Methodik tatsächlich eine gedankliche Erfassung der gesellschaftlichen Tatsachen ist, die durch die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsordnung entstanden und die von der Französischen Revolution als Grundrechte des Menschen in die Verfassung aufgenommen worden sind. Wenn wir diese Moral mit der der Antike vergleichen, sehen wir sofort den entscheidenden Gegensatz zwischen beiden Freiheitsbegriffen. Jene hatte das objektive Gefüge der Gesellschaft bestimmt und leitete daraus die moralischen Gesetze des individuellen Handelns ab; diese betrachtete die individuelle Haltung jedes Menschen als einzigen Ausgangspunkt. Jede gesellschaftliche Kategorie konnte nur in ihrem Licht einen moralischen Sinn gewinnen. Jene hatte die Freiheit, ihren Zielen entsprechend, konkret und inhaltlich bestimmt, diese, da sie die Haltung des isolierten Individuums zugrunde legte, dagegen nur abstrakt und formal. Jene ist eine positive Moral: Sie sucht nach den wahren Richtungen des wirklichen, alles umfassenden, inneren und äußeren Handelns des wirklichen Menschen. Diese dagegen ist eine negative Moral: Sie stellt die Grenzen der Möglichkeiten des Handelns nur für das auf sich selbst angewiesene Individuum, für die Lage der kapitalistischen Gesellschaft fest. Zusammengefaßt: Für die Antike ist die Freiheit die höchste moralische Form des konkreten Miteinanderlebens und -handelns der Menschen. In der kapitalistischen Gesellschaft wird die Freiheit zu einer seelischen Tatsache, zur individuellen Haltung eingeengt. 439

In unserer Konfrontierung bezogen wir uns bisher nur auf die Epoche der großen Französischen Revolution, auf das Entstehen der jetzt vorherrschenden Gesellschaftsordnung. Wir bezogen uns auf die Zeit, in der die Führer der heldenhaften Kämpfe um die Verwirklichung dieser Gesellschaft noch die heroische Illusion hegten, daß aus dieser Qual der Gesellschaft eine neue Antike entstehen, daß die menschlichen und staatsbürgerlichen Rechte die Geburt eines neuen gesellschaftlichen Menschen, die Geburt des Citoyen, einleiten würden. (Diese heroische Illusion gibt auch den Freiheitskämpfen der klassischen deutschen Philosophie ein philosophisches Pathos.) Die Zerstörung des Feudalismus schuf jedoch keine neue Polis sondern eine Gesellschaft des allgemeinen Warenaustausches und des durch große Krisen entstehenden Weltmarktes. In dem Maße, in dem die wirkliche Abhängigkeit des einzelnen von den - für ihn meistens völlig unbekannten - wirtschaftlichen Beziehungen wuchs, in dem Maße verstärkte sich das Bewußtsein von den in sich geschlossenen, scheinbar ausschließlich auf sich selbst angewiesenen, den Sinn des Lebens ausschließlich in sich selbst suchenden Atomen, den Monaden. Vor fast einem halben Jahrhundert stellte Simmel fest, daß sich zwar der moderne Begriff der Freiheit methodisch noch immer auf Kant bezieht, daß seitdem jedoch grundlegende Wandlungen eingetreten sind. Der Individualismus von Kant gründete sich wesentlich auf das Prinzip der Gleichheit; er ging von gleichwertigen Menschen (von den Subjekten des Warenaustausches) aus. Beim modernen Menschen ist jedoch, nach Simmel, gerade das rein Individuelle wesentlich, das, was ein Individuum von einem anderen qualitativ unterscheidet. Danach richtet sich die Moral, und die Freiheit ist die eines so verstandenen Individuums. Dieser Gedanke Simmels herrschte bekanntlich im Denken der imperialistischen Periode vor. Die Modephilosophie unserer Tage, der Existentialismus, weicht von Simmel nur darin ab, daß auch ein solch individueller Begriff der Persönlichkeit für sie noch viel zu konkret, zu inhaltlich und zu erfüllt von Beziehungen zu anderen Menschen, zur Gesellschaft ist. Die Freiheit des Existentialismus atomisiert auch innerhalb des bereits atomisierten Menschen die Entscheidung, die nicht einmal die Kon-

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sistenz des individuellen, qualitativen Daseins der Persönlichkeit an seine Vergangenheit und Zukunft bindet. Damit ist die Illusion vom atomisierten Menschen am Gipfel ihrer bisherigen Entwicklung: Der Begriff der Freiheit wurde völlig ausgehöhlt. Wenn die Freiheit nur bedeutet, was das auf sich selbst angewiesene individuelle Selbstbewußtsein momentan als sein eigenes erkennt - dann wird sie gerade durch diese abstrakte Allgemeinheit vernichtet. Denn wenn alles frei ist, gibt es keine Freiheit; wenn jeder Inhalt - den irgendein individuelles isoliertes Bewußtsein als seinen eigenen preist - ein Inhalt der Freiheit sein kann, dann ist Freiheit zur leeren Phrase geworden. Um so mehr, weil die Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, auch was den Individualismus betrifft, mit allen moralischen Traditionen grundsätzlich gebrochen hatte. So sehr die Freiheitstheorie Kants auch negativ und nur formal gewesen sein mag: Kant, als Zeitgenosse der heroischen Illusionen der Französischen Revolution, denkt, wenn er von Persönlichkeit spricht, stets an die Herrschaft der Gesamtpersönlichkeit über ihre bloß körperlich-seelischen Gegebenheiten, über ihre unmittelbaren Instinkte. (Es ist eine andere Frage, daß diese Herrschaft bei Kant dann eine übertrieben asketische Richtung einschlug.) Die gesellschaftliche und geistige Entwicklung des l 9. und 20. Jahrhunderts sieht in steigendem Maß die Unterdrückung der Persönlichkeit, der neuen Freiheit nicht nur in jeder gesellschaftlichen Beziehung, nicht nur in jeder moralischen Norm, sondern auch in den seelischen Kräften, in Verstand und Vernunft, die dem individuellen Leben Beständigkeit und der Persönlichkeit Rückgrat und Haltung geben. Für Kant bedeutet diese Auffassung von der Freiheit wesentlich eine Unbeschränktheit des Augenblicks, der Stimmung, der sich selbst überlassenen Instinkte. Eine diabolische Karikatur dieses Denkens zeigte sich in der »Weltanschauung« Hitlers und seiner Anhänger, die jede Moral verneinten. Das Gewissen erschien bei Kant noch als Verkörperung und zusammenhaltendes Grundprinzip der moralischen Freiheit. Hitler und seinen Anhängern ist gerade das Gewissen das größte Hindernis für das, was sie Freiheit nannten, d. h. der Unbeschränktheit aller haltlosen und 441

niederen Instinkte. Diese Auffassung Hitlers ist ein teuflisches Zerrbild. Doch vergessen wir niemals, daß sie auch als Karikatur in die meisten avantgardistischen Gedanken hineinwuchs. So schlug sich der gesellschaftliche Makrokosmos, die kapitalistische Produktionsordnung, in der Persönlichkeits- und Freiheitsauffassung der imperialistischen Epoche im Mikrokosmos ihrer scheinbaren Atome moralisch nieder. Die Freiheitslehre des Existentialismus war nur der gedankliche Ausdruck einer Haltung, die im Leben bereits seit Jahrzehnten vorherrschte.

II

Wenn wir uns jetzt im Besitz dieser Erfahrungen der Frage der künstlerischen Freiheit zuwenden, sind wir uns darüber klar, daß hier Feststellungen, die wir auf anderen Gebieten, besonders auf dem Gebiet der reinen Theorie, getroffen haben, nicht ohne weiteres angewandt werden können. Diese Einsicht bedeutet jedoch nicht, daß wir uns dem modernen Vorurteil unterwerfen, als ob die allgemeinen gesellschaftlichen Erfahrungen nicht im Zusammenhang mit den inneren Fragen der Kunst stünden, oder etwa der Zerfall der gesellschaftlichen Moral ein wirkliches Zurückfinden der Kunst zu sich selbst bedeuten könnte. Die Neigung, dies anzunehmen, ist heute groß, hauptsächlich dann, wenn die soeben behandelte Frage, die schrankenlose Herrschaft der Instinkte als eine Verkörperung der wahren Freiheit zur Sprache kommt. Jedoch haben auch führende Geister der modernen Dekadenz dies bezweifelt. Nietzsche, den niemand als prinzipiellen Feind des modernen Triebkultes betrachten kann, hatte klar gesagt, daß das Triebleben eines Künstlers in seinem Bewußtsein ununterbrochen und abwechselnd Gutes und Schlechtes, Wertvolles und Nutzloses erzeugt, daß jedoch gerade die sich hier offenbarende Fähigkeit zu wählen den Künstler ausmacht. Wenn auch klar wird, daß der sich auf den Augenblick berufende Freiheitsbegriff der modernen Philosophie nicht ohne weiteres auf die Kunst angewandt werden kann, heißt das nicht, daß die Frage der künstlerischen Freiheit kein spezifisches Pro-

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blem ist, das - freilich innerhalb des Rahmens der allgemeinen gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung - in seiner Besonderheit erfaßt werden muß. In diesem Sinne kann und muß gefragt werden: Ist der Künstler früher frei gewesen? Ist das Freiheit, was gegenwärtig so genannt wird? Für unser Verständnis war der Künstler früher nicht frei der Einfachheit halber fassen wir hier alle Bindungen, in denen er stand, zusammen, obwohl wir wissen, daß es unter ihnen grundlegende Unterschiede gab - er kannte nicht einmal den Begriff der künstlerischen Freiheit unserer Zeit. Die Kunst- im Altertum, im Mittelalter, ja, sogar während der Renaissance - war ein Teil des öffentlichen Lebens, und die Künstler zogen daraus, ohne zu zögern, alle Konsequenzen. Das bedeutete, daß sie weltanschaulich und in ihren Themen, in ihrer Formgebung und Formsprache unter dem Einfluß jener Gesellschaft standen, zu deren öffentlichem Leben ihre Schöpfungen gehörten. Konkreter ausgedrückt: Für sie waren die weltanschaulichen, thematischen, inhaltlichen und formalen Ausgangspunkte jener Klasse maßgebend, in die sie durch Geburt oder durch ihre im Leben ausgebildete Überzeugung gestellt wurden. Sie konnten sich nicht einmal vorstellen, daß es auch anders sein kann. Führt das auf eine totale Bindung, eine gelenkte Kunst, einen Mangel an Freiheit hin? Keineswegs. Auch dann nicht, wenn ich nur das allgemeinste, das am leichtesten zu fassende Moment, nämlich das weltanschauliche und das politische, hervorhebe. Ich denke jetzt nicht an den individuellen Ausdruck und die individuellen Schattierungen: Sie stellten nur ein sehr schmales »Betätigungsfeld« für die wahre Kunst dar. Aber die Gesellschaft und das öffentliche Leben, in denen Schöpfungsprozeß und Schöpfung selbst ein Teil sind, bilden keine feste, starre Einheit und schreiten nicht nur in einer Richtung fort, wobei sich die Schöpfung lediglich anschließen könnte. Diese Einheit ist ein kompliziertes, sich ununterbrochen änderndes Ergebnis von Gegensätzen und sich bekämpfenden Kräften. Jeder Faktor kann nur als ein Bestandteil dieser sich bewegenden Einheit gelten und die Einheit selbst nur als eine veränderliche Zusammenfassung der abwechslungsreichen Kämpfe. Wenn ein Kunstwerk, eine be443

deutende Darstellung des Ganzen oder eines Teiles, der irgendein Ganzes bedeutet, entsteht, dann ist es - seien die formale und inhaltliche Bindung, die weltanschauliche und politische Abhängigkeit auch noch so groß - theoretisch unmöglich, daß die Logik der Dinge, die dialektische Wirklichkeit und deren dialektische Widerspiegelung nicht ein gewisses »Betätigungsfeld« für die ideologische Freiheit schaffen. Richtiger: Es ist theoretisch unmöglich, daß diese Kräfte nur deshalb kein freies Werk fordern, um das gesellschaftlich Notwendige im gegebenen Augenblick adäquat verwirklichen zu können. Wenn dies für die Kunst als eine Ideologie, als ein Ausdruck gewisser gesellschaftlicher Richtungen gilt, dann ist es für alle spezifisch ästhetischen Fragen doppelt gültig. Denn in den modernen Theorien, in den Vorstellungen eines wesentlichen Teils gegenwärtig lebender Künstler über ihren Schöpfungsprozeß ist die Kunst nur »Ausdruck«. Objektiv gesehen ist sie eine eigentümliche Form des Bildes der Wirklichkeit, die die Wirklichkeit selbst und - wenn es sich um einen wahren Künstler handelt - deren Bewegung und Bewegungsrichtung, also wesentliche Züge des Daseins, der Beständigkeit und des Wandels, widerspiegelt. Noch einmal sei ·wiederholt: Wenn es sich um einen wahren Künstler handelt, ist diese Widerspiegelung meistens größer und weiter, umfassender und tiefer, reicher und wahrhafter als die subjektive Absicht, der Wille und die Entschlossenheit, die das Werk hervorbrachten. Große Kunst eines großen Künstlers ist immer freier, als er selbst glaubt und fühlt; sie ist freier, als es die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer objektiven Genesis zu zeigen scheinen; sie ist freier, gerade deshalb, weil sie tiefer an das Wesen der Wirklichkeit gebunden ist, wie es von der in subjektiver und objektiver Genesis erscheinenden Aktion aufgezeichnet wird. Aber derartige, gewiß berechtigte Gedankengänge dürfen den grundlegenden Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Begriff der künstlerischen Freiheit nicht verwischen. Der Unterschied ist objektiv. Es handelt sich nicht darum, daß der Künstler sich früher nicht für frei hielt; denn er hat die Freiheit nicht einmal beansprucht; für einen modernen Künstler jedoch ist gerade die Freiheit ein grundsätzliches Erlebnis seines künstleri-

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sehen Bewußtseins. Nein: Die Kunst ist objektiv stets ein Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Kunst, die prinzipiell ohne Echo und für andere unverständlich, von bloß monologischem Charakter ist, kann es genausogut im Irrenhaus geben wie eine konsequente solipsistische Philosophie. Die Notwendigkeit eines Widerhalls, d. h. die Möglichkeit eines Echos, ist - als formale und inhaltliche Eigentümlichkeit, als unzertrennliches Kennzeichen eines Kunstwerkes - ein wesentlicher Zug jedes wahren Kunstwerkes zu jeder Zeit. Das Verhältnis eines Kunstwerkes zu seinem Publikum, also zu einer bestimmten Gesellschaft bzw. zu diesem oder jenem geschichtlich bestimmten Teil dieser Gesellschaft, ist nicht irgend etwas, was nachträglich mehr oder minder zum subjektiv geschaffenen und objektiv existierenden Werk dazugehört, sondern dieses Verhältnis ist in seiner Genesis wie in seiner Ästhetik eine konstitutive Grundlage. Dies gilt gleichermaßen für die alte und die neue Kunst. Wo ist denn nun der Unterschied? Worin liegt er, falls es ihn gibt? Kurz zusammengefaßt könnte gesagt werden, daß zwischen dem Künstler der Antike und seinem Publikum eine direkte Verbindung bestand und deshalb eine lebendige und fruchtbare Wechselwirkung. Scheinbar bedeutet das wiederum eine Gebundenheit des Künstlers, ja, eine Lenkung der Kunst. Denn diese Wechselwirkung (die heute nur noch zwischen Drama, Bühne und Publikum, wenn auch mit vielen Verzerrungen, besteht) und eine daraus entstandene Gebundenheit bedeuten eine Befruchtung für die Kunst. Zugleich schafft solche Bindung für die Kunst auch jenes »Betätigungsfeld«, auf dem eine schöpferische Erfindung und eine wahre Erfassung des Wesentlichen wirklich frei zur Geltung kommen können. Denken wir nur an die thematische Gebundenheit aller früheren Kunst; denken wir an das Verhältnis von Bildhauerei und Architektur im Altertum und Mittelalter; denken wir an das Verhältnis des Fresko zur Architektur; denken wir daran, welche Wirkung eine wirkliche Erzählung auf die Herausbildung epischer Formen und ihres Stils ausgeübt hatte. Dabei muß man stets beachten, daß die hier entstehende Bindung weder auf die Form noch auf die voneinander isolierten Probleme des Inhalts zurückgeführt werden kann. Jede Gebundenheit, mag sie auch einen direkten Aus445

gangspunkt besitzen, schlägt bei ihrer formalen oder inhaltlichkonkreten Anwendung unvermeidlich in eine andere um. Eine wahre Erzählung ist nur scheinbar eine formale Bindung; sie wirkt jedoch auf den ganzen Aufbau, die Struktur, auf die Konstitution, die Typen- und Schicksalsdarstellung so tief ein, daß sie mehr und mehr zum Inhalt wird. Eine oberflächliche Betrachtung mag den Zwang der Thematik als Inhalt begreifen. Da jedoch kein Thema einfach nur Rohmaterial ist, sondern stets erst in einem bestimmten weltanschaulichen Zusammenhang überhaupt zu Inhalt werden kann, schlagen die in ihm enthaltenen Möglichkeiten bei dieser Verwandlung sofort in Kräfte, die die Formgebung und die Struktur des Werkes regeln, um (OrestThema; die Darstellung des Abendmahls bei Giotto, Lionardo, Tintoretto usw.). Hier taucht die schon erwähnte Frage erneut - und noch konkreter auf. Die gesellschaftliche Wirklichkeit, die diese Bindung schafft, ändert sich ununterbrochen. Dieser Wandel macht das von uns bereits erwähnte »Betätigungsfeld« der künstlerischen Freiheit nicht nur möglich, sondern schreibt auch verpflichtend vor: Unter solchen Bedingungen kann nur jener Künstler ein wirkliches Kunstwerk zustande bringen, der über die Umwälzungen der Gesellschaft Wesentliches auszusagen hat. Denn nur eine wesentliche Botschaft ist tief und stark genug, um die sich oft nur unterirdisch bewegenden Kräfte der Gesellschaft und deren aktuelle Wandlungen so zu erfassen, daß daraus eine organische und fruchtbare Weiterentwicklung von Form und Inhalt entsteht. In solchen Zeiten kann eine wirkliche Veränderung der Form nur durch einen zutiefst neuen Inhalt zur Geltung kommen; so ist es nur scheinbar eine formale Neuerung, daß Kschylos den zweiten Schauspieler eingeführt hat. In Wirklichkeit handelt es sich um die künstlerische Geburt des tragischen Konflikts. Die kapitalistische Entwicklung hat diese unmittelbare Beziehung zwischen Kunst und Publikum fast völlig vernichtet. Auch bei diesem Problem können wir nicht den zugrunde liegenden historischen Prozeß skizzieren. Die Situation wird am besten beleuchtet, wenn wir Goethe zitieren, als er in einem Brief an Schiller über die Entstehung der modernen künstlerischen Frei-

heit schriebt: »Leider werden wir Neuem wohl auch gelegentlich als Dichter geboren, und wir plagen uns in der ganzen Gattung herum ohne recht zu wissen, woran wir eigentlich sind, denn die spezifischen Bestimmungen sollten, wenn ich nicht irre, eigentlich von außen kommen und die Gelegenheit das Talent determinieren.« Wir sehen: Goethe ahnte eine Lockerung, ja, ein Verschwinden der früheren Bindung, doch betrachtete er dies noch keineswegs als zu bejahende Freiheit oder sich endlich offenbarende Entdeckung der künstlerischen Freiheit. Im Gegenteil. Goethe hat in dieser Freiheit, die den Künstlern von der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufgezwungen wurde, eine ernste Gefahr gesehen. Je vollkommener sich die kapitalistische Produktionsordnung entfaltet, desto unbegrenzter wird diese neue Freiheit. Jede Einschränkung der Thematik hört auf; die völlige Freiheit der Erfindung schlägt hier in wirklichen Zwang um. Der unmittelbare Zusammenhang einzelner Kunstgattungen mit ihrem Publikum, d. h. die Wechselwirkung des Umfangs, der Struktur und der Vortragsweise, verschwindet mit einer bestimmten, konkreten Gattung der Rezeptivität. Auch hier hängt alles von der individuellen Erfindungsgabe des Künstlers ab, auch hier ist die neue Freiheit des Künstlers vollkommen. (Beim Drama bleibt dieser Zusammenhang nur scheinbar erhalten. Dadurch, daß das Theater zu einem kapitalistischen Unternehmen wird und das Publikum sich ausschließlich amüsieren will, geht der die dramatische Form konkret und schöpferisch beeinflussende Charakter des Theaters verloren. Die Bühnentechnik wird vom Drama unabhängig und zu einem besonderen literarischen Handwerk; aber auch das Drama wird - nicht zu seinem Vorteil - im 19. Jahrhundert unabhängig: es entsteht das Buchdrama.) All dies ist nicht nur eine Lockerung oder ein Verlust der direkten Beziehung und der unmittelbaren Wechselwirkung zwischen Künstler und Publikum. Es bedeutet, daß das Publikum anonym, amorph und physiognomielos wird. Früher wußte der 1 Goethe an Schiller, Weimar, 27. XII. 1797, in: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, nach den Handschriften de. Goethe-Schiller-Archivs hrsg. von H. G. Gräf und A. Leitzmann, 3 Bände, Bd. I, Leipzig 1951, S. 457-458. (Hrsg.)

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Künstler genau, an wen er sich mit seinen Werken wandte; heute steht er - objektiv, indem er die gesellschaftliche Funktion der Kunst betrachtet - dem abstrakten Markt als Warenproduzent gegenüber. Seine Freiheit ist - scheinbar ebenso unbegrenzt wie die eines Warenproduzenten im allgemeinen (ohne Freiheit gibt es keinen Markt); tatsächlich jedoch beherrschen ihn die Marktgesetze genauso wie einen Fabrikanten. Freilich, diese Feststellung bedarf der Konkretisierung, damit ihre allgemeine Wahrheit sich nicht zum Irrtum versteifen kann. Die kapitalistische Entwicklung hatte in gesteigertem Maße die Beziehung zwischen Kunstwerk und Publikum zu einem Warenmarkt umgewandelt. Tatsachen aufzuzählen ist hier überflüssig. Jeder kennt die Beziehungen von Kino, Zeitung und Verlagswesen zum Großkapital; jeder weiß, was eine Konzertagentur auf dem Gebiet der Musik, eine Kunsthandlung auf dem Gebiet der bildenden Kunst bedeutet. Das Verhältnis eines Künstlers zu seinem Publikum büßte nicht nur seine frühere Unmittelbarkeit ein, sondern es hatte sich zwischen ihnen ein neuer, spezifisch moderner Vermittler breitgemacht und auf die gesamte Kunst ausgedehnt~ das Kapital. Das 19. Jahrhundert kannte noch manche vorkapitalistischen Inseln im Meer des Kapitalismus. Es kannte Experimentier-Bühnen, Verleger, die mit Leib und Seele dabei waren, Zeitschriften, die von Schriftstellern gegründet wurden usw. Der Kapitalismus selbst hatte zunächst und in der Hauptsache eine Kunst im Auge gehabt, die das Objekt einer wahren Massenkommunikation bildete, dennoch meistens durchaus echte Kunst war. Parallel zur Ausbreitung des Kapitalismus sind jedoch - nachdem es sich herausgestellt hatte, daß auch die gute Kunst ein Geschäft, und im Besitz jener Erfahrung, daß auch die oppositionellste, avantgardistischste Kunst das Objekt einer - weitsichtigen - erfolgreichen Spekulation sein kann diese Inseln immer mehr verschwunden. Die gesamte Kunst wurde dem Kapitalismus untergeordnet; die gute wie die schlechte gleichermaßen, Meisterwerk und Kitsch, die Klassiker und die Avantgardisten. Diese Situation bestimmt den Charakter der modernen Freiheit der Kunst, ihren wirklichen Inhalt und die damit notwendig

verbundenen Illusionen. Auch hier wollen wir nicht bekannte Tatsachen wieder aufwärmen. Jeder weiß, wie die kapitalistische Massenproduktion die spezifisch modernen Formen des Kitsches der verschiedensten Art zustande gebracht hat, vom »vornehmen« Bestseller, ja sogar vom »avantgardistischen« (oder gestern noch avantgardistischen) Kitsch bis zu den vielfältigen Formen des am Fließband hergestellten Groschenromans. Jeder weiß, wie das Großkapital auch hier unwiderstehliche Moden schaffen kann, ebenso wie auf dem Gebiet der Konfektion oder der Schuhindustrie. Es wäre jedoch eine vulgäre Vereinfachung zu glauben, daß diese Situation mechanisch und hundertprozentig die künstlerische Freiheit vernichten würde. Nicht einmal die kapitalistische Großindustrie kann ja - gerade in der Kreierung der Mode ohne individuelle Initiative, Geschmack und ohne Idee auskommen. Dies gilt in gesteigertem Maße gerade dort, wo die Kunst zur Ware wird. Ein Künstler stellt als Persönlichkeit für einen Kapitalisten einen Wert, eine »Marke« dar; je klarer und greifbarer, bis zur Maniriertheit ausgeprägt, sich diese Persönlichkeit offenbart, desto höher kann ihr Wert gegebenenfalls für den Kapitalisten liegen. Freilich bietet die damit entstehende »Freiheit«, die sich zur Geltung bringende Persönlichkeit, natürlich noch keine Gewähr wahrhafter Kunst. Im Gegenteil: Den »hochwertigeren«, den »vornehmen« Kitsch in der Literatur des Kapitalismus bestimmt gerade solch eine Überbetonung der Persönlichkeit und der freien, künstlerischen Erfindungsgabe. Die Literatur- und Kunstkritik von Karl Kraus hatte Jahrzehnte hindurch diesen auf kapitalistischer Grundlage entstandenen Freiheits- und Personenkult mit treffender und scharfer Ironie verfolgt. Und die wahre Kunst? Die Freiheit eines wirklichen Künstlers? Wir haben dieses Problem nicht vergessen. Wir haben diesen Rahmen sogar trotz seiner Skizzenhaftigkeit möglichst genau gezogen, um so das wirkliche »Betätigungsfeld« wahrer Kunst in der kapitalistischen Gesellschaft konkretisieren zu können. Andre Gide hatte einmal festgestellt, daß gegenwärtig jede wahre Literatur gegen die Zeit zustande kommt. Dies ist völlig richtig, formal wie inhaltlich. Diese Opposition geht jedoch

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viel weiter als eine formale und inhaltliche Ablehnung der vom Kapitalismus unterstützten Kunst. Sie dehnt sich sozusagen auf das ganze System aus. Es gab bisher keine Gesellschaftsordnung, der gegenüber sich ihre Künstler so fremd verhalten hätten wie zum Kapitalismus. Fremd: In diesem Wort sind alles Pathos und alle Beschränktheit der modernen künstlerischen Freiheit enthalten. Dieses Pathos ist das Pathos der verzweifelten Selbstverteidigung. Nicht nur der vom Kapitalismus geschaffene warenproduzierende und -verteilende Apparat droht die wahre Kunst zu schlucken. Es muß also nicht nur gegen den Apparat und gegen den von ihm verbreiteten Kitsch der Groschenromane und anderer Pseudokunst ein steter Kampf um Leben und Tod geführt werden, sondern auch gegen alle Lebensformen und menschlichen Inhalte, die diese Erscheinungen hervorbrachten und die sich aus ihnen ergeben. So sehr die Künstler früher mit naiver Selbstverständlichkeit oder bewußter Begeisterung Kinder ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft waren, so sehr betrachten die modernen Künstler in der Mehrzahl - und gerade die besten - mit Zorn und Verbitterung, ja mit Schaudern und Ekel das sie umgebende Gewimmel d~r Gesellschaft, in die sie gestellt sind und die ihre Anpassung fordert. Die künstlerische Freiheit beruht somit auf einer überspannten Subjektivität, sie fordert Freiheit einzig und allein in ihrem Namen. Die künstlerische Persönlichkeit fordert für sich dieses souveräne Recht, um jene Gesellschaft lediglich nach ihrer inneren Inspiration darstellen zu können. Der Freiheitsbegriff, bezogen auf den modernen Künstler, ist also abstrakt, formal und negativ: Er beinhaltet lediglich, daß jenem in seine Souveränität niemand hineinreden darf. Diese formale und negative Abstraktion bestimmt die Grenzen der modernen künstlerischen Freiheit. Die Schranken offenbaren sich in zweierlei Hinsicht. Erstens treiben sie die Künstler immer entschiedener dazu, sich in ihrer Subjektivität abzuschließen. Die Künstler sagen sich mehr und mehr von wirklich wichtigen Themen und Darstellungsformen los, mit denen sich zu beschäftigen künstlerisch nicht mehr ergiebig ist, weil sie von der unbezwingbaren Prosa des Kapitalismus durchdrungen sind. Schließlich bleibt kein anderes »Betätigungsfeld« mehr für die 450

künstlerische Freiheit übrig als das bloß innere Leben, die Welt der rein subjektiven Erlebnisse. Das willkürliche, trotzig verzerrte Auf-Sich-Selbst-Gestellt-Sein, der Selbstzweck dieser Erlebnisse ist ein verzweifelter Protest gegen eine Welt, in der sich die künstlerische Souveränität nur in diesem kleinen Raum ausleben kann. (Daß die reine Subjektivität in zahlreichen Werken und schöpferischen Offenbarungen als kosmische Erscheinung verkündet wird, ändert an den Tatsachen selbst nichts.) Dadurch ist eine paradoxe Situation eingetreten: Die frühere, gebundenere, weniger bewußt-souveräne und freie Kunst verhielt sich in ihrer Gesellschaftskritik viel freier zu ihrer Zeit als die heutige. Eine abstrakte, negative und formale Freiheit ist nur möglich um den Preis einer konkreten Freiheit; um der subjektiven Freiheit willen gab die moderne Kunst die Eroberung der objektiven Wirklichkeit auf. Dieser Gegensatz steht noch klarer vor uns, wenn wir das Verhältnis der subjektiven künstlerischen Souveränität konkreter mit den gesellschaftlichen Bedingungen vergleichen, unter denen sie sich offenbart. Das ist das zweite Moment der objektiven Beschränktheit der subjektiven Freiheit. Der Trend nach innen, die radikale Ablehnung des Kapitalismus ist scheinbar, in der Gedankenwelt des Künstlers, eine höchst revolutionäre Geste gegenüber einer sinnlosen, kunstfeindlichen Außenwelt. Das tief empfundene Pathos dieser Geste und deren starrsinniger, kompromißloser Wille lebten und leben in vielen hervorragenden Künstlern. Die Frage ist nur: Was ist der objektive Sinn und Wert dieser Geste? Oder noch konkreter: Wie verhält sich das abgelehnte, verurteilte und verachtete Objekt, die kapitalistische Außenwelt, zu dieser Geste? Aus der historischen Perspektive ergibt sich ein tragikomisches Paradoxon: Das Verhältnis ist ziemlich gut. Denn die Anerkennung und die Feststellung, daß heute die Kapitalanlage und der Warenaustausch des Kapitalismus bereits beinahe uneingeschränkt die Kunst beherrschen, bedeutet bei weitem nicht, daß nun alle Kunstwerke, die nicht direkt seinen unmittelbaren Profitinteressen dienen, verboten, unterdrückt und zum Schweigen verurteilt würden. Davon ganz abgesehen, daß unter ge451

wissen Umständen auch der kritischste Realismus ein gutes Geschäft sein kann, und daß es keinen Kapitalisten gibt, der nur deshalb einen hohen Profit zurückweisen würde, weil dessen Quelle Zola oder Steinheck ist. Jedoch auch das allgemeine Kunstgeschäft und die Kunstpolitik der bürgerlichen Gesellschaft sind außerordentlich vielfältig: Wie wir sahen, räumt sie der Persönlichkeit des Künstlers und der subjektiven künstlerischen Freiheit gelegentlich ein ziemlich großes »Betätigungsfeld« ein. Nur der weitverbreitete, für die arbeitenden Massen bestimmte Kitsch hat außerordentlich strenge Vorschriften (Hollywood). Für die Kunst, die als Konsum der oberen Zehntausend bestimmt ist, mag es kein Hindernis sein, daß hier der Geist der abstrakten Empörung vorherrscht; sie berührt die vitalen Interessen des Kapitalismus kaum und desto weniger, je inniger und je abstrakter diese Empörung ist. Die damit gegebene Freiheit birgt für die Entwicklung der Künstler außerordentliche Gefahren in sich. Das In-Sich-GekehrtSein bedeutet bereits an sich eine Abkehr von den objektiven gesellschaftlichen Fragen. Sie wird durch das - nur selten offen ausgesprochene - übereinkommen noch gesteigert, das auf dieser Grundlage, zwischen einem Künstler und (durch den Mittlerdienst des Kapitalisten) dem Publikum entsteht, übrigens von seiten des Künstlers oft mit größter subjektiver Gutgläubigkeit - ein übereinkommen, daß über gewisse Dinge, in gewisser Art, in gewissem Ton nicht gesprochen werden darf. In einem solchen Rahmen darf sich ein Künstler mit unbegrenzter Souveränität betätigen. Das Wort: übereinkommen hört sich unangenehm an, doch glauben wir kaum, es mit Beispielen illustrieren zu müssen, da es eine bekannte Tatsache umschreibt. Jeder erfahrene Schriftsteller weiß genau, welche von seinen Schriften in welchem Blatt, in welcher Zeitschrift und bei welchem Verlag abgedruckt werden kann, und - seien wir ehrlich! - in vielen Fällen hat, mehr oder minder offen zugegeben, diese Möglichkeit bereits die Wahl des Themas und seine Abhandlung selbst beeinflußt. Von den nicht wenigen Fällen spreche ich nicht, wo solche ausgesprochenen oder stillschweigend hingenommenen übereinkommen manchen vom Wege der Kunst langsam herab zur feinen oder groben Kitschproduktion hinüberführten. 452

Bei uns ist Franz Molnar2 das auffallendste Beispiel einer derartigen Wirkung der kapitalistischen »Freiheit« auf die Kunst. Die moderne künstlerische Freiheit kann also charakterisiert werden als die subjektive, unumschränkte Freiheit des unmittelbar individuellen Ausdrucks des unmittelbar individuellen künstlerischen Erlebnisses. Daraus folgt in den meisten Fällen, daß der Ausdruck - selbst wenn das gesellschaftliche Leben und die objektive Außenwelt das Material dieses Ausdrucks sind - sich so zeigt, wie er sich im unmittelbaren Erlebnis offenbart hat. Jedermann weiß jedoch, daß diese Manifestation in keiner Gesellschaft (am wenigsten im Kapitalismus) mit dem Wesen der gesellschaftlichen Welt und mit ihren bewegenden Kräften identisch sein kann. Die Mehrheit der modernen Schriftsteller kann die gesellschaftliche Welt deshalb nicht kennenlernen, weil sie ihre abstrakte Erlebnis- und Ausdrucksfreiheit in der immer reaktionärer werdenden imperialistischen W e!t für sich retten will. Darauf verweisen die verschiedensten Motive. Hier wurde nur die Wechselwirkung der Wirtschaftsstruktur und der Kunst geschildert. Hierher gehört jedoch auch die gesellschaftlich notwendige Entfremdung des Künstlers vom öffentlichen Leben; hierher gehört auch die reaktionäre politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die diesem In-Sich-Gekehrt-Sein, dieser Entfremdung von der Gesellschaft einen - verständlichen und oft achtbaren - Protestcharakter verlieh. Darüber habe ich bereits ausführlich geschrieben. Dieser Protest, das sei wiederholt, ist oft achtbar, jedoch: Daß das subjektive Erlebnis eines bloßen Protestes weder ideologisch noch künstlerisch eine Garantie für eine Höherwertigkeit ist, hatte bereits Dostojewski klar erkannt, als er den so entstehenden Individualismus als einen Individualismus des »Kellerlochs« charakterisierte. Wie jedoch auch die Verwicklung und Verkettung der Ursachen liegen mag, Tatsache bleibt Tatsache: Der moderne Künstler zahlte für seine neue Freiheit den höchsten Preis: Er 2 Pranz Molnar (1878-1952), international anerkannter und erfolgreicher ungarischer Unterhaltungsschriftstellcr, der frühzeitig in die USA emigrierte. Am bekanntesten sind sein Roman -.A Pal utcai fiUk4C, 1907 (dt.: »Die Jungen der Paulstraße«, 1910) und seine Dramen »Liliom«, 1909 (dt. 1912), »Olympia«, 1927 (dt. 1928). (Hrsg.)

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verzichtete auf die wahre Freiheit der wirklichen Kunst; er verzichtete darauf, der wahren Welt des Menschen den tiefsten und umfassendsten Ausdruck unter allen menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen. Ein tiefes Verhältnis und eine unzerbrechliche Treue zum objektiven Wesen der Wirklichkeit: das ist die wahre, objektive künstlerische Freiheit - objektiv, weil sie in den meisten Fällen größer ist, als es der Künstler weiß, sich vorstellt oder beabsichtigt. Von diesem Königsweg der künstlerischen Freiheit wird die Kunst durch die moderne Entwicklung abgelenkt. Die protestierende ln-Sich-Gekehrtheit des Künstlers ist subjektiv ein Widerspruch gegen die antikünstlerischen Tendenzen der Gesellschaft; objektiv ist sie aber eine Beschleunigung und Vertiefung des durch äußere Umstände entstandenen Prozesses. »Die innere Erleuchtung ist die schäbigste Art der Beleuchtung« - sagte Chesterton. Sie ist tatsächlich die schäbigste, weil sie die äußere wie die innere Wirklichkeit verzerrt. Und zwar - und das ist hier wesentlich - ist diese Verzerrung um so stärker, je tiefer sie durch das In-Sich-Gekehrt-Sein begründet ist, je mehr diese lntrovertierung einen ideologischen Charakter gewinnt. Dies trat bereits zu Beginn· der modernen Entwicklung ein. Wenig später, als Goethe die ungünstigen Wirkungen der allgemeinen gesellschaftlichen Umwälzungen auf die Kunst beschrieb, hatte Tieck, der repräsentative Dichter der ersten Generation der deutschen Romantik, hymnisch die weltanschauliche Bedeutung des ln-SichGekehrt-Seins besungen 3 : »Die Wesen sind, weil wir sie dachten, In trüber Feme liegt die Welt, Es fällt in ihre dunkeln Schachten Ein Schimmer, den wir mit uns brachten: Warum sie nicht in wilde Trümmer fällt? Wir sind das Schicksal, das sie aufrecht hält! ... Was kümmern mich Gestalten, deren matten Lichtglanz ich selbst hervorgebracht? Mag Tugend sich und Laster gatten! 3 Ludwig Tie47. (Hrsg.)

45 5

subjektivsten, surrealistischsten Kunst. Aber was für eine Außenwelt? Ortega y Gasset sagt dazu 5 : Es ist nicht notwendig, das Wesen der Dinge umzuwandeln; es genügt, sie mit neuen Vorzeichen zu versehen, »eine Kunst zu schaffen, wo die sekundären Züge des Lebens in monumentaler Größe im Vordergrund stehen«.

III

Diese Entwicklung ist nicht geradlinig und krisenfrei verlaufen. Freilich, auch hier können die Gegenströmungen nicht, nicht einmal in Umrissen, skizziert werden. Wie Künstler der kapitalistischen Epoche den großen Realismus schufen: davon sprach ich bereits in anderen Schriften ausführlich6. Hier möchte ich lediglich die Kultur- und Kunstkritik von Carlyle, Ruskin und William Morris hervorheben, die auf verschiedenen Wegen eine direkte Beziehung, die einst vorhandene Gebundenheit des Werkes, d. h. die frühere Freiheit, wiederherstellen wollten. Ich möchte mich hier nur auf Tolstoi beziehen, der die Kunst seiner Zeit, die bei weitem noch nicht der gegenwärtigen vergleichbar entfaltet war, als einen »künstlerischen Provinzialismus« bezeichnet hatte. Dabei opponierte er der Universalität der früheren Kunst. Er hatte klar erkannt, daß allein ein steter und unmittelbarer Anschluß an die Lebensformen des Volkes für die wahre Kunst einen Ausweg aus dem Labyrinth des modernen Lebens bedeuten kann. (Eine ausführliche Kritik der Ksthetik von Tolstoi gab ich an anderer Stelle.) Was ist nun gegenwärtig das neue Problem, das die Frage der künstlerischen Freiheit erneut so brennend aktuell macht? Die Kritik der modernen künstlerischen Freiheit ist heute kein Wehklagen in einer verzweifelten Situation, sondern ein Suchen nach konkreten, wirklichen Auswegen. Die neue Situation ist der 5

S.

Jose

250.

Ortega (Hrsg.)

y Gasset,

»Die Vertreibung des Mensdien aus der Kunst~, a. a. 0.,

6 Vgl. G. LukEigenschaft< der Materie, von deren Anerkennung der philosophische Materialismus abhängt, besteht darin, daß sie obje!ctive Wirklichkeit ist, daß sie außer unserem Bewußtsein existiert5. « Diese scharfe Abgrenzung bedeutet natürlich nicht soviel, als wären die Resultate der Naturwissenschaften für die Philosophie gleichgültig. Ganz im Gegenteil. Lenin hat ebenso wie vor ihm Engels wiederholt darauf hingewiesen, daß es die Pflicht der materialistischen Philosophie ist, von jedem neuen Schritt der Naturwissenschaften zu lernen, jede neue Entdeckung zu benützen, um die konkrete Struktur der Materie konkreter und genauer zu erkennen. Das Verhältnis der Philosophie zur Wissenschaft besteht also darin, daß die erstere - auch in konkreten philosophischen Fragen - von der letzteren lernen muß, zur selben Zeit aber ihre volle Unabhängigkeit dort bewahrt, wo sie allein maßgebend ist, in den grundlegenden Fragen der Erkenntnistheorie, daß sie mit Hilfe ihrer Unabhängigkeit den Naturwissenschaften den Weg weisen kann, wo sich die Gelehrten selbst (infolge Mangels einer philosophischen Kultur oder unter der Wirkung ihrer bürgerlichen Umgebung) verirren. Diese Frage erhält in unseren Tagen eine besondere Bedeutung, denn in der Gegenwart ergibt sich die merkwürdige Lage, daß die Naturwissenschaftler, die in ihrer naturwissenschaftlichen Praxis ohne Ausnahme, oft ohne es zu wollen oder zu wissen, auf materialistischer Grundlage stehen, zu Sklaven von reaktionären Bestrebungen werden, sobald sie in erkenntnistheoretischer oder methodologischer Richtung zu Verallgemeinerungen vordringen wollen. Lenin hat schon in bezug auf Mach selbst bewiesen, daß dieser, nach eigenem Geständnis, in seiner wissenschaftlichen Praxis gezwungen ist, auf materialistischer Grundlage zu stehen.

5 W. 1. Lenin, >Materialismus und EmpiriokritizismusKonspekt zu Hegels >Wissensdiaft der Logik«, in: Lenin-Werke, Bd. XXXVIII, S. 169. (Hrsg.)

kann. Die oben skizzierte Krise des Idealismus macht es unmöglich, daß die heutige Zeit - wenn auch nur in kleinerem Maßstab - einen Proklos oder Cusanus, einen Vico oder Hegel hervorbringt. Doch die für die Menschheit so schicksalsschwere Zuspitzung des Lebens, des Fortschritts der Wissenschaften, der gesellschaftlichen Probleme kümmert sich wenig darum, ob die Denker einer Periode dialektisch denken oder nicht. Das Leben selbst, die Gesellschaft, die Natur sind dialektisch und zeigen dies um so mehr, je tiefer unsere Erkenntnis in sie eindringt, je höher die Stufe der Entwicklung ist, die sie erreichen. Die Wissensd1aft - und vor allem die Philosophie - gelangt auf diese Weise in folgende Lage: Die Fragen, die zu lösen sie gezwungen ist, denen sie auf keine Weise ausweichen kann, sind immer ausgesprochener dialektischer Natur. Aber die Wissenschaft - und hauptsächlichst die Philosophie - ist nicht imstande, auf die dialektischen Fragen dialektische Antworten zu geben; die wirkliche, die nicht selten entscheidende Frage erhält eine falsche, verzerrte, in die Irre führende Antwort; die wirkliche Frage, die die Möglichkeiten einer kolossalen, sprunghaften Entwicklung in sich birgt, wird in ihrer Beantwortung zur Stütze des Konservativismus, der Reaktion. Diese Situation der modernen Philosophie, die von grundlegender Bedeutung ist, hat Lenin auf geniale Weise erkannt. Und zwar nicht nur, was für ihn auf der Hand lag, in dem Reaktionär-Werden der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wissenschaften, nicht nur, wie wir oben sahen, in dem In-dieSackgasse-Geraten der idealistischen Philosophie, sondern auch - die ganze spätere Entwicklung der modernen Wissenschaften gedanklich vorwegnehmend - in der Krise der modernen Physik. Es ist bekannt, daß jene grundlegende Umgestaltung der Physik im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts ihren Anfang nahm und wir ihre Resultate erst in der letzten Zeit zu übersehen beginnen. Lenin sah sofort das philosophische Wesen der Frage, und damit gelang es ihm, auf die infolge der Entwicklung der Naturwissenschaften objektiv aufgeworfene dialektische Frage die dialektische Antwort zu geben. Wie Stalin her-

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vorhebt7, hat Lenin auch hier jene Konsequenz aus dem dialektischen Materialismus gezogen, daß jeder große Schritt, den die Entwicklung der Naturwissenschaft vorwärts macht, auf die Bestimmung der Dialektik umformend wirkt. Und es ist ebenfalls bekannt, daß diese Krise sich in erster Linie darin äußerte, daß Auffassungen über die Beschaffenheit, die Struktur, die Gesetze der Materie, die durch Jahrzehnte, ja oft Jahrhunderte hindurch für unerschütterliche Wahrheiten gehalten wurden, »plötzlich« ins Schwanken kamen, in Zweifel gezogen wurden. Die klassische Dualität von Materie und Energie, Materie und Bewegung wurde »plötzlich« unbestimmt; es wurden neue einheitlichere physikalische Begriffe notwendig, um den neu entdeckten Erscheinungen einen adäquaten gedanklichen Ausdruck zu geben. Der überwiegende Teil der philosophierenden Physiker und der die Naturwissenschaften auslegenden Philosophen schreckten jedoch vor den sich vor ihnen auftürmenden Fragen - die ohne Dialektik nicht zu lösen waren - zurück. Sie bliesen Rückzug, retteten sich in den reaktionären Idealismus, und das taten auch viele Naturwissenschaftler, die in ihrer eigenen wissenschaftlichen Praxis bis zum Ende Materialisten blieben. Diese gedankliche Krise äußerte sich teils als die Krise der physikalischen Begriffsbildung, teils (besonders in der philosophischen Erklärung von physikalischen Erscheinungen) als Krise des Materialismus. »Die Materie ist verschwunden«, verkündete man als Folge der Umgestaltung der Physik - und mit dem Verschwinden der Materie verlor natürlich auch die materialistische Weltanschauung ihre Geltung. Es ist bekannt, daß diese Krise der Philosophie auch tief in die Reihen der Marxisten eingedrungen ist; im Rahmen der n. Internationale wurde allerorts der Materialismus erschüttert, allerorts wucherte der philosophische Revisionismus auf, die Nachfolge von Kant, Mach usw. In dieser Krise bewies Lenin besonders eindringlich die Fruchtbarkeit und Wirksamkeit des Begriffes des Materialismus. Lenin sah klar, daß das, was in der Physik geschieht, nichts mit den philosophischen Grundlagen des Materialismus zu tun hat. Wenn 7 J. Stalin, Ober dialektischen und historischen Materialismus, Berlin S. 6 f. (Hrsg.)

1954,

freilich, wie wir sahen, die Physik die Struktur der Materie auf neuer Grundlage formuliert, so muß hieraus auch die materialistische Philosophie lernen. Aber was immer auch der konkrete Inhalt der physikalischen Entdeckungen, der in ihrer Spur entstandenen neuen Hypothesen, neuen Gesetze sein mag: Es ändert durchaus nichts an der erkenntnistheoretischen, philosophisch einzig entscheidenden Frage. Lenin schreibtS: »Um die Frage von dem einzig richtigen, d. h. dialektisch materialistischen Gesichtspunkt aus zu stellen, müssen wir fragen: Existieren die Elektronen, der Äther und so weiter unabhängig vom menschlichen Bewußtsein als objektive Wirklichkeit oder nicht? Auf diese Frage müssen die Naturwissenschaftler ohne Zaudern antworten, und sie haben immer mit ja geantwortet, so wie sie die Existenz der Natur vor der Entstehung des Menschen und der organischen Materie anerkennen. Und damit ist die Frage zugunsten des Materialismus entschieden, denn der Begriff der Materie bedeutet erkenntnistheoretisch, wie wir schon sagten, nichts anderes als die objektive, vom menschlichen Bewußtsein unabhängig existierende und durch sie dargestellte Wirklichkeit.« Aber diese entscheidend richtige Antwort ist für Lenin nur der Ausgangspunkt. Gleichzeitig damit, daß er im Zusammenhang mit der Krise den aus ihr erwachsenden reaktionären Idealismus kritisiert, daß er scharf darauf hinweist, wie die aus den neuen Erscheinungen zu ziehenden neuen Konsequenzen die Grundlagen der materialistischen Erkenntnistheorie nicht berühren, geschweige denn erschüttern, weist er auch darauf hin, daß diese Krise zugleich die Krise des alten, des mechanischen Materialismus ist. Nicht die Materie ist verschwunden, nicht der erkenntnistheoretische Begriff der Materie ist problematisch geworden, sondern das System der Begriffsbildung des alten Materialismus ist zusammengebrochen, hat sich zur wissenschaftlich adäquaten Formulierung der neuen Erscheinungen als unfähig erwiesen. Die Gründe sind vor allem die Starrheit der Begriffe des alten Materialismus, die Überschätzung des mechanistischen Standpunkts, das Verkennen des relativen Charakters der wissenschaftlichen Theorien, der Mangel an Dialektik. 8 W. 1. Lenin, ,..Materialismus und Empiriokritizismus«, a. a. 0., S.

261.

(Hrsg.)

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Lenin charakterisiert diese Lage so9: »Die neue Physik hat sich hauptsächlich deshalb in den Idealismus verwickelt, weil die Physiker die Dialektik nicht gekannt haben. Sie haben gegen den metaphysischen Materialismus gekämpft (im Engelssehen und nicht positivistischen, Humeschen Sinne des Wortes), gegen seine >mechanistische Einseitigkeit< und haben mit dem Bad das Kind ausgeschüttet. Sie leugneten die Unveränderlichkeit der bis dahin bekannten Elemente und Eigenschaften der Materie und gelangten damit zur Leugnung der Materie selbst, d. h. zur Leugnung der objektiven Wirklichkeit der physischen Welt. Sie leugneten den absoluten Charakter der wichtigsten und grundlegendsten Gesetze und kamen dahin, jede objektive Gesetzmäßigkeit in der Natur zu leugnen, die Naturgesetze als bloße Konventionen hinzustellen, als >Beschränkungen unserer Erwartungenlogische Notwendigkeitenunbedingt objektiven Erkenntnis< ist. Kurz gefaßt, jede Ideologie ist geschichtlich bestimmt, aber es ist unbedingt, daß jeder wissenschaftlichen Ideologie ... eine objektive Wahrheit, eme 10 W. !. Lenin, a. a. 0., S. 130-13r. (Hrsg.)

absolute Natur entspricht. Ihr werdet sagen: Diese Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Wahrheit ist unbestimmt. Darauf antworte ich: Dieser Unterschied ist gerade genug >unbestimmtbestimmt< genug, um eine Grenze zu ziehen, und zwar entschieden und unwiderruflich, vor den Sophistereien des Fideismus und Agnostizismus, des philosophischen Idealismus und der Anhänger Kants und Humes.« Nur der dialektische Materialismus ist fähig, den MomentCharakter der Relativität konsequent und zugleich biegsam zu Ende zu denken. Der aufrichtige Glaube an den Weltgeist machte bei Hegel noch einen so entschiedenen Objektivismus, eine so starke überzeugtheit in der objektiven Existenz und Erkennbarkeit der Außenwelt möglich, daß er imstande war, den Moment-Charakter der Relativität auszuarbeiten, ohne in den Relativismus zurückzufallen, daß bei ihm die Erkenntnis der dialektischen Beschaffenheit der Wirklichkeit - hier und anderwärts - nicht selten die Grenzen der materialistischen Dialektik streifte. We~n der heutige Idealismus den reinen Agnostizismus, den reinen Solipsismus überwinden will, verfallt er entweder den vollkommen grundlosen (oft unaufrichtigen, direkt demagogischen) Mythen, oder er ist gezwungen, solche Gedanken, Vorstellungen, Erlebnisse auszuklügeln, die niemandes Gedanken, Vorstellungen, Erlebnisse sind, die - angeblich - die »gemeinsamen« Elemente der subjektiven und objektiven Welt bilden usw. Die moderne Philosophie kann deshalb nur zwischen den waghalsigen und den verschämten Mythen wählen. Aber sie ist immer wissenschaftsfeindlich, entwicklungsfeindlich; ihre Methode ist immer starr, weil sie immer den Zusammenhang aus einem Moment aufbaut. Ein solcher Ausgangspunkt des Denkens schließt die Dialektik aus, die bei Hegel, wenn auch in idealistischer Form, noch teilweise möglich war, weil sein Weltgeist, wenn auch mystifiziert, die ganze Natur, die ganze Gesellschaft und ihre Geschichte in sich enthielt, und zwar nicht in toter Erstarrung, sondern in stetigem Absterben und stetiger Erneuerung begriffen, in einer ohne Unterlaß Neues produzie-

renden, revolutionären Aufwärtsbewegung. Der »dritte \'Veg« des modernen Idealismus schließt das gerade aus. Es ist kein Zufall, daß die 48er Revolution die Krise der Hegelschen Philosophie endgültig abschloß, und daß der mechanische Materialismus und sehr verschiedene, aber immer der Dialektik feindliche Variationen des subjektiven Idealismus ihren Platz einnahmen, daß Schopenhauer auf den Thron erhoben wurde, in dessen Augen die Dialektik Wahnsinn bedeutete. So ist es auch kein Zufall, daß der damalige führende Theoretiker des philosophischen »dritten Weges«, Petzoldtll, das Ideal des Denkens in jenem Weg sah, der »Zum endgültigen, konstanten Zustand der Menschheit« führt, d. h. in der philosophischen Verewigung der eben existierenden kapitalistischen gesellschaftlichen Ordnung. Noch weniger zufällig war es, daß das vor- und nachfaschistische Denken den unerbittlichsten, konsequentesten Feind der Hegelschen Dialektik, Kierkegaard, zum Modephilosophen machte. So scharf ist der Gegensatz zwischen dem dialektischen Materialismus und allen bürgerlichen philosophischen Strömungen der imperialistischen Periode. Dieser unüberbrückbare Gegensatz erklärt die schneidende Schärfe der Argumentierung in Lenins philosophischen Schriften. Lenin sah von Anfang an klar, daß sich hier eine gedankliche Verfinsterung der Menschheit vorbereitet, daß aus den von ihm bekämpften, scheinbar akademischen erkenntnistheoretischen Auffassungen, die in einer für die breiten Massen vollkommen unzugänglichen Terminologie geschrieben waren, ideologische und damit gesellschaftliche und politische Waffen der Weltreaktion geschmiedet werden. Lenin sah jedoch, als echter, großer Dialektiker, in dem negativen Erscheinungskomplex !licht nur das Negative, oder richtiger, er erfaßte auch das Negative konkret dialektisch. Und die Verneinung ist eben, wie es die Dialektik lehrt, die bewegende widerspruchsvolle Kraft des Fortschritts, der Aufwärtsbewegung. freilich, wenn wir hier von den in der Richtung des Fortschritts wirkenden Elementen sprechen, denken wir 11 Joseph Petzoldt {1862-1929), Schüler von E. Mach und Avenarius. Lenin bezieht sich vor allem auf seine Werke »Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung« (190„~1904), »Das Weltproblem vom po·sitivistischen Standpunkte aus« (1906). (Hrsg.)

nicht an die reaktionären Erkenntnistheorien, nicht an die noch reaktionäreren Mythen, sondern an jene Lebenstatsachen, Lebenserscheinungen, die diese Bewegung in der Wirklichkeit erregten. Wir erinnern daran, was wir über die vom Leben gestellten echten, wirklichen Fragen und ihre unrichtigen schiefen und in die Irre führenden Antworten gesagt haben. Stets handelt es sich um die dialektische, fruchtbare und befruchtende, durch Gegensätze aufwärtsstrebende Verneinung. Negativität ist in solchen Fällen immer in den durch die Wirklichkeit aufgegebenen Fragen verborgen und nicht in den unzulässigen Antworten. Und die Frage ist in unserem Fall die Krise der Physik, das Zweifelhaft-Werden des alten Begriffes der Materie, ihrer Struktur und ihrer Gesetze. So abweisend Lenin gegenüber den idealistischen, den »dritten Weg« vertretenden Kommentatoren dieser Erscheinung war, so leidenschaftlich und verständnisvoll studierte er die Erscheinung selbst, d. h. das, was in den modernen Naturwissenschaften vorging. Und er sah klar, daß gerade der Zusammenbruch des alten mechanischen materialistischen Weltbildes zugleich der Ausgangspunkt für die Entstehung eines neuen dialektischen materialistischen Weltbildes ist. »Die moderne Physik liegt in Geburtswehen. Sie ist dabei, den dialektischen Materialismus zu gebären1 2 .« Wir haben Lenins Kritik über die philosophiegeschichtlichen Methoden Plechanows mit Absicht zitiert. Lenin begnügte sich nicht damit, nur Kritik zu üben; er stellte in seiner eigenen Praxis die echte marxistische Auffassung über die geistige Entwicklung der Menschheit ihrer im Geiste des alten Materialismus vollzogenen Vergröberung, Vulgarisierung gegenüber.

III.

Die dialektische Bedeutung des Annäherungscharakters der Erkenntnis

Lenin sieht den Hauptfehler des alten Materialismus darin, daß er nicht imstande ist, die Dialektik auf die Widerspiegelungstheorie, auf den Prozeß und die Entwicklung der Erkenntnis an12 W. 1. Lenin, )!>Materialismus und Empiriokritizismus.:, a. a. 0., S. 316. (I-Irsg.)

zuwenden. Was bedeutet das vom Gesichtspunkt der Philosophie? Jene Auffassung des alten Materialismus, die unter Widerspiegelung nichts anderes versteht als die unmittelbare Projektion einer stehenden, starren Welt, die Widerspiegelung im strengen, unmittelbaren Sinne dieses Wortes, so wie sie sich in jedem Moment in unseren Sinnen abspielt. Freilich stehen wir hier einer grundlegenden Erscheinung gegenüber, welche unbedingt als Ausgangspunkt des Denkens dienen muß. Von der Außenwelt können wir nur durd1 unsere Empfindungen Kenntnis nehmen; wer das leugnet, ist bereits mitten im Agnostizismus. Doch die Außenwelt ist nicht nur das, was für uns unmittelbar gegeben ist. Sie ist zugleich Bewegung, Veränderung, Rimtung, Gesetz der Veränderung, sie besteht aus ständigen (eventuell nicht mehr wahrnehmbaren) Elementen der in der unmittelbaren Empfindung wahrgenommenen Erscheinungen usw. Daraus entsteht für den alten Materialismus ein unlösbares Dilemma. Schon der junge Marx13 erkannte, daß wir in Demokrits Denken auf dieses Dilemma stoßen: Der Begriff des Atoms und die unmittelbare Wahrnehmung stehen hier unversöhnlich einander gegenüber. Dasselbe Problem taucht in immer neuen Variationen auch in der modernen Philosophie auf. Lenin sieht einerseits klar den notwendigen Zusammenhang der Wahrnehmung und der objektiven Außenwelt (und hält deshalb den »Sensualismus« für ein notwendiges Moment des materialistischen philosophischen Verhaltens), andererseits erkennt er ebenso klar, daß die Wahrnehmung nur ein Moment ist, das lediglich im dialektischen Zusammenhang die Erkenntnis der objektiven Außenwelt sichern kann. An sich, isoliert, kann es diese Garantie nicht geben. Lenin weist darauf hin, daß sowohl der materialistische Diderot als aud1 der solipsistische Berkeley aus dem Lockeschen Sensualismus hervorgegangen sind. (Und es ist kein Zufall, daß Vertreter des alten Materialismus wie Shaftesbury, sobald sie die Gesetze des Seins gedanklich fassen wollten, in die allernächste Nachbarschaft des Platonismus gelangten.) 13 Vgl. seine im Jahre 1841 von der Philosophischen Fakultät der Universität Jena angenommene Dissertation »Über die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie•, in: Karl-Marx-Ausgabe, Bd. !, S. 18 ff. (Hrsg.)

So wird der Zusammenhang von Erscheinung und Sein, Sein und Gesetzmäßigkeit, ihre Gleichartigkeit oder scharfe Absonderung, ihr dialektisches In-Einander-übergehen oder aber ihre starre Gegenüberstellung in der Entwicklung der Philosophie zur entscheidenden Frage. Hier macht ebenfalls Hegel, der Gründer der modernen Dialektik, den entscheidenden Schritt. In seinen Randbemerkungen zu Hegels Logik1 4 erkennt Lenin klar die ganze erkenntnistheoretische und methodologische Bedeutung dieses Schrittes. Wenn das Denken das unmittelbar gegebene Sein überschreitet, entsteht der Schein, als wäre hier ausschließlich die Tätigkeit der Erkenntnis in Bewegung, als verhielte es sich rein äußerlich zum objektiven Sein selbst. Aber - dies erkennt Hegel, und Lenin interpretiert es materialistisch - dieser Prozeß ist der Weg, die Bewegung des Seins selbst. Wenn aber die Erkenntnis von der Erscheinung weiterschreitet, sich dem Wesen nähernd, dann tut sie nichts anderes, als daß sie die Bewegung des Seins selbst verfolgt - d. h. wenn alles, was das Denken als Abstraktion, ja sogar als Naturgesetz usw. bezeichnet, nichts anderes ist als eine neue, wenn auch nicht durch die Wahrnehmung unmittelbar gegebene Form des Seins selbst; wenn diese Bewegung des Denkens nicht eine selbständige, aus ihm selbst kommende Tätigkeit ist, sondern die komplizierte, nicht unmittelbare Widerspiegelung der Bewegung, der Formänderung des Seins im menschlichen Bewußtsein, dann erhält die materialistische Erkenntnistheorie, die Erkenntnis als die Widerspiegclung der vom Bewußtsein unabhängig existierenden Außenwelt im menschlichen Bewußtsein eine neue Beleuchtung. Da das objektive Sein seinem Wesen nach auch ein Prozeß ist, die Bewegung von Widersprüchen, das Umschlagen von Erscheinungen in ihr Gegenteil, so kann der diesen reproduzierende gedankliche Prozeß nur insofern ein adäquates Bild des Originals geben, sofern er selbst dialektisch ist. Diese Auffassung löst mit einem Schlag die unlösbar scheinenden Fragen der idealistischen Erkenntnistheorie. Es verschwindet der starre Gegensatz von Erscheinung und Wesen, Erscheinung und Ding an sich. Gerade die Einsicht in die Objek14 W. I. Lenin, »Konspekt zu Hegels >Wissenschaft der LogikWissenschaft der LogikVorlesungen über die Geschichte der Philosophie«Metaphysik< des Aristoteles«, in: Lenin-Werke, BWissenschaft der Logik«Rheinische< und deren Verleger ein paar hundert Taler mehr an Satzkosten draufgehen ließen - und die Zensur war schon 184 3 in Deutschland unmöglich gemacht. Aber die deutschen Zeitungsbesitzer waren kleinliche, ängstliche Spießbürger, und die >Rheinische Zeitung< führte den Kampf allein86.« Daß Marx unter diesen Umständen den Bruch mit der deutschen Bourgeoisie vollziehen muß, in deren Feigheit und Zerfahrenheit sich schon zur Zeit des Vormärz - symptomatisch repräsentiert durch die kleinliche Haltung der Zeitungsaktionäre - die ganze Problematik der deutschen Revolution von 1848 ankündigt, liegt nach unseren obigen Ausführungen auf der Hand. Mit den schmutzigen materiellen Interessen der Bourgeoisie hat Marx bereits als bürgerlich-demokratischer Oppositioneller nicht das mindeste gemein gehabt. Das ausbeuterische Holzdiebstahlsgesetz hat ihm, wie wir sahen, dazu verholfen, den 86

Engels, •Karl Marx•, a. a. 0., S. 145. (G. L.)

549

theoretischen Weg vom Jakobinertum Marats zu dem Babeufs zurückzulegen und für die Rechte der armen Volksmassen Partei zu ergreifen. Die Einsicht in die Unfähigkeit der deutschen Bourgeoisie zur Revolution muß also notwendig dazu führen, daß Marx im aktiven revolutionären Kampf der armen Volksmassen auch die Bedingung für die Vollendung der deutschen Revolution erblickt. Als die Unterdrückung der »Rheinischen Zeitung« angeordnet wird, schreibt Marx im Januar 1843 an Ruge: »Ich sehe in der Unterdrückung der >Rheinischen Zeitung< einen Fortschritt des politischen Bewußtseins und resigniere daher . . . Ich bin der Heuchelei, der Dummheit, der rohen Autorität und unseres Schmiegens, Biegens, Rückendrehens und Wortklauberei müde ... In Deutschland kann ich nichts mehr beginnen. Man verfälscht sich hier selbst87. « Daß dies keine allgemeine Absage an Deutschland, sondern eine sehr spezielle an die deutsche Bourgeoisie ist, zeigt ganz klar der Briefwechsel von 1843, der die »Deutsch-Französischen Jahrbücher« eröffnet. Der erste Brief (an Ruge gerichtet) stammt von Marx, der hier zum ersten Mal unumwunden das Heranreifen der demokratischen Revolution in Deutschland prophezeit - einer R~volution aus Scham über die deutschen Zustände. »Sie sehen mich lächelnd an und fragen: Was ist damit gewonnen? Aus Scham macht man keine Revolution. Ich antworte: Die Scham ist schon eine Revolution; sie ist wirklich der Sieg der Französischen Revolution über den deutschen Patriotismus, durch den sie r 8 l 3 besiegt wurde. Scham ist eine Art Zorn, der in sich gekehrt. Und wenn eine ganze Nation sich wirklich schämte, so wäre sie der Löwe, der sich zum Sprunge in sich zurückzieht88.« Ruge antwortet auf diesen Brief tief pessimistisch. Er zitiert die bitteren Worte über Deutschland aus Hölderlins »Hyperion« und erklärt, daß die Deutschen niemals eine Revolution zustande bringen würden. »Sie sind längst historisch zugrunde 87 Marx an Rugc, 25. !. 1843, MEGA, 1. Abt., Bd. 1'2, S. 294. (G. L.) Marx-Engels-Werke, Bd. XXVII, S. 414 f., S. 415. (Hrsg.) 88 MEGA, 1. Abt., Bd. 1/1, S. H7· (G. L.) 550

gegangen. Daß sie überall mit zu Felde gelegen, beweist nichts ... Deutschland ist nicht der überlebende Erbe, sondern die anzutretende Erbschaft. Die Deutschen zählen nie nach kämpfenden Parteien, sondern nach der Seelenzahl, die dort zu verkaufen . 89 !St« USW. USW . •

Die Entgegnung von Marx auf diese pessimistische Perspektive ist außerordentlich interessant. Marx hat mit nicht geringerem Zorn als Ruge den Fortgang aus Deutschland, die Übersiedlung nach Frankreich beschlossen. Doch was er »Nationalscham« nennt, hat mit Ruges Pessimismus, mit der Hölderlin-Stimmung des verzweifelten Vormärz-Intellektuellen nichts gemein. So antwortet Marx: »Ihr Brief, mein teurer Freund, ist eine gute Elegie, ein atemversetzender Grabgesang; aber politisch ist er ganz und gar nicht. Kein Volk verzweifelt, und sollte es auch lange Zeit nur aus Dummheit hoffen, so erfüllt es sich doch nach vielen Jahren einmal aus plötzlicher Klugheit alle seine frommen Wünsche90,« In dieser Kontroverse zwischen Pessimismus und Optimismus kommt nun aber ein tieferer Gegensatz, der einer grundsätzlich anderen gesellschaftlichen Orientierung, zum Ausdruck. Ruge und Marx sehen beide die Erbärmlichkeit der deutschen Bourgeoisie (in der Terminologie des Briefwechsels: der Philister). Aber während Ruge an der bürgerlich-liberalen Orientierung festhält, infolgedessen die Erbärmlichkeit des Philisters auf das ganze deutsche Volk überträgt und eben deswegen verzweifelt (letzten Endes ist diese Verzweiflung das frühe Vorspiel seiner späteren Kapitulation vor Bismarck!), beginnt Marx, als er die Unfähigkeit der deutschen Bourgeoisie zur Revolution durchschaut, sich auf radikalere Bundesgenossen zu orientieren, die imstande wären, die Revolution im Kampf nicht nur gegen den Absolutismus, sondern auch gegen die Schwäche, die Zaghaftigkeit und Kompromißbereitschaft der deutschen Philisterwelt, der Bourgeoisie, zum Sieg zu führen. So kann Marx in der Antwort an Ruge die deutsche Philisterei sehr viel schärfer und konkreter brandmarken als dieser. 89 A. a. 0., S. 558-559. (G. L.) A. a. 0., S. 561. (G. L.)

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»Die Menschen ... «, schreibt Marx, »welche sich nicht als Menschen fühlen, wachsen ihren Herren zu wie eine Zucht von Sklaven oder Pferden. Die angestammten Herren sind der Zweck dieser ganzen Gesellschaft. Diese Welt gehört ihnen . . . Die Philisterwelt ist die politische Tierwelt, und wenn wir ihre Existenz anerkennen müssen, so bleibt uns nichts übrig, als dem Status quc. einfacherweise recht zu geben. Barbarische Jahrhunderte haben ihn erzeugt und ausgebildet, und nun steht er da als ein konsequentes System, dessen Prinzip die entmenschte Welt ist ... Der deutsche Aristoteles, der seine Politik aus unseren Zuständen abnehmen wollte, würde an ihre Spitze schreiben: >Der Mensch ist ein geselliges, jedoch völlig unpolitisches TierSozialfaschismus< in Deutschland. Zur Gcsd1idue eines politischen Begriffs«,

in: International Review of Social History, 10. Jg., Heft 2 (1965), S ..211 ff. - Der VII. Kongreß der Komintern tagte vom 25. Juli bis 20. August 1935 in Moskau. (Hrsg.)

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der Entwicklung. Die Vernachlässigung solcher Zusammenhänge ist typisch für den Sektarianismus. Und dies stellt für unsere Bewegung eine große Gefahr dar, denn gerade die Reaktion ist es, die es versucht, die Aufmerksamkeit von den konkreten Widersprüchen, um die es im wirklichen politischen Leben geht, abzulenken. Sie ist es, die alle aktuellen Fragen auf den großen, allgemein weltgeschichtlichen Gegensatz zu vereinfachen sucht, also auf den Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus. Wir wissen, Hitlers antibolschewistische Propaganda hat dies getan. Wir wissen, daß die amerikanische Reaktion dies getan hat und noch heute tut. Wir können uns daran erinnern, daß bei uns in Ungarn, in den Wahlen von 194 5, nicht wir, sondern gerade die Partei der kleinen Landwirte die Parole von einer weltanschaulichen Wahl zwischen KapitaLsmus und Sozialismus ausgab. Warum will dies der Feind? Deshalb, weil er den Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus vorzeitig zur Entscheidung bringen will; er möchte diesen entscheidenden Zusammenstoß gerade dann provozieren, wenn die Umstände für den Sozialismus noch ungünstig sind. Als aber, im Gegensatz dazu, in der Taktik der Kommunisten - etwa nach dem VII. Kongreg der Komintern - der Kampf des Faschismus und des Antifaschismus in den Vordergrund rückte und dies das bestimmende Moment in der Politik der Kommunisten wurde, als der Weltkrieg mit solchen Pronten ausbrach, brachte dieser Weltkrieg eine unermeßliche Vergrößerung des Sozialismus. In Europa hatte er das Zustandekommen der Volksdemokratien zur Folge; die ruhmreiche chinesische Revolution wurde geboren. Das heißt also: Der Widerspruch, daß unsere Strategie und Taktik nicht von dem fundamentalen Gegensatz der Epoche, vom Gegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus bestimmt war, sondern von dem zwischen Faschismus und Antifaschismus, war ein echter dialektischer Widerspruch, der Ausdruck der wirklichen historischen Bewegung. So konnte das konkrete Ergebnis dieses Kampfes einen gewaltigen Sieg für den Sozialismus herbeiführen. Ich glaube, für unsere Zeit spielt der Kampf um Krieg und Frieden, der Kampf um die Koexistenz diese Rolle. Natürlich

kann man von einer einfachen Wiederholung in der Geschichte nie sprechen, aber auch hier ist von einem strategischen Problem die Rede, das sich über einen ganzen Entwicklungsabschnitt erstreckt, und dessen große Erfolge, davon bin ich überzeugt, werden wir noch erleben. Die mit Stalins Tod abgeschlossene Epoche war in dieser Hinsicht nicht konsequent und konnte es nicht sein, denn das die Stalinsche Politik bestimmende Hauptaxiom, die Unausweichlichkeit einer unablässigen Verschärfung der Gegensätze, erlangte nicht nur in der inneren Politik der Sowjetunion Geltung, sondern bedeutete zwangsläufig die Perspektive eines dritten Weltkrieges. Glücklicherweise zog Stalin die Folgerungen aus dieser Theorie nicht mit letzter Konsequenz; deshalb fanden sich in seiner Politik auch die Elemente einer Erkenntnis der neuen Epoche. Freilich nur ihre Elemente. Eine in dieser Hinsicht wirklich folgerichtige Politik konnte erst nach Stalins Tod geführt werden. Die Einzelheiten dieses Widerspruches will ich hier nicht erörtern; ich verweise nur auf Stalins Rede am XIX. ParteikongreßS, in der er einerseits den Ort der Friedensbewegung in der heutigen Zeit bestimmte (die Vermeidbarkeit bestimmter, gegebener Kriege). Andererseits aber äußerte er zur Möglichkeit, diese Politik unter den Verhältnissen des Imperialismus zu verwirklichen, gewisse Vorbehalte. Es besteht kein Zweifel, daß nach Stalins Tod hierin ein großer Wandel eingetreten ist. Man kann ihn am besten daran erkennen, daß die Beendigung des koreanischen und danach des vietnamesischen Krieges einsetzte, und wir betraten ein Zeitalter, in dem Frieden und Koexistenz möglich geworden sind. Der xx. Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion - hierin über den Standpunkt des XIX. Kongresses hinausgehend - formulierte es so, daß in unserer Epoche der Krieg vermeidbar ist und daß die Politik sich auf diese Einsicht stützen muß. Das bedeutete eine Abrechnung mit den Inkonsequenzen der vorangegangenen Periode. Die Koexistenz, das friedliche Nebeneinanderleben der beiden 5 Am 14. Oktober 195i, in: J. W. Stalin, über den Kampf um den Frieden. Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden (Bücherei des Marxismus-Leninismus, 43), Berlin 1954, S. 338 ff. (Hrsg.)

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Gesellschaftssysteme muß man wörtlich verstehen: in dem Sinne, daß beide Welten entsprechend ihren eigenen inneren Entwicklungsgesetzen leben können. Das anerkennt jede Seite für die andere. Wir bleiben also, was wir sind: Marxisten, Kommunisten; als solche wollen wir mit euch, mit der bürgerlichen Welt, in Frieden leben, so viel und so intensiv als möglich, wir wollen mit euch Berührung suchen, die ihr nach euren eigenen Gesetzen, nach eurer eigenen gesellschaftlichen Ordnung und nach eurer eigenen Weltanschauung lebt. Und auf dieser Basis möge dann der Dialog, die Diskussion, das Zwiegespräch zustande kommen, die ständige Berührung auf einer möglichst hohen Stufe, angefangen von der Politik und der Wirtschaft bis hin zur Kultur. Aber wenn wir sagen, der Kapitalismus möge leben und sich nach seinen eigenen Gesetzen entwickeln, so vergessen wir dabei niemals, daß Marx diese eigenen Gesetze besser erkannt hat als die Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft. Marx sah, daß die Dialektik der eigenen Gesetze den Kapitalismus unaufhaltsam zum Sozialismus hin treiben wird. Das sagt nicht, daß wir uns irgendwie in das Leben irgendeines kapitalistischen Staates einmischen werden - jedes Volk lenkt sein eigenes Schicksal. Es besagt nur, daß wir zutiefst davon überzeugt sind, jedes kapitalistische Land schreite - infolge der inneren Dialektik seiner eigenen Entwicklung, durch Widersprüche hindurch, mit Hilfe von Widersprüchen - notwendigerweise auf den Sozialismus zu. Was bedeutet das nunmehr für uns als Aufgabe? Wenn wir glauben, daß ein dritter Weltkrieg mindestens einem großen Teil der Welt den Sozialismus bringen wird, dann könnten wir die Ausbreitung des Sozialismus getrost dem Weltkrieg, der Überlegenheit der Waffen des sozialistischen Lagers überlassen. Wenn wir aber der Überzeugung sind, daß wir vor einer langen Friedensepoche stehen und daß jeden kapitalistischen Staat nur die Dialektik seiner eigenen Entwicklung zum Sozialismus führen wird, dann folgt daraus, daß wir, die Kommunisten anderer Länder, diese Entwicklung ausschließlich ideologisch beeinflussen können. Zum Teil eben in derartigen Diskussionen, Dialogen, Informationen usw. - natürlich, ohne daß wir irgendeinen Kompromiß hinsichtlich der Prinzipien des Marxismus-Leninismus gestatten würden. Zum anderen Teil eben dadurch, daß wir 611

mit Hilfe der praktischen Politik im eigenen Lande den Sozialismus auch für die breiten Massen anderer Länder anziehend machen. Die Propagierung der Koexistenz ist also aufs tiefste mit unserer festen Überzeugung an den endlichen Sieg des Sozialismus verbunden. Je ernster wir die Koexistenz nehmen, das heißt: je menschlicher wir den Sozialismus aufbauen - menschlicher für uns, zu unserem Nutzen, vom Standpunkt unserer eigenen Entwicklung - um so mehr dienen wir auch dem endlichen Sieg des Sozialismus im internationalen Maßstab. Zum gleichen Ergebnis gelangen wir, wenn wir sagen: Je inniger, vielseitiger, intensiver die Verbindungen zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Welt sein werden, um so besser können wir unter den Bedingungen der Koexistenz jenem großen Ziel, dem Sieg des Sozialismus, dienen. Denn wenn es uns gelingt, den Sozialismus anziehend zu machen, dann wird er für die Massen kein Schreckgespenst mehr sein. Ich denke nicht an die kleine Gruppe der imperialistischen Kapitalisten; für sie wird die Enteignung immer ein Horror sein. Aber seien wir ehrlich: Es gibt im Westen noch zahllose Arbeiter, die vor dem Sozialismus in seiner heutigen Form zurückschrecken, nicht zu reden von der großen Masse der Bauernschaft und der Intelligenz, deren Abneigung, deren schreckhafte Reaktion durch Taten, durch richtige Erläuterung und Propaganda des echten Marxismus sehr wohl aufgehoben werden kann. Deshalb - ich glaube, das wird aus dem bisher Gesagten klar ersichtlich - müssen Fortschritt und Reaktion mit einem anderen Maß gemessen werden, als es aus dem abstrakten Gegensatz folgen würde, und zur gleichen Zeit steht der Widerspruch, der sich hier offenbart, in engstem Zusammenhang mit unserem Endziel: Er erweist sich so als fruchtbarer dialektischer Widerspruch.

III

Gestatten Sie, daß ich jetzt die neue Situation in einigen Gebieten der Weltkultur in Kürze, eher skizzenhaft als in einer zusammenhängenden Darlegung, die im Rahmen eines Vortrages unmöglich ist, etwas illustriere. 612

Ich beginne mit einem in seinen konkreten Äußerungen von uns sehr wenig untersuchten Gebiet, mit dem Gebiet des religiösen Lebens. Auch hier müssen wir zunächst auf die grundlegende Lehre des Marxismus-Leninismus verweisen, darauf nämlich, daß die Religion keine isolierte, abstrakte Ideologie ist, sondern ein konkretes gesellschaftliches Phänomen, was sehr viele Genossen zu vergessen pflegen. Wenn wir das feststellen, verwischen wir nicht den tatsächlichen Gegensatz, vielmehr fixieren wir genau die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen allein das Absterben der Religion möglich ist. Und darin ist auch unsere ideologische Aufgabe enthalten, nämlich, wie wir die Erfüllung dieser Bedingungen, soweit das allein ideologisch möglich ist, beschleunigen können. Lenin verwies Marx folgend darauf, daß das grundlegende Element der heutigen Religiosität die Unsicherheit des Lebens im Kapitalismus ist. Deshalb kann es für keinen einzigen Marxisten überraschend sein, daß die Zeit nach dem Kriege, das Zeitalter des kalten Krieges und der Furcht vor einem Atomkrieg, die religiösen Gefühle bei außergewöhnlich vielen Menschen gestärkt hat. Zur gleichen Zeit aber wirkten die großen Probleme der Zeit auf einen sehr großen Teil der religiös eingestellten Massen; die entscheidenden Ereignisse der Weltgeschichte konnten nicht an ihnen vorbeigehen. Denn schließlich ist die Religion, wie betont, keine abstrakte Ideologie, die ein einsamer Professor von seinem Katheder verkündet; die Zahl ihrer Anhänger, die am gesellschaftlich-geschichtlichen Leben der Welt teilnehmen, auf die die größeren und kleineren Ereignisse dieses geschichtlichen Lebens unaufhörlich einwirken, belaufen sich auf Millionen. Hier begegnen wir sogleich einem interessanten Widerspruch. Im Protestantismus trat bereits in den zwanziger Jahren die sogenannte Barth-Schule hervor, die theoretisch auf einen außergewöhnlich reaktionären Philosophen, auf den Dänen Kierkegaard, zurückgreift. Ich führe die Einzelheiten nicht an; wer sich dafür interessiert, kann in meiner »Zerstörung der Vernunft« einen großen Abschnitt über Kierkegaard finden6. Die Kierke6 Georg Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, II. Kapitel, 5. Abschnitt, S. 198 ff. (Hrsg.)

gaard-Schule stieß auf ein sehr interessantes Problem. Ein vom Standpunkt der fortschrittlichen Entwicklung der Welt gefährlicher Fundamentalsatz des Luthertums war der, daß jede Regierung von Gott eingesetzt sei, das heißt, ganz gleich wie die Regierung eines Landes beschaffen sei - die religiöse V crpflichtung der Protestanten bestehe darin, diese Regierung mit allen Kräften zu unterstützen. Die von Barth geführte Kierkegaard-Schule trat nun schon zur Zeit der Hitler-Regierung gegen den Hitlerfaschismus auf, verneinte die Lehre Luthers, es sei für sie religiöse Verpflichtung, sich dem Hitlerfaschismus zu unterwerfen und dessen Politik zu unterstützen. Ich glaube, es sind viele unter uns, die den Namen Niemöllers kennen; er war hier in Budapest zur Sitzung des Weltfriedensrates. Es gab unter der Anhängerschaft Niemöllers Hunderte und aber Hunderte von protestantischen Pfarrern, die ins Konzentrationslager kamen, da sie nicht bereit waren, dem Hitlerfaschismus ideologisch zu dienen. Und der gleiche Gegensatz existiert auch heute, da die Anhänger von Barth und Niemöller in Opposition zur imperialistischen Politik der Adenauer-Regierung stehen, die Friedenspolitik unterstützen und sogar zu den stärksten und energischsten Vorkämpfern der Friedenspolitik gehören. Es ist klar, daß sie damit der Koexistenz dienen, und zwar bewußt dienen, was aus ihren zahlreichen Schriften und Reden hervorgeht. Es wird also offensichtlich, daß hier ein sehr wichtiger, interessanter und fruchtbarer Widerspruch existiert, der Widerspruch zwischen der zugrunde liegenden Ideologie - der reaktionären Kierkegaardschen Anschauung - und der praktischen Stellungnahme, zu der die konkreten Umstände der heutigen Zeit, die Koexistenz, die Parolen und Tendenzen des Kampfes von Krieg und Frieden geführt haben. Dieser Zusammenhang ist natürlich nicht immer so klar. In einer unter so konzentriert-einheitlicher Führung stehenden Kirche wie der katholischen ist dies viel komplizierter. Und dennoch ist die sektiererische Meinung (sie kommt in unserer Presse sehr häufig zu Wort), daß die gesamte katholische Kirche und Religion, die gesamte Geistlichkeit nichts anderes sei als eine in Rom stationierte Filiale der Wall-Street, natürlich nicht haltbar. Es besteht kein Zweifel, daß derartige Verbindungen mit

der Wall-Street und mit dem amerikanischen Katholizismus bestehen, doch dies erschöpft selbstredend nicht sämtliche Probleme der heutigen Situation des Katholizismus. Ich beginne mit einem extremen Fall. Vor nicht allzu langer Zeit entstand in Frankreich ein Konflikt, weil der Papst die Tätigkeit der sogenannten Arbeiterpriester verboten hatte. Wer waren diese Arbeiterpriester? überzeugte katholische Geistliche, die von dem Elend des französischen Proletariats tief bewegt und empört waren und die einsahen, daß das Wort des bequem in seiner Kurie sitzenden Priesters, der nur sonntags den Arbeitern, Arbeitslosen und den Obdachlosen predigt, notwendigerweise an den Ohren der arbeitenden Massen vorbeigehen müsse. Daher traten diese Priester als Arbeiter in die Fabriken ein, und als werktätige Arbeiter setzten sie ihre katholische Propaganda unter den Arbeitern fort. Und es ist sehr interessant, daß nicht die Kommunisten vor dieser Propaganda zurückschreckten, sondern die Prälaten und der Papst - davor nämlich, daß diese Arbeiterpriester sehr leicht in Berührung mit dem Kommunismus kommen und dadurch sehr leicht zu der Überzeugung gelangen könnten, der christlichen Ethik entspreche viel mehr die Unterstützung des Kommunismus als die des imperialistischen Kapitalismus. So verbot der Papst die Tätigkeit der Arbeiterpriester und erlaubte nur mehr eine normale priesterliche Tätigkeit. Hier ist das tief widerspruchsvolle Wesen dieses Problems klar zu erkennen. Und damit hier kein Mißverständnis aufkommt, möchte ich gleich darauf hinweisen, daß der Kampf gegen den Sozialismus in der katholischen Religion nicht neu ist. Bereits vor dem ersten Weltkrieg trat in Osterreich die sogenannte christlich-soziale Bewegung auf, die mit Hilfe der sozialen Demagogie entsprechend auf die Massen einwirken wollte; ähnliche Bewegungen hat es auch in Italien, in Frankreich, in Deutschland usw. gegeben. Aber einesteils kamen diese Bewegungen immer mehr unter den offenen Einfluß des Großkapitals, andererseits - und das ist für die Beurteilung der heutigen Situation eine sehr wichtige Frage - wurde nach dem weltgeschichtlichen Zusammenbruch der Hitlerschen (nicht religiösen) sozialen Demagogie, nach dem großen Aufschwung des Sozia-

lismus und der Arbeiterbewegung während und nach dem zweiten Weltkriege eine Anwendung sozialer Demagogie immer mehr zu einem allzu großen Wagnis. Die sogenannten christlich-sozialen Parteien werden deshalb immer mehr zu rein kapitalistischen Parteien. Aber gerade das Beispiel der Arbeiterpriester demonstriert, daß ständig Bewegungen in der entgegengesetzten Richtung einsetzen, auch wenn ihnen dann ein kirchliches Verbot folgt. Und mit dem Tätigkeitsverbot der Arbeiterpriester hat die Existenz sozialistischer Bestrebungen innerhalb des Katholizismus nicht aufgehört. Die Ursache dafür ist, daß es unter den 900 Millionen im Sozialismus lebenden Menschen Millionen getreuer Katholiken gibt, und die Furcht ist begründet, daß deren Verbindung zur katholischen Kirche mit der Zeit völlig aufhört. Die gleiche Wirkung hat, von einem anderen Gesichtspunkt aus, auch die Befreiungsbewegung in den Kolonien. Aber auch die großen sozialistischen Veränderungen, die sich vor, während und nach dem Kriege in der ganzen Welt abgespielt haben, gehen nicht über die Köpfe der gläubigen Massen hinweg, denn diese Menschen sind ebenso Arbeiter, Bauern oder Intellektuelle wie alle anderen Menschen. Es ist kein Zufall, daß gerade in Italien, dessen Arbeiterbewegung am wenigsten sektiererisch ist, diese Fragen am stärksten ins Licht rücken. Ich glaube, Sie haben es alle gelesen eine interessante Frage, auf deren Einzelheiten ich hier verzichten muß - daß der Bürgermeister von Florenz, La Pira, der zum linken Flügel der Democrazia Christiana gehört, die Bindung des Christentums an den Kapitalismus negiert und innerhalb des reinen Katholizismus nach der Möglichkeit sucht, das Massenelend zu beenden, die wirtschaftliche und kulturelle Lage der Massen zu verbessern. Es ist nur natürlich - und während des vor nicht allzu langer Zeit abgelaufenen Wahlkampfes konnte man es unzählige Male erfahren - daß La Pira von seinen Gegnern Inkonsequenz, wirtschaftlicher Dilettantismus usw. vorgeworfen wird. Aber trotz alledem hat La Pira in Horenz gesiegt, und als die Christlich-Demokratische Partei Bologna, die alte Trutzburg der Kommunisten, erobern wollte, stellte sie einen Politiker von der Art La Piras, einen christ616

liehen Demokraten namens Dossetti - vom kapitalistischen Flügel seit Jahren beiseite gestellt - plötzlich als Kandidaten in den Vordergrund, da sie sah, daß der Kampf nur mit derartigen Parolen gewonnen werden kann. Freilich in Bologna glückte es doch nicht. Nun gibt es keine billigere und einfachere Sache, als La Pira Inkonsequenz in seiner theoretischen Auffassung und seiner praktischen Wirtschaftspolitik vorzuwerfen. Aber ich glaube, wenn wir nur das tun würden, würden wir an den wesentlichen Zügen dieses Phänomens achtlos vorbeigehen. Die Ereignisse der heutigen Weltgeschichte lösen auch bei den katholischen Massen eine starke Gärung aus, und diese Gärung spiegelt sich in der Stellungnahme jener Menschen, die einen Versuc..'i unternehmen, die Gegensätze zwischen den Dogmen des Katholizismus und den Lebensumständen der entsprechenden Arbeiter, Bauern und Intellektuellen auf irgendeine Weise innerhalb des Glaubens, durch eine Uminterpretierung des Glaubens zu lösen. Meiner Überzeugung nach stehen wir erst am Beginn dieser Bewegung. Die Marxisten müssen erkennen, so wie es unsere italienischen Genossen bereits getan haben, daß hier vielleicht eine sehr breite Bewegung im Entstehen begriffen ist, mit der eine Berührung, eine entsprechende Einflußnahme und eine Kooperation unbedingt notwendig ist. Es ist allgemein bekannt, daß einer der wichtigen Punkte in der Politik Togliattis darin besteht, gerade mit diesem Flügel der Christlich-Demokratischen Partei eine Verbindung zu finden und ihn dem rein kapitalistischen Flügel gegenüber zu stärken. Wir können nicht wissen, ob wir nicht einer bedeutenden Bewegung gegenüberstehen, deren spätere Möglichkeiten heute noch unabsehbar sind. Aber diese Situation der katholischen Kirche äußert sich aud1 in den höchsten Spitzen, in der amtlichen katholischen Theologie und Philosophie. Der Papst, der, wie wir wissen, sich bereits gegen den Atomkrieg geäußert hat, hat außerdem zwei entsprechende Enunziationen herausgegeben. Einerseits hat er sich davon distanziert, die katholische Kirche ohne Einschränkung mit der sogenannten westlid1en Kultur zu identifizieren; man sieht, der Papst ist hier taktisch elastischer als zahlreiche amerikanische Politiker, die die westliche Kultur einfach mit dem

Christentum identifizieren und beides mechanisch dem östlichen Atheismus gegenüberstellen. Der Papst sagt, daß sich der Katholizismus an keine Einzelkultur bindet; nicht einmal die mittelalterliche Kultur kann man seiner Meinung nach als die katholische Kultur schlechthin bezeichnen. Die Kirche sei in ihrem Wesen unveränderlich, aber sie nehme immer und ständig das auf, was sie für sich für nützlich halte, also auch politische Kräfte und soziale Ideen. In einer späteren Außerung stellt der Papst fest, daß die Koexistenz ohne Furcht und Irrtum verwirklicht werden müsse. In dieser Erklärung berührt er auch die Kritik des Naturrechts. Gestatten Sie, daß ich nur mit einem Satz Ihre Aufmerksamkeit auf die Bedeutung dieses Problems lenke, denn dies spielt nicht nur in der kirchlichen Polemik eine Rolle. Der philosophische und juristische Kampf gegen die sozialistische Ordnung geht oft davon aus, daß das individualistische Leben, die individuelle Freiheit usw., also die Basis der kapitalistischen Ideologie, keine aus der ökonomischen Grundlage eines bestimmten Zeitalters erwachsene Eigentümlichkeit sei, sondern ein Axiom des Naturrechts. Jetzt geht der Papst in dieser Frage weiter als zahlreiche bürgerliche. Anhänger, indem er zwar sagt, das Individuum dürfe nicht vollkommen in der Gemeinschaft aufgehen, jedoch gleichzeitig davor warnt, daß das vollkommen auf sich selbst gestellte Individuum theoretisch und praktisch übermäßig zur Geltung komme. Das heißt aber, wenn auch mit vielen Vorbehalten: Die »naturrechtliche« Argumentation der unbedingten Apologetik des Kapitalismus wird verworfen. Bei alledem werden Anfangszeichen der Bestrebung zur Koexistenz sichtbar. Es äußert sich darin die Furcht vor dem endgültigen Verlust der im Sozialismus lebenden Millionen, und gleichzeitig spiegelt sich darin der Drud~, der von den Massen, die den Frieden wünschen, in alle möglichen Richtungen geht. Dies spiegelt sich auch in einer theoretischen Richtung der heutigen katholischen Theologie, indem einige hervorragende Theologen den Marxismus nicht mehr als eine Spielart des vulgären Materialismus einfach, mit einer Handbewegung, abtun wollen, vielmehr die Notwendigkeit fühlen, die marxistischen Probleme ernsthaft zu diskutieren. Ein jesuitischer Pater namens Brok-

müller 7 schreibt zum Beispiel, daß man den Bolschewismus nicht totschlagen, sondern taufen müsse, umformen im Sinne des Christentums. Wetter, Professor der römischen päpstlichen Universität, weist auf bestimmte Ähnlichkeiten zwischen Thomismus und Marxismus hin. Er behauptet zum Beispiel, daß der Materialismus des Marxismus dem Thomismus, dem Realismus der mittelalterlichen Weltanschauung, sehr nahe stehe 8 • Der gleiche Brokmüller sagt, indem er Wetter zitiert, der Heilige Paul, hätte er in der damaligen heidnischen Philosophie so viele Stützpunkte gefunden, würde nicht gezögert haben, sie für das Christentum zu verwenden. Hier ist die Möglichkeit eines Dialogs, einer Diskussion zwischen den Vertretern des Marxismus und der kirchlichen Ideologie gegeben, was in den vergangenen Jahren noch unmöglich war. Wir können sogar sagen, daß sie sich in einem Falle bereits verwirklicht hat. Ein Grazer Theologieprofessor namens Reding sagt, indem er Wetters Gedanken fortführt, daß die logischen Analogien, die er zwischen Marxismus und Thomismus zu finden meint, ihre gemeinsamen philosophischen und historischen Wurzeln hätten: Der Heilige Thomas gehe auf Aristoteles zurück, der Marxismus auf Hegel, durch dessen Vermittlung aber der Aristotelische Einfluß zur Geltung komme9. Diese Theorie hat große Diskussionen ausgelöst, nicht nur in Kreisen der Theologen. Reding ist nach Moskau gefahren, wo er vom Genossen Mikojan empfangen wurde; er hat sogar im Philosophischen Institut der Moskauer Akademie der Wissenschaften an einer Diskussion über die Frage des Atheismus teilgenommen. Wenn wir nun alle diese Fragen richtig bewerten wollen, dürfen wir natürlich nicht davon ausgehen, als wolle die katholische Philosophie sich uns jetzt »nähern«. Im Gegenteil, diese Theologen wollen die von ihnen aufgefundenen Ähnlichkeiten einerseits dazu verwenden, schwankende Anhänger zu halten 7 Vgl. Clemens Brokmtiller, Chri5tentum am Morgen des Atomzeitalters, Frankfurt am Main 1955. (Hrsg.) 8 Luk:ics bezieht sich auf das Hauptwerk Gustav A. Wetters: Der dialektisd10 Materialismus. Seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion, 1. Aufl., Frcihurg 1952. (Hrsg.) 9 Vgl. Marcel Reding, Thomas von Aquin unJ Karl Marx, Graz 1953. (Hrsg.)

und unter Umständen neue Anhänger zu gewinnen. Andererseits besteht kein Zweifel, daß all diese Analogien und diese stützenden Argumente objektiv unhaltbar sind. Das Papsttum und auch die Theologen gründen ihre gesamte Argumentation auf eine historisch falsche Analogie. Im r6. Jahrhundert geriet der Katholizismus infolge der Reformation in eine gewaltige Krise. Die Situation schien derart, als würde der auf der feudalen Ideologie basierende Katholizismus den Kampf gegen die verschiedenen protestantischen Kirchen, die der damals sich entfaltende Kapitalismus hervorbrachte, verlieren. Der soziale Sinn der Gegenreformation bestand gerade darin, die katholische Kirche von dem Bündnis mit dem Feudalismus um jeden Preis zu befreien, und besonders mit Hilfe des Jesuitismus schuf sie eine lebendige Verbindung mit dem entstehenden Kapitalismus und mit seiner damaligen Staatsform, der absoluten Monarchie: Es gelang dem Papsttum, die Krise des r6. bis r7. Jahrhunderts zu überstehen, ja, es gelang ihm, die Vorbedingungen für einen neuen Aufschwung zu schaffen. Obwohl sich die neue Problematik erst herausbildet, bin ich von folgendem überzeugt: In der katholischen Kirche fühlen sehr viele, wie verhängnisvoll es für die Kirche sein kann, sich unter allen Umständen, auf Leben und Tod, an den Wagen des imperialistischen Kapitalismus zu hängen. Jetzt beginnen tastende Versuche, um innerhalb der Religion zu einer anderen Lösung zu gelangen. Ich möchte betonen, daß die oben angeführte historische Analogie objektiv falsch ist, ich möchte hinzufügen, daß sich einige katholische Schriftsteller, wie der vorhin erwähnte Brokmüller, gerade auf diese Analogie und auf den Erfolg der damaligen Umformung beziehen, über deren gesellschaftliche Wurzeln man sich mehr oder weniger im klaren ist. Die Analogie, ich wiederhole es, ist falsch, da der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus qualitativ anders ist als der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus. Es kann also keine Rede sein von irgendeiner »Annäherung«, davon, als würden wir diese Theorien auch nur irgendwie für haltbar und zutreffend ansehen. Doch die Bewegung ist als Symptom einer beginnenden Krise interessant und gibt die Möglichkeit zu einer Berührung, zu einer Diskussion, die vor fünf oder zehn Jahren noch nicht bestanden hätte. 6:rn

Wie bei jedem Problem, so taucht auch hier die Leninsche Frage auf: wer, wen? Hier stehen wir einer grundlegenden theoretischen Frage gegenüber, die Lenin gelegentlich einiger Probleme häufig ausgesprochen hat, die aber im allgemeinen so scharf, wie ich jetzt formulieren will, wohl nur selten geäußert worden ist: Ich glaube, daß hinter jedem Sektierertum ein tiefer Defaitismus verborgen liegt. Ein Defaitismus etwa dieser Art: Wenn wir uns, um bei dem soeben zitierten Falle zu bleiben, in freien Diskussionen mit diesen katholischen Theologen messen würden, in denen hinter uns keine organisierte Unterstützung steht, in denen wir uns auf nichts anderes als auf unser Wissen und auf unsere Argumente stützen können, so würden wir in einer solchen freien Diskussion unrettbar eine Niederlage erleiden. Deshalb erscheint es für die Sektierer wesentlich einfacher, wenn wir sämtliche alte Phrasen über die Religion aus unseren Zeitungen wiederkäuen und uns gleichzeitig davor hüten, mit den Vertretern der entgegengesetzten Anschauungen in eine freie Berührung, in Diskussion zu treten. Ich will gar nicht davon sprechen, wieweit unsere Methoden, die wir in dem Zeitabschnitt bis zu Stalins Tod dogmatisch versteift haben, dazu geeignet sind. Mit dergleichen »Offenbarungen«, an die wir uns gewöhnt haben, kommen wir hier nicht weit. Wenn wir mit Theologen vom Typ Wetters oder Redings erfolgreich diskutieren wollen - und zwar so, daß wir ihre schwankenden Anhänger noch schwankender machen, daß wir bei ihren Anhängern ein gewisses Schwanken hervorrufen, so ist dafür eine sehr gründliche und auch vor dem Gegner stichhaltige Kenntnis der Aristotelischen und Hegelschen Dialektik sowie ihre schöpferische und originale Anwendung die unerläßliche Vorbedingung. Und hier möchte ich mich, in Parenthese, danach fragen: Was hätte wohl in einem solchen Streitgespräch in dem vergangenen Zeitabschnitt ein Philosoph getan, der niemals Hegels Werke gelesen hat, von Aristoteles ganz zu schweigen, weil er aus Shdanows Verkündigungent 0 gelernt hat, Hegel sei ein reak10 Andrej Alexandrowitsch Shdanow

(1896-19~8)

hatte maßgeblichen Einfluß auf

die Kulturpolitik unter Stalin; 1934 bis 1944 Leiter der Leningradcr Parteiorganisation, verantwortlich fi.ir die Verteidigung Leningrads im Kriege; 1945 bis 1948

tionärer Philosoph, dessen Dialektik gleichfalls reaktionär ist. Unter solchen Umständen hätte ein Dialog zustande kommen können, bei dem der katholische Theologe, im Besitz einer gediegenen Kenntnis der alten Dialektiken, argumentiert hätte, während der sektiererische Kommunist ihm gegenüber hilflos gewesen wäre. Wenn wir hingegen das Sektierertum niedergerungen haben, dann können wir die Frage: wer, wen? im Leninschen Sinne beantworten. Die objektive Weltlage gibt uns auf diesem Gebiet die Möglichkeiten großer Offensiven; wir sind aber im allgemeinen in einer sehr schwachen Defensive. Daß diese Bewegung spontan entsteht und sich verbreitet, das bewies das vorjährige Treffen der Friedensfreunde in Helsinki und die diesjährige Sitzung des Weltfriedensrates in Stockholm, auf denen von den verschiedenen religiösen Richtungen wesentlich mehr Vertreter erschienen waren als auf irgendeinem Friedenstreffen bisher. Ganz richtig wiesen besonders die italienischen Delegierten sehr nachdrücklich auf diese Situation hin, und die Friedensbewegung nahm dies nicht nur mit Genugtuung zur Kenntnis, sondern mit der Selbstkritik, daß wir auf diesem Gebiet noch zu wenig getan haben, um die jetzt in Bewegung geratenen Schichten uns näherzubringen und zu gewinnen.

IV

Natürlich beschränkt sich diese Gärung, von der ich gesprochen habe, nicht auf die Religion - ja, in gewisser Beziehung offenbart sie sich dort zunächst noch am schwächsten. Aber sie äußert sich - und ich möchte an einem Beispiel die Lage illustrieren etwa in der Philosophie an e;n:m so hervorragenden und jedermann bekannten Phfü1omen wie an dem Standpunkt, den Sartre in den letzten Jahren eingenommen hat. Sartre hat vor Monaten, als Herve aus der französischen Partei ausgeschlossen wurde, Sekretär des ZK der KPdSU und Mitglied des Politbüros. Vgl. für den vorliegenden Zusammenhang etwa Shdanows Rede auf dem Philosophickongreß in Moskau im Juli 1947. Er hat dort, in seinem Vortrag »Kritische Bemerkungen zu G. F. Alexandrows Buch >Geschichte der westeuropäischen Philosophie